Hossein Towfigh Robert Hierner Martin Langer Reinhard Friedel (Hrsg.)
Handchirurgie Band 2
Hossein Towfigh Robert Hierner Martin Langer Reinhard Friedel (Hrsg.)
Handchirurgie Mit einem Geleitwort von H. Millesi
Mit über 3600 Abbildungen
1 23
Prof. Dr. med. Hossein Towfigh
PD Dr. med. Martin Langer
Abteilung für Handchirurgie, Mikrochirurgie und Plastische Wiederherstellungschirurgie St.-Barbara-Klinik Hamm Am Heessener Wald 1 59073 Hamm
Klinik- und Poliklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Westfälische Wilhelms-Universität Münster Waldeyerstraße 1 48149 Münster
Prof. Dr. med. Robert Hierner
Dr. med. Reinhard Friedel
Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie Zentrum für Interdisziplinäre Rekonstruktive Chirurgie Referenzzentrum für periphere Nerven und Plexus brachialis Universitätsklinikum Essen der Universität Duisburg-Essen Hufelandstraße 55 45147 Essen
Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Jena Erlanger Allee 101 07747 Jena
ISBN 978-3-642-11757-2
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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Planung: Peter Bergmann, Heidelberg Projektmanagement: Christiane Beisel, Heidelberg Lektorat: Dr. Christiane Grosser, Viernheim Zeichnungen: Reinhold Henkel, Heidelberg Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin Titelbild: Coverabbildung links: © Argomedical, Coverabbildung rechts: ©[M] Mathias Ernert, Heidelberg Satz und digitale Bearbeitung der Abbildungen: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg
SPIN 12740888 Gedruckt auf säurefreiem Papier
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Folgende Firmen haben dankenswerterweise mit ihrer Unterstützung das Zustandekommen dieses Werkes möglich gemacht: Argomedical COMPETENCE SINCE 1999
asclepios Medizintechnik
ETHICON Products
Mölnlycke Health Care
Orthofix
Otto Bock ®
RESORBA REPAIR AND REGENERATE
Stryker
SYNTHES Carl Zeiss Meditec
Dr. Philipp Zollmann, Jena Praxisklinik Postcarré
VII
Widmung Die Zusammenstellung dieses Buches hat etwa zwei Jahre Zeit in Anspruch genommen. Während dieser Zeit haben wir oft für Menschen, die uns sehr nahe stehen, zu wenig Zeit gehabt. Trotzdem haben sie uns immer unterstützt und uns in unserer Arbeit bestärkt. Dieses Werk ist ihnen in Liebe und Dankbarkeit gewidmet: Hossein Towfigh: Meiner lieben Frau, Dr. phil. Nicola Towfigh. Robert Hierner: Meiner Frau, Dr. med. Elisa Lorena Hierner, der Liebe meines Lebens. Martin Langer: für die Lieben meines Lebens: Christiane, Carolin und Magnus Reinhard Friedel: Meinen Eltern, Ruth Friedel und in Gedenken an meinen Vater Fritz Franz Friedel (gest. 13.03.1963)
IX
Geleitwort Die Handchirurgie hat seit dem Ende der Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts im deutschen Sprachraum eine enorme Entwicklung erfahren. Dies ersieht man aus den wissenschaftlichen Veranstaltungen, die Handchirurgie betreffen. Am ersten Symposium der von Dieter Buck-Gramcko ins Leben gerufenen Deutschsprachigen Arbeitsgemeinschaft für Handchirurgie, das 1959 in Hamburg stattgefunden hat, versammelte sich ein kleines Häuflein einschlägig interessierter Chirurgen. Jetzt gleichen die Treffen der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Gesellschaft für Handchirurgie großen Kongressen mit hunderten Teilnehmern. Auch unser Wissen in Zusammenhang mit handchirurgischen Problemen hat sich vervielfacht und ist für den Einzelnen kaum mehr überschaubar. Man muss es daher den Herausgebern des vorliegenden Werkes als großes Verdienst anrechnen, die schwierige Aufgabe übernommen zu haben, das einschlägige Wissen zusammenzufassen und in deutscher Sprache zu veröffentlichen. Ich habe diesen Entschluss sehr begrüßt und mich geehrt gefühlt, als die Herausgeber mich aufforderten, ein Geleitwort zu verfassen. Natürlich habe ich mich gefragt, warum die Wahl zur Verfassung des Geleitwortes gerade auf mich gefallen ist. Der Grund liegt vielleicht darin, dass ich einer der letzten noch aktiv tätigen Chirurgen bin, der die ganze »Sturm und Drang« Periode der Handchirurgie mitgemacht hat. Ein Motiv mag auch sein, dass ich ein Autor und ein Mitherausgeber des ersten umfassenden Werkes über Handchirurgie in deutscher Sprache war, nachdem schon vorher bedeutende Bücher zu dem Thema erschienen waren.Vielleicht wollte man mit meiner Wahl an die Tradition der Gründerzeit anknüpfen. In Gesprächen mit der »jüngeren Generation« gewinnt man den Eindruck – dieser Eindruck wird auch durch das erste Kapitel des vorliegenden Werkes unterstrichen – dass schon immer Interesse an handchirurgischen Problemen vorhanden und die Entwicklung sowie der schließliche Durchbruch ein geradliniger Prozess war. Dem ist nicht so! Die spezielle Handchirurgie entwickelte sich aufgrund der Misserfolge, die die Anwendung allgemeinchirurgischer Erfahrungen an der Hand mit sich brachte und im Widerspuch zu Vertretern solcher Prinzipien. Ich erinnere an den Grundsatz: »Ubi pus ibi evacua«. Dieses an sich richtige Prinzip funktioniert an der Palmarseite der Hand nicht, weil es dort bei eitrigen Prozessen zur Bildung von Nekrosen kommt, die nicht oder nur sehr langsam eingeschmolzen werden, so dass die Inzision zur Evakuierung des Eiters nicht genügt, sondern die Nekrosen entfernt werden müssen. Die Ruhigstellung eines verletzen oder operierten Gliedes war eine allgemein anerkannte Erfahrung. Ihre kritiklose Anwendung zur Ruhigstellung der Hand am sogennanten »Handbrett« unter Streckung der Metacarpophalangeal- und Interphalangealgelenke führte jedoch zu katastrophalen Versteifungen. Das an sich logische Prinzip, möglichst den direkten Zugang zu wählen, hat nach Freilegung der Beugesehnen über eine Längsinzision zu schweren Narbenkontrakturen geführt. Das Überlassen eines Hautdefektes der Sekundärheilung nach Entwicklung von »schönen« Granulationen mag bei einer Wunde am Rücken akzeptabel sein, verursacht allerdings, wie wir alle wissen, an den Extremitäten oder im Gesicht schwere Verstümmelungen durch Narbenkontrakturen. In diesem Zusammenhang haben die Erkenntnisse der Plastischen Chirurgie hinsichtlich Vermeidung von Narbenkontrakturen und in Bezug auf Defektdeckung die Bestrebungen der Handchirurgie unterstützt. Die erfolgreiche Anwendung der neuen Erkenntnisse hat manchen Kollegen seine Laufbahn an Kliniken oder großen Krankenhäusern gekostet und sie gezwungen, in die freie Praxis auszuweichen, um ihre Erkenntnisse ungehindert anwenden zu können. In der Allgemeinchirurgie wurde der Sensibilität kaum Bedeutung beigemessen. Die Verpflanzung von Zehen als Daumen- oder Fingerersatz nach dem Nikoladoniprinzip hat, wie Patrik Clarkson zeigen konnte, keine Dauerergebnisse gebracht, weil die verpflanzten Zehen wegen der fehlenden Sensibilität früher oder später wieder amputiert werden mussten. Die ungenügende Sensibilitätsrückkehr an der Hand nach Nervenverletzungen war eines der am meisten diskutierten Probleme in der ersten Phase der Handchirurgie. Moberg war der Meinung, dass bei Erwachsenen eine brauchbare Sensibilität niemals zurückkehrt. Die Folge war die Entwicklung der sensiblen neuro-vaskulären Insellappen, um Fingerkuppen mit einer brauchbaren Sensibilität zu versehen, was allerdings den Nachteil hatte, dass der Patient die afferenten Impulse nach wie vor am Spenderfinger lokalisierte.
X
Geleitwort
Hier haben die Entwicklung der microvaskulären Chiurgie und die Fortschritte der peripheren Nervenchirurgie entscheidende Impulse für die Handchirugie gebracht. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Sensation am Kongress der europäischen Sektion der ICSPRS 1969 in Brighton im Rahmen einer Sitzung über Daumenrekonstruktion, als John Cobbet über die erste freie, microvaskuläre Verpflanzung der Großzehe als Daumenersatz berichtete und ich mehrere Patienten vorstellen konnte, bei denen der Daumen durch Verpflanzung der Großzehe nach dem Nikoladoniprinzip ersetzt wurde, bei denen aber durch gleichzeitige Nerventransplantation nach der neuen Technik die Zwei-Punkte-Diskriminierung zurückkehrte. Der Aufstieg der Handchirurgie beruht zweifellos auf einem Zusammentreffen aller dieser Faktoren und auf der Erkenntnis, dass alle gesetzten Maßnahmen Bezug auf die besonderen Verhältnisse an der Hand nehmen müssen, eine Erkenntnis, die in erster Linie auf Sterling Bunnel zurückgeht und, trotz mehrfacher Hinweise z.B. durch Marc Iselin in Europa nur allmählich weitere Verbreitung fand. Symptomatisch dafür ist die Tatsache, dass in dem umfassenden Werk von Erich Lexer über die Wiederherstellungschirurgie wohl über rekonstruktive Eingriffe an Sehnen, Gelenken, Knochen usw. gesprochen wird, das Wort Handchirurgie aber praktisch nicht vorkommt. Die Herausgeber des vorliegenden Werkes haben sich bemüht, alle Aspekte, die in Beziehung zur Hand stehen, zu erfassen. Die beiden Bände enthalten 66 Kapitel. 53 Beiträge stammen aus deutschen Kliniken, 7 aus Österreich und 6 aus der Schweiz, so dass der ganze deutsche Sprachraum vertreten ist. 96 kompetente Autoren sind an der Abfassung der Kapitel beteiligt. Wie es der Entwicklung entspricht, stammen etwa je die Hälfte der Beiträge aus handchirurgischen Institutionen an Unfallkliniken bzw. aus solchen an plastisch-chirurgischen Einrichtungen. Die beiden Bände sind mit etwa 1800 Seiten geplant und werden eine große Zahl an Abbildungen enhalten. Ich bin überzeugt, dass das vorliegende Werk alle Voraussetzungen erfüllt, einer Generation von Handchirurgen als Rückhalt zu dienen und wünsche ihm weite Verbreitung.
Prof. Hanno Millesi Wien, im Sommer 2011
XI
Vorwort Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen des legendären handchirurgischen Werkes von Wilhelm und Wachsmuth in der Reihe der Kirschner’schen Operationslehre, fast 30 Jahre nach Erscheinen des Lehrbuches von Nigst, BuckGramcko und Millesi und ein Jahrzehnt nach Erscheinen der handchirurgischen Bände der Tscherne’schen Unfallchirurgie, ist es uns zusammen mit dem Springer-Verlag gelungen, eine aktuelle ausführliche Monografie zur Handchirurgie unter Mitwirkung zahlreicher renommierter Autoren zu erarbeiten. Die Handchirurgie hat in den letzten Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen. Die Zusatzbezeichnung »Handchirurgie« kann heute nach der Facharztanerkennung in einem der chirurgischen Fachgebiete in einer 2–3-jährigen Ausbildung erlangt werden. Die wesentlichen Ausbildungsabschnitte sollten heute in dafür qualifizierten handchirurgischen Zentren und Netzwerken erfolgen, um den angehenden Handchirurgen sowohl auf die Behandlung einfacher und komplexer Erkrankungen und Verletzungen der Hand als auch auf den Einsatz mikrochirurgischer Techniken vorzubereiten. Die steigende Anzahl von Arzthaftungsfällen nach handchirurgischen Behandlungen weist auf das dringende Erfordernis und die Notwendigkeit einer soliden und umfassenden handchirurgischen Ausbildung hin. Aus diesem Grund wird von immer mehr handchirurgisch erfahrenen Kollegen die Einführung eines eigenständigen Facharztes für Handchirurgie gefordert, welcher den Umfang und die Bedeutung des handchirurgischen Fachgebietes angemessen repräsentieren würde. Die Tatsache, dass in der Hand viele funktionell wichtige Strukturen eng beieinander liegen, fordert eine genaue Kenntnis der Anatomie und Biomechanik. Sie erklärt auch, warum oft kleine Schädigungen große Auswirkungen auf die globale Handfunktion haben und warum häufig komplexe operative Eingriffe erforderlich sind. Zum besseren Verständnis erhält der Leser unter der Überschrift »Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie« zu Beginn eines jeden Kapitels die notwendige Basisinformation in komprimierter Form. Handchirurgie ist ein integratives Fach. Diagnostik und Therapie multistruktureller Gewebe im Bereich der Hand und der oberen Extremität stellen eine interdisziplinäre Aufgabe dar und bedürfen eines Therapieteams. Mitglieder des Therapieteams sind – neben dem Handchirurgen, dem Patienten und seinen Angehörigen – Pflegepersonal, der geschulte Handtherapeut, medizinisch-technisches Personal (Diätassistent, Orthopädiemeister etc.), ärztliches Personal anderer Disziplinen (Anästhesie, Radiologie, Neurologie, Innere Medizin etc.) sowie die Sozialdienste und Krankenkassen. Damit die Behandlung zum Erfolg führt, muss der Handchirurg bereit und ausreichend qualifiziert sein, die Leitung dieses vielschichtigen Teams zu übernehmen und die unterschiedlichen Blickwinkel der einzelnen Mitglieder auf den richtigen Behandlungspfad zu fokussieren. Bei guter Koordination und Zusammenarbeit der einzelnen Bereiche wird auch das Behandlungsergebnis besser ausfallen. Um in einem multidisziplinären Team erfolgreich arbeiten zu können, benötigt man eine »gemeinsame Sprache«, d. h. eine gemeinsame Klassifikation der vorliegenden Pathologie (»Worüber sprechen wir?«), ein gemeinsames Diagnose- und Dokumentationsschema (»Worauf müssen wir achten?«) und gemeinsame therapeutische Pfade für verschiedenen Situationen (»Wie sollen wir vorgehen?«). Diesen Anforderungen haben wir mit dem einheitlichen Aufbau aller Kapitel – und der Darstellung von Epidemiologie, Ätiologie, Diagnostik und Klassifikation – Rechnung getragen. Um aus den zahlreichen möglichen Therapieverfahren die für den individuellen Patienten optimale Behandlung auszuwählen, bedarf es der Kenntnis handchirurgischer Grundlagen, einer exakten Beschreibung der vorliegenden Pathologie der Erkrankung (Pathologie-bedingte Faktoren) und der Kenntnis Patienten-bedingter und Therapie-bedingter Kriterien. Hierbei gibt es nur noch ein Dogma: Viele Wege führen nach Rom. Die stetige Evaluation der Ergebnisse im Sinne eines Leistungsvergleichs und das akademische Streben nach Verbesserung sind die Antriebskraft für Neuerungen. Der differenzierte Einsatz konservativer und/oder operativer Therapiemöglichkeiten führt bei dem individuellen Patienten zum optimalen Ergebnis. Deshalb haben wir in jedem Kapitel ein besonderes Augenmerk auf die Indikationsstellung und Differenzialtherapie gelegt. Für die Therapie im Bereich der oberen Extremität und der Hand verwenden wir ein integratives Therapiekonzept, welches die Erstversorgung bei Trauma, die operative Rekonstruktion, adjuvante Maßnahmen und funktionsverbessernde Sekundäreingriffe umfasst. Die Qualität der Erstversorgung hat entscheidenden Einfluss auf den Verlauf von Behandlung und Heilungsprozess und das funktionelle und ästhetische Endergebnis. Immer gilt der Grundsatz »Life before Limb«. Die Möglichkeit sekundärer Eingriffe entbindet nicht von der Notwendigkeit, bei der Primäroperation die bestmögliche Versorgung durchzuführen, sollte aber immer bei komplexerer Patho-
XII
Vorwort
logie vor Beginn der Therapie eingeplant werden. Adjuvante Maßnahmen – und hier vor allem die Handtherapie – stellen einen integralen Bestandteil der Behandlung im Bereich der Hand dar. Nur durch eine rechtzeitig einsetzende und konsequent durchgeführte Begleitbehandlung durch geschulte Handtherapeuten kann ein optimales Therapieergebnis erreicht werden. Handtherapeutische Maßnahmen gehören zum Gesamtbehandlungsplan. Es war uns ein besonderes Anliegen, die Handtherapie erstmals in einem deutschsprachigen handchirurgischen Lehrbuch breiter darzustellen. Das Zusammenspiel von konservativen und operativen Therapiemöglichkeiten und die entsprechende Nachbehandlung sind in allen Kapiteln einheitlich dargestellt. Ein Novum stellt die Beschreibung von spezifischen Unterschieden in Diagnostik und Therapie während des Wachstums dar. Diesem Thema ist in jedem Kapitel am Ende des allgemeinen Teils ein eigener Abschnitt gewidmet. Die Darstellung der wichtigsten Operationstechniken ist in jedem Kapitel standardisiert im zweiten Abschnitt unter »Spezielle Techniken« dargestellt. Auf »Fehler, Gefahren und Komplikationen« wird jeweils im dritten Abschnitt eines Kapitels hingewiesen. Gerade im Zeitalter des Internets, in dem aktuelles Wissen umfangreich und breit gefächert, aber häufig wenig strukturiert für jedermann zugänglich ist, kann ein gut strukturiertes Lehrbuch die Grundlagen vermitteln und als solides Fundament dienen. Das Buch ist als Lehrbuch für den Anfänger und Nachschlagewerk für den Erfahrenen konzipiert. Zum tieferen Eintauchen in die jeweilige Thematik wird am Ende eines jeden Kapitels auf eine Vielzahl weiterführender Literaturquellen verwiesen. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text bei Personenbezeichnungen überwiegend nur die männliche Form verwendet, sie schließt aber selbstverständlich beide Geschlechter ein. Oft geht wertvolles Wissen durch einen Generationswechsel verloren. Durch die Auswahl der Autoren ist es uns gelungen, den Wissenstransfer zwischen den Generationen optimal zu gestalten. Die Herausgeber sind besonders dankbar, dass in diesem Buchprojekt eine Reihe herausragender Persönlichkeiten mitgewirkt und so den nachfolgenden Generationen ihr großes Wissen und ihren reichen Erfahrungsschatz weitergegeben haben. Es ist uns eine große Ehre, dass Herr Prof. Hanno Millesi, Pionier der Handchirurgie, das Geleitwort für unser Buch verfasst hat. Wir hoffen, mit diesem Buch einen Beitrag zur Qualitätsverbesserung in der Handchirurgie zu leisten sowie wissenschaftliche und fachlich-sachliche Diskussionen anregen zu können.
Hamm, Essen, Münster, Jena, im Sommer 2011 Hossein Towfigh, Robert Hierner, Martin Langer, Reinhard Friedel
XIII
Danksagung Die Herausgeber danken allen, die sich um das Entstehen dieses Buches verdient gemacht haben. ▬ Ein herzliches Dankeschön geht an Herrn Peter Bergmann und Frau Christiane Beisel, sowie an die übrigen Mitarbeiter des Springer-Verlages, die zur Entstehung dieses Werkes beigetragen haben. ▬ Ein entscheidendes Element des Buches sind die neuen Zeichnungen, die von Herrn Reinhard Henkel angefertigt wurden. Er hat die komplexe Materie mit großem Einfühlungsvermögen bearbeitet und den Abbildungen mit seiner besonderen Fähigkeit zur Konzentration auf das Wesentliche einen besonderen fachlichen und künstlerischen Ausdruck gegeben. ▬ Für den großen Einsatz und die ausgezeichnete Zusammenarbeit bei dem Lektorat der Manuskripte möchten wir uns ganz besonders bei Frau Dr. Christiane Grosser bedanken. ▬ Für die gelungene und übersichtliche Gestaltung des Buches sowie die digitale Bearbeitung möchten wir uns bei Herrn Tobias Schaedla sehr herzlich bedanken. ▬ Den Autoren möchten wir für die professionelle Zusammenarbeit und die ausgezeichneten Beiträge danken, die den hohen Standard der Handchirurgie im deutschen Sprachraum widerspiegeln. ▬ Wir danken Herrn Prof. Hanno Millesi, einem der großen Pioniere der Handchirurgie, sehr herzlich für sein inhaltsreiches Geleitwort und seine freundliche Empfehlung des Werkes. ▬ Nicht zuletzt sei den Kollegen gedankt, die durch Rat und konstruktive Kritik zum Gelingen beigetragen und unser Werk wohlwollend begleitet haben.
Hamm, Essen, Münster, Jena, im Sommer 2011 Hossein Towfigh, Robert Hierner, Martin Langer, Reinhard Friedel
XV
Inhaltsverzeichnis Band 1 13
I Geschichte
Technik der Arthroskopie im Bereich der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Gerhard Böhringer
1
Geschichte der Handchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
14
Martin Langer, Andreas Gohritz, Horst Haferkamp
Peter Hahn, Frank Unglaub
II Propädeutik 2
Basisuntersuchung der Hand und Propädeutik . . .13
Therapie der »steifen Hand« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
IV Handrehabilitation 15
Peter Laier, Jutta Haubold, Eric Weiss
Grundlagen der Handrehabilitation und Schienenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Christine Reff-Richter
3
Anästhesie und perioperative Schmerztherapie in der Handchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .27
16
Prinzipien der Wundbehandlung im Handbereich (»Die kleine Handverletzung«) . . . . . .53
Die handchirurgische Rehabilitation im berufsgenossenschaftlichen Heilverfahren – Berufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung (BGSW) und komplexe stationäre Rehabilitation (KSR) . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Janos Hankiss
Detlef Schreier, Franz Jostkleigrewe
Klaus Görlinger, Daniel Dirkmann
4
III Prinzipien und Techniken 5
Prinzipien der Sehnenbehandlung: Strecksehnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65
V Therapie chronischer Schmerzen 17
Hossein Towfigh
Technik der Denervierung zur Schmerzausschaltung im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Albrecht Wilhelm
6
Prinzipien der Sehnenbehandlung: Beugesehnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
18
Martin Langer, Carsten Surke, Britta Wieskötter
7
Prinzipien der Behandlung von Gefäßverletzungen und -defekten . . . . . . . . . . . . . 139 Reinhold Stober
8
Therapie chronischer Schmerzen und des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Reiner Winkel, Adriana Blonder
19
Prinzipien der Behandlung von Nervenverletzungen und -defekten . . . . . . . . . . . . 155
Therapie des komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS-I) aus handtherapeutischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Rainer Zumhasch, Michael Wagner
Robert Hierner, Alfred Berger
20 9
Prinzipien der Behandlung von Knochenverletzungen und -defekten . . . . . . . . . . 179 Hossein Towfigh, Lars Gerres, Robert Hierner
10
Prinzipien der Behandlung von Gelenkverletzungen und -defekten . . . . . . . . . . . . 201 Hossein Towfigh, Robert Hierner (Mit einem Beitrag von Erwin Waldemar Kollig)
11
Prinzipien der Arthroplastik im Fingerbereich . . 219 Stephan F. Schindele, Beat R. Simmen
12
Endoprothetik des Handgelenks . . . . . . . . . . . . . . . 233 Sebastian Kluge, Daniel Herren
Die operative Behandlung der therapieresistenten Sudeck-Dystrophie (CRPS I) durch transaxilläre Dekompression des NervenGefäß-Stranges und obere extrapleurale thorakale Sympathikusresektion . . . . . . . . . . . . . . 437 Albrecht Wilhelm
XVI
Inhaltsverzeichnis
VI Angeborene Fehlbildungen und genetisch bedingte Erkrankungen im Handbereich 21
Angeborene Fehlbildungen der Hand . . . . . . . . . . 469
31
Michael Strassmair, Klaus Wilhelm, Reinhard Friedel und Torsten Dönicke (Mit einem Beitrag von Annelie Weinberg und Barbara Schmidt)
32
Hildegunde Piza-Katzer, Andrea Wenger, (Mit einem Beitrag von Dunja Estermann)
22
Distale Radiusfraktur (Verletzung der distalen radioulnaren Funktionseinheit) . . . . . . . 769
Korrektur der in Fehlstellung verheilten distalen Radiusfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819 Andreas Pachucki, Barbara Freudenschuss (Mit einem Beitrag von Robert Eberl und Annelie Weinberg)
Epidermolysis bullosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Martin Langer, Carsten Surke, Eva Lötters
33
VII Frakturen, Luxationen
Distales Radioulnargelenk (DRUG) und triangulärer fibrokartilaginärer Komplex (TFCC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 839 Markus Gabl, Rohit Arora
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 23
Kapsel-Band-Läsionen und Luxationen im Fingerbereich (einschließlich Arthrodesen) . . . . 539 Hossein Towfigh
24
Frakturen im Fingerbereich (inklusive sekundäre Korrektur knöcherner Fehlstellungen) . . . . . . . . . 581 Hossein Towfigh (Mit einem Beitrag von Annelie Weinberg)
25
Frakturen im Mittelhandbereich inklusive sekundärer Korrektur knöcherner Fehlstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 Hossein Towfigh (Mit einem Beitrag von Barbara Schmidt und Annelie Weinberg)
26
Frakturen und Luxationen im Handwurzelbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Hossein Towfigh (Mit einem Beitrag von Annelie Weinberg)
27
Skaphoidfraktur und Skaphoidpseudarthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 669 Torsten Dönicke, Reinhard Friedel (Mit einem Beitrag von Annelie Weinberg und Barbara Schmidt)
28
Perilunäre Luxationen und Luxationsfrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 Martin Lutz, Rohit Arora, Markus Gabl
29
Kapsel-Band-Läsionen im Handgelenkbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 Hossein Towfigh
30
Idiopatische Mondbeinnekrose . . . . . . . . . . . . . . . . 749 Markus Gabl, Rohit Arora
XVII
Inhaltsverzeichnis Band 2 VIII Haut und Weichteile 34
Morbus Dupuytren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
XI Verbrennung 46
Peter Brenner
35
Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279 Walter Künzi, Merlin Guggenheim (Mit einem Beitrag von Lars-Peter Kamolz)
Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich . . 919 Robert Hierner, Zunli Shen
36
XII Vaskuläre Störungen
Hochdruckeinspritzverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 985 Berthold Bickert
37
Paravasate im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 995
47
Horst Koch, Armin Gerger, Benjamin Gehl
Stephan Spendel, Maria Wiedner, Erwin Scharnagl
48
IX Rekonstruktive Handchirurgie Knochen-Weichteildefekte 38
Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013
49
50
Lymphödem der oberen Extremität . . . . . . . . . . . 1385 Rüdiger G.H. Baumeister
Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen . . . . . . . . . . . . . . 1057
Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101
Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1361 Reinhold Stober, Franz-Eduard Brock
XIII Arthrose und Arthritis
Reinhard Friedel
40
Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1343 Karlheinz Kalb
Robert Hierner, Hossein Towfigh
39
Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand . . . . . . . . . . . . . 1325
51
Rhizarthrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1401 Raymund E. Horch, Frank Unglaub
Robert Hierner, Konrad Wolf
52 41
42
Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . 1135
Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand) . . . . . . 1413
Milomir Ninkovic, Frank Herter, Tristan I. Gerstung, Robert Hierner
Stefan Rehart, Martina Henniger (Mit einem Beitrag von Cornelia Wortmann und Hartmut Michels)
Prothetik im Bereich der oberen Extremität . . . 1187 Lothar Milde, Arno Schmidt
XIV Neurologische Störungen 43
Schuss- und Explosionsverletzungen . . . . . . . . . 1209 Erwin Waldemar Kollig
53 44
Bissverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1229
Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen . . . . . . . . . . 1445
Michael Steen
Alfred Berger, Robert Hierner
54
X Infektion
Alfred Berger, Robert Hierner
55 45
Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen . . . . . . . . 1489
Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245
Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1511
Hossein Towfigh, Lars Gerres
Hisham Fansa, Gregor M. Landwehrs
XVIII
56
Inhaltsverzeichnis
Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1537 Margot Wüstner-Hofmann, Hans Assmus (Mit Beiträgen von Gregor Antoniadis, Albrecht Wilhelm, Christian Bischoff, Henrich Kele, Martin Bendszus, Mirko Pham)
57
XIX Ästhetik 65
Ästhetische Handchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1811 Rafael Jakubietz, Michael Jakubietz, Rainer Meffert, Jörg Grünert
Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1621 Jürgen Rudigier
58
Robert Hierner, Alfred Berger
59
60
Andreas Gohritz, István Turcsányi, Jan Fridén
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1827
Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons . . . 1695
Tumore im Bereich der Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . 1723 Jörn Redeker, Peter M. Vogt
XVI Begutachtung Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1755 Jürgen Probst
XVII Hand und psychische Erkrankungen 63
Hand und psychische Erkrankungen . . . . . . . . . . 1785 Martin Langer, Eva Lötters, Britta Wieskötter, Carsten Surke
XVIII Quo Vadis (Die Zukunft) 64
Entwicklungsbiologische Grundlagen handchirurgisch relevanter Erkrankungen . . . . 1821 Peter Hyckel
XV Onkologie
62
66
Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1673
Andreas Gohritz, Jan Fridén, Peter M. Vogt
61
XX Entwicklungsbiologische Aspekte
Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität . . . . . . . . . . . . 1651
Hand und Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1797 Jörg Grünert, Nicole Grünert-Plüss
XIX
Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen 2PDd 2PDs/s2PD A./Aa. AAOS AC-Gelenk ADL
2-Punkt-Diskrimination, dynamisch (Weber-Test) 2-Punkt-Diskrimination, statisch (Moberg-Test) Arteria (-ae) American Academy of Orthopedic Surgeons Akromioklavikulargelenk Aktivitäten des täglichen Lebens, »activities of daily living« ADM M. abductor digiti minimi ADP/ADD M. adductor pollicis AER Apical Ectodermal Ridge AO Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese APB M. abductor pollicis brevis APL M. abductor pollicis longus BGSW Berufsgenossenschaftliche stationäre Weiterbehandlung BR M. brachioradialis BUK Bundesverband der Unfallkassen BZ Blutzucker C Os capitatum CC Complication or Comorbitity CIND Carpal Instability Non Dissociative CMC-Gelenk Karpometakarpalgelenk CPM Continuous Passive Motion CREST-Syndrom Spezielle Verlaufsform der progressiven systemischen Sklerose mit Calcinosis cutis, Raynaud-Phänomen, Ösophagealer Dysfunktion, Sklerodaktylie und Teleangiektasien im Gesicht CRPS Komplexes regionales Schmerzsyndrom CTS s. KTS D I/D 1 Digitus primus, Pollex D II/D 2 Digitus secundus, Index, D III/D 3 Digitus medius, tertius D IV/D 4 Digitus anularis, quartus D V/D 5 Digitus minimus, quintus d. p. Dorsopalmar DASH-Scores Disability of Arm, Shoulder, Hand DGUV Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung DIP-Gelenk Distales Interphalangealgelenk DISI Dorsal Intercalated Segment Instability DRG Diagnostic Releated Groups DRU Lig. radioulnaris dorsalis (»dorsal radioulnar ligament«) DRUG Distales Radioulnargelenk EAP Erweiterte ambulante Physiotherapie EB-Gelenk Ellbogengelenk ECRB M. extensor carpi radialis brevis ECRL M. extensor carpi radialis longus ECU M. extensor carpi ulnaris ED(C) M. extensor digitorum (communis) EDM M. extensor digiti minimi EFL Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit nach Isernhagen EI Extensor indicis EI(P) M. extensor indicis (proprius) EMG Elektromyogramm EMS Elektrische Muskelstimulation EPB M. extensor pollicis brevis EPL M. extensor pollicis longus
ESWT FCR FCU FDM FDP FDS FES FKHA FPB FPL GH-Gelenk GUV H HG-Gelenk HISS HREA HVBG i. v. ICF IFSSH IMBA IOD IOP IP-Gelenk ISS ITN KSR KTS KUKS KUTS L Lig./Ligg. LRL LRL LT LTD Lum M./Mm. MC-Gelenk MCP MCR MCU MdE MEP MESS MHK MP-Gelenk MTP-Gelenk N./Nn. N1 N10 N2 N3 N4
Extrakorporale Stoßwellentherapie M. flexor carpi radialis M. flexor carpi ulnaris M. flexor digiti minimi M. flexor digitorum profundus M. flexor digitorum superficialis Funktionelle elektrische Muskelstimulation Fingerkuppen-Hohlhand-Abstand M. flexor pollicis brevis M. flexor pollicis longus Glenohumeralgelenk Gesetzliche Unfallversicherung Os hamatum Handgelenk Hand Injury Severity Score Handrückenebenenabstand Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften Intravenös International Classification of Functioning, Disability and Health International Federation of Societies for Surgery of the Hand Profilvergleichsverfahren zur Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt M. interosseus dorsalis 1-4 M. interosseus palmaris 1-3 Interphalangealgelenk Injury Severity Score Intubationsnarkose Komplexe stationäre Rehabilitation Karpaltunnelsyndrom Kubitales Ulnariskompressionssyndrom Kubitaltunnelsyndroms Os lunatum Ligamentum (-a) Lig. radiolunatum longus Lig. radiolunatum longus Lunotriquetral Lunotriquetrale Dissoziation M. lumbricalis 1-4 Musculus (-i) Midkarpalgelenk Metakarpophalangealgelenk Mediokarpalradialer Zugang Mediokarpalulnarer Zugang Minderung der Erwerbsfähigkeit Motorisch evozierte Potenziale Mangled Extremity Severity Score nach Johansen et al. Mittelhandknochen Metakarpophalangealgelenk Metatarsophalangealgelenk Nervus (-i) Radialer N. digitalis proprius des Daumens Ulnarer N. digitalis proprius des kleinen Fingers Unarer N. digitalis proprius des Daumens Radialer N. digitalis proprius des Zeigefingers Ulnarer N. digitalis proprius des Zeigefingers
XX
Verzeichnis der wichtigsten Abkürzungen
N5 N6 N7 N8 N9 NLG NSAID OATS ODM OP OPS ORIF P P1 P2 P3 pAVK PB PCA PIP-Gelenk PISI PL PNF PQU PRKS PRUG PSA PSU PT PUKS R RC-Gelenk RLT ROM RR RSC RSL RSTL SC-Arthrodese SEP SHFM SL-Band SLAC-Wrist SL-Band-Ruptur SLD SLI SLP SNAC-Wrist SORL SRL STI-Test STT-Gelenk TA TATA TFCC TOS V./Vv. VATER-Assoziation VIP VISI
Radialer N. digitalis proprius des Mittelfingers Ulnarer N. digitalis proprius des Mittelfingers Radialer N. digitalis proprius des Ringfingers Ulnarer N. digitalis proprius des Ringfingers Radialer N. digitalis proprius des kleinen Fingers Nervenleitgeschwindigkeit Nichtsteroidale Antiphlogistika Osteochondral Autologous Transplantation M. opponens digiti minimi M. opponens pollicis Operations- und Prozedurenschlüssel Open Reduction Internal Fixation Os pisiforme Grundglied eines jeden Fingers Mittelglied eines Fingers Endglied eines jeden Fingers Periphere arterielle Verschlusskrankheit M. palmaris brevis Patient Controlled Analgesia, Proximales Interphalangealgelenk Palmar Intercalated Segment Instabilitiy M. palmaris longus Propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation M. pronator quadratus Proximales Radialiskompressionssyndrom Proximales Radioulnargelenk Pathologische Spontanaktivität Processus styloideus ulnae M. Pronator teres Proximales Ulnariskompressionssyndrom Radius Radiokarpalgelenk Lig. radiolunotriquetrum, Range of Motion Blutdruck (nach Riva Rocci) Lig. radioscaphocapitatum Lig. radioscapholunatum (Ligament de Testut) Relaxed Skin Tension Lines Skaphokapitale Arthrodese Somatosensorisch evozierte Potenziale Spalthandsyndrom, Split Hand Foot Malformation Lig. scapholunare interosseum Scapholunate Advanced Collapse Ruptur des Lig. scapholunare interosseum Skapholunäre Dissoziation Lig. scapolunatum interossea Stress Loading Program Scaphoid Nonunion Advanced Collapse Spiral Oblique Retinacular Ligament Short Radiolunat Ligament Shape Texture Identification Test Skaphotrapeziotrapezoidealgelenk Tangentialaufnahme der dorsalen Radiuskontur Totale anterioren Tenoarthrolyse Triangulärer fibrokartilaginärer Komplex Thoracic-Outlet-Syndrom Vena (-ae) Fehlbildungssyndrom (Vertebral Defects, Anal Atresia, Tracheoesophageal Fistula,Esophageal Atresia, Radial Defects and Renal Defects) Vertikale infraklavikuläre Plexusblockade Volar Intercalated Segment Instability
VKU WHO ZFR
Verkehrsunfall World Health Organization Zwischenfingerraum
XXI
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Gregor Antoniadis Bezirkskrankenhaus Günzburg Neurochirurgische Klinik der Universität Ulm Ludwig-Heilmeyer-Straße 2 D-89312 Günzburg E-Mail:
[email protected] Prof. em. Dr. med. Alfred Berger Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Plastische, Hand und Wiederherstellungschirurgie Hohlbeinstraße 1 D-30916 Isernhagen E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Rohit Arora Univ.-Klinik für Unfallchirurgie Innsbruck Handchirurgie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck E-Mail:
[email protected] Dr. med. Berthold Bickert BG Unfallklinik Ludwigshafen Klinik für Hand-, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie Ludwig-Guttmann-Straße 13 D-67071 Ludwigshafen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Hans Assmus Privatpraxis für periphere Nervenchirurgie Ringstraße 3 D-69221 Dossenheim E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Christian Bischoff Neurologische Gemeinschaftspraxis Burgstraße 7 D-80331 München E-Mail:
[email protected] Prof. em. Dr. med. Rüdiger G.H. Baumeister Ludwig-Maximilians-Universität Campus-Grosshadern Chirurgische Klinik und Poliklinik Plastische-, Hand-, Mikrochirurgie Marchioninistraße 15 D-81377 München E-Mail:
[email protected] Dr. med. Adriana Blonder Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Abteilung für Handchirurgie und Wiederherstellende Plastische Chirurgie Friedberger Landstraße 430 D-60389 Frankfurt E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Martin Bendszus Universitätsklinikum Heidelberg Abteilung für Neuroradiologie Im Neuenheimer Feld 400 D-69210 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Gerhard Böhringer Esculap Klinik Klinik für Unfallchirurgie Nordanlage 19 D-35390 Giessen E-Mail:
[email protected] XXII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Peter Brenner Sylter Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie Dr. Nicolas-Straße 3 D-25980 Westerland/Sylt E-Mail:
[email protected] Dunja Estermann Ergotherapie-Lans Oberes Feld 219/Top 3 A-6072 Lans E-Mail:
[email protected] Dr. med. Franz-Eduard Brock Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Klinik für Angiologie Hufelandstraße 55 D-45147 Essen E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Hisham Fansa Städtische Kliniken Bielefeld Klinik für Plastische, Wiederherstellungsund Ästhetische Chirurgie Handchirurgie Teutoburger Straße 50 D-33604 Bielefeld E-Mail:
[email protected] Dr. med Daniel Dirkmann Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Hufelandstraße 55 D-45147 Essen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Barbara Freudenschuss KH Amstetten Unfallchirurgie Krankenhausstraße 21 A-3300 Amstetten E-Mail:
[email protected] Dr. med. Torsten Dönicke Universitätsklinikum Jena Funktionsbereich Hand-, Plastische und Mikrochirurgie Erlanger Allee 101 D-07740 Jena E-Mail:
[email protected] Dr. med. Reinhard Friedel Universitätsklinikum Jena Funktionsbereich Hand-, Plastische und Mikrochirurgie Erlanger Allee 101 D-07740 Jena E-Mail:
[email protected] Priv. Doz. Dr. med. Robert Eberl Universitätsklinik Graz Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Auenbruggerplatz 34 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Jan Friden Sahlgrenska Universitetsjukhuset Department für Handchirurgie Bruna Straket 9, SE-413 45 Göteborg E-Mail:
[email protected] XXIII Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Markus Gabl Universitätsklinik für Unfallchirurgie Innsbruck Handchirurgie Anichstraße 35 A-6020 Innsbruck E-Mail:
[email protected] Dr. med. Andreas Gohritz Medizinische Hochschule Hannover Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover E-Mail:
[email protected] Dr. med. Benjamin Gehl Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Zentrum für Interdisziplinäre Rekonstruktive Chirurgie Hufelandstraße 55 D-45147 Essen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Klaus Görlinger Universitätsklinikum Essen Universität Duisburg-Essen Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin Hufelandstraße 55 D-45147 Essen E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Armin Gerger Medizinische Universität Graz Universitätsklinik für Innere Medizin Klinische Abteilung für Onkologie Auenbrugger Platz 29 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Jörg Grünert Kantonsspital St. Gallen Klinik für Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie CH-9007 St. Gallen Rorschacherstrasse 95 E-Mail:
[email protected] Dr. med. Lars Gerres Klinikum Osnabrück Klinik für Orthopädie- Unfall und Handchirurgie Am Finkenhügel 1 D-49076 Osnabrück E-Mail:
[email protected] Nicole Grünert-Plüss Kantonsspital St. Gallen Ergotherapie, Handtherapie CH-9007 St. Gallen Rorschacherstrasse 95 E-Mail:
[email protected] Dr. med. Tristan I. Gerstung Städtisches Klinikum München Klinikum Bogenhausen Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Hand- und Verbrennungschirurgie Englschalkinger Straße 77 D-81925 München E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Merlin Guggenheim Universitätsspital Zürich Klinik für Wiederherstellungschirurgie Rämistrasse 100 CH-8091 Zürich E-Mail:
[email protected] XXIV
Autorenverzeichnis
Dr. med. Horst Haferkamp Weinbergstr. 7 D-34117 Kassel
PD. Dr. med. Daniel Herren Schulthess Klinik Chefarzt Handchirurgie Abteilung für obere Extremitäten und Handchirurgie Lengghalde 2 CH-8008 Zürich E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Peter Hahn Vulpiusklinik Handchirurgie Vulpiusstrasse 29 D-74096 Bad Rappenau E-Mail:
[email protected] Dr. med. Frank Herter Städtisches Klinikum München Klinikum Bogenhausen Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Hand- und Verbrennungschirurgie Englschalkinger Straße 77 D-81925 München E-Mail:
[email protected] Dr. med. Janos Hankiss Klinikum Lippe-Lemgo Abteilung für Plastische und Handchirurgie Rintelner Straße 85 D-32657 Lemgo E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Robert Hierner Universität Duisburg-Essen Universitätsklinikum Essen Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie, Zentrum für Interdisziplinäre Rekonstruktive Chirurgie Hufelandstraße 55 D-45147 Essen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Jutta Haubold Städtisches Klinikum Karlsruhe Chirurgische Klinik Moltkestraße 90 D-76133 Karlsruhe E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Raymund E. Horch Universitätsklinikum Erlangen Plastische und Handchirurgische Klinik Krankenhausstraße 12 D-91054 Erlangen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Martina Henninger Markus-Krankenhaus Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Wilhelm-Epstein-Straße 2 D-60431 Frankfurt am Main E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Peter Hyckel Universitätsklinikum Jena Klinik und Poliklinik für Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie / Plastische Chirurgie Postfach D-07740 Jena E-Mail:
[email protected] XXV Autorenverzeichnis
Dr. med. Michael Jakubietz Universitätsklinikum Würzburg Klinik für Unfallchirurgie, Plastische und Handchirurgie Oberdürrbacherstraße 6 D-97080 Würzburg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Henrich Kele Universitätsklinikum Gießen Neurologische Klinik Rudolph-Buchheim-Straße 8 D-35385 Gießen E-Mail: www.neurologie-neuer-wall.de
Dr. med. Raphael Jakubietz Universitätsklinikum Würzburg Klinik für Unfallchirurgie, Plastische und Handchirurgie Oberdürrbacherstraße 6 D-97080 Würzburg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Sebastian Kluge Schulthess Klinik Abteilung für obere Extremitäten und Handchirurgie Lengghalde 2 CH-8008 Zürich E-Mail:
[email protected] Dr. med. Franz Jostkleigrewe BG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz Klinik für Handchirurgie, Plastische Chirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte Großenbaumer Allee 240 D-47249 Duisburg E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Horst Koch Medizinische Universität Graz Universitätsklinik für Chirurgie Klinische Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie Auenbrugger Platz 29 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Dr. med. Karlheinz Kalb Rhön-Klinikum AG Klinik für Handchirurgie D-97616 Bad Neustadt / Saale Salzburger Leite 1 E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Erwin Kollig Bundeswehrzentralkrankenhaus Koblenz Leitender Arzt der Unfallchirurgie und Orthopädie, WiederherstellungsHand- und Plastische Chirurgie, Verbrennungsmedizin Rübenacherstraße 170 D-56064 Koblenz E-Mail:
[email protected] Dr. med. Lars Peter Kamolz, M.Sc. Facharzt-Ordinationsgemeinschaft Bahngasse 7 A-2700 Wr. Neustadt E-Mail:
[email protected] Dr. med. Walter Künzi Universitätsspital Zürich Klinik für Wiederherstellungschirurgie Rämistrasse 100 CH-8091 Zürich E-Mail:
[email protected] XXVI
Autorenverzeichnis
PD Dr. med. Martin Langer Handchirurgie und Mikrochirurgie Klinik und Poliklinik für Unfall-. Handund Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Münster Waldeyerstraße 1 D-48149 Münster E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Rainer Meffert Universitätsklinikum Würzburg Klinik für Unfallchirurgie, Plastische und Handchirurgie Oberdürrbacherstraße 6 D-97080 Würzburg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Peter Laier Städtisches Klinikum Karlsruhe Chirurgische Klinik Moltkestraße 90 D-76133 Karlsruhe E-Mail:
[email protected] Dr. med. Hartmut Michels ehem. CA Dt. Zentrum für Kinder- und Jugendrheumatologie, GarmischPartenkirchen Am Königreich 1a D-82467 Garmisch-Partenkirchen E-Mail:
[email protected] Dr. med. Gregor M. Landwehrs Städtische Kliniken Bielefeld Klinik für Plastische, Wiederherstellungsund Ästhetische Chirurgie Handchirurgie Teutoburger Straße 50 D-33604 Bielefeld E-Mail: gregor.landwehrs@ klinikumbielefeld.de
Lothar Milde Auf dem Klimpe 2 D-37136 Mackenrode
Dr. med. Eva Lötters Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Unfall-. Handund Wiederherstellungschirurgie Waldeyerstraße 1 D-48149 Münster E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Milomir Nincovic Klinikum Bogenhausen Städtisches Klinikum München Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Hand- und Verbrennungschirurgie Englschalkinger Straße 77 D-81925 München E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Martin Lutz Universitätsklinik für Unfallchirurgie Innsbruck Handchirurgie Anichstrasse 35 A-6020 Innsbruck E-Mail:
[email protected] Dr. med. Andreas Pachucki KH Amstetten Unfallchirurgie Krankenhausstraße 21 A-3300 Amstetten E-Mail:
[email protected] XXVII Autorenverzeichnis
Dr. med. Mirko Pham Universitätsklinikum Heidelberg Abteilung für Neuroradiologie Im Neuenheimer Feld 400 D-69210 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Stefan Rehart Markus-Krankenhaus Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Wilhelm-Epstein-Straße 2 D-60431 Frankfurt am Main E-Mail:
[email protected] Prof. em. Dr. med. Hildegunde Piza Universität Innsbruck Klinik für Plastische und Wiederherstellungschirurgie Kalmanstraße 41 A-1130 Wien E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Jürgen Rudigier Ortenau Klinikum, OffenburgGengenbach Klinik für Unfall- und Handchirurgie Ebertplatz 12 D-77654 Offenburg E-Mail:
[email protected] Prof. em. Dr. med. Jürgen Probst Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau Alter Mühlhabinger Weg 3 D-82418 Murnau am Staffelsee E-Mail: Prof.Juergen.Probst.Murnau@ t-online.de
Prof. Dr. med. Erwin Scharnagel Universitätsklinik für Chirurgie Medizinische Universität Graz Klinische Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie Auenbrugger Platz 29 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Dr. med. Jörn Redeker Katholisches Klinikum Duisburg St. Barbara Hospital Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität Düsseldorf Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie Barbarastraße 67 D-47167 Duisburg E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Stephan F. Schindele Schulthess Klinik Abteilung für obere Extremität und Handchirurgie Lengghalde 2 CH-8008 Zürich E-Mail:
[email protected] Christine Reff-Richter Praxis für Ergotherapie und Handrehabilitation Forstenrieder Alle 59 D-81476 München E-Mail:
[email protected] Arno Schmidt Otto Bock HealthCare GmbH Max-Näder-Straße 15 D-37115 Duderstadt E-Mail:
[email protected] XXVIII
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Barabara Schmidt Universitätsklinik Graz Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Auenbruggerplatz 34 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] PD. Dr. med. Michael Steen Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannstrost Klinik für Plastische und Handchirurgie, Brandverletztenzentrum Merseburger Straße 165, D-06112 Halle (Saale) E-Mail: plastische-chirurgie@ bergmannstrost.com
Dr. med. Detlef Schreier BG-Unfallklinik Duisburg-Buchholz Klinik für Handchirurgie, Plastische Chirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte Großenbaumer Allee 240 D-47249 Duisburg E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Reinhold Stober Hirslanden Medical Center Zentrum für Handchirurgie Rain 34 CH-5001 Aarau E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Zunli Shen Jiao Tong Universität Shanghai Shanghai First Peoples Hospital Klinik für Plastische, Hand- und Ästhetische Chirurgie Wu Jin Straße 85 CN-Shanghai 200080 E-Mail:
[email protected] Dr. med. Michael Strassmair Klinikum Starnberg Zentrum für Handchirurgie Oßwaldstrasse 1 D-82319 Starnberg E-Mail:
[email protected] Dr. med. Beat R. Simmen Schulthess Klinik Abteilung für obere Extremität und Handchirurgie Lengghalde 2 CH-8008 Zürich E-Mail:
[email protected] Dr. med. Carsten Surke Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Unfall-, Handund Wiederherstellungschirurgie Waldeyerstraße 1 D-48149 Münster E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Stephan Spendel Medizinische Universität Graz Universitätsklinik für Chirurgie Klinische Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie Auenbrugger Platz 29 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Hossein Towfigh St. Barbara-Klinik Hamm Department für Handchirurgie, Mikrochirurgie und Plastische Wiederherstellungschirurgie Am Heessener Wald 1 D-59073 Hamm E-Mail:
[email protected] XXIX Autorenverzeichnis
Dr. Istvan Turcsanyi Orthopaedic Department Jósa András County Teaching Hospital Szent István 68 H-4400 Nyíregyháza E-Mail:
[email protected] Dr. med. Eric Weiss Städtisches Klinikum Karlsruhe Chirurgische Klinik Moltkestraße 90 D-76133 Karlsruhe E-Mail:
[email protected] PD Dr. med. Frank Unglaub Vulpiusklinik Handchirurgie Vulpiusstraße 29 D-74096 Bad Rappenau E-Mail:
[email protected] Dr. med. Andrea Wenger Georgenberg 139 A-5431 Kuchl E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Peter M. Vogt Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Straße 1 D-30625 Hannover E-Mail:
[email protected] Dr. med. univ. Maria Wiedner Universitätsklinik für Chirurgie Medizinische Universität Graz Klinische Abteilung für Plastische und Rekonstruktive Chirurgie Auenbrugger Platz 29 A-8036 Graz E-Mail:
[email protected] Michael Wagner Akademie für Handrehabilitation Süntelstraße 70 D-31848 Bad Münder E-Mail:
[email protected] Dr. med. Britta Wieskötter Universitätsklinikum Münster Klinik und Poliklinik für Unfall-. Handund Wiederherstellungschirurgie Waldeyerstraße 1 D-48149 Münster E-Mail: brittta.wieskö
[email protected] PD Dr. med. Annelie Weinberg Universitätsklinik Graz Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Auenbruggerplatz 34 A-8036 Graz E-Mail: anneliemartina.weinberg@ meduni-graz.at
Prof. em. Dr. med. Albrecht Wilhelm Facharzt für Chirurgie, Unfallchirurgie, Handchirurgie Schongauerstraße 2 D-63739 Aschaffenburg E-Mail:
[email protected] XXX
Autorenverzeichnis
Prof. em. Dr. med. Klaus Wilhelm Ludwig-Maximilians-Universität München König-Heinrich Straße 11 D-80686 München E-Mail:
[email protected] Dr. med. Reiner Winkel Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Chefarzt Abteilung für Handchirurgie und Wiederherstellende Plastische Chirurgie Friedberger Landstraße 430 D-60389 Frankfurt E-Mail:
[email protected] Priv.-Doz. Dr. med. Konrad Wolf Unfallchirurgische Klinik Städtisches Klinikum München GmbH Kölner Platz 1 D- 80804 München E-Mail:
[email protected] Dr. med. Cornelia Wortmann Internistische Rheumatologie Agaplesion Frankfurter Diakoniekliniken Markus Krankenhaus Wilhelm-Epstein-Straße 4 60431 Frankfurt E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Margot Wüstner-Hofmann Klinik Rosengasse GmbH Abteilung für Plastische Chirurgie, Handund Mikrochirurgie Belegärztin an der Donauklinik Neu-Ulm Rosengasse 19 D-89073 Ulm E-Mail:
[email protected] Rainer Zumhasch Akademie für Handrehabilitation GmbH & Co KG Süntelstraße 70 D-31848 Bad Münder E-Mail:
[email protected] 887 33.3 · Weiterführende Literatur
VIII Haut und Weichteile
34
Morbus Dupuytren Peter Brenner
– 889
35
Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich – 919 Robert Hierner, Zunli Shen
36
Hochdruckeinspritzverletzungen Berthold Bickert
37
Paravasate im Bereich der oberen Extremität – 995 Horst Koch, Armin Gerger, Benjamin Gehl
– 985
VIII 33
889 33.3 · Weiterführende Literatur
Morbus Dupuytren Peter Brenner
34.1
Allgemeines – 890
34.1.1 34.1.2 34.1.3 34.1.4 34.1.5 34.1.6 34.1.7 34.1.8 34.1.9
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 890 Epidemiologie – 894 Ätiologie – 896 Diagnostik – 898 Klassifikation – 900 Indikation und Differenzialtherapie – 900 Therapie – 900 Besonderheiten im Wachstumsalter – 901 Ergebnisse – 902
34.2
Spezielle Techniken
34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.2.6
Perkutane Nadelfasziektomie – 904 Open-Palm-Technik nach McCash – 904 Partielle Fasziektomie – 904 Komplette Fasziektomie – 908 Kontinuierliche Distraktionstechnik nach Messina Varia – 911
– 904
– 908
34.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 914
34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4 34.3.5 34.3.6
Hämatome – 914 Gefäß-Nerven-Verletzungen – 914 Wundrandnekrosen – 914 Transplantatverlust – 914 Lappennekrose – 914 CRPS (Reflexdystrophie, Algodystrophie)
Weiterführende Literatur
– 914
– 914
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
34
890
34.1
Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
Allgemeines
Der Morbus Dupuytren ist Teil einer systemischen Bindegewebserkrankung. Zell- und Bindegewebsproliferationen (Wucherungen) des präexistenten Bindegewebskontinuums bedingen manuelle Dysästhesien, evozieren schmerzlose Knotenbildungen der Hohlhand und verursachen im Spätstadium schließlich die auffällige, digitopalmare Beugekontraktur (⊡ Abb. 34.1). Dass es sich bei der Dupuytren-Erkrankung nicht nur um ein extremitätenchirurgisches Problem handelt, bezeugen neben den ektopen Fingerknöchelpolstern auch die Induratio penis plastica (Morbus Peyronie), der simultan auftretende, plantare Morbus Ledderhose, ebenso wie die dystope Extremform als ubiquitär vorkommende Polyfibromatose. Obendrein führt die aggressive Dupuytren-Diathese zu grotesken sowie rapiden Beugefehlstellungen oftmals an beiden Händen. Sie ist vergesellschaftet mit auffällig positiver Familienanamnese, eindeutiger Ethnologie, frühzeitigem Erkrankungsgipfel schon in jungen Jahren (deutlich vor der 5. Lebensdekade) mit Ausbreitung von zahlreichen, histologischen identischen Bindegewebsdepots jenseits der Hand sowie Androtropie. 34.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie
34
Ausgangspunkt der Erkrankung sind vorbestehende, dreidimensionale Palmar- und Digitalfaszien, die man insgesamt als digitopalmaren Bindegewebskörper oder -kontinuum bezeichnet. Interponiert ist zwischen beiden Fasziensystemen die sog. digitopalmare Übergangszone. Vereinfachend könnte man sie auch als eine Art »Knautschzone« beschreiben. Adhäsionen oder »Verlötungen« der dreidimensionalen Bindegewebsarchitektur implizieren je nach Blickpunkt eine Beugekontraktur oder vice versa eine Streckhemmung. Die zentrale Hohlhandfaszie (Fascia palmaris) ist eine dreieckförmige Bindegewebsplatte, die zwischen der Hypothenar- und Thenarmuskelfaszie (ulnare und radiale Aponeurose) jeweils seitwärts angeheftet ist und proximale Zuschüsse von der Tendo m. palmaris longus oder der Fascia antebrachii erhält. Nach distal ist sie an den Anteilen des Schwimmbandes aufgehängt und
⊡ Abb. 34.1 Fallbeispiel für die autosomale Vererbung des Morbus Dupuytren: 35-jähriger Vater und sein 8-jähriger Sohn. Beide leiden an einer expansiven Form der digitopalmaren Fibromatose, die vom Daumenstrahl bis zum Kleinfinger reicht. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
kommuniziert somit auch mit den Digitalfaszien (Fascia digitalis) (⊡ Abb. 34.2). An der Unterfläche der Fascia palmaris befinden sich die acht kielartigen Vertikal- oder Intermediärsepten. Sie unterteilen die Hohlhand. Getrennt werden jeweils die Beugesehnenpaare von den Mm. lumbricales mit daraufliegenden Gefäß-Nerven-Bündeln. In Metarkarpaliahöhe sind die Vertikalsepten vorhanden. Distal der »Kaplan-Zentrallinie« (ungefähr in Höhe des Lig. transversum profundum) sind sie nicht mehr nachweisbar (⊡ Abb. 34.3). Kennzeichen der digitopalmare Übergangszone (Fascia digitopalmaris) sind die Fasciculi transversales: 1. das Lig. metacarpeum superficiale, synonym auch Lig. natatorium oder transversales Subkutanband des Schwimmbandes (distales Kommissurenband) genannt; 2. das tiefer liegende transversale, intermetakarpale Band (Lig. transversum profundum), das sich zwischen den palmaren Platten der Metakarpophalangelangealgelenke und der Beugesehnenscheide ausspannt. Letzteres wird in den Nomina anatomica als Fasciculi transversi aponeurosis palmaris bezeichnet (⊡ Abb. 34.4). Das scherengitterartige Geflecht des Schwimmbandes, an dem u. a. auch die aus der Tiefe kommenden Vertikalsepten inserieren, verursacht bei fibrösem Befall eine Adduktionskontraktur der Zwischenfingerfalte. Die ursprünglich u-förmige Kommissur wird vförmig verformt, was zu einer Abspreizhemmung der Finger führt. Bedeckt werden die tiefer liegenden Fasciculi transversales aponeurosis palmaris durch die oberflächlicheren Fasciculi longitudinales zu den Fingern und dem minder ausgeprägten Längsband zum Daumenstrahl: Die vor der Beugesehne längs verlaufenden (prätendinösen) Palmarfaszienkondensate, welche fächerförmig aus der proximalen Anheftungszone der Aponeurose zu den fünf Fingerstrahlen bis zur digitopalmaren Übergangszone ziehen, heißen bei pathologischem Dupuytren-Befall Längsstränge. Wichtig ist darauf hinzuweisen, dass weder die Longitudinalbänder noch ihre fibrosebefallenen Strangkorrelate als Verlängerung der Sehne des Palmaris longus anzusehen sind, da sie auch bei deren Abwesenheit (Aplasie) vorkommen. Vereinfachend dargestellt entsprechen die peripheren Zentralstränge einer Fortsetzung der prätendinösen Stränge.
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⊡ Abb. 34.2 Palmaraponeurose. a Zoneneinteilung des palmaren Faszienkomplexes. b Der Palmarfaszienkomplex umfasst 5 anatomische Komponenten: Fascia thenaris, Fascia hypothenaris, Aponeurosis palmaris, digitopalmare Übergangszone (»Knautschzone«) und die Fingerfaszien. Die Palmarfaszie besteht aus 3 Anteilen: thenare, hypothenare und zentrale Aponeurose. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
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⊡ Abb. 34.3 Vertikal und Intermediärsepten. a Querschnitt durch die distale Mittelhand in Höhe des Metacarpalköpfchens zur Darstellung der Vertikalsepten nach Legue u. Juvara. Von den Septen werden zwei unterschiedliche tunnelartige Kompartimente gebildet. Diese beinhalten einerseits die Beugesehnenscheide mit dem Beugesehnenpaar, andererseits je einen M. lumbricalis samt begleitendem Gefäß-Nerven-Bündel. b Durch die Vertikalsepten nach Legue u. Juvara bilden sich 7 Kompartimente. Querschnitte in unterschiedlicher Höhe durch die Hand zeigen die Anwesenheit der Verikalsepten nur bis in Monticuli-Höhe. Sie sind bereits unmittelbar distal der Kaplan-Zentrallinie nicht mehr vorhanden. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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⊡ Abb. 34.4 Vereinfachtes dreidimensionales Modell des digitopalmaren Kontinuums. Dargestellt sind die räumlichen Beziehungen zwischen longitudinalen, transversalen und vertikalen Faszienzügen. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
Zur Fascia digitalis zählen: 1. der Zentralstrang, 2. der Spiralstrang, 3. der Lateralstrang, 4. die Halteligamente des Streckapparates und 5. die Grayson- und Cleland-Ligamente. Der Zentralstrang ist das pathologische Korrelat der von der Hohlhand kommenden Fasciculi longitudinales in der Fingermitte. Formalpathogenetisch unterscheidet man eine kurze und lange Verlaufsform. Beide bedingen eine Grundgelenkbeugung mit Streckhemmung. Im Regelfall verändert der Zentralstrang nicht die Lage der neurovaskulären Bündel, die bilateral neben ihm liegen (⊡ Abb. 34.5). Der Spiralstrang ist eine zusammengesetzte Struktur, die aus dem prätendinösen Band der Palmaraponeurse entstammt. Er zieht von der mittseitlichen Linie des Metakarpophalangealgelenks und inseriert zumeist mit seinem oberflächlichen Anteil sowohl im filiformen Hautverankerungssystem des Retinaculum cutis und mit dem tiefen Anteil entweder in der Bindgewebescheide des Fingergrundgelenks oder aber in den Grayson-Ligamenten des lateralen Fingerfaszienkondensates distal des Mittelgelenks; vereinzelt auch proximal davon. Bereits die Namensgebung verdeutlicht, dass wesentliche Faseranteile dieses Strangs um die Gefäß-NervenBündel spiralförmig umschlingen und zwingt dieses mit sukzessiver Kontraktion eine schraubenförmige Verwindung. Rein pragmatisch und aus Sicht der chirurgischen Dissektion unterscheidet McFarlane (1984) drei Typen: Mit zunehmender Flexion wird das
neurovaskuläre Bündel durch den unterkreuzenden Spiralstrang von einer distalen Dislokation, zur Oberfläche, zur Grundgliedmitte und schließlich zur Grundgliedbasis verlagert (⊡ Abb. 34.6). Mittseitliche Stauchungszonen der längsgerichteten, tubulären Fingerfaszien werden als Lateralstrang angesehen. Sie führen ebenso wie die Spiralstränge zu einer Beugefehlstellung der Mittelgelenke. Dabei können ausgeprägte PIP-Flexionskontrakturen – ähnlich wie bei einer Knopflochdeformität am Mittelgelenk – zu einer kompensatorischen Überstreckstellung des Fingerendgelenks führen. Eine Grundgliedkontraktur verursacht dieser Strang nicht. Grundsätzlich unterscheidet man am bindegewebigen Chassis der Finger 1. die Halteligamente der Haut (Verankerungssystem) und 2. die Halteligamente des Streckapparates. Zu Letzteren zählen die Lamina triangularis, das sagittale Band, das Lig. reticulare transversum und schließlich das Lig. reticulare obliquum nach Landsmeer (1949, 1976). Das Landsmeer-Band verläuft längsseits der Kapsel vom Interphalangealgelenk und ist selten durch den Morbus Dupuytren befallen. Besteht aber eine retrovaskuläre Fibrose, kann es sowohl eine Flexionskontraktur des Mittelgelenks als auch eine Hyperextension im Endgelenk induzieren. Ein kombinierter Befall mit dem Grayson-Ligament kommt vor. Übersehene retrovaskuläre Stränge sind teils die Ursache von repetitiven Kleingelenkkontrakturen. Anteile der Fingerfaszienkondensate sind die palmar des Gefäß-Nerven-Bündels liegenden Grayson-Ligamente sowie die retrovaskulär befindlichen Cleland-Ligamente. In Höhe jedes Interphalangealgelenks spannt sich v-förmig und bilateral ein ClelandBand aus. Diese längsgerichteten Fasersysteme verhindern u. a.
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
die Dislokation des Gefäß-Nerven-Bündels unter Streckung und Beugung. Eine Fibrosebefall ist denkbar. Um die verwirrende Komplexität des dreidimensionalen digitopalmaren Bindegewebskörper didaktisch verständlich zu illustrieren, lamellierten Holland et al. (1997) das Kontinuum in drei Längslagen: Lage 1 (superfizielles Fasziensystem); Lage 2 (Intermediäres Fasersystem) und Lage 3 (tiefes Fasziensytem). ⊡ Abb. 34.7 fasst die Lageverhältnisse zusammen. ⊡ Abb. 34.8 fasst die typischen Fasziensystem des Radial- und Ulnartypen der Dupuytren-Kontraktur zusammen, auf deren klinischen Merkmale weiter hinten eingegangen wird. 34.1.2 Epidemiologie
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⊡ Abb. 34.5 Synopse der bedeutendsten pathologischen Dupuytren-Stränge, welche Kontrakturen an Fingergrund- und -mittelgelenken verursachen. Nicht abgebildet ist der perivakuläre Strang. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
⊡ Abb. 34.6 Anatomie des Spiralstranges. Von links nach rechts nimmt die Flexion des Fingermittelgelenks durch den Spiralstrang zu. Mit zunehmender Beugung wird das Gefäß-Nerven-Bündel von distal nach proximal disloziert. Schließlich ist das Gefäß-NervenBündel gefährlich nach zentral und zur Oberfläche verlagert. Bei der chirurgischen Dissektion steigt die Möglichkeit einer akzidentellen Verletzung des Gefäß-Nerven-Bündels. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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Der Morbus Dupuytren – als superfizielle Fibromatose – ist die häufigste Neubildung an der Hand. Von dieser Volkskrankheit sind rund 1,9 Mio. Deutsche betroffen. Daraus ergibt sich einerseits die volkswirtschaftliche Bedeutung der Erkrankung und andererseits eine individuelle Restriktion im Gebrauch der befallenen Hand: Neben dem beruflichen Handicap, mit Griffunsicherheit und erhöhtem Unfallrisiko, stellt die Dupuytren-Kontraktur gerade im kalten Norden eine erhebliche Beeinträchtigung der persönlichen Lebensführung dar. Dies umso mehr, wenn beispielsweise die Flexionskontraktur das Einstecken der Hand in die Hosentasche oder das Anziehen von Handschuhen im Winter vereitelt. Schwerpunktmäßig erkranken Nordeuropäer oder deren Nachfahren beispielsweise in Australien und Nordamerika. Im Mittelmeerraum ist das Krankheitsbild dagegen rar. Ganz selten sind Schwarzafrikaner und Asiaten von der digitoplamaren Flexionskontraktur betroffen: Mit fortschreitendem Lebensalter besteht ein kontinuierlicher Anstieg der Dupuytren-Prävalenz. Charakteristisch ist die Antrotropie, d. h. deutlich mehr Männer als Frauen zeigen eine digitopalmare Kontraktur. Männer erkranken überwiegend in der 4.–5. Lebensdekade, Frauen meistens 15 Jahre später. Wohl aufgrund dieser zeitlichen Latenz weisen Frauen auch eine moderate Form der Beugefehlstellung auf. Oft beginnt der Morbus Dupuytren einseitig. Dabei wird die dominante Seite keineswegs häufiger befallen. Allerdings lassen
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⊡ Abb. 34.7 Die Lageverhältnisse der Longitudinal- und Transversalfasern in der digitopalmaren Übergangszone: Die oberflächlichen Längsfasern der Lage 1 inserieren im Retinaculum cutis. Die intermediären Fasern der Lage 2 verlaufen spiralförmig um das Gefäß-Nerven-Bündel. Beide längsgerichteten Faserzüge ziehen zunächst oberflächlich der Transversalfasern, um unterhalb des Lig. metacarpale transversum superficialie einzutauchen. Die tiefen Fasern der Lage 3 teilen sich in zwei Portionen: Charakteristisch für die Lage 3a ist ihr Verlauf hinter der Lage 2. Oberdrein zweigt sie gesetzmäßig oberhalb, aber distal der Transversalfasern ab. Tauchen die proximalen Faseranteile unterhalt der Transversalfasern ein, bilden sie die Lage 3b. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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⊡ Abb. 34.8 Fasziensystem des Radial- und Ulnartypen der Dupuytren-Kontraktur. a Proximales und distales Kommissurenligament lassen sich bereits im Normalzustand durch Abspreizung des Daumens im 1. Zwischenfingerraum zur Darstellung bringen. b Die wichtigsten radialen Fasziensysteme. Prätendinöses Band am Daumen mit y-förmiger Aufteilung; starker Anteil zum Zeigefinger, geringer Anteil zum Daumen, c spezielle Anatomie der Faszien- und Sehnenverhältnisse am subkapitalen Querschnitt der Kleinfingerseite. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
sich die Betroffenen frühzeitiger an ihrer funktionell gestörten, dominanten Hand häufiger operieren, was das statistische Übergewicht in operativ orientierten Statistiken erklärt. 34.1.3 Ätiologie
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Der verständliche Wunsch diese systemische Allgemeinerkrankung des Bindegewebes monokausal zu erklären, muss als gescheitert gelten. Unzählige Hypothesen zur Ätiologie der DupuytrenErkrankung sind veröffentlicht worden. Wir beschränken uns auf die meist kontrovers diskutierten Anschauungen, die einerseits Relevanz für die chirurgische Methodenwahl und andererseits eine Bedeutung für eine systemische Therapie besitzen. Das konkordante Vorkommen der Dupuytren-Kontraktur, das Jentsch (1937) bei eineiigen Zwillingen beobachtete, wertete er als eindeutigen Beweis für die Erblichkeit des Krankheitsbildes: Heute gehen wir von einem autosomal-dominanten Erbgang der digitopalmaren Fibromatose mit variabler Penetranz aus. Die volle Genexpression tritt bei Männern erst jenseits des 75. Lebensjahrs auf. Dagegen besteht für Frauen eine geringere Penetranz. Eine Ausnahme gilt allerdings für das weibliche Geschlecht mit Homozytogie durch beide Elternteile. Die Homozygotie bedingt zugleich einen aggressiveren Krankheitsverlauf. Wie Einzelfälle unter reinrassigen ethnischen Gruppen von Afrikanern, Afroamerikanern, Asiaten und sonst nicht prädisponierten Personenkreisen zeigen, aber auch das Auftreten des Morbus Dupuytren bei Kleinkindern belegt, gibt es offensichtlich ein sporadisches und spontanes Auftreten der Erkrankung ( Abschn. 34.1.8). Weiterhin gilt als gesichert, dass die oben genannte Genexpression insbesondere von Matrix-Metallpreinase (MMP2, MMP13, MMP14, MMP16, MMP19), ebenso wie »Thrombopontif motifs« (ADAMTS2, ADAMTS4, ADAMTS5, ADAMTS14 und ADAMTS16) parallel zur Rezidivrate der Flexionskontraktur verläuft. Gleichalt wie die Medizingeschichte der digitopalmaren Fibromatose ist der Versuch einen Zusammenhang zwischen Handtrauma und dem Morbus Dupuytren zu schaffen. Der Beweis von Hämosiderinablagerungen in histologischen Schnitten schien diese Annahme zu bestätigen, ebenso der klinisch höhere Ausprägungsgrad bei repetitiver »Erschütterung«. Doch wie verhält es sich bei nicht händisch Tätigen, die gleichwohl einen mechanischen Hohlhandstress durch stundenlanges Golfen oder enthusiastisches Tennisspiels vorzuweisen haben? In Mitteleuropa und Nordamerika negiert man daher die Traumagenese mehrheitlich, während der Morbus Dupuytren in einzelnen europäischen Ländern (Bulgarien, Dänemark, ehemalige Sowjetunion) gar als Berufserkrankung anerkannt wird. So kommt es, dass u. a. auch Khan et al. (2004) sogar einen inversen Einfluss der manuellen Arbeit mit der Ausbreitung des Morbus Dupuytren postulieren (n=502.493 Probanden, ungefähr 1% der Population von England und Wales). Etliche, überwiegend internistische Erkrankungen sind mit der Dupuytren-Erkrankung assoziiert, ätiologische Gemeinsamkeiten aber nicht schlüssig bewiesen worden. Exzessiver Alkoholkonsum ist unter Dupuytren-Kranken signifikant häufiger als unter nicht befallen Probanden (7,3 »units« versus 5,4 »units« wöchentlich). Alkohol verursacht dabei eine unvollständige Oxidation einzelner Fettsäuren. Akkumulierende kurzkettige Fettsäuren und der Anstieg des Octanoats sind für die konsekutive Leberhypoxie verantwortlich. Im Dupuytren-Gewebe findet man pathologische Konzentrationen von Methylesthern und freiem Cholesterol. Diese Marker der lipogenetischen Aktivität scheinen somit Ausdruck einer milden Hypoxie zu
sein, welche die Fibroblastenproliferation einerseits zur Leberzirrhose und andererseits zur digitopalmaren Fibromatose anregen kann. Mit 28% respektive 22% hatten sowohl Alkoholiker wie auch Abstinente mit gleicher Lebererkrankung eine höher Dupuytren-Prävalenz im Vergleich zur Kontrollegruppe, die sich aus altersgleichen Traumapatienten eines Manchester Krankenhauses rekrutierten. Ähnlich sieht man die Assoziation von Diabetes mellitus und Morbus Dupuytren, wo es aufgrund der diabetischen Mikroangiopathie zur lokalen Ischämie mit Freisetzung von freien Sauerstoffradikalen kommt, welche wiederum die Fibromatose stimulieren. Vor allem die Kombination aus Epilepsie und DupuytrenFlexionskontraktur ist häufig anzutreffen. Epileptiker haben eine 5-fach höhere Inzidenz der Beugekontraktur, während bei Epileptikerinnen das Risiko sogar um das 11-fache gesteigert ist. Hinsichtlich der Koinzidenz zwischen Epilepsie und der palmaren Fibromatose bestehen zwei wesentliche Hypothesen: 1. Sowohl die Epilepsie als auch die Dupuytren-Kontraktur besitzen eine genetische und damit vererbliche Grundlage. 2. Die Zunahme der digitopalmaren Fibromatose wird als Sekundäreffekt infolge Medikation (z. B. Antikonvulsiva oder Phenobarbital) verstanden. Der Morbus Dupuytren entsteht keinesfalls als eine de Novo-Proliferation (externe Hypothese), sondern entwickelt sich aus entlang des chassisartigen, digitopalmaren Bindegewebskörpers (interne Theorie). Der primäre Induktor des Morbus Dupuytren, der insbesondere die Freisetzung von FGF (»fibroblast growth factor«) aus endothelialen oder perivaskulären Zellen ermöglicht und als angiogenetische Antwort zur Proliferation von Fibroblasten und den pathognomische Myofibroblasten führt, schien bislang unbekannt. Ein möglicher Kausalfaktor sind Sauerstoffradikale. Letztere sind Atome oder Moleküle mit einem unpaaren Elektron auf ihrem äußeren Orbit (univalent reduziertes Sauerstoffatom oder -molekül). Der Drang ein weiteres Elektron einzufangen, macht Sauerstoffradikale zu chemisch hochreaktiven Substanzen im Gewebe. Vermehrte Sauerstoffradikale bilden sich bei Hyperoxämie (»respiratory distress syndrome«), ferner bei andauernder Gewebehypoxie (mikrovaskuläre Okklusion), bei Entzündungsvorgängen (Autoimmunerkrankungen), als Folge von Strahlentherapie (antineoplastischer Effekt der Radiolyse) und unter Einwirkung spezifische Toxine (Äthylalkohol, medikamenteninduzierte Lebertoxizität). Aufgrund einer überschießenden Radikalenbildung und/oder einer Schwächung der antioxidativer Schutzsysteme resultiert »oxidativer Stress«. Antioxidanzien – sog. Scavenger – wie etwa Vitamin A, C, E (Retinol, Ascorbinsäure und Tocopherol) vermögen ebenso wie Gutathion, Cystein, Lycopin (in Tomaten) und Zeaxanthin (im Mais) das zur Vervollständigung der Sauerstoffreduktion benötigte zusätzliche Elektron bereitzustellen und somit die Sauerstoffradikale zu eliminieren. Kommt es zu keiner »Pufferung« der Sauerstoffradikale, resultiert infolge einer Störung der andenosintriphosphatabhängigen Zellmembranfunktion der programmierte Zelltod (Apoptose). Unter Hypoxiebedingungen wandelt sich die Energiegewinnung von der ökonomischen oxydativen Phosphorrylierung zur unwirtschafltichen anaeroben Glykolyse. Lokale Ischämie verursacht einen ATP-Abbau bis zu den Purinbasen Hypoxanthin und Xanthin; zugleich wird Hypoxanthindehydrogenase zu Xanthinoxidatse verstoffwechselt. Schließlich werden die resultierenden freien Radikale freigesetzt. Neben der Ischämie ist es insbesondere der Alkohol, der diese Transformation begünstigt; ein Umstand, der für die Koinzidenz von Alkoholabusus und Morbus Dupuytren spricht.
897 34.1 · Allgemeines
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Hypoxanthindehydrogenase in der menschlichen Skelettmuskulatur und ebenfalls in den kapillären Endothelzellen in mehrfach höherer Konzentration als in allen Körperzellen vorliegt. Kommt freies Hypoxanthin mit molekularem Sauerstoff zusammen, so bilden sich einerseits Urat und andererseits freie Sauerstoffradikale. Entweder die entstehenden freien Radikale, deren Halbwertzeit nur einige Millisekunden beträgt, oder aber deren Zerfallsprodukte schädigen die Mikrogefäßlumina und vermögen zumindest theoretisch Perizyten oder Fibroblasten zur Umwandlung in die pathognomischen Myofibroblasten zu beeinflussen. Dieser Vorgang beschleunigt eine Verengung der Mikrogefäßlumina und perpetuiert daher die lokale Ischämie sowie die Generation von weiteren Radikalen. Auch Nikotinabusus fördert diese uniforme Pathologie. Überzeugend zeigten Murrel et al. (1987, 1990), dass das pathologische Fasziengewebe von Dupuytren-Kranken eine 6-fach höhere Konzentration an Hypoxanthin im Vergleich zum vermeintlich normalen Fasziengewebe enthält. Reagiert Letzteres mit
der Hypoxanthinoxidase, entstehen erneut freie Sauerstoffradikale. Den Effekt der durch die Blutleere bedingten Ischämie bei Gesunden veranschlagen sie mit unter 10% gegenüber einem globalen Anstieg um 600% beim Morbus Dupuytren. In den von Morbus Dupuytren befallenen Palmarfaszie nimmt die Konzentration an Hypoxanthin entsprechend der Zelldichte an Fibroblasten zu und ist zweimal größer in dem als »Knoten« klassifizierten Gewebe im Vergleich zum »Strang«. Das Verhältnis beträgt 0,32 μmol Hypoxanthin pro Gramm Nassgewicht versus 0,14 μmol Hypoxanthin/g Nassgewicht (p60°) und zwar jeweils mit und ohne Kapsulotomie. Trotz Kapsulotomie und Desinsertion der Zügelbänder zeigt sich statistisch keine Besserung verglichen mit der Gruppe ohne Artholyse. Die Komplikationsrate nach Kapsulotomie betrug 27% gegenüber 19% bei unversehrter Gelenkkapsel. Nachdem bekannt ist, dass die Arthrolyse mit temporärer Kirschner-Draht-Transfixation keineswegs langfristig günstigere Erfolge gegenüber der konventionellen Kapsulotomie ergibt, plädiert McGrouther (1999) deshalb dafür, die Indikation zur Arthrodese großzügig zu stellen. Summarisch geht man im Schrifttum mehrheitlich davon aus, dass eine Restkontraktur, nach ausgeschöpften Therapiemöglichkeiten, von bis zu 45° tolerable ist.
Umstellungsosteotomien Moberg (1973) hat, um die Flexionskontraktur am Kleinfingermittelgelenk zu reduzieren, eine subkapitale Resektion des Fingergrundgelenks empfohlen. Im nächsten Schritt wird die Trochlea phalangis proximalis um 90° nach palmar gekippt und in der neuen Position mit dem Grundglied neu osteosynthetisiert. Durch diese Umstellungsosteotomie kann eine exzessive Flexionskontraktur in eine funktionell günstige Stellung überführt werden. Eine Modifikation dieses Verfahrens stellt die von Tonkin et al. (1985) propagierte dorsale Keilosteotomie dar. Durch Wegnahme eines gleichschenkligen Dreiecks mit der Basis an der dorsalen Kortikalis verkleinert sich das initiale Streckdefizit beispielsweise von 90 auf 30°, wobei ein identisches, jedoch vorteilhafteres Bewegungsausmaß (»range of motion«, ROM) von ebenfalls 60° erhalten bleibt (⊡ Abb. 34.17).
Arthrodesen Die Arthodese endet in einer schmerzlosen, stabilen Fusion eines früheren Gelenks und platziert den ehemals kontrakten Finger in eine günstigere Funktionsstellung. Der Nachteil ist die bleibende Steife. Besteht eine nicht »auflösbare«, vorwiegende Mittelgelenkkontraktur in über 90-Grad-Stellung, ergibt sich nach ausgeschöpften vorgenannten Optionen die Indikation zur Arthrodese. Dazu wird mit einer bogenförmigen Inzision das Mittelgelenk umschnitten, der Tractus intermedius dargestellt und als ein distal gestieltes V hochgeschlagen. Nach Entknorpelung der Gelenkflächen werden Grund- und Mittelglied in einen günstigen Angulationswinkel gebracht. Diese Einstellung wird durch zwei parallel eingebohrte Kirschner-Drähte gehalten. Durch den transversalen gebohrten Knochenkanal an der Mittelgliedbasis führt man eine Drahtnaht hindurch, um so die Zuggurtungsarthrodese zu beenden. Der zurückgeschlagene v-förmige Sehnenlappen bedeckt günstigstenfalls das Implantat bei dieser »Cupand-Cone«-Arthrodese. Es folgt die Hautnaht. Andererseits kann ein longitudinaler Schnitt, der Haut, Subkutis, Sehnenanteile und die Gelenkkapsel durchtrennt, gewählt werden. Proximal des Gelenkknorpels wird der Kopfanteil des Grundgliedes in 90-GradStellung zur Fingerachse reseziert. Die Mittelgliedbasis durchtrennt man keilförmig, um den benötigten, funktionell günstigen Neigungswinkel zu erhalten. Die beiden glatten Resektionsflächen erlauben jegliche Rotation, um eine axial günstige Versteifung des Fingers zu ermöglichen. Die Arthrodese ist möglich entweder als Zuggurtungsarthrodese, wie oben beschrieben, oder auch durch einen diagonal eingeschossenen Kirschner-Draht, der durch zwei transversale Drahtenden ergänzt wird, die man an ihren Enden beiderseits verdreht, umso die zur Konsolidierung notwendigen Kompression auf die Resektionsflächen zu bringen ( Kap. 23).
Amputationen Amputationen betreffen vorwiegend den Kleinfinger und ausnahmsweise den Ringfinger. Wegen des Fibrosebefalls auch des Fingergrundgliedes sollte primär die Exartikulation im Grundgelenk erwogen werden. Dabei kann der Weichteilmantel des amputierten Fingers (»Filetlappen«, Cheiloplastik) zur Defektdeckung in der Hohlhand bei kontrakturinduziertem Substanzdefekt dienen (⊡ Abb. 34.18). Der Filetlappen ist Hauttransplantaten und Fernlappenplastiken überlegen, da er hinsichtlich des handtypischen Gewebsaufbaus und des Farbmatch übereinstimmt, die Haut belastbar ist und das Feingefühl unübertroffen bleibt.
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
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c ⊡ Abb. 34.16 Restkontrakturen. a Schema der persistierenden Sekundärkontraktur eines PIP-Gelenks. b Die Zügelbänder sind schwalbenschwanzförmige, bindegewebige »Ligamente«, die zwischen der palmaren Platte und deren Insertionsflächen an den ulnaren und radialen Knochenleisten (»assembly lines«) des Fingergrundgliedschaftes verlaufen. Nach Darstellen der bilateralen Aa. digitales palmares propriae wie auch der transversalen, unterhalb der Zügelbänder verlaufenden Arcus digitopalmaris (zur Versorgung des Vincula-Systems der Beugesehnen) desinseriert man basisnah an der palmaren Platte die »check reins« oder reseziert sie vollständig. c Im ersten Schritt wird diese Sekundärkontraktur durch die Resektion der Zügelbänder (»check reins«) und bei fortbestehender Retraktion durch das Ablösen der akzessorischen Seitenbänder beiderseits behandelt. d Durch passive Aufdehnung des proximalen Interphalangealgelenks, bei gebeugtem Metakarpophangealgelenk, löst sich die Sekundärkontraktur normalerweise auf. Bei fortdauernder, elastischer Resistenz oder eventuellem Schnappeffekt ist auch eine komplette Kerbung der geschrumpften Ligamenta collateralia accessoria sinnvoll. Gegebenenfalls können auch beide Bänder vollständig reseziert werden. Der transversal verlaufende digitalpalmare Arcus (»digitopalmarer Bogen«) darf weder unachtsamerweise durchtrennt noch zerrissen werden. Unmittelbar nach dem Eingriff beginnt die aktive Übungsbehandlung. Zusätzlich wird eine dynamische Streckschiene getragen. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
913 34.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 34.17 Umstellungsosteotomie. a Korrekturmöglichkeiten einer 90-Grad-Flexionskontraktur des proximalen Interphalangealgelenks modifiziert nach Moberg und Tonkin: Subkapitale, keilförmige Resektion und Osteosynthese in Überstreckstellung des Grundgliedköpfchens. Der dorsale Winkel verdeutlicht das Ausmaß der Keilresektion. Reduktion der ursprünglichen Flexionskontraktur auf 30° postoperativ. b Zur Fixation dient eine diagonaler Kirschner-Stift und eine Drahtnaht als Zuggurtung. Im Osteotomiespalt entwickelt sich eine zunehmende Kompression durch aktive, frühfunktionelle Beübung. Der ROM (»rang of motion«) bleibt mit annähernd 60° gleich. c Fertiggestellte Umstellungsosteotomie modifiziert nach Moberg. Reduktion der Flexionskontontraktur von 90 auf etwa 30°. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
a ⊡ Abb. 34.18 Amputation. a Wegen funktioneller Behinderung z. B. infolge mehrfacher Dupuytren-Rezidive, oder intraoperativ aufgrund der Ischämie ergibt sich die Indikation zur Kleinfingeramputation. b Nach Exartikulation im Kleinfingergrundgelenk wird der Haut-Weichteil-Mantel, in dem sich die beiden Gefäß-Nerven-Bündel befinden, als sog. Filetlappen (Cheiloplastik) dazu verwandt, den beugeseitigen Defekt zu schließen. (Aus Brenner u. Rayan 2003)
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
Zur Vermeidung von Amputationsneurinomen kann der routinierte Mikrochirurg auch eine »on-top plasty« des an den bilateralen Gefäß-Nerven-Bündeln freipräparierten Endgliedes wählen, das auf den durch Segmentamputation resultierenden Grundgliedstumpf durch Osteosynthese oder Arthrodese gesetzt wird. Ein wesentlicher Vorzug der »on-top plasty« besteht darin, dass sie die eigentliche Stumpfbildung, trotz partieller Nachamputation, geschickt umgeht. 34.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Komplikationen können in jeder Phase des intra- oder perioperativen Verlaufs entstehen. Es ist indes das Talent des Chirurgen, solche Schwierigkeiten prompt zu erkennen. Das Vermögen seiner zielgerichteten Handlungsweise entscheidet darüber, ob trotz Komplikationen schon kurz- oder erst langfristig ein günstiges Behandlungsergebnis zu erwarten ist. 34.3.1 Hämatome
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Blutergüsse können aufgrund der intrapalmaren Druckerhöhung zur Nekrose der grenzwertig durchbluteten Lappens führen. Bei ausbleibender Evakuation entsteht eine ausgeprägte Bewegungsbehinderung. Manchmal besteht zudem eine verstärkte postoperative Ödembildung, die auch eine vermehrte Reflexdystophie erklärt.
34.3.4 Transplantatverlust Verluste von Hauttransplantaten beruhen auf einem falsch beurteilten Wundgrund, inkorrekter Transplantatwahl, falscher Transplantatgröße mit zeltdachartiger Abhebung am Empfängerort sowie eventueller Unterblutung und unzulänglicher Immobilisation der Gliedmaße. Beide letztgenannten Faktoren vereiteln das Einsprossen von Kapillaren in das Transplantat. Die Folge ist eine notwendige Konditionierung des Wundgebietes für ein zweites Transplantat, die Entscheidung zugunsten einer homo- oder heterodigitalen Lappenplasitk oder das Überlassen einer Sekundärgranulation an den Fingern, die zwangsläufig zur plattenartigen Narbenkontraktur führt und damit zur Minderfunktion. 34.3.5 Lappennekrose Lappennekrosen sind mehrheitlich das Ergebnis eines falschen Lappendesigns bei Missachtung des Längen-Breiten-Verhältnisses. Ein Verhältnis von mehr als 1:2 führt zur vaskulären Insuffizienz. Ferner entsteht eine Lappennekrose durch Zug an den Wundrändern, durch Serome oder Hämatome unterhalb des Lappens, aufgrund der resultierenden externen Kompression sowie als Endprodukt einer falschen Dissektionsebene. Knopflochartige, akzidentelle Hautperforationen können fallweise die Ursache einer Lappennekrose aufgrund einer unzureichenden Restperfusion sein. 34.3.6 CRPS (Reflexdystrophie, Algodystrophie)
34.3.2 Gefäß-Nerven-Verletzungen Die Auswirkung von durchschnittenen Fingernerven, sofern sie nicht unmittelbar durch epiperineurale Naht oder Nerventransplantat rekonstruiert werden, ist ein asensibles Areal. Währenddessen können Elongationen der Fingergefäße bei aufgehobener, langfristig bestehender und fortgeschrittener Flexionskontraktur eine temporäre oder auch dauerhafte Ischämie zur Folge haben. Ischämiegefährdet sind besonders Ein-Gefäß-Finger bei Rezidiveingriffen, bei denen eine mikrovaskuläre Gefäßrekonstruktion nicht gelingt. Amputation respektive Exartikulation sind notwendige Folgen. Daher sollten bereits präoperative angiologische Methoden zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos eingesetzt werden. Die detaillierte Kenntnis der unterschiedlichen Strangformationen erlaubt eine gewisse Vorhersagewahrscheinlichkeit bezüglich der Verlagerung non neurovaskulären Bündeln und verringert somit deren unabsichtliche Durchtrennung. 34.3.3 Wundrandnekrosen Die Inzidienz der Wundrandnekrosen variiert zwischen 3,2–15%. Dabei besteht die geringste Nekroserate für die Longitudinalinzisione mit seriellen Z-Plastiken. 4,2% Nekrose und eine zusätzliche Randnekroserate von 10,6% bei Transversalinzisionen nach McIndoe standen den unvorteilhaftesten L-förmigen Inzisionen mit 5,5% ausgeprägter Nekrosen und weiteren 11,2% Randnekrosen gegenüber. Folgen des Gewebeuntergangs können ernst zu nehmende Infekte sein: freiliegende Gefäß-Nerven-Bündel, schlimmstenfalls eine denudierte Beugesehnenscheide, ferner ein eröffnetes Gelenk nach Arthrolyse und freiliegenden Implantate nach Arthrodese.
Präventiv sollten expansive Simultaneingriffe unterbleiben. Eine atraumatische Operationstechnik, die darauf bedacht ist, Devaskularisationen von Gewebsabschnitten zu vermeiden, soll die Inzidenz der sympathischen Reflexdystrophie senken. Hinsichtlich der stadiengerechten Therapie, die immer interdisziplinäre (Chirurg, Schmerzklinik, Physiotherapeut, ggf. Psychiater oder Psychotherapeut) verläuft, sei auf Kap. 18 verwiesen.
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Kapitel 34 · Morbus Dupuytren
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34
919 34.3 · Weiterführende Literatur
Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich Robert Hierner, Zunli Shen
35.1
Allgemeines – 920
35.1.1 35.1.2 35.1.3 35.1.4 35.1.5 35.1.6 35.1.7 35.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 920 Epidemiologie – 924 Ätiologie – 924 Diagnostik – 925 Klassifikation – 925 Indikationen und Differenzialtherapie – 925 Therapie – 961 Besonderheiten im Wachstumsalter – 971
35.2
Spezielle Techniken
– 971
35.2.1 35.2.2 35.2.3
Freie Hauttransplantation – 971 2- bzw. 4-Lappen-Z-Plastik zur Vertiefung der 1. Kommissur – 973 Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz zur Korrektur einer Adduktionskontraktur mit einer vernarbten Kommissurenplatte im Bereich der 1. Kommissur – 973 35.2.4 A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastikreihe (Hilgenfeld, Holevich, Foucher) – 973 35.2.5 Transpositionslappen nach Hueston – 974 35.2.6 Laterale Transpositionslappenreihe im Fingerbereich (Tanzer, Colson, Russel, Oberlin) – 976 35.2.7 Distal gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis -IV-Lappenplastikreihe (Maruyama, Quaba, Bakhach) – 977 35.2.8 A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach Pendeado bzw. Zancolli – 978 35.2.9 Ulnodorsale fasziokutane Perforatorlappenplastik nach Becker u. Gilbert – 979 35.2.10 Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock in epifaszialer Technik nach Wei – 979 35.2.11 Leistenlappen nach McGregor – 980 35.2.12 Freie mikrovaskuläre (erweiterete) laterale Oberarmlappenplastik nach Song – 982
35.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 983 Weiterführende Literatur
– 984
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
35
920
35.1
Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Allgemeines
Für die erfolgreiche Therapie von Defektzuständen im Handbereich hat sich ein globales Defektmanagement bewährt, welches basiert auf: ▬ profundem Basiswissen ( Abschn. 35.1.1), ▬ einer multidisziplinären Behandlung mit einer gemeinsamen Sprache für Diagnostik und Dokumentation ( Abschn. 35.1.4, Abschn. 35.1.5), ▬ einer standardisierten Patientenauswahl und ▬ einem sog. »integrativen Therapiekonzept« ( Abschn. 35.1.7).
(»back-cut«, mikrochirurgische Präparation des Gefäß-NervenBündels) gehoben werden können, mit dem Ziel einen immer größeren Defekt zu decken. Für den klinischen Gebrauch haben sich die im Folgenden aufgeführten Lappenreihen bewährt. Lappenreihen für den klinischen Gebrauch 1.
2.
35.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Vaskularisation: Konzept der Lappenreihe
35
Die Kenntnis der regionenspezifischen Vaskularisation unter Normalbedingungen und ihrer defektbedingten Beeinträchtigung beeinflusst die Auswahl des Therapieverfahrens entscheidend. Basierend auf einer profunden Kenntnis der Vaskularisation im Daumen- und Fingerbereich ist es möglich, eine Vielzahl von homodigitalen Lappenplastiken zu beschreiben. Zur besseren didaktischen Darstellung hat sich das »Konzept der Lappenreihen« bewährt. Unter einer Lappenreihe werden alle Lappenplastiken zusammengefasst, die vom selben Spendergebiet – palmare, dorsale oder laterale Fingerhaut – durch Ausweitung der Präparation
⊡ Abb. 35.1 Palmare Dehnungslappenreihe im Daumenbereich (Moberg, Foucher, O’Brien, Epping). a Schema: palmare neurovaskuläre bipedikuläre Dehnungslappenplastik nach Moberg: Durch eine weitere Z-Plastik im Bereich der distalen MPGelenkfalte kann zusätzlich Strecke gewonnen werden (Modifikation nach Foucher). b Mit dieser Schnittführung können palmare Defekte der Zone 2 im Endgliedbereich zuverlässig gedeckt werden. c Schema der palmaren neurovaskulären bipedikulären Insellappenplastik nach O‘Brien: Durch mikrochirurgische Präparation des beiden GefäßNerven-Stiele kann der Schwenkradius vergrößert werden. Zur Deckung des Spenderdefekts ist ein Hauttransplantat notwendig. d Mit dieser Schnittführung können palmare Defekte der Zone 2 im Endgliedbereich zuverlässig gedeckt werden, eine Flexion im IP-Gelenk ist nicht mehr notwendig. e Schema der palmaren neurovaskulären bipedikulären erweiterten Insellappenplastik nach Epping: Durch Vergrößerung des Hautlappen auf P1 und P2 kann der Schwenkradius abermals vergrößert werden. Zur Deckung des Spenderdefekts wird eine VY-Plastik durchgeführt. f Mit dieser Schnittführung können palmare Defekte der Zone 3 im Endgliedbereich zuverlässig gedeckt werden
Daumenbereich: – Palmare Dehnungslappenreihe (Moberg, Foucher, O‘Brien, Epping; ⊡ Abb. 35.1) – Palmare Transpositionslappenreihe (Hueston, O‘Brien) – Dorsale Transpositionslappenreihe (Hueston, Brunelli) Fingerbereich: – Bilaterale Dehnungslappenreihe (Tranquilli, Lealy, Atasoy, Snow) – Unilaterale Dehnungslappenreihe (Geissendörfer/Kutler, Venkataswami, Mouchet) – Unilaterale Insellappenreihe (Littler, Loda) – Palmare Transpositionslappenreihe (Hueston) – Dorsale Transpositionslappenreihe (Hueston, Büchler) – Laterale Transpositionslappenreihe (Colson, Elliot, Oberlin) – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastikreihe (Hilgenfeld, Holevich, Foucher) ( Abschn. 35.2.4) – A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis -IV-Lappenreihe (Aruyama/ Quaba/Backhach; Abschn. 35.2.6)
a
b
c
d
e
f
921 35.1 · Allgemeines
In der klinischen Praxis hat es sich bewährt, die maximal zu präparierende Lappenform anzuzeichnen (⊡ Abb. 35.1c,d) und dann die Präparation am individuellen Patienten an dem Ort zu beenden, an dem eine ausreichende und adäquate Defektdeckung der gehobenen Lappenplastik erreicht werden kann (⊡ Abb. 35.1e). Prinzipiell sollten große Lappen geschnitten werden, da sowohl ihre Durchblutung als auch ihre funktionellen Ergebnisse (Sensibilität) denen kleiner Lappenplastiken überlegen ist. Ein weiterer Vorteil des großen Lappendesigns besteht darin, dass bei Wundheilungsstörungen mehr Material zur Korrektur – im Sinne eines »Nachschiebens der Lappenplastik« – vorhanden ist.
Hautlinien im Bereich der Hand Durch die (elastischen) Verbindungen zwischen Haut und dem darunter liegenden Gewebe (z. B. Muskel) überträgt sich die Spannung in Ruhe und bei Bewegung auf die Haut. Dies führt zu den typischen Hautfalten. Die »relaxed skin tension lines« (RSTL) nach Borges stellen die dynamische Situation am Lebenden mit noch bestehendem Muskeltonus dar. Die Langer-Hautlinien zeigen den bevorzugten (statischen) Spannungsverlauf der Haut im Zustand der Totenstarre (Rigor mortis). Die Hautlinien haben für das plastisch-chirurgische Vorgehen mehrere Bedeutungen: Die größte Verschieblichkeit der Haut besteht immer senkrecht zum Verlauf der Hautlinien (»lines of maximal extensibility«, LME), weshalb sich die Wundkontraktion auch vorwiegend in diese Richtung auswirken kann. Schnittführungen im Hautniveau bei elektiven Eingriffen sollten deshalb paralell zu den LangerHautlinien bzw. RSTL erfolgen, da quer verlaufende Narben oft ästhetisch störend wirken. Praktisch sollte man die Rücksicht auf die Spannungslinien nur dort verlassen, wo erschwerte Übersicht einen anderen Hautschnitt vorschreibt oder die Lage der Narbe die spätere Funktion beeinträchtigen würde (⊡ Abb. 35.2).
»Rekonstruktive Einheiten« im Bereich der Hand Im Hinblick auf die Defektrekonstruktion hat es sich auch im Handbereich bewährt, sog. »rekonstruktive Einheiten« oder »funktionelle
a
b
Hauteinheiten« zu unterscheiden. Diese Einheiten berücksichtigen neben lokalen Faktoren, wie Funktion, mechanische Beanspruchung und Ästhetik, vor allem die Möglichkeiten der Defektdeckung. Im distalen Unterarmbereich, welcher den Handgelenkbereich mitbeinhaltet, werden eine dorsale, ulnare, palmare und radiale Subeinheit unterschieden. Im Handbereich können folgende »rekonstruktive Einheiten« benannt werden: 1. Handrücken, 2. Hohlhand, 3. 1. Zwischenfingerfalte, 4. 2.–4. Kommissur, 5. Daumen und 6. Finger. Für diese Einheiten können nach Tubiana weitere Subeinheiten beschrieben werden (⊡ Tab. 35.1, ⊡ Abb. 35.3).
Konzept der Niederresistenzzonen im Bereich der Hand Hinsichtlich der mechanischen Beanspruchung müssen sog. Niederresistenzzonen im Bereich der Hand besonders beachtet werden (⊡ Abb. 35.4). Als Niederresistenzzonen werden Regionen beschrieben, in denen der Knochen direkt unter der Haut liegt und nicht vom Muskel »abgepolstert« ist und die größeren mechanischen Belastungen ausgesetzt sind. Selbst bei »ersatzstarkem« Lager in diesen Regionen sollte hier keine alleinige Spalthauttransplantation zur definitiven Defektdeckung durchgeführt werden. Wegen der geringen Widerstandsfähigkeit der alleinigen Spalthautplastik und der hohen mechanischen Beanspruchung kommt es in vielen Fällen zur Ausbildung instabiler Narbenverhältnisse.
Hautqualitäten im Handbereich Im Hinblick auf die regionenspezifischen Anforderungen an die Weichteildeckung und die lokalen therapeutischen Möglichkeiten spielt auch die Lokalisation des Defektes eine entscheidende Rolle. Die Haut an der palmaren Seite der Hand unterscheidet sich von
c
⊡ Abb. 35.2 Spannungslinien der Haut im Bereich der Hand. a Palmare Ansicht, b dorsale Ansicht. c Das Ausmaß der Wundranddehiszenz einer Schnittwunde hängt von der Richtung des Wundverlaufs zu den Hautspaltlinien ab. Die in Richtung 1 und 2 parallel oder fast parallel zu den Spaltlinien gesetzten Schnittwunden sind einem geringeren Seitenzug ausgesetzt als die der Wunde 3 und 4. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
35
922
Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
⊡ Tab. 35.1 Funktionelle und ästhetische Einheiten und Untereinheiten im Handbereich Handgelenk (distales Unterarmdrittel)
palmare Untereinheit dorsale Untereinheit radiale Untereinheit ulnare Untereinheit
Handrücken Hohlhand
Zentrale Untereinheit Radiale Untereinheit (Thenar) Ulnare Untereinheit (Hypothenar) Metacarpophalangealgelenk Untereinheit
1. Zwischenfingerfalte (Kommissur)
Distaler Kommissurenrand Dorsale Kommissurenplatte Palmare Kommissurenplatte
Daumen (D I)
Dorsaler MP-Gelenk-Bereich Grundglied (P1)
Palmare Untereinheit Dorsale Untereinheit
Dorsaler IP-Gelenk-Bereich Endglied (P2)
Palmare Untereinheit Dorsale Untereinheit
2.–4. Zwischenfingerfalte (Kommissur)
Distaler Kommissurenrand Dorsale Kommissurenplatte
35
Palmare Kommissurenplatte Finger
Dorsaler MP-Gelenk-Bereich Grundglied (P1)
Palmare Untereinheit Dorsale Untereinheit
Dorsaler PIP-Gelenk-Bereich Mittelglied (P2)
Palmare Untereinheit Dorsale Untereinheit
Dorsaler DIP-Gelenk-Bereich Endglied (P3)
Palmare Untereinheit Dorsale Untereinheit
a
b
c
d
⊡ Abb. 35.3 »Rekonstruktive bzw. funktionelle Einheiten« im Bereich der Hand. a Ventrale Ansicht, b dorsale Ansicht, c 1. Zwischenfingerfalte, d 2.–4. Zwischenfingerfalte
35
923 35.1 · Allgemeines
Spina scapulae Radix spinae
Extremitas acromialis claviculae
Clavicula Acromion Processus coracoideus Tuberculum maius
Acromion Tuberculum maius
Tuberculum minus Caput humeri
Margo vertebralis
Margo ulnaris Corpus humeri
Margo ulnaris
Margo radialis
Angulus caudalis
Corpus humeri Margo radialis
Epikondylus radialis
Epikondylus ulnaris
Epikondylus ulnaris Processus coronoideus
Capitulum radii
Epikondylus radialis Capitulum radii
Olecranon
Crista dorsalis ulnae Eminentia carpi radialis
Capitulum ulnae
Corpus radii, Margo radialis Processus styloideus radii Tuberositas ossis navicularis Tuberculum ossis trapezii Caput ossis metacarpi I
Corpus ulnae, Margo ulnaris Os pisiforme Eminentia carpi Hamulus ossis ulnaris hamati
Os metacarpi V
Caput ossis metacarpi V
Ossa sesamoidea
Basis Corpus Margo lateralis Caput
Phalanx proximalis Phalanx proximalis
Basis phalangis distalis a
Processus styloideus ulnae Os capitatum, Facies dorsalis Os hamatum, Facies ulnaris
Cupula digiti
Phalanx media
Basis Corpus Caput Basis Corpus Caput
Corpus radii, Facies dorsalis Processus styloideus radii Os trapezium, Facies dorsalis
Basis Corpus Caput Phalanx distalis Daktylion
b
⊡ Abb. 35.4 Niederresistenzzonen im Bereich der Hand. a Ventrale Ansicht, b dorsale Ansicht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
jener der dorsalen Seite durch eine hohe mechanische Beanspruchungsfähigkeit und eine ausgezeichnete Sensibilität. > Im palmaren Bereich liegt die sog. Leistenhaut, im dorsalen Bereich die sog. Felderhaut (⊡ Abb. 35.5).
Lappenplastiken für die Deckung auf der Palmarseite müssen ausreichend Fettgewebe besitzen, um einerseits ein Gleiten der Beugesehen zu ermöglichen und andererseits in den Greifarealen (Thenar-, Hypothenar-, Metakarpophalangeal- und Fingerbe-
reich) genügend Abpolsterung zu bieten. An den Fingerkuppen wiederum sollten möglichst sensible Lappenplastiken eingesetzt werden, um deren Sinnesfunktion, das Tasten, aufrechtzuerhalten. Am Handrücken sind vor allem Zugspannungen vorhanden. Für eine normale Handfunktion (vollständige Fingerbewegung und kraftvoller Faustschluss) ist ein relativer Hautüberschuss am Handrücken und im Bereich der Zwischenfingerfalten notwendig. Die Handrückenseite, die soziale Seite der Hand, ist viel mehr exponiert und verlangt daher eher eine ästhetische Deckung.
924
Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Hautleisten Hautfurchen ekkriner Schweißdrüsengang
ekkriner Schweißdrüsengang
Haarschaft
papillärer Gefäßplexus
Talgdrüse
Epidermis Epidermis
Dermis Dermis
a subdermaler Gefäßplexus dermaler Gefäßplexus Pacinikörperchen subcutanes Fettgewebe
⊡ Abb. 35.5 Hauttypen im Handbereich. a Palmare Leistenhaut, b dorsale Felderhaut. (Aus Berger u. Hierner 2009)
b Pacinikörperchen dermaler Gefäßplexus subdermaler Gefäßplexus Arector Pili
subkutanes Fettgewebe Haarfollikel
35 35.1.2 Epidemiologie Defekte im Handbereich sind häufige Defekte. Sog. kleine Handverletzungen können großen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten, wenn sie nicht primär optimal versorgt werden. Hautdefekte, die nicht primär verschlossen werden können, isoliert oder in Kombination mit Knochen-, und/oder Sehnenund/oder Nervendefekten, stellen wegen ihrer unterschiedlichen Ätiologie und Ausprägungen ein komplexes diagnostisches und therapeutisches Problem dar.
momenten und bei jedem Kind unter 2 Jahren die Verletzung durch ein Äquivalent des Kinder- und Jugendamtes abklären lassen müssen, hat man festgestellt, dass bis zu 20% aller kindlichen Verbrennungen auf Kindesmisshandlungen beruhen. Die folgenden Punkte werden in der Literatur als Hinweise auf das Vorliegen einer Misshandlung genannt; findet man 2 oder mehr diese Indizien, so soll dies in 60% der Fälle auf eine Misshandlung hinweisen (nach Blakeney und Herndon). Hinweise auf das Vorliegen einer Misshandlung
35.1.3 Ätiologie
▬ Das verletzte Kind wird nicht von Verwandten zur Behandlung gebracht.
▬ Bei verletzten Erwachsenen besteht ein AbhängigkeitsverNach der Ätiologie unterscheiden wir akute und chronische Weichteildefekte: Akute Weichteilverletzungen sind zumeist Folge von Rasanztraumen (z. B. Motorradunfälle, Sturz aus großer Höhe), Decollement-Verletzungen, Verbrennungen und Schussverletzungen. Bezüglich der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten stellen die kombinierte Weichteil-Knochen-Schädigung und Weichteilschädigung im Rahmen eines Polytraumas eine Sonderform dar. Die häufigste Ursache für chronische Weichteildefekte sind chronische Entzündungen (z. B. Osteomyelitiden), die meist als Spätkomplikationen auftreten, Strahlenschäden nach Radiotherapie, Endzustände nach postthrombotischem Syndrom, Narben nach multiplen Operationen sowie neurogene Erkrankungen.
Handverletzung als Kindesmisshandlung Verbrennungen als Misshandlung im Allgemeinen und speziell an der Hand sind seit etwa 25 Jahren in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Meist sind Kinder und ältere Menschen betroffen. In den USA, wo behandelnde Ärzte bereits bei geringsten Verdachts-
hältnis zwischen Patient und Versorger.
▬ Die Behandlung wird verzögert (>12 h) aufgesucht. ▬ Die Schuld an der Verletzung wird dem Verletztem zugewiesen.
▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus passt nicht zum Verletzungsmuster.
▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus passt nicht zum Verhalten des Patienten.
▬ Ähnliche Verletzungen sind anamnestisch bekannt. ▬ Zeichen von Unterernährung, Vernachlässigung, Alkoholoder Drogeneinfluss.
▬ Die Beschreibung des Verletzungsmechanismus verändert sich mit jeder Erzählung.
▬ Es bestehen Zeichen vorausgehender anderer Verletzungen. ▬ Bei Verbrühungen sind die Verbrennungen glatt abgegrenzt, Beugefalten sind ausgespart (als Zeichen des Eingetauchtwerdens in Abwehrstellung). ▬ Verbrennungen sind an dorsalen Körperarealen.
925 35.1 · Allgemeines
35.1.4 Diagnostik Bei der Untersuchung von Patienten mit Defektverletzungen im Bereich der Hand müssen zwei Situationen unterschieden werden: 1. die isolierte Defektverletzung und 2. die Defektverletzung im Rahmen eines Polytraumas. Für eine möglichst exakte Schadenserfassung dient uns ein »standardisiertes diagnostisches Vorgehen« ( Übersicht). Im Rahmen eines Polytraumas muss dieses »standardisierte disganostische Vorgehen« in ein umfassendes »Diagnostik- und Therapieschama bei Polytrauma integriert werden. Standardisiertes diagnostisches Vorgehen bei Defektverletzungen im Bereich der oberen Extremität (aus Berger u. Hierner 2008)
⊡ Tab. 35.2 Klassifikation des Gewebeschadens an der Hand Scheinbarer Defekt (Wundrandretraktion durch Gewebeelastizität und/oder Schwellung) Realer Defekt (echter Gewebeverlust) Typ A
Isolierter Hautdefekt (Defekte, die bis auf die Faszie reichen können)
Typ B
Kombinierter Weichteildefekt (Haut, Muskel, Sehnen, Nerven, Blutgefäße)
Typ C
Isolierter Knochendefekt
Typ D
Komplexe Weichteil- und Knochendefekte
(Typ E)
Komplexe Defekte mit Eröffnung einer Körperhöhle
Anamnese
▬ Akute Verletzungen ▬ Chronische Beschwerden Klinische Untersuchung
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Inspektion Palpation Perfusion Sensibilität Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit Kraft Spezielle manuelle Untersuchungen, z. B. Karpusdiagnostik
Allgemeine apparative Untersuchungen
▬ Röntgen Spezielle Apparative Untersuchungen
▬ Radiologie – Konventionelle Tomografie – CT – Arthro-CT – MRT – Szintigrafie – Sonografie – Angiografie ▬ Neurologie – Elektromyografie – Nervenleitgeschwindigkeit – F-Welle ▬ Labor – Rheumafaktoren – ASL-Titer ▬ Arthroskopie
35.1.5 Klassifikation Bei einer klinisch apparenten Weichteilinsuffizienz muss primär überprüft werden, ob eine Gewebedehiszenz (»scheinbarer Gewebedefekt«) aufgrund der elastischen Eigenschaften des Weichteilgewebes oder eines Gewebeödems (z. B. Kompartmentsyndrom) oder ein wirklicker Gewebeverlust (»echter Gewebedefekt«) vorliegt. Um das Ausmaß eines echten Gewebedefektes erfassen zu können, unterscheiden wir in (⊡ Tab. 35.2):
1. Defekte die bis auf die Faszie reichen können (Typ-A-Defekt), 2. gemischte Haut-Muskel- und andere Weichteildefekte (Typ-BDefekt), 3. isolierte Knochendefekte (Typ-C-Defekte), 4. kombinierte Weichteil- und Knochendefekte (Typ-DDefekte). 5. Im Stammbereich werden noch bei Eröffnung einer Körperhöhle (Thorax, Abdomen) kombinierte Gewebedefekt mit Eröffnung einer Körperhöhle (Typ-E-Defekte) unertschieden. Zur weiteren Klassifizierung der kombinierten Knochen-Weichteil-Defekte (Typ D) verwenden wir im Hinblick auf die Wahl der Therapieart (konservativ versus operativ), die Verfahrenswahl der Osteosynthese (innere Fixierung – Nagel, Platte – versus äußere Fixierung – Fixateur externe) und das zu erwartende Ergebnis die Klassifikation nach Tscherne, Gustilo oder der Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese (AO) ( Kap. 9). Bei den Weichteildefekten (Typ A und B) bestehen zwei Sonderformen, die Verbrennungsverletzung und die chronischen Druckschädigungen. Für die Klassifikation der Verbrennungsverletzungen wird international die Unterscheidung in I- bis III-gradige, manchmal auch I- bis IV-gradige Verbrennungen ( Kap. 4) angewendet. Die Klassifikation des Dekubitus erfolgt nach der Klassifikation der EUAP in vier Schweregrade ▬ I: nicht wegdrückbare Rötung, ▬ II: Blasenbildung, ▬ III: kutane Läsion bis auf die Faszie, ▬ IV: Defektausdehnung unterhalb der Faszie. 35.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Da eine detaillierte Darstellung der Defekte im Handbereich und ihrer möglichen Therapien den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde, werden nur die klinisch häufigsten Defektsituationen beschrieben. Für weitere Informationen sei auf die ausführliche Sekundärliteratur verwiesen.
Haut- (Typ A) und Weichteildefekte (Typ B) Handgelenk (distales Unterarmdrittel) Aufgrund der funktionellen Bedeutung dieser Region ist eine adäquate Weichteildeckung hier besonders wichtig. Nach Masquelet können folgende Regionen unterschieden werden:
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926
▬ ▬ ▬ ▬
Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
dorsale Handgelenkregion, palmare Handgelenkregion, radiale Handgelenkregion, ulnare Handgelenkregion.
> Da die distale Unterarmregion zu den Niederresistenzzonen zählt, ist die einfache Hauttransplantation meist nur zur temporären Deckung oder als Therapie der letzten Wahl einzusetzen.
Zur Deckung kleiner bis mittelgroßer Defekte können Rotationslappen aus dem Unterarmbereich verwendet werden. Für größere Defekte sind vor allem der A.-interossea-posterior-Lappen ( Abschn. 35.2.8), der ulnodorsale Perfoatorlappen nach Becker u. Gilbert ( Abschn. 35.2.9), der ulnare neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli, der radiale neurokutan gestielte Lappen nach Bertelli, der radiale distale Perforatorlappen nach Goffin und die distal gestielte A. radialis-Lappenplastik nach Stock ( Abschn. 35.2.10) indiziert ( Differenzialtherapie im Bereich des Handgelenks). Die distale gestielte A.-ulnaris-Lappenplastik findet bei uns aufgrund der möglichen Schädigung des N. ulnaris keine Verwendung. Differenzialtherapie im Bereich des Handgelenks (distales Unterarmdrittel)
35
Handgelenk (distales Unterarmdrittel) Dorsale Handgelenkregion
▬ Kleine bis mittelgroße (Breite Wegen der großen Beeinträchtigung der Patienten durch Immobilisation und mehrfache Operationen und den sekundären Immobilisationsschaden im Bereich der gesamten oberen Extremität sollten gestielte Fernlappenplastiken aus dem Leisten-, kontralateralen Oberarm- und Bauchhautbereich nur als letzte Therapiemöglichkeit eingesetzt werden.
Handrücken Anforderungen an die Hautdeckung im Bereich des Handrückens sind Wundschluss und/oder die Schaffung eines ersatzstarken Transplantatlagers bei ausgedehnten kombinierten Haut-, Sehnenund Knochendefekten. Aus funktioneller Sicht muss die Defektdeckung ein ausreichendes Gleitlager für die Strecksehnen schaffen. Wegen der großen Hautverschiebungen in longitudinaler und transversaler Richtung bei Hand- und Fingerbewegungen muss im Bereich der funktionellen Einheit von Hand- und Fingerrücken, die sich von der proximalen dorsalen Handgelenkfalte bis zu den PIP-Gelenken der Finger und dem MP-Gelenk des Daumens erstreckt, ein relativer Hautüberschuss bestehen. Schließlich soll die ästhetische Funktion des Handrückens als soziale Seite der Hand auch aus psychologischen Gründen wiederhergestellt werden. Zur Prävention von postoperativen Bewegungseinschränkungen und einer Minimierung von Narbenbildungen mit sekundären Kontrakturen sind einige wichtige Gesichtspunkte zu beachten. Immer sollten die Grenzen der funktionellen Einheiten der Hand (⊡ Abb. 35.4) respektiert werden. In einigen Fällen kann es deshalb notwendig sein, auch gesunde, nicht verletzte dorsale Haut zu entfernen. Dies gilt vor allem im Fingerrückenbereich, will man die Lappengrenzen zu beiden Seiten in die Mediolaterallinie bringen. Aufgrund der klinischen Erfahrung hat sich für den Handrücken eine Klassifikation in folgende Untergruppen bewährt.
Klassifikation der Defekte im Handrückenbereich
▬ Oberflächliche Defekte ohne Exposition von Strecksehnen ▬ Tiefe Defekte mit Exposition von Strecksehnen – – – –
Kleine zentrale Defekte Defekte proximal der MP-Gelenke Kleine Defekte im MP- und Kommissurenbereich Defekte einschließlich der MP-Gelenke, des Kommissurenbereichs und der Dorsalseite des Grundglieds – Kombinierte Haut-Knochen-Defekte im Handrückenbereich
Oberflächliche Defekte ohne Exposition von Strecksehnen Zur Vermeidung einer postoperativen Narbenkontraktur wird eine gezackte und ggf. die gesunde Haut mit einbeziehende Schnittführung gewählt. Das Hauttransplantat bzw. die Lappenplastik muss in der Stellung der Hand eingenäht werden, in welcher der zu deckende Defekt am weitesten gedehnt ist, was beim festen Faustschluss der Fall ist. Dabei ist darauf zu achten, dass das Transplantat bzw. die Lappenplastik beim Einnähen am Handrücken in Querrichtung weniger gespannt wird als in Längsrichtung. Um eine lange Immobilisationszeit sowie eine tiefe Narbenbildung mit Beeinträchtigung der Gleitschichten und der Strecksehnen zu vermeiden, ist eine primäre Wundheilung im dorsalen Handbereich wichtig ( Abschn. 35.2.1). Tiefe Defekte mit Exposition von Strecksehnen Die Wahl des Verfahrens zur Defektdeckung ist abhängig von Ausdehnung, Tiefe und Lokalisation des Defektes. Kleine zentrale Defekte Aufgrund der großen Mobilität und der guten Vaskularisation der Haut im Handrückenbereich stellen die lokalen defektangrenzenden Lappenplastiken die Therapie der 1. Wahl bei kleineren Hautdefekten im Handrückenbereich dar. Bei runden zentralen Defekten hat sich die Lappenplastik nach Pick bewährt. Bei rechteckigen zentralen Defekten sollte die Technik nach Limberg für Defekte deren beide kleineren Winkel 60° ausmachen eingesetzt werden. Bei rechteckigen Defekten, deren beide kleineren spitzen Winkel 60–90° einschließen ist die Technik nach Dufourmentel vorzuziehen. Lineare oder eliptoide Defekte, die nicht größer sind als ein Drittel des Handrückendurchmessers, können am einfachsten mithilfe einer Brücken- bzw. Visierlappenplastik in Kombination mit einer mitteldicken Spalthautdeckung des Spendergebietes verschlossen werden. Bei exzentrisch gelegenen Defekten, die die Hälfte des Handrückendurchmessers nicht überschreiten, bietet sich ein konventioneller Transpositionslappen mit dem Basis-Längen-Verhältnis von 1:2 zur Deckung an. Das Spendergebiet wird wiederum mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat verschlossen (⊡ Abb. 35.9). Handrückendefekte proximal der Metakarpophalangealgelenke Liegt der Hautdefekt proximal der MP-Gelenke und kann er nicht komplett mit einer lokalen defektangrenzenden Lappenplastik allein verschlossen werden, so ist zu prüfen, ob er nicht mit einer nicht defektangrenzenden Lappenplastik aus dem Handrückenbereich verschlossen werden kann. Zentrale und ulnar gelegene Hautdefekte, die nicht mehr als ein Viertel des Handrückens betreffen, können mithilfe der A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik nach Hilgenfeldt und der A.-metacarpalis-dorsalis-II- bis
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
D
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⊡ Abb. 35.9 Deckung eines kleinen Defektes im zentralen Handrückenbereich nach Wundheilungsstörung bei jahrelanger Kortisonmedikation mithilfe einer Translationslappenplastik nach Iselin. a Schema der Planung der Lappenplastik: Der häufigste Fehler besteht darin, den Drehpunkt der Lappenplastik an der Schnittstelle zwischen Lappen, gesunder Haut und Defekt festzusetzen. Tatsächlich muss der Abstand AB genauso groß wie die Breite des Defektes sein (EE‘). Wenn nun die Lappenspitze (D) nach E geschwenkt wird, muss der Abstand (Spannungslinie) von B zu D genauso groß sein wie BE. Durch die Transposition kommt es zu einer »Verkürzung der Lappenplastik« um etwa ein Drittel der Länge. b Klinischer Aspekt nach Débridement und Lappenumschneidung, c klinischer Aspekt nach Transposition des Lappens und Deckung des sekundären Spenderdefektes mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der Leiste, d Fixierung des Vollhauttransplantats mithilfe eines Überknüpfverbandes, e klinischer Aspekt 6 Monate nach Lappenplastik
35 -IV-Lappenplastik nach Earley und Milner als hautgestielte oder Insellappenplastiken zuverlässig verschlossen werden. Lineare oder elliptoide Defekte, die nicht größer sind als ein Drittel der Handrückenbreite, können am einfachsten mithilfe einer bipedikulären Translationslappenplastik (Visier- bzw. Brücken-Lappenplastik) in Kombination mit einer mitteldicken Spalthautdeckung des Spendergebietes versorgt werden. Bei exzentrisch gelegenen Defekten, die die Hälfte der Handrückenbreite nicht überschreiten, stellt die Translations-Lappenplastik nach Iselin in Kombination mit einer Spalthauttransplantation zur Deckung des Entnahmedefektes die Therapie der 1. Wahl dar. Ist eine Defektdeckung mit einer lokalen Lappenplastik aus dem Handbereich nicht möglich, so sollte als Nächstes an die Möglichkeit einer gestielten Lappenplastik aus dem Unterarmbereich gedacht werden, wobei es sich immer um fasziokutane Transplantate handelt. Bei dicker subkutaner Schicht sollte zur Verbesserung des ästhetischen Ergebnisses und zur Minimierung des Entnahmedefektes (u. a. A.-radialis-Lappenplastik nach Yang) eine gestielte Fett-Faszien-Lappenplastik gehoben werden. Dem Vorteil des geringeren Spenderdefektes steht der Nachteil einer möglichen zweiten Operation zur Nachdeckung bei unvollständigem Anwachsen der Spalthaut und der schlechteren postoperativen Beurteilbarkeit der Lappendurchblutung gegenüber. Bei proximalen handgelenknahen Defekten sollte die ulnodorsale Lappenplastik nach Becker und Gilbert ( Abschn. 35.2.9) bevorzugt werden. Für Defekte, die sich vom Handrücken bis zu den MPGelenken erstrecken, stellt die distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli ( Abschn. 35.2.8) bis auf wenige Ausnahmen bei Defekten bis zu 6×15 cm Größe die Therapie der 1. Wahl dar. Wegen der Gefahr einer Schädigung des R. communicans zwischen den Aa. interosseae anterior und posterior sollte bei Verletzungen im distalen Unterarmbereich die distal gestielte A.-interossea-posterior-Lappenplastik nicht angewandt werden (⊡ Abb. 35.10).
Bei den genannten Ausnahmen sowie bei Defekten, die größer als 6×15 cm sind, kann nur auf die distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik nach Stock zurückgegriffen werden ( Abschn. 35.2.11). Sind lokale Lappenplastiken vom Unterarm nicht möglich, so müssen freie mikrovaskuläre oder gestielte Fernlappenplastiken angewandt werden. Wegen der Notwendigkeit einer frühzeitigen Mobilisierung, der leichteren Pflege und einer geringeren psychischen Belastung des Patienten sind mikrovaskuläre Lappenplastiken den gestielten Fernlappenplastiken vorzuziehen. Wegen der ähnlichen Hautqualität und -farbe und der Tatsache, dass kein Hauptgefäßstamm geopfert werden muss, stellt der laterale Oberarmlappen nach Song die Therapie der 1. Wahl dar. Bei dicker Subkutanschicht und bei sehr kleinem Oberarmumfang bei zierlichen Patienten sollte sie jedoch erst als Therapie der 2. Wahl eingesetzt werden. Hier ist die A.-radialis-Lappenplastik nach Yang die Therapie der 1. Wahl. Dem Vorteil des langen großlumigen Gefäßstieles des Radialislappens steht der Nachteil der Opferung einer Hauptgefäßstraße zur Hand – mit Notwendigkeit einer mikrovaskulären Rekonstruktion – sowie der große ästhetische Defekt im Unterarmbereich gegenüber. Bei ausgeprägter subkutaner Fettschicht an Stamm und Extremitäten sollte aus ästhetischer Indikation eine freie A.-radialis-Faszienlappenplastik mit mitteldicker Spalthautdeckung durchgeführt werden. Ist eine Radialis-Faszienlappenplastik nicht möglich, so sollte als Nächstes die Möglichkeit einer freien mikrovaskulären A.-temporalisFaszienlappenplastik nach Smith geprüft werden. Ist auch diese nicht möglich oder erwünscht, so kann die freie mikrovaskuläre thorakodorsale Faszienlappenplastik nach Wintsch und Helaly, kombiniert mit einer mitteldicken Spalthauttransplantation, in Erwägung gezogen werden. Ist eine freie mikrovaskuläre Lappenplastik nicht möglich, so müssen gestielte Fernlappenplastiken eingesetzt werden. Als Spenderstellen stehen die kontralaterale Außenseite des Oberarms sowie die ipsilaterale Leistenregion und Bauchhaut zur Verfügung.
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⊡ Abb. 35.10 Deckung eines posttraumatischen Handrückendefektes bei komplexer Knochen-Weichteil-Schädigung mithilfe eines A.-interossea-posteriorLappens. a Klinischer Aspekt präoperativ, b Röntgenbild präoperativ, c klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ, d Funktion 1 Jahr postoperativ: Handgelenkstreckung, e Funktion 1 Jahr postoperativ: Faustschluss, f Funktion 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung
Dem Vorteil des besseren ästhetischen Ergebnisses im Bereich des Empfängergebietes, der sich daraus ergibt, dass keine Ausdünnung notwendig ist, steht bei der »Cross-arm«-Lappenplastik nach McCash in der Lambeau-greffe-Technik nach Colson u. Janvier der Nachteil einer sichtbaren und wenig ästhetischen Spenderstelle am kontralateralen Oberarm sowie ein erhöhtes Risiko einer Lappennekrose gegenüber. Im Bereich von Leiste und Bauchhaut kann der Spenderdefekt gering oder zumindest gut versteckt gehalten werden, jedoch ist im Empfängergebiet immer eine zweite Operation zur Lappenausdünnung nach frühestens 6 Monaten notwendig. Wegen der besseren Möglichkeit der frühzeitigen postoperativen Mobilisierung der Hand sollte, wenn es die Ausdehnung des Defektes erlaubt, die Leistenlappenplastik nach McGregor der Bauchhautlappenplastik nach Zoltan vorgezogen werden. Neben den durch die Immobilisation von mindestens 3 Wochen bedingten Nachteilen kommt es bei beiden letztgenannten Lappenplastiken zu einer ausgeprägten Lappenprominenz aufgrund der dicken Subkutisschicht. Zur Vermeidung dieser Lappenprominenz kann bei beiden Lappenplastiken das »Lambeau-greffe-Prinzip« nach Colson u. Janvier oder das »Crane-flap-Prinzip« nach Millard eingesetzt werden.
Differenzialtherapie bei Handrückendefekten proximal der Metakarpophalangealgelenke
▬ Hautdefekte Defektdeckung bedeutet Wiederherstellung von Funktion und Form.
Die Art der Wiederherstellung von Form und Funktion sollte so gewählt sein, dass alle Kriterien der erfolgreichen Defektdeckung (⊡ Tab. 35.5) erfüllt werden können.
sondern der Patient.
Bei der Festsetzung des Therapieverfahrens und der damit verbundenen Nachbehandlung müssen die Möglichkeit zur Rekonstruktion (akuter Gesundheitszustand oder Operabilität) und die Eignung zur Rekonstruktion (allgemeiner Gesundheitszustand) überprüft werden (⊡ Tab. 35.4). Neben Vitalfunktionen und Verletzungsschwere sind (biologisches) Alter, Geschlecht, Beruf, Händigkeit, chronische Erkrankungen, Intelligenz, Akzeptanz, subjektive Wünsche sowie das soziale Umfeld zu bedenken. Bei unmotivierten Patienten mit geringer Compliance können aufwendige Verfahren mit anspruchsvoller postoperativer Nachbehandlung (Hautexpander, Weichteildistraktion) trotz einwandfreier Indikation und Operationstechnik zu einem sehr unbefriedigenden Ergebnis führen.
⊡ Tab. 35.4 Patientenbedingte Faktoren Trauma
Möglichkeit der Rekonstruktion = akuter Gesundheitszustand (Operabilität) VitalfunktionenVerletzungsschwere
Physiologisch
Eignung zur Rekonstruktion = allgemeiner Gesundheitszustand (Biologisches) Alter Geschlecht
Therapiebedingte Faktoren Unter der Bezeichnung therapiebedingter Faktoren werden eine Reihe von Überlegungen zusammengefasst, wie die unterschiedlichen Zeitpunkte der Defektdeckung, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Hautdefektdeckung, die Abwägung zwischen Benefit im Empfängergebiet und Spendergebietsdefekt, die Erfahrungen des Operateurs und die zur Verfügung stehenden instrumentellen Möglichkeiten. Ziele der Rekonstruktion Von einer erfolgreichen Defektdeckung kann heute nur dann gesprochen werden, wenn neben dem primären Wundschluss gleichzeitig mehrere Kriterien erfüllt sind (⊡ Tab. 35.5).
Beruf Chronische Erkrankungen Intelligenz/Compliance Sozialer Hintergrund Alkohol (Nikotin) Subjektive Wünsche etc.
⊡ Tab. 35.3 Entscheidungskriterien für die Defektdeckung. (Aus Berger u. Hierner 2008) Defektbedingte Faktoren
Patientenbedingte Faktoren
Therapiebedingte Faktoren
Ätiologie
Akuter Gesundheitszustand
Rekonstruktionsziel
Lokalisation
Allgemeiner Gesundheitszustand
Timing
Typ
(biologisches) Alter
Rekonstruktionstechnik
Haut
Geschlecht
(Primärer) Wundschluss
Weichteil
Beruf
(Sekundäre) Wundheilung
Weichteil u. Knochen
Intelligenz/Compliance
Hauttransplantation
Wundbeschaffenheit
Sozialer Hintergrund
Lokale (gestielte) Lappen
Sonstige
Subjektive Wünsche
Amputation
Sonstige
Sequenz der Defektrekonstruktion Sonstige
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
⊡ Tab. 35.5 Kriterien der erfolgreichen Defektdeckung. (Aus Berger u. Hierner 2008) Kriterium
Behandlungsziel
Qualität
Temporärer Wundverschluss
Palliative Indikation Infektprophylaxe Flüssigkeitsverlust ↓
Minimalanforderungen
Dauerhafter Wundverschluss
Kurative Indikation
Basisanforderungen
Funktionelle Wiederherstellung
Wiederherstellung der Funktion, frühe Mobilisation
Standardanforderungen
Akzeptables ästhetisches Ergebnis
Körperliche Integrität
Möglichst frühzeitige Belastbarkeit im Hinblick auf eine möglichst kurze Immobilisation zur Vermeidung eines Immobilisationsschadens
Soziale Reintegration
Möglichst geringe physische und psychische Belastung des Patienten
Lebensqualität
Möglichst geringe Kosten
Kosteneffektivität
Kompletter Wundverschluss
Zeitpunkt von Defektverschluss bzw. Defektdeckung Schematisch können mehrere Zeitpunkte des Wundschlusses oder der Defektdeckung unterschieden werden (⊡ Tab. 35.6).
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Akute Defektdeckung ( Generell gilt, je dicker das Hauttransplantat, desto schwieriger ist seine Neovaskularisation durch das Empfängerlager, desto größer ist seine mechanische Belastbarkeit, desto besser ist seine Sensibilität und desto geringer ist seine sekundäre Schrumpfungsneigung.
Beim noch wachsenden Handskelett sollten, wenn möglich, immer Vollhauttransplantate eingesetzt werden. Ebenso sind Vollhauttransplantate die Therapie der 1. Wahl bei palmaren Handdefekten. Spalthauttransplantate sind indiziert bei dorsalen Handdefekten und als Therapie der 2. Wahl im Palmarbereich. Sonderformen der freien Hauttransplantation sind die Meshgraft-Transplantation, das »composite graft«, die Keratinozytensheat-Transplantation und die Transplantation von bioartifiziellen künstlichen Hautäquivalenten. Durch maschinelles Zuschneiden eines Spalthauttransplantates lässt sich dieses netzartig (Mesh-graft, 1:1,5 bis 1:6) aufdehnen. Mesh-graft-Transplantate sind indiziert, wenn viel Sekretfluss (geringe Restinfektion) zu erwarten ist oder zu wenig Haut zur Deckung zur Verfügung steht. > Durch ihre gitterartige Struktur heilen Mesh-graft-Transplantate schlechter an wie die normalen Spalthauttransplantate in »Sheat-Form«. Fuinktionell gesehen sind sie auch weniger belastbar als die ungemeshten Spalthauttransplantate. Wegen des schlechten ästhetischen Ergebnisses sind Meshgraft-Transplantate an der Hand nur ausnahmsweise indiziert.
Ist nur eine Epithelialisierung der Therapieziel, können alternativ auch kultivierte Keratinozyten in Sheat-Form aufgelegt werden (⊡ Abb. 35.33). Nur bei der Vollhauttransplantation erfolgt mit dem Epithelersatz auch ein Dermisersatz. Will man bei großflächigen tiefen Hautdefekten (z. B. Verbrennung 3. Grades, posttraumatische Defekte)
b
d
⊡ Abb. 35.33 Deckung des partiellen Epitheldefektes nach Öffnen einer Cocoon-Handdeformität bei einer 15-jährigen Patientin mit dystrophischer Epidermolysis bullosa. a Präoperativer klinischer Befund, b intraoperativer Befund nach Öffnen der Cocoon-Handdeformität, c intraoperativer Befund nach Auflage von kultivierten Keratinozyten, d klinischer Aspekt nach kompletter Epithelialisation
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
auch die fehlende Dermis ersetzen, müssen vor der Spalthauttransplantation (meist als Mesh-graft- oder Gittertransplantate) entweder heterologe Leichenhaut oder künstliche Dermisersatzstoffe (Integra; Matriderm, Alloderm) eingebracht werden ( Kap. 46). Nah-(Lokal-) und Fernlappenplastiken Für den klinischen Gebrauch hat sich eine primäre Einteilung der Lappenplastiken nach Hierner in »defektangrenzend« und »nicht defektangrenzend« bewährt. Zur Bewertung der Sicherheit der gewählten Lappenplastik wird eine sich auf die Vaskularisation beziehende Subklassifikation (»random pattern« vs. »axial pattern«) benutzt, wobei kein Unterschied hinsichtlich verschiedener Gewebearten (Hautlappen, fasziokutaner Lappen, Faszienlappen, Muskellappen, Mehrkomponentenlappen) besteht.
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z Defektangrenzende Lappenplastiken Defektangrenzende gestielte Lappenplastiken aus der unmittelbaren Umgebung behalten einen Teil ihrer Vaskularisation und Innervation über eine permanente Gewebebrücke, die als Stiel bezeichnet wird. Nach Art der Verlagerung werden dabei Translationslappenplastiken (Sonderform: Z-Plastik als Austauschplastik), Transpositionslappenplastiken, Rotationslappenplastiken und Dehnungslappenplastiken unterschieden. Sonderformen der »defektangrenzenden« Nahlappenplastiken sind die Hautexpansion und die kontinuierliche Hautdistraktion. Dem Vorteil der fehlenden Spendermorbidität sowie einer möglichst ähnlichen Hautfarbe und -textur stehen eine lange Therapiedauer (mindestens 3 Monate) sowie ein erhöhtes Infekt- und Komplikationsrisiko im Extremitätenbereich (20–50%) gegenüber. Es handelt sich immer um ein mehrzeitiges Verfahren mit mindestens zwei Operationen. Für eine möglichst komplikationsarme Hautexpansion muss eine ausreichende Patientencompliance und ärztliche Expertise mit Expandern vorliegen. Die Patienten sollten immer über einen Behandlungszeitraum von 6–12 Wochen (abhängig von der Größe des zu ersetzenden Areals) aufgeklärt werden. Hautexpansion und die kontinuierliche Hautdistraktion werden an der Hand nur ausnahmsweise eingesetzt. Die kontinuierliche Hautdistraktion kann bei der Vorbereitung für eine Trennung einer kompletten kutanen Syndaktylie im Fingerbereich eingesetzt werden. Durch die Präexpansion der Haut ist der Hautschluss im Fingerbereich ohne Vollhauttransplantate möglich, im Kommissurenbereich werden nur noch kleine Transplantate benötigt. z Nicht defektangrenzende Lappenplastiken Nicht defektangrenzende gestielte Lappenplastiken aus der weiteren Umgebung haben keinen direkten Kontakt zum Defekt und werden entweder aus der gleichen (Nahlappenplastik) oder einer entfernten (Fernlappenplastik) Körperregion (Extremität, Kopf/ Hals, Thorax, Rücken, Leiste) entnommen. Abhängig von der Gefäßversorgung unterscheidet man bei den Nahlappenplastiken die klassischen Nahlappenplastiken (»random pattern flaps«) und die Insellappenplastiken (»axial pattern flaps«). Die direkten temporär hautgestielten Fernlappenplastiken sind wie die klassischen Nahlappenplastiken auf eine Neovaskularisierung und Neoinnervierung aus dem Empfängergebiet angewiesen. Sie können eingeteilt werden nach Vaskularisation (»random pattern« vs.« axial pattern flaps«), Lappendesign (ausgedehnte Lappen, Rundstiellappen, kombinierte Lappen), Verlagerungstechnik (Transplantation vs. Crane-flapTechnik nach Millard) und Lappendicke (Hautlappen oder fasziokutaner Lappen vs. Lambeau-greffe nach Colson). Da die axial gestielte Insellappenplastik ihre eigene Blutver- und -entsorgung
mitbringt, ist sie nicht mehr auf eine Neovaskularisation aus dem Empfängerlager angewiesen. Ihre eigene Blutversorgung reicht sogar aus, um das Empfängerlager von sich aus zu vaskularisieren Je nachdem, ob die Gefäßversorgung erhalten bleibt oder durchtrennt und im Empfängergebiet mikrochirurgisch reanastomosiert wird, spricht man von einer gestielten oder freien mikrochirurgischen Lappenplastik. Durch mikrochirurgische Gefäßnaht kann ein Gewebeblock frei transplantiert werden. Bei der klassischen mikrochirurgischen Lappenplastik werden eine Arterie und eine abführende Vene genäht. Durch den Einsatz mikrochirurgischer Techniken wird eine deutliche Verbesserung der Vaskularisation im Empfängergebiet, der Vermeidung mehrmaliger Operationen sowie der Vermeidung eines Immobilisationsschadens im Spender- und/oder Empfängergebiet erreicht. Kontraindikationen für freie mikrovaskuläre Lappenplastiken bestehen bei ausgeprägten Gefäßveränderungen und schlechtem Allgemeinzustand des Patienten. Als Hauptnachteil der mikrochirurgischen Lappenplastiken ist der hohe technische Aufwand (mikrochirurgische Zentren) und das Risiko eines Lappenverlustes durch Gefäßverschluss (5–10%) zu nennen. Auf lange Sicht gesehen führen die mikrochirurgischen Lappenplastiken trotz initial höherer Kosten zu einer deutlichen Kosteneinsparung, da im Allgemeinen deutlich weniger Sekundäroperationen notwendig werden. Neben allgemeinen (biologisches Alter, Allgemeinzustand, chronische Erkrankungen etc.) und therapiebedingten Faktoren (Operationstechnik, Wiederherstellung der physiologischen Muskelspannung, Länge der Ischämiezeit Eine enge Kooperation mit der Anästhesie ist von größter Wichtigkeit. Vorrangige Ziele der Anästhesie in der Handchirurgie sind: ▬ effektive (prä- und postoperative) Schmerztherapie, ▬ Möglichkeit, ungestört operieren zu können, ▬ Möglichkeit der frühen postoperativen Physiotherapie.
Primäres Defektmanagement Norfallversorgung (Versorgung am Unfallort) Die präklinische Erstversorgung hat entscheidenden Einfluss auf das weitere Defektmanagement. Immer gilt der Grundsatz »life before limb«. Nach Sicherung der Vitalfunktionen sollte die präklinische Defektversorgung erfolgen. Zur Blutstillung genügt immer ein Druckverband. Die Anlage einer Oberarmblutsperre ist obsolet und gefährlich. Im Defektbereich müssen alle Manipulationen wie Säuberung, Desinfektion oder Setzen von Klemmen vermieden werden. Der Patient sollte so schnell wie möglich in ein Handzentrum gebracht werden. Primärversorgung Die adäquate Primärtherapie ist die Basis für eine erfolgreiche Rekonstruktion. Sie lässt sich unterteilen in: ▬ Débridement bzw. Wundbett verbessernde Maßnahmen (Lager verbessernde Eingriffe, »wound bed preparation«) bzw. adäquate Tumorresektion und ▬ Defektrekonstruktion
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Débridement/Wundbett verbessernde Maßnahmen Unter Wundbettkonditionierung versteht man das gesamte »Management« der Wunde, um die endogene Heilung zu erhöhen oder die Effektivität therapeutischer Methoden zu erleichtern. Für die akuten Wunden bedeutet dies meist ein adäquates Débridement, d. h. so viel wie möglich geschädigtes Gewebe zu entfernen und gleichzeitig so wenig wie nötig gesundes Gewebe schädigen. Die Tumorresektion kann als seine Sonderform des adäquaten Débridement gesehen werden. Wenn immer möglich muss eine komplette Tumorentfernung mit ausreichendem Sicherheitsabstand (R0-Resektion) erfolgen ( Kap. 61). Für chronische Wunden sind die wichtigsten Behandlungsmaßnahmen: 1. feuchte Wundbehandlung, 2. Entfernung von Nekrosen und Wundbelägen (Débridement), 3. Herstellung einer bakteriellen Balance auf der Wundoberfläche (Keimreduktion/-elimination), 4. Management des anfallenden Exsudats; Defektrekonstruktion Die Qualität der primären Rekonstruktion entscheidet über das funktionelle und ästhetische Ergebnis. Die Möglichkeit sekundärer Eingriffe entbindet nicht von der Notwendigkeit bei der Primäroperation die bestmögliche Versorgung durchzuführen. Je schneller ein kompletter Wundschluss nach Tumorresektion erreicht ist, desto zeitnaher können adjuvante Maßnahmen (Radiotherapie, Chemotherapie) begonnen werden. Klinisch besteht ein Zeitfenstern von etwa 6 Wochen.
Sekundäres Defektmanagement Bei allen schweren kombinierten Knochen-Weichteil-Schäden ist zumindest eine sekundäre Operation notwendig um Funktion und/oder Ästhetik zu verbessern. Unter »funktionsverbessernden Eingriffen« versteht man alle möglichen operativen Eingriffe, die
nach Rekonstruktion notwendig werden können, um eine Ergebnisverbesserung für den Patienten zu erreichen. Elektive funktionsverbessernde Operationen werden erst nach kompletter Wundheilung und einer längeren Erholungszeit für den Patienten durchgeführt. Eine exakte Diagnostik der Funktionen nach Replantation ist entscheidend für den therapeutischen Erfolg. Folgende Fragen müssen beantwortet werden: 1. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation möglich? 2. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation sinnvoll? Ein rekonstruktiver Eingriff nach Replantation ist nur sinnvoll, wenn er den Bedürfnissen des Patienten gerecht wird und eine ausreichende Compliance des Patienten für den vorgeschlagenen Eingriff und die oft lange Rehabilitation besteht. Aufgrund des vorgeschädigten Operationsgebietes muss mit einer größeren Morbidität gerechnet werden ( Kap. 40).
Adjuvante Therapie Die Ruhigstellung muss auf adäquaten Schienen erfolgen. Nur von ganz wenig Ausnahmen abgesehen stellt die Intrinsic-plus-Stellung im Handbereich das Vorgehen der Wahl dar ( Kap. 2). Schienen dürfen nicht drücken, da neben lokalen Druckschäden auch »systemische« algodystrophische Reaktionen ausgelöst werden können ( Kap. 18). Bei Beschwerden muss die Schiene sofort verändert werden. Im Folgenden muss kontrolliert werden, ob die Beschwerden völlig verschwunden sind. Es gilt der Leitsatz: > Der Patient, der über seine Schiene klagt, hat immer Recht! Schlingen für die obere Extremität sind obsolet, da neben einer Schonhaltung mit Immobilisationsschaden oft auch eine Lymphstauung durch Einschnürung zu sehen ist. Wenn die obere Extremität ruhiggestellt werden muss, dann sollte dies in einem Dreiecktuch oder einem Gilchrist-Verband so kurz wie möglich erfolgen, um nicht einen zusätzliche Immobilisationsschaden im Schulterbereich zu provozieren. Die Handtherapie ( Kap. 15) stellt einen integralen Bestandteil der Behandlung bei Defektrekonstruktionen dar. Nur durch eine rechtzeitig einsetzende und konsequent durchgeführte physiotherapeutische Begleittherapie kann ein optimales Therapieergebnis erreicht werden. Physiotherapeutische Maßnahmen gehören zum Gesamtbehandlungsplan. Zur Ödemtherapie sollte die Hand auf Herzniveau hochgelagert werden. Bei Lappenplastiken sollte kein Eis zur Kühlung verwendet werden, da hierdurch die Mikrozirkulation signifikant verschlechtert wird. Die postoperative medikamentöse Schmerztherapie (mit nichtsteroidalen Antirheumatika; Kap. 18) hat hohe Bedeutung bezüglich der Lebensqualität des Patienten, aber auch der Compliance der notwendigen postoperativen Begleittherapien. Nur der schmerzfreie bzw. schmerzarme Patient wird die handtherapeutischen Übungen konsequent durchführen. Etwa 3 Wochen postoperativ kann mit einer Kompressionstherapie zur besseren Ödemtherapie begonnen werden. Zum gleichen Zeitpunkt beginnt auch die standardisierte Narbentherapie (⊡ Abb. 35.26). Da bei Handarbeitern mit ausgedehnten Verletzungen der frühere Beruf nur in seltenen Fällen wieder aufgenommen werden kann, ist es wichtig mit dem Patienten ausführlich die Lage zu besprechen und möglichst früh einen Antrag auf Umschulung einzureichen. Nur durch eine konsequente Patientenführung zusammen mit dem Sozialdienst können wiedergewonnene Funktionen für den Patienten in seinem Alltagsleben nutzbar gemacht werden und ein soziales Abgleiten verhindert werden.
971 35.2 · Spezielle Techniken
35.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Behandlung von Weichteildefekten im Bereich der Hand gelten bei Kindern prinzipiell die gleichen Richtlinien wie für Erwachsene. Auf folgende Besonderheiten soll hingewiesen werden:
Einfluss der Operationstechnik auf das Wachstum. Bei der Planung der Narbenverläufe muss nicht nur die aktuelle Situation, sondern es müssen auch die Verhältnisse während des Wachstums beachtet werden. Die Wachstumspotenz ist bei Lappenplastiken größer als bei Hauttransplantaten. Muss ein Hauttransplantat eingesetzt werden, sollte ein Vollhauttransplantat eingesetzt werden. Funktionell störende Narbenzüge müssen frühzeitig korrigiert werden.
Einfluss der postoperativen Nachbehandlung. Aufgrund der höheren Regenerationspotenz bei Kindern, sollte auf die adäquate postoperative Behandlung besonderer Wert gelegt werden. Eine adäquate Versorgung mit Schienen und deren wachstumsbedingte regelmäßige Anpassung sollte nicht vergessen werden ( Abschn. 20.1.7). Überschießende Narbenbildung. Auf die Narbenbildung ist bei Kindern besonders zu achten. Kinder zwischen der Geburt und dem 3.–4. Lebensjahr haben im Allgemeinen eine geringere Neigung zur überschießenden Narbenbildung. Zwischen dem 5. Lebensjahr und dem Abschluss der Pubertät ist das Risiko einer überschießenden Narbenbildung deutlich größer als beim Erwachsenen. 35.2
Spezielle Techniken
Die detaillierte Beschreibung aller möglichen Verfahren zur Defektdeckung würde den Rahmen dieses Kapitels deutlich übersteigen. Deshalb werden nur die klinisch häufigsten Techniken der Defektdeckung beschrieben. Für weitere Informationen sei auf die ausführliche Sekundärliteratur verwiesen. 35.2.1 Freie Hauttransplantation Die Operation erfolgt in Rückenlage und Oberarmblutleere. Die Art der Anästhesie, Plexusanästhesie oder Intubationsnarkose, richtet sich nach Lokalisation der Spenderstelle und Größe des Hauttransplantates. Kleinere und mittlere Spalt- und Vollhauttransplantate können auch in Lokalanästhesie entnommen werden. Grundsätzlich wird das Transplantat erst nach Exploration und Vorbereitung des Wundbereichs gehoben. Bei Defekten, die auf den Handrücken begrenzt bleiben, wird zur Vermeidung von Narbenkontrakturen eine gezackte und ggf. die gesunde Haut mit einbeziehende Schnittführung gewählt (⊡ Abb. 35.35a). Betrifft der Handrückendefekt auch die Fingerkommissuren, so müssen für das Anlegen der Nahtlinien weitere Regeln beachtet werden (⊡ Abb. 35.35b). In der Umgebung der intakten Zwischenfingerfalte sind die Nahtlinien des freien Hauttransplantates am Handrücken entlang der proximalen Faltengrenzen zu legen; ⊡ Abb. 35.35a,c,d). Bei kompletter Fingerstreckung resultiert daraus eine zickzackförmige Linie, die bei Faustschluss wegen der Divergenz der Mittelhandknochen durch die Hautspannung in Querrichtung begradigt wird. Bei der Wahl eines zu kleinen Winkels kann sich die Narbe bei
Faustschluss gerade ausrichten. In die Spannungslinie fallende gerade Narben werden zwangsläufig hypertrophisch, schrumpfen und behindern die Formänderung der Querwölbung der Hand. Bei geschädigter Fingerfalte müssen die Nahtlinien entlang der anatomischen Grenze der Falte oder parallel zu ihr verlaufen. Ist ein Teil der Faltenhaut intakt, so wird unter Schonung derselben eine zickzackförmige Nahtlinie angelegt. In solchen Fällen ist bei der Operation besonders große Sorgfalt nötig, weil die zickzackförmige Linie bei einer Heilungsstörung der kleinen Läppchen zu einem einzigen dicken, schrumpfenden Narbenstrang verschmelzen kann. Erstreckt sich ein Hautdefekt auch auf die Finger, so sollte der Ersatz in der Falte ebenfalls mit einem sich spitz verschmälernden Transplantat erfolgen. Die Nahtlinien des die Dorsalfläche des Fingers sowie die Interdigitalfalte deckenden Transplantates treffen sich in einem spitzen Winkel in der mediolateralen Linie des Fingers oder dorsal davon (⊡ Abb. 35.35a). Betrifft der Hautdefekt zusätzlich auch die dorsale Seite der Finger, sollten die jeweils betroffenen funktionellen Einheiten komplett entfernt werden. Nach Beendigung des Débridement im Defektbereich wird das Hauttransplantat gehoben (⊡ Abb. 35.35c). Vollhauttransplantate werden bevorzugt aus der ipsilateralen Leiste, Spalthauttransplantate vom ipsilateralen medialen Oberschenkel (⊡ Abb. 35.35d). Die Spenderdefekte werden sofort komplett chirurgisch versorgt. Am vorbereiteten Defekt wird inzwischen jegliche Blutungsquelle koaguliert. Um eine komplette Fingerbeugung zu erreichen, ist es bei Defekten im Bereich des Handrückens darüber hinaus wichtig, einen relativen Hautüberschuss zu schaffen. Dies kann dadurch erreicht werden, dass das Transplantat bei flektierten Fingern und abduziertem sowie opponiertem Daumen eingenäht wird. Bei Mitbeteiligung der Kommissuren ist zusätzlich eine maximal mögliche Spreizung erforderlich. Da sich die Haut am Handrücken in Querrichtung physiologischerweise mehr dehnt als in Längsrichtung, ist darauf zu achten, dass das Transplantat beim Einnähen in Querrichtung weniger gespannt wird als in Längsrichtung, um so die später erforderliche Dehnung zu gewährleisten. Anschließend wird es mit einigen Fixierungsstichen in den Ecken des Defektes positioniert, diese Fäden werden aber zur Befestigung des Überknüpfverbandes lang belassen. Das Spalthauttransplantat wird nun endgültig eingepasst und eingenäht, wobei die Stiche immer vom Transplantat zur Haut geführt werden. Kommen mehrere Transplantate zur Anwendung, so werden die miteinander in Berührung stehenden Ränder mit fortlaufenden Nähten, die auch den Wundgrund aufnehmen, vereinigt (⊡ Abb. 35.35e). Das jetzt eingenähte Transplantat wird mit einer Lage Fettgaze bedeckt, auf das je nach Größe ein Tupfer, eine Kompresse oder ein Schwämmchen gelegt und mit den lang belassenen Fäden festgeknüpft wird. Der überknüpfte Verband drückt so das Transplantat sanft an den Wundgrund und verhindert das Ansammeln von Gewebsflüssigkeit und Blut, die das Transplantat vom Wundgrund abheben könnten. Überzähliges Hauttransplantatmaterial kann bei +4°C für etwa 14 Tage primär steril aufgehoben werden. Die Hand wird postoperativ bei maximal ausgespanntem Hauttransplantat für 7 Tage ruhiggestellt, womit die größtmögliche Kontaktfläche zwischen Transplantat und Empfängerlager erreicht sowie eine frühe Schrumpfung verhindert wird. Konsequente krankengymnastische Begleittherapie, sorgfältige Transplantatpflege (Fettsalbe und Ölemulsion) sowie ggf. eine Nachtschienenbehandlung oder die Anwendung eines Kompressionshandschuhs für 3–6 Monate sollten angeschlossen werden (⊡ Abb. 35.34f, g).
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
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⊡ Abb. 35.35 Deckung eines mittelgroßen Handrückendefekts nach Resektion eines Spinalioms mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der Leiste. a Schema der Hautresektion im Handrückenbereich: Bei Defekten, die auf den Handrücken begrenzt bleiben, wird zur Vermeidung von Narbenkontrakturen eine gezackte und ggf. die gesunde Haut mit einbeziehende Schnittführung gewählt. 1. Erstreckt sich ein Hautdefekt auch auf die Finger, so sollte der Ersatz in der Falte ebenfalls mit einem sich spitz verschmälernden Transplantat erfolgen. b Klinischer Aspekt vor Tumorresektion, c klinischer Aspekt nach Tumorresektion, d Schema: Entnahmestellen von spalthaut- und Vollhauttransplantaten: links Ansicht von ventral, rechts Ansicht von dorsal. e Klinischer Aspekt nach Einnähen des Vollhauttransplantats in maximalen Faustschluss: Zur Vermeidung von Narbenkontrakturen wird eine gezackte und ggf. die gesunde Haut mit einbeziehende Schnittführung gewählt. Bei geschädigter Fingerfalte müssen die Nahtlinien entlang der anatomischen Grenze der Falte oder parallel zu ihr verlaufen. Ist ein Teil der Faltenhaut intakt, so wird unter Schonung derselben eine zickzackförmige Nahtlinie angelegt. In solchen Fällen ist bei der Operation besonders große Sorgfalt nötig, weil die zickzackförmige Linie bei einer Heilungsstörung der kleinen Läppchen zu einem einzigen dicken, schrumpfenden Narbenstrang verschmelzen kann. f Funktion und klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung, g Funktion und klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Faustschluss. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001 [a,b,e])
973 35.2 · Spezielle Techniken
35.2.2 2- bzw. 4-Lappen-Z-Plastik zur Vertiefung
der 1. Kommissur Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Die 4-Lappen-Z-Plastik sollte aus einer einfachen 2-Lappen-Z-Plastik heraus entwickelt werden, da sich vor allem bei höhergradigen Adduktionskontrakturen das Ausmaß der zu erwartenden Verlängerung oft nicht genau voraussehen lässt. Primär wird eine einfache 2-Lappen-Z-Plastik geplant, wobei die Schnittführung dorsal parallel zum Os metacarpale I verläuft, anschließend die distale Kommissurenfalte in einen palmaren und dorsalen Hautlappen teilt und schließlich palmar im Bereich der MP-Beugefalte zu liegen kommt (⊡ Abb. 35.36a). Nach Präparation der Hautlappen wird eine eventuell notwendige Kommissurolyse durchgeführt und der Daumen maximal abduziert. Zur Vermeidung von postoperativen Retraktionen, vor allem nach ausgedehnter Kommissurolyse im Bereich der 1. Kommissur, empfiehlt sich eine temporäre Fixierung des 1. und 2. Metakarpale in maximaler Abduktionsstellung mit Kirschner-Drähten nach Iselin u. Iselin für etwa 3 Wochen. Als nächstes werden beide Hautlappen gegeneinander ausgetauscht. Kommen sie zwar spannungsfrei nebeneinander zu liegen, bestehen aber keine optimalen Durchblutungsverhältnisse, so muss die Operation auf der Stufe der 2-Lappen-ZPlastik zu Ende geführt werden. Aus ästhetischen Gründen sollte die 4-Lappen-Z-Plastik immer dann durchgeführt werden, wenn die Durchblutungsverhältnisse dies zulassen. Dazu wird die für die Hautlappen bequeme, spannungsfreie Lage auf der Haut des jeweils gegenüberliegenden Hautlappens markiert. Zu den angemerkten Stellen werden entsprechend neue Inzisionen geführt (⊡ Abb. 35.36a). Nach Austausch der Hautlappen (ABCD–CADB)
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wird der Defekt durch den zusätzlichen Längengewinn bequem gedeckt. Der Austausch der Lappen bewirkt eine etwa 164%ige Verlängerung. Nach Öffnen der Blutleere wird die Durchblutung der Hautlappen geprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Alle 4 Lappen werden spannungsfrei eingenäht (⊡ Abb. 35.36b). Intensive Hautpflege und eine Nachtschienenversorgung mit einem C-Splint für etwa 3–6 Monate sind notwendig. 35.2.3 Trident-Lappenplastik nach Glicenstein
bzw. Hirshowitz zur Korrektur einer Adduktionskontraktur mit einer vernarbten Kommissurenplatte im Bereich der 1. Kommissur Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Diese Form der lokalen Lappenplastik kombiniert zwei asymmetrische Z-Plastiken und eine V-Y-Plastik. Zunächst werden dorsal 3 Hautinzisionen senkrecht zum Narbenstrang beidseits lateral und in der Mitte geführt (A‘B‘C‘: zuerst A‘A, dann B‘B und C‘C) und der Narbenstrang längs inzidiert (A‘B‘C‘; ⊡ Abb. 35.37a). Von der Mitte des Narbenstranges ausgehend, werden dann palmar zwei in einem Winkel von 30–45° darauf zulaufende Inzisionen angelegt (1 und 3). Der Winkel des mittleren Hautlappens (2) ergibt sich aus dem Verlauf der Kontraktur (⊡ Abb. 35.37a). Bei der Inzision der Hautlappen müssen die Schnitte senkrecht zur Hautoberfläche geführt werden, damit ein dicker Lappen mit guter Durchblutung resultiert. Die Lappenspitzen sollen nicht scharf, sondern etwas gerundet verlaufen. Die Hautlappen werden von der Unterfläche gehoben und nach Kommissurolyse mit eventueller temporärer Kirschner-Draht-Fixierung gegeneinander ausgetauscht. Dabei wird der mittlere Hautlappen in V-Y-Technik vorgeschoben, während die beiden lateralen Hautlappen eine asymmetrische Z-Plastik bilden; ⊡ Abb. 35.37b). Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappendurchblutung überprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Die Hautlappen werden schließlich spannungsfrei eingenäht (⊡ Abb. 35.37b). Zur Vermeidung von Durchblutungsstörungen in der Lappenspitze empfiehlt sich ein Rückstich, wobei der Hautlappen intradermal bis subkutan gefasst wird. Die Hand wird postoperativ auf einer palmaren Unterarmschiene für 5–7 Tage ruhiggestellt. Anschließend erfolgt eine intensive Haut- und Narbenpflege sowie Nachtschienenbehandlung (C-Splint) für 3–6 Monate (⊡ Abb. 35.14d). 35.2.4
b ⊡ Abb. 35.36 2- bzw. 4-Lappen-Z-Plastik zur Vertiefung der 1. Kommissur nach heterotoper Replantation des Kleinfingers auf den Daumen. a Schema: Lappenplanung für 2-Lappen-Plastik (initial wird eine 2 Lappen-Z-Plastik geplant), b Schema: Lappenplanung für 4-Lappen-Plastik. (Aus SchmitNeuerburg et al. 2001)
A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastikreihe (Hilgenfeld, Holevich, Foucher)
Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Nach Hilgenfeldt wird die Lappengröße entsprechend den Bedürfnissen in der Defektregion auf der dorsoradialen Seite des Zeigefingers markiert. Der Hautlappen wird nach distal hin vom PIP-Gelenk des Zeigefingers begrenzt, die laterale Begrenzung an der radialen und ulnaren Seite stellt die Mediolaterallinie dar (⊡ Abb. 35.38a). Zur Deckung von distalen Daumendefekten kann durch Präparation eines schmalen tennisschlägerförmigen Hautstieles nach Holevich der obligate Hautüberschuss im Bereich der 1. Kommissur vermieden werden. Bei der Lappenplanung ist darauf zu achten, dass der Gefäß-Nerven-Stiel im Bereich des schmalen Hautstieles enthalten ist (⊡ Abb. 35.38b). Ist auch der schmale Hautstiel nicht notwendig, kann ein neurovaskulär gestielter Insellappen nach Foucher gehoben werden (⊡ Abb. 35.38c).
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
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radial, distal und ulnar umschnitten. Durch eine nach proximal hin spitz verlaufende Schnittführung wird beim späteren Einnähen der Lappenplastik eine Kompression des Lappenstieles verhindert. Die Lappenplastik wird unter Mitnahme des subkutanen Fettgewebes im Fingerbereich unter Schonung des Peritendineums der Strecksehnen von distal nach proximal gehoben. Im Bereich des Os-metacarpale-II-Köpfchens muss der nach palmar abgehende Ast der A. metacarpalis dorsalis I beidseits unterbunden und im Metakarpalbereich die Faszie des M. interosseus dorsalis I mitgenommen werden. Sie wird immer radial der Winkelhalbierenden des 1. Intermetakarpalraumes umschnitten, um die A. metacarpalis dorsalis I sicher in den Lappenstiel einzuschließen. Zur Präparation des Lappenstieles wird unter Lupenbrillenvergrößerung ein breiter Faszienstreifen mit dem darüber liegenden Unterhautfettgewebe und den darin enthaltenen Gefäßen und Nerven bis zum Ursprung der A. metacarpalis dorsalis I präpariert. Nach Öffnen der Blutleere wird die Durchblutung des Hautlappens überprüft und eine sorgfältige Blutstillung durchgeführt. Die sensible neurovaskuläre Insellappenplastik kann nun entweder subkutan oder nach Hautinzision im Bereich der 1. Kommissur unter Kontrolle der Lappenperfusion in den Daumenbereich transponiert werden. Eine Torquierung oder Komprimierung des Lappenstieles muss vermieden werden. Die Spenderstelle wird mit einem Vollhauttransplantat aus der Leiste gedeckt, welches mithilfe eines Überknüpferverbandes fixiert wird. Postoperativ wird die Hand in Daumenabduktion für 7 Tage auf einer palmaren Unterarmgipsschiene ruhiggestellt. Der Überknüpferverband wird nach 5 Tagen entfernt. Nach Entfernung der Fäden sollte mit intensiver krankengymnastischer Behandlung sowie mit Lappen- und Narbenpflege begonnen werden. Eventuell eingebrachte Kirschner-Drähte müssen nach 3 Wochen entfernt, eine Nachtschienenbehandlung muss für 3–6 Monate fortgeführt werden (⊡ Abb. 35.18, ⊡ Abb. 35.19). 35.2.5 Transpositionslappen nach Hueston
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⊡ Abb. 35.37 Trident-Lappenplastik nach Glicenstein bzw. Hirshowitz zum Auflösen einer Kontraktur im Bereich der dorsalen Kommissurplatte und der Komissurenfalte. a Lappenplanung, b Zustand nach Auflösung der Kontraktur, Abspreizen des Daumens, Lappenpräparation und -austausch. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
Die Präparation beginnt mit einem geraden oder S-förmigen Schnitt über der radialen Seite des Os metacarpale II. Zur Verlagerung auf die palmare Seite des Daumens wird die 1. Kommissur quer, die ulnare Seite des Daumens in der Mediolaterallinie längs inzidiert. Danach werden der Ursprung der A. metacarpalis dorsalis I, die Nn. digitales dorsales, der R. superficialis des N. radialis sowie 1–2 oberflächliche Hautvenen distal der Sehne des M. extensor pollicis longus aufgesucht. Der Hautlappen wird
Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Der Verschluss des Defektes erfolgt durch eine Translationslappenplastik, die eine Dehnungs- und eine Rotationskomponente hat. Ein zusätzlicher Streckengewinn kann durch eine Gegeninzision (»back cut«) im Bereich des proximalen Scharnieranteils erzielt werden. Die Lappenplastik kann für dorsale und palmare Defekte ubiquitär eingesetzt werden. Bei größeren Defekten kann durch eine zweite, gegenläufige, d. h. distal des Defektes gelegene Lappenplastik, die nach proximal geschwenkt wird, ein Verschluss erreicht werden. Die Hebedefekte werden jeweils mit mitteldicken Spalthaut- oder Vollhauttransplantaten verschlossen. Die postoperative Ruhigstellung erfolgt auf einer Unterarmschiene in Funktionsstellung bis zum Abschluss der Hauttransplantateinheilung für 5–7 Tage. Eine krankengymnastische Nachbehandlung und intensive Lappen- und Hautpflege sollten angeschlossen werden. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden. Palmare Transpositionslappenplastik nach Hueston Die Grenzen des Hautlappens dürfen die Grenzen der funktionellen Einheiten der palmaren Seite des Fingers (⊡ Abb. 35.39a) nicht überschreiten. Lateral bildet die mediolaterale Linie die Begrenzung nach dorsal, proximal und distal stellen die Beugefalten die Begrenzung des Hautlappens dar (⊡ Abb. 35.39a). In dieser Planung hat die Lappenplastik eine definierte Gefäßversorgung
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M. interosseus dorsalis I A. metacarpalis dorsalis I
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⊡ Abb. 35.38 Deckung eines transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 4 im Bereich des rechten Daumens mithilfe einer A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik in der Technik nach Foucher. a Schema: A.-metacarpalis-dorsalis-Lappenplastikreihe nach Hilgenfeldt (aus Berger u. Hierner 2009), b Schema: A.-metacarpalis-dorsalis-Lappenplastikreihe nach Holevich, c Schema: A.-metacarpalis-dorsalis-Lappenplastikreihe nach Foucher
Cieland-Band
Grayson-Band
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b
über die A. digitalis palmaris propria auf der Seite der Lappenbasis (»axial pattern flap«). Die Wahl der Seite des Lappenstieles (radial bzw. ulnar) wird von der Lage des Defektes und von eventuellen Schäden an den Fingergefäßen bestimmt. Nach Umschneiden des Hautlappens beginnt die Präparation von lateral nach medial. Das Gefäß-Nerven-Bündel auf der gegenüberliegenden Seite der Lappenbasis wird vom Lappen abpräpariert und muss bei der Präparation möglichst in seinem subkutanen Fettgewebe belassen werden, um Schäden zu vermeiden. Der Gefäß-NervenStiel auf der Seite der Basis wird dagegen am Transplantat belassen (⊡ Abb. 35.39b,c). Nach vollständiger Mobilisierung wird der Hautlappen in den Defekt geschwenkt und dort ohne Spannung eingenäht. Der Hebedefekt wird mit einem Vollhauttransplantat verschlossen (⊡ Abb. 35.39d).
d
⊡ Abb. 35.39 Palmare Transpositionslappenplastik nach Hueston zur Deckung eines partiellen Mittelglieddefektes mit zusätzlicher Durchtrennung der tiefen Beugesehne. a Anatomie und Lappenplanung, b Zustand nach Lappenpräparation, Ansicht von palmar, c Zustand nach Lappenpräparation, Querschnitt: Das Gefäß-Nerven-Bündel auf der gegenüberliegenden Seite der Lappenbasis wird vom Lappen abpräpariert und muss bei der Präparation möglichst in seinem subkutanen Fettgewebe belassen werden, um Schäden zu vermeiden. Der Gefäß-NervenStiel auf der Seite der Basis wird dagegen am Transplantat belassen. d Postoperativer Aspekt: Der Spenderdefekt wird mit einem Vollhauttransplantat gedeckt
Dorsale Transpositionslappenplastik nach Hueston Der Hautlappen umfasst eine gesamte funktionelle Einheit und ist demzufolge nahezu rechteckig. Er wird mit dem subkutanen Fettgewebe vom Streckapparat gelöst, wobei das Peritendineum nicht verletzt werden darf. Dorsale Hautvenen werden ligiert bzw. koaguliert und mit dem Transplantat gehoben. Die dorsalen Äste des palmaren Gefäß-Nerven-Stiels werden auf der der Lappenbasis gegenüber liegenden Seite durchtrennt. Im Bereich der Lappenbasis müssen sie geschont werden. Der Verschluss des Defektes wird durch eine Translation im Sinne einer kombinierten, neurovaskulär gestielten Dehnungs- und Rotationslappenplastik erzielt. Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappenperfusion kontrolliert und eine sorgfältige Blutstillung durchgeführt. Ein zusätzlicher Streckengewinn kann durch eine Gegeninzision (»back cut«) im Bereich des
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
proximalen Scharnieranteils erreicht werden. Der Hebedefekt wird mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat verschlossen. 35.2.6 Laterale Transpositionslappenreihe
im Fingerbereich (Tanzer, Colson, Russel, Oberlin)
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Den Lappen gemeinsam ist das Spendergebiet der Haut im lateralen Grund- und proximalen Mittelgliedbereich. Die Lappenplastik nach Tanzer umfasst eine Random-pattern-Lappenplastik aus dem lateralen Grundgliedbereich. Colson erweitert das Spendergebiet auf die proximale Hälfte des Mittelgliedes und ergänzt eine Z-Plastik (»Colson-Dreieck«) zur Prävention einer störenden Narbe im palmaren Spendergebietsbereich. Unter Einschluss der A. digitalis propria beschreibt Russel eine orthograd gestielte Axial-patternLappenplastik aus dem Bereich des Grund- und Mittelgliedes. Oberlin beschreibt die distal gestielte Lappenvariante. Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Prinzipiell erfolgt die Präparation der Lappenplastik wie oben beschrieben, wobei einige Modifikationen notwendig werden können. Für Defekte auf der dorsalen Seite der Grundphalanx und des PIP-Gelenks liegt die Lappenbasis auf der Grundphalanx, die mediolaterale Linie bleibt die Achse der Lappenplastik. Für Hautdefekte nach Auflösung einer Beugekontraktur der Finger ohne Beteiligung der Kommissur verschiebt sich die Lappenbasis nach dorsal und distal. Die mediolaterale Linie bildet nicht mehr die Lappenachse, sondern den Lappenunterrand. Der Lappenstiel beginnt in Höhe der Inzision zur Auflösung der Beugekontraktur in der proximalen Beugefalte (⊡ Abb. 35.40a). Die Länge des Lappens ist von der Größe des Defektes abhängig und darf erst bei maximal gestrecktem Finger gemessen werden: In der Random-pattern Variante sollte die Länge nicht die proximale Hälfte der Mittelphalanx überschreiten (⊡ Abb. 35.40b). Falls eine gefäßgestielte laterodigitale Transpositionslappenplastik benötigt wird, kann die A. digitalis palmaris propria zusammen mit dem Hautlappen gehoben werden.
Durch geringen Zug an der Lappenspitze, die mit einem Haltefaden bzw. einem Hauthäkchen gehalten werden kann, wird das Cleland-Band angespannt, was wiederum das Auffinden der palmar verlaufenden Gefäß-Nerven-Bündel erleichtert. Das Cleland-Band wird auf seiner gesamten Länge gespalten. Durch vorsichtige Präparation des Gefäß-Nerven-Bündels ist es möglich, einige kleine Arterien- und Nervenäste, die proximal von dem Bündel abgehen und in die Haut auf der lateralen Seite eintreten, zur zusätzlichen Lappenversorgung zu erhalten, ohne den Schwenkradius zu limitieren. Nach Beendigung der Lappenhebung müssen im Kommissurbereich alle fibrösen Stränge reseziert und das Lig. metacarpale transversum profundum eventuell gespalten werden, um diesen Raum maximal zu öffnen. Durch einfache Rotation kann der Lappen dann in den palmaren Defekt geschwenkt werden (⊡ Abb. 35.40b,c). Nur bei gering elastischem Gewebe kann am Schwenkpunkt eine Hautfalte (»dog ear«) entstehen, die entweder postoperativ spontan verstreicht (etwa 3 Monate) oder sekundär korrigiert werden muss. Zur Prävention dieser Hautfalte kann der Hautschnitt am Handrücken in Richtung des Spenderfingers verschoben werden. Um die postoperative Narbenbildung im Übergangsbereich zwischen ortsständiger Haut und Hauttransplantat zu minimieren, empfiehlt es sich, ein kleines Dreieck im Verlauf des palmaren Schnittrandes mit nach palmar zeigender Spitze anzulegen. Durch die Rotation dieses Dreiecks auf die laterale Seite entsteht eine Z-förmige Linie (Modifikation nach Colson; ⊡ Abb. 35.40b). Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappenperfusion kontrolliert, eine subtile Blutstillung durchgeführt und die Lappenplastik spannungsfrei in den Defekt eingenäht. Schließlich wird der Hebedefekt mit einem mitteldicken Spalt- oder einem Vollhauttransplantat verschlossen. Die postoperative Ruhigstellung erfolgt auf einer palmarseitig angelegten Unterarmschiene für 7 Tage. Krankengymnastische Behandlung und intensive Narbenpflege zur Prävention von Narbenkontrakturen sollten angeschlossen werden. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden (⊡ Abb. 35.40c,d).
ColsonDreieck
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⊡ Abb. 35.40 Korrektur einer partiellen Syndaktylie im Bereich der 4. Kommissur nach frühkindlicher Verbrennung mithilfe eines laterodigitalen Transpositionslappens nach Colson. a Klinischer Aspekt: Lappenplanung (Kommissurenblick), b Schema: Lappenhebung und Anlage eines Colson-Dreiecks zur Prävention einer hypertrophen Narbe, c Ergebnis 1 Jahr nach Operation: Ansicht von dorsal, d Ergebnis 1 Jahr nach Operation: Ansicht von palmar. Die laterodigitale Lappenplastik ist reizlos eingeheilt, der hypertrophe Narbenzug konnte effektiv unterbrochen werden, das Vollhauttransplantat im Bereich der Mittelhandfurche ist ebenfall reizlos eingeheilt
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35.2.7 Distal gestielte A.-metacarpalis-
dorsalis-II- bis -IV-Lappenplastikreihe (Maruyama, Quaba, Bakhach) Durch die funktionell ausreichenden Anastomosen zum palmaren Gefäßsystem können in den Intermetakarpalräumen der Finger distal gestielte Insellappenplastiken an den Aa. metacarpales dorsales
gehoben werden, deren Ausdehnung jedoch im besten Fall proximal von der dorsalen Handgelenkfalte bis zur jeweiligen Kommissur reichen kann (⊡ Abb. 35.41a). In der Variante nach Maruyama wird die Lappenplastik durch mehrere kutane Äste der A. metacarpalis dorsalis versorgt (⊡ Abb. 35.41b). In der Variante nach Quaba erfolgt die Versorgung über einen kutanen Perforator, der in Höhe des Intermetakarpalraumes die A. metacarpalis dorsalis verlässt,
R. perforans
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⊡ Abb. 35.41 Distal gestielte A.-metacarpalis-dorsalis-II-Perforatorlappenplastik nach Quaba u. Davidson zur Rekonstruktion eines kompletten dorsalen Grundglieddefektes im Bereich des Zeigefingers. a Schema: Aa. metacarpeles dorsales II–IV, b Schema: A.-metacarpalis-dorsalis-II-Lappenplastik nach Maruyama: Ansicht von dorsal, c Schema: A.-metacarpalis-dorsalis-II-Lappenplastik nach Maruyama: Querschnitt, d Perforatorlappenplastik nach Quaba u. Davidson: Ansicht von dorsal, e Perforatorlappenplastik nach Quaba u. Davidson: Schema Sagittalschnitt im Bereich des 2. Intermetakarpalraumes: Das dorsale und palmare Gefäßsystem sind über zahlreiche funktionelle Anastomosen miteinander verbunden. Die distal gestielte Lappenplastik wird meist auf den prä- oder postligamentären Anatomosen gestielt. In der Variante nach Bahkach erfolgt die retrograde Blutversorgung über die distalen Anastomosen im Bereich der lateralen Fingerseiten. f Klinischer Aspekt: Zustand nach Resektion der kompletten dorsalen Grundgliedeinheit aufgrund einer vaskulären Malformation und Lappenplanung, g klinischer Aspekt: Zustand nach Lappenpräparation, h klinischer Aspekt 1 Woche postoperativ, i klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ
g
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
das Hauptgefäß bleibt in situ (⊡ Abb. 35.41c). Bei Lappenplastiken werden entweder über die prä- oder postligamentäre Verbindung der A. metacarpalis dorsalis mit den palmaren Gefäßen retrograd versorgt. Wird ein ausreichedn breiter Fett-Faszien-Streifen im Kommissurbereich und im angrenzenden Bereich der Grundphalanx belassen, bleibt eine ausreichende retrograde Ver- und Entsorgung aufgrund der Anastomosen mit den palmaren Digitalgefäßen bestehen (Modifikation nach Bakhach; ⊡ Abb. 35.41d). Bei der Variante nach Maruyama wird die Lappenplastik auf die Mediane des jeweiligen Intermetakarpalraumes zentriert und sollte nicht breiter als 3,5 cm sein. Vom Hautlappen bis zum MPGelenk wird die Inzision bogenförmig verlängert (⊡ Abb. 35.41e). Die Präparation beginnt distal mit dem Aufsuchen des Gefäßstieles in Höhe des Lig. metacarpale transversum profundum. Anschließend werden der Hautlappen umschnitten und oberflächliche Hautvenen und Nerven ligiert. Die Faszie des jeweiligen M. interosseus dorsalis wird auf den Metakarpalia inzidiert und mit dem Hautlappen solidarisiert, um so die A. metacarpalis dorsalis sicher mitzuheben. An der Basis des Intermetakarpalraumes muss die proximale Anastomose zum palmaren Gefäßsystem und zum Rete carpale dorsale unterbunden werden. Die Präparation wird nach distal bis zum Perforansgefäß fortgesetzt. Fasziokutane Anastomosen zu den benachbarten Intermetakarpalräumen müssen subtil ligiert werden. Der Connexus intertendineus des jeweiligen Intermetakarpalraumes muss durchtrennt und nach Lappentransposition wieder rekonstruiert werden. Der Schwenkpunkt ist etwa zwischen den benachbarten Metakarpaleköpfchen lokalisiert. Man kann den Lappenstiel bis zur dorsalen Seite der Kommissur präparieren, wobei allerdings einige inkonstante Äste zum palmaren Gefäßsystem ligiert werden müssen (⊡ Abb. 35.41f). Nach Öffnung der Blutleere wird die Lappendurchblutung überprüft und eine sorgfältige Blutstillung durchgeführt. Die distal gestielte Insellappenplastik wird nun entweder subkutan oder nach Hautinzision offen unter Kontrolle der Lappenperfusion in den Defektbereich transponiert. Bei einer Lappenbreite von weniger als 3 cm kann ein primärer Verschluss des Hebedefektes durchgeführt werden. Postoperativ wird die Hand bis zur Einheilung des Hauttransplantates für 5–7 Tage auf einer palmaren Unterarmschiene ruhiggestellt. Nach Entfernung der Fäden sollte mit krankengymnastischer Behandlung sowie Lappen- und Narbenpflege begonnen werden (⊡ Abb. 35.41g–i).
35.2.8 A.-interossea-posterior-Lappenplastik
nach Pendeado bzw. Zancolli Präoperativ ist ein Nachweis der distalen Anastomose der A. interossea posterior durch Dopplersonografie notwendig. Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Zunächst wird der Verlauf der A. interossea posterior bei um 90° gebeugtem Ellenbogengelenk markiert. Sie projiziert sich auf die Verbindungslinie zwischen Epicondylus lateralis humeri und distalem Radioulnargelenk, auf deren mittleres Drittel, also etwa 9 cm distal des lateralen Epicondylus, der Hautlappen zentriert wird. Die Länge des Hautlappens kann maximal zwei Drittel dieser Verbindungslinie betragen, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass der Gefäßstiel mit zunehmender Hautlappenlänge kürzer wird. Die maximale Breite wird durch die lateralen Kanten von Radius und Ulna begrenzt (⊡ Abb. 35.42). Nach Einzeichnung der Lappengrenzen beginnt die Präparation im distalen Unterarmdrittel mit einer kleinen Inzision im Bereich des distalen Radioulnargelenks zur Identifizierung der distalen Anastomose der A. interossea posterior mit der A. interossea anterior. Das Septum intermusculare wird durch Identifikation der septalen Arterien aufgesucht, die durch die tiefe Faszie in die Haut ziehen. Die Sehnen des M. extensor digitorum und des M. extensor indicis werden nach radial weggehalten. Fehlt die Anastomose, muss die Präparation abgebrochen werden, ist sie vorhanden, wird nach Anschlingen dieser Arkade der Hautlappen auf seiner radialen Seite einschließlich der Unterarmfaszie umschnitten. Nach Solidarisierung von Haut und Faszie durch einige Nähte erfolgt die radiale Präparation bis zum Septum intermusculare, das dabei jedoch nicht durchtrennt werden darf, um zumindest das dickste proximale Gefäß mit seiner Einstrahlung in den distalen Hautanteil zu erhalten. Nach Abgang dieses dicken, konstanten Perforators kann die A. interossea posterior unterbunden werden. Dies erspart die tiefe Präparation, welche ein gewisses Risiko der Verletzung von Ästen des R. profundus N. radialis birgt. Die Lappenplastik wird nun ulnar über dem M. extensor carpi ulnaris einschließlich der Faszie umschnitten. Nach Solidarisierung von Haut und Faszie wird das Septum intermusculare von ulnar durch Weghalten des M. extensor carpi ulnaris und dessen Sehne dargestellt. Die A. interossea posterior
Arterienäste zum Rete carpale dorsale faszio-kutane Arterienäste
R. perforans
myo-periostale Arterienäste A. interossea posterior M. flexor pollicis longus ⊡ Abb. 35.42 A.-interossea-posterior-Lappenplastik nach Pendeado bzw. Zancolli. Schema: Anatomie und Lappenplanung
979 35.2 · Spezielle Techniken
wird proximal abgeklemmt. Unter der Lupenbrille wird das Septum intermusculare schließlich scharf von proximal nach distal zur distalen Gefäßanastomose, die den Schwenkpunkt bestimmt, von der Ulna gelöst. Bestehen ausreichend distale Anastomosen mit dem Rete carpale dorsale, kann der R. communicans zur Vergrößerung des Schwenkradius beidseitig ligiert werden. Der Schwenkpunkt kann auf diese Weise bis in den Bereich des Os capitatum verschoben werden. Nach Öffnen der Blutleere wird die Perfusion der Lappenplastik überprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Die Reperpusion der Lappenplastik kann manchmal 10–15 Minuten dauern, in diesen Fällen empfiehlt sich, warme Tücher aufzulegen. Eventuell kann auch Papaverin auf den spastischen Gefäßstiel getropft werden. Nach kompletter Reperfusion der Lappenplastik erfolgt die Transposition in den Defektbereich. Diese erfolgt nach subkutaner Tunnelung oder Hautinzision im Handbereich. Eine Stieltorsion muss dabei vermieden werden. Der Hebedefekt auf der dorsalen Seite des Unterarmes kann direkt verschlossen werden, wenn der Hautlappen nicht breiter als 4–6 cm gewählt wurde (⊡ Abb. 35.42). Andernfalls wird der Defekt mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat verschlossen. Postoperativ wird das Handgelenk mit einer Unterarmschiene mit Handgelenkextension von 30° für 7 Tage immobilisiert. Danach sind eine intensive krankengymnastische Behandlung sowie Narben- bzw. Hauttransplantatpflege erforderlich (⊡ Abb. 35.7, ⊡ Abb. 35.16).
Os pisiforme R. carpalis dorsalis M. flexor carpi radialis
⊡ Abb. 35.43 Distale ulnodorsale Perforator-Faszienlappenplastik nach Becker. Schema: Anatomie und Lappenplanung. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Postoperativ ist eine Immobilisation des Handgelenks auf einer palmaren Unterarmschiene in 30° Streckung für 5–7 Tage nötig. Danach erfolgt eine intensive krankengymnastische Behandlung sowie eine konsequente Narbentherapie im Spendergebiet ( Abschn. 15.2.9). 35.2.10 Distal gestielte A.-radialis-Lappenplastik
nach Stock in epifaszialer Technik nach Wei 35.2.9 Ulnodorsale fasziokutane Perforator-
lappenplastik nach Becker u. Gilbert Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutsperre. Der Lappen kann als Fasziokutanlappen oder als Faszienlappenplastik gehoben werden. Er wird den Erfordernissen des Defektes entsprechend angezeichnet. Die Breite des Lappens sollte auf der palmaren Seite die Sehne des M. palmaris longus und auf der dorsalen Seite die Sehne des M. extensor digitorum communis nach radial nicht überschreiten. Die Länge soll nicht mehr als zwei Drittel der ulnaren Unterarmlänge betragen (⊡ Abb. 35.43). Palmar wird die Haut nun einschließlich der Faszie durchtrennt. Nach Solidarisierung von Haut und Faszie durch einige Nähte erfolgt die radiale Lappenpräparation in der Schicht zwischen der Unterarmfaszie und dem Peritendineum der Sehne bzw. dem Perimysium des Muskelbauches des M. flexor carpi ulnaris. Die Präparation endet mit der Darstellung und Anschlingung des R. cubitodorsalis. Anschließend wird der Lappen distal und dorsal umschnitten, Haut und Faszie werden wiederum solidarisiert und von proximal nach distal gehoben. Im distalen Lappenbereich muss der R. dorsalis des N. ulnaris geschont werden. Nach Beendigung der Präparation ist das fasziokutane Transponat über einen distalen Hautstiel und das versorgende Gefäßbündel mit dem Unterarm verbunden (⊡ Abb. 35.43). Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappenperfusion kontrolliert. Abhängig von der Defektlokalisation erfolgt eine Verlagerung um 100–270°. Der Schwenkpunkt liegt etwa 2 cm proximal des Os pisiforme (⊡ Abb. 35.43). Bis zu einer Lappenbreite von 4 cm kann der Spenderdefekt primär verschlossen werden (⊡ Abb. 35.43). Bei größerer Lappenbreite, vor allem bei Lappenausdehnung auf die dorsale Unterarmseite, wird der Spenderdefekt mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat verschlossen.
Präoperativ wird die Vollständigkeit der Hohlhandbögen durch den Allen-Test überprüft und der Verlauf der A. radialis mittels Dopplersonografie dargestellt. Bei unklaren Befunden empfiehlt sich die Anfertigung einer Arteriografie. Die Operation erfolgt in Rückenlage, bei distal gestielter Lappenplastik in Plexusanästhesie, bei freier mikrovaskulärer Transplantation in Vollnarkose und Oberarmblutleere. Der Hautlappen wird entsprechend den Erfordernissen des Defektes, der primär darzustellen ist, auf den Verlauf der A. radialis an der palmaren Seite des Unterarmes zentriert, wobei neben der benötigten Lappengröße die Lappendicke und die benötigte Gefäßstiellänge beachtet und funktionelle und ästhetische Überlegungen einbezogen werden müssen. Um postoperative Kontrakturen zu vermeiden, darf der Hautlappen die Gelenkfalten proximal und distal nicht überschreiten. Zur Verminderung des ästhetischen Spenderdefektes muss die Haut der radialen Unterarmseite unberührt bleiben. Darüber hinaus können die Haare in diesem Bereich das ästhetische Ergebnis im Empfängergebiet stören. Im Bereich des distalen Unterarmes ist der Haut-Faszien-Anteil dünn und nur wenig subkutanes Fett vorhanden. Die Faszie wird von distal nach proximal dicker. Eine ausreichende Länge des Gefäßstieles bei distaler Stielung kann durch Entnahme der Lappen im mittleren Unterarmdrittel erreicht werden (⊡ Abb. 35.44a). Nach Beendigung der Lappenplanung wird zunächst die A. radialis am proximalen Lappenrand und im Handgelenk aufgesucht und angeschlungen. Nun wird die Lappenplastik bis auf die Unterarmfaszie umschnitten. Im Gegensatz zu den früheren Beschreibungen wird die Faszie nicht mit in den Lappen eingeschlossen, sie bleibt in situ. Durch die suprafasziale Präparation nach Wei werden die Sehnen deutlich geschont und das Lager für die notwendige Hauttransplantation deutlich verbessert. Subkutane Hautvenen werden ligiert, ein oder zwei größere Venen sollten dargestellt und für eine mögliche venöse Augmentationsanastomose präpariert
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35
Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
werden. Die am proximalen Lappenrand eintretenden Nn. cutanei antebrachii medialis und lateralis werden ebenfalls dargestellt und geschont. Als nächstes wird ulnar die Haut eingeschnitten. Die Haut wird nun beidseits bis zum Septum intermusculare präpariert, das Paratendineum der Sehne des M. flexor carpi radialis bleibt unberührt. Nach Darstellung und Sicherung des R. superficialis des N. radialis wird auf der radialen Seite in gleicher Weise vorgegangen. Als nächstes werden die A. radialis und Vv. radiales proximal ligiert und das Septum intermusculare mit dem Lappenstiel unter Lupenvergrößerung von proximal nach distal vom Radius in der Tiefe scharf abgetrennt. Auf eine subtile Blutstillung der Gefäße zu den Mm. brachioradialis, flexor carpi radialis, flexor pollicis longus und flexor digitorum superficialis sowie der periostalen Äste muss geachtet werden. Die Blutsperre wird geöffnet und die Lappenreperfusion geprüft. Eine subtile Blutstillung wird durchgeführt (⊡ Abb. 35.44b,c). Die distal gestielte Lappenplastik wird nun um 120–180° nach distal geschwenkt (⊡ Abb. 35.44d). Liegt der Schwenkpunkt vor Eintritt in die Tabatière, können Defekte bis zum MP-Gelenk gedeckt werden. Für Defekte im Fingerbereich wird der Lappen nach subtiler Ligatur kleinerer Äste unter den Sehnen des M. extensor pollicis brevis und des M. abductor pollicis longus vorsichtig hindurchgezogen (Décroisement nach Foucher et al.). Nach sorgsamer subkutaner Tunnelung wird der Lappen in den Defekt eingenäht. Alternativ kann im Bereich des Gefäßstieles ein vaskularisierter kutaner Streifen erhalten und zur Vermeidung einer Stielkompression nach einer Hautinzision eingenäht werden »Tennisschläger-Design nach Berger«). Zur Verbesserung des venösen Abflusses kann bei Bedarf eine venöse Anastomose zwischen einer oberflächlichen Lappenvene und einer dorsalen Hautvene in End-zu-End- oder End-zu-Seit-Technik erfolgen. Die Rekonstruktion der A. radialis durch ein invertiertes Veneninterponat vom Unterarm, meist der V. cephalica, wird von einigen Autoren diskutiert, ist aber unserer Erfahrung nach nicht notwendig. Bis zu einer Lappenbreite von 3–4 cm oder nach präoperativer Vordehnung mithilfe eines Expanders kann der Hebedefekt primär verschlossen werden, andernfalls ist ein Hauttransplantat erforderlich. In unseren Händen hat sich das Vollhauttransplantat aus der (ipsilateralen) Leiste (⊡ Abb. 35.44f) bewährt, welches mit einem Überknüpferverband fixiert wird (⊡ Abb. 35.44e). Zur Verbesserung des Transplantatlagers können proximal die Muskelbäuche der Mm. brachioradialis und flexor carpi radialis einander angenähert und distal Teile des Muskelbauches des M. flexor carpi ulnaris über die Beugesehnen verlagert werden. Postoperativ ist zum Schutz des Hauttransplantats eine Immobilisation für 7 Tage auf einer palmaren Unterarmgipsschiene notwendig. Danach ist eine intensive krankengymnastische Behandlung der gesamten Extremität sowie eine sorgfältige Hautpflege im Transplantatbereich durchzuführen. Durch eine intensive Narbenpflege mit Auflage einer Silikonfolie in Kombination mit einem Kompressionshandschuh kann die Spendermorbidität und das ästhetische Ergebnis im Empfängergebiet – mit einfachen Mitteln – deutlich verbessert werden (⊡ Abb. 35.44g–j). 35.2.11 Leistenlappen nach McGregor Die Leistenlappenplastik wird in Rückenlage und Vollnarkose gehoben. Je nachdem, wie weit die Lappenspitze nach lateral reicht, muss die ipsilaterale Beckenseite mit einer Unterlage etwas erhöht werden. Das Bein wird so beweglich abgedeckt, dass die Hüfte bei Verschluss des Hebedefektes gebeugt werden kann. Zur Lappen-
planung werden die Spina iliaca anterior superior, das Leistenband, die A. femoralis, der mediale Rand des M. sartorius und der Verlauf der A. circumflexa iliaca superficialis markiert. Der Hautlappen wird anschließend auf den Verlauf der A. circumflexa iliaca superficialis zentriert. Im Allgemeinen wird zur Defektdeckung das oberhalb des Lig. inguinale liegende Hautareal verwendet, da das untere zur Bildung des Rundstieles benötigt wird. Dieser Anteil muss ausreichend breit gewählt werden, um eine spätere Kompression des versorgenden Gefäßes zu vermeiden. Die Größe des benötigten Lappen errechnet sich aus der Defektoberfläche plus 2-mal die Lappendicke. Da der Leistenlappen manchmal sehr viel subkutanes Fett aufweist ist dies immer zu berücksichtigen. Nach Umschneidung des Hautlappens wird von lateral nach medial präpariert. Bis zur Spina iliaca anterior superior, bis zu der die A. circumflexa iliaca superficialis im subkutanen Fettgewebe liegt, erfolgt die Präparation relativ zügig. Da es sich um eine Lappenplastik vom Axial-pattern-Typ handelt, ist es nicht erforderlich, die darunter liegende Muskelfaszie mit zu heben. Die Präparation erfolgt also in der natürlichen Verschiebeschicht unmittelbar oberhalb der Muskelfaszie. Bei adipösen Patienten ist es nicht nötig, die gesamte Fettschicht zu entnehmen (⊡ Abb. 35.45). Die weitere Präparation wird von kranial bis zum Lig. inguinale durchgeführt. Dabei werden A. und V. epigastrica superficialis unterkreuzt und anschließend ligiert. Der distale Umfang der Lappenplastik wird nur bis zum Außenrand des M. sartorius freipräpariert. Zur Bildung des Rundstieles wird die Faszie des M. sartorius, ohne die A. circumflexa iliaca superficialis zu verletzen, inzidiert und bei der weiteren Präparation nach medial am Transplantat belassen. Am medialen Rand des M. sartorius geht ein Muskelast ab, der ligiert werden muss, erst dann kann der Lappen bis zur Lacuna vasorum freigelegt werden. Der N. cutaneus femoris lateralis, der meist zwischen M. sartorius und M. tensor fasciae latae an die Oberfläche tritt, gelegentlich aber auch medial des M. sartorius liegt, muss geschont werden. Um die A. circumflexa iliaca superficialis nicht zu verletzen, kann es in Einzelfällen allerdings notwendig werden, den Nerv zu durchtrennen. Der Patient sollte über diese mögliche Komplikation unbedingt vorher aufgeklärt werden. Nach vollständiger Hebung wird der Hautlappen zunächst in warme, feuchte Kompressen verpackt, anschließend wird eine Wundrandmobilisierung des Hebedefektes vorgenommen. Nach sorgfältiger Blutstillung und Einlage einer Redon-Drainage erfolgt der Wundverschluss, was durch eine Hüftbeugung von 30–40° erleichtert wird. Der Hebedefekt soll dicht verschlossen werden, um möglichst keine Eintrittspforte zur Keimbesiedlung zu bieten und ein Aufweichen der Haut zu vermeiden. Besonders kritisch ist die »Jammerecke« zwischen Rundstiel und Hebedefektnaht. Durch zwei kleine Hautdreiecke, die am Lappenstiel schon eingeplant und im Hebedefekt als Burow-Dreiecke verschlossen werden, lässt sich die Spannung im kritischen Bereich entscheidend verringern. Die Größe des für die Defektdeckung benötigten Lappenanteiles wird durch die Ausdehnung des Weichteilverlustes bestimmt. Der Rest des Hautlappens kann als Stiel zur Verbesserung der postoperativen Mobilisierung der Gelenke im Bereich der Hand und des fixierten Armes eingesetzt werden. Die Form des Stieles der Leistenlappenplastik ergibt sich aus der Dicke des subkutanen Fettgewebes. Eine spannungsfreie Rundstielbildung kann gefährlich und schwierig werden, wenn eine dicke subkutane Fettschicht vorhanden ist. Ist die Durchblutung der Lappenplastik wegen zu hoher Spannung am Rundstiel gefährdet, sollte auf der unverschließbaren Seite besser ein Spalthauttransplantat eingebracht werden. Als nächstes wird der Lappen in den Defekt eingenäht. Bevor die Narkose ausgeleitet wird, muss eine vollständige Fixierung der Hand
981 35.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 35.44 Distal gestielter Radialislappen zur Deckung eines Defektes im Hohlhand-, Interdigital- und proximalen palmaren Daumenbereich nach Débridement bei fulminantem Infekt. a Schema: Anatomie und Lappenplanung (aus Berger u. Hierner 2009), b klinischer Aspekt intraoperativ nach »second look«, c klinischer Aspekt nach Débridement und temporärer Fixierung der 1. Kommissur mithilfe von 2 KirschnerDrähten, d klinischer Aspekt nach Einnähung der Lappenplastik und Deckung des Spenderdefektes mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der ipsilateralen Leiste, e klinischer Aspekt nach Fixierung des Vollhauttransplantats mithilfe eines Überknüpfverbands, f klinischer Aspekt der ipsilateralen Leiste, 1 Jahr nach Entnahme eines Vollhauttransplantats. g Zur Verbesserung des funktionellen (Verminderung der Lappenschwellung) und ästhetischen (Narbenbildung) Ergebnisses wird als Teil der postoperativen Physiotherapie routinemäßig eine postoperative Narben- und Drucktherapie für 6 Monate durchgeführt, h klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Ansicht von palmar, i klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Fingerstreckung, j klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Faustschluss
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Deckung benötigt, kann am 21. postoperativen Tag zunächst auch nur die Arterie ligiert und durchtrennt werden. Eine Woche später erfolgt die vollständige Abtrennung und Einnähung des Lappens. Iatrogen angelegte Syndaktylien können in monatlichen Abständen aufgelöst werden. 35.2.12 Freie mikrovaskuläre (erweiterete) laterale
Oberarmlappenplastik nach Song
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⊡ Abb. 35.45 Leistenlappen nach McGregor
mit elastischen Bandagen oder einem Gips erfolgen, wobei auf eine exakte Lappenstiellage geachtet werden muss. Zu starker Zug am Lappenstiel oder Abknickung kann die Durchblutung des Lappens stören. Zur Kontrolle muss der Lappenbereich unbedingt bis zur vollständigen Ausleitung der Narkose eingesehen werden können. Zur Prävention von Gelenkeinsteifungen und zur Verbesserung des venösen und lymphatischen Rückstromes beginnt die krankengymnastische Behandlung, soweit es der Lappenstiel erlaubt, ab dem 2.–3. postoperativen Tag mit passiver und aktiver Bewegung des fixierten Armes und der Hand. Die Hüftknickung zur Wundentlastung im Leistenbereich sollte bis zum 10. postoperativen Tag beibehalten werden. Ab dem 10. postoperativen Tag kann mit dem Lappentraining zur Autonomisierung des Lappens begonnen werden. Dabei wird der Lappenstiel mit einer weichen gummibezogenen Darmklemme oder einem »vessel loop« komprimiert. Eine schrittweise Verlängerung der Kompressionszeit (3-mal täglich 5 Minuten bis zu 2 Stunden) führt zu einer zunehmenden Versorgung des Lappens aus dem Handbereich. Der fortbestehende Kapillarpuls nach Abklemmen des Stieles ist als Zeichen der zunehmenden Vaskularisation aus dem Defekt anzusehen. Die Durchtrennung des Lappenstieles erfolgt nach 3 Wochen. An der Hand wird der Hautlappen erst 1 Woche nach Stieldurchtrennung endgültig in den Defekt eingepasst, um die große Gefahr einer Nekrose bei primärem Verschluss zu vermeiden. Verschließt der Hautlappen den Defekt nicht vollständig, sollte die Lappenplastik mehr als 3 Wochen hautgestielt bleiben. Wird auch der Lappenstiel selbst noch zur
Präoperativ kann die Lokalisation der fasziokutanen Äste durch Dopplersonografie genau bestimmt werden. Die Operation erfolgt in Rückenlage und Vollnarkose. Der Einsatz einer Oberarmblutsperre ist möglich, aber aufwendig. Soll die Präparation in Blutleere erfolgen, wird die Manschette über eine Stockinette angebracht, die dann nach proximal umgedreht und an der Schulterhaut fixiert mit Einzelknopfnähten wird. Nach Präparation und Débridement des Defektes wird der Lappen am Oberarm bei 90° gebeugtem Ellenbogengelenk geplant. Der Hautlappen kann von der Insertion des M. deltoideus bis etwa 3–6 cm distal des Epicondylus lateralis (»extended lateral upper arm flap«) reichen. Bei der Lappenplanung ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die Dicke der subktanen Fettschicht von proximal nach distal hin abnimmt. Nach Markierung von Acromion, Insertion des M. deltoideus am Humerusschaft und Epicondylus lateralis wird an der Oberarmaußenseite eine Linie zwischen dem Acromion und dem Epicondylus lateralis angezeichnet. Diese Linie bildet die Lappenachse, um die der Hautlappen ellipsenförmig angezeichnet wird. Bis zu einer Lappenbreite von 6 cm, bei älteren Patienten bis 10 cm, kann ein direkter Wundverschluss sicher erreicht werden. Für größere Lappen kann präoperativ eine Hautexpansion durchgeführt werden (⊡ Abb. 35.46a). Die Präparation der Lappenplastik wird erleichtert, wenn eine sterile Blutleeremanschette so weit wie möglich proximal des Oberarmes angebracht wird. Zunächst wird der posteriore Anteil des Hautlappens umschnitten, die Faszie des M. triceps durch einige Stiche mit dem subkutanen Fettgewebe solidarisiert und die Präparation bis zu dem am Humerus fixierten Septum intermusculare laterale fortgesetzt. In gleicher Weise werden der vordere Anteil des Hautlappens umschnitten, die Mm. brachialis und brachioradialis mit ihren Faszien solidarisiert und bis zum Septum intermusculare laterale, an dem der Hautlappen noch fixiert ist, präpariert und so die fasziokutanen Hautäste freigelegt. Die Öffnung der Blutsperre ermöglicht anschließend die Präparation der A. profunda brachii zwischen M. deltoideus und M. triceps brachii nach proximal. Dazu werden die beiden Muskeln mit Haken zurückgedrängt, wodurch der Gefäßstiel und der N. radialis sichtbar werden. Vorsichtig wird die A. profunda brachii mit ihren Vv. comitantes vom N. radialis gelöst, ihre Aufzweigung in die Aa. collaterales radiales posterior und anterior dargestellt, die A. collateralis radialis anterior ligiert und die beiden Hautnerven aufgesucht. Abschließend wird das Septum intermusculare unter Schonung der N. radialis vom Humerus gelöst (⊡ Abb. 35.46b). Koagulationen von Gefäßen im Bereich des Nervenstammes müssen mit der bipolaren Diathermie durchgeführt werden. Die Länge des Gefäßstieles beträgt 7–8 cm. Im Anschluss an eine subtile Blutstillung und Einlage einer Redon-Drainage ohne Sog erfolgt der schichtweise Wundverschluss. Nur in Ausnahmefällen ist ein zusätzliches Hauttransplantat notwendig. Der Arm wird auf einem Thoraxabduktionskissen für 3–5 Tage ruhiggestellt. Bei sehr ausgedehnten Hautdefekten der Hand bis etwa 15×14 cm hat sich die Split-flap-Technik nach Katsaros bewährt.
983 35.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
Zunächst wird ein Hautlappen von 30 cm Länge und 7 cm Breite von der Insertion des M. deltoideus bis zum Unterarm entnommen. Etwa in der Mitte wird der Hautlappen zwischen zwei großen fasziokutanen Ästen der A. collateralis radialis posterior durchtrennt. Dadurch entstehen zwei voneinander getrennte Insellappen, die von der A. profunda brachii versorgt werden. Beide Hautlappen können im Defekt nebeneinander eingenäht werden, wodurch insgesamt ein 15×14 cm großer Hautdefekt gedeckt werden kann. Die weiteren intra- und postoperativen Schritte entsprechen den oben genannten. Eine konsequente postoperative Narbentherapie kann das Ergebnis im Spender- und Empfängergebiet deutlich verbessern. Eine sekundäre Lappenkorrektur im Sinne einer Ausdünnung sollte frühestens nach 6 Monaten durchgeführt werden. Mit der Auflösung einer iatrogenen Syndaktylie nach Deckung von polydigitalen Defekten im Metakarpophalangealbereich kann frühestens 3 Monate nach ihrer Anlage begonnen werden .
A. profunda brachii A. collateralis radialis posterior N. radialis N. cutaneus brachii posterior
35.3
N. cutaneus antebrachii posterior
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Bei der Beschreibung der Komplikationen nach Defektdeckung im Bereich der Hand unterscheidet man in akute und chronische Komplikationen.
A. collateralis radialis posterior A. collateralis radialis anterior
> Für die Bewertung der Komplikationen ist es wichtig, den Ausgangsbefund des Defektes als Bewertungsgrundlage mit einzubeziehen.
a
A. profunda brachii N. radialis
A. collateralis radialis anterior A. collateralis radialis posterior N. cutaneus brachii posterior
b ⊡ Abb. 35.46 Freie mikrovaskuläre (erweiterete) laterale Oberarmlappenplastik nach Song. a Schema: Anatomie und Lappenplanung, b Schema: Lappenhebung und Split-flap-Technik nach Katsaros
Zu den akuten Komplikationen zählt der partielle oder komplette Gewebeuntergang. Bei gestielten Lappenplastiken wird ein partieller oder kompletter Lappenverlust in 5–22% der Fälle angegeben. Bei freien Lappenplastiken ist mit einer Verlustrate von 2–7% zu rechnen. Von einer »inadäquaten Deckung« spricht man dann, wenn eines oder mehrere Therapieziele der Defektdeckung nicht erreicht werden. Der häufigste Fehler liegt in der Unterschätzung des Defektes. Die exakte Klassifikation des vorliegenden Gewebeschadens stellt die Basis jeder erfolgreichen Defektdeckung dar. Von zentraler Bedeutung ist das initiale »adäquate Débridement«. Ein ungenügendes Débridement führt zu einer zusätzliche Gewebeschädigung durch sekundäre Infektion. Im Operationsgebiet müssen klinisch verletzungsfreie Weichteil- und Knochenverhältnisse vorliegen. Oft ist es erst intraoperativ möglich, das wirkliche Ausmaß des Gewebeschadens zu bestimmen. Man muss sich immer vor Augen halten, dass der klinisch sichtbare Gewebeschaden bei Erstversorgung meist kleiner ist als der tatsächlich vorliegende nach Demarkation einige Tage danach (⊡ Abb. 35.32). Bei ausgedehnten Schädigungen muss eine Spaltung aller Muskellogen (Kompartimente) zur Vermeidung eines Kompartmentsyndromes erfolgen. Stark kontusionierte Muskeln müssen entfernt werden, da sie Ausgangspunkt von systemischen Komplikationen im Rahmen eines Ischämie-Reperfusions-Syndroms sein können. Bei der Exzision sollte im Bereich der oberen Extremität das »Prinzip der Elementarisation« nach Brunelli bedacht werden. Das Muskeldébridement sollte erst dann beendet werden, wenn gut blutende Schnittränder und/oder ein unverletztes Muskel-Gefäß-Bündel vorliegen. Kriterien für die intraoperative Vitalitätsbeurteilung des Knochens sind 1. Blutung aus den exponierten Frakturenden und 2. der Zustand des Periostes von Fraktursegmenten. Bei denudierten Segmenten kommt es posttraumatisch zu einer Fragmentnekrose, da weder die medulläre noch die muskuloperiostale Blutversorgung intakt ist. Eine Ausnahme bezüglich
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Kapitel 35 · Deckung vom Weichteil- und kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Handbereich
Zone
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scheinbare Defektlänge wirkliche Defektlänge
⊡ Abb. 35.47 Planung der exakten Defektgröße, i. e. Lappengröße unter Berücksichtugung der dreidimensionalen Gegebenheiten am Beispiel der Fingerkuppe. (Aus Berger u. Hierner 2009)
35
der Radikalität des Débridement stellen die peripheren Nerven dar. Bei einem kontusionierten Nerv mit erhaltener Kontinuität kann theoretisch eine Schädigung Grad I–IV nach Sunderland vorliegen. Da die Möglichkeit einer spontanen Funktionswiederkehr besteht, sollte hier primär zurückhaltend verfahren werden. Eine Sonderform des Wunddébridements stellt die primär geplante Extremitätenverkürzung im Rahmen des Konzeptes der primär geplant verkürzten Rekonstruktion mit sekundärer Extremitätenverlängerung dar. Determinanten der Extremitätenkürzung sind 1. Weichteildefekt, 2. Knochendefekt und 3. Nervendefekt. Hauptziele der primären Verkürzung bei Erstversorung sind der primäre Wundschluss und die optimal weichteilgedeckte Osteosynthese. Oft kann auch primär die Sensibiliät im distalen Extremitätenabschnitt teilweise durch primäre Koaptation wiederhergestellt werden. Ein weiterer häufiger Fehler besteht in der inadäquaten Planung der zu deckenden Defektgröße. Der zu deckende Defekt darf nicht nur zweidimensional betrachtet werden. Vor allem an Körperabschnitten mit stärkeren Rundungen (Kopf, lateraler Thorax, Fingerkuppe etc.) werden oftmals zu kleine Lappenplastiken gehoben, da der Defekt bei exakter dreidimensionaler Betrachtung deutlich größer ist. Bei Lappenplastiken muss zusätzlich die Lappendicke noch eingerechnet werden, will man nicht einen zu kleinen Lappen heben (⊡ Abb. 35.47).
Weiterführende Literatur Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten. Springer, Heidelberg Chase RA (1968) The damaged index digit: A source of components to restore the crippeled hand. J Bone Jt Surg 50A : 1152–1160 Dautel G (1992) Couvertrue cutanée. In: Merle M, Dautel G (Hrsg) La main traumatique, Bd 1 : L’urgence. Masson, Paris, S 74–178 Foucher G (1992) Le doigt banque. In: Foucher G (Hrsg) Le traitement primaire des traumatismes de la main. Monographie du Groupe d’Etudes de la Main, Bd 19. Expansion Scientifique Francaise, Paris, S 146–152 Godina M, Bajec J, Baraga A (1986) Early microsurgical reconstruction of complex trauma of the extremities. Plast Reconstr Surg 78: 285–292 Goffin D, Brunelli F, Galbiatti A, Sammut D, Gilbert A (1992) A new flap based on the distal branches of the radial artery. Ann Chir Main 11: 217–225 Iselin M, Iselin F (1967) Traite de Chirurgie de la Main. Flammarion Médecine Science, Paris Lexer E (1924) Die freien Transplantationen. Enke, Stuttgart
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985 35.3 · Weiterführende Literatur
Hochdruckeinspritzverletzungen Berthold Bickert
36.1
Allgemeines – 986
36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.1.5 36.1.6 36.1.7 36.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 986 Epidemiologie – 988 Ätiologie – 988 Diagnostik – 990 Klassifikation – 990 Indikationen und Differenzialtherapie – 991 Therapie – 991 Besonderheiten im Wachstumsalter – 992
36.2
Spezielle Techniken
36.2.1
Primäres operatives Vorgehen bei Hochdruckeinspritzverletzungen
– 992
36.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 993 Weiterführende Literatur
– 993
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 992
36
986
Kapitel 36 · Hochdruckeinspritzverletzungen
36.1
Allgemeines
36.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Zwischen Unterarm und Hand bestehen zahlreiche »Verbindungsstraßen«, die entweder entlang der Sehnen(scheiden) der extrinsischen Handmuskulatur ( Kap. 5, Kap. 6), durch Verbindungen der Faszienräume der Hand mit jenen des Unterarms ( Kap. 45, Kap. 48) und/oder entlang von Gefäß-bzw. Nervenbahnen (⊡ Abb. 36.1) verlaufen. > Diese Verbindungsstraßen haben nicht nur klinische Bedeutung bei der Ausbreitung von Infektionen, sondern sind auch die primären Ausbreitungswege bei Hochdruckeinspritzverletzungen.
36
a ⊡ Abb. 36.1 Gefäß-Nerven-Straßen im Bereich der Hand. a Palmarseite der Hand: subfasziale (subaponeurotische) epitendinöse Schicht (»Verbindungsstraße«), b Palmarseite der Hand: subfasziale (subaponeurotische) subtendinöse Schicht (»Verbindungsstraße«), c Dorsalseite der Hand: subfasziale Schicht (»Verbindungsstraße«), d dorsopalmare Anastomosen (»Verbindungsstraße«): wichtig für die palmodorsale Ausbreitung. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959 [a–c])
987 36.1 · Allgemeines
b
c
36
988
Kapitel 36 · Hochdruckeinspritzverletzungen
arterieller Plexus der Fingerkuppenpulpa
dorsale Äste der Aa. digitales palmares propriae
kleine dorso-palmare Anastomosen im Grundphalanxbereich
quere subtendinöse Anastomosen (Edwards-Arkade) quere subkutane (prävaginale) Anastomosen A. digitalis palmaris propria
A. digitalis dorsalis
distale dorso-palmare Anastomose im Intermetakarpalraum III
Verbindungsast zwische A. metacarpalis palmaris III und A. digitalis palmaris communisIII A. digitalis palmaris communisIII Arcus palmaris superficialis
A. metacarpalis dorsalis III
A. metacarpalis palmaris III
proximale dorso-palmare Anastomose im Intermetakarpalraum III
Arcus palmaris profundus A. metacarpalis dorsalis III
Os metacarpale III Os capitatum
Rete carpale palmare
36
Rete carpale dorsale Os lunatum Radius
A. interossea posterior A. interossea anterior
⊡ Abb. 36.1d
36.1.2 Epidemiologie Neben Walzenquetschverletzungen stellen Hochdruckeinspritzverletzungen den zweiten Verletzungstyp an der Hand dar, dessen Schwere auf den ersten Blick oft grob unterschätzt wird. Für den weiteren Verlauf ist es entscheidend, aus der Anamnese des Unfallhergangs und der initialen Untersuchung möglichst schon am Unfallort dem Patienten den richtigen Begriff zuzuordnen: »Hochdruckeinspritzverletzung« (Synonyme sind »Hochdruckinjektionsverletzung« oder englisch »injection injury«). Hochdruckeinspritzverletzungen zeichnen sich dadurch aus, dass außer einer winzigen Eintrittsstelle oft kaum ein Schaden an der Hand oder am Unterarm erkennbar ist (⊡ Abb. 36.2a), die injizierte Substanz sich entlang der oben genannten Verbindungsstraßen zwischen Hand und Unterarm, aber weit von der Hand bis in den Unterarm ausgebreitet hat und hier einen erheblichen Dauerschaden (⊡ Abb. 36.2b) bis hin zum Funktionsverlust der Hand nach sich ziehen kann.
Hochdruckeinspritzverletzungen betreffen fast ausschließlich Männer. Es handelt sich in der überwiegenden Mehrzahl um Arbeitsunfälle. Zur Prävention werden Arbeiter an Hochdruckgeräten entsprechend geschult und Warnhinweise an den Geräten angebracht (⊡ Abb. 36.3). Die Präventionsmaßnahmen erscheinen allerdings in vielen Ländern noch verbesserungswürdig. 36.1.3 Ätiologie Hochdruckeinspritzverletzungen werden durch einen winzigen Strahl irgendeiner Substanz verursacht, der infolge des hohen Drucks die Haut nadelförmig durchsticht. Folge ist eine innere Druckschädigung der Weichteile mit kompartmentähnlichen Auswirkungen ( Kap. 48) sowie eine Ablagerung der eindringenden Substanz im Gewebe, sowohl lokal als auch regional. So kann sich die eindringende Substanz bei Verletzung eines Fingers oft bis in
989 36.1 · Allgemeines
a
b
!
!
WARNUNG
Verletzung durch Hochdruckinjektion (Herausspritzen von Hydrauliköl unter hohem Druck)! Verschleiß, Beschädigung der Dichtungen, Alterung und eine falsche Montage des Dichtungssatzes durch den Betreiber können zum Austreten von Öl unter hohem Druck führen. Vor dem Gebrauch eine Sichtkontrolle durchführen.
⊡ Abb. 36.3 Warnhinweis an einer Hochdruckhydraulik
die Hohlhand und manchmal sogar in den Unterarm ausbreiten. Die eingedrungene Substanz kann dabei durch ihre physikalischen Eigenschaften (Hitze oder Kälte) oder durch chemische Eigenschaften (ätzend) oder aufgrund ihrer Toxizität das lokale Gewebe oder sogar den ganzen Organismus schädigen. Außerdem löst jede eingedrungene Substanz im Verlauf von Stunden, Tagen und Wochen eine Fremdkörperreaktion aus, die als mehr oder weniger ausgeprägte Entzündung beginnt und schließlich Funktionsdefizite, Schmerzsyndrome oder späte Amputationen nach sich ziehen kann. Typische Geräte, die Hochdruckeinspritzverletzungen verursachen, sind die seit etwa 1960 eingesetzten Airless-Farbspritzpistolen. Im Gegensatz zu Druckluftspritzen, die mit 2–5 bar (10 bar = 1 MPa [MegaPascal]) arbeiten, erfolgt beim AirlessSpritzen die Zerstäubung des Beschichtungsmaterials an der Zerstäuberdüse ohne die Unterstützung von Druckluft. Der Spritzraum wird dadurch kaum vernebelt und der Spritzverlust ist gering. Der für dieses Verfahren benötigte hydraulische Druck liegt bei 180–250 bar. Verletzungen werden entweder direkt an der Düse verursacht oder aber auch durch Materialschäden an den Hochdruckschläuchen. Letztere sind auch die Verletzungsursache bei den vielfältig eingesetzten Hochdruckhydrauliken, z. B. bei LKW mit Heberampe zum PKW-Transport oder in der industriellen Fertigung. Hochdruckhydraulikschläuche werden bis 700 bar angegeben, Höchstdruckschläuche sogar bis 4.000 bar. Einen typischen Unfallhergang beschrieb ein LKW-Fahrer wie folgt: »Ich sah einen winzigen Tropfen auf einem Hydraulik-
⊡ Abb. 36.2 Hochdruckeinspritzverletzung am linken Zeigefingerklinischer. a Befund bei Aufnahme: Die winzige Eintrittsstelle der Hochdruckeinspritzverletzung ist kaum zu erkennen. b Bewegungsdefizit des linken Zeigefingers vor Tenoarthrolyse
schlauch. Als ich ihn mit dem Handschuh wegwischen wollte, um mir den Schlauch genauer anzusehen, spürte ich einen scharfen Schmerz im Finger wie einen Wespenstich.« Das Hydrauliköl fand sich bei der anschließenden Operation im Finger und in der Hohlhand bis in den Karpaltunnel. Des Weiteren sind Hochdruckreinigungsgeräte zu nennen, die im professionellen Einsatz mit Drücken bis 2.000 bar arbeiten. Diese verursachen nicht nur Verletzungen an der Hand, sondern immer wieder auch am Fuß und oder am Rumpf. Sie werden meist mit Leitungswasser, in der Schifffahrt aber auch mit Flusswasser betrieben. Erwähnenswert sind außerdem Impfpistolen, mit denen in der Veterinärmedizin gearbeitet wird und die Druckimpulse bis zu 850 bar abgeben. Was die Toxizität der Substanzen angeht, so wurden in der Vergangenheit Terpentine und PCB-haltige Hydrauliköle und PCB-Farbverdünnungen auch in Hochdruckgeräten eingesetzt. PCB (polychlorierte Biphenyle) zeigen zwar nur eine geringe akute Toxizität, aber schon in geringen Mengen eine erhebliche chronische Toxizität (Chlorakne, Haarausfall, Hyperpigmentierungen, fetale Fehlbildungen, maligne Tumore), die auch nach Hochdruckeinspritzverletzungen eine Rolle spielten. PCB sind in Deutschland seit 1989 verboten. Aktuelle Hydrauliköle, wie z. B. die Bremsflüssigkeit von Fahrzeugen, wirken lokal ätzend, haben aber nicht mehr die Toxizität früher verwendeter Substanzen. Bei Hochdruckeinspritzverletzungen können drei Mechanismen zu letztlich irreversiblen Gewebsschädigungen führen: 1. direkte Schädigung durch Druck, 2. chemische Schädigung durch das injiziert Agens und 3. sekundäre entzündliche Fremdkörperreaktionen.
Direkte Schädigung durch Druck. Von der Eintrittsstelle breitet sich der Druckschaden dem geringsten Widerstand folgend entlang den Gefäß-Nerven-Bündeln aus und führt zu einem Abheben der Haut von den Gefäßen. Gleichzeitig verhindern die zahlreichen Septen der Finger eine ausreichende Dehnung des Gewebes, sodass es zu einer erheblichen Druckerhöhung im Finger und damit zu Perfusionsstörungen kommt, als deren Ursache Gefäßspasmen und Mikrothromben diskutiert werden. Der Finger erscheint ischämisch (⊡ Abb. 36.4), sodass die Notwendigkeit kaum zu übersehen ist, zu handeln wie bei einer Replantation, also möglichst rasch. Im Bereich der Hohlhand ähnelt die Druckschädigung einem Kompartmentsyndrom. Dieser Aspekt der Verlet-
36
990
Kapitel 36 · Hochdruckeinspritzverletzungen
⊡ Abb. 36.4 Hochdruckeinspritzverletzung mit Wasser. a Fingerendgliedischämie 1 Stunde nach Hochdruckeinspritzverletzung mit Wasser, b Reperfusion des Fingers erst unter operativer Druckentlastung
a
zung, die Druckschädigung, ist durch rasche operative Druckentlastung des Fingers und Dekompression der Handkompartimente meist vollständig reversibel.
Chemische Schädigung durch das injizierte Agens. Früher
36
war diese Wirkung vor allem bei Farben zu beobachten. Heutzutage ist vor allem die ätzende Wirkung von Hydrauliköl zu nennen. Aber auch Nitroverdünnung und Rostlöser richten direkten chemischen Schaden an. Die toxische Wirkung früher verwendeter Substanzen wie Terpentin oder PCB (polychlorierte Biphenyle) spielt heute kaum noch eine Rolle. In seltenen Fällen muss auch die thermische Schädigung z. B. durch heißes Kunstharz beachtet werden. Keine chemische Schädigung ist durch Wasser zu befürchten. Und selbst kontaminiertes Wasser (z. B. Flusswasser) stellt unter Antibiotikagabe kein größeres Problem dar.
Sekundäre entzündliche Fremdkörperreaktion. Der dritte Schädigungsmechanismus liegt in der entzündlichen Fremdkörperreaktion z. B. auf Farbreste. Diese führen nach einer exsudativen Phase, die 1–2 Wochen anhält, zu einer zunehmenden Fibrosierung des Gewebes und damit zu Funktionseinschränkung, Kälteintoleranz, Schmerzen und Sensibilitätsstörungen. Bakterielle Superinfektionen wurden beschrieben, sodass bei Verdacht oder Nachweis eine Antibiotikagabe sinnvoll erscheint. Antibiotika lösen aber nicht das Problem, sondern dieses kann nur durch eine möglichst restlose Fremdmaterialentferung in den ersten Tagen nach Unfall und insbesondere auch durch eine frühzeitige konsequente Physiotherapie beherrscht werden. 36.1.4 Diagnostik > Die Anamnese ist für die Diagnostik der Hochdruckeinspritzverletzung von ausschlaggebender Bedeutung.
Bis auf den punktförmigen Einstich spielt sich die Hochdruckeinspritzverletzung ausschließlich in der Tiefe des Gewebes ab und ist daher einer gezielten präklinischen Therapie nicht zugänglich. Um so wichtiger ist es, aus der Erfragung des Unfallhergangs die Diagnose »Hochdruckeinspritzverletzung« zu stellen, den Unfallzeitpunkt zu erfragen und Informationen über die Art und Tem-
b
peratur der injizierten Substanz zu erhalten, möglichst in Form eines Datenblatts. Wie bei allen Verletzungen der Hand erfolgt dann sofort eine konsequente Schmerztherapie, nicht ohne zuvor noch Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme und Allergien erfragt und die periphere Sensorik (2PD statisch) und Motorik orientierend untersucht zu haben. Sollten sich die Schmerzen in Grenzen halten, muss der Patient manchmal nachdrücklich von der Notwendigkeit einer handchirurgischen, in der Regel operativen Therapie überzeugt werden. > Bei Verdacht auf eine Hochdruckinjektionsverletzung der Hand muss der Patient schnellstmöglich in eine handchirurgische Spezialabteilung gebracht werden. Jeder Zeitverlust kann die Prognose deutlich verschlechtern.
Die am Unfallort gewonnenen Informationen werden entgegengenommen und ggf. vervollständigt. Klinisch wird versucht, die Ausdehnung des Schadens zu palpieren, wobei es für die anschließende Operation hilfreich ist festzustellen, ob der Schaden nur beugeseitig oder beuge- und streckseitig vorliegt (selten nur streckseitig) und ob der Schaden auf die Hand begrenzt ist oder sogar schon in der klinischen Untersuchung bis zum Unterarm feststellbar ist. In der Röntgendiagnostik sollte vom handchirurgischen Prinzip, bei einer Fingerverletzung nur den Finger in 2 Ebenen zu röntgen und nicht die Hand, abgewichen werden. Bei Hochdruckeinspritzverletzungen der Hohlhand oder des Handgelenks ist es gerechtfertigt, lange Röntgenaufnahmen des Unterarms mit Hand in zwei Ebenen anzufordern, um die gesamte Ausdehnung des Schadens abschätzen zu können. Manche eingespritzten Substanzen sind röntgendicht (⊡ Abb. 36.5), häufiger aber orientiert man sich an begleitenden Lufteinschlüssen (⊡ Abb. 36.6). Eine Magnetresonanztomografie würde wahrscheinlich die Ausdehnung des Schadens zeigen, wird aber momentan kaum durchgeführt, da sie die Operation zeitlich verzögern würde. 36.1.5 Klassifikation Eine anerkannte und brauchbare Klassifikation von Hochdruckeinspritzverletzungen existiert nicht. Von therapeutischer Relevanz ist vor allem die Art des Injektats (⊡ Tab. 36.1):
991 36.1 · Allgemeines
von Spiritus oder Terpentin sind beispielsweise Hämolyse und Nierenversagen möglich, sodass hier eine entsprechende Intensivtherapie erforderlich werden kann. Auch allergische Reaktionen z. B. auf Impfstoffe sind möglich. In den allermeisten Fällen stehen die Behandlung der direkten Druckschädigung und die Vermeidung einer flächenhaften, zur Narbenkontraktur führenden Fremdkörperreaktion im Vordergrund.
Konservative (nichtoperative) Therapie
⊡ Abb. 36.5 Farbeinschluss in der Fingerbeere eines Jugendlichen
⊡ Abb. 36.6 Lufteinschlüsse zwischen den Muskeln der Hohlhand
Erfolgt primär keine operative Therapie ist eine engmaschige klinische Kontrolle eine Conditio sine qua non. Im weiteren Therapieverlauf dient die konservative Therapie der Prophylaxe und Behandlung von Kontrakturen durch intensive krankengymnastische Übungsbehandlung und Anpassung dynamischer Schienen. Die Behandlung muss bis zum Eintritt der Narbenreife, manchmal also über ein halbes Jahr, konsequent durchgeführt werden. Konservative Behandlungsmaßnahmen sind natürlich auch essenziell in der postoperativen Nachbehandlung.
Operative Therapie
⊡ Tab. 36.1 Klinische Klassifikation der Hochdrucheinspritzverletzungen aufgrund des injizierten Agens Charakteristika
Injiziertes Agens
Inerte resorbierbare Injektate
Leitungswasser, Luft und andere Gase
Inerte nicht resorbierbare Injektate
Farben, Kunststoffe, Paraffinöl
Toxische Injektate
Hydrauliköl, Lösungs- und Reinigungsmittel
Sonstige
Flusswasser, Impfstoffe, thermische Schädigungen
36.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Standard in der Therapie von Hochdruckeinspritzverletzungen ist die sofortige, notfallmäßige operative Dekompression und Fremdkörperentfernung. Eine konservative (nichtoperative) Therapie ist nur dann gerechtfertigt, wenn es sich um ein inertes resorbierbares Injektat (vor allem Luft und Leitungswasser) handelt und wenn in der klinischen Untersuchung weder initial noch im Verlauf Zeichen einer Durchblutungsstörung oder eines Kompartmentsyndroms bzw. später eines Infektes auftreten. 36.1.7 Therapie > Als erstes muss die Gefahr einer generellen Intoxikation ausgeschlossen werden.
Hierzu ist die genaue Kenntnis der hochdruckinjizierten Substanz erforderlich, sodass im Zweifelsfall eine Giftzentrale kontaktiert und eine spezielle Therapie eingeleitet werden kann. Bei Injektion
In handchirurgischen Zentren gilt der drohende Verlust eines Fingers als »vitale OP-Indikation«. In diesem Sinne stellen Hochdruckeinspritzverletzungen eine »vitale Operationsindikation« dar und müssen mit der gleiche Dringlichkeit wie Replantationen durchgeführt werden. Die Operation sollte am besten in Plexusanästhesie erfolgen, wobei postoperativ die Analgesie über Plexuskatheter fortgesetzt wird. Alternativ kann eine Allgemeinanästhesie eingesetzt werden. > Eine Lokalbetäubung oder Infiltrationsanästhesie ist nicht indiziert, da druckbedingte Durchblutungsschäden verstärkt werden könnten.
Im postoperativen Verlauf sollten ähnlich dem Vorgehen bei einer Handphlegmone Second-look-Operationen alle 2 Tage eingeplant werden, bis der entzündliche Reizzustand erkennbar an ein Ende gekommen ist. Falls jetzt Lappenplastiken zur Weichteildeckung erforderlich sind, sollten diese umgehend durchgeführt werden, sodass möglichst innerhalb 1 Woche ein definitiver Wundverschluss erreicht ist (⊡ Abb. 36.7a–d). Die Notwendigkeit von Amputationen ist in der Regel im Verlauf der ersten 1–2 Wochen ab Unfall eindeutig erkennbar. Ab dem ersten postoperativen Tag sollte eine vorsichtige Physiotherapie zum Training des aktiven und passiven Faustschlusses und der Fingerstreckung begonnen werden, wobei wie üblich langsam und mit möglichst großem Bewegungsausschlag trainiert wird. Im weiteren Verlauf kommen dann Ergotherapie, Schienenbehandlung, Lymphdrainage und alle sonstigen Verfahren der spezialisierten Handtherapie hinzu, wie sie bei jeder schweren Handverletzung oder Handphlegmone eingesetzt werden, um ähnliche Spätfolgen wie die der Hochdruckeinspritzverletzungen zu verhindern: Bewegungsstörungen, Kälteintoleranz, chronische Schmerzen, Sensibilitätsstörungen, Kraftminderung. Falls sich ein dauerhaftes schweres Funktionsdefizit der verletzten Hand abzeichnet, sollte zusätzlich eine Funktionssteigerung der unverletzten Hand (»Einhändertraining«) angestrebt und der Patient mit allen geeigneten Mitteln auch in der beruflichen und psychosozialen Rehabilitation unterstützt werden.
36
992
Kapitel 36 · Hochdruckeinspritzverletzungen
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⊡ Abb. 36.7 Hochdruckeinspritzverletzung mit Farbe. a Klinischer Befund bei Aufnahme, b radiologischer Befund bei Aufnahme, c Weichteildefekt der Zeigefingergrundgliedbeugeseite nach Nekrose, d Befund nach Weichteildeckung mit erweiterter DMCA-Lappenplastik am 22. Tag nach Unfall: Ansicht von dorsal (Fingerstreckung), e Befund nach Weichteildeckung mit erweiterter DMCA-Lappenplastik am 22. Tag nach Unfall: Ansicht von palmar (Fingerstreckung), f Befund nach Weichteildeckung mit erweiterter DMCA-Lappenplastik am 22. Tag nach Unfall: Ansicht von palmar (Fingerbeugung)
36.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Diagnostik und Therapie von Hochdruckeinspritzverletzungen im Kindesalter gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. 36.2
Spezielle Techniken
36.2.1 Primäres operatives Vorgehen bei
Hochdruckeinspritzverletzungen > Die Operation erfolgt in Oberarmblutsperre nach Anheben der Extremität (»Blutleere durch Elevation«) ohne Anwendung der Esmarch-Binde.
Als Zugang wird beugeseitig zunächst mit dem Hautstift eine zickzackförmige Inzision nach Bruner vom Finger bis in die Hohlhandmitte markiert, dann die Inzision längs in der Linea vitalis über dem Karpaltunnel bis zur Rascetta gezeichnet, ab hier 2 cm nach ulnar und dann leicht geschwungen wieder zur Mitte
der Unterarmbeugeseite gezogen. Die tatsächliche Hautinzision richtet sich nach der Ausdehnung des Injektats. In den meisten Fällen müssen die Kompartimente der Hohlhand einschließlich des Karpaltunnels und der Loge de Guyon gespalten werden. Sämtliches Fremdmaterial wird minutiös entfernt; Hydrauliköl wird so gründlich wie möglich mit trockenen Kompressen ausgetupft. Eine komplette Synovialektomie der befallenen Beugesehnenscheiden ist anzuraten ( Kap. 6). Das die Gefäß-Nerven-Bündel umgebende betroffene Gewebe wird in mikrochirurgischer Technik möglichst »en bloc« entfernt. Anschließend wird mit großen Mengen RingerLösung ohne Druck gespült. Ein locker adaptierender, lückenhafter Hautverschluss wird über mehreren Laschendrainagen angelegt, um ein Ausspülen von Resten des Fremdmaterials durch Sekretion zu ermöglichen. In besonders schweren Fällen kann auch eine offene Wundbehandlung erforderlich sein, die heutzutage mit VACHandschuh durchgeführt werden kann und oft eines sekundären Verschlusses mittels Lappenplastik bedarf. Streckseitige Inzisionen sind seltener notwendig, erfordern eine strenge Indikationsstellung und werden möglichst gerade und median angelegt. An Fingern sollten gleichzeitige beuge- und streckseitige Inzisionen Ausnahmefällen vorbehalten bleiben, da
993 Weiterführende Literatur
sie die Hautdurchblutung gefährden. Am Handrücken muss bedacht werden, dass durch eine vielleicht nicht unbedingt erforderliche Inzision eine spätere DMCA-Lappenplastik (⊡ Abb. 36.7d–f; Metakarpalarterie) oder ein Interossea-posterior-Lappen unmöglich werden kann. 36.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
1. Aus der Schilderung des Unfallhergangs sollte umgehend die Diagnose der Hochdruckeinspritzverletzung gestellt werden. 2. Jede Hochdruckeinspritzverletzung an der Hand erfordert eine notfallmäßige, in der Regel operative handchirurgische Therapie. 3. Röntgenaufnahmen sollten die verletzte Region großflächig abbilden und zeigen meistens entweder das injizierte Fremdmaterial oder die begleitenden Lufteinschlüsse. 4. Die notfallmäßige handchirurgische Operation hat die Druckentlastung sämtlicher betroffener Kompartimente der Hand, meist einschließlich des Karpaltunnels und der Loge de Guyon, und die minutiöse Entfernung sämtlichen eingesprengten Fremdmaterials zur Aufgabe. 5. Second-look-Operationen zum weiteren Débridement sind oft angezeigt. Ein definitiver Wundverschluss sollte innerhalb 1 Woche, die Entscheidung über eine Amputation innerhalb 2 Wochen erreicht werden. 6. Ab dem 1. Tag nach Trauma sollte eine physio- und handtherapeutische Behandlung durchgeführt werden. Dies entspricht dem Vorgehen bei Handphlegmonen und kann sich auch nach Hochdruckeinspritzverletzungen über viele Monate hinziehen. 7. Kontraindiziert sind Eingriffe in Oberst-Anästhesie des Fingers, Wundspülung der Eintrittspforte und der Versuch, das Injektat zur Eintrittsstelle hin auszustreichen.
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36
995 36.3 · Weiterführende Literatur
Paravasate im Bereich der oberen Extremität Horst Koch, Armin Gerger, Benjamin Gehl
37.1
Allgemeines – 996
37.1.1 37.1.2 37.1.3 37.1.4 37.1.5 37.1.6 37.1.7 37.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 997 Epidemiologie – 997 Ätiologie – 998 Diagnostik – 999 Klassifikation – 1000 Indikationen und Differenzialtherapie – 1001 Therapie – 1002 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1006
37.2
Spezielle Techniken
37.2.1 37.2.2 37.2.3
Technik der Liposuktion bei der akuten Therapie von Paravasaten – 1006 Fasziotomie bei akutem Kompartmentsyndrom – 1006 Technik des freien anterolateralen Oberschenkellappens zur plastisch-chirurgischen Rekonstruktion bei verspätet diagnostizierten Paravasaten – 1006
– 1006
37.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1007 Weiterführende Literatur
– 1010
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37
996
Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
37.1
Allgemeines
> Die Paravasation ist definiert als der unerwünschte Austritt intravaskulär zu applizierender Substanzen in das das jeweilige Gefäß umgebende Gewebe. In erster Linie handelt es sich dabei um das subkutane Fettgewebe.
Im Falle von Paravasation sind Zytostatika, die in der hämatoonkologischen Therapie eingesetzt werden, vasoaktive Substanzen und hyperosmolare Lösungen, die in der Intensivmedizin gebraucht werden, die häufigsten Verursacher von Gewebeschäden.
Der Evidenzgrad wissenschaftlicher Publikationen zum Thema der Therapie von Paravasaten ist gering. Dies ist einerseits mit der hohen Komplexität des Themas, andererseits und vor allem aber damit zu erklären, dass der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Thematik enge Grenzen gesetzt sind. Eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung unter Verwendung prospektiver klinischer Studien ist praktisch nicht möglich. Daraus ergibt sich, dass das zu dieser Fragestellung existierende Wissen aus persönlichen Erfahrungen, anekdotischen Fallberichten und retrospektiv ausgewerteten Fallserien resultiert und folglich begrenzt ist. Dieses Kapitel beschränkt sich somit auf den Versuch, die aktuelle Literatur zu sichten und daraus mögliche Behandlungsrichtlinien abzuleiten.
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a
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⊡ Abb. 37.1 Übersicht über die Hautvenen, Hautnerven und die Oberflächenfaszie im Bereich der oberen Extremität. a Ansicht von palmar, b Ansicht von dorsal. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
997 37.1 · Allgemeines
37.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Intravenöse Zugänge werden in allererster Linie an der oberen Extremität und hier wiederum am Handrücken, am Unterarm bzw. in der Ellenbeuge (Cubita) angelegt. Der wohl am häufigsten verwendete Zugangsweg für Dauergefäßzugänge wie voll implantierbare Portsysteme oder Hickmann-Katheter liegt im Bereich des Trigonum deltoideopectorale (Mohrenheim-Dreieck oder -Grube). Die Anatomie des Venensystems an Handrücken und Unterarm zeigt eine große Variabilität. Das Rete venosum dorsale manus wird von den Vv. metacarpeae dorsales gebildet (⊡ Abb. 37.1a). Meist erfolgt der venöse Abfluss vom Handrücken über die radiale Seite, wo sich häufig am Handgelenk eine kräftige V. cephalica bildet. Ulnarseitig ist oft eine meist deutlich schwächere V. basilica ausgebildet. Sowohl streck- als auch beugeseitig am Unterarm findet sich ein meist reiches Netz subkutaner Venen mit V. cephalica, V. basilica und V. mediana antebrachii als Hauptvenen. Die beiden erstgenannten Venen setzen sich auch radial bzw. ulnar auf den Oberarm fort. Häufig findet sich vom proximalen Unterarm durch die Cubita ziehend eine sehr kräftige V. mediana cubiti (⊡ Abb. 37.1). > Für den klinischen Verlauf und die Ausdehnung eventueller Nekrosen nach Paravasation sind sowohl die Dicke des subkutanen Fettgewebes als auch der Faszie als Abgrenzung zu tieferliegenden Strukturen von Bedeutung.
Das subkutane Fettgewebe ist in seiner Ausprägung erheblichen individuellen Schwankungen unterworfen. Generell nimmt seine Dicke von proximal nach distal ab. Besonders dünn ist es im Bereich des Handgelenks und des Handrückens. Die Faszie des Oberarmes geht im Ellenbogenbereich kontinuierlich in die Faszie des Unterarmes über. Ihre Stärke nimmt dabei zu. Im Unterarmbereich ist sie insbesondere an der Hinterkante der Ulna befestigt. Der Lacertus fibrosus des M. biceps brachii verstärkt die Unterarmfaszie in der Cubita. Die Unterarmfaszie liegt
den Muskelbäuchen im mittleren Unterarmdrittel dicht auf, weiter distal liegt sie über den Sehnen und ist von diesen meist durch eine dünne Schicht von lockerem Binde- und Fettgewebe getrennt. Am Übergang auf den Handrücken weist sie eine Verstärkung in Form des Retinaculum extensorum aus, nach distal hin läuft sie über den Streckaponeurosen der Finger aus. Das Trigonum deltoideopectorale, oft auch als MohrenheimGrube bezeichnet, ist ein muskelfreies Dreieck unterhalb der Klavikula, das medial durch den klavikularen Anteil des M. pectoralis major, lateral durch den M. deltoideus sowie oben durch die Klavikula begrenzt wird. Nach unten hin setzt es sich in den Sulcus deltoideopectoralis fort, durch den die V. cephalica aufwärts zieht. Oft ist sie dem M. deltoideus eng angelagert und zieht im Trigonum deltoideopectorale in die Tiefe zur V. axillaris (⊡ Abb. 37.2). Meist wird die V. cephalica als Zugang für voll implantierbare Portsysteme gewählt. Da es hier anatomische Variationen gibt, können derartige Systeme oft auch direkt in die V. axillaris eingeleitet werden. 37.1.2 Epidemiologie Tag für Tag werden weltweit mehr als 100.000 Chemotherapiedosen und 1.000.000 intravenöse (i.v.) Infusionen verabreicht. Trotz zahlreicher Vorsichtsmaßnahmen treten häufig Paravasate als Komplikation auf. Diese können sowohl bei peripheren Infusionen, als auch bei zentral venösen Zugängen auftreten. Aufgrund häufig fehlender Dokumentationen wird das Auftreten von Paravasaten bei zentral venösen Zugängen häufig verkannt. Die Angaben über die Häufigkeit von Paravasationen im Rahmen einer onkologischen Behandlung schwanken erheblich. Die Werte reichen hier von 0,1–6,5%. Von einer hohen Dunkelziffer ist auszugehen, diese besteht möglicherweise aus Angst vor medicolegalen Schritten. Für das Auftreten eines Paravasats wurden einige Risikofaktoren beschrieben ( Risikofaktoren für das Auftreten eines Paravasats).
⊡ Abb. 37.2 Trigonum deltopectorale und Fascia pectoris profunda. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
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Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
Risikofaktoren für das Auftreten eines Paravasats (mod. nach Paravasate-Leitlinien 2007) Faktoren beim Patienten
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Kleine Blutgefäße (d. h. Säuglinge und Kleinkinder) Fragile Venen (d. h. ältere Menschen, Krebspatienten) Harte, sklerosierte Venen Rollvenen Durchblutungsstörungen (z. B. Kanüle auf einer Mastektomieseite, Lymphödeme) ▬ Obstruierte V. cava (erhöhter Venendruck kann zu unbeabsichtigtem Austreten führen) ▬ Bereits vorhandene Erkrankungen oder Komplikationen (Diabetes, periphere Kreislaufbedingungen wie RaynaudSyndrom, Strahlenschäden) ▬ Adipositas
Bei den Chemotherapeutika unterscheidet man nach dem Typ der hervorgerufenen Schädigung drei Gruppen von Medikamenten (⊡ Tab. 37.1): ▬ gewebenekrotisierender Schädigungstyp (in der englischsprachigen Literatur als »vesicant« bezeichnet), ▬ gewebereizender Schädigungstyp (»irritant«), ▬ nicht gewebeschädigender Schädigungstyp (»non-vesicant«).
Gewebenekrotisierende Substanzen
▬ Bolus-Injektion ▬ Hoher Fließdruck
In dieser Gruppe werden Medikamente zusammengefasst, welche in der Lage sind makroskopisch Veränderungen wie Blasen und Abschälungen hervorzurufen. Bleibt eine zügige Behandlung aus, so kann es im Verlauf zu schwerwiegenden Nebenwirkungen der Paravasation, wie Gewebezerstörung und Nekrotisierung, kommen. Es tritt ein lokaler Gewebeuntergang auf, wobei Dysatrophien und Narbenbildungen auftreten. Lokale Schädigungen von Sehnen, Muskeln und Knochen können bis zum Verlust der betroffenen Extremität führen. Entsprechend dem Schädigungsmuster lassen sich diese Medikamente in zwei weitere Untergruppen aufteilen. Ausschlaggebend ist hier der Mechanismus, nach dem sie Schäden verursachen. Aufgrund der differenten Behandlungsstrategie ist diese Unterteilung hilfreich.
Instrumentarium
DNA-bindende Medikamente. Substanzen dieser Gruppe wer-
▬ Stahl-Butterflykanüle ▬ Kathetergröße und -art
den durch lokale Mechanismen in die Zelle eingeschleust. Sie dringen bis in den Zellkern vor, um DNA kovalent und nichtkovalent zu binden. Über funktionelle Gruppen können sie DNA-Stränge vernetzen und verhindern eine korrekte Zellteilung durch Hemmung der DNA-Replikation und Transkription. Weiterhin können sie die Apoptose der Zellen einleiten. Zerfällt die Zelle im Laufe der Apoptose, können genannte funktionelle Gruppen erneut freigesetzt werden, um weitere gesunde Zellen anzugreifen. DNAbindende Medikamente lassen sich in drei Kategorien aufgeteilt: ▬ Anthrazycline, ▬ alkylierend wirkende Substanzen und ▬ Sonstige.
Schwierigkeit, die Symptome frühzeitig zu erkennen
▬ Unfähigkeit, Stechen bzw. Unbehagen zu melden (z. B. sediert, verwirrt)
▬ Vermindertes Empfinden (z. B. als Folge einer Neuropathie, Diabetes, periphere Gefäßerkrankung)
Kanülierungs- und Infusionsverfahren
▬ Ungeschultes oder unerfahrenes Personal ▬ Mehrere Kanülierungsversuche ▬ Ungünstige Kanülierungsstelle (z. B. Handrücken statt Unterarm, in Knochennähe)
37
Wie in der Einleitung schon erwähnt, treten Gewebeschäden nach Paravasationen in erster Linie durch folgende Substanzen auf: ▬ in der antineoplastischen Therapie eingesetzte Chemotherapeutika, ▬ vasoaktive Substanzen sowie ▬ hyperosmolare Lösungen.
Behandlung
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Fähigkeit zur direkten DNA-Bindung Fähigkeit, sich reproduzierende Zellen abzutöten Fähigkeit, Gewebe- oder Gefäßerweiterung zu verursachen pH-Wert Osmolarität Eigenschaften des Verdünnungsmittels
Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass sich die Wahrscheinlichkeit von Paravasationen im Patientengut einer Institution durch entsprechende Standards deutlich senken lässt. Ziel sollte es sein, das behandelnde Team auf die Prävention von Paravasaten hin zu schulen und standardisiert vorzugehen, sodass weiterreichende Komplikationen früh erkannt und chirurgische Eingriffe minimiert werden können.
Nicht DNA-bindende Medikamente. Diese Substanzen stören ohne Bindung der DNA die Stoffwechselvorgänge, die im Zusammenhang mit Zellwachstum und Zellteilung stehen. Neben einer Hemmung der Zellteilung können Sie die Apoptose der Zelle einleiten. Es lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: ▬ Vinca-Alkaloide und ▬ Taxane.
37.1.3 Ätiologie
Der grundlegende Unterschied zwischen gewebenekrotisierenden Substanzen und solchen Substanzen, die per se nicht zu Gewebene-
Bei der Entstehung von Paravasaten spielen eine Reihe von Faktoren eine entscheidende Rolle: ▬ direkte Gewebetoxizität der Substanz, ▬ Osmolarität, ▬ Vasospastizität, ▬ Infusionsdruck, ▬ Gewebedruck, ▬ regionale anatomische Gegebenheiten ( Abschn. 37.1.1).
krosen führen, liegt darin, dass Erstere sich an die DNA der Gewebezellen binden und nach Zerstörung der Zellen freigesetzt werden, um sich erneut an DNA zu binden und wieder zum Zelluntergang zu führen. Aufgrund dieses Schädigungsmechanismus wird diesen Substanzen zugeschrieben, dass die durch sie hervorgerufenen Schädigung prolongiert verläuft und damit größere Ausdehnung erreicht. Die nicht DNA-bindenden Agenzien können zwar auch zu Nekrosen führen, die, wenn sie auftreten, jedoch begrenzt bleiben.
999 37.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 37.1 Klassifizierung antineoplastischer Substanzen nach ihrem Schädigungsmuster (mod. nach den Paravasate-Leitlinien 2007) Nekrotisierende Substanzen (Vesicans)
Gewebereizende Substanzen (Irritans)
Nicht gewebeschädigende Substanzen
Aclacinomycin Amsacrin Bisantrene Chlormethin Cisplatin ≥ 0,4 mg/ml Dactinomycin Daunorubicin Doxorubicin Epirubicin Idarubicin Mechlorethamin Mitomycin C Mitoxantron Mustargen Paclitaxel Vinblastin Vincristin Vindesin Vinorelbin Oxaliplatin
Bendamustin Busulfan Carmustin Cisplatin < 0,4 mg/ml Dacarbazin Daunorubicin liposomal Docetaxel Doxorubicin liposomal Etoposid Fotemustin Gemcitabine Melphalan Teniposid Treosulfan Trimetrexate Streptozocin Bortezomib
Asparaginase Azacytidin Bleomycin Carboplatin Cladribine Clofarabin Cyclophosphamid Cytarabin Decitabin Estramustin Etoposidphosphat Fludarabin 5-Fluorouracil Folinsäure Ifosfamid Irinotecan Methotrexat Nelarabin Nimustin Pegaspargase Pemetrexed Pentostatin Raltitrexed Rituximab Thiopeta Topotecan Trastuzumab
Gewebereizende Substanzen Die gewebereizenden Substanzen führen zu lokalen Schmerzen und entzündlichen Reaktionen bis hin zur Phlebitis, jedoch nicht zu Nekrosen. Durch hohe Osmolarität, aber natürlich auch durch Abweichungen der verabreichten Substanz vom physiologischen pH-Wert, kann es zu Schädigungen des Endothels bzw. der Wand der Venen kommen. Dadurch wiederum erhöht sich die Gefahr einer Ruptur des betroffenen Gefäßes. Die Osmolarität und auch der pH-Wert einer nach einer Venenruptur ins Gewebe übergetretenen Lösung beeinflussen natürlich auch die Schwere eines eventuellen Gewebeschadens. Beim Übertritt von hyperosmolaren Lösungen ins Interstitium kommt es zu einer Flüssigkeitsverschiebung von interzellulär ins Interstitium. Dies kann zur Störung der Zellfunktion bis hin zum Zelluntergang führen. Zusätzlich kann es durch die Paravasation selbst und durch die Flüssigkeitsverschiebung zu einer lokalen Druckerhöhung bis hin zum Kompartmentsyndrom kommen. So kann beispielsweise 10%ige Glukoselösung, wie sie in der parenteralen Ernährung verwendet wird, bei Übertritt ins Gewebe zu Gewebenekrosen führen. Umgekehrt können hypoosmolare Lösungen zum Zelltod durch Flüssigkeitseinstrom in die Zellen und Zellruptur führen. Ausgedehnte ischämische Gewebenekrosen können durch Paravasation vasokonstriktorischer Substanzen wie etwa Dopamin, Dobutamin oder Epinephrin, die insbesondere in der Intensivmedizin verwendet werden, hervorgerufen werden. Ausgeprägte und lang anhaltende Kontraktionen der glatten Muskulatur der Kapillargefäße spielen hier eine ätiologische Rolle.
37.1.4 Diagnostik In aller Regel wird die Diagnose der Paravasation selbst durch die infundierende Abteilung gestellt. > Eine klinische Evaluierung von Paravasationen ist schwierig. So stellt z. B. die Hautbeteiligung keinen verlässlichen Faktor für die Schädigung des darunter liegenden subkutanen Fettund Muskelgewebes dar (»Eisbergphänomen«).
Nicht gewebeschädigende Substanzen
Die infundierende Abteilung kann durch Patientenberichte, die einfache Beobachtung der Injektionsstelle sowie durch sorgfältige Überwachung des i.v.-Instrumentariums in aller Regel die Verdachtsdiagnose eines Paravasats selbst stellen. Hinweise können Leitsymptome des Patienten, die visuelle Überprüfung der Injektionsstelle oder auch der Venenkatheter selbst geben. Ist die Verdachtsdiagnose eines Paravasat gestellt, so ist es wichtig, andere mögliche Gegebenheiten wie z. B. eine allergische Reaktion auszuschließen. Da ein Paravasat schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen kann, ist die sofortige interdisziplinäre Zusammenarbeit, verbunden mit dem Einholen einer zweiten Meinung, unabdingbar. Die plastische Chirurgie nimmt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle ein, da neben dem konservativen Vorgehen eine mögliche chirurgische Versorgung zügig geplant und der Eingriff bei frühzeitiger Information und Zusammenarbeit tendenziell in geringem Ausmaß durchgeführt werden kann. Am Anfang der Diagnostik stehen Anamnese, Inspektion und Palpation. Die äußerlich sichtbaren Veränderungen stellen oft nur die Spitze des Eisberges dar. Die Palpation von Verhärtungen, die die Hautnekrose oder -ulzeration umgeben, kann helfen, die Ausdehnung des Schadens abzuschätzen.
Nicht gewebeschädigende Substanzen verursachen keine Ulzeration. Wenn sie extravasieren, verursachen sie nur selten eine akute Reaktion oder führen nur selten zu einer Nekrose.
Anamnese. Eine eingehende Patientenaufklärung zu Beginn der geplanten Maßnahmen kann helfen Leitsymptome im Verlauf der
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Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
Therapie richtig zu deuten. Die wichtigsten, durch den Patienten selbst erkannten Symptome beziehen sich zumeist auf Empfindungen in der Umgebung der peripheren Injektionsstelle oder des Zentralvenenkatheters. Anfangssymptome treten unmittelbar nach Verletzung des Blutgefäßes auf. Patienten berichten zumeist über ein Unbehagen und Schmerzen im Bereich der Injektionsstelle. Den Schmerzcharakter beschreiben Patienten in aller Regel als brennend, stechend. In den kommenden Stunden können diese Schmerzen von einem Erythem, einer Ödembildung und Schwellung begleitet werden. Eine Rötung oder auch Blässe der Injektionsstelle kann je nach Substanz variieren.
Inspektion. Im Verlauf der Infusion kann es Hinweise auf ein Paravasat geben. Der Zeitpunkt der im Folgenden aufgeführten Symptome variiert, sodass die Injektionsstelle während der Infusion und für einen Zeitraum danach untersucht werden muss. ▬ Frühe Symptome (24 h): – Entzündung, – Verhärtung, – Blasenbildung.
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Palpation. Eine Katheterüberprüfung kann die Verdachtsdiagnose eines Paravasats erhärten oder auch entkräften. Anzeichen in Bezug auf die Kanüle, die für ein Paravasat sprechen, sind: ▬ eine erhöhte Resistenz bei intravenös verabreichten Medikamenten, ▬ langsame oder schleppende Infusion, ▬ Wechsel im Infusionsfluss, ▬ mangelnder Blutrückfluss oder Verlust desselben in der Kanüle bei der Venenpunktion. Sollte die hintere Venenwand bei der Punktion verletzt worden sein, so ist auf eine folgende proximal gelegenere Venenwahl zu achten. Bei der Punktion fällt hier initial ein Blutrückfluss auf, welcher nach Verletzung der hinteren Venenwand sistiert.
Labor. Laborchemisch sind die Entzündungsparameter zu überwachen, wobei zu bedenken ist, dass diese durch die Grunderkrankung oder eine chemotherapeutische Behandlung beeinflusst sein können.
Apparative Untersuchungen. Bei der Abschätzung der Ausdehnung einer Gewebenekrose und damit bei der Planung eines Débridements und einer Rekonstruktion können die Sonografie und schließlich die Magnetresonanztomografie hilfreich sein. Differenzialdiagnostische Überlegungen. Da die Diagnose eines Paravasats häufig schwer zu stellen und differenzialdiagnostische Überlegungen weit reichen, sollte das Ziel eines jeden behandelnden Teams ein fundiertes klinisches Urteilsvermögen sein. Differenzialdiagnostische Überlegungen, die ein Paravasat mit einschließen, sollten u. a. folgende Gegebenheiten berücksichtigen: ▬ Flush-Reaktion, ▬ Gefäßreizung, ▬ Phlebitis, ▬ Überempfindlichkeitsreaktion. Art und Ausdehnung, Erythem und Ort, Präsenz oder Abwesenheit einer Schwellung sowie der Zeitpunkt des Beschwerdenbeginns können zwischen den genannten Gegebenheiten und einem Paravasat unterscheiden (⊡ Tab. 37.2). 37.1.5 Klassifikation Paravasate können sowohl nach der Art der Substanz als auch nach der Art des Injektionsreservoirs klassifiziert werden:
Art der Substanz Abschn. 37.1.2 Art des Injektionsreservoirs Periphervenöser Zugang. Leitlinien wie auch Empfehlungen zur korrekten peripheren Venenauswahl finden sich in Abschn. 37.1.7.
⊡ Tab. 37.2 Differenzialtherapeutische Überlegungen bei peripherem Paravasat Merkmal
Flare-Reaktion
Gefäßreizung
Plebitis
Paravasation
Weist Symptome auf
Juckende Flecken oder Nesselausschlag; Schmerzen und Brennen ungewöhnlich
Schmerzen und Spannung
Krämpfe in der Muskelwand des Blutgefäßes
Schmerzen und Brennen an der Injektionsstelle sind üblich; während der Infusion kann Stechen auftreten
Verfärbung
Erhabene rote Streifen, Flecken oder »nesselausschlagähnliches« Erythem entlang des Blutgefäßes; diffuses oder unregelmäßiges Muster
Erythem oder dunkle Verfärbung entlang des Blutgefäßes
Zeitablauf
Erscheint normalerweise plötzlich und baut sich nach 30–90 min ab
Erscheint normalerweise innerhalb von Minuten nach der Injektion; Verfärbung kann auch nur im späteren Verlauf auftreten
Schwellung
Unwahrscheinlich
Unwahrscheinlich
Blutrückfluss
Normalerweise, jedoch nicht immer unversehrt
Normalerweise, jedoch nicht immer unversehrt
Erythem im Bereich der Nadel oder im Umfeld der Venenpunktionsstelle
Erscheint normalerweise gleich nach der Injektion
Symptome beginnen gleich nach der Injektion, Symptome bleiben bestehen
Tritt häufig auf; bleibt mehrere Tage lang bestehen Häufig abwesend
Normalerweise abwesend oder schleppend
1001 37.1 · Allgemeines
Zentralvenöse Zugänge. Häufig verwendete Zugänge sind: ▬ V. jugularis interna: Jugularis-Katheter (iCath) ▬ V. subclavia: Subclavia-Katheter (sCath) ▬ V. jugularis externa (eCath) ▬ V. brachiocephalica (V. anonyma) ▬ V. femoralis (fCath) Seltener genutzte Venen: ▬ V. basilica ▬ V. cephalica ▬ V. brachialis
Broviac-, Hickman-, Leonard-Katheter. All diese Katheter haben extrakorporal gelegen Verbindungstücke, welche je nach Katheterart 1-, 2-oder 3-lumig sind. Diese sind mit einem zentralvenösen Katheter verbunden, welcher zumeist in der V. cava superior zum Liegen kommt.
37.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Wie oben bereits dargestellt, basiert das Wissen über die Therapie von Paravasaten auf Publikationen niederen Evidenzgrades, sodass es nicht möglich ist, evidenzbasierte Standards für die Therapie von Paravasaten anzugeben. Die erste Entscheidung, die zu treffen ist, betrifft die Indikation zu einem Eingriff bzw. zum Zeitpunkt eines eventuellen Eingriffs. Prinzipiell unterscheidet man: ▬ chirurgische Eingriffe, die prophylaktisch nach Paravasaten durchgeführt werden, um eine Gewebeschädigung zu minimieren oder verhindern, und ▬ chirurgische Eingriffe als Therapie bei etablierter Schädigung erfolgen.
Chirurgische Eingriffe, die prophylaktisch nach Paravasaten durchgeführt werden, um eine Gewebeschädigung zu minimieren oder verhindern > Die persönlichen Erfahrungen der Autoren mit prophylakti-
Port-a-Caths, Bard-Ports. Diese Katheter haben eine Anschlusskammer, welche direkt unter die Haut des Patienten implantiert wird. Der zentralvenöse Katheter kommt ebenfalls zumeist in der V. cava superior zum Liegen. Eine spezielle Nadel mit seitlicher Kernbohrung kommt bei der Portkonnektion zum Einsatz, diese verhindert das Ausstanzen der Portmembran. Da nicht sichtbar durch die Haut punktiert und konnektiert wird, besteht hier ein erhöhtes Risiko für die Nebenwirkung des Paravasats. Diese Paravasate sind oft nicht dokumentiert, da die Symptome des Patienten falsch gedeutet wurden.
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schen chirurgischen Maßnahmen nach Paravasaten beschränken sich auf eine geringe Fallzahl.
Wash-out-Technik. Prinzip dieser Technik ist die lokale Verdünnung des schädigenden Agens durch Instillation von isotoner Kochsalzlösung. Scuderi u. Onesti (1994) berichten über deutliche Besserung von Schmerz und Rötung innerhalb weniger Tage unter dieser Therapie, auch die Rate an Ulzerationen konnte innerhalb von 10–14 Tagen gemindert werden. Ein ähnlicher Ansatz wird von Giunta (2004) mit guten Ergebnissen beschrieben.
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⊡ Abb. 37.3 Liposuktion eines Paravasats im Bereich des Handrückens und distalen dorsalen Unterarms 6 h nach Paravasatereignis. a Klinischer Aspekt intraoperativ: ausgeprägtes Handrückenödem und kutane Ischämiezeichen, b klinischer Aspekt intraoperativ: operativer Zugang, c klinischer Aspekt postoperativ: 50 ml Paravasat, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: kompletter Faustschluss, e klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: komplette Fingerstreckung
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Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
Liposuktion. Mit der Liposuktion innerhalb von 48 Stunden nach Extravasation wird von Gault (1993) ein weiterer prophylaktischer Ansatz beschrieben, wobei mit dieser Methode in einem pädiatrischen Krankengut im Vergleich zu konservativ behandelten Patientinnen wesentlich bessere Ergebnisse erreicht werden konnten (⊡ Abb. 37.3). Die Liposuktion kann auch bei Paravasaten im Bereich von Portsystemen eingesetzt werden. Ob das Ziel, die Erhaltung des Portsystems erreicht werden kann, müssen zukünftige Studien noch belegen (⊡ Abb. 37.7).
Chirurgische Eingriffe, als Therapie bei etablierter Schädigung Die Therapie bei etablierter Schädigung hat plastisch-rekonstruktiven Richtlinien zu folgen: Nach dem Débridement erfolgt der Verschluss der Wunde. Der Zeitpunkt der nicht prophylaktischen chirurgischen Intervention richtet sich in allererster Linie nach klinischen Kriterien. Ein sofortiger Eingriff ist natürlich bei Infektion oder Kompartmentsyndrom geboten. Auch bei raschem Fortschreiten des klinischen Befundes sollte zügig chirurgisch eingegriffen werden. Daraus ergibt sich auch die Notwendigkeit zu engmaschigen Kontrollen durch ärztliches plastisch-rekonstruktives Fachpersonal. Es ist unbestritten, dass bei akuter Infektion oder Persistieren von Schmerzen, Rötung und Blasenbildung das chirurgische Débridement indiziert ist. Das diesbezügliche Zeitfenster jedoch ist in der Literatur umstritten. > Aus der Erfahrung der Autoren und auch aus der Literatur lässt sich für die meisten Fälle die Berechtigung zu einem abwartenden Verhalten unter engmaschiger fachkundiger Kontrolle ableiten.
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Kassner (2000) schätzt den Anteil jener Patientinnen, die eine chirurgische Therapie nach Paravasation von Chemotherapeutika benötigen, auf etwa ein Drittel. Aus der retrospektiven Studie von Langstein et al. (2002) ergibt sich mit weniger als einem Viertel ein noch geringerer Patientinnenanteil, der einer chirurgischen Therapie zugeführt werden musste. In den Händen der Autoren spielt auch die Lokalisation der Paravasation eine wichtige Rolle bei der Indikationsstellung. > Je weiter distal eine Schädigung gelegen ist, desto geringer ist die Weichteildeckung funktionell wichtiger Strukturen wie etwa Sehnen oder Nerven und desto früher sollten ein Débridement und eine Defektdeckung erfolgen.
Da sich das Ausmaß der Schädigung auch intraoperativ oft schwer feststellen lässt, sollte das Débridement etwas über die makroskopisch sichtbaren Veränderungen hinausgehen. Oft sind vor dem definitiven Defektverschluss serielle Débridements notwendig. Auch ein technisch einwandfrei durchgeführter Defektverschluss nach Paravasation ist aufgrund der lokalen Gewebeschädigung und der oft beeinträchtigten Trophik keine Garantie für eine unkomplizierte Abheilung > Es ist nach Meinung der Autoren sinnvoll, mit dem Definitivverschluss abzuwarten, bis sich zumindest im Randbereich der Wunde eine Granulationstendenz zeigt. Ob die Technik der vakuumassistierten Wundkonditionierung hier Fortschritte bringen kann, muss zum heutigen Zeitpunkt offen bleiben.
Aufgrund der lokalen Gewebeschädigung sollte beim Defektverschluss die Indikation zur Lappenplastik mit ihrem im Vergleich zu Hauttransplantaten besseren Einheilverhalten großzügig gestellt werden (⊡ Abb. 37.4, ⊡ Abb. 37.8).
37.1.7 Therapie > Die beste Therapie des Paravasats ist dessen Vermeidung. Die wichtigste Maßnahme, um Nebenwirkungen einer Therapie und nachfolgende Konsequenzen zu minimieren ist die Prävention. Das behandelnde Team muss mit den lokalen standardisierten Techniken vertraut sein. Ausreichende Schulungen sollen Fehler verringern und eine Hilfestellung bieten, frühzeitig Symptome richtig zu deuten und die Verdachtsdiagnose eines Paravasats zu stellen. Es muss auf den Einsatz ausreichend geschulter Mitarbeiter, standardisierten Techniken, eine adäquate und einfühlsame Patientenaufklärung wie auch die Beschaffung und Auswahl gängiger Instrumentarien geachtet werden. > Eine frühe interdisziplinäre Zusammenarbeit ermöglicht eine zeitnahe Planung und Koordinieren der anstehenden Therapie. Das Einbinden des plastischen Chirurgen nach Erheben der Verdachtsdiagnose kann mögliche folgende chirurgische Maßnahmen klein halten. Die notfallmäßige Liposuktion kann radikale operative Eingriffe verringern.
Entsprechend der in Abschn. 37.1.1 aufgeführten Anatomie sollten kleine, fragile Venen am Handrücken vermieden werden. Eine gute Möglichkeit der Venenpunktion bietet der Unterarm. Die Ellenbogengrube und Venen in der Nähe von Gelenken, Sehen oder Arterien sollten ebenfalls nicht gewählt werden (⊡ Tab. 37.3).
⊡ Tab. 37.3 Vorgehensweise bei der Venenauswahl (mod. nach Paravasat-Leitlinie 2007) Venen in beiden Armen und Händen begutachten Keine Venen in gefährdeten Gliedmaßen bzw. unteren Gliedmaßen verwenden Kriterien für die Venenauswahl
Angemessene Auswahl einer Venenpunktionsstelle
Ideale Vene bzw. beste Stelle: große, weiche, elastische Venen im Unterarm
Unterarm
Ideale Vene bzw. am wenigsten wünschenswerte Stelle: große, weiche, elastische Venen in der Hand oder der Ellenbogengrube
Hand
Zufriedenstellende Vene bzw. beste Stelle: kleine, dünne Venen im Unterarm
Unterarm
Zufriedenstellende Vene bzw. nicht wünschenswerte Stelle: kleine, dünne Venen in der Hand; Venen im Unterarm weder ertastbar noch sichtbar
Hand
Nicht zufriedenstellende Vene bzw. nicht wünschenswerte stelle: kleine, fragile Venen, die leicht reißen, in Unterarm/Hand
Zentralvenenkatheter in Betracht ziehen
Nicht zufriedenstellende Vene bzw. nicht wünschenswerte Stelle: Venen in Unterarm/Hand, die weder ertastbar noch sichtbar sind
Zentralvenenkatheter in Betracht ziehen
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⊡ Abb. 37.4 Chronischer Defekt präpektoral nach Paravasation bei einem Port-a-Cath-System mit Adriamycin bei einem 75-jährigen Patienten. a Klinischer Aspekt präoperativ, b klinischer Aspekt nach Débridement: Wundgrund, c klinischer Aspekt nach Débridement: Resektat, d intraoperativer Aspekt: Planung der ipsilateral gestielten myokutanen Latissimus-dorsi-Lappenplastik, e intraoperativer Aspekt: Transposition der myokutanen Lappenplastik in den anterioren Defektbereich, f klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Ansicht von ventral, g klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Schulterfunktion
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Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
Generell sollte die kleinstmögliche Kanüle für die größte Vene verwendet werden. Spezifische Empfehlungen hierfür sind: ▬ Verwendung einer kleinen Braunüle (1,2–1,5 cm lang), ▬ bei peripherem Zugang kurz, flexibel, aus Polyethylen oder Teflon, ▬ zur Befestigung einen Klarsichtverband verwenden, damit ständig inspiziert werden kann, ▬ den Infusionskatheter sichern, den Katheter jedoch niemals mit einem Verband bedecken (die Einstichstelle muss immer sichtbar sein).
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Neben einer sorgfältigen Auswahl des Instrumentariums und der Vene sollten während der Infusion zahlreiche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen werden, um das Auftreten eines Paravasats zu reduzieren. Empfehlungen der Hersteller sollten bekannt sein und bei jedem Medikament beachtet werden. Nach der korrekten Kathetereinlage, welche durch einen konstanten Blutrückfluss verifiziert werden kann, sollte der Katheter mit 0,9%iger NaCl-Lösung oder 5% Glukose gespült werden. Nach Anlage der Infusion muss die Kanüle in Ihrer Lage fixiert werden, sodass ein Verrutschen des Katheters während der Infusion verhindert wird. Geeignete Materialien hierfür sind z. B. iv Opsite 3000, VecaFix oder Tegaderm iv. Die Einstichstelle muss, wie vorangehend erläutert, während der Infusion kontrolliert werden. Bei nekrotisierenden Substanzen sollte insbesondere auf folgende Punkte geachtet werden: ▬ Für die Infusion nekrotisierender Medikamente sollte eine kürzlich eingeführte Kanüle verwendet werden. ▬ Es gilt die Regel nach mehrfachen Medikamenteninfusionen neu zu kanülieren. ▬ Sofern periphere Venen keine sichere Punktion zulassen, sollte die Einlage eines zentralvenösen Katheters in Erwägung gezogen werden. ▬ Butterfly-Nadeln stellen kein geeignetes Infusionsinstrumentarium dar.
⊡ Abb. 37.5 Clinical Pathway: Prinzip der Lokalisierung und Neutralisieren
P L B M J T J F S F O / F V U S B M J T J F S F O
Konservative (nichtoperative) Therapie Ist die Diagnose eines Paravasats gestellt, so sind die ersten Maßnahmen unabhängig von der verabreichten Substanz. In aller Regel sollte primär versucht werden, die Menge des in das umgebende Gewebe extravasierten Medikaments zu begrenzen: Nach Stoppen der Infusion sollte versucht werden, das Paravasat über die noch liegende Kanüle zu aspirieren. Ist dies erfolgt, kann die Kanüle unter Aspiration entfernt werden. Die betroffene Extremität sollte hoch gelagert werden. Sofern notwendig sollte zügig mit einer symptomatischen Therapie begonnen werden. Zur Dokumentation sind digitale Aufnahmen wie auch lokale Markierungen (mit permanenten Filzstift) sinnvoll. Handelt es sich bei den verabreichten Medikamenten um nicht gewebeschädigende Substanzen, so kann eine symptomatische Therapie verbunden mit lokalen Maßnahmen, wie z. B. einer Kühlung, ausreichend sein, um die Folgen des Paravasats zu begrenzen. Wurden nekrotisierende, gewebeschädigende Substanzen verwendet, so sind weitere Schritte erforderlich. Ausschlaggebend für die Wahl der Therapie sind die Medikamentenklassen. Wir unterscheiden zwei Vorgehensweisen: ▬ das Prinzip der Lokalisierung und Neutralisierung und ▬ das Prinzip der Verteilung und Verdünnung.
Prinzip der Lokalisierung und Neutralisierung Durch lokale Kühlung können durch verschiedene Mechanismen weiterreichende Komplikationen verringert werden. Am Tiermodell konnte gezeigt werden, dass neben einer herabgesetzten Mikrozirkulation auch die Aufnahme des Medikaments (z. B. Doxorubicin) in die Zelle verzögert und verringert wird. Zusätzlich stehen für einige gewebezerstörende Medikamente Gegenmittel (Antidot) zur Verfügung. Diese können direkt in das Parvasat injiziert werden, um der Wirkung der infiltrierten Substanz entgegenzuwirken. Der Wirkmechanismus dieser Gegenmittel variiert. So kann Savene (Dexrazoxan) helfen, Anthrazycline zu neutralisieren, wohingegen Hyaluronidase die Verdünnung von Vinca-Alkaloiden im umgebenden Gewebe erleichtert.
LOKALISIEREN Ein bis zwei Tage lang 4-mal täglich 20 Minuten lang eine Kältepackung auf den betroffenen Bereich auflegen.
NEUTRALISIEREN Das Medikament mithilfe eines spezifischen Gegenmittels neutralisieren (sofern verfügbar). Das Gegenmittel muss gemäß den spezifischen Anweisungen des Herstellers verabreicht werden.
Kanüle entfernen (mit der das Gegenmittel verordnet oder verabreicht werden soll)
Die Extremität hochlagern.
Im Dokumentationsblatt für Paravasationen den Zwischenfall dokumentieren.
Gegebenenfalls die Beobachtung des Patienten in die Wege leiten.
1005 37.1 · Allgemeines
Nebenwirkungen wie Blasenbildungen, Ulzerationen und lokale Gewebezerstörungen können so gestoppt, eingedämmt oder auch verhindert werden. Vor dem Einsatz dieser Gegenmittel müssen mögliche weitere Nebenwirkungen diskutiert werden, da auch der Einsatz der genannten Medikamente zu einer Verschlechterung der Gesamtsituation des Patienten führen kann. Derzeit verfügbare Gegenmitteln zur Behandlung von Paravasaten können nach den Paravasat-Richtlinien 2007 wie folgt angegeben werden (⊡ Tab. 37.4, ⊡ Abb. 37.5): ▬ Savene (Dexrazoxan): Das einzige zugelassene Gegenmittel für Anthrazykline. Es hemmt die DANN-Topoisomerase II, das Ziel der Anthrazykline-Chemotherapie, indem es das Enzym blockiert, sodass die Anthrazykline es nicht weiter beeinträchtigen können und Zellschäden abgewendet werden. ▬ Dimethylsulfoxid (DMSO): Verhindert Ulzeration; kann aufgrund seiner Eigenschaft, freie Radikale zu suchen, wirken.
▬ Natriumthiosulfat: Verhindert die Alkylierung sowie nachfolgende Zerstörung im subkutanen Gewebe durch Bereitstellung eines Substrats für die Alkylierung. ▬ Hyaluronidase: Baut die Hyaluronsäure (»Zement«) in Bindegewebe bzw. weichem Gewebe ab, wodurch eine Verteilung des extravasierten Medikaments ermöglicht, also die lokale Konzentration des schädigenden Wirkstoffs gesenkt und die
Prinzip der Verteilung und Verdünnung Dieses Prinzip ist besonders geeignet bei Paravasaten durch VincaAlkaloide. Mittels lokal wärmender Maßnahmen sollte eine Vasodilatation angeregt und das Verteilen des Paravasats angestrebt werden. Hyaluronidase kann zur Verdünnung der Infusionslösung angewendet werden. Der Wirkmechanismus ist ein enzymatischer Abbau der Bindegewebekomponente, weiterhin verstärkt Hyaluronsäure die Absorption des Paravasats (⊡ Abb. 37.6).
⊡ Tab. 37.4 Antidot nach Paravasation (mod. nach Paravasat-Richtlinie 2007)
7 F S U F J M V O H 7 F S E à O O V O H
Extravasiertes Medikament
Empfohlenes Gegenmittel
Erkenntnisstufe
Ratschlag
Anthrazykline
Savene (Dexrazoxan)
Wirksamkeit bei biopsieverifizierter AnthrazyklinParavasation wurde in klinischen Studien bestätigt
3-Tage-Behandlung mit Savene: 1000 mg/m2 i.v. so bald wie möglich (nicht später als 6 h) nach der Paravasation an Tag 1, 1000 mg/m2 an Tag 2 und 500 mg/m2 an Tag 3
Anthrazykline
Topisches DMSO (99%)
In vielen Literaturquellen als mögliches Gegenmittel empfohlen. Aufgrund fehlender Erkenntnisse wird empfohlen, dies weiter zu untersuchen
So rasch wie möglich lokal anwenden. 7 Tage lang alle 8 h wiederholen
Mitomycin C
Topisches DMSO (99%)
In vielen Literaturquellen als mögliches Gegenmittel empfohlen. Aufgrund fehlender Erkenntnisse wird empfohlen, dies weiter zu untersuchen
So rasch wie möglich lokal anwenden. 7 Tage lang alle 8 h wiederholen
Mechlorethamin (Stickstofflost)
Natriumthiosulfat
Aufgrund fehlender Erkenntnisse wird dieses Gegenmittel nicht empfohlen
2 ml einer Lösung aus 4 ml Natriumthiosulfat + 6 ml sterilem Wasser zur subkutanen Injektion
Vinca-Alkaloide
Hyaluronidase
In vielen Literaturquellen als mögliches Gegenmittel empfohlen. Aufgrund fehlender Erkenntnisse wird empfohlen, dies weiter zu untersuchen
150–1500 IE subkutan im Paravasationsbereich
Taxane
Hyaluronidase
In vielen Literaturquellen als mögliches Gegenmittel empfohlen. Aufgrund fehlender Erkenntnisse wird empfohlen, dies weiter zu untersuchen
150–1500 IE subkutan im Paravasationsbereich
VERTEILUNG Ein bis zwei Tage lang viermal täglich 20 Minuten lang eine warme Kompresse auf den betroffenen Bereich legen.
Mehrere subkutane Injektionen mit 150-1500 IE Hyaluronidase verdünnt in 1 ml sterilem Wasser in den extravasierten Bereich injizieren, damit so die Infusionslösung verdünnt wird.
Im Dokumentationsblatt für Paravasationen den Zwischenfall dokumentieren.
Gegebenenfalls die Beobachtung des Patienten in die Wege leiten.
⊡ Abb. 37.6 Clinical Pathway: Prinzip von Verteilen und Verdünnen
37
1006
Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
In Abhängigkeit von der Substanzgruppe können nach Mader (2006) verschiedene Clinical Pathways angegeben werden ( Clinical Pathways in Abhängigkeit von der Substanzgruppe). Clinical Pathways in Abhängigkeit von der Substanzgruppe
Operative Therapie Im Allgemeinen ist das Ziel eines chirurgischen Eingriffs, beschädigtes Gewebe sowie die nekrotisierende Infusionslösung zu entfernen, um der Ausweitung der Paravasation vorzubeugen, die Funktion wiederherzustellen und Schmerzen im betroffenen Bereich zu reduzieren. Wenn dieses Gewebe entfernt ist, muss die verbleibende Wunde geschlossen werden.
Bei Paravasaten mit nicht gewebeschädigenden Zytostatika (I) 1. 2. 3. 4.
5. 6. 7.
Injektion/Infusion sofort stoppen Paravasate-Set holen (Sterile) Handschuhe anziehen Infusionsleitung bzw. Spritze durch eine 5-ml-Einmalspritze ersetzen und langsam so viel wie möglich vom Paravasat aspirieren; Cave: Keinen Druck auf Paravasationsstelle ausüben i.v.-Zugang unter Aspirationsbedingungen entfernen Die betroffene Extremität hochlagern und ruhigstellen Paravasate-Dokumentationsbogen ausfüllen (Ausdehnung des Paravasats angeben!) Aufklärung und Instruktion des/der Patienten/in sowie der Angehörigen Regelmäßige Kontrollen (Nachsorge)
Abschn. 34.1.8
37.2
Spezielle Techniken
37.2.1 Technik der Liposuktion bei der akuten
Therapie von Paravasaten
Injektion/Infusion sofort stoppen Paravasate-Set holen (Sterile) Handschuhe anziehen Infusionsleitung bzw. Spritze durch eine 5-ml-Einmalspritze ersetzen und langsam so viel wie möglich vom Paravasat aspirieren; Cave: keinen Druck auf Paravasationsstelle ausüben 5. i.v.-Zugang unter Aspirationsbedingungen entfernen 6. Bei Blasen: mit 1-ml-Spritze und s.c.-Kanüle aspirieren, für jeden Aspirationsversuch neues Besteck verwenden 7. Die betroffene Extremität hochlagern und ruhigstellen 8. Substanzspezifische Maßnahmen einleiten 9. Paravasate-Dokumentationsbogen ausfüllen (Ausdehnung des Paravasats angeben!) 10. Aufklärung und Instruktion des/der Patienten/in sowie der Angehörigen 11. Regelmäßige Kontrollen (Nachsorge)
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Allgemeinanästhesie. Der Arm wird auf einem Armtisch ausgelagert. Als nächstes wird das Operationsgebiet markiert. Bei peripheren Paravasaten sollte der Anteil mit der meisten Schwellung markiert werden. Bei Paravasaten im Bereich eines Port-a-Cath erfolgt die genaue Lokalisierung des Ports, sowie die Markierung des Umfeldes (⊡ Abb. 37.4a). Für die genauere Festlegung des abzusaugenden Bereiches kann die Sonografie zusätzliche Informationen geben. Perioperativ erfolgt eine antibiotische Therapie, die postoperativ – in Abhängigkeit vom Allgemeinzustand des Patienten – fortgesetzt wird. Über eine kleine Stichinzision wird die Kanüle eingeführt. Es wird nach dem Prinzip der »trockenen Saugung« – also ohne zusätzliche Infiltration von Flüssigkeit – vorgegangen. Bei der Liposuktion im Bereich der oberen Extremität muss auf den Verlauf der Lymphgefäße Rücksicht genommen werden. Die Saugrichtung sollte paralell zur Extremitätenachse, nie senkrecht dazu verlaufen. Bei deutlicher Gewebeentspannung kann die Liposuktion beendet werden. Es empfiehlt sich ein mäßig kompressiver Verband mit zusätzlicher Wattepolsterung. Postoperativ wird die operierte Extremität auf einem Kissen »auf Herzhöhe« gelagert. Die handtherapeutische Begleittherapie kann bei Abklingen der Schmerzen beginnen (⊡ Abb. 37.7).
Bei Paravasaten mit gewebenekrotisierenden Zytostatika (III)
37.2.2 Fasziotomie bei akutem
1. 2. 3. 4.
37.2.3 Technik des freien anterolateralen
8. 9.
Bei Paravasaten mit gewebereizenden Zytostatika (II) 1. 2. 3. 4.
37
37.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.
Injektion/Infusion sofort stoppen Paravasate-Set holen (Sterile) Handschuhe anziehen Infusionsleitung bzw. Spritze durch eine 5-ml-Einmalspritze ersetzen und langsam so viel wie möglich vom Paravasat aspirieren; Cave: keinen Druck auf Paravasationsstelle ausüben I.v. Zugang unter Aspirationsbedingungen entfernen Bei Blasen: mit 1-ml-Spritze und s.c.-Kanüle aspirieren, für jeden Aspirationsversuch neues Besteck verwenden Die betroffene Extremität hochlagern und ruhigstellen Substanzspezifische Maßnahmen einleiten Auf adäquate Schmerztherapie ist zu achten Paravasate-Dokumentationsbogen ausfüllen (Ausdehnung des Paravasats angeben!) Aufklärung und Instruktion des/der Patienten/in sowie der Angehörigen Regelmäßige Kontrollen (Nachsorge) In jedem Fall so rasch wie möglich, längstens innerhalb von 24 Stunden einen (plastischen) Chirurgen konsultieren
Kompartmentsyndrom Abschn. 48.2.1 Oberschenkellappens zur plastischchirurgischen Rekonstruktion bei verspätet diagnostizierten Paravasaten Die Operation erfolgt in Rückenlage und Allgemeinanästhesie: Der Arm wird auf einem Armtisch ausgelagert. Eine Defektdeckung darf nur bei ersatzstarkem Lager erfolgen. Auf die Qualität der Haut in der direkten Umgebung zum ehemaligen Paravasat muss geachtet werden. Im Zweifel ist das Débridement noch zu erweitern, bis »gesunde, gut blutende, weiche Haut« vorliegt. Die Standardlappenhebung im Oberschenkelbereich wird wie folgt vorgenommen: Ein etwa 6 cm großer Kreis um den Mittelpunkt einer Verbindungslinie zwischen dem vorderen Darmbeinstachel und dem lateralen Oberrand der Kniescheibe markiert jene Stelle, wo die meisten, ernährenden Hautperforatoren für den anterolateralen Oberschenkellappen (ALT) gefunden werden. Zum Auffinden der aufsteigenden Kleinstarterien ist die stiftförmige Sonde
1007 37.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
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⊡ Abb. 37.7 Liposuktion eines Paravasats im Bereich eines präpektoral gelegenen Port-a-Cath-Systems nach Gabe von Adriamycin 12 h nach Paravasatereignis. a Intraoperativer Aspekt: Anzeichnung der Port-a-Cath-Lage und des Ausmaßes der Saugbehandlung, b postoperativer Aspekt, c postoperativer Aspekt: 75 ml Adriamycinlösung
eines Doppler-Gerätes nützlich. Damit lässt sich meist im inferiorlateralen Quadranten des zuvor beschriebenen Kreises das Verteilungsmaximum an Perforatoren entdecken. Dabei wird die Hautinsel des zu entwerfenden ALT-Lappens stets über dem am lautesten hörbaren Perforator zentriert. Die Lappenhebung beginnt mit einer medialen Inzision, um einer akzidentellen Verletzung von aufsteigenden Hautperforatoren vorzubeugen. Das Überleben und damit Gelingen des ALT-Lappens basiert auf endständigen Aufzweigungen der A. circumflexa femoris lateralis, die sich in die marginalen aufsteigenden, transversalen und absteigenden Rami aufteilt. Letztere sind die Hauptquelle der arteriellen Perforatoren, welchen den ALTLappen versorgen. Üblicherweise wird der Ramus descendens durch zwei ungleiche Vv. comitantes und den motorischen Nerv, der den M. vastus lateralis versorgt, begleitet. Obligatorisch darf der motorische Vastus-Ast bei der Lappenhebung nicht verletzt werden. Sofern man keine arteriellen Vasa perforans in der subfaszialen Ebene, also im Septum intermusculare zwischen den Mm. vastus lateralis und rectus femoris, beim Verfolgen des Ramus descendens findet, muss der laterale Ast der A. circumflexa femoris lateralis aufgesucht werden. Dieser endet im M. vastus lateralis und kann hier sicher identifiziert werden. In der Subkutis der perforatorversorgten Hautinsel wird nun ein kräftiges und aufsteigendes muskuläres Perforansgefäß gesucht, das sodann retrograd – nachdem die Faszie passiert wurde – durch den Muskelbauch hindurch bis zum ernährenden Ursprungsgefäß freigelegt wird, bis eine angemessene Stiellänge und ein ausreichendes Gefäßkaliber erreicht wurde (»Deroofing-Technik« =
Entdachung). Bevor man das laterale Ende der ALT-Hautspindel umschneidet, müssen eindeutig zumindest einer oder vorzugsweise multiple, pulsierende Perforatoren sicher identifiziert worden sein. Hebedefekte bis etwa 9 cm Breite werden primär verschlossen, während größere Spenderareale zusätzlich Spalthauttransplantationen aus den bereits oben genannten Gründen erfordern. Der mikrochirurgische Anschluss erfolgt in End-zu-Seit- oder End-zu-End-Technik für die Arterie und End-zu-End-Technik für die Vene. Postoperativ wird die Hand auf einer palmaren Unterarmgipsschiene in Intrinsic-plus-Stellung ruhiggestellt. Die Kontrolle der Lappenperfusion sollte während der ersten 24–48 Stunden engmaschig erfolgen (⊡ Abb. 37.8). 37.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Das Auftreten eines Paravasats führt häufig zum unmittelbaren Abbruch der Chemotherapie. Neben einem verlängerten Krankenhausaufenthalt, physischen und psychischen Folgen kommt es durch den Abbruch häufig zu einer Verzögerung der Verabreichung der Chemotherapie, sodass das Grundleiden häufig inadäquat oder zeitlich verschoben therapiert wird. Weitere Folgen sind ein verlängerter Krankenhausaufenthalt, weitere Konsultationen und eine verlängerte Nachsorge, die Notwendigkeit einer Physiotherapie, hohe Behandlungskosten und ein Einkommensverlust der Patienten sowie mögliche juristische Folgen.
37
1008
Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 37.8 Deckung eines ausgedehnten Defekts am Handrücken mit freiliegenden Sehnen nach Paravasation von Vincristin bei 58-jährigem Patienten mit einem freien anterolateralen Oberschenkellappen. a Schema: Lappenplanung, b Planung eines anterolateralen Oberschenkellappens, der Lappen ist umschnitten, c Präparation des Gefäßstieles, d Zustand nach seriellem Débridement und Vakuumversiegelung. Beachte Inzisionen am Unterarm nach Phlegmone. e Status unmittelbar postoperativ: Übersicht, f Status unmittelbar postoperativ: Nahaufnahme, g klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Übersicht, h klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Nahaufnahme, i klinischer Aspekt Spendergebiet 1 Jahr postoperativ
1009 37.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
Verzögerter Therapiebeginn. Je früher die adäquate Akutbehandlung einsetzt, desto geringer ist das Risiko für das Auftreten von Sekundärschäden. Neben der Aspiration bei noch liegendem Zugang scheinen die Wash-out-Technik und die Liposuktion, wenn sie innerhalb der ersten 24 Stunden nach Paravasation durchgeführt werden, einen positiven Effekt auf die Unterdrückung von Sekundärschäden zu haben. Aufgrund der dünnen Datenlage kann hier aber noch keine abschließende Bewertung erfolgen. Verzögerte Vorstellung in der Chirurgie (plastische Chirurgie, Handchirurgie). Je früher eine adäquate chirurgische Beurteilung des Paravasatdefektes erfolgen kann, desto einfacher ist auch die Indikationsstellung für oder gegen eine Operation durch den Chirurgen. Derzeit erfolgt eine Vorstellung der Patienten durch die Onkologen häufig erst, wenn Sekundärkomplikationen, wie Infekt oder fortschreitende Lymphangitis, bereits aufgetreten sind. Im Rahmen eines onkoplastischen Therapiekonzeptes könnte hier eine deutliche Verbesserung für den Patienten erreicht werden.
der lokalen Gewebeschädigung und der oft beeinträchtigten Trophik des ortsständigen Gewebes um den Paravasationsdefekt keine Garantie für eine unkomplizierte Abheilung (⊡ Abb. 37.9). > Das adäquate Débridement ist der Schlüssel für den Therapieerfolg einer Defektdeckung.
Da sich das Ausmaß der Schädigung auch intraoperativ oft schwer feststellen lässt, sollte das Débridement etwas über die makroskopisch sichtbaren Veränderungen hinausgehen. Oft sind vor dem definitiven Defektverschluss serielle Débridements notwendig. Hier hat sich das Konzept der Mehrzeitigkeit bewährt. Ein temporärer Defektverschluss zwischen den verschiedenen Débridements kann mithilfe einer Vakuumversiegelung erfolgen. > Es ist nach Meinung der Autoren sinnvoll, mit dem Definitivverschluss abzuwarten, bis sich zumindest im Randbereich der Wunde eine Granulationstendenz zeigt. Ob die Technik der vakuumassistierten Wundkonditionierung hier Fortschritte bringen kann, muss zum heutigen Zeitpunkt offen bleiben.
Inadäquates Débridement. Auch ein technisch einwandfrei durchgeführter Defektverschluss nach Paravasation ist aufgrund
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⊡ Abb. 37.9 Bedeutung des adäquaten Débridement für die erfolgreiche Defektdeckung nach Paravasation mit Eborubicin im Bereich der Fossa cubitalis bei einer 42-jährigen Patientin. a Klinischer Aspekt nach scheinbar ausreichendem Débridement mit sauberem Wundgrund, aber noch Induration und leichter Rötung im Wundrandbereich, b klinischer Aspekt nach Defektdeckung mit einem distal gestielten medialen Oberarmlappen nach Daniel: Ansicht von medial (Spendergebiet), c klinischer Aspekt nach Defektdeckung mit einem distal gestielten medialen Oberarmlappen nach Daniel: Ansicht von frontal (gut durchbluteter fasziokutaner Lappen, aber beginnende Zeichen der Minderduchblutung im Bereich der ortsständigen Haut distal des Lappens), d sekundäre Wundheilungsstörung im Bereich der Haut distal des Lappens mit notwendiger zusätzlicher sekundärer Spalthautdeckung
37
1010
Kapitel 37 · Paravasate im Bereich der oberen Extremität
Weiterführende Literatur
37
Children‘s Hospital Medical Center. II-113 Vesicant Chemotherapy Extravasation. 2003 Revision. Available at:www.cincinnatichildrens.org/ assets/0/78/176/4711/4717/c9065455-5d0f-4a19-87e7-52ff71592aed. pdf Co-operative Cancer Departments, Denmark. Paravenous cytostatica administration. December 2006 Doellmann D, Hadaway L, Bowe-Geddes LA, Franklin M, LeDonne J, PapkeO’Donnel L, Pettit J, Schulmeister L, Stranz M (2009) Infiltration and extravasation. Art Science Inf Nurs 32: 203–211 Ener RA, Meglathery SB, Styler M (2004) Extravasation of systemic hematooncological therapies. Ann Oncol 15: 858–862 Gault DT (1993) Extravasation injuries. Br J Plast Surg 46: 91–96 Giunta R (2004) Early subcutaneous wash-out in acute extravasation. Ann Oncol 15: 1146 Kassner E (2000) Evaluation and treatment of chemotherapy extravasation injuries. J Pediatr Oncol Nurs 17: 135–148 Langstein HN, Duman H, Seelig D, Butler CE, Evans GRD (2002) Retrospective study of the management of chemotherapeutic extravasation injury. Ann Plast Surg 49: 369–374 Lanz T von, Wachsmuth W (1959) Praktische Anatomie, 1. Band, 3. Teil Arm, 2. Aufl. Springer, Berlin Lucchina S, Fusetti C (2009) Surgical vacuum-assisted closure for treatment of vinorelbine extravasation. Chin J Traumatol 4: 247–249 Mader I., Fürst-Weger P., Mader R., Nogler-Semenitz E., Wasserthreurer S (2006) Paravasation von Zytostatika: Ein Kompendium für Prävention und Therapie, 2. Aufl. Springer, Wien Medical University of South Carolina (MUSC).Work practice policy for personnel dealing with cytotoxic (antineoplastic) drugs. 2005 Revision. Available at: www.musc.edu/fanda/risk/oshp/safetymanual03/cytodrug. pdf Paravasate-Leitlinien (2007) Implementierungs-Toolkit. EONSClinicalGuidelinesSection6-de.pdf Rudolph R, Larson DL (1987) Etiology and treatment of chemotherapeutic agent extravasation injuries: a review. J Clin Oncol 5: 1116–1126 Schulmeister L (2007) Extravasation management. Sem Oncol Nurs 23:184– 190 Schummer W, Schummer C, Bayer O, Müller A, Bredle D, Karzai W (2005) Extravasation injury in the perioperative setting. Anesth Analg 100:722–727 Scuderi N, Onesti MG (1994) Antitumor agents: Extravasation, management, and surgical treatment. Ann Plast Surg 32: 39–44 Van Sloten HK (1987) Treatment of anthracycline extravasation – recommendations for practice. J Clin Oncol 5: 1705–1711 Wickham R, Engelking C, Sauerland C, Corbi D (2006) Vesicant extravasation part II: evidence based management and continuing controversies. Oncol Nurs Forum 33: 1143–1150
1011 37.3 · Weiterführende Literatur
IX
Rekonstruktive Handchirurgie Knochen-Weichteildefekte
38
Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett) – 1013 Robert Hierner, Hossein Towfigh
39
Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen – 1057 Reinhard Friedel
40
Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion Robert Hierner, Konrad Wolf
41
Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität – 1135 Milomir Ninkovic, Frank Herter, Tristan I. Gerstung, Robert Hierner
42
Prothetik im Bereich der oberen Extremität – 1187 Lothar Milde, Arno Schmidt
43
Schuss- und Explosionsverletzungen Erwin Waldemar Kollig
44
Bissverletzungen Michael Steen
– 1229
– 1209
– 1101
37 IX
1013 37.3 · Weiterführende Literatur
Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett) Robert Hierner, Hossein Towfigh
38.1
Allgemeines – 1014
38.1.1 38.1.2 38.1.3 38.1.4 38.1.5 38.1.6 38.1.7 38.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1014 Epidemiologie – 1017 Ätiologie – 1018 Diagnostik – 1019 Klassifikation – 1019 Indikationen und Differenzialtherapie – 1020 Therapie – 1037 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1038
38.2
Spezielle Techniken
38.2.1 38.2.2 38.2.3 38.2.4
Kontrollierte sekundäre Wundheilung bei Endglieddefekten der Zonen 1 und 2 – 1040 Nachamputation und Stumpfbildung im Endgliedbereich – 1040 Technik der Kuppenrefixierung (Composite Graft nach Douglas) – 1040 Palmare bilaterale neurovaskuläre Dehnungslappenreihe im Daumenbereich (Tranquilli-Leali–Moberg–O‘Brien–Epping) – 1043 Palmare bilaterale neurovaskuläre Dehnungslappenreihe im Fingerbereich (Tranquilli-Leali–Atasoy–Snow) – 1044 Palmare unilaterale neurovaskuläre Dehungslappenreihe im Fingerbereich (Geissendörfer/Kutler–Venkataswami–Foucher) – 1044 Cross-Finger-Lappenplastik nach Cronin – 1046 Versorgung des subungualen Hämatoms – 1048 Versorgung glattrandiger Schnittverletzungen im Nagelbereich – 1049 Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard – 1050 Vollnagelbetttransplantation nach Saito – 1051 Komplette Mehrkomponenten-Nageltransplantation nach McCash bzw. Soeda – 1051 Freie Helixplastik nach Rose zur Rekonstruktion des dorsalen Nagelwalls – 1052 Emmert-Plastik zur Wiederherstellung des lateralen Nagelwalls – 1052 Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard – 1053 Freie mikrovaskuläre osteokutane Nagelkomplexlappenplastik nach Koshima aus dem Bereich der Großzehe – 1053
38.2.5 38.2.6 38.2.7 38.2.8 38.2.9 38.2.10 38.2.11 38.2.12 38.2.13 38.2.14 38.2.15 38.2.16
38.3
– 1040
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1054 Weiterführende Literatur
– 1054
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
38
1014
38.1
Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
Allgemeines
38.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Topografie des Endgliedes Aus funktionellen und ästhetischen Gründen unterscheidet man am Endglied (⊡ Abb. 38.1) den: ▬ palmaren Anteil – die Fingerbeere oder Pulpa – und den ▬ dorsalen Anteil – den Nagel- bzw. Nagelbettkomplex. > Der palmare und dorsale Anteil des Endgliedes bilden eine funktionelle Einheit, die für seine komplexen Aufgaben von großer Bedeutung ist.
Aufbau und Funktion der Fingerbeere (Pulpa)
38
Die Pulpa hat einen typischen Aufbau. Haut und Unterhaut sind für Druckbeanspruchung ausgelegt. Die Haut der Fingerbeere ist sehr elastisch. Zwischen zahlreichen Retinacula cutis, die radiär von der Endphalanx zur Haut ziehen, befindet sich ein mit Fett gefülltes System kleiner Druckkammern. Aufgrund des topografisch unterschiedlichen Aufbaus kann die Fingerbeere in einen proximalen und einen distalen Anteil unterteilt werden. Die proximale Pulpa dehnt sich zwischen den Endgliedbeugefurchen und dem proximalen Rand der Tuberositas phalangis distalis aus. Sie ist dicker und leichter verschiebbar als die distale und wird beiderseits durch das Lig. phalangeale proprium, durch Retinacula cutis, ein schräges Septum zwischen Beugesehnenscheide und Endgliedbeugefurche sowie ein Fasergitter als Abgrenzung zur distalen Pulpa gezügelt. Die distale Pulpa ist in kleine keilförmige, aus Bindegewebe und Fett aufgebaute Kompartimente unterteilt, die durch straffe Faserplatten begrenzt werden. Zusammen mit der Nagelplatte absorbieren sie den Druck beim festen Zugreifen mit der Fingerkuppe, ohne dass Gegenstände abrutschen können. (⊡ Abb. 38.1c). Aufgrund ihres papillären Aufbaus und ihrer reichen Nervenversorgung ist die Fingerbeere ideal für ihre Aufgaben, die taktile Perzeption und das Greifen geeignet, wobei die distale Pulpa mehr für das »Fingerspitzengefühl« eingerichtet ist, während die Anpassungsfähigkeit der proximalen Pulpa beim Greifen kleinerer Gegenstände nützlich ist.
Aufbau und Funktion von Nagel und Nagelbett (Nagelkomplex) Die dorsale Seite des Endgliedes eines jeden Fingers ist durch den Nagel geschützt, dem nicht nur eine kosmetische bzw. ästhetische und soziale Bedeutung zukommt, sondern der auch einen wesentlichen Beitrag zum Fein- und Spitzgriff leistet. Sein distales Drittel bildet das Widerlager für die elastische Fingerkuppe und ermöglicht das Ertasten feiner Strukturen und/oder Oberflächen und das Greifen von kleinen Gegenständen. Bei Verlust des Nagels ist die Tastempfindung der Fingerbeere herabgesetzt. Auch der Nagel selbst stellt ein wesentliches sensibles Organ dar, mit dessen Hilfe z. B. die Härte und Beschaffenheit der Oberfläche von Materialien geprüft werden kann. Ein deformierter, nicht mit dem Nagelbett verwachsener Nagel stört nicht nur kosmetisch, sondern kann auch eine funktionelle Behinderung darstellen, wenn er bei verschiedenen Handarbeiten hängenbleibt. Der Nagelkomplex besteht aus dem Nagel (Unguis) und dem Nagelbett (Hyponychium), welches aus germinativer und steriler Nagelmatrix aufgebaut ist. Das die Nagelplatte tragende und seitlich begleitende Gewebe wird als Paronychium bezeichnet (⊡ Abb. 38.1a, ⊡ Abb. 38.2).
Der vorragende Nagel selbst ist etwa 0,5 mm dick und setzt sich aus polygonalen Hornschuppen zusammen, in die Tonofibrillen in drei sich kreuzenden Lagen verbacken sind. An der Nagelplatte unterscheidet man den mit seiner Rückfläche freiliegenden Nagelkörper (Corpus unguis) und die in einer Hautfalte verborgene Nagelwurzel (Radix unguis). Der vordere Rand der Nagelplatte ist frei, seitliche und hintere Ränder stecken in einer Epithelfalte (Vallum unguis), deren Tiefe auch als Nagelfalz (Sulcus matricis unguis) oder als Nageltasche bezeichnet wird. Die seitlichen Anteile des Nagelfalzes (⊡ Abb. 38.1a) polstern die Nagelränder bei mechanischer Belastung ab. Ein unversehrter Übergang von Haut und Nagelplatte erfüllt auch eine infektionsprotektive Aufgabe. Eine Beeinträchtigung dieses dichten Abschlusses, z. B. durch exzessive Maniküre, führt zu einem Verlust der Infektabwehr, sodass eine lokale Infektion (Paronychie) entstehen kann. Der hintere Umfang der Nageltasche stellt eine etwa 0,5 cm lange Tasche dar, in die die Nagelwurzel eingeschoben ist. Die die Nagelwurzel dorsal bedeckende Gewebeschicht wird als Eponychium bezeichnet, ihr freier Rand schiebt sich als feines epitheliales Häutchen (Cuticula) auf den Nagelrücken hinaus. Sie verschließt entlang ihrer seichten proximalen Grenzfurche die reich kapillarisierte Außenwand der Nageltasche und baut damit einen Schutz gegen das Eindringen von Fremdkörpern auf. Am Übergang der Unterseite des freien distalen Nagelrandes (Margo liber) zum Hyponychium, wo sich der Nagelkörper vom Nagelbett löst, bildet die Hornschicht der Epidermis einen schmalen Saum aus, der eine Furche gegen die Fingerbeere bildet. Dieser als Sohlenhorn bezeichnete Anteil des Hyponychiums entspricht der Krallensohle der krallentragenden Tiere und ist beim Menschen vergleichsweise rückgebildet. In diesem Bereich endet die Adhärenz des Nagels zu seinem Nagelbett. Das Sohlenhorn spielt nicht nur eine wichtige mechanische Rolle, sondern stellt auch eine höchst bedeutsame immunologische Barriere gegen das Eindringen von Fremdkörpern und Erregern zwischen Nagelplatte und Nagelbett dar. Bezeichnenderweise findet sich hier die größte Lymphozytendichte der gesamten Hautoberfläche des Menschen. Das Nagelbett (Matrix unguis) kann in zwei Anteile unterteilt werden, einen germinativen, nagelbildenden Anteil, die germinative Matrix, und einen sterilen, nageltragenden Anteil, die sterile Matrix. Der proximale Teil der germinativen Matrix liegt in der Nageltasche verborgen, der distale Teil schimmert weißlich opak nahe dem proximalen Nagelwall durch den Nagel hindurch, grenzt sich mit einem konvexen Rand nach vorne hin ab und wird als Lunula bezeichnet. Ihre Farbe entsteht dadurch, dass das Epithel der Lunula sowohl mit der glatten, papillenfreien, schwach durchbluteten Cutis als auch mit der Nagelplatte lose zusammenhängt. Nach hinten reicht die Matrix bis zum Grund der Nageltasche und greift um den freien Rand der Nagelwurzel herum ein Stück weit auf das Eponychium. Hier werden die dorsalen Anteile des Nagels gebildet. Die intermediäre Schicht des Fingernagels, die mit etwa 90% die Hauptmasse ausmacht, entsteht durch Parakeratose im Bereich der palmaren Nageltasche zwischen Nagelbasis und Lunula. Die tägliche Nagelwachstumsrate von etwa 0,08–0,4 mm ist bei Mann und Frau unterschiedlich und hängt von inneren und äußeren Einflüssen ab, wie Allgemeinzustand, Jahreszeit, Tageszeit, hormonellen Einflüssen, Schwangerschaft. Unterschiede bestehen auch zwischen Daumen und Fingern sowie dominanter und nicht dominanter Hand. Beim Erwachsenen werden die Fingernägel in etwa 4–6 Monaten ersetzt. Die völlige Wiederherstellung von Kontur und Form eines entfernten Nagels benötigt etwa 1 Jahr. Verletzungen und lokale Ischämien verursachen quere Furchen im Nagel, was ggf. dazu benützt werden kann, auch nach Monaten noch den Verletzungszeitpunkt grob zu bestimmen.
1015 38.1 · Allgemeines
a
b
Nagelhaut
Nagelplatte
Nageltasche
Phalanx media
Nagelbett
Retinacula unguis
Sehne des M. extensor digitorum
Margo liber
c
palmare Platte Ringband A5
Epidermis der Fingerbeere Phalanx distalis Retinacula cutis
Sehne des M. flexor digitorum profundus
sterile Matrix, Hypochonium Nagelplatte Nagelbett
Papillarkörper mit Koriumleisten seitlicher Nagelwall
seitlicher Nagelfalz
Retinacula unguis
Phalanx distalis
Retinacula cutis
d
> Matrixdefekte führen zur Ausbildung eines gespaltenen Nagels oder zum völligen Ausbleiben eines Nagelwachstums, Defekte des Eponychiums zu matten Längsstreifen an der Nageloberfläche.
Im proximalen Teil der Nageltasche wird das Epithel der dorsalen und palmaren Nagelmatrix von einer derben Bindegewebsscheide umgeben. Ihre Fasern ziehen an den seitlichen Rändern fächerartig nach palmar und setzen wie ein Halfter an der Kapsel des Endgelenkes, am sog. Lig. phalangoglenoidale und am sog. Lig. phalangeale proprium sowie dem Periost der seitlichen Basis der
e
⊡ Abb. 38.1 Topografie des Endgliedes. a Ansicht von dorsal, b Ansicht von palmar, c Längsschnitt, d Querschnitt, e Schematische Abbildung des Endgliedes. Distal die Pulpa mit dem Druckkammersystem (gelb), proximal das lockere subkutane Fettgewebe (rosa). (Aus Tilmann 2004 [a,b], Langer 2011 [e])
Endphalanx an. Zudem besteht eine feste Faserverbindung nach proximal zum Strecksehnenansatz. So steckt die Nagelwurzel mit ihren Epithelbedeckungen eigentlich in einem nach distal offenen Spalt dieses Halfters. Ein Verbiegen des Nagels nach dorsal oder palmar durch Abknicken der härteren vorderen Nagelplatte gegen die weichere hintere wird somit verhindert. Distal der Lunula setzt sich das Nagelbett in die sterile Matrix fort, die den Nagel zu tragen hat und nur mehr in geringem Maße an der Nagelbildung beteiligt ist. Sie entspricht dem Stratum germinativum (Stratum basale und spinosum) der Epidermis und umfasst mit ihrem Papillarkörper etwa 100–300 Koriumleisten, die parallel längs ausge-
38
1016
Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
richtet sind. Auf der reichlichen Durchblutung der Kapillaren dieser Bindegewebsleisten beruht die rosa Farbe des Nagels (⊡ Abb. 38.2). Das Nagelbett hat mehrere Aufgaben: Zum einen ist es zwischen Lunula und Sohlenhorn in geringem Ausmaß an der Neubildung der palmaren Zone der Intermediärschicht mitbeteiligt. Damit wird der durch Abrieb verursachte Verlust an dorsaler Nagelsubstanz kompensiert und eine Verdickung des Nagels nach distal hin erreicht. Ab der Lunula dienen die Leisten im Bereich der sterilen Matrix der Befestigung und Führung der Nagelplatte, die sich auf ihr langsam nach distal schiebt. Defekte im Bereich dieses Matrixanteiles, die zu Narbenbildung führen, haben den Verlust der Nagelbefestigung und damit der Stabilität zur Folge. Der dichten subungualen Vaskularisation, insbesondere den HoyerGrosser-Organen, wird eine Bedeutung für die Thermoregulation zugeschrieben. Der Nagel wird im Bereich der Nagelwurzel und an seiner Unterseite von einer epithelialen Scheide umhüllt, die von von Koelliker als Perionychium bezeichnet wurde und die das Eponychium, die sterile Matrix und das Hyponychium umfasst. Es ruht auf dem bindegewebigen Nagelbett (Lectulus oder Solum unguis), das Gefäße, Nerven und Sinnesrezeptoren enthält und das epitheliale Perionychium bis auf seine distale Begrenzung mit dem Periost der Endphalanx und dem sog. Lig. phalangeale distale profundum befestigt. Ein funktionell stabiler Fingernagel setzt ein intaktes Nagelbett von mindestens 5 mm Dicke distal der Lunula und eine ausreichende knöcherne Abstützung durch die darunter
liegende Endphalanx voraus. Vor allem bei fehlender knöcherner Abstützung kann eine sich kontrahierende Narbe im Bereich der Fingerkuppe das Nagelbett nach palmar ziehen und die Ausbildung eines Hakennagels provozieren.
Durchblutung des Endgliedes Die Fingerpulpa ist ausgesprochen gut durchblutet (Blutentnahme für Kapillarblut bei Diabetikern). Die Fingergefäße sind zu einem dichten Kapillarnetz angeordnet, dessen wechselnde Blutfüllung weitgehende, stets wieder ausgleichbare Formänderungen der Fingerbeere erlaubt. Die arterielle Versorgung des Endgliedes erfolgt aus den Endästen der Aa. digitales palmares propriae, die über zahlreiche Anastomosen ein feines Gefäßnetz auf der palmaren und dorsalen Seite der Endphalanx aufbauen. Im palmaren Bereich anastomosieren beide palmaren Digitalarterien und bilden distal des Ansatzes der Beugesehne einen Arcus, von dem aus 2–3 longitudinale Gefäße in die Fingerbeere ziehen. Nach Flint können drei besonders ausgeprägte ulnoradiale Anastomosen (Arkaden) unterschieden werden (⊡ Abb. 38.3). Die am weitesten proximal gelegene, oberflächliche Arkade liegt an der Basis der Endphalanx unmittelbar distal des Ansatzes der Strecksehne. Sie wird aus mehreren dorsalen Ästen der Aa digitales palmares propriae gespeist, die von diesen in Höhe der Mittel- und Endphalanx abgehen. Die proximale subunguale Arkade umgreift
Sehne des M.extensor digitorum bindegewebiges Halfter (Mörike) Eponychium Nagelplatte
38 Zügelband (check-rein-ligament)
⊡ Abb. 38.2 Bindegewebige Fixierung der Nagelmatrix
Lig. phalangeale proprium
Lig. collaterale accessorium palmare Platte Lig. collaterale Lig. phalangoglenoidale
subunguale arterielle Arkade
subunguale arterielle Arkade
oberflächliche arterielle Arkade
⊡ Abb. 38.3 Arterielle Versorgung des Endgliedes. a Ansicht von dorsal, b Ansicht von lateral
A. digitalis palmaris propria
A. digitalis palmaris propria
a
b
1017 38.1 · Allgemeines
die Dorsalseite der Endphalanx auf Höhe ihres schmalsten Umfangs. Die distale subunguale Arkade liegt an der distalen Begrenzung der Endphalanx und gibt Äste zur palmaren Seite der Fingerkuppe ab. Sowohl die proximale als auch die distale subunguale Arkade werden aus Endästen der Aa. digitales palmares propriae und dem Arcus digitalis palmaris distalis gespeist, die über die Rima unguium, den Raum zwischen dem Lig. phalangeale proprium und der Endphalanx, nach dorsal ziehen. Im Nagelbett bauen die Äste der drei beschriebenen Arkaden ein glomeruläres Gefäßsystem auf, das von Muskeln und nichtmarkhaltigen Nervenfasern umgeben ist (Hoyer-Grosser-Organe) und das eine Rolle in der Regulation von Blutdruck und Blutfluss der Extremität spielen soll. Der venöse Abfluss aus der Fingerbeere erfolgt über eine oder zwei palmare Venen (wichtig für Replantation im Endgliedbereich Zone 2–4), die sich im weiteren Verlauf entweder dem palmaren Gefäß-Nerven-Stiel anschließen oder in Höhe des hinteren Nagelwalls nach dorsal ziehen und in das dorsale System drainieren. Der venöse Abfluss aus dem Nagelkomplex erfolgt hauptsächlich über dorsale Venen, die proximal des Nagelwalls zu größeren Gefäßen konfluieren. Im Vergleich zu anderen Hautgebieten finden sich im Nagelbett vor allem im Bereich des Hyponychiums besonders viele lymphatische Gefäße.
Innervation des Endgliedes Die Haut des Endgliedes wird vollständig von den N. digitales propriae versorgt. Etwa auf Höhe des dorsalen Nagelwalls teilen sich
die beiden palmaren Nerven in ihre Endäste und bilden den sog. »Krähenfuß«. Eine mikrochirurgische Rekonstruktion jenseits dieser Struktur macht wenig Sinn. Der Nagelkomplex ist über dorsale Äste der Nn. digitales palmares proprii reich innerviert. Proximale Äste ziehen im Regelfall in Höhe der Lunula zum Nagelbett. In der Nähe des freien Nagelendes tritt ein distaler Ast in das Nagelbett ein (⊡ Abb. 38.4a). Die Fingerbeere ist ein Tastorgan. Die Nervenendigungen und Tastkörperchen sind hier so zahlreich, wie nur sonst an Lippe und Zunge. Die Reizschwelle feinst abgestufter Betastung, der epikritischen Sensibilität, liegt an den Fingerbeeren sehr niedrig (statische 2-Punkt-Diskriminationsfähigkeit 2–4 mm). Dazu kommt, dass auch das Papillarsystem in seiner Zusammensetzung zu wenigen, großen Leistenkurven auf den verfeinerten Raumsinn der Fingerbeere eingestellt ist. Ständiges zielbewusstes Beüben des Tastsinns ermöglich es dem Blinden, die erhabenen Buchstaben der sog. Blindenschrift zu lesen (⊡ Abb. 38.4, ⊡ Abb. 38.5). 38.1.2 Epidemiologie Die Verletzungen des Endgliedes sind eine der häufigsten Verletzungen im Handbereich. Sie werden häufig unterschätzt. Sogenannte »kleine Handverletzungen« können großen volkswirtschaftlichen Schaden anrichten, wenn sie nicht primär optimal versorgt werden.
b
a
c
⊡ Abb. 38.4 Innervation des Endgliedes. a Ansicht von palmar: D1 – Im Bereich des Daumens ist die typische distale Aufzweigung des Endastes des N. digitalis proprius, der sog. »Krähenfuß« dargestellt. D2 – Die Fingerbeere ist das Auge des Blinden: Ständiges zielbewusstes Beüben des Tastsinns ermöglicht es dem Blinden, die erhabenen Buchstaben der sog. Blindenschrift zu lesen. b Ansicht von lateral: Die Innervation des Endgliedes erfolgt ausschließlich über die dorsale Äste der Nn. digitales palmares propriae. c Verlauf der palmaren Digitalnerven. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959 [b], Langer 2011 [c])
38
1018
Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
freie Nervenenden
⊡ Abb. 38.5 Anordnung und Funktion der sensiblen Organe im Bereich der Leistenhaut
papillärer Gefäßplexus
Merkel ZellNeurit-Komplex
Meissner-Korpuskel
Schweißdrüse Pacinikörperchen Ruffini-Korpuskel tiefer dermaler Plexus
38
Lokaler Rezeptor
Fasertyp
funktionale Spezifizität Anpassungseigenschaft
sensorische Beschaffenheit
Meissner-Korpuskel
A-Beta
OA Mechanorezeptor
Pacini-Korpuskel
A-Beta
Merkel ZellNeurit-Komplex
klinischer Test
Kommentar
Vibrationen (30–40 Hz)
30 Hz Einstellung Fork m2pd Vibrometer
2–9 Fasern pro Rezeptor
OA Mechanorezeptor
Vibrationen (250–300 Hz)
256 Hz Einstellung Fork wandernde Berührung
Einzelfaserinnervation
A-Beta
SAI Mechanorezeptor
Druck
statische Berührung 2pd Von Frey Hair
Kann mehr als eine Faser berühren. Jede Faser kann mehr als einen Rezeptor erreichen
Ruffini Endungen (selten)
A-Beta
SAI Mechanorezeptor
Zug/Druck Position
statische Berührung
Einzelfaser innerviert mehrere anhängende Endungen
freie Nervenendungen
A-Delta
SA Thermoception SA Nociceptor
Kälte kribbelnder Schmerz (Kitzeln)
freie Nervenendungen
C
SA Thermoception SA Nociceptor
Wärme brennender Schmerz (Juckreiz)
38.1.3 Ätiologie Nach der Ätiologie unterscheiden wir akute und chronische Endglieddefekte: Akute Endglieddefekte sind meist traumatisch bedingt. Traumatische Endglieddefekte beruhen i. Allg. auf reinen Quetschmechanismen (Hammerschlag), auf Kombinationsverletzungen mit einer Flexionskomponente (Zuschlagen einer Autotür) oder sind Riss-Quetsch-Verletzungen (Kreissägeunfälle). Glattrandige Schnittverletzungen sind wegen der hohen mechanischen Widerstandsfähigkeit des Nagels jedoch sehr selten. Verbrennungen im Endgliedbereich sind – vor allem bei Kindern – häufig. Weitere
Ursachen für akute Englieddefekte sind Entzündungen. Entzündungen im Bereich des Nagelkomplexes werden als Paronychie bezeichnet, Entzündungen des restlichen Endgliedes als Panaritium. Seltene Ursachen für Endglieddefekte sind Tumoren. Die häufigste Ursache für chronische Endglieddefekte sind nervale Erkrankungen (Lepra). Bei einigen systemischen Erkrankungen kommt es zu typischen Formveränderungen der Endglieder, die bestimmte Hinweise zum Erkennen dieser Erkrankungen geben können (verhältnismäßiger Überwuchs der Fingerphalangen bei Akromegalie, Trommelschlegelfinger bei Herzinsuffizienz). Ebenso lassen bestimmte Nagelveränderungen Rückschlüsse auf die zugrunde liegende Mangelzustände und/oder Pathologie zu.
1019 38.1 · Allgemeines
38.1.4 Diagnostik Die Untersuchung von Patienten mit akuten posttraumatischen Endglieddefekten erfolgt nach den gleichen Richtlinien wie in Abschn. 35.1.4 beschrieben. Bei tumorbedingten Veränderungen erfolgt die Diagnostik nach den Abschn. 58.1.4 beschriebenen Richtlinien. Bei isolierten Nagelveränderungen erfolgt die Diagnostik nach den dermatologischen Richtlinien. 38.1.5 Klassifikation Im Engliedbereich können nach Dautel 4 verschiedene Amputationshöhen im Endgliedbereich unterschieden werden. Für die exakte Beschreibung des Gewebedefektes sind darüber hinaus die Beschreibung der Sektionsverlaufes und der Zustand der umliegendes Gewebes (glattrandige Schnittverletzung, isolierte Quetschverletzung, ausgedehnte Quetschverletzung, Infektion etc.) notwendig: Zone 1 beschreibt die sehr distale Amputation. Es besteht keine Exposition der Endphalanx.
Die Amputationslinie der Zone 2 verläuft durch das Nagelbett distal der Lunula. Es verbleibt jedoch eine ausreichende Nagellänge um eine Krallennagelbildung zu vermeiden. Ab dieser Zone sind mikrochirurgische Rekonstruktionen möglich. Die Amputationslinie für Zone 3 verläuft im Bereich der Lunula. Die verbleibende Nagelbettlänge reicht nicht aus um ein korrektes Nagelwachstum zu ermöglichen und eine Krallenfehlstellung des Nagels zu verhindern. Falls ein rekonstruktiver Eingriff (Replantation, Zehentransfer) die Länge des Nagelbettes nicht wieder herstellen kann, muss die komplette Entfernung des Nagelbettes durchgeführt werden. Für eine mögliche Replantation stehen keine dorsalen Venen (meist aber eine palmare Vene) zur Verfügung. Die Amputationslinie für Zone 4 verläuft nahe des PIP- bzw. IP-Gelenks. Für eine mögliche Replantation stehen dorsal Venen zur Verfügung (⊡ Abb. 38.6a). Abhängig vom Verlauf der dorsopalmaren Defektlinie in der Transversalebene können transversal verlaufende, kombinierte palmare und dorsale Defekte, schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte sowie schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte unterschieden werden (⊡ Abb. 38.6b).
Kriterium
Klassifikation
Verlauf der Defektlinie in Abhängigkeit von der Topografie des Endgliedes
Für die Zuordnung von Fingerkuppendefekten in eine dieser vier Gruppen ist die Höhe des palmaren Defektrandes entscheidend
ZONE 1: Sehr distale Defektlinie ohne Exposition der Endphalanx ZONE 2: Die Defektlinie verläuft durch das Nagelbett distal der Lunula ZONE 3: Die Defektlinie verläuft im Bereich der Lunula ZONE 4: Die Defektlinie verläuft nahe des PIP bzw. IPGelenkes
a
4
3
2
1
Verlauf der Defektlinie in der Frontalebene (dorsopalmar)
Kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekte Schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte
b Verlauf der Defektlinie in der Sagittalebene (mediolateral)
Bei schräg verlaufenden Defekten erfolgt die Zuordnung nach dem proximalen Schnittrand Symmetrische Endglieddefekte Asymmestrische Endglieddefekte
c ⊡ Abb. 38.6 Defekteinteilung im Endgliedbereich. a Zoneneinteilung nach Dautel und Berechnung der resultierenden Defektgröße, b Klassifikation der Defektart in Abhängigkeit vom Verlauf der dorsopalmaren Defektlinie (Frontalebene), c Klassifikation der Defektart in Abhängigkeit der vom Verlauf der mediolateralen Defektlinie (Sagittalebene)
38
1020
Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
Darüber hinaus lassen sich in allen drei Untergruppen – abhängig vom Verlauf der Defektlinie in der Sagittalebene – symmetrische und asymmetrische Defekte abgrenzen (⊡ Abb. 38.6c). Für die Festlegung der benötigten Lappenlänge ist es entscheidend, nicht die fehlende Endgliedlänge (»scheinbare Defektlänge«), sondern die Länge der fehlenden Haut entlang der palmaren Fläche zu messen. Durch die Krümmung im Kuppenbereich ist der tatsächliche Hautdefekt meist bedeutend größer als zunächst angenommen (»wirkliche Defektlänge«). In einer zu kleinen Dimensionierung der Lappenplastik liegt der häufigste Fehler bei der Rekonstruktion von Kuppendefekten. Wird dies nicht beachtet, so kann es durch sekundäre Retraktion im Lappenbereich zu funktionell und ästhetisch unbefriedigenden Ergebnissen, insbesondere zu einer platten Kuppenform oder zur Ausbildung einer Krallennageldeformität kommen. 38.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Defekte im Bereich des Nagelkomplexes Primärversorgung von Defekten des Nagelorgans
38
Versorgung des subungualen Hämatoms Abschn. 38.2.8 Versorgung glattrandiger Schnittverletzungen im Nagelbereich Abschn. 38.2.9 Versorgung der Luxationen der Nagelplatte Eine Luxation der Nagelwurzel aus der hinteren Nageltasche resultiert meist aus kombinierten Quetsch-Flexions-Verletzungen. Bei allen Nagelluxationen ist ein Röntgenbild in zwei Ebenen zum Ausschluss einer Fraktur der Endphalanx, die in 50% Nagelluxationen begleitet, und/oder bei Kindern einer Epiphysenverletzung notwendig. Das therapeutische Vorgehen hängt vom Ausmaß der Begleitverletzungen – man denke dabei z. B. an eine Nagelkranzfraktur – und der Schädigung des Nagelbettes ab. In jedem Fall ist eine chirurgische Inspektion in Lokalanästhesie und Fingerblutleere notwendig: Bei fehlender oder geringer Schädigung des Nagelbettes wird die Nagelplatte reponiert und fixiert. Ist das Nagelbett sehr geschädigt, so wird empfohlen, den Nagel komplett zu entfernen und das Nagelbett anatomisch zu rekonstruieren und den Nagel wieder in die Nageltasche einzubringen. Bei kompletter Avulsion des Nagels zusammen mit Teilen des Nagelbettes empfiehlt es sich, diese Mehrkomponenten-Lappenplastik nach sparsamer Wundrandresektion an ihrem ursprünglichen Platz zu verankern ( Abschn. 38.2.12). Die weiteren therapeutischen Maßnahmen hängen von Lokalisation und Art einer eventuell mitbestehenden Fraktur im Bereich der Endphalanx ab. Bei erhaltenem Nagel und Nagelbett ohne Dislokation der Frakturenden im Endgliedbereich stellt die Reposition und Refixierung des Nagels eine angemessene Form der Frakturstabilisierung dar. Bei offener Endgliedfraktur mit Ruptur des Nagelbettes und Bruch der Nagelplatte ist eine Stabilisierung der Fraktur nicht mehr ausreichend gewährleistet und muss durch die reponierte und refixierte Nagelplatte erfolgen. Deshalb ist neben der Rekonstruktion des Nagelbettes – eventuell unter subperiostaler Nagelbettmobilisation zur besseren Adaptation – eine zusätzliche Reposition und Fixierung der Frakturenden mit einer Osteosynthese, z. B. durch einen zentralen Kirschner-Draht, notwendig (⊡ Abb. 38.7). Vor allem bei sehr distalem Frakturverlauf kann alternativ zum vorhergenannten Vorgehen eine Nagelsynthese nach Foucher ohne ausdrückliche Nagelbettrekonstruktion durchgeführt werden. Die Materialentfernung sollte bei beiden Verfahren nach 3 Wochen erfolgen.
⊡ Abb. 38.7 Fingernagelluxation mit Endgliedfraktur. Der Nagel ist über der gequetschten und frakturierten Endphalanx aus der dorsalen Nageltasche luxiert. a Der luxierte Nagel wird trepaniert und replantiert. Zur Replantation wird ein Faden durch die beiden proximalen Nagelecken und durch die dorsale Nageltasche zur Hautoberfläche geführt und über einen Knopf geknüpft, um eine Druckschädigung der Haut zu vermeiden. b Zur Schienung des rekonstruierten Nagelbettes wird die Endgliedfraktur mit Hilfe eines Kirschner-Drahtes gestellt. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
Versorgung von Defekten im Bereich des sterilen Nagelbettes (sterile Matrix) Eine funktionelle Defektrekonstruktion, d. h. eine Wiederherstellung der Adhäsion im Bereich der sterilen Matrix, kann nur durch autologes Nagelbettgewebe erreicht werden. In Abhängigkeit von der Durchblutung im Bereich der Nagelwurzel sowie von Defektgröße und -ausdehnung im Bereich des verletzten Fingers kommen mehrere Techniken in Betracht: Bei ausreichender Vaskularisation im Empfängerlager (ersatzstarkes Lager nach Lexer) ist die freie Transplantation von Nagelbettgewebe möglich. Bei kleinen Nagelbettdefekten kann ein dünnes, gering überdimensioniertes Nagelbetttransplantat vom verletzten Nagelbett selbst benützt werden. Bei größeren Nagelbettdefekten und/oder nicht ausreichender Fläche an nicht geschädigtem Nagelbettgewebe desselben Fingers kann ein entsprechendes Transplantat aus dem Bereich der Großzehe gewonnen werden ( Abschn. 38.2.10). Bei polydigitaler Schädigung kann das Nagelbett eines nicht mehr zu erhaltenden Fingers verwendet werden (Gewebebankkonzept nach Chase).
1021 38.1 · Allgemeines
Besteht eine ungünstige Lagersituation, so ist eine Verbesserung der Einwachsrate durch Verwendung kleiner Nageltransplantate in einem zweizeitigen Verfahren nach Abfräsen der Knochenoberfläche und Bildung von Granulationsgewebe zu erwarten. Nach Shepard führen Vollnageltransplantate nicht zu besseren funktionellen Ergebnissen und rechtfertigen daher den großen Spenderdefekt nicht. Eine Ausnahme bildet das freie Nagelbettvolltransplantat von einem nicht mehr zu gebrauchenden Finger nach dem Gewebebankkonzept nach Chase. Bei der Verpflanzung ist darauf zu achten, dass die Orientierung des Nagelbettes exakt eingehalten wird ( Abschn. 38.2.11). Bei ungenügender Vaskularisation (ersatzschwaches oder ersatzunfähiges Lager nach Lexer) im Bereich der Nagelwurzel des verletzten Fingers sind Nagelbetttranslationslappen indiziert ( Abschn. 38.2.10). Das Prinzip dieser Lappenplastiken besteht in der Deckung eines ersatzunfähigen Defektes mithilfe von gut vaskularisiertem lokalem Gewebe, das seinerseits einen ersatzstarken Spenderdefekt hinterlässt, der sicher mit einem dünnen freien Nageltransplantat gedeckt werden kann. Versorgung von Defekten im Bereich des germinativen Matrix Eine funktionell akzeptable Defektrekonstruktion im Bereich der germinativen Matrix kann nur durch autologes Nagelbettgewebe erreicht werden. Je nach Durchblutung im Bereich der Nagelwurzel sowie Defektgröße und -ausdehnung kommen sowohl eine Nagelbetttransplantation als auch lokale Nagelbettplastiken in Betracht: Bei kleinen begrenzten Matrixdefekten können lokal gestielte Nagelbettplastiken aus dem lateralen Nagelbereich eingesetzt werden. Größere Nagelbettdefekte können nur mit freien Nagelbetttransplantaten gedeckt werden. Zur Erhaltung der germinativen Funktion muss das Nagelbett in seiner gesamten Dicke gehoben werden ( Abschn. 38.2.11). Als Spendergebiete kommen ein nicht mehr zu rekonstruierender Finger nach dem Gewebebankkonzept nach Chase bzw. die 1. oder 2. Zehe in Frage. Bei der Entnahme von der Großzehe ist daran zu denken, dass hier das Nagelwachstum etwa 4-mal so langsam erfolgt wie im Handbereich. Eine Schädigung der germinativen Matrix geht oft mit einem Defekt im dorsalen Nagelwallbereich mit Exposition des Nagels und/oder der dorsalen Matrixanteile einher. Derartige mitbestehende Defekte müssen in derselben Operation versorgt werden.
Sekundäre Korrektur von Defekten des Nagelorgans Sekundäre Nagelveränderungen nach Traumata sind meist durch eine nicht angemessene Primärversorgung bedingt. Sekundäre Korrektur von Defekten des dorsalen Nagelwalls Defekte im Bereich des hinteren Nagelwalls führen ohne Therapie zu einer Eponychiuminsuffizienz mit Ausbildung einer matten und gerillten Nageloberfläche. Einfache Adhärenzen von Nagelplatte und oberen Anteilen der Nagelfalte werden gelöst, ein temporärer Platzhalter aus Silikon wird für 10–14 Tage bis zum Abschluss der Wundheilung zwischen Nageloberfläche und Nagelwall geschoben. Bei einem Rezidiv kann ein dünnes Hauttransplantat oder ein freies Spaltnagelbetttransplantat auf die Unterseite des Nagelwalls aufgebracht werden. Zur Rekonstruktion des Nagelwalls bei ansonsten intakter Haut auf der Dorsalseite des Endgliedes hat sich die TranslationsRotations-Lappenplastik nach Hueston bewährt ( Abschn. 38.2.5). Bei Vernarbungen in diesem Bereich kann der Nagelwall entweder durch lokale Lappenplastiken, durch eine freie Nagelwalltransplan-
a
b
⊡ Abb. 38.8 Rekonstruktion des dorsalen Nagelwalls mithilfe einer Transpositionslappenplastik nach Hueston. a Präoperativer Befund, b postoperativer Befund. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
tation aus dem Zehenbereich oder durch eine freie Helixplastik nach Rose ( Abschn. 38.2.13) funktionell und ästhetisch befriedigend rekonstruiert werden. Nach Brandverletzungen kann oft eine erstaunlich gute Wiederherstellung des Nagelfalzes erreicht werden, wenn die Hauttransplantate über diesen Bereich hinausragen, da durch die sekundäre Schrumpfung in vielen Fällen eine gefällige Form zustande kommt. Sekundäre Korrektur von Defekten des lateralen Nagelwalls Narben, die vom seitlichen Nagelfalz auf den Fingernagel übergreifen, können meist einfach gelöst werden. Der Nagelwall wird durch Einnähen des Hautrandes mithilfe von Matratzennähten wiederhergestellt. Bei Rezidiv kann eine Emmet-Plastik ( Abschn. 38.2.14) durchgeführt werden. Sekundäre Korrektur der Spaltnageldeformität Narben oder Knochenfragmente im Bereich der germinativen und/oder der sterilen Matrix können zu longitudinalen Rillen und einer Spaltnagelbildung führen. Zu deren Therapie kommen in Abhängigkeit von Ausdehnung und Lokalisation der Spaltbildung mehrere Verfahren in Frage: Bei Spaltnagelbildungen, die auf die sterile Matrix begrenzt sind, hat sich die Narbenexzision über einen limitierten Zugang bewährt. Ist die Spaltbildung durch ein vorstehendes Knochenstück der dorsalen Endphalanxkortikalis bedingt, so wird dieses ebenso über einen kleinen Zugang exzidiert und die Wunde allschichtig verschlossen. Kann nach Narbenexzision keine spannungsfreie Adaptation der Nagelbettränder erreicht werden, muss zusätzlich eine Nagelbetttransplantation durchgeführt werden. Nach Verschluss des Nagelbettes wird zwischen Nagelplatte und Nagelbett ein 0,1 mm dickes Silikonplättchen zur besseren Schienung des Nagelbettes eingelegt und mit zwei Stichen am freien Nagelrand fixiert. Diese Fäden werden nach 45 Tagen entfernt. Das Silikonplättchen wird durch den vorwachsenden Nagel ausgestoßen. Ist die Spaltnagelbildung durch eine Narbe bedingt, die sowohl die sterile als auch die germinative Matrix betrifft, so kann nach deren Exzision der Defekt mit einer dorsalen kompletten Nagelbetttranslationslappenplastik vom »Axial-pattern«-Typ nach Schernberg und Ameil ( Abschn. 38.2.15) verschlossen werden.
38
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
Sekundäre Korrektur der Krallennageldeformität Die Therapie der Krallennageldeformität verfolgt als Ziele: 1. Reorientierung der Nagelwurzel in eine korrekte Lage, 2. Rekonstruktion der knöchernen Unterstützung durch Deckung des Knochendefektes von palmar, 3. palmare Weichteildefektdeckung.
Sicher kann die Nagelanlage beim Erwachsenen nur durch eine freie mikrovaskuläre osteokutane Nagellappenplastik rekonstruiert werden. Wegen der Spendermorbidität und der Komplexität des Eingriffes sollte ein derartiger Nageltransfer erst nach Ausschöpfung aller anderen Therapieoptionen in Erwägung gezogen werden ( Abschn. 38.2.16).
Die Rekonstruktion der knöchernen Abstützung durch On-topTransplantation eines nichtvaskularisierten Knochentransplantats ergibt zwar anfänglich zufriedenstellende Ergebnisse, es kommt jedoch wegen des akralen Knochenschwundes im Transplantatbereich in vielen Fällen zu einem Rezidiv. Zur Therapie des Krallennagels haben sich die palmare bilaterale neurovaskuläre Dehnungslappenplastik in der Antennentechnik nach Atasoy und Godfrey ( Abschn. 38.2.4) sowie die Proximalisierung der Nagelwurzel, kombiniert mit einer palmaren Lappenplastik zur Pulparekonstruktion nach Dufourmentel, bewährt. Beide Verfahren können gleichwertig und gemeinsam eingesetzt werden.
Kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekte Daumen
Sekundäre Korrektur bei partiellem Verlust des Nagelkomplexes (»der inadäquate Nagel«) Unter dem Begriff »inadäquater Nagel« wird ein fehlgebildeter, zu kurzer Fingernagel oder dessen Rest verstanden, der Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen verursacht. Ein derartiger inadäquater Nagel muss ohne Hinterlassung von Resten komplett entfernt werden. Vor allem bei Zuständen nach ausgedehnten Quetschverletzungen können dafür mehrere Operationen notwendig werden.
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Sekundäre Korrektur bei komplettem Verlust des Nagelkomplexes Bei kompletter dorsaler Avulsion des Nagelkomplexes oder Schädigung eines Großteiles der Nagelmatrix muss der Nagelkomplex komplett entfernt werden. Für die Rekonstruktion stehen mehrere Verfahren zur Verfügung: In der Akutsituation sollte immer an die Möglichkeit der Wiederherstellung des Nagelkomplexes mit einem Nagelkomplex eines nicht mehr zu rekonstruierenden Fingers nach dem Gewebebankkonzept gedacht werden. Wird keine Wiederherstellung des Nagelkomplexes gewünscht, kann der fehlende Nagel durch folgende Techniken ersetzt werden: Um die Nagelform ggf. zu imitieren, kann beim Erwachsenen der Defekt mit einem aufklebbaren Plastiknagel behandelt werden. Dieses Verfahren ist beim handwerklich Tätigen sehr zurückhaltend einzusetzen. Darüber hinaus kommt es häufig bei längerer Behandlung zu Hautirritationen durch den Klebstoff. Eine weitere Möglichkeit der Imitation des fehlenden Nagelkomplexes besteht in der Transplantation eines Vollhauttransplantats bei »ersatzstarkem« Lager (⊡ Abb. 38.9) oder eines gestielten Lappens bei »ersatzschwachem« oder »ersatzunfähigem« Lager (⊡ Abb. 38.10), welches/er die Form der Nagelplatte hat. Das funktionelle und kosmetische Ergebnis kann durch Rekonstruktion einer Nageltasche noch verbessert werden. Wird eine Wiederherstellung des Nagelkomplexes gewünscht, kann der fehlende Nagel durch folgende Techniken ersetzt werden: Freie nichtvaskularisierte Nageltransplantate werden an den Zehen gewonnen. Sie stellen bei Kindern die Therapie der Wahl zur Rekonstruktion eines kompletten Nageldefektes dar. Im Hinblick auf die insgesamt unzuverlässigen Ergebnisse beim Erwachsenen wurden mehrere Modifikationen beschrieben ( Abschn. 38.2.12).
> Mit Ausnahme der reinen Hautverletzungen im Bereich der Zone 1 besteht bei Endgliedverletzungen immer ein palmarer Defekt des Pulpa-Weichteil-Systems und ein dorsaler Defekt des Nagelkomplexes, also ein komplexer Defekt der Fingerkuppe, die beide analysiert und therapiert werden müssen.
Für die exakte Beschreibung des Gewebedefektes und der sich daraus ergebenden therapeutischen Konsequenzen sind neben der topografischen Beschreibung des Defektes (Amputationshöhe, Verlauf der Schnittlinie – transversal oder schräg, palmar, dorsal, lateral oder zirkumferentiell – und Defektausdehnung) regionale Faktoren (Begleitverletzungen am Daumen und an den anderen Fingern, mono- oder multidigitale Mutilation, zusätzliche Nervenläsionen) und allgemeine Faktoren (dominante Pulpa, betroffene Seite mit Hinblick auf die Händigkeit des Patienten, Alter, Geschlecht, Beruf, Freizeitverhalten, Alkohol- und Nikotinkonsum, systemische chronische Erkrankungen) entscheidend. Zone-1-Defekte Zone-1-Endglieddefekte beschreiben die sehr distalen Defekte ohne Knochen- und Beugesehnenexposition und Schädigung von Nagel und Nagelbett. Aus praktisch-therapeutischer Sicht ist innerhalb dieser Gruppe eine weitere Unterteilung in Bezug auf den Defektverlauf in Transversal- und Sagittalebene nicht notwendig. > Therapieziel ist die Rekonstruktion einer funktionell und ästhetisch normalen Daumenkuppe.
Die aktiv geführte sekundäre Wundheilung ( Kap. 4) stellt die Therapie der 1. Wahl dar. Zur Vereinfachung der Therapie haben sich neue Folienverbände bewährt. Bei glatter Kuppenamputation mit Erhalt des Amputats sollte vor allem bei jüngeren Patienten an die Möglichkeit der Fingerkuppenreplantation im Sinne eines »composite graft« gedacht werden ( Abschn. 38.2.3). Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 1 des Daumens
▬ Endglieddefekte der Zone 1 des Daumens ▬ Alle Endglieddefekte der Zone 1 – Kontrollierte sekundäre Wundheilung – Fingerkuppenreplantation (Composite Graft)
Lappenplastiken sind für Zone-1-Defekte nur in Ausnahmesituationen indiziert. Die Defektdeckung mit einem freien Hauttransplantat sollte nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Wegen der Gefahr der Ausbildung einer instabilen Narbe und einer mangelhaften Resensibilisierung nach Spalthauttransplantation sollte in diesen Fällen, wenn überhaupt, ein Vollhauttransplantat eingesetzt werden. Im Falle einer Vollhauttransplantation sollte immer geprüft werden, ob die Haut der abgetrennten Fingerkuppe als (autochtones) Spendergebiet für ein Vollhauttransplantat ver-
1023 38.1 · Allgemeines
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⊡ Abb. 38.9 Rekonstruktion des komplett fehlenden Nagelorgans im Bereich des Ringfingers nach Endgliedamputation und palmarer Rekonstruktion mit einem dorsalen CrossFinger-Lappen vom Mittelfinger mithilfe eines Vollhauttransplantats. a Klinischer Aspekt nach Vollhauttransplantation, b klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ
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⊡ Abb. 38.10 Rekonstruktion des komplett fehlenden Nagelorgans nach Resektion eines malignen Melanoms im Bereich des dorsalen Daumenendgliedes mithilfe eines DMCA-I-Lappens. a Klinischer Aspekt vor Tumorresektion, b klinischer Aspekt nach Tumorresektion – der komplette Nagelkomplex wird einschließlich der dorsalen Kortikalis der Endphalanx resezier, c klinischer Aspekt 1 Jahr nach Rekonstruktion
wendet werden kann. Das Amputat wird dann entfettet und mit einem Überknüpferverband im Kuppenbereich fixiert. Die übrige Nachbehandlung entspricht der eines Vollhauttransplantats. Mit einer Einheilung ist in 40–70 % zu rechnen. Meist bleibt jedoch ein geringes sensibles Defizit. Zone-2-Defekte Unter Zone-2-Endglieddefekten werden Defekte mit Verlust von etwa einem Drittel der palmaren Haut eines Endgliedes mit Exposition des Knochens und Schädigung von Nagel und Nagelbett verstanden. Transversal verlaufende, kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekte Bei transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekten der Zone 2 verläuft die proximale Grenze
der Amputationslinie auf der dorsalen Seite des Fingers distal der Lunula, wobei aber mehr als die Hälfte von Nagel und Nagelbett erhalten ist. > Primäre Therapieziele sind: 1. die adäquate Polsterung des verletzten Knochens mit sensiblem Weichgewebe, 2. die ausreichende Rekonstruktion und Abstützung des Nagelbettes zur Prävention einer Krallennagelbildung, 3. die Erhaltung einer möglichst großen Daumenlänge, 4. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Daumenkuppe.
Bei glatter Amputation mit Erhalt des Amputats sollte vor allem bei jüngeren Patienten eine mikrochirurgische Rekonstruktion von
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
Arterie und Nerven bedacht werden. Eine mikrochirurgische venöse Anastomose ist in diesem Bereich nicht möglich. Der venöse Abfluss erfolgt über den spongiösen Knochen oder das Nagelbett. Ist eine Replantation nicht durchführbar, so sollte in der Akutsituation bei polydigitalen Verletzungen die Möglichkeit eines heterotopen Gewebetransfers nach dem Gewebebankkonzept nach Chase in Erwägung gezogen werden. Ist eine Replantation nicht möglich stellt die lokale Lappenplastik beim Erwachsenen die Therapie der 1. Wahl dar. Auswahlkriterien sind die benötigte Strecke der Lappentransposition sowie der Verlauf der Amputationslinie in der Sagittalebene. > Zone-2-Defekte ohne größere Begleitverletzungen können bei Kindern gleichwertig mithilfe der sekundären Wundheilung behandelt werden ( Kap. 4).
Bei symmetrischen, transversal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 2 stellt die palmare Dehnungslappenreihe (Tranquilli– Lealy–Moberg–Epping; Abschn. 38.2.4) die Therapie der Wahl dar (⊡ Abb. 38.30). Als Therapie der 2. Wahl kommt eine palmare Translationslappenplastik nach Hueston in Frage. Bei asymmetrischen, schräg verlaufenden Endglieddefekten der Zone 2 stellt die laterale Dehnungslappenreihe (Geissendörfer/Kutler–Ventataswami–Mouchet) die Therapie der 1. Wahl dar. Als nächste Therapiemöglichkeit kommt die homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho (⊡ Abb. 38.11) in Frage. Hinsichtlich der Versorgung eines dorsalen Defektes im Bereich des Nagelkomplexes gelten die gleichen Richtlinien wie bei der Versorgung der Endglieddefekte im Bereich der Zone 3 ( Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 2 des Daumens; Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 3 des Daumens).
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Schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte Schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte der Zone 2 werden nach den gleichen Richtlinien wie die transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte dieser Gruppe versorgt ( Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 2 des Daumens). Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte Bezüglich der Versorgung von palmaren Defekten gelten bei den schräg nach dorsal verlaufenden Endglieddefekten die gleichen Richtlinien wie für die transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 2 und wie für kleine Defekte der Zone 1. Die Versorgung eines dorsalen Defektes im Bereich des Nagelkomplexes ist abhängig von der Größe des Defektes im Bereich des Nagelkomplexes. Bei einem Verlust 50% des Endglieds und/oder des Nagelkomplexes ist die Versorgung der dorsalen Nagel- und Nagelbettdefekte abhängig von der Restlänge und dem Zustand des
Knochens. Bei guter Knochenqualität besteht die Indikation zur Nagelbettrekonstruktion (s. oben). Bei schlechter Knochenqualität besteht die Indikation zur Nagelbettausrottung. In Abhängigkeit von den individuellen Wünschen des Patienten bestehen mehrere Techniken zur Rekonstruktion des Nagelkomplexes ( Abschn. 38.1.6). Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 2 des Daumens
▬ Alle transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 2
▬ Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop bei polydigitalen Verletzungen (»Gewebebankkonzept nach Chase«)
▬ Palmare Hautdefekte der Zone 2 ▬ Symmetrische, transversal verlaufende Endglieddefekte – Erwachsene: palmare Dehnungslappenreihe (Tranquilli– Lealy–Moberg–Epping) – Kinder: sekundäre Wundheilung – Translationslappenplastik nach Hueston ▬ Asymmetrische, schräg verlaufende Endglieddefekte – Laterale Dehnungslappenreihe (Geissendörfer/Kutler– Ventataswami–Mouchet) – Homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho
▬ Dorsale Nagelkomplexdefekte der Zone 2 ▬ Verlust 50% des Endgliedes und/oder des Nagelkomplexes – Erhaltene Endphalanx – Nagelbettrekonstruktion (s. oben)
▬ Zerstörte Endphalanx ▬ Nagelbettausrottung (→ eventuell Rekonstruktion des Nagelkomplexes)
Zone-3-Defekte Die Amputationslinie für die Zone 3 verläuft im Bereich des Endgliedes distal der Lunula. Der Hautverlust auf der Palmarseite beträgt etwa 50% der gesamten Haut dieses Bereiches des Endgliedes. Auf der Dorsalseite ist das Verlustausmaß des Nagelkomplexes abhängig vom Verlauf der Amputationslinie in der Transversalebene. > Primäre Therapieziele sind: 1. die adäquate Polsterung des verletzten Knochens mit sensiblem Weichgewebe, 2. die Erhaltung einer möglichst großen Daumenlänge, 3. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Daumenkuppe.
1025 38.1 · Allgemeines
Transversal verlaufende, kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekt Bei glatter Amputation mit transversalem Verlauf und Erhalt des Amputats sollte bei jüngeren Patienten eine mikrochirurgische Rekonstruktion von Arterie und Nerven versucht werden. Für eine mögliche Replantation stehen keine dorsalen Venen zur Verfügung. Ist eine Replantation nicht möglich, so sollte in der Akutsituation bei polydigitalen Verletzungen die Möglichkeit einer heterotopen Gewebetransplantation nach dem Gewebebankkonzept nach Chase bedacht werden. In allen anderen Situationen ist der Kuppendefekt mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik zu decken, wobei das Therapieziel eine maximale funktionelle und sensible Längenerhaltung darstellt. Bei symmetrischen, transversal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 3 sollte primär eine palmare Dehnungsplastik nach Epping ( Abschn. 38.2.4) durchgeführt werden. Als Therapie der 2. Wahl kann eine Lappenplastik aus der A. metacarpalis dorsalis I (Hilgenfeld–Holevich–Foucher; Abschn. 38.2.4) eingesetzt werden. Aufgrund der notwendigen Immobilisation stellt die Lappenplastik aus der Cross-Finger-Reihe vom Mittelfinger die Therapie der 3. Wahl dar. Bei asymmetrischen, schräg verlaufenden Endglieddefekten der Zone 3 sollte bei Defekten der ulnaren Pulpahälfte eine Fingerkuppen-Austauschlappenplastik nach Foucher geplant werden. Defekte der radialen Pulpahälfte lassen sich mit einer lateropalmaren Insellappenplastik nach Mouchet und Gilbert aus der lateralen Dehnungslappenreihe zuverlässig decken. Als Therapie der 2. Wahl kommt die homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho in Frage (⊡ Abb. 38.11). Bei transversal verlaufenden Endglieddefekten reicht die verbleibende Nagelbettlänge nicht aus, um ein korrektes Nagelwachstum zu ermöglichen und eine Krallennagelbildung zu verhindern. Soll der Nagelkomplex erhalten bleiben, muss zusätzlich eine Operation zur Prävention einer Krallennagelbildung durchgeführt oder der restliche Nagelkomplex komplett entfernt werden.
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Schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte Bei schräg nach palmar verlaufenden Endglieddefekten erfolgt die Versorgung des palmaren Defektes wie bei den Endglieddefekten der Zone 3 mit transversalem Verlauf der Amputationslinie. Bei der Versorgung eines dorsalen Nagelkomplexdefektes können sich Unterschiede ergeben. Ist mehr als die Hälfte des Nagelkomplexes erhalten, so hängt das weitere Vorgehen vom Zustand des Restes der Endphalanx ab. Bei zerstörter Endphalanx fehlt die Abstützung für den Nagelkomplex, was zur Bildung eines Krallennagels führt. Da die distale freie, nichtvaskularisierte Knochentransplantation in Sinne einer »On-top-Plastik« eine sehr hohe sekundäre Resorptionsrate aufweist, ist für diesen Bereich nur eine vaskularisierte Knochentransplantation erfolgversprechend, weshalb besonders an die osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima gedacht werden kann ( Abschn. 38.2.16). Ist dies nicht möglich oder erwünscht, so besteht die Indikation zur Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks ( Abschn. 38.2.2). Bei erhaltener Endphalanx besteht eine ausreichende Abstützung für den Nagelkomplex, eine Nagelbettrekonstruktion ist aus funktionellen und ästhetischen Gründen indiziert. Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte Bei schräg nach dorsal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 3 erfolgt die Versorgung des palmaren Defektes wie bei den Endglieddefekten der Zone 3 mit transversalem Verlauf der Amputationslinie. Die Versorgung der dorsalen Nagel- und Nagelbettdefekte ist abhängig von der Restlänge des Nagelkomplexes und vom Zustand des Knochens. Bei Verletzungen im Bereich der Lunula kann kein in Form und Funktion ausreichendes Nagelwachstum mehr erwartet werden, in diesem Fall muss der restliche Nagelkomplex komplett entfernt werden. Bei unverletzter Lunula ist das weitere therapeutische Vorgehen abhängig vom Zustand der knöchernen Endphalanx. Bei zerstörter Endphalanx fehlt die Abstützung für den Nagelkomplex, weshalb es
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⊡ Abb. 38.11 Homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho bei asymmetrisch, schräg verlaufendem Daumenendglieddefekt der Zone 3. a Lappenplanung, b Lappentransposition, c postoperativer Aspekt: Der Spenderdefekt wird mit einen Vollhauttransplantat gedeckt. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
in der Folge zu einer Krallennagelbildung kommt. Ist eine vaskularisierte Knochentransplantation im Rahmen einer freien mikrovaskulären osteokutanen Nagelbettlappenplastik nach Koshima ( Abschn. 38.2.16) nicht möglich oder erwünscht, so besteht die Indikation zur Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks ( Abschn. 38.2.2). Bei weitgehendem Erhalt von Knochen und Pulpa und bei erhaltener Matrix sollte eine Nagelbettrekonstruktion durchgeführt werden. Diese kann entweder während einer Akutversorgung mithilfe eines freien Nagelbetttransplantats von einem nicht mehr zu rekonstruierenden Finger ( Abschn. 38.2.12) oder sekundär unter Verwendung eines freien Spaltnagelbetttransplantats von der Großzehe nach Shepard ( Abschn. 38.2.10) durchgeführt werden. Als Therapie der 2. Wahl kann der sterile Nagelbettanteil auch mit einem dicken Spalthauttransplantat gedeckt werden (⊡ Abb. 38.9). Mit einer verminderten Nageladhärenz ist aber zu rechnen. Bei ersatzschwachem Lager oder zu großen Defekten stellt die A.-metacarpalis-dorsali-I-Lappenreihe (Hilgenfeld–Holevich–Foucher) die Therapie der Wahl dar (⊡ Abb. 38.10). Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 3 des Daumens
▬ Alle transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 3
▬ Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop bei polydigitalen Verletzungen (»Gewebebankkonzept nach Chase«)
▬ Palmare Hautdefekte der Zone 3 ▬ Composite Graft – Kontrollierte sekundäre Wundheilung
▬ Symmetrische, transversal verlaufende Endglieddefekte
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– Palmare Dehnungslappenreihe (Tranqilli–Lealy–Moberg– Epping) – Palmare Translationslappenplastik nach Hueston ▬ Asymmetrische, schräg verlaufende Endglieddefekte – Laterale Dehnungslappenreihe (Geissendörfer/Kutler– Venkataswami–Mouchet – Homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho
▬ Dorsale Nagelkomplexdefekte der Zone 3 ▬ Zerstörte Lunula – Nagelbettausrottung
▬ Erhaltene Lunula – Zerstörte Endphalanx – Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks und sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe – Freie mikrovaskuläre osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima – Erhaltene Endphalanx – Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard – Vollnagelbetttransplantation nach Saito – Komplette Mehrkomponenten-Nageltransplantation nach McCash bzw. Soeda – Freie Spalthauttransplantation – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld– Holevich–Foucher) – Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard – Freie mikrovaskuläre osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima
Zone-4-Defekte Bei derartigen Defekten verläuft die Amputationslinie proximal der Lunula nahe des IP-Gelenks, wobei mehr als zwei Drittel der palmaren Haut des Endgliedes fehlen. Aus funktioneller und ästhetischer Sicht besonders schwerwiegend ist dabei der komplette Verlust des Nagelkomplexes und der Fingerkuppe. > Primäre Therapieziele sind: 1. Erhaltung eines möglichst langen Daumenrestes, 2. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Daumenkuppe.
Transversal verlaufende, kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekte Bei glatter Amputation mit transversalem Verlauf und Erhalt des Amputats sollte vor allem bei jüngeren Patienten eine mikrochirurgische Rekonstruktion in Erwägung gezogen werden. Für eine mögliche Replantation stehen dorsale Venen zur Verfügung. Ist eine Replantation nicht möglich, so sollte in der Akutsituation bei polydigitaler Verletzung die Möglichkeit eines heterodigitalen Gewebetransfers geprüft werden. Ist ein heterodigitaler Gewebetransfer nicht durchführbar, so ist die Indikation zur Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks gegeben. Die Nagelmatrixreste müssen dabei radikal entfernt werden. In der Akutsituation muss im Daumenbereich, wenn immer möglich, eine weitere Knochenkürzung mit dem Ziel des adäquaten Stumpfverschlusses vermieden werden. Dies gelingt mit einer primären Transplantation eines Wrap-around-Lappens von der ipsilateralen Großzehe im Sinne einer »emergency free flap procedure« oder einer lokalen Lappenplastik. In Abhängigkeit von der benötigten Defektlänge kommen die Translationslappenplastik nach Hueston (kleiner Defekt), die homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Brunelli (mittelgroßer Defekt) und die A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld–Holevich–Foucher) (großer Defekt) (⊡ Abb. 38.12) zum Einsatz. Bei großen Defekten können alternativ in absteigender Reihenfolge die heterodigitale Insellappenplastik nach Littler (Cave: großer Spenderdefekt im Bereich des ulnaren Mittelfingers und aufgrund der Präparation durch die Hohlhand), die dorsale Mittelphalanxinsellappenplastik nach Büchler und Frey (Cave: großer Spenderdefekt aufgrund der Präparation durch die Hohlhand), die palmare Cross-Finger-Lappenplastik vom Mittelfinger nach Iselin (Cave: Spenderdefekt aufgrund der Immobilisation für 2–3 Wochen) und die dorsale sensible Cross-Finger-Lappenplastik nach Gaul -(Cave: Spenderdefekt aufgrund der Immobilisation für 2–3 Wochen) eingesetzt werden ( Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 4 des Daumens). Da bis zu einer Defekthöhe im IP-Gelenk-Bereich eine für die meisten Handaktivitäten funktionell ausreichende Daumenlänge besteht, muss geprüft werden, ob eine primäre oder sekundäre Rekonstruktion überhaupt durchgeführt werden soll. Für die sekundäre Rekonstruktion kommen dabei alle Methoden der relativen und absoluten Daumenstumpfverlängerung in Frage. Die mikrochirurgische Rekonstruktion der Endphalanx des Daumens mithilfe des modifizierten Wrap-around-Transfers nach Morrison bzw. Steichen sollte bei jungen Patienten, Frauen (ästhetische Indikation) und Patienten mit hohen Ansprüchen an die Feinfunktionen der Hand (z. B. Musiker) auf jeden Fall erwogen werden. Diese Technik stellt die einzige sekundäre Möglichkeit dar, einen mitbestehenden Nagelanlagedefekt zu rekonstruieren ( Kap. 39). Ist ein partieller Großzehentransfer nicht möglich oder erwünscht, so kann eine absolute Verlängerung des Daumenstump-
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⊡ Abb. 38.12 Deckung eines transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 4 im Bereich des rechten Daumens mithilfe einer A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik in der Technik nach Foucher. a Klinischer Aspekt vor Lappenplanung im Empfängergebiet, b klinischer Aspekt der amputierten Daumenkuppe: Aufgrund des Ausrissmechanismus war eine orthotope Replantation nicht mehr möglich. c Klinischer Aspekt: Lappenplanung, d klinischer Aspekt: Lappentransposition, e klinischer Aspekt 1 Jahr nach Operation: Ansicht von dorsal, f klinischer Aspekt 1 Jahr nach Operation: Ansicht von dorsal schräg, g klinischer Aspekt 1 Jahr nach Operation: Ansicht von palmar
fes durch Interposition eines kortikospongiösen Spans vom Beckenkamm im Os metacarpale I oder eine progressive Daumenstrahlverlängerung durch Kallusdistraktion durchgeführt werden ( Kap. 39). Eine relative Daumenstumpfverlängerung kann schließlich auch durch eine isolierte Vertiefung der 1. Kommissur mithilfe einer 2- bzw. 4-Lappen-Z-Plastik ( Kap. 34) erreicht werden. Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 4 des Daumens
▬ Alle transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekte der Zone 4
▬ Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop bei polydigitalen Verletzungen (»Gewebebankkonzept nach Chase«) – »Emergency free flap«: modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw.Steichen ▬ Stumpfversorgung unter Erhalt der Skelettlänge und des IPGelenks mithilfe einer lokalen Lappenplastik (→ sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe) – Kleiner Defekt: – Transpositionslappenplastik nach Hueston – Mittelgroßer Defekt: – Homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Brunelli ▼
– Großer Defekt: – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld– Holevich–Foucher) – Heterodigitale Insellappenplastik nach Littler – Dorsale Mittelphalanxinsellappenplastik nach Büchler und Frey – Palmare Cross-Finger-Lappenplastik nach Iselin – Dorsale sensible Cross-Finger-Lappenplastik nach Gaul ▬ Sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen – Einzeitige oder progressive Daumenverlängerung, kombiniert mit Vertiefung der 1. Kommissur – Relative Daumenverlängerung durch alleinige Vertiefung der 1. Kommissur
▬ Palmare Hautdefekte ▬ Mikrochirurgische Rekonstruktion – orthotop – heterotop bei polydigitalen Verletzungen (»Gewebebankkonzept nach Chase«) ▬ Zerstörte Endphalanx – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher – Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks mithilfe einer lokalen Lappenplastik (→ sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe; s. oben) ▼
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
▬ Erhaltene Endphalanx – Symmetrische, transversal verlaufende (komplette) Endglieddefekte – Freie mikrovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke und Rose – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld– Holevich–Foucher) – Heterodigitale Insellappenplastik nach Littler – Dorsale Mittelphalanxinsellappenplastik nach Büchler und Frey – Palmare Cross-Finger-Lappenplastik nach Iselin – Dorsale sensible Cross-Finger-Lappenplastik nach Gaul – Asymmetrische, schräg verlaufende Endglieddefekte – Dominante Pulpa – Fingerkuppen-Austauschlappenplastik nach Foucher – Nicht dominante Pulpa – Erwachsene: Vollhauttransplantation – Kinder: Nicht vaskularisierter sensibler Zehenpulpatransfer nach McCash – Homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Brunelli – Homodigitale laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho
▬ Dorsale Nagelkomplexdefekte ▬ Zerstörte Lunula ▬ Nagelbettausrottung (→ eventuell Rekonstruktion des
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Nagelkomplexes) – Plastiknagel – Spalthauttransplantat – gestielte Lappenplastik – Homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Brunelli – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld– Holevich–Foucher) – Freie mikrovaskuläre Lappenplastik – Osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen ▬ Erhaltene Lunula ▬ Zerstörte Endphalanx – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher – Nachamputation mit Stumpfversorgung unter Erhalt des IP-Gelenks und sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen (sensible Ersatzoperation) – Einzeitige oder progressive Daumenverlängerung, kombiniert mit Vertiefung der 1. Kommissur – Relative Daumenverlängerung durch alleinige Vertiefung der 1. Kommissur ▬ Erhaltene Endphalanx – Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard – Vollnagelbetttransplantation nach Saito – Komplette Mehrkomponenten-Nageltransplantation nach McCash bzw. Soeda – Freie Spalthauttransplantation – A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe (Hilgenfeld–Holevich–Foucher) – Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard – Freie mikrovaskuläre osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima
Schräg nach palmar verlaufende Endglieddefekte Bei glatter Amputation mit tangentialem Verlauf und Erhalt des Amputats sollte vor allem bei jüngeren Patienten eine mikrochirurgische Rekonstruktion in Erwägung gezogen werden (⊡ Abb. 38.13). Für eine mögliche Replantation steht oft nur eine palmare Vene zur Verfügung. Ist diese nicht vorhanden, muss die venöse Entsorgung in den ersten Tagen durch kontinuierliches Ansetzten von Blutegeln ( Abschn. 39.1.7) erreicht werden. Ist eine Replantation nicht möglich, so sollte in der Akutsituation bei polydigitaler Verletzung die Möglichkeit eines heterodigitalen Gewebetransfers geprüft werden. Ist ein solcher nicht durchführbar, so muss die Indikation zur Defektdeckung mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik gestellt werden. Das weitere Vorgehen bei schräg nach palmar verlaufenden Endglieddefekten mit Erhalt von mehr als der Hälfte des Nagels hängt vom Zustand des Knochens ab: Bei zerstörter Endphalanx fehlt die Abstützung für den Nagelkomplex, weshalb es in der Folge zu einer Krallennagelbildung kommt. Wegen der distalen Lokalisation kann der bestehende Knochendefekt mit Hilfe einer Custom-made-Lappenplastik nach Foucher zuverlässig rekonstruiert werden. Ist dies nicht möglich oder erwünscht, so besteht die Indikation zur Nachamputation mit Stumpfversorgung. Eine primäre oder sekundäre Rekonstruktion (s. oben) kann bei Bedarf durchgeführt werden. Da bei erhaltener Endphalanx eine ausreichende Abstützung des Nagelkomplexes besteht, ist eine Pulparekonstruktion aus funktionellen und ästhetischen Gründen indiziert; die Lappenauswahl wird vom Defektverlauf in der Frontalebene bestimmt: Bei symmetrischen, transversal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 4 oder kompletten Endglieddefekten ist die Indikation für eine sensible Ersatzoperation gegeben. Als Grundlage für die Auswahl der Spenderstelle müssen ggf. an derselben Hand mitbestehende Läsionen, Alter, allgemeiner Gesundheitszustand, funktionelle und ästhetische Anforderungen, Wünsche und Motivation des Patienten sowie die Möglichkeit einer postoperativen Nachbehandlung (Sensibilitätstraining) bedacht werden. Besteht nur eine niedrige Patientenmotivation und ist eine intensive postoperative Nachbehandlung nicht durchführbar, sollte ein freier neurovaskulärer Gewebetransfer wegen des zu erwartenden unbefriedigenden Ergebnisses nicht durchgeführt werden. Arbeitsunfälle mit Rentenanspruch sind unter diesem Gesichtspunkt besonders problembehaftet. Bei polydigitaler Schädigung sollte immer eine sofortige Pulparekonstruktion mit einer neurovaskulär gestielten oder einer freien neurovaskulären Cheiroplastik im Sinne einer heterotopen Transplantation in Erwägung gezogen werden, da damit die besten funktionellen und ästhetischen Ergebnisse erzielt werden können und kein zusätzlicher Spenderdefekt entsteht. Besteht diese Möglichkeit akut nicht oder wird eine sekundäre sensible Rekonstruktion durchgeführt, so sollte als Nächstes das (biologische) Patientenalter und die Patientenmotivation bedacht werden. Wegen der unbefriedigenden Reinnervierung bei älteren Patienten sollte bei dieser Patientengruppe die Indikation zum freien mikrovaskulären Pulpa-Knochen-Transfer äußerst zurückhaltend gestellt werden. Bei jungen, motivierten Patienten stellt im Hinblick auf eine bestmögliche Rekonstruktion der Sensibilität aus funktioneller Indikation die neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke und Rose die Therapie der 1. Wahl dar. Ist dies nicht möglich oder erwünscht, so ist als nächstes eine A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik in der Technik nach Holevich oder Foucher zu erwägen (⊡ Abb. 38.14). Die Patienten müssen präoperativ darauf hingewiesen werden, dass sie Berührung im Bereich der Daumenkuppe als eine Berührung im Bereich des dorsalen Zeigefingergrundgliedes spüren. Ein vollständiges
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⊡ Abb. 38.13 Replantation der Pulpa bei palmarem Zone-4-Defekt des Daumens. a Klinischer Aspekt präoperativ, b klinischer Aspekt nach Débridement, c Schema: palmare Vaskularisation im Endgliedbereich, d klinischer Aspekt postoperativ, e klinischer Aspekt 1 Jahr nach Replantation. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Umlernen ist nur bei jungen Patienten zu erwarten. Bei den meisten Patienten entwickelt sich eine »gemischte« Perzeption, die mit dem täglichen Leben gut vereinbar ist. Zur Verbesserung des sensiblen Ergebnisses kann der radiale dorsale Nerve des Zeigefingers (N3d) mit dem palmaren ulnaren Nerv (N2) mikrochirurgisch koaptiert werden (»Debranchement–Rebranchement« nach Foucher). Aufgrund des größeren Spenderdefektes stellt die heterodigitale Insellappenplastik nach Littler – wenn möglich mit mikrochirurgischer Koaptation des Digitalnervs mit dem Nervenstumpf im Empfängergebiet – nur die Therapie der 3. Wahl dar. Bei polydigitaler Schädigung muss geprüft werden, ob der zusätzliche Spenderdefekt im Handbereich nicht größeren Schaden als Nutzen verursacht. Als Therapie der 4. Wahl kann die dorsale Mittelphalanx-Insellappenplastik nach Büchler und Frey eingesetzt werden. Als weitere Therapiemöglichkeit bietet sich die dorsale sensible Cross-Finger-Lappenplastik aus dem Zeigefingergrundgliedbereich nach Gaul an. In Frage kommt schließlich auch noch die palmare Cross-Finger-Lappenplastik nach Iselin vom Mittelfinger. Bei diesem Verfahren wird zwar funktionell sehr resistente Haut eingebracht, die aber primär nicht sensibel ist. Bestehen Kontraindikationen für eine Cross-Finger-Lappenplastik, kann als letzte Therapiemöglichkeit die homodigitale dorsale Insellappenplastik nach Brunelli eingesetzt werden. Für die asymmetrischen, schräg verlaufenden Endglieddefekte der Zone 4 oder Hemipulpadefekte bestehen prinzipiell die glei-
chen therapeutischen Richtlinien. Zusätzlich kann bei Hemipulpadefekten der funktionell wichtigen ulnaren (N2) Pulpahälfte des Daumens eine homodigitale Fingerkuppen-Austauschlappenplastik nach Foucher durchgeführt werden. Vor allem bei kleinen Kindern sollte an den nichtvaskularisierten sensiblen Zehenpulpatransfer nach McCash gedacht werden. Ist ein ersatzstarkes Lager vorhanden, so können Defekte an den nicht dominanten Fingerkuppenhälften auch durch freie Hauttransplantation gedeckt werden. Wegen der besseren Resensibilisierung ist das Vollhauttransplantat dem Spalthauttransplantat vorzuziehen. Bei Hemipulpadefekten mit erhaltener Haut im Pulpaspitzenbereich kann auch die laterodorsale Insellappenplastik nach Joshi bzw. Pho Anwendung finden. Schließlich kann für den nicht dominanten Pulpaanteil auch an die homodigitale dorsale Insellappenplastik nach Brunelli gedacht werden. Die Versorgung eines eventuell mitbestehenden dorsalen Nagelkomplexdefektes ist abhängig von der Wahl des Verfahrens zur Deckung des palmaren Defektes und vom Ausmaß des dorsalen Gewebeverlustes. Bei erhaltener Lunula kann bei ersatzstarkem Lager eine freie Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard ( Abschn. 38.2.10) zur Rekonstruktion der sterilen Nagelbettanteile durchgeführt werden. Als Therapie der 2. Wahl kann der sterile Nagelbettanteil auch mit einem mitteldicken Spalthauttransplantat gedeckt werden, wobei aber mit einer verminderten Nageladhärenz zu
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⊡ Abb. 38.14 Rekonstruktion eines kompletten Pulpadefektes im Daumenbereich mithilfe einer Lappenplastik aus der A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenreihe in der Technik nach Holevich. a Klinischer Aspekt präoperativ, b klinischer Aspekt intraoperativ: Lappenplanung, c Schema Debranchement–Rebranchement nach Foucher: Zur Verbesserung des sensibler Ergebnisses kann der radiale dorsale Nerv des Zeigefingers (N3d) mit dem palmaren ulnaren Nerv (N2) mikrochirurgisch koaptiert werden (aus Berger und Hierner 2008). d Klinischer Aspekt intraoperativ nach Lappeneinnähung und Deckung des Spenderdefektes mithilfe eines Vollhauttransplantats aus der Leiste, welches mit einem Überknüpfverband gesichert wird, e klinischer Aspekt im Pulpabereich am Ende der Operation, f klinischer Aspekt 1 Jahr nach Operation: Ansicht von dorsal (Spenderdefekt), g klinischer Aspekt 1 Jahr nach Operation: Ansicht von palmar (Daumenpulpa), h Funktion 1 Jahr nach Operation: Faustschluss
rechnen ist. Bei ersatzschwachem oder ersatzunfähigem Lager ist zunächst die Möglichkeit einer Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard ( Abschn. 38.2.15) zu prüfen. Ist diese nicht möglich, kann die Nagelkomplexrekonstruktion nur im Rahmen einer freien mikrovaskulären Transplantation erreicht werden. Zur Deckung eines dorsalen Defektes hat sich die freie mikrovaskuläre osteokutane Lappenplastik nach Koshima bewährt. Bei gleichzeitig bestehendem palmarem und dorsalem Defekt ist die Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher bzw. der modifizierte Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen indiziert. Bei zerstörter Lunula ist eine funktionelle und ästhetische Nagelkomplexrekonstruktion nicht mehr möglich. In diesen Fällen erfolgt primär eine komplette Nagelbettausrottung: Für die Wiederherstellung eines Nagelkomplexes besteht nur die Möglichkeit der Custom-made-Lappenplastik nach Foucher. Wird dies abgelehnt muss der Defekt gedeckt werden. Bei ersatzstarkem Lager kann dies mit einem mitteldicken Spalthaut- oder Vollhauttransplantat erfolgen. Bei ersatzschwachem und ersatzunfähigem Lager (ex-
ponierter deperiostierter Knochen) ist hierfür eine Lappenplastik notwendig. Bei großen Defekten stellt die A.-metacarpalis-dorsaliI-Lappenreihe (Hilgenfeld–Holevich–Foucher) die Therapie der Wahl dar (⊡ Abb. 38.10a–c). Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte Bei schräg nach dorsal verlaufenden Endglieddefekten liegt neben dem palmaren Hautdefekt ein subtotaler Endphalanxdefekt und ein subtotaler bis totaler Nagelkomplexdefekt vor. Da bis zu einer Defekthöhe im IP-Gelenk-Bereich eine für Handarbeiter meist ausreichende Daumenlänge besteht, muss geprüft werden, ob eine primäre oder sekundäre Rekonstruktion überhaupt durchgeführt werden soll. Für eine Rekonstruktion kommen alle Methoden der relativen und absoluten Daumenstrahlverlängerung in Frage. Dorsal verlaufende Nagelkomplexdefekte, bei denen die palmare Haut erhalten geblieben ist, stellen eine Sonderform dieser Gruppe dar. Der Zustand der Endphalanx bestimmt das weitere Vorgehen.
1031 38.1 · Allgemeines
Bei zerstörter Endphalanx fehlt die Abstützung des Nagelkomplexes, was zu einer Krallennagelbildung führt. Daraus ergibt sich die Indikation zur Nachamputation mit Stumpfversorgung. Bei erhaltener Endphalanx und ist insbesondere das Periost intakt, muss bei fehlender Nagelmatrix als Nächstes geprüft werden, ob der Defekt mit einer Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard ( Abschn. 38.2.10) oder einer Spalthauttransplantation versorgt werden kann. Bei exponierter Endphalanx muss der Defekt mit einer vaskularisierten Lappenplastik gedeckt werden. Hierzu kann eine homodigitale dorsale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Brunelli oder eine Cerf-volant-Insellappenplastik nach Foucher und Braun eingesetzt werden (⊡ Abb. 38.10a,b). Eine Nagelkomplexrekonstruktion kann bei dieser Sondergruppe durch eine osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima erreicht werden ( Abschn. 38.2.16).
Finger Anforderungen an die Hautdeckung im Bereich der Endglieder der Finger sind für den Pulpabereich hohe Beanspruchbarkeit wegen großer mechanischer Belastung, gute Sensibilität, Schmerzfreiheit und Erhaltung der Fingerlänge im Hinblick auf die Funktion der Hand als Ganzheit. Im dorsalen Bereich des Endgliedes sollte aus funktionellen Gründen, vor allem wegen der Bedeutung eines Widerlagers beim Tasten, sowie aus ästhetischen Erwägungen ein normales Nagelwachstum erhalten bleiben. Voraussetzungen für die Festlegung des differenzialtherapeutischen Vorgehens sind eine exakte topografische Beschreibung des Defektes sowie Informationen über regionale und allgemeine Faktoren. Bei der Defektbeschreibung müssen neben der Defekthöhe die Defektneigung bzw. der Amputationsverlauf sowie der Zustand des Gewebes im angrenzenden Defektgebiet gemeinsam bewertet werden. Die Beurteilung der Defekthöhe ist wichtig zur Beantwortung der Frage, ob Knochen exponiert ist bzw. ob eine Schädigung des Nagel-Nagelbett-Komplexes vorliegt. Darüber hinaus leiten sich daraus Möglichkeit und Art einer etwaigen Replantation ab. Die Amputationsebene wird durch ihre Neigungen zu den drei üblichen Raumebenen definiert. Ausgehend von der Frontalebene (Ebene der Handfläche) unterscheidet man neben dem transversalen geraden Defektverlauf nach palmar oder nach dorsal geneigte gerade Defektebenen. In allen drei Untergruppen können in Bezug zur Sagittalebene weiterhin symmetrisch oder asymmetrisch verlaufende Defekte unterschieden werden. Mit Ausnahme der isolierten Nageldefekte und der reinen Kuppendefekte (Zone 4) besteht bei diesen Fingerverletzungen immer ein palmarer Defekt des Pulpa-Weichteil-Systems und ein dorsaler Defekt im Bereich des Nagelkomplexes. Für die Festsetzung der benötigten Lappenlänge ist es von entscheidender Bedeutung, nicht die fehlende Endgliedlänge, sondern die Länge der fehlenden Haut entlang der palmaren Fläche zu messen, die aufgrund der Krümmung im Kuppenbereich meist größer als erwartet ist. Der häufigste Fehler bei der Rekonstruktion von Kuppendefekten liegt in der fehlerhaften Einschätzung der Defektgröße und als Folge dessen in der Auswahl einer nicht geeigneten Lappenplastik ( Abschn. 34.3). Zu den regionalen Faktoren gehört die Beurteilung der Qualität, insbesondere der Vaskularisation und Sensibilität des Gewebes im defektangrenzenden Bereich. Sie hängen von der Ätiologie des Defektes (posttraumatisch, Infektion, Tumor, Verbrennung, Sonstiges) ab und sind ebenfalls entscheidend für die Auswahl der lokalen Lappenplastiken. Bei den traumatisch bedingten Amputationsdefekten unterscheidet man glatte, guillotineartige Amputationen, solche mit zusätzlicher geringer Quetschung, mit zusätzlicher
ausgedehnter Quetschung sowie Ausriss- oder Avulsionsverletzungen. Neben den defektspezifischen Kriterien ist für die Planung der Therapie weiter zu berücksichtigen, ob es sich um einen uni- oder multidigitalen Defekt handelt und ob die dominante oder die nicht dominante Hand und ob die dominante oder nicht dominante Seite der Fingerbeere ( Kap. 2) betroffen ist. Schließlich müssen auch allgemeine Faktoren, wie Begleitverletzungen anderer Körperregionen, allgemeiner Gesundheitszustand, Alter, Geschlecht, Beruf, Religion, Volkszugehörigkeit, Intelligenz, Freizeitverhalten, Alkoholund Nikotinkonsum und möglicherweise gleichzeitig bestehende systemische, chronische Erkrankungen mit bedacht werden. Zur Bestimmung der Defekthöhe von horizontalen, d. h. 90° zur Fingerlängsachse verlaufenden Defekten im Bereich des Endgliedes sind mehrere Klassifikationen vorgeschlagen worden. Nach Dautel können unter Berücksichtigung mitbestehender Knochenund Nagelverletzungen 4 verschiedene Amputationshöhen im Endgliedbereich beschrieben werden. Wird dazu der proximale Defektrand für die Einteilung der Defekthöhe herangezogen, so lassen sich schräg nach palmar (Pulpadefekte) und schräg nach dorsal verlaufende Defekte (Nagel- und Nagelbettdefekte) unterscheiden. Zone-1-Defekte Unter Zone-1-Endglieddefekten versteht man die sehr distalen Defekte ohne Knochen- und Beugesehnenexposition und Schädigung von Nagel und Nagelbett. Aus praktisch-therapeutischer Sicht ist eine weitere Unterteilung in Bezug auf die Einstellung der Defektebene zur Transversal- und Sagittalebene innerhalb dieser Gruppe nicht notwendig. > Therapieziel ist die Rekonstruktion einer funktionell und ästhetisch normalen Fingerkuppe.
Die aktiv geführte sekundäre Wundheilung ( Kap. 4) stellt die Therapie der 1. Wahl dar. Bei glatter Kuppenamputation mit Erhalt des Amputats sollte vor allem bei jüngeren Patienten an die Möglichkeit der Fingerkuppenreplantation im Sinne eines Composite Graft gedacht werden ( Abschn. 38.2.3). Lappenplastiken sind für Zone-1-Defekte nur in Ausnahmesituationen indiziert. > Die in den meisten Büchern gezeichnete palmare V-Y-Dehnungslappenplastik nach Tranquilli-Leali bzw. die laterale Dehnungslappenplastik nach Geissendörfer bzw. Kutler sollten nicht mehr eingesetzt werden, da sie meist technisch ungenügend ausgeführt werden und vor allem im Vergleich mit den größeren Lappen in den jeweiligen Lappenfamilien ein deutlich höheres Wundheilungsstörungsrisiko und deutlich schlechtere sensible Eigenschaften zeigen.
Die Defektdeckung mit einem freien Hauttransplantat sollte nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Wegen der Gefahr der Ausbildung einer instabilen Narbe und einer mangelhaften Resensibilisierung nach Spalthauttransplantation sollte in diesen Fällen, wenn überhaupt, ein Vollhauttransplantat eingesetzt werden. Im Falle einer Vollhauttransplantation sollte immer geprüft werden, ob die Haut der abgetrennten Fingerkuppe als (autochtones) Spendergebiet für ein Vollhauttransplantat verwendet werden kann. Das Amputat wird dann entfettet und mit einem Überknüpferverband im Kuppenbereich fixiert. Die übrige Nachbehandlung entspricht der eines Vollhauttransplantats. Mit einer Einheilung ist in 40–70% zu rechnen. Meist bleibt jedoch ein geringes sensibles Defizit.
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 1 des Daumens
▬ Endglieddefekte der Zone 1 des Fingers ▬ Alle Endglieddefekte der Zone 1 – Kontrollierte sekundäre Wundheilung – Fingerkuppenreplantation (Composite Graft)
Zone-2-Defekte Unter Zone-2-Endglieddefekten versteht man Defekte des Endgliedes mit Verlust von etwa einem Drittel der palmaren Haut, Exposition von Knochen und Schädigung des Nagelkomplexes ( Differenzialtherapie bei Endglieddefekten der Zone 2 der Finger). Transversal verlaufende, kombinierte palmare und dorsale Endglieddefekte Bei transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Endglieddefekten der Zone 2 verläuft die proximale Grenze der Schnittlinie auf der dorsalen Seite des Fingers distal der Lunula, sodass mehr als die Hälfte von Nagel und Nagelbett erhalten ist. > Primäre Therapieziele sind: 1. die adäquate Polsterung des verletzten Knochens mit sensiblem Weichgewebe, 2. die ausreichende Rekonstruktion und Abstützung des Nagelbettes zur Prävention einer Krallennagelbildung, 3. die Erhaltung einer möglichst großen Fingerlänge, 4. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Fingerkuppe.
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Bei glatter Amputation mit Erhalt des Amputats kommt vor allem bei jüngeren Patienten in erster Linie eine mikrochirurgische Rekonstruktion von Arterie und Nerven in Frage. Eine venöse Anastomose ist in diesem Bereich nicht möglich, aber auch nicht notwendig. Der venöse Abfluss erfolgt über den spongiösen Knochen. > Da im Gegensatz zum Daumen die Länge der Finger von nicht so großer Bedeutung für die Funktion der Hand als Ganze ist, muss bei allen Defekten distal der Insertion der oberflächlichen Beugesehne neben der Rekonstruktion mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik immer die Stumpfversorgung ( Abschn. 38.2.2) als Therapiemöglichkeit bedacht werden. Indikationen zur primären Stumpfversorgung bestehen bei Verlust von mehr als der Hälfte der Endphalanx und/ oder des Nagelkomplexes.
In allen anderen Fällen kann beim Erwachsenen im Hinblick auf das ästhetische Ergebnis ein Rekonstruktionsversuch mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik bedacht werden. Auswahlkriterien sind die Defektgeometrie sowie die benötigte Strecke der Lappentransposition. Darüber hinaus spielen allgemeiner Gesundheitszustand, Beruf, Freizeitverhalten und Wünsche des Patienten eine wichtige Rolle für die Auswahl der individuell optimalen Lappenplastik. > Zone-2-Defekte ohne größere Begleitverletzungen können bei Kindern gleichwertig mithilfe der sekundären Wundheilung behandelt werden ( Kap. 4).
Bei symmetrischen, transversal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 2 mit einem Verlust von 50% der Endphalanx und/oder des Nagelkomplexes, muss eine radikale Nagelbettausrottung im Rahmen der Stumpfbildung erfolgen. Sekundär kann eine freie mikrovaskuläre osteokutane Nageltransplantation nach Koshima ( Abschn. 38.2.16) durchgeführt werden. Bei Defekten 50% der Endphalanx und/oder des Nagelkomplexes – Stumpfversorgung – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen ▬ Verlust 50% des Nagelkomplexes besteht die Indikation zur primären Stumpfbildung, wenn möglich unter Erhalt des DIP-Gelenks. Bei Verlust von 50 % des Nagelkomplexes – Stumpfversorgung
▬ Verlust < 50 % des Nagelkomplexes ▬ Zerstörte Endphalanx – Stumpfversorgung
▬ Erhaltene Endphalanx
– Palmare Defekte – Symmetrische, transversal verlaufende (komplette) Endglieddefekte – Neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke und Rose – Heterodigitale Insellappenplastik nach Littler – Mikrochirurgisch resensibilisierte Cross-Finger-Lappenplastik nach Berger und Meissl – Homodigitale Insellappenplastik mit retrogradem Fluss nach Oberlin – Dorsale Cross-Finger-Lappenplastik nach Cronin – Thenar-Lappenplastik nach Gatewood (Mittelfinger) – Asymmetrische, schräg verlaufende Endglieddefekte – Fingerkuppen-Austauschlappenplastik nach Foucher – Lateropalmare Insellappenplastik nach Mouchet und Gilbert – Dorsale Cross-Finger-Lappenplastik nach Cronin – Dorsale Defekte – Freie Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard – Spalthauttransplantation – Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher
▬ Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte
– Stumpfversorgung unter Erhalt des DIP-Gelenks – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher – Partielles freies mikrovaskuläres Transplantat aus dem Bereich der 2. Zehe
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
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⊡ Abb. 38.15 Sekundäre Endgliedrekonstruktion nach Amputationsverletzung des linken Zeigefingers bei einem 15-jährigen Mädchen mithilfe eines partiellen freien mikrovaskulären Transplantats aus dem Bereich der 2. Zehe. a Klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von dorsal, b klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von lateral, c klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ansicht von dorsal, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ansicht von lateral – komplette Fingerstreckung, e klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ansicht von lateral – kompletter Faustschluss, f Resektion im Bereich des dorsalen Nagelwalls zur Vergrößerung der sichtbaren Oberfläche der Nagelplatte, g Resektion im Bereich der medianen palmaren Pulpa zur Verbesserung der Form, h klinischer Aspekt 2 Jahre postoperativ: Spender- und Empfängergebiet, i klinischer Aspekt 2 Jahre postoperativ: Ansicht von dorsal – kompletter Faustschluss, j klinischer Aspekt 2 Jahre postoperativ: Ansicht von dorsal, k klinischer Aspekt 2 Jahre postoperativ: Ansicht von lateral, l klinischer Aspekt 2 Jahre postoperativ: Ansicht von palmar
1037 38.1 · Allgemeines
Schräg nach dorsal verlaufende Endglieddefekte Bei schräg nach dorsal verlaufenden Endglieddefekten der Zone 4 besteht ein kompletter Verlust des Nagelkomplexes. Damit ist die Indikation zur primären Stumpfversorgung gegeben. Kann der Ansatz der Strecksehne an der Basis der Endphalanx erhalten bleiben, so sollte, wenn die Weichteilsituation dies zulässt, die Stumpfbildung unter Erhalt des DIP-Gelenks erfolgen. Fehlt auch der Strecksehnenansatz, so muss der Rest der Endphalanx im DIP-Gelenk abgesetzt werden. Nur in Ausnahmefällen ist eine mikrochirurgische Rekonstruktion des Fingers indiziert. Hierfür sollten bevorzugt das partielle freie mikrovaskuläre Transplantat aus dem Bereich der 2. Zehe, die modifizierte oder die Custommade-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher eingesetzt werden. 38.1.7 Therapie Mit Ausnahme der reinen Hautverletzungen der Fingerkuppe besteht bei Endgliedverletzungen immer ein palmarer Defekt des Pulpa-Weichteil-Systems und ein dorsaler Defekt des Nagelkomplexes, die beide analysiert und therapiert werden müssen. > Primäre Therapieziele sind: 1. die adäquate Polsterung des verletzten Knochens mit sensiblem Weichgewebe, 2. die ausreichende Rekonstruktion und Abstützung des Nagelbettes zur Prävention einer Krallennagelbildung, 3. die Erhaltung einer möglichst großen Daumenlänge, 4. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Daumenkuppe.
Konservative (nichtoperative) Therapie Die kontrollierte sekundäre Wundheilung stellt die Therapie der Wahl bei Pulpadefekten im Bereich der Zone 1 und für Kinder auch im Bereich der Zone 2 dar. Die aktiv geführte sekundäre Wundheilung führt zu einer Kuppenregeneration mit Wiederkehr von Tastleisten und meist normaler Sensibilität, wenn sie im Sinne einer aktiven Therapie durchgeführt wird ( Abschn. 38.2.1). Konservative Therapie bei erworbenen Nageldefekten ist indiziert bei dermatologischen Erkrankungen (Fungi).
Operative Therapie Jede Therapie bei einem Defekt im Endgliedbereich beginnt mit einem adäquaten Débridement im Sinne einer Wundkonditionierung. Unter Wundbettkonditionierung versteht man das gesamte »Management« der Wunde, um die endogene Heilung zu erhöhen oder die Effektivität therapeutischer Methoden zu erleichtern. Für die akuten Wunden bedeutet dies meist ein adäquates Débridement, d. h. so viel wie möglich geschädigtes Gewebe zu entfernen und gleichzeitig so wenig wie nötig gesundes Gewebe schädigen. Die Tumorresektion kann als eine Sonderform des adäquaten Débridement gesehen werden. Wenn immer möglich, muss eine komplette Tumorentfernung mit ausreichendem Sicherheitsabstand (R0-Resektion) erfolgen ( Kap. 60). Für chronische Wunden sind die wichtigsten Behandlungsmaßnahmen: 1. feuchte Wundbehandlung, 2. Entfernung von Nekrosen und Wundbelägen (Débridement), 3. Herstellung einer bakteriellen Balance auf der Wundoberfläche (Keimreduktion/-elimination), 4. Management des anfallenden Exsudats.
Ab Endglieddefekten der Zone 2 sollten die operativen Möglichkeiten immer bedacht werden: Bei glatter Amputation mit Erhalt des Amputats ist vor allem bei jüngeren Patienten eine mikrochirurgische Rekonstruktion im Sinne einer Replantation zu prüfen ( Kap. 38). Bei Zone-2-Defekten kann vor allem bei Kindern eine Refixierung der Fingerkuppe im Sinne eines Composite Graft nach Douglas erwogen werden ( Abschn. 38.2.3). Ist eine Replantation nicht durchführbar, so sollte in der Akutsituation bei polydigitalen Verletzungen die Möglichkeit eines heterotopen Gewebetransfers nach dem Gewebebankkonzept nach Chase ( Kap. 38) in Erwägung gezogen werden. Da im Gegensatz zum Daumen die Länge der Finger von nicht so großer Bedeutung für die Funktion der Hand als Ganze ist, muss bei allen Defekten distal der Insertion der oberflächlichen Beugesehne neben der Rekonstruktion mithilfe einer vaskularisierten Lappenplastik immer die Stumpfversorgung ( Abschn. 38.2.2) als wertige Therapiemöglichkeit bedacht werden. Indikationen zur primären Stumpfversorgung bestehen bei Verlust von mehr als der Hälfte der Endphalanx und/oder des Nagelkomplexes. Ist weder eine Replantation noch ein heterotoper Gewebetransfer möglich, stellt die lokale Lappenplastik die nächste Therapiemöglichkeit dar. Auswahlkriterien sind die benötigte Strecke der Lappentransposition sowie der Verlauf der Amputationslinie in der Sagittalebene. Für die Festlegung der benötigten Lappenlänge ist es entscheidend, nicht die fehlende Endgliedlänge, sondern die Länge der fehlenden Haut entlang der palmaren Fläche zu messen. Durch die Krümmung im Kuppenbereich ist der tatsächliche Hautdefekt meist bedeutend größer als zunächst angenommen. In einer zu kleinen Dimensionierung der Lappenplastik liegt der häufigste Fehler bei der Rekonstruktion von Kuppendefekten. Wird dies nicht beachtet, so kann es durch sekundäre Retraktion im Lappenbereich zu funktionell und ästhetisch unbefriedigenden Ergebnissen, insbesondere zu einer platten Kuppenform oder zur Ausbildung einer Krallennageldeformität kommen. Sind die lokalen Therapiemöglichkeiten nicht ausreichend können Gewebetransplantationen vor allem aus dem Fußbereich indiziert sein. Bei diesen mikrochirurgischen Transplantationen ist eine adäquate Patientenselektion von ausschlaggebender Bedeutung. Einen in Länge, Form und Funktion normalen Nagel primär wiederherzustellen ist nur möglich, wenn alle Elemente des Nagelkomplexes ( Abschn. 38.1.1) möglichst anatomisch rekonstruiert werden können. Sekundäre Nagelveränderungen nach Traumata sind häufig durch eine nicht angemessene Primärversorgung bedingt. Das sterile Nagelbett bildet nach Verlust der Nagelplatte anstatt der Keratinschicht, Narbengewebe, auf dem der nachwachsende Nagel keine ausreichende Haftung mehr findet. Die Bildung von Narbengewebe kann nur durch die sofortige Reposition und Retention des extrahierten Nagels, bei polydigitaler Schädigung eines Nagels von einem anderen Finger, einer Silikonplatte, eines sterilen Kunstnagels oder einer Fettgaze verhindert werden. Wird der Nagel oder sein Äquivalent nicht in die Nageltasche geschoben, so kommt es durch Verklebungen der palmaren und der dorsalen Matrixanteile zur Entstehung von Nageldeformitäten, wie z. B. eines Spaltnagels, die sekundär nur schwer zu korrigieren sind. Die Versorgung von Defekten im Nagelbettbereich ist auch noch bis zu 7 Tage lang primär möglich und sollte trotz des ansteigenden Infektionsrisikos versucht werden. Bei kompletten Defekten der germinativen Matrix ist eine Nagelrekonstruktion mit lokalem Gewebe nicht mehr möglich. Partielle Nagelbildungsstörungen können nur durch partielle Exzision und exakte Wundrandadaptation verbessert werden. Bei normaler bzw. ausreichender Funktion der germinativen Nagelmatrix hän-
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
gen Form und zukünftiges Aussehen in erster Linie vom Zustand der sterilen Nagelmatrix ab. Unter funktionellen Gesichtspunkten stellt die Wiederherstellung der Adhärenz der Nagelplatte mit dem Nagelbett die vordringlichste Aufgabe dar. Ein funktionell stabiler Fingernagel setzt ein intaktes Nagelbett von mindestens 5 mm distal der Lunula mit longitudinal ausgerichteten Rillen und aufliegender Keratinschicht statt Narbengewebe sowie eine ausreichende knöcherne Abstützung durch die darunter liegende Endphalanx voraus. Eine sich kontrahierende Narbe im Bereich der Fingerkuppe zieht das Nagelbett – vor allem bei gleichzeitig fehlender knöcherner Abstützung – nach palmar, was zur Ausbildung eines Krallennagels führt. Knöcherne Unregelmäßigkeiten unterhalb des Nagelbettes, z. B. nach Frakturen, führen zu einer Verformung des Nagelbettes und zu Adhärenzstörungen des Nagels. Schließlich muss auch an die Rekonstruktion des Paronychiums, das aus medialem und lateralem Nagelfalz und hinterer Nageltasche besteht, gedacht werden. Vorausgesetzt, dass die dorsalen Matrixanteile im Eponychium intakt sind, kann eine anatomische Rekonstruktion des Nagelwalls zu einer Verbesserung der Form der Nageloberfläche führen. Nur bei anatomischer Wiederherstellung des Paronychiums im Bereich der seitlichen Nagelfalze kann ein ungestörtes Vorwachsen der Nagelplatte ohne Inkarzeration erfolgen.
Postoperative Nachsorge > Um die oben genannten Therapieziele zu erreichen, ist eine intensive handtherapeutische Nachbehandlung notwendig.
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Vordringlichstes Ziel ist die Wiederherstellung einer optimalen Sensibilität. Abhängig von der Wahl der Therapieverfahrend, dem individuellen Patienten und den Begleitverletzungen ist eine Sensibilisierungs- und Desensibilisierungstherapie notwendig. Sie ist ein integraler Bestandteil der Therapie und darf nicht – wie so oft – vergessen werden. Bei der Defektdeckung mithilfe einer Lappenplastik sollte neben dem funktionellen auch das ästhetische Ergebnis beachtet werden: »Form ist Funktion«. Eine standardisierte Narbentherapie ist auch
⊡ Abb. 38.16 Thenar-Lappenplastik nach Gatewood. a Aspekt nach Débridement des Zone-4Endglieddefektes und Lappenhebung, b Aspekt nach Lappeneinnähung: Die Beugestellung im Bereich der Fingergelenke des Mittelfingers muss für 14–21 Tage bestehen bleiben. Durch intensive postoperative Handtherapie ist die Gefahr der Ausbildung einer bleibenden Beugefehlstellung im PIP-Gelenk beim Kind sehr gering. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
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im Fingerbereich möglich und darüber hinaus sehr kostengünstig. Durch die Anwendung von kompressiven Fingerlingen mit Silikonbezug können Narbenvolumen und Narbenrötet signifikant verringert werden. Darüber hinaus ist die Kompression auch ein wichtiger Faktor, postoperative Steifigkeiten aufgrund von postoperativen Schwellungszuständen wirkungsvoll zu behandeln (⊡ Abb. 38.12). 38.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Wie beim Erwachsenen ist auch beim Kind die Fingerkuppe der wertvollste Teil des Fingers. Noch mehr als beim Erwachsenen werden Endglieddefekte, da die Fingerkuppen klein sind und deshalb der Defekt auch klein erscheint, oft unterschätzt und vernachlässigt. Es wird nicht beachtet, dass die taktile Gnosis später für viele Berufe besonders wichtig ist und dass der Verlust der Fingerkuppensensibilität eine deutliche Behinderung darstellt. Für die Therapie von Endglieddefekten im Kindesalter gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende Besonderheioten sind zu beachten: > Im Gegensatz zum Erwachsenen ist die Erhaltung der Knochenlänge im Fingerbereich beim Kind unbedingt anzustreben, da sie sowohl im Alltag (Schreiben am Computer), aber auch in der Freizeit (z. B. Musizieren) für Können oder Nichtkönnen ausschlaggeben sein kann.
Aufgrund der kleineren Volumina und der höheren Regenerationspotenz sollte bei glattrandigen Amputationsverletzungen nach entsprechender Wundreinigung immer ein Versuch der Kuppenrefixierung im Sinne eines Composite Graft nach Douglas, d. h. ohne Ausdünnung, durchgeführt werden. In den meisten Fällen wird die Fingerkuppe ohne Sensibilitätsverlust wieder anheilen, was beim Erwachsenen nicht der Fall ist ( Abschn. 38.2.3) Wegen der größeren Gewebeelastizität und des geringeren Risikos von postoperativen Steifigkeiten und Gelenkkontrakturen werden bei Kindern einige Lappenplastiken, wie die Thenar-Lappen-
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⊡ Abb. 38.17 Unilaterale neurovaskulär gestielte heterodigitale Lappenplastik nach Littler. a Lappenplanung: Hemi-Brunner- oder Mediolateralinzision zur Hebung des neurovaskulär gestielten heterodigitalen Lappens vom Ringfinger, b Präparation des Gefäß-Nerven-Stiels mit dem darumliegenden Fettgewebe zur Schonung der Vv. comitantes. c Transposition auf den Daumen kann entweder durch einen Tunnel (Torsion des Gefäß-Nerven-Stiels beachten) oder aber nach fortführen der Inzision unter Sicht erfolgen. Die Deckung der Spenderstelle erfolgt mithilfe eines Vollhauttransplantats. d Einnähen der Lappenplastik mit einigen wenigen Einzelknopfnähten. Zur Verbesserung der Sensibilität kann der Lappennerv mit dem N2-Nerv am Daumen koaptiert werden. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
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⊡ Abb. 38.18 Fingernagelluxation beim Kind. a Schema: klinischer Aspekt bei Aufnahme. b Auf der obligaten seitlichen Röntgenaufnahme kann die SalterHarris-II-Fraktur erkannt werden. c Reposition der Fraktur, Rekonstruktion des Nagelbettes und Reposition des Nagels in die dorsale Nageltasche, d Retention der Fraktur mithilfe eine axialen Kirschner-Drahtes. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006 [a–c]; Schmit-Neuerburg et al. 2001 [d])
plastik nach Gatewood (⊡ Abb. 38.16) und die palmare Dehnungslappenplastik nach Snow häufiger eingesetzt als bei Erwachsenen. Wenn ein Hauttransplantat notwendig wird, muss – wenn immer möglich – ein Vollhauttransplantat gewählt werden, die dieses eine größere Elastizität bzw. eine kleine Schrumpfungsneigung aufweist und so im weiteren Wachstum die geringste Beeinträchtigung nach sich zieht. Darüber hinaus hat das Vollhauttransplantat eine bessere Resensibilisierung als das Spalthauttransplantat. Vor allem bei kleinen Kindern sollte an den nichtvaskularisierten sensiblen Zehenpulpatransfer nach McCash gedacht werden.
Aufgrund der größeren »kortikalen Plastizität« des Kindes sind die Ergebnisse von neurovaskulär gestielten heterodigitalen Lappenplastiken (unilaterale Insellappenreihe nach Littler-Loda, ⊡ Abb. 38.17; A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastikreihe nach Hilgenfeld–Holevich–Foucher) hinsichtlich des kortikalen Umlernens besser als beim Erwachsenen. Bei Kindern findet man häufig eine Fingernagelluxation verbunden mit einer Epiphysenlösung mit metaphysärem Keil im Sinne einer Salter-Harris-II-Fraktur (⊡ Abb. 38.18a–c). Dabei kommt es zur Dislokation des peripheren Fragments zur Streckseite und
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
gleichzeitig luxiert der Nagel ebenfalls dorsalseitig aus seinem Nagelbett. Nur selten muss der dislozierte Knochen reponiert werden. Für die Retention kann ein feiner Kirschner-Draht für 3 Wochen notwendig sein (⊡ Abb. 38.18d). Der Nagel muss aber nach Wundreinigung und Fensterung zur Hämatomdrainage refixiert werden. Postoperativ ist eine Ruhigstellung für 3–4 Wochen notwendig. 38.2
Spezielle Techniken
38.2.1 Kontrollierte sekundäre Wundheilung bei
Endglieddefekten der Zonen 1 und 2 > Bei der sekundären Wundheilung handelt es sich um eine aktive Therapieform, deren Ablauf maßgeblich vom Arzt bestimmt wird.
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Die Behandlung beginnt mit dem adäquaten Débridement des nekrotischen Gewebes und der Lavage des Defektes unter Anästhesie im Sinne einer wundbettverbessernden Maßnahme. Ohne einen primären Verschluss anzustreben, wird der gesäuberte Defekt soweit wie möglich locker adaptiert. Der verbleibende Hautdefekt wird anschließend mit einem Semiokklusivverband oder einer Fettgaze bedeckt, wodurch die Bedingungen für eine lokale Entzündung geschaffen werden. Ist genügend Granulationsgewebe entstanden, kann die normale Fettgaze auch durch eine steroidhaltige Fettgaze ersetzt werden, um so die Gewebevermehrung zu stoppen und die Epithelialisierung zu fördern. Der Wundverband wird 2- bis 3-mal wöchentlich gewechselt. Dabei sollte nekrotisches Gewebe jeweils entfernt und der Hautdefekt mit Leitungswasser geduscht bzw. im Kamillebad oder in verdünnter Braunovidon-Lösung gebadet werden. Bei überschießender Entzündungsreaktion empfiehlt es sich, die Fettgaze zusätzlich mit hypertoner Kochsalzlösung zu tränken und ein tägliches Fingerbad durchzuführen. Eine begleitende antibiotische Therapie ist aus den obengenannten Gründen i. Allg. nicht ratsam und kontraindiziert. 3–4 Wochen können bis zum vollständigen Verschluss des Defektes verstreichen. Dies muss dem Patienten klar kommuniziert werden, andernfalls ist mit einer hohen Rate an Therapieabbrüchen durch frustrierte Patienten zu rechnen. Vom ersten Tage an sollte der behandelte Finger beübt werden, um eine Einsteifung in den vorgeschalteten Gelenken und benachbarten Fingern zu vermeiden. Der Wundverband darf daher die Beweglichkeit in den IP-Gelenken möglichst wenig einschränken und sollte entsprechend dem Heilungsverlauf verkleinert werden. Bereits im Stadium der fortschreitenden Wundrandkontraktion kann mit einer Desensibilisierungstherapie begonnen werden ( Kap. 4). 38.2.2 Nachamputation und Stumpfbildung
im Endgliedbereich Die Operation erfolgt in Rückenlage. Eine Amputationshöhe distal der Grundphalanx ermöglicht eine Oberst-Leitungsanästhesie sowie eine lokale Fingerblutleere. Bei einer Amputationshöhe proximal der Grundphalanx empfiehlt sich Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Die genaue Höhe der Amputation sollte von Art und Ausdehnung des bestehenden Weichteil-Knochen-Schadens abhängig gemacht und unter Berücksichtigung funktioneller (Handarbeiter/Kopfarbeiter) und ästhetischer (Männer/Frauen) Gesichtspunkte, des Alters (Kinder/Erwachsene) und allgemeiner Faktoren (Allgemeinzustand, Nikotin-, Alkoholabusus etc.) festgelegt werden. Für die Amputation
selbst ist zu beachten, dass der zur Deckung des Knochenendes vorgesehene Weichteillappen in seiner Länge dem jeweiligen Stumpfdurchmesser entsprechen muss, dass er als Ganzes gut durchblutet und auch in seiner neuen Position lebensfähig sein und schließlich dass er möglichst viele sensible Endorgane enthalten sollte. Wenn es die Situation erlaubt, wird man einen palmaren Hautlappen bilden, dessen Narbe auf der Dorsalseite des Stumpfes zu liegen kommt. Je nach Lokalisation können auch lateral bzw. dorsal gestielte Hautlappen oder freie Hauttransplantate gewählt werden, um eine weitere funktionsmindernde Fingerkürzung zu vermeiden. Die Knochenenden im Bereich der Basen der Phalangen müssen mit der LuerZange rund geformt werden. Bei Amputationen im Bereich des distalen Interphalangealgelenks muss der Gelenkknorpel entfernt werden. Auch sind die Kondylen der Mittelphalanx an beiden Seiten abzutragen, damit der Stumpf nicht breit ausladend wird und die lokal vorhandene Haut zur Deckung ausreicht (⊡ Abb. 38.19b). Die Enden von Beuge- und Strecksehnen werden gefasst, aus der Wunde herausgezogen und gekürzt. Keineswegs darf man ihre Stümpfe jedoch zur Abpolsterung über der Knochenspitze adaptieren, weil dadurch das Zusammenspiel der Sehnen an den unverletzten Fingern im Sinne eines »Quadriga-Phänomens« erheblich gestört wird. Die Arterien werden ligiert, die Venen koaguliert und die palmaren Nerven gekürzt, um das sich unweigerlich bildende Neurom aus der Belastungszone und aus der Region der zu erwartenden Narbenbildung herauszubringen (⊡ Abb. 38.19c,d). Alternativ kann bei handwerklich arbeitenden Patienten der Nerv im Fingerbereich lang gelassen, die Kortikalis angebohrt und der Nerv intraossär verlagert werden. Der Hautverschluss über dem Stumpf muss spannungsfrei erfolgen, um eine überschießende Narbenbildung zu vermeiden, wie sie bei unter Spannung angelegten Nähten häufig auftritt, sodass der Stumpf schmerzhaft werden kann. Bereits primär ist auf eine kosmetisch günstige Stumpfdeckung zu achten (⊡ Abb. 38.19e). Zur Verbesserung der Kuppenform kann die Technik nach Furlow eingesetzt werden (⊡ Abb. 38.19f). Postoperativ wird der Finger auf einer 2-Finger-Schiene für 3–5 Tage ruhiggestellt. Eine frühzeitige Mobilisierung und Desensibilisierung sollte durchgeführt werden (⊡ Abb. 38.19g,h). 38.2.3 Technik der Kuppenrefixierung
(Composite Graft nach Douglas) Auch eine amputierte Fingerkuppe (⊡ Abb. 38.20a) kann bei nicht exponiertem Knochen im Prinzip wie ein Vollhauttransplantat behandelt werden. Für Erwachsene und Kinder ergeben sich wichtige operationstechnische Unterschiede: Beim Erwachsenen wird die Fingerkuppe zunächst gesäubert und dann durch Entfettung ausgedünnt (⊡ Abb. 38.20b). Sie wird wie ein Vollhauttransplantat mit Hautnähten über den Kuppendefekt ausgespannt (⊡ Abb. 38.20c). Zur besseren Fixierung wird ein Überknüpfverband für 5 Tage angelegt (⊡ Abb. 38.20d–f). Die Hand wird auf einer palmaren Unterarmgipsschiene mit Finger in Intrinsic-plus-Stellung für 7 Tage ruhiggestellt. Diese Transplantate besitzen eine optimale Hautqualität und erreichen eine sehr gute Resensibilisierung. Bei Kindern wird die Fingerkuppe zunächst gesäubert. Ohne Ausdünnung und ohne weitere Manipulation wird sie mit wenigen Nähten (5/0 oder 6/0) refixiert (⊡ Abb. 38.21a). Die Hand wird auf einer palmaren Unterarmgipsschiene mit Finger in Intrinsic-plusStellung für 7 Tage ruhiggestellt. Eine rheologische Therapie kann durchgeführt werden. In den meisten Fällen wird die Fingerkuppe ohne Sensibilitätsverlust wieder anheilen (⊡ Abb. 38.21b).
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⊡ Abb. 38.19 Stumpfversorgung im Endgliedbereich. a Schema: präoperativer Aspekt, b Schema: Präparation der Knochenstümpfe, c Schema: Zustand nach Débridement: Wenn möglich sollte die Basis der Endphalanx erhalten bleiben. Ein Vernähen von Beuge- und Strecksehne darf nicht durchgeführt werden, da ansonsten ein Quadriga-Phänomen entsteht und die globale Handfunktion beeinträchtigt wird. Eine Vernähung des Sehnenstumpfes der Flexor-digitorum-profundusSehnen muss ebenfalls unterbleiben. Auf die adäquate Rückkürzung der palmaren Fingernerven ist zu achten. d Klinischer Aspekt nach Débridement: Planung der distalen Stumpfbedeckung. Wenn immer möglich sollte ein palmarer Lappen gebildet werden. e Schema: postoperativer Aspekt, f klinischer Aspekt postoperativ: Zur Verbesserung der Kuppenform kann die Technik nach Furlow eingesetzt werden. g Klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ansicht von dorsal, h klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ansicht von palmar. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, c, e]; Wachsmuth u. Wilhelm 1972 [b])
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⊡ Abb. 38.20 Refixierung des ausgedünnten Fingerkuppenamputats im Sinne einer »autochtonen« Vollhauttransplantation. a Präoperativer Befund, b technisches Vorgehen bei Entfettung und Ausdünnung eines Vollhauttransplantats, c Vorlegen von Fäden zur Anlage eines eingeknüpften Verbandes, d Gleichmäßige Kompression des Hauttransplantats mit Hilfe von Fettgaze, Kompressen und Schaumstoff (Zustand vor Verschnürung), e gleichmässige Kompression des Hauttransplantats mithilfe von Fettgaze, Kompressen und Schaumstoff (Zustand nach Verschnürung). (Aus Berger u. Hierner 2009)
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⊡ Abb. 38.21 Refixierung des Fingerkuppenamputats im Sinne eines Composite Graft nach Douglas. a Klinischer Aspekt präoperativ: Amputationsstumpf, b klinischer Aspekt präoperativ: Amputat, c klinischer Aspekt nach Refixierung der Kuppe, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ
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38.2.4 Palmare bilaterale neurovaskuläre
Dehnungslappenreihe im Daumenbereich (Tranquilli-Leali–Moberg–O‘Brien–Epping) > Die in den meisten Büchern gezeichneten palmaren V-YDehnungslappenplastiken nach Tranquilli-Leali sollten nicht mehr eingesetzt werden, da sie meist technisch ungenügend ausgeführt werden und vor allem im Vergleich mit den größeren Lappen in den jeweiligen Lappenfamilien ein deutlich höheres Wundheilungsstörungsrisiko und deutlich schlechtere sensible Eigenschaften zeigen.
Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Der Hautlappen wird palmar durch eine beidseits mediolateral gelegene Längsinzision begrenzt, die vom Defekt bis zur Metakarpophalangealfalte reicht. Hier kann beidseits durch eine zusätzliche Z-Plastik eine weitere Dehnungsstrecke gewonnen
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werden (⊡ Abb. 38.22a). Der erweiterte, bilateral neurovaskulär gestielte palmare Dehnungslappen nach Epping stellt die Maximalvariante der Lappenfamilie dar. Die Anzeichnung des Lappens erfolgt von beiden Seiten der MP-Gelenk-Falte V-förmig auf den Thena. (⊡ Abb. 38.22b,c). Aufgrund des relativen Hautüberschusses im Thenarbereich kann der Hebedefekt primär verschlossen werden. Der Hautlappen wird nun umschnitten und mit den Aa. digitales palmares propriae und Nn. digitales palmares proprii von distal nach proximal von der fibrösen Sehnenscheide gelöst. Die stumpfe Präparation erfolgt nur so weit nach proximal hin, bis ausreichend Dehnungsstrecke gewonnen ist. Nach beidseitiger Durchtrennung der Cleland-Bänder von der lateralen Seite des Fingerskelettes kann der Hautlappen durch leichten Gewebezug und Beugung der vorgeschalteten Fingergelenke in den distalen Fingerbereich verlagert werden. Die distale Lappenhaut muss dabei das Nagelniveau geringfügig überschreiten, um eine sekundäre Krallennagelbildung durch Narbenschrumpfung zu vermeiden (⊡ Abb. 38.22f). Zur Verbesse-
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⊡ Abb. 38.22 Palmare Advancement-Lappen-Familie (Tranquilli-Lealy–Moberg–O’Brien–Epping). a Schema: Lappenplanung nach Moberg (mit Modifikation nach Foucher durch Ergänzung einer Z-Plastik medial und lateral), b Schema: Lappenplanung nach Epping, c klinischer Aspekt: Lappenplanung (die maximale Ausdehung der Lappenreihe wird angezeichnet), d klinischer Aspekt: Lappenheben (die Präparation wird individuelle auf den Befund des einzelnen Patienten abgestimmt und an dem Ort beendet, an dem eine ausreichende und adäquate Defektdeckung mit der gehobenen Lappenplastik erzielt werden kann. e Klinischer Aspekt: Postoperativer Zustand nach Lappeneinnähung mit leichter Beugung des IP-Gelenks. Der distale Lappenanteil muss das Nagelniveau am Ende der Operation überragen, um nach postoperativer Narbenkontraktur im Nagelniveau zu enden. f Funktionelles und ästhetisches Ergebnis 1 Jahr nach Operation: IP-Gelenk-Extension, g funktionelles und ästhetisches Ergebnis 1 Jahr nach Operation: IP-Gelenk-Flexion. (Aus Berger und Hierner 2009 [a, b])
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
rung der Fingerkuppenrundung sowie der optimalen Ausnutzung des Restgewebes kann die Cup-Technik nach Furlow eingesetzt werden. Dies gelingt z. B. bei nach palmar hin schräg verlaufenden Fingerkuppendefekten, wo ohnehin ein nahezu U-förmiger distaler Lappenrand vorhanden ist. Nach Öffnen der Blutleere muss die Lappendurchblutung geprüft werden und eine subtile Blutstillung erfolgen. Anschließend erfolgt der Verschluss der lateral gelegenen Inzisionen, wobei überflüssiges Gewebe nach Bedarf entfernt wird. Die distale Fixierung sollte nur im lateralen Nagelwallbereich mit Nähten erfolgen. Zentral kann der Hautlappen mit einer intraossär platzierten Kanüle für etwa 2 Wochen fixiert werden. Bei der alternativen transungualen Fixierung durch Nähte besteht wiederum das Risiko der sekundären Krallennagelbildung. Eine intensive krankengymnastische Behandlung sollte nach etwa 14 Tagen begonnen werden. Eine Fixierung der Beugefehlstellung der Interphalangealgelenke kann nur durch die frühzeitige Anwendung einer Extensionsschiene vermieden werden. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden (⊡ Abb. 38.22f,g). 38.2.5 Palmare bilaterale neurovaskuläre
Dehnungslappenreihe im Fingerbereich (Tranquilli-Leali–Atasoy–Snow) > Die in den meisten Büchern gezeichneten palmaren V-YDehnungslappenplastiken nach Tranquilli-Leali sollten nicht mehr eingesetzt werden, da sie meist technisch ungenügend ausgeführt werden und vor allem im Vergleich mit den größeren Lappen in den jeweiligen Lappenfamilien ein deutlich höheres Wundheilungsstörungsrisiko und deutlich schlechtere sensible Eigenschaften zeigen.
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Die Operation erfolgt in Rückenlage, Lokalanästhesie und lokaler Blutsperre. Der palmare Hautlappen wird triangulär mit dem palmaren Defektrand als Dreiecksbasis geplant. Diese sollte etwas breiter als der dorsale Defektrand am Fingernagelbett sein, um eine ästhetisch zufriedenstellende Wiederherstellung der Fingerkuppenrundung zu erzielen. Wird die Basis des Lappens allerdings zu breit gewählt, besteht die Gefahr, dass die Fingerkuppe zu eckig wird. Die Spitze des dreieckigen Hautlappens liegt meist im Bereich der Beugefalte des DIP-Gelenks, kann aber auch weiter proximal zu liegen kommen. Die beiden Schenkel des Dreiecks werden nicht gerade, sondern leicht nach lateral geschwungen angelegt. Der erweiterte, bilateral neurovaskulär gestielte palmare Dehnungslappen nach Snow stellt die Maximalvariante der Lappenfamilie dar. Der Hautlappen wird durch eine beidseits mediolateral gelegene Inzision begrenzt. Sie reicht vom Defekt bis zur Grundgliedfalte. Die lateralen Hautinzisionen müssen die Cutis vollständig durchtrennen, dürfen aber das Subkutangewebe mit der neurovaskulären Versorgung der Fingerkuppe nicht verletzen. Mit der Schere werden nach einer eventuell nötigen Knochenbegradigung die Bindegewebesepten der Fingerbeere zum Periost und zur Beugesehnenscheide durchtrennt. Der Ansatz der tiefen Beugesehne darf dabei nicht von der Endphalanx gelöst werden. Die Lappenplastik wird mit einem Hauthaken distalwärts gezogen, mit der Spitze der Schere werden die entsprechenden Bindegewebesepten unter der Lupenbrille ausgetastet und einzeln durchtrennt. Ist genügend Lappenvorschub vorhanden, werden die palmaren Hautinzisionen durchgeführt. Hat man sich in der tatsächlichen Lappenlänge verschätzt, kann bei nicht ausreichender Dehnungsmöglichkeit der Lappenplastik nach distal hin, durch mikrochirurgische Präparation der beiden palmaren Ge-
fäß-Nerven-Bündel und durch anschließende vollständige Durchtrennung des subkutanen Gewebestieles, ein echter neurovaskulär gestielter Insellappen nach Atasoy geschaffen werden, der sich bis zu etwa 10 mm nach distal mobilisieren lässt. Muss ein größerer Defekt im Bereich der Fingerkuppen gedeckt werden, muss die erweiterte, bilateral neurovaskulär gestielte palmare Dehnungslappenplastik nach Snow gewählt werden. Um Durchblutungsstörungen der dorsalen Abschnitte von P2 und P3 zu vermeiden, müssen zumindest unilateral die nach dorsal ziehenden Kollateraläste der Aa. digitales palmares propriae vorsichtig freipräpariert und erhalten werden. Die Präparation erfolgt unter Lupenbrillenvergrößerung bis zur MPGelenk-Falte. Nach beidseitiger Durchtrennung der Cleland-Bänder von der lateralen Seite des Fingerskelettes kann der Hautlappen durch leichten Gewebezug und Beugung der vorgeschalteten Fingergelenke in den distalen Fingerbereich verlagert werden. Die distale Lappenhaut muss dabei das Nagelniveau geringfügig überschreiten, um eine sekundäre Krallennagelbildung durch Narbenschrumpfung zu vermeiden. Zur Verbesserung der Fingerkuppenrundung sowie der optimalen Ausnutzung des Restgewebes kann die Cup-Technik nach Furlow eingesetzt werden. Dies gelingt z. B. bei nach palmar hin schräg verlaufenden Fingerkuppendefekten, wo ohnehin ein nahezu U-förmiger distaler Lappenrand vorhanden ist. Nach Öffnen der Blutleere muss die Lappendurchblutung geprüft werden und eine subtile Blutstillung erfolgen. Anschließend erfolgt der Verschluss der lateral gelegenen Inzisionen, wobei überflüssiges Gewebe nach Bedarf entfernt wird. Der palmare Hautlappen wird mit 6/0-Nahtmaterial spannungsfrei beidseits am lateralen Nagelwall fixiert. Im zentralen Bereich sollte die Lappenfixierung mit einer intraossär eingebrachten Kanüle für 2–3 Wochen erfolgen. Durch eine Vernähung des Lappens im Nagelbereich kann es zu einer großen Zugspannung innerhalb des Lappens kommen, die primär zu Perfusions- und Sensibilitätsstörungen sowie sekundär zu einer Krallennagelbildung führen kann. Überstehendes Nagelbettgewebe ist bis auf die Länge der vorhandenen knöchernen Unterlage zu kürzen, um so die Bildung eines Krallennagels zu verhindern. Das Spendergebiet kann anschließend mithilfe der V-Y-Nahttechnik verschlossen oder auch nur locker adaptiert werden. Die rekonstruierte Fingerkuppe ist zwar schmäler als die ursprüngliche, ist aber gut gepolstert und verfügt über hervorragende Sensibilität. Am Ende der Operation wird die Durchblutung des Hautlappens überprüft. Bei insuffizienter Lappenperfusion müssen einzelne Hautfäden entfernt werden. Postoperativ wird der Finger auf einer 2-Finger-Schiene für 5–7 Tage ruhiggestellt. Rheologische Maßnahmen sind nur bei beeinträchtigter Lappendurchblutung indiziert. Eine intensive krankengymnastische Behandlung sollte nach etwa 14 Tagen begonnen werden. Eine Fixierung der Beugefehlstellung der Interphalangealgelenke kann nur durch die frühzeitige Anwendung einer Extensionsschiene vermieden werden. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden. 38.2.6 Palmare unilaterale neurovaskuläre
Dehungslappenreihe im Fingerbereich (Geissendörfer/Kutler–Venkataswami–Foucher) > Die in den meisten Büchern gezeichneten palmaren V-Y-Dehnungslappenplastik nach Geissendörfer/Kutler sollten nicht mehr eingesetzt werden, da sie meist technisch ungenügend ausgeführt werden und vor allem im Vergleich mit den größeren Lappen in den jeweiligen Lappenfamilien ein deutlich höheres Wundheilungsstörungsrisiko und deutlich schlechtere sensible Eingenschaften zeigen.
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Präoperativ sollte ein digitaler Allen-Test durchgeführt werden ( Kap. 7). Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Bei kleinen schrägen Fingerkuppendefekten genügt auch eine lokale Infiltrationsanästhesie mit einer Fingerblutleere (OP-Handschuh). Nach Débridement des Defektes wird ein triangulärer Lappen mit dem Defektrand als Basis und zwei unterschiedlich langen Schenkeln markiert (⊡ Abb. 38.23b). Die Spitze des Dreiecks wird etwas dorsal auf das Gefäß-Nerven-Bündel entlang der Mediolateralen zentriert. Die Länge des Hautlappens nach proximal richtet sich nach der Lage des Defektes. Für gewöhnlich ist die einein-
⊡ Abb. 38.23 Schematische Darstellung der unilateralen palmaren Dehnungslappenreihe nach Geissendörfer/Kutler–Venkataswami–Foucher. a Präoperativer Zustand und Lappenplanung, b Zustand nach Hebung der unilateral neurovaskulär gestielten Dehnungslappenplastik nach Venkataswami, c Postoperativer Zustand nach Lappeneinnähung, d Klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ, e Zustand nach Hebung der unilateral neurovaskulär gestielten Insellappenplastik nach Mouchet und Gilbert, f Postoperativer Zustand nach Einnähung des unilateral neurovaskulär gestielten Insellappenplastik nach Mouchet und Gilbert. Der Spenderdefekt wird mit einem Vollhauttransplantat gedeckt. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–c])
halbfache bis doppelte Dreiecksbasis ausreichend. Damit kann sich der Hautlappen bis zur Basis der Mittelphalanx ausdehnen. Geht der Defekt schräg auf die dorsale Seite, muss der Hautlappen mehr gedehnt werden, als wenn der Fingerkuppendefekt eher nach palmar geneigt ist. Bei der Umschneidung des Hautlappens sollte nur die Cutis durchtrennt werden. Der Hautlappen wird mit zwei Hauthäkchen distal leicht angehoben und von distal nach proximal mit der Schere von der Beugesehnenscheide gelöst. Dadurch bleibt das Gefäß-Nerven-Bündel geschützt im Subkutangewebe. Anschließend wird über die laterale Längsinzision der Gefäßstiel von dorsal präpariert und am Transplantat belassen. Unter Lupen-
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
vergrößerung werden Arterie und Nerv identifiziert und vorsichtig vom fixierenden Bindegewebe gelöst, um den Schwenkradius des Hautlappens zu vergrößern. Danach wird der schräg über die palmare Seite des Fingers laufende Dreiecksschenkel präpariert. Die den Hautlappen fixierenden Bindegewebesepten werden dabei vorsichtig gelöst. Gefäße und Nerven, die distal in den Hautlappen eintreten, werden geschont. Der sensible Hautlappen ist nun frei und kann in den Defekt verlagert werden (⊡ Abb. 38.23e). Wenn der Hautlappen weiter nach distal verlagert werden muss, können die feinen Blutgefäße von den feinen Nervenästen an der palmar schräg verlaufenden Inzision vollständig durchtrennt und der Hautlappen in eine laterale Insellappenplastik nach Mouchet und Gilbert umgewandelt werden. Fällt intraoperativ die Entscheidung für eine neurovaskulär gestielte homodigitale Lappenplastik, ist die Konfiguration vorgegeben. Bei primärer Planung können andere Lappenformen gewählt werden. Über eine streng mediolaterale oder Hemi-Bruner-Inzision kann das GefäßNerven-Bündel im proximalen Fingerbereich dargestellt und präpariert werden. Immer sollte der Gefäß-Nerven-Stiel möglichst in seinem subkutanen Lager belassen werden, da hier die sehr feinen Vv. comitantes enthalten sind, die den venösen Abfluss des Transplantats gewährleisten. Der Hautlappen wird mit dem gesamten subkutanen Fettgewebe gehoben. Lediglich das Peritendineum der Beugesehnen bleibt zurück (⊡ Abb. 38.23e). Durch geringe Beugung in den vorgeschalteten Gelenken und leichten Zug kann der Hautlappen um etwa 15 mm nach distal verlagert werden. Durch Präparation des Gefäß-Nerven-Bündels, das im Metakarpalbereich einen nach lateral konvexen Bogen macht, und nach anschließender Medialisation kann im radialen Zeigefingerbereich eine Verlagerung von bis zu 22 mm erreicht werden (⊡ Abb. 38.23f). Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappendurchblutung überprüft, eine subtile Blutstillung durchgeführt und der Lappen spannungsfrei im Defekt fixiert. Im Fingerspitzenbereich sollte der Lappen nur im Nagelwallgebiet angenäht werden. Eine Fixierung im Nagel selbst sollte nicht durchgeführt werden, um eine sekundäre Krallennagelbildung zu vermeiden. Zur temporären Zugentlastung kann eine Injektionskanüle intraossär platziert werden. Der Hebedefekt wird in V-Y-Technik verschlossen (⊡ Abb. 38.23c). Postoperativ wird der Finger auf einer palmarseitig angelegten 2-Finger-Schiene ruhiggestellt. Eine krankengymnastische Behandlung kann nach dem 3. Tag beginnen. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden (⊡ Abb. 38.23d). 38.2.7 Cross-Finger-Lappenplastik nach Cronin Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere oder in lokaler Leitungsanästhesie mit Fingerblutleere. Zunächst wird der Spenderfinger ausgewählt. Für Zeige- und Kleinfinger kommen nur die jeweils angrenzenden Finger in Frage. Bei Mittel- und Ringfinger wird derjenige der benachbarten Finger gewählt, der eine günstigere Immobilisierungsposition erlaubt. Als Spenderstelle ist die gesamte Fingerrückseite bis zum DIP-Gelenk geeignet. Abhängig davon, um welche zwei Finger es sich handelt und wie die Form der Hand ist, lassen sich 70–100% der palmaren Seite eines Fingers auf diese Weise ersetzen. Zur Sicherung der Lappenvitalität darf das Längen-Breiten-Verhältnis von 3:1 nicht überschritten werden. Zur Vermeidung funktioneller Beeinträchtigungen im Spendergebiet müssen bei der Lappenplanung unbedingt die funktionellen Einheiten der Fingerhaut ( Kap. 34)
beachtet werden. Prinzipiell kann die Cross-Finger-Lappenplastik lateral, proximal oder distal gestielt werden. Die Operation beginnt mit der Vorbereitung des palmarseitigen Hautdefektes (⊡ Abb. 38.24a,b). Zur Vermeidung einer hypertrophen Narbenbildung wird der Defekt entweder beidseits bis zur Mediolaterallinie vergrößert oder zickzackförmig im Sinne einer Hemi-Bruner-Inzision gestaltet. Nun wird am Nachbarfinger ein derart großer Hautlappen markiert, dass dieser dem Hautdefekt und der nicht defektdeckenden Strecke (»Lappenscharnier«) zwischen den Fingern entspricht. Die Schnittführung sollte möglichst die funktionellen Einheiten des Fingerrückens berücksichtigen, der Hautlappen sollte also z. B. zwischen PIP- und DIP-Gelenk gehoben werden (⊡ Abb. 38.24c). Mit größerem Hebedefekt kann zusätzlich die Haut dorsal des PIP-Gelenks entnommen werden. Nach lateral hin sollte der Hautlappen die Mediolaterallinie nicht überschreiten. Der Hautlappen wird nun auf der dorsalen Seite von Mittel- oder Endphalanx des Spenderfingers umschnitten und zum verletzten Finger hin präpariert. Dabei werden die oberflächlich gelegenen Hautvenen ligiert und durchtrennt. Die Präparation erfolgt in der lockeren Bindegewebsschicht über dem Peritendineum der Streckaponeurose bis zu der dem verletzten Finger zugewandten mediolateralen Linie hin. Eine Verlängerung des Hautstieles kann durch zusätzliche Durchtrennung des Cleland-Bandes erreicht werden, wodurch eine Kompression der Hautlappenbasis nach der Wendung vermieden werden kann. Die Hautbrücke muss so lang gewählt werden, dass nach Abschluss der Operation einige Millimeter Spielraum zwischen beiden benachbarten Fingern bleiben. Anschließend wird der gehobene Hautlappen an seinem Hautstiel um 180° gewendet und auf die palmare Seite des verletzten Fingers verlagert (⊡ Abb. 38.24d,e). Nach Öffnen der Blutleere wird die Lappendurchblutung kontrolliert, eine subtile Blutstillung durchgeführt und der Lappen spannungsfrei eingenäht. Es ist ratsam, die beiden Finger zusätzlich mit zwei festen Nähten jeweils neben dem Hautstiel gegeneinander zu fixieren, um so jegliche Spannung auf den Lappen zu vermeiden. Der Hebedefekt und der nicht defektdeckende Lappenanteil sollten aus kosmetischen Gründen möglichst mit einem Vollhauttransplantat, welches mithilfe eines Überknüpfverbandes an den Defektgrund fixiert wird, verschlossen werden (⊡ Abb. 38.24f–h). Bei der Anlage des Verbandes ist darauf zu achten, dass zwischen die beiden fixierten Finger Mullkompressen gelegt werden, um ein Aufweichen der Haut und damit die Gefahr einer Infektion zu vermeiden. Nach initialer Ruhigstellung auf einer palmaren 2-Finger-Gipsschiene wird mit krankengymnastischer Begleittherapie zur Vermeidung von Gelenkeinsteifungen ab dem 4.–6. postoperativen Tag begonnen (⊡ Abb. 38.24i). Nach 2–3 Wochen kann der Lappenstiel in Lokalanästhesie und Fingerblutleere durchtrennt werden. Die Wunde am Stiel wird an beiden Fingern im Bereich der Mediolaterallinie locker verschlossen. Postoperativ muss eine ausgedehnte krankengymnastische Behandlung erfolgen. Nach komplettem Wundschluss sollte mit einer standardisierten Narbentherapie begonnen werden (⊡ Abb. 38.24j–l). Zur sensiblen Wiederherstellung einer Fingerkuppe kann durch Präparation des R. dorsalis des N. digitalis palmaris proprius auf der dem verletzten Finger abgewandten Seite des Spenderfingers und anschließendem mikrochirurgischem Anschluss an den Stumpf des N. digitalis palmaris proprius im Defekt eine Reinnervation erreicht werden. Als Entnahmestelle eignet sich nur die dorsale Haut im Bereich der Mittelphalanx. Durch eine schräge Inzision proximal der proximalen Lappenecke wird zunächst der nach dorsal abgehende Nervenast der defektabgewandten Seite dargestellt. In der Technik nach Joshi kann der R. dorsalis
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⊡ Abb. 38.24 Deckung eines palmaren Zone-3-Defektes mithilfe einer dorsalen Cross-Finger-Lappenplastik nach Cronin vom Mittelfingermittelglied. a Klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von palmar, b klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von lateral, c klinischer Aspekt intraoperativ: Planung der Lappenplastik unter Beachtung der funktionellen Einheiten im dorsalen Fingerbereich, d klinischer Aspekt: Hebung der dorsalen Cross-Finger-Lappenplastik, e Schema: Hebung der dorsalen Cross-Finger-Lappenplastik, f Klinischer Aspekt: Deckung des Spenderdefektes mit einem Vollhauttransplantat, welches mithilfe eines Überknüpfverbandes fixiert und an den Defektgrund angedrückt wird, g klinischer Aspekt: Zustand am Ende der Operation, h Schema: Zustand am Ende der Operation, i klinischer Aspekt 5 Tage postoperativ, j klinischer Aspekt 1 Monat postoperativ: Ansicht von dorsal, k klinischer Aspekt 1 Monat postoperativ: Ansicht von palmar, l klinischer Aspekt 1 Monat postoperativ: Ansicht von lateral. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006 [e, h])
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⊡ Abb. 38.25 Deckung eines palmaren Zone-4-Endglieddefektes mithilfe einer mikrochirurgisch resensibilisierten Cross-Finger-Lappenplastik nach Berger und Meissl. a Präoperativer Zustand am Ringfinger, Lappenplanung und -hebung am Mittelfinger, b Einnähung des Lappens und mikrochirurgische Nervenkoaptation an der vom Spendergebiet abgewandten Seite. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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nach intrafaszikulärer Neurolyse entweder in der 1. oder in der 2 Operation transponiert werden. Der R. dorsalis wird bis zum mittleren Grundglied präpariert und proximal unter Bildung eines 15–20 mm langen Nervenstieles durchtrennt (⊡ Abb. 38.25a). Die weitere Lappenhebung entspricht der oben beschriebenen Technik. Das distale Ende des in den Kuppendefekt verlaufenden Fingernervs wird durch einen Mediolateralschnitt dargestellt und zur Nervennaht vorbereitet. Nach Verschluss des Hebedefektes mit einem Hauttransplantat wird die Cross-Finger-Lappenplastik im Defekt fixiert und der sensible Anschluss an den Digitalnerv in mikrochirurgischer Technik durchgeführt. Danach wird der Hautlappen vollständig spannungsfrei eingenäht (⊡ Abb. 38.25b). Zum Schutz der mikrochirurgischen Nervennaht müssen beide Finger für 10 Tage in Funktionsstellung ruhiggestellt werden. Die weitere Behandlung erfolgt nach den oben genannten Richtlinien. Da die nervale Anastomose auf der dem Lappenstiel entgegengesetzten Seite zu liegen kommt, kann sie bei der sekundären Lappendurchtrennung nicht geschädigt werden. Die desepidermialisierte Reverse-Cross-Finger-Lappenplastik nach Pakiam in Kombination mit einem Spalthauttransplantation eignet sich zur Deckung von dorsalen Defekten der Finger, insbesondere der Mittelphalanx. Sie unterscheidet sich von der konventionellen Cross-Finger-Lappenplastik dadurch, dass lediglich das subkutane Gewebe auf den Nachbarfinger verlagert wird. Dort dient das Transplantat zur Lagerverbesserung. Dies ermöglicht eine Hauttransplantation in der Defektregion (»Carrier-Funktion«). Bei der Lappenplanung sind die funktionellen Einheiten der dorsalen Fingerhaut zu beachten, da das subkutane Gewebe im Gelenkbereich für eine schichtweise Präparation meist zu dünn ist. Der
oberflächliche Hautschnitt erfolgt auf der defektzugewandten Seite. Die Lappenplastik sollte 3–4 mm größer sein als der Defekt. Unter Lupenbrillenvergrößerung wird zunächst ein reiner Dermislappen, von der Seite des verletzten Fingers beginnend, bis zur Mediolaterallinie der entgegengesetzten Fingerseite präpariert. Von dieser Seite ausgehend, wird anschließend nach proximaler und distaler Ligatur von Venen der Subkutislappen, die eigentliche Lappenplastik, von der defektabgewandten auf die defektzugewandte Seite hin präpariert. So entstehen ein Haut- und ein Subkutislappen, die zwei türflügelähnliche Scharniere auf den jeweils entgegengesetzten Seiten des Spenderfingers haben (⊡ Abb. 38.26a). Nach Lappenschwenkung in das Defektgebiet wird die Spenderstelle durch den Dermislappen verschlossen und im Empfängergebiet ein Vollhauttransplantat eingenäht; ⊡ Abb. 38.26b). Die Durchtrennung des Lappenstieles kann aufgrund der schnellen Revaskularisation im Empfängergebiet bereits nach 12 Tagen durchgeführt werden. Die weitere Nachbehandlung entspricht der oben genannten. 38.2.8 Versorgung des subungualen Hämatoms Je nach Größe der applizierten Kraft und der Einwirkungsfläche durch stumpfe oder spitze Gegenstände entsteht durch Quetschung des Nagelbettes ein subunguales Hämatom unterschiedlicher Ausdehnung und ggf. eine Fraktur der darunter liegenden Endphalanx. Das therapeutische Vorgehen richtet sich nach der Ausdehnung des Hämatoms: Bei einem kleinen, umschriebenen, schmerzlosen subungualen Hämatom kann konservativ vorgegangen werden. Durch die
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a
⊡ Abb. 38.26 Desepidermialisierte ReverseCross-Finger-Lappenplastik nach Pakiam. a Zustand nach Débridement eines dorsalen Defektes am Mittelfinger und Präparation eines defektabgewandten Dermislappens sowie eines defektzugewandten Subkutislappens am Ringfingeram, b postoperativer Aspekt nach Einnähung des Cross-FingerLappens und Deckung mit einem Vollhauttransplantat sowie primärem Defektverschluss im Spendergebiet. (Aus Weinberg u. Tscherne 2006)
b
basale Nagelbildung aus dem Bereich der sterilen Matrix wird das Hämatom in den Nagel inkorporiert und wächst, ohne Narben zu hinterlassen, mit dem Nagel nach distal. Kleinere, schmerzende subunguale Hämatome werden durch ein Loch in der Nagelplatte, das mit einer erhitzten Büroklammer ohne Lokalanästhesie gemacht werden kann, evakuiert (⊡ Abb. 38.27). Bei einer Ausdehnung des Hämatoms von mehr als 25–50% der sichtbaren Nagelbettfläche muss von einer bedeutenden Schädigung des Nagelbettes ausgegangen und der Nagel in Fingerblutleere und Lokalanästhesie extrahiert werden. Nach anatomischer Rekonstruktion des Nagelbettes wird der gereinigte Nagel als externe Schienung wieder aufgesetzt und fixiert. Bei der Säuberung der Nagelunterfläche sollen zum Erhalt der Möglichkeit einer Reimplantation lediglich die noch anhaftenden Reste von Nagelbettgewebe atraumatisch entfernt werden. Auf keinen Fall ist die oberflächliche Riffelung des Nagelbettes durch Abschaben mit dem Skalpell zu entfernen, da dadurch das Anwachsen des Nagels wesentlich beeinträchtigt, wenn nicht unmöglich gemacht wird. Nach Anlage eines Loches in der Nagelplatte, das den freien Ablauf von Blut oder Gewebeflüssigkeit erlaubt, erfolgt die Reposition des Nagels mit anschließender Fixierung. Diese kann entweder über eine dorsale U-Naht und/oder über eine transversale Naht erfolgen. Durch den erhaltenen oder refixierten Nagel wird eine zusätzlich bestehende Endphalanxfraktur ausreichend stabilisiert. Eine Ruhigstellung des Fingers ist nur für kurze Zeit notwendig. Vordringlichstes Ziel ist eine intensive Desensibilisierungstherapie zur Vermeidung einer chronisch schmerzhaften Fingerkuppe (⊡ Abb. 38.28). 38.2.9 Versorgung glattrandiger
Schnittverletzungen im Nagelbereich Lokale glattrandige Schnittverletzungen bis in den Nagelbettbereich mit adhärentem Nagel an beiden Wundrändern erfordern keine Nagelextraktion mit Rekonstruktion des Nagelbettes und
⊡ Abb. 38.27 Entlastung eines kleinen schmerzenden subungualen Hämatoms mithilfe einer erhitzten Büroklammer
a
b
⊡ Abb. 38.28 Trepanation und Reinsertion der Nagelplatte in der Technik nach Iselin. a In den nach atraumatischer Ablösung gereinigten Fingernagel wird mit einem Skalpell 11 ein etwa 2 mm² großes Loch zum adäquaten Hämatomabfluss geschnitten. Der Nagel wird mit einem 5/0 nicht resorbierbaren Faden in transversaler Richtung fixiert und so leicht auf das Nagelbett gedrückt. b Die Trepanation verhindert die Ansammlung von Blut und Serum unterhalb der Nagelplatte. Innerhalb von 3 Wochen ist der Nagel in den meisten Fällen wieder auf der sterilen Matrix fest angeheilt. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
⊡ Abb. 38.29 Mikrochirurgische Rekonstruktion der sterilen Matrix mit Lupenbrillenvergrößerung und feinem (6/0–8/0) Nahtmaterial. a Präoperativer Zustand, b postoperatives Ergebnis: Der Defekt soll mit so wenig Nahtmaterial wie möglich »koaptiert« werden, um möglichst wenig Narbengewebe und somit Verlust der Nageladhärenz zu verursachen. c Zustand nach Reposition des trepanierten Nagels. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
a
b
c
⊡ Abb. 38.30 Ausriss des Nagelbettes aus der Nagelwurzel durch starke Quetschung. a Präoperativer Zustand, b Refixation des Nagelbettes beidseits unter dem Nagelwall und unter der Nagelwurzel. Zur Fixierung im Bereich der Nagelwurzel wird ein radiärer Entlastungsschnitt durchgeführt. c Zustand nach Reposition des trepanierten Nagels. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
a
b
c
anschließender Reposition und Retention des extrahierten Nagels. In diesen Fällen ist ein Steristrip-Verband ausreichend. Bei Schnittverletzungen mit fehlender Adhärenz des Nagels an die ganze Breite des Nagelbettes oder an die Wundränder ist eine anatomische Rekonstruktion des Nagelbettes indiziert. > Die Rekonstruktion des Nagelbettes erfolgt mit resorbierbarem Nahtmaterial (Vicryl 6/0–8/0) unter Lupenbrillenvergrößerung. Die meisten Fehler werden durch inadäquate Operationstechnik und zu grobes Nahtmaterial verursacht.
Besteht außerdem eine Fraktur der Endphalanx, so kann eine zusätzliche Nagelsynthese nach Foucher durchgeführt werden (⊡ Abb. 38.29) Die Rekonstruktion des medialen und lateralen Nagelfalzes sowie der hinteren Nageltasche muss ebenfalls mit größter Sorgfalt durchgeführt werden. Zur Versorgung von Läsionen im distalen und basalen Nageltaschenbereich hat sich die Bildung eines dorsalen Nagelwalllappens durch zwei senkrecht auf das Eponychium zulaufende Inzisionen bewährt. Nach Versorgung dieser Strukturen muss ein schichtweiser anatomischer Wundverschluss erfolgen (⊡ Abb. 38.30). 38.2.10 Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard Die Operation erfolgt in Rückenlage, Finger- bzw. Zehenblutleere und Lokalanästhesie. Bei Kindern sollte einer Vollnarkose der Vorrang gegeben werden. In Abhängigkeit von Defektgröße und -ausdehnung im Bereich des verletzten Fingers kommen mehrere Spendergebiete in Betracht: Bei kleinen Defekten kann ein dünnes Nagelbetttransplantat nach Versorgung des Nagelbettes vom verletzten Nagelbett selbst
gehoben werden (⊡ Abb. 38.31a). Bei größeren Nagelbettdefekten und/oder nicht ausreichender Fläche an nicht geschädigtem Nagelbettgewebe desselben Fingers lässt sich ein ausreichend großes Transplantat aus dem Bereich der Großzehe nach kompletter oder partieller Nagelextraktion gewinnen. Im Falle polydigitaler Schädigung kann man auch auf das Nagelbett eines nicht mehr zu erhaltenden Fingers als Spendergebiet zurückgreifen. Wegen der postoperativen Schrumpfungsneigung, die nicht so stark ausgeprägt ist wie nach einer Spalthauttransplantation, muss das Transplantat gering überdimensioniert angezeichnet werden. Die Transplantathebung erfolgt mit dem Skalpell bei tangentialer Schnittführung unter der Lupenbrille oder unter dem Operationsmikroskop. Die Klinge muss dabei immer durch das durchscheinende Nagelbettgewebe beobachtet werden, auf dessen Transparenzänderungen während der Entnahme sich die Kontrolle der Transplantatdicke ausschließlich stützen kann. Anschließend wird das Transplantat in das Empfängergebiet gebracht und mit möglichst wenig Einzelknopfnähten »koaptiert«; ⊡ Abb. 38.31b). Seine Stabilisierung erfolgt entweder durch Reposition und Refixierung des autochthonen Nagels selbst, des Nagels von einem anderen Finger bei polydigitaler Schädigung, einer Silikonplatte, von sterilen Kunstnägeln oder einer Fettgaze. Der Nagel oder sein Äquivalent muss tief in die Nageltasche geschoben werden, damit es nicht durch Verklebungen von palmaren und dorsalen Matrixanteilen zur Ausbildung von Nageldeformitäten (z. B. Spaltnagel) kommt, die sekundär nur schwer zu behandeln sind. Bei schlechten Lagerverhältnissen lässt sich die Einwachsrate kleiner Transplantate dadurch verbessern, dass im Rahmen eines zweizeitigen Verfahrens nach Abfräsen der Knochenoberfläche die Bildung von Granulationsgewebe gefördert wird. Nach Öffnen der Blutleere erfolgt eine subtile Blutstillung
1051 38.2 · Spezielle Techniken
a
b
⊡ Abb. 38.32 Vollnagelbetttransplantation nach Saito. a Transplantatentnahme von der Großzehe, b Transplantatfixierung im Fingerbereich a
b
⊡ Abb. 38.31 Spaltnagelbetttransplantation nach Shepard vom verletzen Finger. a Transplantatentnahme, b Transplantatfixierung
durch externe Kompression. Um eine weitere Matrixschädigung zu vermeiden, dürfen nur größere Gefäßstümpfe punktuell mit der bipolaren mikrochirurgischen Koagulationspinzette gestillt werden. Postoperativ wird die Hand auf einer Unterarmschiene für 5–7 Tage ruhiggestellt. Die Sicherungsstiche für den Nagel werden nach 2–3 Wochen entfernt. Ein Schutz des transplantierten Nagelbettes ist so lange notwendig, bis eine adäquate Länge durch den nachwachsenden Nagel erreicht ist. 38.2.11 Vollnagelbetttransplantation nach Saito Zur Erhaltung der germinativen Funktion muss die gesamte Dicke des Nagelbettes gehoben werden. Als Spendergebiete kommen ein nicht mehr zu rekonstruierender Finger oder die laterale Seite der 1. und die mediale Seite der 2. Zehe in Frage. Bei der Entnahme aus dem Fußzehenbereich ist daran zu denken, dass hier das Nagelwachstum etwa 4-mal so langsam erfolgt wie im Handbereich. Nach Extraktion des Nagels und nach Bildung eines dorsalen Lappens im Bereich der Nageltasche wird zuerst ein Transplantat in exakt gleicher Größe wie der Defekt angezeichnet. Anschließend kann das Nagelbetttransplantat über zwei Inzisionen entnommen werden (⊡ Abb. 38.32a). Nach subtiler Kürettage im Zehenbereich zur sicheren Entfernung verbliebener versprengter Matrixnester wird die Blutleere geöffnet und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Für den Defektverschluss wird wie bei einer Emmert-Plastik vorgegangen. Bei der Verpflanzung muss die Orientierung des Transplantats exakt eingehalten werden. Die Fixierung erfolgt entweder mithilfe von Einzelknopfnähten oder durch Nagelsynthese nach Foucher; ⊡ Abb. 38.32b). Postoperativ erfolgt die Ruhigstellung in einem Kompressen- bzw. Watte-Zehenverband. Um den Fuß bis zum Abschluss der Wundheilung nicht zu belasten, sollten Unterarmgehhilfen benützt werden. Die Fäden werden nach 14 Tagen entfernt. 38.2.12 Komplette Mehrkomponenten-Nagel-
transplantation nach McCash bzw. Soeda Nach Sheehan und McCash kann der gesamte Nagelkomplex als Mehrkomponenten-Lappenplastik übertragen werden. Als Spendergebiet wird für den Daumen die Großzehe und für die Finger
⊡ Abb. 38.33 Komplette Mehrkomponenten-Nageltransplantation nach McCash bzw. Soeda vom Mittelfinger auf den Daumen nach dem Gewebebankkonzept nach Chase
die 2. Zehe verwendet. Um den Nagelkomplex wird ein dorsaler zirkulärer Schnitt lateral, distal und dorsal etwa 2–3 mm neben dem Nagelfalz des Zehennagels bzw. dorsal des proximalen Endes der Nageltasche gelegt. Zur Verkleinerung der zu neovaskularisierenden Gewebemasse sollte möglichst nur das Nagelbett ohne darunter liegendes Bindegewebe gehoben werden. Unter Schonung des Strecksehnenansatzes und der Gelenkkapsel wird das Mehrkomponententransplantat in der Schicht oberhalb vom Periost von proximal nach distal abpräpariert. Der Spenderdefekt im Fußbereich wird mit einem Vollhauttransplantat gedeckt, das mit einem übergeknüpften Verband fixiert wird. Der weitere postoperative Verlauf entspricht dem in Abschn. 38.2.10 genannten. Wenn die Wundverhältnisse es zulassen, sollte der übergeknüpfte Verband frühestens nach 5–7 Tagen entfernt werden. Nach Vorbereitung des Empfängerlagers wird das Transplantat in den Fingerbereich eingebracht. In der Technik nach Sheehan bzw. McCash wird das Mehrkomponententransplantat mit Einzelknopfnähten fixiert und ein übergeknüpfter Verband angelegt (⊡ Abb. 38.33). In der Modifikation nach Soeda wird der proximale Nagelwall des Zehennageltransplantats nach subtiler Desepidermialisierung unter die dorsale Fingerhaut geschoben und dann – wie oben beschrieben – fixiert. Auf die Gefahr der Entstehung von Epithelzysten wird ausdrücklich hingewiesen. Da die Zehen ein kürzeres Nagelbett als die Finger aufweisen, kann eine zusätzliche Transplantation eines freien Spaltnagelbetttransplantats von einer weiteren Zehe durchgeführt
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
werden. Nach Öffnen der Blutleere erfolgt eine subtile Blutstillung und Ruhigstellung der Hand auf einer palmaren Unterarmschiene mit Fingereinschluss (MP-Gelenke >45°) für 10 Tage. Wenn die Wundverhältnisse es zulassen, sollte der übergeknüpfte Verband erst nach 5–10 Tagen entfernt werden. 38.2.13 Freie Helixplastik nach Rose zur
Rekonstruktion des dorsalen Nagelwalls Die Operation erfolgt in Rückenlage und Vollnarkose. Die Operation beginnt mit der Vorbereitung des Empfängergebietes (⊡ Abb. 38.34a). Das Narbengewebe im Bereich der germinativen und sterilen Matrix wird exzidiert und das Nagelbett mithilfe einer Nagelbetttranspositionsplastik nach Shepard koaptiert (⊡ Abb. 38.34b). Nach Vorbereitung des Empfängergebietes wird nun zur Rekonstruktion des dorsalen Nagelwalls ein etwas größeres Haut-Knorpel-Haut-Composite-Transplantat aus dem Bereich der Helix gehoben (⊡ Abb. 38.34c). Der Spenderdefekt kann primär verschlossen werden und ergibt ausgezeichnete ästhetische Ergebnisse. Der Haut-Knorpel-Haut-Composite-Graft wird nun in den Defekt eingenäht (⊡ Abb. 38.34d). Postoperativ wird die Hand auf einer Unterarmschiene für 5–7 Tage ruhiggestellt.
dem Exzisionsgebiet entfernt wird, da ansonsten ein »Rezidiv« entstehen wird. Nach Öffnen der Blutsperre erfolgt am besten eine Wundkompression mit einer Kompresse für einige Minuten. In Abhängigkeit von der Ausdehnung der Entzündung und den Gewohnheiten des Operateurs kann der Übergang von lateralen zu dorsalem Nagelwall mit einer Naht verschlossen werden. Die restliche Wunde im Bereich des lateralen Nagelwalls bleibt offen. Die Wundheilung erfolgt mithilfe der aktiv geführten sekundären Wundheilung. Der erste Verbandswechsel, der meist stark durchbluteten, verklebten Kompresse sollte am Tag nach der Operation durchgeführt werden. Der Verband solle vorsichtig abgebadet
38.2.14 Emmert-Plastik zur Wiederherstellung
des lateralen Nagelwalls a
38
Zur Rekonstruktion des lateralen Nagelwalls hat sich die EmmertPlastik bewährt. Die gleiche Schnittführung sollte auch bei der Therapie von Paronychien im Bereich des lateralen Nagelwalls angewendet werden (⊡ Abb. 38.35). Die Operation erfolgt in Rückenlage und Lokalanästhesie. Der Arm ist auf einem Armtisch ausgelagert. Eine Fingerblutleere wird angelegt. Das Operationsprinzip besteht in der Entfernung eines Gewebekeils bestehend aus dem lateralen Nagelkomplex und dem lateralen Nagelwall. Es ist wichtig, den Exzisionskeil bis über den proximalen Rand der germinativen Matrix zu planen. Bei der Exzision ist darauf zu achten, dass das gesamte Matrixmaterial aus
a
b
b ⊡ Abb. 38.35 Emmert-Plastik zur Wiederherstellung des lateralen Nagelwalls. a Präoperativer Befund und Planung der keilförmigen Exzision von Anteilen des lateralen Nagelwalls und des lateralen Nagelkomplexes, b Situs nach Exzision des Gewebekeils. (Aus Strube u. Wasserscheid 1990)
c
d
⊡ Abb. 38.34 Freie Helixplastik nach Rose zur Rekonstruktion des dorsalen Nagelwalls. a Präoperativer Zustand, b Zustand nach Exzision des Narbenfeldes und Abmessung der Defektgröße, c Anzeichnung des Haut-Knorpel-Haut-Composite-Graft im Bereich der Helix, d Zustand nach Nagelbettrekonstruktion und Einnähen des Composite Graft im Bereich des dorsalen Nagelwalls
1053 38.2 · Spezielle Techniken
werden. Weitere Verbandswechsel erfolgen in 2- bis 3-tägigem Intervall bis zur 2. Woche. Fäden sollten frühzeitig (7.–10. Tag) entfernt werden. Die Hand ist spätestens nach etwa 3 Wochen gebrauchsfähig. Der Nagelfalz regeneriert sich im Laufe von etwa 2–3 Monaten. 38.2.15 Nagelbetttranslationslappenplastik
nach Shepard Die Operation erfolgt in Rückenlage, Fingerblutleere und Lokalanästhesie. Bei den gestielten Nagelbetttranslationslappenplastiken handelt es sich um Lappenplastiken ohne definierte Gefäßversorgung (»random pattern flap«) mit direktem Kontakt zu dem zu deckenden Defekt. Wegen der außerordentlich guten Nagelbettdurchblutung kann das Längen-Breiten-Verhältnis größer als 2:1 gewählt werden. Die Nagelbettlappenplastiken können proximal, distal oder bipedikulär gestielt konzipiert werden. Das Prinzip dieser Lappenplastik besteht in der Deckung eines ersatzunfähigen Defektgebietes mithilfe von gut vaskularisiertem lokalem Gewebe unter Schaffung eines ersatzstarken Spenderdefektes, der seinerseits bei Bedarf zuverlässig mit einem Nagelbetttransplantat aus dem Großzehenbereich ( Abschn. 38.2.10; ⊡ Abb. 38.36a,b). Zur Deckung des Spenderdefektes wird für den sterilen Matrixbereich ein dünnes Nagelbetttransplantat, für den germinativen Matrixbereich ein Nagelbetttransplantat in voller Dicke entnommen. Die Hebung eines dicken Nagelbetttransplantats erfolgt am lateralen Großzehenrand. Das operative Vorgehen ähnelt jenem der Emmert-Plastik. Eine Schienung des rekonstruierten Nagelbettes ist immer notwendig, wozu sich der autochthone Nagel am besten eignet. Bei polydigitaler Schädigung kann alternativ dazu ein Nagel von einem anderen Finger, bei polydigitaler Verletzung eine Silikonplatte, ein steriler Kunstnagel oder Fettgaze verwendet werden. Um einem möglichen Sekretfluss freien Ablauf zu gewähren, muss ein ausreichend großes Loch im Nagel vorhanden sein. Nach Öffnen der Blutleere erfolgt eine subtile Blutstillung meist durch längeren externen Druck. Um eine weitere Matrixschädigung zu vermeiden, werden größere Gefäßstümpfe unter Verwendung ei-
nes Mikrochirurgieaufsatzes punktuell mit der bipolaren Koagulation verschlossen. Postoperativ erfolgt die Ruhigstellung auf einer palmaren 2-Finger-Unterarmschiene für etwa 10 Tage. Die Schienung des rekonstruierten Nagelbettes muss so lange gewährleistet sein, bis eine ausreichende Nagellänge erreicht ist. Auf der Dorsalseite der Endphalanx kann parallel zur Achse des lateralen Nagelfalzes ein proximal gestielter Lappen gehoben werden, der über die laterale Nagelfalzarterie versorgt wird – die dorsale komplette Translationsnagellappenplastik vom »Axialpattern«-Typ nach Schernberg und Ameil. Nach Resektion des Narbengewebes vom distalen Nagelbett bis proximal des Nagelwalls wird der Lappen, der den lateralen Nagelbettrest, den Nagelwall und 2–3 mm der lateralen Fingerhaut beinhalten sollte, von der Rückfläche der Endphalanx auf der Seite mit dem schmäleren Nagelbettanteil angezeichnet. Um die Blutversorgung über die dorsalen Äste aus dem Mittelphalanxbereich nicht zu unterbrechen, darf die Lappenbasis den Gelenkspalt proximal nicht überschreiten. Nach subperiostaler Präparation wird der gesamte Lappen in den Defekt eingedreht, die Lappenränder werden mit resorbierbarem 6/0-Nahtmaterial möglichst genau adaptiert. Zur zusätzlichen Schienung werden die beiden Nagelanteile durch 2–3 Einzelknopfnähte aneinander fixiert. 38.2.16 Freie mikrovaskuläre osteokutane
Nagelkomplexlappenplastik nach Koshima aus dem Bereich der Großzehe Operationsvorbereitung operative Schritte der Präparation und postoperatives Management entsprechen jenen bei dem modifizierten Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen ( Abschn. 39.2.4). Bei der Lappenplanung ergeben sich jedoch einige Unterschiede. Prinzipiell sollte immer ein Stück der Endphalanx (kraniale Lamelle) mit dem Nagelkomplex gehoben werden. Dies verhindert akzidentelle Schädigungen und verhindert auch eine postoperative Krallennagelbildung aufgrund mangelnder Abstützung. Da der Nagel im Großzehenbereich meist breiter ist als im Daumen und Fingerbereich, muss die Nagelbreite angepasst
Spalt-NagelbettTransplantat
a
b
⊡ Abb. 38.36 Nagelbetttranslationslappenplastik nach Shepard. a Präoperativer Zustand und Lappenplanung, b Zustand nach Transposition der Nagelbettplastik, Deckung des Hebedefektes mit einem freien Spaltnageltransplantat und Refixierung des Nagels. Die begleitende Fraktur der Endphalanx wurde mit einem axialen Kirschner-Draht gestellt
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Kapitel 38 · Rekonstruktion von palmaren und dorsalen Endglieddefekten (inklusive Nagel und Nagelbett)
werden. Hierfür sind zwei Methoden beschrieben: In der Methode nach Morrison erfolgt eine Resektion des tibialen Anteils des Nagelkomplexes. Im Bereich der Endphalanx erfolgt zu beiden Seiten eine Knochenresektion. In der Methode nach Foucher erfolgt keine Resektion des tibialen Anteils des Nagelkomplexes. Die Endphalanx wird etwa zu 50% auf der tibialen Seite reseziert. Durch die vermehrte Wölbung erscheint der Nagel schlanker ( Abschn. 40.2.4). 38.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen Abschn.35.3
Mit Ausnahme der reinen Hautverletzungen der Fingerkuppe besteht bei Endgliedverletzungen immer ein palmarer Defekt des Pulpa-Weichteil-Systems und ein dorsaler Defekt des Nagelkomplexes, die beide analysiert und therapiert werden müssen.
Bei der operativen Therapie liegt der häufigste Fehler in der inadäquaten Planung der zu deckenden Defektgröße. Der zu deckende Defekt darf nicht nur zweidimensional betrachtet werden. Bei Lappenplastiken muss zusätzlich die Lappendicke noch eingerechnet werden, will man nicht einen zu kleinen Lappen heben ( Abschn. 35.3) Einen in Länge, Form und Funktion normalen Nagel primär wiederherzustellen, ist nur möglich, wenn alle Elemente des Nagelkomplexes ( Abschn. 38.1.1) möglichst anatomisch rekonstruiert werden können. Sekundäre Nagelveränderungen nach Traumata sind häufig durch eine nicht angemessene Primärversorgung bedingt. Die größte Komplikation der Endgliedverletzung stellt das »chronisch schmerzhafte Endglied« dar. Die postoperative Nachbehandlung mit Sensibilisierung und Desensibilisierung ist ein integraler Bestandteil der Behandlung, darf nicht vergessen werden und muss von den Krankenkassen gefordert werden.
> Primäre Therapieziele sind: 1. die adäquate Polsterung des verletzten Knochens mit sensiblem Weichgewebe, 2. die Schaffung einer schmerzfreien, sensiblen Kuppe, 3. Rekonstruktion und Abstützung des Nagelkomplexes zur Prävention einer Krallennagelbildung, 4. die Erhaltung einer möglichst großen Fingerlänge (Daumen > Finger).
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Von einer »inadäquaten Deckung« spricht man dann, wenn eines oder mehrere Therapieziele der Defektdeckung nicht erreicht werden. Obwohl Endglieddefekte nicht sehr spektakulär sind werden sie häufig unterschätzt und nur ungenügend behandelt, was volkswirtschaftlich große Kosten (Arbeitsunfähigkeit etc.) hervorruft. Fehler werden gemacht in der Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung. Bei jeder höherwertigen Endgliedverletzung sollte ein Röntgenbild in d. p. und seitlichem Strahlengang durchgeführt werden. Neben intrartikulären Frakturen sollte man vor allem nach Knochenfragmenten, die in Richtung Nagelbett zeigen, suchen. Nagelkranzfrakturen bedürfen keiner aktiven Therapie, müssen aber bei der notwendigen physiotherapeutischen Begleittherapie bedacht werden. Der häufigste Fehler liegt in der Unterschätzung des Defektes. Die exakte Klassifikation des vorliegenden Gewebeschadens stellt die Basis jeder erfolgreichen Defektdeckung dar. Die Entscheidung für eine konservative oder operative Therapie ist mithilfe einer standardisierten Patientenselektion ( Kap. 35) zuverlässiger zu treffen. Von zentraler Bedeutung ist das initiale adäquate Débridement. Ein ungenügendes Débridement führt zu einer zusätzlichen Gewebeschädigung durch sekundäre Infektion. Im Operationsgebiet müssen klinisch verletzungsfreie Weichteil- und Knochenverhältnisse vorliegen. Oft ist es erst intraoperativ möglich, das wirkliche Ausmaß des Gewebeschadens zu bestimmen. Man muss sich immer vor Augen halten, dass der klinisch sichtbare Gewebeschaden bei Erstversorgung meist kleiner ist als der tatsächlich vorliegende nach Demarkation einige Tage danach. Ist eine Stumpfversorgung notwendig, muss ein Endgliedstumpf mit ausreichender Weichteildeckung und Sensibilität erreicht werden. Eine inadäquate Nachkürzung der palmaren Nerven und ein Verschluss unter Spannung führen postoperativ zum inadäquaten Stumpf. Bei der sekundären Wundheilung handelt es sich um eine aktive Therapieform, deren Ablauf maßgeblich vom Arzt bestimmt wird. Passives Abwarten führt zu ungünstigen Ergebnissen.
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38
1057 38.3 · Weiterführende Literatur
Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen Reinhard Friedel
39.1
Allgemeines – 1058
39.1.1 39.1.2 39.1.3 39.1.4 39.1.5 39.1.6 39.1.7 39.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1059 Epidemiologie – 1063 Ätiologie – 1063 Diagnostik – 1063 Klassifikation – 1064 Indikationen und Differenzialtherapie – 1068 Therapie – 1073 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1081
39.2
Spezielle Techniken
39.2.1 39.2.2 39.2.3 39.2.4 39.2.5 39.2.6 39.2.7 39.2.8 39.2.9 39.2.10 39.2.11 39.2.12 39.2.13
Replantationen distal des Nagelwalls (distale Fingerreplantationen, Zone 1) – 1082 Replantationen distal des DIP-Gelenks (Zone 2) – 1083 Replantationen distal des MP-Gelenks (Zone 3) – 1084 Polydigitale Amputationsverletzungen und heterotope Replantation – 1085 Avulsionsamputation (Skelettierungs- oder Degloving-Amputationen) – 1086 Amputation in Zone 4 und 5 (Mittelhand und Handwurzel) – 1089 Amputation in Zone 6 (distal des Radiokarpalgelenks, Handreplantation) – 1091 Mehretagenamputationsverletzung – 1093 Bilaterale Amputationsverletzungen in Zone 6 – 1093 Technik der Stumpfbildung im Fingerbereich – 1093 Technik der Exartikulation im PIP-Gelenk – 1095 Technik der Exartikulation im MP-Gelenk – 1095 Gewebebankkonzept nach Chase (»spear part surgery) – 1095
– 1082
39.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1096
39.3.1
Vaskuläre Komplikationen – 1098
Weiterführende Literatur
– 1098
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
39
1058
Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
39.1
Allgemeines
Das Behandlungsergebnis einer komplexen Handverletzung oder Amputationsverletzung wird neben dem Verletzungsmuster in nicht unwesentlichem Maße durch eine adäquate Erstbehandlung und korrekte Indikationsstellung bestimmt. Unter komplexer Handverletzung verstehen wir die gleichzeitige Zerstörung mehrerer anatomischer und funktioneller Strukturen mit der Gefahr erheblicher Dauerschäden. Unter Replantation versteht man die Rekonstruktion von komplett amputierten Körperteilen. Der Begriff Revaskularisation wird für die Rekonstruktion inkompletter Amputationen verwendet. In diesem Falle sind noch Gewebebrücken mit Venen, Nerven oder Sehnen erhalten. Alle Amputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität distal des Radiokarpalgelenks werden als Mikroamputationsverletzungen bezeichnet. Makroamputationsverletzungen sind Amputationen proximal des Radiokarpalgelenks. An der unteren Extremität bildet das obere Sprunggelenk die Grenze zwischen Mikro- und Makroamputationsverletzungen. Vergütung von Mikroreplantationen im G-DRG-System Im Jahr 2007 wurden laut statistischem Bundesamt in Deutschland insgesamt 320 Daumenreplantationen, 770 Fingerreplantationen und 44 Replantationen der Hand und Mittelhand durchgeführt. Die Mittelhandreplantation gilt bei der Abrechnung bereits als Makroreplantation. Mikroamputationen sind also relativ häufige Operationen in Replantationszentren. Fingerreplantationen sind
komplexe chirurgische Eingriffe und stellen hohe Anforderungen an die postoperative Rehabilitation. Deshalb werden die spezifischen DRG (»diagnostic related groups«) X07A bzw. X07B für die Replantation entsprechend hoch vergütet. Der Code für die Prozedur 8-560.6 (Replantation eines Fingers) ist nur anzuwenden, wenn folgende 5 Teileingriffe einer Replantation im Sinne des OPS (Operationen- und Prozedurenschlüssel) nachgewiesen werden. ▬ 1 Osteosynthese bzw. Arthrodese, ▬ 2 Gefäßnähte, davon mindestens 1 Arterie, ▬ 1 Nervennaht und ▬ 1 Sehnennaht. Alternativ können auch 2 Arteriennähte ohne Venen (Endgliedreplantation) durchgeführt und als Replantation abgerechnet werden. Diese 5 durchgeführten Prozeduren sind also im Code enthalten. Eine Transplantation von Gefäßen (5-38, 5-39), Nerven (5.04, 5-05) oder Knochen (5-784) sowie die Deckung von Weichteildefekten (5-90) sind gesondert zu codieren. Wenn die Kriterien nicht vollständig erfüllt sind, ist eine OPSCodierung als Replantation (5-860.6 Replantation eines Fingers) nicht möglich. Die durchgeführten Einzeleingriffe sind separat zu codieren und führen zu einer anderen, deutlich geringer vergüteten DRG (z. B. X01B). Bei mindestens doppelter Angabe von 5-860.6 wird die DRG X07A (Replantation bei traumatischer Amputation, mit Replantation mehr als einem Finger) ermittelt. ⊡ Tab. 39.1 zeigt noch
⊡ Tab. 39.1 Codierung und Erlößsituation bei Einfingerreplantation, Zweifingerreplantation und komplexer Fingerverletzung
39
DRG
X07.B
Replantation bei traumatischer Amputation eines Fingers
Diagnose
S68.1
Amputation eines sonstigen Fingers
Prozedur
5-860.6
Replantation eines Fingers
Verweildauer
7 Tage
Grundpreis:
Ca. 6.187,09 €
DRG
X01.B
Rekonstruktive Operation bei Verletzungen ohne komplizierende Konstellation, ohne Eingriff an mehreren Lokalisationen, ohne freie Lappenplastik mit mikrovaskulärer Anastomosierung, mit komplizierender Diagnose, komplexer Prozedur oder äußerst schweren CC (»complication or comorbidity«)
Hauptdiagnose
S65.5
Verletzung eines Blutgefäßes Finger
Nebendiagnosen
S62.61 S64.4 S61.0
Fraktur eines sonstigen Fingers Grundphalanx Nervenverletzung eines Finger Offene Wunde eines Finger
Prozeduren:
5-795.3C 5-044.4 5-984
Offene Reposition eines Fingers durch Draht oder Zuggurtung bzw. Cerclage an Phalangen der Hand Epineurale Naht eines Nervs der Hand, primär Mikrochirurgische Technik
Verweildauer:
11 Tage
Grundpreis:
Ca. 4.439,09 €
DRG:
X07.A
Replantation bei traumatischer Amputation mehr als eines Fingers
Hauptdiagnose
S68.2
Traumatische Amputation von 2 oder mehr Fingern
Nebendiagnose
S62.62
Fraktur eines sonstigen Fingers der mittleren Phalanx
Prozeduren
5-860.6 5-860.6 5-846.4 5-900.09 5-984
Replantation eines Fingers Replantation eines Fingers Arthrodesen an Gelenken der Hand Einfache Widerherstellung an Haut und Unterhaut der Hand Mikrochirurgische Technik
Verweildauer
10 Tage
Grundpreis
Ca. 14.203,83 €
1059 39.1 · Allgemeines
einmal die notwendige Codierung einer Einfingerreplantation, Zweifingerreplantation und komplexen Fingerverletzung. Für die Replantation eines Fingers ist die Kalkulationsbasis DRG X07B ausreichend für eine sachgerechte Vergütung. Bei komplexen Fingerverletzungen und Replantationen von mehr als 2 Fingern sowie Makroreplantationen kann unter derzeitigen DRG-Bedingungen keine Kostendeckung erzielt werden. Die postoperativ abrechenbare »Komplexbehandlung Hand« kann bei komplexen Handverletzungen und aufwändigen Fingerreplantationen die Vergütung noch etwas verbessern. Erst ab einer Behandlungsdauer von 14 Tagen (8-988.2) kommt man in die DRG der komplexen Nachbehandlung, welche extra vergütet wird. Durch die »Komplexbehandlung Hand« kann eine Erlössteigerung (fallabhängig) von 2.500–4.000 € erzielt werden. 39.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Konzept der »Funktionskette obere Extremität« Die obere Extremität kann als eine Funktionskette angesehen werden, deren Glieder jeweils einen spezifischen Beitrag zu ihren Hauptfunktionen, Erhaltung des Körpergleichgewichts, Stütz-, Halte- und Greiffunktion, nonverbale Kommunikation und taktile Gnosis, beisteuern. Allgemein nimmt die Gesamtfunktion von proximal nach distal zu ( Kap. 2). Ein Verlust der gesamten oberen Extremität proximal des Glenohumeralgelenks oder mit nur sehr kurzem Oberarmstumpf führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80%. Die einfachste Greif- und Haltefunktion stellt die thorakohumerale Zange zwischen der lateralen Thoraxwand und der medialen Oberarmfläche dar. Die Zangenfunktion kann passiv oder aktiv sein. Bei der passiven Zangenfunktion erfolgt unter Ausnutzung der Schwerkraft die Öffnung durch ipsilaterale, der Zangenschluss durch kontralaterale Rumpfinklination. Für eine aktive Zangenöffnung ist eine freie Bewegung im skapulothorakalen Gleitspalt und eine Kontraktion der Mm. levator scapulae, rhomboidei, serratus anterior und trapezius (pars cranialis) notwendig, um ein aktiv (Kontraktion der Mm. teres major et subscapularis) oder passiv (Kapsulodese, Arthrodese) stabilisiertes Glenohumeralgelenk zu bewegen. Die aktive Abduktion im Glenohumeralgelenk wird primär durch den M. suprascapularis ausgeführt. Für eine aktive Adduktion im Schulterbereich benötigt man den M. pectoralis major (pars sternalis) und/oder den M. latissimus dorsi, wobei der lange Bizepskopf und der M. coracobrachialis als Hilfsmuskel fungieren. Die Amputation im Oberarm oder im Ellenbogengelenk führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 70%. Die isolierte Ellenbogenbeugung bei komplett gelähmter Unterarm- und Handmuskulatur führt zu einer signifikanten Funktionsverbesserung der gesamten Extremität, da es dem Patienten möglich wird, bimanuelle Tätigkeiten auszuführen. Durch Ablegen der gelähmten Hand auf einen Gegenstand im Sinne eines Pressmechanismus kann ein Objekt fixiert werden. Ist eine aktive Ellenbogenbeugung auf 90° möglich, kann eine Tablettfunktion ausgeführt werden. Bei einer aktiven Ellenbogenflexion von mehr als 90° ist eine Hakenfunktion möglich. So ist es durchaus sinnvoll, nach Replantation eines Unterarms in einem Zweiteingriff das zerstörte Ellenbogengelenk prothetisch zu ersetzen ( Kap. 40). Umgekehrt ist bei einer Etagenamputation des Ober- und Unterarms die Segmentreplantation des noch intakten Ellenbogengelenks eine für die spätere prothetische Versorgung sinnvolle Maßnahme (⊡ Abb. 39.24). Eine aktive Ellenbogenstreckung führt zu einer signifikanten Verbesserung der
Globalfunktion der Extremität, wenn eine aktive Schulterabduktion bzw. -flexion von mehr als 90° möglich ist. Eine Amputation im Unterarmbereich mit einer Stumpflänge von bis zu 7 cm führt zu einer MdE (Minderung der Erwerbstätigkeit) um 60%. Bei einer Unterarmstumpflänge über 7 cm beträgt die MdE 50%. Bei der Nutzung der Hand als mechanisches Werkzeug können »nicht greifende Aktionen« und »greifende Aktionen« unterschieden werden ( Kap. 2). Zu den »nicht greifenden Aktionen« zählt beispielsweise das Schieben oder Heben von Gegenständen. »Greifende Aktionen« können unterteilt werden in elementare, transiente und Präzisionsgreifformen. Die einfachste Ausprägung der »elementaren Greifformen« stellt der Hakengriff dar, der schon mit einem einzigen gebeugten Finger ausführbar ist. Der Daumen ist für diese Funktion nicht notwendig. Da ein Greifpartner fehlt, können Gegenstände weder in der Hand gehalten noch bewegt werden. Obwohl Sensibilität für die Greiffunktion eine wesentliche Verbesserung darstellt, ist sie keine zwingende Voraussetzung dafür. Neben der Handgelenk- und Fingerbeugung ist für jede höhere Greifform die passive (Tenodese) oder aktive Handgelenk- und Fingeröffnung notwendig. Je besser die Oppositionsfähigkeit des Daumens, desto präzisere Greifformen können durchgeführt werden. Um schließlich die Funktion der taktilen Gnosis zu erfüllen, ist eine möglichst normale Sensibilität im palmaren Fingerbereich notwendig. Eine Amputation der Hand führt zu einer MdE von 50%. Durch die erfolgreiche Replantation bzw. Revaskularisation kommt es zu einer Verminderung der MdE, wobei auch bei einem optimalen Ergebnis aufgrund der Einschränkung der Präzisionsgreifformen und der Sensibilität eine Mindest-MdE von 30% bestehen bleibt. > Ein Verlust der gesamten oberen Extremität proximal des Schultergelenks führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80%., woran die prothetische Versorgung auch nichts ändert. Die erfolgreiche Replantation kann die MdE bis auf 60% vermindern. Der einseitig amputierte Patient ist in der Lage, fast 90% aller Tätigkeiten des täglichen Lebens zu verrichten. Im Gegensatz dazu führt die bilaterale Amputation zu einem komplett auf fremde Hilfe angewiesenen Patienten.
Bedeutung der einzelnen Handabschnitte für die Globalfunktion der Hand Bei der Nutzung der Hand als mechanisches Werkzeug können greifende Aktionen und nicht greifende Aktionen unterschieden werden ( Kap. 2). Zu den nicht greifenden Aktionen zählen beispielsweise das Schieben oder Heben von Gegenständen. Greifende Aktionen können weiter unterteilt werden in elementare, transiente und Präzisionsgreifformen. Die Bedeutung der einzelnen Finger für die Funktion der Hand als Ganze ist unterschiedlich einzustufen (⊡ Abb. 39.1). Am wichtigsten für die Handfunktion ist der Daumen. Hier ist selbst bei Amputationen distal des Interphalangealgelenks eine Indikation zur Rekonstruktion zu erwägen. > Bei der Rekonstruktion des Daumens gilt der Grundsatz »Länge vor Beweglichkeit«, da er der einzige radialseitige Gegenspieler für die Finger ist.
Eine entscheidende Beeinträchtigung der Daumenfunktion und damit der globalen Handfunktion ergibt sich bei Amputationen proximal des IP-Gelenks. Die einzelnen Abschnitte der Finger, wie auch die Finger untereinander haben in Bezug auf Amputationsverletzungen eine unterschiedliche Wertigkeit (⊡ Abb. 39.1).
39
1060
Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
⊡ Abb. 39.1 Wertigkeit der einzelnen Abschnitte des Handskeletts bei Amputationen im Hinblick auf die »optimale Stumpfversorgung«. (Aus SchmitNeuerburg et al. 2001)
39 Die Basen der Phalangen stellen als Gelenkkörper funktionell besonders wichtige Strukturen dar und sollten daher, wenn möglich, immer erhalten bleiben. Die Basen der Endphalangen sind zudem Ansatz für Sehnen und tragen den Nagelbett-NagelKomplex. An den Basen der Mittelphalangen setzen die Sehnen der oberflächlichen Beuger an. Im Hinblick auf die verbleibende Beugekraft sollte die Amputationslinie daher nicht proximal des Ansatzes des FDS zu liegen kommen. Bei Amputationen proximal der Mittelgelenke kann der verbleibende Stumpf nur noch von den Binnenmuskeln der Hand und der langen Strecksehnen bewegt und bis 45° einigermaßen kräftig gebeugt werden. Die Basen der Grundphalangen haben überdiese wichtige Funktionen für den Erhalt der Kommissuren und verhindern damit Retraktion und Achsenabweichung der benachbarten Finger. Im Bereich des Metakarpus setzten wichtige Muskeln für die Handgelenkbewegung an. Bei der Resektion eines einzelnen Strahles sollte daher die Basis des Metakarpale möglichst belassen werden. Die Situation an den Fingern selbst muss im Einzelnen bewertet werden. Liegt die Amputationshöhe am Zeigefinger proximal des Endgliedes, so übertragen die meisten Patienten den Spitz- und Schlüsselgriff und das Auflesen kleinerer Gegenstände auf die intakte Mittelfingerspitze. Um eine problemlose Deckung mit verfügbaren Weichteilen zu erreichen, kann deshalb der Knochen so weit
wie nötig gekürzt werden. Der Mittelfinger ist bei einer Amputationsverletzung distal des Ansatzes der Sehne des FDS nur mehr für den Grobgriff einsetzbar. Bei Amputationen proximal dieses Sehnenansatzes nimmt der übrig gebliebene Stumpf jedoch nicht mehr an aktiven Beuge- und Streckbewegungen teil, sodass dessen Erhaltung verhindert, dass Gegenstände durch die Lücke fallen. Ring- und Kleinfinger werden in der Hauptsache für den Zangen- und Grobgriff benötigt, sodass ihre Länge möglichst erhalten bleiben sollte. Bei nicht handwerklich tätigen Patienten, vor allem bei Frauen, kann aus ästhetischer Indikation primär oder sekundär eine radiale oder ulnare Handverschmälerung durchgeführt werden. Bei Amputationen der zentralen Strahlen, also von Mittel- und Ringfinger in Höhe der Grundgelenke, entstehen funktionelle Probleme, sodass kleinere Gegenstände von Patienten nicht mehr sicher erfasst werden und durch die entstehende Lücke zwischen beiden Fingern aus der Hand fallen können. Deshalb sollte in diesen Fällen primär oder sekundär eine Strahlresektion mit plastischer Handverschmälerung und Strahltransposition erwogen werden. Im Bereich der randständigen Strahlen (D2, D5) sollte bei Handarbeitern zur Erhaltung einer möglichst großen Kraftentwicklung der betroffenen Hand das Metakarpaleköpfchen belassen werden. Da die Haut der Palmarseite der Hand eine bessere Sensibilität und größere mechanische Beanspruchbarkeit aufweist, sollte immer versucht werden, einen palmaren Hautlappen zu bilden und diesen nach dorsal zu schlagen. Besteht die Aussicht, das funktionelle Ergebnis der Operation zu verbessern, ist es durchaus gerechtfertigt, den Knochen weiter nach proximal zu kürzen, als es der Höhe des unverletzten Weichteilgewebes entspricht. Amputationsverletzungen im Fingerbereich müssen immer sehr individuell und abhängig vom Beruf und der aktuellen Lebenssituation des Patienten beurteilt werden. Der Wunsch vieler Patienten nach Wiederherstellung der körperlichen Unversehrtheit im Umfeld einer Dienstleistungs- und Mediengesellschaft hat dazu geführt, dass auch Fingerendglieder oder sogar Endgliedteile immer häufiger replantiert werden. Da nicht nur die Handästhetik davon profitiert, sondern aufgrund der guten Resensibilisierungschancen und des Fingernagelerhalts auch die Handfunktion, sollte die moderne Handchirurgie diese Herausforderung annehmen.
Replantatonsdienste und -zentren Die adäquate Versorgung von komplexen Handverletzungen und Amputationsverletzungen der oberen Extremität ist eine interdisziplinäre Aufgabe von Zentren mit entsprechenden personellen und organisatorischen Voraussetzungen. Heutzutage besteht die berechtigte Forderung, dass Replantationszentren auch Traumazentren sein sollten, da eine Vielzahl von Amputationsverletzungen mit Mehrfachverletzungen oder Polytraumen vergesellschaftet sind. Die von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Mikrochirurgie der peripheren Nerven und Gefäße (DAM) geforderte Zahl von 3 Fachärzten reicht meist nicht aus , um eine durchgehenden Bereitschaft auf Dauer zu ermöglichen, da in vielen deutschen Zentren die Ärzte den Dienst auf freiwilliger Basis zusätzlich zu anderen Diensten durchführen müssen. Aus unserer Sicht sind für den stabilen Erhalt eines Replantationszentrums mit großem Einzugsgebiet mindestens 5 Ärzte mit der Zusatzbezeichnung »Handchirurgie« oder in fortgeschrittener Weiterbehandlung erforderlich. Neben dem Vorhalten personeller Ressourcen ergeben sich organisatorische Probleme bezüglich des Zeitpunktes der Versorgung. Die Mehrzahl der Operationen (ca.60%) muss in der Zeit von 17.00 bis 6.00 Uhr und an den Wochenenden durchgeführt werden. Es wird somit zeitnahe OP-Kapazität für Langzeitoperationen außerhalb der Kernarbeitszeiten erforderlich, was von vielen Einrichtungen nicht immer realisiert werden kann.
1061 39.1 · Allgemeines
Nach komplexen Verletzungen und Replantationen an der oberen Extremität ist eine Reihe von Folgeeingriffen notwendig, die auch im erstversorgenden Zentrum durchgeführt werden sollten. Auf die enorme Bedeutung der Hand für die körperliche Integrität als komplexes Sinnesorgan muss in diesem Zusammenhang hingewiesen werden. Selbst der Verlust eines Fingerendgliedes kann eine dauerhafte psychische Beeinträchtigung zur Folge haben. Damit erfordert die Behandlung schwer handverletzter Patienten nicht nur vorzügliche operative Fertigkeiten, sondern auch Einfühlungsvermögen in die psychozozialen Aspekte der Verletzungsfolgen und eine oft lang dauernde Begleitung des Patienten bis zu dessen beruflicher und sozialer Integration ( Replantationsdienste und -zentren in Deutschland). Replantationsdienste und -zentren in Deutschland (Stand: 2010)
▬ Abteilung für Handchirurgie und wiederherstellende plasti-
▬
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▬ Bereich Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie
▬
▬
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Chirurgisches Zentrum Klinikum Augsburg Stenglinstr. 2 86156 Augsburg Tel.: 0821/400-2475/-2472 Klinik für Handchirurgie Herz- und Gefäßklinik Bad Neustadt (Saale) Salzburger Leite 1 97616 Bad Neustadt (Saale) Tel.: 09771/66-0 Abteilung für Hand-, Replantations- und Mikrochirurgie Unfallkrankenhaus Berlin Warener Str. 7 12683 Berlin Tel.: 030/5681-2323 Universitätsklinik für Plastische Chirurgie und Schwerbrandverletzte, Handchirurgiezentrum Berufsgenossenschaftliche Universitätsklinik Bergmannsheil Bürkle-de-la-CampPlatz 1 44789 Bochum Tel.: 0234/302-0 Zentrum für Hand- und Rekonstruktive Chirurgie Roland-Klinik Niedersachsendamm 72-74 28201 Bremen Tel.: 0421/8778-0 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Klinikum Dortmund Münsterstraße 240 44145 Dortmund Tel.: 0231/953-18009 Plastisch- und Handchirurgische Klinik Universitätsklinikum Erlangen Krankenhausstraße 12 91054 Erlangen Tel.: 09131/85-33296 Plastische, Rekonstruktive, Ästhetische und Handchirurgie Zentrum für Interdisziplinäre Rekonstruktive Chirurgie, Mikrochirurgie, Replantation, Körperformung, Narbentherapie und Verbrennung Universitätsklinikum Essen der Universität Duisburg-Essen 45147 Essen Hufelandstrasse 155 Tel.: +49(0)201/723-1339
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sche Chirurgie Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Friedberger Landstr. 430 60389 Frankfurt/M Tel.: 069/475-2033 Abteilung für Handchirurgie der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Klinikum Fulda Pacelliallee 4 36043 Fulda Tel.: 0661/84-6145 Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie Universitätsklinikum Giessen und Marburg Standort Giessen Rudolf-Buchheim-Straße 8 35392 Gießen Tel.: 0641/99-0 Klinik für Plastische und Handchirurgie Berufsgenossenschaftliche Kliniken Bergmannstrost Halle (Saale) Merseburger Str. 165 06112 Halle (Saale) Tel.: 0345/132-6271/-6488 Klinik für Plastische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Tel.: 0511/532-2052 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Jena Funktionsbereich Hand,- Plastische und Mikrochirurgie Erlanger Allee 101 07747 Jena Tel.: 03641/932-2050 Traumazentrum – Klinik für Plastische und Handchirurgie Klinikum St. Georg Delitzscher Str. 141 04129 Leipzig Tel.: 0341/909-3404 Klinik für Plastische, Ästhetische und Handchirurgie Klinikum Lippe-Lemgo Rintelner Str. 85 32657 Lemgo Tel.: 05261/26-0 Handchirurgie St. Bonifatius Hospital Wilhelmstr. 13 49808 Lingen Tel.: 0591/910-0 Klinik für Hand-, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie – Schwerbrandverletztenzentrum Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Ludwig-Guttmann-Str. 13 67071 Ludwigshafen Tel.: 0621/6810-0 Sektion Plastische und Handchirurgie und Intensiveinheit für Schwerbrandverletzte Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160 23538 Lübeck Tel.: 0451/500-0
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
▬ Klinik und Poliklinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie
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Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München Ismaninger Str. 22 81675 München Tel.: 089/4140-2105 Klinik für Plastische, Rekonstruktive, Hand- und Verbrennungschirurgie Klinikum Bogenhausen Englschalkinger Str. 77 81925 München Tel.: 089/9270-0 Zentrum für Handchirurgie, Mikrochirurgie und Plastische Chirurgie Orthopädische Klinik München-Harlaching Harlachinger Str. 51 81547 München Tel.: 089/6211-0 Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Universitätsklinikum Münster Waldeyerstr. 1 48149 Münster Tel.: 0251/83-56301 Plastische und Handchirurgie Ev. Krankenhaus Oldenburg Steinweg 13-17 26122 Oldenburg Tel.: 0441/236-356 Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie Marienhospital Osnabrück Bischofsstr. 1 49074 Osnabrück Tel.: 0541/326 – 0 Klinik für Plastische, Hand- und wiederherstellende Chirurgie Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Prüfeninger Str. 86 93049 Regensburg Tel.: 0941/369-3500 Zentrum für plastische Chirurgie – Klinik für Handchirurgie, Mikrochirurgie und rekonstruktive Brustchirurgie Marienhospital Stuttgart Boeheimstr. 37 70199 Stuttgart Tel.: 0711/6489-0 Klinik für Hand-, Plastische, Rekonstruktive und Verbrennungschirurgie Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Schnarrenbergstr. 95 72076 Tübingen Tel.: 07071/606-0 Handchirurgie Behandlungszentrum Vogtareuth Krankenhausstr. 20 83569 Vogtareuth Tel.: 08038/90-0 Abteilung für Unfallchirurgie Klinikum der Universität Regensburg Franz-Josef-Strauss-Allee 11 93053 Regensburg Tel.: 0941/944-6947
▬ Universitätsklinik für Plastische, Ästhetische und Hand-
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chirurgie Universitätsklinikum Magdeburg Leipziger Str. 44 39120 Magdeburg Tel.: 0391/67-15599 Klinik für Plastische, Ästhetische und Handchirurgie Klinikum Kassel Mönchebergstraße 41-43 34125 Kassel Tel.: 0561/3086451 Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Klinikum der Universität Würzburg Josef-Schneider-Str. 2 97080 Würzburg Tel.: 0931/201-1 Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie Diakoniekrankenhaus Rotenburg (Wümme) Elise-Averdiek-Str. 17 27356 Rotenburg/Wümme Tel.: 04261/776870 Klinik für Plastische und Handchirurgie Klinikum Hildesheim Weinberg 1 31134 Hildesheim Tel.: 05121/89-4856 Klinik für Plastische, Wiederherstellungs- und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie Klinikum Bielefeld Teutoburger Str. 50 33604 Bielefeld Tel.: 0521/581-3951 Klinik für Plastische, Hand- und Verbrennungschirurgie Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30 52074 Aachen Tel.: 0241/414-2446 Klinik für Plastische und Handchirurgie, Ästhetische und Rekonstruktive Chirurgie Helios Klinikum Wuppertal Heusnerstr. 40 42283 Wuppertal Tel.: 0202/896-1512/1515 Plastische, Hand- und rekonstruktive Mikrochirurgie Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Professor-Küntscher-Str. 8 82418 Murnau Tel.: 08841/48-2359 Klinik für Plastische, Wiederherstellende und Handchirurgie Klinikum Nürnberg Prof.-Ernst-Nathan-Str. 1 90419 Nürnberg Tel.: 0911/27280 Abteilung für Handchirurgie Malteser Krankenhaus Bonn Von-Hompesch-Str. 1
1063 39.1 · Allgemeines
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53123 Bonn Tel.: 0228/6481 – 0 Zentrum für Handchirurgie Universitätsklinikum Greifswald Ferdinand-Sauerbruch-Straße 17475 Greifswald Tel.: 03834/86-22500 Replantationszentrum KMG Kliniken Kyritz Perleberger Str. 31 16866 Kyritz Tel.: 033971/640 Abteilung für Plastische und Handchirurgie Universitätsklinikum Freiburg Hugstetter Strasse 55 79106 Freiburg Tel.: 0761/270-2401 Zentrum für Orthopädie und Unfallchirurgie Klinikum Saarbrücken Winterberg 1 66119 Saarbrücken Tel.: 0681/963-1919 Abteilung für Handchirurgie, Plastische Chirurgie und Brandverletzte Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Duisburg Großenbaumer Allee 250 47249 Duisburg Tel.: 0203/7688-1 Klinik für Plastische, Ästhetische und Handchirurgie Städtisches Klinikum Gütersloh Reckenberger Str. 19 33332 Gütersloh Tel.: 05241/83-00 Abteilung für Handchirurgie, Plastische Chirurgie und Mikrochirurgie Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus Hamburg Bergedorfer Str. 10 21033 Hamburg Tel.: 040/73062746 Klinik für Handchirurgie, Mikrochirurgie und Plastischeund Wiederherstellungschirurgie St. Barbara Klinik Hamm Am Heessener Wald 1 59075 Hamm
39.1.2 Epidemiologie Amputationsverletzungen der oberen Extremität ereignen sich am häufigsten bei Männern zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Es handelt sich also um aktive junge Patienten, welche durch die Verletzung sehr lange Arbeitsunfähigkeitszeiten bis hin zur Arbeitslosigkeit oder Berufsunfähigkeit hinnehmen müssen. Mikroamputationen zu Makroamputationen treten in einem Verhältnis von 14:1 auf. Die Amputationsverletzungen der oberen Extremität treten bei Männern 4- bis 5-mal häufiger auf als bei Frauen. In der Bundesrepublik Deutschland ereignen sich ca. 5.000 Amputationsverletzungen pro Jahr, wobei hier hauptsächlich die obere Extremität und
dabei insbesondere die Finger betroffen sind. Eine Seitenpräferenz besteht nicht. Bilaterale Makroamputationen kommen etwa in 10% der Makroamputationen vor. 39.1.3 Ätiologie Nahezu 90% aller Amputationen der oberen Extremität sind traumatisch bedingt (Arbeitsunfälle 53%, Verkehrsunfälle 18%, landwirtschaftliche Unfälle 15%, private Unfälle 10%). Diese Statistiken sind sehr gebietsabhängig und hängen u. a. von ortsansässigen Industriezweigen ab. So spielen z. B. im Thüringer Raum infolge zunehmender Verbreitung von Holzheizungen die Verletzungen durch holzbearbeitende Maschinen (Kreissägen, Kettensägen, Holzspaltmaschinen) eine dominante Rolle. Leider kommt es auch immer noch zur deutlichen Zunahme von schweren Ausrissverletzungen infolge unzureichender oder falsch verstandener Arbeitsschutzmaßnahmen. So sind in unserem Krankengut ca. 50% der Daumen- oder Fingerausrissverletzungen durch das Tragen von Arbeitshandschuhen bei der Bedienung von Maschinen mit rotierenden Werkzeugen bedingt (Bohrmaschinen, Drehmaschinen, Fräßmaschinen). 39.1.4 Diagnostik > Die präklinische Versorgung, alle diagnostischen Maßnahmen und der Transport in den Operationssaal müssen so schnell wie möglich erfolgen, um die Ischämiedauer des Amputats so gering wie möglich zu halten.
Die Diagnostik von komplexen Hand- und Amputationsverletzungen wird durch eine möglichst genaue Schadenserfassung bestimmt. Dabei sollte man sich beim Eintreffen des Patienten in der Klink auf keinen Fall nur auf die Aussagen des Notarztes verlassen. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass die telefonisch durchgegebenen Verletzungsschwere und das Verletzungsmuster bei genauer Prüfung nicht immer dem tatsächlichen Befund entsprechen. Somit ist es zwingend notwendig, etwaige Verbände unter sterilen Bedingungen im Schockraum zu entfernen und das Verletzungsmuster sowie die Amputate zu beurteilen. Diese Untersuchung sollte der Operateur persönlich vornehmen. Ein etwaig erhöhtes Infektrisiko durch diese Maßnahme haben wir nicht beobachtet. Die genaue primäre Inspektion des Verletzungsmusters sowie der Verletzungsschwere bietet 3 gravierende Vorteile: 1. Das strategisch operative Vorgehen kann mit dem kooperativen Patienten besprochen und auf dessen funktionelle Bedürfnisse abgestimmt werden. 2. Es können genauere Instruktionen an den OP-Saal für die Zeitspanne und das benötigte Instrumentarium gegeben werden. 3. Der Operateur kann sich fachlich und mental auf die Operation und den zu erwartenden Schwierigkeitsgrad einstellen. Bei der Untersuchung des Patienten mit Amputationsverletzungen müssen 2 prinzipiell unterschiedliche Situationen berücksichtigt werden: 1. die isolierte Verletzung der oberen Extremität und 2. die Verletzung der oberen Extremität im Rahmen einer Mehrfachverletzung.
39
1064
Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
Standardisiertes diagnostisches Vorgehen bei subtotalen oder totalen Amputationsverletzungen
▬ Präoperativ (evtl. Bestandteil des Polytraumamanagements) – Allgemeiner Gesundheitszustand – (Kontraindikationen für Mikrochirurgie) – Berufsanamnese – Klinische Untersuchung – Röntgen in 2 Ebenen
▬ Intraoperativ – Vitalitätsbeurteilung
▬ Postoperativ – Klinische Untersuchung – Röntgen in 2 Ebenen
39
Die präoperative Diagnostik muss die genaue klinische Untersuchung mit Beurteilung des Amputationsstumpfes und des Amputats, des Allgemeinzustandes des Patienten, sowie die Berufs- und Sozialanamnese beinhalten. Eine Röntgenuntersuchung der Verletzungsregion sowie der Amputate ist immer in 2 Ebenen durchzuführen, um den Schweregrad der knöchernen Verletzung und die knöcherne Amputationsebene zu beurteilen (Etagenfrakturen, Knochenverlust, Gelenkbeteiligung). So ist bei komplexen Amputationsverletzungen im Handbereich auch auf eventuelle Nebenverletzungen des Ellenbogengelenks oder Schultergelenks zu achten, da diese das funktionelle Ergebnis mit beeinflussen. Mikroamputationen der oberen Extremität treten allerdings meist isoliert auf, bei Makroamputationsverletzungen der oberen Extremität ist dies nur in etwa 60% der Fälle zutreffend. Beim mehrfachverletzten Patienten tritt die Amputationsverletzung in den Hintergrund und muss sich dem Polytraumamanagement unterordnen. Hier gilt nach wie vor der Grundsatz »Limb for Life« zur Orientierung bei der Entscheidung Stumpfdeckung oder Rekonstruktion. Beim mehrfachverletzten Patienten hat sich die Anwendung des »Mangled Extremity Severity Score« (MESS; ⊡ Tab. 39.2) nach Johanson et. al. nach unseren Erfahrungen auch für Amputationsverletzungen an der oberen Extremität bewährt. So lag in unserem Krankengut die MESS bei erfolgreichen Makroreplantationen an der oberen Extremität bei 6,7, bei erforderlicher Reamputation bei 7,3 (kein signifikanter Unterschied). Eine MESSPunktzahl von ≥7 zeigte in retro- und prospektiven Studien einen positiven Voraussagewert für eine Amputation im Bereich des Unterschenkels.
Begleitverletzungen Mikroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität treten hauptsächlich isoliert auf. Im Rahmen eines Polytraumas muss in weniger als 5% der Fälle mit einer Mikroamputationsverletzung im Handbereich gerechnet werden.
Psychiatrische Begleiterkrankungen Amputationsverletzungen können auch eine psychiatrische Ursache haben. Bei allen Amputationsverletzungen im Rahmen eines Suizidversuches ist postoperativ unbedingt ein psychiatrisches Konsil zu veranlassen, da eventuell eine psychiatrische Mitbehandlung notwendig ist. Patienten müssen immer unter Aufsicht sein, weshalb postoperativ eine Verlegung entweder auf die psychiatrische Station, die Intensivstation oder auf Normalstation mit geschulter Sitzwache erfolgt.
⊡ Tab. 39.2 »Mangled Extremity Severity Score« (MESS) nach Johansen et al. (1990) Parameter
Punkte
A: Knochen und Weichteilverletzungen Niedrige Energie (einfache Fraktur)
1
Mittlere Energie (offene oder multiple Frakturen)
2
Hohe Energie (Schusswunden, Quetschtraumen)
3
Hochrasanztraumen (Explosion, Verkehrsunfall)
4
B: Extremitätenischämie Ausreichende Perfusion (Puls abgeschwächt bzw. fehlend)
1
Pulslos, Parästhesien, verminderte Kapillarfüllung
2
Kühl, motorische Lähmung, asensibel
3
Doppelte Punktzahl für Ischämie
> 6h
C: Schock Syst. Blutdruck immer >90 mmHg
0
Temporäre Hypotension
1
Anhaltende Hypotension
2
D: Alter 50 Jahre
2
Bei einer MESS ≥7 nach Debridement sollte eher eine Stumpfdeckung durchgeführt werden.
> Der Patient nach Suizid ist so lange als suizidal und somit höchst gefährdet anzusehen, bis das psychiatrische Konsil dies definitiv verneint.
39.1.5 Klassifikation Amputationsverletzungen im Handbereich kann man nach Verletzungsausmaß, Verletzungshöhe, Verletzungslokalisation (Art und Anzahl der verletzten Finger) und Verletzungsursache klassifizieren ( Klassifikation der Amputationsverletzungen im Handbereich). Klassifikation der Amputationsverletzungen im Handbereich
▬ Verletzungsausmaß – Totale Amputation – Subtotale Amputation – Typ I Knochen – Typ II Strecksehne – Typ III Beugesehen – Typ IV Hauptnervenstamm – Typ V Hautbrücke – Komplexe Knochen-Weichteil-Schädigung ▼
1065 39.1 · Allgemeines
▬ Verletzungshöhe – – – – – –
Zone 1 Zone 2 Zone 3 Zone 4 Zone 5 Zone 6
▬ Verletzungsslokalisation – Monodigital – Daumen – Finger – Polydigital – Daumen und Finger – Finger
▬ Verletzungsursache – – – – –
Glattrandige Schnittverletzung Amputationsverletzung mit lokalisierter Quetschung Amputationsverletzung mit diffuser Quetschung Mehretagenverletzung Ausrissverletzung, Skelettierungs- oder Degloving-Amputation – Typ I – Ringförmige Kompression und reine Hautverletzung – Typ II – Dorsale Gefäß- und Hautverletzung – Typ III – Palmare Gefäß- und Hautverletzung – Typ IV – Dorsale und palmare Gefäß- und Hautverletzung – Typ V – Komplette Avulsion mit zusätzlicher Fraktur oder Disartikulation
Das Verletzungsausmaß beinhaltet 3 Kategorien, aus denen sich die entsprechende operative Therapie ergibt. Leider werden diese Kategorien in Publikationen oft vermischt oder falsch angegeben: 1. totale Amputation (Replantation), 2. subtotale Amputation (Revaskularisation), 3. komplexe Verletzung mit Knochen-, Nerven-, Gefäß- und Weichteilschäden (Rekonstruktion). Die totale Amputation ist eine komplette Abtrennung aller Strukturen. Die Therapie besteht in der Replantation oder Stumpfbildung. Bei der subtotalen Amputation sind die Hauptgefäßverbindungen unterbrochen, sodass eine signifikante Ischämie besteht und beim Spontanverlauf eine Nekrose des abhängigen Gebietes resultieren würde. Am Finger bedeutet dies die Durchtrennung der beiden palmaren und dorsalen Gefäße. Vom Weichteilmantel darf nicht mehr als 25% der Zirkumferenz erhalten sein. In Abhängigkeit von den noch erhaltenen Strukturen unterscheidet man nach Maurer et al. (1979) 5 Untergruppen: ▬ Typ I: Knochen, ▬ Typ II: Strecksehnen, ▬ Typ III: Beugesehnen, ▬ Typ IV: Haut – und Weichteilmantel, ▬ Typ V: Nerven. Für die komplexe Handverletzung (»mangling injury«) gibt es in der Literatur keine klare Definition. So reicht das Spektrum dieser Verletzung von der Hochdruckeinspritzung über Verkehsunfälle, Kreissägenverletzungen, Quetschverletzungen (⊡ Abb. 39.2), Sprengverletzungen, Schussverletzungen bis hin zur komplexen Amputationen durch verschiedenste Ursachen. Keine Verletzung
⊡ Tab. 39.3 Wichtungsfaktoren der einzelnen Finger Finger
Wichtungsfaktor
Daumen
6
Zeigefinger
2
Mittelfinger
3
Ringfinger
3
Kleinfinger
2
gleicht der anderen, und somit sind systematische Vergleiche mit anderen komplexen Handverletzungen nur schwer durchführbar. Im internationalen Konsens werden multistrukturelle Verletzungen mit Gefährdung des betroffenen Handabschnittes als komplex eingestuft. > Unter »komplexer Handverletzung« verstehen wir die gleichzeitige Zerstörung mehrerer funktioneller Strukturen (Gefäße, Nerven, Knochen, Sehnen, Gelenke) mit der Gefahr erheblicher Dauerschäden bezüglich der Funktion und Ästhetik.
Werden bei der Rekonstruktion dieser Verletzungen auch Hauptgefäßverbindungen wiederhergestellt, spricht man von einer Revaskularisation. Es gibt also beispielsweise im deutschsprachigen Raum keine allgemeingültige Klassifikation der komplexen Handverletzungen mit prognostischem Aussagewert. Von Cambell u. Kay (1996) wurde eine Klassifikation der Verletzungsschwere der Hand (HISS; »Hand Injury Severity Score«) analog der ISS (»Injury Severity Score«) bei polytraumatisierten Patienten angegeben. Hierbei wird für jeden Strahl eine Punktbewertung der Verletzungesschwere bezüglich des Weichteilschadens (»integument«), der knöchernen Verletzung (»skeletal«), der Sehnenfunktion (»motor«) und der nervalen Situation (»neural«) als ISMN-Wert erhoben. Dieser Punktwert wird für jeden Strahl mit einem Wichtungsfaktor multipliziert (⊡ Tab. 39.3). Nach der resultierenden Gesamtpunktzahl »kann die Verletzungsschwere in 4 Grade eingestuft werden: ▬ I – »minor«: 100) Bei stark gequetschten und verschmutzten Wunden mit hohem Kontaminationsgrad wird der Punktwert für das Integument verdoppelt und dann erst mit dem Wichtungsfaktor multipliziert. Analog dazu wird bei offenen Frakturen und stark kontaminierten Knochen eine Verdopplung der Skeletal-Punktzahl vorgenommen (⊡ Tab. 39.4). Aufgrund der Lokalisation der Amputationsverletzung im Handbereich können nach der Klassifikation des Replantation Committee der International Society for Reconstructive Microsurgery 6 verschiedene Niveaus unterschieden werden (⊡ Abb. 39.3). Abhängig von Art und Anzahl der betroffenen Finger unterscheidet man in monodigitale (nur ein Finger betroffen) und polydigitale (mehrere Finger betroffen) Amputationsverletzungen. Bei den polydigitalen Amputationsverletzungen unterscheidet man weiter in polydigitale Amputationsverletzungen ohne Daumenbeteiligung und polydigitale Amputationsverletzungen mit Daumenbeteiligung.
39
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
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⊡ Abb. 39.2 Ausgedehntes Décollement der linken Hand nach Quetschverletzung durch ein Rad vom Gabelstapler mit Verlust der Strecksehnen des 2.–5. Fingers. a Radiologischer Aspekt präoperativ: Trümmerfrakturen Grundphalanx 3 und 5 links, Kirschner-Draht-Osteosynthese 5. Finger, 2,3-mm-Platte 3. Finger, b radiologischer Aspekt postoperativ, c klinischer Aspekt postoperativ nach temporärer Mesh-graft-Plastik, d radiologischer Aspekt nach knöcherner Ausheilung der Trümmerfrakturen, e klinischer Aspekt nach eingeheilter Spalthautplastik, f klinischer Aspekt: Planung des Fußrückenlappens mit Strecksehnen (2–5), g Funktion 1 Jahr nach Rekonstruktion: Fingerstreckung, h Funktion 1 Jahr nach Rekonstruktion: Faustschluss, i Funktion 1 Jahr nach Rekonstruktion: Fingerspreizung, j ästhetisches Ergebnis Empfängergebiet, k ästhetisches Ergebnis Spendergebiet
1067 39.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 39.4 »Hand Injury Severity Score« Punktzahl Hautorgan Hautverlust
Absolute Werte (Hand) Handrücken
1 cm
2
10
>5 cm
2
20
Handfläche: Handrücken ×2 Gewichtete Werte (Finger) Dorsalseite
1 cm Pulpa
Hautverletzung
25%
5
1
cm2
2
(wenn mehr als 1 Strahl betroffen ist, werden beide Strahlen einbezogen) Nagelverletzung
1
Knochen Frakturen
Dislokation
Bandverletzung
Einfache Schaftfraktur
1
Mehrfragmentschaftfraktur
2
DIP-Gelenk-Fraktur
3
PIP-/IP-Gelenk-Fraktur (Daumen)
5
MCP-Gelenk-Fraktur
4
Offen
4
Geschlossen
2
Banddehnung
2
Bandruptur
3
Proximal vom PIP-Gelenk
1
Distal vom PIP-Gelenk
3
Zone 1
6
Zone 2
6
Zone 3
5
Motorik Strecksehne
FDP
FDS
5
Intrinsics
2
Nerven Absolute Werte
Gewichtete Werte
Rekurrierender Ast des N. medianus
30
Tiefer Ast des N. ulnaris
30
Fingernerv ×1
3
Fingernerv ×2
4
Für die Beschreibung des Amputationsmechanismus hat sich die Unterscheidung in folgende Kategorien bewährt: 1. glattrandige Schnittverletzung, 2. Amputationsverletzung mit lokalisierter Quetschung, 3. Amputationsverletzung mit diffuser Quetschung, 4. Mehretagenverletzung, 5. Ausrissverletzung und 6. Skelettierungs- oder Degloving-Verletzung. Die glattrandigen Schnittamputationen bieten den besten Ausgangsbefund für die Replantation. Die Traumatisierung des Gewebes ist gering und es bedarf deshalb meist nur einer geringeren Wundausschneidung bzw. Kürzung der Gefäßstümpfe. Bei den Amputationsverletzungen mit lokalisierter Quetschung ist eine genaue Kontrolle der Gefäßstümpfe notwendig, um eine entsprechend weite Wundausschneidung bis in absolut gesundes Gewebe durchzuführen. Der großzügige Einsatz von Veneninterponaten verhindert dann eine zu starke Kürzung des Extremitätenanteils. Entsprechend dem Unfallmechanismus durch stumpfere Gegenstände kommt es hierbei häufiger nur zu subtotalen Abtrennungen. Bei Amputationsverletzung mit diffuser Quetschung und bei Mehretagenverletzungen bedarf es einer noch genaueren Inspektion des Gewebes. Eine komplette Resektion aller geschädigten Strukturen ist wegen ihrer Ausdehnung meist nicht möglich. Entsprechend häufig sind die Komplikationen, wie Thrombosen durch Intimaschaden oder sekundäre Nekrosen durch später zugrunde gehendes Gewebe. Da meist der eigentliche Gewebeschaden primär nicht beurteilbar ist, ist es hier schwer, das funktionelle Ergebnis vorauszusagen. Entsprechend problematisch ist bei solchen stark traumatisierten Amputationen die Indikationsfrage. Die Gruppe der Ausrissamputationen bietet meist die ungünstigsten Voraussetzungen für eine Replantation. Die Problematik liegt hier in der unterschiedlichen Abtrennungshöhe der verschiedenen Strukturen. Die Beugesehnen sind meist weit aus den Unterarmmuskeln herausgerissen, während die Strecksehnen oft auf Höhe der Fraktur durchtrennt sind. Die Gefäß-NervenBündel werden bei diesen Verletzungen ungleichseitig weit herausgezogen, die Nerven häufig weiter proximal als die Gefäße. Die dorsalen Venen wiederum haben ihre Abtrennungslinie am Rand des Hautabrisses der ganz unterschiedlich liegen kann. Am häufigsten ereignen sich Ausrissamputationen im Daumenbereich. Skelettierungs- oder Degloving-Verletzungen sind gekennzeichnet durch das Erhaltensein des Skelett-Sehnen-Apparates. Abgestreift wird der Weichteilmantel, meist mit dem Endglied. Typische Unfallmechanismen sind Walzenverletzungen und Ringavulsionen. Aufgrund des Unfallmechanismus muss immer mit einer starken Traumatisierung des Amputats gerechnet werden. Für die Einteilung der Degloving-Verletzungen im Fingerbereich sind mehrere Klassifikationen beschrieben worden. So gibt es beispielsweise für die Ringavulsion eine Klassifikation von Urbaniak (1981), welche 1989 von Simon Kay modifiziert wurde (⊡ Tab. 39.5). Urbaniak teilte die Ringavulsion in 3 Klassen ein. Nissenbaum fügte eine Unterklasse II A hinzu. Urbaniak empfahl bis zur Klasse II A die Revaskularisation. Ringavulsionen der Klasse III sollten besser der Stumpfbildung zugeführt werden. Die erweiterte Klassifikation von Kay et al. erwies sich in einer retrospektiven Studie an 55 Ringavulsionen der alten Klassifikation bezüglich des Vorhersagewertes des zu erreichenden Ergebnisses als überlegen (⊡ Tab. 39.6).
39
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
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III
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VI
⊡ Abb. 39.3 Klassifikation der Mikroreplantationen nach der Amputationshöhe. (Aus Berger u. Hierner 2009)
39 ⊡ Tab. 39.5 Klassifikation der Ringavulsion nach Urbaniak Stadium
Kriterium
I
Adäquate Zirkulation
II
Inadäquate Zirkulation A
III
Inadäquate Zirkulation (nur Arterien verletzt) Komplette Amputation
⊡ Tab. 39.6 Klassifikation von Ringavulsionsverletzungen nach Kay Stadium
Kriterium
I
Adäquate Zirkulation (mit oder ohne knöcherne Beteiligung)
II
Inadäquate Zirkulation (arteriell und venös, ohne Skelettbeteiligung)
III
Inadäquate Zirkulation (arteriell und venös, mit Skelettbeteiligung)
IV
Komplette Amputation
39.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Totale und subtotale Amputationsverletzungen Die Indikation zur Rekonstruktion oder Stumpfbildung wird immer vom verantwortlichen Operationsteam im Zentrum gestellt. Dieses besteht aus dem Operateur, dem Assistenten und dem zuständigen Anästhesisten. Dabei glauben viele Patienten, dass das Wiederannähen des Amputats zu einer normalen schmerzfreien Funktion führen wird. Somit sind nahezu alle Patienten mit komplexen Amputationsverletzungen mit einer Replantation bzw. Revaskularisation einverstanden oder fordern diese sogar. Lange Krankenhausaufenthalte, multiple sekundäre funktionsverbessernde Operationen und der mögliche Verlust des Arbeitsplatzes werden sehr wohl vom erfahrenen Operateur, nicht aber vom akut verletzten Patienten überblickt. Deshalb sollte eine schonende, der Verletzung adäquate Aufklärung des Patienten durchgeführt und dokumentiert werden. Bei intubierten Patienten ist eine präoperative Aufklärung überhaupt nicht möglich. In der heutzutage dem Patienten suggerierten Wunschmedizin ist es leider so, dass absolute Kontraindikationen durch den dringlichen Wunsch des Patienten in Indikationen umgewandelt werden. Darüber hinaus ist der Anspruch der Bevölkerung an eine unfehlbare Medizin sehr hoch, sodass sehr häufig verletzungsimmanente Komplikationen als medizinische Fehlleistung
1069 39.1 · Allgemeines
1. Besteht Replantations- (Operationsfähigkeit) des Patienten? -Butdruck -Respiration -Ausscheidung ja 2. Besteht Replantationseignung des Patienten? - biologisches Alter -Allgemeinzustand -chronische Erkrankungen -Intelligenz ja 3. Erlaubt das Replantationsrisiko die Replantation? -Hannover Postrauma Score ja
nein
Stumpfversorgung
nein
Stumpfversorgung
nein Stumpfversorgung
4. Besteht Replantationswürdigkeit des Patienten? -Lokalisation (unilateral vs. bilateral) -Art und Anzahl der betroffenen Finger (monodigital vs. polydigital) -Alter (Kinder vs. Erwachsene) -Geschlecht (Frauen vs. Männer) -Beruf (Handarbeiter vs. Kopfarbeiter) ja
4a) Besteht Replantationswürdigkeit des Replantationsstumpfes? - Möglichkeit der Wiederherstellung der Sensibilität -Lokalisation und Ausmaß der amputation ja
4b) Besteht Replantationswürdigkeit des Replantats? -(kalte) Ischämiezeit15) wird die Stumpfversorgung als Maßnahme der Blutstillung- und damit zur chirurgischen Schocktherapie als einfachster und am wenigsten invasiver Eingriff durchgeführt. Zur Erhaltung möglichst vieler verschiedener Funktionen der Hand und unter Berücksichtigung ästhetischer und sozialer Aspekte müssen folgende Anforderungen an eine optimale Stumpfversorgung ( Abschn. 39.2.11, Abschn. 39.2.12, Abschn. 39.2.13) gestellt werden: ▬ Erhaltung einer funktionellen Restlänge, ▬ funktionelle und gute Weichteildeckung, ▬ Schmerzfreiheit bei guter Sensibilität. Bei der Stumpfbildung im Bereich des Daumens sollte man eine mögliche spätere Kallusdistraktion berücksichtigen. Ein primär nicht verschließbarer Amputationsstumpf sollte innerhalb der ersten Tage mit gestielten lokoregionären Lappen gedeckt werden. Alternativ ist die kontrollierte Granulation durch semipermeable Verbände möglich. Neben der konventionellen Stumpfversorgung sollte bei der Primärversorgung an die Möglichkeit einer einzeitigen oder zweizeitigen Stumpfverbesserung mit Amputatteilen nach dem »Gewebebankkonzept« ( Kap. 34) gedacht werden. Können keine Amputatteile zur Stumpfverbesserung verwendet werden, kann der Amputationsstumpf auch sekundär durch gestielte oder frei mikrovaskuläre Gewebetransplantation oder mithilfe der progressiven Fingerstrahlverlängerung verbessert werden. Ist eine Replantation möglich, muss als nächstes die Replantationseignung überprüft werden.
Kriterien der Replantationseignung Eigen- und (selten) Fremdanamnese sind wichtige Informationsquellen für die Festsetzung des therapeutischen Vorgehens. Für eine Replantation nicht geeignet sind Patienten mit systemischen chronischen Erkrankungen (Diabetes mellitus, Tumoren im
Endstadium etc.), allgemeinen Gesundheitsproblemen (Cave: Replantationsrisiko) Gefäßerkrankungen (pAVK) und eingeschränkter Intelligenz (Patient muss in der Lage sein, die Nachbehandlung zu verstehen und aktiv mitzuarbeiten). Bei Mikroamputationen spielt das Alter nur im Hinblick auf das Replantationsrisiko eine Rolle. ▬ Bei fehlender Replantationseignung wird die primäre »optimale Stumpfversorgung« durchgeführt. ▬ Bei bestehender Replantationseignung muss als nächstes das Replantationsrisiko evaluiert werden.
Kriterien für die Abschätzung des Replantationsrisikos Das zu erwartende Replantationsrisiko ist abhängig vom Ausmaß der Gesamtverletzung des Patienten (Monotrauma bzw. Polytrauma) und der Gewebeschädigung im Amputationsbereich (primäre traumabedingte Gewebeschädigung, sekundäre kontaminationsbedingte Gewebeschädigung und tertiäre ischämiebedingte Gewebeschädigung). Das Infektionsrisiko steigt bei kontaminierten Verletzungen (Landwirtschaft), Etagenamputationen, Nikotinabusus und einer kalten Ischämiedauer von über 6 Stunden. > Amputationsverletzungen im Finger- bzw. Handbereich führen nur selten zu systemischen Komplikationen.
▬ Ein nicht zu rechtfertigendes Replantationsrisiko besteht bei einem polytraumatisierten Patienten mit einem »Hannover Polytrauma Score« von 3–4 und einem »Injury Severity Score« >15. ▬ Besteht kein erhöhtes Replantationsrisiko, entscheidet die Replantationswürdigkeit von Amputat und Amputationsstumpf über das weitere Vorgehen.
Kriterien für die Replantationswürdigkeit Die Replantationswürdigkeit ergibt sich aus dem zu erwartenden funktionellen Nutzen der Replantation. Bei Amputationsverletzungen im Handbereich muss die Replantationswürdigkeit von Amputat und Amputationsstumpf eines jeden verletzten Fingers getrennt bewertet werden. Abhängig von Amputationshöhe, Art und Anzahl der betroffenen Finger, Alter und Geschlecht des Patienten können absolute und relative Indikationen zur Replantation beschrieben werden (⊡ Abb. 39.5). Bei Amputationsverletzungen des Daumens sollte wegen der besonderen Bedeutung des 1. Strahles für die Handfunktion immer ein Replantationsversuch unabhängig von der Verletzungshöhe durchgeführt werden. Für Amputationsverletzungen einzelner Finger ergeben sich abhängig vom Beruf (Musiker), Alter (Kinder) und Intellekt des Patienten Indikationen zur Replantation oder Revaskularisation. Bei polydigitalen Amputationsverletzungen sind die für die Handfunktion wesentlichen Finger in optimaler Position zu replantieren. Dabei kann neben einer normotopen auch die heterotope Replantation für den Patienten sinnvoll sein, insbesondere dann, wenn nicht alle Amputate vorhanden oder replantationswürdig sind. Bilaterale Fingeramputationen sind sehr seltene Verletzungen. Hier sollte immer die normotope Replantation angestrebt werden. Die kontralaterale oder »Cross-overReplantation« kann zur Bildung wenigstens einer funktionellen Hand zum Einsatz kommen. In seltenen Fällen ist die temporäre heterotope Replantation von Handanteilen in anatomisch entfernte Regionen (Leiste, Unterarm) indiziert. Amputationsverletzungen im Endgliedbereich sind mikrochirurgisch sehr anspruchsvoll und zeigen eine höhere Verlustrate (20–70%). Hauptgrund ist die oftmals nicht zu realisierende venöse Reanastomosierung mit der Folge einer venösen Blutstauung.
1071 39.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 39.5 Indikationen zur Replantation an der oberen Extremität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Die erfolgreiche Endgliedreplantation zeigt jedoch gegenüber der Stumpfbildung oder sekundären Deckung mit gestielten regionären Lappen ein deutlich besseres funktionelles und ästhetisches Ergebnis. Eine Alternative zur Endgliedreplantation ist die kontrollierte Granulation mit semipermeablen Verbänden (Hydrocolloid; Kap. 4). Bei dieser Methode wird der Defekt rasch mit Granulationsgewebe aufgefüllt und reepthelialisiert. In aller Regel ist auch ein gutes Resultat bezüglich der Sensibilität zu erwarten. Bei Kleinkindern besteht die Möglichkeit der Endgliedreplantation in Zone 1/2 auch ohne Gefäßanschluss im Sinne eines »composite graft«. > Bei Kindern ist der Versuch der Replantation bei Amputationsverletzungen in jeder Höhe lohnenswert.
Fingeramputationen mit Zerstörung des PIP-Gelenks stellen eine relative Indikation zur Replantation dar, weil eine unausweichliche Arthrodese des PIP-Gelenks die globale Handfunktion mehr beeinträchtigt als eine Stumpfbildung. Auch die Amputation des Zeigefingers im PIP-Gelenk sollte abhängig vom Beruf und Hobby des Patienten bewertet werden. So ist ein 50-jähriger Schlosser mit einer Stumpfbildung im PIP-Gelenk des 2. Fingers der nicht dominanten Hand viel schneller wieder voll arbeitsfähig als nach einer
Replantation mit eingesteiftem PIP-Gelenk. Ganz anders sieht die Situation beim Musiker aus. Hier besteht ähnlich wie bei Kindern in jeder Amputationshöhe eine Replantationswürdigkeit. Amputat Kriterien für die Replantationswürdigkeit eines Amputats sind: 1. Ischämiezeit Komplexe Handverletzungen sollten, wenn immer möglich, in dafür geeigneten Zentren (s. oben) mit entsprechenden personellen und materiellen Voraussetzungen behandelt werden. In dieser Einrichtung müssen auch alle notwendigen sekundären Eingriffe durchführbar sein.
Bei einigen Verletzungstypen, wie Hochdruckeinspritzungen ( Kap. 35), offenen und geschlossenen Quetschverletzungen und Hochrasanztraumen mit komplexen Luxationsfrakturen wird das Ausmaß des tatsächlichen Schadens bei der ersten klinischen Erstuntersuchung leicht unterschätzt. Abhängig vom Verletzungsmechanismus besteht eine unterschiedlich hohe Kontamination der Weichteile. So besteht bei landwirtschaftlichen Unfällen infolge der primären Kontamination mit verschiedensten Keimen ein sehr hohes Infektionsrisiko. Verstärkt wird dieses Risiko durch ar-
terielle Verletzungen auf unterschiedlichen Ebenen. Deshalb wird beispielsweise die Stumpfdeckung bei landwirtschaftlichen komplexen Amputationen besser sekundär durchgeführt. Erst nach sorgfältiger Anamneseerhebung, klinischer und bildgebender Diagnostik und ausgiebiger Reinigung mit Débridement zeigt sich dem Operateur das tatsächliche Ausmaß der multistrukturellen Verletzung. Besonders schwierig ist die Beurteilung bei ausgedehnten geschlossenen Quetschverletzungen. Eine weitere Gefahr besteht insbesondere bei Verkehrsunfällen darin, dass teilweise lebensbedrohliche Begleitverletzungen anderer Körperregionen (Milzruptur, Leberruptur, Aortendissektion, Densfraktur) übersehen werden. Deshalb ist eine umfassende Untersuchung des Patienten mit nachfolgender Polytraumaspirale unumgänglich. Bei den meisten komplexen Handverletzungen handelt es sich jedoch um Monoverletzungen. Die notwendige Behandlungsdauer erstreckt sich oft über Monate und Jahre und das funktionelle Ergebnis ist entsprechend der Verletzungsschwere trotz optimaler Therapie häufig unbefriedigend. Das Behandlungsziel bei der komplexen Handverletzung besteht in der Erhaltung und Wiederherstellung möglichst vieler Funktionen und natürlich auch der Ästhetik der Hand. Weiterhin sollten für notwendige sekundäre rekonstruktive Maßnahmen günstige Ausgangsbedingungen geschaffen werden. Die Entscheidungsmöglichkeiten des Patienten sind durch das Trauma des Verletzungsgeschehens deutlich eingeschränkt. Er reagiert noch mit Wut und Unverständnis über sein eigenes Missgeschick. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Verletzte auf Entscheidungen ihm völlig fremder Personen angewiesen ist. Aus den genannten Gründen ist eine umfangreiche Aufklärung unter gleichberechtigter Teilnahme des Patienten weder möglich noch sinnvoll. Nach unseren Erfahrungen ist bei nicht intubierten Patienten eine kurze zielorientierte Aufklärung durch den Operateur selbst durchzuführen. Dabei wird der erste vertrauliche Kontakt zum Patienten hergestellt, der sich während der gesamten Behandlung und Rehabilitation immer weiter festigt. Erstaunlicherweise sind die am Unfallort durch den Notarzt beschriebenen Verletzungen der Hand oft mangelhaft. Deshalb macht sich eine genaue Untersuchung der Verletzungen durch den Operateur erforderlich, um entsprechende Instruktionen an den Operationssaal (Lagerung, Instrumente, erwartete Eingriffe, erwartete OP-Zeit) zu geben. Nach telefonischer Ankündigung einer komplexen Handverletzung sollten bereits mit dem OP-Manager der nächste auslaufende OP-Saal festgelegt werden. Ist ein zeitgerechter OP-Beginn durch laufende Notfalleingriffe nicht realisierbar, muss abgewogen werden, ob die die Umleitung des Patienten in ein anderes Zentrum nicht besser ist, als stundenlange Wartezeiten und damit eine Erhöhung der Ischämiezeit und des Infektrisikos in Kauf zu nehmen. Folgende Schritte sind bei der Behandlung von komplexen Handverletzungen zu beachten: 1. Sorgfältige Untersuchung des gesamten Patienten durch den Operateur; 2. Anamnese mit Erfassung relevanter zusätzlicher Erkrankungen und Medikamenteneinnahme (Diabetes, Antikoagulanzien, PAVK); 3. Notfalldiagnostik (Röntgen, CT, kleines Blutbild; Gerinnung; BZ; Elektrolyte); 4. kurze zielorientierte Aufklärung; 5. Ausschluss von zusätzlichen vital bedrohlichen Verletzungen – Indikationsstellung zur Stumpfbildung oder Rekonstruktion, – Erstellung eines Behandlungsplanes, – Ausreichende Bestellung von Blutkonserven;
1073 39.1 · Allgemeines
6. rascher Beginn mit der Operation, – Radikales Débridement nicht erhaltbarer Strukturen, – Anpassung des Behandlungsplanes an die tatsächliche Situation, – Übungsstabile Osteosynthese, – Revaskularisation, – Sehnenrekonstruktion, – Nervenrekonstruktion (ggf. sekundär), – Weichteilverschluss ( Kap. 35); 7. postoperatives Monitoring durch klinische Kontrolle, – ausgiebige Aufklärung des Patienten über weitere funktionsverbessernde Eingriffe, – sekundäre Weichteildeckung innerhalb von 5–7 Tagen; 8. Rehabilitation in geeigneten handchirurgisch versierten Rehabilitationszentren; 9. Wiedereingliederung ins Berufleben oder dauernde Invalidität. > Wenn immer möglich wird ein einzeitiges Vorgehen mit Versorgung aller verletzter Strukturen durchgeführt.
39.1.7 Therapie Für Diagnostik und Therapie von Amputationsverletzungen verwenden wir ein »integratives Therapiekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden kompletten Replantation, eine intensive physiotherapeutische Therapie und eventuelle Sekundäreingriffe umfasst ( Integratives Therapiekonzept bei Replantationen im Bereich der oberen Extremität). > Die Qualität der primären Replantation entscheidet über das funktionelle und ästhetische Ergebnis. Die Möglichkeit sekundärer Eingriffe entbindet nicht von der Notwendigkeit bei der Primäroperation die bestmögliche Versorgung durchzuführen. ▬ Die Nachbehandlung nimmt eine Schlüsselrolle bei der Behandlung des handverletzten Patienten ein. Die Physiotherapie ist integraler Bestandteil der Therapie. Nur durch genügend lange und intensiv durchgeführte Physiotherapie kann ein optimales Ergebnis erzielt und auf lange Sicht gehalten werden. Eine Kürzung der Physiotherapie durch die Krankenkassen ist aus medizinischer Sicht nicht vertretbar. ▬ Das durch die Replantation erzielte Ergebnis lässt sich oftmals durch Sekundäreingriffe deutlich verbessern.
Unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche primäre oder sekundäre Wiederherstellung der Funktion sind stabile knöcherne Verhältnisse und freie passive Gelenkbeweglichkeit.
▬ Physiotherapie (ambulant und stationär) – Krankengymnastik – Ergotherapie
▬ Sekundäreingriff ▬ Elektiv 1.
Konzept der eingeschränkten Primärversorgung – »Second look« – Sonstige Eingriffe 2. Konzept der heterotropen Revaskularisation mit sekundärer normotroper Replanation (»limb banking«) – Sekundäre normotrope Replantation – Sonstige Eingriffe ▬ Elektiv 1. Eingriffe bei Komplikationen 2. Eingriffe zur funktionellen und/oder ästhetischen Ergebnisverbesserung im Rahmen des integrativen Therapiekonzeptes – Rekonstruktive Eingriffe – Weichteildeckung – Knochenrekonstruktion – Nervenrekonstruktion – Muskel- und Sehnenrekonstruktion – Palliative Eingriffe – Adjuvante Eingriffe 3. Sekundäre Reamputation
Nur durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit kann ein optimales Therapieergebnis erreicht werden. Mitglieder des Therapieteams sind neben dem Replanteur der Hausarzt (»Drehscheibe«), Handtherapeut (Krankengymnastik, Ergotherapie etc.), Notarzt (Bedeutung der adäquaten präklinischen Versorgung und des schnellen Transports), Radiologie, Neurologe und in besonderen Fällen die anästhesiologische Schmerzambulanz (bei Deafferenzierungsschmerzen oder Kausalgien), Sozialdienste bzw. Arbeitsamt bzw. Berufsgenossenschaft (berufliche Rehabilitation bzw. Wiedereingliederung), Orthopädietechniker (Hülsen- und Schienenapparate), Psychotherapeuten und Patienten-Selbsthilfegruppen. Der stetige Informationsaustausch (Telefonate, Arztbriefe) innerhalb des Teams ist von außerordentlicher Wichtigkeit (⊡ Abb. 39.6). Ein optimales Behandlungsergebnis kann nur dann erreicht werden, wenn alle Mitglieder des Therapieteams lückenlos zusammenarbeiten. Besonders muss auf die Bedeutung der präund postoperativen Physiotherapie hingewiesen werden.
Leitlinien für die präklinische und Erstversorgung Die präklinische Erstversorgung beeinflusst die Voraussetzungen entscheidend. > »Life before Limb!«
Integratives Therapiekonzept bei Replantationen im Bereich der oberen Extremität
▬ Primärversorgung bei Replantation 1. 2. 3. 4. 5. ▼ 6.
Wundreinigung, Desinfektion Präparation des Gefäß-Nerven-Bündels und Débridement Osteosynthetische Versorgung Mikrochirurgische Versorgung Versorgung von Muskel- und Sehnenverletzungen Wundschluss und postoperative Ruhigstellung
Nach Sicherung der Vitalfunktionen sollte das Amputat geborgen und nach dem »Prinzip der trockenen Kühlung« ( Kap. 40) adäquat gelagert werden. Zur Blutstillung im Bereich des Amputationsstumpfes genügt immer ein Druckverband. Die Anlage einer Oberarmblutsperre ist obsolet und gefährlich. Sowohl am Amputationsstumpf als auch am Amputat müssen alle Manipulationen wie Säuberung, Desinfektion oder Setzen von Klemmen vermieden werden. Patient und Amputat müssen so schnell wie möglich in eine entsprechend eingerichtete Klinik mit Replantationsdienst (fakultative Möglichkeit der Durchführung von Replantationen) oder
39
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
⊡ Abb. 39.6 Replantationsteam. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Replantationszentrum (Möglichkeit der Durchführung von Replantationen 24/24 Stunden) gebracht werden ( Abschn. 39.1.1.3). > Wegen der Bedeutung einer möglichst kurzen Ischämiedauer für die Replantationswürdigkeit und das Replantationsrisiko ist bei Patienten mit einer Amputationsverletzung immer ein möglichst schneller Transport – in den meisten Fällen per Hubschrauber – in ein Spezialzentrum zu fordern.
Indikationsstellung Abschn. 39.1.6 Operative Schritte der Replantation > Grundsätzlich sollte im Handbereich immer eine komplette einzeitige Replantation durchgeführt werden, da sekundäre Eingriffe das Infektionsrisiko erhöhen und das funktionelle Ergebnis beeinträchtigen können. Eine zweizeitige Replantation im Handbereich sollte nur dann durchgeführt werden, wenn bei zunehmend instabilem Patient die Operation abgebrochen werden muss.
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Die Replantation umfasst: 1. Wundreinigung, Desinfektion und Débridement, 2. osteosynthetische Versorgung, 3. Versorgung der Beugesehnenverletzungen, 4. mikrochirurgische Wiederherstellung der arteriellen Strombahn, 5. mikrochirurgische Wiederherstellung der Nervenkontinuität, 6. Versorgung der Strecksehnenverletzungen, 7. mikrochirurgische Wiederherstellung der venösen Strombahn, 8. Wundschluss und postoperative Ruhigstellung.
> Die Präparation der Strukturen am Amputat kann bereits während der Narkosevorbereitung des Patienten beginnen. Vor allem bei Mehrfachamputationen kann somit signifikant Zeit eingespart werden.
Nach Markierung aller wichtigen Strukturen muss das Amputat wieder trocken gekühlt werden. Fingerreplantationen, Mehrfingerreplantationen und Replantationen in den Zonen 4–6 sollten besser in Intubationsnarkose operiert werden. Die Einzelgabe eines Cephalosproins – 30 min vor Anlage (1. Wahl) oder direkt nach Öffnen der Blutsperre (Vorgehen bei vergessener Antibiotikagabe) – ist aufgrund der hohen Verschmutzung zu empfehlen, aber nicht obligat. Eine mehrtägige (10 Tage) postoperative Antibiotikagabe ist in unserem Zentrum die Regel. Der Patient sollte auf einer Wärmematte gelagert werden (adäquate Körpertemperatur zur Gefäßspasmusprophylaxe). Routinemäßig sollte auch eine Bleimatte zum Schutz vor intraoperativer Röntgenstrahlung unterlegt werden. > Bei Replantationen im Hohlhandbereich sollte auch routinemäßig ein Fuß und Unterschenkel steril abgedeckt werden, um eine mögliche Venenentnahme durchführen zu können. Die Hand wird auf einem Handtisch ausgelagert.
Vordringlichste Aufgabe der präoperativen Wundreinigung ist die Entfernung von Fremdkörpern wie Sägespäne, Grashalme usw.
Die verletzte Extremität sollte zumindest bis oberhalb des Ellenbogens (mögliche Venenentnahme, oder Spalthautentnahme) gewaschen und steril abgedeckt werden. Eine Oberarmmanschette sollte grundsätzlich angelegt werden. Ob die Darstellung der Strukturen, Osteosynthese und Versorgung der Sehnennähte in Blutsperre erfolgt, ist abhängig von den Gewohnheiten des Replanteurs. Der Vorteil der Präparation ohne Blutsperre liegt darin, dass die Funktion der Gefäße besser beurteilt werden kann. Erst nach eindeutiger Markierung aller Strukturen erfolgt das Débridement. Alle sichtbar geschädigten Gebiete sollten unabhängig vom Gelenktyp débridiert werden.
> Die Desinfektion sollte mit farblosem Desinfektat erfolgen,
> Ein adäquates Débridement ist der Schlüssel für eine
Abhängig von der Amputationshöhe (Zone 1–6) ergeben sich operationstechnisch wichtige Besonderheiten ( Abschn. 39.2).
Wundreinigung, Desinfektion und Débridement
um eine uneingeschränkte Beurteilung der Replantatperfusion zu ermöglichen.
Die exakte Darstellung aller Strukturen, die später vereinigt werden, ist der Schlüssel für eine zügige und erfolgreiche Replantation. Nie sollte eine Replantation begonnen werden, bevor nicht alle Strukturen eindeutig identifiziert und markiert wurden. Die Darstellung der Strukturen erfolgt unter Lupenvergrößerung oder dem Operationsmikroskop.
komplikationsarme, erfolgreiche Replantation.
Erst intraoperativ ist es möglich, das wirkliche Ausmaß der Gewebeschädigung exakt zu bestimmen. Man muss sich immer vor Augen halten, dass der klinisch apparente Weichteil-Knochen-Schaden meist kleiner als die tatsächliche Schädigung ist. Makroskopisch geschädigtes Gewebe muss radikal entfernt werden. Durch eine Knochenkürzung werden gute Vorbedingungen für eine Ostesynthese geschaffen und spannungsfreie Gefäßnähte und Nervenko-
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aptationen ermöglicht. Sie sollte so sparsam wie möglich erfolgen. Gefäß- bzw. Nervendefekte allein sind kein Grund für ein weiteres Kürzen des Knochens, da sie durch Veneninterponate bzw. Nerventransplantate überbrückt werden können. Ein Débridement kann auch derart ausgiebig sein, dass eine funktionelle Replantation nicht mehr möglich ist. Hier ist intraoperativ die Indikation zur primären Stumpfversorgung zu stellen. In jedem Fall muss bei Einzelfingerreplantationen geprüft werden, ob Amputatteile für stumpfverbessernde Maßnahmen im Sinne des Gewebebankkonzepts nach Chase verwendet werden können. Bei Mehrfingeramputationen muss immer geprüft werden, ob das Replantat oder Teile davon für eine heterotope Rekonstruktion verwendet werden können.
Osteosynthetische Versorgung Anforderungen an die optimale Osteosynthese bei Replantation (⊡ Abb. 39.7) sind: ▬ schnelle und sichere Durchführbarkeit, ▬ keine zusätzliche Gewebeschädigung durch Einbringen des Osteosynthesematerials, ▬ Übungsstabilität, ▬ Freilassen der Nachbargelenke, ▬ leichte Entfernbarkeit. Für die Osteosynthese im Handbereich stehen heute eine Vielzahl von Verfahren zur Verfügung (⊡ Abb. 39.7). > Der alleinige Gebrauch von Kirschner-Drähten ist nicht mehr »state of the art«.
Versorgung der Beugesehnenverletzungen Mit Ausnahme der glattrandigen Schnittverletzung werden die oberflächlichen Beugesehnen bei ausgedehnten Verletzungen reseziert. Die zu nähenden Sehnenenden werden vorgezogen und durch zwei Kanülen, die durch die Sehnenenden gestochen werden, fixiert. Die modifizierte Kessler-Naht oder die Naht nach Tsuge mod. nach Winkel haben sich bewährt. Als Nahtmaterial verwenden wir nicht resorbierbaren geflochtenen Kunststofffaden für die Kernnaht und 6/0 monofilen Kunststofffaden für die zirkuläre Glättungsnaht ( Kap. 6).
Versorgung der Strecksehnenverletzungen Die Wiederherstellung des Strecksehnenapparates erfolgt mit 4/0 nicht resorbierbarem monofilem Faden – meist als U-Nähte ( Kap. 5).
Mikrochirurgische Wiederherstellung der arteriellen Strombahn Nur ein gut blutender Gefäßstumpf darf für eine Anastomose verwendet werden. Besonders wichtig ist die Kürzung der Gefäßenden so weit, bis unter mikroskopischer Vergrößerung keine Veränderungen der Intima mehr zu sehen sind. Spannungsfreiheit im Anastomosenbereich ist eine absolute Voraussetzung. Präparation der Gefäßstümpfe und Naht erfolgen nach mikrochirurgischen Prinzipien ( Kap. 7). Bei Gefäßdefekten ist die Indikation für ein Gefäßinterponat großzügig zu stellen. Hierbei können entweder eine intakte Arterie aus einem nicht mehr zu rekonstruierenden Amputatanteil (1. Wahl, wenn möglich) oder ein invertiertes Veneninterponat vom Unterarm verwendet werden. Wir verwenden 10/0 monofiles Nahtmaterial. Neben einer einwandfreien Nahttechnik beeinflussen der Blutdruck (Mitteldruck) des Patienten und die Koaguabilität des Blutes den Erfolg
⊡ Abb. 39.7 Möglichkeiten der Osteosynthese bei Replantationen im Handbereich. (Aus Berger u. Hierner 2009)
der Anastomose. Bei Freigabe der Anastomose sollte der Blutdruck 110/70 mmHg nicht unterschreiten (Kommunikation mit der Anästhesie!!!). Zur Verbesserung der rheologischen Eigenschaften des Blutes können Dextrane intravenös gegeben werden. Nach guter Durchgängigkeit (Patency-Test) der arteriellen Naht muss innerhalb von wenigen Augenblicken ein kräftiger venöser Reflux einsetzen. Bei Quetschamputationen und nach sehr langer Ischämiezeit kann die Blutung verzögert einsetzen. Durch Auflage von warmen Tüchern (nur bei positivem Patency-Test) kann die periphere Perfusion verbessert werden. Zur Optimierung der postoperativen Trophik (Perfusion bei Kälte, Nervenregeneration) sollten so viele Arterien wie möglich genäht werden.
Mikrochirurgische Wiederherstellung der Nervenkontinuität Die Sensibilität hat für die Funktionalität der Replantats entscheidende Bedeutung. Nur intakte Nervenstümpfe (Mikroskop) dürfen koaptiert werden. Spannungsfreiheit im Koaptationsbereich ist eine absolute Voraussetzung. Präparation der Nervenstümpfe und Koaptation erfolgen nach mikrochirurgischen Prinzipien ( Kap. 8). Wir verwenden 10/0 monofiles Nahtmaterial. > Bei Nervendefektzuständen ist nur dann eine primäre Nerventransplantation indiziert, wenn unverletzte Nerventransplantate aus nicht mehr replantierbaren Anteilen (»Gewebebankkonzept«) zur Verfügung stehen. Ist dies nicht der Fall, erfolgt die Nerventransplantation frühsekundär nach 3–6 Monaten.
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
Bei Nervendefekten Im Gegensatz zu den Makroreplantationen ist eine postoperative Überwachung auf der Intensivstation nicht notwendig.
Die klinische Untersuchung sowie die Röntgenuntersuchung der rekonstruierten Hand in 2 Ebenen dienen zur routinemäßigen Ergebnisbeurteilung. Die Replantatdurchblutung wird klinisch engmaschig – alle 3 Stunden während der ersten 3 Tage – kontrolliert.
> Können während der Replantation keine adäquaten Venen präpariert werden, hat es sich bewährt, einen »second look« nach 12 Stunden durchzuführen. Durch den erhöhten venösen Druck stellen sich die Venenstümpfe im Replantatbereich dar und können nun präpariert werden. Auf den Blutverlust durch Spontanblutung ist unbedingt zu achten, eine frühzeitige Bluttransfusion ist anzuraten.
Wundschluss und postoperative Ruhigstellung Der Hautschluss muss so locker wie möglich durchgeführt werden, um jeglichen Druck auf die Gefäßanastomosen zu vermeiden. Die Indikation zur Spalthautdeckung oder lokalen Lappenplastiken ist großzügig zu stellen. > Am Ende der Operation sollte die verletzte Hand möglichst
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komplett von Blutkrusten gereinigt werden um postoperativ die Gewebedurchblutung besser beurteilen zu können und die Infektionsgefahr (koaguliertes Blut als Nährbogen für Bakterien) zu verringern.
⊡ Abb. 39.8 Venöse Lappenplastik zur Wiederherstellung der venösen Gefäßbahn und gleichzeitiger Deckung eines Hautdefektes. a Schema: Defekt der venösen Strombahn, b Schema: Spendergebiete für venöse Lappenplastiken, c Schema: venöse Lappenplastik mit venovenösem Blutstrom, d Schema: postoperativ. (Aus Berger u. Hierner 2009)
a
⊡ Abb. 39.9 Immobilisation der Hand nach Replantationen in einem Replantationsverband
b
c
d
1077 39.1 · Allgemeines
Kriterien sind Farbe (rosig, blass, bläulich), Temperatur (normal oder niedriger als der vergleichbare Finger der Gegenseite), Turgor (gestaut, prall gefüllt, leer), Kapillarfüllung bei Nagel- und Hautdruck (verstärkt, normal, nicht mehr vorhanden). Zusätzlich kann ein apparatives Monitoring durchgeführt werden. In Abhängigkeit von Quick, PTT, AT-III-Spiegel und der Thrombozytenzahl können dem Patienten während der ersten 5 Tage 500 ml Rheomakrodex 40 (R) i. v. verabreicht werden. Die rekonstruierte Hand wird auf Körperniveau gelagert. Bei geringen venösen Stauungszeichen kann die Extremität leicht hochgelagert werden. Bei zunehmender Zyanose muss die Indikation zur operativen Revision unverzüglich gestellt werden. Gefäßkomplikationen nach Replantation treten meistens als Vasospasmus oder Thrombose auf. Sie müssen sofort nach Diagnose therapiert werden. Mögliche Ursachen für einen Vasospasmus sind Hypotension, niedrige Raumtemperatur, mechanische Einwirkungen und Gefäßverletzungen. Die Therapie ist primär konservativ. Die Hauptursache für eine Thrombose ist ein verletzter Gefäßabschnitt im Anastomosenbereich oder eine postoperativ auftretende Infektion. Die Therapie ist chirurgisch. Das Gefäß wird präpariert und nach makroskopischen Verletzungszeichen untersucht. Zeigt das Gefäß keine makroskopisch sichtbaren Verletzungsmarken, wird die Anastomose untersucht und ggf. revidiert. Nach einer Thrombektomie benötigt man fast immer Veneninterponate, da die ehemalige Nahtstelle reseziert werden muss. Bestehen Prellmarken (inadäquates Débridement) wird das Gefäß bis ins Gesunde reseziert und der Defekt mit einem Veneninterponat überbrückt. Bei infektbedingter Thrombose muss der Infekt saniert werden. Da eine Gefäßanastomose und/oder ein Veneninterponat im infizierten Gebiet höchst thrombosegefährdet sind, muss ein längeres Umgehungsinterponat eingebracht werden. > Der Verbandswechsel wird täglich durch den Replanteur selbst oder einem mit Replantation Erfahrenen durchgeführt. Durchblutetes Verbandsmaterial muss vorsichtig aufgeweicht werden, da es nach Austrocknung wie ein schnürender Panzer wirkt.
durch den Blutegel selbst aufgenommene Blutvolumen mit 2–3 ml relativ gering. In Abhängigkeit vom Stauungsbefund (Hautcolorit, Blutfarbe) und von der Größe des Replantats lassen sich Anzahl und Frequenz der Blutegelapplikation gut dosieren, wobei in der Regel 2–6 Applikationen pro Tag erforderlich sind und auch bei größeren Fingerreplantaten maximal 2 Egel pro Ansatz genügen (⊡ Abb. 39.10b). Die Chance, ein Fingerreplantat ohne Venenrekonstruktion allein durch Blutegelanwendung zu erhalten, ist unter der Voraussetzung einer suffizienten arteriellen Versorgung letztlich abhängig von der Replantatgröße. Liegt die Weichteilamputationsgrenze an den Fingern distal des PIP-Gelenks und am Daumen distal des Grundphalanxköpfchens, ist nach eigenen Beobachtungen mit einer Replantatüberlebenswahrscheinlichkeit von ca. 70% zu rechnen. Allerdings muss man für die venöse Neovaskularisation die Zeitdauer von 7–10 Tagen veranschlagen. Kontrovers wird die Gefahr einer lokalen oder systemischen Infektion nach Blutegelanwendung diskutiert. Bei 58 in unserem Krankengut dokumentierten Patientenverläufen mit Blutegelapplikation nach Fingerreplantationen ergab sich nur in einem Fall der Verdacht auf eine durch Blutegelkeime ausgelöste lokale Knochenund Weichteilinfektion. Obwohl davon auszugehen ist, dass beim stressfreien Ansetzen des Blutegels der physiologische Darmkeim Aeromonas hydrophila nicht mit über den Speichel in die Bissstelle übertragen wird, haben wir bei eigenen mikrobiologischen Untersuchungen der Blutegeloberfläche weitere Keimspezies (Pseudomonas spp., Koagulase-negative Staphylokokken, vergrünende Streptokokken, Acinobacter u. a.) gefunden. Für Aeromonas hydrophila und vor allem für die anderen Keime fanden sich regelmäßig erweiterte Resistenzspektren, die durch Cephalosporine der 1. und 2. Generation nur unzureichend abgedeckt werden, sodass mit dem Einsatz von Blutegeln die systemische Antibiotikaprophylaxe auf breit wirksame Antibiotika wie Gyrasehemmer (Ciprofloxacin, Moxifloxacin) umgestellt werden sollte. > Die mögliche Wund- und Replantatkontamination mit
Einsatz medizinischer Blutegel bei Mikroreplantationen
Problemkeimen erfordert eine strenge Indikationsstellung für den Einsatz von Blutegeln. Die Anwendung von Blutegeln ist beim immunsupprimierten Patienten kontraindiziert.
Die Indikation für den Einsatz von Blutegeln (Hirudo medicinalis) nach Mikroreplantationen ist die kritische venöse Stauung. Neben einer ungenügenden Anzahl von Venenanastomosen oder deren sekundärem Verschluss tritt diese Situation regelmäßig insbesondere bei Endglied- oder Teilendgliedreplantaten ein, bei denen auf eine Venenrekonstruktion verzichtet werden musste (»artery-onlytechnique«; (⊡ Abb. 39.10a). Da selbst unter hochdosierter Antikoagulation Blutungen aus primär offen belassenen Wundbereichen durch lokale Vasokonstriktion und Eintrocknen der Wundgrenzzone nach 4–8 Stunden sistieren, sind zur Gewährleistung eines venösen Blutabstromes Hautstichelungen und -inzisionen, ggf. auch mit Heparininfiltration, am Replantat erforderlich. Während auch mit diesen Maßnahmen keine dauerhafte Blutung aufrechterhalten werden kann, bieten Blutegel hier den Vorteil einer sehr geringen, auf die punktförmige Bissstelle begrenzte Gewebetraumatisierung bei gleichzeitiger langdauernder lokaler Blutgerinnungshemmung durch die im Blutspeichel enthaltenen antikoagulatorischen Wirkstoffe. Die synergistischen Effekte von Hirudin (Thrombininhibitor), Calin (Vasodilatator) und Apyrase (Thrombozytenaggregationsinhibitor) sowie ca. 20 weiteren Substanzen blockieren die verschiedenen Mechanismen der Blutgerinnung. Dies führt nach dem Ablassen des Blutegels bis zu 10 Stunden zu einer kontrollierten Nachblutung aus der Bissstelle, im Vergleich dazu ist das
Tägliche Befundkontrollen und regelmäßige Blutbildkontrollen sind obligat, wobei eine klinisch wirksame oder gar transfusionsbedingte Anämie bei normalem Ausgangs-Hb-Wert allein durch den blutegelinduzierten Blutverlust unwahrscheinlich ist. In Vorbereitung des Blutegelansatzes sollte eine intakte Hautzone am Replantat mit einem feuchten Tupfer (Wasser, Ringerlactat) gereinigt und mit einer Kanüle punktiert werden. Letzteres dient der Beurteilung der Blutfarbe und dem »Anlocken« der Egel. Um ein stressbedingtes Exprimieren von keimhaltigem Darminhalt in die Bissstelle zu verhindern, dürfen Blutegel nicht mit der Pinzette gequetscht werden. Das Anfassen und Dirigieren der Tiere geschieht vielmehr mithilfe einer lauwarm befeuchteten Mullkompresse (⊡ Abb. 39.10c). Um das Nachbluten nicht zu behindern, wird der betroffene Finger nur mit Mullkompressen abgedeckt, aber nicht verbunden. Tägliche desinfizierende Handbäder zur Keimreduktion sowie regelmäßige Wundabstriche, insbesondere bei Anzeichen einer beginnenden Infektion (fischig-fauliger Geruch), werden empfohlen. Blutegel können nur einmal verwendet werden. Die Entsorgung erfolgt nach Abtöten im Äthertopf in einem verschlossenen Behältnis mit dem medizinischen Abfall. In Replantationszentren sollten ständig mindestens 20 Blutegel vorrätig sein, die Aufbewahrung in einem abgedunkelten Wassergefäß bei Raumtemperatur ist über mehrere Monate möglich. Die Kosten pro Blutegel sind mit 4,50 €
Während der ersten 3 postoperativen Tage empfiehlt sich Bettruhe.
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
a
b
c
⊡ Abb. 39.10 Anwendung medizinischer Blutegel nach Fingerreplantationen. a Blutegel bei Fingerendgliedreplantation ohne Venenanastomose, b Blutegel zur Behandlung einer sekundären venösen Insuffizienz am 5. postoperativen Tag nach Weichteilmantelreplantation bei Ringavulsion, c Prinzip des schonenden »stressarmen« Anbringens der Blutegel
zu veranschlagen, die Beschaffung erfolgt über die Klinikapotheke (PZN 179 70 79), wobei detaillierte Hinweise zur Aufbewahrung und Anwendung der Blutegel auch dem mitgelieferten Beipackzettel zu entnehmen sind.
Postoperative Begleittherapie und Maßnahmen Der Erfolg einer Replantation bzw. Revaskularisation im Handbereich ist abhängig von: 1. einer technisch gut durchgeführten Primäroperation (eventuell gefolgt von funktionsverbessernden Sekundäreingriffen), 2. einer früheinsetzenden krankengymnastischen und ergotherapeutischen Begleittherapie sowie 3. einer frühzeitigen sozialen und beruflichen Wiedereingliederung.
Die postoperative medikamentöse Schmerztherapie (mit nichtsteroidalen Antirheumatika; Kap. 3) hat hohe Bedeutung bezüglich der Lebensqualität des Patienten aber auch der Compliance der notwendigen postoperativen Begleittherapien. Nur der schmerzfreie bzw. schmerzarme Patient wird die handtherapeutischen Übungen konsequent durchführen. Etwa 3 Wochen postoperativ kann mit einer Kompressionstherapie zur besseren Ödemtherapie begonnen werden. Zum gleichen Zeitpunkt beginnt auch die standardisierte Narbentherapie ( Kap. 34). Da bei Handarbeitern der frühere Beruf nur in seltenen Fällen wieder aufgenommen werden kann, ist es wichtig, mit dem Patienten ausführlich die Lage zu besprechen und möglichst früh einen Antrag auf Umschulung einzureichen.
> Nur durch eine intensive krankengymnastische und ergothe-
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rapeutische Begleittherapie kann das durch die Rekonstruktion geschaffene Potenzial optimal ausgenutzt werden. Besonders wichtig sind auch Übungen für den kontralateralen Arm, damit die Patienten ihr Selbstständigkeitsgefühl zurückgewinnen.
In Abhängigkeit von den Weichteilverhältnissen und der Stabilität der Osteosynthese sollen passive Bewegungsübungen im Operationsgebiet nach frühestens 10 Tagen (Nervennaht) begonnen werden. Zum Schutz der Sehnennähte und Osteosynthese sollen nur kleine Bewegungsamplituden ausgeführt werden. Nach der knöchernen Konsolidierung (4–6 Wochen) kann eine Physiotherapie ohne Einschränkung durchgeführt werden. Eine früh einsetzende und konsequent durchgeführte Schienenbehandlung hat das Ziel sekundäre Kontrakturen zu vermeiden und die durch die Krankengymnastik gewonnenen Bewegungsräume zu bewahren. > Die besten Ergebnisse können dann durch eine mehrwöchige stationäre Anschlussheilbehandlung erzielt werden ( Kap. 16).
Adjuvante Maßnahmen Schlingen für die obere Extremität sind obsolet, da neben einer Schonhaltung mit Immobilisationsschaden oft auch eine Lymphstauung durch Einschnürung zu sehen ist. Wenn die obere Extremität ruhiggestellt werden muss, dann sollte dies in einem Dreiecktuch oder einem Gilchrist-Verband so kurz wie möglich erfolgen, um nicht einen zusätzlichen Immobilisationsschaden im Schulterbereich zu provozieren.
Nur durch eine konsequente Patientenführung zusammen mit dem Sozialdienst können wiedergewonnene Funktionen für den Patienten in seinem Alltagsleben nutzbar gemacht werden und ein soziales Abgleiten verhindert werden.
Die prothetische Versorgung nach Amputationsverletzungen im Handbereich hat hauptsächlich ästhetische Indikationen ( Kap. 41).
Funktionsverbessernde Sekundäreingriffe Unter »funktionsverbessernden Eingriffen« versteht man alle möglichen operativen Eingriffe, die nach Replantation bzw. Revaskularisation notwendig werden können, um eine Ergebnisverbesserung für den Patienten zu erreichen. Geplante, d. h. bereits zum Zeitpunkt der Primärversorgung festgelegte funktionsverbessernde Eingriffe, werden notwendig, wenn man nach dem Konzept der zweizeitigen normotopen Replantation oder der geplanten heterotopen Revaskularisation mit sekundärer normotoper Replantation (»limb-banking«) vorgeht. Im Gegensatz zur unteren Extremität ist ein Längenausgleich bei primär verkürzender Replantation routinemäßig nicht notwendig. Elektive funktionsverbessernde Operationen werden erst nach kompletter Wundheilung und einer längeren Erholungszeit für den Patienten durchgeführt. Eine exakte Diagnostik der Funktionen nach Replantation ist entscheidend für den therapeutischen Erfolg. Folgende Fragen müssen beantwortet werden: 1. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation möglich? 2. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation sinnvoll?
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⊡ Tab. 39.7 Funktionelle Ergebnisse nach komplexer Knochen-Weichteil-Verletzung und Amputationsverletzungen beim Erwachsenen Millesi
Einzelfinger Daumen
8000
Finger
7030
Mehrfinger
3940
Tamai Sehr gut
gut
befriedigend
unzufrieden
66%
24%
10%
0%
9,8%
52,2%
24,6%
13,1%
Ein rekonstruktiver Eingriff nach Replantation ist nur sinnvoll, wenn er den Bedürfnissen des Patienten gerecht wird und eine ausreichende Compliance des Patienten für den vorgeschlagenen Eingriff und die oft lange Rehabilitation bestehen. > Aufgrund des vorgeschädigten Operationsgebietes muss mit einer größeren Morbidität gerechnet werden. Abhängig von der Amputationshöhe und dem Amputationsmechanismus sind bei etwa 50% der Patienten 1–3 funktionsverbessernde Sekundäroperationen notwendig.
Sekundäreingriffe nach Replantation im Handbereich sind technisch oft schwierige Operationen, da sie meist in der Nähe der Gefäßanastomosen im Narbengebiet ausgeführt werden müssen. Wegen der Unübersichtlichkeit oder atypischen Gefäßverbindungen besteht hier immer die Möglichkeit der Gefäß- und/oder Nervenverletzung. Deshalb sollten alle Strukturen primär bei der Replantation rekonstruiert werden, um die Zahl der Sekundäreingriffe auf ein Mindestmaß zu reduzieren. > Es ist daher sinnvoll, dass solche Nachoperationen vom Replanteur selbst durchgeführt werden.
Elektive funktionsverbessernde Eingriffe betreffen Sehnen, Knochen und Gelenke, Nerven und die Haut. Operationen an Sehnen stellen die häufigsten Eingriffe dar. Wegen der langen Ruhigstellung einzelner Gelenke durch die Osteosynthese und die Sehnennaht kommt es zu ausgedehnten Verwachsungen in Sehnennahtbereich, die durch Nachbehandlung in vielen Fällen nicht mehr gelöst werden können. Die operative Tenolyse in Kombination mit einer intensiven postoperativen Begleittherapie ist notwendig. Auf eine erhöhte Gefahr der sekundären Sehnenruptur ist zu achten. Durch Nahtdehiszenzen kommt es vor allem im Beugesehnenbereich zu langen Defektstrecken, die dann nur durch eine zweizeitige Beugesehnenrekonstruktion therapiert werden können. Besteht gleichzeitig ein Nervendefekt, sollte die Nerventransplantation simultan mit der Implantation des Silikonstabes erfolgen. Postoperativ darf die Physiotherapie dann frühestens erst ab dem 5. postoperativen Tag beginnen. Beim zweiten Schritt der Beugesehnenrekonstruktion kann die Kontinuität des rekonstruierten Nervs bei Bedarf kontrolliert werden. Wegen der möglichst frühzeitigen Mobilisierung zur Vermeidung von Sehnenadhäsionen und/oder Gelenksteifen kommt es zur Ausbildung von Pseudarthrosen. Auch hier sind sekundäre Eingriffe nicht vermeidbar, obwohl gelegentlich ausgedehntere Wackelbewegungen in solchen nicht durchbauten Bruchspalten funktionell günstig sind. Dies gilt besonders dann, wenn die Nachbargelenke zerstört sind. Durch längere Ruhigstellung in Kombination mit dem Trauma können Gelenksteifen auftreten. Prinzipiell sollte versucht werden diese durch Physiotherapie zu verbessern, da die Ergebnisse der offenen Arthrolysen nicht sehr gut sind.
Durch ausgedehnte Narbenfelder kann eine funktionelle Beeinträchtigung entstehen. Weichteilverbessernde Eingriffe können deshalb notwendig werden.
Ergebnisse Die Bewertung der Ergebnisse nach Amputationsverletzungen im Handbereich kann man nach dem Frühergebnis oder dem Vitalitätserhalt und dem funktionellen Spätergebnis klassifizieren. Die Einheilungsrate nach Replantation / Revaskularisation ist abhängig vom Amputationsmechanismus, der Amputationshöhe sowie vom Alter und Zustand des Patienten. Die Ischämiezeit spielt bei Mikroreplantationen im Fingerbereich eine eher untergeordnete Rolle. Glattrandige Amputationsverletzungen zeigen eine höhere Überlebensrate als Amputationen mit Quetschungen und Avulsionen. Einzelfingerreplantationen haben prinzipiell eine bessere Prognose bezüglich der Überlebensrate als Mehrfingeramputationen. Patienten mit komplexen Knochen-Weichteil-Verletzungen zeigen oft schlechtere funktionelle Ergebnisse als glattrandige totale Amputationen. Das funktionelle Ergebnis kann nach Tamai (1982) und Millesi (1985) und durch eine subjektive Bewertung durch den Patienten klassifiziert werden (⊡ Tab. 39.7). Durch Veränderungen in der Gesundheitspolitik werden Aufwand und Nutzen der Replantationschirurgie im Vergleich zur einfachen Stumpfversorgung immer häufiger hinterfragt. > Durch die erfolgreiche Replantation kommt es zu einer Verringerung der MdE und somit zu einer langfristigen Kosteneinsparung.
Ein Vergleich der beiden Therapiemöglichkeiten hinsichtlich der Kosten für die Erstversorgung, Sekundäroperationen, Arbeitsunfähigkeit, beruflichen Wiedereingliederung, Minderung der Erwerbsfähigkeit, durchschnittlichen Behandlungsdauer, durchschnittlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit, Operationsrisiko, Beeinträchtigung der Handfunktion, des ästhetischen Ergebnisses und der Integrität des Körperschemas wird in ⊡ Tab. 39.8 dargestellt. Zur Berechnung der Kosten werden die finanziellen Aufwendungen der Replantation und der primären Stumpfversorgung nach 1. Amputation einzelner Finger, 2. Daumenamputation und 3. Mehrfingeramputation mit Daumenbeteiligung errechnet und miteinander verglichen. Als Kalkulationsgrößen dienen die medizinischen Kosten, aufgeteilt in 1. Kosten der Primärversorgung, Kosten für Sekundäreingriffe und Kosten für ambulante (und stationäre) Nachbehandlung, 2. Kosten durch die Arbeitsunfähigkeit, 3. Kosten für die berufliche Wiedereingliederung (inklusive Umschulungsmaßnahmen) und 4. Kosten, welche aus der Minderung der Erwerbsfähigkeit entstehen.
39
1080
Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
Die finanziellen Kosten wurden exemplarisch für einen 25-jährigen und einen 50-jährigen Handarbeiter mit einem Gehalt von 1.250 Euro bzw. 1.500 Euro errechnet. Aus rein finanzieller Betrachtungsweise ist eine Replantation bei einzelner Fingeramputation für einen 50-jährigen Handarbeiter nicht gerechtfertigt. Bei einem 25-jährigen Handarbeiter kosten Replantation und primäre Stumpfversorgung in etwa gleich. Die Entscheidung für oder gegen eine Replantation muss auf-
grund anderer Kriterien gefällt werden. Sowohl bei der einzelnen Daumenamputation als auch bei der Mehrfingeramputation mit Daumenbeteiligung ist eine Replantation aus rein finanzieller Betrachtungsweise für beide Kollektive rentabel. Der Vorteil der deutlich geringeren medizinischen Kosten bei der primären Stumpfversorgung geht durch die signifikant höheren Kosten aufgrund der erhöhten Minderung der Erwerbsfähigkeit im Vergleich zur Replantation auf längere Sicht verloren (⊡ Abb. 39.11).
⊡ Tab. 39.8 Vergleich der Vor- und Nachteile der Replantation und der primären Stumpfversorgung. (Aus Berger u. Hierner 2009) Kriterien
Replantation
Stumpfversorgung
Kosten der Erstversorgung
Hoch
Gering
Operationsdauer
2–3 Stunden/Finger
Bis 1 Stunde
Dauer des stationären Aufenthalts
10–14 Tage
0–1 Tag
Durchschnittliche Anzahl der Sekundäroperationen
1–3
0–1
Kosten für Arbeitsunfähigkeit
Hoch
Gering
Kosten für berufliche Wiedereingliederung
Hoch
Niedrig
Kosten für MdE
Verringert
Hoch
Durchschnittliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit
3–6 Monate
1 Monat
Durchschnittliche Behandlungsdauer
Bis 12 Monate
1 Monat
Beeinträchtigung der Handfunktion
Verringert
Ja
Ästhetisches Ergebnis
Verbessert
Schlecht bzw. nicht sichtbar
Integrität des Körperschemas
Ja
Nein
Tausend 600
39 500
400
300
200
100
0 25
⊡ Abb. 39.11 Kostenentwicklung nach Replantation und primärer Stumpfversorgung im Handbereich. (Aus Berger u. Hierner 2009)
25 LF-Replant 25 LF-Stumpf 50 LF-Replant 50 LF-Stumpf
50 25 D-Replant 25 D-Stumpf 50 D-Replant 50 D-Stumpf
66 Jahre 25 Mult-Replant 25 Mult-Stumpf 50 Mult-Replant 50 Mult-Stumpf
1081 39.1 · Allgemeines
> Aus rein finanzieller Betrachtungsweise ist eine Replantation im Handbereich mit Ausnahme der isolierten Fingeramputation beim älteren Patienten gerechtfertigt. Obwohl die Kosten heute einen wichtigen Faktor für die Wahl des Therapieverfahrens darstellen, müssen darüber hinaus auch noch andere Kriterien und vor allem der zu erwartende Benefit der Replantation in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden. Betrachtet man alle Entscheidungskriterien, so ergeben sich eindeutige Indikationen und Kontraindikationen zur Replantation im Handbereich.
39.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Amputationsverletzungen im Kindes- und Jugendalter ( Die endgültige Einschätzung der Operationsmöglichkeit bei Avulsionsverletzungen sollte immer intraoperativ erfolgen, da das tatsächliche Schadensausmaß nur unter Zuhilfenahme des Operationsmikroskopes ausreichend beurteilbar ist.
39
Avulsionsamputation am Daumen Leider ist der Daumen als wichtigster Finger sehr häufig betroffen. In unserem Krankengut waren von 1985–2000 von 127 Daumenamputationen 27 Ausrissverletzungen (21%) zu versorgen. In etwa 30% der Avulsionsverletzungen ist mit Begleitverletzungen zu rechnen, die man nicht übersehen sollte (⊡ Abb. 39.17). Die Überlebensrate von Daumenavulsionsverletzungen wird in der Literatur mit 26–100% angegeben. In unserem Krankengut lag sie bei 48% (⊡ Tab. 39.10). Grundsätzlich sollte man bei Daumenavulsionsverletzungen eine primäre Rekonstruktion aller Strukturen anstreben. Nach unseren Erfahrungen sind bei der arteriellen Rekonstruktion in 43% End-zu-End-Anastomosen möglich. In 57% der Fälle müssen Veneninterponate zur Rekonstruktion der arteriellen Strombahn verwendet werden. Auch die Umlagerung und der Anschluss einer palmaren Arterie des Nachbarfingers sind in der Literatur beschrieben. Bei der arteriellen Rekonstruktion muss darauf geachtet werden, dass die zu anastomosierenden Arterien sicher im Gesunden débridiert werden. Die Länge der Veneninterponate hat keinen entscheidenden prognostischen Einfluss. Die venöse Rekonstruktion erfolgte in 80% mit End-zu-End-Naht und in 20% durch Venentransposition von Venen des 2. Fingers. Für die Rekonstruktion der dorsalen Venen können neben Veneninterponaten auch freie venöse Durchflusslappen vom Unterarm und Fußrücken eingesetzt
⊡ Tab. 39.10 Studien über Ausrissverletzungen am Daumen Autor
Jahr
Anzahl
Überlebensrate (%)
Biemer
1978
4
100
Schlenker
1980
12
42
Lobay u. Moysa
1981
23
54
Hamilton
1984
29
45
Cheng
1985
15
93
Bieber
1987
39
26
Ward
1991
13
46
Bowen
1991
23
83
Arakaki u. Tsai
1993
24
58
Azis
1998
27
48
Friedel
2001
27
48
Gülgönen et al.
2007
46
84,7
werden. Die venösen Durchflusslappen bieten sich bei kombinierten Weichteil- und Venendefekten an. Eine Rekonstruktion der palmaren Fingernerven ist bei Avulsionsverletzungen oft nur sekundär möglich. Ist nach sparsamem Nervendébridement und Verkürzung des Fingers eine spannungsfreie End-zu-End-Naht der palmaren Nerven nicht möglich, so ist diese Technik der sekundären Nerveninterposition vorzuziehen. Aufgrund des ausgedehnten Weichteilschadens nach Ausrissverletzungen, der weit distal reichenden Schädigung und der Vernarbungen ist eine sekundäre Nervenrekonstruktion deutlich erschwert. Distal ausgerissene Nerven mit proximaler Kontinuität nach Klasse-IV-Ausrissen (Ringavulsionen) werden in den revaskularisierten Weichteilmantel zurückverlagert und können so distal in die Fingerbeere aussprossen. Alternativ können auch primäre Nerventranspositionen von Nachbarfingern durchgeführt werden. Bezüglich der sensiblen Funktion nach sekundären Nervenrekonstruktionen werden in der Literatur mäßige bis schlechte Ergebnisse angegeben. Von 13 erfolgreich replantierten Ausrissverletzungen des Daumens beobachteten wir nur 2 Patienten mit einer 2-Punkt-Diskrimination statisch Am Daumen ist nach Replantation der Stabilität gegenüber der Beweglichkeit der Vorrang einzuräumen. Schwere Quetschverletzungen oder Etagenausrissamputationen gelten als Kontraindikation zur Replantation.
Avulsionsamputation der Finger Ringavulsionen der Finger sind auch an großen Replantationszentren seltene Verletzungen. Es handelt sich meist um sehr junge Patienten, welche in Unkenntnis der Risiken mit ein oder mehreren Ringen am Finger Hindernisse oder Zäune überklettern. Ringavul-
1087 39.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 39.17 Ausrissverletzung des rechten Daumens bei einer 47 Jahre alten Frau bei Bohrarbeiten mit Schutzhandschuhen. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme: Amputationsstumpf – Ausrissamputation im IP-Gelenk mit Skelettierung der Grundphalanx, b klinischer Aspekt bei Aufnahme: Amputat mit Ausriss der EPL- und FPL-Sehne am Sehnen-Muskel-Übergang, c radiologischer Aspekt bei Aufnahme: Luxationen CMC-Gelenke II und III, d Schema: Aufgrund des Unfallmechanismus besteht ein langstreckiger Intimaschaden im Bereich der Arterien. Die Indikation zum Einsatz eines invertierten Veneninterponats ist großzügig zu stellen. Die Basis der Endphalanx wird entknorpelt und für eine IP-Gelenarthrodese vorbereitet (aus Berger u. Hierner 2009). e Klinischer Aspekt 4 Tage nach Replantation venöse Thrombose mit drohendem Verlust des Replantats, f klinischer Aspekt: orthograde Lyse über A. radialis mit Urokinase 500.000 E/24 h 3 Tage, g intraoperativer Aspekt: sekundäre Nervenrekonstruktion mit Nerventransplantaten 3 Monate nach Replantation zur Rekonstruktion von N2, h Funktion 9 Monate nach Replantation: 2-Punkt-Diskrimination statisch, N2: 8 mm, i Funktion 9 Monate nach Replantation: Spitzgriff
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
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⊡ Abb. 39.18 Ringavulsionverletzung am 4. Finger ( Kay IV) nach Abspringen von einem Baumhaus. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme. b Schema: Aufgrund des Unfallmechanismus besteht ein langstreckiger Intimaschaden im Bereich der Arterien. Die Indikation zum Einsatz eines invertierten Veneninterponats ist großzügig zu stellen. Die Basis der Endphalanx wird entknorpelt und für eine DIP-Gelenk-Arthrodese vorbereitet. c Schema: Der proximale arterielle Anschluss erfolgt in Hohlhandhöhe. Besteht zusätzlich eine längerstreckige Schädigung der dorsalen Venen, kann ein gestielter dorsaler venöser Lappen vom Nachbarfinger verwendet werden. d Postoperativer radiologischer Aspekt, e Funktion 2 Jahre nach Replantation: Fingerstreckung, f Funktion 2 Jahre nach Replantation: Faustschluss: Ansicht von lateral, g Funktion 2 Jahre nach Replantation: Faustschluss: Ansicht von palmar, h Funktion 2 Jahre nach Replantation: Grobgriff. (Berger u. Hierner 2009 [b, c])
sionsverletzungen vom Typ IV nach Kay (⊡ Tab. 39.6) gehören zu den am schwierigsten zu behandelnden Amputationsverletzungen (⊡ Abb. 39.18). Leider nehmen gerade die kompletten Ringavulsionen einen Anteil von 50–70% aller Verletzungen ein. In unserem Krankengut waren von 22 Ringavulsionen in den letzten 10 Jahren 16 (72%) komplette Amputationsverletzungen. Gerade der Ringfinger hat eine besonderen Einfluss auf den Kraftgriff und natürlich auch eine symbolische Bedeutung für den Patienten. Die Indikation zur Replantation besteht bei allen Verletzungstypen. Die bereits beschriebene Klassifikation nach Kay mit prognostischer Relevanz
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hat sich in der klinischen Praxis bewährt. Die Amputationshöhe proximal oder distal des Ansatzes der FDS-Sehne hat entgegen der Klassifikation von Adani lediglich einen Einfluss auf die PIP-Gelenk-Beweglichkeit, nicht aber auf den Erfolg der Replantation. Die Mitbeteiligung des Skeletts führt zu einer signifikanten Verschlechterung der Beweglichkeit, zur Verlängerung der Rehabilitationszeit und zur Verminderung der Einheilungsrate. Bei den Typ-IV-Verletzungen sind nahezu immer Veneninterponate für die arterielle Rekonstruktion erforderlich. Alternativ kann auch ein palmarer »vessel shift« zur arteriellen Rekonstruktion eigesetzt werden, wenn eine End-zu-End-Naht anatomisch nicht möglich ist. Die dorsalen
1089 39.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 39.19 Mittelhandamputation durch eine Holzspaltmaschine mit Etagenamputation des Zeigefingers. Primäre Versorgung aller Strukturen (OP-Zeit: 12 h). a Klinischer Aspekt bei Aufnahme: Amputationsstumpf, b klinischer Aspekt bei Aufnahme: Amputat, c radiologischer Aspekt präoperativ: Amputationsstumpf, d radiologischer Aspekt präoperativ: Amputat, e intraoperatives Bild: Plattenosteosynthese MC III,IV,V; 2 Arterien, 4 Venen, 4 Nerven), f postoperativer radiologischer Aspekt, g Funktion 8 Monate nach Replantation: Fingerstreckung, h Funktion 8 Monate nach Replantation: Faustschluss, Ansicht von ulnar, i Funktion 8 Monate nach Replantation: Faustschluss, Ansicht von radial
Venen werden meist in Höhe der Hautabtrennung rupturiert gefunden und lassen sich oft End-zu-End anastomosieren. Entscheidend für die Prognose bezüglich des Vitalitätserhaltes sind der Weichteilschaden und die Distanz zwischen Amputationshöhe der Haut und dem distalen Anschluss des Veneninterponates. Zur Osteosynthese werden ausschließlich Kirschner-Drähte empfohlen. Zur Prophylaxe von Ringavulsionen kann sowohl die Aufklärung von Jugendlichen über diese mögliche Gefahr, als auch die Verwendung nicht geschlossener Ringe beitragen. Im Bereich des Amputationsstumpfes erfolgt ein Débridement und die Gelenkfläche der Mittelphalanx wird entknorpelt und für eine Arthrodese angeschrägt. Die Schnitterweiterung in die Hohlhand erfolgt so weit, bis ein makroskopisch gesunder gut blutender Gefäßstumpf vorliegt. Am Amputat wird über einen mediolateralen Zugang in Höhe des Endgelenks diejenige A. digitalis propria aufgesucht, welche am kürzesten ist. Über den gleichen Zugang wird die Basis der Endphalanx für die Arthrodese vorbereitet. Die Kombination eines axial eingebrachten Kirschner-Drahtes (1,0–1,2 mm) mit einer Draht-Cerclage (0,6 mm) hat sich bestens bewährt. Die Rekonstruktion von Beuge- und Strecksehne ist bei versteiftem Gelenk nicht notwendig. Der arterielle Anschluss erfolgt immer über ein langes invertiertes Veneninterponat von Unterarm. Beachtet werden muss, dass durch den Ausriss der Arterien die Intima häufig über lange Strecken schlauchartig separiert und losgelöst ist. Dieser Gefäßabschnitt muss reseziert werden. Der distale Anschluss erfolgt in Höhe oder knapp distal des Endgelenks. Die Wiederherstellung der nervalen Kontinuität muss individuell erfolgen. Häufig sind
Nerveninterponate erforderlich, welche frühsekundär eingebracht werden. Gelegentlich ist nur noch ein proximaler Stumpf vorhanden, welcher genutzt wird um die funktionell wichtige Hemipulpa zu reinnervieren. Die dorsalen Venen haben ihre Abtrennungslinie meist am Rand des Hautabrisses. In einigen Fällen ist nach Débridement eine direkte Anastomosierung möglich. Bei zusätzlichem dorsalem Weichteildefekt sollte eine venöse Lappenplastik mit venovenösem Blutfluss eingebracht werden. > Replantationssequenz bei Skelettierungsamputationen 1. Wundreinigung, Desinfektion und Débridement 2. Arthrodese 3. Mikrochirurgische Wiederherstellung der arteriellen Strombahn (mit Veneninterponat) 4. Mikrochirurgische Wiederherstellung der Nervenkontinuität (fakultativ) 5. Mikrochirurgische Wiederherstellung der venösen Strombahn 6. Wundschluss und postoperative Ruhigstellung
39.2.6 Amputation in Zone 4 und 5
(Mittelhand und Handwurzel) Replantationen im Mittelhandbereich erfordern ein Debridement von zerstörter und nicht revitalisierbarer intrinsischer Muskulatur. Wann immer möglich, sollte als erster Schritt eine stabile Plattenosteosynthese durchgeführt werden (⊡ Abb. 39.19).
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
Replantationssequenz bei Zone-4-, 5- und -6-Replantationen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wundreinigung, Desinfektion und Débridement Osteosynthetische Versorgung Versorgung der Beugesehnenverletzungen Mikrochirurgische Wiederherstellung der arteriellen Strombahn Mikrochirurgische Wiederherstellung der Nervenkontinuität Versorgung der Strecksehnenverletzungen Mikrochirurgische Wiederherstellung der venösen Strombahn Wundschluss und postoperative Ruhigstellung
Der Karpaltunnel wird routinemäßig gespalten, um eine sekundäre Druckerhöhung im Karpalkanal mit allen negativen Folgen für die
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⊡ Abb. 39.20 Möglichkeiten der Wiederherstellung der arteriellen Strombahn. a Mobilisierung des Arcus palmaris, b kurzes Veneninterponat, c langes Veneninterponat aus dem Fußrückenbereich, d Spenderstelle. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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zu rekonstruierenden Nerven zu vermeiden. Auf quer eingebrachte Kirschner-Drähte sollte man verzichten, da diese den physiologischen Handbogen aufheben und zu zusätzlichen Nervenverletzungen führen können. Die primäre Naht der oberflächlichen und tiefen Beugesehnen ist immer anzustreben. Oberflächliche Beugesehnen können aber auch bei Sehnendefekten als primäre Interponate für die tiefen Beugesehnen oder Strecksehnen verwendet werden. Die Rekonstruktion der vom oberflächlichen Hohlhandbogen abzweigenden Aa. digitales communis macht in der Regel keine Probleme. Die primäre Rekonstruktion der Nerven ist anzustreben, da jeglicher sekundäre Eingriff durch erhebliche Narbenbildung erschwert wird. Bei Amputationsverletzungen in Zone 5 (proximal des Hohlhandbogens) und distal des Karpometakarpalgelenks müssen Handgelenkstrecker und -beuger reinseriert werden. Bei Zerstörung des Hohlhandbogens im Mittelhandbereich kann der oberflächliche Venenbogen vom Fuß eingesetzt werden (⊡ Abb. 39.20).
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1091 39.2 · Spezielle Techniken
Nervendefekte können primär oder frühsekundär versorgt werden. Zur Deckung von Hautdefekten können Hautersatzstoffe, Spalthauttransplantate, Vollhauttransplantate aus der Leiste und gestielte und freie mikrovaskuläre Lappenplastiken verwendet werden. Der kurzzeitige ( Jeder Funktionsgewinn durch Replantation eines funktionstüchtigen Handanteils ist für den Patienten ein deutlicher Gewinn, da zumindest eine Grobgreiffunktion wiedergewonnen werden kann und der Patient somit zumindest eine Hilfshand für höhere bimanuelle Tätigkeiten hat.
Operationstechnisch ist so vorzugehen, als ob es sich um zwei voneinander getrennte Replantationen handelt. Die operativen Schritte entsprechen den zuvor für die unterschiedlichen Amputationsniveaus beschriebenen. Zuerst wird der körpernahe Amputatteil replantiert. Bei guter Perfusion dieses Anteils erfolgt die Replantation des körperfernen Amputats. Es ist darauf zu achten, dass durch Manipulationen an dem zuvor replantierten proximalen Amputat die Durchblutung beeinträchtigt werden kann. Bei Mehretagenverletzungen ist zu überlegen, ob die Replantation eines funktionstüchtigen Handteiles oder Segmentes einen Funktionsgewinn für den Patienten als Beihand bringen kann. Zuerst wird der körpernahe Anteil mit allen Strukturen replantiert. Er dient quasi als Durchflusslappen für den körperfernen Anteil. Bei guter Perfusion des proximalen Segmentes kann das distale Segment replantiert werden. So ist bei einer Etagenamputation der Hand in Zone 6 und einer zusätzlichen 2-Etagen-Makroamputation durch eine Fleischwolfverletzung zumindest eine Segmentreplantation des intakten Ellenbogengelenks zur besseren späteren prothetischen Versorgung indiziert. Umgekehrt kann eine in Zone 6 amputierte Hand mit begrenztem Weichteilschaden an einen Unterarmoder Oberarmstumpf mit funktionellem Nutzen für den Patienten replantiert werden ( Abschn. 58.2.3). 39.2.9 Bilaterale Amputationsverletzungen in
Zone 6 Bei bilateralen Amputationsverletzungen sollte immer eine normotope Replantation versucht werden. Ist dies nicht möglich, so kann eine heterotope oder »Cross-over-Replantation« durchgeführt werden. 39.2.10 Technik der Stumpfbildung im Fingerbereich Zur Erhaltung möglichst vieler verschiedener Funktionen der Hand und unter Berücksichtigung ästhetischer und sozialer Aspekte müssen folgende Anforderungen an eine adäquate Stumpfversorgung gleichzeitig erfüllt werden, nämlich die Erhaltung einer möglichst langen Restlänge, eine funktionelle gute Weichteildeckung und Schmerzfreiheit bei guter Sensibilität. Die Bedeutung der einzelnen Finger für die Funktion der Hand als Ganze ist unterschiedlich einzustufen. So ist am Daumen auch noch das distalste Teilstück aus funktionellen Erwägungen heraus kostbar. Eine entscheidende Beeinträchtigung der Daumenfunktion und damit auch der Funktion der Hand als Ganze ergibt sich bei Amputationen proximal des IP-Gelenks. Die einzelnen Abschnitte der Finger, wie auch die Finger untereinander, haben in Bezug auf Amputationsverletzungen eine
unterschiedliche Wertigkeit. Die Basen der Phalangen stellen als Gelenkkörper funktionell besonders wichtige Strukturen dar und sollten daher, wenn möglich, immer erhalten bleiben. Die Basen der Endphalangen sind zudem Ansatz für die Sehnen der tiefen Beuger und Strecker und tragen den Nagelbett-Nagel-Komplex. An den Basen der Mittelphalangen setzen die Sehnen der oberflächlichen Beuger an. Im Hinblick auf die verbleibende Beugekraft sollte die Amputationslinie daher nicht proximal des Ansatzes der oberflächlichen Beugesehnen zu liegen kommen. Bei Amputationen proximal der Mittelgelenke kann der verbleibende Stumpf nur noch von den Binnenmuskeln der Hand und den langen Streckmuskeln bewegt und bis etwa 45° einigermaßen kräftig gebeugt werden. Die Basen der Grundphalangen haben überdies eine wichtige Funktion für den Erhalt der Kommissuren und verhindern damit Retraktion und Achsenabweichung der benachbarten Finger. Im Bereich der Metakarpalia setzen wichtige Muskeln für die Handgelenkbewegung an. Bei der Resektion eines einzelnen Strahles sollte daher die Basis des Metakarpale möglichst in situ belassen werden. Die Situation an den Fingern selbst muss im Einzelnen bewertet werden. Liegt die Amputationshöhe am Zeigefinger proximal des Endgliedes, so übertragen die meisten Patienten den Spitzund Schlüsselgriff und das Auflesen kleinerer Gegenstände auf die intakte Mittelfingerspitze. Um eine problemlose Deckung mit verfügbaren Weichteilen zu erreichen, kann deshalb der Knochen so weit wie nötig gekürzt werden. Der Mittelfinger ist bei einer Amputation distal des Ansatzes der Sehne des M. flexor digitorum superficialis nur mehr für den Grobgriff einsetzbar. Bei Amputationen proximal dieses Sehnenansatzes nimmt der übriggebliebene Stumpf jedoch nicht mehr an aktiven Beuge- und Streckbewegungen teil, sodass dessen Erhaltung mehr der Kosmetik als der Funktion dient. Ring- und Kleinfinger werden in der Hauptsache für den Zangen- und Grobgriff benötigt, sodass auch ihre Länge möglichst erhalten bleiben sollte. Bei nicht handwerklich tätigen Patienten, vor allem auch bei Frauen, kann aus ästhetischer Indikation primär oder sekundär eine radiale oder ulnare Handverschmälerung durchgeführt werden. Bei Amputationen der zentralen Strahlen, also von Mittel- und Ringfinger in Höhe der Grundgelenke, entstehen funktionelle Probleme, sodass kleinere Gegenstände vom Patienten nicht mehr sicher erfasst werden und durch die entstehende Lücke zwischen den beiden Fingern aus der Hand fallen können. Deshalb sollte in diesen Fällen primär oder sekundär eine Strahlresektion mit plastischer Handverschmälerung und Strahltransposition erwogen werden. Im Bereich der randständigen Strahlen (Zeigefinger und kleiner Finger) sollte bei Handarbeitern zur Erhaltung einer möglichst großen Kraftentwicklung der betroffenen Hand das Metakarpaleköpfchen belassen werden. Da die Haut der Palmarseite die bessere Sensibilität und größere mechanische Beanspruchbarkeit aufweist, sollte immer versucht werden, einen palmaren Hautlappen zu bilden und diesen dann nach dorsal zu schlagen (⊡ Abb. 39.26). Besteht die Aussicht, das funktionelle Ergebnis der Operation zu verbessern, ist es durchaus gerechtfertigt, den Knochen weiter nach proximal zu kürzen, als es der Höhe des unverletzten umgebenden Weichgewebes entspricht ( Abschn. 37.2.1) Die Operation erfolgt in Rückenlage. Eine Amputationshöhe distal der Grundphalanx ermöglicht eine Oberst-Leitungsanästhesie sowie eine lokale Fingerblutleere. Bei einer Amputationshöhe proximal der Grundphalanx empfehlen sich Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Die genaue Höhe der Amputation sollte von Art und Ausdehnung des bestehenden Weichteil-Knochen-Schadens abhängig
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
gemacht und unter Berücksichtigung funktioneller (Handarbeiter/ Kopfarbeiter) und ästhetischer (Männer/Frauen) Gesichtspunkte, des Alters (Kinder/Erwachsene) und allgemeiner Faktoren (Allgemeinzustand, Nikotin-, Alkoholabusus etc.) festgelegt werden. Für die Amputation selbst ist zu beachten, dass der zur Deckung des Knochenendes vorgesehene Weichteillappen in seiner Länge dem jeweiligen Stumpfdurchmesser entsprechen muss, dass er als Ganzes gut durchblutet und auch in seiner neuen Position lebensfähig sein und schließlich dass er möglichst viele sensible Endorgane enthalten sollte. Wenn es die Situation erlaubt, wird man einen palmaren Hautlappen bilden, dessen Narbe auf der Dorsalseite des Stumpfes zu liegen kommt. Je nach Lokalisation können auch lateral bzw. dorsal gestielte Hautlappen oder freie Hauttransplantate gewählt werden, um eine weitere funktionsmindernde Fingerkürzung zu vermeiden. Die Knochenenden im Bereich der Basen der Phalangen müssen mit der Luer-Zange rund geformt werden. Bei Amputationen im Bereich der Interphalangealgelenke muss der geschädigte Gelenkknorpel entfernt werden. Bei noch intaktem Gelenkknorpel kann dieser bei ausreichender Weichteildeckung belassen werden, um eine stabilere Stumpfsituation zu erhalten. Auch sind die Kondylen an beiden Seiten abzutragen, damit der Stumpf nicht breit ausladend wird und die lokal vorhandene Haut zur Deckung ausreicht. Die Enden von Beuge- und Strecksehnen werden gefasst, aus der Wunde herausgezogen und gekürzt. Keineswegs darf man ihre Stümpfe jedoch zur Abpolsterung über der Knochenspitze adaptieren, weil dadurch das Zusammenspiel der Sehnen an den unverletzten Fingern im Sinne eines Quadriga-Phänomens erheblich gestört wird.
Die Arterien werden ligiert, die Venen koaguliert und die palmaren Nerven gekürzt und zusätzlich ligiert, um eine schmerzhafte Neurombildung zu vermeiden. Alternativ kann bei handwerklich arbeitenden Patienten der Nerv im Fingerbereich lang gelassen, die Kortikalis angebohrt und der Nerv intraossär verlagert werden. Der Hautverschluss über dem Stumpf muss spannungsfrei erfolgen, um eine überschießende Narbenbildung zu vermeiden, wie sie bei unter Spannung angelegten Nähten häufig auftritt, sodass der Stumpf schmerzhaft werden kann. Bereits primär ist auf eine kosmetisch günstige Stumpfdeckung zu achten. Postoperativ wird der Finger auf einer Zwei-Finger-Schiene für 3–5 Tage ruhiggestellt. Eine frühzeitige Mobilisierung und Desensibilisierung sollte durchgeführt werden. Ein inadäquater Amputationsstumpf kann durch ungenügende Weichteildeckung bzw. schmerzhafte Neurome in der Belastungszone bedingt sein. Zur Korrektur wird der Hautschnitt so gewählt, dass nach Resektion des Narbengewebes ein palmarer Hautlappen gebildet werden kann, wobei eine fischmaulförmige Inzision vorzuziehen ist. Bei zu langen Knochenanteilen oder beim Vorliegen von scharfen Vorsprüngen wird zunächst der Knochen nachgekürzt. Sollte bereits ein Neurom vorliegen, so muss dieses in eine unvernarbte und mechanisch nicht belastete Region transponiert werden. Dies erfolgt entweder durch Kürzung, intraossäre Verlagerung oder beidseitige Neuromresektion und Stumpfkoaptation. Zur Vermeidung einer erneuten Narbenbildung ist auf einen spannungsfreien Verschluss zu achten. Eine Nachresektion mit Stumpfbildung sollte erst dann durchgeführt werden, wenn feststeht, dass eine schmerzfreie Weichteil-
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⊡ Abb. 39.23 Posttraumatische Amputation des Zeigefingers bei einer jungen Frau. a Klinischer Aspekt 1 Jahr nach Stumpfbildung: Ansicht von dorsal, b klinischer Aspekt 1 Jahr nach Stumpfbildung: Ansicht von lateral (Fingerstreckung), c klinischer Aspekt 1 Jahr nach Stumpfbildung: Ansicht von lateral (Fingerbeugung), d klinischer Aspekt nach Versorgung mit ästhetischer Prothese: Ansicht von dorsal, e klinischer Aspekt nach Versorgung mit ästhetischer Prothese: Ansicht von lateral (Fingerstreckung), f klinischer Aspekt nach Versorgung mit ästhetischer Prothese: Ansicht von lateral (Fingerbeugung)
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1095 39.2 · Spezielle Techniken
deckung mit guter Sensibilität und Belastbarkeit nicht oder nur mit großem Aufwand bzw. langem Krankenstand zu erreichen ist. Besteht die Möglichkeit, durch Opferung von Knochen- und damit Fingerlänge eine sensible und funktionell gut belastbare Fingerkuppe in kurzer Zeit zu rekonstruieren, sollte bei Zustimmung des Patienten die Indikation zur Nachresektion und Stumpfversorgung erwogen werden. Eine Stumpfversorgung ist insbesondere dann indiziert, wenn die Amputation nur einen oder maximal zwei Finger betrifft und keine zusätzlichen Schäden der anderen Finger bestehen oder weniger als die Hälfte des Nagelbett-Nagel-Komplexes ohne Aussicht auf funktionelle oder ästhetische Nagelrekonstruktion erhalten ist . > Eine Knochenkürzung mit dem Ziel eines primären Verschlusses ist am Daumen generell kontraindiziert und an den Fingern dann, wenn mehr als die Hälfte des Nagelkomplexes erhalten ist, bei polydigitalen Verletzungen sowie bei Kindern und aus ästhetischen Gründen bei Frauen .
Die postoperative Nachbehandlung eines Amputationsstumpfes ist wichtig. Es sollte eine physiotherapeutische Behandlung mit dem Ziel der Desensibilisierung des Stumpfes nicht vergessen werden. Auf besonderen Wunsch kann eine ästhetische Prothese nach intensiver Kompressionstherapie, frühestens nach 3–6 Monaten angepasst werden (⊡ Abb. 39.23). 39.2.11 Technik der Exartikulation im PIP-Gelenk Bei der Exartikulation im PIP-Gelenk wird das Gelenk stark beugt. Man eröffnet dann das Gelenk durch einen glatten Querschnitt, wobei man die anatomische Situation berücksichtigen muss. Der Anfänger macht leicht den Fehler über dem Maximum der Beugung einzuschneiden, ohne zu bedenken, dass der Gelenkspalt sich distal der Beugung unterhalb des Köpfchens befindet. Durch
Beugen und Strecken lässt sich bei der Palpation der Gelenkspalt gut tasten. Hat das Messer den Gelenkspalt breit eröffnet und die Seitenbänder durchtrennt, wird es im rechten Winkel nach distal verkantet und in engem Kontakt mit der Rückseite des Knochens nach distal schräg an die Oberfläche der Beugeseite geführt, sodass ein palmarer Lappen entsteht. Nach Versorgung der Gefäße und Rückkürzung der beiden Nerven erfolgt eine subtile Blutstillung. Der palmare Lappen wird nach dorsal geklappt und spannungsfrei vernäht (⊡ Abb. 39.24). 39.2.12 Technik der Exartikulation im MP-Gelenk Bei der Exartikulation im MP-Gelenk beginnt man mit dem Schnitt über dem jeweiligen Metakarpalknochen und führt ihn in der Form eines Rakettschnittes von dorsal proximal nach palmar distal um das Gelenk herum. Die Auslösung im Gelenk erfolgt dann, indem durch zunehmend starke Beugung das Gelenk zu klaffen bringt (⊡ Abb. 39.25a). Bei schweren Verletzungen kann die Exartikulation mehrerer Metakarpalgelenke notwendig werden. Es ist zweckmäßig bei der Exartikulation nebeneinander liegender Finger, nicht einzelne Lappen, sondern einen gemeinsamen palmaren Lappen zu bilden. Die Metakarpalköpfchen sollten nur dann mit entfernt werden, wenn die Hand nicht zur beruflichen Schwerarbeit gebraucht wird und kosmetische eine Notwendigkeit besteht (⊡ Abb. 39.25b,c) Bei transmetarkarpaler Amputation muss immer darauf geachtet werden, dass der Amputationsstumpf durch einen genügend großen (palmaren) Hautlappen gedeckt wird (⊡ Abb. 39.26)
39.2.13 Gewebebankkonzept nach Chase
(spear part surgery) Kap. 43
a
c ⊡ Abb. 39.24 Technik der Exartikulation eines Fingers. a Eröffnung des Mittelgelenks in Beugestellung, b Bildung eines ausreichenden dorsalen Lappens. c Das Messer hat den Gelenkspalt breit eröffnet und wird nun im rechten Winkel nach distal verkantet und im engen Kontakt mit der Rückseite des Knochens nach distal schräg an die Oberfläche der Beugeseite geführt, sodass ein großer palmarer Lappen entsteht. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959 [a]; Wachsmuth u. Wilhelm 1972 [b, c])
b
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
a
b
c
⊡ Abb. 39.25 Technik der Exartikulation der Finger II–V. a Schnittführung bei monodigitaler Exartikulation, b Schnittführung bei polydigitaler Exartikulation: Bildung eines gemeinsamen palmaren Lappens, c nach Rückkürzung der Beuge- und Strecksehnen und Einlage einer Easy-Flow-Drainage, schichtweiser Verschluss. Eine Koppelung von Beuge- und Strecksehnen darf nicht durchgeführt werden, um ein sog. Quadriga-Phänomen zu vermeiden. (Aus Wachsmuth und Wilhelm 1972)
39
⊡ Abb. 39.27 Unsachgemäße Lagerung des Amputats »on the rocks« führt zu einem Gefrierschaden, der eine erfolgreiche Replantation verhindert
⊡ Abb. 39.26 Schnittführung bei Amputation im Metakarpal- und Karpalbereich. 1 Absetzung im Karpus mit Erhalt des Daumens, 2 Absetzung im CMCGelenk, 3 Absetzung im MP-Gelenk. (Aus Wachsmuth und Wilhelm 1972)
39.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Die Versorgung von komplexen Hand- und Amputationsverletzungen erfordert die Rekonstruktion verschiedenster Strukturen mit unterschiedlichen Anforderungen innerhalb einer Operation. Ohne Zweifel gehört die arterielle und venöse Revaskularisation im Hand- und Fingerbereich zu den schwierigsten technische Schritten der Versorgung. Mit zunehmender Anzahl der verletz-
ten Finger resultieren sehr lange Operationszeiten mit Ermüdung des Operateurs, wodurch die Anastomosentechnik beeinträchtigt werden kann. Das Arbeiten mit feinsten Instrumenten und dem Operationsmikroskop erfordert ein gezieltes tierexperimentelles Training. Weiterhin ist es erforderlich, diese einmal erlernte Technik regelmäßig am Versuchstier zu üben. Wurde diese Forderung in den Gründerjahren der Replantationschirurgie allgemein anerkannt und auch befolgt, so ist dies unter der heutigen begrenzten personellen Situation in Replantationszentren kaum noch durchführbar. Gerade aber der Trainingsverlust führt zu intraoperativen Fehlern mit möglichem Verlust der Vitalität des Replantats. Bereits der Transport kann zu Komplikationen führen. Durch nicht sachgemäße Kühlung des Amputats kann es zu einem Gefrierschaden kommen, der eine Replantation unmöglich macht (⊡ Abb. 39.27).
1097 39.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
a ⊡ Abb. 39.28 Venöse Thrombose nach Daumenreplantation
> Während Frühkomplikationen die Vitalität des Replantats bedrohen, führen Spätkomplikationen zu einer Verschlechterung des funktionellen Ergebnisses.
Da die Spätkomplikationen in anderen Kapiteln ( Kap. 5, Kap. 6, Kap. 7, Kap. 39) ausführlich beschrieben werden, soll hier nur zu den vaskulären Problemen nach Replantationen Stellung genommen werden. Zu den Frühkomplikationen (1.–3. Woche) nach Replantation bzw. Revaskularisation zählen venöse und arterielle Thrombosen, arteriovenöse Fisteln, periphere Thrombosen , Nachblutungen und Infektionen. Die häufigsten Spätkomplikationen sind Verwachsungen und Rupturen der Beugesehnen sowie das Ausbleiben der Reinnervation. Frühkomplikationen nach Replantation bzw. Revaskularisation 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Venöse Thrombosen (⊡ Abb. 39.28) Arterielle Thrombosen (⊡ Abb. 39.29) Periphere Thrombosen mit partieller Nekrosebildung Totalnekrose des Replantats Infektionen Heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT)
Spätkomplikationen nach Replantation bzw. Revaskularisation 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Verwachsungen und Rupturen der Beuge- und Strecksehnen Ausbleiben der Reinnervation Pseudarthrosen und Knochenresorption, Fisteln Fehlstellungen Ankylosen Instabile Gelenke kontrakte und funktionsbehindernde Narben
Nach Gewebetransfer und Revaskularisationen kommt es oft zu Gefäßspasmen, die trotz regelrechter Nahttechnik zum Verschluss der Anastomose führen können. Die nach einem Trauma lokal am
b ⊡ Abb. 39.29 Arterielle Thrombose nach Replantation des Zeigefingers. a Klinischer Aspekt, b Thrombus in radialen Arterie, nach Segmentresektion glatter Verlauf
stärksten konstriktorisch wirkenden Substanzen sind Noradrenalin, Serotonin und Prostaglandin E2. Erst später führen Effektoren wie Histamin, Bradykinin und Prostaglandin E1 (Prostavasin) zur Dilatation der Gefäßwand. Von Prostavasin sind verschiedene Wirkungseigenshaften bekannt, die das Ergebnis der Revaskularisation positiv beeinflussen können. Neben der Aufhebung der Arteriolenkonstriktion wird die Thrombozytenaggregation gehemmt und eine erhöhte Gerinnungsneigung vermindert. Die ersten Anwendungen von Prostaglandinen nach mikrovaskulären Operationen von Gefäßverschlüssen stammen aus dem asiatischen Raum. Fukui (1992) und Yamano (1993) beschreiben die erfolgreiche systemische Anwendung von PGE1 bei Patienten mit mikrochirurgischen Gefäßrekonstruktionen in Kombination mit Urokinase, Heparin und niedermolekularen Dextran. Die alleinige Anwendung von PGE1 nach Replantationen wird von Kavakaki (1993) beschrieben. Erwachsene (ca. 70 kg) erhalten für die Dauer von 5 Tagen 2-mal 40 μg i. v. in 250 ml Hydroxyethylstärke (HAES), bei Kindern ist die Dosierung 1-mal 20–40 mg i. v. in 100 ml NaCl. > Venöse und arterielle Thrombosen zählen zu den häufigsten Frühkomplikationen nach Replantationen.
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
39.3.1 Vaskuläre Komplikationen Die Ursachen thromboembolischer Komplikationen nach Replantationen und Gewebetransfer sind vielfältiger Natur. Neben Mängeln in der Anastomosentechnik kommen vorbestehende oder traumatische Gefäßwandschäden im Anastomosenbereich und abseits der Anastomosenregion in Betracht. Auch Wundinfektionen können zu septischen Thrombosen führen. Zirkulationsstörungen im Sinne eines Kompartmentsyndroms bei Postischämieschaden, Kompression der Gefäße durch Hämatome oder Wundverschluss unter Spannung bedingen rheologische Veränderungen, die nach der »Virchow-Trias« Thrombosen induzieren können. Wenn es sich um kleinste Gefäße handelt, ist ein Verschluss der Endstrombahn schnell erreicht und die kompensatorisch thrombolytischen Mechanismen sind rasch überfordert. Auch eine mechanische Kompression von außen (zirkulärer Verband) kommt als Ursache für einen venösen Verschluss in Betracht. Dem Verschluss auf arterieller Seite folgt eine venöse Stase mit einer Latenz von ca. 6 Minuten. Im umgekehrten Falle ist lediglich die Latenzzeit länger und liegt bei ca. 20 Minuten. Schon nach 1 Stunde kompletter venöser Okklusion beträgt die Amplitude der Pulswelle auf arterieller Seite nur noch 50% des Ausgangswertes. Gabriel et al. (2001) konnten tierexperimentell nachweisen, dass bereits eine 10-minütige venöse Stase bei unverändertem arteriellem Zustrom zu einer signifikanten Erhöhung der Zahl von Muskelnekrosen führt. Neben der Prävention kommt der frühzeitigen Erkennung und erfolgreichen Therapie vaskulärer Krisen nach Replantation eine entscheidende Bedeutung zu. > Der häufige venöse Verschluss kündigt sich klinisch durch eine livide Verfärbung des Replantats an. Sehr frühzeitig zeigt sich ein tastbarer Puls an der Fingerbeere.
39
Bei den venösen Verschlüssen ist die frühe venöse Thrombose von späteren septischen venösen Verschlüssen zu unterscheiden. Die Therapie der frühen venösen Stase wird nach Gerinnungsanalyse bei uns wie folgt durchgeführt: ▬ Heparin: 25.000 IE/24 h (initial und nachfolgend nach PTTWert bei 50–60), ▬ Hirudo medicinalis: 3- bis 4-mal/Tag, ▬ Plexusanalgesie mit Sympatikolyse, ▬ Hochlagerung, ▬ Pulsoxymeter, ▬ kurzfristige klinische Kontrolle, ▬ striktes Vermeiden von Kälteeinwirkung. Bei der späten venösen septischen Thrombose kommt alternativ die arterielle Thrombolyse mit dem »recombinant tissue plasminogen activator« (rt–PA) in Betracht. Diese erfolgt über eine arterielle Punktion über die A. radialis. Bei nachfolgendem arteriellem Verschluss besteht die absolute Indikation zur operativen Revision. Der primär arterielle Verschluss kündigt sich durch folgende Zeichen an: ▬ blasse Verfärbung der Haut, ▬ keine Rezirkulation bei Druck auf Nagelbett, ▬ keine Blutung auf Nadelstich. Im Gegensatz zum primär venösen Verschluss besteht bei arterieller Okklusion immer die Indikation zur sofortigen operativen Revision der arteriellen Anastomosen, da sonst die Vitalität des Replantats gefährdet ist. Danach schließt sich die gleiche medikamentöse Therapie wie beim venösen Versagen an.
In einem Zeitraum von 16 Jahren haben wir bei 187 Replantationen und 272 Revaskularisationen 66 vaskuläre Komplikationen beobachtet. 50 der 60 Komplikationen ereigneten sich innerhalb der ersten 4 Tage. Anzahl der Komplikationen bei 336 Eingriffen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Arterielle Thrombose – 28 Arterielle Blutung – 3 Arterielles Kinking (Veneninterponat) – 2 Frühe venöse Thrombose – 18 Septische venöse Thrombose – 3 Zu enger Verband – 1 Heparininduzierte Thrombozytopenie (HIT) – 1
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Kapitel 39 · Die komplexe Handverletzung und Mikroamputationsverletzungen
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1101 39.3 · Weiterführende Literatur
Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion Robert Hierner, Konrad Wolf
40.1
Allgemeines – 1102
40.1.1 40.1.2 40.1.3 40.1.4 40.1.5 40.1.6 40.1.7 40.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1102 Epidemiologie – 1102 Ätiologie – 1102 Diagnostik – 1102 Klassifikation – 1102 Indikationen und Differenzialtherapie – 1102 Therapie – 1111 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1112
40.2
Spezielle Techniken
40.2.1 40.2.2 40.2.3 40.2.4 40.2.5 40.2.6
Relative Fingerverlängerung durch Vertiefung der Kommissuren Strahltransfer (inkl. Phalangisation) – 1112 Strahlverlängerung durch Distraktion – 1117 Freie mikrovaskuläre Zehentransplantation – 1120 Vaskularisierte Gelenktransplantate – 1125 Operation nach Kruckenberg – 1128
40.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1131
– 1112
Weiterführende Literatur
– 1131
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1112
40
1102
40.1
Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Allgemeines
40.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Primäre und sekundäre rekonstruktive Eingriffe an der Hand erfordern eine Einbeziehung sämtlicher funktioneller, ästhetischer und sozialer Aspekte; denn nur so lassen sich für den betroffenen Patienten optimale Ergebnisse erzielen ( Kap. 2). 40.1.2 Epidemiologie Störungen der Greiffunktion sind häufig und von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Sie sind z. B. neben dem grippalen Infekt eine der häufigsten Ursachen für eine Arbeitsunfähigkeit. 40.1.3 Ätiologie Störungen der Greiffunktion können angeboren oder erworben sein. Sie können auftreten bei erhaltener Fingerlänge (neurogen, arthrogen, ossär etc.), nach Längenverlust (Hypoplasie, Amputationsverletzungen) oder im Rahmen sog. komplexer Verletzungen und Funktioinsstörungen mit Längenverlust (⊡ Tab. 40.1). Störungen bei erhaltener Fingerlänge können kutan, tendogen, nerval (ZNS/PNS), arthrogen, ossär alleine oder in Kombination bedingt sein. Als Sonderformen sind die spastischen Lähmungen ( Kap. 58) und die Einschränkung der Greiffunktion im Rahmen eines CRPS I (Reflexdystrophie, Algodystrophie, Morbus Sudeck; Kap. 18) zu nennen. 40.1.4 Diagnostik Für die Diagnostik verwenden wir ein standardisiertes Diagnoseund Dokumentationsschma ( Abschn. 34.1.4). 40.1.5 Klassifikation
40
Aufgrund der klinischen Erfahrungen hat sich im Hinblick auf die Therapiewahl bei der sekundären Versorgung von Daumen- und/ oder Fingerdefekten eine Klassifikation in die Untergruppen inadäquater Daumen, inadäquate Finger sowie inadäquater Daumen und inadäquate Finger bewährt (⊡ Tab. 40.1). 40.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Sekundäre Rekonstruktion bei »inadäquatem Daumen« Funktionsverlust bei normaler Länge Wiederherstellung der Oppositionsfähigkeit des Daumens Für die Globalfunktion der Hand hat die Oppositionsfunktion des Daumens hat eine zentrale Bedeutung. Die Oppositionsbewegung des Daumens ist eine zusammengesetzte Bewegung mit mehreren Hauptkomponenten, der Abduktion oder Retropulsion, der Pronation und der Flexion. Für die differenzierte Herstellung dieser Funktionen sind mehrere Operationstechniken möglich, wobei der Zustand der Weichteildeckung einen entscheidenden Einfluss auf die Auswahl des Verfahrens hat. Bei guter Weichteildeckung können mehrere Sehnentransfers durchgeführt werden. Die Transposition der oberfläch-
⊡ Tab. 40.1 Klassifikation der Störungen der Greiffunktionen der Hand Ätiologie
Funktionelle Auswirkung
Funktionsstörungen bei erhaltener Fingerlänge – Kutan – Tendogen – Nerval – Arthrogen – Ossär – Kombination
– Inadäquater Daumen – Inadäquate Finger – Inadäquater Daumen und inadäquate Finger
Funktionsstörungen durch Längenverlust – Angeboren (Hypoplasie) – Erworben (Amputation) Komplexe Funktionsstörungen
lichen Beugesehne des 4. Fingers stellt die Therapie der 1. Wahl dar. Alternativ kann auch die Transposition der Sehne des M. extensor indicis proprii erfolgen. Bei Kindern hat sich die Transposition des M. abductor digiti minimi bewährt. Soll vor allem die Abduktion des Daumens – bei schweren Formen von Karpaltunnelsyndrom – verbessert werden, stellt der Transfer des Ansatzes des M. palmaris longus nach Camitz in den Thenarbereich eine ausgezeichnete Möglichkeit dar. Bei ausgedehntem Verlust der Thenarmuskulatur ist als Ergänzung die freie funktionelle M.-pectoralis-minor- oder M.serratus-anterior-Lappenplastik möglich ( Kap. 35). Damit ist eine gute Weichteilrekonstruktion mit der Möglichkeit eines dynamischen Muskeltransfers möglich. Außerdem lässt sich ein ausgezeichnetes Lager für weitere rekonstruktive Eingriffe erzielen ( Kap. 57). Sensible Ersatzoperation der Pulpa Für die taktile Gnosis der Hand ist die Sensibilität im Kuppenbereich des Daumens (N1- und N2-Pulpa) von großer Bedeutung. Wann immer möglich, sollte in der Akutsituation eine orthotope oder, wenn diese nicht möglich ist und eine polydigitale Schädigung vorliegt, eine heterotope Kuppenreplantation erfolgen. Im Rahmen der Sekundärrekonstruktion stehen folgende Möglichkeiten der sensiblen Ersatzoperationen zur Verfügung. Die mikrochirurgische Transplantation aus dem Bereich der Großzehenpulpa stellt die Therapie der 1. Wahl dar. Ist eine mikrochirurgische Rekonstruktion nicht möglich oder gewünscht können gestielte neurovaskuläre Lappenplastiken aus dem Handbereich eingesetzt werden. Hier ist aber immer die zusätzliche Beeinträchtigung der schon geschädigten Hand zu bedenken. Neben der dorsalen Mittelphalanx-Insellappenplastik und der A.-metacarpalis-dorsalis-I-Lappenplastik kann auch die heterodigitale Insellappenplastik nach Littler u. Loda eingesetzt werden. Wegen der Schwierigkeit bei der kortikalen Zuordnung der Sensibilität an der Daumenkuppe, wie sie vor allem bei älteren Patienten auftritt, empfiehlt sich als Ergänzung der mikrochirurgische Anschluss des Digitalnervs in der Technik des Débranchement–Rebranchement nach Foucher ( Kap. 35). Eingriffe bei arthrogen bedingten Funktionsstörungen (s. unten)
Funktionsverlust durch Amputationsverletzung Mit zunehmendem Längenverlust des Daumens nimmt die Qualität der Daumenfunktion und damit die Globalfunktion der Hand ab. Der therapiebedingte Funktionszuwachs ist abhängig von dem gewählten Rekonstruktionsverfahren. Zur Bewertung der funktionellen Beeinträchtigung bei Amputationsverletzungen des Dau-
1103 40.1 · Allgemeines
mens und deren Rekonstruktionsmöglichkeiten hat es sich bewährt, von vier unterschiedlichen Situationen auszugehen; ▬ Amputationen im IP-Gelenk oder distal davon, ▬ Amputationen im Grundgliedbereich bei intaktem MP-Gelenk, ▬ Amputationen proximal des MP-Gelenks, ▬ Amputationen im CMC-I-Gelenk oder proximal davon. Neben der Amputationshöhe richtet sich die Auswahl des Behandlungsverfahrens nach zusätzlichen defektbedingten, therapiebedingten und patientenbedingten Faktoren. Zahlreiche Rekonstruktionsverfahren eignen sich alleine oder in Kombination zur Wiederherstellung des Daumens ( Differenzialtherapie bei Amputationen des Daumens). Differenzialtherapie bei Amputationen des Daumens
▬ Alle Daumenamputationen – Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop
▬ Daumenamputation im IP-Gelenk oder distal davon – Vertiefung der 1. Kommissur – Progressive Fingerstrahldistraktion (Kallusdistraktion nach Matev bzw. Ilizarov, Verlängerungs-Interpositions-Technik) – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen – Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke
▬ Daumenamputation im Grundgliedbereich bei intaktem MP-Gelenk
– Stumpf-Transposition (On-top-Lappenplastik) nach Kelleher – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen – Twisted-two-Toes-Technik nach Foucher – Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke – Kontinuierliche Fingerstrahldistraktion (Kallusdistraktion nach Matev bzw. Ilizarov, Verlängerungs-InterpositionsTechnik) – Distal gestielte osteofasziokutane A.-radialis-Lappenplastik nach Yang – Distal gestielte osteofasziokutane A.-interossea-anteriorMehrkomponentenlappenplastik nach Hu – Distal gestielte osteofasziokutane A.-interossea-anteriorMehrkomponentenlappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli
▬ Daumen-Amputation proximal des MP-Gelenks – – – – – – –
Stumpf-Transposition (On-top-Lappenplastik) nach Kelleher Twisted-two-toes-Technik nach Foucher Transplantation der 2. Zehe nach Young Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke Pollizisation nach Gosset Distal gestielte osteofasziokutane A.-radialis-Lappenplastik Distal gestielte osteofasziokutane A.-interossea-anteriorMehrkomponentenlappenplastik – Distal gestielte osteokutane A.-interossea-posterior-Mehrkomponentenlappenplastik
▬ Daumenamputation im CMC-I-Gelenk oder proximal davon
– Pollizisation nach Gosset (ggf. mit Thenarmuskelrekonstruktion und Hautlappenplastik) – Transplantation der 2. Zehe nach Young (ggf. mit Osteosynthese in Oppositionsstellung und zusätzlicher Weichteilrekonstruktion, Opponensplastik bei Restbeweglichkeit im STT-Gelenk)
Amputationen im IP-Gelenk oder distal davon (Zone 1 und 2) Liegt die Amputation im IP-Gelenk oder distal davon, so behält der Daumenstumpf bei intakten Fingern zumeist eine adäquate Funktion, sodass i. Allg. keine Rekonstruktion erforderlich ist. Bei zusätzlicher Schädigung im Fingerbereich muss geprüft werden, ob der Griff mit Zeige- oder Mittelfinger möglich ist. Fehlen beide Finger, kann eine absolute Daumenverlängerung notwendig werden, um einen ausreichenden Griff mit Ring- und Kleinfinger zu gewährleisten. Soll eine relative oder tatsächliche Daumenverlängerung durchgeführt werden, so stehen mehrere Verfahren zur Auswahl: eine Replantation, eine heterotope Transplantation, eine Vertiefung der 1. Interdigitalfalte ( Abschn. 40.2.2), eine progressive Fingerstrahlverlängerung des Daumens durch Kallusdistraktion ( Abschn. 40.2.4) und der modifizierte Wrap-around-Transfer nach Morrison ( Abschn. 40.2.5). Keines dieser Behandlungsverfahren schafft aber zusätzliche Beweglichkeit. In der Akutsituation sollte die Replantation versucht werden. Bei polydigitaler Verletzung ohne Möglichkeit der orthotopen Replantation ist auf jeden Fall eine heterotope Transplantation eines Fingerendgliedes eines nicht mehr zu rekonstruierenden Fingers in Erwägung zu ziehen. Eine relative Verlängerung des Daumens kann durch Vertiefung der 1. Kommissur erreicht werden. Dieses Verfahren führt bei einfacher Operationstechnik und niedriger Komplikationsrate zu zufriedenstellenden Ergebnissen. Bei Amputationen in Höhe des Endgliedes erbringt die Vertiefung der Zwischenfingerfalte dagegen nur einen kosmetischen Effekt. Größere funktionelle Verbesserungen werden nur dann erzielt, wenn gleichzeitig eine Kontraktur der 1. Kommissur aufgelöst werden kann. Der mitbestehende Nageldefekt wird dabei nicht behandelt. Die Vertiefung der 1. Kommissur wird darüber hinaus oft als Ergänzung zu anderen Behandlungsverfahren, wie z.B. der Kallusdistraktion, eingesetzt. Diese ist bei Amputationsverletzungen bis zum Grundglied mit erhaltenem MP-Gelenk eine sehr bewährte Behandlungsmethode, da sie ein verhältnismäßig einfaches Verfahren ohne größeren Hebedefekt darstellt und ein gutes Ergebnis hinsichtlich Sensibilität und Greiffunktion erzielt. Auch bei dieser Methode bleibt ein bestehender Nageldefekt unbehandelt, auch wird die Beweglichkeit nicht verbessert. Außerdem kommt es zu einer allgemeinen Fibrosierung des Gewebes, einem Umfangsverlust und ggf. zu Beugekontrakturen. Außerdem ist zu bedenken, dass eine Kooperation des Patienten für einen Zeitraum von 3 Monaten und für mehrere Operationen erforderlich ist. Es gibt zwei verschiedene Techniken der Daumenstrahlverlängerung, die progressive Kallusdistraktion nach Matev bzw. Ilizarov ( Abschn. 40.2.4) und die Distraktions-Interpositions-Technik nach Matev ( Abschn. 40.2.4). Sind nicht mehr als 2 cm Verlängerung erforderlich, ist die progressive Kallusdistraktion nach Matev bzw. Ilizarov in den meisten Fällen erfolgversprechend, weitgehend unabhängig vom Alter des Patienten, zumindest bis etwa in das 6. Lebensjahrzehnt. Ist die Kallusbildung nicht ausreichend oder eine größere Verlängerung erforderlich, bringt die DistraktionsInterpositions-Technik bessere Ergebnisse. Im Gegensatz zu einzeitigen Behandlungsverfahren sind Komplikationen im Bereich der umgebenden Weichteile seltener, da das Empfängergebiet durch die Hypervaskularität nach Distraktion erheblich verbessert wird. Obwohl grundsätzlich auch eine Verlängerung der Grundphalanx möglich ist, sollte sie wegen der höheren Komplikationsrate und der ohnedies nur in geringem Umfang möglichen Verlängerung nur ausnahmsweise durchgeführt werden. Da durch die Distraktionstechnik kein Wachstumspotenzial geschaffen wird, muss die Kallusdistraktion bei Kindern wiederholt angewandt werden.
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1104
Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Mit der Großzehentransplantation nach Cobbett bzw. Buncke und dem modifizierten Wrap-around-Transfer nach Morrison ( Abschn. 40.2.4) können in einer Operation Form und Funktion des fehlenden Daumenanteiles am besten rekonstruiert werden. Nur diese beiden Behandlungsverfahren erlauben eine Wiederherstellung eines fehlenden Fingernagels, jedoch muss neben einer langen Operationsdauer und einer aufwendigen postoperativen Nachbehandlung, wie einem Sensibilitätstraining, ein kompletter bzw. partieller Großzehenverlust – beim modifizierten Wraparound-Transfer auch eine zusätzliche Entnahmestelle am Beckenkamm – in Kauf genommen werden. Wegen des großen Hebedefektes sollte die Großzehentransplantation nur nach eingehender Aufklärung und nur bei Handarbeitern durchgeführt werden, die extreme mechanische Anforderungen an die zu rekonstruierende Hand stellen. Bei allen anderen Patienten mit hohen funktionellen oder ästhetischen Ansprüchen an die Hand, wie z. B. bei Musikern, stellt der modifizierte Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen das Verfahren der Wahl dar. Neben den allgemeinen Kontraindikationen für mikrochirurgische Eingriffe sind beide Verfahren wegen der geringen bzw. fehlenden Wachstumspotenz der Transplantate bei Kindern kontraindiziert.
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Amputationen im Grundphalanxbereich mit intaktem MP-Gelenk (Zone 3) Ist der Daumen bei erhaltenem MP-Gelenk in Höhe des Grundgliedes amputiert, so ist seine Länge nicht mehr ausreichend. Die Wiederherstellung der IP-Gelenk-Funktion ist in diesem Fall wünschenswert, aber nicht unbedingt erforderlich, da für eine akzeptable Funktion des 1. Strahles die Beweglichkeit im CMC-I- und MP-Gelenk ausreicht. In der Akutsituation sollte, wenn es möglich, sinnvoll, risikoarm und auch erwünscht ist, eine orthotope Replantation durchgeführt werden. Ansonsten muss bei polydigitaler Schädigung auf jeden Fall eine heterotope Transplantation oder eine Stumpftransposition eines Fingeramputats nach dem Gewebebankkonzept nach Chase ( Abschn. 40.2.1) erwogen werden. Ist dies in der Akutsituation nicht möglich, so stehen die gleichen Verfahren wie für eine sekundäre Rekonstruktion zur Verfügung. Wird keine Vergrößerung der Beweglichkeit am distalen Daumenstrahl benötigt, so stellt der modifizierte Wrap-around-Transfer nach Morrison die Therapie der 1. Wahl dar. Soll zusätzliche Beweglichkeit proximal davon geschaffen werden und ist ein weiteres Wachstum des Transplantats notwendig, so stellt die Twistedtwo-Toes-Technik nach Foucher die Therapie der Wahl dar. Wegen des großen Hebedefektes sollte eine Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke nur in Ausnahmefällen eingesetzt werden. Ist eine mikrochirurgische Rekonstruktion nicht möglich oder nicht erwünscht, so sollte als Nächstes an die progressive Strahlverlängerung nach Matev gedacht werden. Sind beide Verfahren nicht möglich, so können osteoplastische Daumenrekonstruktionsverfahren zur Anwendung kommen. Diese haben den Vorteil einer einzeitigen Rekonstruktion bei allerdings mäßiger Sensibilität und bescheidenen funktionellen sowie unbefriedigenden ästhetischen Ergebnissen. Darüber hinaus bleibt auch die Rekonstruktion des Nagels unberücksichtigt. Bei Kindern sind sie wegen des fehlenden Wachstumspotenzials kontraindiziert. Zur Rekonstruktion eines 1. Strahles mit einem osteokutanen Mehrkomponententransplantat in Verbindung mit einer Lappenplastik zur Wiederherstellung der Daumenkuppensensibilität sind mehrere Verfahren beschrieben worden, die eine Vielzahl von Kombinationen erlauben. Gebräuchlich ist die distal gestielte osteokutane A.-radialis-Lappenplastik nach Yang, kombiniert mit einer heterodigitalen Lappenplastik nach Littler. Wegen der
Schwierigkeit bei der kortikalen Zuordnung der Sensibilität an der Daumenkuppe, wie sie in 50% der Fälle auftritt, empfiehlt sich als Ergänzung der mikrochirurgische Anschluss des Digitalnervs in der Technik des Debranchement–Rebranchement nach Foucher. Bestehen Kontraindikationen für die A.-radialis-Lappenplastik nach Yang, so können die distal gestielten, osteokutanen Varianten der A.-interossea-anterior-Mehrkomponentenlappenplastik nach Hu und der A.-interossea-posterior-Mehrkomponentenlappenplastik nach Penteado bzw. Zancolli angewandt werden. Um den Hebedefekt an der Hand möglichst gering zu halten, empfiehlt sich besonders bei jungen Patienten zur Wiederherstellung der Daumenkuppensensibilität eine neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke und Rose. Amputationen proximal des MP-Gelenks (Zone 4 und 5) Liegt die Amputation proximal des MP-Gelenks, so ist zur Erzielung einer adäquaten Daumenfunktion die Wiederherstellung eines Gelenks erforderlich, vor allem dann, wenn zusätzlich Verletzungen oder Bewegungseinschränkungen im CMC-I-Gelenk vorliegen. Diese Ansprüche an das Transplantat können nur durch Replantation oder heterotope Transplantation eines Fingeranteiles in der Akutsituation (⊡ Abb. 40.1), eine freie mikrovaskuläre Zehentransplantation oder eine Pollizisation nach Gosset erfüllt werden. Liegt keine zusätzliche Verletzung im Bereich der Finger vor, so hat sich die Transplantation einer Zehe bewährt. Bei monodigitaler Schädigung stellt die Twisted-two-toes-Technik nach Foucher den besten Kompromiss zwischen Hebedefekt und dem zu erwartenden funktionellen und ästhetischen Ergebnis dar (⊡ Abb. 40.2). Wird eine Schädigung im Großzehenbereich abgelehnt, so kommt als weitere Therapieoption eine Transplantation der 2. Zehe nach Yang ( Abschn. 40.2.4) in Frage. Der Wundverschluss kann schwierig werden, wenn das Os metatarsale zur Rekonstruktion der erforderlichen Daumenlänge benötigt wird. In diesem Fall hat sich eine zweizeitige Vorgangsweise bewährt. Im ersten Schritt erfolgt eine reichliche Weichteildeckung im Daumenbereich. Nach Einheilung kann dann die Zehentransplantation durchgeführt werden. Die überschüssigen Weichteilanteile werden eingesetzt, um die Seitenflächen des Zehentransplantats zu decken, vor allem aber, um die 1. Kommissur zu rekonstruieren. Ein einzeitiges Vorgehen unter Mitnahme eines Hautlappens aus der A.-dorsalis-pedis-Lappenplastik sollte wegen des großen Hebedefektes im Fußbereich nur in Ausnahmefällen gewählt werden. Liegt bei einem Handarbeiter die Amputationslinie nur knapp proximal des MP-Gelenks und besteht zudem eine polydigitale Schädigung, so kann ausnahmsweise eine Großzehentransplantation nach Cobbett bzw. Buncke erwogen werden. Bei zusätzlicher Verletzung im Fingerbereich, insbesondere des Zeigefingers, sollte immer geprüft werden, ob nicht ein ansonsten nutzloser Fingerstumpf für eine Pollizisation geeignet ist. Die Pollizisation nach Gosset stellt die einzige Therapiemöglichkeit bei bestehender Kontraindikation für den mikrovaskulären Gewebetransfer dar. Sind weniger als drei Finger vorhanden, ist sie kontraindiziert. Sind die bisher genannten Verfahren nicht möglich, so kann eine osteoplastische Daumenrekonstruktion durchgeführt werden. Amputationen im oder proximal des CMC-Gelenks (Zone 6) Betrifft die Amputation das CMC-I-Gelenk und ist die Thenarmuskulatur zerstört und keinerlei Beweglichkeit mehr erhalten, so existiert auch keine wirkliche Oppositionsfunktion mehr. In diesem Fall ermöglichen lediglich die Pollizisation nach Gosset ( Abschn. 40.2.2) oder eine Transplantation der 2. Zehe nach Yang ( Abschn. 40.2.3) die Wiederherstellung einer ausreichenden Daumenlänge. Aufgrund der besseren funktionellen Ergebnisse sollte
1105 40.1 · Allgemeines
a
b
⊡ Abb. 40.1 Heterotope Replantation von D II auf D I nach polydigitaler Amputationsverletzung bei fehlender Möglichkeit der Replantation des Daumenamputats. a präoperativer Aspekt, b postoperativer Aspekt (Aus Berger u. Hierner 2009)
der Extensions- bzw. Flexionsbewegung der Unterarmmuskulatur zumindest einen rudimentären Grobgriff erreichen zu können. Eine noch vorhandene gewisse Beweglichkeit im STT-Gelenk kann durch eine Opponensplastik, z. B. durch Transposition der oberflächlichen Beugesehne des Ringfingers, verbessert werden. Bei ausgedehntem Verlust der Thenarmuskulatur ist als Ergänzung die dynamische M.-serratus-anterior-Lappenplastik nach Logan ( Kap. 34) möglich. Damit ist eine gute Weichteilrekonstruktion mit der Möglichkeit des dynamischen Transfers zur Wiederherstellung der Oppositionsfunktion zu erreichen, außerdem lässt sich ein ausgezeichnetes Lager für weitere rekonstruktive Eingriffe erzielen.
Sekundäre Rekonstruktion bei »inadäquaten Fingern« Funktionsverlust bei normaler Länge Motorische Ersatzoperationen Kap. 56 Sensible Ersatzoperation der Pulpa Nach ihrer funktionellen Wertigkeit lassen sich die Fingerkuppenareale im Fingerbereich hierarchisch einteilen in die radiale Hemipulpa D II, die radiale Hemipulpa D III, die ulnare Hemipulpa D V und die radiale Hemipulpa D IV. Aufgrund ihrer Bedeutung für den Spitzgriff sollte vor allem die radiale Pulpa von D II, wenn immer möglich und sinnvoll, rekonstruiert werden ( Kap. 2). ⊡ Abb. 40.2 Twisted-two-Toes-Transfer nach Foucher. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
bei mehr als drei erhaltenen Fingern die Pollizisation nach Gosset als Therapie der 1. Wahl angesehen werden. Zur notwendigen Wiederherstellung der Funktion des CMC-I-Gelenks hat sich die Technik des hyperextendierten Metakarpale-II-Köpfchens nach BuckGramcko bewährt. Wegen des ausgedehnten Weichteilverlustes bei dieser Amputationshöhe ist aber eine zusätzliche Lappenplastik fast immer erforderlich. Bei diesem Rekonstruktionsverfahren muss das Transplantat in Oppositionsstellung fixiert werden, um mithilfe
Eingriffe bei arthrogen bedingten Funktionsstörungen Die Gelenkzerstörung stellt aufgrund der funktionellen Beeinträchtigung durch Schmerzen, Bewegungs- und/oder Kraftverlust und Wachstumsbeeintächtigung bei Kindern eine signifikante Beeinträchtigung dar. Anforderungen an jede gelenkrekonstruktive Technik sind deshalb: 1. Schmerzreduktion bis -freiheit, 2. ein funktionell ausreichendes Bewegungsausmaß, 3. ausreichende Stabilität bei Bewegung und Belastung und 4. bei Kindern normales Wachstumspotenzial.
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Kein Verfahren kann jedoch alle Anforderungen gleichzeitig befriedigend erfüllen. Allein die vaskularisierte Gelenktransplantation ermöglicht eine Anpassung während des Wachstums. Therapeutische Möglichkeiten bei Gelenkzerstörung sind Gelenkdenervierung, Perichondriumtransplantate, Matrix-Chondrozytentransplantate (»tissue engineering«), Interpositionsarthroplastiken, Transplantationen partieller und kompletter Gelenke, Gelenkprothesen und die Arthrodese und im Fingerbereich die Finger(strahl)amputation. Eine Gelenkdenervierung ist beschrieben für das Glenohumeralgelenk, Ellenbogengelenk, Handgelenk und PIP-Gelenke. Allein die Handgelenk- und Fingerdenervierung hat heute klinische Bedeutung. Perichondriumtransplantate werden heute nur noch selten eingesetzt und dann nur in kleinen Gelenken an Hand und Fuß. Im Bereich der großen Gelenke werden heute hauptsächlich Matrix-Chondrozytentransplantate (»tissue engineering«) eingesetzt. Über mittelfristige Ergebnisse liegen divergierende Meinungen vor, Langzeitergebnisse (>10 Jahre) stehen noch aus. Interpositionsarthroplastiken werden noch im Handgelenk- und Fingerbereich, vor allem in der Therapie der chronischen Polyarthritis eingesetzt. Aufgrund der erhöhten Instabilität im Gelenkbereich bei Matrix-Chondrozytentransplantate (»tissue engineering«) nach Interpositionsarthroplastik wird diese Technik heute nur bei wenig aktiven Patienten (chronische Polyarthritis) und nur in kleinen Gelenken eingesetzt. Die vaskularisierte Gelenktransplantation aus dem Hand- oder Fußbereich ist nur zur Hand möglich und lässt sich hier nur aus der Kenntnis über Indikationen bzw. Kontraindikationen und Ergebnisse aller therapeutischen Möglichkeiten bei MP- und PIP-Gelenk-Defekten im Fingerbereich einsetzen. Wegen der akzeptablen Beeinträchtigung der globalen Handfunktion nach DIP-Gelenkarthrodese, der guten funktionellen Ergebnisse und der Tatsache, dass keine weitere anatomische Region durch die Entnahme eines Gelenktransplantats funktionell geschwächt wird, stellt die homodigitale DIP-auf-PIP-Transposition beim Erwachsenen eine gute Indikation bei monodigitaler PIP-Gelenk-Zerstörung dar. Kontraindikationen für die vaskularisierte homodigitale DIP-Gelenk-Transplantation bestehen bei negativem digitalem Allen-Test und größeren Knochendefektzuständen im PIP-GelenkBereich. Nach vaskularisierter homodigitaler DIP-auf-PIP-GelenkTransposition wird eine aktive Bewegungsamplitude von 57° bei einem mittleren Streckdefizit von 18° erreicht. Wegen der identischen anatomischen Verhältnisse stellen vaskularisierte Fingergelenktransplantate den idealen Ersatz bei Fingergelenkdefekten dar. Ein heterodigitaler vaskularisierter (gestielter oder mikrochirurgisch reanastomosierter) Gelenktransfer ist aufgrund des großen Spenderdefektes nur dann gerechtfertigt, wenn der Spenderfinger amputiert ist oder werden soll. Durch die Anwendung des Gewebebankkonzeptes, d. h. Verwendung von funktionell nicht mehr wichtigen Fingeranteilen zur funktionellen Rekonstruktion anderer geschädigter Finger, entsteht kein zusätzlicher Spenderdefekt und noch funktionierende Gewebeanteile können optimal eingesetzt werden. Vor allem in der Akutversorgung bei komplexen polydigitalen Handverletzungen sollte vermehrt an die Möglichkeit der heterodigitalen Transplantation von Amputatteilen oder ganzer Fingern zur Verbesserung der globalen Handfunktion ohne zusätzliche Spendermorbidität gedacht werden ( Kap. 9). In Abhängigkeit von der Amputationshöhe können bei Kindern und Erwachsenen DIP-, PIP- und MP-Gelenke alleine oder in Kombination als Spendergebiet verwendet werden. Nach Foucher et al. kann bei heterodigitaler Gelenktransplantation im Rahmen einer polydigitalen Handverletzung nach vaskularisierter MP-Gelenk-Transplantation ein mittleres aktives Bewegungsaus-
maß von 45° und nach vaskularisierter PIP-Gelenk-Transplantation von 42° erreicht werden. Die Ergebnisse der eigenen Serie zeigen ein mittlere aktives Bewegungsausmaß von 36° nach gefäßgestielter PIP-Gelenk-Transposition und 35° nach gefäßgestielter MP-Gelenk-Transposition. Vaskularisierte Gelenktransplantate aus dem Bereich der 2. Zehe sind indiziert bei bestehender Indikation zur vaskularisierten Gelenktransplantation und fehlender Möglichkeit der heterodigitalen und/oder homodigitalen vaskularisierten Gelenktransplantation. Bei Kindern ist die vaskularisierte Gelenktransplantation zum einen indiziert bei kongenitalen Gelenkdefekten ohne zusätzliche Weichteilanomalien (vor allem Beugesehnendefekte) und zum anderen für alle traumatisch bedingten Gelenkdefekte im Bereich der MP-Gelenke aller Finger und des Daumens sowie der PIPGelenke, wenn im Hinblick auf zusätzliche Weichteilschädigungen die Möglichkeit der Rekonstruktion eines »funktionellen Finger« besteht. Bei Defekten im Bereich der MP-Gelenke sollen nur MTPGelenk-Transplantate eingesetzt werden, da deren Wachstumspotenz aufgrund der beiden Epiphysenfugen größer ist als jenes der PIP-Gelenke mit nur einer Epiphysenfuge. Defekte im Bereich der PIP-Gelenke werden mit PIP-Gelenk-Transplantaten versorgt. Beim Erwachsenen ist die vaskularisierte Gelenktransplantation im Bereich des CMC- und MP-Gelenks des Daumens nur ausnahmsweise bei bestehender Kontraindikationen zur Arthrodese dieser Gelenke indiziert. Im Bereich der Finger-MP-Gelenke sollten vaskularisierte Gelenktransplantate aus dem Fußbereich nur bei bestehender Kontraindikation zum prothetischen Gelenkersatz erwogen werden. Ein vaskularisierter Gelenkersatz sollte besonders erwogen werden bei: 1. jungem, motiviertem Patienten mit handwerklicher Tätigkeit, 2. Zustand nach Gelenkinfektion mit erhaltenem Kapsel-BandApparat, 3. zusätzlicher Schädigung des Kapsel-Band-Apparates, 4. zusätzlichem Knochendefekt, 5. nach Zustand nach fehlgeschlagenem prothetischem Gelenkersatz mit ausgedehntem Knochendefekt. Wegen der besseren funktionellen Ergebnisse im Handbereich und der komplikationsreichen Rekonstruktionsversuche im Bereich der 2. Zehe sollten für die MP-Rekonstruktion MTP-Gelenke verwendet werden. Bei gleichzeitig bestehendem Weichteildefekt sollte ein zweizeitiges Vorgehen gewählt werden. Bei Hautdefekten bis 2 cm Breite kann zusätzlich zu dem Gelenk ein kleiner Hautlappen im Sinne eines osteokutanen Dorsalis-pedis-Lappens gehoben werden. Indikationen für den vaskularisierten Gelenkersatz im Bereich der PIP-Gelenke ergeben sich aus den Kontraindikationen zur Arthrodese oder prothetischem Gelenkersatz in diesem Bereich. Die vaskularisierte Gelenktransplantation sollte besonders erwogen werden bei polydigitaler Schädigung, wobei hier vermehrt an das Gewebebankkonzept gedacht werden sollte. Kontraindikationen für die vaskularisierte Gelenktransplantation stellen die allgemeinen Kontraindikationen für die Anwendung mikrochirurgischer Techniken dar. Partielle oder komplette Gelenkprothesen sind für alle Gelenke der oberen Extremität (ausgenommen DIP-Gelenke) beschrieben. Je aktiver der Patient, desto höher ist die Belastung der Prothese und desto schneller kommt es zu einem Verschleiß bis hin zur aseptischen Auslockerung. Ein weiteres Problem der Transplantation von alloplastischem Material i. Allg. stellt der Infekt dar. Die Arthrodese ist auch heute noch eine gute Therapiemöglichkeit. Sie führt zu stabilen mechanischen Verhältnissen auf Kosten der Beweglichkeit. Darüber hinaus führt sie zu einer signifikanten Schmerzlinderung, nicht aber zu völliger Schmerzfreiheit.
1107 40.1 · Allgemeines
Funktionsverlust durch Amputationsverletzung Die Wahl des Therapieverfahrens zur Rekonstruktion von kombinierten Weichteil-Knochen-Defekten im Fingerbereich ist hauptsächlich abhängig von der 1. Amputationshöhe im Fingerbereich und 2. Anzahl der verletzten Finger. Mit Blick auf das differenzialtherapeutische Vorgehen können 4 unterschiedliche Amputationshöhen unterschieden werden: ▬ Fingeramputationen im oder distal des DIP-Gelenks (Zone 4 in der Klassifikation der Endglieddefekte bzw. Zone 1 und 2 nach der Klassifikation der FESSH für Amputationsverletzungen im Handbereich) ▬ Fingeramputationen distal des Ansatzes der Flexor-superficialis-Sehne (Zone 3) ▬ Fingeramputationen distal des MP-Gelenks (Zone 3) ▬ Fingeramputation proximal des MP-Gelenks (Zone 4 und 5). Eine Reihe unterschiedlicher Therapiekonzepte und Operationstechniken stehen für jedes der vier Niveaus zur Verfügung ( Differenzialtherapie bei Amputationen einzelner Finger). Neben dem Zustand des direkt betroffenen Fingers hat auch der Zustand der benachbarten Finger Einfluss auf die Wahl des therapeutischen Vorgehens. Prinzipiell gilt, dass je mehr Finger betroffen sind, desto eher wird ein aufwendigeres Rekonstruktionsverfahren eingesetzt. Weitere Kriterien mit entscheidendem Einfluss auf die Wahl des therapeutischen Verfahrens sind patientenbedingte Faktoren (Alter, Allgemeinzustand, Intelligenz und Compliance, funktionelle und ästhetische Ansprüche des Patienten und die Möglichkeit der postoperativen Nachsorge) sowie therapiebedingte Faktoren. Differenzialtherapie bei Amputationen einzelner Finger
▬ Alle Fingeramputationen – Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop
▬ Fingeramputation im DIP-Gelenk oder distal davon Endglieddefekte der Zone 4
▬ Fingeramputation distal des Ansatzes der Sehne des
Beschränkt sich die Amputation auf einen Finger, so kann die absolute Fingerlänge nur durch eine Transplantation der 2. Zehe nach Yang, ein Custom-made-Transplantat der Großzehe nach Foucher, einen modifizierten Wrap-around-Transfer nach Morrison oder durch eine progressive Fingerstrahlverlängerung rekonstruiert werden. Aufgrund der funktionellen Beeinträchtigung der Gesamtfunktion der Hand durch eine monodigitale Fingerstrahlverlängerung sollte dieses Verfahren nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Eine Transplantation der 2. Zehe nach Young kann aus rein ästhetischen Gründen zur Rekonstruktion eines monodigitalen Fingerdefektes distal des PIP-Gelenks indiziert sein. Zur Verbesserung der Nagelform sollte der Nagelwall durch distale Resektion proximalisiert werden. Bei polydigitalen Amputationen ( Differenzialtherapie bei Amputationen mehrerer Finger) kann eine Fingerstrahlverlängerung aus ästhetischer Indikation durch zwei verschiedene Verfahren erreicht werden. Eine relative, limitierte Fingerstrahlverlängerung kann durch eine Vertiefung der Fingerzwischenfalten erreicht werden. Aus kosmetischen Gründen sollte dies aber nicht weiter als bis zum Lig. metacarpale transversum profundum erfolgen. Wird lediglich eine derartige Vertiefung der Kommissur angestrebt, so muss eine eventuell vorhandene Kontraktur mitbehandelt werden. Besteht keine oder nur eine geringfügige Kontraktur, so kann grundsätzlich jedes Verfahren, das einen dorsalen Hautlappen bildet, angewandt werden. Oftmals ist eine Vertiefung der Kommissur nur eine ergänzende Maßnahme zu einer anderen fingerverlängernden Operation, wie z. B. der Kallusdistraktion, mit deren Hilfe allerdings eine absolute Verlängerung erreicht werden kann. Eine Strahlverlängerung, die neben der Fingerlänge auch die Funktion der IP-Gelenke wiederherstellt, ist durch die Transplantation der 2. Zehe nach Yang ( Abschn. 40.2.4) möglich. Dieses Verfahren sollte jedoch nur in Ausnahmefällen – vor allem bei jungen und motivierten Patienten – angewandt werden. Weitere Vorteile der Transplantation der 2. Zehe nach Young sind die gleichzeitige Rekonstruktion des fehlenden Nagels sowie bei Kindern eine Verlängerung, die mit dem Skelettwachstum Schritt hält, da die Wachstumsfugen mit transferiert werden. Die allgemeinen Kontraindikationen für die Durchführung mikrochirurgischer Eingriffe sind zu beachten.
M. flexor digitorum superficialis – Transplantation der 2. Zehe nach Young – Custom-made-Lappenplastiken der Großzehe nach Foucher – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison bzw. Steichen – Progressive Fingerstrahlverlängerung
▬ Fingeramputation distal des MP-Gelenks – Strahlresektion (evtl. Strahltransposition)
▬ Fingeramputation proximal des MP-Gelenks – Strahlresektion (evtl. Strahltransposition)
Amputationen im oder distal des DIP-Gelenks (Zone 4 der Klassifikation der Endglieddefekte, Kap. 37)
Differenzialtherapie bei Amputationen mehrerer Finger
▬ Alle Fingeramputationen – Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop
▬ Fingeramputationen im DIP-Gelenk (Zone 1 und 2) oder distal davon – Vertiefung der Kommissur
▬ Fingeramputationen distal des Ansatzes der Sehne des M. flexor digitorum superficialis (distale Zone 3) – Stumpfverlängerung durch Kallusdistraktion der Grundphalanx – Vertiefung der Kommissur – Transplantation der 2. Zehe nach Yang
▬ Fingeramputationen distal des MP-Gelenks (proximale Amputationen distal des Ansatzes der Flexor digitorum superficialis Sehne (distale Zone 3) Bei Amputationsverletzungen distal der Insertion der oberflächlichen Beugesehne besteht in der Regel nur eine geringe Beeinträchtigung der Funktion der Hand als Ganze, was nur in Ausnahmefällen eine Rekonstruktion aus funktionellen Gründen erfordert.
Zone 3) – Transplantation der 2. Zehe nach Young – En-bloc-Transplantation der 2. und 3. Zehe nach O’Brien bzw. Biemer – Progressive Fingerstrahlverlängerung ▼
40
1108
Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
– Distal gestielte osteofasziokutane A.-radialis-Lappenplastik – Distal gestielte osteofasziokutane A.-interossea-anteriorMehrkomponentenlappenplastik – Distal gestielte osteokutane A.-interossea-posterior-Mehrkomponentenlappenplastik
▬ Fingeramputationen proximal des MP-Gelenks – Transplantation der 2. Zehe nach Young – En-bloc-Transplantation der 2. und 3. Zehe nach O’Brien bzw. Biemer – Progressive Fingerstrahlverlängerung – Strahltransposition – Rotationsosteotomie des Metakarpale V mit Resektion des Metakarpale II nach Tsuge
40
Amputationen distal des MP-Gelenks (proximale Zone 3) Liegt die Amputation des betroffenen Fingers bei erhaltenem Metakarpaleköpfchen proximal der Insertion der oberflächlichen Beugesehne, so wird der Finger nicht mehr in die Feingrifffunktionen der Hand mit einbezogen. Je mehr Finger erhalten sind, umso besser sind nicht manipulierende Greifformen möglich. Da die MP-Gelenke wesentlich mithilfe der intrinsischen Muskulatur bewegt werden und die Funktionalität jedes rekonstruktiven Eingriffes deutlich erhöhen, sollte unbedingt versucht werden, sie zu erhalten. Bei monodigitalen Fingerverlusten muss zuerst geklärt werden, ob eine Veränderung überhaupt angestrebt wird. Wird eine Operation aus ästhetischen Gründen gewünscht, sollte die Möglichkeit einer Versorgung mit einer ästhetischen Fingerprothese erwogen werden. Wird dies abgelehnt, kommt als weitere Therapieoption eine plastische Handverschmälerung mit Strahlresektion und – wenn Mittel- und Ringfinger betroffen sind – eventueller Strahltransposition in Frage. Durch die Verschmälerung sind allerdings ein Grobkraftverlust und eine Minderung der Griffsicherheit zu erwarten. Die Greiffunktion der Hand bleibt bei polydigitalem Fingerverlust umso besser gewährleistet, je mehr Finger erhalten bzw. wiederhergestellt werden können. Sind alle 4 Finger betroffen, so ist das Therapieziel die Rekonstruktion einer sog. »Basishand nach Entin«. Sie besteht mindestens aus einem beweglichen Strahl auf der radialen Seite, einer Zwischenfingerfalte und einem Widerlager oder einem zweiten Strahl auf der ulnaren Seite der Hand. Eine deutliche Funktionsverbesserung kann erreicht werden, wenn darüber hinaus ein dritter, möglichst mobiler und sensibler Strahl rekonstruiert werden kann, der einen 3-FingerGriff erlaubt. Da die freie mikrovaskuläre Transplantation der 2. Zehe nach Yang die einzige Möglichkeit darstellt, einen mobilen und sensiblen Fingerstrahl mit Wachstumspotenz zu rekonstruieren, stellt dieses Verfahren die Therapie der 1. Wahl dar. Dabei wird die Stellung der transplantierten Zehe vom Zustand der verbleibenden Hand bestimmt. Ist die zweite Hand des Patienten unverletzt bzw. nicht betroffen, so kann die rekonstruierte Hand hauptsächlich für Grobgrifffunktionen eingesetzt werden. Die transplantierte Zehe sollte daher in der Position fixiert werden, die den sichersten Halt für den Grobgriff ermöglicht, was i. Allg. für die Position des 4. oder des 5. Strahles zutrifft. Müssen an beiden Händen Rekonstruktionen durchgeführt werden, so ist auf der dominanten Seite zuerst die Wiederherstellung des Feingriffes durch Positionierung der transplantierten Zehe auf den 2. oder 3. Strahl anzustreben. Auf der nichtdominanten Seite dagegen sollte eine möglichst weite
Handspanne hergestellt werden, um die Grobgrifffunktionen zu ermöglichen. Der mikrochirurgische Transfer von zwei 2. Zehen zu ein- und derselben Hand kann entweder einzeitig oder nach 3–6 Monaten in einer zweiten Operation erfolgen. Wird eine Zehentransplantation abgelehnt oder ist sie kontraindiziert, so ist eine Fingerstrahlverlängerung angezeigt. Bei ausreichend zur Verfügung stehendem Weichteilgewebe sollte die Stumpfverlängerung im Metakarpalbereich mithilfe der progressiven Kallusdistraktion nach Matev bzw. Ilizarov erfolgen. Ist dies nicht möglich, so kann eine einzeitige osteoplastische Rekonstruktion eines ulnaren Strahles mithilfe einer lokalen osteokutanen Lappenplastik vom Unterarm oder einer freien Knochentransplantation mit anschließender Weichteildeckung durchgeführt werden. Für die Rekonstruktion eines dritten Fingerstrahles gelten die gleichen Überlegungen. Amputationen proximal des MP-Gelenks (Zone 4 und 5) Bei Amputationen von Fingern proximal des MP-Gelenks kann der betroffene Strahl weder für den Feingriff noch für den Grobgriff benutzt werden. Bestehen bei einem monodigitalen Verlust keine Beschwerden für den Patienten, so erübrigen sich weitere Maßnahmen. Sind Beschwerden vorhanden, so kann unter funktionellen und ästhetischen Aspekten eine Strahlresektion mit Handverschmälerung und eine Zeigefingerstrahltransposition nach Graham bzw. Carroll erwogen werden. Bei polydigitalen Amputationsverletzungen kann jede Rekonstruktionstechnik, welche eine Basishandfunktion wiederherstellt, alleine oder in Kombination mit anderen Verfahren eingesetzt werden. Zu den Behandlungsmöglichkeiten zählen die einfache oder doppelte mikrochirurgische Transplantation der 2. Zehe, die En-bloc-Transplantation der 2. und 3. Zehe, die Fingerstumpfverlängerung durch Kallusdistraktion, die lokale Strahltransposition (eventuell auch als Phalangisation) alleine oder in Verbindung mit einer Vertiefung der Zwischenfingerfalten und die osteoplastische Fingerstrahlrekonstruktion. Wenn keine Rekonstruktion vom Patienten gewünscht wird, kann zumindest die Ästhetik durch eine passive oder ästhetische Handprothese nach Pillet deutlich verbessert werden. Eine ästhetische Prothese kann auch nach Rekonstruktion indiziert sein. Die wiederhergestellten Strahlen können in die Prothese integriert werden. Bei Verlust mehrerer Finger in dieser Höhe kann jede rekonstruktive Maßnahme, die eine Basishandfunktion wiederherstellt, alleine oder in Kombination mit anderen Verfahren angewandt werden. Zu den Behandlungsmöglichkeiten zählen die einfache oder zweifache Transplantation der 2. Zehe nach Yang ( Abschn. 40.2.4), die En-bloc-Transplantation der 2. und 3. Zehe nach O’Brien bzw. Biemer, die Fingerstumpfverlängerung durch Kallusdistraktion in Höhe der Ossa metacarpalia sowie lokale Strahltranspositionen alleine oder in Verbindung mit Vertiefung der Kommissuren in Höhe der Metakarpalia. Das Vorgehen bei der Auswahl des Behandlungsverfahrens entspricht dem vorher genannten. Wegen des überaus großen Hebedefektes im Fußbereich sollte die Enbloc-Transplantation nach O’Brien bzw. Biemer heute nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt werden, z. B. dann, wenn der Fuß aus anderen Gründen ohnehin amputiert werden muss. Ist weder eine aufwendige, freie mikrovaskuläre Zehentransplantation noch eine progressive oder einzeitige Stumpfverlängerung möglich, so kann eine Basishand auch durch eine Rotationsosteotomie im Bereich des Os metacarpale V und durch Resektion des Os metacarpale II nach Tsuge erreicht werden. Voraussetzung
1109 40.1 · Allgemeines
für ein zumindest mäßiges funktionelles Ergebnis ist eine einwandfreie Daumenfunktion (Kapandji-Index 9/10).
Sekundäre Rekonstruktion bei »inadäquatem Daumen« und »inadäquaten Fingern« Funktionsverlust bei normaler Länge Abschn. 40.1.6 Funktionsverlust durch Amputationsverletzung Die gleichzeitige Amputation des Daumens und eines oder mehrerer Finger führt zu schweren funktionellen Einschränkungen der Hand, insbesondere der feinen Greiffunktionen. In der Akutsituation muss unbedingt eine Replantation durchgeführt werden, soweit sie möglich, sinnvoll und risikoarm erscheint und überhaupt gewünscht wird. Als Rangfolge der Rekonstruktion muss beachtet werden: Daumen, Mittelfinger, Kleinfinger, Ringfinger und Zeigefinger. Heterotope Transplantationen kommen immer in Frage. Bei der Wiederherstellung nach kombinierten Daumen- und Fingeramputationen können als Ausgangssituationen unterschieden werden: der inadäquate Daumen mit mindestens einem komplett erhaltenen Finger, der inadäquate Daumen mit einem teilweise erhaltenen Finger, die Amputation der Hand in Höhe der Metakarpalia und die Amputation der Hand in Höhe der Handwurzel ( Differenzialtherapie bei Amputationen von Daumen und Fingern). Differenzialtherapie bei Amputationen von Daumen und Fingern
▬ Alle Amputationen – Mikrochirurgische Rekonstruktion – Orthotop – Heterotop
▬ Inadäquater Daumen mit mindestens einem komplett erhaltenen Finger – – – –
Stumpftransposition (On-top-Lappenplastik) nach Kelleher Pollizisation eines verletzten Fingers nach Gosset Transplantation der 2. Zehe nach Young Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke
▬ Inadäquater Daumen mit einem teilweise erhaltenen Finger – – – –
Stumpftransposition (On-top-Lappenplastik) nach Kelleher Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke Transplantation der 2. Zehe nach Young Kallusdistraktion in Höhe der Ossa metacarpalia mit Vertiefung der Kommissuren – Vertiefung der Kommissuren
▬ Amputation der Hand in Höhe der Metakarpalia – – – –
Stumpftransposition (On-top-Lappenplastik) nach Kelleher Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke Transplantation der 2. Zehe nach Young Kallusdistraktion in Höhe der Ossa metacarpalia mit Vertiefung der Kommissuren – Vertiefung der Kommissuren – Ästhetische Finger- oder Handprothesen nach Pillet
▬ Amputation der Hand in Höhe der Handwurzel – Transplantation einer Zehe zum distalen Unterarm nach Furnas bzw. Vilkki – Funktionelle Orthese – Krukenberg-Operation (mit ästhetischer Unterarm-HandProthese) – Ästhetische Handprothese nach Pillet
»Inadäquater Daumen« mit mindestens einem Finger Das Ziel der Rekonstruktion ist die sog »Basishand nach Entin« mit einem mobilen Strahl auf der radialen Seite, einem Zwischenraum und einer ulnaren Abstützungsmöglichkeit. Bei der Behandlung dieser Verletzungstypen liegt der Schwerpunkt auf einer optimalen Rekonstruktion des Daumens. Je nach Höhe der Amputation gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Behandlung des inadäquaten Daumens. Erfolgt die Amputation proximal des MP-Gelenks, so kommen lediglich die Pollizisation nach Gosset oder die Transplantation der 2. Zehe nach Yang in Frage. Der freie mikrovaskuläre Transfer der 2. Zehe sollte vor allem bei jungen motivierten Patienten oder bei Patienten mit hohen funktionellen Ansprüchen an die Hand angewandt werden. Er stellt die einzige sinnvolle Therapiemöglichkeit dar, wenn weniger als zwei Finger intakt geblieben sind. Ein möglicher zusätzlicher Weichteilverlust kann vor oder gleichzeitig mit dem Zehentransfer behandelt werden. Sind mehr als zwei Finger erhalten und wird eine Zehentransplantation abgelehnt oder ist sie kontraindiziert, so kommt die Pollizisation eines Fingers oder eines Fingerstumpfes zur Anwendung. Zur weiteren Verbesserung der Gesamtfunktion der Hand können zusätzliche Maßnahmen, wie die Resektion eines Os metacarpale, eine Rotationsosteotomie oder ein Sehnentransfer, erforderlich sein. »Inadäquater Daumen« mit einem teilweise erhaltenen Finger Beim Vorliegen eines »inadäquaten Daumens« zusammen mit einem nur teilweise erhaltenen Finger sind die Behandlungsmöglichkeiten zur Wiederherstellung der Basishand sehr eingeschränkt. Wenn möglich, sollte die (Zeigefinger-)Stumpftransposition (»On-top-Lappenplastik«) nach Kelleher wegen des Vorteiles sowohl der Verlängerung des Daumens als auch der Vertiefung der neuen 1. Kommissur durchgeführt werden. Dies ist gerade bei kurzen Fingerstümpfen funktionell entscheidend, da sie zu einer Vergrößerung der Handspanne führt. Funktionelle Verbesserungen können durch eine Strahlverlängerung in Höhe des Os metacarpale zusammen mit der Vertiefung der 1. Kommissur, mit Rotationsosteotomien der Metakarpalia, einer einfachen oder zweifachen Transplantation der 2. Zehe oder – als letzte Wahl – mit ästhetischen Fingerprothesen erzielt werden. Bei jungen und motivierten Patienten empfiehlt sich aus funktionellen Gründen eine Lappenplastik einer Zehe als Therapie der 1. Wahl. Zur Rekonstruktion der Daumenfunktion kann entweder eine Transplantation der Großzehe nach Cobbett bzw. Buncke oder eine Transplantation der 2. Zehe nach Yang durchgeführt werden. Die Großzehe bietet eine größere Grifffläche und sollte bei ausreichender Daumenstumpflänge bevorzugt eingesetzt werden. Wird diese Therapieoption vom Patienten abgelehnt, so kann eine sinnvolle Daumenrekonstruktion durch die Transplantation einer 2. Zehe erreicht werden. Um die Zweifingergrifffunktion in eine Dreifingergrifffunktion zu überführen, kann auf eine freie mikrovaskuläre Transplantation der 2. Zehe der gegenüberliegenden Seite zur Fingerrekonstruktion zurückgegriffen werden. Sind aufwendige operative Verfahren nicht möglich oder werden sie abgelehnt, bleibt zur Verbesserung des Erscheinungsbildes nur der Einsatz einer partiellen oder kompletten ästhetischen Handprothese übrig. Ästhetische Fingerprothesen sollten wegen der geringen Compliance der Patienten i. Allg. nur auf besonderen Wunsch verordnet werden. Diese Prothesen bieten neben der ästhetischen Verbesserung eine gewisse funktionelle Verbesserung, indem sie als Widerlager des rekonstruierten Daumens dienen können. Wesentliche Nachteile sind das Fehlen jeglicher Sensibilität und Beweglichkeit, die zusätzliche Ausschaltung der Stumpfsensibilität durch die aufgesteckte Prothese sowie – auch bei ausreichender Hautpflege – sekundäre Irritationen der Haut.
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Amputationen der Hand im Metakarpalbereich (Zone 4) Bei einer Amputation der Hand in Höhe der Metakarpalia mit Verlust aller Finger und des Daumens gelten die gleichen Grundsätze wie für die zuvor genannte Gruppe. Je kürzer die Daumen- und Fingerstümpfe sind, umso schlechter ist die Funktion der Hand und desto aufwendigere Behandlungsverfahren sind erforderlich.
der »extended physiological proprioreception control« (EPP) jeder indirekt betätigten Prothese überlegen: Die Rückmeldung aus dem Stumpf respektive der Greifzange erfolgt in »biologischer Echtzeit«. Aus ästhetischen Gründen wird die Kruckenberg-Plastik trotz ihrer unbestrittenen funktionellen Vorzüge von vielen – besonders weiblichen – Amputierten sowie in vielen Teilen der Gesellschaft – mit deutlicher Zunahme von Nord nach Süd – abgelehnt und wurde in den mediterranen Kulturen mit dem Stigma einer »Krebsschere« oder »lobster claw« als völlig inakzeptabel aus dem Therapieoptionen völlig gestrichen. Dies sollte heute kein Ablehnungsgrund mehr sein; da nach Neff jeder wie auch immer geformte Kruckenberg-Arm prothetisch versorgt werden kann – vorzugsweise mit einer ästhetischen oder einer myoelektrischen Unterarmprothese. Der Schaft muss jedoch das selbstständige mühelose An- und Ablegen auch für den »Ohnhänder« erlauben.
Amputationen der Hand im Karpalbereich (Zone 5) Bei der Behandlung von Amputationen der Hand in Höhe der Handwurzel ist entscheidend, ob das Radiokarpalgelenk erhalten ist. Ist dies der Fall, so kann die Extension und Flexion dieses Gelenks zusammen mit einem palmaren Widerlager zumindest eine einfache Greiffunktion ermöglichen. Eine deutliche Verbesserung kann erreicht werden, wenn anstatt der passiven palmaren Prothese eine Transplantation der 2. Zehe nach Yang mit Fixierung der Zehe am Radius durchgeführt wird (Operation nach Furnas bzw. Vilkii; ⊡ Abb. 40.3). Bei Verlust der radiokarpalen Gelenkfunktion kann auch schon durch Transplantation der 2. ehe auf die laterale Radiusgelenkfläche eine primitive Greiffunktion ermöglicht werden. Wegen des unterschiedlichen Wachstumspotenzials der Epiphysenfugen des distalen Radiusendes und der 2.Zehe sollte diese Technik bei Kindern nicht eingesetzt werden. Das Verfahren nach Kruckenberg ( Abschn. 40.2.6) ist durch den direkten Zugriff und die sensorische Rückmeldung im Sinne
> Die Kruckenberg-Operation ist indiziert bei bilateral Amputierten, vor allem wenn zusätzlich eine Blindheit besteht.
Sie sollte bei unilateraler Amputation nur ausnahmsweise und auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten erwogen werden, da bei voll funktionsfähiger Gegenseite der amputierte Arm meist nur als Gegenhalt und eher selten zum Greifen und Halten eingesetzt wird, weshalb die prothetische Versorgung meistens ausreichend ist (⊡ Abb. 40.4).
FCR FPL
ECRB
ECRL
APL
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⊡ Abb. 40.3 Operation nach Furnas bzw. Vilkii. Fixierung der freien mikrovaskulren 2. Zehe am Radius
a
b
FDS IV
c
FDP III
d
⊡ Abb. 40.4 Kruckenberg-Arm (klinischer Fall von J. Probst). a Klinischer Aspekt: aktive Öffnung, b Klinischer Aspekt: aktiver Schluss, c klinischer Aspekt: aktive Greif- und Haltefunktion, d klinischer Aspekt: Versorgung des Kruckenberg-Armes mit einer durch die Branchen beweglichen Kunsthand
1111 40.1 · Allgemeines
Werden die zuvor genannten Verfahren abgelehnt oder können sie nicht durchgeführt werden, so kann auf ausdrücklichen Patientenwunsch eine ästhetische Handprothese rezeptiert werden ( Kap. 42). 40.1.7 Therapie Abschn. 40.1.6
Konservative (nichtoperative) Therapie Ist eine Operation nicht möglich oder gewünscht, kann durch prothetische Hilfsmittel versucht werden, die Greiffunktion zu verbessern.
Operative Therapie Auch für die Rekonstruktion eines Daumens oder Fingers gelten die allgemeinen Kriterien der erfolgreichen Defektdeckung bzw. Rekonstruktion. Darüber hinaus werden nach GU folgende spezifische Kriterien gefordert: Spezifische Anforderungen an die Rekonstruktion eines Daumens bzw. Zeigefingers 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Ausreichende Länge Adäquate Position Adäquate Blutversorgung Adäquate Sensibilität Akzeptabler ästhetischer Aspekt Kosten-Nutzen-Abwägung deutlich zu Gunsten des Nutzens
Der rekonstruierte Daumen sollte mindestens eine Länge von 5–6 cm haben, er ist somit etwas kürzer als der normale Daumen. Grundsätzlich sollte die Länge des Neodaumens aufgrund der Gesamtsituation der verletzten Hand festgelegt werden. Als klinischer Anhaltspunkt gilt, dass die Daumenpulpla unterhalb der PIPGelenk-Falte des Zeigefingers zu liegen kommen sollte. Bei einem polydigitalen Defekt kann die Daumenlänge kürzer sein. Der rekonstruierte Finger sollte etwa 7–8 cm lang sein. Als klinischer Anhaltspunkt gilt die Länge der Grund- und Mittelphalanx der gesunden Seite. Der Daumen sollte in Oppositionsstellung zu den Fingern positioniert werden. Bei einem partiellen Daumendefekt mit noch bestehendem Metakarpale I ist dies einfach zu erreichen. Bei polydigitalen Defekten mit Daumenbeteiligung der Zone 3 jedoch bestehen bei fehlender Thenarmuskulatur größere Schwierigkeiten. Als klinischer Anhaltspunkt hat es sich in diesem Fall bewährt den Neodaumen an den Metakarpalrest oder das Pseudo-CMC-Gelenk zu fixieren, wobei das MP- und Interphalangealgelenk in Extension stabilisiert werden. Als klinischer Trick hat sich die temporäre transunguale Fixierung des Daumens mit dem Mittelfinger in Oppositionsstellung bewährt (⊡ Abb. 40.11l). Die Position der rekonstruierten Finger sollte adäquat im Verhältnis zu den nichtverletzten Fingern und in Opposition zum Daumen stehen. Eine Beugung von etwa 30° im MP- und Interphalangealgelenkbereich hat sich als vorteilhaft erwiesen. Eine adäquate Durchblutung ist Voraussetzung für das Überleben des rekonstruierten Daumens oder Fingers, aber auch für seine Funktionalität. Eine wichtige Ursache für Kälteintoleranz ist eine inadäquate Versorgung. Die Perfusion eines mithilfe eines Zehentransfers rekonstruierten Daumens oder Fingers kommt der physiologischen Vaskularisation der Finger am nähesten. Lokale axial gestielte Lappenplastiken oder Insellappenplastiken sorgen eben-
falls für eine Verbesserung der Durchblutung im Empfängergebiet (»giving flap«). Die schlechteste Durchblutung wird durch »random pattern« gestielte Lappenplastiken erreicht, da nach Durchtrennung des Hautstiels, die Durchblutung vom Empfängergebiet aus abhängt (»demanding flap«). Ein Finger ohne adäquate Sensibilität hat ein signifikant erhöhtes Verletzungsrisiko. Darüber hinaus kommt es auch zu einer deutlichen Funktionseinschränkung, vor allem beim Spritzgriff und allen Präzisionsgreifformen. Ohne Sensibilität können keine kraftvollen und koordinierten Bewegungen erfolgen. Im Hinblick auf die Wiederherstellung der Sensibilität zeigt der Zehentransfer die besten und der Random-Pattern-Lappentransfer die schlechtesten Ergebnisse. Eine kraftvolle Extension und Flexion ist wichtig für die Fingerbewegung. Ein steifer Finger kann zu einer signifikanten Beeinträchtigung der globalen Handfunktion führen. Eine Amputation kann in einigen Fällen eine deutliche Verbesserung der globalen Handfunktion bedingen. Im Daumenbereich ist eine extrinsische Extension-Flexion wichtig aber nicht unabdingbare Voraussetzung für eine Funktion, solange der Daumen in Oppositionsstellung zu den beweglichen Fingern steht. Darüber hinaus kann auch mithilfe der intrinsischen Daumenmuskulatur eine Extensions-FlexionsBewegung durchgeführt werden. Der rekonstruierte Daumen oder Finger soll neben einer guten Funktion auch eine akzeptable Ästhetik zeigen. > »Ästhetik ist Funktion«. Nur ein ästhetisch akzeptabel rekonstruierter Finger wird vom Patienten im Alltag eingesetzt. Bei funktioneller aber hässlicher Rekonstruktion setzt der Patient den rekonstruierten Finger nicht ein, die Funktion des rekonstruierten Fingers und sogar der betroffenen Hand ist beeinträchtigt oder verloren. Unabhängig von der Art der Rekonstruktion müssen Arzt und Patient den Spenderdefekt gegen das zu erwartende Ergebnis im Empfängergebiet genau abwägen. Für eine Fingerrekonstruktion soll eine Erfolgsrate von 90% möglich sein, anderenfalls ist der Spenderdefekt höher anzusetzen als der Benefit im Empfängergebiet. In Abhängigkeit von den defektbedingten, therapiebedingten und patientenbedingten Kriterien stehen grundsätzlich alle rekonstruktiven Therapien zu Verfügung. Die adäquate Patientenselektion ist eine Voraussetzung für ein optimales Ergebnis. Bei denjenigen Patienten, bei denen der allgemeine Gesundheitszustand oder die lokalen Wundverhältnisse nicht ideal sind, sollte eine zweite Evaluation durchgeführt werden. Auf keinen Fall sollte sofort die Operation aufgegeben oder überhastet durchgeführt werden. Es liegt in der Verantwortung des Operateurs das für den jeweiligen Patienten optimale Rekonstruktionsverfahren auszusuchen und adäquat auf alle möglichen Probleme, die aus dieser Wahl resultieren könnten, umgehen zu können. In der klinischen Praxis haben sich folgende 3 Prinzipien nach GU bewährt:
Nummer-1-Prinzip: »Jeder Fall sollte wie der erste Fall betrachtet werden«. Eine sorgfältige Operationsplanung, atraumatische chirurgische Technik und genaue postoperative Überwachung sind die Grundpfeiler einer erfolgreichen Therapie. Es sollte nicht der Erfolg der vorausgegangenen Operation als selbstverständlich angesehen werden. Aus Fehlern vorausgegangener Operationen müssen Lehren gezogen werden.
Additionsprinzip: »Nach sehr gut kommt schlecht«. Es liegt in der Verantwortung des Operateurs die Risiken und den Nutzen der Operation für den jeweiligen Patienten abzuwägen. Jeder
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
zusätzliche operative Schritt und jede zusätzliche Operation soll zu einem positiven Ergebnis führen. Durch eine unbedachte Erweiterung des operativen Eingriffes oder eine unnütze zusätzliche Operation kann das bisher erreichte gute Ergebnis verschlechtert oder sogar komplett zunichte gemacht werden.
Daumens verbessert und durch die Vertiefung der Kommissur das Umgreifen größerer Gegenstände erleichtert wird ( Kap. 34).
Variationsprinzip: »Kein chirurgischer Fall ist identisch«.
In einigen Fällen kann die globale Handfunktion durch Transposition eines gesamten Fingerstrahls oder dessen Reste (Phalangisation, On-top-Plastik) deutlich verbessert werden. Zwei Hauptindikationen können beschrieben werden: 1. Wiederherstellung der Daumenfunktion durch Transposition (von Teilen) eines Fingers (Pollizisation), 2. Finger(teil)strahltransposition zur Verbesserung der Funktion im Fingerbereich (Strahltransposition).
Keine Operation sollte als Wiederholung der vorhergehenden betrachtet werden. Unterschiede können bei jedem Fall auftreten. Nur wenn man auf neue Varianten achtet, kann man sie erkennen. So können neue Voraussetzungen Operationstechniken verändern und verbessern. 40.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
40.2.2 Strahltransfer (inkl. Phalangisation)
Pollizisation Für die Wiederherstellung der Greiffunktion im Bereich der Hand im Kindesalter gelten im wesentlichen die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Auf folgende Besonderheiten muss hingewiesen werden:
Zentraler Neglekt. Bei der Wiederherstellung der Greiffunktion bei Kindern muss primär geprüft werden, ob der fehlende Handteil schon kortikal angelegt war. Bei Kindern unter 18 Monaten besteht trotz technisch einwandfreier Rekonstruktion eines Fingers oder Daumens die Gefahr, dass der rekonstruierte Teil nicht in die Bewegung mit einbezogen wird. Bei Kindern über 2–3 Jahre hat sich die jeweilige Funktion kortikal bereits so gefestigt, dass nach erfolgreicher Rekonstruktion in Kombination mit einer adäquaten postoperativen handtherapeutischen Begleittherapie die bereits erlernten Bewegungsbilder wieder eingesetzt werden. Intrinsisches Wachstumspotenzial. Bei noch nicht abgeschlossenem Wachstum müssen Techniken eingesetzt werden, die eine inhärente Wachstumspotenz haben. Die Strahlverlängerung durch Kallusdistraktion rückt somit in das zweite Glied. Operationstechnik. Aufgrund der kleineren Strukturen ist die Operation selbst technisch anspruchsvoller.
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Postoperative Nachsorge und Handtherapie. Auch und gerade bei Kindern kann durch eine adäquate postoperative handtherapeutische Begleittherapie die Funktionalität des rekonstruierten Handabschnitts signifikant verbessert werden ( Kap. 15). Postoperatives funktionelles und ästhetisches Ergebnis. Bei adäquater chirurgischer Technik und postoperativer Nachbehandlung sind die funktionellen und ästhetischen Ergebnisse bei Kindern besser als bei Erwachsenen.
> Unter Pollizisation versteht man die Transposition eines Fingers oder Anteile eines solchen im Sinne einer »On-topPlastik« (Fingerstumpf) oder Phalangisation (Mittelhandknochen) an seinem neurovaskulärem Stiel zur Rekonstruktion (bei traumatischem Verlust) oder Bildung (bei angeborenen Fehlbildungen) eines Daumens.
Prinzipiell können alle vier Finger zur Pollizisation herangezogen werden. Liegt neben dem Daumen noch ein geschädigter Finger vor, wird dieser bevorzugt für den Daumenersatz herangezogen (⊡ Abb. 40.1). > Der heute am häufigsten verwendete Finger zur Daumenrekonstruktion ist der Zeigefinger.
Bei zusätzlicher Schädigung mehrerer Finger ist eine Arteriografie (DSA) indiziert, deren Befund entscheidend für die Wahl des zu transponierenden Fingers oder sogar einer anderen Rekonstruktionstechnik sein kann. Nur bei der Zeigefingerpollizisation kann eine dorsale Vene (und eventuell ein Nerv) erhalten werden. Bei allen anderen Fingern erfolgt der venöse Abfluss – suffizient – über die palmaren Begleitvenen. Ein zusätzlicher dorsaler Abfluss kann durch mikrochirurgische Venennaht ermöglicht werden. In Abhängigkeit von der Höhe des Daumenverlustes werden partieller und vollständiger Daumenverlust unterschieden. Bei partiellem Verlust des Daumens (meist posttraumatisch) ist der erste Mittelhandknochen noch vollständig oder weitgehend erhalten, wodurch auch das Sattelgelenk und in den meisten Fällen die Daumenmuskeln noch vorhanden sind. Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Unabhängig von der Defekthöhe kann nach BuckGramcko das operative Vorgehen in 4 Phasen eingeteilt werden: Operative Schritte der Pollizisation nach Buck-Gramcko
40.2
Spezielle Techniken
40.2.1 Relative Fingerverlängerung durch
1. 2. 3. 4.
Schnittführung Transposition des Fingers an seinem neurovaskulären Stiel Neuordnung des Skeletts Muskuläre Stabilisierung
Vertiefung der Kommissuren Durch die Vertiefung der Zwischenfingerfalten kommt es primär – durch eine relative Verlängerung von Daumen und Fingern – zu einer ästhetischen Verbesserung, da die Proportionen im Handbereich verbessert werden. Darüber hinaus kommt es im Bereich der 1. Kommissur auch zu einer funktionellen Verbesserung, da die Abspreizfähigkeit des
Der Zeigefinger(stumpf) wird an seiner Basis oval umschnitten, sodass dorsal ein spitzer Hautzipfel entsteht. In der 1. Kommissur wird ein palmar gestielter dreieckiger Hautlappen gebildet; der Schnitt endet radial über der Spitze des Metakarpale I, in dessen Bereich ggf. eine Narbe ausgeschnitten werden muss. Nun erfolgt die Darstellung aller tieferen Strukturen. Am Gefäß-Nerven-Bün-
1113 40.2 · Spezielle Techniken
del 2/3 wird in mikrochirurgischer Technik in der Mittelhand der gemeinsame Nerv in seine Anteile für die radiale Mittelfinger- und die ulnare Zeigefingerseite aufgespalten, während die zur Radialseite 3 abgehende Arterie unterbunden werden muss. Jetzt erfolgt die Präparation der Muskeln im Zeigefinger- und Daumenbereich. Nach Darstellung der langen Strecksehnen im Zeigefinger und Daumenbereich, werden die Zeigefingerstrecksehnen in Abhängigkeit von der Länge der Daumenstrecksehnen durchtrennt. Die Mm. interossei dorsalis und palmaris I werden abgelöst und so durchtrennt, dass ihre distalen Anteile zur späteren muskulären Stabilisierung erhalten bleiben, der proximale Muskelbauch aber wegfällt. Nach Beendigung der Präparation im Fingerbereich werden die Thenarmuskeln (APB, FBP, ADB) dargestellt und markiert. Der neue Daumen soll so lange sein, dass er bis in Höhe des PIPGelenks des nächsten Fingers reicht. Bei voller Länge des Fingers ist jetzt eine Knochenkürzung im Metakarpal- und Grundphalanxbereich erforderlich. Wird dagegen ein teilamputierter Zeigefinger zum Daumenersatz benutzt, so ist eine Kürzung – in Abhängigkeit von der vorhandenen Fingerlänge – nur im Mittelhandknochen notwendig. Der zu transponierende Finger verbleibt somit nur an den beiden palmaren Gefäß-Nerven-Bündeln, den beiden Beugesehnen und den dorsal erhaltenen Venen (und eventuell dem Nerv). Die Beugesehnenscheide sollte immer von der palmaren Platte abgelöst werden, damit die Beugesehne an den neuen Daumen in Höhe der Grundgliedbasis tritt. Die Transposition des Fingers muss unter gleichzeitiger Drehung um die Längsachse von etwa 90–100° vorgenommen werden. Je weniger der Daumen in seinem Sattelgelenk in Sinne der palmaren Abduktion und Opposition beweglich ist, desto mehr muss der transponierte Finger nach palmar abgewinkelt und im Sinne der Pronation gedreht werden. Für die Osteosynthese können unterschiedliche Verfahren (stufenförmige Anfrischung beider Knochenstümpfe mit Schraubenfixation, Drahtfixation und/oder Kirschner-Draht-Fixierung und Plattenosteosynthese) erfolgreich eingesetzt werden. Für die Rekonstruktion der Extension wird die Sehne des EDC mit der Sehne des EPL koaptiert. Die Adduktionsfähigkeit wird durch Naht der Sehne des M. interosseus palmaris I in den M. adductor pollicis wiederhergestellt. Bei der Zeigefingertransposition kann zusätzlich der distale Sehnenstumpf des EIP zur Verbesserung der Adduktionsfähigkeit verwendet werden. Die distale Sehne des M. interosseus dorsalis I sowie die des M. lumbricalis I (radialer Seitenzügel der Streckaponeurose) wird mit dem Muskelbauch des M. abductor pollicis brevis und M. opponens verbunden. Bei Zerstörung des M. interosseus dorsalis I kann die oberflächliche Zeigefingerbeugesehne zur gleichzeitigen Opponensplastik verwendet werden. Die Beugesehnen des Fingers verbleiben ungekürzt, da sie in dem meisten Fällen sekundär ausreichend schrumpfen. Eine nervaler Anschluss der Nn. digitales proprii der Finger an die des
Daumens im Sinne eines Debranchement–Rebrachement zur Verbesserung des »Organgefühls« ist nicht notwendig (⊡ Tab. 40.2). Nach Öffnen der Blutleere und Kontrolle der Durchblutung erfolgt eine subtile Blutstillung. Anschließend wird die Haut locker verschlossen, wobei bei der Zeigefingerpollizisation der vorher gehobene Hautlappen jetzt die neue Zwischenfingerfalte deckt und durch seine Begrenzung einen kontrakturvermeidenden Wundverlauf ergibt. Bei Transposition eines teilamputierten Zeigefingers kann eine zusätzliche Hautdeckung (dorsaler Verschiebelappen, freies Hauttransplantat) notwendig werden, sollte aber nicht in den Greifbereich gelegt werden (⊡ Abb. 40.5). Postoperativ ist eine Ruhigstellung für 3 Wochen durch eine Unterarmgipsschiene mit Einschluss des neuen Daumens erforderlich zum Schutz der Muskel- und Sehnennähte erforderlich. Danach wird mit aktiver krankengymnastischer Übungsbehandlung begonnen.
Komplette Zeigefingerpollizisation nach Buck-Gramcko Bei vollständigem Daumenverlust (meist angeborene Fehlbildung) fehlt die Basis des Mittelhandknochens und somit die Funktion des CMC-I-Gelenks. Alle 3 Glieder des Daumens und die sie bewegenden kleinen Muskeln müssen ersetzt werden. In Abhängigkeit von der Ätiologie des Daumenverlustes unterscheidet man angeborene und erworbene (Trauma, Tumor) Formen. Bei den angeborenen Daumendefekten können proximal zusätzliche Veränderungen an Muskeln, Sehnen, Nerven und Knochen vorliegen, die das operative Vorgehen entscheidend beeinflussen können. Bei den posttraumatischen Formen ist mit ausgeprägten narbigen Veränderungen im Amputationsstumpfbereich zu rechnen, weshalb dessen Exstirpation und Deckung bei der Operationsplanung berücksichtigt werden müssen ( Kap. 20).
Transposition des Metakarpale II (Phalangisation) Beim Verlust von Daumen und Zeigefinger im Grundgelenkbereich oder Köpfchen der Mittelhandknochen, bei dem sich fast immer eine mehr oder weniger starke Schädigung der übrigen Finger findet, kann – sofern keine Indikation für einen mikrovaskulären Zehentransfer besteht – ein deutlicher Funktionsgewinn durch Verlängerung des Metakarpale I durch Transposition des Metakarpale II mit seiner darüber liegenden Haut erreicht werden. Die Operationstechnik weicht insofern von derjenigen bei Übertragung eines intakten Fingers oder von Fingeranteilen ab, als zwar die Aufteilung der Gefäß-Nerven-Bündel in gleicher Weise erfolgt, um der dem Metakarpalköpfchen aufliegenden Hautinsel normale Sensibilität und Durchblutung zu verleihen, die Muskeln und Sehnen aber mangels vorhandener Gelenke nicht weiter benötigt werden und reseziert werden können. Zur Hautdeckung ist in jedem Fall ein freies Hauttransplantat, ggf. auch ein Verschiebelappen
⊡ Tab. 40.2 Muskuläre Stabilisierung und Möglichkeiten der motorischen Ersatzoperationen der Zeigefingerpollizisation Funktion
Partieller Daumenverlust
Kompletter Daumenverlust
Mögliche Sehnentransfers
Flexion (FPL) Extension (EPL)
FDP II EDC II
FDP II EIP
FPL, FDS IV BR, ECRL, ECU, FDS IV
Abduktion (APL)
APL
EDC II
BR, ERCL, ECU, FDS IV
Opposition (M. opponens, FPB)
M. interosseus dorsalis I
M. interosseus dorsalis I
FDS II, FDS IV, ADM
Adduktion
M. interosseus palmaris I, EIP
M. interosseus palamaris I, EIP
FDS II
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⊡ Abb. 40.5 Pollizisation des Zeigefingers zur Rekonstruktion einer Daumenamputation im proximalen Metakarpalbereich (partiellem Daumenverlust). a Präoperativer Zustand und Planung des Hautschnitts, b Zustand nach Präparation aller Strukturen und Osteotomie im Metakarpale-II-Bereich, c Zustand nach Transposition des Zeigefingers in den Daumenbereich, muskuläre Stabilisation, d Zustand am Ende der Operation. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–c], Blauth u. Schneider-Sickert 1972 [d])
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notwendig, um die neu gebildete vertiefte und verbreiterte 1. Kommissur zwischen dem verlängerten 1. Strahl und dem Mittelfingerstrahl decken zu können. Der Grobgriff kann durch eine derartige Operation wesentlich verbessert werden, da auch bei begrenzter Länge der Daumenstrahl lang genug geworden ist, um den übrigen 3 Fingern ein guter Gegenhalt zu sein (⊡ Abb. 40.6).
Fingerstrahltransposition Die Indikation zur Fingerstrahltransposition wird aus funktionellen wie auch aus ästhetischen Gründen gestellt. Besonders angezeigt ist sie beim Vorhandensein einer Lücke, durch die kleinere
⊡ Abb. 40.6 Daumenersatz durch Phalangisation des Metakarpale II nach Hilgenfeldt. a Präoperativer Befund und Planung der Hautinzision, b Herauslösung des Metakarpale II unter Schonung von Gefäßen und Nerven und Durchtrennung des Lig. intermetacarpalia, c postoperativer Aspekt: Ansicht von palmar, d postoperativer Aspekt: Ansicht von dorsal. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
Gegenstände hindurchfallen können, wie sie bei Fingerverlust im Bereich des Grundgelenks des Mittelfingers (bei der Zeigefingerstrahltransposition) oder Ringfingers (bei der Kleinfingerstrahltransposition) entstehen. Dabei entwickelt sich mit der Zeit eine Deviation der Nachbarfinger zur Lücke hin, was die ohnehin schon bestehende funktionelle Beeinträchtigung weiter verschärft. Außerdem ist das ästhetische Erscheinungsbild für den Patienten störend. Mit dem Ziel einer funktionellen wie auch ästhetischen Verbesserung nach angeborenen und erworbenen polydigitalen Defektzuständen sind Stumpftranspositionen im Sinne einer Ontop-Plastik auch im Fingerbereich indiziert. Aufgrund des Kraft-
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M. interosseus palmaris 2
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M. interosseus dorsalis 4 Beugesehnen
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ED IV
M. interosseus dorsalis 3
ADM
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wegfallender Knochenkeil
Knochenspan ADM
⊡ Abb. 40.7 Plastische Handverschmälerung mit Resektion des insuffizienten Strahles und Transposition des kompletten Strahles. a Radiale Handverschmälerung: präoperativer Zustand und Lappenplanung (Ansicht von dorsal), b radiale Handverschmälerung: postoperativer Zustand, c ulnare Handverschmälerung: präoperativer Zustand und Lappenplanung (Ansicht von dorsal), d ulnare Handverschmälerung: postoperativer Zustand. (Aus Berger u. Hierner2009 [a, b])
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verlustes von etwa 20% und der Minderung der Griffstabilität ist eine Handverschmälerung durch Strahltransposition bei Schwerarbeitern kritisch zu sehen (⊡ Abb. 40.7). 40.2.3 Strahlverlängerung durch Distraktion Die Technik der Kallusdistraktion kann bis zu den Anfängen dieses Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Hauptsächlich zur Frakturtherapie und nur selten bewusst zur Extremitätenverlängerung eingesetzt, verlor die Kallusdistraktion an Bedeutung und wurde weitgehend verlassen. Durch die Popularisierung der Arbeiten von Ilizarov und an der Hand speziell von Matev in den westlichen Ländern kam es gegen Ende der 80er Jahre zu einer sprunghaften Verbreitung dieser Technik. Das therapeutische Vorgehen bei der Kallusdistraktionstechnik kann in mehrere Abschnitte unterteilt werden: Therapeutisches Vorgehen bei der Kallusdistraktion 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Weichteilsanierung Distraktorimplantation Prädistraktionsphase Distraktionsphase Konsolidierungsphase Rehabilitationsphase Funktionsverbessernde Eingriffe
Ein gutes Operationsergebnis ist abhängig von der Weichteilqualität vor der Distraktion. Narbenzüge und Kontrakturen vor allem im Bereich der 1. Kommissur, müssen entfernt und der Defekt durch gestielte oder freie Lappenplastiken gedeckt werden. Im Gegensatz zu den meisten erworbenen Handfehlbildungen besteht bei angeborenen Handfehlbildungen häufig ein Weichteilüberschuss. Die Distraktorimplantation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Nach dem Hautschnitt wird in Abhängigkeit vom Röntgenbefund und, noch wichtiger, von der intraoperativ vorgefundenen Situation die Osteotomiestelle derart festgelegt, dass zu beiden Seiten mindesten 2 SteinmannNägel (1,6 mm) eingebracht werden. Bei Kleinkindern ist darauf zu achten, dass die Epiphysenfugen nicht beschädigt werden. Das Einbringen der Nägel unter direkter Sicht verringert das Risiko einer iatrogenen Verletzung von Nerven, Gefäßen und Sehnen. Neben der Hauptinzision werden 2 oder 4 Stichinzisionen für die Steinmann-Nägel gesetzt. Dies verhindert, dass Letztere durch die Hautwunde austreten, was potenzielle Komplikationen verringert und zudem zu einem besseren kosmetischen Ergebnis führt. Die Steinmann-Nägel müssen soweit eingedreht werden, dass sie zuverlässig die dorsalen und palmaren Kortikalisanteile fassen. Die Fixationsbacken des Distraktorsystems können dabei als Bohrerführung dienen. Eine intraoperative Röntgenkontrolle dient der Dokumentation der Einbringtiefe und verringert das Risiko einer iatrogenen Epiphysenfugenschädigung. Als Nächstes wird nun das Periost longitudinal inzidiert. Bei der Kallusdistraktionstechnik ist darauf zu achten, dass die kleinstmögliche Periosteröffnung gewählt wird. Dadurch kann das Frakturhämatom besser lokalisiert und eine Interposition von Weichteilgewebe vermieden werden. Nach vorsichtiger subperiostaler Präparation wird eine Querosteotomie durchgeführt. Ist ein ausreichend langes Knochenstück vorhanden und/oder wird nur ein geringer Längengewinn ange-
strebt, kann auch eine treppenförmige Osteotomie gewählt werden (Stufenosteotomie-Distraktionstechnik). Durch die größere Frakturfläche kommt es zu einer stärkeren Kallusbildung. Die mit dieser Variante maximal zu erzielende Knochenverlängerung ist abhängig von der Ausgangslänge des zu distrahierenden Knochens. Die Pineintrittsstellen sollten in kortikalem Knochen verankert sein und die treppenförmige Osteotomiestelle nicht kreuzen. Nun wird der Distraktionsfixateur angebracht und unter direkter Sicht in den Frakturspalt in seiner Ausgangsstellung arretiert. Die Kontrolle der Funktionalität des Materials sowie die Kontrolle, dass sich der Distraktor in Ausgangsstellung befindet, vermeiden potenzielle Komplikationen. Jetzt wird das Periost möglichst »dicht« vernäht. Nach abschließender Kontrolle der Sehne erfolgt der Hautschluss. Bei Fingerverlängerung im Phalangenbereich kann eine temporäre axiale Kirschner-Draht-Arthrodese des PIP-Gelenks zur Vermeidung von sekundären Beugekontrakturen notwendig werden (⊡ Abb. 40.8a). Nach Öffnen der Blutleere wird die Handperfusion kontrolliert und eine dicker Kompressen- bzw. Watte-Handverband angelegt. Alle Fingerkuppen müssen zur Perfusionskontrolle sichtbar sein. Die Hand wird auf einer palmaren Unterarmschiene bis zum Abschluss der Wundheilung ruhiggestellt. Die Kallusdistraktionstechnik basiert auf der progressiven Verlängerung von Kallusgewebe im Bruchspalt. Der Frakturspalt grenzt eine Höhle ab, welche sich mit Blut füllt, und die man als abgeschlossene »Distraktionskammer« bezeichnen kann. Das sich darin ansammelnde Frakturhämatom, von Eyre-Brooks als »outpooring embryonic tissue« beschrieben, bildet sich im weiteren Verlauf der primären Osteogenese zu Kallus um; es entsteht eine zunächst elastische Gewebebrücke zwischen beiden Frakturstümpfen. Nach Untersuchungen von Ilizarov ist nach 5–7 Tagen (Prädistraktionsphase) ausreichend viel elastisches Kallusgewebe für eine erfolgreiche Kallusdistraktion vorhanden. Bei früherem Distraktionsbeginn besteht das Risiko einer ungenügenden Knochenbildung, bei späterem Distraktionsbeginn kann eine partielle knöcherne Überbauung eine Verlängerung verhindern. Bei einer Distraktionsgeschwindigkeit von 1 mm pro Tag ist mit einer guten Kallusbildung und einer geringen Beeinträchtigung von Zirkulation und Sensibilität zu rechnen. Die tägliche Distraktion erfolgt fraktioniert (2-mal 0,5 mm), um möglichen Diskomfort (selten Schmerzen) und potenzielle Komplikationen zu vermeiden. Die Dauer der stationären Behandlung beträgt 3 (Erwachsene) bis 7 (Kinder) Tage und ist abhängig vom intraoperativen Befund, dem postoperativen Verlauf (Mitarbeit von Eltern und Kind). Nach genauester Instruktion des Patienten bzw. der Eltern über die Durchführung der Distraktion und Erkennung möglicher Komplikationen kann die Therapie auf ambulanter Basis weitergeführt werden. Die tägliche Distraktion kann vom Patienten selbst, den Eltern oder dem Hausarzt durchgeführt werden. Die Distraktion muss im Fall von Hautischämien, Parästhesien und plötzlich eintretenden Schmerzen kurzzeitig verlangsamt oder unterbrochen (maximal 2–3 Tage) werden. Hautnekrose, Exposition von Knochen an der Oberfläche und Zeichen einer tiefen Infektion sind Indikationen zur sofortigen chirurgischen Revision. Während der gesamten Tragedauer des Distraktionsfixateurs muss die operierte Hand mit einer Schiene zum Schutz des Osteosynthesematerials versorgt werden. Die Schiene muss bei Kindern so angebracht sein, dass Manipulationen durch das Kind oder Spielkameraden nicht möglich sind. Zur Kontrolle der Handbeweglichkeit und für die täglich notwendige Pflege der Steinmann-Nägel durch die Patienten selbst, Eltern oder den Hausarzt kann die Schiene abgenommen werden. Die maximale Distraktionslänge ist abhängig
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⊡ Abb. 40.8 Möglichkeiten der progressiven Kallusdistraktion im Handbereich. 1. Strahl: Fingerstrahlverlängerung, 2. Strahl: Segmenttransport im Bereich des Metakarpale II, 3. Strahl: primär verkürzende Rekonstruktion bei kombinierten Knochen-Weichteil-Defekt mit sekundärer Fingerstrahlverlängerung. a Zustand nach Osteotomie und Distraktorimplantation, b Zustand nach Distraktion und temporäerer innerer Fixierung mit gekreuzten Kirschner-Drähten. 1. Strahl: Verfahrenswechsel Distraktions-Interpositions-Technik mit Implantation eines kortikospongiösen Spans bei ungenügender Kallusbildung, 2. Strahl : zusätzliche Knochentransplantation zur Konsolidierung der distalen Andockstelle (sog. Docking-Operation). (Aus Berger u. Hierner 2009)
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von der Ausgangslänge und den funktionellen Bedürfnissen des distrahierten Fingerstrahls, sollte aber 50 mm nicht überschreiten. Die Verlängerung der Metakarpalknochen und auch der Phalangen um 60–80% ihrer Ausgangslänge wird von der Hand und den Patienten gut vertragen Die größte Knochenverlängerung im Handbereich ohne vaskuläre oder sensible Störungen kann im Bereich des 1. Mittelhandknochens mit etwa 100% der Ausgangslänge erreicht werden. Ist die gewünschte Länge bei der Kallusdistraktionstechnik erreicht, endet die Distraktionsphase und die Konsolidierungsphase beginnt. Während dieser Periode kommt es zu einer zunehmenden »Reifung« des initial elastischen Kallusgewebes durch Kalzifizierung. Die mechanische Beanspruchbarkeit nimmt zu. Neben der systematischen Suche nach potenziellen Komplikationen dient eine Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen der Kontrolle des Nagelkontaktes im Knochen (mechanische Lockerung, Infektion), der Quantität und Qualität des Kallusregenerats und der Achsenverhältnisse. Mit dem Auftreten der ersten Kallusschatten ist frühestens 2 Wochen nach Beginn der Distraktion (3. postoperative Woche) zu rechnen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass im weiteren Verlauf das aktuelle Röntgenbild den tatsächlichen Zustand vor etwa 2 Wochen wiedergibt. 6–8 Wochen nach Distraktionsbeginn kann eine in Zugrichtung ausgerichtete Trabekelstruktur erwartet werden. Falls das Kallusregenerat während dieser Zeit eine konstante Form beibehalten hat, ist mit einer ungestörten Kalzifikation zu rechnen. Für die Festsetzung der Dauer der Konsolidierungsphase gibt es
derzeit keine allgemein anerkannten objektiven Richtlinien. Als subjektive Faustregel gilt derzeit, dass die Konsolidierungszeit doppelt so lange wie die Distraktionsperiode dauern soll. > Konsolidierungsdauer = 2 × Distraktionsdauer Für kleine Distraktionsdistanzen wird für Kinder auch die einfache Distraktionsdauer als Maß für die Konsolidierungsphase angegeben. Während dieser Zeit muss entweder der Distraktionsfixateur belassen bleiben oder durch eine andere Osteosyntheseform ersetzt werden (⊡ Abb. 40.8b). Da der Muskelzug erst etwa 2 Monate nach Beendigung der Distraktionsphase abnimmt, kann die Materialentfernung (Distraktor oder Kirschner-Drähte) frühestens zu diesem Zeitpunkt erfolgen. > Tritt keine Kallusbildung ein oder ist am Ende der Konsolidierungsperiode nur ein dünner unregelmäßiger Kallusschlauch vorhanden, besteht die Indikation zum Verfahrenswechsels auf die Distraktions-Interpositions-Technik nach Matev mit sekundärer Interposition eines autologen Knochentransplantats. Sollte sich intraoperativ Kallusgewebe zeigen, wird es mit einem feinen Stößel vorsichtig nach palmar komprimiert und das Knochentransplantat mit seiner spongiösen Fläche angelagert.
Bereits nach Rückgang der Schmerzen und Abschwellung erfolgt die passive Mobilisation aller Gelenke proximal der Distraktion meist durch den Patienten selbst. Eine krankengymnastische Be-
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⊡ Abb. 40.9 Verlängerung des Daumenstumpfes im proximalen Grundgliedbereich mithilfe eines internen Distraktionssystems (Fall von R. Friedel, Jena). a Präoperatives Röntgenbild (d. p. Strahlengang), b postoperatives Röntgenbild in d. p. und lateralem Strahlengang, c klinischer Aspekt während der Distraktion (zur Vermeidung einer Kontraktur im Bereich der 1. Kommissur wird ein C-Splint angelegt), d klinischer Aspekt nach Distraktion im Seitenvergleich, e klinischer Aspekt: Spitzgriff, f röntgenologischer Aspekt nach Arthrodese im MP-I-Gelenk, g klinischer Aspekt nach Vertiefung der 1. Kommissur mit Hilfe einer 2-Lappen Z-Plastik nach Horner (Klinischer Fall von R. Friedel)
gleittherapie erscheint bei Kleinkindern wenig sinnvoll, wohl ist aber eine genaue Instruktion der Eltern notwendig. Ab der Einschulung nimmt die Bedeutung der krankengymnastischen Begleittherapie zu und ist vor allem bei spätoperierten oder adulten Patienten extrem wichtig. In Abhängigkeit von Art (kongenital, erworben) und Ausmaß der Handschädigung und den vorausgegangenen Operationen sowie dem erzielten funktionellen (und ästhetischen) Ergebnis nach Distraktion, können sekundär weitere funktionsverbessernde Eingriffe wie Rotationsosteotomien, Sehnentranspositionen notwendig werden. Diese sollten frühestens 6–12 Monate nach Abschluss der Konsolidierungsphase durchgeführt werden. Zur Vermeidung vieler Komplikationen der externen Distraktorsysteme können vor allem im Daumen- und Mittelhandbereich interne Distraktorsysteme eingesetzt werden (⊡ Abb. 40.9). Der größte Vorteil besteht darin, dass der Distraktor nach Abschluss der Distraktion als Plattenosteosynthese bis zur Ausheilung belassen werden kann. Die Erfahrungen damit sind sehr gut.
Verlängerungs-Interpositions-Technik > Die Verlängerungs-Interpositions-Technik entstand aus Unwissenheit um die Bedeutung einer adäquaten Prädistraktionsphase. Da bei den allermeisten Patienten eine ausreichende Kallusbildung bei adäquat langer Prädistraktionsphase zu sehen ist, sollte diese Technik heute nur noch als »salvage-procedure« eingesetzt werden, wenn kein oder nicht ausreichend autochtoner Knochen gebildet wurde.
Nach Implantation des Distraktors wird mit der Distraktion 24–72 Stunden später begonnen (kurze Prädistraktionsphase). Ist die gewünschte Distraktionslänge erreicht, wird in einer zweiten Operation eine Knochentransplantation durchgeführt. Am Ende der Operation wird eine palmare Unterarmschiene mit 30° Flexion im Metakarpophalangealgelenk angelegt. Diese wird postoperativ maximal für 3–4 Wochen belassen. Bei intraoperativ stabiler Osteosynthese kann eine schnelle Mobilisierung angestrebt werden. Der Kirschner-Draht wird nach 4 bis maximal 6 Wochen entfernt.
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Hinsichtlich der Nachbehandlung gelten die oben gemachten Ausführungen.
Progressive Kallusdistraktion zur Knochensegmentverschiebung Der Segmenttransport sollte an der Hand nur dann angewendet werden, wenn durch den Distraktor die Bewegungsfähigkeit nicht eingeschränkt wird. Darüber hinaus ist im Fingerbereich darauf zu achten, dass die Weichteile (vor allem Sehnen) nicht durch die Steinmann-Nägel zusätzlich geschädigt werden. Da diese beiden Forderungen an der Hand und vor allem im Fingerbereich nur sehr selten erfüllt werden können, hat sich dieses Verfahren noch nicht allgemein durchgesetzt. Operatives Vorgehen und postoperative Nachsorge bei der Kallusdistraktion zur Segmentverschiebung entsprechen größtenteils jenem der Kallusdistraktion zur Extremitätenverlängerung. Unterschiede ergeben sich nur in der Art des Distraktors (defektübergreifender Fixateur externe mit mobilem drittem Element zur Knochensegmentverschiebung; ⊡ Abb. 40.8a) und den fakultativ notwendigen Sekundäroperationen (sekundäre Knochentransplantation im distalen Anschlussbereich). Um einen ungestörten Knochensegmenttransport im Metakarpal- und Grundphalanxbereich zu gewährleisten, muss die Defektlänge konstant gehalten werden. Im Metakarpal- und Fingerbereich wird dies durch einen defektüberbrückenden Fixateur externe mit mobilem Distraktionsschlitten erreicht, welcher auch eine krankengymnastische Übungsbehandlung bereits während der Distraktionsphase ermöglichen muss (⊡ Abb. 40.8a). Hat das verschobene Knochensegment den distalen Frakturstumpf erreicht und kommt es trotz anhaltender Kompression an der distalen Dockungsstelle nicht zu einer knöchernen Vereinigung, kann eine sekundäre Stumpfanfrischung und Knochentransplantation notwendig werden (»Docking-Operation«; ⊡ Abb. 40.8b). 40.2.4 Freie mikrovaskuläre Zehentransplantation
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Am 13.2.1966 wurde am Huashan Hospital in Shanghai/China die erste freie mikrovaskuläre Transplantation der 2. Zehe zur Rekonstruktion des Daumens durchgeführt. Durch intensive Studien der Anatomie im Fußbereich und internationalen Erfahrungsaustausch (»Replantation Mission to China«) konnten in der Folgezeit eine Reihe von freien mikrovaskulären kompletten bzw. partiellen Zehentransplantaten für die Rekonstruktion von Handdefekten beschrieben werden ( Die am häufigsten eingesetzten kompletten und partielle Zehentransplantate für die Rekonstruktion von Handdefekten).
Die am häufigsten eingesetzten kompletten und partielle Zehentransplantaten für die Rekonstruktion von Handdefekten
▬ Transplantate aus dem Bereich der 1. Zehe (Großzehe) – Großzehentransplantat nach Corbett – Trimmed-toe-Transfer nach Wei – Modifizierter Wrap-around-Transfer nach Morrison – Neurovaskuläre Pulpalappenplastik nach Buncke – Osteokutane Nagelbettlappenplastik nach Koshima – Lappenplastik der 1. Zehenkommissur nach Gilbert – Custom-made-Lappenplastiken nach Foucher
▬ Transplantate aus dem Bereich der 2. Zehe ▼ – Transplantation der 2. Zehe nach Yang
– Metatarsophalangeal-(MTP-)II-Zehengelenk-Transplantation nach Kuo bzw. Mathes – Metatarsophalangeal-(MTP-)II-Zehengelenk-Transplantation nach Foucher – Kombinierte MTP- und PIP-Zehengelenk-Transplantation nach Foucher – PIP-Gelenk-Transplantation der 2. Zehe nach Tsai bzw. Ellis
▬ Transplantate aus dem Bereich der 1. und 2. Zehe – PIP-II-Zehengelenk-Transplantation kombiniert mit dem Wrap-around-Transfer der Großzehe (»two-twistedtoes«) nach Foucher
▬ Zehentransplantate aus dem Bereich der 2. und 3. Zehe – En-bloc-Zehentransplantat der 2. und 3. Zehe – Kombinierte MTP-Gelenk-Transplantation der 2. und 3. Zehe nach Kuo – Kombinierte MTP- und PIP-II-Zehengelenk-Transplantation nach Foucher
▬ Sonstige
Modifizierter Wrap-around-Lappenplastik nach Morrison bzw. Steichen Für jeden kompletten oder partiellen, frei vaskularisierten Zehentransfer ist eine Reihe von Voruntersuchungen sowohl des Empfänger- als auch des Spendergebietes notwendig. Im Empfängergebiet muss zunächst das Amputationsniveau exakt festgestellt werden. Bei gleichzeitig bestehendem Weichteildefekt, insbesondere der 1. Kommissur, sollte dieser in einem mehrzeitigen Vorgehen oder gleichzeitig mit dem Zehentransfer durch die Mitnahme eines Hautlappens entsprechend der A.-dorsalis-pedis-Lappenplastik gedeckt werden. Ein präoperativer Allen-Test zur Kontrolle der Durchblutungsverhältnisse im Handbereich ( Kap. 2) gehört zur Standarduntersuchung. Bei ausgedehnten (Quetsch-)Verletzungen kann auch die Durchführung einer Angiografie im Empfängergebiet notwendig werden. Zur Klärung des Versorgungstyps der zu entnehmenden Zehe sind eine präoperative Palpation und Doppler-Sonografie, ggf. auch eine Angiografie erforderlich. Geprüft wird außerdem die Durchblutung des Fußes über die A. tibialis posterior nach Wegfall der A. dorsalis pedis. Dazu wird die A. dorsalis pedis mit dem Doppler-Gerät aufgesucht und die A. tibialis posterior am Malleolus medialis komprimiert. Erlischt das Doppler-Signal, so wird die A. dorsalis pedis offenbar retrograd aus dem plantaren Gefäßsystem gefüllt, was eine Lappenplastik nicht ratsam erscheinen lässt. Da der Gefäßanschluss an der Hand meist in der Tabatière erfolgt, ist ein relativ langer Gefäßstiel erforderlich. Bereits präoperativ sollten die dargestellten Arterien- und Venenverläufe am Fuß markiert werden. Röntgenaufnahmen des Fußes in zwei Ebenen sind zusätzlich erforderlich, um einerseits knöcherne Veränderungen zu erfassen und andererseits die Osteotomie besser planen zu können. Auch Tonmodelle können die Planung der Schnittführung und der Länge des künftigen Daumens für einen adäquaten Spitzgriff erleichtern. Dadurch bekommt der Patient auch einen besseren Eindruck vom möglichen funktionellen und ästhetischen Ergebnis. Die Operation erfolgt in Rückenlage, Intubationsnarkose, Oberarmblutleere (Kinder 200 mmHg, Erwachsene 300 mmHg) und Oberschenkelblutsperre (Kinder 300 mmHg, Erwachsene 500 mmHg).
Empfängergebiet. Das Empfängergebiet an der Hand wird von einem zweiten Operationsteam entweder vor Präparation der Großzehe oder zugleich mit dieser vorbereitet. Dies ist vor allem
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auch für die Bestimmung der erforderlichen Länge der funktionellen und neurovaskulären Anschlüsse, also von Sehnen und Knochen einerseits und Arterien, Venen und Nerven andererseits von entscheidender Bedeutung. Im Empfängergebiet werden die anatomischen Strukturen in der gleichen Reihenfolge wie an der Entnahmestelle dargestellt: dorsal Vene, Nerven, Strecksehnen und Arterie; plantar Beugesehnen und Nerven. Zusätzlich muss die 1. Kommissur der Hand in adäquater Weise erhalten oder hergestellt werden, um einen brauchbaren Grob- und Feingriff nach der Großzehen-Transplantation zu erreichen. Dazu wird die Inzision am künftigen Daumen daher koronar bis zur radialen Seite des Daumens geführt, so dass die Haut in Richtung Ulna verlagert werden kann (⊡ Abb. 40.11). Damit liegt sie in der Extensions-Flexions-Ebene des künftigen Daumens. Die Haut wird nun beidseits unterminiert und nach lateral weggezogen. Die entstehenden Defekte werden später mit dem palmaren und dorsalen dreieckigen Hautlappen des Zehentransplantats verschlossen. Bei guter dorsaler Weichteilqualität kann auch eine subkutane überdimensionierte Tunnelung bis zur Tabatière bzw. eine Verlängerung der Hautinzision bis dorthin erfolgen. Anschließend werden die distalen Äste des R. superficialis des N. radialis zum Anschluss der dorsalen Zehennerven vorbereitet. Im nächsten Schritt wird die Sehne des M. extensor pollicis dargestellt und auf ihre Gleitfähigkeit geprüft. Falls dies nicht ausreichend der Fall ist, sollte die Sehne des M. extensor indicis zum Sehnentransfer für eine motorische Ersatzoperation vorbereitet werden. Auch die Sehnen der Mm. extensor pollicis brevis, abductor pollicis brevis und adductor pollicis brevis werden – falls vorhanden – zur Sehnennaht vorbereitet. Der bevorzugte arterielle Anschluss erfolgt in End-zu-Seit-Technik zwischen der A. dorsalis pedis oder der A. metatarsalis dorsalis I und der A. radialis, es kann aber auch die A. princeps pollicis für einen End-zu-End-Anschluss verwendet werden, obwohl sie durch ihre ulno-palmare Lage nicht so gut zugänglich und durch ihre geringere Größe außerdem weniger geeignet ist. Schließlich werden ein bis zwei großlumige dorsale Venen dargestellt und angeschlungen. Zur Präparation der palmaren Strukturen wird die Hautinzision bis in die Thenarbeugefurche fortgeführt und zuerst die palmaren Digitalnerven aufgesucht. Bei einer Ausrißverletzung wird die Präparation bis in den Karpalkanal fortgeführt. Sind keine Nervenstümpfe vorhanden, so kann für eine sensible Ersatzoperation ein ulnarer Fingernerv vom Mittel- bzw. Ringfinger oder der dorsale Fingernerv des R. superficialis des N. radialis verwendet werden. Die Sehne des M. flexor pollicis wird auf ihre ausreichende Länge und eine genügend große Exkursionsfähigkeit geprüft. Bei fehlender Sehne oder bei deren insuffizienter Gleitfähigkeit wird die Teilsehne des M. flexor digitorum superficialis zum Ringfinger gehoben und in den Daumenbereich transponiert. Schließlich wird der Knochenstumpf von Narbengewebe befreit und die Höhe der späteren Osteosynthese festgelegt (⊡ Abb. 40.11).
Spendergebiet. Die ipsilaterale Großzehe eignet sich wegen der besonders ulnar wichtigen Sensibilität am künftigen Daumen und der günstigeren Lage der Gefäßanschlüsse der A. dorsalis pedis an die A. radialis in der Tabatière zur Transplantation besser als die der Gegenseite. Als Grundlage für die Planung von Form und Größe des notwendigen Großzehentransplantats werden Umfang, Länge und Breite des gegenseitigen intakten Daumens und seines Nagels gemessen. Dem erforderlichen Umfang entsprechend wird auf der lateralen (fibularen) Seite der Großzehe eine Längsinzision durchgeführt. Auf der medialen (tibialen) Seite der Großzehe bleibt dagegen eine Hautbrücke stehen, die an ihrer Basis etwa 1,0–1,5 cm breit sein und sich auf die Zehenkuppe ausdehnen
sollte. Da der Nagel der Großzehe größer als der Daumennagel ist, reicht die mediale Begrenzung des Transplantats allerdings nur bis etwa zum mittleren Drittel des Großzehennagels. Wegen des geringeren Hebedefektes und der besseren Heilungstendenz sollte die 1. Kommissur des Fußes möglichst erhalten werden (⊡ Abb. 40.10c,d). Bei der Präparation auf der plantaren Seite werden die A. digitalis plantaris propria und der N. digitalis plantaris proprius des zurückbleibenden medialen Hautlappens erhalten. Das laterale Gefäß-Nerven-Bündel zur Großzehe wird dagegen mit dem Transplantat gehoben. Dazu müssen die Äste der Arterie zur 2. Zehe durchtrennt und der Nerv vor seiner Durchtrennung so weit als nötig durch interfaszikuläre Neurolyse nach proximal präpariert werden. Anschließend wird der plantare Teil des Hautlappens unter Einschluss des Gefäß-Nerven-Bündels zur 1. Kommissur hin gelöst (⊡ Abb. 40.10d). Ist die Durchblutung des Transplantats durch das dorsale Gefäßsystem, die A. dorsalis pedis und die A. metatarsalis dorsalis I effizient, so wird das plantare laterale Gefäß so weit wie möglich proximal ligiert. Sind die dorsalen Arterien, z. B. bei einem Gefäßdurchmesser unter 1 mm, dazu nicht ausreichend in der Lage, so muss die A. metatarsalis plantaris I präpariert werden. Versorgt der proximale Perforansast der A. dorsalis pedis, die A. plantaris profunda, das plantare Gefäßsystem, so können die Äste aus dem Arcus plantaris beidseits unterbunden und ligiert werden. Bei schwieriger Präparation der A. metatarsalis plantaris I im Bereich des lateralen Sesambeins der Großzehe und im Falle einer fehlenden A. dorsalis pedis muss die A. metatarsalis plantaris I so weit wie möglich nach proximal präpariert werden. Zur Verlängerung des Gefäßstieles ist dann ein invertiertes Veneninterponat notwendig. Während der Präparation des Lig. metatarsale transversum profundum im Bereich der 1. Kommissur muss auf den distalen Perforansast der A. metatarsalis dorsalis I geachtet werden, da er eine wichtige Verbindung zwischen dorsalem und plantarem Gefäßsystem darstellt. Erst nach seiner Sicherung sollten die Äste zur 2. Zehe ligiert werden. Die Hebung des Transplantats wird erst weitergeführt, wenn die zum Transplantat führenden Arterien, Venen und Nerven gesichert sind. Der mediale Anteil des Nagelbettes wird entfernt. Von Foucher et al. und Morrison wurden auch andere Vorgangsweisen beschrieben. Durch eine longitudinale laterale Resektion der mitgehobenen Zehenphalanx wird die Krümmung des Nagels verstärkt und erscheint subjektiv schmäler. Der mediale Hautlappen wird zuerst von der Kuppe des Endgliedes bis etwa zur Mitte der Grundphalanx und anschließend dorsal des Grundgliedes in der Schicht oberhalb des Peritendineums der Strecksehne bis zum IP-Gelenk gelöst. Dabei dürfen die Gefäße zum Transplantat nicht verletzt werden. Nun werden Beuge- und Strecksehnen durchtrennt und das Transplantat im IP-Gelenk exartikuliert, womit die modifizierte Wrap-around-Lappenplastik nur noch an der A. dorsalis pedis und einem Ast der V. saphena magna gestielt ist. Die beiden Kondylen der Endphalanx werden mit der Luer-Zange entfernt, um einen schmäleren, daumenähnlichen Umfang des Transplantats zu erreichen. Nach Öffnen der Blutsperre wird die Lappendurchblutung geprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Das Transplantat bleibt so lange noch am Fuß, bis es eine gute Perfusion zeigt und das Empfängergebiet bereit zur Transplantation ist. Während der Wartezeit werden Fuß und Transplantat mit warmen feuchten Tüchern umhüllt. Während der Reperfusionszeit kann ein monokortikaler kortikospongiöser Beckenkammspan gehoben werden. Nach Abschluss der Vorbereitungen wird der Gefäßstiel durchtrennt und das Transplantat zur Hand gebracht. Während des Zurechttrimmens des Zehentransplantats auf dem Operationstisch
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sollte das Spendergebiet so schnell wie möglich von einem weiteren erfahrenen Operateur verschlossen werden (⊡ Abb. 40.10e). Beim Verschluss des Hebedefektes wird zunächst die Grundphalanx bis maximal 50% der Länge deutlich gekürzt, um einen primären Wundverschluss ohne funktionelle Einschränkung oder sekundäre Hyperkeratose zu erreichen. Der dorsale Hautdefekt wird mit einem Spalthauttransplantat verschlossen (⊡ Abb. 40.10e,f). Ist keine Kürzung des Knochenskelettes erwünscht, kann zum Hebedefektverschluss auf der plantaren Seite eine dorsale, medial gestielte Cross-Zehen-Lappenplastik von der 2. Zehe benutzt werden. Bei Bildung einer Cross-Zehen-Lappenplastik wird die Hautbrücke nach 3–8 Wochen durchtrennt. Im Empfängergebiet wird das Transplantat entsprechend den Bedürfnissen des Defektes zunächst getrimmt, wobei zuerst die proximale Gelenkfläche der Endphalanx entknorpelt wird. Der kortikospongiöse Span vom Beckenkamm wird ebenfalls den lokalen Erfordernissen angepasst. Er sollte wegen der zu erwartenden Knochenresorption etwas breiter als das Daumenskelett gewählt und in Länge und Form der Gegenseite angepasst werden. Dann wird die Endphalanx der modifizierten Wrap-around-Lappenplastik an das Beckenkammtransplantat in leichter Pronation und neutraler Extensions-Flexions-Stellung mit Kirschner-Drähten fixiert. Der proximale Anteil des Hautlappens wird um den Knochenspan geschlungen (»wrap around«). Durch das Entfernen des Gelenkknorpels der Grundphalanx erhält das Transplantat die richtige Breite für einen Daumen. Der plantare Anteil des Lappens wird nach mediodorsal zum Verschluss der künftigen Daumenkuppe und des medialen Randes des Nagels transponiert (⊡ Abb. 40.10g). Das individuell angepasste Transplantat (»custom made«) wird nun an der Hand fixiert. Um ein ästhetisches Erscheinungsbild erreichen zu können, sollte bedacht werden, dass die Daumenkuppe im Normalfall bis etwa 5 mm an das Mittelgelenk des Zeigefingers heranreicht, der rekonstruierte Daumen sollte also etwas kürzer sein. Der zentrale Kirschner-Draht wird durch den Rest der Grundphalanx und durch das MP-Gelenk vorgeschoben. Mithilfe zusätzlicher Cerclage-Drähte kann eine übungsstabile Osteosynthese erzielt werden. Im Anschluss daran wird das Gefäßbündel nach großzügiger Untertunnelung zur Tabatière verlagert und die Arterie in End-zu-Seit-Technik an die A. radialis und die Vene in End-zu-End-Technik an einen Ast der V. cephalica angeschlossen. Schließlich werden die palmaren und dorsalen Nerven koaptiert. Nach subtiler Blutstillung und Einlage einer Drainage ohne Sog erfolgt der lockere Wundverschluss. An der Verbindung der Lappenplastik zum Daumenstumpf kann eine Z-Plastik zur Vermeidung einer Kontraktur angelegt werden. Der Hautverschluss muss besonders in der Nagelregion mit größter Vorsicht durchgeführt werden. Zur Förderung einer ausreichenden Durchblutung des Transplantats ist es oft notwendig, einige Nähte zu öffnen. Die Indikation einer Spalthauttransplantation zum spannungsfreien Wundverschluss sollte großzügig gestellt werden. Postoperativ wird die Hand auf einer palmaren Unterarmgipsschiene oder mit einem Replantationsverband für 10 Tage immobilisiert. Alle postoperativen Möglichkeiten, die Perfusion in der Großzehentransplantation zu verbessern, insbesondere systemische rheologische Maßnahmen, sollten in Betracht gezogen werden, da Transplantate vom Fuß gerne zu Vasospasmen neigen. Bettruhe muss zumindest für 5 Tage eingehalten werden, um eine gute Ausheilung des Hebedefektes zu erreichen. Ab dem 10. postoperativen Tag wird vorsichtig mit passiver krankengymnastischer Behandlung begonnen. Eine Versorgung mit dynamischen Tagund statischen Nachtschienen zur Prävention einer Beuge- oder Streckunfähigkeit ist ebenso erforderlich. In der Regel ist eine aus-
reichende knöcherne Konsolidierung nach 4–6 Wochen erreicht. Mit aktiver krankengymnastischer und ergotherapeutischer Behandlung kann nach radiologischer Kontrolle nun begonnen und der rekonstruierte Daumen zunehmend in die Bewegungsabläufe des Alltages einbezogen werden. Nach der Wiedereinsprossung der Nerven sollte auch ein Sensibilitätstraining gestartet werden (⊡ Abb. 40.10h–j).
»Trimmed-Toe«-Technik nach Wei Entsprechend der Wrap-around-Lappenplastik werden zunächst die Maße des Daumens an der Gegenseite genommen, anschließend wird nach den örtlichen Erfordernissen ein Areal an der homolateralen Großzehe markiert. Wie bei der Wrap-aroundTechnik wird der mediale Hautlappen vom Periost gelöst, sodass das Gefäß-Nerven-Bündel in diesem für den Hebedefektverschluss bestimmten Lappen erhalten bleibt. Anschließend wird der mediale Kollateralbandkomplex des IP-Gelenks von distal nach proximal in toto subperiostal abgelöst. Der proximal gestielte Lappen wird bis zur Grundphalanx präpariert, das Zehenskelett um 4–6 mm verschmälert und der Kollateralbandkomplex an der verschmälerten Grund- und Endphalanx fixiert. Ähnlich wie bei der Wraparound-Lappenplastik wird die Haut um das knöcherne Skelett geschlungen und die mediale Seite des Nagels den ästhetischen Erfordernissen an der Hand angepasst. Der mediale Nagelfalz wird erhalten und nach Verschmälerung des Nagels wieder fixiert.
Transplantation der 2. Zehe nach Yang Bezüglich der präoperativen Untersuchungen und Vorbereitungen gelten die gleichen Prinzipien wie bei der Großzehenlappenplastik nach Morrison bzw. Steichen. Die Operation erfolgt in Rückenlage und Intubationsnarkose. Am Oberarm wird eine Blutleere angelegt (Kinder 200 mmHg, Erwachsene 300 mmHg). Die Operation im Fußbereich erfolgt in Oberschenkelblutsperre (Kinder 300 mmHg, Erwachsene 500 mmHg).
Empfängergebiet. Der Eingriff beginnt mit der Vorbereitung des Empfängergebietes, das im Daumen- und proximalen Fingerbereich nach den gleichen Prinzipien präpariert wird wie bei der Wrap-around-Lappenplastik nach Morrison bzw. Steichen. Im distalen Fingerbereich, also distal des PIP-Gelenks, erfolgt nur eine begrenzte Präparation. Arterielle und venöse Anastomosen werden mit kleinkalibrigen Gefäßen, die nervale Koaptation so weit distal wie möglich und Beuge- und Strecksehnenrekonstruktion wie bei einer glattrandigen Amputationsverletzung durchgeführt (⊡ Abb. 40.11a–d). Spendergebiet. Wegen des günstigeren Gefäßanschlusses und der besseren Positionierbarkeit vor allem bei Kontrakturen der 1. Kommissur wird zur Daumenrekonstruktion die kontralaterale 2. Zehe entnommen. Dazu wird zwischen der A. dorsalis pedis und der V. saphena magna vom Sprunggelenk eine geschwungene Inzision bis zum Köpfchen des Os metatarsale II geführt und von dort aus gabelförmig in die 1. und 2. Kommissur sowie auf die plantare Seite des Zehengrundgelenks verlängert. Zum Verschluss eventuell vorhandener Hautdefekte im Empfängergebiet können Anteile der A.-dorsalis-pedis-Lappenplastik mit dem Transplantat gehoben werden (⊡ Abb. 40.11e–g). Nach der Umschneidung werden die dorsalen Venen der 2. Zehe, der Arcus venosus dorsalis pedis und die V. saphena magna im Metatarsalraum aufgesucht. Das oberflächliche venöse System wird vorbereitet, indem die Äste von den benachbarten Zehen und
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⊡ Abb. 40.10 Rekonstruktion eines transversal verlaufenden, kombinierten palmaren und dorsalen Zone-4-Endglieddefekts des linken Daumens mithilfe einer freien mikrochirurgischen modifizierten Wrap-around-Lappenplastik von der linken Großzehe. a Lappenplanung nach Morrison, a1 Planung der Lappenplastik und der Resektion im Bereich von tibialem Nagelkomplex und Endphalanx, a2 postoperatives Ergebnis. b Lappenplanung nach Foucher, b1 Planung der Lappenplastik ohne Resektion im Bereich des Nagelkomplex, aber mit Resektion von etwa 50% der Endphalanxbreite, b2 postoperatives Ergebnis: Durch die vermehrte Wölbung erscheint der Nagel schlanker. c Klinischer Aspekt präoperativ: ipsilateraler Fuß, d Schema: Lappenhebung im Großzehenbereich, e klinisches Bild: modifizierter Wrap-around-Flap vor Transplantation in den Daumenbereich, f klinischer Aspekt präoperativ: ipsilaterale Hand, g Schema: Lappeneinnähung im Daumenbereich (aus Schmit-Neuerburg et al. 2001), h klinischer Aspekt 1 Jahr nach Transplantation: Ansicht von dorsal, i klinischer Aspekt 1 Jahr nach Transplantation: Ansicht von palmar, j ästhetisches Ergebnis im Empfängergebiet und Spendergebiet
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
der R. communicans zum plantaren Gefäßsystem ligiert werden. Anschließend wird die Sehne des M. extensor hallucis brevis auf der lateralen Seite der langen Strecksehne der Großzehe aufgesucht und durchtrennt. Nach Zurückschlagen des Muskelbauches stellen sich die A. dorsalis pedis und der N. fibularis profundus dar. Das Gefäß wird nun von proximal nach distal präpariert und die A. metatarsalis dorsalis I dargestellt. Liegen insbesondere im distalen Anteil des 1. Intermetatarsalraumes perforierende Venen zum plantaren Gefäßsystem vor, so lässt dies auf eine ausreichende arterielle Versorgung der 2. Zehe durch die A. metatarsalis dorsalis I schließen (Zeichen nach Foucher). Liegt diese Anastomose dagegen im proximalen Bereich des Intermetatarsalraumes, so scheint eine ausreichende arterielle Versorgung durch das dorsale Gefäßsystem nicht gewährleistet zu sein. Nach Darstellung der A. dorsalis pedis und einer im günstigen Fall oberflächlich gelegenen A. metatarsalis dorsalis I mit einem Kaliber von über 1 mm wird die A. plantaris profunda nach ihrem Abgang von der A. metatarsalis dorsalis I vorsichtig ligiert. Reicht das dorsale Gefäßsystem nicht zur Blutversorgung der 2. Zehe aus, ist also die A. metatarsalis dorsalis dünner als 1 mm oder entspringt sie aus der A. plantaris, so wird die Präparation im Bereich der 1. Kommissur zwischen den Köpfchen von Os metatarsale I und II fortgeführt. Hier liegt die A. metatarsalis dorsalis I in der Regel oberflächlich zum Lig. metatarsale transversum profundum (⊡ Abb. 40.11h). Der Schlüssel zu einer guten Übersicht und sicheren, weil einfachen Präparation ist die frühe Osteotomie des Os metatarsale II. Durch Anheben des durchtrennten distalen Schaftes in Richtung des Grundgelenks stellen sich die Mm. interossei plantares dar, und die A. metatarsalis plantaris II wird zwischen den Muskelbäuchen sichtbar. Weiter proximal liegt die aus der A. dorsalis pedis entspringende A. metatarsalis plantaris I (⊡ Abb. 40.11i). Der schwierigste Präparationsschritt ist die Lösung der A. metatarsalis plantaris I vom lateralen Sesambein der Großzehe, was durch vorsichtiges Abheben der Arterie nach lateral mit einem »vessel loop« erleichtert wird. Das plantare Gefäßsystem gibt zahlreiche Äste zu den Mm. interossei und zur Kapsel des MTP-Gelenks ab, in dessen Bereich sich häufig mehrere arterielle Verbindungen finden, wie z. B. ein R. perforans distalis zur A. metatarsalis dorsalis und zu den benachbarten Zehen. Nach Darstellung des lateralen Gefäß-Nerven-Bündels zur Großzehe kann das entsprechende Bündel zur 2. Zehe aufgesucht werden. Zur Verlängerung des plantaren Nervs kann dabei unter Vergrößerung eine interfaszikuläre Neurolyse des N. digitalis plantaris communis erfolgen. Nun wird die A. digitalis plantaris propria zur Großzehe ligiert und der Stamm nach proximal freigelegt, um besonders bei plantarem Versorgungstyp die Länge des Gefäßstieles zu vergrößern. Dies wird durch eine Durchtrennung des Lig. metatarsale transversum profundum erleichtert. Anschließend erfolgt die Präparation im 2. Intermetatarsalraum, wobei möglichst alle dorsalen Venen zur 2. Zehe erhalten bleiben sollten. Anschließend wird auch hier das Lig. metatarsale transversum profundum durchschnitten. Die arteriellen Äste zur 3. Zehe werden nun aufgesucht, ligiert und ebenfalls durchtrennt. Entsprechend dem Vorgehen im 1. Intermetatarsalraum wird der N. plantaris communis nach proximal interfaszikulär aufgetrennt. Die oberflächliche und die tiefe Beugesehne der 2. Zehe werden proximal der Beugesehnenscheide über die plantare Inzision aufgesucht. Um – falls erforderlich – die Länge der Sehnen zum Transplantat zu vergrößern, können die Sehnen weiter proximal im Bereich der Fußsohle durchtrennt werden, wozu allerdings eine zusätzliche Inzision notwendig ist. Wegen der intertendinösen Verbindungen kann sich die Entnahme der Beugesehnen schwierig gestalten, ein Sehnenstripper aber nützlich sein. Es sollte unbedingt berücksichtigt werden, dass die nervalen Anschlüsse sowie die Beugesehnen zum Transplantat nicht zu kurz geraten, da zur
Rekonstruktion des Daumens eine ausreichende Länge erforderlich ist. Ist die Osteotomie nicht schon bereits zur Erleichterung der plantaren Präparation erfolgt (⊡ Abb. 40.11i), wird sie jetzt in der erforderlichen Länge ausgeführt. Ist die Rekonstruktion von Teilen der zugehörigen Mittelhandknochen des Daumens oder eines der Finger geplant, so wird auch das Metakarpale mit der oszillierende Säge osteotomiert. Andernfalls wird die 2. Zehe im MTP-Gelenk exartikuliert. Generell sollte vom Os metacarpale mehr als benötigt entnommen werden, da dies eine bessere Verankerung und/oder eine bessere Fingerrekonstruktion ermöglicht. Bei einer geeigneten dicken A. metatarsalis dorsalis I werden die plantaren Gefäße nach proximal präpariert und dort ligiert. Das Transplantat ist in dem Fall nur noch dorsal an der A. dorsalis pedis, der V. saphena magna und der langen Strecksehne gestielt, die übermäßigen Zug auf die Gefäße vermeiden hilft. Ist keine geeignete A. metatarsalis dorsalis I vorhanden, so wird das Transplantat an der A. metatarsalis plantaris I gestielt. Wenn ausreichende Anastomosen zur A. dorsalis pedis über eine A. plantaris profunda vorliegen, so kann auch diese benützt werden. Andernfalls wird die A. metatarsalis plantaris I so weit wie möglich nach proximal präpariert und dort ligiert. Meist ist dann zum Anschluss an der Hand ein Veneninterponat erforderlich. Nach Abschluss der Präparation wird die Blutsperre geöffnet, der Fuß in warme Tücher geschlagen und etwas tiefer gelagert. Die Wiederherstellung der Durchblutung des Transplantats kann bis zu 30 Minuten benötigen (⊡ Abb. 40.11j). Zum Verschluss des Hebedefektes wird das Metatarsale II basisnah mit einer oszillierenden Säge osteotomiert. Zur Naht des intermetatarsalen Bandes verwenden wir nicht resorbierbares Nahtmaterial der Stärke 2/0. Nach Einlage einer Redon-Darinage erfolgt der direkte, spannungsfreie, schichtweise Wundverschluss (⊡ Abb. 40.11k). Postoperativ wird der Fuß in einer dorsalen Unterschenkelgipsschiene ruhiggestellt. Sobald das Empfängergebiet vorbereitet ist, wird der Gefäßstiel in der erforderlichen Länge durchtrennt und das Transplantat an die Hand verlagert. Die Bestimmung der günstigsten Position für die Integration der 2. Zehe an der Hand ist eine Herausforderung an den Operateur. Ziel ist es, die Zehe in einer Stellung zu fixieren, die sowohl eine gute Opposition zu den Fingern, z. B. für den Spitzgriff, als auch eine ausreichende Streckung erlaubt, sodass einerseits der Spitzgriff und andererseits die Erfassung auch größerer Objekte und ein Grobgriff möglich sind. Unter Berücksichtigung der jeweiligen anatomischen Gegebenheiten der vorhandenen Finger sowie des Restgewebes am Daumen muss für jede derartige Zehentransplantation die individuell optimale Position gesucht und der Bewegungsumfang für Abduktion/Adduktion, Flexion/Extension und Opposition/Reposition im Einzelnen bestimmt werden. Die axiale Rotationsstellung ist korrekt, wenn die zu den Fingern opponierte Daumenkuppe in Kontakt mit den entsprechenden Fingerkuppen steht. Der Winkel zwischen der Daumen- und der Hohlhandebene soll in Neutralstellung etwa 80° und in Oppositionsstellung etwa 45° betragen. Durch Zug an der Sehne des M. extensor pollicis longus vor der Osteosynthese lässt sich der Bewegungsumfang der Zehe für die Extension bestimmen. Gelegentlich liegt bei transplantierten Zehen ein Streckdefizit von 20–30° in jedem Interphalangealgelenk vor. In diesen Fällen ist die Fixierung der Zehe in leichter Hyperextensionsstellung sinnvoll, um ihre Flexion auszugleichen. Wenn möglich, sollte der rekonstruierte Daumen wiederum die anatomisch korrekte Länge erreichen (⊡ Abb. 40.11l). Sobald die gewünschte Position festgelegt ist, werden der Stumpf des Daumenskelettes und der des Zehentransplantats zur Erzielung glatter Enden quer osteotomiert. Bei Kindern muss die proximale Epiphyse der Grundphalanx erhalten bleiben. Daher wird lediglich
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der Knorpelüberzug der proximalen Gelenkfläche entfernt und die Osteosynthese mit longitudinal eingebrachten Kirschner-Drähten erreicht. Nach Entfernen der Basis der Grundphalanx der Zehe quer zu ihrer Achse wird das proximale Ende des Transplantats in der gewünschten Position an den Knochenstumpf des amputierten Daumens gehalten und eine entsprechende Osteotomie ausgeführt. Die Osteosynthese wird mit zwei interossären Drahtnähten und einem schräg eingebrachten Kirschner-Draht stabilisiert. Ein zusätzlicher Kirschner-Draht fixiert das Transplantat in maximaler Extension. Um ein postoperatives Streckdefizit zu vermeiden, wird dieser Draht für etwa 4 Wochen belassen. Die Sehne des M. extensor pollicis longus wird mit der Sehne des M. extensor hallucis longus durch eine Sehnennaht in Pulvertaft-Technik fixiert. Die kurze Strecksehne des Zehentransplantats kann – falls erforderlich – als Insertion für die Wiederherstellung der intrinsischen Funktion (z. B. FDS IV) benutzt werden. Alternativ kann diese Insertion auch zur Fixierung einer funktionellen M.-serratus-anterior-Lappenplastik zur Rekonstruktion des Thenars eingesetzt werden. Ebenfalls in Pulvertaft-Technik werden die oberflächliche und tiefe Beugesehne des künftigen Daumens genäht, da dies eine optimale Bestimmung der Sehnenspannung, die etwa der physiologischen Spannung einer intakten M.-flexor-pollicis-longus-Sehne entsprechen sollte, erlaubt. Die Sehne sollte eher unter einer geringeren Spannung stehen, um ein Streckdefizit nicht zusätzlich zu unterstützen (⊡ Abb. 40.11m). In einem nächsten Schritt werden die palmaren Digitalnerven mit 10/0-Nahtmaterial ohne Spannung koaptiert und die palmare Haut verschlossen. Nachfolgend werden die dorsalen Nerven zum Zehentransplantat mit den Ästen des R. superficialis des N. radialis koaptiert und die A. dorsalis pedis in End-zu-Seit-Technik an die A. radialis anastomosiert sowie die V. saphena magna oder eine andere großlumige Begleitvene der A. dorsalis pedis in End-zuEnd-Technik mit einem Ast der V. cephalica. Ist die Vene kleiner als die Arterie, dann sollten zwei venöse Anastomosen angelegt werden. Um eine Kompression oder ein Abklemmen der Gefäße zu vermeiden, wird noch vor Beendigung der palmaren Präparation die dorsale Seite der Hand verschlossen. Dabei kann ggf. auch der Einsatz eines zusätzlichen nichtvaskularisierten Hauttransplantats nötig werden. Der frühzeitige Verschluss des dorsalen Hautmantels hat darüber hinaus den Vorteil, dass eine kompressionsbedingte Durchblutungsstörung der Zehe noch im Operationssaal bemerkt werden kann (⊡ Abb. 40.11n). Nach subtiler Blutstillung und Einlage einer Drainage ohne Sog erfolgt der Wundverschluss. Auf beiden Seiten des rekonstruierten Daumens sollten großzügige Hauttransplantate eingesetzt werden, um einen spannungsfreien Verschluss zu erreichen (⊡ Abb. 40.11o). Postoperativ wird die Hand auf einer palmaren Unterarmgipsschiene oder in einem Replantationsverband für 10 Tage immobilisiert. Die weitere Nachbehandlung erfolgt nach den Prinzipien der Wrap-around-Lappenplastik nach Morrison bzw. Steichen. 40.2.5 Vaskularisierte Gelenktransplantate
Technik der vaskularisierten homodigital gefäßgestielte DIP-auf-PIP-Gelenk-Transposition nach Foucher Zur Prüfung der Durchgängigkeit der beiden Aa. digitales palmares propriae sollte präoperativ ein digitaler Allen-Test durchgeführt werden. Die Operation erfolgt in Rückenlage, Plexusanästhesie und Oberarmblutleere.
Der Zugang zum Endgelenk erfolgt über eine mediolaterale Inzision. Auf der dorsalen Seite des Endgelenks wird ein elliptischer Hautlappen markiert, der postoperativ zur Kontrolle der Perfusion des Transponats dient. Dorsal des PIP-Gelenks wird eine zweite quere Inzision durchgeführt, die die Transposition in den Defekt ermöglicht (⊡ Abb. 40.12a). Nach Anlage der mediolateralen Inzision wird zunächst die A. digitalis palmaris propria aufgesucht und nach proximal hin vom begleitenden Digitalnerven gelöst. Dieser Präparationsschritt ist überaus schwierig und sollte unter Lupenbrillenvergrößerung durchgeführt werden. Dabei sollte möglichst viel Fett- und Bindegewebe um die Arterie erhalten bleiben, um den venösen Abfluss über die feinen Vv. comitantes nicht zu gefährden. Zu dessen Sicherung ist in der Regel auch die Erhaltung bzw. Darstellung der dorsalen Venen erforderlich. Um die feinen Gelenkäste der A. digitalis palmaris propria nicht zu gefährden, wird die Präparation der Arterie etwas proximal des Endgelenks beendet. Distal des Endgelenks wird die Arterie dann etwa in Höhe der geplanten distalen Osteotomiestelle ligiert. Anschließend wird auf die dorsale Seite des Fingers gewechselt und der auf der Dorsalseite des Endgelenks gelegene Hautlappen umschnitten. Dabei werden eine oder mehrere Venen aufgesucht und nach proximal hin dargestellt. Auch bei der Präparation der Venen sollte möglichst viel Fett- und Bindegewebe um die Gefäße erhalten bleiben, um das Verletzungsrisiko bei der Transposition zu reduzieren. In einem nächsten Schritt werden die beiden lateralen Zügel der Streckaponeurose einige Millimeter distal des PIP-GelenkSpaltes durchtrennt und vorsichtig nach distal dargestellt. So bleibt die Insertion der Streckaponeurose an der Endphalanx erhalten. In jedem Fall muss die Nagelwurzel unverletzt bleiben. Nun werden beide Osteotomien zur Entnahme des Endgelenks von dorsal ausgeführt. Die proximale Osteotomiestelle liegt etwas proximal des DIPGelenks. Nach Foucher beträgt die optimale Länge des Transponats etwa 6–8 mm, was gerade die Gelenkkapsel, die palmare Platte und die Insertion der Streckaponeurose mit dem Transponat umfasst (⊡ Abb. 40.12a). Wenn bei der Entnahme des Endgelenks auch die tiefe Beugesehne von der Endphalanx abgelöst wird, muss sie vor einer endgültigen Arthrodese an der Endphalanx reinseriert werden. Die anschließende Entnahme des funktionslosen Mittelgelenks bedingt eine geringe Kürzung der Fingerlänge, was allerdings funktionell meist bedeutungslos ist. Bei der Transposition des Endgelenks in den Defekt darf der Gefäßstiel nicht komprimiert oder verdreht werden (⊡ Abb. 40.12b). Die palmare Platte des transponierten Endgelenks wird dann mit resorbierbarem Nahtmaterial an der Sehnenscheide der Beugesehnen fixiert. Falls erforderlich, kann die palmare Platte des entfernten Mittelgelenks erhalten werden. Die Osteosynthese des Transponats in kompletter Streckstellung wird durch einen longitudinal eingebrachten Kirschner-Draht erreicht, der auch die Arthrodese des Endgelenks fixiert. Der Hebedefekt wird durch eine verkürzende Arthrodese mit einem zusätzlichen, schräg eingebrachten Kirschner-Draht fixiert. Nun werden die beiden Strecksehnenzügel des Transponats an der Streckaponeurose befestigt und der Hautlappen des vaskularisierten Transponats, der postoperativ die Durchblutung des Gelenks kontrollierbar macht, eingenäht. Nach Öffnen der Blutleere wird die Durchblutung der Hautinsel und des Gelenks geprüft und eine subtile Blutstillung durchgeführt. Die Ruhigstellung erfolgt auf einer Zwei-Finger-Gipsschiene für 4–6 Wochen. Der axiale Kirschner-Draht wird nach 3–4 Wochen entfernt, der schräg eingebrachte Kirschner-Draht der DIPArthrodese kann nach 6 Wochen entnommen werden. In jedem Fall ist postoperativ eine langfristige krankengymnastische Behandlung notwendig. Nur so wird eine befriedigende Beweglichkeit im Transponat erzielt.
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Sehne des M. extensor pollicis longus
V. cephalica A.radialis Stumpf des metacarpalen Fingerknochens Fingernerven Sehne des M.flexor pollicis longus
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2,5 1,5
Fußsohle benachbarte Zehe f Hautlappen
Fußrücken
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⊡ Abb. 40.11a–h Freie mikrovaskuläre Transplantation der kontralateralen 2. Zehe zur Rekonstruktion einer Daumenamputation proximal des MP-Gelenks; Blutversorgung der 2. Zehe. a Präoperativer Zustand und Planung der Hautschnitte: Ansicht von palmar, b präoperativer Zustand und Planung der Hautschnitte: Ansicht von dorsal. c Zustand nach Präparation aller Strukturen im Empfängergebiet: Ansicht von palmar: Der Metakarpalstumpf ist angefrischt und die Beugesehne sowie die bei palmaren Fingernerven sind dargestellt. d Zustand nach Präparation aller Strukturen im Empfängergebiet: Ansicht von dorsal: Neben der EPL-Sehnen sind die A. radialis, dorsale Handvenen und die beiden dorsalen Daumennerven dargestellt. e Hautinzision für die Präparation der 2. Zehe: Ansicht von dorsal, f Hautinzision für die Präparation der 2. Zehe: Ansicht von lateral, g Hautinzision für die Präparation der 2. Zehe: Ansicht von plantar, h Blutversorgung der 2. Zehe.
e
g A. dorsalis pedis
A. dorsalis metatarsalis I laterale dorsale Zehenarterie der Großzehe A. digitalis dorsalis
tiefer plantarer Ast Arcus plantaris A. metatarsalis plantaris
h palmare Zehenarterie
Verbindungsast zwischen den dorsalen und plantaren digitalen Zehenarterien laterale plantare Zehenarterie der Großzehe
1127 40.2 · Spezielle Techniken
V. saphena magna Sehne des M. extensor longus
A. dorsalis pedis
tiefe Beugersehne
Sehne des kurzen Streckers
tiefer plantarer Ast (ligiert) A. metatarsalis dorsalis I Fingernerven
V. metatarsalis dorsalis
l
Hauttransplantat
i
Hautlappen
j
m
k
n
o
⊡ Abb. 40.11i–o Freie mikrovaskuläre Transplantation der kontralateralen 2. Zehe zur Rekonstruktion einer Daumenamputation proximal des MP-Gelenks; Blutversorgung der 2. Zehe. i Präparation der 2. Zehe von dorsal: Eine frühe Osteotomie des Metatarsale II erleichtert die Gefäßpräparation deutlich. j Freipräparierte 2. Zehe, k Versorgung der Entnahmestelle im Fußbereich. l Intraoperatives Bild: Für die optimale Stellung Zehentransplantats, werden die Nägel des Zehentransplantats und des zentralen gegenüber stehenden Fingers mit einer Naht temporär verbunden. m Zustand nach Osteosynthese und muskulotendinöser Balanzierung: Für die Osteosynthese stehen mehrere Verfahren zur Verfügung. Abhängig von der Amputationshöhe kommen entweder dorsale Osteosyntheseplatten oder eine Lister-Montage (Cerclage plus querer Kirschner-Draht) zur Auswahl. n Mikrochirurgischer Anschluss: Die A. dorsalis pedis wird entweder End-zu-End mit einem Seitenast der A. radialis oder End-zu-Seit direkt mit der A. radialis verbunden. Die dorsale Vene wird End-zu-End mit einer dorsalen Handrückenvene verbunden. Die beiden palmaren und dorsalen Digitalnerven werden mit den korrespondierenden proximalen Stümpfen koaptiert, o postoperativer Aspekt im Handbereich. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–g, j, k]; Schmit-Neuerburg et al. 2001 [m, n])
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1128
Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
Technik der freien mikrovaskulären MTP-GelenkTransplantation aus dem Bereich der 2. Zehe nach Kuo ( Kap. 10.2.4) Technik der freien mikrovaskulären PIP-GelenkTransplantation aus dem Bereich der 2. Zehe nach Foucher ( Kap. 10.2.5) 40.2.6 Operation nach Kruckenberg
a
b
⊡ Abb. 40.12 Homodigitale DIP-auf-PIP-Gelenk-Transposition zur Rekonstruktion eines PIP-Gelenk-Defektes beim Erwachsenen. a Anatomie und Lappenplanung, b Lappenpräparation
Die Operation erfolgt in Rückenlage und Oberarmblutleere. Der Unterarmstumpf wird zunächst in Supination gehalten, damit beide Unterarmknochen parallel stehen. Bei der Planung der Hautlappen ist darauf zu achten, dass gut sensible Haut im Branchenbereich und vor allem im Bereich der beiden Branchenspitzen vorliegt. Von besonderer Bedeutung ist auch die Hautdeckung im Kommissurenbereich, die durch einen palmaren und dorsalen gegenläufigen Dreieckslappen erreicht wird. Die Verzweigungsstelle für den Dreieckslappen liegt palmar am Ansatz des M. pronator teres und dorsal auf derselben Höhe. Der Längsschnitt über der Ulna verläuft auf der Beugeseite, derjenige über dem Radius auf der Streckseite. In der Schnittführung nach Marquardt (1978) wird im Spitzenbereich ein »fähnchenartiger Lappen« geschnitten. Die Operation beginnt palmar und wird dorsal fortgesetzt. Bei der Durchtrennung der Haut sollten so viele oberflächliche Venen
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⊡ Abb. 40.13 Freie mikrovaskuläre Metatarsophalangeal-(MTP-)II-Zehengelenk-Transplantation zur Rekonstruktion eines funktionslosen Zeigefingergrundgelenks. a Anatomie und Lappenplanung, b Drehung des vaskularisierten Gelenktransplantats um 180° und Platzierung des Hautlappens, c postoperativer Aspekt im Handbereich
1129 40.2 · Spezielle Techniken
a
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d
⊡ Abb. 40.14a–d Kruckenberg-Arm, Verfahren nach K. H. Bauer: a Planung der Hautinzision: Längsschnitt auf der Beugeseite 6 cm distal vom Ellbogengelenkspalt. Der Schnitt wird über die Stumpfspitze auf die Streckseite geführt und verläuft hier auf der ulnaren Seite. b Exstirpation der Muskeln an der Beugeseite: Entfernt werden der M. palmaris longus, M. flexor carpi radialis, M. flexor carpi ulnaris, M. flexor digitorum superficialis, M. flexor digitorum profundus und M. flexor pollicis longus. c Auf der dorsalen Seite wird die Membrana interossea bis zum Ansatz des M. pronator teres gespalten. Die A. interossea anterior sollte geschont werden. d An der Streckseite werden folgende Muskeln entfernt: Mm. abductor pollicis longus, extensor pollicis longus und brevis, extensor indicis proprius, extensor digitorum communis, extensor carpi ulnaris et radialis. Die A. interossea posterior sollte geschont werden.
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
e
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h
⊡ Abb. 40.14e–i Kruckenberg-Arm, Verfahren nach K. H. Bauer: e Die Membrana interossea wird durchtrennt, die Zangenarme lassen sich auf eine Breite von 10 cm öffnen. f Situs nach Aufteilung der Muskulatur und Bildung der Muskelmäntel an Speiche und Elle zur Herstellung der Branchen der Kruckenberg-Plastik nach Kreuz. In der Modifikation nach Bauer können die mit * bezeichneten Muskeln geopfert werden. g Knochenresektion proximal des Ansatzes des M. pronator quadratus. h Verschluss der Haut: Im distalen Unterarmbereich wird das Narbengewebe im Hautbereich reseziert und der distale Hautlappen wird über die Knochenenden rotiert, sodass nicht geschädigte Haut im Bereich der Greifflächen liegt. Der anteriore Hautlappen wird um die Ulna gewickelt. i Verschluss der Haut: Der posteriore Hautlappen wird um den Radius gewickelt. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972 [b–f ])
1131 Weiterführende Literatur
wie nur möglich geschont werden. Ebenfalls ist auf die Äste der Nn. cutaneii antebracheii lateralis und medialis palmar zu achten und dorsal auf den N. cutaneus antebrachii posterior. Als Nächstes erfolgt die Trennung der Muskelgruppen. Wiederum beginnt die Präparation palmar und setzt sich dann nach dorsal fort. Zum Radius gehören die radiale Fläche des M. flexor digitorum superficialis und der M. flexor carpi radialis. Die Präparation wird nun auf der Streckseite fortgesetzt Zum Radius gehören die radiale Hälfte des M. extensor digitorum communis und der ECRL und ECRB. Auf der radialen Hälfte verbleiben auch die Mm. brachioradialis, palmaris longus, pronator teres, die ganze zum Daumen führende Muskulatur und mit ihnen die N. radialis und medianus. Zur Ulna gehören die ulnare Hälfte des M. extensor digitorum communis und der M. flexor carpi ulnaris mit dem N. ulnaris. Die Mm. pronator quadratus und flexor digitorum profundus sind zu entfernen: Ist die Muskelmasse zu stark, können auch die Mm. abductor pollicis longus, flexor pollicis longus und extensor pollicis brevis entfernt werden. Nach Baumgartner (2007) erfolgt die sukzessive Trennung der Muskeln am besten von distal nach proximal hin, indem die beiden Knochen durch den Assistenten ständig gespreizt werden und so das Gewebe unter Spannung gebracht wird. Schließlich muss die Membrana interossea – entlang der Ulna – durchtrennt werden, sodass das interossäre Gefäß-Nerven-Bündel auf der radialen Seite zu liegen kommt. Beim Spreizen ist darauf zu achten, dass der M. supinator nicht geschädigt wird. Er muss identifiziert werden, bevor die Zange unter Sicht auf 25–30° geöffnet wird. Auf die GefäßNerven-Versorgung des M. pronator teres ist besonders zu achten, da dieser der kräftigste Zangenschließmuskel ist und außerdem eine Subluxation des Radiusköpfchens verhindert. Die Kommissur zwischen Radius und Ulna ist auf der Höhe des distalen Ansatzes des M. pronator teres zu planen. Bei kurzen Stümpfen kann eine schonende Rückverlagerung der Mm. pronator teres und eventuell auch des M. supinator notwendig werden, um eine ausreichende Kommissurtiefe zu erzielen. Die großen Nervenstümpfe müssen – mit einer Ligatur – versorgt, adäquat gekürzt und in die Tiefe verlagert werden. Als Nächstes werden die Muskelstümpfe mit dem Periost oder transossär am Knochen fixiert. Vor allem der M. brachioradialis – der stärkste Öffner – muss möglichst distal fest verankert werden. Nach Öffnen der Blutleere erfolgen eine subtile Blutstillung und die Einlage zweier Redon-Drainagen und der schichtweise Hautverschluss. Die funktionellen Zangenabschnitte – Kommissur, Zangenspitzen sowie innere Zangenflächen – müssen mit gut sensiblen Hautlappen bedeckt werden. Eine übermäßige Spannung im Hautbereich muss vermieden werden, die Indikation zur Spalthautdeckung in den nicht funktionellen Zangenabschnitten ist großzügig zu stellen. Nach Anlage eines Kompressen-Watteverbandes, der die Zangen in 15–20° Spreizstellung halten soll, wird der Arm auf einer Adduktionsschiene hochgelagert. Bei komplikationslosem Verlauf kann mit der Handtherapie bereits nach 3–5 Tagen begonnen werden. Nach komplettem Wundschluss ist die nächtliche Versorgung mit einem Spreizkeil für 3–6 Monate notwendig. Eine intensive handtherapeutische Begleittherapie beginnt nach vollständiger Wundheilung und beinhaltet das Erlernen der Zangenfunktion, die Kräftigung der Zangenfunktion und die ergotherapeutische Versorgung mit Hilfsmitteln. Eine psychische Begleittherapie ist anzuraten (⊡ Abb. 40.14). 40.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Eine inadäquate Patientenselektion, inadäquate operative Technik und ungenügende postoperative Physiotherapie und Nachsorge sind die häufigsten Fehler bei Wiederherstellung der Greiffunktion.
Durch ein standardisiertes Vorgehen bei der Patientenauswahl aufgrund möglichst objektiver Kriterien kann ein optimales Ergebnis erreicht werden. Die technisch einwandfrei durchgeführte Wiederherstellungsoperation lohnt sich für den Patienten aus funktioneller (Reduktion der MdE) und ästhetischer Sicht. Durch den Einsatz von funktionsverbessernden Sekundäroperationen im Rahmen eines »integrativen Therapiekonzeptes« kann in vielen Fällen eine weitere signifikante Ergebnisverbesserung erreicht werden. Nur durch eine intensive prä- und postoperative physiotherapeutische Begleittherapie mit krankengymnastischer Übungsbehandlung, Schienenversorgung und Ergotherapie kann die durch die Wiederherstellungsoperation geschaffenen Basis durch den Patienten auch gewinnbringend eingesetzt werden. Die schwerwiegendste Komplikation nach vaskularisierter Zehengelenktransplantation stellt der Transplantatverlust dar, welcher mit etwa 7% angegeben wird. Bei therapieresistentem Gefäßverschluss besteht aber immer noch die Möglichkeit das Gelenktransplantat mit einer lokalen oder freien Lappenplastik zu bedecken und als nichtvaskularisiertes Gelenktransplantat zur Einheilung zu bringen. Nach Tsai und Bobb beträgt die Rate an »funktionellen Therapieversagern« aufgrund von Schmerzen, Steifheit und/oder eingeschränkter Bewegungsamplitude etwa 21%. Die Infektionsrate wird mit etwa 7% angegeben. Eine postoperative Gelenksteifigkeit wird in 14% der Fälle beschrieben. Genaue Zahlen über die Häufigkeit von Verklebungen im Strecksehnen und/oder gesamten Gelenkbereich konnten nicht gefunden werden. Aufgrund eigener Erfahrungen muss vor allem bei PIP-Gelenk-Ersatz bei etwa 50% der Patienten eine Strecksehnentendolyse durchgeführt werden. Obwohl auf vielen Röntgenbildern und klinischen Funktionsaufnahmen postoperative Achsenfehlstellungen zu sehen sind, existieren keine genauen Zahlen über deren Art und Ausmaß. Mit einer hohen Dunkelziffer muss gerechnet werden. In der eigenen Serie zeigten 4 von 12 Patienten röntgenologisch eine Fehlstellung, wobei keine zusätzliche operationswürdige Beeinträchtigung der globalen Handfunktion vorlag.
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Kapitel 40 · Sekundäre Wiederherstellung der Greiffunktion
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1135 40.3 · Weiterführende Literatur
Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität Milomir Ninkovic, Frank Herter, Tristan I. Gerstung, Robert Hierner
41.1
Allgemeines – 1136
41.1.1 41.1.2 41.1.3 41.1.4 41.1.5 41.1.6 41.1.7 41.1.8 41.1.9 41.1.10
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1136 Epidemiologie – 1136 Ätiologie – 1136 Diagnostik – 1136 Klassifikation – 1138 Indikationen und Differenzialtherapie – 1139 Therapie – 1144 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1156 Ergebnisse – 1158 Sozioökonomische Gesichtspunkte – 1163
41.2
Spezielle Techniken
41.2.1 41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5 41.2.6 41.2.7 41.2.8 41.2.9 41.2.10 41.2.11 41.2.12 41.2.13 41.2.14
Technik der Replantation im distalen Unterarmbereich – 1164 Technik der Replantation im proximalen Unterarmbereich – 1165 Technik der Replantation im Ellenbogenbereich – 1166 Technik der Replantation im Schulter- und Oberarmbereich – 1166 Technik der Versorgung der Mehretagenamputationsverletzung – 1166 Technik der Versorgung der bilateralen Amputationsverletzung – 1167 Technik der Exartikulation im Handgelenkbereich – 1167 Technik der primären Stumpfbildung im Unterarmbereich – 1167 Technik der primären Stumpfbildung im Ellenbogenbereich – 1171 Technik der primären Stumpfbildung im Oberarmbereich – 1172 Technik der primären Stumpfbildung durch Exartikulation im Glenohumeralbereich – 1176 Technik der interskapulothorakalen Amputation (»forequater amputation«) – 1177 Technik der allogenen Extremitätentransplantation im Unterarmbereich – 1177 Technik der allogenen Extremitätentransplantation im Oberarmbereich – 1181
– 1164
41.3
Fehler Gefahren und Komplikationen – 1181
41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4
Replantation – 1182 Primäre Stumpfversorgung mit frühzeitiger prothetischer Versorgung Sekundäre prothetische Versorgung – 1183 Allogene Extremitätentransplantation – 1183
Weiterführende Literatur
– 1184
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1183
41
1136
41.1
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
Alle Amputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität distal des Radiokarpalgelenks werden als Mikroamputationsverletzungen bezeichnet. Als Makroamputationen im Bereich der oberen Extremität bezeichnet man Amputationsverletzungen proximal des Radiokarpalgelenks. 41.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Konzept der »Funktionskette obere Extremität«
41
Die obere Extremität kann als eine Funktionskette angesehen werden, deren Glieder jeweils einen spezifischen Beitrag für ihre Hauptfunktionen, Erhaltung des Körpergleichgewicht, Stütz-, Halte- und Greiffunktion, nonverbale Kommunikation und taktile Gnosis, beisteuern. Allgemein nimmt die Gesamtfunktion von proximal nach distal zu (⊡ Tab. 41.1). Ein Verlust der gesamten oberen Extremität proximal des Glenohumeralgelenks oder mit nur sehr kurzem Oberarmstumpf führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 80%. Die einfachste Greif- und Haltefunktion stellt die thorakohumerale Zange zwischen der lateralen Thoraxwand und der medialen Oberarmfläche dar. Die Zangenfunktion kann passiv oder aktiv sein. Bei der passiven Zangenfunktion erfolgt unter Ausnutzung der Schwerkraft die Öffnung durch ipsilaterale, der Zangenschluss durch kontralaterale Inklination. Für eine aktive Zangenöffnung ist eine freie Bewegung im skapulothorakalen Gleitspalt und eine Kontraktion der Mm. levator scapulae, rhomboidei, serratus anterior und trapezius (pars cranialis) notwendig, um ein aktiv (Kontraktion der Mm. teres major et subscapularis) oder passiv (Kapsulodese, Arthrodese) stabilisiertes Glenohumeralgelenk zu bewegen. Die aktive Abduktion im Glenohumeralgelenk wird primär durch den M. suprascapularis ausgeführt. Für eine aktive Adduktion im Schulterbereich benötigt man den M. pectoralis major (pars sternalis) und/oder den M. latissimus dorsi, wobei der lange Bizepskopf und der M. coracobrachialis als Hilfsmuskel fungieren. Die Amputation im Oberarm oder im Ellenbogengelenk führt zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 70%. Die isolierte Ellenbogenbeugung bei komplett gelähmter Unterarm- und Handmuskulatur führt zu einer signifikanten Funktionsverbesserung der gesamten Extremität, da es dem Patienten möglich wird, bimanuelle Tätigkeiten auszuführen. Durch Ablegen der gelähmten Hand auf eine Gegenstand im Sinne eines Pressmechanismus kann ein Objekt fixiert werden. Ist eine aktive Ellenbogenbeugung auf 90° möglich kann eine Tablettfunktion ausgeführt werden. Bei einer aktiven Ellenbogenflexion von mehr als 90° ist eine Hakenfunktion möglich. Eine aktive Ellenbogenstreckung führt zu einer signifikanten Verbesserung der Globalfunktion der Extremität, wenn eine aktive Schulterabduktion/-flexion von mehr als 90° möglich ist. Eine Amputation im Unterarmbereich mit einer Stumpflänge von bis zu 7 cm führt zu einer MdE von 60%. Bei einer Unterarmstumpflänge über 7 cm beträgt die MdE 50%. Bei der Nutzung der Hand als mechanisches Werkzeug können »nichtgreifende Aktionen« und »greifende Aktionen« unterschieden werden ( Übersicht). Zu den »nichtgreifenden Aktionen« zählen beispielsweise das Schieben oder Heben von Gegenständen. »Greifende Aktionen« können unterteilt werden in elementare, transiente und Präzisionsgreifformen. Die ein-
fachste Ausprägung der »elementaren Greifformen« stellt der Hakengriff dar, der schon mit einem einzigen gebeugten Finger ausführbar ist. Der Daumen ist für diese Funktion nicht notwendig. Da ein Greifpartner fehlt, können Gegenstände weder in der Hand gehalten noch bewegt werden. Obwohl Sensibilität für die Greiffunktion eine wesentliche Verbesserung darstellt, ist sie keine zwingende Voraussetzung dafür. Neben der Handgelenk- und Fingerbeugung ist für jede höhere Greifform die passive (Tenodese) der aktive Handgelenk- und Fingeröffnung notwendig. Je besser die Oppositionsfähigkeit des Daumens, desto präzisere Greifformen können durchgeführt werden. Um schließlich die Funktion der taktilen Gnosis zu erfüllen, ist eine möglichst normale Sensibilität im palmaren Fingerbereich notwendig (⊡ Tab. 41.1 und Übersicht). Eine Amputation der Hand führt zu einer MdE von 50%. Durch die erfolgreiche Replantation bzw. Revaskularisation kommt es zu einer Verminderung der MdE, wobei auch bei einem optimalen Ergebnis aufgrund der Einschränkung der Präzisionsgreifformen und der Sensibilität eine Mindest-MdE von 30% bestehen bleibt. > Der einseitig amputierte Patient ist in der Lage etwa 90% aller Tätigkeiten des täglichen Lebens zu verrichten. Im Gegensatz dazu ist der bilateral amputierte Patient völlig auf die Hilfe der Umwelt angewiesen.
41.1.2 Epidemiologie Amputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität zeigen einen Altersgipfel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Mikroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extramität sind die häufigsten Amputationsverletzungen. Im Vergleich zu Mikroamputationen treten Makroamputationen an der oberen Extremität im Verhältnis von 1:14 auf. Makroamputationsverletzungen sind etwa 4-mal häufiger bei Männern als bei Frauen. Eine Seitenpräferenz besteht nicht. Bilaterale Makroamputationen kommen etwa in 10% der Fälle vor. 41.1.3 Ätiologie Mehr als 90% aller Amputationen im Bereich der oberen Extremität sind traumatisch bedingt (Arbeitsunfälle 53%, Verkehrsunfälle 18%, landwirtschaftliche Unfälle 15%, Unfälle mit Kettensägen 10%). Eine seltenere Ursache für eine geplante segmentale Resektion mit anschließender Replantation stellen Tumoren oder zirkuläre Verbrennungen dar. 41.1.4 Diagnostik Bei der Untersuchung von Patienten mit Amputationsverletzungen im Handbereich müssen zwei Situationen unterschieden werden: 1. die isolierte Handverletzung und 2. die Handverletzung im Rahmen eines Polytraumas. Für eine möglichst exakte Schadenserfassung dient uns ein »standardisiertes diagnostisches Vorgehen«.
1137 41.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 41.1 Darstellung der möglichen Einzelfunktionen der oberen Extremität nach Amputation, Amputation und frühzeitiger prothetischer Versorgung und Replantation in Abhängigkeit von der Amputationshöhe. (Aus Schmidt-Neuerburg et al. 2001) Amputationshöhe (Einzelfunktion MdE)
Wahrscheinliche Funktion Stumpfversorgung
Prothetische Versorgung Aktiv
Passiv
Replantion
Schulter Thorakohumerale Zange
–
–
–
+
Abduktion/Adduktion
–
–
–
(+)
Außenrotation/Innenrotation
–
–
+
(+)
Ellenbogenbeugung
–
–
–
+
Handgelenk-/Fingerbeugung
–
–
–
(+)
Protektive Sensibiliät in Teilen der Hand
–
–
–
(+)
80%
80%
80%
60%
Ellenbogenbeugung (bimanuelle Handfunktionen)
–
–
+
+
– »Pressefunktion«
–
+
+
+
– Flexion =90°, »Tablettfunktion«
–
+
+
+
– Flexion >90°, »Hakenfunktion«
–+
+
+
+
Handgelenk-/Fingerbeugung
–
–
(+)
(+)
Protektive Sensibiliät in Teilen der Hand
–
–
–
(+)
MdEa
70%
70%
70%
60–70%
Handgelenk-/Fingerbeugung
–
–
–
(+)
– Hakengriff
–
–
(+)
+
– Schlüsselgriff
–
–
(+)
+
Handgelenk-/Fingerstreckung
–
–
–
(+)
Dynamische Zweipunktdiskrimination in Teilen der Hand
–
–
–
+
MdEa
60%
60%
60%
50–60%
Aktive Daumenopposition (Präzisionsgreifformen)
–
–
–
(+)
– Grobgriff
–
–
(+)
(+)
– Sphärischer Griff
–
–
–
(+)
Aktive Ulnaris-innervierte intrinsische Handmuskelfunktion
–
–
–
(+)
– Spitzgriff Zweifinger- (»chuck grip«) Dreifinger-
–
–
–
(+)
Statische 2PD in Teilen der Hand
–
–
–
+
MdEa
50%
50%
50%
30–50%
a
MdE
Oberarm/Ellenbogen
Proximales und mittleres Unterarmdrittel
Distales Unterarmdrittel
a Abhängig
von der bestehenden Sensibilität
41
1138
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
Standartisiertes diagnostisches Vorgehen bei subtotalen oder totalen Amputationsverletzungen
▬ ▬ ▬ ▬
Blutbild, Elektrolyt- und Gerinnungsstatus Blutgruppe und Kreuzblut für Erythozytenkonzentrate EKG Röntgenaufnahme in 2 Ebenen von Amputat und Amputatstumpf ▬ Orientierende körperliche Untersuchung ▬ Fremd- und Eigenanamnese sowie Sozialanamnese
Bestehen keine akut lebensbedrohlichen Begleitverletzungen und besteht allgemeine Operabilität, sollte – angesichts des geringen Zeitfensters bei Makroamputationsverletzungen bedingt durch die ischämische Muskelnekrose – die weitere präoperative Routinediagnostik zügig durchgeführt werden. Standardmäßigwerden Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen vom Stumpf als auch vom Amputat angefertigt, ein Aufnahmelabor abgenommen und Eigenblutkonserven gekreuzt. Entscheidend für das weitere therapeutische Vorgehen ist die Erhebung der Fremd-, Eigen- und Sozialanamnese. Diese gibt Aufschluss über den Verletzungsmechanismus, den Zeitpunkt der Amputation und die Erstmaßnahmen vor Ort. Es sollten folgende zwei Fragen explizit gestellt werden: 1. Wurde ein Tourniquet angelegt? 2. Wurde das Amputat adäquat gekühlt?
41
Bei Anlage eines Tourniquets ist dieses umgehend zu entfernen, um eine ischämische Schädigung des Stumpfgewebes zu vermeiden. Weiterhin muss eruiert werden, ob und wie das Amputat gekühlt wurde. Bei einer unsachgemäßen Kühlung durch Lagerung im Eisschrank, zwischen Kühlaggregaten oder direkt auf Eis entsteht ein irreversibler Schaden des Amputatgewebes. Neben einer orientierenden klinischen Untersuchung sollte der Operateur sich kurz Zeit nehmen, mit dem Patienten über die Replantation und die lange Rehabilitationsphase zu sprechen. Weiterhin sollte geprüft werden, ob der Patient an einer schweren psychischen Grunderkrankung leidet und ob die Verletzung möglicherweise in suizidaler Absicht selbst zugefügt worden ist. Im Rahmen eines Polytraumas muss dieses »standartisierte disganostische Vorgehen« in ein umfassendes »Diagnostik- und Therapieschama bei Polytrauma« integriert werden. Im Vordergrund stehen zuerst die Sicherung der Atemwege und die Aufrechterhaltung des Kreislaufes. Mittels CT-Traumaspirale und Ganzkörperuntersuchung werden bei jeglichem anamnestischen oder klinischen Hinweis lebensbedrohliche Verletzungen ausgeschlossen. Es gilt der Ausspruch »life before limb«. > Der Patient mit einer Makroamputationsverletzung ist prinzipiell wie ein polytraumatisierter Patient zu behandeln. Die präklinische Versorgung, alle diagnostischen Maßnahmen und der Transport in den Operationssaal müssen so schnell wie möglich erfolgen, um die kalte Ischämiedauer des Amputats so gering wie möglich zu halten.
Begleitverletzungen Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität treten in etwa 60% isoliert auf.
Psychiatrische Begleiterkrankungen Amputationsverletzungen können auch eine psychiatrische Ursache haben. Bei allen Amputationsverletzungen im Rahmen eines
Suizidversuchs ist postoperativ unbedingt ein psychiatrisches Konsil zu veranlassen und eventuell eine psychiatrische Mitbehandlung notwendig. Patienten müssen immer unter Aufsicht sein, weshalb postoperativ eine Verlegung entweder auf die psychiatrische Station, die Intensivstation oder auf Normalstation mit geschulter Sitzwache erfolgt. > Der Patient nach Suizid ist so lange als suizidal und somit als höchst gefährdet anzusehen, bis das psychiatrische Konsil dies definitiv verneint.
41.1.5 Klassifikation Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität werden eingeteilt nach Ausmaß, Lokalisation und Ursache (⊡ Tab. 41.2, ⊡ Abb. 41.1). Nach Ausmaß der Gewebeschädigung unterscheidet man totale oder komplette Amputationen, subtotale Amputationen und komplexe Knochen-Weichteil-Schädigungen. Die Rekonstruktion von totalen Amputationsverletzungen wird als Replantation bezeichnet. Unter einer subtotalen Amputation ist nach der Definition die Durchtrennung der wichtigsten anatomischen Strukturen, besonders der Hauptgefäßverbindungen zu verstehen. Eine Durchblutung darf nicht mehr nachweisbar sein. Vom Weichteilmantel darf nicht mehr als maximal ein Viertel der Zirkumferenz erhalten sein. Entscheidendes Kriterium ist, dass ohne Anastomosierung eine Nekrose des distalen Abschnittes (Amputat) eintreten würde. Im angloamerikanischen Sprachgebrauch werden diese Verletzungen als »incomplete severance« bezeichnet. Bestehen noch Zeichen einer (ausreichenden) Restdurchblutung und wesentliche anatomische Verbindungen (>25% der Zirkumferenz), so spricht man von einer (schweren) kombinierten Knochen-Weichteil-Verletzung. Kombinierte Knochen-Weichteil-Verletzungen können nach verschiedenen Klassifikationen (z. B. AO-Klassifikation) eingeteilt werden. Aufgrund der Schwierigkeit der Einschätzung der Restdurchblutung, werden subtotale Amputationsverletzungen und komplexe Knochen-WeichteilVerletzungen im angloamerikanischen und französischen Sprachgebrauch unter den Begriffen »mangeled extremity« bzw. »l‘urgence V.O.P. (vaissau-os-peau)« zusammengefasst. Werden bei der Rekonstruktion dieser Verletzungen auch Hauptgefäßverbindungen mit dem Ziel der Verbesserung der peripheren Extremitätenabschnitte wiederhergestellt, spricht man von einer Revaskularisation. Nach der Höhe der Läsion unterscheidet man Amputationsverletzungen im Bereich der Schulter, des Oberarms einschließlich des Ellenbogengelenks, des proximalen und mittleren Unterarmdrittels und des distalen Unterarmdrittels einschließlich des radiokarpalen Handgelenksanteils. Schließlich können noch Mischformen (»Zweietagenverletzung«) unterschieden werden (⊡ Abb. 41.1). Für die Beschreibung des Amputationsmechanismus hat sich die Unterscheidung in folgende Kategorien bewährt: 1. glattrandige Schnittverletzungen, 2. Amputationsverletzungen mit lokalisierter Quetschung, 3. Amputationsverletzungen mit diffuser Quetschung, 4. Zwei- oder Mehretagenverletzungen und 5. Ausrissverletzungen. Für jede dieser Kategorien sind Besonderheiten beim chirurgischen Vorgehen zu beachten. Glattrandige Schnittverletzungen erlauben ein schnelles Auffinden und eine meist einfache Wiederherstellung der korrespondierenden Strukturen. Bei Amputationen mit Quetschung ist ein ausgeprägtes Débridement mit zusätzlicher
1139 41.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 41.2 Klassifikation der Makroamputationen im Bereich der oberen Extremität Verletzungsausmaß Verbindung
Durchblutung
Therapie
Totale (komplette) Amputation
–
–
Replantation
Subtotale Amputation Typ I: Knochen Typ II: Strecksehne Typ III: Beugesehne Typ IV: Hauptnervenstamm Typ V: Hautbrücke
25% der Zirkumferenz
-
Revaskularisation
+
Rekonstruktion
Lokalisation – Schulter – Oberarm – Ellenbogengelenk – Proximales und mittleres Unterarmdrittel – Distales Unterarmdrittel einschließlich Radiokarpalgelenk – Mischformen (»Zweietagenverletzung«) Amputationsmechanismus – Glattrandige Schnittverletzung – Amputationsverletzung mit lokalisierter Quetschung – Amputationsverletzung mit diffuser Quetschung – Mehretagenverletzung – Ausrissverletzung – Skeletierungs – oder Degloving-Amputationen – Sonstiges
XII
XIII
XIV
XI
Knochenkürzung im Amputationsbereich notwendig. Darüber hinaus sollten routinemäßig alle Kompartimente gespalten werden. Avulsionsverletzungen benötigen oft lange Gefäß- und/oder Nerventransplantate. Die Zweietagenamputation ist sehr zeitaufwendig und operationstechnisch anspruchsvoll bei oft nicht vorhersehbaren Ergebnissen. Die subtotalen Amputationsverletzungen, sowie die kombinierten Knochen-Weichteil-Schädigungen werden ebenfalls mit den genannten Kriterien beschrieben. Zusätzlich müssen jedoch noch Art und Zustand derjenigen Strukturen beschrieben werden, welche noch in Kontinuität sind.
X IX
41.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Replantation VIII
VII
⊡ Abb. 41.1 Klassifikation der Makroreplantationen nach der Amputationshöhe. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Von einer erfolgreichen Replantation bzw. Revaskularisation kann heute nur dann gesprochen werden, wenn neben der Vitalität des Replantats gleichzeitig noch mehrere Kriterien wie geringes Replantationsrisiko, gutes funktionelles Ergebnis (globale Extremitätenfunktion), keine oder nur geringe Schmerzen im Replantationsbereich, befriedigendes ästhetisches Ergebnis und eine akzeptable Dauer der sozialen und beruflichen Wiedereingliederung erfüllt sind. Um die genannten Therapieziele zu erreichen hat es sich bewährt ein standardisiertes Vorgehen, welches sich an möglichst objektiven Kriterien orientiert, zu benutzen (⊡ Abb. 41.2). Folgende Fragen müssen systematisch evaluiert werden: 1. Besteht primär Rekonstrukionsfähigkeit? 2. Ist der Patient für eine Replantation geeignet? 3. Erlaubt das Rekonstruktionsrisiko (Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Mono-, Oligo- oder Multiorganversagen und Exitus nach Rekonstruktion) eine Replantation?
41
1140
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
4. Besteht Rekonstruktionswürdigkeit von Amputatstumpf und Amputat? 5. Besteht Rekonstruktionswilligkeit? 6. Welches Operationskonzept empfiehlt sich für die Operation? 7. Lässt sich eine Ergebnisverbesserung durch Sekundäreingriffe erzielen? > Bei einer Makroreplantation im Bereich der oberen Extremität muss der erfahrenste Replanteur bereits bei Klinikaufnahme am Entscheidungsprozess teilnehmen.
Kriterien der Replantationsfähigkeit Die Replantationsfähigkeit bewertet den Allgemeinzustand des Patienten zum Zeitpunkt der Primärdiagnostik und während der Operation. Objektive Parameter für die Bewertung der aktuellen Operationsfähigkeit sind unter anderem Blutdruck, Respiration und Ausscheidung. Bei fehlender Operationsfähigkeit wird die Stumpfversorgung als Maßnahme zur Blutstillung und damit zur chirurgischen Schocktherapie als einfachster und am wenigsten invasiver Eingriff durchgeführt. Ziel ist die »optimale Stumpfversorgung« (⊡ Abb. 41.3). Eine adäquate Knochenlänge und Weichteildeckung sowie eine gute Sensibilität sind Voraussetzungen für eine möglichst komplikationslose Prothesenversorgung. Neben der konventionellen Stumpfversorgung sollte bereits bei der Erstoperation an die Möglichkeit einer einzeitigen oder zweizeitigen (»flap banking«) Stumpfverbesserung mit Amputatteilen gedacht werden (⊡ Abb. 41.3). Können keine Amputatteile zur Stumpfverbesserung verwendet werden, kann der Amputationsstumpf auch sekundär durch freie (mikrovaskuläre) Transplantate oder mithilfe der progressiven Extremitäten- bzw. Stumpfverlängerung verbessert werden ( Abschn. 37.1.7). Bei primär bestehender Operationsfähigkeit muss als nächstes die Replantationseignung überprüft werden.
Kriterien der Replantationseignung
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Eigen- oder (meist) Fremdanamnese sind extrem wichtige Informationsquellen für die Festsetzung des therapeutischen Vorgehens. Für eine Replantation nicht geeignet sind Patienten mit systemischen chronischen Erkrankungen (Diabetes mellitus, Tumoren etc.), allgemeinen Gesundheitsproblemen (Herzinsuffizienz, AVK etc.) und stark eingeschränkter Intelligenz (Patient muss mental in der Lage sein, die langwierige Nachbehandlung zu verstehen und aktiv mitzuarbeiten). Makroreplantationen im Schulter- und Oberarmbereich bei Patienten über 50 Jahre sollten nur bei optimalen Voraussetzungen (biologisch jünger, keine Zusatzverletzungen, guter allgemeiner Gesundheitszustand, glattrandige Amputationsverletzungen, kalte Ischämiezeit 2) die Replantationsindikation weiter ein. In diesen Fällen stellt wiederum die »optimale Stumpfversorgung«, eventuell gefolgt von stumpfverbessernden Maßnahmen, die Therapie der Wahl dar (⊡ Abb. 41.3). Bei bestehender Operabilität und akzeptablem Replantationsrisiko entscheidet oft der intraoperative Verlauf über das Ausmaß und die Länge des rekonstruktiven Eingriffes. Alle nur möglichen Methoden müssen angewendet werden, zumindest Teile der verletzten Extremität zu erhalten. Der Zustand des Amputats sowie des Amputatstumpfes entscheiden über das weitere Vorgehen.
Kriterien für die Replantationswürdigkeit Die Rekonstruktionswürdigkeit evaluiert die Wahrscheinlichkeit der Rekonstruktion einer »funktionellen Extremität«. Es müssen dabei die Replantationswürdigkeit von Amputat und Amputatstumpf nacheinander bewertet werden. > Bei der bilateralen Amputationsverletzung müssen vier Regionen bewertet werden.
Amputat Kriterien für die Replantationswürdigkeit des Amputats sind gegeben, wenn 1. die warme Ischämiezeit nicht mehr als 4–6 Stunden beträgt, 2. keine diffuse Quetschverletzung oder kombinierte ausgedehnte Quetsch- und Avulsionsverletzung die Ursache ist, 3. keine ausgedehnte Kontamination (z. B. toxische Verunreinigung) oder zusätzliche Verbrennung (z. B. Bügelpressenverletzung) bestehen. Zusätzlich sollte 4. die Möglichkeit der primären oder sekundären Rekonstruktion zumindest der sensiblen Funktion des N. medianus bestehen. Bei fehlender Rekonstruktionswürdigkeit des Amputats ist das therapeutische Ziel die »optimale Stumpfversorgung« (⊡ Abb. 41.3). Bei bestehender Replantationswürdigkeit des Amputats entscheidet nun der Zustand des Amputatstumpfes über das weitere Vorgehen (⊡ Abb. 41.4). Amputatstumpf Unsere Kriterien für die »Rekonstruktionswürdigkeit« des Amputatstumpfes sind 1. Amputationen distal des Glenohumeralgelenks, 2. keine diffuse Quetschverletzung oder kombinierte ausgedehnte Quetsch- und Avulsionsverletzung, 3. biologisches Patientenalter unter 50 Jahre. Bei ausgedehnter Kontamination (z. B. toxische Verunreinigung) muss überprüft werden, ob diese durch ein radikales Débridement beseitigt werden kann, ohne die Funktionalität der Extremität zu beeinträchtigen.
1141 41.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 41.2 Entscheidungsbaum »Makroamputations(artige) Verletzungen an der oberen Extremität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
41
1142
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
inadäquater Amputationsstumpf sekundäre Operationen
sekundäre progressive Stumpfverlängerung
freie mikrovaskuläre Gewebetransplantation
von Amputat „Gewebe-Bank“
primäre einzeitige Transplantation
optimaler Stumpf
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⊡ Abb. 41.3 Möglichkeiten der einzeitigen und zweizeitigen Versorgung von traumatisch bedingten Amputationsstümpfen. (Aus Berger u. Hierner 2009)
andere Spendergebiete
mehrzeitige Transplantation „Flap-Banking“
Länge Abpolsterung Sensibilität
Eine fehlende Replantationswürdigkeit kann definitiv oder temporär sein. Bei lebensbedrohlichem Allgemeinzustand des Patienten (fehlende Operationsfähigkeit, »Life for Limb«) und definitiv fehlender Replantationswürdigkeit des Amputatstumpfes besteht die Indikation zur definitiven Stumpfversorgung (⊡ Abb. 41.5). Bei Operationsfähigkeit des Patienten und temporär fehlender Replantationswürdigkeit (Kontamination, Stomverletzung, V. a. multiplen Wurzelausrissschaden) besteht die Indikation zum primären Stumpfdébridement und heterotoper Revaskularisation. Ein Gefäßanschluss des Replantats kann in der Axilla, Bauchdecke, Leiste und am Unterarm in kurzer Zeit erfolgen (⊡ Abb. 49.1). Nach Erreichen der Replantationsfähigkeit des Amputatstumpfes bzw. nach Ausschluss einer zusätzlichen Schädigung des Plexus brachialis, kann in einer zweiten Sitzung die normotope Replantation (»limb
banking«) oder noch brauchbarer Teile (»flap banking«) durchgeführt werden (⊡ Abb. 41.5). Besteht Rekonstruktionswürdigkeit des Amputatstumpfes und des Amputats ist eine Replantation operationstechnisch möglich und funktionell sinnvoll. Nun gilt es die Replantationswilligkeit zu klären.
Kriterien für die Replantationswilligkeit Bei der Indikation zur Revaskularisation/Replantation im Bereich der oberen Extremität sind neben den objektiven medizinischen Gegebenheiten wie zu erwartendes funktionelles Ergebnis, voraussichtliche Operationsdauer, Dauer des stationären Aufenthaltes, Anzahl der notwendigen Kontrolluntersuchungen, Dauer der Arbeitsunfähigkeit, Aufwand an Begleittherapie und Anzahl der
41
1143 41.1 · Allgemeines
Primäre heterotope P Revaskularisation R mit m sekundärer Cross R over Replantation
a
„Limb-banking” „Flap-banking” Erhaltenes Amputat „Tissue bank transfer”
Zerstörtes Amputat
Einzeitige Cross over Replantation b ⊡ Abb. 41.5 Möglichkeiten der primär heterotopen Revaskularisierung mit sekundärer Replantation (»limb banking«). (Aus Berger u. Hierner 2009)
c
notwendigen Sekundäreingriffe auch die subjektiven Wünsche und Bedürfnisse des Patient wichtig. Intakte körperliche Integrität, berufliche Notwendigkeiten, Freizeitbelange, soziale Hintergründe und die Möglichkeiten der Rehabilitation und sozialen Reintegration bestimmen für den Patienten den Wunsch oder die Ablehnung einer Replantation. Als Vergleichsgrößen gelten die analogen Daten bei Zustand nach primärer Stumpfbildung und früher prothetischer Versorgung. Bei fehlender Replantationswilligkeit seitens des Patienten und/oder Arztes, wird die primäre Stumpfversorgung am Unfalltag durchgeführt. Primäre oder sekundäre stumpfverbessernde Maßnahmen können folgen (⊡ Abb. 41.3). Bei Replantationswilligkeit muss die Replantation bzw. Revaskularisation schnellstmöglich begonnen werden.
Stumpfversorgung
d ⊡ Abb. 41.4 Ausrissverletzung durch eine Zentrifuge. a Ungünstige Voraussetzung, b nach Replantation verbleibt ein Weichteildefekt, c Deckung des Defektes mit einem freien anterolateralen Oberschenkellappen, d Ergebnis 1 Jahr postoperativ
Die Amputation im Extremitätenbereich sollte als eine »Operation mit rekonstruktivem Charakter« verstanden werden, bei der es gilt, unter Kenntnis der für die jeweilige Amputationshöhe zutreffenden Besonderheiten, einen funktionell und kosmetisch »optimalen Stumpf« zu bilden, der auch allen Aspekten der modernen prothetischen Versorgungsmöglichkeiten gerecht wird. Der »optimale Stumpf« ist gekennzeichnet durch: 1. ausreichende Länge, 2. gute Beweglichkeit, 3. adäquate Weichteilbedeckung (Form und Funktion), 4. gute Durchblutung und 5. Schmerzfreiheit.
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
Bedingt durch die ungleich komplexere Funktion und Gebrauchsvielfalt der oberen Extremität sind hier die Möglichkeiten weitaus schlechter, einen ausgedehnten oder gar vollständigen Verlust von Unterarm und/oder Oberarm funktionell und kosmetisch kompensieren zu können. Dadurch scheint die Traumatisation, die Funktionsbehinderung und Stigmatisierung der davon betroffenen Patienten noch erheblich größer zu sein als nach Amputation an der unteren Extremität.
Sekundäre prothetische Versorgung Kap. 42 Sekundäre allogene Extremitätentransplantation Die Hauptindikation zur Transplantation von Händen und Gliedmaßen ist in der Verbesserung der Lebensqualität zu sehen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es durch die lebenslange Einnahme der immunsuppressiven Therapie zu einer Verringerung der natürlichen Lebensspanne kommen kann. Alternativ zu einer Transplantation ist das lebenslange Tragen einer Prothese. Diese werden allerdings aufgrund ihrer Komplexität von Patienten nur in den wenigsten Fällen konsequent getragen. Eine beidseitige Amputation schränkt den Patienten bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens massiv ein. Die Entscheidung zu Gunsten einer Transplantation und dem potenziellen Gewinn von neuer Lebensqualität sollte letztlich allein beim Betroffenen liegen, welcher bei mentaler und physischer Eignung selbsttätig Nutzen und Risiko einer allogenen Extremitätentransplantation gegeneinander abwägen muss. Landespezifische gesetzliche Bestimmungen sind jeweils zu berücksichtigen. Eine allogene Extremitätentransplantation erfordert eine komplexe und multidiziplinäre Therapie. Daher muss die Auswahl des Empfängers sich an strengen Auswahlkrieterien orientieren. Hierzu eignen sich die Innsbrucker Kriterien: »Innsbrucker Kriterien«: Indikationen und Kontraindikationen zur sekundären allogenen Extremitätentransplantation (landespezifische gesetzliche Bestimmungen sind jeweils zu berücksichtigen)
▬ Indikationen
41
– Ausgeprägter Wunsch des Patienten – Alter >18 und Wegen der Bedeutung einer möglichst kurzen Ischämiedauer für die Replantationswürdigkeit und das Replantationsrisiko ist bei Patienten mit einer Amputationsverletzung immer ein möglichst schneller Transport – in den meisten Fällen per Hubschrauber – in ein Spezialzentrum zu fordern.
Replantation Subtotale und totale Makroamputationsverletzungen an der oberen Extremität stellen für den Betroffenen eine erhebliche funktionelle, ästhetische und psychische Beeinträchtigung dar. Therapeutische Optionen sind die Replantation bzw. Revaskularisation und die primäre Amputation mit frühzeitiger prothetischer Versorgung.
> »Life before Limb«! Nach Sicherung der Vitalfunktionen sollte in beiden Fällen das Amputat geborgen und nach dem »Prinzip der trockenen Kühlung« (⊡ Abb. 41.7) adäquat gelagert werden.
REPLANTATIONS-TEAM Replanteur
Pflegedienst
Anästhesie
PATIENT
Radiologie/ Innere Neurologie Pysiotherapie
⊡ Abb. 41.6 Replantationsteam
Hausarzt
(Psychotherapie)
Sozialdienst/Krankenkasse/ Berufsgenossenschaften ⊡ Abb. 41.7 »Prinzip der trockenen Kühlung« zur optimalen Versorgung von Amputationsverletzungen. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
> Um ein optimales Ergebnis für den Patienten zu erzielen
kosmetische Rekonstruktionen bleiben der Routine-Second-LookOperation (24–72 Stunden) oder späteren Eingriffen überlassen, welche nun unter elektiven Bedingungen mit stabilem Kreislauf und intakter Blutgerinnung durchgeführt werden können.
muss die Replantation von einem erfahrenen Replanteur durchgeführt werden, der bereits bei der Erstoperation alle möglichen operativen Schritte durchführt, bzw. bereits zum Zeitpunkt der Erstoperation Sekundäreingriffe antizipiert. Die einfache Osteosynthese in Kombination mit der Revaskularisation ohne weitere funktionelle Wiederherstellung (Nerven, Sehnen, primäre Sehnenverlagerungen, Hautlappenplastiken etc.) führt zu einer »warmen autologen Prothese« und ist nicht zeitgemäß.
Operative Schritte der Replantation
Wenn immer möglich sollten zum Zeitpunkt der Erstoperation alle möglichen rekonstruktiven Eingriffe (einzeitige Replantation) durchgeführt werden, da sekundäre Eingriffe das Infektionsrisiko erhöhen und das funktionelle Ergebnis beeinträchtigen können (⊡ Abb. 41.8). Bei eingeschränkter Operationsfähigkeit zum Zeitpunkt der Primärdiagnostik oder zunehmend instabilem Patienten während der Replantation kann eine zweizeitige normatope Replantation notwendig werden (⊡ Abb. 41.8). Bei der Primäroperation wird das Weichteil- und/oder Knochendébridement sowie die Osteosynthese auf das der Situation angepasste Maß beschränkt. Eine großzügige Knochenkürzung löst erste Probleme der Weichteildeckung und erleichtert die Gefäßanastomosen. Funktionelle und
Operative Schritte der Primärversorgung sind 1. Wundreinigung, Desinfektion und aggressives Débridement, 2. osteosynthetische Versorgung, 3. Versorgung von Muskel- und Sehnenverletzungen, 4. mikrochirurgische Versorgung und 5. Wundschluss und Prophylaxe von postoperativen Fehlstellungen. Wundreinigung, Desinfektion und Débridement Der Patient sollte auf einer Wärmematte gelagert werden (adäquate Körpertemperatur zur Gefäßspasmusprophylaxe). Routinemäßig sollte auch eine Bleimatte zum Schutz vor intraoperativer Röntgenstrahlung unterlegt werden. Bei allen Makroreplantationen sollte auch routinemäßig ein Unterschenkel und Fuß steril abgedeckt werden, um eine mögliche Venenentnahme durchführen zu können. Die Extremität wird auf einem Handtisch ausgelagert. Die verletzte Extremität muss bis über die Axilla gewaschen und steril abgedeckt werden.
zweizeitige Replantation- eingeschränkte Operabilität
Primär normotop
Primär heterotop (limb-banking) akut nicht replantationsfähiger Amputationsstumpf
41 Eingeschränkte Primäroperation – Überleben des Amputates
Heterotope Transplantation – Überleben des Amputats
Routine-Second-Look Operation – funktionelle und ästhetische Rekonstruktion
Normotope Replantation – funktionelle und ästhetische Rekonstruktion
⊡ Abb. 41.8 Möglichkeiten der einzeitigen und zweizeitigen Replantation. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1147 41.1 · Allgemeines
▬ Alle Makroreplantationen werden in Intubationsnarkose durchgeführt. ▬ Die Gabe eines Cephalosporins – 30 min vor Anlage (1. Wahl) oder direkt nach Öffnen der Blutsperre (Vorgehen bei vergessener Antibiotikagabe) – ist aufgrund der hohen Verschmutzung zu empfehlen. Eine mehrtägige postoperative Antibiotikagabe ist ebenfalls zu empfehlen. ▬ Vordringlichste Aufgabe der präoperativen Wundreinigung ist die Entfernung von Fremdkörpern wie Sägespäne, Grashalme usw. ▬ Bei der Desinfektion ist darauf zu achten, dass keine Flüssigkeit in die Gefäße gelangt, da dies zu Endothelschädigungen führen würde. > Die Desinfektion sollte mit farblosem Desinfektat erfolgen, um eine uneingeschränkte Beurteilung der Replantatperfusion zu ermöglichen.
Die exakte Darstellung aller Strukturen, die später vereinigt werden, ist der Schlüssel für eine zügige und erfolgreiche Replantation. Nie sollte eine Replantation begonnen werden, bevor nicht alle Strukturen eindeutig identifiziert und markiert wurden. Die Darstellung der Strukturen erfolgt unter Lupenvergrößerung oder dem Operationsmikroskop. > Bei subtotalen Amputationen mit nur noch erhaltener Hautbrücke (Subtyp V) wird diese durchtrennt, um einen gleichzeitigen Einsatz von zwei Operationsteams zu ermöglichen. Größere nicht verletzte Nerven und Gefäße (Subtyp IV) müssen in Kontinuität erhalten bleiben.
Eine sterile Oberarmmanschette sollte grundsätzlich angelegt werden. Ob die Darstellung der Strukturen, Osteosynthese und Versorgung der Sehnennähte in Blutsperre erfolgt ist abhängig von den Angewohnheiten des Replanteurs. Zur Verringerung des »declamping phenomenon« kann der distale Extremitätenanteil mit Speziallösungen oder Blutkonserven gespült werden. Bei einer Ischämiezeit über 4 Stunden empfiehlt es sich das Amputat analog zur Transplantation mit einer Speziallösung (University-of-Wisconsin-Lösung) zu spülen. Wird keine Spülung
durchgeführt, sollte das initial zurückfließende Blut verworfen werden (Cave: Blutverlust). Bei amputationsartigen Verletzungen kann die Ischämiezeit durch Anlage eines temporären Shunts (Gore-tex) zwischen proximalem und distalem Extremitätenbereich wirkungsvoll verkürzt werden. Darüber hinaus können alle nicht durchbluteten Gewebeanteile identifiziert und das Débridement optimiert werden. Auf einen möglichen größeren Blutverlust ist zu achten. Der temporäre Shunt hat sich vor allem bei Amputationsverletzungen mit diffuser Quetschung und Avulsionsamputationen bewährt (⊡ Abb. 41.9). Bei einer totalen Amputationsverletzung müssen Débridement und Präparation des Amputats unverzüglich – d. h. noch während der Diagnostikphase – beginnen, um die Ischämiezeit möglichst kurz zu halten. Nach Markierung aller wichtigen Strukturen muss das Amputat wieder trocken gekühlt werden. Bei subtotalen Amputationsverletzungen muss der distale Extremitätenanteil ebenfalls trocken gekühlt werden. > Zur Prophylaxe eines Kompartmentsyndroms erfolgt die routinemäßige Spaltung aller Kompartimente proximal und distal der Gewebeschädigung.
Im Oberarmbereich genügt ein medialer Zugang zur Spaltung des ventralen und dorsalen Kompartments. Im Ellenbogenbereich sollte darauf geachtet werden, dass der Lacerus fibrosus komplett durchtrennt wird. Im Unterarmbereich wird routinemäßig nur die Palmarseite entlastet. Hierdurch erfolgt in den meisten Fällen auch eine ausreichende Druckentlastung im Dorsalbereich. Nur ausnahmsweise ist es notwendig auch zusätzlich dorsal zu inzidieren. Im Handbereich müssen neben dem Karpalkanal und der Guyon-Loge, dorsal die intermetakarpalen Kompartimente (Prophylaxe der myogen bedingten Krallenhand) gespalten werden ( Kap. 48). > Ein adäquates Débridement ist der Schlüssel für eine komplikationsarme erfolgreiche Replantation bzw. Revaskularisation.
Erst intraoperativ ist es möglich, das wirkliche Ausmaß des Weichteilschadens vor allem der Muskeln, Sehnen und Nerven, genauer
Shunt
N. medianus ⊡ Abb. 41.9 Temporärer Shunt zur Verringerung der Ischämiezeit. (Aus Berger u. Hierner 2009)
A. radialis
41
1148
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
zu bestimmen. Man muss sich immer vor Augen halten, dass der klinisch apparente Weichteil- und Knochenschaden meist kleiner ist als die tatsächliche Schädigung. Makroskopisch geschädigtes Gewebe (Muskel, Knochen, Haut) muss radikal entfernt werden, da es funktionell minderwertig ist und den Patienten potenziell gefährdet (»Life before Limb«). Es ist ratsam lieber zu viel primär zu resezieren, da die klinische Erfahrung gezeigt hat, dass das primäre Débridement meist zu sparsam durchgeführt wird. Ein Débridement kann auch derart ausgiebig sein, dass eine funktionelle Extremität nicht mehr wiederhergestellt werden kann. Hier ist intraoperativ die Indikation zur Stumpfversorgung zu stellen. In jedem Fall muss geprüft werden, ob Amputatteile für stumpfverbessernde Maßnahmen verwendet werden können (⊡ Abb. 41.3). Kriterien für die Vitalitätsbeurteilung der Haut sind: 1. Blutungen an Anschnittstellen, 2. fehlende Verfärbung und 3. Blasenbildung. Kriterien für die Vitalitätsbeurteilung des Muskels sind: 1. Blutungen an Anschnittstellen, 2. kräftige rote Farbe, 3. eine mäßige prallelastische Konsistenz und 4. Kontraktionen bei Stimulation. > Zur Verminderung der Reperfusionseffekte kann eine gezielte Reduktion der Muskelmasse durch Exzision funktionell weniger wichtigerer Muskeln (»Elementarisation nach Brunelli«) erfolgen. In der Reihenfolge der funktionellen Bedeutung für die obere Extremität werden hierbei wenn nötig entfernt: ▬ M. flexor carpi ulnaris, ▬ M. brachioradialis, ▬ M. flexor digitorum superficialis, ▬ M. extensor carpi radialis et extensor carpi ulnaris, ▬ M. extensor indicis proprius.
41
Im Gegensatz zu Haut, Muskel und Knochen erfolgt bei Nerven ein zurückhaltendes primäres Débridement. Bei einem kontusionierten Nerven, dessen Kontinuität erhalten ist, kann theoretisch eine Schädigung Grad I–IV nach Sunderland vorliegen. Da die Möglichkeit einer spontanen Funktionswiederkehr besteht, sollte hier primär zurückhaltend verfahren werden. Manchmal hilft die direkte Nervenstimulierung (Cave: Muskelrelaxanzien), um dessen Funktionsfähigkeit zu belegen. Kriterien für die intraoperative Vitalitätsbeurteilung des Knochens sind: 1. Blutung aus exponierten Frakturenden und 2. Zustand des Periostes von Fraktursegmenten. Bei denudierten Segmenten kommt es zu einer posttraumatischen Fragmentnekrose, da weder die medulläre noch die muskuloperiostale Butversorgung intakt ist. Aufgrund der klinischen Erfahrung hat es sich gezeigt, dass durch eine adäquate Knochenkürzung der postoperative Heilungsverlauf signifikant verkürzt und das funktionelle Ergebnis deutlich verbessert werden kann. Wenn möglich sollte an den Frakturstellen das Periost erhalten bleiben, um eine schneller knöcherne Durchbauung und eine geringere Sehnenadhärenz zu erreichen. Determinanten der Knochenkürzung sind das Ausmaß des zu erwartenden 1. Weichteilschadens, 2. Nervendefektes und 3. Knochendefektes.
> Hauptziel der primären Verkürzung bei Erstoperation sind eine möglichst vollständige Entfernung geschädigten Gewebes zur postoperativen Komplikationsprophylaxe und zur Erzielung besserer funktioneller Ergebnisse, der primäre Wundschluss, die optimal weichteilgedeckte Osteosynthese und eine maximal wiederhergestellte Sensibilität im Handbereich.
Bei transartikulärem Amputationsverlauf mit gut erhaltenen Knorpelverhältnissen sollte die Gelenkrekonstruktion versucht werden, um zumindest eine Teilfunktion zu erhalten. Eine Knochenkürzung muss in diesen Fällen proximal oder distal des rekonstruierten Gelenks durchgeführt werden. Osteosynthetische Versorgung Im Hinblick auf eine rasche Mobilisierung oder zumindest einen möglichst frühen Beginn der passiven krankengymnastischen Übungsbehandlung sollte die Osteosyntheses zumindest übungsstabil sein. Bei blanden Wundverhältnissen nach primärer Extremitätenkürzung kann eine Stabilisierung im Diaphysenbereich mithilfe einer Plattenosteosynthese erfolgen. Die zusätzliche Beeinträchtigung der Vaskularisation im Plattenbereich muss beachtet werden. Bei unsicheren Weichteilverhältnissen bleibt der Fixateur externe die Osteosynthesemethode der Wahl. Nach Verbesserung der Weichteilsituation, sollte in Hinblick auf die Bedeutung der frühen Remobilisierung im Bereich der oberen Extremität, sekundär auf eine stabilere Form der Osteosynthese umgestiegen werden. Mikrochirurgische Versorgung Um die Ischämiezeit möglichst kurz zu halten und die weitere Entwicklung einer Myonekrose zu verhindern, muss schnellstmöglich der arterielle Einstrom in das Amputat wiederhergestellt werden. Besteht eine Ischämiezeit von mehr als 3–4 Stunden sollte vor der osteosynthetischen Versorgung ein arterieller Shunt als temporäre Anastomose zwischen Körper und Amputat angelegt werden. Bei einer Ischämiezeit unter 3–4 Stunden kann nach der osteosynthetischen Versorgung direkt mit der Revaskularisierung der arteriellen Hauptgefäße begonnen werden. Der initial auftretende venöse Blutverlust sollte toleriert werden, da hierdurch die Wahrscheinlichkeit eines mitunter lebensbedrohlichen Reperfusionssyndroms gemindert werden kann. Der kalkulierte Blutverlust sollte daher bereits vor Eröffnung der arteriellen Strombahn erfolgen. Nach Ausschwemmung der toxischen Metabolite kann die venöse Anastomosierung erfolgen. Dieser große Blutverlust muss bereits vor Eröffnung der Strombahn wirkungsvoll kompensiert werden. > Zur Sicherung des Überlebens des Replantats werden initial mindestens eine Arterie und zwei Venen rekonstruiert. Ist der klinische Eindruck ausreichen, d. h. rosiges Hautkolorit im gesamten Amputatbereich und keine venösen Stauungszeichen, werden anschließend die Muskel- und Sehnenstümpfe rekonstruiert. Zur Verbesserung der Perfusionssituation sollten, wenn immer möglich, im Unterarmbereich beide Arterien und 4–6 (tiefe und oberflächliche) Venen rekonstruiert werden.
Die Kontinuität der Gefäß-Nerven-Straße muss wiederhergestellt werden (Nahtmaterial: 6/0–9/0). Die Sequenz der Rekonstruktion von arterieller und venöser Strombahn wird unterschiedlich angegeben. Bei Gefäßdefekten ist es ratsam, die Indikation für ein Veneninterponat großzügig zu stellen. Als Spenderregion der Wahl zählt
1149 41.1 · Allgemeines
der kontralaterale Unterschenkel (V. saphena parva). Ein Veneninterponat kann von einem dritten Operationsteam gehoben werden. Neben der Kennzeichnung der Flussrichtung ist bei Veneninterponaten zu bedenken, dass durch den größeren Druck das Interponat sowohl an Durchmesser als auch an Länge (etwa 10%) zunimmt. > Um ein »Kincking« zu vermeiden, muss das Interponat gering kürzer als der zu ersetzende Defekt sein. Für eine adäquate intraoperative Längenbestimmung hat es sich bewährt, zuerst die proximale Anastomose zu nähen, den Blutfluss bei angeklemmtem distalem Ende freizugeben und nach Dehnung des Interponats die adäquate Interponatlänge zu überprüfen.
Pro Arterien sollten mindestens 2 Venen genäht werden. Es ist wichtig, nicht nur die oberflächlichen Venen zu nähen, da bei fehlendem tiefem Abfluss eine zusätzliche Muskelnekrose entstehen kann. Möglichst viele Venen sollten anastomosiert werden, um das postoperative Ödem mit subsequenter Fibrosierung zu minimieren. Wenn immer möglich sollte eine spannungsfreie Koaptation der großen Nervenstämme (Nahtmaterial: 10/0) bei der Erstoperation erfolgen, wobei die intraneurale Topografie bedacht werden sollte. Bei vorliegenden Nervendefekten ist eine primäre Nerventransplantation nur dann indiziert, wenn einwandfreie Nerventransplantate im Rahmen des Gewebebankkonzeptes von nicht mehr zu replantierenden Extremitätenanteilen gewonnen werden können. In allen anderen Fällen hat sich die frühsekundäre Nerventransplantation nach etwa 3 Monaten bewährt. Bei frühsekundärer Versorgung sollte an die Möglichkeit der histochemischen Unterscheidung von motorischen und sensiblen Nervenfasern (Acethylcholinesterasereaktion nach Karnowsky-Gruber) gedacht werden. Obwohl theoretisch die Anastomosierung von Lymphgefäßen möglich ist, verlässt man sich im Zeitdruck der Erstoperation auf die spontane Lymphangiogenese, die etwa nach 8 Tagen einsetzt. Versorgung von Muskel- und Sehnenverletzungen > Vor allem im Oberarm- und Unterarmbereich sollte, wenn es die Ischämiezeit zulässt, die Versorgung der Muskel- und Sehnenverletzungen im Anschluss an die Osteosynthese durchgeführt werden, da bei optimaler Übersicht bessere funktionelle Ergebnisse erzielt werden können. Liegt die kalte Ischämiedauer über 3–4 Stunden, muss jedoch zuerst die Gefäßstrombahn wiederhergestellt werden.
Korrespondierende oder funktionsähnliche Muskel- und Sehnenstümpfe müssen koaptiert werden. Um ein gutes Ergebnis zu erzielen, muss auf eine ausreichende Vorspannnung dieser Strukturen geachtet werden. Im Handbereich ist dies erreicht, wenn die Finger in der typischen Ruheposition mit zunehmender Fingerbeugung nach ulnarseitig zu liegen kommen (⊡ Abb. 41.10). Operationstechnisch können drei Methoden der MuskelSehnen-Naht unterschieden werden (⊡ Abb. 41.11). Muskelnähte sollten immer durch Muskelsepten gelegt werden, um die initiale mechanische Belastbarkeit zu erhöhen. Wundschluss und postoperative Ruhigstellung Nach Einlage mehrerer Easy-Flow-Drainagen (ohne Sog!!!) sollte ein lockerer Wundschluss durchgeführt werden. Ein bestehender Hautdefekt kann in Abhängigkeit von seiner Unterlage primär mit Spalthaut oder vorzugsweise mit temporären Hautersatzstoffen gedeckt werden. Eine andere Möglichkeit bietet die Span-
⊡ Abb. 41.10 Spontane Fingerstellung bei adäquater Sehnenspannung bei Handgelenksflexion und Handgelenksextension. (Aus Berger u. Hierner 2009)
nungsentlastung mithilfe von multiplen Hautinzisionen. Bei ersatzschwachem oder ersatzunfähigem Wundgrund muss in einer Second-Look-Operation ein gestielter oder freier Gewebetransfer durchgeführt werden. Ein dicker lockerer Watteverband mit gekrüllten Kompressen, sowie eine Oberarmgipsschiene beenden die Operation.
Postoperative Nachbehandlung Postoperative Überwachung > Wegen der systemischen Wirkung nach Revaskularisierung größerer Extremitätenabschnitte aufgrund eines IschämieReperfusions-Syndroms sowie Crush-Syndromen muss der Patient postoperativ intensivmedizinisch überwacht werden.
Die klinische Untersuchung, sowie eine Röntgenuntersuchung der rekonstruierten oberen Extremität in zwei Ebenen dienen zur routinemäßigen Ergebnisbeurteilung. Die Amputatdurchblutung wird klinisch oder mithilfe eines Doppler-Gerätes ebenfalls engmaschig kontrolliert. Bei unklaren vaskulären Komplikationen kann eine postoperative digitale Subtraktionsangiografie und/oder Phlebografie notwendig werden. Lungen- und Nierenfunktion müssen engmaschig überprüft werden. Die rekonstruierte Extremität sollte »auf Körperniveau« gelagert sein. Bei geringen venösen Stauungszeichen kann die Extremität leicht hochgelagert werden. Bei zunehmender Zyanose und Umfangszunahme muss die Indikation zur operativen Revision unverzüglich gestellt werden. Gefäßkomplikationen nach Replantation treten meistens als Vasospasmus oder Thrombose auf. Sie müssen sofort nach Diagnose therapiert werden. Mögliche Ursachen für einen Vasospasmus sind Hypotension, niedrige Raumtemperatur, mechanische Einwirkungen und Gefäßverletzungen und ein protrahiert verlaufendes »no-reflowphenomenon«. In seltenen Fällen kann es notwendig werden, einen Teil der Adventitia in der Nähe der Anastomose zu entfernen. Die Hauptursache für eine Thrombose ist ein verletzter Gefäßabschnitt im Anastomosenbereich oder dem venösen Abflussgebiet und eine postoperativ auftretende Infektion. Die Therapie ist chirurgisch. Das Gefäß wird präpariert und nach makroskopischen Verletzungszeichen untersucht. Zeigt das Gefäß keine makroskopisch sichtbaren Verletzungsmarken, wird die Anastomose untersucht und gegebenenfalls revidiert. Bestehen Prellmarken wird das Gefäß bis ins Gesunde reseziert und der Defekt mit einem Interponat
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
überbrückt. Bei infektbedingter Thrombose muss der Infekt saniert werden. Da eine Gefäßanastomose und ein Veneninterponat im infizierten Gebiet höchst thrombosegefährdet sind, muss ein längeres Umgehungsinterponat eingebracht werden.
a
b
Mögliche Ursachen einer akuten venösen oder arteriellen vaskulären Insuffizienz (Die vaskulären Insuffizienzen können einzeln oder kombiniert auftreten) ▬ Mögliche Ursache einer arterielle Insuffizienz – Thrombose/Embolie – Kinking – Vasospasmus – Abriss oder Insuffizienz des Pedikels – Therapie mit Katecholaminen – Extremität zu hoch gelagert – Anämie, Hypovolämie oder Hypotonie – Sekundär nach venöser Insuffizienz – Komprimierende Weichteilstrukturen (Schwellung) oder Verband ▬ Mögliche Ursachen einer venösen Insuffizienz – Thrombose – Kinking – Abriss oder Insuffizienz des Pedikels – Hämatom – Extremität zu tief gelagert – Konstringierender Verband – Komprimierende Weichteilstrukturen
Zwischen dem 4. und dem 7. postoperativen Tag zeigt es sich, ob der Organismus mit den toxischen Abbauprodukten fertig wird oder ob es zu einer schweren Allgemeinbeeinträchtigung kommt. Als empfindlichstes Organ reagiert die Niere, erst im Weiteren die übrigen Organsysteme. Besonderer Wert wird deshalb auf hohe Stundenurinmengen zur Ausschwemmung toxischer Myoglobinmetabloiten gelegt. Dabei betragen die Infusionsmengen etwa 4.000–5.000 ml/d. Bei dieser hohen Flüssigkeitszufuhr muss vor allem auf die Lungenfunktion geachtet werden. Ein therapeutisch nicht beherrschbares Nieren- oder Lungenversagen sowie ein beginnendes Zweiorganversagen stellen die Indikation zur frühen Reamputation ( Übersicht) dar. > Die meisten akuten Remputationen sind bedingt durch Fehler bei der Indikationsstellung zur Replantation bzw. Revaskularisation. Vor allem eine zu lange Ischämiezeit und eine Unterschätzung der tatsächlichen Gewebeschädigung sind zu nennen. Weitere Indikationen für eine akute Reamputation sind ein unüberwindliches Gefäßproblem und eine septische Streuung einer lokalen Infektion im Replantat.
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Indikationen zur frühen Reamputation von Makroreplantaten an der oberen Extremität
▬ Absolute Indikationen c
⊡ Abb. 41.11 Methoden der muskulotendinösen Rekonstruktion. a Tendotendinöse Naht, b tendomuskuläre Naht, c muskulomuskuläre Naht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
– »No-reflow-phenomen« – Zwei-Organ-Versagen – Tiefe Infektion mit beginnender Sepsis ▬ Relative Indikationen – Nierenversagen – Lungenversagen (ARDS) – Persistierende Crush-Syndrome (Hyperkaliämie. Methämoglobinämie, steigende CK) – Gerinnungsprobleme (DIC)
1151 41.1 · Allgemeines
Postoperative Begleittherapie und Maßnahmen Der Erfolg einer Replantation bzw. Revaskularisation im Bereich der oberen Extremität ist abhängig von: 1. einer technisch gut durchgeführten Primäroperation (eventuell gefolgt von funktionsverbessernden Sekundäreingriffen), 2. einer früh einsetzenden krankengymnastischen und ergotherapeutischen Begleittherapie sowie 3. einer frühzeitigen sozialen und beruflichen Wiedereingliederung. Eine antikoagulative Therapie des Patienten sollte regulär durch niedermolekulare Heparingabe erfolgen. Bei kompliziertem Verlauf und erhöhter Thromboseneigung empfiehlt sich zudem eine Thromobozytenaggregationshemmung sowie eine PTT-wirksame Heparinisierung. Die initial angeordnete antibiotische Therapie ist testgerecht fortzuführen. Der Patient sollte postoperativ eine adäquate Analgotherapie über einen Plexuskatheter verabreicht bekommen und postoperative Röntgenkontrollen durchgeführt werden. Um den Einfluss externer Stressfaktoren zu minimieren, empfiehlt sich, das Zimmer des Patienten vor lauten Geräuschquellen abzuschirmen, den Bettnachbarn sorgfältig auszuwählen und das Zimmer angenehm zu temperieren. Der Patient sollte nach erfolgter Replantation unter keinen Umständen Zigaretten rauchen. Ggf. muss ein Nikotinpflaster verordnet werden. > Nur durch eine intensive krankengymnastische und ergotherapeutische Begleittherapie kann das durch die Rekonstruktion geschaffene Potenzial optimal ausgenutzt werden. Besonders wichtig sind auch Übungen für den kontralateralen Arm, damit die Patienten ihr Selbstständigkeitsgefühl zurückgewinnen.
In Abhängigkeit von den Weichteilverhältnissen und der Stabilität der Osteosynthese dürfen passive Bewegungsübungen im Operationsgebiet frühestens nach 10 Tagen (Nervennaht) begonnen werden. Zum Schutz der Sehnennähte und Osteosynthese sollen nur kleine Bewegungsamplituden ausgeführt werden. Nach der knöchernen Konsolidierung (4–6 Wochen) ist eine Physiotherapie ohne Einschränkung möglich. Eine früh einsetzende und konsequent durchgeführte Schienenbehandlung hat das Ziel, sekundäre Kontrakturen zu vermeiden und die durch die Krankengymnastik gewonnenen Bewegungsräume zu bewahren. > Die besten Ergebnisse können dann durch eine mehrwöchige stationäre Anschlussheilbehandlung erzielt werden ( Kap. 16).
Da bei Handarbeitern der frühere Beruf nur in seltenen Fällen wieder aufgenommen werden kann, ist es wichtig, mit dem Patienten ausführlich die Lage zu besprechen und möglichst früh einen Antrag auf Umschulung einzureichen. > Nur durch eine konsequente Patientenführung zusammen mit dem Sozialdienst können wiedergewonnene Funktionen für den Patienten in seinem Alltagsleben nutzbar gemacht und ein soziales Abgleiten verhindert werden.
Funktionsverbessernde Sekundäreingriffe Unter »funktionsverbessernden Eingriffen« versteht man alle möglichen operativen Eingriffe, die nach Replantation bzw. Revaskularisation notwendig werden können, um eine Ergebnisverbesserung für den Patienten zu erreichen. Geplante, d. h. bereits zum Zeitpunkt der Primärversorgung festgelegte funktionsverbessernde Eingriffe werden notwendig,
wenn man nach dem Konzept der zweizeitigen normotopen Replantation oder der geplant heterotopen Revaskularisation mit sekundärer normotoper Replantation (»limb banking«) vorgeht. Im Gegensatz zur unteren Extremität ist ein Längenausgleich bei primär verkürzter Replantation routinemäßig nicht notwendig. Elektive funktionsverbessernde Operationen werden erst nach kompletter Wundheilung und einer längeren Erholungszeit für den Patienten durchgeführt. Eine exakte Diagnostik der Funktionen nach Replantation ist entscheidend für den therapeutischen Erfolg. Folgende Fragen müssen beantwortet werden: 1. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation möglich? 2. Ist eine sekundäre rekonstruktive Operation sinnvoll? Ein rekonstruktiver Eingriff nach Replantation ist nur sinnvoll, wenn er den Bedürfnissen des Patienten gerecht wird und eine ausreichende Compliance des Patienten für den vorgeschlagenen Eingriff und die oft lange Rehabilitation besteht. > Aufgrund des vorgeschädigten Operationsgebietes muss mit einer größeren Morbidität gerechnet werden.
Elektive funktionsverbessernde Eingriffe umfassen Weichteildeckung, Knochenrekonstruktion, Nervenrekonstruktion und Muskel- und Sehnenrekonstruktion. Das differenzialtherapeutische Vorgehen entspricht jenem bei der Rekonstruktion von kombinierten Knochen-Weichteil-Defekten im Bereich der oberen Extremität (⊡ Abb. 41.12). Die häufigste Ursache für Sekundäroperationen, narbige Verwachsungen der Sehnen, kann durch eine Tendolyse gelöst werden. Häufig liegt auch eine arthrogene Bewegungseinschränkung vor, sodass zusätzlich auch eine Arthrolyse notwendig ist. Eine bereits am ersten postoperativen Tag beginnende Übungsbehandlung ist wichtig für den Operationserfolg. Die Tenotomie kommt vorzugsweise bei extremen Kontrakturen der intrinsischen Handmuskulatur zur Anwendung. Tenodesen und Arthrodesen im Handgelenkbereich können die Greiffunktion deutlich verbessern. Bei muskulärer Endorganinsuffizienz kann auch ein Sehnentransfer oder sogar ein mikrovaskulärer Muskeltransfer notwendig werden. In Abhängigkeit vom bestehenden Gewebeschaden können bereits bei der Primäroperation Muskel- und Sehnentransfers zur Verbesserung von Teilfunktionen (Latissimus-dorsi-Transfer bei Ellenbogenflexorenverlust; Operation nach Merle-d‘Aubigné bei Radialisläsion usw.) antizipiert werden. Wir haben keine Erfahrung mit arthroplastischem Gelenkersatz im Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenksbereich nach Replantation. Bei Amputationen im distalen Unterarmbereich kann sekundär eine primäre Greiffunktion durch einen Zehentransfer wiederhergestellt werden ( Kap. 40).
Stumpfversorgung Operative Schnitte der Stumpfversorgung Ist die Entscheidung zur Amputation gefällt worden, gilt es die »richtige« Amputationshöhe festzulegen. Diese wird hauptsächlich durch die Qualität der den Stumpf bedeckenden Haut, der Muskulatur und deren Durchblutung, des Knochens sowie auch die Befunde an Sehnen und Knorpel bestimmt (⊡ Abb. 41.13). Haut Der Hautmantel ist zunächst für die Qualität des Stumpfes und für dessen Belastbarkeit maßgebend. Im Idealfall handelt es sich um straffe, aber spannungsfreie, zum Untergrund verschiebliche und berührungsempfindliche Haut. Die Form der Amputationsverletzung (Quetschung, Décollement, Verschmutzung etc.) oder aber die Art der Erkrankung (Infektion, Kollagenose etc.) kann
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 41.12 Funktionsverbessernde Sekundäreingriffe. a, b Amputationsverletzung des linken Unterarms mit diffuser Quetschung, Z. n. Débridement und einer adäquaten Knochenkürzung, c sekundärer Eingriff mit Weichteilrekonstruktion am Unterarm durch freien Parascapulalappen, d Z. n. Lappenplastik, e–g funktionelles Ergebnis 1 Jahr nach Replantation und sekundärer Rekonstruktion mittels Parascapulalappen
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a
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c
d
e
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g
durchaus andere Bedingungen vorgeben. In diesen Fällen ist eine primäre Hautdeckung des Stumpfes nicht möglich. Solange Knochen und bradytrophes Gewebe nicht freiliegen, darf der Stumpf keinesfalls gekürzt werden; durch rekonstruktive Maßnahmen wie lokale Verschiebelappen, Haut- und Spalthauttransplantationen nach Konditionierung des Wundgrundes, aber auch durch Granulation und Epitheliarisierung lassen sich Defektareale verschließen. Die narbigen Hautareale nach Spalthauttransplantation bleiben im Stumpfbereich meist problematisch; diese Problembereiche können durch sekundäre Narbenkorrekturen saniert werden (⊡ Abb. 41.14).
fehlt der Muskulatur im Stumpfbereich dann das Erfolgsorgan. Um der Verschmächtigung der Muskulatur entgegenzuwirken und die funktionelle Belastung des Stumpfes zu ermöglichen, sollten die Agonisten und Antagonisten vernäht, oder aber am Oberarm in Form einer Myodese am Humerusschaft fixiert werden. Durch die Bedeckung des knöchernen Stumpfes mit vitaler und funktionell versorgter Muskulatur erfolgt die Polsterung, die einen Stumpf überhaupt erst belastbar macht. Dies gilt sowohl für die rein mechanische Komponente, für die Gebrauchsfähigkeit nach prothetischer Versorgung (myoelektrische Prothesen) als auch für den Schutz der gekürzten Nerven (⊡ Abb. 41.14).
Muskel Entscheidend für die Funktion und Prognose des Stumpfes ist die Muskulatur. Nekrotische und nicht perfundierte Areale müssen sorgfältig reseziert werden. Bei Verletzungen, Infektionen und zirkulationsbedingten Amputationen wird durch die Vitalität der Muskulatur die Amputationshöhe definiert. Die Resektion der Muskulatur sollte ohne Separierung der einzelnen Muskelgruppen erfolge,n um die funktionellen Einheiten (z. B. Beuger und Strecker, Supinatioren und Pronatoren) erhalten zu können. Bei Tumorerkrankungen muss dagegen das jeweilig betroffene Kompartiment in seiner Gesamtheit amputiert werden. Als Folge der Amputation
Gefäße Während bei traumatischen Amputationen durch Gefäßrekonstruktionen eine Reperfusion erreicht und das Ausmaß der Amputation vermindert oder im optimalsten Fall sogar die Amputation verhindert werden kann, kennzeichnet der Abbruch der Mikrozirkulation bei den anderen Amputationsursachen die Amputationshöhe. Bei Verschluss arterieller Gefäße kann auf der Höhe des Gefäßabbruchs und sogar distal davon noch eine ausreichende Durchblutung des Gewebes vorhanden sein, sodass die Absetzungshöhe sich nach der tatsächlichen Vitalität der Muskulatur zu richten hat. Dagegen sind thrombotische Verschlüsse venöser
1153 41.1 · Allgemeines
Schultergürtel (forequarter) Schultergelenk Oberarm (transtranshumeral) ultrakurz
Oberarm (transtranshumeral) kurz
Oberarm (transtranshumeral) mittel
Oberarm (transtranshumeral) lang
Ellenbogen transkondylär
Ellenbogen Exartikulation
Unterarm (transradial) ultrakurz
Unterarm (transradial) kurz
⊡ Abb. 41.14 Längenverhältnisse der verschiedenen Gewebe eines Amputationsstumpfes. (Aus Berger u. Hierner 2009) Handgelenk karpometakarpale Gelenklinie Fingergrundgelenke
Unterarm (transradial) mittel Unterarm (transradial) lang transkarpal (Handwurzel) transmetakarpal (Mittelhandknochen) Finger
⊡ Abb. 41.13 Amputationshöhen im Bereich der oberen Extremität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Gefäße als unbedingtes Kriterium zur Amputation des unmittelbar umgebenden Gewebes anzusehen. Die korrekte Amputationshöhe ist erst dann erreicht, wenn wieder venöser Abfluss erkennbar ist. Zur Absetzung müssen die arteriellen und venösen Gefäße separiert und einzeln mit Durchstechungsligaturen versorgt werden um Nachblutungen zu vermeiden und die Bildung arteriovenöser Fisteln zu verhindern (⊡ Abb. 41.14). Nerven Die Durchtrennung der Nerven erfordert besonders große Sorgfalt. Durch Phantom- und Stumpfschmerzen kann auch der sonst perfekte Stumpf nicht belastbar und damit gebrauchsunfähig werden. Bei rund 10% aller Patienten kommt es nach Amputationen zu chronischen Schmerzzuständen, ohne dass bisher eine wesentliche Reduzierung dieser Rate erreicht werden konnte. Deswegen wurden für die Versorgung des Nervenstumpfes so unterschiedliche Verfahren empfohlen wie das Einspritzen von Lokalanästhetika oder Alkohol die Versiegelung mit Silikonkappen und die Fibrinklebung. Da ein amputierter Nerv an seiner Absetzungsstelle aber immer reaktiv unter Bildung eines Neuroms zu verheilen
sucht, muss der Nervenstumpf spannungsfrei zwischen gut vaskularisiertem Gewebe, am besten Muskulatur, eingebettet werden. Das Ende der abgesetzten Nerven darf nie in der potenziellen Belastungszone des gebildeten Stumpfes zu liegen kommen. Eine routinemäßige und frühzeitige Mitbehandlung des Patienten in einer spezialisierten Schmerzambulanz führt zu einer signifikanten Ergebnisverbesserung (⊡ Abb. 41.14). Knorpel und Knochen Die Weichteildeckung des Stumpfes mit gut vaskularisiertem Gewebe hat die höchste Priorität. Die Tragfähigkeit des Amputationsstumpfes hängt von der Länge und Qualität des knöchernen Stumpfes ab. Gerade bei traumatisch bedingten Amputationen muss bedacht werden, dass die Ausgangssituation nicht mit der Amputationshöhe übereinstimmen muss. Durch Osteosynthesen von Frakturen, die im Amputationsbereich oder proximal davon liegen, kann eine Verlängerung des Amputationsstumpfes erreicht werden. Dies hat bereits bei wenigen Zentimetern an Arm und Unterarm positive Auswirkungen auf die Gebrauchsfähigkeit des resultierenden Stumpfes. Aber auch nach primärer Stumpfversorgung besteht prinzipiell die Möglichkeit der sekundären Stumpfverlängerung. Bei Amputationen, die im Gelenkbereich erfolgen, gibt es keine zwingende Notwendigkeit den Gelenkknorpel zu entfernen. Lediglich bei Überstehen der Gelenkanteile, wie an den Epikondylen des distalen Oberarms, ist die Entfernung des Gelenkknorpels und anteiligen Knochengewebes zur Stumpfkonfektion angezeigt (⊡ Abb. 41.14). Bänder, Sehnen, Faszien Wenn diese bradytrophen Gewebeanteile stumpfe Oberflächen und gelb-bräunliche Verfärbungen aufweisen, müssen die betroffenen Anteile reseziert werden. An den proximalen Stümpfen mit guter Deckung durch Muskelgewebe empfiehlt es sich die Sehnen und Faszien entsprechend den muskulären Agonisten und Antagonis-
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
ten über dem Stumpf zu vereinigen. Bei distalen Amputationen wie an den Fingern muss dies unterbleiben, hier werden die Sehnen lediglich gekürzt (⊡ Abb. 41.14).
Postoperative Nachbehandlung Postoperative Überwachung Eine operationsspezifische postoperative Überwachung ist nach Stumpfbildung nicht notwendig. Der Patient wird entsprechend seines Allgemeinzustandes entweder auf eine Intensivstation (Polytrauma), Intermediate Care oder Normalstation verlegt. Postoperative Begleittherapie und Maßnahmen Die 1. Phase der postoperativen Behandlung beginnt mit der Anlegung des Verbandes am frischen Amputationsstumpf und endet mit der äußeren Wundheilung. Die 2. Phase umfasst nach abgeschlossener Wundheilung: ▬ physiotherapeutisch zu fördernde Stabilisierung des Stumpfes, ▬ Stumpfvorbereitung auf die frühprothetische Versorgung, ▬ Bau und Anpassung der Prothese, ▬ Gebrauchsschulung mit der Prothese, ▬ Rehabilitation und Übergang zur vollen Gebrauchsbelastung, schließlich die Vorbereitung auf die Rückkehr in die berufliche Tätigkeit ( Kap. 42). Auch danach bleibt der Amputierte in fachärztlicher Betreuung, um eventuellen Komplikationen, nachteiligen Entwicklungen des Stumpfes, allgemeinen negativen Rückwirkungen auf den übrigen Körper sowie Störungen der prothetischen Versorgung und deren Handhabung rechtzeitig begegnen zu können.
Funktionsverbessernde Sekundäreingriffe
41
Nicht bei allen Primärversorgungen kann das Therapieziel »der optimale Stumpf« (eine adäquate Knochenlänge und Weichteildeckung sowie eine gute Sensibilität sind Voraussetzungen für eine möglichst komplikationslose Prothesenversorgung) erreicht werden. Neben der konventionellen Stumpfversorgung sollte bereits bei der Erstoperation an die Möglichkeit einer einzeitigen oder zweizeitigen (»flap banking«) Stumpfverbesserung mit Amputatteilen gedacht werden. Können keine Amputatteile zur Stumpfverbesserung verwendet werden, kann der Amputationsstumpf auch sekundär durch freie (mikrovaskuläre) Transplantate oder mithilfe der progressiven Extremitäten- bzw. Stumpfverlängerung verbessert werden (⊡ Abb. 41.3). Bei Amputationen im distalen Unterarmbereich kann sekundär eine primäre Greiffunktion durch einen Zehentransfer wiederhergestellt werden.
die transplantierte Hand nach 2 Wochen amputiert werden. Im September 1998 wurde in Lyon in Frankreich die erste Handtransplantation in der Ära der modernen Immunosuppression durchgeführt. Damit wurden die Allotransplantationen in die klinischen Praxis weltweit eingeführt. Das erstrangige Ziel der Handtransplantation ist das Überleben des Transplantats mit einem optimalen funktionellen und ästhetischen Ergebnis. Das Ziel wurde in den meisten publizierten Fällen erreicht. Dennoch sind die Nebenwirkungen und Langzeitfolgen einer Dauertherapie derzeit ein bestimmender Faktor bei der Indikationsstellung für Handtransplantationen. Da die Handtransplantation nur der Verbesserung der Lebensqualität dient, muss die Indikation für die Handtransplantation weiterhin sehr kritisch betrachtet werden. Bei beidseitiger Handtransplantation sollte die Operation in vier Teams, die synchron arbeiten, vorgenommen werden. Zwei Teams werden die Entnahme des Spenderarmes und die anderen zwei die Stumpfpräparation für die Aufnahme des Allotransplantates bei dem Patienten durchführen.
Auswahl des Empfängers Die Auswahl des Empfängers orientiert sich an den Innsbrucker Ein- und Ausschlusskriterien. Bei positiver Evaluation erfolgen routinemäßige klinische Untersuchungen und Blutabnahmen. Erkrankungen der knöchernen Strukturen müssen durch Röntgenuntersuchung unbedingt präoperativ ausgeschlossen werden. Bei Verdacht auf Osteomyelitis ist eventuell eine weiterführende Diagnostik mittels Knochenszintigrafie oder Knochenbiopsie indiziert. Bei Bestehen einer Infektion muss diese konsequent therapiert werden. Zudem muss eine Hepatitis- oder HIV-Infektion sowie eine Zytomegalie- und Epstein-Barr-Virus-positive Serologie ausgeschlossen werden. > Jegliche Infektion im Bereich des Empfängergebietes muss unbedingt ausgeschlossen werden.
Auswahl des Spenders
Sekundäre Prothetische Versorgung Kap. 42
Grundlegende Voraussetzung für eine allogene Transplantation ist die Gewebeverträglichkeit sowie die Blutgruppenkompatibilität. Weiterhin muss der Spender tumor- und infektfrei sein und sollte das gleiche Geschlecht und ein ähnliches Alter aufweisen. Das Spenderorgan muss vor der Transplantation genauestens untersucht und Röntgenaufnahmen angefertigt werden: ▬ Bestehen chronische Erkankungen des Knochenskeletts? ▬ Stimmt der Knochenbau weitgehend mit dem des Empfängers überein? ▬ Lassen sich Hautfarbe und Textur von Spender und Empfänger miteinander vergleichen?
Allogene Extremitätentransplantation (»composite tissue allotransplantation«, CTA)
Bei positiver Evaluation sollte das Einverständnis zur Organspende von den Angehörigen des Spenders eingeholt werden.
Die Transplantation von Körperteilen wie der Hand oder des Gesichts entspricht einer Übertragung von genetisch nicht identischen Geweben der gleichen Spezies. Deswegen spricht man von einer Allotransplantation, die eine immunosuppressive Therapie verlangt, um eine Zerstörung des Transplantates durch das Immunsystem des Empfängers zu verhindern. Eine solche Therapie muss lebenslang, bzw. so lange der Patient das Transplantat hat, eingenommen werden. Die erste Handtransplantation wurde bereits 1964 in Ecuador unternommen. Da der Patient keine immunosuppressive Therapie bekam, musste aufgrund einer progredienten Abstoßungsreaktion
Entnahme des Spenderorgans Grundlegende Voraussetzung zur Entnahme von Organen ist die umgehende Einsatzbereitschaft des Replantationsteams. Im Vorfeld der Entnahme sollte bereits feststehen, welche Organe zuerst entnommen werden sollen. Neben der notwendigen chirurgischen Ausrüstung sollte immer auch eine geeignete Handprothese zur Verfügung stehen. Die Operation erfolgt in Blutleere. Im Bereich des Ellbogens wird nach Inzision die A. brachialis samt Begleitvenen aufgesucht und ligiert. Die Nervenstrukturen werden aufgesucht und markiert. Die Muskeln werden unter Koagulation durchtrennt
1155 41.1 · Allgemeines
und anschließend in geeigenter Höhe die Knochen osteotomiert. Nun kann sich das Operationsteam aufteilen, sodass die Stumpfversorgung samt prothetischer Versorgung und die weitere Amputatvorbereitung simultan durchgeführt werden können. Wenn die Präparation aller Strukturen abgeschlossen und eine exakte Blutstillung erreicht wurde, wird die A. brachialis kanüliert und so lange mit der »University-of-Wisconsin«-Lösung gespült, bis eine vollständige Blutleere des Amputats erreicht wird. Abschließend wird das Amputat in feuchte Gazen gewickelt und gekühlt gelagert, wobei jeder direkte Kontakt mit Eis zu vermeiden ist. Während der Organentnahme sollte vom Spender Material vom Thymus und der Milz für spätere immunologische Analysen gewonnen werden.
arterie anastomosiert und anschließend eine kurze Blutungsphase toleriert werden. Durch den Rückfluss werden die funktionellen superfiziellen Venen gut gefüllt und entsprechend anastomosiert.
Sehnen- und Muskelrekonstruktion. Durchführung tendotendinöser bzw. tendomuskulärer oder intermuskulärer Nähte. Um Adhäsionen zwischen den Sehnen zu vermeiden, sollten diese auf unterschiedlicher Höhe vernäht werden. Dies wird durch Zuschneidung der Sehnen erreicht. Hierbei muss auf die richtige Balance der Beuge- und Strecksehnen geachtet werden. Definitive Revaskularisation. Zum jetzigen Zeitpunkt müssen
Die Operation erfolgt in Vollnarkose. Nach Anlage einer Oberarmblutsperre wird diese initial benötigt, um das superfizielle Venensystem darzustellen. Nach Markierung erfolgt die weitere Operation in üblicher Blutleere.
die Anastomosen auf Spannung oder Überlänge überprüft werden. Im Bereich des Unterarmes wird nun die zweite Hauptarterie und mindestens eine V. comitantes anastomosiert. Die andere Hauptarterie, welche meist zu lang ist, wird gekürzt, und ebenfalls mindestens eine V. comitantes anastomosiert. Ingesamt sollten somit nun 4–6 Venen einen adäquaten Rückfluss erlauben.
Vorbereitung der Weichteile. Über die Hautinzisionen wird
Koaptation der peripheren Nerven. Die drei Hauptnerven
ein Zugangsweg zu den neurovaskulären Strukturen und dem Knochen geschaffen. Hierbei darf nicht direkt über den Gefäßbzw. Nervenbündeln inzidiert werden. Die Schnittführung sollte sich an der bestehenden Vernarbung des Stumpfes orientieren und entsprechend mehrere Z-Plastik geplant werden, sodass ein spannungsfreier Verschluss sowie eine bessere Narbenbildung im Bereich der Nahtstelle durch Transposition erzielt werden kann. Da bei einer Transplantation immer das Risiko einer sekundären Amputation besteht, muss bei der Lappenplanung auf ausreichend Gewebe für eine erneute Stumpfversorgung geachtet werden.
werden proximal des Neuroms aufgesucht und scharf abgesetzt. Bei einer Avulsionsverletzung sollte weit nach proximal disseziert werden. Die Nerven werden anschließend faszikulär oder epineural spannungsfrei koaptiert.
Vorbereitung der Empfängerstelle
Vorbereitung und Markierung der Gefäße und Nerven. Die markierten superfiziellen Venen werden nun disseziert. Bei insuffizienten venösen Anschlussgefäßen im Stumpfbereich muss weiter nach proximal präpariert und die Strecke eventuell später durch venöse Interponate überbrückt werden. Anschließend werden die tiefen Gefäße am Ober- oder Unterarm samt Vv. comitantes präpariert. Die Nervenstümpfe der drei Hauptnerven werden identifiziert und angefrischt. Vorbereitung und Markierung der Sehnen und Muskeln. Die Sehnen bzw. Muskel sollten ebenfalls identifiziert und markiert werden. Es empfiehlt sich bei einer Transplantation die Sehnen auf unterschiedlichem Niveau zu kürzen, sodass Sehnennahtareale nicht direkt aneinander zu liegen kommen. Hierdurch können Adhäsionen und narbige Verwachsungen der Sehnen verhindert werden.
Vorbereitung der Osteosynthese. In der jeweiligen Höhe muss das osteosynthetische Verfahren festgelegt werden. Bei Anbringung einer Lochplatte sollte diese bereits mit Schrauben fixiert werden.
Technik der Transplantation Die Operationssequenz der Extremitätentransplantation gleicht weitgehend derjenigen bei einer Extremitätenreplantation.
Osteosynthetische Versorgung. Die Osteosynthese sollte nach Möglichkeit mit einem internen Fixationsverfahren durchgeführt und Gelenke nach Möglichkeit nicht immobilisiert werden.
Primäre Revaskularisation. Im Bereich des Unterarmes sollte zuerst nur eine Arterie und im Bereich des Oberarmes die Haupt-
Wundschluss und Verbandanlage. Nach exakter Blutstillung muss das Gewebe durch lokale Z-Plastik adaptiert werden. Die Verbandanlage ist mit größter Sorgfalt durchzuführen. Hierbei wird Fettgaze immer nur in longitudinaler und nie in zirkumferenzieller Manier um die Wunde gelegt. Aufgefaltete Kompressen werden locker zusammengefaltet und die Wunde ausstaffiert. Auf diese Schicht wird weicher Schaumstoff bis zu den Fingerspritzen anmodelliert und eine Seite offen gelassen. Dieser wird mit einer Binde in Position gehalten. Abschließend wird ein Gipsverband angelegt, welcher das Handgelenk einschließen muss. Nun muss abschließend die Perfusion des Transplantats evaluiert und bei jeglicher Beeinträchtigung der Verband gelockert oder neu angelegt werden.
Postoperative Nachbehandlung Der Erfolg einer Fremdhandtransplantation ist abhängig von der späteren Funktion und der Verhinderung einer Abstoßungsreaktion. Postoperative Überwachung und Komplikationen Die postoperative Überwachung des Transplantats unterscheidet sich nicht von der Überwachung nach Replantation. Die speziellen Komplikationen, welche sich in Folge einer Abstoßungsreaktion und/oder durch die immunsuppressive Medikation ereignen können, werden separat abgehandelt. Eine akute Abstoßungsreaktion manifestiert sich nach einer Extremitätentransplantation zuerst an der Haut. Anfänglich kommt es zum Auftreten von asymptomatischen erythematösen Plaques. Bei inadäquater Therapie oder Therapieversagen kommt es zu einer stetigen Progression der kutanen Läsionen mit Ausbildung von lichenoiden oder psoriasiformen Plaques. Eine Mitbeteiligung der Nägel ist möglich. Postoperative Begleittherapie und Maßnahmen Im Gegensatz zu Replantationen müssen Patienten mit einer Transplantation noch wesentlich intensiver und langfristiger begleitet und therapiert werden, da es nach dem traumatischen Verlust einer Extremität zu einer kortikalen Reorganisation im Bereich des motorischen und somatosensorischen Kortex des Patienten
41
1156
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
mit konsekutiver Unterrepräsentation der verlorenen Extremität kommt. Nach einer Transplantation muss die fremde Gliedmaße durch Reedukation wieder in das Körperschema integriert werden. Daher beginnt der Rehabilitationsprozess bereits am ersten Tag nach der Transplantation. Die Rehabilitationsmaßnahmen werden mit sehr hoher Frequenz und Intensität durchgeführt. Die Therapiedauer wird an die individuellen Bedürfnisse und Funktionsfortschritte des Patienten angepasst und mindestens 1 Jahr fortgesetzt. Das Rehabilitationsprotokoll besteht aus einem EPM-Programm (»early protective joint motion«) kombiniert mit kognitiven therapeutischen Übungen nach Perfetti, Elektrotherapie, Biofeedback und ATL (Aktivitäten des täglichen Lebens). Weiterhin ist eine psychologische Betreuung des transplantierten Patienten obligat, welcher durch die tägliche Identifikation mit der transplantierten Hand einer gewissen psychischen Belastung ausgesetzt ist. > Die Physiotherapie ist ein integraler Bestandteil der Therapie. Immunsupressive Therapie Hände und Extremitäten bestehen aus verschiedenen Gewebetypen, welche eine unterschiedliche Immunogenität besitzen. Neben den Knochen, Muskeln, Nerven, Blutgefäßen, Sehnen und Fettgewebe hat vor allem die Haut eine hohes immunogenes Potenzial. Das derzeit verwendete Therapieregime wird auch bei Nierentransplantationen verwendet. Allgemein unterscheidet man zwischen einer Induktionstherapie und einer Erhaltungstherapie. Bei einer Abstoßungsreaktion wird eine Rejektionstherapie, meist in Form einer Kortikosteroid-Stoßtherapie, durchgeführt. Diese Therapie kann als lokale Behandlung (Cremen) und/oder intensivierte systemische Immunosuppression vorgenommen werden.
Sekundäre funktionsverbessernde Eingriffe nach allogener Extremitätentransplantation werden analog zu den Eingriffen nach Extremitätenreplantation durchgeführt. 41.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Replantation Für Makroreplantationen im Kindesalter (⊡ Abb. 41.15) gelten prinzipiell die gleichen Grundsätze wie bei den Erwachsenen. Folgende Unterschiede sind anzumerken: ▬ Aufgrund der höheren Regenerationspotenz des Gewebes und möglicher Spontankorrekturen von Fehlstellungen während des Wachstums ist die Indikation zur Replantation im Kindesalter weiter zu stellen. Dennoch gilt der Grundsatz »nil nocere«. Die psychologische Beeinträchtigung (Angst vor weiteren Artztbesuchen) des Kindes durch die Therapie muss immer bedacht werden. Die Kooperation mit einem Kinderpsychologen hat sich bewährt. ▬ Die Replantation ist aufgrund der anatomischen Verhältnisse technisch schwieriger. ▬ Während der postoperativen Phase ist die Betreuung durch einen Elternteil (oder eine dem Kind vertraute Erziehungsperson) grundsätzlich notwendig. ▬ Die postoperative Behandlung (z. B. Verbandswechsel) ist schwieriger. ▬ Das Management möglicher Komplikationen ist schwieriger. Mit einem normalen Skelettwachstum ist zu rechnen, wenn die Wachstumsfugen nicht beschädigt wurden.
Induktionstherapie. Eine Induktionstherapie wird vor, während
Stumpfversorgung
und in den ersten Tagen nach der Transplantation durchgeführt. Hierzu werden in der Regel mono- oder polyklonale Antikörper verwendet.
Während des Wachstums sind bei der Stumpfversorgung einige Besonderheiten zu beachten:
Erhaltungstherapie. Die Basistherapie muss in der Regel lebens-
41
Funktionsverbessernde Sekundäreingriffe
lang verabreicht werden. Bei der klassischen 3-fach-Kombinationstherapie werden verwendet: ▬ ein Calcineurin-Inhibitor (Cyclosporin, Tacrolismus, Sandimmun, Prograf) ▬ Mycophenolat Mofetil (MMF): ein Inhibitor der De-novoPurinsynthese (wirkt vor allem zytostatisch auf Lymphozyten), ▬ Glukokortikoide (Prednisolon)
Abstoßungsreaktion und Rejektionstherapie. Generell können Abstoßungsreaktionen akut oder chronisch auftreten. Aufgrund ihres hohen immunogenen Potenzials ist die Haut besonders gefährdet und wird daher makroskopisch und mikroskopisch nach Biopsieentnahme auf Veränderungen untersucht. Im Gegensatz zur Organtransplantation können somit Abstoßungsreaktionen im Bereich der Extremität wesentlich leichter und schneller erkannt werden. Die höchste Gefahr für eine Abstoßungsreaktion besteht in den ersten 3 Monaten ab der 2. postoperativen Woche Das Risiko für eine akute Abstoßungsreaktion ist nach der ersten postoperativen Woche in den kommenden 3 Monaten am höchsten. Die Therapie besteht in der Regel in der hochdosierten Gabe von Kortikosteroiden oder bei Therapieresistenz in der Gabe von mono- oder polyklonalen Antikörpern, wobei zielgerichtete monoklonale Antikörper vorzuziehen sind.
Überwachstum beim Jugendlichen. Grundsätzlich sind wegen des noch zu erwartenden Längenwachstums die Epiphysenfugen vor zusätzlichen Schäden zu bewahren und bei der Amputationsindikation als erhaltungsbedürftig zu berücksichtigen. Die Exartikulation ist hierfür das natürliche Model. Ursachen für das Überwachstum ist die periostale, oppositionelle Knochenbildung am Knochenende. Problemfälle des Überwachstum sind am Oberarm dessen zu schnelles Wachstum und am Unterarm die Wachstumsbeschleunigung der Elle gegenüber der Speiche. Missverhältnisse von Knochenstumpf und Weichteilmantel. Diese sind vor allem am Oberarm zu beobachten. Hier kann es leicht zu knöchernen Durchspießungen des Hautmantels kommen. Da eine Weichteilreserve gewöhnlich nicht mehr zur Verfügung steht, kann hier das abnorme Wachstum durch eine Stumpfkappenplastik oder eine Winkelosteotomie nach Marquart gestoppt werden.
Sekundäre prothetische Versorgung Kap. 42 Sekundäre allogene Extremitätentransplantation > Eine Transplantation im Bereich der oberen Extremität bei einem Kind wurde bisher noch nicht durchgeführt und stellt derzeit eine Kontraindikation dar.
Die Transplantation bei einem Kind ist grundsätzlich ethisch problematisch, da ein Kind nicht in der Lage ist, die Folgen eines
1157 41.1 · Allgemeines
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⊡ Abb. 41.15 Kindliche Makroreplantation nach suprakondylärer Avulsionsamputation in einer Wäschschleudertrommel bei einem 4-jährigen Jungen. a Schematische Darstellung der Amputationshöhe (aus Berger u. Hierner 2009), b postoperativer röntgenologischer Aspekt, c klinischer Aspekt 2 Tage nach Replantation: temporäre Deckung der Kompartmentspaltung mithilfe von Fremdhaut, d klinischer Aspekt 2 Tage nach Replantation: nach Entfernung der Fremdhaut – es zeigt sich ein gut durchbluteter Wundgrund, e röntgenologischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation, f klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: Wachstumsansicht – eine leichte Verkürzung der linken oberen Extremität im Vergleich zur rechten ist auch klinisch auffällig, g klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: Schulterfunktion, h klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: Ellbogenfunktion, i klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: Fingerstreckung, j klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: Faustschluss, k klinischer Aspekt 4 Jahre nach Replantation: intrinsische Handfunktion
41
1158
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
solchen Eingriffes abzusehen. Zudem ist das Verfahren der Transplantation trotz der zunehmenden Etablierung den experimentellen chirurgischen Verfahren zuzurechnen, da derzeit noch keine gesicherten Langzeitergebnisse vorliegen. Daher sollte und kann eine Entscheidung zu Gunsten einer Transplantation ebenfalls nicht von den Eltern oder Erziehungsberechtigten des Kindes getroffen werden. 41.1.9 Ergebnisse Zur Bewertung der Therapieergebnisse bei subtotaler und totaler Makroamputation an der oberen Extremität nach Replantation bzw. Revaskularisation und primärer Stumpfversorgung mit frühzeitiger prothetischer Versorgung dienen neben der Einheilungsrate nach Replantation, das funktionelle Ergebnis klassifiziert nach Chen (⊡ Tab. 41.3) und die subjektive Ergebnisbewertung durch den Patienten.
Funktionelles Ergebnis Das funktionelle Ergebnis nach Replantation bzw. Revaskularisation ist abhängig von therapiebedingten, patientenbedingten und defektbedingten Faktoren. Neben einer zügigen präklinischen Versorgung und Diagnostik im Schockraum (möglichst kurze Ischämiezeit) hat vor allem die Erfahrung des Replantationsteam einen entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis. Ein zu sparsames Débridement führt beim weniger Erfahrenen oft zur Erhaltung von durchbluteten, aber funktionslosen »warmen Prothesen«. Oft vergessen wird auch die eminent wichtige Bedeutung der postoperativen Nachbehandlung. Nur durch einen intensiven Rehabilitationsprozess (Physiotherapie, Ergotherapie) kann ein optimales Ergebnis erreicht werden. Von größter Bedeutung ist der persönliche Kontakt zwischen Rehabilitationsteam und Replanteur (Arztbrief nachrichtlich an Rehabilitationsteam). Patientenbedingte Einflussgrößen sind vor allem das (biologische) Alter, der allgemeine Gesundheitszustand (Diabetes, Nikotin etc.) sowie die persönliche Motivation, Intelligenz und Compliance.
Replantation Einheilungsrate Die Einheilungsrate nach Rekonstruktion (Replantation bzw. Revaskularisation) ist abhängig vom Ausmaß der Amputation, der Amputationshöhe, dem Amputationsmechanismus und der Art und Dauer der Ischämiezeit. Die Gesamtüberlebensrate von Makroamputaten bei totaler Amputation wird mit 76–100% und bei subtotaler Amputation mit 89,7–100% angegeben. Abhängig von der Art der Amputationsverletzung beträgt die Überlebensrate bei glattrandiger Schnittverletzung 81,9–94%, bei lokalisierter Quetschverletzung 79,3–90,3%, bei Amputationsverletzungen mit diffuser Quetschung 87%, bei Ausrissverletzungen 68,0–70,2% und bei Explosionsverletzungen 79,9%. Die Einheilungsrate ist zudem von der Art und Dauer der Ischämiezeit abhängig. Bei einer kalten Ischämiezeit über 6 Stunden bzw. einer warmen Ischämiezeit über 4 Stunden wird in der Regel von einer Replantation abgeraten, da durch die ischämische Muskelnekrose die lokale und systemische Komplikationsrate erheblich zunimmt. Es wurden allerdings erfolgreiche Replantationen nach prolongierter Ischämiezeit durchgeführt, so eine Handreplantation nach 54 Stunden sowie Oberarmreplantationen nach 10–14 Stunden kalter Ischämiezeit.
Einflussgrößen auf das funktionelle Ergebnis nach Makroreplantation im Bereich der oberen Extremität
▬ Therapiebedingte Einflussgrößen – Präklinische Versorgung – Erfahrung des Therapieteams ▬ Patientenbedingte Einflussgrößen – (Biologisches) Alter – Allgemeiner Gesundheitszustand – Persönliche Motivation – Intelligenz – Compliance ▬ Defektbedingte Einflussgrößen – Amputationshöhe – Amputationsmechanismus – Amputationsausmaß
Defektbedingte Faktoren sind hauptsächlich die Amputationshöhe, der Amputationsmechanismus und in geringerem Maße das Amputationsausmaß (⊡ Tab. 41.4).
41 ⊡ Tab. 41.3 Klassifikation der Globalfunktion der replantierten oberen Extremität nach Chen Grad
Arbeitsfähigkeit
Gelenkbeweglichkeit
Sensibilität
I
Bisherige Arbeit
Fast normale Gelenkbeweglichkeit Fast normale greifende und nichtgreifende Aktionen
Fast normal
II
Leichte Arbeit
> 40° der normalen Gelenkbeweglichkeit Leicht beeinträchtigte greifende und nichtgreifende Aktionen
Fast normal
Funktionelle Extremität III
Nützlich im täglichen Leben
< 40° der normalen Gelenkbeweglichkeit Stark beeinträchtigte greifende und nichtgreifende Aktionen
Verringerung der Sensibilität im Handbereich, keine trophischen Ulzerationen und/oder Verletzungen
IV
---
Ausgeprägte Gelenkkontrakturen
Fehlende Sensibilität im Handbereich, trophische Ulzerationen und/oder Verletzungen
Nicht-funktionelle Extremität
41
1159 41.1 · Allgemeines
Schulterbereich. Patienten mit subtotaler und totaler Amputation im Schulterbereich sind funktionell vergleichbar mit Verletzten, die eine Läsion des Plexus brachialis erlitten haben. Zusätzlich zur nervalen Schädigung kommt bei den Amputierten auch noch eine Schädigung des muskulären Endorgans hinzu, was die Prognose der zu erzielenden Restfunktion abermals deutlich verschlechtert. Realistische Therapieziele sind die Wiederherstellung einer aktiven thorakohumeralen Zangenfunktion (⊡ Tab. 41.1) sowie einer aktiven Ellenbogenbeugung. Erst die aktive Ellenbogenbeugung ermöglicht die bimanuelle Handfunktion und sollte deshalb primär oder mithilfe sekundärer Ersatzoperationen wiederhergestellt werden. Abhängig von der Verletzungsart kann bei den meisten Patienten mit der Ausbildung einer protektiven Sensibilität in Teilen der Hand gerechnet werden (⊡ Tab. 41.1). Nach Angaben in der Literatur kann eine »funktionelle Extremität« bei dieser Amputationslokalisation in bis zu 27,5% der Fälle erreicht werden (⊡ Tab. 41.4). Im Gegensatz zum Erwachsenen können bei Kindern auch bei Quetschamputationen nützliche Ergebnisse erzielt werden, da eine deutlich bessere nervale Restfunktion resultiert. Mit einem vermeintlich normalen Wachstum kann gerechnet werden, wenn die Ischämiedauer nicht zu lang war (⊡ Tab. 41.1, ⊡ Tab. 41.4).
senen kann ein funktionell nützliches Ergebnis erwartet werden (⊡ Tab. 41.1, ⊡ Tab. 41.4, ⊡ Abb. 41.15).
Ellenbogenbereich. Im Ellenbogenbereich wird das funktionelle Ergebnis hauptsächlich bestimmt durch das Ausmaß der Gelenkbeteiligung, der Muskelschädigung und der Güte der Nervenrekonstruktion ab. Die Therapieziele für den Unterarm-Hand-Bereich entsprechen jenen bei Replantation im proximalen Unterarmdrittel (⊡ Tab. 41.1, ⊡ Tab. 41.4, ⊡ Abb. 41.16) Proximaler Unterarm. Für den proximalen Unterarmbereich hängt das funktionelle Ergebnis hauptsächlich vom Erhaltungszustand der Muskulatur (proximales Drittel) und der Güte der Nervenrekonstruktion (primäre Naht, Nerventransplantat) ab. Bei der Vielzahl der heute möglichen rekonstruktiven Maßnahmen (Sehnentransfer, mikrovaskuläre Muskelverpflanzung) ist die Replantation in diesem Bereich als gewinnbringend anzusehen. Realistische Therapieziele sind Handgelenk- und Fingerbeugung, sowie protektive Sensibilität im Handbereich. Eine aktive Streckfunktion im Handgelenk- und Fingerbereich und eine statische Zwei-PunktDiskriminationsfähigkeit in Teilen der Hand können ebenfalls bei einigen Patienten erreicht werden (⊡ Tab. 41.1). Eine »funktionelle Extremität« kann laut vorliegender Literatur in etwa 41% wiederhergestellt werden (⊡ Tab. 41.1, ⊡ Tab. 41.4, ⊡ Abb. 41.17).
Oberarm. Beim Erwachsenen zeigen Patienten mit inkompletter oder kompletter Oberarmamputation nach Rekonstruktion eine etwas bessere funktionelle Prognose. Eine aktive Ellenbogenbeugung mit protektiver Sensibilität in Teilen der Hand stellt ein realistisches Therapieziel dar (⊡ Tab. 41.1). Eine aktive Handfunktion entsprechend oder besser als jene einer aktiven Prothese kann bei einigen Patienten erreicht werden, ist jedoch unsicher vorherzusagen. Die vom N. radialis versorgten Muskeln zeigen die schlechteste Regeneration, während die vom N. medianus versorgten tiefen Fingerflexoren die beste Regeneration bieten. Nach Literaturangaben kann eine »funktionelle Extremität« in bis zu 34% der Fälle rekonstruiert werden (s. oben). Bei Kindern und jungen Erwach-
Distaler Unterarm. Therapieziele der Rekonstruktion im distalen Unteram- und Handgelenkbereich sind aktive Beugung und Streckung im Handgelenk- und Fingerbereich, Wiederherstellung der Oppositionsfähigkeit des Daumens, sowie statische ZweiPunkte-Diskriminationsfähigkeit zumindest in Teilen der Hand (⊡ Tab. 41.1). Bei wiedererlangter Grobgrifffunktion der Hand ist mit einem Kraftverlust von 20–55% verglichen mit der nicht verletzten Gegenseite zu rechnen. Bei den meisten Patienten kommt es zu keiner Regeneration der intrinsischen Handmuskulatur, wes-
⊡ Tab. 41.4 Funktionelle Ergebnisse nach Makroreplantation in Abhängigkeit von der Amputationshöhe klassifiziert nach Chen Autor
Lokalisation Schulter
Oberarm
Distales Unterarmdrittel
Proximales/mittleres Unterarmdrittel
n
I
II
III
IV
n
I
II
III
IV
n
I
II
III
IV
n
I
II
III
IV
Chen et al. 1981 (n=97)
3
0
0
1
2
26
7
2
17
-
20
2
6
7
5
48
21
17
10
-
Ipsen et al. 1990 (n=23)
8
3
-
4
1
7
3
-
4
-
2
1
-
-
1
6
3
3
-
-
Meyer 1985 (n=8)
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
8
5
2
1
-
Tamai 1982 (n=5)
-
-
-
-
-
5
-
1
3
1
-
-
-
-
-
-
-
-
-
Eigene Ergebnisse (n=25)
-
-
-
-
-
8
-
2
4
2
10
1
2
2
5
7
2
2
2
1
Insgesamt
11
3
-
5
3
46
10
5
28
3
32
4
8
9
11
69
31
24
13
1
(%)
100
27,5
-
45
27,5
100
21
11
61
6
100
13
25
28
34
100
45
35
19
1
Funktionelle Extremität
27,5%
32%
38%
80%
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 41.16 Transartikuläre subtotale Amputation im Ellenbogenbereich. a Schema Amputationsniveau (aus Berger u. Hierner 2009), b röntgenologischer Aspekt präoperativ, c röntgenologischer Aspekt postoperativ, d intraoperativer Aspekt, e postoperativer Aspekt nach Implantation einer Ellbogenprothese, f Funktion 1 Jahr nach Replantation: Ellenbogenstreckung, g Funktion 1 Jahr nach Replantation: Ellenbogenbeugung, h Funktion 1 Jahr nach Replantation: Fingerstreckung, i Funktion 1 Jahr nach Replantation: Faustschluss (Klinischer Fall von R. Friedel)
1161 41.1 · Allgemeines
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⊡ Abb. 41.17 Totale Amputation im proximalen Unterarmbereich bei einem 14-jährigen Jungen (Fundus PHW MH Hannover). a Schema Amputationsniveau, b präoperativer klinischer Aspekt: Amputat, c postoperativer klinischer Befund: Ansicht von palmar, d postoperativer klinischer Befund: ansicht von dorsal, e postoperatives Röntgenergebnis: d.p. Strahlengang, f postoperatives Röntgenbild: lateraler Strahlengang, g Funktion 2 Jahre nach Replantation: Supination, h Funktion 2 Jahre nach Replantation: Pronation, i Funktion 2 Jahre nach Replantation: Handgelenkbeugung, j Funktion 2 Jahre nach Replantation: Handgelenkstreckung, k Funktion 2 Jahre nach Replantation: Fingerstreckung, l Funktion 2 Jahre nach Replantation: Faustschluss
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1162
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 41.18 Subtotale Amputation im distalen Unterarmbereich bei einem 19-jährigen Patienten (Fundus PHW MH Hannover). a Schema Amputationsniveau, b klinischer Aspekt präoperativ, c klinischer Aspekt intraoperativ, d klinischer Aspekt postoperativ, e Röntgenbild postoperativ (d.p. und lateraler Strahlengang), f Funktion 2 Jahre nach Replantation: Supination, g Funktion 2 Jahre nach Replantation: Pronation, h Funktion 2 Jahre nach Replantation: Handgelenksextension, i Funktion 2 Jahre nach Replantation: Handgelenkbeugung, j Funktion 2 Jahre nach Replantation: Fingerstreckung, k Funktion 2 Jahre nach Replantation: Faustschluss, l Funktion 2 Jahre nach Replantation: Daumenopposition, m Funktion 2 Jahre nach Replantation: Funktion der intrinsischen Muskulatur, n Funktion 2 Jahre nach Replantation: Zugübung, o Funktion 2 Jahre nach Replantation: Druckübung
n
o
1163 41.1 · Allgemeines
halb es zu Schwierigkeiten bei feinmechanischen Arbeiten kommen kann. Bei dieser Amputationshöhe erreichen etwa 20% der Patienten eine statische Zwei-Punkte-Diskriminationsfähigkeit von weniger als 8 mm. Bei etwa der Hälfte der Patienten können nach Replantationen im Unterarmbereich gute funktionelle Ergebnisse mit Sensibilität im Medianus- und Ulnarisgebiet (statische ZweiPunkte-Diskrimination 8–12 mm) und befriedigender Bewegungsfunktion erzielt werden. Laut Literaturmitteilungen kann nach Rekonstruktion in diesem Bereich in bis zu 82% eine »funktionelle Extremität« erwartet werden (⊡ Tab. 41.1, ⊡ Tab. 41.4, ⊡ Abb. 41.18). Bezüglich der funktionellen Ergebnisse bezogen auf die Art der Verletzung liegen keine konkreten Daten vor. Hinsichtlich der funktionellen Ergebnisse muss ein noch deutlicher Abfall der Ergebnisse mit zunehmender Traumatisierung (Quetschung, Avulsion) erwartet werden. Angaben über funktionelle Ergebnisse nach Mehretagenamputationen sind rar. Widersprüchliche Angaben liegen über den Einfluss des Amputationsausmaßes (inkomplett versus komplett) vor. Die subjektive Ergebnisbewertung nach Replantation bzw. Revaskularisation zeigt einen hohen Verbundenheitsgrad des Patienten mit seiner rekonstruierten Extremität. An der oberen Extremität ist im Gegensatz zur unteren die sekundäre Nachamputation die absolute Ausnahme.
Stumpfversorgung (mit frühzeitiger prothetischer Versorgung) Prothesen nach traumatischer Amputation im Bereich der oberen Extremität werden von Erwachsenen oft nicht konsequent getragen und akzeptiert. Durch das Fehlen eines Körperteils und das Tragen einer Prothese fühlen sich die Patienten häufig stark in ihren Aktivitäten des täglichen Lebens beeinträchtigt. > Prothesen an der oberen Extremität nach traumatischer Amputation werden von Erwachsenen in nur 20–50% der Fälle getragen.
Nach prothetischer Versorung im Bereich der Schulter können maximal zwei Funktionen (Ellenbogenbeugung, Zusatzfunktion nach Verriegelung der Ellenbogenfunktion) nacheinander durchgeführt werden. Die prothetische Versorgung im Oberarmbereich führt zu keiner Funktionsverbesserung verglichen mit der Versorgung im Schulterbereich, jedoch ist eine bessere Prothesenfixierung möglich. Bei intakter Ellenbogenfunktion resultiert eine signifikante Funktionsverbesserung nach prothetischer Versorgung. Zumindest zwei Funktionen können unabhängig voneinander ausgeführt werden. Durch den Einsatz von myoelektrische Prothesen können Beugung und Streckung sowohl im Handgelenk- als auch Fingerbereich ersetzt werden. Die prothetische Versorgung im distalen Unterarmbereich führt zu keiner signifikanten Funktionsverbesserung verglichen mit dem proximalen Unterarmbereich, gleichwohl ist eine bessere Prothesenfixierung möglich (⊡ Tab. 41.1). > Nach Amputation und prothetischer Versorgung fühlen sich viele Patienten durch das »Fehlen eines Körperteiles« und das »Tragen einer Prothese« psychisch beeinträchtigt.
Allogene Extremitätentransplantation Annahmerate Die Technik der allogenen Extremitätentransplantation unterscheidet sich nur unwesentlich von der operativen Vorgehensweise bei einer Makroreplantation. Bei der Handtransplantation besteht die Möglichkeit die fehlenden und insuffizienten Strukturen am Amputationsstumpf des Patienten mit allogenem Gewebe zu ersetzen.
Im Vergleich zu Replantationen, bei denen sich nach Débridement keine ausreichende Länge von muskulotendinösen Strukturen und besonders von Weichteilen findet, hat man bei Transplantationen einen Überschuss an allen Geweben. Dennoch wurde die erste bahnbrechende Handtransplantation erst im Jahre 1998, also 36 Jahre nach der ersten erfolgreichen Replantation, durchgeführt. Die Transplantationsmediziner fürchteten die starke Immunogenität der Haut, welche eine lebenslange hochdosierte Immuntherapie mit schweren Nebenwirkungen nach sich ziehen würde. Dank großer Fortschritte im Bereich der Immunosuppression können akute Abstoßungsreaktionen effektiv verhindert werden. Allerdings musste die weltweit erste erfolgreich transplantierte Fremdhand nach 29 Monaten wieder amputiert werden, da es in Folge einer Incompliance des Patienten bezüglich der immunsuppressiven Therapie zu einer nicht beherrschbaren Abstoßungsreaktion kam. Bei engmaschiger Kontrolle und Compliance des Patienten können akute Abstoßungsreaktionen allerdings zuverlässig erkannt und behandelt werden.
Funktionelles Ergebnis Durch den traumatischen Verlust einer Extremität kommt es zu einer kortikalen Reorganisation im Bereich des motorischen und somatosensorischen Kortex des Patienten mit konsekutiver Unterrepräsentation der verlorenen Extremität. Nach einer Transplantation muss die fremde Gliedmaße durch Reedukation wieder in das Körperschema integriert werden. Daher muss umgehend nach der Operation mit einem intensiven und strukturierten Rehabilitationsprozess begonnen werden. Oberstes Ziel ist die Wiedererlangung der Motorik und der Sensibilität im Bereich der transplantierten Hand sowie das Überleben des Transplantates. Derzeit fehlen noch Langzeitergebnisse bezüglich der funktionellen Ergebnisse nach Extremitätentransplantation. Die ersten Nachuntersuchungen nach Unterarmtransplantation sind allerdings vielversprechend mit einer guten Regeneration der Motorik und Sensibilität, sodass Aktivitäten des täglichen Lebens wieder von den Patienten selbsttätig durchgeführt werden können. Im Gegensatz zur Unterarmreplantation, bei welcher die extrinsische Muskulatur der Hand direkt durch Aktivierung der intakten proximalen Muskulatur des Empfängers angesteuert werden kann, ist nach einer Oberarmtransplantation in den ersten Monaten keine Benutzung der Unterarmmuskulatur möglich. Daher ist die Funktion der Hand vollständig von der nervalen Reinnervation der Spenderextremität abhängig. Langzeitergebnisse sind abzuwarten. 41.1.10 Sozioökonomische Gesichtspunkte Durch Veränderungen in der Gesundheitspolitik werden Aufwand und Nutzen der Replantationschirurgie im Vergleich zur einfachen Stumpfversorgung immer häufiger hinterfragt. > Durch die erfolgreiche Replantation kommt es zu einer Verringerung der MdE und somit zu einer langfristigen Kosteneinsparung.
Das funktionelle Ergebnis nach aufwendiger und für den Patienten nicht risikofreier Rekonstruktion muss mindestens gleichwertig sein mit dem Resultat nach Stumpfversorgung und prothetischer Versorgung. Bei deutlich kürzerer Operationsdauer durch primäre Stumpfversorgung oder Nachamputation (etwa 1–2 Stunden) verglichen mit der Replantation bzw. Revaskularisation (3–24 Stunden, Durchschnitt 9,5 Stunden, Ipsen et al. 1990; 3–15 Stunden, Durchschnitt 7,5 Stunden, eigene Serie) und deutlich geringerem Opera-
41
1164
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
tionsrisiko kann der Patient nach einem relativ kurzen stationären Aufenthalt (etwa 20 Tage versus 42 Tage, eigene Serie) früh prothetisch versorgt werden. Die Vorteile der schnellen prothetischen Versorgung bestehen in der Frühmobilisation des Patienten mit den günstigen Auswirkungen auf den gesamten Organismus und der schnelleren Überwindung der unmittelbaren Operationsfolgen. Bei insgesamt geringerer Anzahl an notwendigen Sekundäreingriffen (etwa 1–3 versus 2,8–5,6:4–19, Eingriffe Durchschnitt: 4,8 Eingriffe, eigene Serie) besteht in dieser Patientengruppe eine geringere Morbidität und Mortalität. Aufgrund der Verkürzung der stationären Aufenthaltsdauer durch Sekundäreingriffe (Replantation bzw. Revaskularisation: 2–168 Tage, Durchschnitt: 51 Tage, 28–56 Tage, Durchschnitt: 42,3 Tage, eigene Serie), Reduktion der notwendigen ambulanten Kontrolluntersuchungen (Replantation bzw. Revaskularisation: 0–46, Durchschnitt: 13; 4–34, Durchschnitt: 11,7, eigene Serie ) und Verringerung des Aufwandes an Begleittherapie (Replantation bzw. Revaskularisation: 0–60 Monate, Durchschnitt: 12 Monate; kommt es zu einer signifikanten Kosteneinsparung für den stationären und ambulanten Krankenhausbereich. Darüber hinaus kann die soziale Wiedereingliederung früher beginnen. Die durchschnittliche Arbeitsunfähigkeitsdauer nach Amputation von 4–6 Monaten ist deutlich kürzer als jene nach Rekonstruktion mit durchschnittlich 11 Monaten (1–48 Monate; 4–72 Monate, Durchschnitt: 14 Monate, eigene Serie) (⊡ Tab. 41.5). Die Aufzählung der Vorteile der prothetischen Versorgung lässt den Eindruck »problemloser Ersatzfunktionen« unter Hochleistungsbedingungen entstehen. Sorgfältige Nachuntersuchungen zeigen jedoch ein anderes Bild: Zunächst kann bei der notfallmäßigen Stumpfversorgung nicht immer ein »optimaler Stumpf« erreicht werden. Abhängig von der traumatischen Amputationshöhe und der Ausdehnung des Weichteil-Knochen-Schadens sind bei dieser Patientengruppe mehrheitlich Sekundäroperationen zur Stumpfverbesserung notwendig. Chronische Schmerzzustände nach Amputation treten darüber hinaus in 5–10% der Fälle auf. Kälteintoleranz, Hautirritationen sowie Ulzerationen, Schwellneigung, rezidivierende Erysipele, Reduktion der Leistungsfähigkeit und verminderte Akzeptanz durch Behinderung lassen die psychische und soziale Rehabilitation des Patienten teils zum Problem werden. Ein Vergleich der möglichen motorischen Funktionen nach prothetischer Versorgung und Rekonstruktion zeigt, dass mit Ausnahme des Schulterniveaus eine
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durchschnittlich deutlich bessere motorische Funktion nach Replantation bzw. Revaskularisation erwartet werden kann (⊡ Tab. 41.1). Wegen der aufwendigen Steuerung der Einzelfunktionen bei Amputation im Schulter- und Oberarmbereich tragen von diesen Patienten nur wenige ihre Prothese. Als weiterer Nachteil der Amputation ist die psychische Beeinträchtigung durch das »Fehlen eines Körperteiles« und das »Tragen einer Prothese« zu nennen. Dieses Argument ist interkulturell unterschiedlich stark zu bewerten. Der gravierendste Unterschied zwischen Prothese und rekonstruierter Extremität besteht in der Möglichkeit der partiellen Wiederherstellung der Sensibilität im Handbereich. Die, wenn auch deformierte Extremität wird als »eigen erfühlt« und subjektiv weniger störend als ein Amputationsstumpf oder eine Prothese empfunden. > Durch eine erfolgreiche Replantation kommt es zu einer signifikanten Vermehrung der Einzelfunktionen für den Patienten in seinem täglichen Leben (⊡ Tab. 41.1). Durch die erfolgreiche Replantation kommt es zu einer Verringerung der MdE und somit zu einer langfristigen Kosteneinsparung. Mit Ausnahme der Replantationen im distalen Unterarmbereich sind alle Patienten, die einen handwerklichen Beruf haben als funktionell einhändig einzustufen.
41.2
Spezielle Techniken
41.2.1 Technik der Replantation im distalen
Unterarmbereich Bei subtotalen Amputationsverletzungen im distalen Unterarmund Handgelenkbereich führt eine Skelettkürzung von mehr als 4 cm zu einer signifikanten Imbalance zwischen Beuge- und Strecksehnen und damit zu einer eheblichen Beeinträchtigung der globalen Handfunktion.
Dissektion und Identifizierung der neurovaskulären Strukturen, Débridement und Kompartmentspaltung. Die Operation erfolgt in Blutleere. Zuerst müssen alle verfügbaren neurovaskulären Strukturen aufgesucht und markiert werden. Abhängig von der Amputationshöhe und des Verletzungsmechanismus sind hierbei
⊡ Tab. 41.5 Vergleich der Vor- und Nachteile der Replantation und der primären Stumpfversorgung mit früher prothetischer Versorgung. (Aus SchmitNeuerburg et al. 2001) Kriterium
Replanation bzw. Revaskularisation
Primäre Stumpfversorgung + frühzeitige prothetische Versorgung
Operationsdauer
9,5 h
1–2 h
Dauer des stationären Aufenthalts
51 Tage
21 Tage
Durchschnittliche Anzahl der Sekundäroperationen
2,8–5,6
0–1
Durchschnittliche Anzahl der ambulanten Wiedervorstellungen
13
4–7
Dauer der Arbeitsunfähigkeit
11 Monate
4–6 Monat
Dauer der Physiotherapie
12 Monate
4–6 Monate
Medizinische Kosten
Hoch
Gering
Kosten für berufliche Wiedereingliederung
Hoch
Hoch
MdE
Reduziert
Hoch
Kosten für orthetische und/oder prothetische Hilfen
(Ja)
Hoch
1165 41.2 · Spezielle Techniken
eventuell weitreichende Inzisionen im Unterarmbereich notwendig. Prophylaktisch sind im Unterarmbereich das ventrale Kompartment und ggf. das dorsale Kompartment sowie im Handbereich der Karpaltunnel, die Guyon-Loge und die intermetakarpalen Kompartimente zu spalten. Nach radikalem Débridement sollten die Inzisionen – wenn der Weichteilschaden eine genaue Planung der Hautlappen ermöglicht – immer im Sinne mehrerer Z-Plastiken geplant werden, um einen spannungsfreien Verschluss der zirkumferenziellen Amputationsnaht zu erreichen. Im Bereich des Amputats können hierbei entweder radioulnare oder mittig dorsopalmare Inzisionen erfolgen, welche wiederum durch gegenläufige dorsopalmare bzw. radioulnare Inzisionen im Bereich des Stumpfes ergänzt werden.
Arterie (z. B. die A. ulnaris) End-zu-End anastomosiert und eine kurze Blutungsphase toleriert. Anschließend werden die kaliberstärksten Venen (V. cephalica bzw. V. basilica) anastomosiert. Dann erfolgt die Anastomosierung der Vv. comitantes. Insgesamt sollten ca. 4–6 Venen rekonstruiert werden, um eine adäquaten Rückfluss zu erlauben. Jetzt sollte spätestens die A. radialis anastomosiert werden.
Rekonstruktion der muskulotendinösen Strukturen (Sehnen- und Muskelrekonstruktion). Sehnen werden nach Anfrischung End-zu-End adaptiert bzw. je nach Amputationshöhe werden tendomuskuläre bzw. intermuskuläre Durchtrennungen rekonstruiert. Hierbei muss die Balance zwischen Flexoren und Extensoren nach Möglichkeit wiederhergestellt werden.
Osteosynthese im Handgelenkbereich. Das Vorgehen hängt immer davon ab, welche Karpalknochen bzw. Gelenkflächen zerstört sind. Mögliche Verfahren sind die verschiedenen Teilarthrodesen (z. B. mediokarpale Teilarthrodese oder radioskapholunäre Fusion) oder eine Arthrodese des Handgelenks. Das am sichersten und am schnellsten durchführbare Verfahren sollte gewählt werden. Verwendete Materialien sind Kirschner-Drähte, Platten oder der Fixateur externe (⊡ Abb. 41.19).
Osteosynthese im Unterarmbereich. Im Diaphysenbereich empfiehlt sich die Plattenosteosynthese. Bei gelenknahen Frakturen können distale Fragmente mithilfe von Kirschner-Drähten oder einem Fixateur externe versorgt werden. Im proximalen Unterarmbereich kann auf eine Strecke von bis zu 5 cm Knochen reseziert werden, ohne dass es zu einer nennenswerten funktionellen Beeinträchtigung kommt. Im distalen Unterarmbereich hat hingegen eine Skelettkürzung um mehr als 4 cm eine Insuffizienz zwischen Beuge- und Streckmuskulatur zur Folge. Es ist erforderlich die Balance zwischen Extensoren und Flexoren durch entsprechende Verkürzung der Sehnen zu erreichen, um ein optimales funktionelles Ergebnis die Motorik betreffend zu erzielen. Dabei wird die Kaskadenstellung vom Zeige- bis zum Kleinfinger in Betracht gezogen. Weiterhin ist zu beachten, dass jegliche Knochenlängenunterschiede zwischen Radius und Ulna vermieden werden müssen, um einer Alteration im distalen Radioulnargelenk vorzubeugen. Die Membrana interossea sollte ebenfalls wiederhergestellt werden.
Anastomisierung der Gefäße. Die Hauptgefäße mit A. ulnaris und radialis werden unter dem Mikroskop präpariert und zuerst eine
a
b
Nervenkoaptation. Nun müssen alle drei Hauptnerven: der N. medianus, der N. ulnaris und der N. adialis bzw. R. superficialis ni. radialis koaptiert werden. Die Nervennaht sollte interfaszikulär mit einem Monofilamentfaden (z. B. Stärke 10/0) erfolgen und spannungsfrei sein. Wundschluss bzw. Wundbedeckung. Nach exakter Blutstillung erfolgt der Wundverschluss optimalerweise durch eine große Z-Plastik. Bei massivem Wundödem oder unzureichendem Weichteilmantel kann alternativ auch eine offene Verbandbehandlung, EpigardAnlage, Spalthauttransplantation oder ein freier Gewebetransfer zur Deckung vorgenommen werden. Bei Anzeichen einer venösen Stauung muss umgehend die Verbandanlage überprüft werden. 41.2.2 Technik der Replantation im proximalen
Unterarmbereich Im Unterambereich kommt es ebenfalls durch eine Kürzung von bis zu 5 cm zu keiner nennenswerten funktionellen Beeinträchtigung. Bei Unterarmamputationsverletzungen müssen Knochenlängenunterschiede zwischen Radius und Ulna vermieden werden, um eine Alteration im distalen Radioulnargelenk (DRUG) zu vermeiden. In jedem Fall empfiehlt sich die Wiederherstellung der Membrana interossea. Im Diaphysenbereich sollte wenn immer möglich eine Plattenosteosynthese durchgeführt werden. Bei gelenknahen Frakturen können distale Fragmente mithilfe von Drahtcerclagen fixiert werden.
c
d
⊡ Abb. 41.19 Resektion der proximalen Karpalreihe nach Amputation im distalen Unterarmbereich. a Klinischer Aspekt präoperativ (Fundus PHW MH Hannover): Amputat, b postoperatives Röntgenbild: Resektion der proximalen Karpalreihe und Fixierung des Replantats mit Kirschner-Drähten, c postoperativer Aspekt: Ansicht von dorsal, d postoperativer Aspekt: Ansicht von palmar
41
1166
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
41.2.3 Technik der Replantation im Ellenbogenbereich
41.2.4 Technik der Replantation im Schulter- und
Oberarmbereich > Die Beweglichkeit im Ellbogengelenk sollte nach Möglichkeit unbedingt erhalten bleiben.
Dissektion und Identifizierung der neurovaskulären Strukturen, Débridement und Kompartmentspaltung. Die Operation erfolgt in Blutleere. Nach Aufsuchung aller verfügbaren neurovaskulären Strukturen werden diese markiert und die Kompartimente im Bereich des Unterarmes und der Hand gespalten ( Kap. 48). Wenn immer möglich sollte die Gelenkfunktion erhalten werden. Das Débridement allen minderperfundierten und geschädigten Gewebes ist in üblicher Radikalität vorzunehmen.
Osteosynthese. Die Gelenkrekonstruktion erfolgt mit Platten und Drähten. Eine temporäre Ruhigstellung mit Fixateur externe ist in aller Regel indiziert. Besteht keine Möglichkeit der Gelenkrekonstruktion im Ellbogenbereich, kann entweder eine (sekundäre) Arthroplastik oder eine Arthrodese durchgeführt werden. > Bei der Arthrodese sind 2 Stellungen zu unterscheiden: Für den Gebrauch nah am Körper sollte der Ellbogen in 90° Beugung und leichter Supination, für den körperfernen Gebrauch in 70–90° Beugung und leichter Pronation verblockt werden (⊡ Abb. 41.20). Bei guter Weichteildeckung sollte eine Plattenosteosynthese als Arthrodeseverfahren gewählt werden.
Anastomisierung der Gefäße. Das Hauptgefäß, die A. brachialis, wird unter dem Mikroskop präpariert, End-zu-End anastomosiert und eine kurze Blutungsphase toleriert. Anschließend werden die superfiziellen und tiefen Venen anastomosiert. Insgesamt 3 adäquat rekonstruierte und kaliberstarke Venen erlauben in der Regel einen guten venösen Rückfluss.
Muskel bzw. Sehnenadaptation. Sehnen werden nach Anfrischung End-zu-End adaptiert bzw. es werden je nach Amputationshöhe tendomuskuläre bzw. intermuskuläre Durchtrennungen rekonstruiert. Die Sehne des M. triceps muss bei Durchtrennung am Olekranon sowie die Sehne des M. bicpes brachii an der Ulna refixiert werden. Nervenkoaptation und Wundschluss bzw. Wundbedeckung ( Abschn. 42.2.1)
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Im Oberarmbereich kann eine Verkürzung von 9–15 cm ohne Funktionseinbuße durchgeführt werden. Auf das kosmetische Ergebnis ist bei Frauen und einigen Volksgruppen vermehrt zu achten. > Plexusausriss bzw. Plexusschaden!
Dissektion und Identifizierung der neurovaskulären Strukturen, Débridement und Kompartmentspaltung. Die Operation erfolgt in Blutleere. Nach Aufsuchung aller verfügbaren neurovaskulären Strukturen werden diese markiert und die Kompartimente im Bereich des Oberarmes medialseitig und im Unterarm- und Handbereich gespalten ( Kap. 48). Avitales Gewebe wird radikal débridiert.
Osteosynthese. Der Humerus wird in der Regel mittels Plattenosteosynthese stabilisiert. Im Oberarmbereich kann eine Verkürzung von 9-15 cm ohne Funktionseinbuße durchgeführt werden. Das kosmetische Ergebnis muss hierbei allerdings mit berücksichtigt werden. Bei gelenknahen Oberarmamputationen müssen 2 Platten eingebracht werden, um eine ausreichende Stabilität zu erzielen. Alternativ können hier intramedulläre Implantate eingesetzt werden.
Anastomisierung der Gefäße, Muskel- bzw. Sehnenadaptation. Auf die Rekonstruktion der Ellenbogenbeuger ist unbedingt zu achten. Bei gleichzeitig bestehendem ventralem Haut-MuskelDefekt kann eine gestielte funktionelle myokutane Latissimusdorsi-Lappenplastik in der Technik nach Zancolli/Mitre ( Kap. 53) primär oder besser im Rahmen der »urgence différée« 24–72 Stunden später durchgeführt werden. Für die funktionelle Wiederherstellung gelten die gleichen Therapieprinzipien und Therapiemöglichkeiten wie für Patienten mit einer kompletten Läsion des Plexus brachialis ( Kap. 53).
Nervenkoaptation. Die drei Hauptnerven mit Nn. medianus, ulnaris und radialis sollten rekonstruiert werden. Bei einem Plexusschaden gelten für die funktionelle Wiederherstellung die gleichen Therapieprinzipien und Therapiemöglichkeiten wie für Patienten mit einer kompletten Läsion des Plexus brachialis.
Wundschluss bzw. Wundbedeckung. Bei gleichzeitig bestehendem ventralem Hautmuskeldefekt kann eine gestielte, funktionelle, myokutane Latissimus-dorsi-Lappenplastik primär durchgeführt werden. 41.2.5 Technik der Versorgung der
Mehretagenamputationsverletzung Auch bei der Mehretagenamputationsverletzung sollte, wenn eine Replantation mit geringem Risiko möglich ist und vom Patienten gewünscht wird, eine Replantation durchgeführt werden. In der Literatur sind nur wenige Angaben über derartige Verletzungen zu finden. > Jeder Funktionsgewinn durch Replantation eines funktions⊡ Abb. 41.20 Arthrodese im Ellenbogenbereich nach transartikulärer Amputationsverletzung in 70° Beugung und leichter Pronationsstellung (Fundus PHW MH Hannover)
tüchtigen Handanteils ist für den Patienten ein deutlicher Gewinn, da zumindest eine Grobgreiffunktion wiedergewonnen werden kann und der Patient somit zumindest eine Hilfshand für höhere bimanuelle Tätigkeiten hat.
1167 41.2 · Spezielle Techniken
Operationstechnisch ist so vorzugehen, als ob es sich um zwei voneinander getrennte Replantationen handelt. Die operativen Schritte entsprechen den zuvor für die unterschiedlichen Amputationsniveaus beschriebenen. Zuerst wird der körpernahe Amputatteil replantiert. Bei guter Perfusion dieses Anteils erfolgt die Replantation des körperfernen Amputats. Es ist darauf zu achten, dass durch Manipulationen an dem zuvor replantierten proximalen Amputat die Durchblutung beeinträchtigt werden kann. > Bei Makroamputationsverletzungen ist vor allem auf die Möglichkeiten der sekundären funktionsverbessernden Maßnahmen hinzuweisen ( Abschn. 58.2.3).
41.2.6 Technik der Versorgung der bilateralen
Amputationsverletzung Folgende Besonderheiten sind bei der bilateraler Amputationsverletzung zu beachten. Wenn immer möglich sollte eine bilaterale normotope Replantation durchgeführt werden. Fehlt die Möglichkeit einer ispilateralen normotopen Replantation, sollte unbedingt an die Möglichkeit einer kontralateralen oder Cross-over-Replantation gedacht werden. Lassen sowohl Amputat als auch Amputationsstumpf eine kontralaterale (Cross-over-) Replantation zu, sollte diese unbedingt – wenn möglich nach eingehendem Gespräch mit dem Patienten – durchgeführt werden, da dadurch wenigstens eine »funktionelle Extremität« rekonstruiert werden kann. Vom psychologischen Standpunkt aus erscheint es für den Patienten günstiger wenigstens eine Extremität, wenn auch mit der falschen Hand zu erhalten (⊡ Abb. 41.21). 41.2.7 Technik der Exartikulation im
Handgelenkbereich > Wenn immer möglich sollte im Bereich des Unterarmes – im Gegensatz zum Unterschenkel – der Amputationsstumpf so lange wie möglich belassen werden. Der Vorteil einer Exartikulation gegenüber einer weiter proximal gelegenen Unterarmamputation liegt in der Erhaltung des distalen Radioulnargelenks mit voller Erhaltung der Pro- und Supinationsfähigkeit.
Durch die Silikontechnik kann eine funktionell einwandfreie Verbindung zwischen Amputationsstumpf und Prothese erreicht werden. Im Wachstumsalter ist es darüber hinaus wichtig die distalen Epiphysenfugen zu erhalten.
Exartikulation und primäre Stumpfbildung im Bereich des Handgelenks. Die Exartikulation ist in Oberarmblutleere durchzuführen. Bei ausreichenden Weichteilverhältnissen sollte ein langer palmarer sowie ein kurzer dorsaler Lappen gewählt werden, um eine ausreichende Deckung im Bereich des distalen Radioulnargelenks zu erreichen. Bei fehlender Weichteildeckung muss an dieser Stelle entschieden werden, ob ein mikrochirurgischer Transfer zur Weichteildeckung oder eine weiter proximal gelegene Unterarmamputation indiziert ist. Die Blutgefäße müssen angefangen bei den Hautptgefäßen mit Aa. ulnaris et radialis ligiert werden. Die Aa. interossea anterior et posterior können ggf. kauterisiert werden. Um Schmerzen durch ungünstige Lage von Neuromen zu vermeiden, sollten die Nervenhauptstämme möglichst tief im Weichteilgewebe versenkt werden. Das Verfahren der Wahl ist hierbei die Traktion nach distal und die Absetzung der Nerven durch einfachen Scherenschlag. Alternativ kann auch weiter pro-
ximal eine longitudinale Inzision zwischen dem M. pronator teres und dem M. brachioradialis durchgeführt und hier die Nerven abgesetzt werden. Bei Patienten, welche für eine sekundäre allogene Handtransplantation in Frage kommen, sollten die Nerven so weit distal wie möglich erhalten werden (⊡ Abb. 41.22). > Bei jeder Stumpfversorgung im Handgelenk- und Unterarmbereich muss an die Möglichkeit einer sekundären allogenen Transplantation gedacht werden.
Die wichtigsten zu durchtrennenden Nervenstrukturen sind hierbei der Ramus superficialis ni. radialis, der R. dorsalis ni. ulnaris und der N. medianus. Weiterhin sollte der häufig prominente N. cutaneus antebrachii lateralis und bei Identifikation der N. cutaneus antebrachii medialis abgesetzt werden. Die Sehnen werden ebenfalls auf Zug durchtrennt, sodass sie nach distal retrahieren können. Nun kann die Exartikulation durch zirkumferenzielle Dissektion und Durchtrennung der radiokarpalen Kapsel- und Bandstrukturen erfolgen. Hierbei muss das Gelenk samt knorpeliger Anteile und Discus triangularis geschont werden, um jeglichen Schaden im Bereich des distalen Radiokulnargelenks zu vermeiden. Die Processus styloidei sollten nicht komplett abgetragen, sondern lediglich abgerundet werden, da diese meist vorteilhaft in der Prothesenanpassung verwendet werden kann. Im Wachstumsalter müssen die distalen Epiphysenfugen erhalten werden. Nach spannungsfreiem Verschluss der beiden Lappen und guter Abpolsterung der knöchernen Strukturen kommt die Narbe dorsal zum Liegen. 41.2.8 Technik der primären Stumpfbildung im
Unterarmbereich Ist eine Exartikulation im Handgelenk nicht möglich, ist die Amputation im Unterarmbereich indiziert. Hier können vier unterschiedliche Amputationshöhen unterschieden werden: lang, mittellang, kurz und ultrakurz (⊡ Abb. 41.23). Mit jeder Kürzung verliert der Stumpf Kraft, Hebelarmwirkung, Oberfläche und Muskelvolumen, die für die Haftung der Prothese wichtig sind. Ferner büßt er mit jeder Kürzung Pro- und Supinationskapazität ein. Je länger der Stumpf, desto besser die Restfunktion mit und ohne Prothese und desto größer die Möglichkeiten der prothetischen Versorgung. Kurzer und ultrakurzer Unterarmstumpf sind für die prothetische Versorgung wichtig und daher in der gegebenen Läge zu erhalten (⊡ Abb. 41.24, ⊡ Tab. 41.6). Die Operationstechnik ist am Unterarm unabhängig von der Stumpflänge in allen Höhen nahezu gleich. Deswegen werden die Versorgungen langer, mittlerer und kurzer Unterarmstümpfe gemeinsam abgehandelt; auf Besonderheiten wird hingewiesen. Die Operation erfolgt in Rückenlage, der betroffene Arm wird auf dem Armtisch ausgelagert. Ab dieser Höhe empfiehlt sich bei Ausschluss von Kontraindikationen die Verwendung einer Blutsperre. Bei der Wahl der Inzisionslinien ist die Formgebung des Unterarmes zu beachten: Distal sind kaum muskuläre Anteile zur Lappenbildung vorhanden, Radius und Ulna weisen einen hohen Querschnitt auf. Im mittleren und proximalen Drittel befindet sich die größte Muskelmasse, die beiden Unterarmknochen haben einen geringeren Querschnitt. Die Muskelverteilung (palmar/dorsal) lässt nicht immer die prinzipiell zu bevorzugende Bildung eines palmar längeren Hautlapppens zu. Die Inzisionslinien sind bevorzugt asymmetrisch (palmar länger als dorsal), aber gleichmäßig bogenförmig über die Dorsal- und Palmarseite geführt. Der Scheitel der Inzision liegt radial und ulnar. Nach dem Débridement wird nach Möglichkeit ein anteriorer und ein posteriorer Lappen gleicher Länge nach
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
b
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⊡ Abb. 41.21 a–n Heterotope Cross-over-Replantation nach bilateraler Handamputation (PHW MHHannover). a Schema: Patientenlage bei Verletzung. b,c Klinischer Aspekt präoperativ. b Amputat rechts, c Amputat links. d,e Klinischer Aspekt intraoperativ. d Für die Replantation vorbereitete unversehrte rechte Hand, e für die Replantation vorbereiteter linker Amputationsstumpf. f Schema: mikrochirurgische Gefäß- und Nervenanschlüsse
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⊡ Abb. 41.21 a–n Heterotope Cross-over-Replantation nach bilateraler Handamputation (PHW MHHannover). g,h Klinischer Aspekt postoperativ. g Ansicht von palmar, h Ansicht von dorsal. i Röntgen postoperativ. j–n Funktion ein Jahr nach Replantation. j Fingerstreckung, k Faustschluss, l Grobgriff, m Feingriff, n Stumpfversorgung im Bereich des rechten Oberarms, Cross-over-Replantation im Bereich der linken Hand
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
bogenförmiger Inzision disseziert und die oberflächlichen Venen und Hautnerven ligiert bzw. abgesetzt (⊡ Abb. 41.24). Das Weichteilgewebe wird nach proximal zurückgeschlagen um den Knochen zu exponieren. Die Durchtrennung der Knochen und des Periosts erfolgt möglichst gleichzeitig und auf gleicher Höhe. Während des Vorganges sollte das Sägeblatt mit Kochsalz berieselt und das Knochenmehl durch Spülung gründlich entfernt werden. Die Membrana interossea ist bis zum knöchernen Stumpf zu erhalten. Die vier Unterarmgefäße (Aa. radialis, ulnaris, interossea anterior und posterior) müssen jetzt spätestens aufgesucht und ligiert bzw. kauterisiert werden. Die drei Hauptstämme der Nerven sollten unter Traktion durchtrennt werden, sodass die retrahierten Stümpfe ausreichend
mit Weichteilgewebe bedeckt sind. Alternativ kann auch hier ein proximaler longitudinaler Schnitt zwischen den Mm. brachioradialis und pronator teres durchgeführt und die Nerven auf diesem Niveau durchtrennt werden, um eine schmerzhafte distale Neurombildung zu vermeiden. Die Sehnen der Flexoren und Extensoren werden durchtrennt und nach Möglichkeit im Sinne einer Myodese transossär verankert, um einer Inaktivitätsatrophie entgegenzuwirken. Die abschließende Form des weit distalen Unterarmstumpfes ist birnenförmig und wird mit abnehmender Länge immer konischer. Kann der Stumpf aufgrund eines ausgedehnten Weichteilschadens nicht primär verschlossen werden, so muss entweder eine weitere Knochenkürzung, ein temporärer Wundverschluss – entweder offen, mit Epigard oder mit einer Vakuumversiegelung – oder ein direkter mikrochirurgischer Lappentransfer, welcher nach Möglichkeit vom Amputat gewonnen werden sollte, erfolgen.
Primäre Stumpfbildung im Bereich des proximalen Unterarmes. Das Vorgehen bei der Stumpfbildung im proximalen Una
b
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⊡ Abb. 41.22 Technik der Exartikulation im Handgelenk. a Planung der Hautinzision (aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972), b postoperativer Aspekt nach Abrundung der Proc. styloideii radii et ulnaris
⊡ Abb. 41.23 Amputationshöhen im Unterarmbereich. Mit jeder Kürzung verliert der Stumpf an Kraft, Hebelarmwirkung, Oberfläche und Muskelvolumen, die für die Haftung und Führung der Prothese wichtig sind. Ferner büßt er mit jeder Kürzung an Pronations- und Supinationskapazität ein. Der lange Stumpf ist birnenförmig, der mittlere ist zylindrisch, der kurze konisch. Kurzer und ultrakurzer Unterarmstumpf sind gleichwohl für jede prothetische Versorgung wichtig und daher in der gegebenen Länge zu erhalten. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
⊡ Tab. 41.6 Stumpfqualitäten an Hand und Unterarm. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001) Funktion
Exartikulation im Handgelenk
Amputation in Mitte Unterarm
Distale Wachstumsfugen
Bleiben erhalten
Gehen verloren
Hebelarm
100%
50%
Pro-/Supination
100%
30%
Form
Birnenförmig
Zylindrisch oder konisch
Auf Unterarm beschränkt
Ellbogen übergreifend
Prothesenschaft
Prothesenversorgung
Schwierig
Einfach
Umwandlung in KruckenbergPlastik
Möglich
Nicht mehr möglich Eine Kruckenberg-Plastik ist auch bei Substanzverlust noch möglich, die Effektivität jedoch vermindert; auch bei einem »kurzen« Kruckenberg-Arm bleibt der Vorteil der Sensibilität erhalten
1171 41.2 · Spezielle Techniken
terarmbereich ist in seinem Ablauf der distalen Unterarmstumpfversorgung ähnlich. Daher soll nur auf die Besonderheiten eingegangen werden. > Die Funktion des Ellbogengelenks mit Beugung und Streckung sollte maximal erhalten oder rekonstruiert werden.
Im proximalen Unterarm ist eine wesentlich größere Muskelmasse vorhanden und daher muss die Lappendeckung abhängig von
a
der muskulären Verteilung erfolgen. Die Inzisionslinien verlaufen hier ebenfalls bogenförmig streck- und beugeseitig. Bei fehlendem Weichteilgewebe sollte jede Kürzung des Knochens vermieden werden, um die Funktionalität im Ellbogengelenk zu erhalten, und die Deckung mit einem freien Lappen angestrebt werden. Der Erhalt der Länge bietet zudem Vorteile bei der anschließenden prothetischen Versorgung. Um die volle Beuge- und Streckfähigkeit des Ellbogengelenks zu erhalten, sollten nach Möglichkeit die Mm. brachialis, biceps, triceps, pronator teres und anconeus in ihrer Gänze erhalten bleiben. Zudem verbleibt durch den M. pronator teres eine eingeschränkte Pronationsfähigkeit und durch den M. biceps brachii und den M. supinator eine eingeschränkte Supinationsfähigkeit im Unterarm erhalten. Alternativ zur Myodese mit transossärer Fixation können die Muskeln auch durch eine Antagonistennaht vereinigt werden. Bei einer ultrakurzen Amputation ist unter Umständen eine Verlagerung des Bizepsansatzes indiziert. 41.2.9 Technik der primären Stumpfbildung
im Ellenbogenbereich > Im Ellenbogenbereich sollte alles unternommen werden, dieb
c
d
e ⊡ Abb. 41.24 Operative Schritte der Unterarmamputation. a Planung des Hautschnittes (Zirkelschnitt), b Zirkelschnitt mit Lappenbildung, c Bildung und Zurückschlagen von zwei Haut-Muskel-Lappen, d Durchtrennung der Membrana interossea, die Weichteile werden mit einem Gasezügel zurückgehalten, e Durchsägen von Radius und Ulna
ses Gelenk zu erhalten. Ein in Rechtwinkelstellung versteifter Ellenbogen ist mehr wert als die Exartikulation, weil der Amputierte nach wie vor beide Ellenbogen symmetrisch auf der Tischplatte aufstützen kann.
Kann das Ellenbogengelenk nicht erhalten werden, bietet sich als nächste Höhe die Exartikulation im Ellenbogen oder die transkondyläre Amputation an. Dank der Anatomie des Humerusendes ermöglichen diese beiden Amputationsformen die sichere und rotationsstabile Verankerung der Prothese am Stumpf allein. Die Beweglichkeit der Schulter wird daher durch keinen Prothesenschaft beeinträchtigt, es besteht eine bessere Kosmetik und Komfort. Das markante Profil des Humerusendes und das weitgehende Fehlen von Muskulatur zur Stumpfdeckung erfordern, ähnlich wie am Handgelenk, ein Abrunden vorspringender Knochen, also der Kondylen und der Trochlea. Dabei sollten, wenn möglich, die an den Epikondylen entspringenden Muskeln für die Stumpfdeckung erhalten bleiben. Bei Kindern gilt es außerdem, die Wachstumsfugen zu erhalten (⊡ Abb. 41.25a). Die Operation erfolgt in Rückenlage des Patienten und in Blutsperre. Je nach zugrunde liegender Weichteilsituation wird entweder ein dorsaler oder ventraler Zugangsweg gewählt. In der Regel ist der ventrale Zugang vorzuziehen, da die A. brachialis samt Begleitvenen rasch identifiziert und ligiert werden kann. Die Höhe der klassischen Inzisionslinie verläuft dabei etwa einen Querfinger unterhalb der Epikondylen U-förmig nach distal zur Bildung eines volaren Lappens. Die Nn. cutaneii brachialis medialis et antebrachialis medialis sowie der N. medianus und N. ulnaris werden unter Traktion abgesetzt. Nach Durchtrennung der Mm. biceps brachii und brachialis wird das Gelenk eröffnet und der N. cutaneus antebrachii lateralis abgesetzt. Nach Durchtrennung des M. brachioradialis können auch der N. radialis und anschließend die Extensorenmuskulatur durchtrennt werden. Die ventralen Kapselstrukturen werden inzidiert, die Seitenbänder desinseriert und das Gelenk nach Hyperextension luxiert. Der dorsale Lappen wird auf gleicher Höhe wie der ventrale Lappen unterhalb des Olekranon durchtrennt. Nach Lösung der dorsalen Kapsel wird der Trizepsansatz nahe am Olekranon abgesetzt und der Unterarm exartikuliert. Das markante Profil des Humerusendes und das weitgehende Fehlen von Muskulatur zur Stumpfdeckung erfordern – ähnlich wie am Handgelenk – das Abrunden der
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
e transkondyläre n Amputation Exartikulation im Ellenbogen
a1
a2
c
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b ⊡ Abb. 41.25 Operative Schritte der Stumpfbildung im Ellenbogenbereich. a Schematische Darstellung der knöchernen Amputationslinie bei a1 Exartikulation im Ellenbogenbereich, a2 transkondylärer Amputation im Ellenbogenbereich, b Hautschnitte zur Exartikulation im Ellenbogengelenk, c Exartikulation: Ein großer dorsaler Hautlappen ist nach proximal gezogen, die Gelenkkapsel ist nach radial eröffnet, der Schnitt führt weiter um das Olekranon herum. d Exartikulation: Die Gelenkkapsel und die Muskulatur sind radial, dorsal und ulnar durchschnitten, mit einem Amputationsmesser werden vom Gelenk her die Weichteile der Beugeseite durchtrennt
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vorspringenden Kondylen sowie der Trochlea (⊡ Abb. 41.25). Dabei sollten nach Möglichkeit die an den Epikondylen enstpringenden Muskeln für die Stumpfdeckung erhalten werden. Bei Kindern ist auf den Erhalt der Wachstumsfugen zu achten. Die Muskeln des Oberarmes werden durch Antagonistennähte vereinigt. Je nach Weichteilsituation ist es eventuell auch ratsam transkondylär zu resezieren. Alternativ kann die Deckung mit einem freien Lappen angezeigt sein, welcher möglichst aus Teilen des Amputats gewonnen werden sollte. Beim Wundverschluss sollte der dorsale muskelstarke Lappen in die Belastungszone eingenäht werden. 41.2.10 Technik der primären Stumpfbildung im
Oberarmbereich Ist eine Exartikulation im Ellbogengelenk nicht möglich, ist die (transhumerale) Amputation im Oberarmbereich indiziert. Hier können vier unterschiedliche Amputationshöhen unterschieden werden; transkondyläre, suprakondyläre, diaphysäre und subkapi-
tale (⊡ Abb. 41.26). Mit dem Verlust des Ellenbogens erhöht sich der Grad der Behinderung mit jeder weiteren Kürzung ganz erheblich. In gleichem Maß sinkt die Akzeptanz für Prothesen im Allgemeinen und für die aktiv bewegliche Prothese im Besonderen. Nach Verlust beider Ellenbogen bleiben amputierte zeitlebens auf fremde Hilfe angewiesen, vor allem wenn die beiden Stumpfspitzen einander nicht mehr berühren können. Je kürzer der Stumpf umso stärker wird das Muskelgleichgewicht gestört. Er weicht ab in Abduktion (M. deltoideus) und Flexion (M. coracobrachialis, kurzer Kopf M. bizeps). Ist eine transkondyläre Amputation nicht möglich, erfolgt als nächstes die (möglichst lange) transhumerale Amputation. Aufgrund der reichlich vorhandenen Muskulatur im Verhältnis zum Knochen, kommt es leicht zu einem instabilen oder »schwimmenden« Stumpf, was die präzise Führung der Prothese erschwert. Deshalb sollte die Weichteildeckung am Stumpfende nicht zu reichlich bemessen sein. Abhängig von der Knochenlänge können suprakondyläre, diaphysäre und subkapitale Unterformen unterschieden werden. Wenn immer möglich, sollte die lange oder suprakondyläre Absetzungslinie gewählt werden. Ist diese nicht möglich, wird als
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0–1cm 70–90° 4–6cm
mögliche Amputationshöhe 90–85°
⊡ Abb. 41.27 Winkelosteotomie nach Marquart
⊡ Abb. 41.26 Amputationshöhen im Oberarmbereich
Nächstes die diaphysäre Absetzungslinie gewählt. Die Amputation durch die Diaphyse des Humerus erfordert eine zuverlässige und auch drehstabile Verankerung. Ein Übergreifen des Prothesenschaftes auf das Schultergelenk mit entsprechender Einschränkung seiner Beweglichkeit, besonders wenn dazu eine Bandage durch die Achselhöhle der Gegenseite anzulegen ist, ist notwendig. Zur Verbesserung der roationsstabilen Verankerung der Prothese kann durch eine Winkelosteotomie des distalen Humerus nach Marquardt erfolgen. Bei mindestens mittellangen und längeren Humerusstümpfen besteht die Möglichkeit, die distalen 2–3 cm des Knochens durch eine Osteotomie um 90° abzuwinkeln. Dadurch erhält der Humerus die Form eines Hakens oder Schlüssels, an dem der Prothesenschaft rotationssabil verankert werden kann (⊡ Abb. 41.27). Eine Besonderheit ergibt sich im Wachstumsalter. Nach Amputation im Wachstumsalter spitzt sich der Humerus zu, es kann im weiteren Wachstum zu einer Perforation des Hautmantels kommen. Hier hat sich die Stumpfkappenplastik nach Marquart (⊡ Abb. 41.28) bewährt. > Sobald das Wachstum abgeschlossen ist, ist es nicht mehr
⊡ Abb. 41.28 Stumpfkappenplastik nach Marquart
notwendig, das Stumpfende abzudeckeln.
Die Operation erfolgt in Rückenlage des Patienten. Die Operationstechnik ist uniform und unterscheidet sich nur in Bezug auf die anatomischen Veränderungen im Verlauf des Oberarms von subkapital bis zum Ellenbogen. Aufgrund der strengen Zweiteilung der muskulären Kompartimente des Oberarmes müssen symmetrische anteriore und dorsale Hautlappen gebildet werden. Der Winkel der Inzisionslinien zueinander beträgt 50–70°; ungefähr auf Höhe des Scheitels der anterioren und dorsalen Inzision liegt die Amputationslinie des Knochens. Nach Durchtrennung von Haut und Unterhaut-
gewebe sollte die Separierung der Muskulatur unbedingt vermieden werden. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Amputationen der Schulter und des Schultergürtels, bei denen eine sorgfältige Präparation notwendig ist, muss die Bildung des ventralen und dorsalen Muskelstumpfes am Oberarm im Verbund, d. h. mit einem Schnitt erfolgen. Dazu wird das Amputationsmesser von medial nach lateral in Kontakt zum Humerus eingebracht; durch digitale Kontrolle muss gewährleistet sein, dass das Messer ventral des brachialen Gefäßbündels eingebracht wird. Nach Aufladen aller Beuger und Ausrichten
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
a
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⊡ Abb. 41.29 Operative Schritte der transhumeralen Oberarmamputation. a Technik des Durchstichverfahrens: Das Amputationsmesser wird zunächst auf der Beugeseute vor dem Humerus durch die Weichteile gestochen und ein vertikaler großer Haut-Muskel-Lappen gebildet. Sodann wird das Messer an der ursprünglichen Durchstichstelle dorsal des Knochens durch die Weichteile geführt, das Messer gekantet und die Durchtrennung der Streckseite in einer Ebene vorgenommen. Es folgt die Osteotomie des Humerus. b Versorgung der Gefäß-Nerven-Strukturen. c Nach subtiler Blutstillung erfolgt eine lockere Adaptation der Muskelschicht und ein Wundschluss. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
1175 41.2 · Spezielle Techniken
der Klinge parallel zum Hautschnitt wird der Schnitt rasch und ohne Pause vollzogen. In gleicher Weise wird nach Versorgung der Gefäß-Nerven-Bündel und Durchtrennung des Humerus der dorsale Lappen gebildet. Im Anschluss an die Kürzung der Nerven und Konfektionierung der Knochenkanten wird die Myodese mit transossärer Verankerung vorgenommen. Das Schultergelenk muss dabei in Funktionsstellung sein. Die Antagonisten dürfen nicht aus ihrem Verbund herausgelöst werden (⊡ Abb. 41.29).
Subkapitale Amputation. Das nächste Amputationsniveau stellt die subkapitale Amputation (proximale 3–4 cm von Diaphyse und Collum chirurgicum). Diese Stumpflänge ist nicht mehr ausreichend für einen Oberarmprothesenschaft. Die Fläche ist zu klein, der Hebelarm zu kurz. Dennoch wäre es ein Fehler, gleich auf die Exartikulation des Glenohumeralgelenks überzugehen.
bewährt. Bei längeren Stümpfen hätte die Arthrodese alleine zur Folge, dass die Achselhöhle funktionell verkleinert wird und nicht mehr genügen Platz bleibt für den Prothesenschaft. In diesen Fällen hat sich die subkapitale Varisationsosteotomie nach Kuhn und Laumann (⊡ Abb. 41.30) bewährt. Die Operation erfolgt in halb sitzender (Beach-chair-)Lagerung. Dadurch können lagerungsbedingte Verziehungen der Schulterkulisse am besten vermieden werden. Damit ist die Gefahr ungünstig gesetzter Hautinzisionen geringer. Die Schnittführung orientiert sich am Sulcus deltoideopectoralis und zieht an dessen vorderem und distalem Ende in die Axilla. Die Inzision sollte außerhalb des behaarten Hautareals verlaufen und mindestens 2 Querfinger distal der Kontur des M. deltoideus dieser folgen. Analog zur Exartikulation erfolgt das Absetzen des M. pectoralis und die Versorgung der Gefäße und Nerven mit unbedingter Scho-
> Lässt sich vom Humerus auch nur der Kopf erhalten, bedeckt vom M. deltoidue, bleibt die Symmetrie der Silhouette des Schultergürtels weit besser erhalten als nach Exartikulation oder gar Amputation des Schultergürtels. Noch sind keine Polster an Stumpf und Kleidung erfolderlich, um die Symmetrie des Rumpfes zu verbessern.
Die prothetischen Möglichkeiten allerdings sind gleich schlecht wie nach Exartikulation im Glenohumeralgelenk und damit noch bescheidener als die einer Oberarmprothese. Wegen des gestörten Muskelgleichgewichts weicht der Humerusstumpf nach einer subkapitalen Amputation in Abduktion und Flexion ab. Bei ungenügender Weichteildeckung wird das Stumpfende druckempfindlich und behindert die prothetische Versorgung. In diesen Fällen haben sich zwei Therapieverfahren bewährt: Bereits bei der Amputation sollte immer versucht werden, durch eine myoplastische Deckung des Knochenstumpfes durch Refixierung des M. pectoralis major und Vernähung mit dem M. deltoideus, das Muskelungleichgewicht im Stumpfbereich auf ein Minimum zu reduzieren. Bei manifester Fehlstellung des subkapitalen Humerusstumpfes hat sich die Gelnohumeralarthrodese
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⊡ Abb. 41.30 Varisationsosteotomie nach Kuhn und Laumann
⊡ Abb. 41.31 Operative Schritte der subkapitalen Oberarmamputation. a Planung der Hautinzision, b Abpolsterung des Knochenstumpfes mithilfe der umliegenden Muskulatur, c klinischer Aspekt nach Hautschluss
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
nung des N. axillaris. Nach Abtrennung der ventralen Muskulatur wird der Humerus durchtrennt. Bedeutsam ist dabei wie bei allen Osteotomien, dass der Knochen nicht deperiostiert und unter atraumatischen Bedingungen durchtrennt wird. Durch Aufspannen des dorsalen Weichteilmantels wird unter Schonung des M. deltoideus der dorsale Hautlappen gebildet. Um fehlerhafte Inzisionen zu vermeiden und einen perfekten Weichteilmantel zu erhalten, sollte der Stumpf dazu in Funktionsstellung gebracht werden. Auch die myoplastische Deckung des knöchernen Stumpfes muss in Funktionsstellung erfolgen. Unter besonderer Beachtung dieser Forderung ist die antagonistische Verknüpfung von M. triceps mit Mm. biceps et coracobrachialis mit der halbsitzenden Lagerung der Patienten besonders gut zu bewerkstelligen (⊡ Abb. 41.31).
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⊡ Abb. 41.32 Technik der primären Stumpfbildung durch Exartikulation im Glenohumeralbereich
41.2.11 Technik der primären Stumpfbildung durch
Exartikulation im Glenohumeralbereich Die Exartikulation im Gelenohumeralgelenk führ zu einer beträchtlichen Asymmetrie des Rumpfes mit Hochstand des Schulterblattes als Folge fehlender Muskelzüge und auch des Gewichtes des Armes. Die reine Exartikulation ergibt nach Wundheilung und Atrophie der Muskulatur eine unschöne druckempfindliche Prominenz des Akromions. Von der Muskulatur im Schultergelenk und Schulterblatt sollte daher so viel wie möglich erhalten bleiben, um die Gelenkpfanne damit auszufüllen. Vorzugsweise wird die Operation in Rückenlagerung der Patienten mit erhöhtem Oberkörper (Beach-chair-Position) vorge-
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nommen. Die Inzisionslinie beginnt am Processus coracoideus und zieht möglichst lateral des Sulcus deltoideopectoralis in die Achselhöhle; der Schnitt verläuft tief durch die Achselhöhle, um die behaarten Hautanteile möglichst mitzunehmen. Er folgt dann dem Rand des M. deltoideus und trifft am Korakoid wieder auf den Beginn der Inzision. Die Absetzung der Muskulatur beginnt durch Desinsertion am M. pectoralis maior; bei allen weiteren Schritten muss das Augenmerk darauf gerichtet bleiben, später eine gute Füllung der Gelenkpfanne mit spannungsfreier Adaptation der Muskeln erreichen zu können. Zur Versorgung der Axillargefäße empfiehlt es sich, zunächst die Mm. coracobrachialis und bizeps brevis abzusetzen; die Gefäße und Nerven werden mit Ausnahme des N. axillaris anschließend am lateralen Rand des M. pectoralis minor aufgesucht, nach medial präpariert und nach Separation abgesetzt; somit kommen die Stümpfe unter der Kulisse des Muskels zu liegen. Ohne den N. axillaris zu gefährden wird der M. deltoideus möglichst nahe am Humerusschaft durchtrennt. Durch Rotationsmanöver im Schultergelenk kann nun die Kapsel inzidiert und das Schultergelenk zunächst von ventral aus seinem muskulären Verband gelöst werden. Bei der Präparation des M. latissimus dorsi ist der Erhalt des thorakodorsalen Gefäß-Nerven-Bündels zu beachten. Durch Ablösen der Rotatorenmanschette, der Bizepsund Trizepsmuskulatur (Cave: N. axillaris) wird die Exartikulation beendet. Sinnvoll ist nun eine Verkürzungsosteotomie des lateralen Akromions, um abschließend den U-förmigen Hautlappen spannungsfrei einnähen zu können. Die Anteile der ventralen und dorsalen Muskulatur werden spannungsfrei über der Gelenkpfanne vernäht, der M. deltoideus kann dann die adaptierten Muskelstümpfe kappenförmig und spannungsfrei bedecken. Er wird distal an der unteren Kapsel und sparsam an die Mm. latissimus dorsi und pectoralis maior fixiert (⊡ Abb. 41.32). 41.2.12 Technik der interskapulothorakalen
Amputation (»forequater amputation«) Die Absetzung des ganzen Armes samt Schultergürtel (interskapulothorakale Amputation, forequater amputation) ist ein äußerst verstümmelnder Eingriff. Zudem lassen sich Funktion und Kosmetik durch Prothesen nur sehr mangelhaft wiederherstellen. Es ist daher mit allen Mitteln zu versuchen, diesen Eingriff zu ersparen. Der Patient wird in Halbseitenlagerung (Rücken) gebracht. Der Zugang erfolgt von dorsal. Die befundabhängige Schnittführung berücksichtigt die Retraktionsfähigkeit der Haut am Schultergürtel. Sie orientiert sich am Sternoklavikulargelenk; die Inzision zieht zum Akromioklavikulargelenk von dem aus ein Schenkel über die Schulterkappe zum lateralen distalen Skapularand zieht. Der andere Schenkel läuft auf die vordere Axillarlinie zu und durch die Axilla hindurch um sich mit der ersten Inzisionslinie zu verbinden. Nach Präparation des ventralen und dorsalen Hautlappens werden von ventral die Mm. trapezius, pectoralis und latissimus abgesetzt; dabei sollte so viel muskuläres Gewebe wie möglich erhalten werden. Durch Osteotomie der Klavikula wird der Arm samt Schulterblatt nach lateral gehalten, das Bündel aus Subklaviagefäßen und Plexus separiert und amputiert. Die Amputation wird durch Ablösen der medialen Skapula samt Muskulatur (Mm. serratus, rhomboideus, levator) vom Rumpf vollendet (⊡ Abb. 41.33). Eine besondere Variante bei tumorbedingter Indikation zur interskapulothorakalen Amputation stellt die Operation nach Tikhoff-Linberg mit ihren Modifikationen dar. Bei diesem Eingriff werden der Schultergürtel und der proximale Humerus unter Erhalt der armversorgenden Strukturen kompartmentgerecht am-
putiert; der Ersatz des proximalen Anteils des Humerus wird durch Fixation einer Prothese mit Knochenzement im distalen Humerus erreicht. Deren Fixation am Thorax erfolgt am belassenen Klavikulastummel. Damit lassen sich in vielen Fällen, ohne dass Kompromisse gegenüber der Radikalität eingegangen werden müssen, die mit der interskapulothorakalen Amputation verbundenen maximalen Entstellungen vermeiden. Darüber hinaus bewahrt der erhaltene Arm dem Patienten eine weitgehende Funktion des Unterarmes und der Hand; sogar Pendelbewegungen in der Schulter sind möglich (⊡ Abb. 41.34). 41.2.13 Technik der allogenen
Extremitätentransplantation im Unterarmbereich Hautinzisionen im Bereich des Empfängerstumpfes und der Fremdhand. Abhängig von der Amputationshöhe des Empfängers müssen weitreichende Inzisionen im Unterarmbereich vorgenommen werden, um die neurovaskulären Strukturen für die Dissektion zu exponieren. Hierbei werden die Inzisionen nicht direkt über den Gefäß- und Nervenstraßen angelegt, da durch das konsekutive Weichteilödem unter Umständen kein Primärverschluss erreicht werden kann. Um dies zu vermeiden und um die zirkumferenzielle Narbe zu verbreitern, müssen die Inzisionen im Sinne mehrerer großer Z-Plastiken geplant werden. Bei der Transplantation orientiert sich allerdings die Entscheidung, welche Technik angewendet wird, immer an dem bestehenden Narbenprofil und kann im Gegensatz zur Replantation optimal geplant werden. Eine Möglichkeit besteht dabei darin, mittig oberhalb der palmaren und dorsalen Kompartimente Inzisionen zu setzen und damit einen guten Zugang zu Knochen und Gefäß- bzw. Nervenstraßen zu erzielen bei gleichzeitig optimalen Durchblutungsverhältnissen der Hautlappen. Hierbei wird ein Lappen radial und der andere Lappen ulnar gestielt. Als zweite Option können radioulnare Hautinzisionen durchgeführt werden, wodurch ein dorsaler und ein palmarer Lappen gehoben werden können (⊡ Abb. 41.35). Entsprechend der durchgeführten Inzisionen im Allotransplantat müssen korrespondierend die Inzisionen im Empfängerstumpf geplant werden. Im Falle einer radioulnaren Schnittführung im Bereich des Empfängerstumpfes müssen dementsprechend die Inzisionen im Bereich der transplantierten Hand mittig palmar und dorsal gewählt werden, sodass eine Transposition mittels Z-Plastik durchgeführt werden kann. Durch diese Operationstechnik wird nicht nur eine zirkumferenzielle Narbenbildung verhindert, sondern gleichzeitig dem Auftreten von ausgeprägten Lappenödemen in der gesamten postoperativen Akutphase entgegengewirkt.
Dissektion und Identifizierung der neurovaskulären Strukturen. Die Dissektion und Identifizierung aller verfügbaren neurovaskulären Strukturen und Muskel-Sehnen-Stümpfe im Bereich des Empfängerstumpfes und der Fremdhand beginnt im Bereich des Subkutangewebes und wird kontinuerlich bis zu den Knochen fortgesetzt. Die exakte Markierung aller Gefäß- und Nervenstrukturen muss dabei unbedingt zu Beginn der Operation erfolgen und erweist sich zudem im weiteren Operationsverlauf als äußerst zeitund nervensparend, da sich die markierten Strukturen auch in einem blutgetränkten Operationsfeld schnell auffinden lassen. Die Markierung mittels Klemmchen sollte allerdings vermieden werden, da sie im weiteren operativen Verlauf und durch Manipulation leicht verrutschen können. Zudem verursachen sie einen intimalen Schaden und könnten im Laufe der Operation vergessen werden.
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⊡ Abb. 41.33 Technik der interskapulothorakalen Amputation (»forequater amputation«). a 1. Akt: T-förmiger Hautschnitt horizontal über Akromion und Klavikula, vertikal am Innenrand des M. deltoideus. b 2. Akt: Die Klavikula ist knapp am Sternoklavikulargelenk durchtrennt. Mm. subscapularis, pectoralis major et minor sind durchschnitten, der Gefäß-Nerven-Strang ist dargestellt. c 3. Akt: Der Gefäß-Nerven-Strang wird durchtrennt, der Arm ist nach außen rotiert, Mm. Latissimus dorsi und teres major sind durchtrennt
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1179 41.2 · Spezielle Techniken
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M. trapezius M. levator scapulae Mm. rhomboidei
M. serratus anterior
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⊡ Abb. 41.33 Technik der interskapulothorakalen Amputation (»forequater amputation«). d 4. Akt: Unter weiterer Außenrotation werden die Mm. levator scapulae, omohyoideus und serratus anterior durchschnitten. Der angespannte M. trapezius wird vom vertebralen Skapularand abgelöst. e 5. Akt: Rekonstruktion der Muskellappenschicht mit Adaptation der Mm. rhoimboidei an den M. serratus anterior und M. latissimus dorsi an den M. pectoralis major. f Klinischer Aspekt nach primärer Stumpfversorgung: Ansicht von ventral, g klinischer Aspekt nach primärer Stumpfversorgung: Ansicht von lateral. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972 [a–d])
e M. latissimus dorsi
M. pectoralis major
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⊡ Abb. 41.34 Operation nach Tikhoff-Linberg. a Schematische Darstellung der Operation, b klinischer Aspekt 15 Jahre postoperativ, c radiologischer Aspekt 15 Jahre postoperativ: Das primäre eingebrachte allogene Knochentransplantat zum Humerusersatz ist gebrochen und aufgebraucht. d Intraoperativer Aspekt des aufgebrauchten allogenen Knochentransplantats, e intraoperativer Aspekt: gehobenes ipsilaterales vaskularisiertes Fibula-Diaphysen-Transplantat, f Rekonstruktion eines Humeruskopfäquivalents durch Segmentierung des proximalen Fibulaendes (»Double-Barell-Technik«), g Rekonstruktion eines Gelenkkapseläquivalents mithilfe eines nichtresorbierbaren Netzes. Ersatz des fehlendes laterokranialen Weichteilmantels mithilfe einer ipsilateral gestielten myokutanen Latissimus-Dorsi-Lappenplastik, h Aspekt am Ende der Operation, i radiologischer Aspekt postoperativ, j radiologischer Aspekt 1 Jahr postoperativ, k klinischer Aspekt 1 Jahr posttoperativ: Ansicht von frontal, l klinischer Aspekt 1 Jahr posttoperativ: Ansicht von lateral
1181 41.3 · Fehler Gefahren und Komplikationen
⊡ Abb. 41.35 Technik der allogenen Extremitätentransplantation im Unterarmbereich. Im Bereich der transplantierten Hand sind radioulnäre und korrespondierende palmare Inzisionen zu erkennen. Durch Verwendung der palmaren Lappens im Stumpfbereich und des radialen Lappens im Bereich der transplantierten Hand kann die zirkumferenzielle Narbe mittels Z-Plastik verlängert und ein lockerer Wundverschluss erreicht werden. Weiterhin sind die nach proximal oder distal zueinander verschobenen Nahtlinien im Bereich der Beugesehnen zu erkennen, wodurch das Auftreten narbiger Verwachsungen zwischen den Sehnen verhindert werden kann. Die Neuromata der Nn. medianus und ulnaris wurden bereits vollständig disseziert. (Aus Lanzetta u. Dubernard 2007)
Verletzungen an den Muskel- und Sehnenstrukturen sowie der vorhandenen Vernarbungen müssen alle verfügbaren Muskeln und Sehnen funktionsgerecht adaptiert werden. Hierbei sollte wiederum auf eine ausreichende Vorspannung und Balance der Flexoren und Extensoren geachtet werden. Um Adhäsionen der Sehnen zu vermeiden, sollten diese auf verschiedener Höhe mit einer Distanz von distal nach proximal von mindesten 1,5–2 cm vernäht werden. Dies kann bei der Transplantation durch Zuschneiden der Sehnen in die gewünscht Länge erfolgen. Bei Fehlen von Extensoren oder Flexoren sollten Standardtechniken für den funktionellen Muskeltransfer angewendet werden. Nach Erreichen der optimalen Balance müssen die Anastomosen noch einmal auf möglichen Zug oder Kinking überprüft werden. Weiterhin muss die zweite noch nicht reanastomosierte Hauptarterie anastomosiert werden. Außerdem sollten mindestens 2 Vv. comitantes anastomosiert werden. Nun kann die Überlänge der ersten Hauptarterie reseziert und diese unter adäquater Spannung reanastomosiert werden. Insgesamt müssen 1 oder 2 tiefe Venen anastomosiert werden. Weitere superfizielle Venen sollten ebenfalls anastomosiert werden, da eine größere Anzahl großkalibriger Venen den Erfolg der Transplantation wesentlich erhöht. Somit müssen bei 2 reparierten Hauptgefäßen – wie bei der Replantation – insgesamt 4–6 Venen rekonstruiert werden, um einen adäquaten Rückfluss zu erlauben. Im Anschluss werden alle 3 Hauptnerven, der N. medianus, der N. ulnaris und der N. radialis bzw. R. superficialis ni. radialis, koaptiert. Die gesunden Nervenstrukturen werden proximal der Neurome aufgesucht und das jeweilige Neurom komplett disseziert. Hierbei muss speziell bei Avulsionsverletzungen weit nach proximal disseziert werden. Die Nervennaht sollte mit einem 10/0 Monofilamentfaden erfolgen und spannungsfrei sein. Hierbei kann die Nervennaht entweder epineural oder faszikulär ausgeführt werden. Faszikuläre Strukturen sollten allerdings durch wenigstens eine Naht koaptiert werden. Nach exakter Blutstillung müssen die vorgeschnittenen Hautlappen mittels Z- Plastik spannungsfrei eingenäht und die Perfusion hierbei strengstens beachtet werden. Die Verbandanlage erfolgt hierbei wie in Abschn. 41.1.7 bereits beschrieben. Bei jeglichem Verdacht auf eine venöse Abflussstörung muss die Naht eröffnet bzw. die Verbandanlage überprüft werden. 41.2.14 Technik der allogenen Extremitäten-
Technik der Transplantation und Sequenz. Die Operationssequenz variiert geringfügig abhängig von der Amputationshöhe und der zugrunde liegenden Verletzung. Nachdem alle Strukturen präpariert und eine gute Hämostase erreicht wurde, muss die Hand mit »University-of-Wisconsin«-Lösung gespült werden. Der Zugang erfolgt über die A. brachialis. Zur Knochenosteosynthese gelten die bereits in Abschn. 41.1.7 genannte Schritte. Hiernach folgt die Anastomosierung der Gefäße. Die Hauptgefäße mit A. ulnaris und radialis werden unter dem Mikroskop präpariert und zuerst eine Arterie (z. B. die A. ulnaris) Endzu-End anastomosiert und eine kurze Blutungsphase toleriert. Anschließend wird die V. cephalica anastomosiert. Hierdurch werden die funktionellen superfiziellen Venen gut dargestellt. Um den Blutverlust zu minimieren sollte zudem die V. basilica anastomosiert werden. Durch den venösen Rückfluss der transplantierten Hand und der konsekutiven Azidose empfiehlt sich die Gabe von Bikarbonatpufferlösung vor der Öffnung der Venen. Im weiteren Verlauf kann die Sehnen-Muskel-Rekonstruktion ohne Verlängerung der Ischämiezeit begonnen werden. Die Spendersehnen lassen sich hierbei leicht identifizieren. Entsprechend den
transplantation im Oberarmbereich Hier orientiert sich derzeit das technische Vorgehen an der bereits geschilderten Technik zur Oberarmreplantation. 41.3
Fehler Gefahren und Komplikationen
Eine inadäquate Patientenselektion und operative Primärversorgung sowie ungenügende postoperative Physiotherapie und Nachsorge sind die häufigsten Fehler bei Replantationen im Bereich der oberen Extremität. Durch ein standardisiertes Vorgehen bei der Patientenauswahl aufgrund möglichst objektiver Kriterien kann ein optimales Ergebnis erreicht werden. Die technisch einwandfrei durchgeführte Revaskularisation bzw. Replantation lohnt sich für den Patienten aus funktioneller (Reduktion der MdE) und ästhetischer Sicht. Durch den Einsatz von funktionsverbessernden Sekundäroperationen im Rahmen eines »integrativen Therapiekonzeptes« kann in vielen Fällen eine weitere signifikante Ergebnisverbesserung erreicht werden.
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Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
41.3.1
Replantation
Komplikationen nach Replantation können in lokale, das Replantat betreffende und systemische Komplikationen eingeteilt werden (⊡ Tab. 41.7). Zu den lokalen Komplikationen zählt man den akut auftretenden (arteriellen und venösen) Gefäßverschluss, ferner die subakut auftretende lokale Infektion, sowie algodystrophische Syndrome als mögliche Spätkomplikation. Die schwerwiegendste lokale Komplikation stellt der akute arteriovenöse Gefäßverschluss dar. Vaskuläre Komplikationen aufgrund technischer Fehler treten meist innerhalb der ersten 6 postoperativen Tage auf. Spätere »Gefäßkomplikationen« sind verdächtig auf einen Infekt. Die vaskulär bedingte Verlustrate wird mit 5–29% angegeben. Die Häufigkeit von erfolgreich revidierten vaskulären Komplikationen liegt bei 6%. Die Rate von schwerwiegenden lokalen Infekten variiert zwischen 1,5–29%. Gründe für eine Reamputation zu einem späteren Zeitpunkt, meist nach Abschluss der Rehabilitationsphase, sind persistierende funktionelle Beeinträchtigung, Selbstverstümmelung bei fehlender Sensibilität, chronische Entzündungszustände (Osteitis: 4%) und therapieresistente Schmerzen im Bereich des Replantats. In einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten müssen Vor- und Nachteile einer prothetischen Versorgung gegenüber dem gegenwärtigen Zustand evaluiert werden. Erwähnenswert ist, dass Schmerzen im Bereich des Plexus brachialis nur selten durch eine Amputation beseitigt werden können und dass darüber hinaus amputationsbedingte Phantomschmerzen auftreten können. Wie bei der primären Amputation ist auch bei der späten Reamputation der »optimale Stumpf« das therapeutische Ziel. Die Rate der sekundären (späten) Reamputationen ist im Vergleich
zur unteren Extremität niedrig und wird mit 0,7–8% angegeben. Bei etwa 12% aller Patienten ist mit einer Frakturheilungsstörung zu rechnen. Die Häufigkeit von posttraumatischen Fehlstellungen nach subtotaler und totaler Makroreplantation im Bereich der oberen Extremität beträgt etwa 5%. Posttraumatische radioulnare Synostosierung mit Limitierung von Pronation und Supination sind beschrieben. Mit dem Auftreten von Schmerzzuständen im Rahmen eines »pain dysfunction syndrome« als chronisch lokale Komplikationsmöglichkeit nach Großreplantation muss zwischen 3–83,3% der Fälle gerechnet werden. Eine ängstliche Grundhaltung des Patienten führt regelhaft zu einer größeren Beeinträchtigung durch Schmerzen. Postoperative Schwellungszustände des replantierten bzw. revaskularisierten Anteils sind bekannt. Je besser allerdings der venöse Abfluss rekonstruiert wird, desto seltener und weniger ausgeprägt tritt diese lokale Spätkomplikation auf. Eine Kälteintoleranz im rekonstruierten Extremitätenanteil wird in 50–100% der Patienten beschrieben. Kälte scheint bei Kindern nicht zu einer größeren Beeinträchtigung zu führen. Dysästhesien resultierten in 7–56%. Eine als stark eingestufte Kälteintoleranz mit gleichzeitigen Dysästhesien beklagen jedoch nur 8–12% der Patienten. Zu den akuten systemischen Komplikationen zählt man die Crush-Syndrome und das Ischämie-Reperfusions-Syndrom, welche zu Mono-, Oligo- und Multiorganversagen führen können. Die Symptome sind umso deutlicher, je mehr Knochen- und vor allem Muskelgewebe geschädigt ist. Schädigungen im distalen Unterarmbereich führen deshalb seltener zu systemischen Komplikationen als weiter proximal gelegene. Das Risiko eines postoperativen Mono-, Oligo- oder Multiorganversagens (Nieren, Lunge) nach Replantation wird mit 8,3–60% angegeben. Hauptgrund für diese großen Unterschiede dürften neben den unterschiedlich großen
⊡ Tab. 41.7 Möglichkeiten der lokalen und systemischen Komplikationen nach Replantation im Bereich der oberen Extremität. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001 Lokal Amputationsrate
Systemisch 0,7–8%
Mortalität
0–11%
13–29%
1. Crush-Syndrome – Hyperkaliämie (Herzversagen) – Myoglobinämie (Nierenversagen) – Fettembolie (Lungenversagen)
–a
2. Ischämie-Reperfusions-Syndrom (Radikalgeneration) – Mono-, Oligo, Multiorganversagen
8,3%
3. Sepsis
8,3%
Akut
41
1. Gefäßkomplikationen – Primäre (mechanische) Gefäßschädigung Hyperkoaguabilität (= Thrombose) – Sekundäre Gefäßschädigung Radikalgeneration (»no-flow-phenomenon«)
Subakut 2. Wundheilungsstörungen und lokale Infektionen
14–29%
Spätphase 3. Posttraumatische Fehlstellungen
5%
4. Reflex-Dystrophie-Syndrome
3–83%
5. Kälteintoleranz – Leichte Form – Starke Beeinträchtigung
50–100% 8–12%
6. Schwellneigung
–a
7. Späte Reamputation
2,5–8%
a Keine
Angaben gefunden
1183 41.3 · Fehler Gefahren und Komplikationen
Patientenkollektiven vor allem Unterschiede in der intensivmedizinischen Nachbehandlung bei den späteren Serien sein. Realistisch ist das Risiko eines Multiorganversagens nach Großreplantation mit etwa 10–16% anzugeben. Die Letalität nach Makroreplantation an der oberen Extremität wird in neueren Untersuchungen mit 0–11% angegeben. 41.3.2 Primäre Stumpfversorgung mit frühzeitiger
prothetischer Versorgung Nach Probst (2003) können die Komplikationen nach Stumpfversorgung in Frühkomplikationen und Spätkomplikationen eingeteilt werden: Komplikationen nach Stumpfversorgung
▬ Frühkomplikationen – Wundheilungsstörungen – Wundinfektion – Thrombose – Deafferenzierungsschmerzen (»Phantomschmerzen«) ▬ Spätkomplikationen – Hautläsionen – Amputationsneurom – Kronensequester – Chronische Fisteln (Fistelkarzinom) – Kontrakturen – Stumpffrakturen
Systemische und lokale Komplikationen nach primärer Stumpfversorgung bzw. Nachamputation und frühzeitiger prothetischer Versorgung sind selten. Wundheilungsstörungen sind hauptsächlich auf inadäquate Operationstechnik zurückzuführen. Hauptursachen sind das inadäquate Débridement von geschädigtem Gewebe und der Wundschluss unter Spannung. Eine Wundinfektion kann sich auf eine Wundheilungsstörung aufpfropfen. Die Thromboseprophylaxe ist auch beim Amputierten notwendig. An erster Stelle steht die sofortige Mobilisation. Phantomschmerzen nach Amputation treten in 5–10% der Fälle auf. Durch eine frühzeitig einsetzende adäquate multidisziplinäre (Physiotherapie, Neurologie, Anästhesie, Psychologie, Neurochirurgie) Schmerztherapie kann eine deutlich geringere Rate erreicht werden. Verletzungen der Haut an einem Amputationsstumpf, insbesondere durch örtliche Druckeinwirkung, stellen ein Problem für die Prothetik dar. Auch können chronisch infizierte Talgzysten und Haarfollikel Hautläsionen bewirken. Diese Krankheitsherde sind zu exzidieren. Hauttransplantate an Amputationsstümpfen sind nicht voll belastbar. Kommt es im Laufe der Zeit zur Schrumpfung des Stumpfes, können die beschädigten Transplantatbezirke exzidiert und durch benachbarte Haut ersetzt werden. Kronensequester entstehen am Ende eines Amputationsstumpfes bei fehlender oder nicht ausreichender Knochendurchblutung. Hautursache ist hier die Hitzeentwicklung beim Absägen des Knochens. Aufgrund der venösen Stauung in diesem Bereich verursacht der Kronensequester häufig Stumpfschmerzen. Die Therapie besteht in der Sequestrektomie bzw. der Nachamputation. Kontrakturen können an der oberen Extremität verschiedene Ursachen haben: Neben den kutan bedingten Kontrakturen (vor allem Verbrennungen) kommt es durch Muskelzug zu bestimmten Haltungen des Amputations-
stumpfes. Schaftfrakturen können auch an der oberen Extremität auftreten. Immer ist zu bedenken, dass der Amputationsstumpf in aller Regel bereits sowohl anatomisch als auch physiologisch-funktionell einen atrophischen Zustand angenommen hat. Schon jede kürzer dauernde Unterbrechung der Gebrauchsfähigkeit der amputierten Gliedmaße würde einer weiteren, später nicht mehr einholbaren Atrophie Vorschub leisten. Die Versorgung der Stumpffrakturen entspricht den allgemeinen Regeln der Osteosynthese. Betroffen sind sowohl Schulter als auch Ellenbogengelenk, nach partieller Handamputation auch die dislozierten Frakturen des Unterarmschaftes, die die Pronation bzw. Supination behindern. Da die verbleibenden Armgelenke stets die wegen der Amputation ausgefallenen Beweglichkeiten kompensieren müssen, stellt jede Einsteifung einen bleibenden Funktionsverlust dar. Da der Amputationsstumpf nicht statisch belastet wird und der Weichteilmantel auch eine größere Geschmeidigkeit als an der unteren Extremität besitzt, sind die Bedenken gegen Narben am Armstumpf von geringerer Bedeutung. Bei jeder Osteosynthese an Armstümpfen muss darauf geachtet werden, dass erschwerte Durchblutungsverhältnisse vorliegen, auch wenn diese nicht klinisch erkennbar sind. Dementsprechend ist stets von einer höheren Infektionsgefährdung auszugehen und die Behandlung der Weichteile darauf auszurichten. 41.3.3 Sekundäre prothetische Versorgung Kap. 42 Wegen der aufwendigen Steuerung der Einzelfunktionen bei Amputationen im Oberarm und Schulterbereich tragen von diesen Patienten nur wenige ihre Prothese. 41.3.4 Allogene Extremitätentransplantation Die Gefahren und Komplikationen nach allogener Extremitätentransplantation sind in der Akutphase mit denen von replantierten Patienten vergleichbar, mit dem Unterschied, dass die Operation nicht im Rahmen einer Notversorgung, sondern nach ausführlicher Planung unter optimalen Bedingungen ausgeführt wird. Das Risiko besteht also vielmehr darin, dass das Transplantat jederzeit irreversibel abgestoßen werden kann und der Patient lebenslang hochdosiert Immunsuppressiva mit schweren potenziellen Nebenwirkungen einnehmen muss. Die Risiken durch Medikamenteneinnahme sind dabei vergleichbar mit dem Risiko anderer Organtransplantationen wie der Nierentransplantation durch Verwendung ähnlicher medikamentöser Regime ( Abschn. 41.1.7). Diese sind wie folgt: ▬ erhöhte Inzidienz von Malignomen, ▬ »post-transplantat diabetes mellitus« (PTDM), ▬ Nebenwirkungen durch Glukokortikoide (Katarakt, Osteoporose, Hypertension), ▬ opportunistische Infektionen, ▬ Neurotoxizität, ▬ Nephrotoxizität, ▬ gastrointestinale Nebenwirkungen. Das Risiko, ein Malignom zu entwickeln, beträgt ca. 3% innerhalb der ersten 3 Jahre nach Transplantation und ist damit gegenüber der Normalbevölkerung deutlich erhöht. Zudem entwickeln Patienten nach der Transplantation häufig einen insulinabhängigen »post-transplantat diabetes mellitus« (PTDM). Neben den Nebenwirkungen durch die Glukokortikoideinnahme treten durch die
41
1184
Kapitel 41 · Makroamputationsverletzungen im Bereich der oberen Extremität
kontinuierliche Immunsuppression vermehrt opportunistische Infektionen bei den Patienten auf. Häufig beobachtete neuro-, nephrotoxische und gastrointestinale Nebenwirkungen sind meist Folge der spezifischen immunsuppressiven Therapie.
Weiterführende Literatur
41
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41
1187 41.3 · Weiterführende Literatur
Prothetik im Bereich der oberen Extremität Lothar Milde, Arno Schmidt
42.1
Allgemeines – 1188
42.1.1 42.1.2 42.1.3 42.1.4 42.1.5 42.1.6 42.1.7 42.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1188 Epidemiologie – 1189 Ätiologie – 1189 Diagnostik – 1189 Klassifikation – 1189 Indikationen und Differenzialtherapie – 1192 Therapie – 1193 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1198
42.2
Spezielle Techniken
42.2.1 42.2.2 42.2.3 42.2.4 42.2.5 42.2.6 42.2.7
Ästhetisch-funktionelle Finger- und Teilhandprothesen – 1198 Transkarpal- und Handexartikulationsprothesen – 1199 Unterarmprothesen (transradial) – 1200 Ellbogenexartikulationprothesen – 1202 Oberarmprothesen (transhumeral) – 1202 Schulterexartikulationsprothesen – 1204 Gedankengesteuerte Armprothesen – 1205
– 1198
42.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
42.3.1 42.3.2
Patientenrelevanter Versorgungsverlauf – 1205 Umgang mit der Armprothese – 1208
Weiterführende Literatur
– 1205
– 1208
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
42
1188
42.1
Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
Eine Amputation an der oberen Extremität ist ein schicksalhafter Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des betroffenen Menschen und bedeutet einen irreversiblen Verlust. Wichtigstes Behandlungsziel ist eine möglichst weitgehende familiäre, soziale und berufliche Wiedereingliederung. Alle Maßnahmen von der postoperativen Physiotherapie über die Prothesenversorgung bis hin zur Rehabilitation werden günstigerweise im interdisziplinären Team abgestimmt, nicht zuletzt um die Möglichkeiten moderner Prothetik realistisch einzuschätzen. > Amputation, Prothesenversorgung und Rehabilitation sind untrennbar miteinander verbunden sind und als funktionelle Einheit zu verstehen. Auch Anfang des 21. Jahrhunderts bleibt die scheinbar einfache Forderung nach natürlicher Funktion und unauffälligem Erscheinungsbild einer Armprothese ein schwer zu erfüllender Wunsch.
42.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie
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Wesentliche Aussagen zu Anatomie und Physiologie sind in Abschn. 41.1.1 aufgeführt. Hier sollen einige Aspekte aus orthopädietechnischer Sicht in Bezug auf die Prothesenversorgung dargestellt werden. Die Stütz- und Bewegungsorgane erfüllen als größtes Organsystem des menschlichen Körpers vielfältige Funktionen, von denen die mechanische Aufgabe primär für die Prothetik interessiert. Ihre Funktion als Sinnesorgan, z. B. propriozeptiv Gelenkwinkel, einwirkende Kräfte oder Bewegungsgeschwindigkeit zu detektieren, lässt sich prothetisch ebenso wenig ersetzen wie der Tastsinn oder das Temperaturempfinden. Schultergürtel, Arm und Hand bilden eine funktionelle Einheit als offene Gliederkette mit einem einzigartigen Präzisionswerkzeug. Die menschliche Hand ist für feinfühliges Greifen mit sensibler Wahrnehmung ebenso geeignet wie für robuste Kraftentwicklung und zur Vermittlung von Empfindungen. Will man die Problematik der Amputation einer Hand und des prothetischen Ersatzes voll erfassen, muss man sich intensiv mit dem natürlichen Vorbild auseinandersetzen. Das geniale unbewusste Beherrschen der mehr als 30 Freiheitsgraden während der Handlung »Greifen« kann prothetisch nicht annähernd ersetzt werden, das darf bei aller faszinierenden Prothesentechnik nicht vergessen werden (Blumentritt). Die biomechanischen Auswirkungen bei Amputationen an der oberen Extremität betreffen den Gesamtorganismus, z. B. das Schwingen der Arme beim Gehen und sportlichen Laufen. > Je höher das Amputationsniveau und damit der Substanzverlust, umso gravierender die Störung des Gleichgewichtes.
Vergleichende Untersuchungen zeigen eine Störung der Belastungssymmetrie mit sekundären Auswirkungen auf Wirbelsäule und Rumpf. Klinisch fallen Schulterhochstand und Rumpfasymmetrie auf sowie eine kompensatorische Zunahme der kontralateralen Muskulatur. Das frühzeitige Tragen einer funktionellen Armprothese als gewissen Gewichtsausgleich und zum bilateralen Handling ist vorteilhaft für die weitere Entwicklung.
Amputationshöhen aus Versorgungssicht Mit einem Zitat von Baumgartner (2007) soll die Bedeutung der schicksalhaften Entscheidung durch den Arzt unterstrichen werden:
» Die Indikation zur Amputation und dann die Wahl der Amputationshöhe gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Chirurgie. Die volle Verantwortung trägt einzig und allein der behandelnde Arzt. « Das Bestreben eine Amputation zu vermeiden bzw. eine Replantation durchzuführen hat oberste Priorität, und es gilt der Grundsatz, möglichst peripher zu amputieren. Je länger der Amputationsstumpf ist, desto größer ist sein Hebelarm und umso günstiger ist auch die muskuläre Situation zum Gebrauch einer Prothese. Der Erhalt der Sensibilität ist eine wichtige Forderung im Handbereich. Anatomische Knochenvorsprünge, z. B. bei Handgelenkexartikulation, können für die rotationsstabile Haftung der Prothesenschäfte aus neuen Materialien genutzt werden. Die früher vorgebrachte Argumentation, dass moderne Prothesenkomponenten aufgrund der Stumpflänge nicht einzusetzen sind, trifft heute kaum noch zu. So gibt es beispielsweise auch eine myoelektrische Transkarpalhand, die für Handwurzelstümpfe geeignet ist. Bei transradialen Amputationen ist die Länge des Unterarmstumpfes von distal bis ultrakurz entscheidend für das Prothesenschaftdesign und die serienmäßigen Bauteile. Das gilt analog auch für die transhumeralen Amputationen, wobei die Bewegungen des Schultergelenks in Abhängigkeit von der Stumpflänge so wenig wie möglich eingeschränkt werden sollten. Der Kondylenstumpf einer Ellbogenexartikulation ist für die Prothesensuspension gut geeignet. Dagegen stellen Absetzungen im Schulterbereich – von subkapitaler Amputation (Oberarm ultrakurz) über Schulterexartikulation bis zur Schultergürtelamputation (»forequarter amputation«) – immer eine versorgungstechnische Herausforderung dar. Aus orthopädietechnischer Sicht ist die Aussage von Baumgartner (2007) voll zu unterstützen:
» Es geht um den Einsatz aller Mittel im weitesten Sinne, die Amputationshöhe so peripher wie nur möglich festzusetzen und trotzdem einen schmerzfreien und funktionsfähigen Stumpf zu erreichen. « Die Stumpfbeschaffenheit aufgrund von Weichteildeckung, Haut- und Narbensituation, Muskelstatus mit Beweglichkeit und Schmerzfreiheit (ohne Neurome) bildet bei allen Amputationshöhen die Basis für eine erfolgreiche Prothesenversorgung.
Historische Entwicklung Als älteste Armprothese gilt eine ägyptische Mumienhand aus der Zeit 300 Jahre v. Chr. Die wohl bekannteste bewegliche Prothesenhand ist die eiserne Hand des Götz von Berlichingen aus dem 16. Jahrhundert. Seit dieser Zeit ist die Entwicklung diverser Kunsthände geprägt von der allgemeinen technischen Entwicklung und der zur Verfügung stehenden Materialien. Erwähnenswert ist die im 1. Weltkrieg von Sauerbruch entwickelte Kineplastik zur willkürlichen Bewegung einer Prothesenhand über Muskelzug. Ein operativ angelegter Muskelkanal z. B. durch den M. biceps nimmt einen Stift auf, an dem Züge befestigt sind. Durch Kontraktion des Muskels ist ein fein dosiertes Greifen mit guter Rückmeldung möglich. Diese Technik wird von einigen Autoren noch heute angewandt. Im Gegensatz zu dieser anspruchsvollen Technik war der normale Versorgungsalltag in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von passiven Arbeitsarmen und Schmuckprothesen geprägt. Die bedeutsame Forderung nach guter Befestigung der Prothese am Körper des Amputierten als Basis für Funktion und damit verbundener Akzeptanz konnte in vielen Fällen kaum erfüllt werden.
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Durch die in den 1950er Jahren eingeführte Gießharztechnik für aktive Greifarme war es erstmals möglich formstabile, leichte und hygienische Prothesenschäfte und Bauteile zu fertigen. Die von Kuhn entwickelten ellbogenumfassenden Kontaktschäfte für kraftzugbetätigte Armprothesen sind prinzipiell heute noch gültig. Bei den Schaftmaterialien haben sich thermoplastisch tiefgezogene Kunststoffe und Silikonliner durchgesetzt, mit denen eine exakte Prothesenhaftung bei möglichst geringer Bewegungseinschränkung erreicht wird. Die Ende der 1960er Jahre eingeführten myoelektrischen Armprothesen nutzen die Muskelaktionspotenziale der Stumpfmuskulatur zur Ansteuerung der Prothesenbewegungen. Die elektromechanischen Komponenten wie Prothesenhand und Ellbogenkonstruktion werden durch die elektrische Energie eines Akkus bewegt. Die heutigen mikroprozessorgesteuerten Systeme sind das Mittel der Wahl bei den aktiven Armprothesen mit großem Zukunftspotenzial. Eine sog. gedankengesteuerte Armprothese schlägt die Brücke zwischen Gegenwart und Zukunft. Der schulterexartikulierte Patient nutzt gezielt die Nerven, die ursprünglich für die Bewegung des Armes zuständig waren und steuert die Prothesenaktionen intuitiv. Voraussetzung ist die chirurgische Umleitung der Armnerven auf die Brustmuskulatur. Die bisherigen Ergebnisse der Prothesenversorgung nach selektivem Nerventransfer (»targeted muscle reinnervation«) durch Forschergruppen aus Chicago, Wien und von Otto Bock sind vielversprechend. 42.1.2 Epidemiologie Abschn. 41.1.2 42.1.3 Ätiologie Die Amputationen an der oberen Extremität unterscheiden sich in der Häufigkeit und Differenzierung von den Amputationsursachen an der unteren Extremität. Die für Beinamputationen häufig verantwortlichen Durchblutungsstörungen kommen an der oberen Extremität selten vor, dafür stehen traumatisch bedingte Amputationen an erster Stelle ( Abschn. 41.1.3). Aus versorgungstechnischer Sicht sind die vorliegenden Begleitverletzungen z. B. bei Polytraumapatienten entscheidend für den Zeitpunkt der Prothesenanfertigung. Ebenso beeinflussen Störungen an der kontralateralen Seite, Plexusverletzungen oder großflächige Verbrennungsnarben des Stumpfes die Auswahl des Prothesensystems. Das oberste Ziel bei Tumoren ist deren radikale Entfernung nach dem Prinzip »Life before Limb« ohne ein Optimum an Stumpflänge und -qualität zu vernachlässigen. > Bilateraler Armverlust aufgrund von Starkstromunfällen, häufig in jugendlichem Alter, bedeutet für das Rehabilitationsteam durch den schweren körperlichen Befund und die damit verbundene psychische Situation eine schwierige Aufgabe.
Die Situation nach sekundärer Amputation z. B. nach schweren Infekten und misslungenem Erhaltungsversuch erfordern Geschlossenheit vom Reha-Team mit genau abgestimmten Aussagen, ohne Bewertungen der Vorgeschichte und zu optimistischer Prognose. Bei psychopathologischen Ursachen ist eine ähnliche Vorgehensweise zu empfehlen und vom Orthopädietechniker Behutsamkeit bei Fragen zur Vorgeschichte angezeigt. Die Besonderheiten von angeborenen Fehlbildungen für die Armprothesenversorgung sollen hier nur kurz angesprochen werden, da sie sich von traumatischen Amputationen grundsätzlich
unterscheiden. Die Fehlbildung ist frei von Operationsnarben, Knochen- und Nervenstümpfen, sodass auch keine Stumpf- oder Phantomschmerzen auftreten. Die betroffenen Kinder haben ein intaktes Körpergefühl, denn die Extremität war ja nie vollständig entwickelt. 42.1.4 Diagnostik Für eine möglichst umfassende Einschätzung der Gesamtsituation als Basis der geplanten Prothesenversorgung greift der Orthopädietechniker auf die ärztlichen Befunde einschließlich Röntgenbilder usw. zurück. Abhängig vom Ausmaß vorhandener Begleitverletzungen, dem Allgemeinzustand des Patienten, der Wundheilungssituation und den physiotherapeutischen Maßnahmen wird günstigerweise im interdisziplinären Reha-Team der Zeitpunkt für das erste Beratungsgespräch über eine Prothesenversorgung festgelegt. > Nach der unmittelbaren postoperativen Behandlung wie Schmerzminderung, richtige Lagerung, baldige Mobilisierung, fachgerechte Stumpfkompression ist es wichtig, dem Patienten Perspektiven aufzuzeigen. Gerade bei polytraumatisierten Patienten steht die individuelle Gesamtsituation im Vordergrund, und nach der Wundheilung beginnt die frühe Rehabilitationsphase.
Die Versorgungsvorbereitung reicht von der Stumpfkonditionierung über allgemeine Kräftigungsübungen bis hin zur Ergotherapie mit Einhandtraining und evtl. prothetischer Frühversorgung. Mit einer Interims- oder Testprothese kann der Therapieablauf günstig beeinflusst und die Indikation zur endgültigen Prothesenversorgung erleichtert werden. Eine Diagnosestellung im medizinischen Sinne ist eine Teamaufgabe unter Leitung des verantwortlichen Arztes mit Festlegen der weiteren Vorgehensweise. Wichtig erscheint die frühzeitige Motivation des Betroffenen und sein Einbeziehen in den Entscheidungsprozess für die individuelle Prothesenversorgung. Die Amputationshöhe und die Stumpfleistungsfähigkeit sind entscheidende Kriterien und verständlicherweise ist die Anpassung eines Kosmetikfingers einfacher als die Versorgung mit einer Oberarmprothese. Die systematische Vorgehensweise durch den Orthopädietechniker ist in Abschn. 42.1.7 beschrieben. 42.1.5 Klassifikation Die Unterteilung von Prothesen für die obere Extremität sollte sich primär an der Praxis orientieren und Neuentwicklungen berücksichtigen. Wir haben daher die seit Jahrzehnten existierende Klassifizierung durch differenzierte technische Merkmale aktualisiert, sodass in der Entscheidungsebene die drei Prothesensysteme kosmetische, zugbetätigte und myoelektrisch gesteuerte Armprothesen (Kurzform »myoelektrische«) zu finden sind (⊡ Abb. 42.1) Die erste Unterteilung in passive und aktive Armprothesen kann zu Fehlbewertungen führen, wenn passiv als negativ und aktiv als positiv bewertet wird. Aktiv bezieht sich auf die willkürlich ausgelösten Bewegungen der Prothesenkomponenten. Andererseits nutzt der Amputierte seinen passiven Arbeitsarm durchaus sehr aktiv oder eine kosmetische Silikonfingerprothese erfüllt als Gegenhalt wichtige Funktionen. Die Differenzierung der Prothesensysteme nach Erscheinungsbild, Konstruktion mit Energiequelle und Steuerung ist für die Versorgungsentscheidung aussagekräftig. Die vorliegende Amputati-
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onshöhe mit Stumpfbeschaffenheit und das individuelle Patientenprofil bestimmen primär, ob eine Fremd- oder Eigenkraftprothese möglich oder ein kosmetischer Ersatz angezeigt ist. > Für die Versorgungspraxis hat sich Einteilung in aktive Armprothese, d. h. zugbetätigte und myoelektrische, und passive, d, h. kosmetische (ästhetische) oder Habitusprothese, bewährt.
Kosmetische Armprothesen > Kosmetische Armprothesen gehören zu den passiven Prothesen. Sie ersetzen den fehlenden Gliedmaßenabschnitt durch einen möglichst naturgetreuen Formausgleich. Oberstes Ziel ist die Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes und in Abhängigkeit von der Amputationshöhe ein Mindestmaß an Funktion.
So benutzen manche Patienten die Prothese als Gegenhalt zur kontralateralen Seite oder zum Tragen leichterer Gegenstände. Der früher übliche Begriff »Schmuckarm« sollte nicht mehr verwendet werden, wogegen die Bezeichnung »Habitusprothese« die ästhetischen Eigenschaften und die passive Funktion anspricht. Grundsätzlich sind kosmetische Armprothesen für alle Amputationshöhen geeignet, insbesondere wenn bei proximalen Absetzungen aktive Prothesen abgelehnt werden (⊡ Abb. 42.2). Bei Verlust einzelner Finger oder Fingerglieder bis zu transradialen Amputationen kommen Prothesen in Schalenbauweise – häufig aus Silikon – zum Einsatz. Bei höheren Amputationen von transhumeral bis Schultergürtel haben endoskeletale Modularprothesen mit Schaumstoffverkleidung Vorteile.
Zugbetätigte Armprothesen > Zugbetätigte Armprothesen sind Eigenkraftprothesen mit individueller Kraftquelle, deren Funktionen durch Bewegungen des Stumpfes bzw. des Schultergürtels über eine Kraftzugbandage ausgeführt werden.
Durch Anspannen einzelner Bandagenelemente betätigt der Amputierte Hand- und Ellbogenfunktion, das verdeutlicht die frühere Bezeichnung »aktiver Greifarm«. Für den Versorgungserfolg sind eine exakte Anpassung der Kraftzugbandage und eine konsequente Armschulung entscheidend. Geschickte Prothesenträger erreichen ein gewisses Maß an sensorischer Rückmeldung. Zugbetätigte Armprothesen sind bei Amputationen proximal des Handgelenks geeignet (⊡ Abb. 42.3). Mit zunehmendem Substanzverlust wird die Bedienung der Prothese schwieriger und wir empfehlen bei Amputationen im Schulterbereich für aktive Versorgungen eine myoelektrische Hybridprothese.
Myoelektrisch gesteuerte Armprothesen > Myoelektrisch gesteuerte Armprothesen (übliche Bezeichnung »myoelektrische Armprothesen«) sind Fremdkraftprothesen, deren elektromechanische Komponenten durch elektrische Energie bewegt werden. Ihre Steuerung erfolgt über Muskelaktionspotenziale, die bei Kontraktion der Stumpfmuskeln im Mikrovoltbereich zu messen sind.
Diese EMG-Signale werden von Oberflächenelektroden abgenommen, verstärkt und als Schaltimpulse an einen Elektromotor weitergeleitet. Öffnen, Schließen und Rotationen der Prothesenhand und die Funktionen des Ellbogengelenks lassen sich so durch den
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⊡ Abb. 42.1 Klassifikation der Prothesen für die obere Extremität nach technischen Merkmalen. Die grundsätzliche Unterscheidung in passive und aktive Armprothesen betrifft vor allem das Aussehen und die Funktion. Die Differenzierung in kosmetische (Ästhetik), zugbetätigte (Eigenkraft) und myoelektrische (Fremdkraft) Armprothesen hat sich in der Versorgungspraxis bewährt
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⊡ Abb. 42.2 Grafische Darstellung der kosmetischen Armprothesen für unterschiedliche Amputationshöhe von distal nach proximal. a Teilhandersatz in Schalenbauweise, b Unterarmprothese in Schalenbauweise, c Oberarmprothese in endoskeletaler Modularbauweise, d Schulterexartikulationsprothese in endoskeletaler Modularbauweise mit Schaumstoffverkleidung für naturgetreue Ästhetik
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⊡ Abb. 42.3 Grafische Darstellung von zugbetätigten Eigenkraftprothesen. a Unterarmprothese (transradial) mit Kraftzughook, b Oberarmprothese (transhumeral) mit Systemzughand, c Dreizugbandage an einer Oberarmprothese zur Betätigung von Ellbogenflexion und -sperrung sowie von Greifgerät
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⊡ Abb. 42.4 Grafische Darstellung von myoelektrischen Prothesen für Amputationen von distal nach proximal. Bei allen Prothesen wird die Elektrohand über EMG-Signale angesteuert, bei b und c mit zusätzlicher Rotation. Die Konstruktionen c und d enthalten den mikroprozessorgesteuerten DynamicArm und d ein mechanisches Schultergelenk. a Die Transkarpalprothese erfordert eine Hand mit geringer Bauhöhe, b Unterarmprothese (transradial), c Oberarmprothese (transhumeral), d Schulterexartikulationsprothese
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Amputierten sehr gezielt und ohne Kraftanstrengung ansteuern. Als Energiequelle dient ein Akkumulator, den der Amputierte selbst aufladen kann. Myoelektrische Armprothesen können bei allen Amputationshöhen eingesetzt werden, vom transkarpalen Handverlust bis zu Amputationen im Schulterbereich (⊡ Abb. 42.4). Bei schwierigen EMG-Signalen können zur Ansteuerung auch Schalter eingesetzt werden, in manchen Fällen in Kombination mit Elektroden. Im Bereich der Unterarmprothetik stellen die myoelektrischen Prothesen den aktuellen Versorgungsstandard dar und ermöglichen insbesondere bei bilateralen Amputationen weitgehende Rehabilitation. Bei proximalen Amputationen haben sich myoelektrische Hybridprothesen bewährt, bei denen die Hand myoelektrisch angesteuert und die Ellbogenfunktion über eine Kraftzugbandage betätigt wird. > Myoelektrische Armprothesen werden über Muskelaktionspotenziale gesteuert und stellen bei den aktiven Armprothesen den aktuellen Stand der Technik mit entsprechendem Innovationspotenzial dar.
42.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Der Arzt hat in der Hilfsmittelversorgung eine wichtige Betreuungs- und Steuerungsfunktion, die über die Verordnung bzw. Rezeptierung hinausgeht. Die Indikationsstellung für eine Armprothese erfolgt am sinnvollsten im interdisziplinären Team, das bei der Entscheidungsfindung – welche Prothese für den jeweiligen Patienten – alle Gesichtspunkte positiv kritisch bewertet. Neben den objektivierbaren Faktoren, wie Amputationshöhe, Stumpflänge, Weichteil- und Narbenverhältnisse, Muskelstatus mit EMG-Signalen, Begleitverletzungen und Allgemeinzustand, spielen die individuellen Bedürfnisse des Patienten, sein Lebensumfeld und seine Erwartungen eine entscheidende Rolle. > Mehr noch als bei anderen Hilfsmitteln stehen die Motivation des Betroffenen, seine persönliche Geschicklichkeit und seine individuellen Vorstellungen im Vordergrund – eine wichtige Voraussetzung für die Compliance.
Eine ästhetische Unterarmversorgung mit passiver Beihandfunktion kann für den einen Patienten eine gelungene Versorgung be-
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deuten, während bei gleichen Stumpfverhältnissen und ähnlichen »Patientenparametern« eine myoelektrische Prothese angezeigt ist. Zur systematischen Befunderhebung haben sich bei Beinprothesen Profilerhebungsbögen aus dem Hilfsmittelverzeichnis bewährt. Verbindliche Leitlinien für die Verordnung von Armprothesen fehlen bzw. könnten wohl nur als Grobraster dienen. Für die schicksalhafte Entscheidungsfindung haben sich frühzeitige Probeversorgungen und moderne Messgeräte bewährt. Eine realistische Einschätzung über die Bedienung von Prothesenhänden oder Ellbogenfunktion gelingt auch erfahrenen Fachleuten besser, wenn der Betroffene myoelektrische Steuerungen realitätsnah am Computer ausprobieren kann. Mögliche Komponenten lassen sich so funktionell vergleichen und dokumentieren, nicht zuletzt als Argument für die Kostenträger. > Mithilfe von Testgeräten lassen sich die in Frage kommenden Komponenten realitätsnah simulieren und in einer Probeprothese testen. Der Amputierte ist aktiv in die Indikationsstellung einbezogen.
Trotz aller angestrebten Objektivierung bleibt es ein Spagat für das Reha-Team, die einerseits vorhandenen technischen Möglichkeiten sinnvoll auszuschöpfen und andererseits überzogene Erwartungen des Amputierten und seiner Familie positiv zu lenken. Es ist empfehlenswert die persönlichen Erlebnisse und individuellen Erfahrungen mit dem aktuellen Wissensstand abzugleichen. Der Hinweis auf ältere Statistiken zur Akzeptanz von Armprothesen hilft ebenso wenig weiter wie die zunehmende Verschärfung der Kostensituation, auch in Bezug auf Fallpauschalen. Eine ästhetische Unterarmprothese mit minimaler Funktion erscheint zwar technisch wenig anspruchsvoll, erfüllt jedoch eine wichtige Aufgabe für die Rehabilitation und die gesellschaftliche Teilhabe. Wenn bewährte Definitionen wie »Kosmetikhandschuh« bzw. »naturgetreuer Bezug einer Prothesenhand« zu Diskussionen über Kostenerstattung führen, zeugt das von wenig Patientenorientierung. 42.1.7 Therapie
Konservative Therapie Physiotherapie und Ergotherapie > Von den vielfältigen Therapiemaßnahmen nach einer Amputation nimmt der koordinierte Einsatz von Physio- und Ergotherapie für die Vorbereitung zur Prothesenversorgung eine wichtige Position ein.
Der Ablauf der Amputation und der Allgemeinzustand des Patienten bestimmen die postoperative Vorgehensweise wie korrekte Lagerung des Stumpfes, Schmerzlinderung und Beginn von Atemund Kreislaufübungen. Eine frühzeitige Mobilisierung dient der Thrombose- und Kontrakturprophylaxe, und das sachgerechte Stumpfwickeln soll die Heilung verbessern und den Stumpf formen. Alternativ zur Stumpfbandagierung kann nach der Wundheilung ein individueller Kompressionsstrumpf oder ein Silikonliner eingesetzt werden (⊡ Abb. 42.5). Maßnahmen zur Abhärtung des Stumpfes durch Noppenball oder Bürstenmassage fördern die Durchblutung der Haut. Narbenbehandlung und Kräftigungsübungen verbessern Kraft und Beweglichkeit des Stumpfes. Die Anfertigung einer Interims- oder Übungsprothese zur Frühversorgung hängt vom Behandlungsplan ab und ist mit dem Orthopädietechniker zu koordinieren. Die Unabhängigkeit und Motivation des Amputierten wird durch Selbsthilfe- und Einhandtraining gefördert.
ADL-Übungen (»activities of daily life«) betreffen u. a. Kleidung, Hygiene, Essen und Trinken wie auch Schreiben, Freizeit oder Hobby und dienen der Beweglichkeit des Amputierten. Sie helfen durch Einsatz des Stumpfes und der damit verbundenen Abhärtung und Geschicklichkeit auch der Prothesenversorgung.
Training mit Prothesen Die Vorgehensweise zur Anfertigung einer Armprothese wird weiter unten beschrieben. Zum Versorgungserfolg gehört zwingend eine prothesenorientierte Ergotherapie. Auch die hochwertigste Armprothese kann ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn sie vom Amputierten fachgerecht genutzt wird. Die häufig aufgeführten Akzeptanzprobleme hängen mit der Motivation zum frühzeitigen und konsequenten Üben zusammen. Das 1970 erschienene Standardwerk »Armschulung« wurde für die aktiven Greifarme erarbeitet. Es zeigt die systematische Vorgehensweise und dient heute noch als Grundlage. Doch nicht nur bei aktiven Armprothesen und insbesondere bei hohen Amputationen muss der funktionelle Einsatz geübt werden, auch bei kosmetischen Prothesen ist eine Anleitung mit Übungsprogramm sinnvoll. Die von Baumgartner (2007) aufgeführten Lernziele betreffen u. a. ▬ An- und Ausziehen der Prothese, ▬ Gewöhnung und Akzeptanz, ▬ Funktionstraining und differenzierte Greifübungen, ▬ Reaktions- und Geschicklichkeitstraining, ▬ Selbsthilfetraining und ▬ Hilfsmittelerprobung. Abhängig von Amputationshöhe und Prothesensystem haben Übungen unterschiedliche Prioritäten, so lässt sich eine Unterarmprothese relativ einfach vom Patienten selbst anziehen. Bei doppelseitiger Amputation ist das weitaus schwieriger und für die Unabhängigkeit von großer Bedeutung. Das Funktionstraining orientiert sich u. a. am Interesse des Prothesenträgers und nutzt Alltagssituationen wie Zubereiten von Mahlzeiten oder Anziehen von Kleidungsstücken. Nach Anweisung der Ergotherapeutin wird der zweckmäßige Einsatz der Armprothesen bei beidhändigen Arbeiten geübt und die Körperhaltung korrigiert (⊡ Abb. 42.6). Selbstständiges Essen und Trinken sowie Autofahren ist für die meisten Betroffenen ein erreichbares Therapieziel. > Physio- und Ergotherapie sollen integraler Bestandteil im Versorgungsablauf sein und sie erfüllen wichtige Mittlerfunktionen für die Akzeptanz der Prothese.
Insgesamt sind Physio- und Ergotherapeuten während der gesamten Rehabilitation kontinuierliche Ansprechpartner, die durch den direkten persönlichen Kontakt eine wichtige soziale Funktion erfüllen. Sie beobachten und betreuen den Amputierten und bemerken z. B. depressive Stimmungen, Stumpf- oder Phantomschmerzen. In der rehabilitativen Nachsorge beraten sie auch über technische Hilfsmittel, die zum Teil denen gleichen, die bei Hemiplegie und Plexusparese eingesetzt werden. Die Palette reicht von kleinen Schreibhilfen bei Teilhandamputationen bis zu KFZ-Umrüstungen für Ohnhänder.
Anfertigung einer Prothese Bei allen Amputationshöhen und Prothesensystemen hat die individuelle Anfertigung und exakte Anpassung entscheidende Bedeutung für die Akzeptanz und damit für den Versorgungserfolg. Im Vordergrund steht die Adaption am Körper des Patienten durch
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⊡ Abb. 42.5 Ergotherapie zur Stumpfkonditionierung. a Bandagierung eines Oberarmstumpfes zur Kompression von distal nach proximal, b Silikonliner zur Kompression und Stumpfformung, c Stumpfgymnastik mit Kräftigung des Schultergürtels, d Stumpfabhärtung durch mechanische Reize wie Noppenball und Bürstenmassage, e Üben der Stumpfkraft durch Theraband, f Üben gegen Widerstand der Therapeutin
eine passgenaue Stumpfbettung. Der Prothesenschaft aus unterschiedlichen Materialien ist das verbindende Element zwischen dem Körper und der Prothese und stellt die »Schnittstelle Mensch – Maschine« dar. Die Besonderheiten des verbleibenden Gliedmaßenabschnittes müssen vom Orthopädietechniker als Gegebenheit berücksichtigt und optimal genutzt werden. Vorhandene Knochenvorsprünge, empfindliche Narben oder Neurome sind besonders zu beachten und druckfrei einzupassen. In einem Vollkontaktschaft wird die gesamte Fläche des Stumpfes
für die Haftung und Führung der Prothese genutzt, ohne die Beweglichkeit der vorhandenen Gelenke unnötig einzuschränken. > Die individuelle Einbettung des Amputationsstumpfes in einen Prothesenschaft gehört zu den handwerklich anspruchsvollsten Aufgaben des Orthopädietechnikers. Er muss aufgrund seiner Erfahrungen auch für extreme Stumpfsituationen mit verschiedenen Materialien eine schmerzfreie Prothesenhaftung anstreben.
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⊡ Abb. 42.6 Ergotherapie mit Oberarmprothese. a Selbstständiges Anziehen der Prothese unter Anleitung, b Geschicklichkeitsübungen im Alltag z. B. Getränk eingießen, c bimanuelles Arbeiten mit Korrektur der Körperhaltung, d praxisgerechte bimanuelle Übung beim Brötchenschmieren, e praxisgerechte bimanuelle Übung für feinmotorisches Greifen, f selbstständiges Lenken eines PKW mit Armprothese
Basis für die Prothesenfertigung sind die ermittelten Körpermaße und ein funktioneller Gipsabdruck des Stumpfes, der im FingerHand- Bereich auch mit Alginat erfolgen kann. Für myoelektrische Prothesen werden die Muskelaktionspotenziale mit einem Testgerät ermittelt und die optimale Position der Elektroden festgelegt (⊡ Abb. 42.7). Aus einem exakten Gipsnegativ entsteht ein modelliertes Gipspositiv, das als Arbeitsmodell für die weitere Fertigung genutzt
wird. Für den Innenschaft mit direktem Hautkontakt kommen tiefgezogene Thermoplaste oder Silikon zum Einsatz. Der Außenschaft wird aus Gießharzlaminat gefertigt. Bei der ersten Anprobe werden die Passform des Innenschaftes überprüft bzw. in einem Testschaft die Funktion der Myoelektroden kontrolliert und die Bauteilkombination festgelegt. Die Anpassung der Bandage mit Funktionsprüfung kommt bei der zugbetätigten Prothese als wichtiges Element hinzu.
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e ⊡ Abb. 42.7 Anfertigung einer myoelektrischen Armprothese. a Ermittlung der Muskelaktionspotentiale mit MyoBoy Testgerät bei transradialer Amputation, b Abformung eines kurzen Unterarmstumpfes mit elastischer Gipsbinde, c Anprobe des Gipsnegativs mit Kontrolle der Elektrodenplatzierung, d thermoplastisches Tiefziehen eines Innenschaftes über das Stumpfmodell, e Anprobe des Innenschaftes mit Unterarmformteil, f Überprüfen von Elektrodenfunktion und Bauteilproportionen mit Testprothese
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> Bei Erstversorgungen sind die Anproben und Funktionsüberprüfung in verschiedenen Arbeitsschritten und Sitzungen sehr zeitaufwändig. Der Aufwand steigt bei den aktiven Prothesen mit zunehmender Amputationshöhe, da mehrere Gelenkebenen und Funktionsabstimmungen zu berücksichtigen sind. Dies gilt insbesondere für doppelseitige Amputationen.
Zur Fertigstellung der Prothese erfolgt die äußere Formgebung und endgültige Montage. Bei den Modularprothesen verkleidet ein individueller Schaumstoffüberzug die technischen Bauteile Die Einweisung des Patienten in den Umgang mit der Prothese sowie Hinweise zur Pflege und Serviceintervallen schließen die Aufgaben des Orthopädietechnikers ab. Die Armschulung in der Ergotherapie sollte ein fester Bestandteil der Rehabilitation sein (s. oben)
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Beispiele für Prothesenkomponenten Der Orthopädietechniker nutzt für die Prothesenversorgung industriell gefertigte Komponenten, sog. Passteile, die er mit dem individuellen Prothesenschaft verbindet. Mit zunehmender Amputationshöhe und anspruchsvoller Funktion steigt auch der Anteil der Passteile, so ist z. B. für eine passive Teilhandversorgung nur eine Innenhand mit Kosmetikhandschuh notwendig. Für eine myoelektrische Unterarmprothese wird ein komplettes Set von SystemElektrohand mit Steuerung über Elektrode mit Verbindungskabel, Motoreinheit für Handrotation bis hin zum Akku mit Ladegerät erforderlich. (⊡ Abb. 42.8) Die Prothesenhand steht bei allen Amputationshöhen im Vordergrund und ist für das natürliche Aussehen mit einem hautähnlichen Handschuh verkleidet. Das trifft auch für die myoelektrische Systemhand zu, deren formgebende Innenhand die Handmechanik mit Motor-Getriebe-Einheit und Steuerung aufnimmt. Der Prothesenträger kann über einen speziellen Handgelenkverschluss die Elektrohand gegen einen Elektrogreifer – für präzises Zugreifen im Spitzgriff oder für robuste Arbeiten –- austauschen. Die Transkarpalhand überzeugt durch eine besonders niedrige Bauhöhe, sodass erstmals die myoelektrische Versorgung vom Handwurzelstumpf möglich ist. Die modernen Elektrohände für myoelektrische Armprothesen nutzen ab Anfang der 1990er Jahre die Mikrocontroller-Technologie für differenzierte Steuerungen. Der Patient kann unkompliziert Griffkraft und Geschwindigkeit proportional steuern. Bei der Sensor-Hand Speed verhindert ein integrierter Sensor das Herausgleiten von ergriffenen Gegenständen. Die 2010 vorgestellte Michelangelo Hand eröffnet neue Versorgungsperspektiven, vorerst für transradiale Amputationen. Für Amputationen proximal des Ellbogengelenkspalts kommen bei den passiven Prothesen meist Modular-Armpassteile zum Einsatz, während für die aktiven Prothesensysteme verschiedene Ellbogenpassteile in Schalenbauweise eingesetzt werden. Sie gleichen sich in ihrer äußeren Form und sind konstruktiv jeweils auf Zugbetätigung oder myoelektrische Ansteuerung ausgelegt. Der mikroprozessorgesteuerte DynamicArm nimmt wegen seiner funktionellen Eigenschaften eine Sonderstellung ein.
Softwareunterstützte Armprothesenversorgung Mit einem speziellen Softwarepaket unterstützt die Industrie den versorgenden Orthopädietechniker bei der Anfertigung. Von der Planung mit Beratung über die Schaftgestaltung bis zur Prothesenkonstruktion ist der Versorgungsablauf vorstrukturiert und die Software entlastet bei den umfangreichen Dokumentationen, die nicht zuletzt vom Kostenträger gefordert werden.
b ⊡ Abb. 42.8 System-Elektrohand und -Greifer. a Myohand Vari Plus Speed mit formgebender Innenhand und kosmetischem Handschuh, b Austausch des System-Elektrogreifers gegen die System-Elektrohand durch den Prothesenträger. Ein spezielles Handgelenk stellt die mechanische und elektrische Verbindung her und ermöglicht Pro- und Supination
Beim Patientenmanagement geht es um das systematische Erfassen und Archivieren persönlicher Daten und Parameter für Schaftgestaltung und Komponentenauswahl, z. B. Testen der EMGSignale. In einer Videoanimation sieht der Patient wie sich am Bildschirm z. B. die Elektrohand durch seine Muskelanspannung realitätsnah bewegt. Aufgrund von Fotoaufnahmen des Unterarmstumpfes modelliert der Orthopädietechniker im PC das individuelle Schaftdesign für einen Testschaft oder eine vormontierte Probeprothese. Die Software schlägt auf Basis der Patientendaten mögliche Konstruktionen vor. Amputationshöhe, Stumpflänge und Muskelpotenziale bestimmen geeignete Passteilkombinationen und mögliche Steuerungen. Fachliche Kompetenz und handwerkliches Geschick des Orthopädietechnikers kann die Software PAULA (Prosthetist‘s Assistant for Upper Limb Architecture) nicht ersetzen, jedoch bei dem zunehmenden administrativen Aufwand sehr hilfreich sein. In den kommenden Jahren wird mit den innovativen Systemkomponenten und deren sensorbasierten Regelungen der Einsatz von Softwareprogrammen unumgänglich sein.
Operative Therapie Abschn. 41.1.7
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42.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Die Amputationsnachsorge mit Prothesenversorgung im Kindesalter bedeutet eine große Verantwortung für alle Beteiligten und erfordert eine harmonische Zusammenarbeit von Arzt, Physio- und Ergotherapie und Orthopädietechnik sowie ein Vertrauensverhältnis zu Eltern und Kind. Handverlust bei Kindern ist fast immer verletzungsbedingt und traumatisiert Körper und Seele. Bei den betroffenen Eltern können häufig unrealistische Erwartungen an die Prothese gestellt werden, daher ist neben dem fachlichen Knowhow ein psychologisches Einfühlungsvermögen des Behandlungsteams gefragt. Gerade bei Kindern ist eine altersgerechte Funktion in Verbindung mit natürlichem Aussehen erfolgsentscheidend, und die Fortschritte in der Armprothetik sprechen für eine frühzeitige Prothesenversorgung. Um die Körpersymmetrie wiederherzustellen ist auch bei Kleinkindern eine aktive Armprothese angezeigt. > Entsprechend der sensomotorischen Entwicklung ist eine myoelektrische Prothese mit Elektrohand schon im 3. Lebensjahr möglich. Für die Entscheidungsfindung ist unbedingt eine Probeversorgung zu empfehlen, da mit einer Testprothese die adäquate Konstruktion praxisnah zu bestimmen ist.
Noch wichtiger als bei Erwachsenen ist die versorgungsbegleitende Ergotherapie mit der spielerischen Einbeziehung der Prothese in den Bewegungsablauf. Schafttechnik, Materialauswahl und Anfertigung sind weitgehend identisch mit der oben beschriebenen Vorgehensweise, jedoch erfordern die kleinen Dimensionen des Amputationsstumpfes eine noch differenziertere Vorgehensweise. Der Prothesenschaft
muss aufgrund des Wachstums regelmäßig kontrolliert und häufig erneuert werden, dabei können die serienmäßigen Komponenten weiterverwendet werden. Als Greiforgan hat sich die Elektrohand 2000 für Kinder mit einfachen Steuerungsoptionen durch EMG-Signale durchgesetzt. Sie steht ab Größe 5 in 4 Größen zur Verfügung und ermöglicht eine lückenlose Myoversorgung ab Kleinkindalter mit Übergang auf die System-Elektrohand Größe 7 für Jugendliche ab etwa 12 Jahren. (⊡ Abb. 42.9) > Grundsätzlich ist zu empfehlen, die wenigen Versorgungen von armamputierten Kindern Fachleuten zu überlassen, die aufgrund ihrer Erfahrungen mit angeborenen Fehlbildungen das Knowhow für schwierige Einzelversorgung haben.
Ebenso ist während des Wachstums die Überwachung des Stumpfes, der Haltungs- und Bewegungsorgane und der kindlichen Gesamtsituation eine ärztliche Pflicht. Chirurgische Maßnahmen zur Erhaltung bzw. Verbesserung der Stumpfqualität, z. B. die von Marquardt angegebene Stumpfkappenplastik zur Vermeidung von Knochendurchspießung soll hier nur kurz erwähnt werden. 42.2
Spezielle Techniken
Die Amputationshöhe ist ausschlaggebend für die Konstruktion und das Design einer kosmetischen, zugbetätigten oder myoelektrischen Armprothese. Die individuellen Versorgungsmöglichkeiten sind nachfolgend von distal nach proximal beschrieben und werden anhand ausgewählter Patientenbeispiele verdeutlicht. Die Abbildungstexte enthalten wichtige Informationen. 42.2.1 Ästhetisch-funktionelle Finger- und
Teilhandprothesen Die menschliche Hand erfüllt neben den vielfältigen Funktionen als Präzisionswerkzeug auch wichtige Aufgaben in der sozialen Kommunikation. Entsprechend stigmatisierend empfinden viele Patienten auch relativ kleine Amputationen im Finger- und Handbereich und erwarten von dem prothetischen Ersatz eine weitgehende Unauffälligkeit durch natürliches Aussehen. Durch eine Prothese darf die Sensibilität und die verbleibende Funktion der betroffenen Hand nicht zu sehr eingeschränkt, sondern möglichst als Gegenhalt verbessert werden. Aufgrund der idealen Materialeigenschaften für Prothesenhaftung, Tragekomfort, Hygiene usw. hat sich in den letzten Jahren zunehmend HTV-Silikon (»hochtemperaturvernetztes« Silikon) durchgesetzt.
42
> Sowohl der Nutzen für die Patienten als auch der Aufwand bei der Herstellung dieser relativ kleinen Hilfsmittel sollten nicht unterschätzt werden.
Voraussetzung ist eine exakte Maß-Abformtechnik und ein materialorientiertes Fertigungsknowhow, das von der Industrie angeboten wird.
Fingerprothesen aus Silikon ⊡ Abb. 42.9 Myoelektrische Armprothesen für Kinder: Myoelektrische Unterarmprothese mit ellbogenumgreifender Schafttechnik
Bei Verlust einzelner Finger oder Fingerglieder können Aufsteckfinger gefertigt werden, die durch Formschluss und Materialadhäsion am Körper haften. Für die Befestigung und das Anziehen
1199 42.2 · Spezielle Techniken
muss die Länge des Fingerstumpfes mindestens 2 cm betragen, zusätzliche Stumpflänge verbessert die Führung und Griffkraft. Reicht die Stumpflänge für die Fixierung nicht aus, können benachbarte Finger einbezogen werden (⊡ Abb. 42.10). > Neben der ästhetischen Wirkung der Silikonfingerprothesen mit individuell gestalteten Fingernägeln ist der funktionelle Wert beim Greifen ein wichtiges Argument. Das gilt insbesondere für Daumen und Zeigefinger zum Erreichen des Pinzettengriffes.
Teilhandprothesen aus Silikon
⊡ Abb. 42.10 Ästhetisch, funktionelle Daumenprothese aus Silikon
Bei Amputationen im Bereich der Fingergrundgelenke oder der Metakarpalia erfolgt die Prothesenfixierung über die Umschließung der Mittelhand. Eine genaue Funktionsanalyse und ein Formabdruck beider Hände mit Alginat oder Silikon sind die Basis für die Anfertigung einer Probeprothese. Sie wird bei Erstversorgungen bis zur Stumpfkonsolidierung getragen (einige Wochen) und lässt sich entsprechend der Weichteilveränderung nachpassen. Die Anfertigung der definitiven Prothese erfolgt aus HTV-Silikon meist in Servicefertigung (⊡ Abb. 42.11). 42.2.2 Transkarpal- und Handexartikulations-
prothesen > Kosmetische Armprothesen im Handwurzel- und Handgelenkbereich zeichnen sich durch geringes Gewicht und unkomplizierte Handhabung aus. Sie ermöglichen jedoch nur eine eingeschränkte passive Funktion.
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Bei den aktiven Konstruktionen kommen in Europa zugbetätigte Eigenkraftprothesen kaum zum Einsatz, denn die myoelektrischen Armprothesen überzeugen durch Funktion, Tragekomfort und Ästhetik. Die Transkarpalhand mit besonders geringer Bauhöhe kann auch bei Handwurzelstümpfen eingesetzt werden ohne Überlänge der Prothese. Der in diesem Bereich vorliegende Kondylenstumpf ermöglicht eine rotationsstabile Prothesenhaftung, ohne die aktive Pro- und Supination einzuschränken. Der Prothesenschaft endet distal des Ellbogens und berücksichtigt die spezielle Stumpfform durch einen Silikonliner.
Kosmetische Transkarpalprothesen Die Schaftgestaltung muss die spezielle Stumpfanatomie berücksichtigen, z. B. das Durchgleiten der Handgelenkkondylen beim Anziehen. Ein Silikonliner gleicht die Hinterschneidungen aus.
Myoelektrische Transkarpalprothesen Die Schafttechnik gleicht der zuvor beschriebenen, jedoch nimmt der Gießharz-Außenschaft die Myoelektroden auf und verkleidet die technischen Bauteile. Bis vor wenigen Jahren war der Einsatz von myoelektrischen Prothesen erst ab Handexartikulation möglich, das hat sich durch die Transkarpalhand geändert (⊡ Abb. 42.12).
Myoelektrische Handexartikulationsprothesen b ⊡ Abb. 42.11 Teilhandprothesen aus Silikon. a Befunderfassung und Stumpfuntersuchung für Teilhandprothese, b fertige Teilhandprothese aus HTV-Silikon (linke Hand)
Für Indikationsstellung, Anfertigung, Materialauswahl usw. gelten die gleichen Kriterien wie im Handwurzelbereich, unterschiedlich ist die Handkonstruktion. Bei doppelter Amputation ist das selbstständige Anziehen der Prothese ein erfolgskritischer Faktor und muss bei der Schafttechnik berücksichtigt werden.
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Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
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d ⊡ Abb. 42.12 Myoelektrische Transkarpalprothese, a Handwurzelstumpf mit individuellem Silikonliner, b die aufgesetzten Keile dienen zur Verankerung im Gießharzschaft, c angelegte Prothese, die Silikonkeile greifen in die Aussparungen des Schaftes, d die fertige Transkarpalprothese zeigt die angepassten Proportionen durch die geringe Bauhöhe der Myohand, e myoelektrische Transkarpalhand mit Eingussplatte zur Schaftbefestigung mit Innenhand
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42.2.3 Unterarmprothesen (transradial) > Bei transradialer Amputation können sowohl kosmetische, zugbetätigte oder myoelektrische Armprothesen eingesetzt werden. Dabei haben sich die myoelektrischen Prothesen als Versorgungsstandard durchgesetzt.
Die Schafttechnik ist abhängig von der Stumpflänge, meist mit kondylenumgreifender Einbettung. Bis zu mittellangen Stümpfen ist auch ein ellbogenfreier Schaft mit Silikonliner möglich.
Kosmetische Unterarmprothesen Diese werden eingesetzt, wenn der Patient bewusst auf aktive funktionelle Eigenschaften verzichtet und geringes Gewicht, gute Ästhetik sowie einfache Handhabung bevorzugt. Die Kosmetikhand, zum Teil mit Silikonüberzug, ermöglicht eine passive Beihandfunktion zur kontralateralen Seite, z. B. Halten von Gegenständen (⊡ Abb. 42.13)
Zugbetätigte Unterarmprothesen Zugbetätigte Unterarmprothesen werden eingesetzt, wenn die Voraussetzungen für eine myoelektrische Prothese nicht gegeben
1201 42.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 42.13 Kosmetische Unterarmprothesen. a Ultrakurzer Unterarmstumpf mit Silikonprothese, b Die Prothese ermöglicht individuelle Gestaltung durch Schmuck oder Lackieren der Fingernägel. c Funktioneller Gegenhalt zur kontralateralen Seite
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sind, z. B. fehlendes Myosignal, extreme Umfeldbedingungen oder Wunsch nach Unabhängigkeit von einer Energiequelle und robuster Technik bei geringem Gewicht. Allerdings erfordert die Kraftzugbandage ein Mindestmaß an Kraft und Geschicklichkeit und sie
⊡ Abb. 42.14 Zugbetätigte Unterarmversorgung. a Unterarmprothese mit Kraftzughook und -bandage, b Präziser Spitzgriff des Kraftzughooks, c Austauschen des Kraftzughooks gegen eine System-Zughand, d Greifposition mit System-Zughand
schränkt die Beweglichkeit des Schultergürtels ein. Als Greiforgan hat sich der Kraftzughook für robuste Arbeiten und präzisen Spitzgriff bewährt. Er lässt sich durch eine Systemhand austauschen (⊡ Abb. 42.14).
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Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
Myoelektrische Unterarmprothesen > Die myoelektrischen Unterarmprothesen mit dem MyobockSystem haben sich seit über drei Jahrzehnten bewährt und stellen in der aktuellen Version den Standard für transradiale Amputationen dar.
Die differenzierten Möglichkeiten der Steuerungselektronik, bei Elektrohänden mit Handgelenken und bei den Energieträgern stehen für zeitgemäße Versorgungen als serienmäßige SystemKomponenten zur Verfügung. Die Auswahl ist abhängig von der Stumpflänge und den nutzbaren EMG-Signalen sowie von den »einsetzbaren Ressourcen«. Je nach Länge des Unterarmstumpfes von lang bis ultrakurz werden Schafttechnik und Komponenten ausgewählt. Bei distalen Absetzungen kann in Verbindung mit einem Silikonliner auf eine Ellbogenumfassung verzichtet werden. Mit abnehmender Stumpflänge muss die Kondylenumfassung ausgeprägter sein. Die Myoelektroden werden bei normalen EMG-Signalen auf den Extensoren für Handöffnung und auf den Flexoren für Handschluss platziert. Steuerungsvarianten ermöglichen auch eine Rotation der Hand oder die Greiffunktion mit nur einer Elektrode (⊡ Abb. 42.15). Gerade bei bilateralen Amputationen ist der Versorgungserfolg für berufliche Rehabilitation und Lebensqualität sehr überzeugend.
transkondyläre Absetzungen. Auf eine Haltebandage kann verzichtet werden, außer bei einer zugbetätigten Prothese, bei der eine Kraftzugbandage die Greif- und Ellbogenfunktion ansteuert.
Kosmetische Ellbogenexartikulationsprothesen Dieser passive Prothesentyp erfüllt insbesondere ästhetische Aufgaben zur Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes. Wie bei der zuvor beschriebenen Unterarmprothese stehen geringes Gewicht und die unkomplizierte Handhabung im Vordergrund. Der Patient verzichtet bewusst auf aktive Prothesenfunktionen und nutzt seine passive Prothese als Gegenhalt. Für die Stumpfeinbettung stehen verschiedene Schafttechniken zur Verfügung, vergleichbar mit der Technik für Handgelenkexartikulation z. B. mit Silikonliner. Zur Verbindung zwischen Oberarmschaft und Prothesenunterarm dienen Ellbogengelenkschienen (⊡ Abb. 42.16).
Myoelektrische Ellbogenexartikulationsprothesen Für diese Amputationshöhe kommt als aktive Prothese eine myoelektrische Versorgung in Frage. Die Elektrohand wird dabei von EMG-Signalen der Mm. biceps und triceps gesteuert und die Ellbogengelenkschiene passiv bedient. Ein individueller Silikonliner ermöglicht das einfache Anziehen des Prothesenschaftes, der im Vergleich zur Kosmetikprothese weiter nach proximal reicht.
42.2.4 Ellbogenexartikulationprothesen
42.2.5 Oberarmprothesen (transhumeral)
Eine Exartikulation im Ellbogengelenk wird dann durchgeführt, wenn ein ultrakurzer Unterarmstumpf nicht mehr möglich ist. Bei dieser eher seltenen Amputationshöhe ist der Kondylenstumpf für die Haftung und Führung der Prothese geeignet, das gilt auch für
Wie bei allen bisher dargestellten Amputationshöhen ist auch bei transhumeralen Amputationen die Stumpflänge der entscheidende Faktor für die Prothesenkonstruktion. Je länger der Oberarmstumpf und je günstiger die Muskelverhältnisse sind, umso
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⊡ Abb. 42.15 Myoelektrische Unterarmprothesen. a Der Schnitt durch den Gießharz-Außenschaft zeigt den Thermoplast-Innenschaft mit Einziehrohr, die Akkuaufnahme und den Elektrodreheinsatz. b Mittellange Unterarmstümpfe nach verletzungsbedingter Amputation, c doppelseitige Myoversorgung: Handexartikulation (rechte Seite) Unterarmamputation (linke Seite), d vorteilhafte Positionierung der System-Elektrohände durch Pro- und Supination beim Essen
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besser ist die Prothesenhaftung, wenn möglich auch ohne Bandage. Gelenknahe Absetzungen werden entsprechend der Stumpfanatomie versorgt: distaler Stumpf ähnliche Schafttechnik wie bei Ellbogenex, ultrakurzer Stumpf wird mit Schulterkappe versorgt wie bei Schulterex. Bei der Schafttechnik kommen häufig individuelle Silikonliner zum Einsatz, das gilt für kosmetische, zugbetätigte und myoelektrische Prothesen. Große funktionelle Unterschiede gibt es bei den Ellbogenpassteilen bis hin zum mikroprozessorgesteuerten DynamicArm.
Kosmetische Oberarmprothesen > Für diese passive, ästhetische Prothesenkonstruktion kommen häufig Modular-Armpassteile als Rohrskelett zum Einsatz.
Sie sind proximal mit dem Prothesenschaft und distal mit einer passiven Hand verbunden. Zur Wiederherstellung des äußeren Erscheinungsbildes sind sie mit einem Schaumstoffüberzug verkleidet, den der Orthopädietechniker in eine individuelle Form schleift. Ein natürliches Aussehen erreicht man mit individuellen Silikonüberzügen.
Zugbetätigte Oberarmprothesen a
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> Bei dieser Eigenkraftprothese werden die Greiffunktion der
⊡ Abb. 42.16 Kosmetische Ellbogenexartikulationsprothese. a Ellbogenexartikulationsstumpf: Aufrollen des Silikonliner, b angelegte Prothese mit mittellangem Oberarmschaft, der kosmetische Handschuh verkleidet auch Gelenkspalt und Ellbogengelenke
Hand sowie Beugung und Sperrung des Ellbogenpassteils über eine Dreizugbandage betätigt.
Die genaue Anpassung der Bandage, eine gewisse Geschicklichkeit des Amputierten und seine Motivation sind erfolgskritische Fakto-
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⊡ Abb. 42.17 Zugbetätigte Oberarmprothesen. a Festlegen der Aufbaulinie am Gipsnegativ, b Anprobe des Thermoplast-Innenschaftes, c im praktischen Einsatz
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Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
Myoelektrische Oberarmprothesen > Dieser Versorgungssektor hat in den letzten Jahren wichtige funktionelle Verbesserungen erfahren, die Stumpfeinbettungen mit Silikonlinern und elektronische Ellbogenpassteile betreffen. Der mikroprozessorgesteuerte und elektromotorisch angetriebene DynamicArm eröffnet mit seinem autoadaptiven Antriebskonzept neue Versorgungsmöglichkeiten.
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Alle Bewegungen werden über myoelektrische Signale oder Schalterelemente angesteuert und elektronisch geregelt. Bei der Materialauswahl und Schafttechnik gelten die gleichen Kriterien wie bei den bisher beschriebenen Konstruktionen. Wichtige Voraussetzung ist die genaue Platzierung der Myoelektroden im Prothesenschaft. Beginnend mit dem Myotest stehen die Übungen der EMG-Signale durch gezieltes Anspannen der Stumpfmuskeln im Vordergrund. Mithilfe der DynamicArm Software erlernt der Patient das genaue Ansteuern der Funktionen, die er am Bildschirm verfolgen kann. Für die Anpassung der Prothesen und die stufenweise Funktionskontrolle ist unbedingt eine Testschaftprothese zu empfehlen. Gerade bei bilateraler Amputation sind die funktionellen Vorteile des DynamicArm kaum zu überbieten (⊡ Abb. 42.18). Bei den bereits erwähnten myoelektrischen Hybridprothesen werden die Handfunktionen über EMG-Signale angesteuert und das Ellbogengelenk durch Bandagenzug betätigt. 42.2.6 Schulterexartikulationsprothesen
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Die prothetischen Versorgungen im Bereich der Schulter betreffen a) subkapitale Amputationen, bei denen der Humeruskopf erhalten bleibt, b) Schulterexartikulationen und c) Amputationen des Schultergürtels als interskapulothorakale Amputation (»forequarter amputation«). Diese radikalen Eingriffe mit großem Substanzverlust führen zu einer ausgeprägten Asymmetrie des Oberkörpers und sind schwieriger zu versorgen als transhumerale Amputationen. > Für die Haftung der Prothese fehlen wichtige Abstützungspunkte und Haftungsflächen, sodass eine Stumpfbettung als schulterumfassende Kontaktkappe mit Haltebandage erforderlich ist. Bei Schultergürtelamputation müssen Teile des Thorax bis zur Taille mit einbezogen und der fehlende Substanzverlust ausgeglichen werden.
42 c ⊡ Abb. 42.18 Myoelektrische Oberarmprothesen. a Myo-Test mit Üben der Greiffunktion, b Anziehen der Oberarmprothese, c Geschicklichkeitsübungen mit System-Elektrogreifer
Dadurch wird die Schulterkontur wiederhergestellt und das Tragen normaler Kleidung möglich. Neben dem natürlichen Aussehen spielt das geringe Prothesengewicht und die einfache Handhabung für den Tragekomfort und damit für die Compliance eine Rolle. So werden meist passive, ästhetische Prothesen eingesetzt. Allerdings haben die funktionellen Versorgungen mit Myoelektrik insbesondere bei jungen Patienten Vorteile für Körperstatik und Bewegungsablauf ( Abschn. 42.1.1).
Kosmetische Schulterexartikulationsprothesen ren. Das Einbeziehen der kontralateralen Achsel für die Bandagensteuerung mindert den Tragekomfort und kann Complianceprobleme bringen. Wenn die Voraussetzungen für eine myoelektrische Versorgung fehlen (s. Unterarmprothese) ist als aktive Prothese die zugbetätigte zu empfehlen (⊡ Abb. 42.17).
In die stumpfeinbettende Schulterkappe ist der Befestigungsanker des mechanischen Schultergelenks integriert, das die Verbindung zum Modular-Armpassteil mit Prothesenhand herstellt. Für die äußere Form und ein natürliches Aussehen verkleidet ein individuell geformter Schaumstoffüberzug die mechanischen Komponenten.
1205 42.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
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⊡ Abb. 42.19 Kosmetische Schulterexartukulationsprothese. a Anprobe der stumpfbettenden Schulterkappe mit Anschluss für Schultergelenk und Schaumkosmetik, b Anprobe der Prothese im Rohbau mit Kontrolle von Länge und Position der Modularbauteile, c fertige Modularprothese mit Schaumstoffverkleidung mit Kosmetikabschluss
Den äußeren Abschluss bilden ein Überzugtrikot und ein Handschuh in Hautstruktur (⊡ Abb. 42.19).
Myoelektrische Schulterexartikulationsprothesen > Entscheidend für den Versorgungserfolg mit dieser aufwendigen Armprothesenkonstruktion sind die Mitarbeit und Motivation des Patienten und das Können des Orthopädietechnikers.
Aufgrund seiner Erfahrung wählt er entsprechend der EMG-Signale die myoelektrisch gesteuerten Komponenten aus und kombiniert z. B. Myoelektroden mit Zugschaltern. Für den Bewegungsablauf ist der Einbau eines Schultergelenks und eines mitschwingenden Ellbogenpassteils z. B. DynamicArm günstig, das haben biomechanische Untersuchungen gezeigt (⊡ Abb. 42.20). 42.2.7 Gedankengesteuerte Armprothesen Für schulterexartikulierte Patienten gibt es in der Zukunft eine grundlegend neue Versorgungsoption mit einer intuitiven Steuerung. Diese sog. gedankengesteuerte Armprothese ermöglicht dem Amputierten nach der TMR-Methode (»targeted muscle reinnervations method«) durch die gleichzeitige Ansteuerung mehrerer Gelenke oder Funktionen einen natürlichen Bewegungsablauf. Der Weg zur TMR-Prothese beginnt mit der chirurgischen Umleitung der Nerven, die ursprünglich Hand und Unterarm innervierten. Voraussetzungen sind deren funktionsfähige Nervenstümpfe und ein intakter Brustmuskel, in den der selektive Nerventransfer erfolgt. Während des Heilungsprozesses wachsen die Armnerven und schaffen eine Neuverbindung mit den chirurgisch segmentierten Brustmuskeln. So können Signale, die ursprünglich für die Bewegungen von Arm und Hand zuständig waren, für die differenzierte Prothesensteuerung genutzt werden.
Über spezielle Muskelerkennungsverfahren lässt sich nach ca. 12 Monaten zu jeder Bewegung eines Phantomarmes ein spezifisches EMG-Muster identifizieren, aus dem Steuersignale für die Prothese in Echtzeit errechnet werden. Die Targeted Muscle Reinnervation verbessert die Rehabilitation von Neuamputierten im Schulterbereich signifikant und erste Versorgungen mit TMR-Prothesen sind vielversprechend. Bis zur serienreife und dem routinemäßigen Einsatz sind noch Voraussetzungen zu erfüllen (⊡ Abb. 42.21). Nach den guten Erfahrungen im Schulterbereich gibt es erste Nerventransferoperationen auch bei transhumeralen Amputationen. 42.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Während des Versorgungsablaufes steht die Vermeidung von technischen Fehlern bei der Anfertigung einer Armprothese im Vordergrund. Die Technik muss soweit wie möglich auf die individuelle Situation abgestimmt sein und darf keine körperlichen Einschränkungen bewirken. Compliance und langfristiger Rehabilitationserfolg hängen darüber hinaus von dem individuellen Umgang des Amputierten mit seiner Prothese ab. Zur Vermeidung von Unzulänglichkeiten und zur Gefahrenabwehr ist eine umfassende Information des Prothesenträgers durch den Orthopädietechniker erforderlich. 42.3.1 Patientenrelevanter Versorgungsverlauf Bei einer Erstversorgung muss die Prothesenanfertigung in das Therapiekonzept integriert werden. Von der Wundheilung und der Stumpfsituation hängt der Beginn der Schaftanfertigung ab. Bei Früh- oder Interimsprothesen müssen Stumpf und Schaft ständig kontrolliert werden. Durch das transparente Schaftmate-
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Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 42.20 Myoelektrische Schulterexartikulationsprothese. a Klinischer Aspekt nach Schulterexartikulation: Ansicht von dorsal, b Schulterkappe mit integrierten Formausgleich und Bandage: Ansicht von ventral, c Schulterkappe mit integrierten Formausgleich und Bandage: Ansicht von dorsal; der Zug für das Steuerungssystem ist zu erkennen, d Schultergürtelprothese mit myoelektrischer Handfunktion und elektrischer Ellbogensperre, e Haltungsanalyse mit dem L.A.S.A.R. Posture durch Darstellen der Lastlinie. Das Prothesengewicht kompensiert die Abweichung aus dem Lot (links), f biomechanische Ganganalyse zur Überprüfung des Bewegungsablaufes; über reflektierende Marker erfassen 3-D-Kameras die kinematischen Daten
1207 42.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
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c ⊡ Abb. 42.21 Gedankengesteuerte Schulterex-Prothese durch Targeted Muscle Reinervation (TMR). a Prinzip der TMR-Prothese, b offizielle Vorstellung der TMR-Prothese anlässlich des 40-jährigen Jubiläums von Otto Bock Österreich, c Schulterex-TMR-Prothese am Patienten
rial sind Hautveränderungen, Druckstellen und Risikozonen im Narbenbereich gut zu erkennen. Der Amputierte muss instruiert werden, auftretende Veränderungen oder Schmerzen sofort zu melden.
▬ Verwendung geprüfter Schaftmaterialien in Bezug auf Formstabilität, Hygiene und Hautverträglichkeit
▬ Evtl. Anfertigung einer Probeprothese mit Testschaft auch zur Auswahl alternativer Komponenten
▬ Passformkontrolle des Innenschaftes, möglichst als VollBei der definitiven Prothesenversorgung lassen sich Fehler vermeiden, wenn u. a. folgende Kriterien beachtet werden: ▬ Schmerzfreier Stumpf ohne wesentliche Schwellungen (Kompressionsverband oder Liner) ▬ Beweglichkeit, Kraftentwicklung und gezielte Kontraktion der Stumpfmuskulatur z. B. für EMG-Signale ▬ Maß- und Abformtechnik nicht am späten Nachmittag, sondern an ausgeruhten Patienten (gilt später auch für Anproben) ▬ Genaue Erfassung aller Stumpfparameter und der EMGSignale nach ausreichender Übung mit dem Myotest-Gerät ▬ Sorgfältige Gipsnegativabnahme mit individueller Stumpf▼ modellierung und anschließender Anprobe des Negativs
kontaktschaft mit verminderten Druck z. B. an Knochenvorsprüngen ▬ Überprüfung der Myoelektroden mit Feinjustierung ▬ Anpassen der Bandage mit Greifübungen
Abhängig von Amputationshöhe, Stumpfsituation und Prothesensystem ist die Anprobe mit Funktionsoptimierung ein fließender Vorgang. Immer gehören die möglichst naturgetreue Ästhetik in Form und Farbe dazu. Eine umfassende Einweisung in den Umgang mit der Prothese möglichst mit Ergotherapie ist ein erfolgskritischer Faktor ( Abschn. 42.1.7). Ebenso muss im Sinne des Medizinproduktgesetzes über technische Einzelheiten informiert werden.
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Kapitel 42 · Prothetik im Bereich der oberen Extremität
42.3.2 Umgang mit der Armprothese Jeder Amputierte muss sich zuerst an seine Prothese gewöhnen und sich mit ihr vertraut machen. Um die funktionellen Vorteile nutzen zu können, muss er diszipliniert üben und zuerst empfundene Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Diese scheinbaren Selbstverständlichkeiten dürfen trotz aller technischen Fortschritte nicht vergessen werden. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg und müssen vom gesamten Team vermittelt werden.
Der Amputierte muss u. a. folgende Punkte beachten: ▬ Gesunde Lebensführung, auch um große Gewichtsschwankungen zu vermeiden ▬ Körperhygiene und Stumpfpflege ▬ Regelmäßige Reinigung der Prothese z. B. tägliches Waschen des Liners ▬ Sachgemäßer Umgang mit der Prothese in Bezug auf Verschmutzung und mechanische Beschädigung ▬ Vorgegebene Inspektion und Servicekontrollen beachten
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Der Prothesenanwender erhält von seinem Versorgungsbetrieb eine Bedienungsanleitung über den Umgang mit seiner Prothese. Über die einzelnen Komponenten sind weiterführende Informationen der Industrie beigefügt. Sie betreffen z. B. die Reinigung der kosmetischen Handüberzüge oder Silikonliner. Für den Bereich myoelektrische Konstruktionen gelten die Sicherheitshinweise laut GS-Zeichen für Elektrogeräte. Warnungen vor Störungen durch Hochfrequenz und Magnetfeldern usw. sind ähnlich wie bei Herzschrittmachern. Als Beispiel für Gefahrenabwehr beim Autofahren ist hier ein Auszug aus einer Bedienungsanleitung für Otto-Bock-Systemhände: »Unfallgefahr bei Einsatz in KFZ. Ob und wie weit der Träger einer Prothese zum Führen eines Fahrzeugs in der Lage ist, kann pauschal nicht beantwortet werde. Dies hängt von der Art der Versorgung (Amputationshöhe, einseitig oder beidseitig, Stumpfverhältnisse, Bauart der Prothese) und den individuellen Fähigkeiten des Trägers der Armprothese ab. Unbedingt zu beachten sind die nationalen gesetzlichen Vorschriften zum Führen eines Kraftfahrzeuges, und der Prothesenträger sollte aus versicherungsrechtlichen Gründen seine Fahrtüchtigkeit von einer autorisierten Stelle überprüfen und bestätigen lassen. Generell empfiehlt Otto Bock, das Fahrzeug von einem Fachbetrieb auf die jeweiligen Bedürfnisse umrüsten zu lassen (z. B. Lenkgabel, Automatikschaltung).«
Weiterführende Literatur Baumgartner R, Botta P (1997) Amputation und Prothesenversorgung der oberen Extremität. Thieme, Stuttgart Baumgartner R, Botta P (2007) Amputation und Prothesenversorgung. 3. Aufl. Thieme, Stuttgart Baumgartner R, Greitemann B (2007) Grundkurs Technische Orthopädie. 2. Aufl. Thieme, Stuttgart Blumentritt S, Milde L (2009) Exoprothetik. In Wintermantel E, Ha SW (Hrsg) Medizintechnik, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Dietl H, Gröpel W (2001) Versorgung nach Teilhandamputation mit myoelektrischen Komponenten. Orthopäd Tech 52: 21–23 Dietl H (2008) Der Weg zur gedankengesteuerten Prothese. Orthopäd Tech 59: 340–344 Egger H (2010) Die gedankengesteuerte Armprothese und die fühlende Handprothese. Orthopäd Tech 61: 156-161
Greitemann B (1997) Armamputation und Haltungssymetrie. Enke, Stuttgart Greitemann B, Bork H, Brückner L (2002) Rehabilitation Amputierter. Gentner, Stuttgart Hijjawi JB, Kuiken TA, Lipschutz RD, Miller LA, Stubblefield KA, Dumanian GA (2006) Improved myoelectric prosthesis control accomplished using multiple nerve transfers. Plast Reconstr Surg 118: 1573–1578 Kuhn GG (1968) Kunstarmbau in Gießharztechnik. Thieme, Stuttgart Kuiken TA, Dumanian GA, Lipschutz RD, Miller LA, Stubblefield KA (2004) The use of targeted muscle reinnervation for improved myoelectric prosthesis control in a bilateral shoulder disarticulation amputee. Prothet Orthot Int 28: 245–253 Kummer B (2005) Biomechanik. Deutscher Ärzteverlag, Köln Löffler L (1984) Der Ersatz für die obere Extremität. Enke, Stuttgart Näder M (1990) The Artificial Substitution of Missing Hands with myoelectrical prostheses. Clin Orthopaed 9, Vol 258 Näder HG (Hrsg) (20101 Otto Bock Prothesenkompendium ‘Prothesen für die obere Extremität’. Otto Bock Health Care Neff G (1992) Allgemeine Amputationslehre In: Jäger M, Wieth CJ (Hrsg) Praxis Orthopädie, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart Trebes G, Wolff U, Röttgen H., Groth J (1970) Die Armschulung. In: Blohmke F (Hrsg) Technische Orthopädie. Thieme, Stuttgart
1209 42.3 · Weiterführende Literatur
Schuss- und Explosionsverletzungen Erwin Waldemar Kollig
43.1
Allgemeines – 1210
43.1.1 43.1.2 43.1.3 43.1.4 43.1.5 43.1.6 43.1.7 43.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1210 Epidemiologie – 1212 Ätiologie – 1214 Diagnostik – 1214 Klassifikation – 1215 Indikationen und Differenzialtherapie – 1215 Therapie – 1216 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1219
43.2
Spezielle Techniken
43.2.1 43.2.2 43.2.3 43.2.4 43.2.5 43.2.6 43.2.7 43.2.8
Technik der Anlage des Fixateur externe im Fingerbereich – 1219 Technik der Anlage des Fixateur externe im Mittelhandbereich der Finger – 1219 Technik der Anlage des Fixateur externe zum Segmenttransport im Mittelhandbereich der Finger – 1222 Technik der Anlage des Fixateur externe im Mittelhandbereich des Daumens – 1222 Technik der Anlage des Distraktionsfixateur externe im Mittelhandbereich des Daumens Technik der Weichteildistraktion im Fingerbereich – 1223 Technik der Anlage des Fixateur externe im Handgelenkbereich – 1223 Gewebebankkonzept nach Chase (»spear part surgery«, »le doit banque«) – 1225
– 1219
43.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1225 Weiterführende Literatur
– 1227
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1222
43
1210
43.1
Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
Allgemeines
Die komplexe Anatomie der Hand mit ihren unterschiedlichen Gewebestrukturen in enger topografischer Relation und der Notwendigkeit einer ungestörten Funktion lassen ein penetrierendes Trauma per se zu einer nachhaltigen Gefahr für dieses einzigartige Gebilde werden. Umso mehr gilt dies für eine Schussverletzung. Häufig handelt es sich hierbei um Komplextraumata, die das wiederherstellungschirurgische Repertoire der Handchirurgie in Gänze fordern. Insbesondere nach Gewaltanwendung an der Hand resultieren weitreichende nachteilige Effekte auf den physischen wie psychischen Gesundheitsstatus. Nachfolgend sollen Besonderheiten dieser Traumaentität bei Entstehung, Diagnostik und Therapie dargestellt und anhand von Beispielen erläutert werden. Dazu ergänzend werden die Explosionsverletzungen der Hand mit dargestellt. Es finden sich hier zwar Ähnlichkeiten zu den Druckluftverletzungen, dabei bestehen allerdings für die Behandlung wie Prognose relevante Besonderheiten dieser Verletzungsart, die eine eigene Darstellung nahelegen. 43.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Geschoss- und Wundballistik > Grundkenntnisse zur Projektil- und Wundballistik verschaffen dem Behandler wichtige Vorteile hinsichtlich Beurteilung, Therapiefindung und Prognose.
Um Entstehung, Ausbreitung und Komplikationen einer Schusswunde in gebotenem Maß verstehen zu können, sind Grundkenntnisse zu dieser Thematik hilfreich. Dies gilt auch für die Hand, daher werden an dieser Stelle Basisinformationen dazu vorgestellt. Der weiter Interessierte sei auf die zahlreichen hierzu existierenden Publikationen und Standardwerke hingewiesen. > »Treat the wound, not the weapon.« Erkenntnisse aus der theoretischen Ballistik wie aus praktischen Beschussversuchen an artifiziellen Körpern aus Gelatine, Plastilin, Seifen o. Ä. sind nicht analog auf die Hand übertragbar. Für die meisten wundballistischen Effekte sind Masse und Durchmesser dieses Ziels zu gering, die Transitstrecke zu kurz. Dies gilt insbesondere für die Einwirkung der unsachlich mythologisierten Hochgeschwindigkeitsprojektile.
Die Wundentstehung beim Geschosstreffer ist stets eine multifaktorielle, sie hängt ab von: ▬ Typ bzw. Konstruktion des Projektils, ▬ Distanz bzw. Auftreffgeschwindigkeit, ▬ Taumelneigung bzw. Stabilität der Flugbahn, ▬ Kaliber und Geschossgewicht, ▬ Energieabgabe im Ziel, ▬ Beschaffenheit des Treffergewebes und ▬ Abbremsverhalten bzw. Energieabgabe im Gewebe. > Vereinfachend ausgedrückt ist nicht die Geschossgeschwindigkeit der wichtigste Parameter der Zerstörungspotenz einer Schussverletzung. Die Umsetzung der Energie vor Ort spielt die wesentliche Rolle bei Art und Umfang der Schäden.
Ein niedriger Energietransfer impliziert eine umschriebene Läsion, die möglicherweise keiner aufwendigen Therapie bedarf. Eine Hochenergieverletzung hinterlässt komplexe Gewebezerstörungen, das Ausmaß der Verletzungskombination lässt sich dabei vom äußeren Aspekt nicht hinreichend abschätzen. Diese Verletzungsentität fordert die Handchirurgie in all ihren Facetten. Die hier gezeigten Projektilarten stellen einen partiellen Querschnitt aus der kaum mehr überschaubaren Vielfalt an modernen Geschossen dar. Die Auswahl wurde repräsentativ vorgenommen, um grundsätzliche Unterschiede herauszustellen: Die Konzeption des Deformationsgeschosses (hier: Teilmantel, ⊡ Abb. 43.1a) beruht auf dem (kontrollierten) Aufpilzverhalten. Damit wird eine Querschnittvergrößerung erzielt und eine höhere Abgabe kinetischer Energie an das Gewebe. Konsequenterweise zeigt ein Ausschuss hier einen größeren Durchmesser als der des eingesetzten Kalibers. Vom Prinzip her handelt es sich um ein Dumdumgeschoss. Das Vollmantelgeschoss (⊡ Abb. 43.1b) zeigt – in Abhängigkeit von seiner Manteldicke wie von der Rigidität des Treffergewebes – keine oder eine nur geringe Deformierungstendenz. Es gibt im Vergleich die geringste Energie bei der Gewebepasssage ab. Bei geringer Geschwindigkeit (ca. 280–380m/s) fällt der Ausschuss sogar regelmäßig geringer aus als das eingesetzte Kaliber (Elastizität der Haut). Daraus allein können keine grundsätzlichen Rückschlüsse auf die Wirkung im Inneren gezogen werden. Das Vollbleigeschoss (⊡ Abb. 43.1c) wird fast ausnahmslos im Niedriggeschwindigkeitsbereich geladen, es weist eine Deformierbarkeit und damit Energieabgabe auf, die in direktem Zusammenhang mit der Rigidität des Treffergewebes steht. Quetschspuren am Projektil, wie hier abgebildet, sind in der Regel durch einen Knochentreffer verursacht. Vollbleigeschosse können je nach Kaliber
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⊡ Abb. 43.1 Verschiedene Geschossarten nach Gewebepassage. a Teilmantel (Revolver Kal. .357 Magnum), b Vollmantel (Pistole Kal. 9 mm Para), c Vollblei (Revolver Kal. .38 Spezial), d Zerleger (Gewehr Kal. .300 Win Mag)
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und Energie im Treffergebiet verbleiben, es findet sich dann kein Ausschuss (Steckschuss). Beim Zerlegungsgeschoss (⊡ Abb. 43.1d) ist der Innenaufbau so konstruiert, dass beim Auftreffen in der Regel der vordere Anteil fragmentiert. Die radial vom Schusskanal weggesprengten Splitter potenzieren den Gewebeschaden und die Energieabgabe. Modifikationen dieser Geschosstypen werden auch von Spezialkräften der Polizei (z. B. Sondereinsatzkommandos) eingesetzt (z. B. Polizeiexpansionspatrone [PEP], Schrägflächengeschoss [SF]). Ziel ihrer Verwendung ist das Herbeiführen einer sofortigen Handlungsunfähigkeit bei entsprechender Not- resp. Gefahrenlage. Die Stabilität einer Geschossflugbahn aus einer modernen Waffe nimmt über den Faktor Distanz eher zu. Im Umkehrschluss sind Projektile direkt nach Verlassen des Laufes noch nicht stabilisiert und neigen beim ersten Widerstand zur unkontrollierten Kinetik. Je rasanter das Kaliber, umso ausgeprägter ist dieses Phänomen. Dies erklärt, warum bei identischen Waffen und Kalibern durch unterschiedliche Distanzen weit unterschiedliche Wundqualitäten verursacht werden können. Moderne, eher kleinkalibrige Hochgeschwindigkeitsgeschosse (HV, »high velocity«) sind bei dünnem Mantel per se weniger solide, insbesondere beim Auftreffen auf »hartes« Gewebe wie z. B. Knochen oder Organe von hoher Gewebedichte (z. B. Leber, Niere). Diesen Eigenschaften verdanken die kleinen Hochrasanzkaliber ihren bis in das Reich der Fabel reichenden Ruf der Zerstörungskraft. Die verbreitete Annahme, dass die modernen Hochgeschwindigkeitskaliber grundsätzlich schwerste Gewebezerstörungen verursachen, ist durch diametrale Erfahrungsberichte von Kombattanten wie Militärchirurgen ex post als widerlegt zu betrachten. So zeigt z. B. ⊡ Abb. 43.2 eine Durchschussverletzung am Handgelenk. Es handelt sich um einen Nahschuss mit einem Hochrasanzkaliber mit Vollmantelprojektil. Theoretisch hätte diese Konstellation eine desaströse Wundsituation erwarten lassen, faktisch wurde eine sehr umschriebene Gewebeläsion generiert mit einem vergleichsweise einfachen Behandlungsregime. Gesondert zu erwähnen ist die Schrotschussverletzung. Auf kurze Distanz bleibt die Schrotgarbe noch dicht beieinander, sodass schwerste Zerstörungen verursacht werden, die den Erhalt der Hand in Frage stellen können. Auch auf eine Entfernung von 15–20 m hinterlässt die Schrotgarbe ein schwer zu behandelndes Verletzungsmuster: Meist ist die gesamte Hand betroffen, die multi-
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plen Einzelverletzungen und die im Gewebe verbleibenden Schrotkörner lassen gewohnte Behandlungspfade nicht zu. Es resultieren dann langwierige und im Resultat frustrierende Therapieverläufe. Eine weitere Besonderheit stellt der absolute oder aufgesetzte Nahschuss dar. Die Laufmündung wird dabei direkt auf das Gewebe gedrückt, die für die Geschossbeschleunigung freigesetzten Pulvergase werden via Waffenlauf explosionsartig mit in den Schusskanal gepresst. Es kommt zu einem Gas-Jet in das Gewebe. Der dadurch hervorgerufene Gewebeschaden fällt um ein Vielfaches größer aus, als das ballistische Potenzial der Patrone es erwarten ließe (⊡ Abb. 43.3). Im Grunde genommen handelt es sich hier um die Kombination von einer Schuss- mit einer Explosionsverletzung.
Besonderheiten der Explosionsverletzung Diese Verletzungsart (»blast injury«) verursacht an der Hand stets ein mutilierendes Trauma. Es sollte grundsätzlich von einer Komplexverletzung ausgegangen werden. Hierzulande trifft man sie regelhaft nach unsachgemäßer Handhabung von Feuerwerkskörpern oder unkontrollierter Umsetzung selbst gebastelter Pyrotechnik an.
Bei den Effekten eines Explosionstraumas sind 4 Kategorien zu differenzieren: ▬ Primäre – mechanischer Effekt der Überdruckwelle, traumatische (Teil-)Amputation, direkte Gewebelazeration ▬ Sekundäre – penetrierende Schrapnelle bzw. Fragmente inkl. Steinchen etc. ▬ Tertiäre – stumpfe Verletzungen durch Umhergeschleudertwerden ▬ Quartäre – Verbrennungen, Crush-Syndrom, Vergiftung, Infektion, psychische Störungen
Die bei einer Explosion freigesetzten Kräfte übertreffen z. B. die einer Druckluftverletzung an der Hand um ein Vielfaches. Wie ⊡ Abb. 43.4 veranschaulicht, reißt die Druckwelle das Integument auf (bis zu 6.000 m/s Anfangsgeschwindigkeit), sie bewirkt eine Zerreißung bis hin zur Amputation. Charakteristisch sind irreguläre Verletzungsmorphologien am Gewebe. Die Druckwelle verliert zwar ihre Gewalt exponentiell mit der Entfernung, entscheidend ist der denudierende Effekt des »Blast«- Windes entlang der wider-
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⊡ Abb. 43.2 Durchschuss mit HV-Patrone. a Klinischer Aspekt: Einschuss, b klinischer Aspekt: Ausschuss, c Röntgenbild: d. p. Strahlengang (Fraktur des Os triquetrum), d Röntgenbild: lateraler Strahlengang
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Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
⊡ Abb. 43.3 Sogenannter aufgesetzter Nahschuss mit einem Revolver Kal. 44 Magnum. a Einschuss palmar mit den typischen Schmauchspuren, b Ausschuss dorsal mit ausgedehnter Lazeration (akzidentelle Schusswunde)
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⊡ Abb. 43.4 Explosionswirkung an Hand und Unterarm
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standsfähigeren anatomischen Strukturen. Dadurch werden z. B. Knochen und Sehnen längerstreckig und zirkulär ihrer nutritiven und protektiven Strukturen beraubt. Da Arterien insbesondere bei jüngeren Personen widerstandsfähig sind, kann das Folgephänomen eintreten, dass trotz intakter Makrozirkulation im weiteren Verlauf nicht vorhersehbare ausgedehnte Gewebeuntergänge zu verzeichnen sind (⊡ Abb. 43.5) Weiterhin werden entweder Fragmente des Sprengsatzes selbst (»Schrapnelle«) oder aus der unmittelbaren Umgebung eingetragen (Steinchen, Erdreich, Holzsplitter etc.), zusätzlich wirken Knochenfragmente als Sekundärgeschosse. Diesem Eintrag von Fremdmaterial und Keimen leistet der denudierende Effekt Vorschub. > Es resultiert das Szenario einer obligat kontaminierten, irregulären Gewebeläsion mit primär nicht absehbarer Ausdehnung. Es sind ideale Voraussetzungen für jedwede Komplikationen bis hin zum lebensbedrohlichen Infekt (»Wundbrand«) gegeben.
Stellt eine Schussverletzung mit großem Energieumsatz den Handchirurgen u. U. vor grenzwertige Situationen hinsichtlich Erhalt resp. Wiederherstellung der Gliedmaße, so wird er sich nach einem
Explosionstrauma häufig an der Grenze des Machbaren überhaupt wiederfinden. Die geschilderten Phänomene sind bei Therapie wie Prognose mit einzukalkulieren. 43.1.2 Epidemiologie Die Schussverletzung der Hand stellt in Mitteleuropa eine seltene Verletzungsentität dar, wie das penetrierende Trauma in den Verletzungsstatistiken hier generell eine geringe Inzidenz aufweist. In der Konsequenz resultiert die fehlende, gewachsene Expertise der behandelnden Instanzen im Vergleich zu Gesellschaften mit ungleich höherer Umsetzung von Waffengewalt wie beispielsweise in den USA oder Südafrika. Daneben zeigen die aktuellen Zahlen aus bewaffneten Konflikten, dass durch den verbesserten ballistischen Körperschutz der Kombattanten primär lebensbedrohliche oder tödliche Schussund Splitterverletzungen jetzt überlebbar werden. Hierdurch resultiert relativ wie absolut eine höhere Anzahl an penetrierenden Gliedmaßentraumata, wobei hier die obere Extremität überwiegt.
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⊡ Abb. 43.5 Explosionsverletzung der Hand beim Minenräumen, 12 Stunden nach Trauma. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme: Ansicht von dorsal, b klinischer Aspekt bei Aufnahme: Ansicht von palmar, c Röntgenbild bei Aufnahme: schräge Aufnahme, d Röntgenbild bei Aufnahme: d. p. Strahlengang, e klinischer Aspekt mit typischem, sekundärem Ausweiten der Nekrosezone und des Infektes nach Explosion (Afghanistan), f intraoperativer Aspekt: Nachamputation D3, D4 unter Verwendung der noch intakten palmaren Haut – im Sinne eine Cheiroplastik – zur Weichteildefektdeckung im dorsalen Mittelhandbereich nach dem Gewebebankkonzept nach Chase (»spare part surgery«), g intraoperativer Aspekt: Defektsituation palmar und ulnar mit freiliegendem Karpus, h intraoperativer Aspekt: Defektdeckung mithilfe eines ipsilateralen Leistenlappens, i klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ
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Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
Bei der Trefferverteilung machen die Gliedmaßen mit 60–70% der Verletzungen das Gros der verletzten Körperregionen aus, dabei werden Schussverletzungen der Hände deutlich weniger gehäuft beobachtet (bis zu 7%). Im zivilen Umfeld zählen sie zu den Raritäten. Zu berücksichtigen sind Mehrfachverletzungen zusätzlich zu denen der Hand, insbesondere wenn (halb-)automatische Waffen verwendet wurden. 43.1.3 Ätiologie Im hiesigen Umfeld handelt es sich regelmäßig um akzidentelle Traumata beim Reinigen einer versehentlich noch geladenen Waffe oder durch sonstiges unsachgemäßes Hantieren. Weniger oft wird die Hand beim Abwehrversuch eines Angriffs mit einer Schusswaffe getroffen. Explosionsverletzungen der Hände gehören – im mitteleuropäischen Raum meist verursacht durch selbst gebastelte Böller oder sonstige Feuerwerkskörper – vor allem zur Jahreswende zum handchirurgischen Repertoire von vielen Notaufnahmen. Es finden sich hier Ähnlichkeiten zu den Druckluftverletzungen, dabei bestehen für die Behandlung wie Prognose relevante Besonderheiten dieser Verletzungsart, die eine eigene Darstellung nahelegen. 43.1.4 Diagnostik Grundsätzlich unterscheidet sich der Untersuchungsgang der durch Schuss oder Explosion verletzten Hand nicht vom Vorgehen nach sonstigen penetrierenden Traumata ( Kap. 2). Die nachfolgend aufgelisteten Schritte können teils syn- teils metachron vorgenommen werden: ▬ Inspektion, ▬ Palpation, ▬ Funktionsüberprüfung aktiv und passiv, ▬ bildgebende Diagostik: Röntgen, CT (kontrastiert), (CT-)Angiografie, ▬ ergänzende Diagnostik: z. B. Doppler-Sonografie ▬ Fotodokumentation, ▬ spezifische und allgemeine anamnestische Angaben (Eigenoder Fremdanamnese), ▬ Angaben zum Hergang bzw. zu den verwendeten Waffen.
Je komplexer das Trauma, umso höher der Anspruch an den Untersucher. Bei Überprüfung der sensomotorischen Funktionen ist man in weiten Teilen auf die Kooperation des Verletzten angewiesen. Beim bewusstseinseingeschränkten Patienten sind initiale Informationsdefizite hierbei nicht vermeidbar. Zusätzliche, u. U. lebensbedrohliche penetrierende Verletzungen anderer Körperregionen zwingen möglicherweise dazu, zunächst nur die Vitalität des betroffenen Gliedmaßenabschnitts klinisch zu evaluieren, um erst eine Gesamtstabilisierung quoad vitam im Sinne einer »damage control« vorzunehmen. Bei der bildgebenden Diagnostik verschaffen konventionelle Röntgenaufnahmen einen ersten Überblick über das Stützsystem, destabilisierende Schäden hieran sowie über Lage und Art evtl. eingedrungener Fremdkörper. Insbesondere in kritischer Situation sind Röntgenaufnahmen schnell anzufertigen und Grundlage für das weitere Vorgehen. Ist die Durchblutungssituation unklar, können mit dem Taschen-Doppler die Hohlhandbögen und –sofern hinreichend durchblutet – auch die Digitalarterien dargestellt werden. Bei kritischer bzw. absoluter Ischämie erleichtert eine digitale Subtraktionsangiografie (DAS) das Herangehen an eine notwendige operative Revaskularisierung. Bei komplexen Verletzungen z. B. im Karpusbereich, ermöglicht die CT mit ihrer zwei- und dreidimensionalen Darstellungsmöglichkeit eine sichere räumliche Zuordnung und Planung rekonstruktiver Schritte. Die MRT besitzt in der Primärdiagnostik des penetrierenden Traumas der Hand keinen Stellenwert. Eine hochauflösende Technik vorausgesetzt leistet die MRT bei der Planung sekundärer Rekonstruktionen wertvolle Dienste. Die Möglichkeit einer MR-Angiografie als kombiniertes Diagnostikum ist hier ebenfalls anzuführen. Der Bedarf an weiterer Zusatzdiagnostik wird insbesondere hinsichtlich aufwendiger Rekonstruktionen nach komplexen Traumata an der Hand offenkundig. Als Beispiel seien neurologischerseits die elektrophysiologischen Untersuchungen genannt zur Darstellung der sensomotorischen Funktion resp. deren Verlaufskontrolle. Das konventionelle Röntgen bleibt auch Standarddiagnostikum für die Verlaufskontrolle nach Eingriffen am Stützsystem (⊡ Abb. 43.6).
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⊡ Abb. 43.6 Schussfraktur Metakarpale IV durch HV-Patrone. a Röntgenbild nach querer Bohrdrahtstabilisierung: schräger Strahlengang, b Röntgenbild nach querer Bohrdrahtstabilisierung: d. p. Strahlengang, c Röntgenbild nach Konsolidierung und Materialentfernung: schräger Strahlengang
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43.1.5 Klassifikation Abschn. 43.1.1 43.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie > Das zeitgleiche Vorliegen von schwersten Verletzungen der unterschiedlichen Funktionseinheiten an der Hand erfordert einen therapeutischen Algorithmus hinsichtlich des zeitlichen und inhaltlichen Abarbeitens der Interventionen. Wenn lediglich Einzelstrukturen von der Verletzung betroffen sind, gestalten sich Planung und Umsetzung der Behandlung einfacher.
Das zeitgleiche Vorliegen von schwersten Verletzungen der unterschiedlichen Funktionseinheiten an der Hand erfordert einen therapeutischen Algorithmus hinsichtlich des zeitlichen und inhaltlichen Abarbeitens der Interventionen. Wenn lediglich Einzelstrukturen von der Verletzung betroffen sind, gestalten sich Planung und Umsetzung der Behandlung einfacher. Die schwere Verletzung ist gekennzeichnet durch komplexe Gewebetraumatisierungen. Deren Behandlung gestaltet sich schwieriger, lang andauernd und anspruchsvoller in jeder Hinsicht. Das Weichgewebemanagement stellt auch hier einen für Erhalt von Form und Funktion entscheidenden Parameter dar. Erst eine suffizient und belastbar wiederhergestellte Weichgewebeummantelung erlaubt sekundäre Rekonstruktionsmaßnahmen der tiefer liegenden Funktionseinheiten. Auf die engen Zeitkorridore der plastischen Maßnahmen über Leitstrukturen wurde bereits hingewiesen. Grobe Nähte zum Erzwingen des direkten Wundverschlusses sind nicht adäquat, gerade die länger persistierenden Schwellungen nach Komplexverletzung fordern einen völlig spannungsfreien Wundverschluss. Dieser kann bei der hier behandelten Traumaentität regelhaft nur durch ortsständige oder freie Lappenplastiken erreicht werden ( Kap. 35). Spalthautplastiken werden hier wegen der funktionellen Nachteile zurückhaltender eingesetzt, häufig als Interimslösung. Mit der Einführung von Kollagenmembranen unter Spalthauttransplantaten konnte sich aber vor allem bei streckseitigen
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Defekten in jüngerer Zeit eine zusätzliche Möglichkeit einer einfachen plastischen Deckung etablieren, die den funktionellen Erfordernissen der Elastizität und Verschieblichkeit entgegenkommt ( Kap. 46). Ist ein (rechtzeitiger) Transfer des Verletzten nicht möglich, kommen auch einfache Techniken der plastischen Deckung zum Einsatz (⊡ Abb. 43.5). > Bei den oft notwendigen Amputationen sollte immer an die Möglichkeit der Verwendung von nicht verletztem Gewebe zur Gewebedeckung im Sinne des Gewebebankkonzepts nach Chase gedacht werden ( Abschn. 43.2.8)
Kleinere Defekte können durch ortsständige Rotationslappen verschlossen resp. augmentiert werden (⊡ Abb. 43.7c), bei ausgedehnteren Verlusten vor allem palmarseits hat sich der retrograde Radialislappen bewährt. Beugeseitig ist bei einer Lappenplanung die Ausdehnung noch vorhandener Restsensibilität mit zu berücksichtigen. Die Möglichkeiten der sensiblen Ersatzoperationen sind zu berücksichtigen.
Knochenverletzungen. Die Wiederherstellung der knöchernen Strukturen ist weitere Voraussetzung für Form und Funktion. Offene Osteosynthesen bedürfen der ausreichenden Weichgewebedeckung. Damit rückt die Anwendung von Platten regelhaft in den Bereich der Sekundärintervention, Entsprechendes gilt für Knochentransplantate. > Der Fixateur externe stellt bei den Schussbrüchen die Therapie der 1. Wahl zur primären Knochenfixierung dar (⊡ Abb. 43.7).
Definitive Osteosynthesen sind erst dann angezeigt, wenn bei wieder belastbarem Weichgewebe sicher kein Infekt vorliegt. Die Infektsanierung ist Conditio sine qua non vor allen weiteren, Rekonstruktionsschritten am Stütz- und Bewegungssystem. Je aufwendiger eine Transplantation sich abzeichnet, desto sicherer muss die Weichgewebeummantelung sein, um ein suffizientes Wirtslager zu bieten (⊡ Abb. 43.7). Wenn biologisch und technisch möglich, ist die definitive Versorgung auf die Option der funktionellen Nachbehandlung abzustimmen.
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⊡ Abb. 43.7 Schussverletzung im Bereich des PIP-Gelenks des Mittelfingers der linken Hand. a postoperatives Röntgenbild nach knöchernem Débridement im Sinne einer »En-bloc-Resektion« und temporärer Fixierung mithilfe eines Fixateur externe: d. p. Strahlengang, b lateraler Strahlengang, c klinischer Aspekt: Deckung des Weichteildefekts mithilfe eines Lappens nach Maruyama, d Ausheilungsergebnis nach autologer kortikospongiöser Spanplastik und Osteosynthese mit Titan-Miniplatte im Sinne einer Korrekturarthrodese bei fehlendem PIP-Gelenk: d. p. Strahlengang, e schräger Strahlengang
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Gelenkverletzungen. Aussichten auf eine strukturelle Wiederherstellung können nur dann gewahrt werden, wenn das eröffnete Gelenk im genannten engen Zeitfenster mit vitalem Gewebe gedeckt wird. Es ist zu berücksichtigen, dass Beuge- und Strecksehnenstrukturen regelmäßig mit betroffen sind bis hin zu relevanten Verlusten. Selbst wenn hier der Gelenkerhalt primär gelingt, sind Funktionseinschränkungen bis zur Ankylose bereits durch allfällige Vernarbungen zu verzeichnen. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, ist eine frühfunktionelle Rehabilitation erforderlich. Die Ausdehnung der Knochen- und Weichgewebetraumatisierung steht dem wiederum zumindest temporär diametral entgegen. Bei der Wiederherstellung geborstener Gelenkoberflächen ist Nutzen versus Risiko immer individuell neu und situationsadaptiert abzuwägen. Gelenkübergreifende Fixateurmontagen mit konsekutiver Funktionseinschränkung werden daher frühest möglich entfernt, sobald die knöcherne Konsolidierung dies zulässt. Entsprechendes gilt für Transfixationen von Gelenken mit Bohrdrähten. Liegt ein irreparabler Gelenkbefund vor, ist der Gelenkersatz zu erörtern. Ob beim meist jüngeren Verletzten an Daumen, Finger oder Handgelenk ein endoprothetischer Ersatz sinnvoll eingesetzt werden kann, ist jeweils unter Synopse aller Parameter kritisch abzuwägen. Entsprechendes gilt für eine komplette autologe Gelenktransplantation z. B. aus dem Zehenbereich. Es ist stets zu hinterfragen, ob der Verletzte bei den allfälligen, in der Regel ausgedehnten Verklebungen und Vernarbungen überhaupt vom Neogelenk profitieren kann. Eine Arthrodese in Funktionsstellung stellt hier nicht die schlechteste Alternative dar.
Sehnenverletzungen. Je weiter distal die Schuss- oder Split-
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terverletzung liegt (Finger), desto weniger der zahlreichen, für den Gesamtbewegungsablauf notwendigen Funktionseinheiten sind betroffen. Problematisch sind Handtellerschüsse, die regelhaft kombinierte resp. komplexe Läsionen der hier dicht beieinander liegenden Strukturen generieren. Umschriebene Sehnendefekte sind weniger problematisch, solange sie mit gut durchblutetem Gewebe gedeckt werden können. Primäre Defekte der intrinsischen Muskulatur sind ebenso wenig chirurgisch zu kompensieren wie ausgedehnte Vernarbungen in diesem Bereich mit ihrer Tendenz zur Verkürzung. Sofern vom Gesamtaspekt her überhaupt sinnvoll wie durchführbar, wird die Rekonstruktion bei Sehnendefekten sekundär durchgeführt, hierbei im Sinne des zwei- oder dreizeitigen Vorgehens. Hierbei haben sich – bei Vorliegen eines suffizienten Weichgewebelagers – Silikonstäbchen als Platzhalter wie Matrizen für neu entstehendes Paratenon bewährt, um anschließend autologe Sehnentransplantate einzusetzen (z. B. Palmaris longus). Bei der beugeseitigen Sehnenersatzplastik ist je nach Lokalisation die Wiederherstellung der Ringbänder zu berücksichtigen. Erlauben die lokalen Verhältnisse die Wiederherstellung nur einer Beugesehne, ist die Profundussehne zu bevorzugen, selbst bei Funktionsverlust des DIP-Gelenks. Streckseitige Sehnenverletzungen sind nicht zu unterschätzen, insbesondere wenn Defekte im »central sleeve« vorliegen. Die komplizierte funktionelle Anatomie des Streckapparates stellt im Verletzungsfall mit Substanzdefekt hohe Ansprüche an den Operateur. Die ausführliche Beschreibung der speziellen Indikationen und Techniken hierzu ist den entsprechenden Kapiteln dieses Werkes zu entnehmen. Bei ausgedehnteren, kombinierten Defekten vor allem im Mittelhandbereich sind auch die Möglichkeiten der motorischen Er-
⊡ Abb. 43.8 Sekundäre Revision des N. medianus bei veraltetem Durchschuss (HV-Projektil); die neurale Narbe ist bereits reseziert, es folgt die mikrochirurgische polyfaszikuläre Adaptation
satzoperationen in die differenzialtherapeutische Erörterung mit einzubeziehen ( Kap. 57).
Nervenverletzungen. Die Wiederherstellungschirurgie von Nervenläsionen an der Hand findet in der Hauptsache sekundär statt. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen sind in der Primärphase nicht gegeben, die Bedingungen risikobehaftet. Die im Rahmen der Erstversorgung bestätigte Nervenläsion wird optional mit Clips markiert, um bei der sekundären Revision bei abgeheilten Weichgewebeverhältnissen in der Umgebung die Darstellung resp. Neurolyse zu erleichtern (⊡ Abb. 43.8). Im Defektfall sollen primäre Nerventransplantationen den sekundären überlegen sein, die Besonderheiten der hier behandelten Verletzungsentität wurden dabei nicht vollumfänglich berücksichtigt. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Transplantation resp. Defektüberbrückung z. B. mit Kabeltransplantaten zeigen sich nach Beherrschen der Primärkomplikationen ungleich günstiger. Vorrang haben an der Hand zunächst die motorischen Äste der Nn. medianus und ulnaris. Als Transplantate haben sich die Nn. cutaneus antebrachii medialis sowie suralis bewährt, da ihr Wegfall nur umschriebene, sensible Ausfälle hinterlässt. Technik und Nachbehandlung orientieren sich an den Vorgaben der elektiven Nervenchirurgie ( Kap. 8) In den Bereich der sekundären Nervenchirurgie fällt auch die Option der Denervierung. Diese ist ins Auge zu fassen, wenn schmerzhafte Verletzungsfolgen an der Hand eintreten, die von keiner sonstigen Intervention mehr zielführend zu beeinflussen sind ( Kap. 17). 43.1.7 Therapie > In jedem Fall gelten Schuss- wie Explosionsverletzung obligat als kontaminiert.
Zum einen gibt es kein »steriles« Projektil, zum anderen kommt es stets über Einschuss, Gas-Jet oder Fragmente zur Kontamination der Wundkavitation. Das Keimspektrum variiert hierbei stark und korreliert direkt mit den Umfeldbedingungen. Wenn z. B. mit Erdreich verschmutzte Kleidungsfetzen durch das Projektil mit in den Wundkanal gelangen, können auch Anaerobier mit inokuliert werden. Irreversibel geschädigtes Gewebe bietet mit der resultierenden Nekrose den idealen Nährboden für eine Infektmanifestation.
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Eine zunächst ungerichtete, aber kalkulierte Kombinationsantibiose gehört hier bereits in das Repertoire der Primärversorgung. Liegt eine Explosionsverletzung vor, sollte der Behandler stets reflektieren, dass er sich bei nicht sicher abschätzbarem tatsächlichem Schaden und Ausdehnung der Nekrosezonen sowie einer durchgreifenden Kontamination durch zunächst unbekannte Keime auf einem schmalen Grat bewegt. Es droht jederzeit die Exazerbation zur lebensbedrohlichen Infektkatastrophe. Das Prinzip »Life before Limb« hat auch hier seine Berechtigung. Vorbestehende Systemerkrankungen mit Einfluss auf Durchblutung und Wundheilung engen den Ermessensspielraum weiter ein.
einem Anti-Anaerobiermittel (z. B. Metronidazol) empfohlen werden. Über Dauer der Gabe resp. Einsatz anderer Antibiotika entscheiden der weitere Verlauf und die mikrobiologische Diagnostik.
Notfall- und Primärbehandlung (KISS – »Keep It Safe and Simple«)
Adäquates (serielles) Débridement
Ziel ist hier der Erhalt der Gliedmaße und das Wiedererlangen der bestmöglichen Funktion. Da es sich regelhaft um komplexe Traumata handelt mit gleichzeitiger Beteiligung und Behandlungsnotwendigkeit unterschiedlicher Gewebetypen, sind seitens des Handchirurgen neben der exakten Diagnose- und Indikationsstellung folgende Fertigkeiten vorzuhalten: ▬ Gefäßchirurgie, ▬ Neurochirurgie, ▬ Plastische Chirurgie, ▬ Sehnenchirurgie und ▬ Knochenchirurgie. Eine adäquate materielle Ausstattung ist Grundvoraussetzung, wenn alle Möglichkeiten der modernen Wiederherstellungschirurgie an der Hand umgesetzt werden sollen. Fehlt es an diesen Bedingungen, sollte in Mitteleuropa nach einer Notfallversorgung die zeitnahe Verlegung in ein entsprechendes Zentrum angestrebt werden. Grundsätzlich ist für die Schuss- wie die Explosionsverletzung der Hand das rasche Handeln angezeigt, der Patient profitiert von der frühen Intervention.
Folgender Algorithmus wir daher für die handchirurgische Erstbehandlung vorgeschlagen: ▬ Wundsäuberung mit Dekontamination ▬ Vaskuläre Sicherung ▬ Strukturelle Sicherung bei instabilen Frakturen ▬ Weichgewebesicherung der Leitstrukturen ▬ Temporäre Weichteildeckung mit Synthograft versus sofortiges plastisch-chirurgisches Verfahren
Praktisch umgesetzt bedeutet dies: ▬ zurückhaltendes Débridement, ▬ Spülung (Cave: Hochdruckdüsen!), ▬ Deckung vitaler Strukturen, ▬ Ruhigstellung, ▬ offene Wundbehandlung, ggf. Vakuumversiegelung, ▬ Antibiose, ▬ Drainagen (vorzugsweise Silikon).
Antibiose Die Antibiose gehört obligat zur Initialbehandlung nach Schussund Explosionstrauma. Bis zum Vorliegen einer mikrobiologischen Diagnostik und eines Resistogrammes ist eine zunächst ungerichtete Therapie gerechtfertigt. Bei der speziellen Traumaentität kann die Kombination eines Cephalosporins der 2. Generation mit
Wundsäuberung Die mechanische Reinigung der Wunde beinhaltet auch die sorgfältige Spülung. Von dem Einsatz der Hochdrucklavage ist angesichts der ohnehin bestehenden Gewebezerreißungen insbesondere nach Hochenergietrauma abzuraten. Wird ein antiseptischer Zusatz verwendet, ist dessen spezifische Gewebetoxizität zu berücksichtigen. Anschließend sollte gründlich inert nachgespült werden.
Beim Débridement der Weichgewebe ist Zurückhaltung gerechtfertigt, da bei der ersten Revision regelhaft nicht hinreichend sicher beurteilt werden kann, ob eine irreversible Läsion vorliegt. Bei geplanten Revisionen können sich demarkierende Nekrosen seriell abgetragen werden. Es empfiehlt sich die Entnahme von Gewebeproben aus dem Debris zur mikrobiologischen Diagnostik. Eingedrungene Fremdkörper (Projektile, Fragmente hiervon, Steinchen, Schrapnelle etc.) werden im Rahmen der Wundtoilette entfernt, besonders bei para- oder intraartikulärer Lage. Sofern sie den Organerhalt nicht direkt bedrohen, können die Fremdkörper zeitversetzt entfernt werden. Liegt eine Schussverletzung mit Bleischroten vor, sind intraartikuläre Schrotkörner raschest möglich zu beseitigen, da die Synovialflüssigkeit Blei arrodiert und eine systemische Freisetzung droht. In Leitstrukturen eingedrungen Fremdkörper sind ebenfalls frühzeitig zu entfernen, bevor sie strukturell oder funktionell irreversible Schäden generiert haben. Eine zusätzliche Traumatisierung des Weichgewebes limitiert die Suche und Extraktion. Umschriebene, sensible Ausfälle sind nach Schuss- und Explosionsverletzungen nahezu die Regel. Im Rahmen der Primärversorgung wird hierfür keine Exploration betrieben. Häufig liegt eine kontusionsbedingte Neurapraxie zu Grunde, die unbehelligt eine günstige Prognose aufweist. Ausgedehnte Sensibilitätsverluste kombiniert mit motorischen Defiziten werden dagegen zumindest exploriert. Zeitaufwendige mikrochirurgische Nervenreparaturen sind bei Primärversorgung des Komplextraumas nicht sinnvoll, insbesondere wenn das Ausmaß der Gewebeuntergänge und die Auswirkungen der Kontamination noch nicht abzusehen sind. Nerven Dem Nervenschaden kommt bei der Primärversorgung der Schussund Explosionsverletzung die niedrigste Priorität zu. Einfache und spannungsfrei erstellbare Nähte z. B. an den Digitalnerven sind dann möglich, wenn sie danach mit vitalem Gewebe gedeckt werden können und den Ablauf der Primärversorgung nicht verzögern. Liegen primäre Substanzdefekte >5 mm an funktionell wichtigen Strukturen vor, wie z. B. an Nerven oder Sehnen, sollte bei den hier vorliegenden Verletzungsentitäten eine zweizeitige Wiederherstellung ins Auge gefasst werden. Sehnen Primäre Sehnenreparaturen sind nur dann zu empfehlen, wenn sie schnell, einfach und mit gut durchblutetem, ortsständigem Gewebe erfolgen können und wenn danach die Sehne sicher und spannungsfrei mit ebenso gut durchblutetem Weichgewebe gedeckt ist. Zudem sollte eine frühfunktionelle Nachbehandlung sichergestellt sein (z. B. nach Kleinert und Washington). Sind Sehnen verloren gegangen und eine Wiederherstellung grundsätzlich in Aussicht, ist
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Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
das funktionelle Parken des proximalen Sehnenstumpfes auf einem Synergisten zu erwägen, um Retraktion und fettiges Degenerieren des Muskels zu vermeiden. Das Einsetzen von Silikonstäben für die Sehnenrekonstruktion kann hier allerdings erst vorgenommen werden, wenn die Weichgewebeläsionen zuverlässig verheilt sind, insbesondere das Integument mit Erreichen eines geeigneten Wirtslagers. Knochen Knochenverletzungen dagegen sind konsequent zu débridieren, insbesondere nach Explosionstrauma. Vom Prinzip her handelt es um offene Frakturen 2. bis 3. Grades. Fragmente ohne jeglichen Weichgewebeanschluss laufen bei der obligaten Kontamination Gefahr, sich zu infektunterhaltenden Sequestern zu entwickeln. Sie sind zu entfernen. Antibiotikumhaltige Polymethylmetacrylat(PMMA-)Miniketten haben sich bei Knochendefekten als antimikrobiell wirkende Platzhalter bewährt (⊡ Abb. 43.7a,b). In der Primärversorgung sind Frakturen an der Hand so zu reponieren und zu retinieren, dass hierdurch keine additive Gewebetraumatisierung eintritt. Lang andauernde Repositionsmanöver im Sinne der anatomischen Wiederherstellung des Alignements bei obligater Kontamination sind kontraproduktiv und riskant. Offene Plattenosteosynthesen beispielsweise empfehlen sich nicht im Rahmen der Erstversorgung. Einfache Techniken wie Bohrdrahtung, Transfixation und Fixateur externe sind in dieser Situation vorteilhaft (⊡ Abb. 43.7a–d). Das Einsatzspektrum des Fixateur externe an der Hand reicht von der kunstlosen überbrückenden Stabilisierung bei schweren Weichgewebeverletzungen bis zur definitiven Ausbehandlung. Im Rahmen der Wiederherstellungschirurgie kann er zur Knochenverlängerung eingesetzt werden. Gerade in der Handchirurgie steht damit neben dem Bohrdraht ein universell einsetzbares Werkzeug zur Verfügung. Der Fixateur externe gehört daher obligat in das handchirurgische Portfolio der Osteosynthesemittel. Einsatzmöglichkeitendes Fixateur externe
▬ Temporäre Osteosynthese komplexer Verletzungsmuster ▬ Temporäre Osteosynthese bis zur Weichgewebewiederher▬ ▬ ▬ ▬ ▬
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▬ ▬ ▬ ▬ ▬
stellung Temporäre dreidimensionale Retention Überbrückende Stabilisierung bei komplexen Frakturen Überbrückende Stabilisierung bei eingerichteten Luxationen Definitive Osteosynthese bei komplexen Gelenkfrakturen Definitive Osteosynthese bei schwierigen Weichgewebeverhältnissen Additive Stabilisierung bei kritischen Osteosynthesen Achskorrekturen Verlängerungen (Kallotasis) Quengelungen bei Kontrakturen Bewegungsfixateur
Vor dem Anbringen eines Fixateur externe an der Hand sollte das grundsätzliche Behandlungsregime konzeptionell feststehen (Strategie). Die Montage soll die relevanten Leitstrukturen berücksichtigen, additive Noxen hieran sind durch den Fixateur zu vermeiden (z. B. keine Schrauben direkt durch Streck- oder Beugesehnenfächer). Zugangswege für weitere, absehbare Revisionseingriffe sollten nicht versperrt werden. Je nach adressiertem Knochenabschnitt sind unterschiedliche Schraubendurchmesser zu wählen (Radius – Mittelhand – Finger). Bei Gelenke oder Gliedmaßenabschnitte
übergreifenden Montagen sind kombinierte Konstruktionen unterschiedlicher Dimensionierung erforderlich. Ist eine Ausbehandlung im Fixateur vorgesehen, sollte die Konstruktion die Möglichkeiten einer funktionellen Nachbehandlung berücksichtigen (Physiotherapie, Ergotherapie). Gelenke Ein direkter Gelenktreffer an der Hand führt aufgrund der Größenverhältnisse von Projektil zum Treffergewebe und des lokalen Energietransfers häufig zur irreversiblen Zerstörung des Gelenks oder eines relevanten Abschnitts. Im Rahmen der Primärversorgung sind ausgedehnte, mit einer zusätzlichen Freilegung verbundene, minutiöse Gelenksosteosynthesen nicht zielführend. Die Reflektionen zu knöchernen Schäden sind bei Gelenktreffern noch kritischer umzusetzen. Auch hier gilt die Präferenz einfacher Techniken mit dem Ziel der Retention in einer für die weitere Behandlung und Prognose günstigen Stellung.
Rekonstruktion Bei allen Erhaltungsversuchen ist früh zu kalkulieren, welcher funktionelle Wert im besten Fall erwartet werden kann. Eine vollständig funktionslose Resthand ist unter manchen soziokulturellen Bedingungen immer noch besser als eine fehlende aufgrund der hieraus erwachsenden Stigmatisierung. Andererseits wird es vorkommen, dass ein stark sensibilitätsgestörter Finger mit ausgedehnten, die Funktion schwer beeinträchtigenden Vernarbungen oder Deformierungen im weiteren Verlauf vom Verletzten nicht mehr toleriert wird und letztlich die Amputation erfolgt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass jede Einzelverletzung höchst individuell bei der Beurteilung aller Parameter hinsichtlich Therapie und Prognose anzugehen ist. Die Vaskularisierung entscheidet über den primären Erhalt einer derart mutilierten Gliedmaße. Die vergleichsweise luxuriöse Gefäßversorgung der Hand verschafft hier selbst bei erheblicher Weichgewebetraumatisierung einen verlässlichen Spielraum. Ist dieser allerdings aufgrund einer vollständigen Ischämie aufgebraucht, bedarf es der sofortigen, gefäßchirurgischen Wiederherstellung zumindest eines Hohlhandbogens und seiner Verbindung zu den Digitalgefäßen. Es liegt eine Notfallindikation vor. Bei Verlusten >10 mm sind autologe Veneninterponate bereits bei der Primärversorgung das Verfahren der Wahl. Notfallshunts, z. B. aus Drainagen gefertigt, sind Ausnahmesituationen vorbehalten. Für isolierte Traumata an den Fingern gelten die Regeln der Replantationschirurgie. Auf die Wiederherstellung des ausreichenden venösen Abstroms ist ebenso viel Wert zu legen, da bei ausgedehnten Weichgewebeverletzungen die sekundäre Thrombose immanent den Heilerfolg bedroht. Nach einer erfolgreichen Revaskularisierung ist peinlichst auf das Auftreten eines Reperfusionskompartments zu achten. In diesem Fall muss konsequent fasziokutan dekomprimiert werden. > Selbst wenn scheinbar kleinkalibrige Ein- oder Ausschusswunden vorliegen: Sie werden niemals per Primärnaht verschlossen, bei obligater Keiminokulation ist initial eine offene Wundbehandlung obligat.
Um ein vorzeitiges Verkleben kleiner Wunden an der Oberfläche zu verhüten und einen zuverlässigen Sekretabfluss aus der Tiefe zu gewährleisten, sind Drainagen sinnvoll, optional aus Silikonmaterial. Die Vakuumversiegelung über Polyurethanschwämmen hat sich inzwischen auch an der Hand erfolgreich etabliert, insbesondere bei ausgedehnten wie irregulären Verletzungsmorphologien nach Schuss oder Explosion.
1219 43.2 · Spezielle Techniken
Alternativ kann ein ausreichend dimensionierter antimikrobieller Feuchtverband angelegt werden. Dieses Vorgehen empfiehlt sich insbesondere dann, wenn nur eine handchirurgische Notversorgung erfolgen kann und ein (zeitnaher) Transfer in eine geeignete Institution ansteht, wo die definitive chirurgische Behandlung erfolgt. Freiliegende, sog. Leitstrukturen wie Gefäße, Nerven, Sehnen und Knochen bzw. Gelenke bedürfen der Deckung mit hinreichend vitalem Gewebe. Der Zeitansatz hierfür ist auf 24 Stunden limitiert, danach drohen Gewebeuntergänge.
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Postoperative Nachsorge Die Ruhigstellung gehört obligat zum Behandlungsregime. Dies gelingt entweder mittels palmarer oder dorsaler Schiene in Funktionsstellung (»intrinsic plus«) bei gut gepolstertem, saugfähigem Verband oder durch den Fixateur externe, dessen großzügiger Einsatz sich gerade bei Komplextraumata mit der Notwendigkeit der seriellen Revision empfiehlt (⊡ Abb. 43.5). Im Bereich der Hand wird er regelhaft in gelenküberbrückender Montage eingesetzt. Bei Knochendefekten hat er sich bewährt (⊡ Abb. 43.6, ⊡ Abb. 43.7). Ist die Durchblutung sichergestellt, profitiert die Wundsituation von der konsequenten Hochlagerung postoperativ, z. B. auf einem Kissen oder in einer am Bett montierten Böhler-Schaukel. Es ist peinlich darauf zu achten, dass durch die Verbandanordnung keine Zirkulationsstörung generiert wird. An weiteren Medikamenten ist die Thromboseprophylaxe z. B. mit niedermolekularen Heparinen zu erwähnen, um sekundäre Thrombosen zu verhüten.
b
c
⊡ Abb. 43.9 Technik der Anlage des Fixateur externe im Fingerbereich. a Besondere Aspekte der Drahtplazierung im Fingerbereich, b Anlage der proximalen Backe, c Anlage der distalen Backe (nach Vorlage von Orthofix)
Sekundäres Defektmanagement Kap. 35 Adjuvante Therapie Kap. 35 43.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Kap. 35
43.2
Spezielle Techniken
43.2.1 Technik der Anlage des Fixateur externe
im Fingerbereich Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Für die Anlage des Fixateur im Fingerbereich bestehen für die einzelnen Strahlen unterschiedliche Applikationswinkel: Im Bereich von D1 erfolgt die Anlage des Fixateurs von radial in der seitlichen Ebene (⊡ Abb. 43.9a). Im Bereich von D2 wird der Fixateur parallel zur Horizontalen angebracht (⊡ Abb. 43.9a). Am Mittelfinger erfolgt die Anlage von radial, der Winkel sollte 45° dorsal zur Frontalebene betragen. Im Bereich des Ringfingers erfolgt die Anlage von ulnar. Der Winkel der Drähte beträgt 45° dorsal zur Frontalebene. An D5 wird der Fixateur von ulnar in der Frontalebene angelegt. Das Einbringen der Steinmann-Nägel (2 mm) und die Reposition sind für alle Fingerknochen gleich. Zunächst wird die Fraktur so anatomisch wie möglich reponiert. An der Basis des Grundgliedes werden 2-mm-Gewindedrähte verwendet, weiter distal kommen 1,6-mm-Drähte zum Einsatz. Die Fixateurbacken werden als Zielgerät benutzt. Der erste
Draht wird eingebracht. Eine Standard- oder L-Backe (abhängig von der Gesamtlänge des Knochens) wird über den Draht geschoben und umgedreht 5–10 mm von der Haut entfernt platziert. Der zweite Gewindedraht wird konvergierend dorsal vom ersten Draht liegend gebohrt (⊡ Abb. 43.9b). Es folgt das Einsetzen des Minifixateurkörpers in die erste Backe, die Ausrichtung des Fixateur und das Einbringen des zweiten Drahtpaares. Es muss sichergestellt sein, dass die Backen genügend Bewegungsspielraum für das Repositionsmanöver haben. Die Verwendung der Repositionszangen erleichtert die Reposition (⊡ Abb. 43.9c, ⊡ Abb. 43.10, ⊡ Abb. 43.11). 43.2.2 Technik der Anlage des Fixateur externe im
Mittelhandbereich der Finger Soll eine Mittelhandfraktur mit Fixateur externe temporär oder definitiv gestellt werden, hat sich der Einsatz eines Minifixateurs mit dreidimensionaler Justieroption bewährt. Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Für die Anlage des Fixateur im Mittelhandbereich bestehen für die einzelnen Strahlen unterschiedliche Applikationswinkel: Im Bereich des Metakarpale II werden die Gewindedrähte von radial in einem Winkel von 30° dorsal zum Handrücken eingebracht (⊡ Abb. 43.12a). Im Bereich der Metakarpalia III und V erfolgt die Anlage von der ulnaren Seite, wobei die Drähte in einem Winkel von 45° dorsal zum Handrücken eingebracht werden (⊡ Abb. 43.12a). Das Einbringen, der Steinmann-Nägel (2 mm) und die Reposition sind für alle Mittelhandknochen gleich.
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1220
Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
⊡ Abb. 43.10 Behandlung einer offenen Grundgliedfraktur am Kleinfinger mit Minifixateur. a Röntgenbild nach klinischer Aufnahme, b Röntgenbild nach Anlage des Fixateur externe, c klinischer Befund nach Anlage des Fixateur externe, d radiologischer Befund nach Materialentfernung
⊡ Abb. 43.11 Behandlung einer offenen PIPLuxation mit Minifixateur. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme, b klinischer Aspekt nach Anlage des Fixateur externe, c röntgenologischer Aspekt nach Anlage des Fixateur externe
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43 Nach Reposition der Fraktur beginnt man mit dem kürzeren Fragment. Der erste Steinmann-Nagel wird in der Frontalebene gebohrt. Er soll die Gegenkortikalis etwa 1 mm perforieren. Die Kontrolle der exakten Lage erfolgt mit dem Bildwandler (⊡ Abb. 43.12b). Eine Standardbacke wird über den Gewindedraht geschoben (Nockenbolzenschraube in Neutralstellung, beide Punkte liegen sich gegenüber; der Innensechskant der Backe zeigt zum Operateur). Die Backe wird im Abstand von 0,5–10 mm zur Haut positioniert und der Draht so gekürzt, dass der etwa 5 mm überstehen. Alle weiteren Gewindedrähte werden auf die gleiche Länge gekürzt (⊡ Abb. 43.12c).
Der zweite Gewindedraht wird entweder horizontal und damit parallel oder vertikal und damit konvergierend zu dem ersten Gewindedraht eingebohrt. Dies hängt von der Fragmentlänge ab. Mit dem Bildwandler wird die Position geprüft. Die Schiene des Minifixateurkörpers wird nun in die Backe geschoben (⊡ Abb. 43.12d). Die Schraube des Doppelkugellagers wird handfest angezogen und die Fixateurlängsachse parallel zur Längsachse des Metakarpalknochens ausgerichtet (⊡ Abb. 43.12e). Die zweite Fixateurbacke wird aufgeschoben und die zweite Gewindedrahtgruppe eingebracht (⊡ Abb. 43.12f). Die Nockenbolzenschrauben beider Fixateurbacken und die Feststellschraube einer Backe werden angezogen (⊡ Abb. 43.12g).
1221 43.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 43.12 Technik der Anlage des Fixateur externe im Mittelhandbereich der Finger. a Besondere Aspekte der Drahtplatzierung im Fingerbereich, b Platzierung des ersten Gewindedrahtes distal der Fraktur, c Montage einer Standardbacke, d Platzierung des zweiten Gewindedrahtes (die Backe wird als Zielgerät benutzt), Ergänzung der Schiene des Minifixateur, e Ergänzung des Doppelkugelgelenks und Ausrichtung der Fixateurlängsachse parallel zur Längsache des Mittelhandknochens, f Ergänzung der zweiten Backe. Einbringung der proximalen Gewindedrahtgruppe, wobei die Backe als Zielgerät verwendet wird. g Anziehen der Nochenbolzenschrauben beider Fixateurbacken und der Feststellschraube einer Backe, h Reposition der Fraktur durch Zug und Gegenzug mithilfe der beiden Repositionszangen, nach abschließenderder Bildwandlerkontrolle Anziehen aller Schrauben (nach Vorlage von Orthofix)
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Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
Zur Reposition sollten die Repositionszangen verwendet werden. Die Fraktur wird nun mittels Zug und Gegenzug reponiert, die Repositionszangen erleichtern dieses Manöver und vermindern die Strahlenexposition der Hände des Operateurs. Nach erfolgter Reposition wird die Frakturstellung abschließend mit dem Bildwandler kontrolliert und das Ergebnis in zwei Ebenen gespeichert bzw. ausgedruckt. Abschließend erfolgt das Festziehen der Imbusschrauben und das endfeste Anziehen der Nockenbolzenschrauben (⊡ Abb. 43.12h). Die Pineintrittstellen und der Fixateur werden von Blut gesäubert. In Abhängigkeit von der Stabilität der Frakturversorgung erfolgt entweder ein Kompressen-Watteverband oder eine palmare Unterarmgipsschiene in Intrinsic-plus-Stellung. 43.2.3 Technik der Anlage des Fixateur externe
zum Segmenttransport im Mittelhandbereich der Finger Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Hierbei wird die Gewindestange mit drei Backen besetzt. Zwei Backen werden im größeren Segment platziert und die Osteotomie zwischen den beiden Backen durchgeführt. Vor der Platzierung der Gewindestange muss sichergestellt werden, dass die Gewindedrähte aller Backen den Knochen sicher fassen können. Die Nummerierung der Backen in der Abbildung gibt die Reihenfolge ihrer Platzierung wieder. Besteht am Ende der Distraktion noch eine Verkürzung kann diese durch Distraktion zwischen den Backen 1 und 3 ausgeglichen werden (⊡ Abb. 43.13). 43.2.4 Technik der Anlage des Fixateur externe
im Mittelhandbereich des Daumens
43
Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Die beiden proximalen 2-mm-Drähte werden (über einen halboffenen Zugang) von radial in das Os trapezium eingebracht. Eine Verletzung der A. radialis muss vermieden werden ( Kap. 25). Die Anordnung ist vertikal, die Drähte konvergieren im Os trapezium. Der Abstand zur Haut beträgt 5–10 mm. Bei dieser Applikation wird der Fixateur umgedreht, d. h., er steht auf dem Kopf. Es folgen das Einsetzen des Minifixateurkörpers in die erste Backe, die Ausrichtung des Fixateurs und das horizontale Einbringen des zweiten Drahtpaares in die Diaphyse des Metakarpale I. Es muss sichergestellt sein, dass die Backen genügend Bewegungsspielraum für das Repositionsmanöver haben. Die Verwendung der Repositionszangen erleichtert die Reposition durch Ligamentotaxis. 43.2.5 Technik der Anlage des Distraktionsfixateur
externe im Mittelhandbereich des Daumens Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Die Gewindestangen mit Distanzhalter werden mit geraden oder L-Backen in der Frontalebene platziert und mit 2-mm-Gewindedrähten besetzt. Drei Gewindedrähte pro Backe zur Stabilitätser-
⊡ Abb. 43.13 Technik der Anlage des Fixateur externe zum Segmenttransport im Mittelhandbereich der Finger. Cave: Zwischen Distraktionsmutter und der Transportbacke muss ein Distanzhalter eingebracht werden (nach Vorlage von Orthofix)
a
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⊡ Abb. 43.14 Technik der Anlage des Fixateur externe im Mittelhandbereich des Daumens. a Anlage der proximalen Backe, b Anlage der distalen Backe und Reposition der Fraktur (nach Vorlage von Orthofix)
höhung sind zu empfehlen. Eine Distraktionsmutter mit Distanzhalter wird vor der Platzierung der zweiten Backe aufgeschraubt, danach erfolgt die Osteotomie (⊡ Abb. 43.15a,b). Postoperativ wird die Hand auf einer palmaren Unterarmschiene mit einer Handgelenkstreckung von etwa 20° für 7–10 Tage ruhiggestellt. Während dieser Prädistraktionsphase soll sich ausreichend Kallusgewebe bilden, um eine erfolgreiche Distraktion durchführen zu können. Bei einem Distraktionsbeginn vor dem 7. postoperativen Tag besteht das Risiko einer ungenügenden Regeneratbildung, bei späterem Distraktionsbeginn kann eine partielle knöcherne Durchbauung eine Verlängerung verhindern. Die progressive Verlängerung erfolgt (fraktioniert 2-mal 0,25 mm) mit einer Distraktionsgeschwindigkeit von 0,5 mm pro Tag (entspricht einer Vierteldrehung der Schraube 2-mal pro Tag). Die Verlängerung kann entweder durch den Patienten selbst oder den Hausarzt durchgeführt werden. Im Falle von starken Schmerzen, Hautischämie oder Entzündungszeichen muss die Distraktion verlangsamt werden und der Patient sich umgehend vorstellen. Bei komplikationslosem Verlauf ist eine wöchentliche Kontrolluntersuchung ausreichend. Während der gesamten Distraktionsphase wird der Patient angeleitet, krankengymnastische Übungen zur Erhaltung der Fingerbeweglichkeit durchzuführen. Die sich anschließende Konsolidierungsphase dauert etwa doppelt so lange wie die Distraktionsphase. Das Ende der Konsolidierungsphase ist erreicht, wenn röntgenologisch gerichtete
1223 43.2 · Spezielle Techniken
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b
⊡ Abb. 43.16 Längsdistraktion des MP-Gelenks auf knapp das Dreifache. a Sperren des Fixateurgelenks, b Freigabe zu Bewegungsübungen nach 4–6 Tagen (nach Vorlage von Orthofix) c
Trabekelstrukturen im Distraktionsbereich zu diagnostizieren sind (⊡ Abb. 43.15c).
oder Leitungsanästhesie erfolgen) das MCP- und das PIP-Gelenk überbrückt werden. Wenn das knöcherne Endglied ausreichend stark angelegt ist, kann mit der Schraubenpositionierung in der Endgliedbasis das DIP-Gelenk zusätzlich überbrückt werden. Die Vorschubgeschwindigkeit beträgt 1 mm pro Tag ( Kap. 34). Bei sonstigen Gelenkkontrakturen der Phalangen besteht die Möglichkeit der sukzessiven Dehnung der kontrakten Seitenbänder und der Kapsel verbunden mit einer funktionellen Nachbehandlung durch einen Mini-Bewegungsfixateur, der eine Kombination von beweglichem Gelenk und Distraktionsmodul aufweist (⊡ Abb. 43.16).
43.2.6 Technik der Weichteildistraktion im
43.2.7 Technik der Anlage des Fixateur externe im
⊡ Abb. 43.15 Technik der Anlage des Distraktionsfixateur externe im Mittelhandbereich des Daumens. a Lage der Gewindedrähte bei proximaler Osteotomie, b Lage der Gewindedrähte bei Osteotomie im mittleren Schaftbereich, c Zustand am Ende der Distraktion und Konsolidierung (nach Vorlage von Orthofix)
Fingerbereich Bei fortgeschrittenem M. Dupuytren kann der Mini-Transportfixateur dazu genutzt werden, vor der eigentlichen operativen Strangexstirpation die Kontraktur aufzuquengeln. Damit wird das operative Vorgehen einerseits erleichtert, andererseits kann eine bereits sekundär arthrogene Gelenkkontraktur konterkariert werden. Zu beachten ist, dass bei Anlage des Fixateurs (kann in Lokal-
Handgelenkbereich Hier kommt der Fixateur externe in der Regel aus Ausweichmethode zum Einsatz, wenn z. B. aufgrund von Weichgewebeschäden eine offene, definitive Osteosynthese (noch) nicht durchgeführt werden kann. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen eine Revaskularisierung dringlich ansteht und zunächst nur eine kunstlose überbrückende Stabilisierung gefordert ist.
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1224
Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
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⊡ Abb. 43.17 Technik der Anlage des Fixateur externe im Handgelenksbereich. a Präparation der Bohrlöcher im Bereich des Metakarpale II und distalen Radius, b Anlage des Fixateur von radial-dorsal in einem Winkel von 45° zur Frontalebene, c konvergierender Gewindedrahtverlauf im Metakarpale-II-Bereich und paralleler Gewindedrahtverlauf im Bereich des distalen Radius. Die beiden äußeren Gewindedrähte werden zuerst gebohrt, der Verbindungsstab mit den 4 vormonierten Backen provisorisch fixiert und die beiden inneren Gewindedrähte ergänzt. d Klinischer Aspekt nach Anlage des Fixateur extern, e radiologischer Aspekt nach Anlage des Fixateur externe. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001 [a–c])
43
Die Standardmontage vom Unterarm auf die Hand wird radiodorsal angelegt, wenn ellenseitig die Stabilität erhalten ist (⊡ Abb. 43.17). Als zweckmäßig wie einfach hat sich die Anordnung Radiusschaft – Metakarpale II bewährt resp. Ulnaschaft – Metakarpale V. Umgekehrt gilt dasselbe. Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird auf einem Handtisch gelagert. Die Montage und Kontrolle des Fixateur externe erfolgt unter Bildwandlerkontrolle. Nach Reposition der Fraktur beginnt man mit der Freilegung der vorgesehenen Bohrstellen am Skelett. Die Haut wird stichinzidiert, das darunter liegende Weichgewebe mit gespreiztem Moskitoklemmchen beiseite gehalten, bis die Knochenschraube ihre endgültige Position gefunden hat. Am Metakarpale II ist auf den variabel verlaufenden dorsalen Ast des N. radialis zu achten. Der Zeigefinger wird im MP-Gelenk flektiert. Damit wird die Streckaponeurose, welche beim Bohren tangiert werden könnte, aus der Gefahrenzone nach distal verlagert, Vorbohrung 2,0 mm mit Gewindeschutz (⊡ Abb. 43.17a). Einhalten der
Winkel. Am Metakarpale II und Radius erfolgt die Anlage des Fixateur in einem Eintrittswinkel von 45° zur Frontalebene von dorsal-radial (⊡ Abb. 43.17b). Am Metakarpale II werden konvergierende, im distalen Radius parallele Bohrungen durchgeführt. Durch die konvergierende Anordnung der Schanz-Schrauben verlängert sich der Durchgangsweg am Knochen und die Fixation wird stabiler. Diese Anordnung schafft eine Reduktion der axialen Druck- und Zugkräfte einerseits, andererseits kommt es jedoch zu einer Erhöhung der Biegekräfte. Am distalen Radius dorsal kann leicht der Ramus superficialis des N. radialis verletzt werden! Für eine möglichst achsengerechte Versorgung hat es sich bewährt, den distalen Nagel im Metakarpale II und den proximalen Nagel im Radius als Erstes zu bohren. Danach erfolgt die Montage einer Verbindungsstange von 4,0 mm, an welcher 4 Backen eingeschoben sind. Als Nächstes wird der Fixateur provisorisch an zwei Steinmann-Nägeln fixiert. Der proximale Steinmann-Nagel am Metakarpale II und der distale Steinmann-Nagel am Radius werden nun ergänzt, wobei die Backen als Zielgerät
1225 43.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
a
b
⊡ Abb. 43.18 Rahmenmontage bei traumatischer Karpektomie nach 3° offener Luxationsfraktur. a Klinischer Aspekt, b radiologischer Aspekt
benutzt werden (⊡ Abb. 43.17c). Nach Kontrolle der Nagellage und des Repositionsergebnisses mit dem Bildwandler erfolgt das Festziehen aller Schrauben. Zur Verbesserung der Stabilität wird ein zweiter Verbindungsstab auf den Gewindedrähten parallel zum ersten montiert. Die Pineintrittsstellen und der Fixateur werden von Blut gesäubert. In Abhängigkeit von der Stabilität der Frakturversorgung erfolgt entweder eine Kompressen-Watteverband oder eine palmare Unterarmgipsschiene in Intrinsic-plus-Stellung. Einer hochinstabilen radiokarpalen Situation kann mit einem Rahmenfixateur begegnet werden (⊡ Abb. 43.18). 43.2.8 Gewebebankkonzept nach Chase
(»spear part surgery«, »le doit banque«) Grundsätzlich können alle intakten Anteile eines funktionslosen Extremitätenabschnitts entsprechend den anatomischen Voraussetzungen als zusätzliches Spendergebiet herangezogen werden. Neben einfachen Transplantaten können auch Mehrkomponententransplantate (»composite flaps«) und sogar ganze Finger und Extremitätenabschnitte bis hin zur Aushülseplastik verpflanzt werden. Da theoretisch jeder Typ einer Lappenplastik möglich ist, ergeben sich vor allem in der Notfallsituation eine Reihe primärer Rekonstruktionsmöglichkeiten (z. B. primäre Nerventransplantation). Da kein Hebedefekt gesetzt wird, ist grundsätzlich jede Art von Gewebetransfer gerechtfertigt (⊡ Abb. 43.19, ⊡ Abb. 43.5). 43.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
> Die Schuss- wie Explosionsverletzung der Hand stellen nicht nur einen Subtyp des perforierenden Traumas dar. Es handelt sich um eine Mesalliance von schwersten Weichgewebelazerationen und obligater Kontamination. Es gelten besondere Bedingungen für Entstehung, Behandlung und Komplikationen. Ohne grundlegende Kenntnisse hierzu sind keine optimalen Ergebnisse zu erzielen.
Im Nachfolgenden sollen in einer Übersicht typische Fallstricke vorgestellt werden. Die profunde Kenntnis der speziellen topografischen wie funktionellen Anatomie der Hand ist Grundvoraussetzung für jede Versorgung der hier vorliegenden Verletzungsentität.
Beurteilung. Kleine Ein- und Austrittswunden besagen nichts über das tatsächliche Verletzungsausmaß in der Tiefe. Die Indikation zur chirurgischen Exploration ist grundsätzlich weit zu stellen. Die Evaluation des Tetanusschutzes gehört obligat zur Erstbeurteilung. Blutstillung. Kein blindes Setzen von Klemmen. Additive strukturelle Läsionen sind angesichts der engen topografischen Anatomie der Hand vorprogrammiert. In den meisten Fällen reicht der einfache Druckverband für die Blutstillung aus. Versagt die lokale Kompression, kann vorübergehend ein Tourniquet bzw. eine Blutsperre bis zur gezielten Blutungskontrolle angelegt werden. Die Uhrzeit der Anlage ist zu dokumentieren, z. B. mit einem nicht abwischbaren Filzschreiber auf der Haut des verletzten Arms. Operation. Die Bedingungen hierfür sollen denen größerer Eingriffe der elektiven Handchirurgie entsprechen hinsichtlich aller geforderten Parameter. Hierunter fallen: ▬ handchirurgische Expertise, ▬ adäquate materielle bzw. instrumentelle Ausstattung, ▬ adäquate Anästhesie (keine Explorationen tiefer als Subkutis in Lokalanästhesie), ▬ Blutsperre bzw. -leere (»keine Uhrmacherei im Tintenfass«), ▬ Weiterbehandlung, sekundäre Wiederherstellungsmaßnahmen. Sind die Vorgaben nicht zu gewährleisten, sollte der Verletzte unter mitteleuropäischen Bedingungen nach einer Notfallversorgung (»damage control«) in eine handchirurgische Abteilung weiterverlegt werden. Im Rahmen der Erstversorgung sollte débridiertes Material zur bakteriologischen Diagnostik abgegeben werden. Es empfiehlt sich initial eine ungezielte antibiotische Abdeckung mit einer Kombination z. B. eines Cephalosporins der 2. Generation mit einem Anaerobiermittel (z. B. Metronidazol). Die Substanzen sollten in den ersten 5–7 Tagen intravenös verabreicht werden, erforderlichenfalls ist gemäß Resistogramm nachzujustieren.
Dekompression. Es ist stets mit dem Auftreten eines Kompartmentsyndroms zu rechnen. Dies kann verursacht werden durch den Gas-Jet in das Gewebe bei aufgesetztem Schuss und Explosion oder die posttraumatische Weichgewebeschwellung. Liegt eine thermomechanische Kombinationsverletzung vor mit höhergradiger zirkulärer Verbrennung, droht die Abschnürung durch die
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1226
Kapitel 43 · Schuss- und Explosionsverletzungen
Einfacher Gewebedefekt
Mehrkomponenten-Gewebedefekt
Haut a. Vollhaut/Spalthaut b. Gestieltes Transponat c. Neurovaskuläre Insellappenplastik
Gelenk n. Nicht vaskularisiertes Transplantat o. Gestieltes Transponat p. Freies mikrovaskuläres Transplantat
Gefäße d. Interponat e. Transponat
Extremitäten(anteile) q. Gestielte Transposition r. Freie Transplantation
Nerven f. Nicht vaskularisiertes Transplantat g. Freies mikrovaskuläres Transplantat Sehnen h. Nicht vaskularisiertes Sehnentransplantat i. Gestieltes Sehnentransponat j. Freies mikrovaskuläres Sehnentransplantat
⊡ Abb. 43.19 Möglichkeiten der Transplantatentnahme nach dem »Gewebebankkonzept«.
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Knochen k. Nicht vaskularisiertes Knochentransplantat l. Gestieltes Transponat m. Freies mikrovaskuläres Transplantat
verbrannte Haut. Der bewusstseinsklare Verletzte kann oft wichtige klinische Hinweise liefern. Letztere fehlen beim Bewusstseinseingetrübten oder Bewusstlosen. Die hier behandelte Verletzungsentität gilt prinzipiell als suspekt im Hinblick auf ein Kompartmentsyndrom. Dies gilt es zu dekomprimieren: je früher, desto geringer die zu erwartenden Schäden. Die Dermatofasziotomie gehört zu den Damage-Control-Maßnahmen und muss beherrscht werden ( Kap. 48).
Hand wurden speziell konfektionierte Vac-Handschuhe entwickelt (⊡ Abb. 43.20). Erst bei sicherer Infektfreiheit kann der (sekundäre) Wundverschluss erfolgen. Wegen der regelhaft verbleibenden Defekte gehören lokale, gestielte und freie Lappenplastiken in das Portfolio. Auf die Besonderheit des engen Zeitfensters für nicht gedeckte Leitstrukturen wird noch einmal hingewiesen.
Wiederherstellung von Form und Funktion. Sobald die WunWundverschluss. Unter Berücksichtigung der obligaten Kontamination und der Ungewissheit verbliebener Restnekrosen sind die Parameter für einen primären Wundverschluss sehr kritisch abzuwägen. Es gilt hier zunächst der Grundsatz: Nur die offene Wunde ist eine gute Wunde. Es bieten sich mehrere Techniken der Wundbehandlung an, von einfachen Feuchtverbänden (ggf. antiseptisch getränkt) über die temporäre Deckung mit einem Synthograft bis hin zur Vakuumversiegelung. Für die Anwendung an der
de keine Nekrosen mit Infektpotenzial mehr aufweist, setzen die operativen Maßnahmen aus dem weiten Feld der wiederherstellenden Handchirurgie ein, früh begleitet von der unterstützenden Physio- und Ergotherapie. Diese müssen nicht zwingend metachron erfolgen, allerdings sind die bewährten Techniken der frühfunktionellen Nachbehandlung, wie z. B. der nach Kleinert, hier häufig nicht zeitnah umsetzbar wegen der strukturellen Schäden und ausstehenden Eingriffe. Die bereits initiale Einbindung der
1227 Weiterführende Literatur
⊡ Abb. 43.20 Vakuumversiegelung mithilfe des Handschuhverbandes von KCI
Physio- und Ergotherapie ist von großem Wert. Die Spiegeltherapie nach Amputationen sei beispielhaft erwähnt.
Begleitende Psychotherapie. Die psychische Verarbeitung einer (verstümmelnden) Handverletzung kann den Betroffenen rasch überfordern. Soziokulturelle Besonderheiten können sich erschwerend aufaddieren. Daher ist die frühe konsiliarische Hinzuziehung eines Psychologen oder Psychiaters unbedingt zu empfehlen. Initial ist der Zugang leichter, Erfolge eher zu erwarten als bei sekundären Interventionen bei bereits etablierter psychischer Fehlverarbeitung.
Weiterführende Literatur Adams DB (1982) Wound ballistics. A review. ;ilit Med 147: 831–835 Allison E, Williams ND, Newman JT, Kagan O, Juarros A, Morgan SJ, Smith WR (2009) Posttraumatic stress disorder and depression negatively impact general health status after hand injury. J Hand Surg 34A: 515–522 Bellamy RF (1995) Combat trauma overview. In: Zajtchuck R, Grande CM (Hrsg) Textbook of military medicine, vol 4. Washington, DC, TMM Publication,S 1–42 Borden Institute (2004), Emergency War Surgery. Walter Reed Medical Center, Washington Burg A, Nachum G, Salai M, Hvaiv B, Heller S, Velkes S, Dudkiewicz I (2009) Treating civilian gunshot wounds to the extremities in a Level 1 Trauma Center: Our experience and recommendations. IMAJ 11: 546–551 Chase R (1968) The damaged index digit: A source of components to restore the crippled hand. J Bone Jt Surg 50A: 1152–1160 Dautel G (1992) Le doigt banque. In: Merle M, Dautel G (Hrsg) La main traumatique, tome 1: L’urgence. Masson, Paris, S 293–303 Degiannis E, Bonanno F, Titius W, Smith M, Doll D (2005) Behandlung von penetrierenden Verletzungen an Hals, Thorax und Extremitäten. Chirurg 76: 945–958 DeSilva GL, Fritzler A, DeSilva SP (2007) Antibiotic-impregnated cement spacer for bone defects of the forearm and hand. Techn Hand Upper Extr Surg 11(2): 163–167 Fackler ML (1988) The wound profile: illustration of the missile-tissue interaction. J Trauma 28: 21–29 Fackler ML (1996) Gunshot wound review. Ann Emerg Med 28: 194–203 Foucher G, Braun FM, Merle M, Michon J (1980) Le doigt banque en traumatologie de la main. Ann Chir 34: 693 –698 Hammond DC, Matloub HS, Kadz BB, Yousif NJ, Sanger JR, Larson DL (1994) The free-fillet flap for reconstruction of the upper extremity. Plast Reconstr Surg 94: 507–512
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43
1229 43.3 · Weiterführende Literatur
Bissverletzungen Michael Steen
44.1
Allgemeines – 1230
44.1.1 44.1.2 44.1.3 44.1.4 44.1.5 44.1.6 44.1.7 44.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1230 Epidemiologie – 1234 Ätiologie – 1234 Diagnostik – 1235 Klassifikation – 1235 Indikationen und Differenzialtherapie – 1235 Therapie – 1236 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1239
44.2
Spezielle Techniken
44.2.1 44.2.2 44.2.3 44.2.4 44.2.5 44.2.6 44.2.7
Technik der Ausschneidung der Bissverletzung – 1239 Technik der operativen Therapie der Paronychie – 1240 Technik der operativen Therapie von Abszessen in der Fingerbeere – 1240 Technik der operativen Therapie der Tenosynovitis der Beugesehne – 1240 Technik der operativen Revision des Thenar- und Hypothenarraums – 1240 Technik der Therapie der eitrigen Arthritis – 1240 Technik der infektbedingten Amputation – 1241
44.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1241
– 1239
Weiterführende Literatur
– 1241
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
44
1230
Kapitel 44 · Bissverletzungen
44.1
Allgemeines
Aufbau der Haut der Hohlhand und der Fingerbeugeseite
Aufgrund des straffen palmaren und des relativ lockeren dorsalen Aufbaus ist es wichtig, daran zu denken, dass Erkrankungen, die zunächst Handskelett, Hohlhand und Finger betreffen, durch Lymphbahnen und Venen zum Handrücken fortgeleitet werden, zuerst hier eine hochgradige Schwellung verursachen und dann zu einem sog. kollateralen Ödem des Handrückens führen können (⊡ Abb. 44.2).
> Durch die spezielle von Septen gekennzeichnete Anatomie
Sehnenscheiden
44.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie
der Hand und das breite Keimspektrum hat die Bissverletzung typische Verlaufsmuster, die der Behandler kennen und voraussehen muss. Er muss aus der Art der Verletzung Risiko und potenzielle Entwicklung einer Infektion abschätzen und frühzeitig und gezielt gegensteuern.
Von den Papillarkörpern der Haut ziehen kurze, feste Bindegewebesepten senkrecht in die Tiefe. Sie sind an den Fingern mit dem Periost und den Beugesehnenscheiden, in der Hohlhand mit der Palmaraponeurose verbunden. Sie bewirken eine Fixierung der Haut, welche sich bei tangentialer Belastung nicht verschiebt. Zwischen den Bindegewebszügen liegen Fettzellen in einer Art gekammerter Polster, welche die Druckaufnahme und -verteilung steuern. Diese vertikale Anordnung fester Leitstrukturen bewirkt eine Ausbreitung einer beginnenden Infektion in die Tiefe, bis mit dem Periost oder der Sehnenscheide eine längs verlaufende Struktur erreicht wird. Damit verlaufen diese Infektionen primär lokal ohne wesentliche seitliche Ausbreitung. Auch das entstehende Ödem dehnt sich primär in die Tiefe aus und wird auf der Dorsalseite des Fingers oder am Handrücken sichtbar. Die fehlende Ausdehnungsmöglichkeit auf der Palmarseite führt meist zu starken Schmerzen. Die Dicke der Haut auf der Palmarseite verhindert bei punktförmigen Verletzungen eine Perforation eines beginnenden Abszesses nach außen. Dies wird durch eine dicke Hornschicht, welche unter längerer Belastung entsteht, noch verstärkt (»Schwielenabszess«; ⊡ Abb. 44.1).
Die Sehnenscheiden bilden langgestreckte Bahnen, in denen sich Infektionen schnell ausbreiten können. Während die Beugesehnenscheiden der Finger 2–4 am Ringband A1 enden, reichen die Beugesehnenscheiden des Daumens und des Kleinfingers bis zum Handgelenk und kommunizieren über den Sehnenscheidensack
a
b
Schwielenabszess Palmaraponeurose
Kammern des Unterhautbindegewebes Sehnenscheide
44 c
tiefe Hohlhandphlegmone Handrückenödem ⊡ Abb. 44.1 Ausbreitungswege eines Abszesses in der Hohlhand. (Aus Berger u. Hierner 2009)
⊡ Abb. 44.2 Kollaterales (reaktives) Ödem des Handrückens bei Infektionen der Beugeseite. Die Hohlhand zeigt eine leichte Schwellung und ist druckempfindlich, während die weitaus stärkere Schwellung auf dem Handrücken zu beobachten ist. Dies darf nicht fehlgedeutet werden und zu Inzisionen auf dem Handrücken führen. a Ödem, verursacht durch einen Schwielenabszess, b Ödem, verursacht durch eine Sehnenscheidenphlegmone, c Residuen einer Fehleinschätzung des kollateralen (reaktiven) Handrückenödems bei Infektion der Beugeseite. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959 [a,b])
1231 44.1 · Allgemeines
im Bereich des Karpalkanals bei vielen Menschen miteinander. Ihr Befall führt deshalb zur sog. »V-Phlegmone«. Bei Befall einer Sehnenscheide kann in frühen Phasen die Infektion durch den lokalisierten Druckschmerz und sein Ende an den anatomischen Grenzen der Sehnenscheiden diagnostiziert werden. Der Einsatz einer Knopfsonde ist bei der Untersuchung zweckmäßig. Bei Fortschreiten der Infektion bricht diese dann in benachbarte Faszienräume durch Ausbreitung entlang der Sehne ein ( Kap. 45). Die Strecksehnen haben nur im Bereich des Retinaculum extensorum am Handgelenk Sehnenscheiden, sodass die Ausbreitung von Infektionen auf der Streckseite entlang der Sehnen ( Kap. 45) weniger fulminant verläuft (⊡ Abb. 44.3)
Faszienräume Neben den Sehnenscheiden sind die Faszienräume der Hand (⊡ Abb. 44.4) und des Unterarms für die Ausbreitung von Infektionen wichtig ( Kap. 45). Der Thenarraum schließt den Adduktor pollicis ein und dehnt sich bis zum 3. Mittelhandknochen aus. Er ist bei Verletzungen der Faszie in der ersten Interdigitalfalte betroffen. Besonders bei unscheinbar erscheinenden Tierbissen und Stichverletzungen muss dieser Raum sorgfältig revidiert werden. Seine Infektion macht sich häufig neben Schmerzen und Funktionsstörung der Daumenbewegung zuerst durch ein dorsales Ödem bemerkbar (⊡ Abb. 44.4). Der Hypothenarraum (⊡ Abb. 44.4a) ist selten betroffen. Sofern die Faszie penetriert ist, kommt es zu einer lokalen Abszessbildung mit starker Schmerzhaftigkeit ( Kap. 45). Der Mittelhandraum (⊡ Abb. 44.4a) dehnt sich dorsal der Mm. lumbricales und der Beugesehnen in der Hohlhand. Er liegt in enger Nachbarschaft mit den proximalen Enden der Sehnenscheiden der Fingerbeuger 2–4 und mit dem palmaren Sehnenscheidensack am Handgelenk. Infektionen in diesem Raum entstehen durch direkte Stichverletzung, ansonsten meist durch fortschreitende Infektion der Beugesehnenscheiden. Wesentliches Symptom ist die schwer gestörte Handfunktion mit Schwerpunkt an den Fingern 3 und 4 und ein deutliches Handrückenödem ( Kap. 45).
a
b
Der Parona-Raum (Spatium antebrachialis palmaris distalis) schließt sich am Unterarm an den palmaren Sehnenscheidensack des Handgelenks an. In ihm können sich fortschreitende Infekte der Beugesehnenscheiden fulminant im Unterarm ausbreiten ( Kap. 45).
Dorsale Gelenkkapseln Die Gelenkkapseln der Fingergelenke werden zu einem wesentlichen Anteil dorsal von der Streckaponeurose gebildet. Die Synovia bildet nur eine dünne zusätzliche Schicht. Verletzungen der Streckaponeurose über den Gelenken oder nahe daran sind deshalb häufig mit teilweise nur punktförmigen Eröffnungen des Gelenks verbunden. Dabei ist die Position zum Zeitpunkt der Verletzung zu beachten – z. B. Faustschlag mit geballter Faust und Zahnimpression über dem Grundgelenk. Bei gestreckter Hand liegt die Hautverletzung dann weiter proximal als die Streckaponeurosen- und Gelenkeröffnung und wird deshalb bei unzureichender chirurgischer Revision leicht übersehen (⊡ Abb. 44.5).
Verletzungsmuster nach einer Bissverletzung Tierbisse sind häufig mit einer erheblichen Kraftentwicklung verbunden. Bei Messungen in vivo konnten Werte von 147–946 N mit den Schneidezähnen und 524–3417 N mit dem 2. Molar am Hundekiefer gefunden werden. Bei Schweinen erbrachte die Messung in vivo am 1. Prämolar 200–560 N. > Im Vordergrund steht erst einmal die lokale, mehr oder weniger ausgedehnte Verletzung. Für die Verletzungsmuster spielt die Tierart mit ihren spezifischen Beißformen eine wesentliche Rolle.
Hunde Hunde haben ein Gebiss, mit dem nach dem Zubeißen Stücke aus der Beute herausgerissen werden (»Reißzähne«, ⊡ Abb. 44.6). Sie reißen am Gewebe und verursachen dadurch Riss-QuetschWunden mit zerfetzten Wundrändern, Taschenbildungen, weitergehenden Decollements und Defektwunden.
c
⊡ Abb. 44.3 Ausbreitung von Entzündungen im Strecksehnenbereich nach Katzenbissverletzung. a Klinischer Aspekt bei Klinikaufnahme: Die beiden Einbissstellen sind markiert. b Intraoperativer Befund nach Eröffnung der Haut, c intraoperativer Aspekt nach Beendigung des Débridements
44
1232
Kapitel 44 · Bissverletzungen
N. digitalis palmaris proprius Vagina tendinum Sehnen des M. flexor digitorum superficialis Sehne des M. flexor digitorum profundus Phalanx proximalis Sehne des M. flexor digitorum superficialis
Mm. lumbricales
Aponeurosis palmaris Sehne des M. flexor digitorum profundus Ossa metacarpalia Mm. interossei Canalis carpi Thenar
Ligg. metacarpalia palmaria Hypothenar
Retinaculum flexorum
Os pisiforme
Sehne des M. palmaris longus Sehne des M.flexor carpi radialis
N. ulnaris A. ulnaris
N. medianus
Fascia antebrachii Canalis carpi
b
a
⊡ Abb. 44.4 Faszienräume der Hand. a Schematische Darstellung der Fazienräume der Hand, b klinisches Bild einer Infektion im Bereich des Thenarraumes
44
a
c
b
d
⊡ Abb. 44.5 Klinische Bedeutung der dorsalen Gelenkkapseln. a Moment der Faustschlagverletzung: Durchtrennung von Haut, Strecksehne und Gelenkkapsel mit Gelenkeröffnung, b Befund bei der Untersuchung in Streckstellung (schematisch), c Befund bei der Untersuchung in Streckstellung (klinisch), d intraoperativer Befund
1233 44.1 · Allgemeines
Katzen Katzen haben lange spitze Eckzähne (⊡ Abb. 44.7), mit denen sie tiefe perforierende Verletzungen setzen. Die Kraft der Zahnspitze reicht aus, um die Kortikalis eines gesunden Knochens an der Hand zu durchschlagen (⊡ Abb. 44.8). Die Wunden sind dabei meist klein und unscheinbar. Katzen verursachen auch häufig oberflächliche Kratzwunden, wobei nicht immer klar ist, ob diese von den Krallen oder Zähnen ohne komplette Hautdurchdringung herrühren. Große Haustiere und Wildtiere Große vom Menschen gehaltene Tiere und Wildtiere unserer Breiten ähneln in den Verletzungsmustern Hund oder Katze und bieten insoweit vergleichbare Probleme. > Bei größeren Tieren (z. B. Pferde, Rinder) ist durch die Kraft der Kiefer und die Größe des Mauls mit ausgedehnten Quetschungen und Knochenbrüchen zu rechnen.
Menschen Bei Menschenbissen müssen echte Bissverletzungen von indirekten Verletzungen durch Faustschläge gegen die Zähne (sog. »Fightbite-clenched-fist«-Verletzungen) unterschieden werden.
⊡ Abb. 44.6 Gebiss eines Schäferhundes mit Reißzähnen
Direkte (echte) Bissverletzungen. Bissverletzungen durch den Menschen sind mit jenen des Hundes vergleichbar.
Indirekte Bissverletzungen. Indirekte Verletzungen durch Faustschlag gegen die Zähne führen zu einer Verletzung mit gebeugten Grundgelenken, bei der die Zahnkante der Schneidezähne die Haut und die Streckaponeurose durchschlägt und das Grundgelenk eröffnet (⊡ Abb. 44.5). Durch die anschließende Streckung der Grundgelenke verschieben sich dann die einzelnen Ebenen (Haut, Streckaponeurose, synoviale Gelenkkapsel) zueinander und verschleiern dadurch das Verletzungsmuster. Bei diesen Verletzungen muss durch entsprechend ausgedehnte Revision bewusst danach gesucht werden. Darüber hinaus liegen hier oftmals knöcherne Begleitverletzungen vor, klassischerweise z. B. subkapitale Frakturen des 5. Mittelhandknochens. Exoten Bei Exoten, welche in Wohnungen gehalten werden, kann es neben der Bissverletzung zur Einbringung von Giften kommen. Dies be-
⊡ Abb. 44.7 Gebiss einer Katze
a
b
c
⊡ Abb. 44.8 Biss einer Katze mit punktförmiger Perforation der Kortikalis des Fingermittelgliedes und Einstanzen des Knochendeckels in den Markraum. a Klinischer Aspekt bei Klinikaufnahme, b radiologischer Befund bei Klinikaufnahme: Die in der Vergrößerung sichtbare Impression eines kleinen Kortikalissegments durch die Zahnspitze wurde auf den Röntgenaufnahmen der Hand in zwei Ebenen primär übersehen. c Klinische Infektion in der 4. Woche mit Osteolyse
44
1234
Kapitel 44 · Bissverletzungen
⊡ Tab. 44.1 Keimspektrum bei Bissverletzungen und kalkulierte Antibiose Erwartetes Keimspektrum
Kalkulierte Antibiose
Menschenbiss
Staphylokokken Eikenella corrodens Streptokokken Klebsiellen Enterobacter Bacteroides Spirochäten
Amoxicillin/Clavulansäure Cephalosporine der 2. Generation Bei Penicillinallergie: Chinolon + Clindamycin ggf. zusätzlich Metronidazol bei V. a. Anaerobier
Hundebiss
Pasteurella canis Staphylokokken Streptokokken Pasteurella multocida Anaerobe Mischinfektionen
Amxocillin/Clavulansäure Cephalosporine Chinolon + Clindamycin ggf. bei V.a. Pasteurella zusätzlich Penicillin
Katzenbiss
Pasteurella multocida Staphylokokken Streptokokken Anaerobe Mischinfektionen
Amxocillin/Clavulansäure Cephalosporine Chinolon + Clindamycin ggf. bei V. a. Pasteurella zusätzlich Penicillin
trifft besonders Schlangen und einige Spinnenarten. Hier sind die frühzeitige Gabe eines Gegengifts und die Behandlung der Giftfolgen erforderlich. Daneben sind häufig ausdehnte Faszienspaltungen zur Verhinderung von Kompartmentsyndromen ( Kap. 48) notwendig.
Keimspektrum > Die Inokulation von keimbesiedeltem Speichel erhöht bei Bissverletzungen das Risiko für Wundinfektionen deutlich. Etwa 85% der Bisswunden enthalten pathogene Keime, jedoch kommt es nur in einem geringeren Teil tatsächlich zu einer klinisch manifesten Infektion.
Bei Hunde- und Katzenbissen finden sich in hoher Frequenz Pasteurella canis und Pasteurella multocida. Daneben finden wir regelmäßig Staphylococcus aureus und beta-hämolysierende Streptokokken Gruppe A. Eikenella corrodens wird bei menschlichen Bissverletzungen beobachtet. Zusätzlich muss auch an die Möglichkeit einer Übertragung von Hepatitis B und C sowie HIV gedacht werden. Daneben kommen zahlreiche weitere seltenere Keime vor (⊡ Tab. 44.1). Außerdem können u. a. Tetanus, Tollwut, Tularämie oder Leptospirose hervorgerufen werden. Bissverletzungen durch Nagetiere rufen nur selten Zoonosen hervor. 44.1.2 Epidemiologie
44 Die Prävalenz der Bissverletzungen ist schwierig zu erheben, da viele Bissverletzte keine oder erst verspätet ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. In Europa treten jährlich ca. 175–740 Bissverletzungen pro 100.000 Einwohner auf. Etwa 1% aller Behandlungen in der chirurgischen Notaufnahme entfallen auf Bissverletzungen. Bis zu drei Viertel aller Betroffenen sind Kinder. Die meisten Bissverletzungen finden sich im Hand- und Handgelenksbereich (⊡ Tab. 44.2), die hier lokalisierten Verletzungen machen bis zur Hälfte aller Bissverletzungen aus. Bisse durch Hunde und Katzen stellen die häufigste Ursache dar. Etwa 90% der Bissverletzungen werden durch Hunde verursacht.
⊡ Tab. 44.2 Lokalisation der Bissverletzungen im Handbereich im Hopital Bouciaut von 1992–1995 (nach Ebelin 1998) Lokalisation
Prozent
Handgelenk
17,2
Zeigefinger
15,5
Handrücken
14,6
Daumen
13.0
Finger 3–5
12
Handfläche
10,3
Komplexe Verletzungen
8,6
MCP-Gelenke
7,7
44.1.3 Ätiologie Der sog. »Menschenbiss« ist in den seltensten Fällen eine wirkliche Bissverletzung, sondern entsteht meist durch einen Faustschlag, bei dem es durch das Auftreffen der Faust auf die Zahnreihe zur Verletzung im Bereich der Grundgelenke kommt. Dennoch rangiert er wegen der gleichartigen Grundlagen mit unter den Bissverletzungen. Von den Bissverletzungen sind Kratzverletzungen durch Krallen abzugrenzen. Sie werden nach gleichen Kriterien untersucht und behandelt, hier aber nicht detaillierter behandelt. Seltener kommen Bissverletzungen durch andere Tiere vor. Ratten, Mäuse, Zoo- oder Wildtiere sowie in Wohnungen gehaltene Exoten, Schlangen, Spinnen und Insekten kommen dabei u. a. in Frage. In der Notfallversorgung muss deshalb neben der Versorgung der häufigen Verletzungen auch immer dafür gesorgt sein, dass Bisse durch seltenere oder bei uns normalerweise nicht anzutreffende Tierarten ebenfalls sachgerecht versorgt werden können.
1235 44.1 · Allgemeines
Begünstigende Faktoren Bei Verletzungen von Angehörigen exponierter Berufsgruppen, z. B. tierärztlichem Personal, Landwirten oder Tierpflegern in zoologischen Gärten muss mit einer erhöhten Infektionsrate gerechnet werden. Vorerkrankungen wie Diabetes mellitus, immunologische Defizite, Alkoholismus, Unter- und Fehlernährung führen durch verminderte Resistenz gegen die Erreger zu einer erhöhten Infektionsrate. Auch Durchblutungsminderungen durch Gefäßerkrankungen erhöhen das Risiko. 44.1.4 Diagnostik Neben der Frage nach Tierart, Dauer zwischen Bissverletzung und Arztbesuch sowie einer möglichen bereits begonnenen Therapie (Salben, Verbände, Immobilisation, Antibiotikagabe etc.) ist die Frage nach einem bestehenden Tetanusschutz und einem möglichen Tollwutverdacht obligat. Bei der klinischen Untersuchung müssen zwei Situationen unterschieden werden: ▬ die frische Bissverletzung ohne Infektzeichen und ▬ die veraltete Bissverletzung mit bereits bestehenden Infektzeichen.
und Entstehung der Verletzung gibt zusätzliche Verdachtsmomente. Häufig gelingt an den Fingern 2–4 in der Frühphase mit einer Knopfsonde der Nachweis von Druckschmerz bis zum Ringband A1 und die fehlende Druckschmerzhaftigkeit proximal davon. Bei Vorstellung des Patienten im Infektstadium kann eine Sonografie zur Abgrenzung von Abszedierungen und der Ausbreitung entlang der Sehnen herangezogen werden. Ein negatives Ergebnis sollte bei klinischem Verdacht jedoch nicht von der operativen Revision abhalten. Auch bei chronischen Verläufen und unklaren Befunden ist die Sonografie hilfreich, ebenso wie weitergehende Untersuchungen (z. B. MRT, Szintigrafie oder serologische Untersuchungen). Im frühen Stadium einer Infektion nach Bissverletzung sind sie entbehrlich. 44.1.5 Klassifikation Bissverletzungen können aufgrund zahlreicher Kriterien klassifiziert werden. Die häufigsten sind: Spezies (Hunde, Katzen, Menschen etc.), Eindringtiefe (Korium intakt oder durchbohrt) und die Tatsache, ob zusätzlich Gifte appliziert werden oder nicht ( Abschn. 44.1.3). 44.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Frische Bissverletzung ohne Infektzeichen Bei der frischen Bissverletzung ohne Infektzeichen sind primär die Lokalisation der Bissstelle und die möglichen Verletzungen der darunter liegenden Strukturen zu beurteilen. Entscheidend ist, ob das Korium intakt oder perforiert ist. Eine Röntgenuntersuchung der Hand bzw. des betroffenen Bereichs in zwei Ebenen sollte bei die Haut perforierenden Verletzungen immer durchgeführt werden. Neben der Erkennung von Verletzungen am Skelett können auch Fremdkörper geortet werden (z. B. beim Biss abgebrochene Zahnanteile). Sie können Auslöser für eine Infektion sein. Nicht jeder eingebrachte Fremdkörper ist sichtbar (z. B. eingestanzte Kleidungsanteile). Es kann aber auch um eine Abgrenzung gegen vorbestehende Veränderungen gehen, welche später versicherungsrechtlich relevant sein können. Ein Wundabstrich und eine intraoperative Materialgewinnung zur bakteriologischen Untersuchung sollten bei Bissverletzungen immer durchgeführt werden.
Veraltete Bissverletzung mit bereits bestehenden Infektzeichen Bei der veralteten Bissverletzung mit bereits bestehenden Infektzeichen muss die klinische Untersuchung die oben genannten anatomischen Strukturen, welche bei der Infektausbreitung bestimmend sind, berücksichtigen ( Abschn. 44.1.1). Zusätzlich zu Lage und Aussehen der Eintrittswunde spielen deshalb in erster Linie die potenziellen Ausbreitungswege eine Rolle. Jede Verletzung über oder nahe an den Fingergelenken muss den Verdacht auf eine erfolgte Gelenkeröffnung und ein drohendes bzw. eingetretenes Gelenkempyem nahelegen. Schmerzhaftigkeit des Gelenks stützt die Diagnose, es können jedoch auch klinisch sehr unauffällige Befunde mit einem Gelenkempyem verbunden sein. Radiologisch müssen in diesem Stadium noch keine sicheren Zeichen der Gelenkaffektion auffallen. Diese können dann oft erst nach 3–5 Wochen im Stadium der Gelenkzerstörung sichtbar werden (⊡ Abb. 44.6). Gestörte Bewegung, Spannungsschmerz und Druckschmerzhaftigkeit des Sehnenscheidensacks weisen auf Infekte des Beugesehnenscheidensacks (»Beugesehnenpanaritium«) hin. Die Lage
Ausgedehntere Bissverletzungen, aber auch haftungsrechtliche Fragen bei Fremdverschulden eines Tierhalters führen die Patienten meist umgehend zum Arzt. In größerer Zahl werden kleinere Kratzer und Bisse jedoch anfänglich bagatellisiert und heilen dann entweder ohne ärztliche Behandlung folgenlos ab, oder sie führen erst bei einsetzender Infektion zum Arztbesuch. Das macht eine Einschätzung, wie infektgefährdet diese kleineren Verletzungen insgesamt sind, schwierig. Für die Praxis hat sich uns folgendes Vorgehen bewährt. Der Verletzte selber sollte bei allen erkennbar die Haut perforierenden Verletzungen umgehend den Arzt aufsuchen und die Wunde chirurgisch versorgen lassen. Ansonsten sollte er die Kratzer reinigen und möglichst auch desinfizieren, sie dann beobachten und bei Anzeichen einer Infektion den Arzt aufsuchen. Bei der ärztlichen Erstbehandlung einer frischen Verletzung ohne Infektzeichen erfordern dann oberflächliche Biss- und Kratzwunden eine subtile Inspektion und Untersuchung auf eventuelle Hautperforationen. Hier müssen alle Kratzer mit einer dünnen Knopfsonde abgetastet werden, ob eine Perforation der Dermis vorliegt. Nur wenn an keiner Stelle die Verletzung zu einer Dermisperforation geführt hat, erfolgt die Behandlung mit lokaler Desinfektion und anschließender konservativer Wundbehandlung. Wir bevorzugen derzeit für die Wunddesinfektion Lavasept-Lösung und decken mit einer lokal antiseptisch wirkenden Salbe (z. B. PVP-Jod) ab. Für systemische Antibiotika gibt es keine gesicherte Grundlage ( Abschn. 44.1.7). Sie sind nicht erforderlich, werden aber in der Praxis von vielen Behandlern gegeben. Sobald die Dermis perforiert ist, ist von einer Kontamination der Subkutis durch virulente Keime an den Zähnen des Tieres auszugehen. Hier geht man bei konservativer Behandlung ein unnötig hohes Risiko einer Infektion ein. Die bindegewebigen Septen auf der Beugeseite der Hand leiten Infekte in die Tiefe. Nahe beieinander liegende Strukturen wie Sehnen und Gelenke sind häufig mitbeteiligt, ohne dass dies primär auffallen muss. Die perforierten Wundanteile sollten deshalb chirurgisch exzidiert werden, in die Tiefe exakt kontrolliert und gesäubert werden ( Abschn. 44.2.1).
44
1236
Kapitel 44 · Bissverletzungen
Gerade bei punktförmiger Perforation einer Gelenkkapsel durch den spitzen Zahn einer Katze beobachten wir immer wieder schleichend verlaufende Gelenkinfekte, welche erst nach 3–5 Wochen manifest werden, wenn die Gelenkzerstörung radiologisch sichtbar wird. Ein Beispiel für die Problematik einer »minimalen« Katzenbissverletzung gibt ⊡ Abb. 44.4. Nach exakter chirurgischer Versorgung kann ein primärer Wundverschluss ohne nachweisbar erhöhtes Infektionsrisiko vorgenommen werden. Schwere Verletzungen der Hand mit ausgedehnteren Gewebezerreißungen erfordern eine subtile operative Versorgung mit radikalem Débridement. Alle Bisskanäle sind bis in die Tiefe zu verfolgen, Perforationen von Faszien, Sehnenscheiden oder Gelenkkapseln müssen gesucht und bei Entdeckung exzidiert, eröffnet und in der Tiefe weiter gesäubert werden. Taschen und gequetschtes Fettgewebe sind komplett zu débridieren. Dazu sind adäquate Erweiterungsschnitte nach handchirurgischen Prinzipien erforderlich. Die Entscheidung, ob ein Gewebeanteil beim Débridement entfernt werden sollte, braucht viel Erfahrung. Im Zweifel gilt als Leitsatz: »Wenn man darüber nachdenkt und zweifelt, sollte man das Gewebe entfernen«. So stellt man sicher, dass nicht letztlich doch nekrotisch werdende Gewebeanteile Infektionen Vorschub leisten. Dann wird am Ende durch das erweiterte Débridement noch mehr Gewebe zerstört und muss entfernt werden. Soweit weitere Strukturen wie Sehnen, Nerven, größere Gefäße, Gelenke oder Knochen verletzt sind, sollten diese nach ausgedehntem Débridement primär versorgt werden. Wenn die Weichteile ohne wesentliche Spannung und ohne Hohlräume verschlossen werden können, kann dies nach dem Débridement ohne gesteigertes Infektionsrisiko – im Sinne einer Wundrandadaptation mit ausreichender Drainage – geschehen. Soweit notwendig schließt sich eine zügige Weichteildeckung mit Transplantaten und Lappenplastiken an. Eine kurze, 1–3 Tage dauernde Wartezeit unter einer temporären Abdeckung (Vacuseal oder feucht gehaltene Kunsthaut,z. B. Syspurderm o. Ä.) mit einer Second-Look-Operation kann im Einzelfall sinnvoll sein und liegt in der Entscheidung des Operateurs. Eine routinemäßige Second-Look-Operation halte ich ebenso wie ein prinzipielles Einlegen von Laschen aus meiner Erfahrung nicht für notwendig. 44.1.7 Therapie
Konservative (nichtoperative) Therapie > Die konservative Behandlung muss in den ersten Tagen eine engmaschige Kontrolle und gute Information des Patienten zum rechtzeitigen Erkennen von Infektzeichen sicherstellen.
Antibiotika sind nur bei Lymphangitis oder phlegmonösen Entzündungen ohne vorliegende Hautperforation sinnvoll. Der Einsatz
von Antibiotika allein verhindert Infekte nicht ( Abschn. 44.1.7). Für die Art der lokalen Verbände gibt es eine weite Palette. Hier ist dem Behandler sein vertrautes Regime zu empfehlen. Bei Zweifeln, ob doch eine beginnende lokal abszedierende Infektion vorliegt, sollte man die Kontrollintervalle im Stundenbereich halten und sich bei Progredienz ebenso wie bei fehlender Besserung zur operativen Revision entschließen.
Maßnahmen bei Gifteinbringung Bei Gifteinbringung sind die Maßnahmen unverzüglich auf eine mögliche lokale Elimination des Giftes vor der Resorption und Antiserumgabe sowie die systemische Behandlung der Giftwirkungen zu erweitern. Hier stehen die Giftnotrufe bei Bedarf zur Verfügung.
Tetanusimpfung Der Tetanusimpfschutz ist immer zu prüfen und ggf. zu impfen oder aufzufrischen.
Tollwutimpfung Weiterhin ist zu klären, ob das Tier bekannt ist und eine Impfung des Tieres gegen Tollwut erfolgt war. Andernfalls ist eine Tollwutimpfung einzuleiten Besteht ein Tollwutverdacht, wird eine gründliche Reinigung mit Wasser und Seife sowie eine anschließende Desinfektion mit jodhaltigen oder alkoholischen Desinfektionsmitteln empfohlen. Obwohl Tollwutfälle in Deutschland extrem selten geworden sind, ist bei unbekanntem Impfstatus des Tieres eine strenge Einhaltung des vom Robert Koch Institut empfohlenen postexpositionellen Immunisierungsschemas dringend zu beachten. Hierbei sollte so viel wie möglich des Tollwut-Immunglobulins in und um die Wunde instilliert und der Rest intramuskulär verabreicht werden (⊡ Tab. 44.3).
Antibiotikagabe Die Gabe von Antibiotika bei Bissverletzungen erscheint auf den ersten Blick plausibel, ja zwingend und durchzieht in diesem Sinne auch die Literatur. Zahlreiche Autoren empfehlen in den handchirurgischen Lehrbüchern und retrospektiven Aufarbeitungen eine prophylaktische perioperative oder längerfristige Antibiotikagabe. Bei genauerer Analyse ist die Masse dieser Arbeiten retrospektiv, die Entscheidung basiert auf Annahmen, es fehlen den meisten Arbeiten wissenschaftlich fundierte methodische Ansätze. Die wenigen prospektiv randomisierten Studien lassen dies kritischer sehen. Dire et al. (1992, 1994) fanden in einer prospektiv randomisierten Studie bei als »low risk« eingestuften Hundebisswunden keinen Vorteil der Antibiotikatherapie. Zu dem gleichen Ergebnis kamen Elenbaas et al. (1982) in einer prospektiven randomisierten placebokontrollierten Studie an 46 Patienten und Rosen
44 ⊡ Tab. 44.3 Postexpositionelles Impfschema bei Tollwut nach den Empfehlungen der STIKO von 2008 Grad der Exposition
Art der Exposition durch tollwutverdächtiges oder tollwütiges Tier
Immunprophylaxe
I
Füttern/Berühren von Tieren, Belecken der intakten Haut
Keine
II
Knabbern an der unbedeckten Haut, oberflächliche, nicht blutende Kratzer, Belecken der nicht intakten Haut
Impfung
III
Jegliche Bissverletzungen oder Kratzwunde, Kontakt der Schleimhäute mit Speichel
Impfung und einmalig simultan mit der 1. Impfung passive Immunisierung mit Tollwut-Immunglobulin (20 IE/kgKG)
1237 44.1 · Allgemeines
(1984) mit dem gleichen Studiendesign an 66 Wunden bei 33 Patienten. Diese Fallzahlen waren allerdings zu klein, um ein Umdenken für die Versorgungswirklichkeit einzuleiten. Smith et al. (2003) fanden bei einer Umfrage unter englischen Notfallambulanzen eine weite Streuung der Vorgehensweise bezüglich Wundspülung und Antibiotikagabe. Eine Zusammenstellung von 8 randomisierten kontrollierten Studien fand ebenfalls keinen positiven Einfluss einer prophylaktischen Antibiotikagabe bei Bissen durch Hunde und Katzen. Dagegen wurde für Bisse durch Menschen und für durch Bisse hervorgerufene Infektionen an der Hand ein leichter Vorteil durch Antibiotika gesehen. Zum gleichen Ergebnis kamen Jones und Stanbridge (1985) in einer prospektiven randomisierten doppelblinden, placebokontrollierten Studie an 113 Patienten. Aus handchirurgischer Sicht ist dabei kritisch anzumerken, dass solche Fälle keine handchirurgisch spezialisierte operative Versorgung erhielten, was die schlechteren Ergebnisse bei Bissverletzungen an der Hand relativieren kann. Eigene Erfahrungen bei 50 prospektiv untersuchten Handinfekten und infizierten Bissverletzungen mit und ohne Antibiotikagabe nach chirurgischer Versorgung zeigte, dass solche Wunden effektiv débridiert und primär verschlossen werden können. Für das Auftreten erneuter Infekte (3 in der Antibiotikagruppe, 2 in der Gruppe ohne Antibiose) spielen chirurgische Versäumnisse des Operateurs die entscheidende Rolle. Antibiotika halten den Reinfekt dann nicht auf, die Ergebnisse sind durch postoperative Antibiose insgesamt nicht zu verbessern. Entgegen dem überwiegenden klinischen Verhalten ist nach wie vor nicht gesichert, dass nach adäquater chirurgischer Versorgung tiefer Infekte an der Hand die Gabe von Antibiotika zusätzlichen Nutzen bringt, wenn keine weiteren Risikofaktoren vorliegen. Die eigenen Erfahrungen mit subtilem Débridement sprechen dafür, dass Antibiotika in den meisten Fällen – immer eine entsprechende chirurgische Vorgehensweise vorausgesetzt – verzichtbar sind. Begründet sind Antibiotika bei phlegmonösen Entzündungen, Lymphangitis, Erkrankungen mit reduzierter Infektabwehr oder immunsupprimierender Therapie. In solchen Fällen sollten Betalactam-Antibiotika und Betalactamase-Inhibitoren angewendet werden. Staphylokokken und Streptokokken können mit Cephalosporinen der 1. oder 2. Generation erreicht werden. Die zunehmende Resistenz von Staphylokokken gegenüber gängigen Antibiotika muss berücksichtigt werden. Infektionen mit anaeroben und gasproduzierenden Erregern sind selten und in erster Linie bei resistenz- oder immungeschwächten Patienten zu sehen. Das Einbringen lokaler Antibiotikaketten (Septopal o. Ä.) ist nach dem geschilderten ausgiebigen chirurgischen Débridement und suffizientem Weichteilverschluss (ggf. mit Lappenplastik) in Weichteilen möglich und wird ebenfalls häufig geübt. Wir halten sie aus den vorstehend genannten Gründen bei adäquater Einhaltung der beschriebenen Kriterien für nicht mehr erforderlich. Zweckmäßig sind sie dagegen als Platzhalter bei Knochendefekten bis zur späteren definitiven Knochentransplantation oder Gelenkrekonstruktion. Die Installation von Antibiotika (Gentamicin) in Sehnenscheidensäcke oder Gelenke findet klinische Anwendung. Aussagekräftige Studien dazu fehlen.
Operative Therapie Wir legen Wert auf ein ausgiebiges (»adäquates«) Débridement und einen primären, höchstens kurzzeitig über eine Second-LookOperation verzögerten Wundverschluss. Falls notwendig, werden
plastisch-chirurgische Verfahren zum spannungsfreien und hohlraumfreien Verschluss des Weichteilmantels eingesetzt. Antibiotika werden nur restriktiv nach oben genannten Kriterien eingesetzt. Bei unzureichender Infektbeherrschung steht die operative Revision im Vordergrund.
Operative Therapie Perforieren die Wunden die Haut, so werden diese in Blutsperre und adäquater Anästhesie (Narkose oder Plexusanästhesie, auch Leitungsanästhesie entfernt von der Wunde, jedoch keine lokale Infiltration) chirurgisch revidiert. Der Bisskanal wird komplett exzidiert, eine Perforation durch Muskelfaszie, Sehnenscheiden oder in Gelenke gesucht bzw. ausgeschlossen und alles sichtbar beschädigte Gewebe, insbesondere das durch Quetschung beschädigte Fettgewebe, entfernt. Dazu sind häufig Schnitterweiterungen nötig. Die Schnittführungen sollten grundsätzlich den Standardvorgaben an der Hand folgen. So ist gewährleistet, dass bei ausgedehnteren Befunden eine angemessene Freilegung erfolgen kann und auch bei eventuellen Revisionen und sekundären Eingriffen durch die Schnittführung dann keine zusätzliche Einschränkung entsteht. Die Revision muss immer bis ins gesunde Gewebe geführt werden. Wenn dabei Hautpartien nicht mehr ausreichend durchblutet sind, so sind diese zu entfernen und eine plastische Defektdeckung einzuplanen (⊡ Abb. 44.9). Bei der Verfahrenswahl zum Wundverschluss sollte immer berücksichtigt werden, dass eine ungestörte Heilung eine gute Durchblutung und das Vermeiden von Hohlräumen im Gewebe (welche sich sonst mit Hämatom und Serom füllen) voraussetzt. Auch sollte bei der Wahl der Weichteildeckung bedacht werden, dass ggf. spätere Operationen in dem betroffenen Bereich notwendig sind (z. B. Tenolysen). Hauttransplantate erschweren dies später beträchtlich, sodass auch dann die Wahl auf eine Lappenplastik fallen sollte, wenn sie noch nicht zwingend erforderlich scheint. Mechanische Wundspülungen können das chirurgische Vorgehen ergänzen, aber nicht ersetzen. Für die Anwendung von JetLavage nach Bissverletzungen an der Hand gibt es keine Studien. Die Gefahr, Keime in das gesunde Gewebe zu pressen, ist nicht auszuschließen. Wir verwenden keine Jet-Lavage bei Infektionen an der Hand. Die Wunde wird dann primär verschlossen und die Hand für 2–3 Tage auf einer palmaren Schiene in Intrinsic-plus-Stellung ruhiggestellt ( Kap. 2). Soweit überhaupt Drainagen oder Laschen eingelegt werden, entfernen wir diese frühzeitig nach 12–24 Stunden. Danach auftretende Infektzeichen weisen darauf hin, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit das intraoperative Débridement nicht ausreichend war, und zwingen zur erneuten operativen Revision. Antibiotika verbessern nach der chirurgischen Intervention das Ergebnis nicht, ausgenommen bei resistenzgeschwächten Patienten, sodass wir darauf verzichten. Treten keine Infektzeichen auf, so wird die Bewegung freigegeben und eine funktionelle Nachbehandlung angeschlossen. Damit kann eine frühe Restitution der Funktion der Hand erreicht werden. Eine temporäre Abdeckung der Wunde bis zum Second Look für 1–3 Tage ist möglich, die Wunde muss in dieser Zeit feucht gehalten und unbedingt gegen Austrocknung geschützt werden. Auf keinen Fall sollte an der Hand mit längerer Sekundärheilung und Bildung von Granulationsgewebe gearbeitet werden. Dies gilt auch für den Einsatz der Vakuumversiegelung an der Hand. Hier führt die Granulationsbildung zur vermehrten Bildung von Narbengewebe und damit zu Bewegungsbehinderungen und Blockierung von Gleitschichten. Auch erfordert eine solche Sekundärheilung
44
1238
Kapitel 44 · Bissverletzungen
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d
⊡ Abb. 44.9 Frische Hundebissverletzung im Bereich der Mittelhand mit Riss-Quetsch-Wunden mit zerfetzten Wundrändern, Taschenbildungen und Decollement. a Klinischer Aspekt zu Beginn der Operation, b klinischer Aspekt nach Beendigung des Débridement, c klinischer Aspekt nach Präparation einer distal gestielten A.-radialis-Lappenplastik, d klinischer Aspekt nach Transposition und Einnähung der distal gestielten A.-radialis-Lappenplastik
meist eine längere Ruhigstellung, was das funktionelle Resultat durchweg schlechter ausfallen lässt.
Operative Therapie bei Infektzeichen
44
Wenn der Verletzte erst mit Infektzeichen nach dem Biss in Behandlung kommt, ist die Behandlung immer operativ, wobei sich das Ausmaß der Freilegung an dem erkennbaren Ausmaß der Schädigung orientiert, zusätzlich aber auch an den anatomischen Gegebenheiten potenzieller Ausbreitungswege, welche soweit zu revidieren sind, dass die Operation sicher genug in gesundem Gewebe beendet wird. Der Wundverschluss ist auch hier sofort oder mit kurzer Verzögerung möglich. Sofort nach Sicherung der Heilung sollte eine funktionelle Nachbehandlung angeschlossen werden. Soweit nicht Kriterien für eine Antibiotikabehandlung aus allgemeinen Gründen gegeben sind, so ist diese nach einer solchen chirurgischen Revision nicht erforderlich. Der Verletzte muss engmaschig nachkontrolliert werden. Kommt es zum Rezidivinfekt, so muss chirurgisch revidiert werden. Lappenplastiken können für diese Defektdeckungen erforderlich werden. Ihre Beherrschung ist bei der Behandlung dieser Ver-
letzungen notwendig. Ein Beispiel für eine solche Lappendeckung nach Débridement zeigt ⊡ Abb. 44.10. Falsch ist der Versuch an Hand und Unterarm, mit begrenzten Inzisionen ohne komplettes Débridement oder mit Durchziehen von Laschen und Drainagen einen Infekt beherrschen zu wollen (⊡ Abb. 44.11). Hier wird der Infektausbreitung durch die anatomische Struktur dieser Region nur Vorschub geleistet. Amputationen von Fingern, Fingeranteilen oder größeren Abschnitten der oberen Extremität können bei schweren Infekten erforderlich werden. Infektionen wie Gasbrand oder nekrotisierende Fasziitis können wegen ihres foudroyanten Verlaufs eine Amputation bedingen. Auch nicht sanierbare Durchblutungsstörungen oder bei Behandlungsbeginn weit fortgeschrittene Infektionen können so ausgedehnte Gewebeverluste bewirken, dass eine funktionelle Erhaltung der Hand oder von Handanteilen nicht mehr möglich ist (⊡ Abb. 44.12). Schließlich muss aber auch immer wieder abgewogen werden, ob der Kampf um einen einzelnen Finger bei auftretenden Komplikationen oder protrahiertem Verlauf Sinn macht gegenüber drohenden mittelbaren Funktionsstörungen der gesamten Hand.
1239 44.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 44.10 Infizierter Katzenbiss. a Klinischer Aspekt nach Débridement: Man erkennt die Perforation des Knochens durch den Katzenzahn. b Defektdeckung mithilfe einer distal gestielten A.-interossea-posterior-Lappenplastik, c klinischer Aspekt 3 Monate nach Defektdeckung
a ⊡ Abb. 44.12 Infektion nach Katzenbiss mit Beteiligung der Handwurzel, Mittelhand und starker Behandlungsverzögerung. Nach Débridement ergab sich hier eine Amputationsindikation
44.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Diagnostik und Therapie von Bissverletzungen im Bereich der Hand im Kindesalter gelten im wesentlichen die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. 44.2
Spezielle Techniken
44.2.1 Technik der Ausschneidung der
Bissverletzung b ⊡ Abb. 44.11 Fehlerhafte Versorgung einer Infektion nach Hundebiss mit Einziehen von etlichen Laschen. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme: Ansicht von palmar und dorsal, b klinischer Aspekt nach ausgiebigem Débridement und Spalthautdeckung 1 Jahr nach Versorgung
Der Bisskanal wird komplett exzidiert, eine Perforation durch Muskelfaszie, Sehnenscheiden oder in Gelenke gesucht bzw. ausgeschlossen und alles sichtbar beschädigte Gewebe, insbesondere das durch Quetschung beschädigte Fettgewebe, entfernt (⊡ Abb. 44.13a). Dazu sind häufig Schnitterweiterungen nötig (⊡ Abb. 44.13b,c). Die Schnittführungen sollten grundsätzlich den Standardvorgaben an
44
1240
Kapitel 44 · Bissverletzungen
a
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⊡ Abb. 44.13 Technik der Wundausschneidung »en bloc« nach Friedrich bei einer Bissverletzung. a Schematische Darstellung. b Erweiterungsschnitte dorsal: Zwecks Ausschluss oder Versorgung subkutaner Begleitverletzungen müssen bei längsgestellten Wunden über dem Handrücken und Fingerstreckseiten s-förmige, bei quergestellten Wunden zickzackförmige Erweiterungsschnitte angelegt werden. c Erweiterungsschnitte palmar: Die ungünstige Verlaufsrichtung einer Bisswunde lässt sich durch eine Z-Plastik umlagern. Bei notwendigen Erweiterungen von Bisswunden müssen die angesetzten Schnitte in den erlaubten Richtungen liegen, längs an der Mediolaterallinie der Finger, quer in den Beugefalten und schräg zwischen den Beugefalten. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
der Hand folgen. So ist gewährleistet, dass bei ausgedehnteren Befunden eine angemessene Freilegung erfolgen kann und auch bei eventuellen Revisionen und sekundären Eingriffen durch die Schnittführung dann keine zusätzliche Einschränkung entsteht. Die Revision muss immer bis ins gesunde Gewebe geführt werden. Wenn dabei Hautpartien nicht mehr ausreichend durchblutet sind, so sind diese zu entfernen und eine plastische Defektdeckung einzuplanen (⊡ Abb. 44.9a–d, ⊡ Abb. 44.10a–c). Bei der Verfahrenswahl zum Wundverschluss sollte immer berücksichtigt werden, dass eine ungestörte Heilung eine gute Durchblutung und das Vermeiden von Hohlräumen im Gewebe (welche sich sonst mit Hämatom und Serom füllen) voraussetzt. Auch sollte bei der Wahl der Weichteildeckung bedacht werden, dass ggf. spätere Operationen in dem betroffenen Bereich notwendig sind (z. B. Tenolysen). Hauttransplantate erschweren dies später beträchtlich, sodass auch dann die Wahl auf eine Lappenplastik fallen sollte, wenn sie noch nicht zwingend erforderlich scheint. 44.2.2 Technik der operativen Therapie der
de Infektbeherrschung im Thenarraum. Der Zugang kann von streckseitig oder beugeseitig gewählt werden ( Abschn. 45.2.7). Das dorsale Ödem (⊡ Abb. 44.5b) darf aber nicht täuschen, wenn die Eintrittsöffnung palmar liegt. Infekte im Hypothenarraum sind äußerst selten. Die Infektausräumung erfolgt von einer Inzision über dem palmaren Rand des Hypothenars. Von dort wird die Loge nach ulnar hin eröffnet und alles nekrotische und durch die Infektion veränderte Gewebe ausgeräumt. Am Ende des Débridements muss vitale, sauber aussehende Muskulatur verbleiben. Die Inzision wird dann primär verschlossen. Eine Drainage des Thenar- und Hypothenarraums nach der operativen Versorgung für 24–48 Stunden ist zweckmäßig. Ein Ruhigstellung für 2–3 Tage ist ausreichend, dann kann bei klinischem Abklingen des Infekts mit Physiotherapie begonnen werden. Das Wiederauftreten von Infektzeichen sollte nicht mit Ruhigstellung und Antibiose allein therapiert werden, sondern operativ revidiert werden, da bei konservativer Behandlung funktionelle Störungen der Hand in weit größerem Umfang zu erwarten sind.
Paronychie Kap. 45 44.2.6 Technik der Therapie der eitrigen Arthritis 44.2.3 Technik der operativen Therapie von
Abszessen in der Fingerbeere Kap. 45
44
44.2.4 Technik der operativen Therapie der
Tenosynovitis der Beugesehne Kap. 45 44.2.5 Technik der operativen Revision des
Thenar- und Hypothenarraums Die Revision des Thenarraumes muss bis an den 3. Mittelhandknochen als Ursprung des Caput transversum des M. adductor pollicis herangeführt werden. Das Unterlassen einer Revision in dieser Ausdehnung und das Belassen fibrinöser infizierter Beläge in der Tiefe der Loge ist die wesentliche Ursache für unzureichen-
Bei Verdacht einer Beteiligung von Gelenken aufgrund von Schmerzhaftigkeit, Funktionsstörung oder Lage der Verletzung muss eine Revision erfolgen. Während das Handgelenk vorab zur Klärung punktiert werden kann, bringt die Punktion der Fingergelenke aufgrund der geringen aspirierbaren Flüssigkeitsmengen keine sichere Klärung. Es sollte dann die operative Revision erfolgen. Bevor eine Eröffnung der Gelenkkapsel vorgenommen wird, sollte ein Infekt des umliegenden Gewebes débridiert und die Wunde ausgiebig gespült sein. Entleert sich bei der Öffnung des Gelenks trübe Flüssigkeit, ohne dass schon weitergehende Veränderungen an Knorpel und Synovia sichtbar sind, so wird das Gelenk gespült, anschließend die Gelenkkapsel und die Wunde geschlossen. Eine temporäre Ruhigstellung
1241 Weiterführende Literatur
zur Infektbeherrschung mit einer Schiene ist sinnvoll. Sobald die Infektion beherrscht erscheint, wird mit aktiven geführten Bewegungsübungen begonnen, um einer Einsteifung möglichst zu begegnen. Bei Eiterentleerung ist die Zerstörung des Gelenks oft schon fortgeschritten. Die Revision folgt in ihrer Ausdehnung dann dem Ausmaß der gefundenen Schäden. Solange der Knorpel nicht zerstört ist, hat eine funktionelle Erhaltung des Gelenks Aussichten auf Erfolg. Es sollte dann eine Synovektomie und Spülung erfolgen. Andernfalls ist eine Resektion notwendig. Wir deponieren in solchen Fällen bei kleinen Gelenken eine PMMA-Kugel als Platzhalter, bei größeren Gelenken füllen wir mit PMMA-Kette auf. Die ursprüngliche Länge sollte soweit wie möglich erhalten bleiben und die Vorspannung der Sehnen nicht gemindert werden. In diesen Fällen hat sich die Ruhigstellung mit Fixateur bis zur Infektausheilung bewährt. Nach Infektausheilung kommen dann weitere rekonstruktive Operationen zum Einsatz, wie z. B. Arthroplastiken, Arthrodesen oder auch alloplastischer Gelenkersatz ( Abschn. 45.2.9). 44.2.7 Technik der infektbedingten Amputation Wenn die Entscheidung zu einer Amputation fällt, so geschieht dies meist in einer fortgeschrittenen Infektsituation. Es ist dann neben den üblichen Techniken der Amputationen an der Hand auch an die Möglichkeit der Grenzflächenamputation ohne Nahtverschluss zu denken, bei der durch die Kürzung von Knochen und Weichteilmantel in unterschiedlicher Höhe die Bedeckung ohne Nahtverschluss und damit minimalem Stress auf die Weichteile erfolgt. 44.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Eine Bissverletzung an der Hand oder am Unterarm stellt eine komplikationsträchtige Verletzung dar. Sie bedarf deshalb besonderer Aufmerksamkeit in der Versorgung. Dabei muss besonders den »kleinen« Verletzungen Aufmerksamkeit geschenkt werden, da diese häufig unterschätzt werden und dann erhebliche negative Folgen haben können.
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44
1243 44.3 · Weiterführende Literatur
X
Infektion
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Infektionen – 1245 Hossein Towfigh, Lars Gerres
44 X
1245 44.3 · Weiterführende Literatur
Infektionen Hossein Towfigh, Lars Gerres
45.1
Allgemeines – 1246
45.1.1 45.1.2 45.1.3 45.1.4 45.1.5 45.1.6 45.1.7 45.1.8 45.1.9
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1246 Epidemiologie – 1248 Ätiologie – 1248 Diagnostik – 1251 Klassifikation – 1252 Indikationen und Differenzialtherapie – 1253 Therapie – 1253 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1259 Antibiotische Therapie – 1259
45.2
Spezielle Techniken
– 1260
45.2.1 45.2.2 45.2.3 45.2.4 45.2.5
Technik der Behandlung der Paronychie – 1260 Technik der Behandlung des Panaritium subunguale – 1260 Technik der Behandlung des Panaritium subcutaneum (»Kragenknopfabszess«) – 1261 Technik der Behandlung des Panaritium cutaneum – 1261 Technik der Behandlung des Panaritium tendineum (Infektion der Beugesehnenscheide, Beugesehnenscheidenphlegmone) – 1263 45.2.6 Technik der Behandlung der Infektion im Bereich des oberflächlichen und tiefen Hohlandraumes – 1265 45.2.7 Technik der Behandlung des Thenar- und Hypothenarabzesses – 1267 45.2.8 Technik der Behandlung der V-Phlegmone und des infizierten Parona-Raumes – 1267 45.2.9 Technik der Behandlung der Gelenkinfektion (Panaritium articulare) – 1270 45.2.10 Technik der Behandlung der Knocheninfektion (Panaritium ossale) – 1272 45.2.11 Technik der Behandlung mit Folie – 1274
45.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen Weiterführende Literatur
– 1274
– 1276
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
45
1246
45.1
Kapitel 45 · Infektionen
Allgemeines
Die Infektion an der Hand ist ein häufiges Krankheitsbild in chirurgischen Notaufnahmen. Die Diagnostik und die Therapie stellen nach wie vor sehr hohe Anforderungen an die behandelnden Ärzte. Infektionen an der Hand erfordert immer eine Notfallbehandlung und ggf. einen chirurgischen Noteingriff. Das Management der Behandlung ist essenziell für die Infektsanierung einerseits und die Vermeidung der Ausbreitung andererseits. Es bedarf der Erfahrung eines geschulten Handchirurgen und ist kein Terrain für Anfänger, weder bei der Diagnostik noch bei der Therapie. > Das wesentliche Prinzip der Behandlung bakterieller Handinfektionen besteht in einer frühzeitigen und radikalen chirurgischen Infektsanierung. Unterstützt wird diese durch eine erregerbestimmende antibiotische Therapie, eine intermittierende Ruhigstellung und Mobilisation.
Dabei sollte möglichst durch ein ausreichendes, frühzeitiges und radikales chirurgisches Débridement die Infektion beherrscht werden. Gelegentlich sind jedoch mehrfache Operationen notwendig. Die Antibiotikagabe primär nach der ersten Operation muss entsprechend dem mikrobiologischen Befund und Antibiogramm angepasst werden. Äußere und innere Faktoren begünstigen das Auftreten einer Handinfektion. Zu den äußeren Einflüssen zählen mangelhafte Handhygiene, Arbeiten in nassem Milieu ohne ausreichenden Handschutz (Stukkateur, Fleischer). Innere Ursachen sind Stoffwechsel- und durchblutungsgestörtes Gewebe (z. B. Diabetes mellitus), angeborene oder erworbene Immunschwäche, instabile Osteosynthesen, unzureichendes Débridement, Lavage oder Drainage bei der Versorgung aller Arten von Handverletzungen. 45.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Neben Art und Virulenz des Erregers bestimmt die Anatomie der Hand wesentlich den Infektverlauf und die Operationsmethode. Aufgrund der besonderen Anatomie der Hand, nämlich der Sehnen, Sehnenscheiden, septierten Faszienräumen, Fettgewebe und Aponeurose, ist die Hand gegenüber infektiösen Erregern besonders gefährdet.
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Palmare Hand: Haut und Finger Außerhalb der Beugefalten, der Hohlhandlinien und des Thenars, wo Fremdkörper und Erreger leicht eindringen können, ist die palmare Haut dick, widerstandsfähig und mit der Palmaraponeurose bzw. an den Fingern mit dem Periost und den osteofibrösen Kanälen fest verbunden. Durch die vertikale Anordnung der Bindegewebesepten breiten sich Erreger und Ödem nicht oberflächlich aus, sondern folgen dem Weg des geringsten Widerstandes in die Tiefe mit Überschreiten der Palmaraponeurose, am Finger zur Sehnenscheide und zum Knochen. Das Ödem folgt dem dorsal ausgerichteten Lymphabfluss der Hand und führt zur Schwellung des Handrückens. Dorsale Hand: Haut und Finger Die Haut der Streckseite der Mittelhand und Finger ist dünner als die der Beugeseite und leichter verletzlich. Es bestehen keine Septen und Kammern, wie auf der Beugeseite, sodass sich auf der Streckseite ein Ödem ausbreiten kann und Erreger von der
Beugeseite zur Streckseite leicht vordringen können. Durch die Behaarung der Streckseite können hier Furunkel und Karbunkel entstehen und zu einer oberflächlichen Infektausbreitung führen. Im Bereich der Nagelwälle begünstigen die Epitheleinfaltungen eine Infektausbreitung um den Nagel herum zur Nagelmatrix und von dort zum unmittelbar darunter liegenden Endgliedknochen. Palmare Hand: Sehnenscheiden- und Faszienräume Die Beugesehnenscheiden umhüllen schlauchartig die Beugesehnen des Daumens und der Finger. Am Daumenstrahl setzt sich die Sehnenscheide bis in den Karpaltunnel in Höhe des Handgelenks fort und bildet dort die radiale Bursa. In der Regel reicht die Sehnenscheide des Kleinfingers bis in den Karpaltunnel und umschließt als ulnare Bursa die Sehnen des 2., 3. und 4. Fingers. Die Sehnenscheiden dieser Finger reichen proximal nur bis zur distalen Hohlhand. Es bestehen aber zahlreiche Varianten mit Verbindung der Sehnenscheiden dieser Finger zur ulnaren Bursa, sodass sich eine V-Phlegmone nicht nur vom Kleinfinger zum Daumenstrahl entwickeln, sondern auch von einem der übrigen Finger ausgehen kann (⊡ Abb. 45.1). Neben dem subkutanen Raum zwischen Haut und Palmaraponeurose und dem subaponeurotischen Raum bestehen in der palmaren Mittelhand folgende Spalträume durch Faszienzüge von der oberflächlichen Faszie zur tiefen Hohlhand (⊡ Abb. 45.2): ▬ radial des Mittelhandseptums der radiale tiefe Mittelhohlhand- oder Adduktorraum, ▬ ulnar der ulnare tiefe Mittelhohlhand- oder Mittelhandraum. Der radiale tiefe Mittelhohlhandraum wird oft auch als Thenarraum oder Thenarbursa bezeichnet, obwohl er palmar der Adduktorfaszie liegt und nicht innerhalb der Muskelfaszien des Thenars. Wegen der bestehenden Verbindungen der Beugesehnenscheiden der Finger und der Muskelscheiden der Lumbricales können sich Infektionen von den Fingern folgendermaßen ausbreiten: vom 2. Finger in den Thenarraum, vom 3., 4. und 5. Finger zum tiefen Hohlhandraum und von dort in den Hypothenar. Eine primäre Infektion der einzelnen Mittelhandräume kann sich aber auch in umgekehrter Richtung nach distal in die entsprechenden Finger ausbreiten und wegen des lockeren Gewebes der Schwimmhäute dabei zur Streckseite durchbrechen. Weiterhin besteht proximal eine Verbindung des Adduktorraumes unter die Faszie des Thenars, sodass eine subfasziale Abszedierung der Thenarmuskulatur vom Adduktorraum aus möglich ist. Der Parona-Raum liegt im distalen Vorderarm zwischen den tiefen Beugern und der Faszie des M. pronator quadratus. Bei fehlender anatomischer Abgrenzung dieses Raumes nach distal sind Infektausbreitungen von distal aufsteigend in diesen Raum möglich. Umgekehrt können primär im Parona-Raum entstandene Infekte über die offene Verbindung in die Mittelhandräume und über die radialen und ulnaren karpalen Sehnenscheiden in die Fingerstrahlen vordringen. Dorsale Sehnenscheiden- und Faszienräume Die streckseitigen Sehnenscheiden liegen in Höhe des Retinaculum extensorum und haben keine Fortsetzung zum Daumen oder den Fingern, sodass sie keine wesentliche Bedeutung für die Ausbreitung pyogener Entzündungen haben. Die beiden dorsalen Faszienräume sind der subkutane Raum zwischen Haut und oberflächlicher Faszie und der subaponeurotische Raum zwischen oberflächlicher und tiefer Faszie, durch den die Strecksehnen verlaufen. Infekte in diesen Räumen können sich demzufolge flächig ausbreiten und werden nicht wie auf der Beugeseite kanalartig fortgeleitet. Da die tiefe Faszie aber von multiplen Blutgefäßen
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⊡ Abb. 45.1 Sehnenscheiden und Sehnenführung der Hohlhand und Finger. Die dargestellten palmaren Vaginae synoviales sind die am häufigsten vorkommende Variante und zeigen den Ausbreitungsweg eines Infekts vom Daumen zum Kleinfinger mit Ausbildung einer V-Phlegmone. Da auch andere Verbindungen der Sehnenscheide untereinander vorliegen können, ist auch entsprechend die Ausbildung einer V-Phlegmone vom Daumen auf einen Fingerstrahl oder von einem Finger auf einen anderen möglich. Stets besteht jedoch eine enge räumliche Beziehung der palmaren Sehnenscheiden zu den Hohlhandräumen. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
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Kapitel 45 · Infektionen
⊡ Abb. 45.2 Querschnitt durch die Hohlhandmitte: Die dargestellte anatomische Beziehung des ulnaren und des radialen Hohlhandraumes (= Thenarraum) ist für die Infektfortleitung entscheidend. Die Lage des Thenarraumes palmar zum Adductor pollicis mit der ulnaren Begrenzung durch das Mittelhandseptum kann von Infekten der Sehnenscheide des 2. Fingers erreicht werden. Der ulnare Hohlhandraum mit seiner Lage ulnar des Septums und zwischen Interossei und den Beugern kann rasch von Infekten des 3., 4. und 5. Fingers erreicht werden. Ein umgekehrter Infektausbreitungsweg ist ebenfalls möglich. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
perforiert ist, kann auch ein streckseitiger, flächig ausgedehnter Infekt zur Beugeseite durch die tiefe Faszie oder über das lockere Bindegewebe der Schwimmhäute vordringen und so die palmaren Sehnenscheiden- und Faszienräume erreichen (⊡ Abb. 45.3). 45.1.2 Epidemiologie Die Hand ist hochexponiert für Infektionen der oberen Extremität. Etwa 8% aller handchirurgischen Operationen müssen wegen Infektionen durchgeführt werden. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Genese werden sie in 3 Gruppen unterteilt: 1. Infektionen ohne nachweisbare Hautläsion: Furunkel oder Karbunkel im Bereich der behaarten Hautflächen der Hand können zu Infekten der Hand führen. Zu dieser Gruppe werden auch alle Infekte gerechnet, die in durchblutungs-, stoffwechsel- oder trophisch gestörten Geweben der Hand entstehen oder sich aus nekrotisch zerfallenen Tumorinfiltraten (maligne Lymphome) entwickeln. 2. Infektionen durch kontaminierte Hautverletzung (Gelegenheitswunde): Solche Hauteröffnungen können punktförmige und kleinste Verletzungen (Stichverletzung, Nagelpflege) sein oder posttraumatisch im Rahmen von offenen Frakturen bis hin zur schweren Kombinationsverletzung einer Hand reichen. Die Erreger können dabei durch die verletzte Haut eindringen oder werden bei der Verletzung in die Tiefe verschleppt. 3. Infektionen durch hämatogene Verschleppung: Erreger erreichen Weichteile oder Knochen der Hand auf dem Blutweg.
45 45.1.3 Ätiologie Bei Eindringen eines pathogenen Erregers treten durch die Abwehrmechanismen im betroffenen Gewebe die seit Galen bekannten fünf Kardinalsymptome als lokale Entzündungszeichen auf. Alle Erreger, die im Rahmen der Abwehr durch die phagozytierenden Leukozyten zur Entzündungsreaktion führen, bewirken eine pyogene Handinfektion.
Alle anderen Handinfektionen werden unabhängig davon, ob eine unspezifische oder spezifische Entzündungsreaktion ausgelöst wird, als besondere Handinfektionen zusammengefasst oder als primär nicht pyogene Infekte bezeichnet, da es durch Phagozytose untergegangenen Gewebes oder durch hinzugetretene Mischinfektion erst später zur Eiterbildung kommt. Die primär nicht pyogenen spezifischen Entzündungen führen immer zu einem für den jeweiligen Erreger eigenen histomorphologischen Bild des infizierten Gewebes. Auch die lokalen Gewebereaktionen sind bei den spezifischen Entzündungen für den jeweiligen Erreger typisch, sodass aus dem makroskopischen Bild des infizierten Gewebes gelegentlich auf den Erreger geschlossen werden kann. Im klinischen Alltag werden zumeist pyogene abszedierende Handinfektionen gesehen, weil in 58,6 bis über 80% der Fälle bakterielle Infektionen mit Staphylokokken, vornehmlich mit Staphylococcus aureus, vorliegen, gefolgt von Streptokokkeninfektionen (12–66%), bei denen aufgrund ihrer spezifischen Virulenz phlegmonöse Infekte entstehen. In einer Studie von 418 Patienten mit Infektionen an der Hand wurde festgestellt, dass die Patienten sich im Durchschnitt innerhalb von 10 Tagen nach Infektionsbeginn zur operativen Behandlung vorgestellt haben. In 45% der Fälle wurde eine subkutane Infektion, gefolgt von 27% Sehneninfektionen, 18% Gelenkinfektionen und 5% Knocheninfektionen festgestellt. Die häufigste Infektion war durch Staphylokokkus aureus verursacht. In drei Viertel der Fälle waren die Körpertemperatur und das CRP bei diesen Patienten normal. Allerdings waren in 50% der Fälle die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) erhöht und zeigte eine bessere Testung gegenüber dem CRP. In der Studie von Anwar Mu (2008) wurde bei 76 Infektionsbehandlungen nur in 9% der Fälle konservativ angegangen. Die mittlere Behandlungsdauer betrug 51 Tage. Chang (2003) berichtet über 26 Behandlungstage nach Menschenbissverletzungen, die stationär behandelt werden müssen. In 40–84% der Fälle bestehen Mischinfektionen aufgrund ungezielter Antibiotikatherapie oder nach unzureichender chirurgischer Vorbehandlung. Bei Bissverletzungen liegen fast immer Mischinfektionen vor. Beim infizierten Menschenbiss dominiert als typischer Erreger Eikenella corrodens, beim Hunde- oder Katzenbiss Pasteurella multocida
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a
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⊡ Abb. 45.3 Ausbreitung von Entzündungen im dorsalen Strecksehnenbereich. a Ansicht von dorsal, b Querschnitt. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
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Kapitel 45 · Infektionen
neben Staphylokokken, Streptokokken, Klebsiellen, E. coli und anderen. Seltener als die bakteriellen Infektionen kommen Handerkrankungen durch Infektion oder Invasion mit Viren, Pilzen, Einzellern oder Würmern vor. In vielen Fällen sind diese primär abakteriellen Infekte im weiteren Verlauf superinfiziert mit Bakterien, sodass diese primär nicht pyogenen Infekte auch zu Abszedierungen oder zu Phlegmonen führen können. Vielfach kann bei bekannter Art der Verletzung, nach dem klinischem Bild der Entzündung und dem Krankheitsverlauf die Auswahl des Antibiotikums eingeengt werden. Für eine gezielte Antibiotikatherapie muss das mikrobiologische Ergebnis schnellstmöglich vorliegen. Dies wird erreicht durch Abstrichentnahme sofort bei Aufnahme des Patienten und direkte Übermittlung der Keimart und des voraussichtlich wirksamen Antibiotikums durch Rücksprache mit dem Mikrobiologen. Begleitverletzungen Grundsätzlich kann der Infektion einer Hand eine Verletzung vorausgegangen sein, die selbst nicht zum Infekt geführt hat. Der Handinfekt kann Folge einer knöchernen oder Weichteilverletzung der Hand sein und es können Verletzungen während der Therapie einer Handinfektion erlitten werden. Mögliche Kausalitäten werden durch genaue Befunderhebung und Dokumentation des Verlaufs nachgewiesen. Weichteilverletzungen Außer Bagatellverletzungen müssen alle Begleitverletzungen im Rahmen der konservativen und operativen Behandlung der pyogenen Infekte mitbehandelt werden, unabhängig davon, ob sie zum Infekt geführt haben oder zufällig bereits bestanden und noch nicht abgeheilt waren. Oberflächliche Verletzungen Bagatelltraumen und Mikrotraumen werden vom Patienten oft nicht bemerkt und sind bei Auftreten eines Infekts meist auch nicht mehr erinnerlich, weil sie primär keine wesentlichen Beschwerden oder erkennbaren Verletzungsfolgen verursacht haben und spontan verheilt sind. Eine oberflächliche Stichverletzung einer Fingerbeere z. B. kann nach freiem Intervall und während des Abheilens zur phlegmonösen Entzündung in der Subkutis oder der Sehnenscheide führen. Oberflächliche Hautschürfungen und Kontusionen Diese werden nach den allgemeinen Wundbehandlungskriterien während der operativen Behandlung der Handinfektion mitbehandelt und müssen bei den Verbandwechseln kontrolliert werden. Ausreichender Tetanusschutz muss überprüft werden.
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Geschlossene Weichteilverletzungen in der Tiefe Tiefe Verletzungen der Weichteile sind Kontusionen, Einblutungen und gedeckte Sehnen- und Bandrupturen. Tiefe Weichteilkontusionen, die keine Kompartmentsymptomatik zeigen, sind durch die im Rahmen der Infektbehandlung durchgeführte Immobilisation behandelt. Da durch das infektbedingte und das postoperative Ödem später eine Kompartmentsymptomatik eintreten kann, muss der Verletzte auf die Möglichkeit und die Art der Symptomatik hingewiesen werden, damit ggf. sofort eine Dekompression durchgeführt werden kann. Bestehen bereits zu Beginn der Behandlung kompressionsbedingte Schmerzen, Perfusionsstörungen oder neurologische Defizite, muss stets vor der Operation des Infektgebietes eine Dekompression durchgeführt werden.
Diffuse Einblutungen und Hämatome Diffuse Einblutungen, die sicher außerhalb des Infekts und sicher außerhalb möglicher Ausbreitungswege des Infekts liegen, bedürfen keiner weiteren Behandlung außer der Beobachtung und Immobilisation. Klinisch oder sonografisch nachgewiesene Hämatome dagegen müssen stets ausgeräumt, deren Höhle gespült und drainiert werden, da eine solche Hämatomhöhle in kurzer Zeit abszediert, wenn Erreger trotz operativer Therapie diese erreichen. Da eine atypische Infektausbreitung eintreten kann, müssen auch Hämatome ausgeräumt werden, die in primär nichtinfizierten Bereichen liegen. Offene Verletzungen, Begleitverletzungen der Weichteile Glatte Hautdurchtrennungen werden nach sorgfältiger Revision durch Wundausspülung, Drainage und locker adaptierende Hautnähte behandelt. Weichteileröffnungen mit kontusionierten Wundrändern und kontusioniertem Subkutangewebe Nach sorgfältiger Inspektion zum Ausschluss weiterer Verletzungen ist das Débridement sämtlichen kontusionierten Gewebes und Wundspülung vor dem operativen Angehen des Infekts vorzunehmen. Eine direkte Wundrandadaptation darf nur durchgeführt werden, wenn sie absolut spannungsfrei möglich ist und auch keine Wundrandischämie durch posttraumatisches oder postoperatives Ödem entstehen kann. Dann wird die Wunde offen belassen und mit temporärem Hautersatz bis zur späteren plastischen Deckung versorgt. Offene, infizierte Verletzungen mit Durchtrennung von Streckund Beugesehnen oder Nervendurchtrennung dürfen an einer infizierten Hand nicht primär definitiv versorgt werden. Nach Exzision kontusionierter und nekrotischer Gewebe, Spülung und Drainage erfolgt wiederum eine lockere Wundrandadaptation vor Versorgung des Handinfekts. Liegen solche Verletzungen im Bereich des Infekts, müssen Zugang und Schnittführung so gewählt werden, dass keine spitzwinkeligen Hautlappen entstehen, die nekrotisch werden können. Vom typischen Zugangsweg für die operative Infektbehandlung muss auch abgewichen werden, wenn dadurch ischämiegefährdete, schmale Weichteilbrücken entstehen. Menschen-, Tierbissverletzungen Kap. 44 Fremdkörpereinsprengungen (Injektionen, Hochdruck) Bei jeder Verletzung mit Durchtrennung des Koriums sind Fremdkörpereinsprengungen jeglicher Art möglich und müssen bei Wundrevision und posttraumatischem Infekt sicher ausgeschlossen oder bei Nachweis entfernt werden. Röntgenaufnahmen, auch in Weichteiltechnik, sind zum sicheren Ausschluss von eingesprengten Fremdkörpern unzureichend, da sich die meisten nicht darstellen lassen. Dies trifft auch für die sonografische Untersuchung zu. Beide Verfahren sind nur bei positivem Befund hilfreich. Hinweisend sind die Kenntnis des genauen Unfallmechanismus und die dann mögliche Abschätzung, in welche Richtung und in welche Tiefe Fremdkörper eingedrungen sein können. Abgekapselte ältere infizierte Fremdkörper müssen mit dem gesamten infizierten umgebenden Narbengewebe entfernt werden. Beim Infekt der Hand müssen Fremdkörperhöhle und der Einsprengungskanal débridiert, gespült und drainiert werden. Bei iatrogen gesetzten Läsionen (infiziertes Hämatom nach Injektion oder Paravasat) an der Hand, selbst beigebrachten Injektionen und Paravasaten bei Drogenabhängigen und Hochdruckinjektionsverletzungen ist die Kenntnis des Medikamentes oder der
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chemischen Substanz wichtig, da u. U. eine Neutralisation (z. B. Flussäure-Glucoronat) indiziert ist. In allen Fällen gilt die subtile Revision des gesamten Kanals und Exzision erkennbar mit Fremdkörper beladenen Gewebes zur Dekontamination bzw. Substanzverminderung so bald wie möglich 45.1.4 Diagnostik Auch bei umschriebenen entzündlichen Erkrankungen der Hände ist die Erhebung einer genauen Allgemein-, Berufs- und Sozialanamese erforderlich.
Allgemeinanamnese Sie dient der Erfassung bestehender Systemerkrankungen wie z. B. Diabetes mellitus, chronische Darmerkrankungen oder Lymphom, die das Therapiekonzept beeinflussen können; eine bestehende Medikation muss fortgesetzt werden. Diese Erkrankungen können auch die Indikation zur stationären Behandlung beeinflussen.
Berufsanamnese Sie ist wichtig zur Erfassung eines evtl. vorliegenden Arbeitsunfalles mit folgendem Handinfekt.
Sozialanamnese Nur bei gesicherter hausärztlicher Weiterbehandlung und häuslicher Pflege und Betreuung, Einsicht und Mitarbeit des Patienten darf ambulant behandelt werden.
Spezielle Anamnese und Befunderhebung 1. Vorerkrankungen an der entzündeten Hand und der oberen Extremität: Durchblutungsstörungen und liegende Implantate beeinflussen das Behandlungskonzept. 2. Anhalt für eine Verletzung, als deren Folge die Infektion der Hand aufgetreten ist. Außer bei spontan abgeheilten Mikroverletzungen ist dann eine Mitbehandlung erforderlich. 3. Erfassen des Zeitpunktes des Auftretens der ersten Infektionszeichen, einer möglichen Vorbehandlung und des bisherigen Verlaufs der Infektion. 4. Befund, Lokalisation und Ausdehnung der Infektion. Wünschenswert ist eine Fotodokumentation des Ausgangsbefundes, wichtig ist dies insbesondere bei langem Verlauf oder bei Vorbehandlung, weil sie möglicherweise forensisch bedeutsam wird. Die Lokalisation des Zentrums der Infektion ist sehr wichtig. Das Zentrum der Infektion entspricht dem Punkt der größten Schmerzhaftigkeit und nicht der größten Schwellung. Dieses Zentrum der Infektion ist aber nicht gleichzusetzen mit dem Entstehungsort einer Infektion an der Hand, sondern kann aufgrund der oben aufgezeigten anatomischen Besonderheiten kanalisiert oder auf anderem Weg zu diesem Entzündungszentrum hingeleitet sein. Bei der klinischen Befunderhebung sind daher auch alle Wege, auf denen das Entzündungszentrum erreicht werden konnte, auf Verletzungs- und Entzündungszeichen zu untersuchen. So kann ein zum Hauptsymptom und Hauptbefund führender Abszess des Thenar- oder Adduktorraumes infolge einer fortgeleiteten Entzündung von der Streckseite der Hand oder von peripher über die Sehnenscheide des 2. Strahles entstanden sein. Umgekehrt kann ein primär dort entstandener und hauptsymptomatischer Befund des Thenarraumes auch über die typischen kanalisierten und nichtkanalisierten Wege fortgeleitet werden. Deshalb ist es erforderlich, dass bei der pyogenen Infektion alle
Wege, die zu diesem Hauptbefund geführt haben, untersucht werden und auch sämtliche Bereiche der Hand, in die eine Fortleitung des Infekts erfolgen kann. Im Kapitel der anatomischen Besonderheiten der Hand ist dargelegt, dass anatomische Varianten häufig vorkommen. Diese führen dazu, dass eine dem Regelfall nicht entsprechende Fortleitung der pyogenen Entzündung möglich ist. Daher ist es unabdingbar, dass auch diese Möglichkeiten der atypischen Entstehung oder Fortleitung berücksichtigt werden. Bei der klinischen Untersuchung muss Folgendes erfasst werden: 1. das Zentrum der Infektion, 2. alle Wege, die zur Ausbildung des Entzündungszentrums führen konnten, 3. alle kanalisierten und nichtkanalisierten Wege, die eine Hinleitung der Entzündung zum Zentrum ermöglichten, 4. Untersuchung auch der atypischen Wege, die zu dem Entzündungszentrum führen konnten oder auf denen sie fortgeleitet werden können. Daraus folgt, dass die klinische Befundung einer Handinfektion stets eine globale Untersuchung der gesamten Hand erfordert. Darüber hinaus ist die klinische Untersuchung des gesamten Armes notwendig, da nur so die gefährliche fortgeleitete Entzündung des Parona-Raumes erfasst wird und die lymphogene Fortleitung als Lymphangitis oder Lymphadenitis mit und/oder ohne Lymphknotenschwellung erkannt wird. Die klinische Gesamtuntersuchung und Befundung einer infizierten Hand ist auch deswegen erforderlich, weil z. B. neben einer Paronychie an einem Finger, die wegen Schmerzhaftigkeit Anlass zur Arztkonsultation war, auch an einem Nachbarfinger eine solche bestehen kann, die ebenfalls behandlungsbedürftig ist. Außerdem kann z. B. nach Sturz in eine Hecke oder durch eine Katzenbissverletzung nur eine der multiplen Verletzungen zum Infekt führen, während eine der anderen zu einem späteren Zeitpunkt zum Infekt führt. Solche weiteren Verletzungen oder Ausgangspunkte für Handinfekte müssen daher durch eine Gesamtuntersuchung und Befundung der ganzen Hand erfasst werden.
Radiologische Diagnostik Eine konventionelle Röntgenuntersuchung der verletzten Hand muss ausnahmslos durchgeführt werden. Sie dient zum Nachweis oder Ausschluss von: 1. Fremdkörpereinsprengungen, 2. knöchernen Verletzungen, 3. Osteolysen, 4. Kalzinosen, die das klinische Bild einer Fingerinfektion vortäuschen, aber meist lediglich die Immobilisation erfordern, falls sie nicht zu perforieren drohen. Für die weiteren Verfahren der bildgebenden Diagnostik – Sonografie, Computer- und Kernspintomogramm – besteht keine oder nur eine relative Indikation. Die genaue klinische Befundung und Untersuchung sind diesen Verfahren bezüglich der Erfassung der Ausbreitung der Infektionswege überlegen. Durch sonografische Untersuchung kann allenfalls ein nicht röntgenschattengebender Fremdkörper nachgewiesen, aber nicht eindeutig ausgeschlossen werden. MRT- und CT-Untersuchung sind nur indiziert, wenn konventionell röntgenologisch der Verdacht einer knöchernen Infektion erhoben wurde und weitere Informationen zur Planung des Therapiekonzeptes notwendig sind.
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Kapitel 45 · Infektionen
Laborchemische Diagnostik Unabhängig von der Indikationsstellung für eine konservative oder operative Therapie sollte eine allgemein orientierende laborchemische Untersuchung mit Differenzialblutbild, Serumelektrolyten, Blutzucker, Senkung sowie CRP und PCT durchgeführt werden. Die Indikation für diese Untersuchungen besteht auch beim umschriebenen, konservativ zu behandelnden Infekt der Hand, um disponierende Faktoren für das Auftreten der lokalen Infektion zu erfassen. Außerdem dienen die Laborparameter BSG und CRP und PCT zur Verlaufskontrolle und zum Erkennen einer Befundverschlechterung unter konservativer oder nach operativer Therapie. Dabei ist das PCT spezifisch für bakterielle Infektionen und für den Verlauf entscheidender als die übrigen Infektparameter.
Mikrobiologie Für die Diagnostik einer Handinfektion ist eine Abstrichentnahme nur sinnvoll, wenn die Infektion zur Spontanperforation geführt hat oder eine infizierte offene Verletzung vorliegt. Abstrichentnahmen über dem Zentrum der Infektion bei intakter Haut sind zwecklos, da sie nur die übliche und normale Keimbesiedlung nachweisen können. Andererseits kann bei Handinfektionen mit septischem Krankheitsbild oder Hinweis auf Septikämie die Abnahme von Blutkulturen sinnvoll sein, um bei einem solchen schweren Krankheitsbild schnellstmöglich eine gezielte Antibiotikatherapie einleiten zu können. Bei der Operation ist eine Abstrichentnahme für aerobe und anaerobe Keimuntersuchung obligat. 45.1.5 Klassifikation Die Infektionen werden unterteilt in ▬ pyogene Infekte und ▬ primär nichtpyogene Infekte.
Bei den pyogenen Infekten im Bereich der Finger werden unterschieden: ▬ Paronychien, i. e. Entzündung im Bereich des Nagelwalles (⊡ Abb. 45.4a), und ▬ Panaritien, i. e. Infektion der übrigen Fingergewebe (⊡ Abb. 45.4) Es werden folgende Panaritien unterschieden:
▬ Panaritium subunguale als Entzündung des Nagelbettes (⊡ Abb. 45.4b). Die weitere Unterteilung der Panaritien wird nach dem vom Infekt betroffenen Gewebe und nicht nach der genauen Lokalisation am Finger differenziert: ▬ Panaritium cutaneum: intradermal gelegene Eiterblase (⊡ Abb. 45.4c). ▬ Panaritium subcutaneum: Entzündungsherd im subkutanen Gewebe, dort primär entstanden oder durch Fortleitung dort aufgetreten. Eine Sonderform des Panaritium subcutaneum ist der Kragenknopfabszess mit einer schmalen Verbindung zwischen einer kutanen und subkutanen Eiteransammlung (⊡ Abb. 45.4d). ▬ Panaritium tendinosum: Diese Bezeichnung ist unpräzise, weil es sich eigentlich um eine Entzündung der Sehnenscheide handelt. Präziser sind die Bezeichnungen Sehnenscheidenphlegmone oder besser -empyem, da es sich bei der Sehnenscheide um einen präformierten Raum handelt (⊡ Abb. 45.4e). ▬ Panaritium ossale: Die Entzündung hat die Knochenstrukturen erfasst, es liegen eine Osteitis (⊡ Abb. 45.4g) oder Osteomyelitis vor (⊡ Abb. 45.4h) mit oder ohne Sequester. ▬ Panaritium articulare: Der Infekt hat ein Fingergelenk erreicht oder ist dort entstanden. Auch hier ist die Bezeichnung Gelenkempyem zutreffender (⊡ Abb. 45.4f).
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b
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f
c
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⊡ Abb. 45.4 Eiterungen in den verschiedenen Schichten des Fingers. a Paronychien, b–h Panaritien. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
g
h
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Eine Einteilung nach Schweregrad der Entzündung an den Fingern existiert nicht. Eine fortgeschrittene Einschmelzung der Weichteile eines oder mehrerer Fingerglieder mit entzündungsbedingter oder durch septische Thrombosen verursachter Nekrose kann als bedrohlichste Folge einer Fingerentzündung als Panaritium gangränosum bezeichnet werden. Im Bereich der Mittelhand sind die Begriffe Hohlhand- und Handrückenphlegmone gebräuchlich. Auch hier sollte besser der entzündete Raum bezeichnet werden, z. B. Abszess des Thenarraumes. Oft zeigt aber erst der intraoperative Befund das Ausmaß und die Art der Entzündung, sodass eine präzise Diagnose erst dann möglich ist. 45.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie > Infektionen der Finger und der Hände sind in aller Regel eine klare Indikation zur operativen Behandlung.
Eine konservative Behandlung oder ein Abwarten unter konservativer Behandlung ist nur in folgenden Fällen angezeigt: ▬ sicher kutan begrenzter Infekt, ▬ lokal begrenzte, spontan ausreichend weit drainierte Infekte, ▬ seltene, virusbedingte Infekte (z. B. Seehundkrankheit), wenn die Diagnose anamnestisch sicher ist und keine Mischinfektion vorliegt, ▬ Pyoderma gangränosum, ▬ Herpes-simplex-Virusinfektion. Bei einem begründeten konservativen Behandlungsversuch, der sich über nicht länger als maximal 12–24 Stunden erstrecken sollte, hat es sich bewährt, dass derselbe Untersucher den Verlauf kontrolliert, damit bei ausbleibender Besserung oder gar minimaler Befundverschlechterung unverzüglich die Indikation zur Operation gestellt werden kann. Die verspätet oder inkonsequent durchgeführte chirurgische Behandlung ist mit einer hohen Revisionsrate, ungünstigen funktionellen Ergebnissen und signifikant höherer Amputationsrate und Defekten belastet. Die Operationsindikation ist unabhängig vom Lebensalter zu stellen. Kontraindikation zur notfallmäßigen operativen Behandlung besteht nur bei vitaler Gefährdung des Patienten durch die Narkose. Bei hochseptischen Fällen ist immer auch eine Amputation in Erwägung zu ziehen, bevor das Leben des Patienten durch allgemeine Sepsis gefährdet wird. 45.1.7 Therapie Die Infektionen an der Hand sind schwerwiegende Krankheitsbilder mit unabsehbaren Folgen, sodass diese von erfahrenen Handchirurgen behandelt werden sollten.
Konservative Therapie Die konservative Therapie muss immer begründet und dokumentiert werden. Eine konservative Behandlung kann auch einmal bei einem oberflächlichen Infekt im Bereich der Finger in Erwägung gezogen werden, wobei ein klopfender Schmerz, fortgeleitete Entzündung, ausgebreitete Infektion, Druckschmerz über Sehnenscheide und Sehnenfächern, abweichende Laborwerte von der Norm und Temperatur immer eine Indikation zur Operation stellen.
Nach Anamneseerhebung, Erfassung von Risikofaktoren, Dokumentation des Lokalbefundes und Blutabnahme (Blutbild, Senkung, CRP, PCT, Gerinnung, Serumelektrolyte, Nierenwerte) wird eine Röntgenuntersuchung möglichst in Vergrößerungstechnik in 2 Ebenen ggf. auch 3 Ebenen des infizierten Handbereiches durchgeführt. Wenn die Röntgendiagnostik einen unauffälligen Knochenbefund ergibt und die Indikation zur konservativen Behandlung gestellt wird, bekommt der Patient in einer ausreichend großen Wanne ein Handbad mit lauwarmer Ringer-Lösung, dem Kamillosan oder ein desinfizierendes Mittel (Polyhexamid) zugefügt sind. Eine Behandlungszeit im Bad von 10–15 Minuten ist ausreichend. Bei spontan perforiertem Infektherd wird vor dem Bad ein Abstrich entnommen. Ein Handbad soll die offene Wunde reinigen. Nach dem Bad wird die Hand mit einem sterilen Tuch abgetrocknet und ein Handverband nach folgender Technik angelegt: ▬ ausgebreitete, einmal längs gefaltete Kompressen werden von palmar angelegt und über der Streckseite gekreuzt, sodass keine zirkulären Touren entstehen, ▬ die der Haut aufliegenden Kompressen sind mit Polyhexamidlösung oder verdünntem Kodan getränkt und werden gut ausgedrückt aufgelegt, damit durch die Nässe keine Hautmazerationen entstehen, ▬ über die äußeren trockenen Kompressen werden Hand und Unterarm mit Rollwatte locker eingewickelt. Zur Ruhigstellung eignen sich folgende Schienen: ▬ bei umschriebenem Infekt eines Fingers Anwickeln einer Fingerschiene unter Einschluss eines Nachbarfingers, ▬ bei am Daumen lokalisiertem Herd wird ein Steigbügelgips angelegt, ▬ in allen anderen Fällen wird eine palmare Unterarmgipsschiene mit Fingereinschluss verwendet; ▬ sofern eine Lymphangitis bis zum Unterarm bereits besteht, ist die Ruhigstellung auch des Ellenbogengelenks auf einer Oberarmschiene erforderlich (Achtung: OP-Indikation). Zur Prophylaxe einer Infektausbreitung wird zusätzlich zur Ruhigstellung die Antibiotikatherapie mit einem Cephalosporin der 2. oder 3. Generation eingeleitet, die ggf. nach Eingang des Resistogramms umgesetzt wird. Ausnahmen hiervon sind Katzen- und Hundebisse, die aufgrund des Keimspektrums einer Antibiose mit Ampicillin und Clavulansäure bedürfen. Zum Prinzip der konservativen Behandlung gehört die Immobilisation mit ausreichender und stabiler Hochlagerung des ausgestreckten Armes. Die Ruhigstellung der Hand erfolgt in Intrinsicplus-Stellung. Wenn der Patient zuverlässig ist, kann die konservative Therapie ambulant erfolgen. Dem Patienten sind dann folgende Verhaltensregeln mitzuteilen: ▬ Hochlagerung des ausgestreckten Armes auf Kissen, ▬ Fortsetzung der in der Klinik begonnenen oralen Antibiotikatherapie, ▬ sofortige (auch nachts!) Wiedervorstellung bei subjektiver Befundverschlechterung (Schmerz, Klopfen) und bei Auftreten von Temperaturen, ▬ erste geplante und außerplanmäßige Wiedervorstellungen nüchtern, damit bei Befundverschlechterung und Indikation zur Operation keine Zeitverzögerung eintritt. Bei Befundbesserung innerhalb von 24 Stunden kann die konservative Therapie mit täglichen Handbädern und Verbandswechseln
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fortgesetzt werden. Während der 10- bis 15-minütigen Handbäder führt der Patient aktive Bewegungsübungen durch. Ansonsten wird die konsequente Ruhigstellung über 5 Tage beibehalten. Durchfeuchtete Schienen sind zu erneuern. Eine konservative Behandlung der Infektarthritis ist in den seltensten Fällen und nur im Anfangsstadium indiziert. Wenn bereits lokale Beschwerden oder Allgemeinsymptome zum Aufsuchen des Arztes geführt haben, liegt meist bereits ein fortgeschrittenes Stadium vor. Die Indikation zur konservativen Behandlung einer Arthritis ist nur dann gegeben, wenn: 1. eine erst seit wenigen Stunden bestehende Schwellung und Rötung in Höhe des betroffenen Gelenks vorliegt, 2. kein Spontan-, Bewegungs- oder Stauchungsschmerz besteht, 3. anamnestisch und röntgenologisch sicher eine Fremdkörpereinsprengung als Ursache und ein bakterieller Gelenkinfekt ausgeschlossen werden kann, 4. Gichtarthritis oder rheumatische Arthritis bekannt ist. Die Indikationsstellung hängt demzufolge von der Erhebung eines exakten klinischen Befundes, Erhebung einer genauen Anamnese sowie vom Ergebnis der Röntgenaufnahmen in 2 ggf. 3 Ebenen in guter Qualität und Vergrößerungstechnik ab. Die Diagnostik muss ergänzt werden durch Laboruntersuchungen mit BSG, CRP, PCT, Differenzialblutbild, Serumelektrolyten, Rheumafaktoren, Harnsäure und Harnstoff. Die konservative Therapie bei einer solchen Arthritis besteht aus Anwendung lokal antiphlogistischer Medikamente, äußerer Schienung des Fingergelenks in leichter Beugestellung auf einer Fingerschiene und Einleitung einer systemischen Antibiotikatherapie. Bei jeder konservativen Therapie ist es unerlässlich, dass der Lokalbefund innerhalb von 6–12 Stunden möglichst durch denselben Untersucher kontrolliert wird, um eine Verschlechterung und Gefährdung des Gelenks auszuschließen.
Nichttuberkulöse mykobakterielle Infektionen an Hand und Handgelenken. Bei Patienten mit fehlendem Ansprechen auf die primäre Antibiotikatherapie sollte – vor allem bei Aquariumbesitzern – an eine nichttuberkulöse mykobakterielle Infektion an der Hand gedacht werden, die die Ursache der Tenosynovialitis sein kann. Das empirische Antibiotikaregime bestehend aus Ethambutol, Rifampicin und Clarithromycin hat sich bewährt.
Tuberkulöse myobakterielle Infektionen an Hand und Handgelenken. Auch ein Tuberkulosebefall von Hand und Handskelett ist gut möglich, weshalb in dem Algorithmus der Therapie diese doch ausgefallene, aber mögliche Infektion bei entsprechender Prädisposition in Betracht gezogen werden muss. Gleiches gilt für das insbesondere bei Schäfern auftretende Ecthyma contagiosum.
Pyoderma gangränosum. Das vornehmlich bei Immunsup-
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primierten und oftmals bei jungen Patienten mit chronischen Entzündungen des Magen-Darm-Traktes auftretende Pyoderma gangränosum ist durch chirurgisches Débridement nicht zu therapieren, sondern nur durch die Gabe von immunsuppressiven Medikamenten (Cyclosporin A, Kortikosteroide etc.). Spätestens nach Re-Operationen ohne Erfolg ist an diese Erkrankung zu denken.
Operative Therapie Nach Durchführung der Primärdiagnostik und Anfertigen von Röntgenaufnahmen wird der Patient sofort über Operation und
Narkoseform und mögliche Folgeeingriffe aufgeklärt und stationär aufgenommen, wenn der Patient nicht nüchtern ist oder aus anderen Gründen die Operation nicht sofort durchgeführt werden kann. Bis zur Notfalloperation erfolgt die Lokalbehandlung nach den Richtlinien der konservativen Therapie. Die Antibiotikatherapie wird intravenös begonnen. Die Operation eines Infekts an der Hand ist immer eine Notoperation, die einen erfahrenen Operateur, am besten handchirurgisch ausgebildet oder mit handchirurgischer Erfahrung, fordert. Keinesfalls ist es gerechtfertigt, die Operation unter ungesicherten Bedingungen »nebenbei« vom noch Unerfahrenen durchführen zu lassen. Falls aus organisatorischen oder personellen Gründen die Operation nicht notfallmäßig im eigenen Haus durchgeführt werden kann, ist es angezeigt, den Patienten mit allen erhobenen Befunden auszustatten und nach telefonischer Anmeldung nüchtern weiterzuleiten.
Verfahrenswahl Lagerung, Anästhesie, Blutsperre, Instrumentarium Sämtliche Infekteingriffe an den Händen sind in Rückenlage durchführbar, wobei der betroffene Arm in fast 90° Abduktion auf einem Armtisch gestreckt gelagert wird. Nach Rasur von Hand und Unterarm und Desinfektion wird bis zur Blutsperrenmanschette steril abgedeckt. Durch Lagerung der Hand auf Kissen ist sie für streckseitige Zugänge leichter in Pronationsstellung zu halten. Operateur und Assistent sitzen sich gegenüber. Alle Eingriffe wegen eines Infekts an der Hand werden in Oberarmblutsperre durchgeführt, um eine ausreichende Übersicht des Situs zu erzielen. Eine Oberarmblutleere ist wegen eines Fortleitens der Entzündung zu vermeiden. Der Operateur ist für das korrekte Anlegen der Druckmanschette und die korrekte Einstellung und die Überwachung des Druckes verantwortlich. Vor dem Füllen der Manschette wird der Arm minutenlang hochgehalten und dann der Druck beim Erwachsenen auf 250 mmHg, beim Kind auf den doppelten Wert des diastolischen Blutdruckes eingestellt. Eine intraoperativ eintretende venöse Stauung mit vermehrter intravasaler Füllung oder interstitiellen Blutungen muss Anlass zur Kontrolle der Manschette, der Schläuche und der Verbindungen sein; ggf. ist eine Korrektur notwendig. Erzeugen einer Blutleere am infizierten Arm bedeutet Erregerverschleppung und ist somit kontraindiziert. Eingriffe bei Handinfekt sollten in Allgemeinnarkose erfolgen. Der Patient muss vom Anästhesisten prämediziert und aufgeklärt sein. Lediglich bei peripheren oberflächlichen Infekten der Finger und bei sicherem Ausschluss einer fortgeleiteten Entzündung darf eine Oberarm-Leitungsanästhesie durchgeführt werden. Die intravenöse Regionalanästhesie ist wegen der dabei notwendigen Erzeugung der Blutleere nicht indiziert. Von einer Plexusanästhesie muss bei fortgeleiteter Entzündung, nämlich Lymphangitis oder auch bei schweren Phlegmonen der Hand, gewarnt werden. Dieses sollte mit dem Anästhesisten besprochen und auf die Gefahren hingewiesen werden, andernfalls trägt der Anästhesist die Verantwortung der Verschleppung der Infektion, falls er sich trotz besseren Wissens zu einer Leitungsanästhesie am Oberarm bei bestehender Lymphangitis entschließt. Für die exakte Diagnostik und Behandlung der Beugesehnenscheideninfektion ist die Kenntnis der Anatomie der Hand von grundlegender Bedeutung. Wenn die Infektion der Beugesehnenscheide in Höhe der Finger und des Daumens, aber auch die Infektion der Hohlhand ein schwerwiegendes Krankheitsbild darstellt, sind die Operation und die Behandlung einem erfahrenen Handchirurgen vorbehalten.
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Schon bei der ersten Operation sollte im Hinblick auf die Infektion das gesamte nekrotische Material entfernt und die Wunde vollständig débridiert werden. Nur in seltenen Ausnahmen ist dann ein Second-Look- oder Third-Look-Eingriff notwendig, der aber bei der Erstaufklärung des Patienten mit angesprochen werden sollte. Bei Knochen- oder Gelenkinfekten sind Minifixateur externe bzw. Kleinfragmentfixateur vorzuhalten. Postoperativ muss ausreichend Material zum Anlegen eines Handverbandes zur Verfügung stehen. Das korrekte Anlegen einer Böhler- bzw. palmaren Unterarmgipsschiene ist nur in Narkose möglich. Die Operation sollte unter Benutzung einer Lupenbrille (etwa 3-fache Vergrößerung) mit mittlerem Fokus und ausreichend großem Gesichtsfeld, wie bei jeder anderen Handoperation, durchgeführt werden. Intraoperative Spüllösung Als intraoperative Spüllösung nach Darstellung des Infekts und chirurgischer Nekrektomie wird meist 0,9%ige Kochsalzlösung, Ringer-Lösung oder 1%ige Betaisodona-Lösung eingesetzt. Hier können ebenso die modernen antiseptischen Lösungen wie Polyhexamid eingesetzt werden, wobei die Vor- und Nachteile dieses neuen Antiseptikums noch nicht abschließend beurteilt werden können. Eine intraoperative Spülung mit Antibiotikalösung kann die lokale Konzentration der Antibiotika erhöhen, falls dasselbe Antibiotikasystem eingesetzt wird, allerdings kann wegen der fehlenden randomisierten Untersuchung die Wirksamkeit einer solchen Spülung nicht abschließend beurteilt werden. Der Literatur der letzten 4 Jahre (seit 2007) als auch der eigenen Nachbehandlungserfahrung zufolge, kommt es bei der Nachbehandlung von phlegmonösen Entzündungen der Hand zu typischen Reaktionen mit Schwellung, Rötung und einem unbeeinflussbar länger anhaltenden protrahierenden Verlauf, wenn die tiefen Wunden mit Octenidindihydrochlorid/Phenoxyethanol-haltiger Lösung mit und auch ohne Druck gespült oder mit in dieses Antiseptikum getauchten Kompressen behandelt worden sind. Auch wenn die bakterielle Infektion der Hand vollständig zurückgegangen war und keine Keime mehr nachweisbar waren, wurden erhöhte CRPWerte und BSG-Werte festgestellt, die mit Nekrose der Muskulatur in Verbindung zu bringen sind. Durch den fibrotischen Umbau der Muskelfasern und einer Fettgewebenekrose kommt es zu einer Kontraktur und somit zu starken Funktionseinschränkungen der betreffenden Hand. Gelegentlich werden auch Kompartmentsyndrome bei der Anwendung dieses Antiseptikums in der Tiefe beobachtet, die ausgeprägte Folgeschäden zeigen, da dies durch die besondere Anatomie der Hand mit eng anliegenden und definierten Strukturen und engen Kompartmenträumen begünstigt wird. Die Folgeschäden dieser schwerwiegenden Kompartmentsyndrome sind beträchtlich. Sekundäre Einsteifungen in diesen Fällen, die wir bei Erwachsenen beobachtet haben, sind nicht selten. Es scheint, dass das für die Oberfläche gut verträgliche und wirksame Octenidin-haltige Antiseptikum in der Tiefe auch ohne Druckspülung zu massiven nekrotischen Veränderungen des Gewebes führt. Dabei war auch die Keimbesiedelung in der Tiefe der Wunden nicht mehr vorhanden bzw. ausgeschlossen. Der Verlauf der phlegmonösen Entzündung bei Anwendung dieses Antiseptikums in der Tiefe der Wunden ist stets, soweit wir es bei Erwachsenenhänden beobachten können, protrahiert und die Folgeschäden sind, wenn nicht rechtzeitig Revisionen durchgeführt werden, schwerwiegend. Durch Gewebeuntergang werden massive Funktionseinschränkungen hervorgerufen, die dann Lappenplastiken und zahlreiche wiederherstellende Maßnahmen erforderlich machen.
Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass dieses Antiseptikum lediglich an der Oberfläche und nicht in der Tiefe eingesetzt werden soll und auf keinen Fall Spülungen hiermit zu empfehlen sind. Bei erfolgter Spülung sollte dann eine umgehende Revision der Wunde mit Kompartmentspaltung durchgeführt und die Tiefe der Wunde mit neutraler Lösung vielfach gespült werden, sodass es hier zur Reduzierung der Konzentration des eingebrachten Antiseptikums kommt. Weiterhin ist die Entfernung des fibrotischen und nekrotischen Gewebes vor allem im Bereich der Handmuskulatur und im Adduktorenbereich am Daumen zu empfehlen. Der frühe Einsatz von Physiotherapie kann gute Dienste leisten. Während in der Literatur solche Fälle, vor allem bei der Versorgung der infizierten Wunden an Kindern festgestellt wurden (Hülsemann 2011), haben wir fast ausschließlich bei Erwachsenenhänden und phlegmonösen Entzündungen, die zuvor mit Octenidin gespült worden waren, diese Beobachtung machen können. Postoperative Dauerspülung Die postoperative Dauerspülung kann nur im Bereich der betroffenen Gelenke mit Infektionen nach ausgedehnter Synovialektomie und Verschluss des Gelenks mit Ringer-Lösung, mit oder ohne Antibiotikazusatz, erfolgen. Eine Dauerspülung in anderen Bereichen wird aus unserer Sicht bei guter Lage der Laschendrainage und nach retrospektiven Untersuchungen nicht mehr erforderlich. Feuchte Verbände und Zusatz zu Handbädern Nach erfolgtem chirurgisch ausreichendem Débridement und Einlage einer oder mehrerer Laschendrainagen, die den Infekt in diesem Bereich gut drainiert, werden direkt postoperativ feuchte Lavasept-(Polyhexanid-)Kompressenverbände im Bereich der offenen Drainagestellen oder Wunden angebracht. Zu diesem Zweck werden Kompressen befeuchtet, gut ausgedrückt und an den offenen Stellen angelegt bzw. im Bereich der Finger so angewickelt, dass keine Kompressionen entstehen. Die Lösungen, die zum befeuchten der Kompressen angewandt werden, können 0,9%ige Kochsalzlösung, Ringer-Lösung oder 0,1%ige Betaisodona-Lösung sein. Außerdem können auch Polyhexamid-getränkte Kompressen verwendet werden. > Vor Octenidin-Phenoxyethanol-durchtränkten Kompressen an Wunden oder Spülungen mit oder ohne Druck wird gewarnt, da gelegentlich bei Spülung derselben oder Kontakt mit den Muskeln, Sehnen oder Gefäßen über Nekrosen sowie chronische Reizungen und Schwellungen berichtet wird.
Handbäder Die von uns empfohlenen täglichen Handbäder nach Débridement und chirurgischer Versorgung der infizierten Wunden bestehen aus möglichst sterilem Wasser oder Kochsalzlösung lauwarm mit Zusatz von Kamille in einer möglichst sterilen oder sauberen Schüssel, wobei der Patient 10–20 Minuten während des Badens die Hand und die Finger selbstständig bewegt und zusätzlich durch den Physiotherapeuten aktiv oder assistiert mitbehandelt wird. Anschließend werden nach Abtrocknen mit einem sauberen Tuch die feuchten Verbände wie oben beschrieben erneut angelegt und der Arm bzw. die Finger oder die Hand in einer entsprechenden Schiene ruhiggestellt. Drainage, Schiene, Antibiotika Nach täglicher Kontrolle und Rückgang der Entzündung, wobei diese sowohl klinisch als auch laborchemisch kontrolliert wird, werden sukzessiv die Drainagen entfernt, wobei die Ruhigstellung
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Kapitel 45 · Infektionen
und Antibiotikagabe weiter erfolgen. Bei zunehmend besserer Bewegung und noch weiterer Normalisierung des Befundes wird die Schienenruhigstellung entfernt und zunehmende Physio- und Ergotherapie angeordnet. Erst bei völliger Normalisierung der Wunden und laborchemischen Befunde können auch die Antibiotika abgesetzt werden, wobei auch weiterhin einige Tage später die Wundkontrollen durchgeführt werden müssen, um ein evtl. Wiederaufflackern der Entzündung rechtzeitig zu erkennen.
Zugänge und Operationstechniken Zugänge Die Zugänge an Unterarm und Hand sind nach handchirurgischen Regeln und großzügig zu legen. Dadurch ist Folgendes gewährleistet: 1. ausreichende Übersicht der Gewebe, 2. Schonung der Gefäß-Nerven-Bündel an den Phalangen und aller Funktions- und Versorgungsstrukturen an der Hand, 3. Vermeiden funktionell behindernder Narbenkontrakturen, 4. Erweiterung der Zugänge bei unerwartet ausgedehnterem Befund. An den Phalangen kann die beugeseitige Schnittführung streckseitig der Gefäß-Nerven-Bündel in der radialen oder ulnaren Neutrallinie durchgeführt werden. Eine bessere Übersicht ergibt der zickzackförmige Zugang nach Bruner, wobei die Ecken weit genug bis zu den Enden der Beugefalten des Grund-, Mittel- und Endgelenks geführt werden müssen. Dies muss eingehalten werden, da bei der Rückbildung einer massiven Schwellung eines Fingers die gelegten Ecken der Schnittführung zur Beugeseite hin wandern und zu Beugekontrakturen führen können. Am Endglied sollte nach Möglichkeit die Schnittführung nicht zur Fingerbeere fortgesetzt werden, sondern in der Neutrallinie des Endgliedes, wobei das entsprechende Gefäß-Nerven-Bündel unbedingt zu schonen
ist. Die früher durchgeführte Fischmaulinzision und -exzision ist nicht mehr ratsam, weil oft trophische Störungen des Endgliedes mit entsprechendem funktionellem Defizit auftreten können. Auf der Streckseite werden die Zugänge türflügelartig oder L-förmig gelegt. Am Grund- und Mittelgelenk werden die Streckfalten besser bogenförmig umschnitten (⊡ Abb. 45.5). Im Bereich der Hohlhand werden die Zugänge parallel zu den Beugefalten gelegt. Bei ausgedehnteren Befunden, die den Zugang weiter proximal erfordern, sollen die Zugänge gewinkelt in den Beugefalten verlaufen. Diese Zugänge sind dann auch auf die Beugeseite des körperfernen Unterarmes und des Karpaldaches erweiterbar, wobei wiederum ein gewinkelter Verlauf im Bereich der Beugefalten des Handgelenks gelegt wird. Hier ist der Karpaltunnel immer zu eröffnen (⊡ Abb. 45.13). Auf der Streckseite der Mittelhand sollten gerade Zugänge parallel zu den Mittelhandknochen gelegt werden. Der Parona-Raum kann auch von radialem oder ulnarem Zugang und unter den Beugern erreicht werden. Sofern eine Gegeninzision bei fortgeleitetem Infekt erforderlich ist, ist darauf zu achten, dass keine schmalen Hautbrücken entstehen, die gerade beim Infekt durchblutungsgefährdet sind. Alle Schnittführungen sind so zu legen, dass die Basis eines grenzwertig durchbluteten Hautlappens nicht durchtrennt wird und keine zusätzliche Perfusiongefährdung verursacht wird. Bei der Wahl der Schnittführung muss außerdem bedacht werden, dass nach Exzision kontusionierter Wundränder oder nekrotischer Haut sofort oder zu einem späteren Zeitpunkt eine Defektdeckung durch lokale Hautlappen möglich bleibt. Bei der Planung muss auch bedacht werden, dass bei Weichteildefekten rasch eine Retraktion der Wundränder eintreten kann und dann u. U. ausgedehntere plastische Weichteildeckungsmaßnahmen erforderlich werden. Beim Zugang nach Bruner auf der Beugeseite der Phalangen sollten die Ecken aus diesem Grunde locker adaptiert werden (⊡ Abb. 45.5). Operationstechniken Auch für den Bereich der Hand und der Phalangen gilt bei vielen Befunden die These »ubi pus ibi evacua«. Dabei müssen die von Saegesser postulierten Regeln eingehalten werden: 1. frühestmögliche und ausreichende Eröffnung des eitrigen Prozesses, 2. Gewährleistung eines ungehinderten Sekretabflusses (Drainagen), 3. durchgehende Immobilisation bis zum Rückgang der Infektzeichen.
a
45 b
⊡ Abb. 45.5 Operative Zugänge bei Infektionen im Bereich der Hand. a Fingerbereich, b Hand- und Unterarmbereich nach Iselin. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
Neben dem Einhalten dieser Grundsätze bei der Behandlung muss außerdem eine vollständige Ausräumung des allogenen Herdes und eine komplette Nekrosektomie ausgeführt werden.
Demnach bedeutet eine suffiziente Behandlung: 1. Inzision 2. Exzision und radikale Nekrosektomie (»adäquates Débridement«) 3. Drainage 4. Immobilisation – assistierte Bewegung – Handbäder 5. Wundverschluss
Inzision Nach Vorbereitung entsprechend der oben genannten Vorgaben (Lagerung, Anästhesie, Blutsperre) und Festlegen des Zugangs
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entsprechend dem klinischen Befund werden Haltenähte angelegt, um die Hautränder atraumatisch aufzuhalten. Dafür können auch kleine Zweizinker eingesetzt werden, über die aber auch kein hoher Zug auf die Hautränder ausgeübt werden soll. Wenn Haltefäden und Haken nicht eingesetzt werden, sollten die Wundränder mit geschlossener Pinzette beiseite gehalten und nicht mit der Pinzette angefasst werden. Die weitere Präparation erfolgt mittels feiner spitzer Schere mit kurzen Branchen. Es sollte beachtet werden, dass Nerven und Blutgefäße durch den Eiterherd und die Schwellung verdrängt und verlagert sein können. In der Nachbarschaft des Eiterherdes sollten sie daher sicherheitshalber vor Eröffnung des Eiterherdes ausreichend weit dargestellt werden. Andererseits muss darauf geachtet werden, dass Strukturen, in die bisher keine Infektfortleitung erfolgt ist, nicht eröffnet werden, um keine iatrogene Keimverschleppung zu provozieren. Erst dann erfolgt die Inzision des Eiterherdes, die Ableitung des Eiters mit Abstrichentnahme und die Trockenlegung der »Eiterhöhle«. Durch Austupfen mit einem Ende einer ausgezogenen Kompresse wird im Gegensatz zu einer Ausspülung des eitrigen Materiales eine Keimverschleppung in gesundes Gewebe vermieden. Exzision und Nekrosektomie Nach Eröffnen des pyogenen Prozesses erfordert die Exzision das komplette Ausräumen des Eiterherdes und des gesamten nekrotischen Materials. Dabei sollten auch ausgedehnte Befunde nicht unter Einsatz eines scharfen Löffels ausgekratzt werden, da dadurch gesundes Gewebe zusätzlich geschädigt wird. Vorzuziehen ist das Präparieren mit Schere oder Skalpell im Bereich der Grenze und beim Erreichen gesunden Gewebes. Zum Ausspülen von sanierten Abszesshöhlen und Spülen débridierter und nekrosektomierter Gewebe wird wässrige Lösung (Ringer, NaCl 0,9%) eingesetzt. Antibiotikazusätze haben keine günstige Wirkung erbracht. Zur mechanischen Reinigung großer Flächen sollte auch an den Einsatz der Lavage gedacht werden, wobei, wie auch bei der konventionellen Spülung, ein Aufblähen der gesunden Gewebe durch Druck der Spülflüssigkeit vermieden werden muss, weil die durch das infektbedingte Ödem beeinträchtigte Gewebeperfusion zusätzlich verschlechtert würde. Insbesondere bei Revision der Beuge- und Strecksehnen ist bei deren Auffaserung und Verlust der glatten, glänzenden Oberfläche eine Differenzierung zwischen grenzwertig vital und Nekrose erschwert oder unmöglich. Dann ist es günstiger, derartige Sehnenstrukturen beim Ersteingriff zu belassen und die Indikation zu einem »second look« innerhalb von 24–48 Stunden zu stellen. Anhand des Befundes bei diesem Zweiteingriff kann dann in Abhängigkeit von Besserungstendenz oder Befundverschlechterung die Indikation zu weiterem Belassen bzw. zum Entfernen der Sehnen gestellt werden. Im Rahmen der Synovialektomie der Beuger muss darauf geachtet werden, dass die Strukturen der Ringbänder in allen Etagen erhalten bleiben. Drainagen Das Ziel, den Sekretabfluss zu gewährleisten, kann nur durch Einlegen ausreichender Drainagen erreicht werden. Ungeeignet dafür sind alle Drainagerohre aus harten Materialien, da sie die Wundränder durch Druck schädigen können. Besser geeignet sind Streifen aus Operationshandschuhen oder Penrose-Laschen (Achtung: Latexallergie). Gegenüber den geeigneteren Easy-Flow-Drainagen haben diese aber den Nachteil, dass sie bei Aufliegen auf der Haut diese waschhautartig verändern können. Bei ihrem Einsatz sollen diese Drainagen daher über der Haut in den Verband abgeleitet
werden. Für die Nachbehandlung ist es günstig, wenn beim Einsatz von mehreren Drainagen die freien Enden einer jeweiligen Drainage in weitem Bogen miteinander vernäht werden. Keinesfalls dürfen sie gespannt auf der Haut aufliegen. Bei Durchleiten von Drainagen durch sanierte Infektionskanäle ist darauf zu achten, dass dadurch der Kanal nicht verstopft wird. Gegebenenfalls sind die Drainagen zurechtzuschneiden. Dabei müssen glatte Schnitte erzeugt werden, damit beim Entfernen der Drainagen nicht der Eindruck entsteht, eine Drainage sei gerissen und teilweise in einer Höhle verblieben. Die Drainagen sollen beim Verbandwechsel bewegt werden. Immobilisation Die geforderte durchgehende Immobilisation ist meist auf einer palmaren Unterarmgipsschiene am günstigsten, wobei diese in Abhängigkeit vom Befund mit Fingereinschluss oder einer anmodellierten Steigbügelschiene bzw. beidem ausgeführt wird. Unbedingt ist darauf zu achten, dass nach Anwickeln der Schiene und Aushärten sämtliches Verbands- und Polstermaterial bis auf die Haut auf der gesamten Länge durchtrennt und das Anwickeln der Schiene mit elastischer Binde locker ausgeführt wird (Einschnürung vermeiden). Die Immobilisation mit einfacher Fingerschiene ist nur bei umschriebenem Infekt an einem Finger ausreichend. Für die postoperative Behandlung der Beugesehnenscheideninfektion ist eine derartige Immobilisation ungenügend. Bei ausgedehnteren Infekten und bei Infektionen mit Lokalisation am Unterarm muss das Ellenbogengelenk ebenfalls immobilisiert werden. Es empfiehlt sich eine palmare Unterarmschiene, die dorsal um das Ellenbogengelenk geführt und mit einer dorsalen Oberarmgipsschiene verlängert wird. Konfektionierte Metallschienen haben trotz Polsterung den entscheidenden Nachteil, dass bei Verschiebung der Polsterung Druckschäden entstehen können. Da der Patient nicht den Druckschmerz vom Wundschmerz unterscheiden kann, werden Druckläsionen der Haut oft erst beim Verbandwechsel festgestellt. Die günstigste Stellung der Gelenke in der Schienung beträgt für das Ellenbogengelenk 70° Beugung, für das Handgelenk 30° Dorsalstreckung und für die Fingergelenke 70° Beugung in den Grundgelenken, Streckstellung von Mittel- und Endgelenken (Intrinsic-plus-Stellung). Abweichend davon wird oft auch die Funktionsstellung von Daumen und Fingern durchgeführt. Bei längerer Immobilisation der Gelenke in diesen leichten Beugestellungen kann es aber zur Schrumpfung der Kollateralbänder der Fingergelenke und auch des Daumenstrahles kommen, die dann eine langwierige Quengelbehandlung erfordern. Bei Immobilisation der Daumengelenke im Steigbügelgips ist die günstigste Stellung eine palmare Abduktion von 30° und eine leichte Beugestellung von 20° im Grund- und Endgelenk. Eine Immobilisation durch Kleinfragment-Fixateur externe oder Minifixateur externe ist selten indiziert und nur bei ausgedehnten Infekten und Gelenkempyemen notwendig. Eine gute Indikation für den Fixateur externe ist die Pflege- und Lagerungserleichterung bei Infekten, die die gesamte Hand und das Handgelenk betreffen. Wundverschluss Bei kleineren drainierten Eiterherden erübrigt sich eine Adaptation der Wundränder. Es ist aber sinnvoll, kleine Drainagen einer Eiterhöhle mit einer Einzelnaht am Wundrand gegen vorzeitiges Herausfallen zu sichern. Alternativ dazu kann die Mitte einer Hautinzision adaptiert werden, sodass die liegende Drainage beidseits herausgeleitet wird. Bei langstreckigeren Inzisionen sollten die Wundränder mit locker adaptierenden, weit
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auseinanderstehenden Einzelnähten adaptiert genäht werden, um die rasch eintretende Retraktion der Wundränder zu vermeiden. Dabei dürfen die Durchtrittsstellen der Drainagen nicht eingeengt werden, da sie durch Verklebungen und Detritus sonst rasch verstopfen. Adaptationsnähte müssen spannungsfrei gelegt werden. Beim zickzackförmigen Zugang nach Bruner empfiehlt es sich, die Nähte so zu legen, dass eine Ischämie vermieden wird. Nach Aufheben der Blutsperre muss kontrolliert werden, ob die Perfusion der Wundränder überall gesichert ist. Als Nahtmaterial empfehlen sich monofile Fäden der Stärke 4/0. Dickeres Material verleitet nur zum Erzwingen einer Wundrandadaptation, geflochtene Fäden führen durch ihre Dochtwirkung zum Infekt der Nahtkanäle.
Nachbehandlung Verbandwechsel
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Vor jedem Verbandwechsel muss ausreichend Analgetika verabreicht werden. Postoperativ wird die Immobilisation auf Fingerschiene oder palmarer Unterarmschiene mit Fingereinschluss bzw. in Steigbügelschiene durchgeführt. Die Verbände müssen locker und luftdurchlässig sein, damit keine feuchte Kammer mit der Folge der Hautmazeration entstehen kann. Zur Spülbehandlung in 12- bis 24-stündigen Abständen müssen die Verbände komplett abgewickelt, die Hand zusätzlich in lauwarmem Handbad gereinigt und aktiv oder passiv assistiert durchbewegt werden. Die Drainagen werden durchbewegt, Detritus abgespült oder mit der Pinzette abgetragen. Der Patient wird aufgefordert, mit Kompressen seine Hand zu säubern. Anschließend Spülung der Drainagekanäle mit Ringer-Lösung oder NaCl 0,9% (quantitativ Zulauf = Ablauf); erneut Handbad in frischem sauberen Wasser; Abtrocknen und Verband. Die Enden noch liegender Drainagen werden dabei von der Haut abgehoben und in den Verband gelegt. Bei Kleinkindern ist für die Verbandwechsel zumindest anfangs eine Kurznarkose erforderlich. In Abhängigkeit vom Lokalbefund bleiben die Drainagen für 3 bis maximal 5 Tage in situ. Der evtl. angelegte Zulaufkatheter sollte nach Aufheben der Fixierung unter Aspiration gezogen worden. Beim massiven tiefen Infekt der Hand und bei intraoperativ unsicherer Beurteilbarkeit ist die Indikation zur Second-LookOperation gegeben, die nach 24 Stunden möglichst vom selben erfahrenen Operateur durchgeführt werden sollte. Der Vorteil ist, dass Hämatome ausgeräumt und weiter eingeschmolzenes Gewebe und Nekrosen entfernt werden können und dadurch ein Fortschreiten des Infekts beherrscht wird. Der Second Look ist ein vom Operateur geplanter Eingriff aufgrund des beim Ersteingriff erhobenen Befundes und oft kein Rezidiveingriff. Bei äußeren Stabilisierungen (Minifixateurarthrodese) muss die Stabilität der Montage geprüft werden, die Backenverschraubungen sind nachzuziehen. Gegebenenfalls muss die Verspannung der Knochenschrauben gegeneinander erneuert und die Kompression einer Arthrodese erhöht werden. Damit kein Verhalt in den Schraubenkanälen durch Verkrustung entsteht, müssen diese beseitigt werden. Dem Patienten sollte die Fixateurpflege bekannt sein.
Postoperative Phase In der postoperativen Phase sollte durch die konsequente Hochlagerung des Armes dem postinfektiösen und postoperativen Ödem entgegengewirkt werden. Eine gut gepolsterte Schienenlagerung ist zur Infektbekämpfung und Schmerzlinderung notwendig. Gelegentlich ist eine vorsichtige Kühlung der Extremität angebracht, um die Schmerzen zu verringern. Im Laufe der Behandlung und
beim Rückgang der Entzündung wird die Immobilisation abgelöst von den täglich 1- bis 2-mal durchzuführenden Handbädern und frühzeitiger Bewegungsübung. Die Physiotherapie ist vor allem die ersten Tage nach der Operation nur mit medikamentöser Schmerztherapie möglich. Von dieser Möglichkeit soll reichlich Gebrauch gemacht werden, ohne die eigentlichen Infektschmerzen zu verschleiern. Die täglich durchzuführenden Handbäder werden bei liegender Drainage durchgeführt. Eine manuelle Lymphdrainage kann nur dann durchgeführt werden, wenn die Gefahr der Verschleppung der Keime nicht gegeben bzw. keine Lymphangitis oder fortgeleitete Entzündung festgestellt werden kann. Im Allgemeinen kann mit Lymphdrainage erst nach 1 Woche postoperativ begonnen werden. Im Wasserbad können dann durch aktive und passive Bewegungsübungen alle Gelenke der Finger, auch der Nachbarfinger, mit beübt werden. Mit Ergotherapie und Bewegung in warmen Körner-, Meersalz- oder Kiesboxen kann erst nach Entfernung der Laschendrainage begonnen werden.
Physiotherapie Ein wichtiger Aspekt der Nachbehandlung ist die aktive und passive Physiotherapie. Die aktive Nachbehandlung beginnt bereits bei noch liegenden Drains durch Durchbewegen der Finger mit der gesunden Hand des Patienten unter Anleitung. Nach Drainageentfernung wird diese Behandlungsform intensiviert und durch passive Bewegungsübungen durch den Physiotherapeuten ergänzt. Bei noch offener, sekundär heilender Wunde ist Rücksprache mit dem Operateur erforderlich, um die Nachbehandlung bereits in diesem Stadium zu optimieren. Nur so können die früh eintretenden Verklebungen der Sehnen vermieden werden. Sofern die Krankengymnastik kein günstiges funktionelles Ergebnis erreicht, kann durch den Einsatz von Quengelschienen die Funktion verbessert werden. Dynamische Quengelschienen, gegen deren Federsystem gearbeitet wird und die beim Loslassen quengeln, sind erfolgreicher als statische Schienen. Günstig ist der Effekt von Faustverbänden, die unmittelbar im Anschluss an die Therapie in der erreichten Beugestellung (nach Drainageentfernung) angelegt werden und bis zur Schmerzgrenze oder maximal eine Stunde liegen bleiben und vom Patienten dann selbst aufgehoben werden. Der Einsatz von Motorschienen ist ebenfalls indiziert. Ihre Anwendung ist jedoch oft verzögert durch verschleppte Zusage der Kostenübernahme der Kassen oder wird sogar ganz abgelehnt.
Späteingriffe: Weichteilverschluss, Tenolysen, Knochenrekonstruktionen Da Infekte im Handbereich auch in fortgeschrittenen Infektstadien zur Erstbehandlung kommen, bei denen durch eitrige Einschmelzung und Nekrosektomien Gewebedefekte und Funktionsdefizite entstehen, müssen die Rekonstruktionsmöglichkeiten bekannt sein. Vor allem muss der Patient ausführlich über zu erwartenden Defekte und deren Rekonstruktionsmöglichkeiten und -grenzen unterrichtet werden.
Weichteilverschluss Die häufigsten Späteingriffe betreffen den Wund- und Weichteilverschluss. Bei sekundär heilenden schmalen Wunden, deren Ränder zwischen den Drainagen adaptiert werden können, führt die Wundheilung meist zum spontanen Hautverschluss. Sofern die Zugänge nach den oben angegebenen Richtlinien gelegt wurden, entstehen auch keine störenden Narben. Bei ausgedehnter Sekundärheilung oder eingeschmolzenen Hautbezirken ist ein zweizei-
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tiger Wundverschluss nach Rückbildung der Ödemphase und der Infektzeichen erforderlich. Die Deckung des Hautdefektes hängt von der Tiefe des Defektes und der Breite des Hautdefektes ab. Ein solcher Hautdefekt kann oft durch Einsatz der dynamischen Hautnaht verkleinert oder gänzlich verschlossen werden. Durch Mobilisation der Wundränder kann die Sekundärnaht früher und spannungsfrei durchgeführt werden, ohne die Durchblutung der Wundränder zu gefährden. Oberflächliche Hautdefekte können durch Spalthaut vom Unterarm nach Erreichen eines blanden und gut durchbluteten Wundgrundes oder auch durch die im entsprechenden Kapitel dargelegten Nah- und Fernlappenplastiken gedeckt werden. Der distal gestielte Radialisumkehrlappen eignet sich zur Deckung großflächiger Defekte des Handrückens. Vor Indikationsstellung muss allerdings unbedingt an den Allen-Test gedacht werden. Sofern keine typischen Zugänge möglich waren, z. B. bei Exzision einer Fistel, entstehen häufig störende oder kontrakte Narben. Diese können durch Exzision und Z-Plastik in funktionell nicht störende und belastbare Narben umgewandelt werden. Subkutane Narben können die Gefäß-Nerven-Bündel einmauern. Dann besteht die Indikation zur Resektion der subkutanen Narbe und zur langstreckigen Neurolyse des betreffenden Nervens. Narbenbildungen im Bereich des Nagelbettes können exzidiert und nach sparsamer Mobilisation durch direkte Naht mit feinem atraumatischem und resorbierbarem Material direkt geschlossen werden. Wenn keine direkte Naht möglich ist, kann eine Defektdeckung durch ein Transplantat aus dem Nagelbett einer Großzehe oder eines anderen Fingers vorgenommen werden, im Sinne einer dünnen Spalthauttransplantation. Sofern störende Deformitäten eines Fingernagels bestehen, können sowohl das Nagelbett als auch die Nagelwurzel exzidiert und durch ein Hauttransplantat gedeckt werden.
Tenolyse – Sehnenrekonstruktion Nach Sehnenscheidenphlegmonen oder Empyem und peritendinösen Infekten des Handrückens können rasch Verklebungen und Verwachsungen eintreten. Beste Prophylaxe ist die frühzeitige Mobilisation schon während der Infektbehandlung. Sofern trotzdem Verklebungen der Beuge- und Strecksehnen entstehen, sollte zunächst die intensive aktive und passive Physiotherapie eingesetzt werden. Hier sollte auch an eine stationäre Behandlung mit Motorschiene unter oraler Schmerztherapie oder die Nachbehandlung mit Physiotherapie und Analgesie über Plexuskatheter gedacht werden. Erst bei fehlender Besserungstendenz sollte die Indikation zu Tenolyse gestellt werden. Dazu ist es meist erforderlich, die Sehnen langstreckiger als beim Primäreingriff freizulegen, da die Verwachsungen oft weit nach proximal reichen. Die Freilegung und Lösung muss schonend durch überwiegend stumpfe Präparation und ohne Auffaserung der Sehnen erfolgen. Besonders hartnäckig und entsprechend schwer zu lösen sind Verwachsungen der beiden Beugesehnen untereinander im Chiasma und im Bereich der A1und A2-Ringbänder. Nach Nekrosektomie der Beugesehnen ist deren Rekonstruktion erst nach einem freien Intervall von 3–6 Monaten angezeigt. Dazu ist ein zweizeitiges Vorgehen möglich. Zur Schaffung eines neuen Beugesehnenkanals wird in die gesamte Länge des Defektes ein entsprechend dicker Silastik-Stab durch die Ringbänder geleitet und distal an den Stümpfen mit einer Sehnennaht verbunden. Eine Kleinert-Zügelung des betreffenden Fingers ist nicht erforderlich. Bei gleichzeitig bestehenden Gelenkeinsteifungen durch Kapselbandschrumpfung sollten diese simultan durch Kapsulotomie aufgehoben werden. Die Sehneninterpositionsplastik erfolgt dann nach 10–12 Wochen mit autogenem Sehnengewebe. Entscheidend
für eine gute Funktion ist dabei, dass das Interponat mit ausreichender Vorspannung eingenäht wird, die durch die intraoperative Funktionsprobe (normales Sehnengleiten bei passiver Streckung und Beugung im Handgelenk) erreicht wird. Nach einem Gelenkempyem, das unter Erhalt des Gelenks ausbehandelt wurde, oder auch durch Infekte in der Nachbarschaft eines Gelenks entstehen Funktionsminderungen durch Schrumpfung und Vernarbung der Kapselbänder. Im Bereich der Grund- und Mittelgelenke kann eine Besserung durch Teilresektion im Sinne der Kapsulotomie erreicht werden. Dabei ist darauf zu achten, dass keine Kollateralbandinstabilitäten erzeugt werden. Für die Endgelenke ist bei schmerzhafter Wackelsteife als Endzustand des Infekts eher eine Tenodese oder eine definitive Arthrodese indiziert.
Knochenrekonstruktionen Zur Knochenrekonstruktion nach Nekrosektomie und PMMA-Miniketten-Implantation genügt meist die Entnahme der Kette, Säubern der Knochenhöhle und das Entfernen allen Granulationsgewebes. Die resultierende Höhle wird mit autogener Spongiosa aufgefüllt. Wichtig ist die komplette Auffüllung mit verdichteter Spongiosa in subchondral gelegenen Knochendefekten. Bei ausgedehnteren Knochendefekten und Instabilität ist als Interponat ein kortikospongiöser Span, stabilisiert durch Plattenosteosynthese, erforderlich. Nach infektbedingtem Teilverlust eines Daumens oder eines Fingers kann die Strahlverlängerung durch Kallusdistraktion nach Ilizarov eine Besserung der Greifformen ergeben. Bei der Indikationsstellung ist zu beachten, dass die Kallusdistraktion keine Gelenkfunktion erreicht. Zu erzielen ist lediglich, dass durch die Distalisierung eines Fingerstumpfes der betreffende Finger in eine bessere Greifposition gebracht wird. Die Kallusdistraktion darf niemals über Gelenke geführt werden. Bei Kindern kann diese Methode nach Verlust von Epiphysenfugen durch Infekt auch fraktioniert erfolgen. Nachdem bei der ersten Distraktion eine leichte Überkorrektur der Länge erzielt wurde, können entsprechend dem Längenzuwachs der Nachbarfinger und in Abhängigkeit von den Wachstumsschüben weitere Distraktionen erfolgen. In Abhängigkeit vom Befund kann auch die Kombination mehrerer Späteingriffe erforderlich werden, wie z. B. bei einem 6-jährigen Jungen, bei dem nach hämatogener Salmonellenosteomyelitis und Empyem des Grundgelenks des 2. Fingerstrahls ein Defekt des Mittelhandknochens, des Gelenks und der benachbarten Epiphysenfugen bestand. Entsprechend waren Knochenrekonstruktion und Arthroplastik erforderlich, ergänzt durch fraktionierte Kallusdistraktionen zum Längenausgleich. Dadurch wurde ein belastbarer, beschwerdefreier Fingerstrahl mit erhaltenem Feingriff, aber inkomplettem Faustschluss erreicht. 45.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Diagnostik und Therapie von Infektionen im Bereich der Hand im Kindesalter gelten im Wesentlichen die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. 45.1.9 Antibiotische Therapie Vorschlag zur antibiotischen Therapie: Solange das Keimspektrum nicht bekannt ist, sollte je nach Schweregrad eines der folgenden Antibiotika oder eine Kombination von allen bei schwerer phlegmonöser Entzündung der Hand eingesetzt werden. Nach Vorlage
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Kapitel 45 · Infektionen
der Abstrichuntersuchung und des Antibiogramms kann die Antibiotikagabe entsprechend angepasst werden. Beginn mit einer intravenösen antibiotischen Therapie mit: ▬ Piperacillin 3-mal 4 g ▬ Combactam 3-mal 0,5 g ▬ Metronidazol 2-mal 0,5 g (für maximal 5–7 Tage) Die ambulante Anschlusstherapie kann dann mit Amoxicillin comp. Filmtabletten mit Clavulansäure erfolgen. 45.2
Spezielle Techniken
45.2.1 Technik der Behandlung der Paronychie
te Drainage (⊡ Abb. 45.6b) versorgt werden. Die Immobilisation auf einer Fingerschiene ist ausreichend. Die Nachbehandlung besteht in täglichen Handbädern, Spülung und Laschenmobilisation. Die Drainagen können meist nach 3–5 Tagen entfernt werden. Bei protrahiertem Verlauf müssen die Drainagen entsprechend länger belassen werden. Unzureichende Exzision und ungenügende Drainage sind durch eine hohe Rezidivrate belastet und können auch zu einem späteren Zeitpunkt zum fortgeleiteten Infekt führen. Unter Berücksichtigung des Nagelaufbaus muss die Ausbreitung des Eiters unterhalb der Nagelplatte und am Nagelwall erkannt und behandelt werden (⊡ Abb. 45.7a,b). 45.2.2 Technik der Behandlung des Panaritium
subunguale Bei der Paronychie in Form einer kutanen Eiteransammlung genügt wie beim Panaritium cutaneum die Inzision (⊡ Abb. 45.6a). Wenn eine tiefergreifende Infektion vorliegt, ist die keilförmige Exzision (⊡ Abb. 45.6b) des infizierten Nagelwalls und des angrenzenden Nagels oder Resektion des proximalen Nagelanteils (⊡ Abb. 45.6c) erforderlich. Bei der Resektion muss auf die möglichen Ausbreitungswege geachtet werden und die Keilexzision muss dann ggf. in die erkannten Fortleitungswege erweitert werden. Der Nagelwall und die ggf. zusätzlich gelegte Inzision und der Exzisionsbereich müssen anschließend ausreichend durch eine adaptier-
Das Panaritium subunguale ist meist Folge der Ausbreitung einer Paronychie, kann aber auch z. B. durch Infekt eines subungualen Hämatoms entstehen. Das Panaritium subunguale ist immer operativ zu behandeln und erfordert die weite proximale Nagelresektion. Bei einem subungualen Panaritium als Folge einer distalen Fremdkörpereinsprengung (Holzsplitter unter dem Nagel) ist die keilförmige Exzision des Infekts und des Nagels distal erforderlich, um sicher das gesamte infizierte Gewebe zu exzidieren und gleichzeitig eine ausreichende Drainage zu erreichen (⊡ Abb. 45.6d).
Grenzfurche Proximaler Nagelwall Nagel- Eponychium platte Cuticula Freier Lunula Proximaler Nagelrand Nagelrand und Nagelwurzel Mörike’sches Gelbe Halfter Linie Margo Hypolateralis nychium Nageltasche Sohlenhorn Lateraler Nagelwall Gelbe Linie
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Hyponychium Nagelbett Nagelkranz a mit Leisten
Lig. phalangeale (Flint) Retinacula cutis
b
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45 ⊡ Abb. 45.6 Therapie der Paronychie. a Dorsaler Nagelwall: Schnittführung nach Kleinert, Exzision, Drainage. b Lateraler Nagelwall: Schnittführung, Exzision nach Emmert. c Resektion des proximalen Nagelanteils. d Keilförmige Exzision bei lokalisiertem subungualem Pararitium. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972 [a,b] und Langer et al 2011 [c])
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⊡ Abb. 45.7 a Schnittanatomie des Nagelbereiches, b Ausbreitung des Eiters unterhalb der Nagelplatte (Aus Langer et al 2011)
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⊡ Abb. 45.8 Kragenknopfabszess – dermal gelegene Eiterblase über kleiner Fistelöffnung, die zum subkutanen Eiterherd als Hauptbefund führt, der radikal exzidiert werden muss und ggf. auch eine Gegeninzision erfordert. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
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Bei eitriger Einschmelzung des gesamten Nagelbettes muss ein teilweise noch anhaftender Nagel entfernt werden. Nach Abfließen des eitrigen Materials wird der trepanierte Nagel wieder aufgelegt und seitlich mit 2 lockeren Nähten fixiert. Die weitere Nachbehandlung entspricht der Nachbehandlung der Paronychie ( Kap. 38).
⊡ Abb. 45.9 Panaritium subcutaneum des Endgliedes mit Eiterherd und möglicher Ausbreitung in das angrenzende Gewebe. a Inzision, b Spalten der radiär gestellten Septen; eventuell erforderliche Gegeninzision bei ausgedehntem Befund. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
45.2.3 Technik der Behandlung des Panaritium
subcutaneum (»Kragenknopfabszess«) Auch das Panaritium subcutaneum und der Kragenknopfabszess (⊡ Abb. 45.8) können nur operativ adäquat behandelt werden: Der Patient wird nach den allgemeinen Richtlinien für die operative Behandlung als Notfall in Narkose vorbereitet. Auch hier müssen bereits präoperativ Befunde bekannt sein, die auf eine Fortleitung des Infekts hinweisen. In Oberarmblutsperre wird über der Eiterhöhle inzidiert, wobei sich die Inzision nach den allgemeinen Richtlinien für die operativen Zugänge an der Hand orientieren muss. Die Länge der Inzision (⊡ Abb. 45.9a) wird von der Ausdehnung des Eiterherdes bestimmt. Immer muss die Inzision so gelegt werden, dass die Eiterhöhle komplett ausgeräumt und alles angrenzende nekrotische Gewebe (⊡ Abb. 45.9b) exzidiert werden kann. Dabei ist das Auskratzen der Eiterhöhle mit einem scharfen Löffel unzureichend. Die Nekrosen müssen scharf ausgeschnitten werden. Nach Nekrosektomie und Spülung erfolgt die Spaltung der radiären Septen des Endgliedes, um auch dort infiziertes Gewebe zu drainieren. Bei tiefreichendem Infekt ist die Gegeninzision in der kontralateralen Neutrallinie erforderlich, um eine ausreichende Drainage zu gewährleisten. Nur eine komplette Nekrosektomie kann das Fortschreiten der Einschmelzung und Fortleiten der Entzündung zu tieferen Strukturen verhindern und die Rezidivoperation vermeiden. Auf Nervenendäste muss geachtet werden. Beim subkutanen Panaritium des Endgliedes als Folge einer Paronychie stellt das operative Vorgehen eine Kombination aus keilförmiger Exzision des infizierten Nagelwalls und der Inzision und Exzision des subkutanen Eiterherdes mit Spalten der Septen des Endgliedes dar. Zur sicheren Exzision ist eine Gegeninzision sinnvoll, durch die auch die Drainage ausgeleitet werden kann.
Die Nachbehandlung richtet sich nach den oben angegebenen allgemeinen Richtlinien für die Nachbehandlung von Infektionen an der Hand. 45.2.4 Technik der Behandlung des Panaritium
cutaneum Bei oberflächlicher Entzündung ist durch die Eiteransammlung innerhalb der Hautschichten die Epidermis abgehoben, sodass eine gelblich durchscheinende Eiterblase entsteht. Sofern kein Hinweis auf subkutane Perforation besteht (perifokale Zellulitis, Spontanschmerz) genügt das einfache Abtragen der Blase evtl. ohne Blutsperre, beim Erwachsenen evtl. an den Fingern ohne Narkose. Vorgehen: Nach kurzfristigem Handbad wird unter sterilen Bedingungen die Blase tangential mit Skalpell oder Schere abgetragen, der freigelegte Grund der Blase wird sorgfältig auf eine Perforationsstelle in der Subcutis inspiziert, um sicher das Vorliegen eines Kragenknopfabszesses auszuschließen (⊡ Abb. 45.10). Anschließend wird ein Verband mit Polyhexamid- oder mit 1%igem Betaisodona befeuchteten Kompressen angelegt. Bei Lokalisation im Bereich der Phalangen wird für 2 Tage eine Fingerschiene angewickelt. Antibiotikatherapie ist nicht notwendig, die ambulante Behandlung ist ausreichend. Bei bestehender Lymphangitis ist die Immobilisation auf palmarer Unterarmschiene bzw. dorsaler Oberarmschiene erforderlich. Die Behandlung wird durch systemische Gabe von Antibiotika ergänzt. In der Regel können alle Eingriffe bei oberflächlichen Infektionen ambulant durchgeführt werden. Der Risikopatient sollte stationär behandelt werden.
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Kapitel 45 · Infektionen
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45 ⊡ Abb. 45.10 Panaritium cutaneum. a Klinischer Befund bei Klinikaufnahme, b intraoperativer Befund nach Eröffnung des Blasendaches, c intraoperativer Befund nach Eröffnung des Blasendaches, d intraoperativer Befund nach Débridement, e klinischer Aspekt 6 Monate postoperativ: Ansicht von dorsal, f Funktion 6 Monate postoperativ: Fingerstreckung, g Funktion 6 Monate postoperativ: Faustschluss
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45.2.5 Technik der Behandlung des
Panaritium tendineum (Infektion der Beugesehnenscheide, Beugesehnenscheidenphlegmone) Beim Panaritium tendinosum ist der Fingerstrahl in Höhe des Infekts durch die entzündliche Schwellung umfangsvermehrt und gerötet. Die Schwellung ist anfangs beugeseitig betont. Im Spätstadium ist der gesamte Finger umfangsvermehrt und wird schmerzbedingt in leichter Beugestellung gehalten. Anfangs lässt sich der Punctum maximum mit Knopfsonde als Ort der größten Schmerzhaftigkeit lokalisieren. Beim Spätstadium besteht Schmerz im gesamten Beugerverlauf. Mit der Knopfsonde lässt sich die proximale Begrenzung des Infekts meist in der Hohlhand bestimmen. Bereits im Anfangsstadium des Panaritium tendinosum (⊡ Abb. 45.11a) besteht die Indikation zur notfallmäßigen Operation. Während dieser Zeit sollte bereits eine intravenöse Antibiotikatherapie eingeleitet und die Immobilisation und Hochlagerung durchgeführt werden. Abgesehen von den Beugesehnenscheiden der Finger und des Daumens schließt sich weiter proximal zwischen den Beugesehnen und dem M. pronator quadratus bzw. der Membrana interossea der Parona-Raum an, der durch lockeres Bindegewebe ausgefüllt ist, weshalb sich Infektionen in diesem Bereich nach proximal bis zum Ellenbogen ausdehnen können. Akute Infektionen der Beugesehnenscheide, der Finger und der Hohlhand sind durch massive schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Beugeschonhaltung der Finger gekennzeichnet. Während in früheren Jahren bei einer Infektion der Beugesehnenscheide die Amputation der Finger oder sogar der Hand die einzige Rettung dieser schweren Infektion war, sind heute durch das Zusammenwirken einer frühzeitigen Operation, chirurgischem Wunddébridement und intraoperativer Spülung, aber auch Einsatz von Anti-
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biotika und intensiver Nachbehandlung, viel bessere Möglichkeiten vorhanden, eine Restitutio ad integrum zu erreichen. Durch frühzeitige und inadäquate Antibiotikagabe ohne chirurgische Intervention kommt es häufig durch lange Entzündungsreaktion der Sehnenoberfläche zum Verlust der Gleitfähigkeit derselben, sodass das Gleitvermögen der Sehnen oder die Sehne selbst dauerhaft zerstört wird (⊡ Abb. 45.11). Die Synovialflüssigkeit der Sehnenscheide hat zum einen die Eigenschaft, die mechanische Gleitfähigkeit zu verbessern und andererseits die Sehne zu ernähren. Wird die Synovialflüssigkeit durch direkte oder indirekte Weise mit Bakterien kontaminiert, so stellt diese dann einen idealen Nährboden für das Wachstum der Bakterien dar. Die Bakterien können entlang der Sehnenscheide wachsen und werden durch die Bewegungen der Beugesehne zusätzlich verteilt. Durch die ausgebreitete Entzündung kommt es zu einem raschen Druckanstieg und stetigen Schmerzen entlang der Sehnenscheide, sodass es unter Umständen innerhalb des Sehnenscheidenkanals zur Schädigung und Thrombosierung der kleinen Gefäße des Mesotendineums kommen kann. Deshalb auch spätere Nekrose der Sehnen. Beugesehnenscheideninfektionen an der Hand machen etwa 2,5–11% aller Infektionen an der Hand aus. Beugesehnenscheideninfektionen können auf direktem Wege durch die Verletzung oder auch auf indirektem Weg durch fortgeleitete Infektionen des Unterhautfettgewebes, des Knochens oder eines Gelenkempyems entstehen (Keimverschleppung). Selten kann auch eine Verschleppung von Keimen auf dem Blutwege vorkommen. Besonders häufig (etwa 65%) ist die Sehnenscheide im Bereich der Endgelenkbeugefalte Ausgangspunkt für eine Infektion nach einer penetrierenden Verletzung. Die Ursache einer solchen Infektion liegt in der Ausbreitung einer bereits bestehenden Handinfektion, die dann auf die Beugesehnenscheide übergreift.
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⊡ Abb. 45.11 Panaritium tendinosum. a Typischer klinischer Aspekt mit Beugeschonhaltung, b Schnittführung mit langstreckiger Eröffnung bis zur Mittelhand beim Panaritium tendinosum ermöglicht die entsprechende langstreckige Inspektion und sichere Implantation eines Spülkatheters unter allen Ringbändern mit Ableitung distal über eine Fensterung oder eine Drainage, c Einlage eines Spülkatheters in den Sehnenscheidenbereich, d Wundrandadaptation und distale Drainage über eine Easy-Flow-Drainage. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001)
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Kapitel 45 · Infektionen
Nach Saegesser und Michon werden die Beugesehnenscheideninfektionen in 3 Stadien eingeteilt: ▬ 1. Stadium: Exsudatives Stadium mit vermehrter Gefäßinjektion der Sehnenscheide und vermehrter Synovialflüssigkeit. Die Sehne ist unverändert. ▬ 2. Stadium: Verdickte und trübe Synovialflüssigkeit mit zum Teil flockig-eitriger Veränderung. Die Sehnenscheide selbst ist stark gefäßinjiziert und verdickt und zum Teil granulomatös verändert. Die Beugesehne wird glanzlos matt, nimmt eine grau-gelbe Farbe an und erscheint bleich. ▬ 3. Stadium: Die Sehnenscheide ist massiv granulomatös verändert, verdickt oder zum Teil nekrotisch. Die Sehne selbst ist grau und grün, es besteht eine Zerfaserung der Sehne mit nekrotischen Abschnitten. Hier können die Verstärkungsbänder der Beugesehnenscheide, die Ringbänder, ebenso in Mitleidenschaft gezogen sein, sodass bei der Therapie neben dem Débridement und der Resektion der Beugesehnen auch Teile der Ringbänder reseziert werden müssen (⊡ Abb. 45.12). Die frühe Diagnose einer Beugesehnenscheideninfektion ist von essenzieller Bedeutung, da diese für das spätere funktionelle Endergebnis entscheidend ist. Bei einer akuten Beugesehnenscheideninfektion kommt es innerhalb von 6–72 Stunden ab Beginn der Anzeichen eines Infektes zum Vollbild einer Phlegmone. Als deutliche Zeichen der Diagnose können im Anfangsstadium Spannung und Druckschmerz, begrenzt über den gesamten Verlauf der Beugesehnenscheide bis zu einer generalisierten Schwellung des Finger einschließlich des beugeseitigen Abschnittes des Subkutangewebes und bis zu extremen Schmerzen, besonders proximal beim Versuch der vollen Streckung des Fingers, festgestellt werden. Im späteren Stadium ist der Finger in Beugestellung fast fixiert, wobei jegliche aktive oder passive Streckung des Fingers mit massiven Schmerzen verbunden ist. Der Patient berichtet über einen pochenden, klopfenden ständigen Schmerz von der Fingerspitze über dem Handgelenk bis zum Oberarm. Eine Lymphangitis kommt in etwa bei 20% der Fälle vor. Die frühzeitige und inadäquate Antibiotikagabe kann das klinische Zeichen einer Sehnenscheideninfektion verschleiern und die Diagnostik erschweren. Die Diagnose ist bei Diabetes, Ar-
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⊡ Abb. 45.12 Panaritium tendinosum Stadium III. a Planung des operativen Zugangs, der bei Sehenscheidenphlegmone und eitriger Sekretion eine sichere Synovialektomie unter Schonung der Ringbänder erlaubt. b Nach erfolgter Synovektomie werden eindeutig nekrotische Sehnenanteile, erkennbar an der Auffaserung und/oder grün-grauen Verfärbung, reseziert unter Erhalt der Ring- und Kreuzbänderung, und ohne den proximalen Sehnenstumpf aus der Hohlhand hervorzuluxieren. Bei unsicherem Befund sollte die Indikation zur Second-Look-Operation großzügig gestellt werden, c Der Eingriff wird mit Einleiten eines Spülkatheters unter die erhaltenen Ring- und Kreuzbänder, distaler Drainage und lockerer Wundrandadaptation beendet. (Aus SchmitNeuerburg et al. 2001)
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teriosklerose und peripherer Polyneuropathie erschwert. Ebenso müssen Patienten mit Gicht oder Sarkoidose von einer Beugesehnenscheideninfektion abgegrenzt werden. Röntgendiagnostik und ggf. MRT-Untersuchung kann bei subakuten unklaren Fällen und Verdacht auf atypische Bakterien und Tuberkulose hierbei indiziert sein. Bei wahrscheinlicher oder gesicherter Diagnose ist die sofortige Operation indiziert. Es handelt sich um einen Notfall, der keine Aufschiebung erlaubt. Als Anästhesieform wird Vollnarkose und Operation in Oberarmblutsperre empfohlen, um die Keime nicht zu verschleppen. Die Operationsschnitte können je nach Notwendigkeit nach Klapp im Sinne doppelt angelegter kurzer seitlicher Schnitte unter Schonung der Ligamentum anulare und Gefäßnervenbündel angelegt werden, jedoch besser ist die Schnittführung nach Bruner, die eine bessere Sicht unter Schonung der Gefäß-Nerven-Bündel und Ringbänder ermöglicht. Jedenfalls dürfen die Schnitte die Beugefalte der Haut und der Finger nicht senkrecht in der Mittellinie durchqueren. Schon bei der ersten Operation ist ein ausgedehntes Débridement und Exzision des nekrotischen Gewebes erforderlich. Eine permanente Sehnenscheidenspülung ist aufgrund provozierter Schmerzen und aufgrund der Ergebnisse einer prospektiven Studie nicht mehr ratsam. Dagegen wurde mit angelegten Drainagen und täglichen Handbädern über sehr gute Erfahrungen berichtet. Als Spüllösung werden isotonische Kochsalz-, Ringer- und Betaisodona-Lösung verwendet, wobei die modernen Antiseptika wie Polyhexamid und deren Wirkung noch nicht abschließend beurteilt werden können. Bei der Operation der Beugesehnenscheideninfektion richtet sich die Schnittführung nach der Ausdehnung und dem Stadium der Infektion. Bei noch erkennbarer Perforationsstelle sollte diese sparsam exzidiert werden. In leichteren Infektionsstadien sollte auch das proximale und distale Ende der Sehnenscheide eröffnet und die Sehnenscheide inspiziert werden. Bei Verdacht auf eine Fremdkörpereinsprengung muss dieser unbedingt gesucht und entfernt werden. Die Ringbänder müssen im Anfangsstadium auf jeden Fall geschont werden. Bei fehlender Verdickung der Synovialis oder der Sehnenscheide sollten Gummilaschen eingelegt und die Sehnenscheide ausgiebig gespült werden. Von einer Katheterlegung und Ausspülung wird jedoch aufgrund des
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belastenden Schmerzes beim Patienten Abstand genommen. Bei massiver Infektion, trübem Synovialgewebe und starker Verdickung und Veränderung der Sehnenscheide wird durch angelegten Bruner-Schnitt eine Tenosynovialektomie unter Schonung der Ringbänder vorgenommen, wobei nach Anlage der Drainagen die Wundränder erneut verschlossen werden. Durch tägliche 1- bis 2-malige Handbäder in einem Kamillosan-Bad und gleichzeitiger Physio- und Ergotherapie können Verklebungen verhindert und die Sehne indirekt durch die offene Wunde gespült werden. Eine Betaisodona-Spülung ist nur selten bei massivster Infektion notwendig. Bei schwerwiegender Infektion und Zerfaserung des Sehnengewebes muss das infizierte und nekrotische Gewebe radikal entfernt und die Wunde débridiert werden. Die GefäßNerven-Bündel und zumeist auch Teile der Ringbänder können geschont werden. Die Therapie der Wahl besteht in der Drainage und Spülbehandlung.
1. Proximale und distale Eröffnung des Sehnenscheidenraumes über quere Hautinzision Darstellen der Gefäß-Nerven-Bündel, Eröffnen der Sehnenscheide, Einbringen eines Spülkatheters über möglichst die gesamte Länge der Sehnenscheide und Klarspülen des Sehnenscheidenraumes über den Katheter (⊡ Abb. 45.11b), der zusätzliche Öffnungen auf der gesamten Länge haben sollte. Verschluss der proximalen Inzision und anschließend kontinuierliche Spülung des Sehnenscheidenraumes (⊡ Abb. 45.11c). Anschließend Entfernung des Katheters und Anlegen der Gummilaschen, Verband mit 1%-igem Betaisodona oder Polyhexamid sowie Schienenruhigstellung. Beginn der Übungsbehandlung ab dem 1. postoperativen Tag im Handbad mit Krankengymnastik unter Analgetikagabe. Diese Operationsmethode darf nur im Stadium der beginnenden Tenosynovialitis mit klar serösem Exsudat angewendet werden. Dem nur unwesentlichen Vorteil der kleinen Hauteröffnungen gegenüber anderen Operationsmethoden steht der große Nachteil gegenüber, dass keine ausreichende Inspektion des betroffenen Gewebes möglich ist, sodass u. U. eine bereits bestehende Nekrose übersehen werden kann, die zwangsläufig zur Rezidivoperation mit eindeutig schlechteren Ergebnissen führen muss. 2. Ausreichende Gewebeinspektion, sichere Katheter- bzw. Drainagespülung und gesicherte Sekretableitung sind bei folgendem Operationsverfahren gewährleistet Eine zickzackförmige Hautinzision nach Bruner wird vom Endglied und über den distalen Mittelhandstrahl des betroffenen Fingers gelegt, die Palmarfaszie gespalten und die Sehnenscheide proximal des A1-Ringbandes eröffnet. Die Sehnenscheide wird distal des A4-Ringbandes exzidiert. Dadurch wird vorzeitiges Verkleben und Sekretstau vermieden. Anschließend wird von proximal ein Spülkatheter 1,5–2 cm tief eingebracht und der Sehnenscheidenraum von proximal nach distal mit Kochsalzlösung 0,9% gespült, bis klare Spülflüssigkeit distal austritt. Eine GummipenMohrs-Drainage wird über die Wunde ausgeleitet, nach Aufheben der Blutsperre wird der Zugang mit adaptierenden Hautnähten verschlossen. In den distalen Zugang wird bis an die Beugesehne eine Drainage eingelegt, um die ebenfalls die Haut adaptiert wird. Nach erneutem Testen des Spülvorgangs werden ein lockerer Handverband und eine Unterarmschiene in Funktionsstellung angelegt. Die Nachbehandlung ist aufwendig und erfordert eine tägliche 1- bis 2-malige Spülung mit bis zu 50 ml Ringer-Lösung in den ersten 48 Stunden und Handbäder mit Kamille. Nach Inspektion des
Fingers werden die Drainagen entfernt, wenn die Entzündungszeichen sich vollkommen zurückgebildet haben, anderenfalls wird die Behandlung weiter fortgesetzt. Da das Panaritium tendinosum im Stadium der Phlegmone rasch in die Hohlhand kanalisiert fortgeleitet wird, muss ein entsprechend weiter Zugang gewählt werden (⊡ Abb. 45.12a). Ausreichenden Überblick und die Möglichkeit der Erweiterung des Zugangs in Abhängigkeit vom intraoperativen Befund bietet die Inzision und Schnittführung nach Bruner und je nach Notwendigkeit auch die Spaltung des Karpaltunnels. Dieser Zugang verschafft auch ausreichenden Überblick über die Gefäß-NervenBündel. Bei trübem Sekret und verdickter grauer Synovialis ist die radikale Synovialektomie in der gesamten infizierten Ausdehnung erforderlich. Meist sind in diesem Stadium die Ringbänder noch erhalten und müssen unbedingt geschont werden. Bei Infekt der Beuger, erkennbar am Verlust der glänzenden glatten Oberfläche oder Auffaserung, besteht bei grenzwertigem Befund die Indikation zur Second-Look-Operation. Bei eindeutiger Nekrose der Beuger sind diese entsprechend weit zu resezieren (⊡ Abb. 45.12b), wobei ein Hervorluxieren der Beuger und Zurückschnellen nach der Resektion vermieden werden muss. Nach sorgfältiger Spülung in den Beugerverlauf und Einbringen ausreichender Drainagen (⊡ Abb. 45.12c) erfolgen eine lockere Hautrandadaptation, Handverband und Immobilisation auf palmarer Unterarmschiene mit Finger- bzw. Daumeneinschluss. Antibiotikagabe (Cephalosporine der 2. und 3. Generation bzw. resistogrammgerecht) und laborchemische Kontrollen sind obligatorisch. Auch bei der Sehnenscheidenphlegmone muss auf mögliche Ausbreitungsgebiete geachtet werden, da nach Durchbruch der Sehnenscheide der Hohlhandraum und die Grundgelenke rasch vom Infekt erreicht werden können. 45.2.6 Technik der Behandlung der Infektion
im Bereich des oberflächlichen und tiefen Hohlandraumes Der Infekt des oberflächlichen Hohlhandraumes ist oft Folge von tiefen Stichverletzungen oder Fremdkörpereinsprengungen, mit oder ohne Entfernung. Häufig ist der Infekt dieses Raumes auch Folge von Tierbissverletzungen, wobei das Gebiss des Tieres von ulnar die Streckseite und die Hohlhand in Abwehrstellung der Hand erreicht. Eine weitere Ursache ist die Fortleitung aus einem Schwielenabszess oder die Perforation einer Sehnenscheideninfektion. Bei abgegrenztem, subkutanem Infekt der Hohlhand genügt eine diagonale Inzision über dem Punkt der größten Schwellung. Diese Inzision muss aber auch hier ausreichend weit gelegt werden, um eine sichere Beurteilung und Exzision der Nekrosen zu ermöglichen. Wegen der Struktur des Subkutanraumes der Hohlhand dehnt sich ein Prozess nicht flächig in diesem Raum aus, sondern perforiert zwischen den Fasern der Palmaraponeurose in den oberflächlichen Hohlhandraum. Daher muss bei der Revision einer subkutanen Eiterhöhle eine solche Perforation ausgeschlossen werden. Bei aufgefaserten Strukturen oder Vorwölben der Palmaraponeurose liegt bereits eine Infektion des subaponeurotischen oberflächlichen Hohlhandraumes vor. Dann muss eine zweite Inzision proximal des Karpaltunnels mit Eröffnung des Parona-Raumes erfolgen und von dort eine Drainage in diesen Raum gelegt werden. Meist ist ein solcher distaler und proximaler
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Kapitel 45 · Infektionen
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45 ⊡ Abb. 45.13 Tiefe Hohlhandphlegmone nach offener Karpaldachspaltung. a Planung des Hautschnittes: Falls eine Wunde in diesem Bereich vorhanden ist, wird der Hautschnitt durch diese gelegt: Erweiterung des Hautschnittes nach proximal in Abhängigkeit von der Ausdehnung der Entzündung, b Fensterung bzw. Resektion der Palmaraponeurose und Resektion der betroffenen Beugesehnensynovia, c Erweiterung der Präparation nach proximal in Abhängigkeit von der Ausdehnung der Entzündung. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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Zugang aber nicht ausreichend, da er keine komplette Übersicht gibt und damit eine diesen Raum überschreitende Infektion nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Eine Dekompression des N. medianus ist ebenso ohne Gefährdung des R. palmaris nicht möglich. Sicherer ist dagegen die langstreckige Inzision mit Spaltung des Lig. carpi transversum und Gewinnung eines Überblicks über den gesamten subaponeurotischen Raum. Sofern der Infekt auf diesen Raum begrenzt ist, wird er nach der Inzision drainiert und die Haut über dem Hohlhandbereich locker adaptierend verschlossen. Besonders wichtig ist die Befundbeurteilung im distalen Hohlhandbereich, da hier die Prädilektionsstellen für eine Infektfortleitung zum radialen oder ulnaren tiefen Hohlhandraum durch das lockere Gewebe des Parona-Raums und der Schwimmhäute liegen. Bei Vorliegen eines solchen Befundes reicht der bestehende Zugang für eine sichere Revision und Wunddrainage dieser Räume unter Schonung des oberflächlichen Hohlhandbogens und der GefäßNerven-Bündel und der Finger. Nach Drainage erfolgt wiederum ein locker adaptierender Hautverschluss mit weit auseinander liegenden Einzelknopfnähten. Liegt präoperativ der klinische Befund einer Handrückenschwellung vor, ist bereits eine Infektfortleitung zumeist über die Prädilektionsstelle des lockeren Bindegewebes eingetreten. Wegen der raschen und breitflächigen Ausdehnung einer ödematösen infektbedingten Handrückenschwellung ist es meist nicht möglich, klinisch die Perforation zu lokalisieren. In einem solchen Fall, und wenn intraoperativ bei noch nicht bestehender Handrückenschwellung eine Fortleitung erkannt wird, ist eine weite streckseitige Gegeninzision über dem entsprechenden Raum erforderlich. Der Perforationskanal wird revidiert und nach Débridement und Spülung mit einer Drainage versorgt. Keinesfalls dürfen wegen der resultierenden ungünstigen Narbenbildungen Inzisionen in die Schwimmhäufte gelegt werden. Ausnahme ist eine spontane Perforation der Haut in diesem Bereich. Während eine Infektausbreitung vom tiefen Hohlhandraum in den Daumen oder zu einem Fingerstrahl klinisch präoperativ durch den beugeseitigen Druckschmerz des betreffenden Fingers feststellbar ist und entsprechende weitere Zugänge planbar sind, ist eine Infektausbreitung in die Grundgelenke meist erst intraoperativ fassbar und darf nicht übersehen werden. Das Empyem ist intraoperativ an der Induration des Kapsel-Band-Apparates erkennbar. An den entsprechenden Prädilektionsstellen ist die Synovia des Gelenks vorgewölbt. Die Behandlung erfolgt simultan nach den Richtlinien, die in Abschn. 45.2.9 dargelegt sind (⊡ Abb. 45.13; ⊡ Abb. 45.14). 45.2.7 Technik der Behandlung des Thenar- und
Hypothenarabzesses Der Thenar- und Hypothenarabszess ist meist Folge von Stichverletzungen mit oder ohne Fremdkörpereinsprengung oder von Bissverletzungen. Klinisch sind diese Abszesse erkennbar an der Schwellung, Rötung und Druckschmerzhaftigkeit. Im Gegensatz zu den übrigen Infektionen an der Hand sind die Abszesse durch die Faszienräume innerhalb der Muskulatur begrenzt, können sich aber auch durch Perforation in die Sehnenscheide des Flexor pollicis longus oder durch die Loge de Guyon nach proximal ausbreiten. Bei begrenztem Infekt genügt eine ausreichend weite Längsinzision, Eröffnung der Faszie und Ausräumen des infizierten Gewebes unter Mitnahme der Abszessmembran. Durch
ausreichend weiten Zugang ist gewährleistet, dass Nerven und Gefäße geschont werden und das gesamte infizierte Gewebe exzidiert werden kann. Eine Gegeninzision ist nur bei tiefen Abszessen erforderlich. Stets muss eine sichere Drainage durchgeführt werden. Sofern eine Gegeninzision erforderlich war, ist zusätzlich zur Drainage der Abszesshöhle eine weitere Drainage von der Gegeninzision zur Inzision erforderlich. Um ein zusätzliches Ödem des Gewebes zu vermeiden, wird nach der Spülung ein Austupfen und Austrocknen der Abszesshöhle durchgeführt (⊡ Abb. 45.15, ⊡ Abb. 45.16). Bei Infektionen in diesen Bereichen muss peinlichst auf Säuberung der Muskulatur und Sehnenanteilgewebe von nekrotischem Material und Abszessen geachtet werden. Es muss ausführlich und ausgiebig die Spülung unter Säuberung durchgeführt werden, um die Nekrose, vor allem im Bereich der Daumenballenmuskulatur, zu stoppen, da es sonst unweigerlich zum Untergang der Muskulatur, Adduktionsstellung und Funktionsstörungen kommt. Tägliche Wund- und Laborkontrollen sind obligat und eine notwendige Revision unverzüglich durchzuführen. 45.2.8 Technik der Behandlung der V-Phlegmone
und des infizierten Parona-Raumes Aufgrund der oben dargelegten anatomischen Besonderheiten der Hand kann es bei fortgeleitetem Infekt eines Fingers über den gemeinsamen Sehnenscheidensack der Hohlhand zur Mitbeteiligung eines anderen Fingers kommen. Typischerweise besteht dann meist ein Infekt des Kleinfingers und des Zeigefingers. Da aber Varianten der Sehnenscheiden bestehen, kann auch jeder andere Finger sekundär infiziert werden und eine Penetration in den Parona-Raum eintreten. In diesen Fällen liegt ein schweres bedrohliches Krankheitsbild vor (⊡ Abb. 45.1, ⊡ Abb. 45.17). Die Vakuumversiegelung ist auch an der Hand möglich. Allerdings fördert sie die Entwicklung des Granulationsgewebes, welches wiederum zu Verwachsungen der anatomischen Strukturen und damit zu Bewegungsstörungen führt. Aus diesem Grunde empfehlen wir folgendes Vorgehen: Nach chirurgischem Débridement und Drainage erfolgt eine Adaptation der Wundränder oder Abdeckung der Weichteile falls erforderlich durch Hautersatzmaterialien (z. B. Epigard) sowie tägliche Handbäder und Spülung der Wunde unter Analgetikagabe, wobei ebenso täglich Physiotherapie durchgeführt wird. Durch die Handbäder werden die offenen Räume, die drainiert sind, gespült und durch die lauwarme Flüssigkeit der Handbäder (Kamillenbad) die Schmerzempfindung geringer. Die Physiotherapeuten sind im Stande, aktiv oder assistiert die einzelnen Finger oder das Handgelenk zu bewegen. Nach zunehmender Abschwellung und Rückgang der Infektion können die offenen Wunden sekundär verschlossen oder mit anderen autogenen Transplantaten (Vollhaut, Spalthaut, Lappenplastiken) verschlossen werden. Die kleineren offenen Wunden schließen sich sekundär nach Entfernung der Drainage selbst, sodass in diesem Bereich sehr oft auch in der Hohlhand und im Handrücken keine zusätzlichen plastischen Abdeckungsmaßnahmen erforderlich sind. Nach Handbad und Spülung sowie Physiotherapie werden die Wunden erneut mit nur angefeuchteten Betaisodona-Kompressen oder mit Kochsalz oder Polyhexamid durchtränkten Kompressen bedeckt und auf der entsprechenden Schiene ruhiggestellt und hochgelagert. Ein solches Verfahren begünstigt die Funktion der einzelnen Finger und der Hand, da gleichzeitig täglich Bewegungsübungen durchgeführt werden. Die Antibiotikagabe ist bis zum Rückgang der Entzündung, die klinisch und laborchemisch kontrolliert werden sollte, obligat.
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Kapitel 45 · Infektionen
Palmaraponeurose Sehnenscheide der Fingerbeuger M.flexor pollicis longus
Kammern des Unterhautbindegewebes
Schwielenabszess Palmaraponeurose
Sehnenscheide
a b tiefe Hohlhandphlegmone
tiefe Hohlhandphlegmone Handrückenödem
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Hohlhandphlegmone
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⊡ Abb. 45.14 Hohlhand- und Parona-Raum-Infektion nach einer Karpaltunnelspaltung. a Schema im Querschnitt, b Schema im Sagittalschnitt, c Schema: Ansicht von palmar, d klinischer Befund bei Klinikaufnahme, e intraoperativer Befund nach Abszesssplatung, f postoperativer Befund 3 Tage nach Operation: Funktion nach Handbad mit Kamille und noch belassenen Drainagen: Ansicht von palmar, g postoperativer Befund 3 Tage nach Operation: Funktion nach Handbad mit Kamille und noch belassenen Drainagen: Ansicht von lateral, h postoperativer Befund 3 Tage nach Operation: Funktion nach Handbad mit Kamille und noch belassenen Drainagen: Faustschluss, i klinischer Befund 6 Wochen postoperativ: Ansicht von plamar, j klinischer Befund 6 Wochen postoperativ: Ansicht von lateral, k klinischer Befund 6 Wochen postoperativ: Faustschluss. (Aus Schmit-Neuerburg et al. 2001 [a–c])
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⊡ Abb. 45.15 Thenarphlegmone: Ausbreitungsmöglichkeit auf dem M. adductor pollicis brevis in den Hohlhandbereich. a Schnittführung, b komplette Exzision von entzündlich verändertem Gewebe (»adäquates Débridement«). (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
a ⊡ Abb. 45.16 Hypothenarphlegmone: Entstehung meist infolge direkter Stichverletzung. Die Eiterung liegt in den Septen der Muskulatur. Übergreifen in die Hohlhand möglich. a Schnittführung und Erweiterung der Schnittführung in Abhängigkeit von der Ausbreitung, b komplette Exzision von entzündlich verändertem Gewebe (»adäquates Débridement«) und Erweiterung der Präparation in Abhängigkeit von der Ausdehnung. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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Kapitel 45 · Infektionen
⊡ Abb. 45.17 Ursprung und Ausbreitungswege von Eiterungen: Die aus dem Fingerbereich II–IV stammenden Eiterungen sammeln sich im tiefen Hohlhandbecken (»tiefe Hohlhandphlegmone«). Von hier ist der Einbruch in den ulnaren Sehnenscheidensack mit Durchbruch in die Unterarmregion auf der Membrana interossea oder das Unterkriechen des Sehnenscheidensackes bis zur Unterarmregion möglich. Die Thenar- und Hypothenarphlegmone entstehen i. Allg. durch direkte Infektionen und können ebenfalls zu tiefen Hohlhandphlegmonen führen. Besteht eine Phlegmone der Sehnenscheide des 1. oder 5. Fingers, so ist die Gefahr einer V-Phlegmone gegeben durch Einschmelzen der sehr dünnen Trennwand zwischen radialer und ulnarer Sehnenscheide mit allen weiteren Komplikationsmöglichkeiten. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
45.2.9 Technik der Behandlung der Gelenkinfektion
(Panaritium articulare)
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Bei der klinischen Untersuchung des Panaritium articulare fällt die spindelförmige Verdickung der Kapselbandstrukturen bedingt durch die Synovialitis und das Ödem auf. Es besteht ein Spontanund Bewegungsschmerz sowie ein axialer Zug- und Stauchungsschmerz. Das Gelenk wird in leichter Beugestellung gehalten. Bei offener Gelenkverletzung mit nachfolgender Infektion besteht anfangs eine geringere Beschwerdesymptomatik, da das Gelenk über die Verletzung drainiert ist. Außerdem verläuft anfangs die entzündliche Destruktion des Knorpels langsamer und die Knorpelerweichung tritt später ein. Ein einheitliches therapeutisches Konzept, das bei der Diagnose Panaritium articulare bindend einzuschlagen ist, kann nicht
vorgeschlagen werden. Die empfohlenen therapeutischen Maßnahmen reichen je nach Infektionsausbreitung vom konservativen Zuwarten mit engmaschigen klinischen Kontrollen, diagnostischtherapeutischer Punktion und Antibiotikainstillation über Arthrotomie mit Einlegen einer Dauerdrainage und Spülbehandlung bis zur primären definitiven Arthrodese und bei gleichzeitig bestehender massiver Knochendestruktion zur primären Amputation des Fingers. Am Handgelenk besteht zusätzlich die Möglichkeit der Arthroskopie mit arthroskopischer Synovialektomie und Drainageeinlage, diese ggf. als Spül-Saug-Drainage. Konservative Behandlung Sie ist nur indiziert, wenn Beschwerden und Symptomatik schleichend begonnen haben und erst kurzfristig bestehen. Das Gelenk wird in kühlendem Verband in der sog. Intrinsic-plus-Stellung
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immobilisiert und die Antibiotikatherapie eingeleitet. Die beim zuverlässigen Patienten ambulant durchführbare Behandlung erfordert die engmaschige, d. h. tägliche Befundkontrolle. Unter diesen Bedingungen darf die konservative Behandlung nur fortgesetzt werden, wenn eine Besserungstendenz des Lokalbefundes besteht, der Patient geringere Beschwerden angibt und die Laborbefunde rückläufig sind. Um bei Befundverschlechterung sofort die operative Behandlung einzuleiten, sollte sich der Patient zu den Kontrolluntersuchungen täglich nüchtern vorstellen. Diagnostisch-therapeutische Punktion Bei grenzwertigem Befund für die konservative Therapie ist die Punktion eines Gelenks und Aspiration von Synovialflüssigkeit weiterführend: 1. Punktat kann in klar-viskös oder zähflüssig differenziert werden, 2. die Gewinnung von Abstrichmaterial ist möglich, 3. nach Abpunktieren kann über eine zweite bereitgehaltene Spritze sofort ein bakterizides Antibiotikum, z. B. Gentamycin, in das Gelenk instilliert werden. Die Punktion der Gelenke der Phalangen wird von dorsolateral in Streckstellung durchgeführt. Nach diagnostisch-therapeutischer Punktion erfolgt die Weiterbehandlung entsprechend den Richtlinien der konservativen Behandlung mit Immobilisation, Hochlagern, Antibiotikatherapie und Befundkontrollen. Besser und zu empfehlen ist jedoch: Arthrotomie und Spülbehandlung Die Indikation zur Arthrotomie als Notfalloperation ist gegeben bei: 1. anamnestisch bestehendem Verdacht oder röntgenologischem Nachweis einer Fremdkörpereinsprengung, 2. Gelenkinfekten infolge Fortleitung aus einem anderen infizierten Gebiet, 3. perforierenden Verletzungen, 4. röntgenologischem Nachweis eines subchondralen Knocheninfekts und 5. Gewinnung eines trüben eitrigen Punktates bei der diagnostischen Punktion, 6. positiver Bakteriologie, 7. Stillstand oder Verschlechterung des Befundes bei konservativer Behandlung. Der Zugang zum infizierten Gelenk ist in der Regel von dorsal und bogenförmig, über den Endgelenken türflügelartig zu legen. Nach Längsinzision der Streckaponeurose und Synovialektomie wird das Gelenk nach Abstrichentnahme gespült. Nach Drainage des Gelenks, Naht der Streckaponeurose mit 5/0-PDS-Einzelnähten und Hautnaht wird der Eingriff beendet. Alternativ dazu kann auch eine Spülbehandlung über Verweilkatheter durchgeführt werden. Nach Synovialektomie wird über eine gesonderte Hautinzision oder durch Hautpunktion von innen nach außen ein dünner Katheter in das Gelenk platziert, der durch eine Ausziehnaht transkutan fixiert wird. Als Wunddrainage wird eine größenadaptierte Easy-Flow-Drainage auf der Streckseite des Gelenks eingelegt und über die Hautwunde ausgeleitet. Die weiteren operativen Schritte entsprechen denen der Arthrotomie und Spülbehandlung, ebenso die Nachbehandlung, ergänzt durch tägliche sterile Spülung des Gelenks für 3–5 Tage, evtl. mit Antibiotikazusatz (z. B. Gentamycin). Der Spülkatheter sollte 24 Stunden vor der Drainage entfernt werden. Erfolgversprechend sind die bisher dargelegten Methoden nur bei erhaltenem Gelenkknorpel.
Bei Knorpelerweichung, Abschiebbarkeit des Knorpels, Knorpeldefekten und subchondralen Erweichungen ist die Indikation zur Arthrodese gegeben.
Primäre Arthrodesen bei Infektarthritis mit Knorpeluntergang Arthrodese mit axial oder diagonal eingebrachtem Kirschner-Draht Diese Methode sollte nur angewendet werden, wenn aus technischen Gründen keine anderen Möglichkeiten bestehen. Die meist dadurch entstehenden Ankylosen sind selten beschwerdefrei. Schraubenarthrodese Eine sichere, definitive Schraubenarthrodese bei Infektarthritis ist nur dann indiziert, wenn nach Resektion der Gelenkflächen blande, gut durchblutete und stabile Osteotomieflächen aufeinandergestellt und durch die Zugschraube unter Kompression gebracht werden können und somit Ruhe in das Gelenk gebracht werden kann. Fixateur-externe-Arthrodese Definitive Arthrodese. Der prinzipielle Vorteil bei der Fixateur-externe-Arthrodese besteht darin, dass im Gegensatz zur Kirschner-Draht- und Schraubenarthrodese die Knochenschrauben außerhalb des Infekts im Knochen liegen. Bei Einsatz des Minifixateurs ist außerdem die Möglichkeit der kontrollierten Kompression durch die Spannbacken gegeben. Sofern eine definitive Fixateur-externe-Arthrodese angestrebt wird, sollte daher diesem Minifixateur-externe-Modell der Vorzug gegeben werden.
Operationstechnik der Minifixateur-externe-Arthrodese der Endgelenke. Nach Luxieren der Basis des Endgliedknochens wird mit oszillierender Säge die Gelenkfläche reseziert. Die Osteotomie sollte nicht mit Luer durchgeführt werden, da dabei die Gefahr der Knochensplitterung besteht. Mit diesen Instrumenten werden nur kleine Knochenreste reseziert. Ebenfalls mit oszillierender Säge erfolgt die Osteotomie des Köpfchens des Mittelgliedknochens. Die Resektionsebene wird so gelegt, dass die resultierende Arthrodese einen Winkel von 5° bildet. Die danach noch verbleibenden Gelenkreste an der Streckseite und palmar werden vorsichtig mit Liston oder Luer geglättet. Es empfiehlt sich, zunächst die Basis des Endgliedknochens zu resezieren, da ein falscher Osteotomiewinkel durch entsprechend angepasste Osteotomie im Bereich des Köpfchens leichter ausgeglichen werden kann. Es können auch kortikospongiöse Blöcke interponiert und die Defekte überbrückt werden. Über gesonderte Hautinzisionen radial und ulnar des proximalen Endgliedes wird das Gewebe mit spitzer Schere bis zum Knochen gespreizt und nach Legen eines Bohrkanals eine Knochenschraube mit mittelständigem Gewinde eingedreht. Über einen parallelen Bohrkanal wird eine gleichartige Knochenschraube gelegt. Nach Belegen der Knochenschrauben mit gekröpften oder geraden Seitenbacken radial und ulnar wird der Fixateur dreidimensional ausgebildet (⊡ Abb. 45.18d,e). Die beiden Knochenschrauben im Mittelgliedknochen sollten möglichst weit auseinander, zueinander parallel von dorsolateral eingebracht werden. Auch einfachere unilaterale Montage bei festem Knochen ist möglich. Durch diese Fixateurmontage wird Folgendes erreicht: ▬ Korrekturmöglichkeit in allen Ebenen, ▬ Kompression der Arthrodese mit der Möglichkeit des Nachspannens, ▬ geringstmögliche Behinderung der Nachbarfinger.
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Kapitel 45 · Infektionen
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⊡ Abb. 45.18 Technik der Behandlung eines Panaritium articulare. a Planung des Hautschnitts: Eröffnung des Gelenks mit einem bogenförmigen dorsolateralen Hautschnitt, b Eröffnung des Gelenks über einen seitlichen Längsschnitt durch die Strecksehnenaponeurose, c Synovektomie und Spülung des Gelenks, d Konstruktion eines Minifixateurs mit uneingeschränkt in alle Richtungen schwenkbaren Backen zur Arthrodese des DIPGelenks eines Zeigefingers wegen Panaritium articulare und beginnendem Panaritium tendinosum nach offener Gelenkverletzung. Transfixation bis zum Grundglied wegen geschlossener Mittelgliedfraktur: palmare Ansicht, e dorsale Ansicht. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm [a–c])
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Definitive Arthrodese der Mittelgelenke der Finger. Bei
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prinzipiell gleichem operativen Vorgehen unterscheidet sich die Arthrodese mit Fixateur externe der PIP-Gelenke im Wesentlichen dadurch, dass hier zur Erreichung eines kompletten Faustschlusses die Gelenkresektion so durchgeführt wird, dass Grund- und Mittelgliedknochen einen Winkel von etwa 30° nach palmar bilden. Der Winkel wird durch entsprechende Osteotomie im Bereich des Köpfchens festgelegt. Eine ausreichende Stabilität der Arthrodese wird durch Minifixateur als zweidimensionaler Klammerfixateur mit parallelen Doppelstangen erreicht.
Zweizeitiges Vorgehen Sobald die Infektarthritis durch Fortleiten der Entzündung zu subchondralen Osteolysen geführt hat und nach Gelenkresektion und Ausräumen der Knochennekrosen ein für die direkte Arthrodese zu langstreckiger Defekt resultiert, wird der Defekt mit einer PMMA-Minikette oder einem Teil davon aufgefüllt, wobei die PMMA-Minikette als Platzhalter für die sekundäre Rekonstruktion
e
mit Knochenspaninterposition dient. Die Stabilisierung erfolgt in gleicher Weise wie bei der direkten Arthrodese (⊡ Abb. 45.18) 45.2.10 Technik der Behandlung der
Knocheninfektion (Panaritium ossale) Beim Panaritium ossale besteht unabhängig von der Genese ebenfalls eine Schwellung und Rötung der Weichteile in Höhe des Herdes mit pochendem Spontanschmerz, der nachts intensiviert ist. Die Lokalisation des Panaritium ossale ist am häufigsten die Endphalanx nach perforierender bemerkter oder unbemerkter Stichverletzung mit oder ohne Fremdkörpereinsprengung. Im Bereich des Grund- und Mittelgliedes ist das Panaritium ossale meist fortgeleitet aus einem Infekt des benachbarten Gelenks oder aus einer Sehnenscheidenphlegmone oder nach schweren offenen Verletzungen. Osteolysen werden durch die Röntgenuntersuchung nachgewiesen. Die Art der Knocheneinschmelzung, Sequesterbildungen
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und eventuelle Fremdkörper sind am besten durch Röntgenuntersuchungen in 2 ggf. 3 Ebenen mit Zentralstrahl auf dem betroffenen Gliedmaßenabschnitt beurteilbar. Gelegentlich ist ein CT, seltener ein MRT, erforderlich. Konservative Behandlung ist nur indiziert im Frühstadium der primären pyogenen Knocheninfektion beim Jugendlichen. Die Behandlung erfolgt durch strenge Immobilisation und hochdosierte antibiotische Behandlung. In allen anderen Fällen, insbesondere wenn röntgenologisch Knochenarrosionen subperiostal, Sequesterbildungen oder Osteolysen bestehen, ist ausschließlich die operative Therapie indiziert. Nach entsprechendem Zugang in Abhängigkeit von der Lokalisation werden randständige Veränderungen im Niveau des Periostes oder der äußeren Kortikalis abgetragen, bis vitaler Knochen erreicht ist. Bei demarkierter Sequesterbildung oder Osteolysen muss bei intakter Kortikalis diese gefenstert und der nekrotische und eingeschmolzene Knochen entfernt werden. Die entstehende Höhle wird gespült und anschließend je nach Ausmaß des Knochendefektes ein Teil oder eine gesamte PMMA-Minikette implan-
⊡ Abb. 45.19 Technik der Versorgung eines Pararitium ossale. a Technik der Transfixation zweier Fingerstrahlen mit universell einsetzbarem Minifixateur wegen Panaritium ossale des Mittelgliedes des Mittelfingers und beginnendem Infekt des Thenarraumes. Nach Nekrosektomie Implantation einer PMMA-Minikette in den Knochendefekt. Nach 6 Wochen Knochenrekonstruktion und Erhalt des in seiner Gesamtlänge verbliebenen Fingers nach Amputationsverletzung, b Beispiel einer radiometakarpalen I-V-Transfixation nach Nekrosektomie wegen ausgedehntem Knochen- und interkarpalem Gelenkinfekt nach Durchschussverletzung der Handwurzel, danach rascher Rückgang der lokalen Entzündungszeichen und der Schmerzen
tiert. Alternativ kann hier ebenfalls eine Spülbehandlung für die Dauer von 8 Tagen mit einem Zusatz eines bakterizid wirkenden Antibiotikums durchgeführt werden. Die primäre Auffüllung eines solchen Knochendefektes führt immer zur Einschmelzung der eingebrachten, auch autologen Spongiosa. Entsteht durch die Dekortikation und Sequesterotomie bzw. Kortikotomie eine Instabilität des Knochens, ist die Indikation zur Fixateur-externe-Stabilisierung gegeben (⊡ Abb. 45.19a). Die Knochenschrauben sollten möglichst weit vom Entzündungsprozess eingebracht werden. Bei basis- oder köpfchennahen Knochendefekten ist dann u. U. die Transfixation des betreffenden Gelenks erforderlich. Dann sollte die Transfixation in der Intrinsic-plusStellung des Gelenks erfolgen. Die Knochenrekonstruktion sollte erst nach vollständiger Rückbildung der Entzündungszeichen und Normalisierung der Entzündungsparameter durchgeführt werden, in der Regel 6–8 Wochen nach dem Ersteingriff. Bei pyogener Infektion der Karpometakarpal- oder Interkarpalgelenke und bei pyogenen Infekten der Handwurzel sind die gleichen Behandlungsprinzipien wie bei den Infekten der Gelenke oder der Knochen im
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Kapitel 45 · Infektionen
⊡ Abb. 45.20 a,b Einsatz der Gentamycin-Folie bei Infekt an der Strecksehne
a
Bereich der Phalangen und der Mittelhand durchzuführen. Auch hier ist nur durch radikale und vollständige Ausräumung der Eiterherde, Nekrosektomien und Sequesterotomien eine Sanierung erfolgreich. Nur bei umschriebenen eitrigen Prozessen, nach deren Ausräumung keine Bandinstabilitäten eingetreten sind, ist die Immobilisation auf palmarer Unterarmschiene mit Finger- bzw. Daumeneinschluss ausreichend. Liegen Instabilitäten vor, wird eine radiometakarpale Transfixation mit Kleinfragmentfixateur erforderlich. Ebenso nach einer Nekrosektomie aus dem Bereich der gesamten Handwurzel oder aller Karpometakarpalgelenke. Diese wird mit dem Kleinfragmentfixateur vom mittleren und distalen Radius ausgeführt mit V-förmiger Verlängerung zum 2. und 5. Mittelhandknochen. Die Fixation der Mittelhandknochen 3 und 4 wird mit Knochenschrauben zu einer Querverbindung der Vförmigen Fixateurstangen erreicht (⊡ Abb. 45.19b). 45.2.11 Technik der Behandlung mit Folie
Gentamycin-Kollagen-Folie (Genta-Coll Resorb Foil, Fa. Resorba). Die sehr dünne Antibiotika-haltige Folie kann bei Infektionen an der Hand in enge Räume, z. B. zwischen Knochen und Strecksehne und über die Strecksehne oder in Gelenke, eingelegt werden und somit neben dem antibiotischen Effekt auch Adhäsionen der Sehnen verhindern (⊡ Abb. 45.20). 45.3
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Fehler, Gefahren und Komplikationen
Sowohl bei der konservativen als auch der operativen Behandlung von Infekten an der Hand können Komplikationen auftreten, die das funktionelle und ästhetische Ergebnis erheblich beeinträchtigen. Wenn eine adäquate konservative Behandlung eingeleitet ist und diese Behandlung konsequent durchgeführt wird, ist trotzdem ein Fortschreiten des Infekts in die entsprechenden Ausbreitungswege möglich. Dieses ist bereits als Komplikation zu werten, während eine umschriebene Befundverschlechterung noch keine Komplikation darstellt, wenn die operative Behandlung dann rechtzeitig eingeleitet wird.
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▬ Die oberflächliche Infektion kann zur tiefen pyogenen Infektion führen. So kann z. B. aus einer Paronychie ein Panaritium ossale des Endgliedes entstehen, da der Infekt rasch das Periost erreichen kann. Gleiches gilt für den übersehenen Kragenknopfabszess des Endgliedes, während ein solcher in Höhe des Mittel- und Grundgliedes eher zum Panaritium tendinosum führen kann. ▬ Eine Befundverschlechterung unter adäquater konservativer Behandlung kann auch durch Erregerwechsel oder resistenzbedingt verursacht sein. Auch bei der operativen Therapie ist jederzeit eine weitere Infektausbreitung möglich, die während der unmittelbaren postoperativen Phase wegen der schmerzbedingt eingeschränkten Beurteilbarkeit übersehen werden kann. Wechsel des Schmerzcharakters und Zunahme von Beschwerden sind Hinweise auf eine Infektprogredienz. ▬ Perfusionsstörungen können sowohl durch septische Thrombosen auftreten als auch durch Gefäßläsionen durch fehlerhafte Operationstechnik. Solche technischen Schwierigkeiten werden begünstigt durch ungünstige Zugänge und Unübersichtlichkeit des Situs sowie durch fehlende Lupenbrille oder unzureichende Blutsperre. Neben einer Gefäßläsion sind auch Verletzungen der Nerven möglich, da durch die infektbedingte Schwellung eine Verlagerung der Gefäß-Nerven-Bündel vorliegen kann. ▬ Oberflächliche oder Vollhautnekrosen können infektbedingt sein oder sind Folge von peripheren Durchblutungsstörungen beim Raucher oder ungünstigen Lappenbildungen durch den operativen Zugang. Der postoperative Verlauf kann auch durch Instabilitäten bei Fixateur-externe-Osteosynthese, Transfixation oder Arthrodese bedingt sein oder durch später eintretende Lockerung der Knochenschrauben durch Pininfekt. Als Spätkomplikation muss das Auftreten einer sympathischen Reflexdystrophie (CRPS) eingestuft werden, begünstigt durch schmerzhafte Behandlungen oder lang andauernde Schmerzzustände. Spätkomplikationen sind auch die Ausbildung von trophi-
1275 45.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
schen Störungen nach Gefäß- oder Nervenläsionen oder durch falsche Schnittführung, wie z. B. die trophisch gestörte Fingerbeere nach Fischmaulinzision des Endgliedes. Während der gesamten Behandlung bei einem putriden Infekt an der Hand drohen Fehler, die je nach Art und Schwere zu funktionell und kosmetisch schlechtem Ergebnis, verlängerter Morbidität, Gefährdung der Hand oder sogar z. B. bei Immunsuppression zur vitalen Gefährdung führen können. ▬ Zu Beginn einer konservativen oder operativen Behandlung führt eine unvollständige Untersuchung der gesamten Hand zur Fehleinschätzung der Schwere der Infektion der Hand und damit u. U. zur Fehlindikation für eine konservative Behandlung. Wenn die Operationsindikation gestellt ist, führen ungenügende Befunderhebung, unvollständige Dokumentation der Befunde oder Übermittlungsfehler zu intraoperativen Schwierigkeiten. Dies kann vermieden werden, wenn die Befunderhebung vom Operateur oder dem verantwortlichen Assistenten vor Einleiten einer Narkose durchgeführt wird. Vor der Untersuchung sind Ringe wegen der möglichen zusätzlichen Durchblutungsgefährdung durch die Schwellung zu entfernen, ebenso Nagellack, damit der Kapillarpuls der Nagelbetten beurteilbar ist. ▬ Die Aufklärung des Patienten muss vollständig sein und er muss insbesondere über mögliche Komplikationen unterrichtet werden. Außerdem soll eine mögliche Erweiterung des Eingriffs entsprechend dem intraoperativen Befund besprochen sein. Eine unvollständige Anamneseerhebung kann zur Fehlbehandlung führen, wenn z. B. ein foudroyanter Verlauf der Infektion vorliegt oder eine plötzliche Befundverschlechterung nach protrahiertem Verlauf besteht. Anamnestisch ist ebenfalls zu erheben, ob das soziale Umfeld und die hausärztliche Nachbehandlung für eine ambulante Behandlung geeignet sind, andernfalls sollte auch bei leichten Infekten eine kurzfristige stationäre Behandlung durchgeführt werden. Auch über mögliche folgende Eingriffe sollte gesprochen werden. ▬ Die unterlassene präoperative Röntgendiagnostik kann zur Fehlbehandlung bei Knocheninfekt und Fremdkörper führen. Selten liegt eine Superinfektion mit Clostridium perfringens vor, die im Röntgenbild durch Auffiederung z. B. der Thenarmuskulatur erkennbar wird und nach operativer Behandlung die hyperbare Sauerstofftherapie erfordert. > Außer bei oberflächlichen pyogenen Infekten darf der Eingriff nicht nebenbei als »kleine Chirurgie« durchgeführt werden, sondern muss unter gesicherten Bedingungen als Notfalleingriff erfolgen durch einen an der Hand Erfahrenen nach entsprechenden handchirurgischen Prinzipen (Blutsperre, Lupe, Instrumente).
Während der unmittelbaren postoperativen Phase drohen Gefahren und Fehler durch unzureichende Schienung und inkonsequente Immobilisierung. Meist ist eine palmare Unterarmgipsschiene mit Fingereinschluss und ggf. anmodelliertem Steigbügel indiziert, während die konfektionierte Böhler-(Finger-)Schiene nur bei Infekten des Endgliedes oder oberflächlichen Defekten an einem Finger ausreichend ist. Um Druckschäden zu vermeiden, müssen alle Verbände gespalten und gepolstert locker angelegt werden. Trotzdem müssen die Durchblutung und die Sensibilität postoperativ kontrolliert werden, und der Patient muss über eine mögliche Kompartmentsymptomatik aufgeklärt sein. Die Lagerung der im-
mobilisierten Hand sollte auf einem Keil in gestreckter Position durchgeführt werden. Armtragetuch oder Basler Armtuch behindern durch die Beugestellung im Ellenbogengelenk den Lymphabfluss und können einschnüren.
▬ Unzureichende Analgesie im Rahmen der Verbandswechsel
kann zu inkonsequentem Vorgehen mit fehlender Drainagemobilisierung, Spülung und Durchbewegen der Gelenke führen. Verstopfte Drainagen führen zum Infektrezidiv, mangelnde Mobilisierungen führen zu Verklebungen und später Verwachsungen.
▬ Bei Spülbehandlungen darf das Spülmedium nicht unter
Druck zugeführt werden. Zusätzliches Ödem führt zur Ver-
schlechterung der Durchblutung.
▬ Alarmzeichen für einen gestörten postoperativen Verlauf sind zunehmende Schmerzen mit Störung der Nachtruhe oder
Wechsel des Schmerzcharakters. Aber auch die Besserung der Beschwerden ist ein Alarmsignal und kann tatsächlich eine Befundverschlechterung bedeuten, wenn z. B. durch die Druckentlastung infolge Infektperforation in die Beugesehnenscheide die Schmerzen nachlassen. Das Nichtbeachten dieser Alarmzeichen bedeutet verspätete Reaktion auf eine vorliegende Befundverschlechterung. An Kompression im Karpalkanal bei Infektionen muss gedacht werden. Zeitlich zu lang belassene Spülkatheter und Drainagen können die Wundränder arrodieren und wirken als Fremdkörper. Die vielmals rasch verklebenden Wundränder und verstopfte Drainagen führen zum Verhalt und können dadurch ein Infektrezidiv verursachen. ▬ Durch Ausbleiben des mikrobiologischen Untersuchungsergebnisses wird die zunächst ungezielte Antibiotikatherapie ggf. zu spät umgesetzt, sodass Resistenzen entstehen können. Gründe dafür können unterlassener oder verzögerter Versand und eine unzureichende Information des Mikrobiologen sein. Bogensehnenphänomene können durch Verletzung oder Verlust der Ringbänder bei Infektion entstehen, die dann bei der sekundären Rekonstruktion wieder hergestellt und behoben werden müssen (»bow stringing«). Länger bestehende Infektionen in der Hohlhand können zu massiver Blutung durch Arrosion des Hohlhandbogens führen, die entsprechend rechtzeitig revidiert werden müssen. Bei der Infektion muss in diesem Zusammenhang auch an ein Erysipel gedacht werden. Durch Thrombosierung der Fingerarterien kann auch einmal eine Fingernekrose entstehen, die als Komplikation der Infektion angesehen werden muss. Bei schwerer Infektion im Bereich des Thenars kann es auch zu Nervenverletzungen des Ramus thenaris, des Nervus medianus kommen, die sowohl durch Infektion als auch durch die Operation verursacht sein kann. Eine Hypästhesie und Parästhesie der Finger kann ebenfalls nach Infektion an der Hand entstehen, die nur langsam wiederhergestellt und durch Eingewöhnung weniger störend wirken. Durch die Verklebung der tiefen Beugesehnenhohlhand und Fesselung der benachbarten Sehnen kann auch das QuadrigaPhänomen entstehen. Durch Verlust von Teilen der Strecksehnen kann eine Knopflochdeformität an den Fingern auftreten.
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Kapitel 45 · Infektionen
Weiterführende Literatur
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1277 45.3 · Weiterführende Literatur
XI
Verbrennung
46
Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand Walter Künzi, Merlin Guggenheim (Mit einem Beitrag von Lars-Peter Kamolz)
– 1279
45 XI
1279 45.3 · Weiterführende Literatur
Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand Walter Künzi, Merlin Guggenheim (Mit einem Beitrag von Lars-Peter Kamolz)
46.1
Allgemeines – 1280
46.1.1 46.1.2 46.1.3 46.1.4 46.1.5 46.1.6 46.1.7 46.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie – 1280 Epidemiologie – 1281 Ätiologie – 1282 Diagnostik – 1286 Klassifikation – 1292 Indikationen und Differenzialtherapie – 1292 Therapie – 1294 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1309
46.2
Spezielle Techniken
46.2.1 46.2.2 46.2.3 46.2.4 46.2.5 46.2.6 46.2.7
Escharotomie und Fasziotomie der oberen Extremität – 1310 Tangentiale Exzision nach Janzekovic – 1311 Totale oder epifasziale Exzision – 1312 Granulationsmethode – 1312 Spalthautentnahme – 1313 Vollhautentnahme – 1314 Technik der Deckung von Handdefekten mithilfe eines artifiziellen Dermisersatzes (Matriderm und Spalthaut – 1314
– 1310
46.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1316
46.4
Kälteschaden (Erfrierung) – 1317
46.4.1 46.4.2 46.4.3
Epidemiologie – 1318 Generalisierte Hypothermie – 1318 Lokaler Kälteschaden (Erfrierung) – 1318
Weiterführende Literatur
– 1320
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
46
1280
46.1
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Allgemeines
Über die Behandlung von Brandverletzten gibt es einige umfangreiche und gute Lehrbücher. In diesem Buchkapitel soll versucht werden die Problematik der »isolierten« Handverbrennung zu erörtern. > Isolierte Handverbrennungen sind solche mit einer verbrannten Körperoberfläche (VKOF) von bis zu 10%.
Es handelt sich um ein völlig heterogenes Patientengut: Darunter fallen alle Bagatellunfälle, die vom Hausarzt behandelt werden können, alle kleinen aber tiefen Verbrennungen nach Niedervoltunfällen, die oft nur 1% VKOF aufweisen, alle Kontaktverbrennungen 3. Grades, die meist isoliert vorkommen, alle heimtückischen chemischen Verletzungen, die oft nur kleinste Hautareale betreffen. In diesem Kapitel wird versucht, dem Chirurgen Entscheidungshilfen zur korrekten Therapie bei thermischen, elektrischen und chemischen Verletzungen der Hand zu geben. Fragen wie: Krankenhausbehandlung (Zentrum oder peripheres Krankenhaus) oder ambulante Behandlung, konservativ oder operative Behandlung, spezielle chirurgische Techniken, Probleme der Nachbehandlung sowie spezielle Gefahren bei Handverbrennungen werden erörtert. Die Hand ist neben dem Gesicht das »soziale Zentrum«. Sie ist auch das wichtigste Arbeitswerkzeug. Helm (1986) errechnete einen durchschnittlichen Arbeitsausfall von 19 Wochen bei 70 Patienten mit oberflächlich oder tiefen Verbrennungen 2. Grades an den Händen. Abhängig ist der Arbeitsfall von der Tiefe der Verbrennung (konservative oder operative Therapie) und, einleuchtend, ob eine oder beide Hände betroffen waren. Bei 196 überlebenden Patienten einer retrospektiven Zürcher Studie (1997 bis 2001) mit Handverbrennungen 2. Grades wurde eine Arbeitsunfähigkeit von durchschnittlich 133,4 Tagen, also genau 19 Wochen, berechnet, was die Resultate von Helm bestätigt. Solche Zahlen bestätigen nur die ökonomische Bedeutung der Handverbrennung 2. Grades. Die zwischenmenschlichen Probleme die durch Handverbrennungen, vor allem 3. und 4. Grades, die in den obigen Studien bezüglich der Wiederaufnahme der Arbeit oder einer Invalidität gar nicht untersucht wurden, auftreten, können wir nur erahnen und nicht mit Zahlen festhalten. All dies macht klar, dass der Chirurg der Handverbrennungen behandelt, eine große Verantwortung für den Patienten auf sich nimmt. Es geht bei der Behandlung der isolierten Handverbrennung, die nicht lebensbedrohlich ist, darum, das bestmögliche funktionelle und ästhetische Resultat zu erzielen. 46.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
Hauttypen im Handbereich
46
Anatomisch gliedert sich die Haut in Epidermis, Dermis und Subkutis. Die Epidermis, bestehend aus Schichten von Keratinozyten, die in der Dermis fest verankert sind, schützt den Körper vor Wasserverlust und bakterieller Besiedelung. Die Dermis verleiht der Haut Geschmeidigkeit, Widerstandsfähigkeit und ist für die Thermoregulation und Sensibilität verantwortlich. Im histologischen Aufbau zwar ähnlich bestehen an der Hand und am Fuß aber zwei verschiedene Hauttypen: die dünne Felderhaut dorsal und die dickere Leistenhaut palmar ( Kap. 35)
Palmare Leistenhaut. Die palmare Leistenhaut hat eine Dicke von 2–3 mm. Sie ist durch die typischen Papillarleisten leicht von der Felderhaut zu unterscheiden. Durch straffe Retinakula ist sie in der Palmaraponeurose verankert und lässt sich dadurch
weder in Falten abheben noch verschieben. Dichtgewebte Verbindungsfasern durchsetzen das subkutane Fettgewebe unter Bildung kleiner Kammern. Leistenhaut ist frei von Haaren und damit auch Talgdrüsen, besitzt aber eine hohe Dichte von Schweißdrüsen, bis 373 pro cm2. Leistenhaut hat eine hohe Anzahl von Tastkörperchen und freien Nervenendigungen, eine ähnlich hohe Dichte findet man nur noch an den Lippen und der Zunge. Dies erklärt die exzellente 2-Punkte-Diskrimination, die an den Fingerbeeren um 2 mm besteht und gegen die Handinnenfläche auf etwa 5–8 mm ansteigt. Diese Fähigkeit macht die Hand zur Zentrale der epikritischen Sensibilität. Die palmare Haut ist äußerst gut durchblutet.
Felderhaut. Die dorsale Felderhaut ist mit einer Dicke von 1,2– 1,5 mm dünner als die Leistenhaut. Sie ist behaart und demzufolge mit Talgdrüsen bestückt. Da die für die Leistenhaut typischen Verzahnungen fehlen, kann sie in Falten abgehoben werden und ist leicht verschiebbar. Die Subkutanschicht ist auf ein Minimum reduziert und bildet die funktionell wichtige Gleitschicht für die Strecksehnen sowie die Transitstrecke für die dicken dorsalen Venen und begleitenden Lymphgefäße.
Handchirurgische Überlegungen zur Anatomie Die Handinnenfläche ist zum Greifen und Erkennen (taktile Gnose) von Gegenständen ideal gebaut: Die Verzahnung der Haut erlaubt erst Gegenstände fest zu ergreifen. Unterstützt wird diese Funktion noch durch die hohe Anzahl von Schweißdrüsen als eine Art »Antigliss«. Die Kammern im Fettgewebe schützen die anfälligen tieferen Strukturen wie Nerven, Gefäße und Sehnen beim Krafteinsatz. Die hohe Anzahl an Tastkörperchen und freien Nervenendigungen erklärt die exzellente 2-Punkte-Diskrimination, die an den Fingerbeeren um 2 mm beträgt und gegen die Handinnenfläche auf etwa 5–8 mm ansteigt. Diese Fähigkeit macht die Hand zur Zentrale der epikritischen Sensibilität. Der Handrücken mit seiner dehnbaren Felderhaut und dünnen subkutanen Gleitschicht erlaubt eine problemlose Flexion und Extension aller Gelenke. Dafür ist nicht nur die dehnbare Felderhaut verantwortlich, sondern auch die subkutane Gleitschicht für die Strecksehnen. Daraus wird klar, dass Verbrennungen der Handinnenfläche und des Handrückens was Epidemiologie, Diagnose, Behandlung und Funktion anbelangt zwei verschiedene Verletzungen sind. Bei Verbrennungsunfällen wird die Hand meist als Schutzschild vor das Gesicht gehalten oder hält einen Gegenstand in der Hand. Beides führt dazu, dass der Handrücken viel häufiger als die Handinnenfläche verbrennt. Bei Verbrennungen der Handinnenfläche handelt es sich fast ausschließlich um Kontakt- und Elektroverbrennungen. Bei Verbrennungen des Handrückens dagegen sind Flammen- und Verbrühungsunfälle die häufigsten. Die palmare Leistenhaut ist deutlich dicker als die dünne Felderhaut dorsal und darum hitzeresistenter, ein Grund, dass tiefe Verbrennungen dort seltener sind. Die Leistenhaut ist auch »chirurgenfreundlicher«, sie heilt besser als die sensiblere dünne Felderhaut. Da die Sehnen und Gelenke palmar viel besser gepolstert sind als dorsal kommt es bei palmaren Verbrennungen nur selten zu Sehnenadhäsionen und arthrogenen Problemen. Dorsal dagegen liegen Sehnen und Gelenke direkt unter der dünnen Haut und werden darum sehr häufig tangiert. Betrachtet man die Anatomie der Leistenhaut ist es einleuchtend, dass ein Ersatz mit ähnlichen herausragenden Eigenschaften, wie von der Natur geschaffen, chirurgisch unmöglich ist. Lappen, frei oder gestielt, schwabbeln in der Handfläche und erlauben damit kein festes Zugreifen mehr, ganz zu schweigen von der mise-
1281 46.1 · Allgemeines
rablen Sensibilität. Trotzdem sind sie oft die einzig mögliche chirurgische Lösung nach Verbrennungen 3. und 4. Grades. Der Ersatz der Felderhaut ist zwar einfacher, schwierig zu ersetzen ist aber die funktionell so wichtige Gleitschicht der Strecksehnen.
Pathophysiologie der Verbrennungswunde Temperaturen von über 52° C schädigen die Zellen abhängig von der Expositionszeit. Kurzzeitig kann sich die Haut zwar durch Verdampfen von intra- und extrazellulären Wassers schützen, aber bei einer Einwirkung von länger als etwa 10–20 Sekunden kommt es zum Zelltod. Das denaturierte Eiweiß löst eine Komplementaktivierung aus. Diese führt zu einer lokalen Ausschüttung von Entzündungsmediatoren und so zu weiteren Schäden durch Vasokonstriktion, Erhöhung der Gewebepermeabilität und Chemotaxis von Entzündungszellen. Diese verzögert auftretenden Veränderungen können
zum Phänomen des sog. »Nachbrennens« führen, welches eine zusätzliche Ausdehnung des Gewebeschadens nach Beendigung der eigentlichen Verbrennung an sich bezeichnet. Entsprechend der von Jackson (1953) beschriebenen Histopathologie der Verbrennungswunde können 3 Zonen unterschieden werden: ▬ Die Zone des Zelltodes im Zentrum der Hitzeeinwirkung wird auch die Zone der Koagulation (Koagulation der Eiweiße) genannt. Entsprechend der Tiefe der Verbrennung ist der Zellschaden auf die Epidermis, oder auf die Epidermis und die oberflächlichen Dermisanteile begrenzt oder betrifft bei Verbrennungen 3. Grades die gesamte Hautdicke (⊡ Abb. 46.1). ▬ An die Zone der Koagulation grenzt die Zone der Stase. Hier wurde das Gewebe weniger geschädigt. Die anfängliche Stase des Blutflusse verbessert sich mit dem Abklingen des Ödems etwa 16–24 Stunden nach der Verletzung (⊡ Abb. 46.1). Unmittelbar am Übergang der verletzten zur gesunden Haut liegt die Zone der Hyperämie. Im Sinne einer entzündlichen Reaktion ist hier der Blutfluss gesteigert (⊡ Abb. 46.1). Über diese Zone der Hyperämie muss der Blutfluss in der Zone der Stase wieder retabliert werden. Gelingt das nicht, sei es wegen überschießenden inflammatorischen Reaktionen oder wegen protrahiertem Ödem, kommt es in der Zone der Stase zur Nekrose, also zu einer tieferen Verbrennung. 46.1.2 Epidemiologie
⊡ Abb. 46.1 Histologische Einteilung der thermischen Verletzung nach Jackson. (Aus Berger u. Hierner 2003)
Erwachsene erleiden Verbrennungen der Hand bei der Arbeit, in der Freizeit und bei Haushaltstätigkeiten. Die in ⊡ Abb. 46.2 dargestellte Verteilung in einem Zentrum der Schweiz ist vergleichbar mit anderen industrialisierten und hochentwickelten Ländern. In Entwicklungsländern steht der Haushaltunfall oft an erster Stelle, da am offenen Feuer gekocht wird. Gefährlich ist Grillen und, zumindest in der Schweiz, das Fonduekochen. In Zürich werden jährlich etwa 10 Patienten nach solchen Unfällen behandelt. Meist wird Brandbeschleuniger in ein zu kleines Feuer gegossen. Männer verletzen sich häufiger: In der Zürcher Serie waren es drei Viertel aller Patienten. Bezüglich Alter ist die Hälfte der Verletzten unter 40 Jahren.
35% 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0%
Arbeit
Freizeit
Haushalt
Suizid
Hausbrand
Ursache der Verletzung
Verkehrsunfall
Krankheit
Krieg ⊡ Abb. 46.2 Prozentuale Verteilung der Unfallursachen bei 363 betroffenen Händen
46
1282
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
46.1.3 Ätiologie
genstände denken. Ein Barotrauma muss immer ausgeschlossen werden, am häufigsten betroffen ist das Mittelohr.
Physikalische und chemische Noxen können die Haut schädigen. Zur Beurteilung ist es gerade bei Verbrennungen entscheidend zu wissen, welche Noxe zum Unfall führte: Eine Verbrühung ist etwas völlig anderes als eine Stromverletzung, auch wenn der Hautschaden ähnlich aussieht, eine Flusssäurenverletzung wiederum ist völlig anders als eine Flammenverletzung. Ätiologisch liegt Feuer (⊡ Tab. 46.1), gefolgt von Verbrühungen als Ursache bei Erwachsenen an der Spitze. Seltene Ursachen sind Strom, Kontaktverbrennungen und Verletzungen mit Chemikalien. In Zentren die nur Kinder behandeln ist diese Verteilung etwas anders. Dort sind Verbrühungen deutlich häufiger als bei Erwachsenen, die Flammenverbrennung ist aber auch bei Kindern die häufigste Ursache einer Handverbrennung. Im Folgenden wird unterschieden zwischen: 1. thermischem Schaden, 2. elektrischem Schaden und 3. chemischem Schaden. Eine solche Unterscheidung macht Sinn, da Diagnose, Therapie und systemische Komplikationen in jeder dieser 3 Gruppen verschieden sind.
Thermischer Schaden Verbrühung. Hier handelt es sich um eine Schädigung der Haut durch heißes Wasser. Bei Erwachsenen müssen immer die genauen Umstände erfragt werden: Kam es zur Verletzung wegen einer Absenz zerebraler oder kardialer Ursache, oder wegen eines epileptischen Anfalls? Bei Kindern, bei denen die Verbrühung eine der häufigsten Verletzungsursache ist, nachfragen, wie der Unfall sich ereignete, auch, leider, daran denken, dass ein solcher »Unfall« in seltenen Fällen ein Misshandlung sein kann. Flammenverbrennung. Bei Erwachsenen ist sie die häufigste Ursache einer Verbrennung der Hand. Genaues Nachfragen, wodurch die Flamme ausgelöst wurde, was verbrannte (Kunststoffe?) und ob der Unfall im geschlossenen Raum oder im Freien stattfand. Beides gibt Anhaltspunkte dafür, ob mit einem Inhalationstrauma zu rechen ist oder eher nicht. Explosion. Was explodierte? Alkane, Sprengstoffe? An Nebenverletzungen durch Sturz, kleinste Metallteilchen und große Ge-
⊡ Tab. 46.1 Vergleich verantwortlicher Noxen bei Brandverletzungen der Hände
46
a b
Frist et al. (1985) (n = 478)
Sheridan et al. (1995) (n = 437)
Universitätsspital Zürich (2007) (n = 234)
Feuer
59%
70%
56%
Verbrühung
11%
14,9%
12% a
Explosion
10%
k. A.
17,5% b
Strom
8%
5,7%
9%
Chemisch
4%
5%
1,3%
Kontakt
7%
2,5%
4,3%
Wasser, Öl und Bitumen Strom und Blitzeinschlag
Kontaktverbrennungen. Sind bei Erwachsenen selten, bei Kindern häufiger zu sehen. Meist verschuldet durch Bügeleisen oder Bügelmaschinen (Bügelpressen), Herdplatten, heiße Ofen. Auch hier bei Kindern immer an die seltenen Misshandlungen denken.
Kälteschäden oder Erfrierungen. Erfrierungen und Hypothermien waren im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vorwiegend ein militärisches Problem. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Fokus jedoch vermehrt auf soziale Randgruppen, wie Obdachlose und Drogenabhängige verlagert. Häufig werden auch psychische Erkrankungen als Ursache einer Erfrierung erwähnt. Wintersportler profitieren von den Fortschritten der Textilindustrie und ziehen sich kaum noch Erfrierungen zu. Eine kleine Spezialgruppe mit Erfrierungen bilden die Extrem-Wintersportler und die Lawinenopfer. > Da Erfrierungen, oder allgemeiner ausgedrückt Kälteschäden, bezüglich der Therapie völlig unterschiedlich zu der von thermischen, elektrischen und chemischen sind, werden sie aus didaktischen Überlegungen als Anhang zu diesem Kapitel in Abschn. 46.3 speziell besprochen. Wenn auch die Gradeinteilung der Erfrierungen und gewisse pathophysiologische Abläufe denen bei »Verbrennungen« gleichen, ist eine offensive Therapie, wie sie bei Verbrennungen indiziert ist, bei Erfrierungen kontraindiziert.
Stromverletzung Stromverletzungen sind in 5–10% die Ursache bei Handverbrennungen. Stromverletzungen sind in der Schockphase, der Wundbehandlung der Strommarken und bezüglich möglicher Komplikationen anders als alle anderen Verbrennungen. Das Ausmaß der Stromschädigung für Haut und andere Organe hängt ab von ▬ der Stromstärke (Ampère), ▬ der Dauer des Stromflusses, ▬ der Stromart (Wechselstrom, Gleichstrom), ▬ der Kontaktfläche und ▬ dem Stromweg durch den Körper. Gemäß dem Ohm’schen Gesetz ergibt sich Stromstärke (I), wenn man die Spannung (U) durch den Widerstand (R) dividiert. Da der Widerstand des menschlichen Körpers keine Konstante ist (der Hautwiderstand variiert zwischen 1. Mio. und 5.000 Ohm, die Innenwiderstände, je nach Stromweg, von 1.400 bis zu 650 Ohm), kann die geflossene Strommenge nie genau berechnet werden. Die zum Unfall führende Spannung ist aber meist bekannt. Man spricht also genauer vom »Niederspannungs-« und »Hochspannungsunfall«, wohlwissend, dass der geflossene Strom den Schaden setzt.
Niederspannungsunfall (1.000 Volt, auch »Hochvoltunfälle«) Drei Verletzungsmechanismen bei Hochvoltunfällen sind möglich:
Direkter Stromkontakt. Es zeigen sich typische Stromein- und -austrittsstellen, Strommarken also, sowie Stromfluss durch den Körper (⊡ Abb. 46.4, ⊡ Abb. 46.5).
Verletzungen bei überspringendem Strom. Bei Spannungen von über 15.000 Volt kann Strom auf den Körper überspringen und fließen. Man findet meist nur eine Stromeintrittsmarke, typischerweise am Hand- und Ellbogengelenk und in der Axilla, wo der Widerstand wegen dünner, meist feuchter Haut und darunter liegender Gelenkflüssigkeit niedrig ist (⊡ Abb. 46.6).
Thermale Verbrennung durch die Hitze des Lichtbogens. Die Verbrennung kommt durch die enorme Hitze von 4.000° bis 10.000° C im Lichtbogen zustande, Strom fließt nicht durch den Körper, man findet keine Ein- oder Austrittstellen, daher treten auch keine stromspezifischen Komplikationen auf. Es handelt sich um eine »gewöhnliche« thermische Verbrennung.
⊡ Abb. 46.3 Kleinflächige Stromeintrittsmarken bei direktem Stromkontakt mit »Haushaltsstrom« (50 Hz, 220 V)
⊡ Abb. 46.5 Stromaustrittsmarken am selben Patienten wie in Abb. 46.4 an beiden Füßen. Bei Eintrittsmarke auch immer Stromaustritt suchen!
⊡ Abb. 46.4 Stromeintrittsmarken an der Händen bei Hochspannungsunfall (16 Hz, 16.000 V): typische Flexionskontraktur. Nur mit Kraftaufwendung kann die zur Faust eingekrallten Finger gestreckt werden
⊡ Abb. 46.6 Strommarken bei überspringendem Strom an typischer Stelle über dem Ellbogengelenk (16 Hz, über 60.000 Volt). Bei der Faszitomie wurden Myonekrosen sichtbar, die anhand der Myoglobinurie vermutet wurden. Der überspringende Strom (Flammenbogen) hat eine ähnliche Auswirkung wie der direkte Stromkontakt
46
1284
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Mit stromspezifischen Komplikationen ist nach direktem Stromkontakt und Verletzungen mit überspringendem Strom zu rechnen. Als Ausdruck des Stromflusses im Körper, und damit Abgabe von Joule’scher Energie als Wärme, kommt es zu Myonekrosen (⊡ Abb. 46.7). Zeichen dafür sind die Myoglobinurie und die massiv erhöhten CK-Werte. Die Myoglobinurie ist, ähnlich dem CrushSyndrom, verantwortlich für das gehäuft auftretende Nierenversagen. Die tiefe und massive Zerstörung aller Gewebe ist auch der Grund für die hohe Amputationsrate, je nach Literatur zwischen 15 und 50%. Neurologische Komplikationen können im Gegensatz zu allen anderen Verbrennungen auftreten. Neben zentralen (Amnesie, epileptische Anfälle, spinale Symptome) finden sich auch Ausfälle peripherer Nerven (10% der Patienten mit Starkstromverletzungen im eigenen Krankengut), welche handchirurgisch abgeklärt und betreut werden müssen.
Durch die strombedingte Schädigung der Media (Medianekrose) und punktuelle Endothelverletzungen kann es zu Blutungen aus größeren Gefäßen und zu thrombotischen Verschlüssen kommen. Während die Thrombosen innerhalb von 24 Stunden nach Unfall auftreten, kommt es typischerweise etwa 5–6 Tage nach Trauma zur Blutung. Eine Problematik, die eine sichere Lappenchirurgie erschwert. Nach Blitzunfällen ist mit ähnlichen Komplikationen wie nach Hochvoltverletzungen zur rechnen. Neben den typischen Stromeintritts- und -austrittsmarken können auch pathognomische, farnkrautartige Verbrennungsmuster (⊡ Abb. 46.8) im Bereich der Schweißrinnen vorliegen. Letztere heilen lokal problemlos, sind aber für den Notfallarzt der sichere Hinweis, dass eine Blitzverletzung stattfand, welche eine Hospitalisation für 24 Stunden zur Überwachung bedingt.
Chemische Verletzungen, Klinik und Notfalltherapie > Chemische Verletzungen finden sich lediglich bei etwa 1–5% aller Patienten mit Handverbrennungen.
Da es aber tückische Verletzungen sind und einige davon mit wesentlichen systemischen Komplikationen, die meist die Hände betreffen, liiert sind, muss sich der Handchirurg mit dieser etwas chirurgenfernen, trockenen Materie auseinandersetzen. Um diese Verletzung abgerundet besprechen zu können, macht es Sinn, die Klinik und Therapie hier, abweichend von der didaktischen Struktur, gleich zu besprechen. Meist handelt es sich um Arbeitsunfälle in chemischen Fabriken, in der metallverarbeitenden Industrie, in Reinigungsbetrieben und in der Landwirtschaft. ⊡ Abb. 46.7 Myonekrosen bei Hochspannungsunfall mit direktem Stromkontakt. Zustand nach zweimaligem Débridement am 3. posttraumatischen Tag. Amputation am 6. posttraumatischen Tag
> Chemische Stoffe »verbrennen« die Haut in den seltensten Fällen durch Hitze, sondern schädigen durch eine chemische Reaktion, entweder durch Ausfällen der Proteine (Koagulationsnekrose) oder durch Verflüssigen der Proteine und Lipide (Kolliquationsnekrose). Typisch ist, dass im Gegensatz zu Verbrennungen, die Gewebezerstörung noch lange nach der Exposition fortschreiten kann.
Die Schädigung ist abhängig ▬ von der Art des Agens, ▬ der Menge, ▬ der Konzentration und ▬ der Kontaktdauer. Die Abhängigkeit von der Art des Agens legt angesichts der Vielfalt chemischer Stoffe eine nach Stoffklassen getrennte Betrachtung nahe: ▬ Säuren (speziell Flusssäure), ▬ Laugen (häufig »Zementverbrennung«), ▬ Lösungsmittel und Kohlenwasserstoffe (speziell Phenol), ▬ Phosphor und ▬ elementare Metalle.
Säuren
46 ⊡ Abb. 46.8 Blitzverletzungen: Das Farnkrautmuster ist pathognomonisch für Blitzverletzungen, liegt aber nicht nach jedem Blitzunfall vor. Das Farnkrautmuster ist immer in den Schweißrinnen zu finden und heilt spontan ohne Narbenbildung ab
Bei einem pH-Wert von 2,5 oder kleiner zerstören Säuren irreversibel das Gewebe über eine Koagulationsnekrose und bilden einen ledrig-derben Eschar, der die weitere Ausbreitung verhindert. Oft findet man typische Verfärbungen, nach Ameisensäure grünlich, nach Schwefelsäure anfänglich bronzefarben, später schwarz. Die Notfalltherapie besteht in langer (bis 1 Stunde) Irrigation mit Wasser zur Elimination und der Neutralisierung des Agens.
1285 46.1 · Allgemeines
Kleine Verletzungen heilen spontan, ausgedehnte werden früh tangential exzidiert. Flusssäure Neben den lokalen können lebensbedrohliche systemische Komplikationen auftreten. Flusssäure wird u. a. zur Glasätzung, in der Produktion von Kühlmitteln, Teflon, als Silikonreiniger in der Halbleiterindustrie und als Katalysator in der Alkylierung zu hochoktanigen Brennstoffen verwendet. Anders als alle anderen Mineralsäuren hat sie eine hoch korrosive und penetrierende Wirkung auf organisches Gewebe. Die Wasserstoffionen denaturieren das Gewebe, während die Fluoridionen als Zellgift wirken, indem sie Kalzium binden und damit eine Hypokalzämie verursachen. Zusätzlich kommt es bei der hohen Affinität der Fluoridionen zum Magnesium zu einer Enzymblockade. Es ist vor allem die nicht ionisierte Form der Säure, die tief ins Gewebe (bis in die Knochen) eindringt. Die besondere Gefährlichkeit der Flusssäure liegt darin, dass der sonst bei Säureverletzungen typische, gewissermaßen schützende Eschar, nicht gebildet wird. Die Klinik zeigt folgendes Bild: ▬ Abfolge von Erythem, weißlicher Verfärbung, Blasenbildung und grünlich schwarzer Verfärbung (⊡ Abb. 46.9). ▬ Bei Konzentration über 50% treten sofort massive Schmerzen auf. ▬ Bei Konzentrationen unter 20% können die Schmerzen mit einer Verzögerung von bis zu 20 Stunden auftreten. ▬ Elektrolytverschiebungen im Sinne von Hyponatriämie und Hyperkaliämie. ▬ Hypokalzämie mit Sinusbradykardien und Arrhythmien bis zum Kammerflimmern. ▬ Toxisch hämorrhagisches Lungenödem. Die Notfalltherapie muss berücksichtigen, dass lokale und lebensbedrohliche systemische Schädigungen vorliegen können. Dies erfordert ▬ Entfernung kontaminierter Kleider und ▬ lang dauernde Irrigation mit Wasser. Präzipitierung und Neutralisierung der absorbierten Fluoridionen mit Kalziumglukonat topisch oder über subkutane Infiltrationen im Bereich der Hautveränderungen. In lebensbedrohlichen Situationen intraarterielle Infusionen mit Kalziumglukonat.
⊡ Abb. 46.9 Flusssäureverletzung. Weißliche und blauschwarze, von Blasen durchsetzte Hautläsionen nach Flusssäureverätzung
▬ EKG-Monitoriserung und Elektrolytkorrekturen, ▬ eventuell intravenöse Kalziumsubstitution, ▬ in Extremfällen Exzision des verletzten Hautareals.
Laugen Im Gegensatz zu Verätzungen der Speiseröhre oder Augen finden sich wenige Literaturangaben über Hautverletzungen mit Laugen. Der kritische pH-Wert ab welchem irreversible Hautschäden auftreten, liegt bei 11,5–12,5. Über eine Verseifung von Lipiden und die Denaturierung von Proteinen kommt es zur Kolliquationsnekrose. Da der für die Koagulationsnekrose typische Eschar nicht zustande kommt, tritt die Noxe tief ins Gewebe ein. Folgende klinischen Symptome können gefunden werden: ▬ Rötung der Haut, selten Blasenbildung; ▬ Haut fühlt sich seifig und glitschig an; ▬ Tieferwerden der Wunden im Verlauf; ▬ bei wenig konzentrierten Laugen treten kaum Schmerzen oder wenn, dann verzögert auf; bei hochkonzentrierten Laugen treten Schmerzen sofort auf; ▬ keine systemischen Komplikationen. Eine der häufigeren Laugenverletzungen kann bei langer Exposition mit komplexen Silikaten, wie sie im Zement vorkommen, entstehen. Die Notfalltherapie besteht in langer Irrigation der Wunde mit Wasser. Wunden die in der Tiefe Verbrennungen 3. Grades entsprechen, werden exzidiert und mit Spalthaut gedeckt.
Lösungsmittel Hautverletzungen durch Lösungsmittel entstehen nach längerem Kontakt mit dieser Stoffgruppe. Die lokale Symptomatik ist in etwa dieselbe wie bei der Laugenverletzung. Es kommt zur Kolliquationsnekrose. Im Gegensatz zu den Laugenverletzungen treten aber häufig systemische Manifestationen auf, die sich in 2 Phasen unterteilen lassen. In der 1. Phase kommt es zu neurologischen Symptomen wie Verwirrung, Euphorie bis zu toxischen Enzephalopathien mit generalisierten Anfällen oder medullärer Atemdepression. In der 2. Phase können Organschädigungen wie Leberzellzerstörung, Herzrhythmusstörungen oder Nierenschäden auftreten, bedingt durch Endothelschäden. Phenol Phenol ist ein schwach saurer aromatischer Alkohol, der in Desinfektionsmittel, Deodoranten sowie bei der Herstellung von Kunststoffen, Farben oder Düngemitteln verwendet wird. Phenol ist stark korrosiv. Wegen seiner Fettlöslichkeit zerstört es die Zellmembranen und dringt rasch ins Gewebe ein, wo es Proteine koaguliert. Auf der Haut kommt es nach anfänglichem Erythem und Blasenbildungen im Verlauf zu bräunlichen Flecken, gefolgt von einem dunklen Schorf. Das absorbierte Phenol zerstört Nervenendigungen und demyelinisiert Nervenfasern, darum liegen selten Schmerzen vor. Die Gefahr von toxischen Komplikationen des zentralen Nervensystems, des Herzens, der Gefäße und der Nieren sind groß. Die Notfalltherapie ist speziell: ▬ Phenol wird mit Polyethylenglykol, in welchem es gut löslich ist, entfernt. ▬ Das Polyethylenglykol selbst wird dann mit Wasser abgespült. ▬ Spülen mit Wasser kann die Absorption verstärken und ist nur indiziert wenn Polyethylenglykol nicht verfügbar.
46
1286
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Form vor, sondern nur in Verbindungen. Natrium und Lithium werden u. a. als Aktivatoren chemischer Reaktionen, zur Härtung von Legierungen sowie als Katalysatoren eingesetzt. Diese Metalle zünden in elementarer Form bei Kontakt mit Wasser und Wasserdampf spontan und dabei entstehen starke Basen (NaOH, KOH, LiOH). Selten kommt es zu explosionsartigen Unfällen mit diesen Stoffen, wobei es durch die Explosion zu thermischen und durch die entstehenden Laugen zu chemischen Verletzungen im Sinne einer Kolliquationsnekrose kommt. Die Notfalltherapie erfolgt in zwei Schritten: Zur Isolation gegen Wasser wird die Wunde mit Öl abgedeckt und alle Restpartikel werden dann entfernt und erst abschließend erfolgt dann die Irrigation mit Wasser zur Therapie der Laugenverletzung. 46.1.4 Diagnostik
Allgemeine Überlegungen
a
b
⊡ Abb. 46.10 Phosphorverletzung. a Frische Phosphorverletzung mit Erythem und weißlichen tiefen Verbrennungen 2. und 3. Grades, b 8 Monate nach konservativer Therapie. An den Stellen mit tiefen Verbrennungen 2. und 3. Grades finden sich rote, hypertrophe Narben
Phosphor
46
Phosphor wird neben der Herstellung von Waffen (Brandbomben, Explosivstoffe, Nebelmunition) auch zur Produktion von Insektiziden, Düngemitteln und Rostschutzfarben verwendet. Bei Kontakt mit Luft zündet Phosphor spontan über eine schnelle Oxidation (exotherme Reaktion) zu Phosphorpentoxyd unter Entwicklung eines weißen Rauches mit knoblauchähnlichem Geruch. Die Lagerung erfolgt deshalb unter Luftabschluss, meist unter Wasser. Die Haut wird thermisch über brennende Partikel und chemisch im Sinne einer Koagulationsnekrose geschädigt. Phosphor führt zu einem Hauterythem, meist eine oberflächliche Verbrennung und im Verlauf, bei unsachgemäßer oder zu spät eingeleiteter Notfalltherapie, zu weißlichen, meist tiefen Verbrennungen 2. oder 3. Grades (⊡ Abb. 46.10). Phosphorverätzungen sind äußerst schmerzhaft. Dazu kommt, dass einzelne Phosphorpartikel bei Luftkontakt immer wieder zünden und die Schmerzsymptomatik so noch verstärkt wird. Phosphor wird selten absorbiert, kann dann aber zu systemischen Komplikationen wie Herzrhythmusstörungen aufgrund von Elektrolytverschiebungen führen. Die Notfalltherapie ist speziell: Phosphor wird unter Wasser behandelt. Die involvierten Hautareale werden gespült und alle Partikel entfernt. Abschließend wird die Wunde mit einer Kupfersulfatlösung gewaschen, wobei sich ein blauschwarzer KupferPhosphat-Film bildet, der die Entfernung von Restpartikeln des Phosphors erleichtert. Bei ausgedehnten Verletzungen muss die notfallmäßige Exzision bis auf die Faszie erwogen werden.
Elementares Natrium, Kalium und Lithium Die Elemente Natrium, Kalium und Lithium gehören in die Gruppe der Alkalimetalle. Sie kommen in der Natur nicht in metallischer
Die meisten Publikationen berichten über eine Mitbeteiligung der Hände, ein- oder beidseitig, von 70, 80 bis 89% aller Verbrennungsopfer. Es gibt kaum Erklärungen dafür, sich die Hände nicht zu verletzen, wenn man das Pech hat eine Verbrennung zu erleiden. Bei Verbrennungen der Hand sind zwei völlig unterschiedliche Situationen zu unterscheiden: ▬ die isolierten Handverbrennungen, die bis maximal 10% der Körperoberfläche (KOF) ausmachen ▬ die Handverbrennung im Rahmen einer großflächigen Verbrennung.
Ist die Schädigung der Haut von geringer Ausdehnung, weniger als 10% der Körperoberfläche (KOF), stehen die lokalen Probleme wie Ästhetik und Funktion im Vordergrund. Wird der Hautschaden ausgedehnter, über 10% der Körperoberfläche, kommen zu den lokalen allgemeine Probleme dazu, die sämtliche Organsysteme betreffen können: Der Schock, verursacht durch Kapillarschädigung und damit interstitiellem Flüssigkeitsverlust, weitere Flüssigkeitsverluste über die zerstörte Epidermis, wesentliche Stoffwechselstörungen, Wundinfekte mit hohem Sepsisrisiko, das Nierenversagen, schockbedingt oder als Folge der Sepsis, pulmonale Probleme, aufgrund eines Inhalationstraumas oder einer Pneumonie. > Es ist für das Verständnis von Verbrennungen also entscheidend zu verstehen, dass der lokale Schaden bei Überschreiten einer kritischen Ausdehnung, den gesamten Organismus in Mitleidenschaft zieht und sich die Therapie darum nicht in der lokalen Behandlung erschöpft.
Nur im Team, bestehend aus Chirurgen, Intensivmedizinern und speziell geschultem Pflegepersonal, ist eine erfolgreiche Behandlung ausgedehnter Verbrennungen möglich. Bei Verletzungen die mehr als 15% der Körperoberfläche betreffen, ist darum auch die Hospitalisation in einem Zentrum für Brandverletzte wegen der Komplexität der Behandlung indiziert. Für Handchirurgie bedeutet das, dass nur bei Verbrennungen von um 10% der KOF die Hand im Zentrum der Therapie steht. Bei ausgedehnten Verbrennungen steht das Überleben der Verletzten im Zentrum der Therapie und, um dieses Ziel zu erreichen, muss die Handverbrennung in den Hintergrund treten. Das heißt, die »isolierte« Handverbrennung kann durch den Handchirurgen behandelt werden, bei Handverbrennungen im Rahmen einer ausgedehnten Verbrennung ist der »Verbrennungschirurg« mit seinem Team und seiner Infrastruktur eines Verbrennungszentrums gefragt.
1287 46.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 46.2 Einteilung in »kleine« und »große« Verbrennungen »Kleine Verbrennungen«
»Große Verbrennungen«
Ambulant
Stationär
Unfallanamnese
Elektro- und Blitzunfälle Brand im geschlossenen Raum Nebenverletzungen Suizid Flusssäure
Ausdehnung
10% KOF
Tiefe
1. Grades und oberflächlich 2. Grades 3. Grades 70 Jahre) mit einer Verbrennungsausdehnung über 10% der KOF
▬ Alle Patienten mit Herz-Kreislauf-Problemen, Diabetes mellitus, Immunschwäche oder medikamentöser Immunsupression mit einer Verbrennungsausdehnung über 10% der KOF ▬ Tiefe Verbrennungen 2. und 3. Grades des Gesichtes und des Halses. ▬ Handverbrennungen 4. Grades
Relative Einweisungskriterien ins Zentrum:
▬ Unklare Verbrennungstiefe an funktionell und ästhetisch relevanten Körperregionen
▬ Tiefe Verbrennungen 2. und 3. Grades an Perineum, Genitale und Fußsohlen
▬ Alkoholiker, Drogenabhängige und Patienten mit schwerwiegenden psychischen Problemen mit einer Verbrennungsausdehnung über 10% der KOF ▬ Tiefe Verbrennungen 2. und 3. Grades der Hände
Ausdehnung der Verbrennung Bei 84 Verletzten einer eigenen Studie, die retrospektiv die Verbrennungen der Hand untersuchte, war die verbrannte KOF maximal 10%, es lag also in etwa eine isolierte Handverbrennung vor. Auch der Handchirurg muss also die Ausdehnung der Verbrennung berechnen, um zu wissen, welche Handverbrennungen er überhaupt behandeln kann. Im raschen Überblick der Notfallsituation genügt zur Beurteilung der Verbrennungsausdehnung die 9er-Regel nach Wallace (⊡ Abb. 46.11). Außer den Verbrennungen 1. Grades, die nicht gezählt werden, werden alle andern Grade gleichgewichtet zur Gesamtausdehnung zusammengezählt. Die 9er-Regel gilt nur für Erwachsene, Kinder haben andere Körperdimensionen mit viel größerem Kopf zugunsten der Beine. Bezogen auf die gesamte KOF ist die Handoberfläche aber bei Kindern aller Altersgruppe denen der Erwachsenen identisch (⊡ Abb. 46.11). Die Handfläche des Patienten macht ca. 1% der Körperoberfläche aus, dies kann bei der Abschätzung kleinerer Verletzungen helfen. Das genaue Errechnen der Ausdehnung erfolgt über Tabellen (⊡ Tab. 46.3). Die Befunde werden dann in einem Verbrennungsdiagramm festgehalten.
Anamnese Sobald man einen ungefähren Überblick über die Ausdehnung hat wird die Anamnese erhoben. Folgende Fragen müssen danach beantwortet sein: > Wie, wo, warum, wer ? Wie hat sich der Unfall ereignet? Verbrühung, Feuer, Autounfall, Explosion, Strom oder Blitz, chemische Verletzung? Verbrühungen werden in der Tiefe meist unterschätzt, Verbrennungen nach Explosionen dagegen überschätzt. Chemische Verletzungen sehen lokal oft harmlos aus, können aber je nach Substanz lebensgefährlich verlaufen, besonders heimtückisch ist die Flusssäureverletzung. Stromunfälle sind in fast jeder Hinsicht heimtückisch und mit vielen, auch systemischen Komplikationen behaftet. Wo hat der Unfall stattgefunden? In geschlossenem Raum, im Freien, was hat gebrannt? Alle Brandverletzungen in geschlossenen Räumen bergen die Gefahr eines Inhalationstraumas und der Intoxikation mit Kohlenmonoxyd in sich. Besonders gefährlich sind Verletzungen in Räumen, wo es zum Brand von Kunststoffen kam. Warum ist es zum Unfall gekommen? Suizid, Unfall, Absenz oder epileptischer Anfall, Fremdeinwirkung, Kindsmisshandlung? Auf den ersten Blick mag es irrelevant erscheinen, ob die Ursache der Verbrennung ein Suizid oder Unfall war. Erfahrungsgemäß ist aber die Prognose nach Suiziden deutlich schlechter. Die Gründe dafür sind unklar. Etwa 5% der Verbrennungsunfälle ereignen sich in einer Absenz zerebraler oder kardialer Ursache oder im epileptischen Anfall. Die Ursache einer Absenz muss abgeklärt werden. Wer hat sich verbrannt? Alter, gesunder Patient oder vorbestehende Erkrankung? Die schlechtere Prognose bei alten Menschen hat ihre Gründe in häufig vorbestehenden Herz-Kreislauf-Problemen, in den ge-
46
1288
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
a
c
46
nerell langsameren Heilungsabläufen und in der dünneren, und somit für Hitzeschäden anfälligeren Haut. Prognostisch ungünstig sind Patienten mit Alkoholabusus, Diabetes mellitus, Immunschwächen oder Krankheiten, welche chemotherapeutisch oder immunsuppressiv behandelt werden müssen. Bei all diesen Vorerkrankungen ist der Wundverschluss schwierig und benötigt mehr Zeit, damit ist das Sepsisrisiko erhöht.
Begleitverletzungen Anhaltspunkte über die Wahrscheinlichkeit von Nebenverletzungen ergeben sich schon durch die Anamnese. Nach Autokollisionen, Explosionen, Starkstrom- und Blitzverletzungen finden sie sich am häufigsten.
b
⊡ Abb. 46.11 Abschätzung der Verbrennungsfläche. a 9er-Regel nach Wallace bei Erwachsenen, b Abschätzung mittels Handflächenregel, c Flächenabschätzung bei Kindern. (Aus Berger u. Hierner 2003)
Frakturen, Sehnen- und Nervenverletzungen der Hand müssen am Unfalltag versorgt werden. Frakturen, wenn immer möglich, übungsstabil. Eine spätere operative Versorgung ist kaum mehr möglich: Wegen der schon nach Stunden kontaminierten Brandwunde, oder im späteren Verlauf gar einer Wundinfektion, wird das Risiko eines Infektes bei sekundärer Operation zu groß. Das geringste Risiko einer Infektion besteht also am Unfalltag. Ein weiterer Grund, der für die Akutversorgung spricht, ist die Minimierung der Schmerzen. Dazu kommt, dass erst diese Notfalleingriffe erlauben, den Erfordernissen der Brandwunden entsprechend zu lagern und mit der für die gute Funktion der Hand entscheidenden Physiotherapie sofort beginnen zu können.
1289 46.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 46.3 Berechnung der verbrannten Körperoberfläche in Abhängigkeit vom Alter bei Kindern (Angaben in Prozent). (Aus Berger u. Hierner 2003) Lokalisation
1 Jahr
1–4
5–9
10–14
15 Jahre
Erwachsene
Kopf
19
17
13
11
9
7
Hals
2
2
2
2
2
2
Rumpf (vorn)
13
13
13
13
13
13
Rücken
13
13
13
13
13
13
Rechte Gesäßhälfte
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
Linke Gesäßhälfte
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
Genitalien
1
1
1
1
1
1
Rechter Oberarm
4
4
4
4
4
4
Linker Oberarm
4
4
4
4
4
4
Rechter Unterarm
3
3
3
3
3
3
Linker Unterarm
3
3
3
3
3
3
Rechte Hand
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
Linke Hand
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
2,5
Rechter Oberschenkel
5,5
6,5
8
8,5
9
9,5
Linker Oberschenkel
5,5
6,5
8
8,5
9
9,5
Rechter Oberschenkel
5
5
5,5
6
6,5
7
Linker Unterschenkell
5
5
5,5
6
6,5
7
Rechter Fuß
3,5
3,5
3,5
3,5
3,5
3,5
Linker Fuß
3,5
3,5
3,5
3,5
3,5
3,5
Bei Elektroverbrennungen ist immer an Frakturen fern der Verbrennung denken, die durch den Stromfluss bedingte starke Kontraktion der Muskeln verursacht werden können. Ebenso muss bei Starkstromverletzungen das Vorliegen einer Myoglobinurie als sicherer Hinweis für Muskelzerstörungen, eventuell unter nicht geschädigter Haut, untersucht werden. Liegt eine solche vor, muss der Patient in einem Zentrum behandelt werden. > An Trommelfellrupturen oder Innenohrverletzungen nach Explosionstraumen denken!
Selten kommt es zu Verletzungen des Auges. Gründe für den guten Schutz des Auges bei Brand- und Explosionsverletzungen ist der sofortige Lidschluss. Gefürchtet allerdings ist die Schwarzpulverexplosion, die fast immer mit einer Handverbrennung einhergeht: Sie kann zur Erblindung führen. Gelegentlich sieht man Korneaerosionen, wenn heißer Wasserdampf durch den Lidspalt dringt. Die Hornhaut ist dann milchig trüb die Heilung erfolgt aber rasch.
Kompartmentsyndrom Verbrennt oder verbrüht Haut, fallen bei einer Temperatur von 52° C Eiweiße aus, es kommt zu einer Kaogulationsnekrose, sichtund fühlbar als harter Verbrennungsschorf (= Eschar). Dadurch schrumpft die Haut und verliert ihre Elastizität. Die Schrumpfung führt zu einer Verkleinerung des Umfangs und damit alleine schon zu einer Erhöhung des Gewebedrucks. Verschärft wird die Situation durch das generalisierte Verbrennungsödem. Durch den Elastizitätsverlust kann das Ödem nicht über die Haut kompensiert werden und der gesamte Druck wird auf die Venen, Muskeln, Nerven und Arterien übertragen. Dies führt zu einer Minderung
der nutritiven Muskeldurchblutung, gefolgt von einer Azidose, die das Ödem noch weiter verstärkt, und es kommt zum Logen- oder Kompartmentsyndrom ( Kap. 48). Die Symptome des Kompartmentsyndroms sind ▬ starke Schmerzen, die nicht durch den Verbrennungsschmerz erklärt werden können, ▬ Kribbelparästhesien und Gefühlslosigeit, ▬ Flexionskontrakturen, ▬ ausgeprägte Verhärtung und Druckdolenzen sowie ein charakteristischer Distensionsschmer, ▬ venöse Stauung und ▬ arterielle Minderdurchblutung. Ein nicht diagnostiziertes und damit unbehandeltes Logensyndrom hat fatale Folgen: vom weitgehenden Funktionsverlust bis zur Amputation. Besonders gefährdet sind intubierte Patienten und solche, die mit starken Schmerzmitteln, wie bei Verbrennungen indiziert, behandelt werden: Sie können klinisch kaum mehr beurteilt werden. > Die Messung des subfaszialen Gewebedrucks mag in der Traumatologie hilfreich sein, bei Verbrennungen ist davon abzuraten. Normale Werte ( Klar und unmissverständlich sind die Verbrennungen 1. und 3. Grades charakterisiert. Erfahrungsgemäß bieten diese auch kaum diagnostische Probleme. Unklar und schwammig ist die Definition der oberflächlichen und tiefen Verbrennung 2. Grades.
Dort also, wo der entscheidende Schnitt zwischen Spontanheilung in 10 Tagen ohne Narbenbildung und Spontanheilung in 3–5 Wo-
46
1292
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
⊡ Abb. 46.15 Tiefenbeurteilung der Verbrennung: Die »wegdrückbare« Rötung (auch Glasspateltest genannt). Nach Eindrücken des Gewebes mit dem Finger oder einem Glasspatel (a), verschwindet die Rötung für einen Augenblick (b)
a
chen mit Narbenbildung, der Grenze auch zwischen konservativer und chirurgischer Therapie, liegt, wird die Diagnose am schwierigsten. Fehldiagnosen sind häufig und können folgenschwere Auswirkungen haben: Eine fälschlicherweise als tiefe Verbrennung 2. Grades beurteilte Verbrennung wird dann operiert, und, statt einer narbenlosen Abheilung unter konservativer Therapie, resultiert eine sichtbare Narbe. Umgekehrt führt die Falschinterpretation einer tiefen als oberflächliche Verbrennungen 2. Grades und damit konservativer Therapie, zu erhöhtem Risiko der Wundinfektion und Sepsis und lokal zu einem funktionell und ästhetisch schlechteren Resultat, als bei einer zeitgerechten, frühen tangentialen Exzision zu erwarten wäre. Verbrennung 4. Grades In einigen Publikationen und Lehrbüchern wird zusätzlich zu der allgemein anerkannten Tiefeneinteilung der Verbrennungen, wie sie oben dargestellt wurden, eine Verbrennung 4. Grades unterschieden. Dabei reicht die Gewebezerstörung tiefer als die Haut und das Subkutangewebe: Tiefere Strukturen werden mitbetroffen. Gerade an der Hand, wo vor allem streckseitig die Sehnen und Gelenkkapseln nahe an der Haut liegen, ist eine Zerstörung solcher Strukturen leicht möglich ( Abschn. 46.1.5). 46.1.5 Klassifikation Die Klassifikation erfolgt aufgrund des Alters (Erwachsenen vs. Kinder), der verbrannten KOF, der Lokalisation der Verbrennung im Handbereich, der Ätiologie und im Wesentlichen der Tiefe der Verbrennung.
Diskussion der Tiefeneinteilung der Handverbrennungen
46
Die entscheidende Klassifikation aller Verbrennungen ist die Tiefeneinteilung. Die Tiefe der Verbrennung bestimmt die Therapie. Sie ist auch für die Prognose verantwortlich: Tiefe Verbrennungen hinterlassen immer Spuren, sei die Chirurgie auch noch so gut. Ziel muss aber bleiben, diese Spuren zu minimalisieren. Die Tiefeneinteilung der Verbrennungen wurde oben diskutiert. Sie unterscheidet sich an der Hand nur dadurch, dass es aus therapeutischer und prognostischer Sicht im Gegensatz zu allen anderen Lokalisationen sinnvoll erscheint, zusätzlich von einer Verbrennung 4. Grades zu sprechen. Sheridan hat in seinen wichtigen Publikationen den Begriff der Verbrennung 4. Grades für die Hand gefordert. Im Standardwerk »Total Burn Care« von David Herndon (2002) wird die Handver-
b
brennung 4. Grades als solche definiert, wo Sehnen, Gelenke und Knochen freiliegen. Sheridan (1999) unterscheidet folgende Gruppen: 1. Gruppe der konservativ therapierten, also Verbrennungen 1. Grades und oberflächliche Verbrennungen 2. Grades; 2. Gruppe der Nicht-Grad-4-Verbrennungen, die operativ behandelt wurden, also tiefe Verbrennungen 2. und Verbrennungen 3. Grades; 3. Verbrennungen 4. Grades, die alle operativ behandelt werden müssen. Dass die Einteilung Sinn macht, zeigen die Resultate (⊡ Tab. 46.4): Nur noch knapp 10% aller Patienten mit Verbrennungen 4. Grades der Hand haben ein gutes funktionelles Resultat bei Sheridan (1999). In einer viel kleineren Zürcher Studie mit nur 3 Verletzten mit Verbrennungen 4. Grades hat kein einziger Patient eine auch nur annähernd gute Funktion. Wirft man all die Verbrennungen 4. Grades in den Topf der Verbrennungen 3. Grades, können die Resultate verschiedener Arbeiten auch schlecht verglichen werden, da der Anteil der Verbrennungen 4. Grades je nach Krankengut in verschiedenen Studien stark variieren kann. Da auch die chirurgische Therapie sehr aufwändig ist, wird empfohlen Verbrennungen 4. Grades der Hand ins Zentrum zu überweisen ( Absolute und relative Einweisungskriterien in ein Zentrum für Brandverletzte). 46.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Ziel der Chirurgie ist es, Haut- und Weichteilverletzungen nach sicherem Débridement sofort zu verschließen. Dieses chirurgische Grundprinzip gilt auch für die Verbrennungswunde. Die Durchführung dieses Prinzips ist aber bei Brandwunden schwierig bis unmöglich. Zum einen sind Wunden oft großflächig (über 30% der KOF) und der sofortige Verschluss wegen mangelnder Hautressourcen unmöglich. Zum andern heilen oberflächliche Verbrennungen 2. Grades spontan und narbenfrei, die Heilung nimmt aber 10–12 Tage in Anspruch. Die Verbrennungswunden liegen also längere Zeit offen, da sie chirurgisch wegen zu großer Ausdehnung nicht verschlossen werden können, oder, weil sie naturgegeben heilen was aber 10–12 Tage dauert. Offene Wunden bergen die Gefahr der Infektion mit Sepsisrisikio, nach wie vor die häufigste Todesursache bei Brandverletzten. Gezwungenermaßen abweichend vom Ideal des sofortigen Wundverschlusses, heißt das Ideal bei Verbrennungen möglichst rascher Wundverschluss und Protektion der offenen Wunde zur Vermeidung von Wundinfekten.
46
1293 46.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 46.4 Resultate und Funktionen unter Berücksichtigung einer Handverbrennung 4. Grades. (Nach Künzi 2005) Verbrennungsgrad
Anzahl untersuchter Hände
Rekonstruktionen (%)
Funktionelles Resultat (%) Ab
B
C
Sheridan 1a
305
0,65
97,00
2,60
–
2
309
6,5
80,90
18,40
0,64
3
32
66
9,40
81,00
9,40
1
44
0
100,00
–
–
2
142
8
87,00
13,00
–
3
5
100
0,00
0,00
100,00
Zürcher Resultate *
a
1 Konservativ behandelte Verbrennungen 2 Nicht-Grad-4-Verbrennungen, chirurgisch behandelt 3 Verbrennungen 4. Grades, chirurgisch behandelt
Folgende Überlegungen diktieren Ort, Zeitpunkt und Technik der Behandlung von Brandwunden an der Hand: ▬ isolierte Handverbrennung oder Handverbrennung im Rahmen einer ausgedehnten Verbrennung von mehr als 10% der KOF, ▬ Tiefe der Verbrennungswunde, ▬ sichere oder unsichere Diagnose der Tiefe der Verbrennungswunde, ▬ Ätiologie (Flamme, Strom, chemischer Schaden), ▬ Nebenverletzungen, ▬ Alter des Patienten und Vorerkrankungen.
Handchirurg oder Zentrum – stationär oder ambulant Die Klassifikation soll dem Handchirurgen eine Entscheidungshilfe bieten: ▬ Kann ich den Patienten behandeln oder gehört er in ein Zentrum für Verbrennungen ( Absolute und relative Einweisungskriterien in ein Zentrum für Brandverletzte)? ▬ Ist die Behandlung stationär oder ambulant (⊡ Tab. 46.2)? ▬ Welche Prognose bezüglich funktionellen und ästhetischen Resultats kann gestellt werden? ▬ Ist eine konservative oder operative Therapie angezeigt (⊡ Abb. 46.14)? ▬ Wenn operativ: Wann ist der beste Zeitpunkt und welche Technik? Folgende Patienten bzw. Patienten mit folgenden Verletzungen gehören in ein Zentrum, d. h., der Handchirurg sollte bei diesen nicht in Eigenverantwortung behandeln: 1. Säuglinge, Alte über 70 Jahre, Patienten mit Diabetes, Immunschwächen, Organtransplantierte, solche mit Psychosen; 2. Ausdehnung der KOF über 20%; 3. alle elektrischen Verletzungen, da mit wesentlichen, häufig unerwarteten Komplikationen zu rechnen ist und der durch die Verletzung gesetzte Schaden am Unfalltag kaum korrekt beurteilt werden kann; 4. chemische Verletzungen mit Flusssäure und Phenol, da vor allem bei Ersterer sehr schnell und unerwartet lebensbedrohlich Komplikationen auftreten können.
b
A Normale oder fast normale Funktion der Hand B Eingeschränkte Funktion. C Massiv eingeschränkte Funktion, ist auf Hilfsmittel angewiesen
5. alle Verbrennungen 4. Grades der Hand (s. unten); 6. alle Patienten mit Begleitverletzungen; 7. immer wenn ein Inhaltionstrauma gesichert ist oder nicht sicher ausgeschlossen werden kann. Der Handchirurg kann alle oben nicht aufgeführten Patienten behandeln, muss sich aber fragen ob er dies ambulant oder stationär tut. Stationär sollten Patienten mit folgenden Verletzungen behandelt werden: 1. Verbrennungen an beiden Händen, 2. großflächige palmare Verbrennungen der Hände, 3. unklare chemische Verletzungen, 4. nicht sichere Tiefendiagnostik, 5. wenn operative Eingriffe notwendig sind. Die meisten Handverbrennungen sind von kleiner Flächenausdehnung, oft gar nur punktuell. Glücklicherweise sind sie auch in der Mehrzahl der Fälle oberflächlich, d. h. Verbrennungen 1. Grades oder oberflächliche Verbrennungen 2. Grades, und können somit konservativ und ambulant behandelt werden.
Konservativ oder operativ Die Tiefe der Verbrennung, unabhängig von allen anderen Faktoren, also auch der Gesamtausdehnung der Brandwunden, bestimmt, ob eine konservative oder operative Therapie indiziert ist. ▬ Bei sicherer Diagnose von Verbrennungen 1. Grades oder oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades führt die konservativ Therapie zu guten Resultaten. ▬ Tiefe Verbrennungen 2. Grades sowie Verbrennungen 3. und 4. Grades der Hand und natürlich auch anderer Körperregionen müssen operiert werden.
Wann soll operiert werden? Unsichere Diagnose Wie schon in Abschn. 46.1.4 erwähnt, ist die sichere Diagnose der oberflächlichen und der tiefen Verbrennung 2. Grades schwierig. Welche der Hände soll man operieren und wann ist dafür der beste
1294
Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Zeitpunkt? Es ist offensichtlich, dass die Beantwortung dieser Fragen sogar am 3.–7. Tag noch schwierig ist. Dem Unerfahrenen sei darum geraten bei Unsicherheit zuzuwarten bis sich die Verbrennung von selbst erklärt: > Was nach 12 Tagen nicht geheilt ist, ist ein tiefe Verbrennung. Bei unsicherer Tiefendiagnose der Verbrennung kann man aber nicht trödeln, da bei zu langem Zuwarten die Gefahr hypertropher Narben, die durch das Granulationsgewebe, welches die Wunde mit zunehmender Zeit im Interesse einer Eigenreparatur bildet, steigt. Schlechte Resultate mit ästhetisch hässlichen und die Funktion einschränkenden Narben sind dann zu erwarten, wenn man auch nach 12 Tagen bei offenen Wunden zuwartet, bis die Spontanheilung nach etwa 3–4 Wochen eintritt.
Isolierte Handverbrennungen (VKOF 20%) Die verbrannte Hand tritt bei ausgedehnten Verbrennungen in den Hintergrund, es geht darum, dass der Patient überlebt. Die Festlegung des Behandlungsalgorithmus muss vom Verbrennungschirurg festgelegt werden. Mit der chirurgischen Wunddeckung wird am 2. posttraumatischen Tag begonnen, wenn alle vitalen Parameter nach dem Verbrennungstrauma stabil sind. Es kann durchaus sein, dass die Hand nicht in der 1. Sitzung operiert wird, weil zuerst möglichst viel KOF gedeckt werden muss, um das Sepsisrisiko zu mindern und damit die Überlebenschance zu verbessern. Es bleibt auch bei diesen schwer verbrannten Patienten aber das Ziel, wenn immer möglich die Hände in der 1. Operationssitzung zu operieren. Bei mangelnden Hautreserven werden zur Deckung Dermisäquivalente oder allogene und xenogene Gewebe eingesetzt.
Strommarken
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Stromeintrittsmarken bei Elektroverbrennungen sind Verbrennungen 3. Grades, bei Hochspannungsverletzung 4. Grades. Wie oben erwähnt, müssen Hochspannungsverletzungen in einem Zentrum behandelt werden, da mit vielerlei Systemkomplikationen zu rechnen ist. Die Eintrittsmarken bei Niederspannungsverletzungen sind fast immer im Gesicht oder an den Händen. Der Wundverschluss mit Spalthaut genügt den funktionellen und ästhetischen Ansprüchen dieser Regionen nicht, er erfolgt darum mit Vollhaut oder lokalen Lappenplastiken. In den meisten Fällen ist der Wundverschluss am Unfalltag nach totaler Exzision möglich, da bei Niedervoltunfällen kaum eine muskuläre Zerstörung vorliegt, wie sie bei Hochvoltverletzung die Regel ist. Ist man sich bezüglich der Vollständigkeit der Exzision und allfälliger tieferer Nekrosen unsicher, ist eine postprimäre Deckung 2–3 Tage nach nochmaliger Wundinspektion zu favorisieren. Die Wundtherapie unterscheidet sich bei Hochspannungsverletzungen nicht von der anderer Verbrennungen, außer im Be-
reich der Stromein- und -austrittsstellen. Wegen der Tiefe dieser Verbrennungen kommt eine tangentiale Exzision nie in Frage. Am sichersten gelingt die Wundkonditionierung über tägliches Débridement oder die Granulationsmethode. Beide Vorgehen dauern ihre Zeit: Meist ist der Wundschluss der Strommarken nach Hochspannungsverletzungen nicht vor 3–4 Wochen posttraumatisch realistisch. Zum Wundverschluss müssen oft gestielte oder freie Lappen eingesetzt werden. Die umstrittene Frage ist, welches der ideale Zeitpunkt zur Lappendeckung ist. Bei der notfallmäßigen oder frühen Lappendeckung (innerhalb 7 Tagen nach Trauma) ergeben sich zwei Probleme: zum einen die Unsicherheit bezüglich stromspezifischer Veränderungen der Gefäße, die über Thrombosen zum Lappenverlust führen können, und zum anderen das unsichere und darum oft ungenügende Débridement: Einerseits wird die Tiefe des Gewebeschadens unterschätzt oder man befürchtet andererseits zu mutilierend zu débridieren und lässt nekrotische Muskelmassen in Knochennähe zurück. Beides führt zu Infekten mit dem Risiko zusätzlicher Gewebeschädigung oder des Lappenverlustes. Die postprimäre Lappendeckung ab 10.–15. Tag ist darum bei Starkstromverletzungen der frühen Lappenplastik (vor dem 7. Tag) vorzuziehen. Die Literatur ist bezüglich des Zeitpunktes der Lappenplastik kontrovers: Man findet Autoren, die den Lappen vom 5.–20. Tag posttraumatisch durchführen, andere sind Vertreter der Lappendeckung innerhalb der ersten 5 Tage. Kritisch muss bemerkt werden, dass bei den Vertretern der frühen Lappenplastiken die Amputationsrate nicht geringer ist als bei Autoren, die die Lappenplastik später durchführen. Hochvoltverletzungen sind begleitet von hohen Amputationsraten. Die unterschiedlichen Angaben in der Literatur reichen von 11–49,4%. Der Gewebeschaden kann unter der Stromeintritts- oder Austrittsstelle so ausgeprägt sein, dass mit keinen chirurgischen Eingriffen die Extremität gerettet werden kann (⊡ Abb. 46.7). Der Zeitpunkt der Amputation soll nicht überstürzt gewählt werden. Die einzige Indikation für eine notfallmäßige Amputation ist der lebensbedrohliche Zustand mit höchsten CK-Werten, massiver Myoglobinurie, die schon in der Notfallsituation zur Anurie führen, oder Nebenverletzungen von Knochen (Blutung!), Nerven und Sehnen. Die Amputation ab 5. bis 10. posttraumatischem Tag gibt dem Chirurgen die Zeit die Situation sicher einzuschätzen und dem Patienten die Möglichkeit den mutilierenden Eingriff zu akzeptieren. Spätestens wenn die Extremität aber als Ursache einer Sepsis identifiziert wurde, muss zur Lebensrettung amputiert werden. 46.1.7 Therapie Besprochen wird die Therapie der isolierten Handverbrennung. Auf die komplexe Therapie bei ausgedehnten Verbrennungen und ihren Komplikationen wird nicht eingegangen
Notfalltherapie Kühlung Das Kühlen der verbrannten Hände während 15 Minuten mit Leitungswasser lindert den Schmerz und verhindert das »Nachbrennen«: Solange die Gewebetemperatur über 52° C liegt, dauert die Schädigung an, die Verbrennung wird tiefer. Je rascher die Kühlung erfolgt, desto weniger wird das Gewebe zusätzlich geschädigt. Kein Eis oder kühlende Sprays verwenden! > Vorsicht ist bei Säuglingen und Kleinkindern geboten, wo zu langes, unkontrolliertes Kühlen zur Unterkühlung führen kann.
1295 46.1 · Allgemeines
Schmerzmittel und Tetanusprophylaxe
▬ starken Schmerzen, die nicht durch den Verbrennungs-
Oberflächliche und tiefe Verbrennungen 2. Grades sind äußerst schmerzhaft. Das Kühlen mit Wasser genügt nicht zur Schmerzlinderung, Schmerzmittel müssen oral oder intravenös verabreicht werden. 40 Tropfen Tilidin, mit Wirkungseintritt nach 5–10 Minuten sind peroral eine wirksame Hilfe. Nur in seltenen Fällen müssen bei isolierten Handverbrennungen Opiate verwendet werden: z. B. 20 mg Pethidin oder 5–10 mg Morphin langsam intravenös oder subkutan. Bei allen Patienten ist nach dem Tetanusschutz zu fragen: Bei nicht Geimpften impfen, bei Geimpften Booster-Therapie. > Eine Prophylaxe mit Antibiotika ist bei isolierten Handverbrennungen kontraindiziert. Nur in Ausnahmefällen sind Antibiotika im Verlauf indiziert, dann resistenzgerecht.
Débridement Alle Brandblasen und nekrotischen Hautanteile werden abgetragen, die Haare in Wundnähe werden rasiert und die Wunde z. B. mit Povidon-Jod-Seife desinfiziert. Vor Anlegen der Verbände werden Wundabstriche zur mikrobiologischen Untersuchung entnommen und eine Fotodokumentation erstellt. Kontrovers ist die Frage ob Brandblasen abgetragen oder belassen werden sollen. Aus der Überlegung, dass bei oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades möglichst viele Zellen gerettet werden sollen, müsste die Blase belassen werden. Leider hat sich dies in der Mehrzahl der Fälle als falsch erwiesen: Eine große Zahl von Bakterien liegt auf der Haut, aber eben auch viele an den Haarwurzeln in der Tiefe, und diese können mit keinem Débridement entfernt werden. Die feuchte Kammer der Blase wird so zum idealen Nährboden für diese an Haarbälgen liegenden Bakterien und eine lokale Wundinfektion ist die Folge. Um dieses Risiko zu minimieren müssen die Blasen abgetragen werden. Erst nach dem Débridement ist eine korrekte Bestimmung der Tiefe möglich. Das Débridement zeigt nicht nur die Farbe des Wundgrundes, sondern gibt auch Aufschluss über die Konsistenz der Wunde und das Vorliegen oder Fehlen von Schmerzen (⊡ Abb. 46.16).
Escharotomie und Fasziotomie Die Indikation zur Escharo- und Fasziotomie ist bei Symptomen wie in Abschn. 46.1.4 beschrieben gegeben bei:
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schmerz erklärt werden können,
▬ Kribbelparästhesien und Gefühlslosigeit, ▬ Flexionskontrakturen, ▬ ausgeprägter Verhärtung, Druckdolenzen und einem charakteristischen Distensionsschmerz,
▬ bei etwa 50% aller Hochspannungsverletzungen mit Stromeinoder -austrittsstelle an den Extremitäten,
▬ venöser Stauung, ▬ arterielle Minderdurchblutung.
Therapie der Verbrennungswunde Das therapeutische Vorgehen wird bestimmt durch die Tiefe der Verbrennung und folgt dem Algorhitmus: Wundprotektion – Wundkonditionierung – Wundverschluss (⊡ Abb. 46.17).
Wundprotektion Handverbrennungen, die nicht am Unfalltag chirurgisch versorgt werden können oder zeitaufwändig spontan heilen, wie die oberflächliche Verbrennung 2. Grades, müssen »geschützt« werden. Folgende Ansprüche werden an die Wundprotektion (Wundpflege) gestellt: ▬ Vermeidung von Wundinfektionen, ▬ Schmerzlinderung, ▬ Förderung der natürlichen Wundheilung, ▬ die Wundbeurteilung muss jederzeit möglich sein und eine spätere Operation darf durch lokale Maßnahmen, wie farbige oder gerbende Substanzen, nicht erschwert werden. Konservative Therapie der Handverbrennung 1. Grades und der oberflächlichen Handverbrennung 2. Grades Für die Verbrennungen 1. Grades und die oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades ist die Protektion die einzige Maßnahme, also die konservative Therapie; die Heilung tritt nach 6 respektive 10–12 Tagen ein. Für die tiefen Verbrennungen 2. Grades und die Verbrennungen 3. Grades ist sie Schutz vor der definitiven Deckung, die nicht vor dem 2.–4. posttraumatischen Tag erfolgt, bei unklarer Tiefe oder bei Strommarken gar erst nach 2–3 Wochen.
⊡ Abb. 46.16 Débridement. a Klinischer Aspekt vor Débridement, b klinischer Aspekt nach Débridement
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Verbrennungstiefe
A u s d e h n u n g
I°
oberflächlich II°
tief II°
ambulant
ambulant
ambulant/stationär
ambulant/stationär
Therapie
fettende Salbe/Creme
Fettgaze Silbersulfadiazin Exposition
frühe TE und SH
frühe TE und SH frühe TotE und VH/Lappen
Heilung
in 6 Tagen
in 10Tagen
in 10-14 Tagen
in 10-14 Tagen
ambulant
stationär
stationär
stationär
bis 5%
bis 30%
III°
Therapie
fettende Salbe/Creme
Fettgaze Silbersulfadiazin Exposition
frühe TE und SH Alternativ GM und SH
frühe TE und SH frühe TotE und SH Alternativ GM und SH Selten indiziert:
Heilung
in 6 Tagen
in 10Tagen
in 10-14 Tagen bei GM in ca 3-4 Wochen
frühe TotE und VH/Lappen in 10-14 Tagen bei GM in ca 3-4 Wochen
stationär
stationär
über 30%
ambulant/stationär
stationär
Therapie
fettende Salbe/Creme
Fettgaze Silbersulfadiazin Exposition
frühe TE und SH/AG/CEA GM und SH/AG//CEA
frühe TotE und SH/AG/DA/CEA frühe TE und SH/AG/CEA GM und SH/AG//CEA
Heilung
in 6 Tagen
ev Allograft in 10Tagen
in 6 Wochen
in 6-8 (10) Wochen
TE Tangentiale Excision; SH Spalthaut; TotE Totale Excision; VH Vollhaut; GM Granulations-Methode; AG Allograft; DA Dermisaequivalent; CEA Autologe Keratinocyten ⊡ Abb. 46.17 Algorithmus der Wundbehandlung in Abhängikeit von der Verbrennungsausdehnung und der Verbrennungstiefe
Die konservative Therapie der Verbrennung 1. Grades erfolgt mit einer Creme, die die Wirkstoffe Dexpanthenol und Chlorhexidindihydrochlorid enthält. Verbände sind nicht notwendig. Oberflächliche Verbrennungen 2. Grades der Hände werden nach dem Débridement mit einer Fettgaze abgedeckt und über einen Absorptionsverband okklusiv behandelt (⊡ Abb. 46.18). Da die Verbrennungswunde keiner Luftexposition ausgesetzt ist, wird der Schmerz gemindert und die Dicke des Verbandes lässt eine Kontamination mit Bakterien nicht zu. Der Verband wird 10 Tage belassen, es sei denn der Patient beklag sich über zunehmende Schmerzen oder es besteht bei Fieber der Verdacht auf eine Wundinfektion. Mit diesem Vorgehen werden dem Verletzten die schmerzhaften täglichen Verbandswechsel erspart. War die Diagnose richtig, ist die Verbrennung nach 10 Tagen geheilt.
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Wundprotektion vor chirurgischer Deckung tiefer Handverbrennungen 2. Grades sowie Handverbrennungen 3. und 4. Grades Die tiefen Verbrennungen, die nicht innerhalb von 10 Tagen heilen, müssen möglichst rasch chirurgisch behandelt werden. Bis der endgültige Wundschluss erfolgen kann, muss die Wunde vor dem Austrocknen und der Infektion geschützt werden.
Häufig wird Silbersulfadiazin verwendet. Silber und das Sulfonamid Sulfadiazin sind die Bestandteile, des als weiße Creme verfügbaren Silbersulfadiazins. Bei Kontakt mit dem Wundsekret dissoziiert die Verbindung und, während das Silber an der Oberfläche wirkt, penetriert ein Teil des Sulfonamids in den Schorf. Silbersulfadiazin hat eine bakteriostatische und bakteriozide Wirkung, etwas besser für gramnegative als für grampositive Keime, und hemmt auch das Wachstum von Candida. Elektrolytverschiebungen im Sinne eines erhöhten Natriumverlustes unter Silbersulfadiazin treten nur bei ausgedehnten Verbrennungen auf. In weniger als 1% der Fälle kann eine Leukopenie beobachtet werden, die, auch unter weiterem Einsatz des Silbersulfadiazins, reversibel ist. Silbersulfadiazinverbände müssen täglich gewechselt werden. Durch die Beimischung von Ceriumnitrat wird die antmikrobielle Potenz des Silbersulfadiazins, vor allem gegen den Problemkeim Pseudomonas aeruginosa, erhöht. Das Cerium soll auch einen positiven Einfluss auf die geschwächte Immunlage des Verbrennungspatienten haben. Neben diesen Vorteilen hat es den Nachteil einer gerbenden Wirkung, was die Beurteilung der Wunden und die Operation etwas erschwert. Dem Silbersulfadiazin wird eine gewisse Hemmung der spontanen Epithelisation nachgesagt. Diese hofft man durch die Zugabe
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⊡ Abb. 46.18 Konservative Therapie der oberflächlichen Handverbrennung 2. Grades. a Klinischer Aspekt bei Aufnahme, b klinischer Aspekt nach steriler Abtragung der Blasen und Auflage von Fettgase, c Okklusionsverband für 10 Tage, d klinischer Aspekt nach dem ersten Verbandswechsel am 11. postkombustalen Tag, e klinischer Aspekt 1 Jahr nach Verbrennung mit Resitutio ad integrum
von Hyaluronsäure, mit seiner antiphlogistischen Wirkung und, in Versuchen nachgewiesenen, beschleunigten Epithelisation, zu korrigieren. Acticoat (Smith & Nephew, Hull, England) ist ein aus drei Schichten bestehender Verband: Eine absorbierende innere Kernschicht aus Rayon/Polyester und zwei Außenschichten aus Polyethylen, die mit nanokristallinem Silber bedampft sind. Im Gegensatz zum Silbersulfadazin handelt es sich beim Acticoat nicht um einen cremeartige Substanz, sondern einen Verband, der in der Ausdehnung von 5-mal 5 cm bis 10-mal 120 cm erhältlich ist. Das Acticoat wir mit einem Sekundärverband auf der Verbrennung festgehalten und muss mindestens alle 3 Tage, bei Verbrennungen besser täglich gewechselt werden. Es scheint, dass die Wundheilung etwas schneller eintritt als bei anderen Silbertherapien, die Narbenbildung etwas weniger ausgeprägt ist und das antimikrobielle Spektrum in etwa gleich ist wie beim Silbersulfadiazin. In neuren Publikationen wird bei kindlichen Verbrennungen von besseren Resultaten als mit Silbersulfadiazin berichtet, allerdings wird in einer anderen Arbeit wieder erwähnt dass kein evidenter Vorteil von Acticoat zum Silbersulfadiazin bestehe. Povidon-Iod hat in etwa dasselbe antimikrobielle Spektrum wie Silbersulfadiazin, muss aber im Gegensatz dazu mehrmals täglich aufgetragen werden und ist leicht gerbend. Zusätzlich ungünstig ist die braune Farbe, die die Beurteilung der Wunde erschwert. Eine aufwendige Möglichkeit der Wundprotektion ist der vakuumunterstützte Wundverschluss mit dem Vacuum Assisted Closure System (V.A.C.-System; KCI, San Antonio, Texas). Über sterilen Schaumstoff direkt auf die débridierte Wunde aufgelegt, anschließend mit einer Folie luftdicht verschlossen, wird mit einem in den Schaumstoff eingebrachten Schlauch maschinell ein Unterdruck erzeugt. Das Sauggerät erlaubt einen kontinuierlichen Unterdruck von 20–200 mmHg, wobei üblicherweise mit 125 mmHg gearbeitet wird, da ein höheres Vakuum zu Schmerzen führt. Der gesamte Verband muss alle 2–3 Tage erneuert werden. Die Vorteile einer solchen Behandlung sind die minimale Keimbesiedlung durch den luftdichten Verschluss, die Reduktion des lokalen Ödems durch den kontinuierlichen Unterdruck und die beschleunigte Bildung von Granulationsgewebe über die gesteigerte Neovaskularisation. Durch die erhöhte Gefäßpermeabilität unmittelbar nach dem Trauma kommt es in der Zone der Stase zu Ödemen und erhöhter Blutviskosität. Diese Problematik kann sich im schlechtesten Fall
bis zum totalen Ausfall der Durchblutung in der Zone der Stase steigern, welche zu einem Tieferwerden der Verbrennungswunde führt. Experimentelle Arbeiten scheinen zu zeigen, dass solche Sekundärschäden über eine Reduktion des Ödems in der Zone der Stase mit dem V.A.C.-System verhindert werden können. Die Nachteile des V.A.C.-Systems sind die oft geschilderten Schmerzen, die Unmöglichkeit die Finger und das Handgelenk zu bewegen, das Wechseln alle 2–3 Tage und der Kostenaufwand. Dazu kommt, dass »Vacen« bequem ist und dazu verleitet die chirurgische Behandlung zu verzögern, es wird »gevact« und »gevact« und die Handverbrennung ist immer noch nicht operiert.
Wundkonditionierung der tiefen Verbrennung 2. Grades und der Verbrennung 3. Grades Der erste chirurgische Schritt des Wundverschlusses besteht im Entfernen des nekrotischen Gewebes, mit dem Ziel, einen vitalen Wundgrund zu schaffen, auf welchem autogene, allogene oder xenogen Transplantate und Dermisäquivalente einheilen können. Drei Techniken zur Verfügung: 1. die Granulationsmethode, 2. die tangentiale Exzision und 3. die tiefe, epifasziale Exzision. Welche Technik an der Hand gewählt wird, ist fast ausschließlich von der Tiefe der Verbrennung abhängig. Granulationsmethode Ziel der Granulationsmethode ist die Umwandlung der Verbrennungswunde in eine vitale Granulationsfläche. Bei isolierten Handverbrennungen fast ausschließlich bei unklarer Tiefendiagnostik in der Gruppe der Verbrennungen 2. Grades (oberflächlich oder tief) indiziert. Die Therapie beginnt dann, wenn der Chirurg sicher erkannt hat, dass eine Spontanheilung nicht innerhalb von 10–12 Tagen erfolgt. Eine seltene Indikation ist die für die tangentiale Exzision »zu tiefe« Verbrennung: Bei Handverbrennungen 3. Grades kann es schwierig sein, die richtige Exzisonstiefe ( Abschn. 46.2) ohne Verletzung von Gleitschichten der Sehnen oder gar der Sehnen selbst zu finden. Man hofft dann mit der Granulationsmethode diese Strukturen zu erhalten. Das Resultat ist ungewiss, da wie schon erwähnt, Granulationsgewebe schlechtes, stark narbenbildendes
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⊡ Abb. 46.19 Granulationsmethode als Alternative zur tangentialen Exzision bei »zu tiefer« Verbrennung bei älteren Patienten. a Unfalltag, b nach 3 Wochen, c nach dem ersten Verbandswechsel, d nach 3 Monaten
Gewebe ist. Vor allem bei alten Menschen, bei welchen die Narbenbildung deutlich weniger ausgeprägt ist als bei Jungen, können mit dieser Methode akzeptable Resultate erzielen (⊡ Abb. 46.19). Tangentiale Exzision nach Janzekovic 1970 publizierte Zora Janzekovic die Technik der tangentialen Exzision, welche heute einer der Eckpfeiler der chirurgischen Behandlung von Verbrennungen ist. Der Begriff beinhaltet zwei Vorgänge: Exzision der nekrotischen Hautanteile und sofortiger Wundverschluss mit Spalthaut. > Die tangentiale Exzision wird am 2.–7. posttraumatischen Tag bei sicherer Diagnose einer tiefen Verbrennugn 2. Grades oder einer Verbrennung 3. Grades in Narkose durchgeführt.
Das ist der ideale Zeitpunkt, weil die Verbrennungstiefe etabliert ist, das Ödem rückgängig, aber noch diskret vorhanden (hilft besonders bei der Exzision des Handrückens über den Strecksehnen), die Störungen des Aggressionsstoffwechsels stabilisiert sind, die Blutungstendenz am geringsten und die immer präsenten Bakterien noch in geringer Zahl und in der obersten Schicht des Schorfes liegen, also nicht mit einem Einschwemmen in die Blutbahn während der Operation zu rechnen ist. Tangentiale Exzisionen können schon nach dem 5., eindrücklich nach dem 7. Tag, zu starker intraoperativer Blutung führen. Die Gefahr der Bakteriämie oder Sepsis, durch Einschwemmen der Keime in die Blutbahn nimmt jeden Tag, der nach dem Unfall verstreicht, zu. Es ist sicherer nach 7 Tagen mit einer »aktiven« Granulationstherapie zu starten.
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Totale oder epifasziale Exzision Die totale Exzison kommt bei isolierten Handverbrennungen nur bei Elektroverletzungen im Bereich der Strommarken oder bei den seltenen Verbrennungen durch Bügelpressen, also Verbrennungen 4. Grades, zur Anwendung. Die Problematik dieser Technik liegt an der Hand darin, dass nach der Exzision die Gleitschichten der Strecksehnen und palmarseitig Nerven und Gefäße freiliegen. Dies macht klar, dass eine Deckung mit Spalthaut nicht mehr sinnvoll ist, sondern meist freie oder gestielte Lappen, in seltenen Fällen Vollhaut, verwendet werden müssen. Die totale Exzision ist vom 1.–7. Tage posttraumatisch möglich, allerdings steigt auch hier bei längerem Zuwarten das lokale und systemische Infektrisiko.
Wunddeckung Idealerweise wird die definitive Wunddeckung (Spalthaut, Vollhaut, Lappenplastik) zeitgleich mit der Wundkonditionierung durchgeführt. Die Ausnahme von dieser Regel bildet die Granulationsmethode. Als Alternativen zur definitiven Wunddeckung kommen temporär Allo- und Xenografts oder synthetische Membranen zum Einsatz, oder, als permanter Ersatz, Dermisäquivalente, die nach 2–3 Wochen mit autologer Spalthaut oder Keratinozyten bedeckt werden ( Kap. 35). Spalthaut Der Wundverschluss mit Spalthaut nach tangentialer Exzision oder der Granulationsmethode bei tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades der Hand ist der »goldene Standard«. Spalthaut ist bezüglich des Wundgrundes nicht anspruchsvoll, sie heilt leicht ein. Da sie nur aus Epidermis besteht, also die Dermis fehlt, hat sie eine große Tendenz zur Narbenbildung und damit Kontraktion, was gerade an einer Funktionszentrale des Körpers, der Hand, negativ ins Gewicht fällt. Das Spenderareal kann bei Verbrennungsausdehnungen unter 10% der KOF, also bei isolierten Handverbrennungen, frei gewählt werden. Die Auswahlkriterien sind die Farbe der Spalthaut, die zu erwartenden Komplikationen an den Entnahmestellen und der Patientenkomfort. Vollhaut Vollhaut hat verschiedene Nachteile: ▬ Sie heilt schlechter ein als Spalthaut oder Lappenplastiken, ▬ die Ausdehnung ist limitiert (praktisch unmöglich nur einen Handrücken zu decken), ▬ es gibt wenige Spenderstellen, ▬ und die Entnahmestelle heilt nicht spontan, sie muss chirurgisch versorgt werden und hinterlässt fast durchwegs gut sichtbare Narben. Allerdings hat Vollhaut gegenüber Spalthaut auch Vorteile: ▬ geschmeidigere Narbe, da Dermis mittransplantiert wird, ▬ und, besonders wichtig für den Handrücken und die Finger, eine Gleitschicht für die Strecksehnen, was eine deutlich bessere Funktion als mit Spalthaut garantiert.
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Diese Vorteile können die Nachteile bei frischen Handverbrennungen nur in Ausnahmefällen aufwerten. Das Einheilen der Vollhaut stellt höhere Anforderungen an das Wundbett als Spalthaut: Der Wundgrund muss sicher vital sein. Vorbereitend zur Vollhautdeckung sollte darum total exzidiert werden oder Granulationsgewebe vorliegen. Nach tangentialer Exzision heilt Vollhaut kaum ein und ist darum kontraindiziert. Eine Indikation zur Vollhauttransplantation sind darum die Verbrennungen 3. und 4. Grades des Handrückens, welche am Unfalltag total exzidiert werden. Wie unter totaler Exzision (s. oben) beschrieben, werden die Strecksehnen ohne Gleitschicht vielerorts freiliegen und bei Deckung nur mit Spalthaut wird ein ungenügendes funktionelles Resultat erzielt. Alternativen zur Vollhaut sind lokale, axial gestielte oder freie Lappenplastiken. Gestielte und freie Lappenplastiken Verbrennungen 4. Grades der Hand, bei welchen funktionell entscheidende Strukturen wie Gefäße, Gelenke, Sehnen, Nerven und Knochen nach der Exzision der Verbrennung freiliegen, müssen mit Lappen gedeckt werden. Eine Lappendeckung aus ästhetischen Überlegungen alleine ist bei frischen Verbrennungen der Hand nie indiziert. Ätiologisch handelt es sich vorwiegend um Elektro- und Kontaktverbrennungen. Mit der Lappendeckung innerhalb von 5–10 Tagen nach dem Unfall kann die endgültige Versorgung mit bestmöglichem Resultat erfolgen. Welche Lappen kommen in Frage? Für dorsale Verbrennungen sollten möglichst dünne fasziokutane Lappen gewählt werden, je nach Größe des Defektes: ▬ lateraler Oberarm (frei oder gestielt von der Gegenseite), ▬ radialer Vorderarmlappen (frei oder gestielt), ▬ anteriolateraler Oberschenkellappen (frei), ▬ Leistenlappen (frei oder gestielt), ▬ Dorsalis-pedis-Lappen (frei) ▬ Skapula oder Paraskapulalappen (frei), ▬ dorsaler Interosseuslappen (gestielt), ▬ für Fingerverbrennungen axial gestielte Lappen vom Handrücken, ▬ Random Abdominalwall- oder Oberarmlappen. Alternativ können je nach Größe des Defektes Gleitgewebe- bzw. Faszienlappen verwendet werden: ▬ Serratusfaszienlappen (frei), ▬ Gleitgewebelappen zwischen Latissimus dorsi und Serratus anterior (frei), ▬ Omentum maius (frei), ▬ Temparalisfaszienlappen. Man kann allerdings auch mit Muskellappen (Latissimus dorsi, Serratus anterior oder Grazilis) sehr schöne Resultate erzielen. Diese Muskellappen müssen aber gut gespannt eingenäht werden, sonst sind sie zu bullig (⊡ Abb. 46.20). Zur Deckung palmarer Verbrennungen, welche meist spontan heilen oder nach der Granulationsmethode mit Spalthaut oder Vollhaut versorgt werden können, sind kaum Lappen erforderlich. Es sei denn, es handlt sich um eine Kontakt- (Bügelpresse) oder Elektroverbrennung. Wenn in solchen Fällen Lappen benötigt werden, müssen sie ausgedehnt und dicker als dorsalseitig sein, da durch den Muskelverlust ein veritables Gewebsdefizit besteht. Hier kommen neben den fasziokutanen Lappen (Leistenlappen, frei oder gestielt), radialer Vorderarm (unter Umständen gestielt) lateraler Oberarm
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c ⊡ Abb. 46.20 Verätzung 4. Grades im Bereich des Handrückens und dorsalen distalen Unterarmdrittels: Deckung mit einem freinen Latissimus-dorsi Lappen in Kombination mit Spalthaut. a Laugenverätzung, b nach Débridement – Beachten Sie die freiliegenden Sehnen. c Ästhetisches Resultat 1 Jahr nach Lappendeckung mit rein muskulärem Latissimus dorsi und Spalthaut – Beachten Sie, dass der Lappen auch am Handrücken nicht zu dick ist und vor allem auch, dass mit Spalthaut bedeckte Lappen sich farblich und texturmäßig besser als myokutane Lappen integrieren
(frei oder gestielt von der Gegenseite), Skapula- oder Paraskpularlappen (frei), vermehrt auch Muskellappen (Latissimus dorsi, Serratus anterior, Grazilis, Rectus abdomini) in Frage ( Kap. 35). Eine kontroverse Diskussion besteht ob der Frage freier oder axial gestielter Lappen. Die gestielte hat gegenüber der freien Lappenplastik einige Vorteile die nicht zu unterschätzen sind: ▬ technisch einfacher, ▬ kürzere Operationszeit, ▬ heilen sicherer ein als freie Lappen, ▬ können bei allfälligen Infekten, meist wegen ungenügendem Débridement bei Unterschätzung der Muskelnekrosen (Elektroverbrennungen!) oder aus Angst vitale Strukturen unnötig zu resezieren, am Stiel gehoben werden, und nach weiteren Débridements wieder eingenäht werden. Ein freier Lappen geht in einer solchen Situation verloren.
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⊡ Abb. 46.21 Gestielter Leistenlappen nach McGregor zur Deckung eines Defektes nach Verbrennung 3. Grades der 1. Kommissur. a Verbrennung 3. Grades mit Bügeleisen, b totale Exzision der Verbrennung und Deckung mit Leistenlappen am Unfalltag, c Spenderstelle nach 9 Monaten, d funktionelles Resultat nach einmaliger Ausdünnung des Lappens 2 Jahre nach Unfall
⊡ Abb. 46.22 Cross-Arm-Lappenplastik nach McCash bzw. Colson zur Deckung eines polydigitalen dorsalen Defektes nach Verbrennung 4. Grades. a Klinischer Aspekt nach Wundkonditionierung mit der Granulationsmethode, b Zustand nach Einnähen der Hand in den kontralateralen Oberarm, c Zustand nach Lappentrennung und sequenzieller Auflösung der iatrogenen Syndaktylie: Ansicht von dorsal, d Ansicht von lateral
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Nachteilig gegenüber freien ist bei den gestielten Lappen die unbequeme Position, die auch eine effiziente Handtherapie verunmöglichen kann. Natürlich fällt auch ins Gewicht, dass der Vater aller gestielten Lappen, der Leistenlappen, kein einzeitiges Verfahren ist. Der gefäßführende Stiel muss nach 3 Wochen durchtrennt und reell muss er mindestens 2-mal in der Folge ausgedünnt werden. Trotz all dieser Nachteile kann der »alte« gestielte Lappen zu guten funktionellen und ästhetischen Resultaten führen (⊡ Abb. 46.21). Vergleicht man diesen Leistenlappen ( Abschn. 35.2.11) allerdings mit dem eleganteren dorsalen Interosseuslappen werden seine Grenzen klar aufgezeigt ( Abschn. 35.2.8). Spezielle klinische Situationen Spezielle Fälle von Handverbrennungen verlangen nach speziellen Lösungen. In solchen Situationen sind oft »uralte« Methoden die einzigen, die zum Ziel führen. Den idealen Lappen der alle tief verbrannten Finger bedeckt ohne intermediäre Syndaktylie, gibt es nicht. Der zufällig (random) durchblutete Abdominallapen wurde
schon erwähnt. Eine andere Lösung ist der zufällig durchblutete Oberarmlappen (Colson; ⊡ Abb. 46.22) mit all seinen Nachteilen: Schreckliche Position für den Patienten, hässliche Spenderstelle, keine Handtherapie möglich und mehrere Eingriffe. Bei der Behandlung von Handverbrennungen kommen Fälle vor, bei denen es lediglich darum geht nicht zu amputieren, also ein miserables funktionelles und ästhetisches Resultat für die »Handrettung« in Kauf zu nehmen. Anders ausgedrückt wird mit größtem chirurgischem Aufwand eine »warme Prothese« als Endresultat geschaffen. Bei Funktionsausfällen nach Elektroverbrennungen wegen Myonekrosen, können funktionelle freie Muskeltransplantate ( Kap. 58) zu einer deutlichen Funktionsverbesserung führen. Allogene kryopräservierte Keratinozyten Rheinwald und Green beschrieben 1975 die Technik der autologen In-vitro-Züchtung von Keratinozyten in mehreren Passagen und über erste klinische Erfolge bei der Wunddeckung von Ver-
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brennungen wurde 1981 berichtet. Autologe Keratinozyten werden heutzutage routinemäßig bei Verbrennungen über 40% eingesetzt. Autologe Keratinozyten werden bei isolierten Handverbrennungen aber nicht verwendet, 1. weil bis zur Fertigstellung im Labor mehr als 10 Tage vergehen, 2. der Preis zu hoch ist und 3. die Resultate mit Spalthaut besser sind. Das Zentrum des Allgemeinen Krankenhauses in Wien publizierte 2009 gute Resultate bei unklaren Handverbrennungen 2. Grades mit allogenen, kryopräservierten Keratinozyten. In einer Vergleichsstudie mit Spalthaut wurden mit solchen Keratinozyten für beide Gruppen gleich gute Resultate beschrieben. Das Problem der Wiener Gruppe dürfte aber sein, zu beweisen, dass es sich wirklich in beiden Gruppen um tiefe Verbrennungen 2. Grades handelte, dass also nicht oberflächliche Verbrennungen, die auch konservativ heilen, verglichen wurden. Beweisen randomisierte und kontrollierte Studien die Wiener Resultate, ist das alte Dilemma zwischen oberflächlichen oder tiefen Verbrennung 2. Grades, also operieren oder konservative Therapie, gelöst: Bei allen unklaren Tiefendiagnosen werden allogene Keratinozyten eingesetzt. Neben allen Unklarheiten bezüglich des Risikos möglicher Übertragung viraler Krankheiten durch allogene Keratinozyten fällt die Verfügbarkeit (nur Verbrennungszentren haben Labors, welche allogene Keratinozyten vorrätig haben) und der hohe Preis einer solchen Therapie negativ ins Gewicht. Dermisäquivalente Die Epidermis, bestehend aus Schichten von Keratinozyten, die fest verankert in der Dermis sind, schützt den Körper vor Wasserverlust und bakterieller Besiedelung. Durch den Wundschluss mit Spalthaut, also reiner Epidermis ohne Dermis, können die lebensbedrohlichen Flüssigkeitsverluste und Infektionen effektiv eliminiert werden. Der Verlust der Dermis bei Verbrennungen 3. Grades kann autogen nur mit Vollhaut oder Lappenplastiken ersetzt werden. Fehlt aber die für die Geschmeidigkeit, Widerstandsfähigkeit, Hitzeregulation und das Gefühl der Haut verantwortliche Dermis, kommt es zur typischen Narbenbildung mit den bekannten ästhetischen und funktionellen Defiziten. Das Ziel des perfekten Wundverschlusses müsste es also sein, auch die fehlende Dermis zu ersetzten. Solche, sog. Dermisäquivalente, also nicht autologe Gewebe mit der Qualität von Dermis, sind heute verfügbar. Man konnte beobachten, dass so zur Heilung gebrachte Verbrennungswunden weichere und elastischere Narben aufweisen, weil eben unter der Spalthaut, welche immediat (Matriderm) oder verzögert (Integra) auf das Dermisäquivalent aufgelegt wird, eine »Neodermis« liegt. Das älteste Dermisäquivalent ist Integra (Integra Life Sciences, Plainsboro, New Jersey) Es handelt sich um einen künstlichen, zellfreien aus zwei Schichten bestehenden Hautersatz. Die oberflächliche Schicht besteht aus einer Silikonmembrane mit einer Wasserdampfdurchlässigkeit ähnlich der Epidermis. Die tiefere, der Wunde aufliegende Schicht, besteht aus einer Kombination von bovinen Kollagenfasern und aus Glycosaminglycan (Chondroitin6-Sulfat). Diese 2 mm dicke innere Schicht hat etwa 70–200 μ große Poren, in welche im Zeitraum von etwa 2–3 Wochen patienteneigene Fibroblasten und Endothelzellen einsprossen und so eine »Neodermis« bilden. Integra, auf total exzidierte Wunden aufgelegt, erfüllt also alle Ansprüche »normaler« Haut: Schutz vor Flüssigkeitsverlust, Abwehrschranke gegen Bakterien und Aufbau der fehlenden Neodermis. Nach 2–3 Wochen wird die obere Silikonschicht entfernt und auf die »Neodermis«-Spalthaut appliziert. Integra wird bei frischen Verbrennungen, allerdings selten, und vor allem zur Rekonstruktion bei funktionell oder ästhetisch
störenden Narben nach Verbrennungen eingesetzt (⊡ Abb. 46.34). Die Idee, die fehlende Dermis, die für die Narbenbildung hauptverantwortlich ist, zu rekonstruieren, ist einleuchtend. Matriderm (Dr. O. Suwelack Skin and Health Care AG, Billerbeck, Deutschland) ist eine 1 mm dicke dreidimensionale Matrix bestehend aus nativ strukturierten Kollagenfibrillen mit Elastin und dient der dermalen Reparation. Das Kollagen der Matrix wird aus boviner Dermis gewonnen und enthält die dermalen Kollagentypen I, III und V. Das Elastin wird aus dem Lig. nuchae der Rinder gewonnen. Die Dicke der Matrix beträgt bei der Standardindikation 1 mm, ebenfalls erhältlich ist eine 2-mm-Matrix, die allerdings nicht primär mit Spalthaut bedeckt werden kann. Nach dem Débridement und exakter Blutstillung wird Matriderm auf den Wundgrund gelegt; die Rehydrierung erfolgt dabei zumeist von der Wunde aus; kann bei Bedarf aber auch mit einer Spritze mit 0,9% NaCl durch Beträufeln erfolgen. Die 1-mm-Matrix wird dann in derselben Sitzung mit dünner Spalthaut bedeckt. Im Gegensatz zu Integra, kann beim 1 mm starken Matriderm also sofort mit Spalthaut bedeckt werden, es hat darum Vorteile in der primären Behandlung gegenüber Integra: Bei Verletzten, die einer chirurgischen Behandlung bedürfen, wird innerhalb der ersten 5 Tage nach Trauma ein Débridement durchgeführt und die Indikation zur Verwendung eines Dermisäquivalents gestellt. Matriderm wird z. B. bei tiefenHandverbrennungen 2. Grades oder Handverbrennungen 3. Grades in einer Dicke von 1 mm für die einzeitige Rekonstruktion der Dermis in Kombination mit einem dünnen Spalthauttransplantat verwendet. Gute Resultate damit werden von gewissen Autoren bei Handverbrennungen berichtet, kontrollierte klinische Studien liegen allerdings noch nicht vor. Ein weiteres Dermisäquivalent ist Alloderm (Life Cell Corporation, Woodlands, Texas). Es besteht aus azellulärer, kryopräservierter allogener Dermis. Die Epithelzellen werden eliminiert und die verbleibende Dermis mit Detergenzien behandelt und dann kryopräserviert, sodass schlussendlich ein Gerüst von Proteinen resultiert, welches der Dermis äquivalent ist. Über gute Resultate mit Alloderm bei Handverbrennungen 3. und 4. Grades mit freiliegenden Gelenken, wo eine Lappenplastik wegen kritischem Zustand der Patienten nicht möglich war, wurde berichtet. Das Alloderm wurde gemesht auf die débridierte Wunde mit offenen Gelenken aufgelegt. Bis zur Spalthautdeckung nach 14 Tagen wurde das Alloderm entweder mit V.A.C. oder Acticoat-Lösung bedeckt. Interessant erscheint, dass vor allem bei tiefsten Verbrennungen, allerdings kleiner Ausdehnung, gute Resultate erzielt wurden. Allogene und xenogene Gewebe > Während die Behandlung mit autologem Gewebe und Dermisäquivalenten permanent ist, erfolgt die Behandlung mit allogenen und xenogenen Geweben nur temporär.
Der Allograft ist nach chirurgischer Wundkonditionierung (Granulationsmethode und Exzisionsmethode), wo der Wundschluss mit Spalthaut nicht unmittelbar möglich ist, die beste Wunddeckung. Er wird als Spalthaut, nach üblicher Testung auf infektiöse Krankheiten, von Organspendern entnommen. Er kann frisch verwendet oder im Kühlschrank bei 4° C über 10 Tage gelagert werden, ohne seine Vitalität einzubüßen. Länger haltbar sind tiefgefrorene Allografts, die nach Präparation mit Glyzerin bei –168 bis –192° C gelagert werden. Allerdings ist so kryopräservierte Haut im Gegensatz zum frischen oder kühlschrankgelagerten Allograft avital. Verschiedene xenogene Haut- und Dermistransplantate wurden erprobt, angewendet wird heute lediglich noch kryo- oder
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glycerolpräservierte Schweinehaut. Als temporäre Bedeckung für 5–7 Tage bietet sie einen guten Schutz vor Wundinfekten und Flüssigkeitsverlusten und ist schmerzlindernd.
gen unterscheiden: Die häufigste Ursache sind hier Elektro- oder Kontaktverbrennungen und nicht Flammenverbrennungen oder Verbrühungen.
Synthetische Wunddeckung Es handelt sich dabei um semipermeable Membranen die neben der Schmerzlinderung einen guten Schutz vor Bakterien und Verlust von Wasserdampf bieten. Am häufigsten wird Biobrane verwendet. Biobrane (Laboratories Inc., Rockford, Illinois) ist eine zweischichtige Membran mit einer inneren Schicht aus Nylon, in welches die Kapillaren einsprossen können, und einer äußeren Silikonschicht, die die Schutzfunktionen übernimmt. Für Handverbrennungen wurde speziell ein Handschuh entwickelt. Er wird direkt nach Povidon-Iod-Desinfektion angezogen und mit einem sekundären, absorptiven Verband leicht angepresst. Es ist wichtig zu wissen, dass Biobrane semipermeabel ist, sich also Exsudate und Hämatome unter dem Handschuh entwickeln können. Bis das Biobrane adhärent auf der Verbrennungswunde aufliegt dauert es etwa 2–3 Tage, danach sind keine Sekundärverbände mehr notwendig. Vorteil der Biobranebehandlung ist die Schmerzlinderung und, wenn es adhärent der Verbrennungswunde aufliegt, der antimikrobielle Schutz. Nachteilig ist, dass zu Beginn der Therapie durch die oben beschriebene mögliche Flüssigkeitsansammlung die lokale Infektgefahr groß ist und darum die meisten Autoren eine Antibiotikaprophylaxe mit Cephalosporinen empfehlen. Anwendungsmöglichkeiten sind die unsicheren Handverbrennungen 2. Grades, vor allem darum, weil das durchsichtige Biobrane jederzeit eine Wundbeurteilung und einen eventuellen Strategiewechsel von konservativer zu operativer Therapie zulässt. Entscheidet man sich zur Granulationsmethode kann der Biobrane-Handschuh hilfreich sein: Beim Entfernen der mit Kapillaren durchwachsenen Folie nach 5 Tagen kommt es zu einer günstigen mechanischen Reinigung der Wunde. Das Epigard, mit seiner oberen Schicht aus Teflon und unteren aus Polyurethan, hat in etwa die gleiche Funktion und Indikation wie Biobrane.
Gemischte dorsale und palmare Handverbrennungen
Therapie der palmaren Handverbrennung Die meisten palmaren Handverbrennungen sind oberflächlich und heilen spontan. Sie haben eine eindrückliche Heilungstendenz und müssen nur in seltenen Fällen operiert werden. Eine Ausnahme von dieser Regel stellen isolierte palmare Handverbrennungen dar, die sich auch ätiologisch von den dorsalen Handverbrennun-
In Abschn. 46.1.1 wurde auf den Unterschied zwischen palmaren und dorsalen Handverbrennungen aufgrund der unterschiedlichen Hautstruktur hingewiesen. Sheridan berichtet in seinen Studien bei 57,5% der Erwachsenen und 68% der Kinder von einer Mitbeteiligung der Handinnenfläche bei Handverbrennungen. Wegen der hohen Spontanheilungstendenz von Leistenhaut kann die Mehrzahl der palmaren Handverbrennungen konservativ behandelt werden (⊡ Abb. 46.23). Nur solche, die nach 3 Wochen konservativer Therapie, meist mit Silbersulfadiazin, nicht heilen, müssen operiert werden. In einer Studie von Barret bei Kindern waren dies weniger als 10% und Sheridan berichtet in seiner Studie bei Erwachsenen, dass lediglich 18% der palmaren Verbrennungen operativ versorgt werden mussten. Manche Autoren empfehlen zur Wunddeckung Spalthaut, entnommen von der Fußsohle, andere decken mit Felderspalthaut, berichten dabei aber von besseren Resultaten mit gestichelten »Sheet-Grafts« als mit 1:1,5 gemeshter Haut. Bei Kindern können scheinbar mit Vollhaut, je nach Größe der Verbrennung (entnommen retroaurikulär oder inguinal), die besseren Resultate als mit Spalthaut erzielt werden. Im Verlauf werden hohe Anzahlen an Korrektureingriffen, bis 50% aller Fälle, erwähnt, vorwiegend bei den tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades, die erst nach 3 Wochen spontan heilten. Häufig handelt es sich um Flexionskontrakturen am Übergang Leisten- zu Felderhaut radialseits am Daumen und ulnarseitig am Kleinfinger.
Isolierte palmare Handverbrennungen Eine spezielle Entität bilden die isolierten palmaren Handverbrennnung, meist verursacht durch Stromeintrittsmarken oder die Kontaktverbrennungen 3. oder 4. Grades, oft verursacht durch Bügelpressen. Bei Letzteren kommt zum thermischen Schaden immer noch eine »Crush«-Komponente mit Muskelzerstörung, ähnlich den Hochspannungsverletzungen dazu, welche die Gefahr eines Kompartmentsyndroms erhöht. Im Gegensatz zu den Hochspannungsverletzungen handelt es sich bei den Niederspannungsverletzungen und Kontaktverbrennungen meist um Monotraumen, die am idealsten nach totaler Exzision am Unfalltag mit Vollhaut
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⊡ Abb. 46.23 Aktive sekundäre Wundheilung bei Verbrennung 3. Grades im Pulpabereich. a Befund bei Aufnahme, b Befund nach 2 Wochen, c Befund nach 4 Wochen: Restitutio ad integrum mit Ausbildung des palmaren Leistensystems und normaler Sensibilität
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(selten) oder Lappenplastiken (frei oder gestielt; ⊡ Abb. 46.24) gedeckt werden können. Bei Hochspannungsunfällen ist der definitive Wundverschluss meist erst nach mehreren Débridements, also innerhalb der ersten 4 Wochen nach Trauma oder gar später, mit gestielten oder freien Lappen möglich.
Nachbehandlung Neben der Behandlung durch den Chirurgen ist die Nachbehandlung zur Optimierung des funktionellen Resultates gerade bei Handverbrennungen entscheidend. Handchirurgen kennen diese Problematik bestens: Jede noch so kleine Operation an der Hand kann wertlos sein, wenn die Nachbehandlung durch das Team der Handtherapeuten nicht zeit- und verletzungsgerecht verordnet und durchgeführt wird. Durch Ödem, fehlende Gleitschichten der Sehnen nach tiefen Verbrennungen, Vernarbungen und damit Verkürzungen der Gelenkkapseln, Myonekrosen bei Verbrennungen 4. Grades, durch ein Kompartmentsyndrom (verpasste Eschcharooder Fasziotomie?), schmerzbedingter Schonhaltung und Immobilisation oder die Gelenkfunktion einschränkende Narben kann es zu typischen Fehlstellungen (⊡ Abb. 46.25) und Funktionsausfällen nach Handverbrennungen kommen: ▬ Krallendeformität: Charakterisiert durch eine Flexion des Handgelenks mit Hyperextension in den Metakarpophlangealgelenken und Flexion in den proximalen und distalen Phalangealgelenken. ▬ Adduktionskontraktur des Daumens (⊡ Abb. 46.25i–j) als alleiniges Problem oder im Rahmen der Krallendeformität. Der Daumen ist zum Metakarpale I adduziert und im interphalangealen Gelenk überstreckt. Es kann auch vorkommen, dass der Daumen seine Oppositionsstellung verlassen hat und auf der Ebene des Handrückens liegt. ▬ Boutonnière (⊡ Abb. 46.25e,f) der Finger oder des Daumens. An den Fingern: Fixierte Beugefehlstellung des proximalen
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Phalangealgelenks mit einer konsekutiven Hyperextension im distalen Phalangealgelenk. Am Daumen: Fixierte Flexion des Metakarpophlangealgelenks und Hyperextension im Interphalangealgelenk. ▬ Flexionskontrakturen (⊡ Abb. 46.25g,h) kommen nach Spontanheilungen am Übergang Leisten- zu Felderhaut vorwiegend an den Fingern vor. Bezeichnend ist, dass immer das Metakarpophlangealgelenk mitbetroffen ist: Entweder ist es in Flexionsstellung fixiert oder es ist in einer 0-Grad-Stellung blockiert, da das proximale Phalangealgelenk durch eine starke Flexionskontraktur (70 bis 90°) eine Beugung des Metakarpophlangealgelenks mechanisch behindert. Neben der Vermeidung dieser Fehlstellungen gilt es in der Nachbehandlung die harten, roten, schmerzenden und juckenden Narben (⊡ Abb. 46.25a,b), die die Fehlstellungen bewirken oder verschlechtern und die Handtherapie wegen Schmerzen kompromittieren, zu verbessern. Die »Nachbehandlung« beginnt am Unfalltag: Zur Reduzierung des Ödems, welches durch Exsudatablagerung in den Gelenkkapseln zu deren Fibrosierung führt und damit eine der Ursachen von fixierten Gelenken ist, wird die Hand hoch gelagert. Wenn immer möglich wird bereits mit einer rein aktiven Handtherapie unter Kontrolle des Handtherapeuten begonnen ( Abschn. 15.1.4). Die Therapie ist nur unter Schmerzmedikation möglich. Wie bei allen anderen Handverletzung gilt auch nach Verbrennungen die Regel, dass die Therapie nicht schmerzhaft sein darf, da sonst das Risiko eines CRPS zu hoch wird. Die Pfeiler der Nachbehandlung sind: ▬ Schienen (statische und dynamische), ▬ Handtherapie, ▬ Narbenpflege und Kompression.
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⊡ Abb. 46.24 Palmare Handverbrennung 3. Grades, versorgt nach totaler Exzision am Unfalltag mit gestieltem Leistenlappen. a 33-jährige Patientin mit Kontaktverbrennung palmar durch Bügelpresse, b Deckung am Unfalltag mit gleichseitigem gestieltem Leistenlappen. Stieldurchtrennung nach 3 Wochen, c Endresultat nach 2-maliger Ausdünnung: Ansicht von palmar, d Endresultat nach 2-maliger Ausdünnung: Ansicht von palmar
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⊡ Abb. 46.25 Korrekturindikationen nach Handverbrennungen. a–d Hypertrophe Narben am Handrücken und palmar mit entsprechender Funktionseinschränkung. Meist begleitet von Narben in den Kommissuren. e, f Boutonnière-Deformität. g, h Flexionskontraktur, i–k Adduktionskontraktur des Daumens, l, m Nagelprobleme
Schienen Die Lagerung erfolgt auf einer durch die Handtherapie angefertigte statischen Schiene in der Intrinsic-plus-Stellung ( Kap. 2): 30° Extension im Handgelenk, 70–80° Flexion in den Metakarpophalangealgelenken und möglichst voll gestreckt in den proximalen und distalen Phalangealgelenken. Da Adduktionskontrakturen des Daumens nach Handverbrennungen häufig sind, ist es ratsam den
Daumen in die Schiene mit einzubeziehen und nicht nur darauf zu achten, dass er leicht abduziert, sondern auch in einer deutlichen Oppositionsstellung steht. Bei Verbrennungen der 1. Kommissur allein, ist ein C-Bar oder C-Splint anzupassen (⊡ Abb. 46.26). Es muss auch hier darauf geachtet werden, dass nicht nur abduziert wird, sondern auch eine deutliche Oppositionsstellung angestrebt wird.
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⊡ Abb. 46.26 C-Bar oder C-Splint zur Vermeidung einer Kontraktur im Bereich der 1. Kommissur
Liegt eine Verbrennung mit Beteiligung des Strecksehnenapparates vor, droht eine Boutonnière-Deformität (⊡ Abb. 46.25e,f). Als Prophylaxe sollte eine eigens fabrizierte Schiene in Extension des proximalen und distalen Phalangealgelenks angepasst werden, welche in den ersten 4 Wochen nur zur kontrollierten Handtherapie abgelegt wird. Bei einer fixierten Deformität gilt es zunächst, die Beugekontraktur im Mittelgelenk aufzuheben. Dies kann durch die Anlage entsprechend kurzer (3-Punkte-Quengel) oder langer Streckquengel gelingen. Im Verlauf der Rehabilitation können für bestimmte Bedürfnisse der Hand dynamische Schienen in Absprache mit den Handtherapeuten angepasst werden. Entscheidend ist mit der Schienenbehandlung sofort nach Trauma zu starten. Dies ist präoperativ wegen Schmerzen schwierig. Unmittelbar nach der Wunddeckung ist es noch schwieriger: Transplantate können verrutschen, die Schienen sitzen unbequem aufgrund der notwendigen Verbände und können so zu sekundären Weichteil- oder Nervenproblemen führen. Das Zürcher Zentrum lagert darum frisch spalthauttransplantierte Hände auf einer Art gut gepolsterten »Tennisschlägern«, achtet auf Abduktion des Daumens und genügend Abstand in den Kommissuren der Finger. Eine gewisse Flexion in den Metakarpophalangealgelenken ist möglich, nicht aber die geforderten 70–80°. Die Spalthaut heilt so sicher ein, sodass nach dem ersten Verbandswechsel nach 5 Tagen, dann meist schmerzfrei, wieder auf der Intrinsic-plus-Schiene gelagert werden und mit einer forcierten Handtherapie begonnen werden kann. Mehrere Autoren beschreiben, dass sie eine korrekte Gelenkposition über intermediäre Arthrodesen mit Kirschner-Drähten halten. Die Zürcher Schule verwendet solche nur bei Verbrennungen 4. Grades der Hand, wenn Sehnen und Gelenkkapseln oder gar Knochen betroffen sind, nicht bei tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades. Warnen muss man vor V.A.C.-Behandlung der verbrannten Hand, welche länger als 10 Tage dauert. Wie oben beschrieben kann eine solche Therapie 3–5 Tage indiziert sein. Länger nicht, da im V.A.C. weder eine ideale Intrinsic-plus-Stellung noch eine kontrollierte aktive Handtherapie möglich ist.
Handtherapie Aggressive, »sportive« Handtherapeuten richten bei Verbrennungen Schaden an. Am bekanntesten sind die heterotopen Ossifikationen nach Verbrennungsunfällen, die sicher mit einer solch aggressiven Handtherapie in Verbindung gebracht werden können.
Die Therapeuten sollten zuerst entstauend arbeiten und sich danach auf aktiv unterstützende Bewegungstherapie fokussieren. Eine gewisse Dehnung der Gelenke, ohne jedoch Schmerzen zu produzieren, ist erlaubt. Nach dorsalen Handverbrennungen mit Verletzung der Sehnengleitschichten oder der Sehnen, sollten Flexionen im proximalen Interphalangealgelenk vermieden werden, dadurch wird das Risiko einer Boutonnière-Deformität erhöht. Das Metakarpophalangealgelenk ist der Schlüssel zur guten Handfunktion, es muss darum das Hauptarbeitsfeld der Handtherapie sein. Handtherapeuten sind enorm wichtig: Sie haben einen engen Bezug zum Patienten und konstatieren viele Probleme, die Chirurgen kaum bemerken. Nicht zuletzt sind sie auch »Psychotherapeuten«: Sie erfahren während der Therapie die Existenzängste der Patienten, sie sind, neben dem Pflegepersonal die Ersten, mit denen der Brandverletzte über seine ästhetische Minderwertigkeit, über seine Hilflosigkeit ob all der Funktionsstörungen und über seine Verkrüppelung (Amputationen) spricht.
Narbenpflege und Kompression Nach kleinflächigen, nicht lebensbedrohlichen Verbrennungen wie der isolierten Handverbrennung, konzentriert sich die Nachbehandlung fast ausschließlich auf die entstandenen Narben. Die Narben sind teilweise für den Funktionsverlust und vollkommen für das ästhetische Selbstwertgefühl des Patienten verantwortlich. Nach Verbrennungen 1. Grades und oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades Nach Verbrennungen 1. Grades und oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades, die spontan und ohne Narben ausheilen, ist die Nachbehandlung unproblematisch. Es genügt, die geheilten, zu Beginn meist noch etwas roten und juckenden Hautstellen nach Reinigung mit Wasser und Seife mit einer leicht fettenden Creme zu pflegen. Wichtig ist es, den Patienten die Sicherheit zu vermitteln, dass die Haut in etwa 2–4 Monate wieder so sein wird wie vor dem Unfall und ihn vor einer »therapeutischen Hyperaktivität« mit Narbensalben, Laserbehandlungen, Massagen, Kompressionskleidungen, Silikonauflagen und monatelanger Sonnenkarenz zu schützen. Selten kommt es zu Farbänderungen der Haut nach unkomplizierter Heilung einer oberflächlichen Verbrennung 2. Grades. > Es bestehen kaum Chancen diese Farbfehler erfolgreich zu korrigieren.
Versucht werden kann die Laserbehandlung, abzuraten ist von einem Dermalovergraft. Der Einsatz von autogenen Keratinozytensuspensionen, die wegen ihrer hohen Anzahl von Melanozyten die Farbsituation theoretisch verbessern sollten, brachte nicht die erhoffte Wende in dieser Problematik. Nach tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades Tiefe Verbrennungswunden werden chirurgisch behandelt und, mit wenigen Ausnahmen, mit Spalthaut definitiv verschlossen. > Es bleibt also immer eine Narbe zurück. Diese Narbe ist bei tiefen Verbrennungen 2. Grades, wo noch Inseln von Dermis erhalten blieben, deutlich weniger ausgeprägt als nach Verbrennungen 3. Grades, wo definitionsgemäß die Dermis fehlt und mit der Deckung durch Spalthaut auch nicht ersetzt wurde. Die Narben sind zu Beginn rot, hart, hypertroph, schmerzend und
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
juckend. Sie werden nicht nur als hässlich empfunden, sondern schränken über den Gelenken der Hand auch die Funktion ein. Oft werden die Narben nach Verbrennungen als Keloid beschrieben. Die Unterscheidung zwischen Keloid und der hypertrophen Narbe ist schwierig und histologisch nicht möglich. Sicher um Keloide handelt es sich, wenn die Narbenwucherung die Grenzen der Verletzung überschreitet, also auch gesunde Haut involviert. Man kann die Unterscheidung wahrscheinlich auch bezüglich der Narbenquantität treffen und die Extremvariante der hypertrophen Narbe als Keloid bezeichnen. Die Unterscheidung in Keloid und hypertrophe Narbe hat klinische Relevanz: Hypertrophe Narben haben eine deutlich bessere Prognose als Keloide; sie reifen aus und kommen zur Ruhe, was für klassische Keloide nicht gilt. Keloide an der Hand sind eine Rarität, hypertrophe Narben nach Spalthauttransplantation häufig. Es ist die Aufgabe des Chirurgen, seinen Patienten über die Charakteristik und den Verlauf seiner Verbrennungsnarben aufzuklären. Diese Aufklärung muss beinhalten, dass es mit den heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unmöglich ist, diese Narben völlig zu eliminieren, eine Restitutio ad integrum gibt es nicht. Der Patient muss bei der Entlassung aus dem Krankenhaus wissen, dass die Narben und Narbenschmerzen unmittelbar nach der Wundheilung zunehmen, sie also noch röter, härter und juckender werden. Er muss aber auch wissen, dass dieser Zustand (abhängig vom Alter des Patienten) nach 1–2 Jahren besser sein wird, und zwar ohne chirurgische Interventionen. Auch über mögliche funktionelle und ästhetische Korrekturen muss mit den Brandverletzten, ohne falsche Hoffnungen zu wecken, frühzeitig gesprochen werden. Sind die Patienten nicht aufgeklärt, werden sie über jede Verschlechterung der Narbensituation beunruhigt sein und glauben, es laufe etwas schief oder gar, sie seien falsch behandelt worden. Sie werden »Spezialisten« aufsuchen und diese dazu drängen, die Narbensituation jetzt und sofort zu verbessern, was meist in Enttäuschungen endet. Durch den Verlust der Talgdrüsen wird narbige und transplantierte Haut spröde und trocken. Sie muss darum täglich mit fettenden Salben, z. B. mit Dexapanthenol (Bepanthen), gepflegt werden. > Die Patienten wünschen fast immer »Narbensalben«, von denen sie sich wahre Wunder erhoffen. Da diese Narbensalben teurer sind als konventionelle Fettsalben,
müssen sie, so denkt der Patient, gut sein, sie sind aber nur teurer und haben an der Hand praktisch keine Wirkung, dieselbe Wirkungslosigkeit ist an allen Körperstellen zu sehen.
Die Kompression (⊡ Abb. 46.27) mit speziellen Stoffen über einen Handschuh und darunter, in direktem Kontakt mit der Narbe, Silikonplatten (Cica-Care, Mepiforme oder Silastikelastomere), ist eine effektive »Narbentherapie«, die bei allen hypertrophen Verbrennungsnarben durchgeführt werden sollte. Die Narben werden so weicher und geschmeidiger, die Rötung verblasst rascher und der Juckreiz nimmt ab. Bei der Kompression muss darauf geachtet werden, dass alle Bewegungen möglich sind, die Handtherapie darf dadurch nicht beeinträchtigt werden. Mit Lasern (CO-, Erbium:YAG-, gütegeschalteter Rubin- und Alexandritlaser u. a.) können hypertrophe Narben und vorliegende Farbveränderungen unter Umständen günstig beeinflusst werden, Studien die dies beweisen, liegen nicht vor. Bei stabilen Narbenverhältnissen helfen Massagen die Narbe weicher zu machen und die Schmerzen zu lindern. Wenn man sich dafür entscheidet, sollten die Massagen mindestens 2-mal täglich durchgeführt werden, sonst ist kein Nutzen zu erwarten.
Korrekturoperationen Es gibt kein »Kochbuch« für Korrekturen nach Verbrennungen der Hand. Wichtig ist, den Patienten genauestens aufzuklären, welchen Gewinn er durch die Korrektur erwarten kann. Die Versprechungen sollten bei ausgeprägten Kontrakturen und Fehlstellungen nicht zu optimistisch gestellt werden. Verbrennungsopfer werden überdies mit der Zeit sehr erfahren: Sie merken genau, wann der Chirurg das maximal Mögliche erreicht hat, nämlich dann, wenn der ästhetische oder funktionelle Gewinn nach der Operation in keiner Relation zum Aufwand, den der Patient leisten muss (Hospitalisation, Narkose, erneute Schmerzen, mühsame Verbandswechsel, wieder tägliche Physiotherapie, schon wieder Arbeitsausfall) mehr steht. Auch Handchirurgen, die sich längere Zeit mit Verbrennungen auseinandersetzen, merken bald, dass Vieles, was in der »normalen« Handchirurgie an Korrektureingriffen angeboten wird, bei Verbrennungspatienten einfach nicht funktioniert. Solche Erkenntnisse sind für das (meistens) narzisstische Ego von Chirurgen Gift. Zustände nach Handverbrennungen zu korrigieren heißt, mit mit-
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⊡ Abb. 46.27 Kompressionshandschuh mit Silikonpelotten. a, b Silikonbeschichtete Pelotten, die den Druck in der Handinnenfläche und im Bereich der Kommissuren verstärken. An diesen Stellen ist nur mit dem Textil kein wirksamer Druck zu erreichen. c, d Der Handschuh darf die Bewegungen nicht einschränken
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telmäßigen Resultaten, trotz größtem Aufwand, was Technik und Zeit anbelangt, leben zu lernen. Bei Korrekturoperationen der Hand muss zwischen funktionellen und ästhetischen unterschieden werden. Nicht jede funktionierende Hand ist auch schön und da die Hand zu den ästhetisch relevanten Körperstellen gehört, werden Kosten für solche Operationen von der schweizerischen Unfallversicherung (SUVA) getragen. Die besten Resultate, ob bei ästhetischen oder funktionellen Korrekturen, werden bei reifen Narben erzielt. Eine reife Narbe hat ihre Rötung verloren, juckt und schmerzt nicht mehr und ist geschmeidiger geworden, die unreife hypertrophe Narbe ist rot, juckt, schmerzt und ist hart. Diese Narbenmaturierung dauert bei Kindern und Jugendlichen bis zu 2 Jahre, bei Erwachsenen etwa 1 Jahr. Nur funktionelle Korrekturen werden vor Ablauf der Narbenmaturierung durchgeführt, da ein längeres Zuwarten zu einer weiteren Verschlechterung, z. B. zu einer irreversiblen Versteifung eines Fingers führen kann. Die »Korrekturwahrscheinlichkeit« oder die Rekonstruktionen nach Handverbrennungen sind abhängig von: ▬ der Tiefe der stattgefundenen Verbrennung, ▬ vom Zeitpunkt der primären Operation, ▬ von der Operationstechnik, ▬ der Qualität der Nachbehandlung, ▬ dem Beruf des Patienten, ▬ den ästhetischen Ansprüchen des Patienten, ▬ dem chirurgisch Möglichen. Sheridan (1999) gibt in seiner Publikation über die Handverbrennung bei Erwachsenen rekonstruktive Eingriffe in insgesamt 7% aller Hände an. Je tiefer die Verbrennungswunden waren desto häufiger wurden solche rekonstruktiven Eingriffe: Nach konservativer Therapie in 0,65%, nach tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades in 6,5% und nach Verbrennungen 4. Grades in 65% der Fälle. Ähnliche Zahlen beschreibt er in der Arbeit über kindliche Verbrennungen, auch dort fand er in 65% der Verbrennungen 4. Grades Rekonstruktionen und in 32% der Verbrennungen 3. Grades. Wie man der ⊡ Tab. 46.4 entnehmen kann, sind die Zürcher Zahlen – allerdings wurden nur Handverbrennungen mit VKOF unter 20% untersucht und nicht wie bei Sheridan auch solche bei ausgedehnten VKOF, für Hände mit tangentialer Exzision, alles solche mit tiefen Verbrennungen 2. Grades und Verbrennungen 3. Grades – mit 7% rekonstruktiver Eingriffe praktisch identisch mit denen von Sheridan. In die Gruppe der Granulationsmethode fallen alle 5 Hände mit Verbrennungen 4. Grades, welche in der kleinen Zürcher Studie zu 100% korrigiert werden mussten. Gemäß einer Arbeit von Salisbury (1981) kann man in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit in etwa folgende Korrektureingriffe unterscheiden: ▬ Korrekturen der 1. Kommissur bei Adduktionskontraktur des Daumens, ▬ übrige Kommissurenkorrekturen, ▬ Narbenkontrakturen dorsalseitig, ▬ Abduktionsdeformitäten und Flexionskontrakturen des 5. Fingers, ▬ Deformitäten und funktionelle Defizite der Metakarpohalangealgelenke, ▬ Verklebungen der Extensorsehnen, ▬ Boutonnière-Deformitäten, ▬ Kontrakturen der proximalen Interphalangealegelenke, ▬ Kompressionsneuropathien der Nn. medianus und ulnaris, ▬ Kontrakturen des Ellbogens und des Handgelenks, ▬ heterotope Ossifikationen des Ellbogens und des Handgelenks.
Die obige Einteilung ist etwas praxisnäher als die oft zitierte Einteilung der Korrekturoperationen nach Achauer (1990). Meist findet sich nicht eine klar definierte Deformität, sondern es liegen verschiedene Probleme zusammen vor. Es ist deswegen sinnvoll, einen Rekonstruktionsplan zu erstellen, also nicht etwa Operationen, die eine Ruhigstellung erfordern, zu kombinieren mit solchen, Tenolyse z. B., die eine sofortige postoperative Bewegungstherapie verlangen. Die Literatur ist voll von intelligenten Algorithmen bezüglich Korrektureingriffen nach Handverbrennungen. Diese Algorithmen sind aber meist unbrauchbar, weil gerade der Patient, der vor einem sitzt, überhaupt in keinen Algorithmus passt. Jeder Patient benötigt seinen individuellen Rekonstruktionsplan! Häufige Korrekturoperationen
▬ Exzisionen von Narbenplatten dorsal oder palmar und Deckung mit Vollhaut
▬ Arthrolysen bzw. Narbenstranginzisionen palmar über den ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
einzelnen Fingergelenken und Deckung mit Vollhaut oder lokalen Lappen Exzison palmarer Handkontrakturen und Deckung mit Vollhaut oder lokalen Lappen Arthrodesen von Gelenken in einer Funktionsstellung Kommissurenplastiken 2–4 mit lokalen Lappen oder Vollhaut Kommissurenplastik 1 und Adduktionskontraktur des Daumens, wenn immer möglich mit gestielten, selten mit freien Lappen Boutonnière Korrektur Nagelbett- und Nagelfalzkorrekturen Nervendekompressionen gemäß den Regeln der Handchirurgie Komplexe Rekonstruktionen nach Elektroverbrennungen mit Nerven- und Sehnentransplantaten, selten freie funtionelle Lappenplastiken (Latissimus dorsi oder gracilis)
Korrekturen der Weichteile allein, also die Exzision harter Narbenplatten dorsal oder palmar, und Ersatz mit Vollhaut oder Lappenplastiken haben eine gute Chance auf Erfolg. Eine Alternative zur Vollhaut (zu wenig Spenderstellen) oder Lappenplastiken kann das Dermisäquivalent (⊡ Abb. 46.34) sein. Integra hat allerdings den Nachteil, dass erst nach 2–3 Wochen mit Spalthaut gedeckt werden kann. Während dieser Zeit muss das Integra gut komprimiert (Verband mit Schaumstoffpolster oder V.A.C.-System) dem Handrücken aufliegen, eine lange Zeit also, in der Schienenbehandlung und Handtherapie gezwungenermaßen vernachlässigt werden müssen. Auch Kommissurenplastiken zeigen insgesamt, trotz einer hohen Rezidivgefahr, gute Resultate. Es werden viele ausgeklügelte lokale Lappen vorgeschlagen. In der Realität ist meistens die Lappenhebestelle von der Verbrennungsnarbe involviert. Gute Resultate kann man in der 1. Kommissur, wenn keine schwerwiegende Adduktionskontraktur des Daumens vorliegt mit der Z-Plastik ( Abschn. 35.2.2) oder Vollhaut erzielen. Bei Vorliegen einer ausgeprägten Adduktionskontraktur muss immer bestes Gewebe transportiert werden, am besten gestielte Lappen (dorsaler interosseus posterior; Abschn. 35.2.8), bei schlanken Patienten Leistenlappen (⊡ Abb. 46.21). Die Abduktion und besonders auch die Opposition muss durch Kirschner-Drähte, vom Metakarpale 1 ins Metakarpale 2 eingebracht, gesichert werden. Bei massiven Kontrakturen kann oft nur ein Knochenspan die gewünschte Abduktion und Opposition garantieren. Das führt zwar zu einer Ver-
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
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⊡ Abb. 46.28 Narbenkorrektur mit Dermisäquivalent bei einem 14 Jahre alten Jungen mit hypertopher Narbe am Handrücken nach Verbrennung und Spalthauttransplantation vor 2 Jahren (Behandlung und Bilder UniversitätsKinderklinik Zürich; mit Dank an Dr. Clemens Schistl). a Klinischer Aspekt bei Klinikaufnahme, b Exzision der Narbenplatte und Auflage von Integra, c 3 wochen Nach Narbenexzision und Integra, d 2 Wochen nach Spalthautdeckung des Integra, e Resultat nach 18 Monaten
⊡ Abb. 46.29 Korrektur der Kommissuren mit einem Vollhauttransplantat. a Präoperativer Aspekt, b postoperativer Aspekt
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steifung im Sattelgelenk, erlaubt dafür aber, mit der Hand wieder größere Gegenstände wie Gläser oder Werkzeuge zu greifen. In den Kommissuren 1–4 erzielt man mit restlos entfetteter Vollhaut gute Resultate (⊡ Abb. 46.29). Allerdings muss das Narbengewebe minutiös reseziert werden und eine gewisse Überkorrektur dorsalseitig bis mindestens Mitte der Metakarpalköpfchen, auch wenn die Haut intakt ist, geplant werden. In der Literatur werden lokale Lappenplastiken zuhauf beschrieben, sie haben aber gegenüber der Vollhaut keine funktionellen oder ästhetischen Vorteile.
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Auch palmare Narbenplatten über gesunden Gelenken haben nach querer Exzision und Deckung mit Vollhaut oder lokalen Lappen eine gute Chance für eine wesentliche Funktionsverbesserung. Die Beugesehnen sind palmar weit weg von den Narbenplatten und keine Sehnenverklebungen wie sie dorsal typisch sind, wo die Strecksehnen mit der Narbenplatte verklebt sind und die Gleitschicht fehlt. Postoperativ muss in einer Intrinsic-Schiene für die proximalen und distalen Interphalangealelenke gelagert werden, bei ausgeprägten Kontrakturen ist es ratsam das Gelenk für 10 Tage
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mit einem Kirschner-Draht in einer Intrinsic-minus-Stellung zu fixieren. Bei Kontrakturen des Metakarpophalangealgelenks lagert man nach der Inzision in Nullstellung (»Intrinsic-minus-Stellung«), was zwar den Nachteil einer möglichen Verkürzung der lateralen Ligamente in sich birgt, aber nur so wird die Vollhaut einheilen. Ein Funktionsgewinn nach Arthrolysen ist nur zu erwarten, wenn die dermatogene Narbenproblematik vorgängig gelöst wurde und unmittelbar nach der Arthrolyse mit Handtherapie begonnen wird. Sie ist also meist eine der letzten Operationen im Rahmen der rekonstruktiven Eingriffe. Arthrolysen werden meist mit Tenolysen kombiniert. Die Gelenkkapsel am proximalen Interphalangealgelenk wird längs inzidiert. Ist der Extensionsgewinn zu gering, kann unter Umständen das vollständige Loslösen der palmaren Platte erforderlich sein ( Kap. 14). Für die Arthrolyse der Metakarpophalangealgelenke an den Fingern gelten besondere Regeln: Üblicherweise werden zuerst die dorsalen Kapselanteile, dann fortschreitend bei zu geringem Funktionsgewinn, die Kollateralbänder und schließlich die palmare Platte durchtrennt. Die Korrektur der Boutonnière ist an und für sich schon schwierig, obwohl (oder eher trotz dass) in allen Lehrbüchern der Handchirurgie verschiedenste Techniken beschrieben werden. Nach Verbrennungen der Hand soll man die Boutonnière gar nicht erst versuchen zu korrigieren, die »Korrektur« ist die Arthrodese des proximalen Interphalangealgelenks in einer Flexionsstellung von 30–40° am Zeige-, 35–45° am Mittel-, 40–50° am Ring- und 45–55° am Kleinfinger ( Kap. 10). Ziel muss es sein, durch die primäre Behandlung eine Boutonnière zu verhindern. Dazu kann, wenn die Strecksehnen völlig fehlen und das periartikuläre Gewebe oder gar das Gelenk selbst mitbetroffen ist, die Stabilisation mit einem Kirschner-Draht hilfreich sein, da eine Schienenbehandlung in einer solchen Situation oft ungenügend ist. Deformationen der Fingernägel ( Kap. 38) sind nach tiefen Handverbrennungen häufig (⊡ Abb. 46.30). In den meisten Fällen liegt die Ursache nicht in einer Verletzung des Nagelbettes oder der germinativen Matrix, sondern im Narbenzug proximal des Epinychiums. Dieser Zug hebt den Nagel vom Nagelbett ab und führt zu dem bekannten hässlichen Nagel nach Handverbrennungen. Da also die komplexe Struktur des Nagelwalls und das Nagelbett nicht zerstört sind, sondern lediglich durch den Zug der Narbe proximalisiert wurden, gilt es diesen Zug chirurgisch aufzulösen. Über eine H-förmige Inzision wird ein distal gestielter Lappen gehoben und Richtung Nagelfalz transportiert. Der Lappen ist dick und relativ ungeschmeidig (Narbengewebe!). Bei der Präparation muss darauf geachtet werden, dass die nach proximal verlagerte Nagelmatrix, der Strecksehnenansatz und das dorsale Interphalangealgelenk nicht verletzt werden. Nach der Mobilisation wird der Lappen fixiert und das Lappenbett mit Vollhaut gedeckt. Sind das Nagelbett und die germinative Matrix definitiv zerstört, kann nur ein Composite Graft des Nagelbettes einer Zehe ver-
⊡ Abb. 46.30 Fingernägel nach Verbrennungen der Hand. Pathologien der Fingernägel sind nach Handverbrennungen oft zu sehen. a Meist ist der dorsale Narbenzug dafür verantwortlich. b Möglich ist auch eine direkte Schädigung des Nagelbettes. c Schwierig bis gar nicht korrigierbar sind die zu stark gewölbten Nägel, die sich vom Nagelbett abheben
sucht werden. Die Resultate, die mit dieser Technik erzielt werden können, sind inkonstant, anders ausgedrückt: zufällig einmal gut. 46.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Die Behandlung der Handverbrennung bei Kindern unterscheidet sich kaum von der bei Erwachsenen. Auf folgende Besonderheiten soll hingewiesen werden:
Hautdicke. Kinder haben dünnere Haut als junge Erwachsene. Ätiologie. In Zentren, die nur Kinder behandeln, ist diese Verteilung etwas anders. Dort sind Verbrühungen deutlich häufiger als bei Erwachsenen, die Flammenverbrennung ist aber auch bei Kindern die häufigste Ursache einer Handverbrennung. Kühlung. Vorsicht ist bei Säuglingen und Kleinkindern geboten, wo zu langes, unkontrolliertes Kühlen zur Unterkühlung führen kann.
Narbenbildung. Es bestehen Unterschiede in der Narbenbildung: Kinder neigen häufiger zur Bildung hypertropher Narben als Erwachsene. Die Narben reifen auch langsamer als bei Erwachsenen. Für die Nachbehandlung bedeutet dies, dass die Kompression der Narben länger, 2–3 Jahre, konsequent durchgeführt werden muss als bei Erwachsenen. Zeitpunkt der Operation tiefer Handverbrennungen bei Kindern. Schon mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass Spalthautdeckung von Granulationsgewebe (Granulationsmethode), also späte Deckung der Verbrennungswunde nach dem 12. Tag, zu ausgeprägteren Narben führt als nach der tangentialen Exzision, also dem frühem Wundverschluss. Theoretisch muss also besonders bei Kindern, mit ihrer an sich schon hohen Neigung zur Narbenbildung, die Verbrennungswunde rasch verschlossen werden, um Granulationsgewebe zu vermeiden und die Narbenbildung möglichst gering zu halten. »Theoretisch« darum, weil die Kinderchirurgen vor dem 7. Tag mit derselben Problematik wie alle andern Chirurgen kämpfen: Ist es eine tiefe oder oberflächliche Verbrennung, heilt sie spontan oder nicht? Erschwerend kommen, zusätzlich zu den diagnostischen Schwierigkeiten, bei Kleinkindern der zu erwartende Blutverlust, gemäß Choi 2% des Gesamtvolumens pro Prozent tangentialer Exzision, dazu, welcher bei der »sanfteren« Granulationsmethode vernachlässigbar ist. Jeder Kinderchirurg wird erklären, dass er ein glühender Verfechter der frühen tangentialen Exzision aus den oben angeführten Gründen ist. Die Realität ist aber oft anders als die Theorie: Schon Sheridan erwähnt in seiner Arbeit, dass die frühe tangentiale Exzision zwar anzustreben ist, dass aber auch mit späterer Deckung sehr gute funktionelle Resultate erreicht wer-
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
den können (keine Zahlen bezüglich des Operationszeitpunktes in der Arbeit erwähnt). Bezüglich des Operationszeitpunktes in praxi gibt es also keinen Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen mit Handverbrennungen.
Wahl des Transplantats. Spalthaut (hat wenig Dermis) führt zu rigideren Narben als Vollhaut (mit Dermis) oder gar Lappenplastiken. Um also die ausgeprägtere Narbenbildung bei Kindern zu minimieren, würde man vermehrt den Einsatz von Vollhaut, Lappenplastiken oder den Einsatz von Dermisäquivalenten bzw. Spalthaut erwarten. Dorsale Handverbrennungen werden aber auch bei Kindern mit Spalthaut und nur in den seltenen Fällen der Verbrennungen 4. Grades, wie bei Erwachsenen, mit Lappen gedeckt. Der Einsatz von Vollhaut in der Akutbehandlung der dorsalen Handverbrennung wird in der Literatur nicht erwähnt. Anders als bei Erwachsenen, haben Vollhauttransplantate bei palmaren Handverbrennungen im Kindesalter den erwarteten Vorteil der geringeren Narbenbildung. Dieser Vorteil zeigt sich darin, dass weniger Korrekturoperationen als nach Spalthauttransplantaten (bis 50% aller Kinder benötigen Korrekturoperationen im Verlauf) notwendig werden. Der Einsatz von Dermisäquivalenten in der Akutphase der Behandlung kindlicher Handverbrennungen ist zwar beschrieben, große Studien die einen sicheren Vorteil gegenüber der Behandlung mit Spalthaut allein beweisen, liegen aber nicht vor. Bei Korrektureingriffen allerdings haben Dermisäquivalente eine Bedeutung (⊡ Abb. 46.28).
Meist muss die das Wachstum störende Narbe exzidiert werden. Der entstandene Defekt kann nur selten mit lokalen Lappen gedeckt werden, Transplantate sind erforderlich. Je dicker das Transplantat ist, umso besser wird es das natürliche Wachstum des Kindes mitmachen. Es kommen also nur Vollhauttransplantate, Dermisäquivalente und gestielte oder freie Lappen in Frage. 46.2
Spezielle Techniken
Die Behandlung der verbrannten Hand erfordert die Kenntnis einiger spezieller Techniken. »Speziell« darum, weil der Handchirurg nicht täglich mit Verbrennungen zu tun hat und Operationen wie die Escharotomie und Fasziotomie, die tangentiale und totale Exzision, schon gar nicht die Granulationsmethode, für ihn Routine sind. Mit der Technik der Lappenplastiken, frei oder gestielt, sind Handchirurgen bestens vertraut. Sie werden an anderer Stelle in diesem Buch auch eingehend beschrieben. Die Spalthautentnahme scheint gegen die technisch anforderungsreiche Lappenplastik ein Klacks, etwas was jeder chirurgische Assistent schon im ersten Jahr kann. Wie oft in der Chirurgie ereignen sich Fehler bei einfachen Operationen. Um diesen vorzubeugen werden die Spalthautentnahme und einige Tricks dazu hier besprochen. 46.2.1 Escharotomie und Fasziotomie der oberen
Extremität
Korrektureingriffe. Narben sind hart und wachsen langsamer als gesundes Gewebe. Diese negativen Eigenschaften der Narben können das normale Wachstum einer kindlichen Hand stören. Kinder müssen darum nach Handverbrennungen engmaschig nachkontrolliert werden, mit der Frage ob Narben das Wachstum (Skelett und Weichteile) stören. Sind solche Narben vorhanden muss rasch korrigiert werden. Da es sich um funktionelle Korrekturen handelt, dürfen sie auch bei unreifen Narben durchgeführt werden, allerdings mit der Aufklärung, dass mit größter Wahrscheinlichkeit weitere Eingriffe notwendig sein werden.
Die Diagnose und Indikation wurde bereits oben besprochen. An den Händen genügt oft eine Escharotomie (= Durchtrennung des Verbrennungsschorfes). Die Inzisionen am Handrücken und an den Fingern werden so geplant, dass die Funktion nach späterer Abheilung möglichst wenig gestört ist. An den Fingern liegen sie auf der Trennlinie zwischen Felder- und Leistenhaut, am Klein- und Ringfinger radialseits, am Mittel- und Zeigfinger ulnarseits und am Daumen radial- oder ulnarseits und ziehen dann zentral gegen den Handrücken (⊡ Abb. 46.31).
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⊡ Abb. 46.31 Technik der Escharotomie und Fasziotomie im Handbereich. a An den Fingern immer am Übergang Leisten- zu Felderhaut (Mediolaterallinie = Linie, die das Ende der Beugefalten verbindet) schneiden. b Darauf achten, dass die Schnittführungen nicht in die belasteten Areale der Hand zu liegen kommen! Nie ulnarseitig am Kleinfinger. c Beachten Sie die bessere Durchblutung nach der Escharotomie. Aus den Schnitten am Handrücken können problemlos die InterosseiKompartimente fasziotomiert werden. (Aus Berger u. Hierner 2003 [a, b])
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1311 46.2 · Spezielle Techniken
Ist die Dekompression durch die Escharotomie ungenügend, muss eine Fasziotomie durchgeführt werden . An der Hand sind folgende Muskellogen zu spalten: 1. Die dorsal intrinsischen, erreichbar durch einen Längsschnitt über dem 2. und 4. Metakarpale. Da die Kompartments der Interossei-Muskulatur keine Verbindungen unter sich haben, muss jede Loge einzeln gespalten werden. 2. Das Thenar- und Hypothenarkompartment wird über eine Längsinzision an der radialen Seite des Metakarpale und an der ulnaren Seite des Metakarpale 5 gespalten. Ein Kompartentsyndrom darf am Unterarm nicht verpasst werden. Vor allem bei Hochvoltverletzungen können Kompartmentsyndrome auch unter klinisch gesunder, nicht verbrannter Haut vorkommen. Am Unterarm bestehen 3 Kompartments: 1. das Flexorenkompartment, 2. das dorsale und 3. das radiale Kompartment. Alle diese Logen stehen untereinander in Verbindung, sodass meist die Spaltung eines Kompartments genügt, um die Symptomatik zu bessern. Die Logenspaltung erfolgt dorsal- und radialseitig über Längsschnitte, die bis in den distalen Oberarm reichen, flexorseitig über einen Zickzackzugang, ebenfalls bis in den distalen Oberarmbereich. Das Retinaculum extensorum wird intakt belassen, wogegen das Retinakulum flexorum gespalten wird. Der Lacertus fibrosus des Biceps muss gespalten werden, da sonst eine strangartige Kompression über dem Medianus und der Bifurkation der Brachialarterie bestehen bleibt ( Kap. 48). Die Inzisionen werden feucht okklusiv verbunden, heute wird meist ein V.A.C. angelegt. Der Verschluss der Inzisionen ist nicht vor 7 Tagen möglich.
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Während die Escharotomie allein noch ohne Narkose möglich ist, da meist durch durch Verbrennungen 3. Grades geschädigte Haut geschnitten wird, die bekanntlich gefühllos ist, muss für die Fasziotomie eine solche gefordert werden, da die Schnittführung häufig durch gesunde Haut verläuft und, vor allem nach Elektrounfällen, ein Débridement in der Tiefe notwendig ist. 46.2.2 Tangentiale Exzision nach Janzekovic Für Exzisionen an Fingern und Händen wird das Goulian-Dermatom (Weck-Messer) verwendet (⊡ Abb. 46.32a,b). Drei Schnittdicken können gewählt werden: 8,10 und 12. An den Unterarmen kann mit dem Watson- oder HumbyDermatom (⊡ Abb. 46.32c) gearbeitet werden. In Lagen von 0,2–0,4 mm Dicke wird der Verbrennungsschorf bis zur richtigen Tiefe, unter Belassung allen gesunden Gewebes, schrittweise exzidiert. Die korrekte Exzsionstiefe ist dann erreicht, wenn Spalthauttransplantate gerade noch einheilen können. Anhaltspunkte darüber geben die gelblich-weiße Farbe (⊡ Abb. 46.32e) und die Blutungspunkte (⊡ Abb. 46.32f) des Wundgrundes (Abstand ca. 2 mm). Sind thrombosierte Gefäße (⊡ Abb. 46.32g) in der Tiefe sichtbar ist die Exzisionstiefe immer ungenügend. An den Händen muss mit großer Sorgfalt exzidiert werden, um die Strecksehnen nicht freizulegen (⊡ Abb. 46.32h), was mit einer Funktionseinbuße einherginge. Die richtige Exzisionstiefe zu finden ist schwierig: Exzidiert man zu wenig tief, heilt die Spalthaut nicht ein. Exzidiert man zu tief und lässt vitale Dermisinseln nicht stehen, kommt es zur stärkeren Narbenbildung als notwendig.
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⊡ Abb. 46.32 Technik der tangentialen Exzision nach Janzekovic a Tangentiale Nekrektomie mit dem Goulian-Dermatom (Weck-Messer) im dorsalen Fingerbereich, a1 präoperativer Aspekt, a2 tangentiale Nekrektomie, a3 postoperativer Aspekt im dorsalen Fingerbereich, b tangentiale Nekrektomie mit dem Goulian-Dermatom (Weck-Messer) im Handrückenbereich, c postoperativer Aspekt im Handrückenbereich, d intraoperativer Aspekt der Fixierung der Hand. e Die korrekte Exzsionstiefe ist dann erreicht, wenn Spalthauttransplantate gerade noch einheilen können. Anhaltspunkte darüber geben die gelblich-weiße Farbe (Abb. 46.32e) und f die Blutungspunkte des Wundgrundes (Abstand ca. 2 mm). g Sind thrombosierte Gefäße in der Tiefe sichtbar, ist die Exzisionstiefe immer ungenügend. h An den Händen muss mit großer Sorgfalt exzidiert werden, um die Strecksehnen nicht freizulegen, was mit einer Funktionseinbuße einherginge. i Die tangentiale Exzision beinhaltet immer auch die direkte Deckung mit Spalthaut, gemesht oder ungemesht
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
⊡ Abb. 46.33 Technik des »Quermeshens«. a Eine Meshfolie 1:1.5 wird in 3 Stücke längs geteilt. b Die Folie wird dann um 90° zur originalen Richtung nach Ausbreiten der Spalthaut durch den Meshapparat gedreht. c Meshmuster nach querer Meshung verglichen mit d »normaler« 1:1,5-Meshung
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Zur Verminderung des Blutverlustes muss schnell operiert werden. Die Arme werden hochgelagert, am besten aufgehängt mit Klammern (Backhaus) in den Fingerbeeren (⊡ Abb. 46.32d,i), was zwar brutal aussieht, die Exzision an den Fingern aber erleichtert und nach jahrelangem Gebrauch am Zürcher Zentrum noch nie zu Sekundärschäden geführt hat. Die Exzision in Blutleere kann eine Alternative sein, erschwert allerdings die Beurteilung der korrekten Exzisionstiefe. Die tangentiale Exzision beinhaltet immer auch die direkte Deckung mit Spalthaut (⊡ Abb. 46.32i), gemesht oder ungemesht. Niemals soll versucht werden mit Vollhaut zu decken, sie ginge auf dem kritischen Wundbett einer tangentialen Exzison verlustig. Wird diese Deckung nicht durchgeführt, kann man lediglich von einer Operation im Rahmen der aktiven Granulationsmethode sprechen. > Die Zürcher Schule mesht die Transplantate 1:1.5 oder quer, was minimal große Perforationsstellen der Spalthaut ergibt, die gerade noch den Sekret- und Blutabfluss erlauben, ästhetisch aber kaum noch uns Gewicht fallen (zur Technik des »Quermeshens« s. ⊡ Abb. 46.33). Praktisch alle übrigen Zentren empfehlen die Auflage von ungemeshter Spalthaut.
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Die Transplantationsstoßstellen müssen die Grenzen der Funktionseinheiten der Haut ( Kap. 35) an der Hand respektieren (⊡ Abb. 46.32i). Im Bereich der Kommissuren sollten die Transplantate etwas überschüssig in Richtung Leistenhaut gelegt werden. Richtung Nagelbett dorsal wird empfohlen die Spalthaut überschüssig Richtung Nagelbett zu legen, um dadurch ein sicheres Einheilen der Haut in dieser kritischen Region zu garantieren; so können die bekannten Nageldeformitäten am besten vermieden werden. Abschließend wird mit Fettgazen, Stoffgazen, Schaumstoff und elastischen Binden komprimierend verbunden (⊡ Abb. 46.34a–h). Der Verband soll verhindern, dass die Transplantate verrutschen und die Kompression soll einen guten Kontakt der Spalthaut zum Wundgrund gewährleisten und insbesondere Hämatome unter dem Transplantat verhindern. Der erste Verbandswechsel erfolgt immer nach 5 Tagen. Dann ist die Spalthaut sicher eingeheilt und der Patient kann wieder auf einer Intrinsic-plus-Schiene korrekt gelagert und mobilisiert werden.
46.2.3 Totale oder epifasziale Exzision Die totale, auch tiefe oder epifasziale Exzision genannt, unterscheidet sich von der tangentialen darin, dass der kritische Übergang von nekrotischem zu gesundem Gewebe nicht über etappenweise, dünne Exzisionsschichten gesucht wird, sondern dass die Nekrose im »Gesunden« abgetragen wird. Man opfert also gesundes Gewebe für den Gewinn eines vitalen Wundgrundes, damit die Transplantate sicher einheilen können. Die totale Exzision wird in Blutleere durchgeführt. Das gesamte Haut-Fett-Gewebe wird unter Einschluss der oberflächlichen Venen und Nerven bis auf die Gleitschicht der Strecksehnen dorsal exzidiert. Palmarseitig muss bei der Exzision darauf geachtet werden, Nerven und Gefäße nicht zu verletzten. Da die Beugesehnen palmar gut geschützt sind, kann meistens eine Fettschicht und vor allem die Gleitschicht der Flexorsehnen erhalten werden. Ist dies nicht der Fall, müssen gar die Ringbänder mitreseziert werden, um einen vitalen Wundgrund zu schaffen, muss mit einem schlechten funktionellen Resultat, hauptsächlich schweren Beugekontrakturen, gerechnet werden (⊡ Abb. 46.21, ⊡ Abb. 46.24). Wird nicht sofort mit einer Lappenplastik, der Einsatz von Vollhaut ist nur in Ausnahmefällen möglich, der Wundverschluss durchgeführt, wird am besten mit einem V.A.C.-System verschlossen. Die totale beinhaltet nicht wie die tangentiale Exzision imperativ den Wundverschluss. Allerdings wird sich bei Zuwarten Granulationsgewebe bilden, sodass besser von einer »forcierten Granulationsmethode« gesprochen würde. 46.2.4 Granulationsmethode Die tangentiale Exzision achtet darauf, gerade genügend (keinesfalls zu viel) Nekrose abzutragen, dass Spalthaut gerade noch einheilen kann. Die totale Exzision opfert auch gesundes Gewebe, um sicher einen für Transplantate jeder Art vitalen Wundgrund zu schaffen. > Die Granulationsmethode hingegen schafft nicht in einer Operation einen vitalen Wundgrund, dieser wird erst nach mehreren Eingriffen mithilfe des vom Körper produzierten Granulationsgewebes erreicht.
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⊡ Abb. 46.34 Verband und Ruhigstellung nach tangentialer Exzision. a Flammenverbrennung 3. Grades, b, c tangentiale Exzision am 2. posttraumatischen Tag. Beachten Sie, dass die Spalthaut nicht eingenäht wurde. d–f Komprimierender Verband über Fettgazen, Gazenkrüll und elastischer Binde auf einem gut gepolsterten »Tennisschläger«. g Bei ungenügender Kompression droht die Gefahr eines Hämatoms, sogar unter gemeshter Spalthaut. h Der Patient kann unter Hochlagerung des Armes sofort mobilisiert werden. i, j Frühresultat nach 4 Monaten mit guter Funktion aber noch roten und hypertrophen Narben
Sie birgt also nie die Gefahr in sich, dass gesundes Gewebe, oder solches welches der Körper gerade noch reparieren kann, unnötig reseziert wird. Nachteilig ist, dass durch die lange offene Wunde Infekte mit der Gefahr einer Sekundärschädigung gesunden Gewebes möglich sind. Dazu kommt, dass Granulationsgewebe schlechtes Gewebe ist, welches die Narbenbildung fördert. Wenn man sich bei Handverbrennungen also für die Granulationsmethode entscheidet, sollte man sie aggressiv oder forciert durchführen, was nicht weniger heißt, als der natürlichen Heilung mit chirurgischen Débridements zuvorzukommen. All dies zeigt, dass das Indikationsspektrum zur Behandlung mit der Granulationsmethode sehr klein ist. Die unklare Verbrennung 2. Grades der Hand ist eine solche Indikation. Nicht selten muss bei ausgedehnten Verbrennungen mit minimalen Hautressourcen und der Unmöglichkeit, tiefe Verbrennungen mit Lappen zu decken, da die idealen Spenderstellen für solche Lappen mit verletzt sind, der Not gehorchend die Indikation zur Granulationsmethode gestellt werde. Der Schorf wird bei Verbrennungen 3. Grades mechanisch mit einem Messer nach Watson oder Goulian in Anästhesie ausgedünnt, wobei darauf geachtet wird, nur die oberflächlichsten, sicher nekrotischen Anteile zu entfernen, um Blutungen zu vermeiden. Tiefe Verbrennungen 2. Grades können im Bad, in Narkose, mit Pinzette und Schere oder mit einem Kupferlappen oder einer harten Bürste vom Schorf befreit werden. Für die Granulationsmethode typisch ist, dass diese Schorfausdünnungen in mehreren operativen Sitzungen durchgeführt wird, am besten alle 3-4 Tage, bis ein ideales Granulationsgewebe, je nach Tiefe der Verbrennung, in 2–4 Wochen vorliegt.
Zwischen den Etappen werden die Wunden mit Silbersulfadiazin oder alternativ dazu mit Allografts, Xenografts oder synthetische Membranen (Epigard, Biobrane) bedeckt. Es dauert mehr als 3 Wochen bis die Wunde verschlossen ist, aber, es wird effektiv nur exzidiert was tief verbrannt ist. Heikle Stellen, z. B. über der Sehnenhaube der Metakarpophalangealgelenke, die mit Sicherheit bei einer Operation zwischen dem 3. und 7. Tag exzidiert worden wären, heilen spontan und narbenfrei. 46.2.5 Spalthautentnahme Auch noch so dünn entnommene Spalthaut hinterlässt im Spenderareal Spuren, am häufigsten Textur- und Farbänderung, nicht selten auch Narben. Wenn immer möglich sollte also das Spenderareal an ästhetisch irrelevanten Körperstellen liegen und nicht unüberlegt, für wenig Haut, an zwei verschiedenen Stellen entnommen werden. Für kleine Verbrennungen um 5% der KOF (bei Kindern je nach Alter bis 10%) ist die Kopfhaut die ideale Spenderstelle. Korrekt entnommen bleiben keinerlei Narben sichtbar und mögliche Farb- und Texturänderungen werden durch die nachwachsenden Haare überdeckt. Farblich entspricht sie der ursprünglichen Haut der Hand gut. Ungünstig ist die Entnahme am Gesäß: Diese Spenderzone ist bei der freizügigen Mode heutzutage immer sichtbar, ästhetisch also, besonders bei Frauen, relevant. Dazu kommt, dass es technisch anspruchsvoll ist dort Haut zu entnehmen und darum komplikationsträchtig, also mit großem Narbenrisiko behaftet. Die Entnahme am Gesäß ist für den Patienten unbequem, er kann
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
kaum sitzen oder liegen und jeder Toilettengang wird zur Tortur. Zuletzt fällt die Haut vom Gesäß an der Hand durch einen unschönen Gelbstich auf. Liegt eine Verbrennung von mehr als 5% der KOF vor, sind die Oberschenkel und der Rumpf ein reichliches Lager mit geringer Spendermorbidität. Haut dieser beiden Entnahmestellen wird an der Hand immer etwas bräunlicher als autochthone Haut auffallen ( Abschn. 35.2.1). Die Entnahme erfolgt mit Druckluft oder elektrisch angetriebenen Dermatomen an gut rasierter Haut. Nur für kleinste Spalthautentnahmen kann das handgeführte Goulain-Dermatom (Weck-Messer) verwendet werden. Die Spenderareale am Kopf und Rumpf müssen vor der Entnahme mit reichlich Kochsalzlösung unterspritzt werden, um dem Dermatom einen gleichmäßigen Gegendruck zu bieten. Dieser Gegendruck ist an den Extremitäten durch Muskeln und Faszien natürlich vorhanden. Zur Spalthautentnahme wird Paraffinöl in dünner Schicht auf die Haut aufgetragen, was den Vortrieb des Dermatoms erleichtert. Die Spalthaut muss dünn, also zwischen 0,2 und 0,3 mm, entnommen werden. Dünne Spalthaut hat den Vorteil, dass sie sicherer einheilt, leicht zu meshen ist, selten zu ästhetischen Komplikationen an der Spenderstelle führt und sicher innerhalb 10 Tagen spontan heilt. Am Oberschenkel soll man immer von proximal nach distal entnehmen: Der erste Schnitt des Dermatoms ist immer etwas tief und darum gut sichtbar! Alle Dermatome sind mit einer Skalierung versehen, dort erfolgt die Einstellung. Diese Skalierung ist nicht genau und kann sich nach mehrmaligem Gebrauch ändern. Dazu kommt, dass die Dicke der entnommenen Spalthaut auch von der Kraft des Operateurs abhängt. Das alles macht verständlich, dass es besser ist, das Dermatom in der Dicke nach der Entnahme eines kleinen Areals nach oben zu korrigieren als umgekehrt, denn einmal zu dick entnommene Spalthaut hinterlässt lebenslange Spuren. Das Spenderareal wird nach der Entnahme mit Fettgazen, darüber Stoffgazen und zuletzt mit einer elastischen Binde verbunden. Dieser Verband wird während 10 Tagen belassen und dann entfernt. Am Skalp bedeckt man die Entnahmestelle mit einer feinmaschigen Stoffgaze, die dann mit dem Fön getrocknet wird. Am 9. Tag wird eine fettige Salbe aus 2% Diacetylaminoazetuol dick auf die Gazen aufgetragen und über Nacht okklusiv verbunden. Am folgenden Tag kann die aufgeweichte Schicht schmerzlos entfernt werden. Viele andere Möglichkeiten zur Behandlung der Entnahmestellen, vom Abdecken mit synthetischen Folien (Biobrane, Mepitel) bis zur Bedeckung mit auto- und xenogenen Grafts, sind beschrieben. Keine dieser zum Teil sehr teuren Techniken vermag aber die Heilung bezüglich Tempo und Qualität gegenüber den alten, einfachen und billigen oben beschriebenen Methoden signifikant zu verbessern. Spalthaut kann intakt oder als Maschentransplantat auf das konditionierte Wundbett aufgelegt werden. Alle Zentren empfehlen aus ästhetischen Überlegungen an der Hand ungemeshte Haut. Das Verbrennungszentrum Zürich deckt nach der tangentialen Exzision mit gemeshter Haut: Bei der isolierten Handverbrennung geht es dabei nicht um den Flächengewinn. Gemeshte Haut lässt sich besser anmodellieren und erlaubt den Sekret- und Hämatomabfluss. Sie heilt sicherer und homogener ein. Zwar bleibt das Maschenmuster sichtbar, dafür kommt es nicht zu unregelmäßigem Einheilen und hypertrophen Narben an den Transplantaträndern wie beim Arbeiten mit intakter Spalthaut. Für die Hände wird die Haut maximal 1:1.5 oder quer gemesht, was minimale Perforationen in der Spalthaut hinterlässt (⊡ Abb. 46.33c). Nach der Granulationsmethode ist die Auflage intakter Spalthaut problemlos möglich, da der Sekretabfluss und das Risiko
einer Hämatombildung viel geringer ist als nach einer tangentialen Exzision. > Spalthaut wird weder eingenäht noch angeklammert, weil dadurch das Verrutschen nicht vermieden werden kann.
Bei Zug auf das Transplantat wird der Faden oder die Klammer zwar halten, aber das dünne Transplantat an der Nahtstelle ausreißen. Das Klammern oder Einnähen führt nur zu einer Verlängerung der Operationszeit, vermehrter Blutung im Bereich der Stichstellen und zu nervenaufreibenden Faden- oder Klammerentfernungsprozeduren. Auch das Fixieren der Transplantate mit Fibrinkleber ist unnötig, da die Wunde selbst dieses Fibrin billiger produziert: Transplantate kleben schon nach kurzer Zeit auf dem Wundgrund. Entscheidend für das Einheilen der Transplantation sind der komprimierende Verband und die Ruhigstellung von 5 Tagen. 46.2.6 Vollhautentnahme Als Spenderareal für ausgedehnte Defekte bieten sich die Leistenregionen oder das untere Abdomen, für kleine Defekte die Supraklavikulärregion, die Ellenbeuge, die Oberarminnenseite oder (selten) die retroaurikuläre Region an. Da die Haut unter einer gewissen Spannung adaptiert werden muss, kommt es oft zu unschönen, bei jungen Patienten auch zu hypertrophen Narben: Entscheidend für das sichere Einheilen der Vollhaut ist, dass sie vollständig entfettet wird. Das Vollhauttransplantat muss unter Spannung eingenäht werden! Kleine Inzisionen mit der 11er-Klinge sollten vor dem Verband gemacht werden, um die Drainage von Sekret unter der Vollhaut in den Verband zu ermöglichen. Abschließend wird mit einer Fettgaze die Vollhaut bedeckt und mit einem Kompressionsverband über Gazen und feuchte Watte an den Wundgrund komprimiert. Ein Überknüpfverband (»tie over«) ist an der Hand nicht notwendig, da im Gegensatz zum Gesicht immer gut mit einem üblichen Verband komprimiert werden kann. Der erste Verbandswechsel erfolgt, wie bei der Spalthauttransplantation, nach 5 Tagen. Große Bedeutung kommt der Vollhaut bei der Korrektur ästhetisch und funktionell unbefriedigender Narben an den Händen zu. Da es Sinn macht Hand und Finger einheitlich mit Vollhaut zu korrigieren braucht man viel Haut, je nach KOF des Patienten und der VKOf etwa 150–180 cm2. Um solch große Mengen ernten zu können, macht es Sinn das untere Abdomen vorgängig zu expandieren und die Haut dann in der Schnittführung einer Abdominoplastik dort zu entnehmen. 46.2.7 Technik der Deckung von Handdefekten
mithilfe eines artifiziellen Dermisersatzes (Matriderm und Spalthaut Lars-Peter Kamolz Bei allen Patienten, die einer chirurgischen Behandlung bedürfen, wird innerhalb der ersten 5 Tage nach Trauma ein tiefenspezifisches Débridement durchgeführt und im Anschluss daran intraoperativ die endgültige Indikation zur Verwendung eines Dermisersatzmaterials gestellt. Das Dermisersatzmaterial Matriderm wird z. B. bei schweren tiefen Handverbrennungen 2. Grades und bei Handverbrennungen 3. Grades in einer Dicke von 1 mm für die einzeitige Rekonstruktion der Dermis in Kombination mit einem dünnen Spalthauttransplantat verwendet. Die dreidimensionale Matrix besteht aus nativ strukturierten Kollagenfibrillen
1315 46.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 46.35 Technik der Deckung eines dorsalen Handdefektes 3. Grades mithilfe eines artifiziellen Dermisersatzes (Matriderm) in Kombination mit einem dünnen Spalthauttransplantat. a Mikrostruktur des Matriderm, b klinischer Aspekt bei Klinikaufnahme: Verbrennung 3. Grades der Hand, c klinischer Aspekt nach epifaszialer Nekrosektomie und Auflage von Matriderm, d klinischer Aspekt nach Deckung des Matriderm mit einem mitteldicken Spalthauttransplantaten als »sheet graft«, e postoperative Ruhigstellung mithilfe eines V.A.C.-Handschuhverbandes in Intrinsic-plus-Stellung, f postoperative standardisierte Narbentherapie mit Kompression und Silikonauflage, g klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ausheilungsergebnis mit sehr gutem Narbenbild, h Funktion 1 Jahr postoperativ: komplette Fingerstreckung, keinerlei funktionelle Bewegungseinschränkungen, i Funktion 1 Jahr postoperativ: kompletter Faustschluss, sehr gute Narbenelastizität
mit Elastin und dient der dermalen Reparation (⊡ Abb. 46.35a). Das Kollagen der Matrix wird aus boviner Dermis gewonnen und enthält die dermalen Kollagentypen I, III und V. Das Elastin wird aus dem Lig. nuchae der Rinder gewonnen. Die Dicke der Matrix beträgt bei der Standardindikation 1 mm, wobei aber auch eine 2 mm dicke Matrix vorliegt. Die 2 mm dicke Matrix wird aber zumeist zweizeitig verwendet. Sie wird durch γ-Irradiation sterilisiert und kann bei Raumtemperatur bis zur Operation gelagert werden.
Nach dem Débridement und exakter Blutstillung wird Matriderm auf den Wundgrund gelegt; die Rehydrierung erfolgt dabei zumeist von der Wunde aus; kann bei Bedarf aber auch mit einer Spritze mit 0,9% NaCl durch Beträufeln erfolgen. Die Matrix wiederum wird dann in derselben Sitzung mit dünner Spalthaut bedeckt (⊡ Abb. 46.35b-d). Bei Handverbrennungen kommen, wann immer möglich, ungemeshte Spalthauttransplantate zum Einsatz. Die Transplantate werden dann mittels resorbierbarer Nähte oder
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Klammern fixiert und ein entsprechender Sekundärverband (aus einer Lage Paraffingaze Bactigras; Smith and Nephew Medical Limited, Hull, England) angelegt. Um eine ungestörte Wundheilung und Revaskularisierung der Matrix und der Spalthaut zu gewährleisten, werden die gedeckten Areale für 5 Tage ruhiggestellt. Die Ruhigstellung erfolgt hierbei mittels Gipsschiene oder mittels V.A.C.-Verband (125 mmHg, konstanter. Sog; ⊡ Abb. 46.35e). Innerhalb der ersten 14 Tage nach der Operation kann bei den Patienten mit Handverbrennungen mit der Physiotherapie begonnen werden. Nach der vollständigen Einheilung wird eine konsequente Kompressionstherapie durchgeführt (⊡ Abb. 46.35f). Bis dato zeigte keiner der Patienten eine allergische Reaktion. Auch die Anheilungsrate der Spalthaut war durch die Interposition der Matrix nicht reduziert. Die Elastizität und Textur (⊡ Abb. 46.35g-i) der transplantierten Stellen war bei allen Patienten sehr zufriedenstellend und der isolierten Spalthauttransplantation überlegen; auch bei der Nachuntersuchung tauchten bis dato bei keinem der Patienten instabile Narben oder Wundverhältnisse auf. 46.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Die Behandlung von Verbrennungen ist voll von Fallstricken. Der Handchirurg oder Allgemeinchirurg kann Verbrennungen der oberen Extremität und insbesondere isolierte Verbrennungen der Hand trotz dieser Fallstricke auch ohne langjährige Zentrumserfahrung mit besten Resultaten behandeln, er muss sie nur kennen. Einer der Schlüssel zur guten Behandlung besteht darin, Verbrennungen nicht als isoliertes lokales Ereignis, eben eine Verbrennung der Hand z. B., zu betrachten, sondern als ein lokales Ereignis, welches zu systemischen Problemen führen kann, die die lokalen bei weitem überschreiten. Diesbezüglich sind folgende Patientengruppen mit Handverbrennungen nicht zu unterschätzen: ▬ ganz junge und alte Patienten über 65 Jahre, ▬ Diabetiker, Menschen mit Immunschwächen, Organtransplantierte, ▬ Drogenabhängige und Alkoholiker, ▬ Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, insbesondere solche, die die sich die Handverbrennung selber zuführten. Auch die Ätiologie kann gewisse Handverbrennungen erkennen, welche gehäuft systemische Komplikationen zeigen und darum als Risikogruppe zu betrachten sind: ▬ Elektroverbrennungen, insbesondere die Hochspannungsverletzungen, ▬ chemische Verletzungen mit Flusssäure und Lösungsmittel (Phenol), ▬ alle Patienten, bei denen sich der Unfall in einem geschlossenen Raum ereignete; bei diesen muss ein Inhaltionsschaden oder eine Kohlenmonoxidintoxikation ausgeschlossen werden. Die größte Fehlerquelle allerdings ist die falsche Tiefenbeurteilung einer Handverbrennung, woraus sich zwangsläufig auch eine falsche Therapie ergibt.
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> Die Tiefendiagnose der Handverbrennung bestimmt die lokale Therapie. Die korrekte lokale Therapie führt zum bestmöglichen funktionellen und ästhetischen Resultat. Handverbrennungen 1., 3. und 4. Grades sind einfach und si-
cher diagnostizierbar. Für Verbrennungen 1. Grades kommt nur die konservative, für Verbrennungen 2. und 4. Grades nur die
operative Therapie in Frage. Diese Patientengruppe stellt also keine diagnostischen Probleme. Schwierig ist aber die Therapie der Handverbrennungen 3. und vor allem 4. Grades. Von der Therapie Letzterer ist Handchirurgen und Allgemeinchirurgen abzuraten, die keine profunde Weiterbildung in Verbrennungschirurgie in ihrem Curriculum aufweisen. > Diagnostisch stellt die Gruppe der Handverbrennungen 2. Grades die größten Schwierigkeiten.
Die meisten Verbrennungen an der Hand sind aber 2. Grades. Die Diagnose Grad 2 ist noch einfach, schwierig ist aber die Unterscheidung in oberflächlich und tief, also dort wo die Trennlinie zwischen der konservativen oder operativen Therapie verläuft: Oberflächliche Verbrennungen 2. Grades heilen mit konservativer Therapie problemlos innerhalb von 10–12 Tagen mit einer Restitutio ad integrum. Tiefe Verbrennungen 2. Grades der Hand heilen, wie an anderen Körperstellen in etwa 4–5 Wochen zwar auch spontan, aber unter Narbenbildung, und diese meist hypertrophe Narbenbildung ist an der Hand, dem wahrscheinlich wichtigsten Kommunikationsorgan und funktionellen Zentrum des Menschen, ein ästhetisch und funktionelles Desaster. Eine operative Therapie der tiefen Handverbrennung 2. Grades führt aber zu einem perfekten funktionellen und guten ästhetischen Resultat. Seit Jahren warten Verbrennungschirurgen auf die magische Maschine, die ihnen sicher sagt: »Dies ist eine oberflächliche, das ist eine tiefe Verbrennung 2. Grades. Die verschiedensten Verfahren wurden angepriesen. Sie können aber mit Sicherheit nur das unterscheiden, was auch klinisch problemlos gelingt, nämlich Verbrennungen 1., 2. und 3. Grades. In der Unterscheidung der oberflächlichen von der tiefen Verbrennung 2. Grades versagen sie kläglich, sind aktuell also unbrauchbar. Gewisse Hoffnungen weckt die konfokale Laser Scanning Mikroskopie (CLSM): Sie liefert in vivo histomorphologische Aufnahmen und ermöglicht vielleicht die Differenzierung zwischen oberflächlichen und tiefdermalen Verbrennungen 2. Grades. Auch die Verbrennungsexperten täuschen sich oft und sind darum kaum der Rettungsring für den ratlosen Handchirurgen. Verbrennungschirurgische Konsilien mit der speziellen Frage »oberflächlich oder tief« zeichnen sich durch ihre Länge und nicht durch ihre Klarheit aus. Was kann klinisch helfen? ▬ Ätiologie: Verbrühungen werden am Unfalltag oft unterschätzt. Man glaubt es handle sich um eine oberflächliche Verbrennung 2. Grades und sieht im Verlauf am 2. oder 3. posttraumatischen Tag, dass es ich um eine tiefe Verbrennung 2. Grades handelt. Umgekehrt ist es bei Explosionsunfällen: Diese imponieren am Unfalltag als tiefe Verbrennung 2. Grades, stellen sich dann aber anderntags schon als oberflächlich heraus. ▬ Die wegdrückbare Rötung (Glasspateltest) ist hilfreich. Bei tiefen Verbrennungen 2. Grades ist die Rekapillarisierung deutlich verlangsamt. ▬ Zeitdynamik: Alle oberflächlichen Verbrennungen 2. Grades sind innerhalb von 10 (bis 12) Tagen geheilt. Ist also die Verbrennung nach dieser Zeit nicht geheilt ist sie tief und verlangt einen Therapiewechsel von konservativ auf operativ. Welche therapeutischen Konsequenzen ergeben sich letztlich aus der unsicheren Tiefenbeurteilung? Die frühe tangentiale Exzision am 3.–7. posttraumatischen Tag führt bei tiefen Handverbrennungen 2. Grades zu exzellenten Resultaten. Dieselben guten Resultate werden auch bei der tangentialen Exzision der oberflächlichen Verbrennung 2. Grades am
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1317 46.4 · Kälteschaden (Erfrierung)
⊡ Tab. 46.5 Vergleich Tangentiale Exzision vs. Granulationsmethode bei Handverbrennungen mit VKOF Die korrekte Gradeinteilung kann erst nach der Aufwärmung Die klassische Einteilung der lokalen Erfrierungen ist ähnlich der bei den Verbrennungen, ist aber auf keinen Fall chirurgisch so therapierelevant (⊡ Abb. 46.36). Verschiedene Autoren teilen lediglich in oberflächliche (Grad 1 und 2) und tiefe Erfrierungen ein, was klinisch und in Bezug auf die Therapie auch völlig genügend ist. Dabei hat sich gezeigt, dass Verletzte mit oberflächlichen Erfrierungen nach der Aufwärmung in den betroffenen Arealen wieder Gefühl hatten, hingegen fehlte dieses auch nach Aufwärmen bei tiefen Erfrierungen.
Wie die Pathophysiologie der Erfrierung zeigt, soll am Unfallort nur dann aufgewärmt werden, wenn gesichert ist, dass es während des Transportes nicht wieder zur Unterkühlung kommt. Das Aufwärmen, wieder Unterkühlen, wieder Aufwärmen, führt zur unnötigen Zellschädigung. Reiben des unterkühlten Areals mit Händen oder, wie oft beschrieben mit Schnee oder Schnaps, nützen nichts, es führt höchstens zu einer mechanischen Schädigung des so schon strapazierten Gewebes. Der Patient soll von weiterer Unterkühlung geschützt und ruhiggestellt (also keine Bewegungen) ins nächstgelegene Krankenhaus transportiert werden. Bei Schmerzen können Aspirin oder Tramadolhydrochlorid- oder Tilidin-Tropfen verabreicht werden.
Lokale Therapie der Erfrierung
Therapie im Krankenhaus
> Die lokale Therapie bei Erfrierungen ist fast ausschließlich
Die Therapie kann in das Aufwärmen und in die Maßnahmen nach dem Aufwärmen unterteilt werden.
erfolgen!
konservativ.
In seltenen Fällen kommt es nach dem Aufwärmen zu Logensyndromen, die notfallmäßig fasziotomiert werden müssen, die Technik unterscheidet sich nicht von derjenigen bei Verbrennungen. Der Chirurg muss sich bei Erfrierungen defensiv verhalten. Operative Behandlungen vor 6–8 Wochen nach Trauma sind nicht indiziert. Es gilt die alte Chirurgenweisheit: »Frostbite in January, amputate in July«.
a
c
Aufwärmen Die betroffenen Areale werden aktiv aufgewärmt, allerdings muss die Kerntemperatur 37° betragen, ist dies nicht der Fall muss zuerst zentral gewärmt werden. Lokal wird im Wasserbad von 40-42°C mit antibakteriellem Zusatz, z. B. Povidon-Iod, über 15-30 min gewärmt. Dabei muss darauf geachtet werden, nicht durch zu heißes Wasser Verbrennungen oder durch starkes Reiben mechanische
b
d
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⊡ Abb. 46.36 Gradeinteilung der lokalen Erfrierung. a Grad 1 (Congelatio erythematosa): rein epidermaler Schaden. Blässe, Abkühlung, Gefühllosigkeit; nach Aufwärmung: Hyperämie, leichte Schmerzen, Juckreiz; Gefühl nach Aufwärmung vorhanden. b Grad 2 (Congelatio bullosa): Schaden bis in die oberflächliche oder tiefe Dermis; Blasenbildung (klare oder milchig-trübe Flüssigkeit); können je nach Erfrierungstiefe ohne Narbenbildung abheilen; Gefühl nach Aufwärmung vorhanden. c–e Grad 3 (Congelatio escharotica): Trockene Nekrosen (Mumifikation) oder blaurote Blutblasen, nach deren Platzen Nekrosen verschiedener Tiefe sichtbar werden; Abheilung immer unter Narbenbildung; Gefühl nach Aufwärmung nicht vorhanden
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Kapitel 46 · Thermische, elektrische und chemische Verletzungen der Hand
Schäden zuzufügen. Das wiederkehrende Gefühl, die rötlich-lila Färbung und die wiedererlangte Geschmeidigkeit der Haut erlauben die Aufwärmung zu stoppen, allerdings muss, wie schon mehrfach erwähnt ein erneutes Unterkühlen vermieden werden. Massagen und forcierte Bewegungen sind kontraindiziert. Therapeutische Maßnahmen nach der Aufwärmung Blasen bei oberflächlichen Erfrierungen (Grad 1 und 2), also solchen mit weißem oder klarem Inhalt, werden debridiert. Dadurch wird der Kontakt der geschädigten Haut mit dem prostaglandinund thromboxanhaltigen Exsudat unterbunden. Die blutgefüllten Blasen, wie sie für tiefe Erfrierungen typisch sind, werden belassen! Wenn auch nicht alle Autoren diese Meinung teilen, nimmt doch die Mehrzahl an, dass dadurch das Austrocknen der nekrotischen Zellen vermieden werden kann und sich so ein Eschar bilden kann, die die Mumifikation ohne Superinfektionen begünstigt. Nach Tetanusschutz erfolgt eine konsequente Hochlagerung der betroffenen Extremität zur Ödemprophylaxe. Empfohlen wird die Antibiotikaprophylaxe mit Penicillin. Man hofft, die auf der Haut immer vorliegenden Streptokokken zu eliminieren und dadurch eine zusätzliche Gewebeschädigung zu vermeiden. Die Therapie mit Aspirin als Thromboxaninhibitor scheint sinnvoll, allerdings fehlen Studien, die dies beweisen. Meist werden heute nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), z. B. Ibuprofen, eingesetzt, ebenfalls mit der Idee einer Reduktion der Ausschüttung von Entzündungsmediatoren und dadurch einer Verringerung der Gewebeschädigung nach Aufwärmung. Aloe Vera wird als lokaler Thromboxaninhibitor eingesetzt. Als Gel aufgetragen unterstützt sie lokal die systemische Wirkung der NSAR. Verschiedene andere Therapieansätze wurden versucht, um die lokale Situation nach Erfrierungen zu verbessern: Niedermolekulargewichtiges Dextran, Antikoagulation, Thrombolyse mit Streptokinase, chirurgische oder medikamentöse Sympathikusblockaden und hyperbare Sauerstofftherapie. All diese Therapieansätze sind umstritten und keiner zeigt in Studien eine gesicherte positive Wirkung bezüglich des lokalen Schadens nach Erfrierungen. Die folgende Übersicht fasst die therapeutischen Maßnahmen im Überblick zusammen. Die Therapie aller Erfrierungsgrade ist zu Beginn konservativ: Keine chirurgische Hektik oder gar Hyperaktivität. Am besten wird nach Desinfektion trocken behandelt, täglich desinfiziert. Ein chirurgischer Eingriff folgt, falls notwendig, meist erst nach mehreren Wochen, also dann wenn sich eine sichere Demarkation zeigt. Nicht selten kommt es nach Erfrierung gar zur »Autoamputation«. Behandlungsprotokoll bei lokalen Erfierungen nach McCauley
▬ Patienten mit Erfrierungen wenn immer möglich in ein Krankenhaus einweisen
▬ Nach Aufnahme rasches Aufwärmen der betroffenen Areale
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in warmem Wasser (40–42°) mit antibakteriellem Zusatz über 15–30 Minuten ▬ Nach dem Aufwärmen: – Débridement der Blasen und topische Behandlung mit Aloe vera alle 6 Stunden – Kein Débridement von Blasen mit blutigem Inhalt; topisch mit Aloe vera alle 6 Stunden ▼
– Hochlagern und eventuelle Ruhigstellung der betroffenen Extremität – Tetanusprophylaxe oder aktive Immunisierung – Analgetika: je nach Schmerzen Opiate als Tropfen, intramuskulär oder intravenös – Ibuprofen 400 mg per os alle 12 Stunden – Penicillin 600 mg alle 6 Stunden für 3 Tage – Tägliche Wassertherapie (40°) über 30–45 Minuten ▬ Fotodokumentation bei Eintritt und mindestens jeden 3. Tag im Verlauf ▬ Rauchverbot
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46
1323 46.4 · Weiterführende Literatur
XII Vaskuläre Störungen
47
Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand – 1325 Stephan Spendel, Maria Wiedner, Erwin Scharnagl
48
Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität – 1343 Karlheinz Kalb
49
Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität – 1361 Reinhold Stober, Franz-Eduard Brock
50
Lymphödem der oberen Extremität – 1385 Rüdiger G.H. Baumeister
XII 46
1325 46.4 · Weiterführende Literatur
Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand Stephan Spendel, Maria Wiedner, Erwin Scharnagl
47.1
Allgemeines – 1326
47.1.1 47.1.2 47.1.3 47.1.4 47.1.5 47.1.6 47.1.7 47.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1326 Epidemiologie – 1326 Ätiologie – 1326 Diagnostik – 1327 Klassifikation – 1328 Indikationen und Differenzialtherapie – 1329 Therapie – 1330 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1332
47.2
Spezielle Techniken
47.2.1 47.2.2
Vaskuläre Tumore (Hämangiome) – 1333 Vaskuläre Malformationen – 1335
47.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
– 1333
Weiterführende Literatur
– 1340
– 1341
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
47
1326
47.1
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
Allgemeines
Unter dem Begriff Hämangiom wurden in der Vergangenheit unterschiedlichste Veränderungen des Gefäßsystems zusammengefasst. Mulliken und Glowacki haben schließlich 1982 eine Trennung von Hämangiomen einerseits und von Gefäßfehlbildungen anderseits gefordert. Die »International Society for Study of Vascular Anomalies« (ISSVA) hat diese Trennung übernommen und später die Bezeichnung Hämangiom durch den Begriff vaskulärer Tumor ersetzt. Sie strebt für die weitere Klassifizierung eine eher forschungsorientierte Einteilung der vaskulären Tumore nach histologischen Kriterien an, dies spiegelt sich auch weitgehend in der angloamerikanischen Literatur wider. Im deutschsprachigen Raum hat sich hingegen eine vorwiegend praxisorientierte Einteilung nach klinischen Kriterien durchgesetzt. > Für eine adäquate Therapie ist die Unterscheidung zwischen vaskulären Tumoren und vaskulären Malformationen unerlässlich (⊡ Tab. 47.1).
In dem folgenden Kapitel wird deshalb auf diese Unterscheidung besonders Wert gelegt. Erst bei der exakten Erstellung einer Diagnose kann eine entsprechende Therapieform angewendet werden. 47.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie
47
Für das Verständnis der Pathogenese von vaskulären Malformationen wurden große Fortschritte durch molekulargenetische Untersuchungen an der Steuerung der embryonalen Gefäßentwicklung gemacht. Die embryonale Entwicklung des Gefäßsystems teilt sich in Vaskulogenese und Angiogenese. In der Vaskulogenese bilden sich aus mesodermalen Vorläuferzellen, den Hämangioblasten, Blutinseln. Die äußeren Zellen der Blutinseln bilden einen primitiven Gefäßplexus, der die hämatopoetischen Vorläuferzellen, die aus den inneren Zellen entstehen, umschließt. Die äußeren Zellen flachen zu Endothelzellen ab und werden periendothelial von Perizyten oder glatten Muskelzellen unterstützt. Perizyten grenzen dabei an Kapillaren und glatte Muskelzellen an größere Gefäße. Der Gefäßplexus findet an dem in Entstehung befindlichen Herzschlauch Anschluss. Die Entwicklung der primären Blutzirkulation ist am Ende der dritten Entwicklungswoche abgeschlossen. Nach der Entstehung des primären Gefäßplexus werden in der Angiogenese neue Blutgefäße durch Migration und Proliferation der Endothelzellen gebildet. Man unterscheidet eine sprießende und eine nicht sprießende Angiogenese. Bei der Aussprossung bahnen sich die Endothelzellen durch Proteolyse ihren Weg durch bestehende Gefäßwände. Bei der nicht sprießenden Angiogenese teilen sich größere Gefäße durch Invagination der umgebenden Perizyten und Extrazellularmatrix. Ein dritter Mechanismus ist das Verschmelzen von Kapillaren zu größeren Gefäßen. Sowohl während der Vaskulogenese als auch der Angiogenese kommt es zu Umformung und Reifung der entstandenen Gefäße. Die Gefäße passen sich dadurch den lokalen Anforderungen des jeweiligen Gewebes an. Das lymphatische System entwickelt sich ab dem Ende der 5. Embryonalwoche. Die Entstehung der Lymphgefäße in der Embryogenese geschieht durch Endothelaussprossung aus den großen Venen. Von den primären großen Lymphgefäßen ausgehend breitet sich das Lymphgefäßnetz in die Peripherie aus. Die Blutgefäßbildung wird durch verschiedene Wachstumsfaktoren auf parakrinem Weg gesteuert. Die transmembranöse Signaltransduktion erfolgt dabei meist über Tyrosinkinaserezeptoren.
⊡ Tab. 47.1 Klassifikation der angeborenen Gefäßanomalien Vaskuläre Tumore
Vaskuläre Malformationen
Infantiles Hämangiom
Kapilläre Malformation
Rapid involutierendes Hämangiom
Venöse Malformation
Nicht involutierendes Hämangiom
Lymphatische Malformation
Tufted Angioma
Arterielle Malformation
Kaposiformes Hämangiom
Arteriovenöse Malformation Gemischte Malformation
Diese Regulatoren wirken fördernd oder hemmend. Zu den fördernden Faktoren zählen bFGF (»basic fibroblast growth factor«), VEGF (»vascular endothelial growth factor«) oder Angiopoetin, zu den hemmenden zählen Angiostatin, Endostatin und Thrombospondin. Die mitogene Aktivität des bFGF wirkt auf ein breites Spektrum von Zielzellen. In der Vaskulogenese fördert er die Differenzierung der Angioblasten und hämatopoetischen Vorläuferzellen. Ein spezifischer Wachstumsfaktor für die Endothelzellen ist der VEGF. Er wird sowohl während der embryonalen Entwicklung als auch im Erwachsenenalter sezerniert, wo er in physiologischen und pathologischen Prozessen die Neovaskularisation induziert. Weitere Tyrosinkinaserezeptoren sind Tie1 und Tie2. Es wurde mit dem Angiopoetin-1 ein Ligand für Tie2 gefunden, für Tie1 ist noch kein Ligand bekannt. Die Angiogeneseinhibitoren spielen wahrscheinlich nur eine Rolle in der postnatalen Gefäßformung, aber nicht in der embryonalen Vaskulogenese und Angiogenese. Bei der Angiogenese des Erwachsenen spielen Entzündungsfaktoren eine wichtige Rolle. Faktoren wie Tumornekrosefaktor (TNF), Interleukin 1 und Interleukin 8 aktivieren Endothelzellen und fördern dadurch die Angiogenese. 47.1.2 Epidemiologie > Hämangiome und vaskuläre Malformationen sind die häufigsten Gefäßfehlbildungen in der Kindheit.
Der überwiegende Anteil an angeborenen Missbildungen betrifft Hämangiome. Sie sind gutartige Tumore des Gefäßendothels. Ein Hämangiom tritt etwa bei 10–20% aller Neugeborenen im 1. Lebensjahr auf und bildet sich in 80–90% der Fälle spontan zurück. 47.1.3 Ätiologie Abschn. 47.1.1 Neben Spontanmutationen spielen genetische Faktoren in der Pathogenese eine wichtige Rolle. Verschiedene Gene, die mit vaskulären Fehlbildungen assoziiert sind, wurden bereits identifiziert (⊡ Tab. 47.2). Die meisten Hämangiome treten sporadisch auf, einige Familien mit autosomal-dominantem Erbgang wurden beschrieben. Gegenwärtig ist der Genlocus 5q31-33 identifiziert. Vaskuläre Malformationen entstehen während der Embryonalentwicklung und betreffen Venen, Kapillaren, arteriovenöse Shunts, Arterien und Lymphgefäße. Sie sind meist bei der Geburt präsent, aber in der Regel zu diesem Zeitpunkt noch nicht klinisch manifest. Sie vergrößern sich proportional zum Körperwachstum, können aber auch durch die hormonelle Umstellung in der Pubertät stimuliert werden.
1327 47.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 47.2 Genetische Grundlagen vaskulärer Fehlbildungen (Brovillard u. Vikkula 2007) Malformation
Locus
Gen (Gen)
Name
Kapilläre Anomalien Kapilläre Malformationen
-
-
(?)
Cerebral kavernöse Malformation
7q11-22 7p13 3q26.1 3q26.3-27.2
CCM1 CCM2 CCM3 CCM4
(KRIT1) (malcavernin) (PDCD10) (?)
Kapilläre – arteriovenöse Malformation
5q13-22
CMC1
(RASA1)
Venöse Malformationen
-
-
(?)
Kutan-mukosale venöse Malformation
9p21
VMCM1
(TIE2/TEK)
Glomuvenöse Malformation
1p21-22
VMGLOM
(GLMN)
Primäres Lymphödem
-
-
(?)
Primäres kongenitales Lymphödem (Milroy)
5q35.3
PCL1
(FLT4/VEGFR3)
Lymphödem, Distichiasis, Ptose, gelbe Nägel
16q24.3
LD
(FOXC2)
Hypertrichose, Lymphödem, Teleangiektasie
20q13.33
HLT
(SOX18)
Osteoporose, Lymphödem, nhydrotisch ektodermale Dysplasie, Immundefizienz
Xq28
IP2
(NEMO)
Lymphödem, hereditäre Cholestase (Aageneas-Syndrom)
15q
LCS1
(?)
Arteriovenöse Malformation
-
-
(?)
Hereditäre hämorrhagische Teleangiektasie oder
9q33-34
HHT1
(ENG)
Rendu-Osler-Weber (HHT/ROW)
12q11-14 5q31.3-32 7p14
HHT2 HHT3 HHT4
(ALK1) (?) (?)
Juvenile Polypse-HHT (JPHT)
18q21.1
JPHT
(SMAD4/MADH4)
Ataxia-Teleangiektasia (AT)
11q23
AT1
(ATM)
PTEN Hamartom Tumor Syndrom (PTHS) mit Cowden, Bannayan-Riley-Ruvalcava, Proteus
10q23.3
PHTS
(PTEN)
Venöse Anomalien
Lymphatische Anomalien Lymphatische Malformationen
Gemischte Malformationen
> Eine Reihe von vaskulären Fehlbildungen tritt assoziiert mit Fehlbildungssyndromen auf.
47.1.4 Diagnostik Angeborene Gefäßmissbildungen können überall im Körper alleine oder im Rahmen eines Syndroms oder einer Sequenz auftreten. Deshalb hat sich ein multidisziplinäres Vorgehen bezüglich Diagnostik und Therapie – in Kompetenzzentren – bewährt. > Für die Diagnostik von angeborenen Gefäßmissbildungen stehen mehrere diagnostische Verfahren zur Verfügung.
Die verschiedenen diagnostischen Verfahren müssen an die entsprechenden klinischen Befunde adaptiert werden, mit dem Ziel der Diagnosefindung, einer Beurteilung für die Therapieplanung oder für die Nachsorge.
Konventionelle Röntgenuntersuchungen Diese sind von eher geringem Interesse und zeigen in den meisten Fällen ein normales Bild. Bei venösen Malformationen sind gelegentlich Phlebolithen erkennbar. Knöcherne Deformitäten sind am ehesten bei großen Malformationen sichtbar, die aufgrund der großen betroffenen Weichteilmasse Druckatrophien hervorrufen können. Ist bei vaskulären Malformationen der Knochen involviert, können lytische Läsionen und pathologische Frakturen erkennbar werden.
Sonografie in Kombination mit Doppler Diese Methode ist sehr häufig das erste diagnostische Verfahren. Es lässt in vielen Fällen eine Unterscheidung zwischen vaskulären Tumoren und vaskulären Malformationen zu. Bei vaskulären Malformationen ist damit auch der Typus der Läsion feststellbar. Die Sonografie zeigt, ob eine Läsion entweder zystisch oder solide ist, sowie das Vorhandensein eines Blutflusses und dessen Geschwindigkeit. Vor allem bei infantilen Hämangiomen ist die farbkodierte Duplexsonografie, mit der sowohl eine Artdiagnose, eine exakte
47
1328
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
⊡ Tab. 47.3 Klassifikation der angeborenen Gefäßmissbildungen nach Mullikan und Glowacki (1982) Vaskuläre Tumore
Vaskuläre Malformationen
Infantiles Hämangiom
Slow flow
Kongenitales Hämangioendotheliom: RICH – schnell involutierendes kongenitales Hämangioendotheliom, NICH – nicht involutierendes kongenitales Hämangioendotheliom
Venöse Malformationen (sporadische venöse Malformation, BlueRubber-Bleb-Nävus-Syndrom = Bean-Syndrom, familiäre kutane und mukosale venöse Malformation, glomuvenöse Malformation = Glomangiom, Maffucci-Syndrom)
»Tufted Angiom« (mit oder ohne Kasabach Merritt-Syndrom)
Lymphatische Malformationen
Kaposiformes Hämangioendotheliom (mit oder ohne Kasabach-Merritt-Syndrom
Fast flow
Arterielle Malformationen
Spindelzell-Hämangioendotheliom
Arteriovenöse Fistel
Seltene Hämangioendotheliome (epitheloid, zusammengesetzt, retiform, polymorph, Dabska-Tumor, Lymphangioendotheliomatose etc.)
Arteriovenöse Malformation
Erworbene vaskuläre Tumore (Granuloma pyogenicum, targetoides Hämangiom, glomeruloides Hämangiom, mikrovenuläres Hämangiom,
Komplexgemischt
Bestimmung des Stadiums und die Ausdehnung möglich ist, eine Säule einer adjustierten Hämangiomtherapie.
Computertomografie Diese Untersuchungsmethode ist von begrenztem Wert, da sie lediglich Auskunft gibt, ob eine Läsion hoch vaskularisiert ist. Eine genaue Beschreibung und Diagnose einer Weichteilläsion ist eher gering aussagekräftig, außer es handelt sich um makrozystische lymphatische Malformationen, bei denen die Zysten gut darstellbar sind. Bei chronischer Kompression durch vaskuläre Malformationen können knöcherne Veränderung gesehen werden. Eine Computertomografie mit Angiografie und 3D-Rekonstruktion ist unter Umständen bei arteriovenösen Malformationen mit stark ausgeweiteten Gefäßen erforderlich.
Magnetresonanztomografie (MRT) Mit dieser Untersuchungsmethode können optimale Analysen der Weichteilveränderung und adäquate Diagnosen erstellt werden. Weiterhin ist eine Differenzierung von soliden und zystischen Läsionen sowie von schnellem und langsamem Blutfluss möglich. Das MRT ist nicht nur für die Identifizierung und für die Diagnose wertvoll, sondern ist auch als obligate Untersuchung vor der Behandlung anzusehen, um die Ausdehnung und die Beziehung der Gefäßfehlbildung zu den Nachbarstrukturen zu evaluieren. Mit der MR-Angiografie kann sowohl der arterielle als auch der venöse Status erfasst werden, vor allem im Hinblick auf arteriovenöse Shunts. Die exakte Darstellung des Nidus bei arteriovenösen Malformationen sowie die Analyse der Gefäßarchitektur können unzureichend sein.
Konventionelle Angiografie Diese Technik ist für die meisten vaskulären Anomalien nicht indiziert, außer es handelt sich um schnell fließende vaskuläre Läsionen bzw. um arteriovenöse Malformationen.
47
Kapilläre Malformationen (Feuermal, Teleangiektasie, Angiokeratom)
Nuklearmedizinische Untersuchungen (Szintigrafie) Trunkuläre Lymphfehlbildungen können mittels Lymphszintigrafie diagnostiziert werden, wobei diese Untersuchung nicht die Methode der 1. Wahl ist. Primär ist der Sonografie der Vorzug zu geben.
Kapillär-venöse Malformation, kapillär-lymphatische Malformation, lymphatisch-venöse Malformation, kapillär-lymphatisch-venöse Malformation, arteriovenös-lymphatische Malformation, kapillärarteriovenöse Malformation
47.1.5 Klassifikation In der Vergangenheit sind verschiedene Klassifikationen für die Einteilung der angeborenen Gefäßanomalien entwickelt worden, die aus einer Mischung zwischen anatomischer und histologischer Beobachtung und Beschreibung hergeleitet wurden. Pathophysiologische Grundlagen wurden jedoch meist nicht berücksichtigt. Die von Belov et al. (1990) vorgeschlagene Klassifikation unterteilt die vaskulären Malformationen ihrem embryologischen Ursprung nach in trunkuläre und extratrunkuläre Malformationen. Es werden sowohl rein vaskuläre als auch rein lymphatische Malformationen miteinbezogen, wobei beide Formen miteinander kombiniert auftreten können. Bei den trunkulären Formen handelt es sich um eine Dysembryoplasie bereits differenzierter Gefäße, während die extratrunkulären Formen von Resten des retikulären Gefäßnetzwerkes stammen. Mulliken und Glowacki entwickelten eine Klassifikation unter Einbezug physikalischer Befunde, klinischem Verhalten und zellulärer Reaktionen. Diese Klassifikation wurde 1996 von der »International Society for Study of Vascular Anomalies« anerkannt, da diese sich nicht nur durch Erfolge klinischer Anwendbarkeit, sondern auch durch die Vorhersehbarkeit des klinischen Verlaufes auszeichnet (⊡ Tab. 47.3). Grundsätzlich hat jedoch jedes Klassifikationssystem auch seine Grenzen, da in bestimmten Fällen eine korrekte Einschätzung nach den aufgestellten Kriterien auch fehlschlagen kann. Vaskuläre Malformationen werden neben ihrem Wachstumsverhalten, der Anzahl, der Lokalisation und der Organzugehörigkeit auch nach der embryologischen Störung und ihrem prädominanten Gefäßursprung eingeteilt. Bei den infantilen Hämangiomen wird die Einteilung nach dem Stadium, bei den kongenitalen Hämangioendotheliomen nach der Verlaufsform vorgenommen. Allen kongenitalen Gefäßanomalien ist gemeinsam, dass sie in allen Organen und allen Körperregionen vorkommen können und dass sie sowohl singulär, multipel als auch disseminiert auftreten können. In ihrem Wachstumsverhalten variieren sie von scharf begrenzt bis flächig, diffus – infiltrierend. > Eine Klassifikation muss deshalb die drei Kernfragen des »Was« (⊡ Tab. 47.4), »Wo« (⊡ Tab. 47.5) und »Wie« (⊡ Tab. 47.6) beantworten.
1329 47.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 47.4 Klassifikation der angeborenen Gefäßfehlbildungen in Anlehnung an die Hamburger Klassifikation – Hauptfrage »Was« Vaskuläre Tumore
Vaskuläre Malformationen
Infantiles Hämangiom
Kongenitales Hämangioendotheliom
Ursprung
Embryologischer Defekt
Kompartment
Stadium
Typ
I – Prodromalphase
Rapid involuting (RICH)
Kapillär
Aplasie
Trunkulär
II – Initialphase
Non involuting (NICH)
Venös
Hypoplasie
Extratrunkulär
III – Proliferationsphase
Tufted Angioma
Lymphatisch
Dysplasie
IV – Maturationsphase
Kaposiform
Arteriell
Hyperplasie
Arteriovenös
Hamartom
V – Regressionsphase
Gemischt RICH »rapidly involuting congenital hemangioma«; NICH »noninvoluting congenital hemangioma«
⊡ Tab. 47.5 Klassifikation der angeborenen Gefäßfehlbildungen in Anlehnung an die Hamburger Klassifikation – Hauptfrage »Wo« (Lokalisation)
⊡ Tab. 47.6 Klassifikation der angeborenen Gefäßfehlbildungen in Anlehnung an die Hamburger Klassifikation – Hauptfrage »Wie« (Wachstum, Komplikation)
Organ
Anzahl
Lokalisation
Wachstum
Komplikation
Intra-/subkutan
Singulär
Peri-/intraorbital
Limitiert
Ulzeration
Intra-/submukös
Multipel
Peri-/intraartikulär
Mäßig infiltrierend
Infektion
Intramuskulär
Disseminiert
Peri-/enoral
Stark infiltrierend
Blutung
Intraossär/intraartikulär
Laryngo/tracheal
Intrakraniel
Übriges Gesicht
Parenchymatös
Hals/Nacken
Intrakavitär
Peri-/mammär
Mesenterial
Anogenital/intraanal/intestinal
Kardiale Belastung Intravasale Koagulopathie Begleitfehlbildungen Exzessives Wachstum Atembehinderung Trinkschwäche
Übriger Stamm Intestinale Obstruktion Akral/Hand/Fuß Sichtbehinderung Übrige Extremitäten
Die Hamburger Klassifikation hat sich deshalb bei den vaskulären Malformationen durchgesetzt. Wegen der Wichtigkeit der Differenzialdiagnose sollte sich eine Klassifikation der kongenitalen vaskulären Tumore an diese Struktur anlehnen. 47.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Aufgrund des völlig unterschiedlichen biologischen Verhaltens von Hämangiomen und vaskulären Malformationen ist der Zeitpunkt für Interventionen bei diesen verschiedenen Entitäten differenziert zu wählen. In Körperregionen wie Gesicht, weibliche Brust, anogenital und Hand ist hinsichtlich der Ästhetik und Funktionalität die Indikation für eine Therapie je nach Ausmaß und Verlauf des Hämangioms in den ersten Lebensmonaten gegeben. Bei unkomplizierten infantilen Hämangiomen und bei vaskulären Malformationen, ausgenommen der Naevus flammeus, ist ein späterer Therapiezeitpunkt zu wählen (⊡ Abb. 47.1).
⊡ Tab. 47.7 Differenzialdiagnosen angeborener Gefäßfehlbildungen Hämangiom
Vaskuläre Malformation
Kongenitales Hämangiom
Kaposiformes kongenitales Hämangiom
RICH, NICH, ‚tufted‘, kaposiform
Rhabdomyosarkom
Glomangiom/-atose
Angiolipom
Eruptives Angiom
Neurofibrom, Neurofibromatose
Hautmetastase, kongenitales Neuroblastom
Proteus-Syndrom
Hämangiosarkom, Teratom
Sekundäre Varikosis
Differenzialdiagnosen von vaskulären Anomalien: Bei atypischem klinischem Verlauf und/oder unklarem radiologischem Befund sind andere Krankheitsbilder, die zum Teil malignen Charakter haben können, in Betracht zu ziehen (⊡ Tab. 47.7).
47
1330
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
6 Monate
Infantiles Hämangiom
⊡ Abb. 47.1 Differenzialtherapeutisches Vorgehen bei Hämangiomen und vaskulären Malformationen. (Mod. nach Mattassi et al. 2009)
Vaskuläre Malformation Exkl. Feuermal
Gesicht, AnogenitalRegion: sofortige Therapie, um einen Wachstumsstop zu erzielen
Bei Regression Zuwarten, Therapie bei Wachstum und/oder Auftreten von Komplikationen
Optimalen Therapiezeitpunkt abwarten (so lange keine Komplikationen auftreten)
47.1.7 Therapie Die erfolgreiche Behandlung erfordert ein Gesamtkonzept, welches Folgendes berücksichtigt: ▬ profunde Basiskenntnisse der Anatomie und Pathophysiologie ( Abschn. 47.1.1), ▬ ein multidisziplinäres Therapieteam mit einer »gemeinsamen Sprache« hinsichtlich Klassifikation ( Abschn. 47.1.5), Diagnostik und Dokumentation ( Abschn. 47.1.4) sowie Behandlung der verschiedenen Pathologien (»clinical pathway«), ▬ eine standardisierte Patientenauswahl ( Abschn. 47.1.6) und ▬ ein »integratives Therapiekonzept«
Multidisziplinäres Behandlungsteam in einem Zentrum für angeborene Gefäßanomalien Prävention, Diagnostik und Therapie von angeborenen Gefäßanomalien im Bereich der Hand und oberen Extremität stellen eine interdisziplinäre Aufgabe dar und benötigen ein Therapieteam. Je komplexer die Befunde, desto mehr profitiert der Patient von der gemeinsamen Erfahrung der verschiedenen Fachgruppen. Mitglieder des Therapieteams sind neben dem Patienten und dessen Familie bzw. Angehörige, Pflegepersonal, medizinisch-technisches Personal (Physiotherapie, Orthopädiemeister etc.), ärztliches Personal (Radiologie, Neurologie, Dermatologie, Plastische Chirurgie, Handchirurgie) und die Sozialdienste sowie Krankenkassen. Je besser die einzelnen Mitglieder des Therapieteams zusammenarbeiten, desto besser ist das Ergebnis (⊡ Abb. 47.2). Der stetige Informationsaustausch innerhalb des Therapieteams durch Arztbriefe, Telefonate und/oder E-Mails ist von zentraler Bedeutung. Um in einem multidisziplinären Team erfolgreich arbeiten zu können, benötigt man eine »gemeinsame Sprache«, d. h. eine gemeinsame Klassifikation ( Abschn. 47.1.5) der vorliegenden Pathologie (»Worüber sprechen wir?«), ein gemeinsames Diagnostik- und Dokumentationsschema ( Abschn. 47.1.4; »Worauf müssen wir achten?«) und gemeinsame therapeutische Pfade (»clinical pathways«) für verschiedenen Situationen (»Wie sollen wir vorgehen?«; s. unten).
Standardisierte Patientenauswahl Abschn. 47.1.6 Integratives Therapiekonzept
47
4 Jahre
Für die Therapie von angeborenen Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und der Hand verwenden wir ein sog. »integratives Therapiekonzept«, welches die in ⊡ Tab. 47.8 und ⊡ Tab. 47.9 zusammengestellten Techniken und Prinzipien umfasst.
Therapie von Residuen
Therapie
1 Jahr
Spontanheilungsverlauf (»wait and see«) Lokalisierte Hämangiome sind bei Geburt häufig noch nicht sichtbar, werden dann als rötliche, rundliche, leicht erhabene und regelmäßig begrenzte Veränderungen erkennbar und wachsen anfänglich mehr oder weniger rasch. Ein Wachstumsstillstand kann nach ca. 6–12 Monaten eintreten, dann kommt es zur allmählichen Rückbildung (bei tief liegenden Hämangiomen langsamer als bei überwiegend oberflächlichen Hämangiomen). Es können schließlich narbenartige Veränderungen verbleiben. Die Behandlung therapiebedürftiger oberflächlicher Hämangiome ist in den meisten Fällen relativ einfach, vorausgesetzt man wählt den richtigen Therapiezeitpunkt und die richtige Behandlungsmethode. Ziel einer jeden Behandlung ist, einen möglichst raschen Wachstumsstop mit möglichst minimalen Nebenwirkungen zu erreichen. Hämangiome im Gesichtsbereich sind kosmetisch besonders belastend, sie sind daher quasi als »kosmetischer Notfall« zu betrachten und so früh wie möglich zu behandeln (»Frühtherapie«, möglichst in der frühen Wachstumsphase). Dies gilt vor allem für Hämangiome im Augenbereich (drohende Sichtbehinderung), Lippenbereich (schlechte Rückbildungstendenz) und im Nasenbereich (es drohen bleibende Nasendeformitäten – »Cyrano-Nase«). Bei Hämangiomen im Stamm- und/oder Extremitätenbereich spielt die kosmetische Belastung eine wesentlich geringere Rolle, es kann daher oft unter Beobachtung eine Spontanrückbildung abgewartet werden (»wait and see«). Ausnahmen hiervon bilden Hämangiome im Anogenitalbereich (wegen der erhöhten Gefahr einer Ulzeration), im Fingerbereich (Tastprobleme), Zehenbereich (spätere Schuhprobleme) und beim weiblichen Geschlecht im Brust- bzw. Decolleté-Bereich (wegen eventueller kosmetischer Beeinträchtigung). Auch rasch wachsende Hämangiome sollten behandelt werden (Cremer et al. 2007)
Induktion der Regression Durch ein- oder mehrfache Behandlung lässt sich das Behandlungsziel, d. h. eine Verhinderung der weiteren Progression und/ oder die Induktion der Regressionsphase, in der weit überwiegenden Zahl der initialen und klassischen kleinknotig-kutanen Hämangiome erreichen. Systemische Therapiemöglichkeiten Kortikosteroide Die positive Wirkung von Steroiden auf Hämangiome ist schon lange bekannt. Der genaue Wirkungsmechanismus ist unklar. Es werden vasokonstriktive Effekte und eine Inhibition der Angiogenese vermutet. Intraläsionale Steroidinjektionen führen vermehrt zu Nekrosen und Narben und wurden deshalb in den letzten Jahren von anderen lokalen Therapien wie Kryotherapie und Laser abgelöst. Die systemische Anwendung hingegen ist bei großen schnell wachsenden Hä-
1331 47.1 · Allgemeines
Plastische Chirurgie
Dermatologie
Pädiatrie
Lymphologie
Diagnostische und interventionelle Radiologie
Kinder- und Jugendchirurgie
Patient Hausarzt
Anästhesie und Intensivmedizin
Technische Orthopädie
Patienten-Selbsthilfegruppen Pflege Klassifikation (»worüber sprechen wir«?)
Physio- und Ergotherapie Grundlagenforschung
gemeinsames Diagnostik- und Dokumentationsschema (»Worauf müssen wir achten«?)
clinical pathways (»Wie sollen wir vorgehen«?)
⊡ Abb. 47.2 Multidisziplinäres Behandlungsteam bei angeborenen Gefäßanomalien
⊡ Tab. 47.8 Überblick über die therapeutischen Prinzipien von trunkulären vaskulären Malformationen. (Mod. nach Mattassi et al. 2009) Ziel der Therapie
Operationstechnik
Indikation
Resektion der Malformation
– Radikale Resektion der Malformation – Radikale Resektion der Malformation unter Mitnahme von umliegendem Gewebe
– Abgegrenzte Malformation – Kleine Malformation, welche die Umgebung infiltriert
Verkleinerung des ShuntVolumens
– – – –
Endovaskuläre Embolisation Transkutane direkte Embolisation Ligatur der zuführenden Arterie Ligatur aller Kollateralen, die von einer Hauptarterie oder -vene abgehen – Ligatur in zwei Schritten von zwei Gefäßen am Bein oder Unterarm mit folgender distaler Embolisation
Extratrunkuläre arteriovenöse Malformationen, die aufgrund der Lokalisation oder Ausdehnung nicht resezierbar sind. Die chirurgische Therapie wird in diesen Fällen durch die endovaskuläre Therapie ersetzt
Abweichende Therapieoptionen
Tangentiale Teilresektion von betroffenem Gewebe nach Abklemmen und Absteppen von der übrigen Malformation
Teilresektion von infiltrierenden vaskulären Malformationen. Die Indikation ergibt sich aus der Größe und Lokalisation der Malformation
Multidisziplinäre Behandlung
Unter anderem können plastisch chirurgische, gefäßchirurgische, radiologische und orthopädische Intervention gemeinsam sinnvoll sein
Intervention je nach Lokalisation und Komplikationen der Malformation
Kombinierte Behandlung
Embolisation + chirurgische Therapie + konservative Therapiemaßnahmen
AV-Shunts, die aufgrund ihrer Größe oder anatomischen Lokalisation chirurgisch schwer zu behandeln sind
⊡ Tab. 47.9 Überblick über die therapeutischen Prinzipien von extratrunkulären vaskulären Malformationen. (Mod. nach Mattassi et al. 2009) Ziel der Therapie
Operationstechnik
Indikation
Resektion der Malformation
– Radikale Resektion der Malformation – Radikale Resektion der Malformation unter Mitnahme von umliegendem Gewebe
– Abgegrenzte Malformation – Kleine Malformation, welche die Umgebung infiltriert
Verkleinerung des ShuntVolumens
– – – –
Endovaskuläre Embolisation Transkutane direkte Embolisation Ligatur der zuführenden Arterie Ligatur aller Kollateralen, die von einer Hauptarterie oder -vene abgehen – Ligatur in zwei Schritten von zwei Gefäßen am Bein oder Unterarm mit folgender distaler Embolisation
Extratrunkuläre arteriovenöse Malformationen, die aufgrund der Lokalisation oder Ausdehnung nicht resezierbar sind. Die chirurgische Therapie wird in diesen Fällen durch die endovaskuläre Therapie ersetzt
Abweichende Therapieoptionen
Tangentiale Teilresektion von betroffenem Gewebe nach Abklemmen und Absteppen von der übrigen Malformation
Teilresektion von infiltrierenden vaskulären Malformationen. Die Indikation ergibt sich aus der Größe und Lokalisation der Malformation
Multidisziplinäre Behandlung
Unter anderem können plastisch chirurgische, gefäßchirurgische, radiologische und orthopädische Intervention gemeinsam sinnvoll sein
Intervention je nach Lokalisation und Komplikationen der Malformation
Kombinierte Behandlung
Embolisation + chirurgische Therapie + konservative Therapiemaßnahmen
AV-Shunts, die aufgrund ihrer Größe oder anatomischen Lokalisation chirurgisch schwer zu behandeln sind
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1332
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
mangiomen an problematischer Stelle, die auf Kryo- oder Lasertherapie nicht oder zu wenig schnell ansprechen oder für diese Therapien nicht zugänglich sind, indiziert. Die mehrwöchige Behandlung wird hochdosiert mit 1–3 mg/kg/Tag Prednisolon begonnen. Bei gutem Ansprechen kann nach 1–2 Wochen die Dosis stufenweise reduziert werden. Während der Therapie ist eine engmaschige klinische Kontrolle erforderlich. Häufige Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme und Ausbildung eines »cushingoiden« Habitus, Wachstumsstopp, Reizbarkeit und eine erhöhte Infektanfälligkeit. Diese Nebenwirkungen sind vorübergehend. Auch die Wachstumsverzögerung wird nach Therapieabschluss wieder aufgeholt. Nach Absetzen des Medikamentes kann gelegentlich ein Rebound-Effekt beobachtet werden, der eine erneute Behandlung notwendig macht. Interferon Interferone sind Zytokine, die eine immunregulatorische und antiproliferative Wirkung aufweisen. Die Wirkungsweise ist noch nicht vollständig geklärt. Man vermutet eine direkte Inhibition angiogenetischer Faktoren und eine Verringerung der Freisetzung endothelialer Wachstumsfaktoren. Interferon wird in Form von täglichen subkutanen Injektionen über mehrere Monate appliziert. Häufige Nebenwirkungen sind Fieber mit Neutropenie und allgemeinen Krankheitssymptomen, ein Anstieg der Transaminasen und kardiologische sowie neurologische Komplikationen, was eine engmaschige Kontrolle der Patienten erfordert. Propranolol Die Zufallsentdeckung einer Arbeitsgruppe aus Bordeaux (Bordeaux Children’s Hospital) und aus Pessac (Haut-Lévêque Heart Hospital) über die faszinierende Wirkung des bisher nur in der Kardiologie angewandten β-2-Blockers Propranolol auf Problemhämangiome bedeutet eine Revolution im Bereich der Hämangiombehandlung. Propranolol ist für eine Behandlung von Hämangiomen bisher nicht zugelassen. Diese Behandlung stellt also eine »Off-LabelTherapie« dar. Propranolol wird in Zukunft wahrscheinlich Prednisolon bei der Behandlung von Problemhämangiomen vollkommen ersetzen. Propranolol wird künftig die Indikation für eine nur in Narkose durchführbare aggressive Laserbehandlung (z. B. Nd-Yag) bei Problemhämangiomen dahingehend ändern, dass die Erstbehandlung mit Propranolol erfolgen sollte und nach »Ausreizung« der Propranolol-Behandlung (nach 3-4-6 Monaten) bei Bedarf verbleibende Restbefunde zusätzlich gelasert werden. Es ist möglich, dass in einigen Fällen eine Kombination beider Behandlungsformen einer Monotherapie mit Propranolol überlegen ist.
47
Lokale Therapiemöglichkeiten Lasertherapie Der Einsatz der Laser- oder Intense-Pulsed-Light-(IPL-)Therapie, insbesondere der blitzlampengepumpten Farbstofflaser (FPDL), hat weite Verbreitung bei der Therapie von Hämangiomen gefunden. Insbesondere bei initialen Hämangiomen, planen oder großen flächigen Hämangiomen sowie den klassischen kleinknotig-kutanen Hämangiomen ohne wesentlichen subkutanen Anteil ist die Lasertherapie gut wirksam. Die Behandlung ist einfach, meist rasch und ohne anästhesierende Maßnahmen durchführbar. Nebenwirkungen sind sehr selten. Gelegentlich werden Bläschen und Krusten gesehen, die obligate Blauschwarzverfärbung durch Koagulation von Blutgefäßen verschwindet innerhalb von 14 Tagen. Durch ein- oder mehrfache Behandlung lässt sich das Behandlungsziel, d. h. eine Verhinderung der weiteren Progression und/oder die Induktion der Regressionsphase, in der weit überwiegenden Zahl der initialen und klassischen kleinknotig-kutanen
Hämangiome erreichen. Subkutane Hämangiome sind dieser Behandlung weniger gut zugänglich. Insbesondere bei ausgedehnten, rasch proliferierenden, kutan-subkutanen Veränderungen ist die FPDL-Lasertherapie meist wenig wirksam, eine 1- bis 2-malige oberflächliche Behandlung führt jedoch in einzelnen Fällen zur Induktion der Regressionsphase auch des subkutanen Anteils und kann daher vor der Durchführung invasiverer therapeutischer Maßnahmen erwogen werden. Die Nd:YAG-Laser ermöglichen aufgrund ihrer tieferen Koagulationswirkung von 5–7 mm eine aggressivere Therapie. Diese kann sowohl perkutan unter Eis- oder Eiswasserkühlung als auch intraläsional über Quartzfasern durchgeführt werden. Hierzu ist allerdings meist eine Allgemeinnarkose erforderlich. Bei komplizierten Läsionen empfiehlt sich eine intraoperative Ultraschallkontrolle. Nach anfänglich ausgeprägter Schwellungsphase lassen sich häufig gute Remissionen induzieren; auch zur Reduktion des Hämangiomvolumens vor einem geplanten operativen Eingriff ist diese Methode gut einsetzbar Kryotherapie Die Kryotherapie, insbesondere im Kontaktverfahren, ist für die Behandlung von initialen und kutan-knotigen Hämangiomen ebenfalls etabliert. Nebenwirkungen wie Narben sind bei sachgerechtem Einsatz selten, die exsudative Phase mit Blasen und Krusten ist jedoch stärker ausgeprägt als bei der Lasertherapie. Durch die während der Vereisung mögliche Kompression lassen sich insbesondere dickere Hämangiome effektiv und rasch behandeln. Bei sachgerechter Durchführung der Kryotherapie sind die Ergebnisse denen nach Lasertherapie vergleichbar. Für flächige Hämangiome ist diese Methode ungeeignet.
Entfernung Die Exzision stellt die einzig definitive Behandlungsmöglichkeit eines Hämangioms dar. Insbesondere wenn Komplikationen drohen, eine operative Entfernung gut möglich ist und die obligate Narbe keine ästhetische oder funktionelle Beeinträchtigung darstellen wird, ist eine Operation indiziert. Vor allem bei subkutan infiltrierenden Hämangiomen im Nasen- und Lippenbereich ist die (Teil-)Exzision mit oder ohne vorherige Volumenreduktion durch den Nd:YAGLaser häufig die einzig erfolgversprechende Therapiemöglichkeit. Primäre Indikation für die chirurgische Therapie von Hämangiomen sind Visus behindernde Hämangiome des Augenlids, um eine Amblyopie zu verhindern. Ferner sollten auch Hämangiome im Haarbereich primär operiert werden, da der Nd:YAG-Laser eine spätere Alopezie nicht verhindern kann. Sekundäre Indikationen zur operativen Entfernung stellen Hämangiome im Gesichtsbereich dar, die nach Lasertherapie ästhetisch störende Residuen hinterlassen. Dies betrifft etwa 20–30% der Hämangiome in Abhängigkeit von ihrer Größe. Eine chirurgische Korrektur sollte in diesen Fällen erst ab dem 5. Lebensjahr erfolgen. Exulzerationen der Haut und Linksherzbelastung aufgrund von sekundären AV-Fisteln im Hämangiom müssen kausal durch Exstirpation der Fistelareale therapiert werden. Hämangiome im Gesichtsbereich sind in heutiger Zeit keine primäre Operationsindikation mehr, da auch die Laser- oder Kryotherapie gute Erfolge zeigen und keine Narben verbleiben. 47.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Ein Hämangiom tritt etwa bei 10–20% aller Neugeborenen im 1. Lebensjahr auf und bildet sich in 80–90% der Fälle spontan zurück. Vaskuläre Malformationen sind meist bei der Geburt präsent, aber in der Regel zu diesem Zeitpunkt noch nicht klinisch mani-
1333 47.2 · Spezielle Techniken
fest. Sie vergrößern sich proportional zum Körperwachstum, können aber auch durch die hormonelle Umstellung in der Pubertät stimuliert werden.
Die farbkodierte Duplexsonografie (FKDS) ergibt hier noch keinen typischen Befund.
2. Initialphase. In der Frühphase können die infantilen Häman47.2
giome innerhalb weniger Tage entstehen. Sie wachsen entweder flächig diffus oder scharf begrenzt. In der FKDS zeigt sich häufig nur eine diffuse hyposonore Struktur, wie das Bild eines frischen Hämatoms, Gefäße sind nicht erkennbar.
Spezielle Techniken
47.2.1 Vaskuläre Tumore (Hämangiome)
Klassifikation der vaskulären Tumore Infantiles Hämangiom Epidemiologie Dieser sehr häufig auftretende Gefäßtumor kommt bei ca. 3% der reifen Neugeborenen vor, bei Frühgeburten steigt die Inzidenz auf 12,7%. Hämangiome treten bei Mädchen 3- bis 5-mal öfter auf als bei Knaben. In 80% der Fälle sind Hämangiome einzeln vorhanden, in 20% zeigen sich multifokale Läsionen. > Bei mehr als 5 kutanen Läsionen sollte der Patient auf viszerale Beteiligung gescreent werden, da sie zu lebensbedrohlichen Komplikationen wie Herzversagen oder schweren Blutungen führen können.
Pathogenese Die infantilen Hämangiome gehen vom Plazentagewebe aus und haben als spezifischen Marker das Glukosetransporter-1-Protein (GLUT1). Die Einteilung der infantilen Hämangiome erfolgt nach ihrem Stadium, wobei 5 Phasen unterschieden werden können. Das typische infantile Hämangiom tritt nach der Geburt auf, wächst rasch und bildet sich langsam bis zum 6. Lebensjahr zurück. Die meisten Läsionen werden etwa 2 Wochen nach der Geburt bemerkt, obwohl tiefer liegende Tumore erst nach dem 2.–4. Lebensmonat in Erscheinung treten können (⊡ Abb. 47.3). Diagnostik Folgende 5 Stadien werden bei infantilen Hämangiomen beobachtet:
1. Prodromalphase. Bei ca. der Hälfte dieser Hämangiome treten Vorläuferläsionen auf. Diese können umschriebene Teleangiektasien, anämische oder Naevus-flammeus-artige Veränderungen sein.
3. Proliferationsphase. In dieser Wachstumsphase proliferiert das kutan gelegene Hämangiom mit Flächenausbreitung, exophytischen oder subkutanen Wachstum. Primär subkutane Hämangiome treten später auf und zeigen eine längere Wachstumsaktivität. In der FKDS sind Hyperkapillarisierungen zu sehen. Bei einem exzessiven Wachstum kann es zu trophischen Störungen mit Exulzerationen kommen (⊡ Abb. 47.4) 4. Reifungsphase. In der Reifungsphase mit einem Wachstumsstillstand zeigen intrakutane Hämangiome graue Regressionszentren und ein Nachlassen der Prallheit und ein teigiges Gewebe. In der FKDS sind hypersonore Areale zu sehen. 5. Regressionsphase. In der Regel ist diese Phase bis zum 6. Lebensjahr abgeschlossen. Es kommt zu einem fibrolipomatösen Umbau und in der Umgebung sind häufig noch über Jahre retikuläre Venen zu sehen. Kleine Hämangiome, die zum Zeitpunkt des Wachstumsstillstand und des Beginns der Regression noch keine sekundäre Zerstörung der umgebenen Strukturen verursacht haben, können vollständig ohne Residuen abheilen.
Kongenitales Hämangioendotheliom (HE) Das kongenitale Hämangioendotheliom wird vom Hämangioendotheliom des Erwachsenen insofern unterschieden, als dieses zu den Borderline-Tumoren zählt. Beim kongenitalen HE ist eine Malignität nicht beschrieben. Im Gegensatz zum infantilen Hämangiom ist die primär intrakutane Form seltener. Für die Indikationsstellung zu einer Therapie müssen unterschiedliche Formen je nach Wachstumsverhalten unterschieden werden. Im Ausheilungsstadium zeigen alle kongenitalen Hämangioendotheliome mit und ohne Therapie eine atrophe Subkutis bis zur Faszie und eine Cutis laxa.
Angiogenese 5 Stimulatoren S 5 Inhibitoren T 5 MMPs S 5 Proliferation SS 5 Apoptose T
Wachstum Alter
5 Stimulatoren T 5 Inhibitoren S 5 MMPs T 5 Proliferation T 5 Apoptose S
Involution 1 Jahr
⊡ Abb. 47.3 Lebenszyklus eines Hämangioms
Involutiert 5 Jahre
7 Jahre
⊡ Abb. 47.4 Histopathologischer Schnitt (HE-Färbung): Kapilläres Hämanigom der Haut mit kleineren und größeren Kapillaren mit Endothelzellauskleidung, aber ohne muskuläre Wandanteile, Kapillarproliferate in der Subkutis. (Mit freundlicher Genehmigung von S. Regauer, Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Graz)
47
1334
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
Schnell involutierendes kongenitales Hämangioendotheliom (RICH) Das schnell involutierende kongenitale Hämangioendotheliom (»rapid involuting congenital hemangioendothelioma«, RICH) ist bei der Geburt vollständig ausgebildet und grenzt sich vom infantilen Hämangiom wegen des Nichtvorhandenseins des Glukosetransporter-1Protein (GLUT 1) deutlich ab. Das RICH hat eine derbe Konsistenz, im Ultraschall zeigen sich hypersonore Areale. Gefäße im Tumor selbst sind selten nachzuweisen. Innerhalb weniger Tage beginnt die Spontanregression und ist üblicherweise nach 3 Monaten abgeschlossen. Dieser primär destruierende Tumor der Subkutis hinterlässt nach dem Ausheilungsstadium einen Defekt im subkutanen Gewebe mit einer Erschlaffung der darüber liegenden Haut (⊡ Abb. 47.5). Nicht involutierendes kongenitales Hämangioendotheliom (NICH) Das nicht involutierende kongenitale Hämangiom (»non involuting congenital hemangioendothelioma«, NICH) ist bei der Geburt nur mäßig ausgebildet, die darüber liegende Haut zeigt häufig eine leicht bläuliche Verfärbung mit teleangiektatischen Gefäßen. In der farbkodierten Duplexsonografie ziehen Arterien und Venen senkrecht zur Oberfläche. In den ersten Lebensjahren kommt es zu einem progredientem Wachstum, in einigen Fällen kann es dennoch zu einer spontan Regression kommen. Auch bei dieser Form des vaskulären Tumors kann das GLUT1 nicht nachgewiesen werden. Solange das NICH noch aktiv ist, ist ein Übergang in ein kaposiformes Hämangioendotheliom möglich. Daher ist eine regelmäßige Kontrolle der Thrombozyten und der Gerinnungsparameter erforderlich (⊡ Abb. 47.5). Tufted Angioma Die äußerst selten auftretenden »Tufted Angiome« finden sich hauptsächlich im oberen Stammbereich, Gesicht und Halsbereich und entwickeln sich meist bis zum 5. Lebensjahr. Das klinische Bild ist sehr variabel, dieses reicht von vereinzelten kleinen Tumoren bis zu großen infiltrierenden Plaques mit Veränderungen, die an ein Feuermahl erinnern. Die diagnostische Zuordnung ist nur
a
47
b
histologisch möglich. Es finden sich schrotschussartige, kugelige Areale vom Angiomgewebe in der Dermis und oberen Subkutis. Ob es sich hier um eine eigene Entität des kongenitalen Hämangioendothelioms handelt oder nur um eine verzögert auftretende Variante des NICH ist noch nicht geklärt. Kaposiformes kongenitales Hämangioendotheliom (KHE) Das kaposiforme kongenitale Hämangioendotheliom (KHE) ist ein seltener, invasiver, aber nicht maligner vaskulärer Tumor, der im Bereich der Haut aber auch retroperitoneal auftreten kann. In ca. 75% der Fälle entsteht dieser vaskuläre Tumor in der frühen Kindheit. Bei einigen Kindern finden sich diese Veränderungen auch bereits bei oder bald nach der Geburt. Somit kann sich ein dem NICH ähnliches Bild zeigen. Die derbe Infiltration erinnert neben einem Erysipel an ein gemischtes intrakutanes/subkutanes Lymphangiom. In der farbkodierte Duplexsonografie finden sich interstitielle Zwischenräume und deutlich erhöhte Mikrozirkulationen, die im Vergleich zum infantilen Hämangiom nicht im Zentrum, sondern septiert an die Lobuli gelagert sind. Es bilden sich rasch wachsende kutane oder subkutane infiltrierende Plaques und Knoten mit ekchymösen Nekrosen und Ulzerationen aus. Häufig entwickelt sich ein lebensbedrohliches Kasabach-MerrittPhänomen mit einer disseminierten intravasalen Koagulopathie.
Therapie der vaskulären Tumore Wegen der gutartigen Natur und des regressiven Wachstums des infantilen Hämangioms ist bei einem Großteil der Fälle eine abwartende Haltung gerechtfertigt. Dennoch sind engmaschige Kontrollen nach folgendem Schema notwendig: Kontrolle in der 1. Woche, zeigt sich hier kein Wachstum dann eine klinische Untersuchung in 2 Wochen, zeigt sich auch hier kein Wachstum dann eine weitere klinische Untersuchung in 4 Wochen – Verdopplung des Zeitintervalls. Ein aktives therapeutisches Vorgehen ist bei folgenden infantilen Hämangiomen, die als Problemhämangiome angesehen werden, indiziert: 1. Hämangiome des Gesichts (periorbital-perioral, Ohrbereich, Lippen, Nase),
c
⊡ Abb. 43.5 Schnell und nicht involutierendes kongenitales Hämangioendotheliom (RICH und NICH). a RICH am rechten Unterarm (4. Lebensjahr) nach dem Ausheilungsstadium mit einem Defekt im subkutanen Gewebe und einer Erschlaffung der darüber liegenden Haut. b NICH am rechten Unterarm am 3. Lebenstag. Die Haut ist leicht bläulich gefärbt. c Ähnliches Bild nach 1 Jahr mit deutlichen teleangiektatischen Gefäßen. (Mit freundlicher Genehmigung von E. Haxhija, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie Graz)
1335 47.2 · Spezielle Techniken
2. Hämangiome im Bereich der Brustdrüse oder der Anogenitalregion (Vulva, Orificium uretrae, Anoderm), 3. schnell wachsende, diffus infiltrierende Hämangiome an jeder Lokalisation, 4. Hämangiomatosen (aggressiv diffus wachsend oder bei Organbefall) Die therapeutischen Ziele sind bei infantilen Hämangiomen in der Regel nicht die unmittelbare Beseitigung, sondern einen Wachstumsstopp herbeizuführen, eine beschleunigte Rückbildung bei großen Hämangiomen und eine Verhinderung oder Beseitigung funktioneller und kosmetischer Probleme. Da ein verzögertes Wachstum nicht auszuschließen ist, sind engmaschige Kontrollen erforderlich, wobei häufig neben der klinischen Untersuchung eine farbkodierte Duplexsonografie notwendig ist, um subkutane infantile Hämangiome, die in die Tiefe wachsen, kontrollieren zu können. Bei Auftreten von Hämangiomen im Fingerbereich, Zehenbereich sowie Brust- und Dekolletébereich, vor allem beim weiblichen Geschlecht, ist die Indikation zur Therapie großzügiger zu stellen. Beim Hämangioendotheliom erfolgt beim RICH nur eine engmaschige Ultraschallkontrolle, beim NICH kann eine Spontanregression im Sinne eines RICH abgewartet werden, jedoch unter strenger Kontrolle mit der farbkodierten Duplexsonografie und Kontrolle der Thrombozyten. Zeigt sich jedoch ein Übergang in ein kaposiformes Hämangioendotheliom ist mit einer unverzüglichen Therapie zu beginnen. Folgende Methoden stehen derzeit zur Verfügung:
Systemische Behandlung Propranolol, Kortison, Vincristin, Interferon u. a. 2008 wurde von Leaute-Labreze et al. durch eine Zufallsbeobachtung der positive Effekt vom Propranolol bei einem komplexen Hämangiom entdeckt. Seither wird dieser Betarezeptorenblocker erfolgreich bei Hämangiomen angewendet. Die Indikationsstellung und Durchführung einer Betablockertherapie sollte ausschließlich an einem spezialisierten Behandlungszentrum für infantile Hämangiome erfolgen. Dadurch soll eine sorgfältige Diagnostik und korrekte Indikationsstellung für den Einsatz von Propranolol gewährleistet werden. Für kongenitale Hämangiome liegen bisher keine Erfahrungen bezüglich der Wirksamkeit von Propranolol vor. Bei Kindern mit sog. segmentalen Hämangiomen (oder Plaque-Typ-Hämangiomen) im Kopfbereich ist ein PHACES-Syndrom auszuschließen (»posterior fossa malformations, hemangioma of the face/head, arterial anomalies, cardiac anomalies, eye anomalies, sternal defects«). Der mögliche Einsatz von Propranolol sollte nicht zu einer Ausweitung der Indikationsstellung für eine Hämangiomtherapie führen. Die meisten infantilen Hämangiome sind problemlos und nur bei einem Anteil von rund 10% ist eine spezifische Therapie notwendig. Nach wie vor handelt es sich bei dem Einsatz von Propranolol für Hämangiome um eine Off-Label-Anwendung, was eine entsprechende Aufklärung erfordert. Die Indikationen betreffen vor allem große Hämangiome im Gesichtsbereich, Hämangiome mit problematischer Lokalisation (Augen, Nase, Lippen, Ohren, Genitalbereich), große segmentale Hämangiome am Stamm und an den Extremitäten. Die Behandlung sollte so früh wie möglich während der Proliferationsphase erfolgen.
Lokale Therapie Die lokale Therapei erfolgt durch Laser, chirurgische Entfernung, superselektive Embolisation, Sklerosierung, Kryotherapie oder Magnesiumspickung.
Bei der Lasertherapie kommt es zu einer intravasalen Absorption des Lichtes mit resultierenden Gefäßverschlüssen. Dies induziert eine Regression durch entzündliche Prozesse. Der blitzlampengepumpte gepulste Farbstofflaser (»flash lamp pumped pulsed dye laser«, FLDPLaser) ist nur bei sehr frühen Stadien der infantilen Hämangiome mit einer Dicke bis 2 mm sinnvoll und ist der Kryotherapie überlegen. Kleine tuberöse Hämangiome und Teleangiektasien können mit dem frequenzverdoppelten Neodym-YAG-LASER (KTP) behandelt werden. Bei dickeren und subkutanen Hämangiomen (bis 30 mm Dicke) kommt der cw (»continuous wave« = Dauerstrich) Neodym-YAGLaser transkutan mit Eiswürfelkühlung oder mukosal in Impressionstechnik zur Anwendung. Voluminöse Hämangiome werden unter sonografisch gesteuerter Punktion interstitiell behandelt. Therapie des »Tufted Angioma« Besserungen wurden unter der Behandlung mit Glukokortikoiden beschrieben, ebenso wie unter Behandlungen mit Interferon oder Laser. Keine dieser Behandlungen ist wirklich befriedigend. Therapie des kaposiformen kongenitalen Hämangioendotheliom (KHE) Ist eine Exzision möglich, so ist diese kurativ. Die vornehmliche medikamentöse Therapie besteht aus Glukokortikosteroiden Interferon α 2a oder 2b sowie Vincristin. Gleichzeitig ist an eine lokale Neodymium-YAG-Lasertherapie zu denken, die in Kombination mit einer Kortisontherapie häufig eine Zytostatikatherapie vermeiden lässt. 47.2.2 Vaskuläre Malformationen Vaskuläre Malformationen werden je nach vorwiegend vorkommender Gefäßart in 6 Gruppen unterteilt (kapillär, venös, lymphatisch, arteriell, arteriovenös und gemischt). Diese sechs Gruppen können nochmals jeweils in trunkuläre und extratrunkuläre Formen unterteilt werden, wobei den trunkulären Formen eine Dysembryoplasie von ausdifferenzierten Gefäßstämmen zugrunde liegt und den extratrunkulären eine Fehlbildung des retikulären Gefäßnetzwerkes ohne primäre Assoziation zu den Gefäßstämmen.
Kapilläre Malformationen Epidemiologie Kapilläre Malformationen sind dermal und subkutan gelegene venulär-kapilläre Gefäßfehlbildungen, die bei 0,3% der Neugeborenen gefunden werden. Es sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen. Bekannte historische Bezeichnungen für kapilläre Malformationen sind Naevus flammeus und »Port-wine stain«.
Pathogenese Die Pathogenese der kapillären Malformationen ist unklar. Die Ausbreitung der Läsionen ist oft segmental oder den Dermatomen folgend. Das unterstützt die »neurovegetative Theorie« aus dem 19. Jahrhundert, die einen primären embryologischen Defekt in der Entstehung des autonomen Nervensystems für das Auftreten einer kapillären Malformation verantwortlich macht. Auch das fallweise vorkommende Symptom der Hyperhidrose im Gebiet der kapillären Malformation spricht für diese Theorie. Aus dem Neuroektoderm entwickeln sich Perizyten, welche die Endothelzellen der Kapillaren und die glatten Muskelzellen des Gefäßsystems umgeben. Die starke Rötung der Haut von kapillären Malformationen wird auf die fehlende sympathische Innervation und Konstriktion der Gefäße zurückgeführt. In der Histopathologie zeigt sich eine
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Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
normale Epidermis. In der papillären und oberen retikulären Dermis findet man einen abnormalen Plexus aus dilatierten, dünnwandigen Gefäßen, der sich auch in die Subkutis ausdehnen kann.
Diagnostik Kapilläre Malformationen sind flächige Hautläsionen, deren Farbe von hellem Rot bis dunklem Violett reichen kann. Im Laufe des Lebens vergrößern sich die Gefäße in der kapillären Malformation und es bilden sich Ektasien, die zu einem knotigen Erscheinungsbild der Haut und einer Veränderung der Farbe in Richtung Violett führen. Die Verfärbung der Haut ist üblicherweise bei Geburt bereits sichtbar, kann jedoch von einem Erythem der neonatalen Haut überdeckt werden. Die Läsionen können an jeder Stelle des Körpers auftreten. Häufig sind sie im Kopf-Hals-Bereich lokalisiert, in einer Studie von Tallman et al. in 94%, in einer demografischen Studie von Mills et al. in 80% der Fälle. Von den kapillären Malformationen im Kopf-Hals-Bereich folgen 88% in ihrer Ausbreitung den Trigeminusästen (5. Hirnnerv: V1, V2, V3). In der Hälfte der Fälle überschreitet die kapilläre Malformation ein einzelnes sensibles Trigeminusgebiet oder die Mittellinie. Auch ein bilaterales Auftreten ist möglich. Ist der N. ophtalmicus (V1) betroffen, so muss man in 10–15% von weiteren Gefäßfehlbildungen im Bereich des Gehirns und des Auges ausgehen (Sturge-Weber-Syndrom) und weitere Untersuchungen veranlassen. Weiterhin kann die an die kapilläre Malformation angrenzende Schleimhaut mitbetroffen sein. Sowohl im Kopf-Hals-Bereich als auch am Stamm und den Extremitäten kann es zu Hypertrophie der Weichteile und des Skeletts unter der kapillären Malformation kommen. Häufig liegen kapilläre Malformationen über Fehlbildungen des Neuralrohres, z. B. über einer Enzephalozele oder ektopen Meningen.
Therapie Die Behandlungsmethode der Wahl ist die Lasertherapie. Je nach Typ der Läsion stehen verschiedene Lasersysteme zur Wahl. In erster Linie werden blitzlampengepumpte gepulste Farbstofflaser eingesetzt. Hier liegt die Wellenlänge bei 585 nm, die Zielchromphore ist Oxyhämoglobin. Eine völlige Restitution und normale dermale Pigmentation ist jedoch kaum zu erzielen. Bei 80% der Patienten kommt es zu einer Aufhellung, wobei die Erfolge im Kopf-HalsBereich besser sind als am Stamm. Kleinere knotige Areale können exzidiert werden. In manchen Fällen ist auch die Resektion von größeren Arealen und anschließender Spalthaut- oder Vollhautdeckung sinnvoll. Symptomatisch wird den Patienten auch eine Camouflage vorgeschlagen. Das Sturge-Weber-Syndrom setzt sich aus mehreren Gefäßfehlbildungen zusammen, die sich im Bereich der Haut, des Gehirns und der Hirnhäute sowie der Aderhaut des Auges (Choroidea) befinden können. Das typische sichtbare Zeichen ist eine kapilläre Malformation im Ausbreitungsgebiet des N. ophtalmicus (N. V1). Bei größeren Malformationen der weichen Hirnhäute (Leptomeningen) sind schwer behandelbare epileptische Krampfanfälle wahrscheinlich und Hemiplegien möglich. Sind die Krampfanfälle auf Medikamente therapieresistent, muss an eine Resektion des betroffenen Areals gedacht werden. Durch Malformationen im Bereich der Aderhaut des Auges kann es zu Netzhautablösung, Glaukom und Erblindung kommen. Daher sind regelmäßige Messungen des Augeninnendrucks notwendig.
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Venöse Malformationen Epidemiologie Venöse Malformationen sind die häufigsten Gefäßfehlbildungen und treten mit einer Inzidenz von 1–4 % auf. Sie sind bei Ge-
burt vorhanden, jedoch werden sie nicht immer bemerkt. Das Wachstum der Fehlbildung ist proportional zum Körperwachstum. Durch einzelne Triggerfaktoren kann es jedoch zu einer überproportionalen Größenzunahme kommen. Solche Triggerfaktoren sind Hormonumstellungen in der Pubertät oder im Rahmen von Schwangerschaften, Traumen, Infektionen oder Thrombosen. Das diagnostische Mittel der Wahl zur Darstellung von venösen Malformationen ist die Magnetresonanztomografie.
Pathogenese Venöse Malformationen sind schwammartig aufgebaute Fehlbildungen, die aus dünnwandigen, dilatierten Gefäßen unterschiedlicher Größe bestehen. Diese Gefäße zeigen histologisch flache Endothelzellen, eine normale Anzahl von Mastzellen, eine dünne Basalmembran und eine Verminderung der glatten Muskelzellen. In einzelnen Fällen kann eine familiäre Häufung auftreten. Bekannte genetisch bedingte venöse Malformationen sind jene im Bereich des Verdauungstraktes und der Füße beim Turner-Syndrom. Familiäre multiple Glomangiome haben wie die familiäre kutan-muköse venöse Malformation einen autosomal dominanten Erbgang.
Diagnostik Venöse Malformationen sind bläulich, weich und komprimierbar (⊡ Abb. 47.6). Ein Puls ist in der Läsion nicht zu tasten. Bei Belastung und Hitze nimmt die Schwellung der Malformation zu. Die Läsion kann je nach Lokalisation und Größe asymptomatisch sein oder zu Schmerzen und funktionellen Einschränkungen führen. Mögliche Komplikationen ergeben sich aus der Beteiligung tiefer liegender Strukturen und Blutungen. Im Kopf-Hals-Bereich tritt die venöse Malformation häufig im Bereich der Wange und den Lippen mit möglicher Beteiligung der Zunge, des Gaumens oder des Oropharynx auf. Bei Expansion in der Orbita kommt es zum Exophtalmus, während die Ausbreitung im Bereich des Pharynx, Larynx oder der Trachea zu Atemproblemen führen kann. An den Extremitäten können nur die Haut und die Subkutis betroffen sein (⊡ Abb. 47.7) oder es können darunterliegende Strukturen wie Muskulatur, Skelettanteile und Gelenke oder Nerven mitbetroffen sein (⊡ Abb. 47.8). Gelenkübergreifende venöse Malformationen führen zu Bewegungseinschränkung und Schonhaltung. Intraossäre venöse Malformationen erhöhen das Risiko für pathologische Frakturen. Bei Vorliegen einer ausgedehnten venösen Malformation kann es zur Bildung von Phlebolithen und dem Auftreten einer Koagulopathie kommen. Durch den fehlenden Blutfluss in großen venösen Hohlräumen kommt es zu einer lokalisierten intravaskulären Koagulopathie mit Verlängerung der Prothrombinzeit, vermindertem Fibrinogen und vermehrten Fibrinabbauprodukten.
Therapie Resektion Der beste und dauerhafteste Therapieerfolg wird durch totale Exzision einer venösen Malformation erreicht (⊡ Abb. 47.9). Dies ist jedoch nur bis zu einer bestimmten Ausdehnung und ohne Mitbeteiligung wichtiger, nicht rekonstruierbarer Strukturen möglich. Vor der Operation ist zur Reduktion des intraoperativen Blutverlustes eine Koagulation der großen Hohlräume mittels Sklerosierung oder Lasertherapie empfohlen. Bei voluminösen venösen Malformationen mit großen Kavernen kann es bei der Resektion zu hohen Blutverlusten kommen. Spezielle operative Techniken wie eine intraoperative passagere Tamponade der Kavernen und/oder die etappenweise Resektion unter Verwendung einer Satinsky-Klemme sind notwendig, um den Blutverlust möglichst gering zu halten.
1337 47.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 47.6 Diffus wachsende venöse Malformation am 1.–3. Strahl der linken Hand mit Infiltration sämtlicher Binnenstrukturen. a Ansicht von dorsal, b Ansicht von palmar
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b
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⊡ Abb. 47.7 Umschriebene venöse Malformation in der linken Hohlhand. a Ansicht von palmar, b Ansicht von ulnar
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⊡ Abb. 47.8 Venöse Malformation mit diffuser Ausbreitung. a Intraoperatives Bild mit Infiltration sämtlicher Strukturen, b, c Magnetresonanztomografie mit Gefäßdarstellung: Von dorsal nach palmar, zum Teil die Metakarpalia infiltrierende venöse Malformation mit zahlreichen Gefäßen in der venösen Phase
Direkte Sklerosierung Bei ausgedehnten venösen Malformationen, die nicht in toto exzidiert werden können oder vor einer geplanten Operation, ist die Verkleinerung der Läsion durch perkutane Sklerosierung mit verschiedenen Substanzen indiziert. Diese führen zu einer lokalen Entzündung und anschließendem Verkleben der Hohlräume.
Zur Verfügung stehen unterschiedliche Substanzen:
▬ chemische Reaktionen: absoluter Alkohol, Jod; ▬ osmotische Reaktionen: Salizylate, hypertone Kochsalzlösung; ▬ Detergenzien: Natrium-Tetradecyl-Sulfat, Polidocanol (Thesit), Diatrizoate;
▬ Zytostatika
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Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
a
c
b ⊡ Abb. 47.9 Venöse Malformation mit vorwiegend subkutaner Lokalisation. a Subkutan gelegene venöse Malformation am rechten Unterarm ulnarseitig, b intraoperatives Bild: die venöse Malformation speisendes Gefäß, c Operationspräparat mit zahlreichen bläulich durchscheinenden venösen Kavernen
Mögliche Komplikationen sind Blasenbildung der Haut und Hautnekrosen sowie systemische Wirkung der Sklerosierungsmittel oder anaphylaktische Reaktionen. Die Sklerosierung kann mehrfach durchgeführt werden. Intraläsionale oder transkutane Lasertherapie Durch ultraschallgezielte Applizierung von Lichtleitfasern in den großen Kavernen und Laserkoagulation mit dem Neodym:YAGLaser (1.064 nm) kommt es zu einer Verkleinerung der venösen Malformation. Oberflächliche Anteile können mit dem NeodymYAG-Laser auch transkutan behandelt werden. Konservative Therapie Im Bereich der Extremitäten reduzieren elastische Kompressionsstrümpfe durch Druck von außen die Füllung der venösen Hohlräume und damit die Schwellung und die Schmerzen.
Lymphatische Malformationen Epidemiologie
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Lymphatische Malformationen fallen zu 90% bereits bei Geburt oder in den ersten beiden Lebensjahren auf. In seltenen Fällen wird die lymphatische Fehlbildung erst später im Kindes- und Jugendalter oder im Erwachsenenalter bemerkt. Die Malformation kann sich an jeder Stelle des Körpers befinden. Eine Häufung der extratrunkulären Form tritt im Kopf-Hals-Bereich und am Thorax auf, die trunkuläre Form tritt häufig an den Extremitäten in Form eines primären chronischen Lymphödems auf.
Pathogenese Lymphatische Malformationen entstehen aufgrund einer Anlagestörung im Lymphgefäßsystem ab dem Ende der 5. Woche der
Embryonalentwicklung. Die Entstehung der Lymphgefäße in der Embryogenese geschieht durch Endothelaussprossung aus den großen Venen. Von den primären großen Lymphgefäßen ausgehend breitet sich das Lymphgefäßnetz in die Peripherie aus. Extratrunkuläre Formen entwickeln sich in der Embryonalphase früher als die trunkulären Formen.
Diagnostik Im Rahmen der angeborenen Gefäßfehlbildungen werden in erster Linie die extratrunkulären lymphatischen Malformationen behandelt. Hier kann man je nach Aufbau wiederum mikrozystische, makrozystische und kombiniert mikro- und makrozystische Formen unterscheiden. Mikrozystische lymphatische Malformationen bestehen aus einzelnen bis zu 1 cm großen, von Endothel ausgekleideten und mit Lymphe gefüllten Hohlräumen. Sie enthalten einen variablen Anteil von Binde- und Fettgewebe, die darüber liegende Haut kann infiltriert sein. Bei den makrozystischen Malformationen ist der Durchmesser der einzelnen Zysten größer als 1 cm, die darüber liegende Haut ist nicht mitbetroffen. Klinisch imponieren lymphatische Malformationen als wenig komprimierbare Weichteilmassen unter einer normalen oder leicht bläulich verfärbten Haut. Wie bei den anderen vaskulären Malformationen ist auch bei den lymphatischen Malformationen eine Hypertrophie der betroffenen und der darunter liegenden Gewebe häufig, wodurch funktionelle Beeinträchtigungen entstehen. Durch Infektion oder Einblutung kann es zu rapider Größenzunahme der Läsion kommen. Die trunkuläre Form der lymphatischen Malformationen, das primäre Lymphödem, wird gemeinsam mit sekundären chronischen Lymphödemen gesondert therapiert. Hier hat die konservative Entstauungs- und Kompressionstherapie den größten Stellenwert.
1339 47.2 · Spezielle Techniken
Die häufigste kombinierte vaskuläre Malformation ist die Mischform aus lymphatischer und venöser Malformation.
Therapie Resektion Ähnlich wie bei den venösen Malformationen, kommt bei den lymphatischen Malformationen meist eine Kombination von mehrfachen Sklerosierungen und chirurgischer Exzision als Therapieschema in Frage. Handelt es sich um eine gut umschriebene Läsion, die vollständig exzidiert werden kann, ist die Rezidivwahrscheinlichkeit nach chirurgischer Therapie am geringsten. Eine partielle Resektion der Malformation ist bei vitaler Bedrohung indiziert, wie z. B. Obstruktion der oberen Luftwege durch große Malformationen im Bereich der Zunge und des Mundbodens. Sklerosierung Bei makrozystischen lymphatischen Malformationen werden durch direkte Sklerosierung mit absolutem Alkohol, Bleomycin oder OK432 sehr gute Ergebnisse hinsichtlich Verkleinerung der Läsion erzielt. OK-432 (Picibanil) ist eine lyophilisierte Mixtur aus niedrig virulenten Gruppe-A-Streptokokken (Streptococcus pyogenus), die mit Penicillin G inkubiert wird. Es führt an der Injektionsstelle zu einer Immunreaktion mit lokaler Entzündung und Verklebung der Zysten. ⊡ Abb. 47.10 Ausgedehnte arteriovenöse Malformation der rechten oberen Extremität mit Ulzeration am Unterarm (Pfeil)
Laser In einzelnen Fällen ist auch eine Lasertherapie mit Argon-, Neodym-YAG- oder CO2-Laser indiziert. Konservative Therapie Sehr ausgedehnte mikrozystische lymphatische Malformationen an den Extremitäten und am Stamm, die nicht vollständig reseziert werden können, werden konservativ behandelt. Hier kommt, wie bei den trunkulären Formen, die lymphatische Entstauungs- und Kompressionstherapie zum Einsatz. In diesen Fällen sind eine intensive Aufklärung und Schulung der Patienten bzw. deren Eltern im Umgang mit der Kompressionswäsche notwendig. Eine konsequente Infektprophylaxe durch Vermeidung von selbst kleinsten Verletzungen und der sofortige Einsatz von Antibiotika bei Auftreten von Entzündungszeichen sind notwendig.
Arterielle Malformationen Angeborene Gefäßfehlbildungen mit ausschließlich arteriellen Anteilen sind selten. Arterielle Malformationen sind Aneurysmen, Ektasien oder Stenosen, die in der Routine des Plastischen Chirurgen eher nicht vorkommen und daher den Rahmen dieser Darstellung überschreiten.
Arteriovenöse Malformationen Epidemiologie Arteriovenöse Malformationen bestehen aus dysmorphen arteriellen und venösen Gefäßen, die direkt, ohne dazwischen liegendes Kapillarbett, miteinander verbunden sind. Das Gewebe im Mittelpunkt der Malformation wird als Nidus bezeichnet. Sie treten meist sporadisch auf, die Verteilung auf beide Geschlechter ist gleich. Sie sind bei Geburt vorhanden und wachsen proportional mit dem Körper. Oft kommt es jedoch zu einem überschießenden Wachstum der Malformation ausgelöst durch Triggerfaktoren (Hormonumstellung, Trauma, Infekt) oder aus unbekanntem Grund. Die häufigste Lokalisation der arteriovenösen Malformationen ist der Kopf-Hals-Bereich, seltener treten sie an den Extremitäten oder am Stamm auf (⊡ Abb. 47.10).
Pathogenese Die genaue Pathogenese der arteriovenösen Malformationen ist unklar. Es wird eine Entwicklungsstörung des Gefäßsystems in der 4.–6. Embryonalwoche angenommen, wobei die Rückbildung von ateriovenösen Kanälen im primitiven retiformen Plexus fehlt. Einzelne arteriovenöse Malformationen treten im Rahmen von autosomal-dominant vererbten Syndromen auf. Aus diesen Untersuchungen ergeben sich weitere Hypothesen zur Pathogenese. Eine Hypothese beschreibt die Abweichung in der Signalübertragung des »transforming growth factor beta«, der im apoptotischen Untergang von Endothelzellen beteiligt ist. Weiterhin werden Fehler bei der frühen embryologischen Bestimmung des Gefäßtyps anhand bestimmter Rezeptoren oder Liganden untersucht. Arterielle Endothelzellen werden durch den transmembranösen Liganden Ephrin B2 bestimmt, venöse Endothelzellen durch den Rezeptor für Ephrin B2, EphB4. Die reziproke Signalübertragung zwischen diesen beiden Gefäßtypen ist essenziell für die Bildung des Kapillarbettes. Fehler in diesem System könnten zur Ausbildung von arteriovenösen Malformationen führen. Die pathoanatomische Unterteilung der arteriovenösen Malformationen erfolgt nach der Hamburg-Klassifikation in trunkuläre und extratrunkuläre arteriovenöse Malformationen. Die trunkulären arteriovenösen Malformationen sind AV-Fisteln. Die extratrunkulären arteriovenösen Malformationen bestehen aus zuführenden Arterien, einem Gefäßnetz aus atypischen Gefäßen, die dann direkt in Venen drainieren, und diesen abführenden Venen. Das zentrale Gefäßnetz wird als Nidus bezeichnet. Histologisch lassen sich im Nidus »arterialisierte« Venen nachweisen mit Verdickung der Intima, Zunahme der glatten Muskelzellen und Erweiterung der Vasa vasorum. Die zuführenden Arterien zeigen Fibrosierung, Ausdünnung der Media und Reduzierung der elastischen Anteile. Durch die direkte Verbindung von Arterien und Venen entsteht ein Shunt, der je
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Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
nach Shuntvolumen, zu einer Mindervorsorgung der weiter distal gelegenen Gewebe führt (Steal-Phänomen). Ischämie wird auch als möglicher Triggerfaktor für die Expansion der Läsion angenommen, da bei partieller Resektion oder teilweiser proximaler Ligatur, oft eine massive Größenzunahme der arteriovenösen Malformation erfolgt. Eine andere Theorie besagt, dass sich vorhandene AVShunts durch Druckerhöhung im Gefäßsystem im Rahmen einer Schwangerschaft oder eines Traumas erweitern.
Diagnostik Arteriovenöse Malformationen haben hohe Flussgeschwindigkeiten und sind klinisch von den anderen vaskulären Malformationen aufgrund der tastbaren Pulsation, der fehlenden Komprimierbarkeit und Überwärmung zu unterscheiden. Im Laufe des Wachstums führt die arteriovenöse Malformation in der betroffenen Region zu einer Zunahme der Schmerzen, zunehmender Funktionseinschränkung und Hypertrophie des Skeletts. Für arteriovenöse Malformationen ist die klinische Einteilung nach Schobinger nützlich. Die Einteilung erfolgt dabei in 4 Stadien:
Stadium I. Die Malformation befindet sich in Ruhe und ist klinisch asymptomatisch. Es kann eine Rötung der Haut sichtbar sein, die mit einer kapillären Malformation verwechselt wird. Zusätzliche Überwärmung und Pulsation können einen Hinweis auf die Art der Malformation geben. Dieses Stadium dauert meist von der Geburt bis zur Adoleszenz, kann jedoch auch das ganze Leben lang sein.
Stadium II. Die Phase der Expansion oder Progression beginnt meist in der Pubertät, kann aber auch durch Schwangerschaft, Trauma oder im Anschluss an therapeutische Eingriffe ausgelöst werden. Es kommt zur Vergrößerung der Malformation, Verfärbung und Deformierung der Haut und Destruktion tiefer liegender Strukturen. In der Malformation kommt es zu Dilatation der Arterien und Venen sowie zur Ausdünnung und Fibrosierung der Gefäße. Klinisch nimmt die Überwärmung und Pulsation zu, auskultatorisch sind Geräusche der Turbulenzen im Blutflusses zu hören. Die drainierenden großen Venen werden zunehmend sichtbar, elongiert und geschlängelt. Stadium III. Im Stadium der Destruktion, welches nach Jahren der Progression auftreten kann, kommt es zusätzlich zur Ausbildung von spontanen Nekrosen, chronischen Ulzerationen, Schmerzen und Blutungen. Stadium IV. Das Stadium der kardialen Dekompensation kann bei großem arteriovenösem Shuntvolumen auftreten und zum Herzversagen führen.
Therapie
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Bei den arteriovenösen Malformationen ist die Therapie der Wahl die superselektive Embolisation und anschließende radikale Exzision. Die Embolisation kann auch als alleinige, palliative Therapie mehrmals durchgeführt werden oder als Vorbereitung auf eine mögliche Exzision. Bei vaskulären Malformationen führen partikuläre Emboli oft nur zu einem temporären Verschluss. Zum definitiven Verschluss sind flüssige, polymerisierende Embolisationsmaterialen vorzusehen. Bei arteriovenösen Fisteln mit großem Shuntvolumen kann man versuchen, die Fistel mit einem Ballon selektiv zu verschließen. Leider tritt im Rahmen der Therapie häufig auch eine deutliche Progression der Malformation durch
Bildung von ausgedehnten Kollateralgefäßen ein, vor allem bei Ligatur einzelner arterieller Felder, nicht vollständiger Exzision, inkompletter arterieller Embolisation oder Lasertherapie. Daher sollte man bei arteriovenösen Malformationen im Stadium I, die nicht sicher vollständig exzidiert werden können, mit einer Therapie zurückhaltend sein. Bei symptomatischen Malformationen im Stadium II und III sollte die vollständige Resektion nach Embolisation angestrebt werden. Weiterhin sind jährliche klinische und radiologische Verlaufskontrollen mit MRT sinnvoll.
Gemischte Malformationen Die einzelnen Formen der vaskulären Malformationen können auch gemischt auftreten. Sämtliche Kombinationen untereinander sind in einer Läsion oder im Rahmen von komplexen Syndromen möglich: Mögliche Formen der gemischten Malformationen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Kapillär-venös Kapillär-lymphatisch Lymphatisch-venös Kapillär-lymphatisch-venös Arteriovenös-lymphatisch Kapillär-arteriovenös
Klippel-Trénaunay-Syndrom. Es handelt sich dabei um ein seltenes Syndrom, mit kapillär-lymphatisch-venösen Malformationen, die sowohl die Extremitäten als auch den Stamm betreffen. Erstmals wurde das Syndrom 1900 von den französischen Ärzten Klippel und Trénaunay beschrieben. Typisch für das KlippelTrénaunay-Syndrom ist eine Trias aus kapillären Malformationen, Weichteil- und Skeletthypertrophie einer oder mehrerer Extremitäten und varikös veränderten Venen. Meist tritt das Syndrom sporadisch auf, in seltenen Fällen ist jedoch ein familiäres Auftreten mit autosomal-dominantem Erbgang nachweisbar. Die kapilläre Malformation nimmt meist einen Teil der hypertrophen Extremität und des angrenzenden Stammes ein, kann aber auch die ganze Extremität betreffen. Sekundäre Probleme treten durch rezidivierende Infekte, Schwellungen, Thrombosen und Blutungen auf. Palliative Therapiemöglichkeiten sind Teilresektion der Gefäßfehlbildungen, Sklerosierung, Kompressionstherapie, Venenstripping und schlussendlich die Amputation der betroffenen Gliedmaßen.
F.P.-Weber-Syndrom. Das F.P.-Weber-Syndrom wurde 1907 beschrieben, wobei hier zusätzlich zu den Symptomen des KlippelTrénaunay-Syndroms noch arteriovenöse Fisteln vorhanden sind. Die Therapie der 1. Wahl ist daher die Embolisation, weitere therapeutische Möglichkeiten sind gleich wie beim Klippel-TrénaunaySyndrom. 47.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Durch falsches Einschätzen des Hämangiomwachstums und Verfehlen des richtigen Therapiezeitpunkts kann es vor allem im Gesichtsbereich zu kosmetisch störenden Narbenbildungen kommen. Bei Hämangiomen im Augenbereich droht eine Sichtbehinderung und im Nasenbereich drohen bleibende Nasendeformitäten. Weiterhin muss man im Anogenitalbereich wegen der erhöhten Gefahr einer Ulzeration und im Fingerbereich wegen drohender Bewegungs- und Sensibilitätsstörungen rechtzeitig therapieren.
1341 Weiterführende Literatur
Vor allem bei rasch wachsenden Hämangiomen ist eine frühe Behandlung notwendig, um funktionelle Entwicklungsstörungen in der betroffenen Region zu vermeiden, z. B. eine Amblyopie bei Visus behindernden Tumoren. Übersieht man sowohl bei Hämangiomen als auch arteriovenösen Malformationen ausgeprägte AV-Shunts, können Gewebnekrosen und eine erhöhte Linksherzbelastung bis zum Herzversagen auftreten. Bei ausgedehnten vaskulären Tumoren oder vaskulären Malformationen kann es durch Spontanperforation oder Traumen zu schweren Blutungen kommen. Der falsche Einsatz von Therapieoptionen kann bei vaskulären Malformationen zu einer rapiden Verschlechterung führen. Zum Beispiel kann eine unvollständige Resektion einer arteriovenösen Malformation zu einem explosiven Wachstum des in situ gebliebenen Malformationsrestes führen. Im Rahmen der Exzision von vaskulären Tumoren oder vaskulären Malformationen kann es vor allem zu postoperativen Nachblutungen mit erheblichem Blutverlust kommen. Eine mögliche Komplikation der endovaskulären Embolisation von arteriovenösen Malformationen mit Konturpartikeln stellt die Verschleppung mit Auftreten von Lungenembolien dar. Wird ein zu großes Stromgebiet mittels Embolisation ausgeschaltet, kann es zu ausgeprägten Nekrosen mit entsprechenden Hautdefekten kommen.
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47
Kapitel 47 · Angeborene Gefäßanomalien im Bereich der oberen Extremität und Hand
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1343 47.3 · Weiterführende Literatur
Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität Karlheinz Kalb
48.1
Allgemeines – 1344
48.1.1 48.1.2 48.1.3 48.1.4 48.1.5 48.1.6 48.1.7 48.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1344 Epidemiologie – 1346 Ätiologie – 1346 Diagnostik – 1347 Klassifikation – 1349 Indikationen und Differenzialtherapie – 1350 Therapie – 1351 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1352
48.2
Spezielle Techniken
– 1352
48.2.1 48.2.2 48.2.3 48.2.4
Fasziotomie bei akutem Kompartmentsyndrom – 1352 Muskeldesinsertionsoperation nach Page bzw. Scaglietti – 1353 Verlängerungstenotomie – 1353 Transposition des Flexor digitorum superficialis auf den Flexor digitorum profundus (»Sublimistransfer«) – 1355 48.2.5 Motorische Ersatzoperation – 1355 48.2.6 Freie funktionelle Muskeltransplantation – 1355 48.2.7 Handgelenkarthrodese und Muskeltransposition – 1358 48.2.8 Therapie der Adduktionskontraktur des Daumens – 1358 48.2.9 Release-Operation nach Littler – 1358 48.2.10 Desinsertion der Handbinnenmuskeln – 1358 48.2.11 Durchtrennung der Interosseussehnen – 1358
48.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1358 Weiterführende Literatur
– 1359
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
48
1344
48.1
Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
⊡ Tab. 48.1 Anatomische Kompartments und Faszienräume der oberen Extremität
Das Kompartmentsyndrom ist eine zu Recht gefürchtete klinische Entität, die sich im Gefolge einer Gewebetraumatisierung unterschiedlichster Ätiologie entwickeln kann. Es handelt sich hierbei um einen Symptomenkomplex, der aus einer Erhöhung des Gewebebinnendruckes in einem anatomisch funktionell abgeschlossenen Raum (Kompartment) resultiert und somit eine Störung der Mikrozirkulation bewirkt mit der Folge einer neuromuskulären Funktionsstörung. Unbehandelt führt das Kompartmentsyndrom zu einer irreversiblen Ischämie mit Muskelnekrose und Nervenschädigung. Diese endet letztlich in einer ischämischen Muskelkontraktur mit deletären Folgen für die Funktion der Extremität. Dieses Vollbild der ischämischen Kontraktur wurde von Richard von Volkmann in seiner klassischen Arbeit 1881 beschrieben und ist deshalb für den Kliniker eng mit dessen Namen verbunden. Es muss das Ziel unserer therapeutischen Bemühungen sein, das Auftreten einer solchen ischämischen Kontraktur mit allen Mitteln zu verhindern. Leider beobachten wir allerdings auch heute noch die Spätfolgen unzureichend oder überhaupt nicht behandelter Kompartmentsyndrome, weshalb sich dieses Kapitel nicht nur mit der Prophylaxe, Diagnose und Therapie des akuten Kompartmentsyndroms, sondern auch mit der Behandlung der Spätfolgen befasst. Ein besonderer Aspekt ist das auf Überlastung zurückzuführende, an der oberen Extremität seltene chronische Kompartmentsyndrom, auf das ebenfalls eingegangen wird.
Region
Kompartment
Beteiligte Muskeln
Oberarm
Deltoideus
M. deltoideus
Beugeseitiges Kompartment
M. biceps brachii
M. coracobrachialis
Unterarm
Streckseitiges Kompartment
M. triceps brachii
Beugeseitiges oberflächliches Kompartment
M. flexor carpi radialis
M. palmaris longus M. pronator teres Beugeseitiges tiefes Kompartment
M. flexor digitorum profundus M. flexor pollicis longus M. pronator quadratusa
Streckseitiges Kompartment
Physiologie
48
M. flexor carpi ulnaris M. flexor digitorum superficialis
48.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Unter einem Kompartment versteht man eine durch eine osteofibröse Hülle anatomisch funktionell abgegrenzte Muskelloge, die nur sehr begrenzt eine Volumenzunahme ihres Inhaltes tolerieren kann, da die das Kompartment umschließende Faszie straff ist und nicht nachgeben kann. An anatomischen Strukturen beinhaltet ein Kompartment Muskulatur, Gefäße und Nerven. Grundsätzlich kann ein Kompartmentsyndrom in allen anatomisch definierten Kompartments der oberen Extremität auftreten, die in ⊡ Tab. 48.1 aufgelistet sind; besonders häufig sind jedoch die beugeseitigen Unterarmkompartments (⊡ Abb. 48.1b) und die Kompartments im Bereich der Hand (⊡ Abb. 48.1c) betroffen, die somit am wichtigsten sind. Das beugeseitige Unterarmkompartment beinhaltet neben den Handgelenk- und Fingerbeugern den N. medianus, den N. ulnaris, sowie die Vasa radialia und ulnaria. An der Hand lassen sich das Hypothenar- und Thenarkompartment, sowie das Mittelhandkompartment abgrenzen. Letzteres wird durch vertikale Septen unterteilt und beugeseitig von der Palmaraponeurose begrenzt. Der Karpaltunnel ist in ⊡ Tab. 48.1 mit aufgeführt, obwohl er sicher nicht die strenge Definition eines Kompartments erfüllt. Allerdings führt die Drucksteigerung im Karpalkanal im Rahmen eines Kompartmentsyndroms zur akuten Medianusschädigung, sodass letztlich der Karpalkanal sich pathophysiologisch ähnlich wie ein Kompartment verhält. Auch an den Fingern gibt es kein Kompartment im eigentlichen Sinn. Dennoch kann eine lokale Druckerhöhung die Nerven kompromittieren und eine operative Entlastung durch mittseitliche Inzisionen notwendig machen. Anzumerken ist noch, dass einige Autoren den M. pronator quadratus aufgrund anatomischer und klinischer Beobachtungen einem eigenen Kompartment zurechnen.
M. brachialis
M. extensor digitorum M. extensor digiti minimi M. extensor carpi ulnaris M. extensor pollicis longus M. abductor pollicis longus M. extensor pollicis brevis
Streckspeichenseitiges Kompartment
M. extensor carpi radialis longus et brevis M. brachioradialis
Hand
Karpaltunnel
Sehnen der extrinsischen Beugemuskulatur
Thenarkompartment
M. abductor pollicis brevis M. flexor pollicis brevis M. opponens pollicis
Hypothenarkompartment
M. abductor digiti minimi M. flexor digiti minimi M. opponens digiti minimi
a
Beugeseitiges Mittelhandkompartment
M. lumbricales
Streckseitige Mittelhandkompartments
M. interossei (4 dorsale, 3 palmare)
Adduktorkompartment
M. adductor pollicis
Sehnen der extrinsischen Beugemuskulatur
Der M. pronator quadratus wird von einigen Autoren einem separaten Kompartment zugeordnet (s. Text).
1345 48.1 · Allgemeines
a
b
c ⊡ Abb. 48.1 Die Kompartments im Bereich der oberen Extremität. a Oberarm, b Unterarm, c Hand. (Aus Tilmann 2004)
48
1346
Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
48.1.2 Epidemiologie Epidemiologische Daten zum Kompartmentsyndrom sind rar und müssen in Relation zum untersuchten Patientengut beurteilt werden. McQueen u. Gaston (2000) fanden in einer retrospektiven Auswertung von 164 erwachsenen Patienten vorwiegend Männer unter 35 Jahren betroffen, wobei sich in absteigender Reihenfolge Frakturen (69%) und Weichteilverletzungen als Hauptursachen herausstellten. Sie errechneten eine durchschnittliche Inzidenz des akuten Kompartmentsyndroms von 7,3/100.000 Männer und 0,7/100.000 Frauen pro Jahr. Als häufigste Ursache für die Entwicklung eines akuten Kompartmentsyndroms an der oberen Extremität fanden die Autoren bei Erwachsenen die distale Radiusfraktur mit einem Gesamtanteil von 9,8% sowie die Unterarmfraktur mit einem Gesamtanteil von 7,9% an allen Kompartmentsyndromen. Bezogen auf die Gesamtzahl der im gleichen Zeitraum behandelten Radiusfrakturen ergab sich eine Inzidenz an Kompartmentsyndromen von 0,25%, bezogen auf die Unterarmfrakturen von 3,1%. Bei kindlichen Patienten mit Frakturen fanden Grottkau et al. (2005) in einer retrospektiven Auswertung von 133 Fällen eine Inzidenz von 1% mit einem Altersgipfel bei den 10- bis 14-jährigen Patienten, wobei an der oberen Extremität die Unterarmfrakturen die häufigste Ursache waren. Eine besonders gefürchtete Ursache des Kompartmentsyndroms im Kindesalter ist die suprakondyläre Humerusfraktur. Hovius u. Ultee fanden sie in 14 von 23 Fällen als Ursache eines kindlichen Kompartmentsyndroms und bezeichnen diese Verletzung als Hochrisikoverletzung, in deren Behandlungsverlauf ein engmaschiges klinisches Monitoring notwendig ist, um die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms nicht zu übersehen. Angesichts der deletären Folgen eines übersehenen Kompartmentsyndroms muss man auch in ungewöhnlichen Situationen an diese Möglichkeit denken. So beschrieben Ragland et al. in einem 20-Jahres-Zeitraum 24 Fälle von Kompartmentsyndromen der oberen Extremität bei Neugeborenen, eine Situation in der sofortiges Handeln unerlässlich ist. 48.1.3 Ätiologie Das Kernelement in der Entstehung eines Kompartmentsyndroms ist der Anstieg des Gewebedruckes innerhalb des betroffenen Kompartments. Eine solche Situation kann entweder durch eine Volumenzunahme der innerhalb des Kompartments gelegenen Strukturen oder aber durch eine Verkleinerung des Kompartments
48
⊡ Abb. 48.2 Klinischer Aspekt eines akuten Kompartmentsyndroms nach intraarterieller Drogeninjektion
z. B. durch Druck von außen entstehen. Die Ursachen für die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms sind vielfältig. Der Kasten ( Typische Ursachen eines Kompartmentsyndroms) gibt einen Überblick über typische Ursachen für die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Typische Ursachen eines Kompartmentsyndromes Verkleinerung des Kompartments
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Schnürende Gipse, Schienen oder Verbände Prolongierte pneumatische Blutsperre bzw. -leere Operativer Verschluss von Fasziendefekten Verbrennungen Erfrierungen Sonstige länger dauernde äußere Kompression – z. B. bei Verschüttungsopfern – z. B. bei Lagerungsschaden bei Bewusstlosigkeit
Volumenzunahme des Gewebes innerhalb des Kompartments
▬ Kombination von Ödem und Einblutung – Frakturen – Suprakondyläre Humerusfrakturen – Unterarmfrakturen – Distale Radiusfrakturen – Weichteiltraumata – Quetschung – Kontusion – Schussverletzungen – Hochdruckeinspritzverletzung ▬ Primäre Ödembildung – Ischämiebedingte Schwellung – Arterienverletzung – Arterielle Thrombose oder Embolie – Replantation – Gefäßoperationen – Angiografie – Prolongierte pneumatische Blutsperre bzw. -leere – Gefäßspasmus – Prolongierte Immobilisation und Kompression – Bewusstlosigkeit – Drogenmissbrauch – Lagerungsschaden bei Allgemeinnarkose – Verbrennungen oder Erfrierungen – Venöse Stauung – Venenerkrankungen – Intraarterielle Injektionen (⊡ Abb. 48.2) – Schlangenbiss – Infektion – Überanstrengung ▬ Primäre Einblutung – Hämophilie – Antikoagulanzienbehandlung – Gefäßverletzung
Die Differenzierung zwischen primärer Ödembildung, primärer Einblutung und einer Kombination beider Faktoren wurde von Mubarak u. Hargens vorgeschlagen. Die Druckerhöhung im Kompartment führt zu einem Anstieg des venösen Druckes und in der Konsequenz zur Verminderung des arteriovenösen Druckgefälles. Hierdurch kommt es zur Störung der Mikrozirkulation innerhalb des Kompartments. Verschlimmert wird die Situation durch die
1347 48.1 · Allgemeines
pathologisch gesteigerte Permeabilität der Kapillaren. Letztlich resultiert ein Circulus vitiosus (⊡ Abb. 48.3), der zur Schädigung des Gewebes innerhalb des Kompartments führt. Dabei sind Muskelund Nervengewebe am empfindlichsten. Erfolgt die Therapie rechtzeitig und suffizient, so besteht die Möglichkeit, dass das Kompartmentsyndrom ohne bleibende Folgeschäden saniert werden kann. Dabei ist es schwierig abzuschätzen, wie lange die Muskulatur im konkreten Fall die Schädigung ohne irreversible Schäden tolerieren kann. Befragt man die Literatur, so kann man einerseits annehmen, dass eine operative Sanierung innerhalb von 3–4 Stunden eine Restitutio ad integrum bewirkt, andererseits muss man davon ausgehen, dass ein Kompartmentsyndrom, das länger als 12 Stunden besteht, mit hoher Wahrscheinlichkeit bleibende Schäden hinterlässt. Konkret kommt es zur Muskelnekrose mit nachfolgendem narbigen Umbau, der sich zwischen 6 und 12 Monaten bis zur Ausreifung hinziehen kann. Hierdurch kommt es zur Verkürzung der betroffenen Muskulatur mit Einschränkung bzw. Verlust der Kontraktilität. Daneben neigt die Muskulatur zur Ausbildung von Verwachsungen, was eine weitere Einschränkung der Funktion bedingt. Gleichzeitig liegt eine Schädigung der im Kompartment gelegenen Nerven vor, die multifaktoriell bedingt sein kann. Neben einer direkten Traumatisierung kommen in erster Linie ein Nervenschaden durch Hypoxie und eine sekundäre Kompression durch Narbenbildung in Betracht. Abhängig von Lokalisation und Schweregrad dieser Veränderungen resultiert im konkreten Einzelfall dann das entsprechende klinische Bild. Ausgedehnte Kompartmentsyndrome, wie sie beispielsweise bei Opfern von Verschüttungen auftreten, können infolge massiver Muskelzerstörung zu systemischen, lebensbedrohlichen Komplikationen, einem sog. Crush-Syndrom führen. An dieses Risiko muss man insbesondere auch bei Makroreplantationen denken, wenn ein massiver Muskelzerfall aufgrund direkter Traumatisierung und vor allem prolongierter Ischämie droht. Eine Sonderstellung nimmt das überlastungsbedingte chronische, chronisch rezidivierende oder auch funktionelle Kompartmentsyndrom ein, das insgesamt sehr selten ist und bei rezidivierender Überlastung, sei es durch chronisch repetitive Arbeitsabläufe oder bei Leistungssportlern durch immer wiederkehrende massive Überlastung, vorkommt. Im Gegensatz zum akuten Kompartmentsyndrom, mit dem es nicht verwechselt werden darf, sind bleibende Schäden nicht zu erwarten, da sich die Symptomatik unter Ruhebedingungen vollständig zurückbildet.
Erhöhter Kompartmentdruck
Ödem
48.1.4 Diagnostik Die größte Gefahr besteht darin, ein drohendes oder manifestes Kompartmentsyndrom zu übersehen. Die daraus resultierenden Folgen sind so gravierend, dass eine solche Fehldiagnose heute kaum zu entschuldigen ist. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, bei allen Situationen, in denen ein Kompartmentsyndrom auftreten kann, immer an diese Möglichkeit zu denken und umgehend entsprechend zu reagieren. Dabei ist nicht etwa die apparative, sondern in erster Linie die klinische Diagnostik maßgebend. Als Merkregel für die klinischen Symptome eignen sich hierzu die im angloamerikanischen Schrifttum gebräuchlichen 6 »P«, die in ⊡ Tab. 48.2 aufgeführt sind. Leitsymptom ist der intensive Schmerz im betroffenen Kompartment, der durch Dehnung der im Kompartment gelegenen Muskulatur massiv verstärkt wird. Darüber hinaus ist auf Beeinträchtigungen der Funktion der im Kompartment gelegenen Nerven zu achten und zwar sowohl auf sensible als auch auf motorische Störungen. Palpatorisch ist das betroffene Kompartment hart, die betroffene Extremität geschwollen. Tückischerweise können die peripheren Pulse in der Peripherie noch gut palpabel oder mit der Dopplersonde nachweisbar sein, sodass ein tastbarer peripherer Puls kein Argument gegen das Vorliegen eines Kompartmentsyndroms sein kann. Liegt die so skizzierte Symptomatik vor, so bedarf es keiner weiteren Diagnostik. Vielmehr geht es dann darum, keine weitere Zeit zu verlieren und schnellstmöglich die korrekte Therapie einzuleiten, um die Entwicklung einer ischämischen Muskelnekrose zu verhindern. Dieses Prinzip ist so wichtig, dass es im Zweifelsfall eher zu rechtfertigen ist, einmal »umsonst« fasziotomiert zu haben, als zu lange die Therapie zu verzögern. Genau aus diesem Grund verwenden wir im eigenen Vorgehen zumindest beim wachen, nicht bewusstseinsgetrübten Patienten überhaupt keine zusätzliche apparative Diagnostik. Ist ein Kompartmentsyndrom mit klinischen Mitteln nicht auszuschließen, wird es als solches therapiert. Differenzialdiagnostisch abzugrenzen ist eine arterielle Verletzung ohne Kompartmentsyndrom, die klinisch durch einen nicht tastbaren Puls bei palpatorisch nicht verhärtetem Kompartment charakterisiert ist, sowie eine isolierte Nervenverletzung, für die der fehlende Dehnungsschmerz bei weichem Kompartment neben der nervalen Störung typisch ist. Natürlich gibt es zahlreiche Situationen, in denen die klinische Diagnostik erheblich erschwert ist, wie z. B. beim intubierten und relaxierten Patienten. In einer solchen Situation sehen wir am ehesten das Einsatzgebiet der apparativen Diagnostik, die hier bei der Entscheidungsfindung helfen kann. Allerdings darf man nicht den Fehler machen, aus der Messung eines vermeintlichen »Normalwertes« zu schließen, dass kein Kompartmentsyndrom vorliegen kann. Mit Lanz sind wir der Meinung, dass die subfasziale Druckmessung nur einen indirekten Aufschluss über die wahre
Venöse Stauung ⊡ Tab. 48.2 Klinische Zeichen der akuten arteriellen Ischämie
Kapillarschaden
Abfall des arteriovenösen Druckgradienten Ischämie
Nekrose ⊡ Abb. 48.3 Pathophysiologie des Kompartmentsyndroms – Circulus vitiosus
Leitsymptome
»6 P«
Muskeldehnungsschmerz
Pain with Stretch
Kompartment palpatorisch hart
Pressure in Compartment
Parästhesie – Hypästhesie – Anästhesie
Paresthesia or Anesthesia
Motorische Schwäche oder Lähmung
Paresis or Paralysis
Pulse tastbar
Pulses intact
Blässe
Pink Colour
48
1348
Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
Muskeldurchblutung gibt, da diese letztlich vom arteriovenösen Druckgefälle abhängig ist und somit bei erniedrigtem arteriellen Druck auch bei vermeintlich »normalen« Messwerten dennoch ein Kompartmentsyndrom vorliegen kann. Technisch stehen verschiedene Methoden zur Messung des im Kompartment vorliegenden Gewebedruckes zur Verfügung. Klassische Techniken sind beispielsweise die Nadelinjektionstechnik mit digitalem Monitoring nach Whitesides, die kontinuierliche Infusionstechnik nach Matsen oder die Wick-Katheter-Technik nach Mubarak, wobei anhaltende Druckwerte von mehr als 40 mmHg als pathologisch gelten. Vorteilhafterweise kann man heute leicht handhabbare miniaturisierte Messgeräte verwenden. Als Beispiel sei ein vollelektronisches System genannt, das mittels piezoresistivem Druckaufnehmer über eine Verweilkanüle platziert werden und auch für Belastungsanalysen zur Diagnose des funktionellen Kompartmentsyndroms verwendet werden kann. Direkte Messungen der Durchblutungssituation im Kompartment mit der Isotopen-Clearance-Methode oder durch Sauerstoffpartialdruckmessungen haben keine wesentliche klinische Bedeutung erlangt. Ebenso spielen in der Diagnostik des Kompartmentsyndroms auch laborchemische Parameter, bildgebende Verfahren oder auch die Elektrophysiologie keine nennenswerte Rolle. Liegt bereits eine ischämische Muskelnekrose vor, so wird das klinische Bild wesentlich bestimmt von den Auswirkungen der Kontraktur. Bei typischer Lokalisation an der Beugeseite des Unterarmes ist das Leitsymptom eine Streckhemmung von Handgelenk und Fingern (⊡ Abb. 48.4), wobei die passive Streckung der Finger durch verstärkte Beugung im Handgelenk verbessert wird (Tenodese-Effekt; ⊡ Abb. 48.5).
a
An der Hand ist es wichtig, eine intrinsische Kontraktur sicher zu erkennen. Hierzu dient an den Fingern der Intrinsic-plus-Test: Bei passiver Streckung im Grundgelenk ist die passive Beugung in Mittel- und Endgelenk erschwert oder gar unmöglich, bei gebeugtem Grundgelenk ist dagegen die passive Beugung im Mittel- und Endgelenk problemlos möglich (⊡ Abb. 48.6). In der ersten Zwischenfingerfurche ist auf eine Adduktionskontraktur zu achten. Daneben wird die Klinik geprägt von den vorliegenden sensiblen und motorischen Störungen aufgrund der nervalen Schädigung. Schmerzen bestehen dagegen in diesem Stadium nicht mehr. Beim seltenen Kompartmentsyndrom des Neugeborenen ist eine mehr oder weniger ausgeprägte Hautläsion des Armes neben den typischen Zeichen wie Schwellung, Verfärbung und Funktionseinschränkung typisch. Im weiteren Verlauf kommt es bei unbehandeltem Kompartmentsyndrom neben den vom Erwachsenen bekannten Funktionsstörungen ebenso wie bei allen Kompartmentsyndromen am wachsenden Skelett zusätzlich zu Wachstumsstörungen und Deformierungen. Beim chronischen, belastungsabhängigen Kompartmentsyndrom ist die Vorgeschichte bedeutsam. Betroffen sind Patienten mit chronisch repetitiver Überlastung im Rahmen der Arbeit oder sportlicher Tätigkeit. Häufig betroffen sind beispielsweise Motocrossfahrer. Klinisch findet man passagere Zeichen eines Kompartmentsyndroms wie einen lokalisierten Schmerz mit Verstärkung bei passiver Dehnung sowie vorübergehende neurologische
a
b
48
⊡ Abb. 48.4 Volkmann-Kontraktur bei einem 5-jährigen Jungen nach operativer Behandlung einer Unterarmfraktur mittels intramedullärer Nagelung unter Verwendung einer beugeseitigen Hilfsinzision (schwarze Markierung), bei der es zur akzidentellen Durchtrennung des N. medianus kam. a Klinischer Aspekt, b Ausmaß der Volkmann-Kontraktur beim Versuch der passiven Streckung
b ⊡ Abb. 48.5 Tenodesetest. a Bei passiver Streckung besteht ein Defizit sowohl am Handgelenk als auch an den Fingergelenken, b bei maximaler Beugung im Handgelenk können dann die Fingergelenke besser gestreckt werden
1349 48.1 · Allgemeines
Störungen. Diagnostisch wird in der Literatur ein Monitoring des Gewebedruckes vor, während und nach Belastung angegeben, ggf. ergänzt durch eine MRT-Untersuchung vor und nach Belastung. Entscheidendes Kriterium für die Diagnosestellung ist das Sistieren der Symptomatik nach Beendigung der auslösenden Tätigkeit. Abzugrenzen hiervon sind die seltenen Fälle, in denen ein akutes Kompartmentsyndrom durch derartige Belastungen ausgelöst wird.
a
Typ 1
48.1.5 Klassifikation Eine Klassifikation des akuten Kompartmentsyndroms ist ungebräuchlich. Liegt ein hinreichend begründeter Verdacht auf das Vorliegen eines akuten Kompartmentsyndroms vor, ist eine klare, absolute und dringliche Operationsindikation gegeben. Eine Klassifikation erübrigt sich schon allein aus diesem Grund. Demgegenüber ist bei der ischämischen Muskelnekrose als Folge eines nicht oder nicht ausreichend behandelten akuten Kompartmentsyndroms eine Klassifikation sinnvoll, da sie dem Arzt hilft, eine fundierte therapeutische Strategie aus der Vielzahl der Behandlungsoptionen auszuwählen. Einem Vorschlag von Gülgönen folgend erscheint uns eine Kombination der Klassifikationen von Holden (⊡ Abb. 48.7) einerseits und Tsuge (⊡ Abb. 48.8) andererseits am geeignetsten.
b
Typ 2
⊡ Abb. 48.7 Klassifikation der ischämischen Muskelnekrose nach Holden. a Typ I am Beispiel einer suprakondylären Humerusfraktur, b Typ II am Beispiel eines drückenden Gipsverbandes
c a
b
d ⊡ Abb. 48.6 Intrinsic-plus-Test. a Physiologischer Befund: Bei passiver Streckung im Grundgelenk des betroffenen Fingers ist die passive Beugung in den Interphalangealgelenken leicht möglich. b Pathologischer Befund: Bei passiver Streckung im Grundgelenk des betroffenen Fingers ist die passive Beugung in den Interphalangealgelenken stark erschwert oder unmöglich. Ursachen sind entweder kontrakte Handbinnenmuskeln oder eine Kapselschrumpfung im MP-Gelenk. c Kontrakte Handbinnenmuskel: Bei leichter Beugestellung im MPGelenk kann das PIP-Gelenk vollständig gebeugt werden, d Beugehemmung durch Kapselschrumpfung: Bei leichter Beugestellung im MP-Gelenk kann das PIP-Gelenk nicht vollständig gebeugt werden. (Aus Berger u. Hierner 2009)
48
1350
Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
FCR BR
PL FDS
PT FCU
FPL R
FDP
U A.interossea antebrachii ant. mild
moderat
schwer
⊡ Abb. 48.8 Klassifikation der ischämischen Muskelnekrose nach Tsuge: mild – moderat – schwer
Holden (⊡ Abb. 48.7) differenziert 2 Arten der ischämischen Muskelnekrose in Abhängigkeit von der Lokalisation und der Genese. Beim Typ I ist eine Gefäßläsion proximal der betroffenen Faszienloge ursächlich. Die Muskelnekrose betrifft in erster Linie die distal der Verletzungsstelle gelegenen proximalen Muskelanteile der Loge. Als typisches Beispiel ist hier die suprakondyläre Humerusfraktur zu nennen. Beim Typ II entwickelt sich die Muskelnekrose dagegen direkt im Bereich der Verletzung sowie distal davon, wohingegen die Muskulatur proximal der Verletzung erhalten bleibt. Diese Situation kann am Beispiel der Unterarmfraktur, die mit einem zu engen, drückenden Gipsverband behandelt wird, veranschaulicht werden. Oft sieht man dabei auch eine Hautläsion durch die direkte Druckeinwirkung. Tsuge teilt die ischämische Muskelnekrose in 3 Schweregrade ein (⊡ Abb. 48.8). Bei der milden, umschrieben lokalisierten Form betrifft die Nekrose das tiefe Beugerkompartment, insbesondere den M. flexor digitorum profundus. Die moderate Form befällt neben dem tiefen auch das oberflächliche Beugerkompartment. Nekrosen finden sich in den tiefen Beugern. Handgelenkbeuger und oberflächliche Fingerbeuger sind aber zumindest zum Teil mitbetroffen. Die schwere Form ist gekennzeichnet durch Nekrosen der gesamten beugeseitigen Unterarmmuskulatur, sowie eine Mitbeteiligung der Streckmuskulatur bis hin zur Totalnekrose. Eine Ausweitung auf die Handbinnenmuskulatur ist ebenfalls möglich. Der N. medianus ist immer, der N. ulnaris meistens mitbetroffen. 48.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Akutes Kompartmentsyndrom
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Ergibt sich aus Vorgeschichte und klinischem Befund der Verdacht auf das Vorliegen eines akuten Kompartmentsyndroms, der nicht ausgeräumt werden kann, und lässt sich die Situation nicht durch die unten beschriebenen konservativen Erstmaßnahmen entscheidend bessern, besteht eine absolute und dringliche Indikation zur Spaltung der Faszie des betroffenen Kompartments. Bei Patienten, bei denen die klinische Diagnostik nicht ausreichend zuverlässig ist, wie z. B. bei Bewusstlosigkeit oder kontinuierlicher Regionalanästhesie der betroffenen Extremität kann das apparative Monitoring des Gewebedruckes hilfreich sein. Ist die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms wahrscheinlich, wie z. B. bei einer Makroreplantation, so ist eine prophylaktische Fasziotomie
notwendig. Als Quintessenz bleibt festzuhalten, dass kein akutes Kompartmentsyndrom unbehandelt bleiben sollte; vielmehr ist eine großzügige Indikationsstellung in Zweifelsfällen vorzuziehen. Eindrucksvoll wird diese These durch die Arbeit von Ragland et al. unterstützt. In ihrer Serie von Kompartmentsyndromen bei Neugeborenen blieb nur ein Kind von Folgeschäden verschont: Es war als einziges notfallmäßig am 1. Lebenstag fasziotomiert worden.
Chronisches Kompartmentsyndrom Beim chronischen Kompartmentsyndrom wird man zunächst versuchen, die Symptomatik durch Modifikation der auslösenden Tätigkeiten zu beseitigen – sofern möglich. Ansonsten besteht auch hier die Indikation zur Faszienspaltung.
Ischämische Muskelkontraktur (Volkmann-Kontraktur) Bei Vorliegen einer ischämischen Muskelkontraktur ergibt sich die Indikation zu operativem Vorgehen aus dem Ausmaß der Funktionseinschränkung. Der differenzialtherapeutische Einsatz der verschiedenen konservativen und operativen Behandlungsmethoden hängt nach Gülgönen von folgenden Faktoren ab: ▬ Ausprägung der Muskelkontraktur und der Gelenkkontrakturen, ▬ Ausmaß der Nerven- und Gefäßschädigung, ▬ Zustand des Haut-Weichteil-Mantels, ▬ Funktionsfähigkeit der verbliebenen Muskulatur und der Nerven im Kompartment, ▬ Verfügbarkeit von Spendermuskeln für rekonstruktive Maßnahmen. Zur Therapieplanung empfehlen wir die von Gülgönen vorgeschlagene Kombination der oben bereits dargestellten Klassifikationen von Holden und Tsuge. Auf dieser Grundlage haben wir unsere Therapierichtlinien entwickelt, die von Lanz u. Felderhoff (2000) sowie von Pommersberger et al. (2008) publiziert wurden.
Holden I So ist bei der milden Form vom Typ Holden I, die klinisch typischerweise durch eine Beugekontraktur des Mittel- und Ringfingers, seltener auch der übrigen Finger charakterisiert ist, eine Verlängerungstenotomie meist ausreichend, um die volle Stre-
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ckung der betroffenen Finger wieder zu ermöglichen und den Tenodeseeffekt zu beseitigen. Bei Mitbeteiligung des langen Daumenbeugers empfiehlt sich dagegen eher eine Transposition des M. brachioradialis. Für die moderate Form vom Typ I nach Holden ist klinisch die Beugekontraktur im Handgelenk kombiniert mit einer Intrinsic-minus-Stellung der Finger bei Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des N. medianus, ggf. auch des N. ulnaris kennzeichnend. Therapeutisch kommt die Desinsertionsoperation nach Scaglietti in Betracht, sofern noch ausreichend funktionstüchtige Muskulatur vorhanden ist. Oft muss man bei diesem Verfahren einen Kompromiss eingehen und eine gewisse Restkontraktur in Kauf nehmen, um nicht zu viel an Kraftentwicklung durch die Distalisierung der Muskulatur zu verlieren. Ist die tiefe Beugemuskulatur zerstört, die oberflächliche dagegen noch intakt, sollten die oberflächlichen Fingerbeuger auf die distalen Anteile der tiefen Beugesehnen transponiert werden. Meistens muss man darüber hinaus noch den langen Daumenbeuger durch eine Transposition eines streckseitigen Muskels ersetzen. Sind allerdings auch die oberflächlichen Beugemuskeln narbig zerstört, müssen die Fingerbeuger durch Sehnentransposition eines Handgelenkstreckers bei gleichzeitiger motorischer Ersatzoperation für den M. flexor pollicis longus wiederhergestellt werden. Bei der schweren Form vom Typ Holden I wird das klinische Bild einer Krallenhand bestimmt von den ausgeprägten Kontrakturen der Fingerbeuger und -strecker sowie der Handbinnenmuskulatur und der Schädigung der beiden Stammnerven. Therapeutisch ist hier oft eine freie Muskelverpflanzung notwendig. In besonderen Fällen kann eine Handgelenkversteifung sinnvoll sein, um die dadurch frei werdenden, meist wenigstens eingeschränkt funktionsfähigen Handgelenkmotoren zur Motorisierung der Finger und des Daumens zu verwenden.
Holden II Klinisch ist die milde Form des Typ II nach Holden durch eine lokal im Verletzungsbereich begrenzte Schädigung der Muskulatur und Nerven charakterisiert, wobei die proximalen Muskelanteile intakt sind, die Grenzen eines einzelnen Kompartments allerdings überschritten werden können. Therapeutisch sind Narbenkorrekturen in Verbindung mit Neurolysen in der Mehrzahl der Fälle einer milden Form vom Typ Holden II ausreichend. Manchmal muss aber auch eine Hauttransplantation oder eine Lappenplastik nach Narbenexzision erfolgen. Bei der moderaten Form des Typ II nach Holden findet sich eine Narbenbildung durch alle beugeseitigen Gewebeschichten, ggf. auch zirkulär unter Mitbeteiligung der Stammnerven. Die proximalen Muskelanteile sind intakt. Therapeutisch kommt eine Verlängerungstenotomie oder aber eine Transposition des Flexor digitorum superficialis auf den Flexor digitorum profundus in Frage, sofern die tiefen Fingerbeuger stärker als die oberflächlichen Fingerbeuger betroffen sind. Sind oberflächliche und tiefe Beuger gleichermaßen geschädigt, kann meist ein Handgelenkstrecker zur Motorisierung der Finger verwendet werden. Bei der schweren Form vom Typ II nach Holden wie sie beispielsweise nach Verschüttungen vorkommt, ist die gesamte Extremität distal der Verletzungsstelle massiv geschädigt, atroph und kontrakt kombiniert mit schweren nervalen Ausfällen. Therapeutisch kommen die Transplantation myokutaner Lappen und langstreckige Nerventransplantationen in Betracht, um eine gewisse Funktionsverbesserung zu erreichen. In lange bestehenden Fällen ist die Handgelenkarthrodese unter Verkürzung durch Resektion der proximalen Handwurzelreihe ins Auge zu fassen.
48.1.7 Therapie
Konservative (nichtoperative) Therapie Die konservative Therapie dient der Prophylaxe und Behandlung von Kontrakturen durch intensive krankengymnastische Übungsbehandlung und Anpassung dynamischer Schienen. In milden Fällen kann hierdurch möglicherweise eine operative Behandlung vermieden werden, bei ausgeprägteren Fällen dient die Therapie dazu, die Voraussetzungen bis zum Zeitpunkt des operativen Eingriffes zu optimieren. Die Behandlung muss bis zum Eintritt der Narbenreife, also wenigstens über ein halbes Jahr, konsequent durchgeführt werden. Da das Narbengewebe kein normales Wachstumsverhalten zeigt, kann es bei Kindern während Wachstumsschüben zu sekundären Kontrakturen kommen. Entsprechend muss die Therapie langfristig und unter fortlaufender ärztlicher Kontrolle erfolgen. Konservative Behandlungsmaßnahmen sind natürlich auch essenziell in der postoperativen Nachbehandlung.
Operative Therapie Akutes Kompartmentsyndrom Die Therapie beginnt mit der Prophylaxe! Hierbei ist darauf zu achten, schnürende oder drückende Verbände nach Möglichkeit zu vermeiden. Bei Gips- oder Schienenruhigstellung muss der korrekte Sitz regelmäßig kontrolliert werden. Schmerzangaben des Patienten bei liegendem Verband oder jeder Form der Schienenruhigstellung müssen – so irgend vertretbar – zur Abnahme der Schiene und des Verbandes und Kontrolle des Lokalbefundes führen. Kommt es hierdurch zum Rückgang der Symptomatik und ergibt sich kein Anhalt für ein Kompartmentsyndrom, so wird der Verband und die ggf. korrigierte oder erneuerte Schiene wieder angelegt. Ist ein dosierter Kompressionsverband aus therapeutischer Sicht notwendig, so muss das klinische Monitoring besonders kritisch und engmaschig erfolgen. Im Zweifelsfall hat der Ausschluss eines Kompartmentsyndroms in jedem Fall Vorrang. Hat man den Eindruck, dass sich ein Kompartmentsyndrom entwickelt oder bereits manifest vorliegt, so muss man als erste Maßnahme alle Verbände und Schienen entfernen und die betroffene Extremität eher flach lagern, um das arteriovenöse Druckgefälle innerhalb des Kompartments nicht durch Hochlagerung weiter zu verschlechtern. Kommt es hierunter nicht zu einer eindeutigen Besserung, ist unverzüglich die Faszienspaltung des betroffenen Kompartments vorzunehmen (⊡ Abb. 48.10).
Chronisches Kompartmentsyndrom Beim chronischen Kompartmentsyndrom besteht die Therapie der Wahl wie beim akuten Kompartmentsyndrom in der Spaltung der Faszie des betroffenen Kompartments. Goldstandard ist die offene Faszienspaltung, wobei in der Regel ein direkter Hautverschluss möglich ist. In der Literatur wird auch ein minimal invasives Vorgehen mit gutem Erfolg beschrieben.
Ischämische Muskelnekrose (Volkmann-Kontraktur) Wird ein akutes Kompartmentsyndrom nicht oder nicht adäquat behandelt, entwickelt sich eine ischämische Muskelnekrose. Die therapeutischen Maßnahmen werden entscheidend von der Ausprägung der Kontraktur bestimmt. Die konservative Therapie ist die Basis für jede Therapie bei ischämischer Muskelnekrose. Man beginnt mit Physiotherapie und dynamischer Schienung. 3–4 Monate nach der Akutsituation kann dann meistens mit rekonstruktiven Maßnahmen begonnen werden, da nach dieser Zeit in der Regel eine Konsolidierung der Weichteile und eine ausreichende Narbenreifung erreicht ist. Es gibt allerdings
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Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
auch Autoren, die speziell bei Patienten mit schwerer VolkmannKontraktur eine rasche operative Versorgung befürworten. Grundsätzlich stehen folgende operative Therapieverfahren zur Verfügung:
auch eine Grundvoraussetzung für die Durchführung einer solchen Therapie, dass die Narbenreifung weitgehend abgeschlossen ist und der Eingriff nicht im Stadium der frischen Nekrose erfolgt. Zu beachten ist außerdem, dass eine belassene Narbe im Kindesalter nicht mitwächst und somit Rezidivkontrakturen zu befürchten sind.
Operative Therapieverfahren bei schwerer VolkmannKontraktur
▬ Exzision von Muskelnekrosen und Narben ▬ Neurolyse ▬ Verlängernde Maßnahmen – Muskeldesinsertion (⊡ Abb. 48.11) – Verlängerungstenotomie (⊡ Abb. 48.12) – Transposition der oberflächlichen auf die tiefen Beuger (⊡ Abb. 48.13) ▬ Motorische Ersatzoperationen (⊡ Abb. 48.14) ▬ Freie Muskelverpflanzung (⊡ Abb. 48.15) ▬ Arthrodesen kombiniert mit Muskeltransposition oder Muskelverpflanzung (⊡ Abb. 48.16)
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Ist eine operative Behandlung erforderlich, so ist die Exzision von nekrotischem Muskelgewebe und Narben die Basis der Therapie, da Narbengewebe funktionell nutzlos ist und darüber hinaus eine erneute narbige Retraktion und Nervenkompression verursachen kann. Lediglich bei kurzstreckigen, distal lokalisierten Nekrosen kann es sinnvoll sein, diese zu erhalten, um eine noch funktionsfähige Muskel-Sehnen-Einheit nicht zu unterbrechen. Da im Rahmen einer ischämischen Muskelnekrose immer auch die im Kompartment liegenden nervalen Strukturen mitbetroffen sind, sind bei operativem Vorgehen Neurolysen in aller Regel erforderlich meist kombiniert mit der Exzision von Nekrosen und Narben. Insbesondere die physiologischen Nervenengstellen müssen dabei besondere Beachtung finden. Für den N. medianus sind dies am Unterarm der Lacertus fibrosus, der Durchtritt durch den Pronator teres, die Superficialis-Arkade und der Karpalkanal, für den N. ulnaris der Sulcus ulnaris und der Eintritt unter die tiefe Faszie des M. flexor carpi ulnaris. Nach wie vor ist im Zusammenhang mit der Behandlung eines Kompartmentsyndroms die Indikation zur Ventralverlagerung des komprimierten N. ulnaris großzügig zu stellen, auch wenn aktuell ein Trend zur reinen Dekompression oder endoskopischen Operation beim einfachen Kompressionssyndrom besteht. Auf jeden Fall muss man dafür sorgen, dass die Nerven am Ende der Operation möglichst in narbenfreiem vitalem Gewebe zu liegen kommen. Im Gegensatz zur primären Nervendekompression bei einem peripheren Nervenengpasssyndrom bedarf es bei der Neurolyse infolge eines Kompartmentsyndroms öfters einer intraneuralen Neurolyse unter dem Operationsmikroskop. In seltenen Fällen ist der Nerv so stark verändert, dass eine Rekonstruktion durch eine autologe Nerventransplantation notwendig ist. Hovius u. Ultee (2000) empfehlen dagegen unter Zugrundelegung der Einteilung der Nervenläsionen nach Ercetin et al. (1994) es bei der Neurolyse nur zu belassen, sofern der Nerv ohne Deformierung in der Kontinuität erhalten ist. Bei Deformierung und Strikturen sehen die Autoren dagegen kein Erholungspotenzial und empfehlen ein zweizeitiges Vorgehen mit Nerventransplantation, wobei sie solche Veränderungen überwiegend bei gleichzeitig starker Vernarbung der Muskulatur sehen, die Sie in der zweiten Sitzung mit einer freien Muskeltransplantation versorgen. Verlängernde Maßnahmen kommen dann in Frage, wenn die verbliebene Muskel-Sehnen-Einheit insgesamt noch eine ausreichende Kontraktionsamplitude erreicht. Somit ergibt sich die Indikation nur bei umschriebenem Befall der Muskulatur. Deshalb ist
48.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Diagnostik und Therapie von Kompartmentsyndromen im Bereich der oberen Extremität und Hand im Kindesalter gelten im Wesentlichen die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Auf folgende Besonderheiten muss jedoch hingewiesen werden: Operative Maßnahmen verursachen Narbenformationen, die nicht mitwachsen können und somit im Kindesalter das Wachstum beeinträchtigen. Hieraus resultiert einerseits eine deutlich erhöhte Neigung zur Rezidivkontraktur. Man muss also damit rechnen, dass bis zum Wachstumsabschluss weitere operative Behandlungen notwendig werden. Darüber hinaus ist andererseits eine Wachstumsbeeinträchtigung der betroffenen Extremität insgesamt nicht ungewöhnlich. 48.2
Spezielle Techniken
48.2.1 Fasziotomie bei akutem
Kompartmentsyndrom Um die Ischämie nicht zu verschlimmern erfolgt der Eingriff beim akuten Kompartmentsyndrom ohne Blutleere. Es sind großzügige Hautschnitte und Inzisionen der betroffenen Faszienräume erforderlich, um eine signifikante Drucksenkung im betroffenen Kompartment zu erreichen. Die Inzisionen sollten größtmögliche Übersicht gewährleisten, beliebig nach proximal und distal erweiterbar sein und auch im Hinblick auf spätere rekonstruktive Maßnahmen geeignet sein. Ausgehend von diesen Forderungen haben sich bewährte Standardinzisionen an Unterarm und Hand entwickelt, die in ⊡ Abb. 48.9
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b ⊡ Abb. 48.9 Standardinzisionen zur Fasziotomie im Bereich der oberen Extremität. a Beugeseite, b Streckseite
1353 48.2 · Spezielle Techniken
dargestellt sind. Beugeseitig wird in jedem Fall der Karpalkanal miteröffnet. In der Hohlhand wird die Palmaraponeurose zur Dekompression des Mittelhandraumes mit entfernt. Bedenkenswert erscheint der Hinweis von Hughes, dann, wenn es die klinische Situation erlaubt, zwischen der Inzision zur Karpaldachspaltung und der Inzision am Unterarm eine Hautbrücke zu belassen, um das Risiko einer Defektsituation über den Beugesehnen möglichst gering zu halten. Nur die unverzüglich durchgeführte Fasziotomie mit vollständiger Dekompression der Muskulatur kann Spätschäden vermeiden, sofern sie rechtzeitig, d. h. innerhalb von 3–4 Stunden erfolgt. Findet man intraoperativ bereits Muskelbezirke, die sich nicht erholen, so müssen diese Areale möglichst vollständig exzidiert werden, um narbigen Kontrakturen vorzubeugen. Klinisch erkennt man solche Muskelanteile an ihrer blassen Farbe, an einer ausbleibenden Zirkulation in der hyperämischen Phase, sofern eine Blutsperre benutzt wurde, und an einer fehlenden Stimulierbarkeit. Neben der Fasziotomie und der Exzision bereits nekrotischer Muskelareale muss bei jedem Kompartmentsyndrom eine Revision
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der Stammgefäße und Stammnerven erfolgen; sind diese direkt verletzt, ist die sofortige operative Versorgung notwendig. In der Regel wird es nicht möglich sein, nach einer Fasziotomie die Haut spannungslos zu verschließen; vielmehr wird man in der Regel die klaffenden Wunden zunächst mit synthetischem Hautersatzmaterial bedecken müssen, da ein Verschluss unter Spannung natürlich unbedingt zu vermeiden ist. Man muss sich jedoch klar machen, dass ein frühzeitiger Wundverschluss wichtig ist, um die tiefer gelegenen Gewebe vor Austrocknung und damit vor Infektion und Nekrose zu schützen. Deshalb sollte der definitive Verschluss mittels Direktnaht, ggf. nach Anlage einer dynamischen Hautnaht, notfalls unter Verwendung von Spalthaut, möglichst nach 3, spätestens nach 5 Tagen erfolgen. Alternativ wird in der neueren Literatur auch bei ausgedehnten Wunddehiszenzen die Anwendung einer Vakuumversiegelung empfohlen (⊡ Abb. 48.10). 48.2.2 Muskeldesinsertionsoperation nach Page
bzw. Scaglietti Die Desinsertion der Handgelenk- und Fingerbeugemuskulatur wurde bereits 1923 von Page und später von Scaglietti beschrieben, mit dessen Namen der Eingriff heute verbunden ist. Als Zugang dienen die oben beschriebenen Standardinzisionen (⊡ Abb. 48.9, ⊡ Abb. 48.11a). Das Prinzip der Operation besteht darin, nach Darstellen der Gefäße und Neurolyse der Nerven die kontrakte beugeseitige Muskulatur nach distal rutschen zu lassen, indem sie vom Epicondylus medialis humeri, der Ulna und der Membrana interossea abgelöst wird, um die verbliebene Restamplitude der Muskulatur in einen funktionell günstigeren Bereich zu verlagern. Die Desinsertion erfolgt schrittweise von proximal nach distal unter fortlaufender intraoperativer Kontrolle des Effektes so lange, bis die Muskulatur im gewünschten Ausmaß nach distal gerutscht ist. Bei Präparation im Bereich der Membrana interossea muss auf den N. interosseus anterior und die begleitenden Gefäße geachtet werden. Zur Beseitigung der Pronationskontraktur ist die Ablösung des M. pronator teres nötig, in hartnäckigen Fällen zusätzlich die Fensterung der Membrana interossea. Eine Refixation der Muskulatur ist nicht erforderlich. Soweit als möglich sollte die Muskelnarbe exzidiert werden. Zur Nachbehandlung empfiehlt sich eine Gipsruhigstellung bei extendiertem Handgelenk für 2 Wochen mit nachfolgender Übungstherapie. Hovius u. Ultee sehen diesen Eingriff kritisch, da er eine ausgedehnte Dissektion erfordert, nur eingeschränkt funktionsfähige Muskulatur verlagert und eine selektive Verlagerung einzelner Muskelsehneneinheiten nicht zulässt . 48.2.3 Verlängerungstenotomie
c ⊡ Abb. 48.10 Behandlung des akuten Kompartmentsyndroms im Bereich der rechten oberen Extremität bei einem 66-jährigen Patienten. a Klinischer Aspekt präoperativ, b klinischer Aspekt nach Faszienspaltung. Es entsteht ein scheinbarer Defekt mit Vorquellen der ödematösen Muskulatur. Zum Schutz des Gewebes wird ein temporärer Verband angelegt (nicht dargestellt). c Klinischer Aspekt nach Abschwellung 7 Tage nach Fasziotomie. Die Hautränder können spannungsfrei sekundär vernäht werden
Operationsprinzip ist die Verlängerung der oberflächlichen und tiefen Fingerbeugesehnen nach stufenförmiger Tenotomie. Voraussetzung für diesen Eingriff ist eine lokal begrenzte, segmentale Nekrosebildung mit ausreichend vorhandener funktionsfähiger Muskulatur. Der Längengewinn liegt bei maximal 2–3 cm. Die Tenotomien der oberflächlichen und tiefen Beuger müssen auf verschiedenen Höhen vorgenommen werden, um eine Verklebung der Sehnen zu verhindern. Nachteile dieser Technik sind die zusätzliche Schwächung der bereits beeinträchtigten Muskulatur und eine erhebliche Neigung zur Vernarbung und damit Rezidivkontraktur. Zur Nachbehandlung genügt eine dorsale Gipsschiene für 2 Wochen, die die Streckung der Finger blockiert, die Beugung dagegen zulässt mit anschließender Handtherapie (⊡ Abb. 48.12).
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⊡ Abb. 48.11 Muskeldesinsertionsoperation nach Page bzw. Scaglietti. a Planung der Hautinzision vom Epicondylus medialis humeri bis zur Handwurzel, b Ablösung der Beugemuskulatur nach Darstellung und Schutz der neurovaskulären Strukturen, c Muskeldesinsertionsoperation – Schutz der Vasa interossea anteriora und des N. interosseus anterior. d Die Muskelursprünge können in ihrer neuen Lage am Periost der Unterarmknochen und an der Membrana interossea fixiert werden. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
1355 48.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 48.13 Transposition FDS proximal auf FDP distal nach Tenotomie. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
mit Durchflechtungsnähten End-zu-End auf die Profundussehnen distal transponiert (⊡ Abb. 48.13). Danach sollten bei Neutralstellung des Handgelenks die Finger voll streckbar sein. In der Regel ist zusätzlich eine motorische Ersatzoperation für den kontrakten M. flexor pollicis longus durch Transposition eines streckseitigen Muskels erforderlich. Die Nachbehandlung entspricht dem Vorgehen bei der Verlängerungstenotomie.
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48.2.5 Motorische Ersatzoperation
b ⊡ Abb. 48.12 Z-förmige Verlängerungstenotomie. a Schematische Darstellung (aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972), b intraoperatives Beispiel einer Verlängerungstenotomie.
Wenn die beugeseitige Muskulatur zerstört ist, auf der Streckseite dagegen genügend funktionsfähige Muskulatur vorhanden ist, ist der Ersatz der beugeseitigen Muskulatur durch Transposition intakter Muskeln von der Streckseite nach vollständiger Exzision der Muskelnarbe indiziert. Neben einem der Handgelenkstrecker kommen der M. extensor indicis, der M. extensor digiti minimi und der M. brachioradialis hierzu in Betracht. Um eine Fehlstellung des Handgelenks zu vermeiden, sollte sowohl radial als auch ulnar mindestens ein Motor belassen werden. Sinnvollerweise verwendet man nach Möglichkeit Handgelenkstrecker zur Wiederherstellung der Fingerbeugung wegen ihrer synergistischen Funktion. Die transponierte Muskel-Sehnen-Einheit sollte nach der Umlagerung möglichst einen geradlinigen Verlauf haben. Nach einer Ruhigstellung von 3–4 Wochen unter Entlastung der Sehnennähte muss eine intensive Handtherapie erfolgen, um einerseits lokale Verwachsungen zu lösen und andererseits die neue Funktion der verlagerten Muskulatur einzuüben (⊡ Abb. 48.14). 48.2.6 Freie funktionelle Muskeltransplantation
48.2.4 Transposition des Flexor digitorum
superficialis auf den Flexor digitorum profundus (»Sublimistransfer«) Diese Operation kommt dann in Frage, wenn die oberflächlichen Beuger intakt sind, die tiefen dagegen kontrakt – eine durchaus nicht ungewöhnliche Konstellation, da das tiefe Beugerkompartment in der Regel als erstes und am schwersten betroffen ist. Bei diesem Eingriff werden die Sehnen der oberflächlichen Fingerbeuger etwa 5 cm proximal des Handgelenks durchtrennt und
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Ist die Muskulatur auf der Beuge- und Streckseite des Unterarmes zerstört, ist eine Sehnentransposition nur noch in Verbindung mit einer Handgelenkversteifung sinnvoll. Bei diesen Fällen sehen wir eher die Indikation zur freien mikrovaskulär angeschlossenen Muskelverpflanzung. Der von uns bevorzugte Spendermuskel ist der M. gracilis; ⊡ Abb. 48.15 zeigt ein illustratives Fallbeispiel. Ercetin u. Akinci (1994) bevorzugen dagegen den M. latissimus dorsi. Für die Hebung beider Muskellappen sind zwischenzeitlich
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⊡ Abb. 48.14 Motorische Ersatzoperation. a Planung der Hautinzision dorsal, b Verlagerung von M. extensor carpi radialis longus und M. extensor carpi ulnaris auf die Beugeseite, c Planung der Hautinzision palmar, d Z. n. Sehnentransposition. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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⊡ Abb. 48.15 Schwere Form einer Volkmann-Kontraktur Typ Holden I. a Bei Z. n. Neurolyse und Muskelnarbenexzision besteht erneut eine Beugekontraktur der Finger- und Handgelenkbeuger sowie eine Pronationskontraktur des Unterarms, b Darstellung des N. interosseus anterior und der A. interossea anterior, c Heben des M. gracilis unter Markierung seiner Ruhespannung, d intraoperativer Befund nach freier Transplantation des M. gracilis auf den Unterarm. Der Muskel ist gut durchblutet und entsprechend seiner Ruhespannung eingepasst. (Aus Pommersberger et al. 2008)
auch endoskopische Techniken beschrieben, um den jeweiligen Hebedefekt möglichst gering zu halten. Der Muskel kann mit und ohne Hautlappen verpflanzt werden, wobei im letzteren Falle meist eine Spalthauttransplantation notwendig wird. Bei Verwendung einer Hautinsel ist darauf zu achten, dass diese über den 2 proximalen Perforatoren gehoben wird, um keine Teilnekrose zu riskieren. Der Muskel muss mit der korrekten Vorspannung verpflanzt werden. Deshalb markiert man beim Heben des Muskels die korrekte Ruhelänge, beispielsweise durch Markierungsnähte in definierten Abständen und näht ihn dann mit gleicher Vorspannung ein (⊡ Abb. 48.15d). Arteriell wird die Muskelarterie entweder an Äste der A. radialis oder A. ulnaris oder an der A. interossea anterior angeschlossen, venös an eine oder zwei der zahlreich am proximalen Unterarm vorhandenen Venen. Die Anoxiezeit des Muskels sollte dabei so kurz wie möglich sein. Bei einer Ischämiezeit von mehr als 3 Stunden kommt es zu einem Funktionsverlust des Muskeltransplantats. Als Anschlussnerv sollte ein rein motorischer Nerv wie der N. interosseus anterior, der R. profundus ni. radialis oder Muskeläste des Medianus- oder Radialisstammes benutzt werden. Dabei sollte der Nervenanschluss möglichst muskelnah erfolgen, um eine rasche Reinnervation zu ermöglichen. Proximal erfolgt die Fixierung des M. gracilis im Bereich des Septum intermusculare und des Periosts. Distal ist eine separate Einflechtung der gesplitteten Gracilissehne in die tiefen Beuger einerseits und in die lange Daumenbeugesehne andererseits anzustreben. Eine suffiziente Drainage des Operationsgebietes ist obligat. Postoperativ ist es wichtig, einerseits eine Überdehnung des Muskels, andererseits die Entwicklung von Kontrakturen zu vermeiden. Eine Schienenruhigstellung in entlastender Position für 6 Wochen erscheint adäquat, wobei eine Kontrakturprophy-
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⊡ Abb. 48.16 Funktionelles Ergebnis einer Patientin mit schwerer Volkmann-Kontraktur nach Handgelenkarthrodese und freier Muskelverpflanzung. a Aktive Fingerstreckung, b aktiver Faustschluss
laxe parallel erfolgen sollte. Eine aktive Übungstherapie ist erst mit Auftreten erster klinischer Reinnervationszeichen nach 3–6 oder gar 9 Monaten angebracht und dann über mehrere Monate fortzusetzen (⊡ Abb. 48.16).
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48.2.7 Handgelenkarthrodese und
Grundgelenk die Interphalangealgelenke passiv vollständig zu beugen sein. Postoperativ wird ohne Ruhigstellung gleich aktiv geübt.
Muskeltransposition Ist die Anzahl der verbliebenen Motoren auf der Beuge- und Streckseite zu gering, um alle Gelenke zu bedienen, empfiehlt sich eine Handgelenkversteifung. Die hierdurch frei werdenden Handgelenkmotoren können dann zur Motorisierung der Finger verwendet werden. Sind keine Handgelenkmotoren mehr vorhanden, ist eine Motorisierung der Finger durch eine freie Muskeltransplantation bei stabilem Handgelenk mit passablem funktionellen Ergebnis möglich.
48.2.10 Desinsertion der Handbinnenmuskeln Die Desinsertion der Handbinnenmuskeln (⊡ Abb. 48.18) ist nur ausnahmsweise bei ausgeprägter Beugekontraktur der Fingergrundgelenke in Betracht zu ziehen. In der Regel ist die ReleaseOperation nach Littler ausreichend und in ihrem Ergebnis sicherer abzuschätzen als die Desinsertionsoperation, die eine ausgedehnte Dissektion notwendig macht.
48.2.8 Therapie der Adduktionskontraktur des
Daumens
48.2.11 Durchtrennung der Interosseussehnen
Bei einer Adduktionskontraktur des Daumens wird der vernarbte M. adductor pollicis exzidiert und der M. interosseus dorsalis I vom ersten Mittelhandknochen unter sorgfältiger Schonung der A. princeps pollicis abgelöst. Anschließend wird temporär ein Draht zwischen Metakarpale I und II in palmarer Abduktionsstellung eingebracht, um die 1. Zwischenfingerfurche weit zu halten. Zur Deckung des resultierenden Hautdefektes der 1. Zwischenfingerfalte kommen neben lokalen Lappenplastiken von der dorsoradialen Seite des Zeigefingers und vom Handrücken sowie distal gestielte regionale Lappen wie der distal gestielte A.-radialisLappen oder der Interossea-posterior-Lappen in Frage. Ist eine freie Gewebetransplantation erforderlich so ist der freie Oberarmlappen gut geeignet ( Kap. 35). 48.2.9 Release-Operation nach Littler Gering ausgeprägte Kontrakturen der intrinsischen Muskulatur können oft durch krankengymnastische und ergotherapeutische Maßnahmen ausreichend behandelt werden. Bei persistierender Kontraktur ist die Release-Operation nach Littler (⊡ Abb. 48.17) angezeigt. Dabei erfolgt eine dreieckförmige Resektion des Tractus lateralis der Streckaponeurose im Grundgliedbereich unter Belassen eines schmalen Saumes des transversalen Anteils der Streckaponeurose, der für die Grundgelenkbeugung notwendig ist. Deshalb kann auch eine geringe Beugekontraktur der Grundgelenke verbleiben. Am Ende der Operation sollten bei passiv gestrecktem
Die Durchtrennung der Interosseussehnen ist als Ultima Ratio zu betrachten, wenn die bisher genannten Verfahren ein unzureichendes Ergebnis zeitigen. Theoretisch besteht dabei das Risiko der Entwicklung einer Intrinsic-minus-Deformität. Die praktische Erfahrung mit dieser selten angewandten Operationsmethode ist jedoch gering. 48.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Der gravierendste Fehler ist zweifellos ein manifestes Kompartmentsyndrom zu übersehen. Die daraus resultierenden Folgen sind nicht mehr zu korrigieren, sondern allenfalls durch aufwändige Maßnahmen zu lindern. Deshalb muss man sich immer wieder die entscheidenden Fallstricke vor Augen führen, die solche Fehleinschätzungen begünstigen. Ein typischer, offensichtlich nicht ausrottbarer Gedankengang ist es, bei tastbaren Pulsen ein Kompartmentsyndrom auszuschließen. Schwierig kann die Einschätzung der subjektiven Beschwerden sein, insbesondere wenn bei dem betroffenen Patienten besondere Umstände wie z. B. eine Bewusstseinstrübung oder eine mit therapeutischer Intention verabreichte regionale Anästhesie vorliegen. Hinzu kommt sicherlich häufig eine verständliche Scheu, bei nicht eindeutigem Befund aktiv zu werden und eine ausgedehnte Fasziotomie mit langen Inzisionen vorzunehmen, die sich dann als nicht notwendig erweisen könnte. Deshalb kann die Gefahr eines übersehenen Kompartmentsyndroms nicht eindringlich genug betont werden, da ein rasches Handeln zwingend erforderlich ist.
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⊡ Abb. 48.17 Intrinsic-Release-Operation nach Littler. a Planung der Hautinzision, b Planung der Resektion im Bereich der Streckaponeurose, c Auflösung der Kontraktur nach Resektion. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
1359 Weiterführende Literatur
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Die entscheidende Komplikation des akuten Kompartmentsyndroms ist die ischämische Muskelkontraktur, deren Therapie ausführlich beschrieben wurde. Das eigentliche Ziel muss es jedoch sein, durch adäquate Prophylaxe und Therapie eines akuten Kompartmentsyndroms das Auftreten dieser Komplikation zu vermeiden.
Weiterführende Literatur Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten. Springer, Heidelberg Botte MJ (2004) Compartment syndromes and ischemic contracture. In: Berger RA, Weiss APC (Hrsg) Hand surgery. Lippincott Williams & Wilkins, Philadelphia, S 1555–1613 Büchler U (2005) Folgezustände nach Volkmann-Kontraktur. In: Duparc J (Hrsg) Chirurgische Techniken in der Orthopädie und Traumatologie, Oberarm, Ellenbogen und Unterarm. Urban & Fischer, München, S 189–197 Chuang DC, Carver N, Wei FC (1996) A new strategy to prevent the sequelae of severe Volkmann‘s ischemia. Plast Reconstr Surg 98: 1023–1031; discussion 1032–1023 Croutzet P, Chassat R, Masmejean EH (2009) Mini-invasive surgery for chronic exertional compartment syndrome of the forearm: a new technique. Tech Hand Up Extrem Surg 13: 137–140
⊡ Abb. 48.18 Desinsertion der Handbinnenmuskeln. a Planung der Hautinzision, b Ablösung der Mm. interossei von den Mittelhandknochen mithilfe eines Rasparatoriums, c intraoperativer Test. Nach Ablösung der Mm. interossei und Streckung im MP-Gelenk verlagern sich die abgelösten Mm. interossei nach distal. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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48
1360
Kapitel 48 · Kompartmentsyndrome im Bereich der oberen Extremität
Jäger C, Echtermeyer V (2007) Das Kompartment-Syndrom. Orthopäd Unfallchir up2date 2: 203–218 Jeschke J, Baur EM, Piza-Katzer H (2006) Chronisches Kompartment-Syndrom der Unterarmbeuger beim Motocrossfahren. Handchir Mikrochir Plast Chir 38: 122–125 Krimmer H, Hahn P, Lanz U (1995) Free gracilis muscle transplantation for hand reconstruction. Clin Orthop Relat Res 314:13–18 Lanz U, Felderhoff J (2000) Ischämische Kontrakturen an Unterarm und Hand. Handchir Mikrochir Plast Chir 32: 6–25 Matsen FA (1975) Compartmental syndrome. An unified concept. Clin Orthop Relat Res 113:8–14 Mc Queen MM, Gaston P, Court-Brown CM (2000) Acute compartment syndrome. Who is at risk? J Bone Joint Surg Br 82: 200–203 Mubarak SJ (1998) Treatment of Acute Compartment Syndromes. In: Willy C, Sterk J, Gerngroß H (eds) Das Kompartment-Syndrom. Springer, Berlin, S127–140 Mubarak SJ, Hargens AR (1983) Acute compartment syndromes. Surg Clin North Am 63: 539–565 Pritchard MH, Williams RL, Heath JP (2005) Chronic compartment syndrome, an important cause of work-related upper limb disorder. Rheumatology (Oxford) 44: 1442–1446 Prommersberger KJ, Van Schoonhoven J, Kalb K et al. (2008) Rekonstruktion nach Kompartmentsyndrom an Unterarm und Hand. Unfallchirurg 111: 804–811 Ragland R, 3rd, Moukoko D, Ezaki M et al. (2005) Forearm compartment syndrome in the newborn: report of 24 cases. J Hand Surg Am 30: 997–1003 Schink W (1972) Die Eingriffe bei Kontrakturen, vasomotorischen und trophischen Störungen. In: Wachsmuth W, Wilhelm A (Hrsg) Die Operationen an der Hand. Springer, Berlin Heidelberg, S 411–440 Tilmann B (2004) Atlas der Anatomie des Menschen. Mit Muskeltrainer. Springer, Berlin Tsuge K (1975) Treatment of established Volkmann’s contracture. J Bone Joint Surg Am 57: 925–929 Volkmann R von (1881) Die ischämischen Muskellähmungen und Kontrakturen. Zentralbl Chir 8: 801–803 Von Schroeder HP, Botte MJ (1998) Definitions and terminology of compartment syndrome and Volkmann‘s ischemic contracture of the upper extremity. Hand Clin 14: 331–334 Wachsmuth W, Wilhelm A (Hrsg) (1972) Allgemeine und spezielle chirurgische Operationslehre, 10. Band, Teil 3: Operationen an der Hand. Springer, Berlin Yamaguchi S, Viegas SF (1998) Causes of upper extremity compartment syndrome. Hand Clin 14: 365–370
48
1361 48.3 · Weiterführende Literatur
Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität Reinhold Stober, Franz-Eduard Brock
49.1
Allgemeines – 1362
49.1.1 49.1.2 49.1.3 49.1.4 49.1.5 49.1.6 49.1.7 49.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1362 Epidemiologie – 1364 Ätiologie – 1364 Diagnostik – 1364 Klassifikation – 1366 Indikationen und Differenzialtherapie – 1367 Therapie – 1367 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1369
49.2
Spezielle Techniken
49.2.1 49.2.2
Akute Durchblutungsstörungen – 1369 Chronische Durchblutungsstörungen – 1371
49.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1383
– 1369
Weiterführende Literatur
– 1383
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
49
1362
49.1
49
Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
In der handchirurgischen Sprechstunde sind Folgen arterieller Durchblutungsstörungen nicht selten zu beurteilen und – oft in Zusammenarbeit mit der Angiologie – auch zu behandeln. Während aber die Gefäßverletzungen von der Schnittverletzung mit Gefäßbeteiligung bis zur kompletten Amputation in jedem handchirurgischen Lehrbuch ausführlich dargestellt werden, finden die chronischen bzw. krankheitsbedingten Durchblutungsstörungen der oberen Extremität kaum Beachtung. Dabei ist es auch für den Handchirurgen wichtig, über die Behandlungsmöglichkeiten in diesem Grenzgebiet zwischen Handund Gefäßchirurgie sowie Angiologie Bescheid zu wissen. Deswegen sollen hier die typischen Krankheitsbilder, wie sie sich dem Handchirurgen präsentieren, dargestellt und ihre Diagnostik und Behandlung beschrieben werden. Die Bedeutung der Durchblutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden: > »Wo Blut, da Leben!« Allein die Durchblutung erhält die Gewebestruktur aufrecht und ist Grundbedingung jeder normalen Wundheilung. Ein Arm kann extraanatomisch »geparkt« werden, um nach Wiederherstellung
⊡ Abb. 49.1 Linker Arm an die Femoralgefäße angeschlossen in der rechten Leiste »geparkt«, Rückreplantation an die linke Schulter nach 4 Wochen
a
b
c
der Schulter replantiert zu werden, wenn er so lange an die Blutversorgung angeschlossen ist (⊡ Abb. 49.1). Bei jeder nicht heilenden Wunde muss geprüft werden, ob eine Besiedlung mit ungewöhnlichen Keimen oder eine mangelhafte Durchblutung die Ursache ist. Keine lokale Maßnahme kann die unzureichende Blutversorgung kompensieren. Damit ist die gute Blutversorgung absolute Voraussetzung für den Erfolg jeder (hand-)chirurgischen Maßnahme. Oft machen sich Durchblutungsstörungen mit Fingerspitzennekrosen bemerkbar, die ganz unterschiedliche Aspekte und Ursachen haben können (⊡ Abb. 49.2). 49.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Der Gefäßbaum der oberen Extremität beginnt rechts mit der Aufzweigung des Truncus brachiocephalicus in die A. carotis communis und die A. subclavia, links mit dem direkten Abgang der A. subclavia aus dem Aortenbogen. Die Subclavia zieht durch die Skalenuslücke (wo Kompressionseinengungen möglich sind) über die 1. Rippe unter der Clavicula, bedeckt von den Pektoralismuskelansätzen in die Axilla, wo sie nach dem Abgang der Pectoralisäste A. axillaris heißt (diese Definition ist nicht einheitlich!) und nach dem Abgang der A. subscapularis als A. brachialis bis zur Ellenbeuge weiterführt, um sich in die A. radialis und A. ulnaris aufzuzweigen. Beide Unterarmarterien stehen in der Regel über 2 Gefäßbögen in der Hand miteinander in Verbindung und können sich vollumfänglich gegenseitig vertreten. Das gleiche Konstruktionsprinzip findet sich auch peripher: Die Interdigitalarterien, welche je eine Fingerhälfte nach der Aufzweigung in die Digitalarterien versorgen, sind über deren Anastomosen im Fingerbereich alle so hintereinander geschaltet, dass eine Interdigitalarterie zur Not alle Finger versorgen kann. Erst die distalen Fingerarterien sind eigentliche »Endarterien«, deren Verschlüsse nicht mehr sehr gut kompensiert werden können. Hier manifestieren sich deswegen die meisten Erkrankungen, welche die Durchblutung reduzieren (⊡ Abb. 49.3). Auch die Anfangsstrecke weist mit der kostoklavikulären Passage eine Besonderheit auf, die es an der unteren Extremität nicht
d
⊡ Abb. 49.2 Fingerspitzennekrosen. a Bei Dialyseshunt plus zentraler Stenose, b bei F.P.Weber-Syndrom, c bei F.P.Weber-Syndrom nach Inzision, d bei Waterhouse-Friderichsen-Syndrom
1363 49.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 49.3 Übersicht über die Arterien der oberen Extremität, über ihre Kollateralkreisläufe und ihre Unterbindungsmöglichkeiten. Die Schlingen bezeichnen die Stellen, an denen ohne Gefahr unterbunden werden darf. Die Kreise bezeichnen die zu vermeidenden Stellen, ohne ausreichenden Kollateralkreislauf. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
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1364
Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
große Anzahl sehr verschiedener Erkrankungen anzeigt, die sich so an den Beinen weitaus seltener bemerkbar machen. Zudem gibt es spezifische Krankheitsbilder von speziellen Durchblutungsstörungen, die nur hier vorkommen, sei es bedingt durch spezielle Belastung (die sog. »Hammersyndrome«) oder durch spezielle anatomische Gegebenheiten wie das Engpasssyndrom der oberen Thoraxapertur.
49
49.1.3 Ätiologie Neben diesen anatomischen Gegebenheiten als Ursache für einige Mangelversorgungserscheinungen steht die Arteriosklerose trotz der selteneren Manifestation am Arm hinsichtlich der Häufigkeit insgesamt für Durchblutungsstörungen auch hier an erster Stelle, gefolgt vom embolischen und thrombotischen Gefäßverschluss. Da aber die Vielzahl der Kollagenosen als Raynaud-Syndrom in Erscheinung treten kann, ist diese Symptomatik nicht so selten: In der aktuellen Literatur werden 5–15% angegeben, wovon sich der größere Anteil nach Abklärung als Morbus Raynaud (sog. primäres Raynaud-Syndrom) erweist. 49.1.4 Diagnostik
Klinische Untersuchung
⊡ Abb. 49.4 Subclavian-Steel-Syndrom durch zentralen Subklaviaverschluss und Stromumkehr der gleichseitigen A. vertebralis. (Aus Heberer u. van Dongen 2004)
gibt: Hier manifestiert sich das »Thoracic-Outlet-Syndrom« (TOS), eine Folge mehr oder weniger gravierender Missbildungen in dieser heiklen Region, welche Kompressionen auf die Nerven oder/und die Gefäße mit entsprechender Symptomatik auslösen ( Kap. 56). Da über die relativ kaliberstarken Gefäße des Karotisgebietes und die beiden Vertebralarterien die Versorgungsgebiete der Arme und des Gehirns miteinander in Verbindung stehen, kann bei entsprechender Verschlusslokalisation in der Anfangsstrecke der A. subclavia bei erhöhtem Bedarf durch Anstrengung der Armmuskulatur der Hirnkreislauf angezapft werden, was zu zerebralen Symptomen führt (Subclavian-Steel-Syndrom; ⊡ Abb. 49.4). Im venösen System unterscheidet man das oberflächliche, epifasziale System und das tiefe System (Vv. comitantes). Beide Systeme sind durch zahlreiche Perforansvenen verbunden (⊡ Abb. 49.5). 49.1.2 Epidemiologie > Die obere Extremität ist weit seltener der Manifestationsort für die häufigsten vaskulären Erkrankungen (Arteriosklerose, Embolien) als die untere Extremität.
Nur etwa ein Viertel der Patienten mit arteriellen Verschlusskrankheiten hat auch Symptome an den Armen. Akute Verschlüsse im Rahmen einer Embolieerkrankung sind noch seltener als in der unteren Körperhälfte. Das hat anatomische und systemische Gründe (s. unten). Andererseits ist die Raynaud-Symptomatik eine für den Arm spezifische Erscheinungsform der Durchblutungsstörung, die eine
Die klinische Untersuchung kann bereits wesentliche Hinweise auf eine Durchblutungsstörung als Grund aktueller Beschwerden liefern: Beim Betrachten der Finger fällt eine Abflachung der Fingerbeeren auf, straffe, wenig elastische Haut und Wachstumsstörungen der Nägel (Querrillen), wenn nicht schon Nekrosen an den Fingerspitzen die Diagnose der Durchblutungsstörung auf den ersten Blick erlauben. Allerdings werden solche Nekrosen oft für ein nicht heilendes Panaritium gehalten. Selten sieht man ein Raynaud-Syndrom spontan in der Sprechstunde. Wenn der Patient von einem anfallsweisen Weißwerden der Finger berichtet, das meist mit einem Taubheitsgefühl einhergeht, kann dies durch einen Provokationstest (Handbad in kaltem Wasser) hervorgerufen werden. Einzelne Finger werden dabei scharf abgesetzt blass und taub (Digitus mortuus). Schnelle Faustschlussübungen mit erhobenem Arm erzeugen Muskelschmerzen (Ischämie!) und Abblassung der Hand, die sich nach Herabhängen nur zögerlich wieder normal färbt, eine reaktive Hyperämie bleibt aus (Ratschow-Test). Die Pulse am Handgelenk, an der Ellenbeuge ulnarseitig und an der Innenseite des Oberarms sind der direkten Palpation zugänglich. Der diagnostische Wert ist aber eingeschränkt, denn selbst beim Verschluss der A. subclavia kann die Kollateralisierung so gut sein, dass ein Puls hier tastbar ist, ein Seitenunterschied der Pulsqualität sollte dann aber auffallen. Der Allen-Test schaltet die oben geschilderte spezielle anatomische Gegebenheit der Unterarmgefäße aus und macht sie für die Untersuchung zu Endarterien. Indem die komprimierte Arterie die Insuffizienz der anderen nicht mehr kompensieren kann, werden Mangelversorgungen für die klinische Untersuchung erkennbar. Nach Kompression beider Arterien am Handgelenk wird eine Ischämie provoziert – z. B. durch wiederholten kräftigen Faustschluss – und anschließend wird eine Arterie freigegeben. Man erkennt die Mangelversorgung in Bezirken mit nur sehr langsamer Rötung und ausbleibender reaktiver Hyperämie ( Kap. 2). Strömungsgeräusche (Auskultation mit Stethoskop) sind vornehmlich bei Stenosen der A. subclavia diagnostisch bedeutsam,
1365 49.1 · Allgemeines
a
V. subclavia Vv. pectorales
V. jugularis interna Vv. thoracicae internae
V. axillaris V. brachiocephalica (anonyma) dextra V. thoracia lateralis V. basilica V. cephalica
Vv. thoracoepigastricae
Vv. brachiales
Vv. radiales
Vv. ulnares Vv. interosseae anteriores
Arcus venosus palmaris profundus Vv. metacarpales palmares
b
⊡ Abb. 49.5 a oberflächliches Venensystem (Quelle: Lanz/Wachsmuth 1972), b tiefes Venensystem (Quelle: Tillmann 2010)
49
1366
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
vor allem, wenn sie durch besondere Haltung erst ausgelöst werden (Adson-Test, Eden-Test). Funktionstests: Insbesondere der Eden- (oder Military-) Test, welcher eine Pulsauslöschung bei kraftvollem Zurückführen der Schulter erzeugt, ist für die Diagnostik eines TOS sehr wertvoll, vor allem, weil man ihn auch passiv durchführen kann. Oftmals sind die Patienten nämlich nicht in der Lage, den Test korrekt auszuführen. Wenn man den Patienten aber in bequeme Bauchlage bringt und unter Tasten des Radialispulses die gleichseitige Schulter kräftig anhebt (also nach dorsal zieht), ist dieser Test von der Mitarbeit des Patienten unabhängig durchzuführen (⊡ Abb. 49.6).
Apparative Diagnostik Die Ultraschalluntersuchung ist für die Diagnostik der Gefäßverhältnisse als nicht invasive Methode durch die stetig genauer
werdende Abbildung und die quantitative Flow-Erfassung immer wichtiger geworden. Gefäßmorphologie, Flussrichtung, selbst Strömungsgeschwindigkeiten sind damit an der oberen Extremität fast überall zu ermitteln. Die zweite Untersuchungstechnik, die die konventionelle Angiografie zunehmend verdrängt, ist die Angiomagnetresonanztomografie, welche nicht nur die gleichzeitige Darstellung von Arterien und Venen, sondern auch ihre räumliche Zuordnung in dreidimensional rekonstruierten Bildern gestattet, die im PC beliebig gedreht angeschaut werden können (⊡ Abb. 49.7). Lediglich für die Diagnostik in der Peripherie, also die genaue Darstellung der Fingerarterien, ist heute noch die Angiografie in Kombination mit peripher gefäßerweiternden Medikamenten notwendig, aber es scheint eine Frage der Zeit, wann auch hier die MRT-Untersuchung genügend detailgetreu sein wird. 49.1.5 Klassifikation Durchblutungsstörungen im Bereiche der oberen Extremität können aufgrund zahlreicher Kriterien klassifiziert werden: ▬ Lokalisation (zentral, Arm, Hand), ▬ akut vs. Chronisch, ▬ arteriell vs. venös vs. arteriovenös ▬ usw. Systematik arterieller Erkrankungen
▬ Akute Erkrankungen
⊡ Abb. 49.6 Passiver Eden-Test (Military-Test). Am bequem in Bauchlage liegenden Patienten wird der Puls getastet und dann die Schulter nach dorsal hoch gehoben: Bei positivem Test verschwindet der Puls als Hinweis auf eine Enge in der kostoklavikulären Passage
⊡ Abb. 49.7 Darstellung des Aortenbogens und seiner Abgänge mittels Arterio-MRT: Abbildung in verschiedenen Drehpositionen: Verschluss der A. subclavia rechts, Abgangsnomalie der A. carotis communis links
– Arterielle Embolie – Arterielle Thrombose – Trauma – Aneurysmaruptur – Dissektion – Sonderform: Phlegmasia caerulea dolens ▬ Chronische Erkrankungen – Arteriosklerotische periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) – Vasospastische Syndrome bzw. funktionelle Durchblutungsstörungen – Vaskulitiden – Thrombangiitis obliterans – Aneurysmen
1367 49.1 · Allgemeines
Eine Einteilung der verschiedenen Durchblutungsstörungen an der oberen Extremität berücksichtigt die Lokalisation: Bei Verschlüssen der großen Gefäße im Bereich des Schultergürtel und des Oberarms beobachtet man eine Belastungsischiämie, entsprechend ist die Faustschlussprobe pathologisch. Verschlüsse der Unterarmarterien werden so gut kompensiert, dass sie kaum spontan in Erscheinung treten. Der Allen-Test ist allerdings pathologisch. Schließlich sind die Verschlussprozesse im Bereich der Hand und hier besonders an den Fingern am häufigsten Ursachen für eine Raynaud-Symptomatik oder für Fingerspitzennekrosen, vor allem, wenn sie sich zusätzlich zu bisher unbemerkt gebliebenen zentral gelegenen Strömungshindernissen einstellen. 49.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Im Wesentlichen internistisch zu behandeln sind die verschiedenen Ursachen, die unter dem Erscheinungsbild der RaynaudSymptomatik auftreten (sog. sekundäre Raynaud-Syndrome): Das ist der große Formenkreis der Kollagenosen und entzündlichen Gefäßerkrankungen, sowie die Thrombangitis obliterans. Die Arteriesklerose benötigt insbesondere bei zentral liegenden Verschlüssen eine Intervention, wobei heute oft eine Kathetertechnik eingesetzt werden kann. Periphere Verschlüsse sind der medikamentösen Behandlung zugänglich, die darauf abzielt, die Kollateralisierung zu verbessern, noch reagible Gefäße zu erweitern und neue Gefäßaussprossung zu fördern. In der akuten Phase einer Durchblutungsstörung mit massiver Ischämie der Finger, bei welchen Nekrosen drohen, hilft schnell nur die Sympathektomie, welche die Finger oder Hand akut zu retten vermag. 49.1.7 Therapie Arterielle Durchblutungsstörungen der oberen Extremität sind seltener, unterliegen aber hinsichtlich ihrer Systematik, der Diagnostik und Therapie bei bescheidener Datenlage vermutlich vergleichbaren Bedingungen wie die der Beine. > Das Therapieziel kann daher allgemein mit Extremitätenerhalt und dem Erhalt lebenslanger Mobilität bzw. Gebrauchsfähigkeit beschrieben werden.
Konservative (nichtoperative) Therapie Da keine einzelne Therapie eine anhaltende Verbesserung für das restliche Leben garantiert, gilt es, eine Therapiestrategie zu entwickeln, die konservative und interventionelle Aspekte ebenso berücksichtigt wie chirurgische Maßnahmen. Die dabei zu treffende Therapiewahl ist diagnose- und stadien-, aber auch bedürfnisorientiert und hat von vorne herein Langzeitaspekte zu berücksichtigen. Zu beachten ist, dass es, wie gesagt, für die Strombahn der oberen Extremität noch viel weniger gesicherte vergleichende Daten gibt als für die untere und dass daher ein hohes Maß an Individualität basiert auf großer persönlicher Erfahrung das therapeutische Procedere bestimmt. Im Bereich der Gefäßheilkunde gibt es unabhängig von der Lokalisation des Gefäßschadens nur wenige kausal ansetzende Therapieformen.
Konservative (nichtchirurgische) Therapieformen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
(Sekundär-) Prävention Physikalische Therapie Antithrombotische Therapie Vasodilatation Antiinflammatorische Therapie Viskositätssenkung durch Fibrinolyse Katheterverfahren Retrograde Perfusionstherapie Zelltherapie
Hierzu zählen insbesondere Präventionsmaßnahmen, die in sehr frühen Stadien einer atherosklerotischen Gefäßerkrankung (z. B. im Stadium der endothelialen Dysfunktion) zur Heilung führen können, ansonsten aber als Sekundärmaßnahmen »lediglich« das Fortschreiten einer Grundkrankheit zu reduzieren, bestenfalls aufzuhalten vermögen. Des Weiteren können die Sanierung einer Emboliequelle (Rhythmisierungstherapie bei Herzrhythmusstörungen, Ausschaltung eines vorgeschalteten Aneurysmas, Sanierung einer Throracic-Outlet-Situation als kausale Therapie betrachtet werden. Eher kausalen Charakter haben auch alle die inflammatorische Grundkrankheit angehenden Therapien bei primären und sekundären Vaskulitiden. Die übrigen Behandlungsformen können bei allen damit erzielbaren Erfolgen lediglich den Wert einer symptomatischen Therapie für sich beanspruchen.
Prävention Primär präventive Maßnahmen umfassen im Kontext atherosklerotischer Erkrankungen alle Therapien zur optimalen Behandlung identifizierter Risikofaktoren. Zur Sekundärprävention gilt derzeit als Standard die Kombination aus ▬ Thrombozytenaggregationshemmern, ▬ Statinen (unabhängig vom Serumcholesterinspiegel) ▬ ACE-Hemmern bzw. β-Blockern und ▬ Cilostazol.
Indikation. Dauerbehandlung bei allen atherosklerotischen Gefäßerkrankungen
Physikalische Therapie Bei allen Frühformen der arteriellen Durchblutungsstörungen der Beine (pAVK) gilt das strukturierte Gehtraining als einfach durchführbare, effektive und kostengünstige Basismaßnahme. Dabei stehen neben lokalen Stoffwechselumstellungen die Verbesserung der Kollateralversorgung lokal und die günstige Wirkung auf fast alle Komponenten des individuellen Risikoprofils allgemein im Vordergrund. Entsprechende Übungen sind für die Arme im Sinne des Faustschlusstrainings etabliert, aber nicht geprüft. Die für die Waden-Claudicatio belegte Effektivität der Kombination von Gehtraining mit Cilostazol ist bei Durchblutungsstörungen der oberen Extremität nicht untersucht.
Indikation. Frühe Stadien der pAVK
Antithrombotische Therapie Zum Einsatz kommen Thrombozytenaggregationshemmer (Cyclooxygenasehemmer = Acetylsalicylsäure (ASS) und Hemmstoffe des
49
1368
49
Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
Adenosindiphosphats = Clopidogrel), Vitamin-K-Antagonisten vom Cumarintyp und Heparinpräparate. Thrombozytenaggregationshemmer zeigen überzeugende Ergebnisse in der Sekundärprävention kardialer und zerbrovaskulärer Ereignisse, für die Peripherie ist die Datenlage eher dürftig. Gut belegt ist die Effektivität bei Patienten nach peripheren endovaskulären Eingriffen. Die duale Therapie mit ASS und Clopidrogel ist für die Nachbehandlung nach koronarem Stenting gut belegt, entsprechende Ergebnisse fehlen für die Peripherie. Insbesondere nach Einsetzen von Stents wird sie aber auch in der Peripherie, allerdings begrenzt auf einen Zeitraum von 4–6 Wochen, durchgeführt. Vitamin-K-Antagonisten finden bei pAVK nach femorodistalen Bypässen Verwendung, mit Schwerpunkt auf venösen Bypässen. Die Kombination von Trombozytenaggregationshemmern und Vitamin-K-Antagonisten hat nur geringe Vorteile, die durch erhöhte Blutungskomplikationen erkauft werden.
Indikation. Bestandteil der Sekundärprävention, Begleittherapie bei allen Stadien der pAVK, Restenoseprophylaxe nach Interventionen
Vasodilatation Die früher oft verwendeten ADP/ATP-Gemische und Xanthinolnicotinat sind wegen der bei ihrer Anwendung häufig auftretenden Umverteilungstörungen aus der Therapie der arteriellen Durchblutungsstörungen fast vollständig verschwunden und von den sog. Prostanoiden (Iloprost, Aprostadil) abgelöst worden. Prostanoide haben neben einer vasodilatatorischen auch eine thrombozytenaggregatioshemmende Wirkung, steigern die körpereigene fibrinolytische Aktivität und wirken antiinflammatorisch. Allerdings gibt es eine (je nach Land unterschiedliche) recht willkürlich wirkende Zulassungsproblematik mit Beschränkung (in Deutschland) auf die Thrombangitis obliterans für Iloprost und die Stadien III und IV der pAVK für Aprostadil. Die konsequente peri- und intraoperative Verwendung von Aprostadil verbessert die Frühergebnisse nach lokaler Intervention durch Reduktion des proinflammatorischen Effektes der mechanischen Gefäßwandbelastung durch Ballonkatheter und/oder Stents. Diese und alle anderen Anwendungen (z. B. intraarterielle Perfusion bei Gefäßspasmen) außer den oben genannten Zulassungen sind aber eindeutig Off-Label-Anwendungen.
Indikation. Symptomatische Therapie bei arteriellen Durchblutungsstörungen jeglicher Genese, prä-, intra- und postinterventionell.
Antiinflammatorische Therapie Neben den bereits erwähnten antiinflammatorischen Effekten der Statine und der Prostanoide bei atherothrombotischen Krankheitsbildern ist hier auf die große Bedeutung dieses Therapieprinzips bei der später zu besprechenden Behandlung primärer und sekundärer Vaskulitiden hinzuweisen.
Indikation: ▬ Statine: Bestandteil der Sekundärprävention, ▬ Prostanoide: perininterventionell, ▬ sonstige hochpotente Antiphlogistika: Vaskulitiden.
Viskositätssenkung durch niedrig dosierte Fibrinolyse Die Fibrinolyse in systemischer oder gar ultrahoher Dosierung wird bei der Therapie peripherer arterieller Durchblutungsstörungen kaum noch angewandt. Sie wurde ersetzt durch lokale Fibrinolysetherapien (s. unten).
Zahlreiche Arterienerkrankungen weisen ein hohes inflammatorisches Potenzial mit erhöhten Fibrinogenspiegeln auf. Da die Plasmaviskosität wesentlich vom Fibrinogengehalt bestimmt wird, führt dessen Reduzierung zu einer verbesserten Perfusion. Angestrebt wird mit dieser adjuvanten Therapie ein Fibrinogenspiegel von etwa 200 mg/dl. Dies gelingt mit einer niedrigen Dosierung (je nach Ausgangsfibrinogenwert Urokinase 300.000– 600.000 IE/d), die eine eigentliche Fibrinolyse nicht anstrebt. Blutungsprobleme sind nicht zu erwarten.
Indikation. Adjuvant bei der kritischen Extremitätenischämie (CLI) bei erhöhtem Fibrinogen.
Katheterverfahren Die über die Jahre vielfach modifizierten Katheterverfahren lassen sich im Grunde alle auf die vor über 30 Jahren von Grüntzig und Hoff inaugurierte Ballonangioplastie zurückführen. Katheterverfahren haben sich seitdem zum Teil in Konkurrenz, zum Teil auch in Ergänzung zur Gefäßchirurgie in fast allen Gefäßbereichen etabliert. In zunehmendem Maß werden auch Hybrideingriffe durchgeführt. Ergänzend zur reinen Ballonangioplastie ohne und mit Stenting oder Endoprothesenversorgung wurden diverse Möglichkeiten der chemischen oder physikalischen Behandlung längerer Arterienverschlüsse entwickelt (lokale Fibrinolyse, Ultraschallyse, Rotationsthrombektomie, Rotationsatherektomie u. a.). Die nach wie vor eklatante Restenose- bzw. Reverschlussproblematik führt zunehmend zu Versuchen der Kombination von Angioplastie mit lokalen pharmakologischen Behandlungsansätzen (»drug eluting balloons«, »drug eluting stents«). Die hohe Individualität des Einzelfalls bestimmt durch Stenose oder Verschluss, Länge des Verschlusses, Alter der Veränderung, Qualität des Verschlussmaterials, Qualität des Ein- und/oder des Ausstroms sowie die persönliche Erfahrung des Therapeuten führt zu einer individuellen Therapiestrategie, die sich einer regelhaften Darstellung nahezu entzieht. Dies gilt speziell auch für das auf mechanische Gefäßwandbelastungen besonders empfindlich reagierende Arteriensystem der oberen Extremität.
Indikation. »From neck to toe«, atherosklerotische Stenosen bzw. Verschlüsse, thrombotische Arterienverschlüsse; am Arm i. Allg. begrenzt auf die A. subclavia.
Retrograde transvenöse Perfusion Arterielle Verschlüsse distal des oberen Sprung- oder des Handgelenks entziehen sich weitgehend der gefäßchirurgischen oder interventionellen Therapie. Auch die »normale« intravenöse Verabreichung vasodilatatorischer oder fibrininolytischer Substanzen erreicht die verschlossenen akralen Gefäße nicht. Für diese Fälle bietet die retrograde transvenöse Perfusionstherapie einen Ausweg: Nach Herstellung einer »Bluttleere« – Anlegen eines suprasystolischen Staus bei erhobener Extremität – gelingt es durch eine entsprechend dosierte Substanzkombination aus Aprostadil und Heparin Wirksubstanzen (z. B. Fibrinolytika) auch transvenös an den Arterien der Hand oder des Fußes wirksam werden zu lassen und zu einer effektiven Fibrinolyse akraler Verschlüsse zu kommen. Dieses Verfahren kann auch in anderen Kombinationen, z. B. mit Antibiotika, zur Behandlung postokklusiv lokalisierter tiefer Infekte wie Phlegmonen und Abszesse der Hand oder des Fußes eingesetzt werden.
1369 49.2 · Spezielle Techniken
Ohne weitere Wirksubstanz ist es geeignet, eine enorme lokale Hyperämie zur Förderung der Wundheilung nach chirurgischen Eingriffen an der durchblutungsgestörten Hand zu erreichen. Der Einsatz gut gewebeverträglicher Substanzen ist dabei essenziell. Die Einwirkungszeit der Medikamentenkombination soll ca. 20 Minuten betragen. Die Behandlung kann sehr schmerzhaft sein und bedarf einer adäquaten analgetischen Begleittherapie. Bei wiederholter Anwendung ist vorübergehend mit deutlichen lokalen Ödemen zu rechnen.
Indikation. Distale bzw. akrale Arterienverschlüsse an Händen und Füßen.
Zelltherapie Bei der kritischen Extremitätenischämie (»critical limb ischemia«; CLI) der Beine (terminales Stadium IIb bis IV nach Fontaine, bzw. Grad 3/4 bis 6 nach Rutherford) besteht in ca. 25% der Fälle keine Möglichkeit der gefäßchirurgischen oder interventionellen Therapie. Entweder ist die primäre Gefäßsituation nicht geeignet oder die Patienten haben eine Vielzahl von Eingriffen hinter sich. Sie gelten als »ausbehandelt« und sehen früher oder später einer Amputation entgegen. Entsprechende Zahlen sind für die obere Extremität nicht vorhanden. Für diese Patienten kommt als Ultima Ratio die autologe Transplantation mononukleärer Knochenmarkzellen (landläufig als »Stammzelltherapie« bezeichnet) in Frage. Dabei werden aus dem patienteneigenen Knochenmarkblut separierte C34+- und C133+-Zellen postokklusiv teils intraarteriell, teils intramuskulär injiziert. Die bisherigen Erfahrungen sind ermutigend. Es kommt nicht nur zu einer Verbesserung des ABI (Ankle-Brachial-Index) und des transkutan gemessenen Sauerstoffpartialdrucks, sondern auch zu verbesserten Gehstrecken und zu beschleunigter Wundheilung. Überraschenderweise hat diese Therapie auch einen akut einsetzenden und lang anhaltenden antiphlogistischen Effekt. Insgesamt ist der Wirkmechanismus – nicht nur aufgrund des letztgenannten Befundes – noch so unklar, dass wir noch nicht von einer Stammzelltherapie sprechen.
Indikation. Interventionell oder gefäßchirurgisch nicht behandelbare CLI.
Operative Therapie Das Repertoire operativer Maßnahmen umfasst neben der indirekten Methode der Sympathektomie zur Gefäßerweiterung vor allem die verschiedenen Bypassverfahren im Bereich des Schultergürtels, die Embolektomie bzw. Thrombektomie und die Gefäßrekonstruktion (bei Aneurysmen und im Rahmen der Hammersyndrome). Die Skelettierungsoperation hat ihren Stellenwert bei den AVFisteln. Die Gefäße des Schultergürtels und des Oberarms sind der Angioplastie gut zugänglich. 49.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Im Wachstumsalter sind krankheitsbedingte Durchblutungsstörungen außerordentlich seltene Ereignisse. Nur der Morbus Raynaud (»primäres Raynaud-Syndrom«) ist in dieser Altersphase gelegentlich anzutreffen und ist, wenn überhaupt, Domäne der medikamentösen und allenfalls einer Gefäßtrainingstherapie.
49.2
Spezielle Techniken
49.2.1 Akute Durchblutungsstörungen Akute Gefäßverschlüsse entstehen einmal als Folge von Unfällen, wenn es zu direkten Gefäßverletzungen kommt, oder indirekt bei Frakturen mit Gefäßbeteiligung. Aufgrund von Gefäßerkrankungen entstehen akute Verschlüsse auf dem Boden der Arteriosklerose als Thrombose oder, ausgehend von Aneurysmen oder Herzerkrankungen, als Embolie. Die Symptomatik des akuten Gefäßverschlusses ist folgende: Man findet peripher eine Pulslosigkeit, Blässe der Extremität, Muskel- und Nervenfunktionsstörungen und Schmerzen (umschrieben mit den 5 P (»pulsless, pale, paralysis, paraesthesia, pain«). Schnell macht sich zudem ein Temperaturunterschied zur gesunden Seite bemerkbar. Bei den akuten Gefäßverschlüssen unterscheidet man: ▬ Gefäßverletzungen ▬ Embolien ▬ Thrombosen > Akute Gefäßverschlüsse müssen notfallmäßig versorgt und wenn möglich beseitigt werden. Immer ist man bei diesen Verletzungen unter Zeitdruck, da jede Verlängerung der Ischämiezeit die Gefahr schwerer Kompartementsyndrome und damit unwiederbringlicher Gewebeschäden bedeutet. Wegen der Muskelmasse muss die Ischämiezeit unter 6 Stunden gehalten werden – anders als bei Fingern, wo Replantationen auch nach 24 Stunden noch erfolgreich sein können.
Die Therapie des akuten Gefäßverschlusses richtet sich nach der Ursache. Das verletzte Gefäß wird chirurgisch wiederhergestellt (Naht oder Verschluss der Gefäßöffnung unter Verwendung eines Venenstreifens) oder die geschädigte Gefäßstrecke wird ersetzt. Verschlüsse durch einen Embolus oder Thrombus können bis zur Unterarmetage chirurgisch rekanalisiert werden (Thrombektomie, bevorzugter Zugang: Ellenbeuge), weiter peripher gelegene Verschlüsse sind der Katheterthrombolyse zugänglich. Für Fingerarterienverschlüsse kann die Sympathektomie eventuell die einzige Möglichkeit sein, akut die Durchblutungssituation der Fingerspitze zu verbessern. Oft beobachtet man, dass Embolien immer wieder den Weg in die gleiche Gefäßprovinz finden. Deswegen ist nach Beherrschung der akuten Situation die Erkennung und Sanierung des Embolusstreuherdes vordringlich. Das kann chirurgische (Sanierung eine Subklaviaaneurysmas) oder medikamentös-intersistische Maßnahmen (Senkung des Risikos der Thrombusbildung bei Vorhofflimmern) erfordern. > Unmittelbar postoperativ ist das Hauptaugenmerk auf die mögliche Entwicklung eines Kompartment-Syndroms zu richten. Frühzeitige und vollständige Eröffnung der betroffenen Faszienräume ist unabdingbar.
Insbesondere bei Gefäßverletzungen, bei welchen es sich in der Regel um die »Reparatur« an gesunden Gefäßen handelt, ist die Gefahr der Anastomosenthrombose und damit des Reverschlusses gering. Eine Schutzbehandlung mit einem Thrombozytenaggregationshemmer bis zu Endothelialisierung der Anastomosenstelle ist aber anzuraten. Anders nach der chirurgischen Behandlung eines thrombotischen Gefäßverschlusses: Hier bleibt die Ursache – nämlich die Wandschädigung – bestehen. Die Vorbeugung von erneuter Thrombosenbildung mit entsprechender Steuerung der Blutgerinnungsfaktoren ist also obligat.
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
Gefäßverletzungen
Embolie
Gefäßverletzungen entstehen bei totalen und subtotalen Amputationen, bei Unfällen mit penetrierenden (meist scharfen) Gegenständen (Messer-, Stich- oder Schussverletzungen) oder als Begleitverletzungen bei Frakturen (vor allem epikondyläre Frakturen) oder Luxationen (Schulter, Ellbogen, sehr selten Hand- oder Fingergelenke). Die schwerste Gefäßverletzung entsteht im Rahmen von Abtrennverletzungen (subtotale oder totale Amputationsverletzungen) insbesondere, wenn es sich um Abquetschungen handelt. Das begleitende Weichteiltrauma und seine Beherrschbarkeit entscheiden den Therapieerfolg. Direkte Gefäßverletzungen zeigen sich durch die Zeichen arterieller Blutung und peripherer Mangelversorgung. Als Begleitverletzung bei Knochenbrüchen beobachtet man Gefäßverletzung an der oberen Extremität vor allem bei der epikondylären Fraktur des Kindes und beim Schulter- oder Oberarmbruch speziell bei Motorradunfällen, bei denen dann oft auch Plexusstrukturen in Mitleidenschaft gezogen sind. Die kindliche epikondyläre Fraktur ist deswegen gefährlich, weil die begleitende Gefäßverletzung nicht gleich offensichtlich sein muss (keine Blutung nach außen wegen sehr wirksamer spontaner Blutstillung durch Einrollen der Intima, keine periphere Mangelversorgungszeichen wegen der ausreichenden Kollateralisierung); zudem kann die Verletzung auf mehreren Etagen lokalisiert sein. (⊡ Abb. 49.8) Wenn die Endstrecke der a. brachialis durch eine solche Fraktur Schaden nimmt, ist meist auch der n. medianus involviert; nicht selten führt dessen Symptomatik zur Revision, bei welcher die Gefäßbeteiligung entdeckt wird. Luxationen erzeugen nicht selten Gefäßverschlüsse durch Kompressionen. Erst wenn nach der Reposition die periphere Durchblutung gestört bleibt, muss eine weitere Diagnostik erfolgen. Eine Gefäßdarstellung ist immer zu empfehlen, da bei Dehnungstrauma Gefäßschäden an entfernter Lokalisation möglich sind, was bei der Exposition dann berücksichtigt werden kann.
> Das Herz ist auch für die obere Extremität die häufigste Emboliequelle.
Dass die Embolisation in die Gefäße der Beine weit öfter vorkommt, hat vor allem anatomische Gründe: Thromben schwimmen im schnelleren zentralen Blutstrom, da hier gemäß dem Bernoulli-Gesetz der geringere Druck herrscht, sie werden also nicht etwa der Fliehkraft entsprechend an der Außenwand der Gefäßkrümmung entlang geschwemmt, was sie in die großen Gefäßabgänge des Aortenbogens befördern würde, sondern sie folgen dem Zentralstrom bis zur Aortengabel und damit in die untere Extremität. Dies gilt jedoch nur für laminare Strömungsbedingungen, die bei der sklerotischen Gefäßwand nicht mehr vorliegen. Hier sorgen Verwirbelungen für zufällige Verteilung der Thromben, die aber den einfacheren Weg weitgehend geradeaus in die Karotisstromgebiete leichter finden, als in die Arme. Das erklärt die häufigere Manifestation der Embolieerkrankung an den Beinen und im Karotisstromgebiet. Nur aus Aneurysmen der Subklavia streuen Thromben obligat in die Arme bzw. Hände, weswegen bei akuten peripheren Verschlüssen hier immer nach dieser Streuquelle gesucht werden muss. Die arterielle Embolie trifft in der Regel einen zuvor gesunden Abschnitt des Gefäßsystems und führt bei deshalb fehlenden präformierten Kollateralen zum kompletten Ischämiesyndrom. > Zu Planung und Durchführung der Therapie gilt eine 6-Stundengrenze, deren Überschreitung zu irreversiblen Schäden führen kann.
Therapie der Wahl ist die chirurgische Embolektomie. In Einzelfällen kann eine Katheterembolektomie erfolgreich sein (⊡ Abb. 49.9). Postoperativ bzw. postinterventionell ist die Identifizierung und Sanierung der Emboliequelle erforderlich. Bei Mikroembolien im Rahmen eines Thoracic-Outlet-Syndroms steht die symptomatische Therapie mit Prostanoiden im Vordergrund. Die Sanierung
b
⊡ Abb. 49.8 A.-brachialis-Schaden 2-etagig bei epikondylärer Fraktur. a Präoperative digitale Subtraktionsangiografie kranial: Intimaschaden mit Thrombusbildung, distal thrombotischer Verschluss, b intraoperativer Situs nach Eröffnung der A. brachialis, c intraoperativer Situs nach Gefäßrekonstruktion nach Revision mit Venenstreifen
a
c
1371 49.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 49.9 Per Katheteraspiration entfernter Embolus
der Emboliequelle im Bereich der supraortalen Äste im Bereich der oberen Thoraxapertur ist zwingend.
Nachbehandlung. Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten.
Thrombosen Thrombosen entstehen auf dem Boden von Gefäßwandschäden durch Arteriosklerose oder entzündlichen Veränderungen oder bei Schädigung der Intima durch (stumpfe) Traumen oder iatrogen z. B. durch Herzkatheterismus oder arterielle Blutdruckmessung. Bei der akuten arteriellen Thrombose liegt in der Regel ein atherosklerotisch bereits geschädigtes Gefäßsystem mit Stenosen vor, sodass die vorbestehenden Kollateralen die Symptomatik mindern. Folge der akuten arteriellen Thrombose bei Atherosklerose ist daher meist eine inkomplette Ischämie. Das dadurch vergrößerte Zeitfenster erlaubt eine optimale Therapieplanung, wobei gefäßchirurgische Maßnahmen im Vordergrund stehen. Bei lokaler oder allgemeiner Inoperabilität kann ein Versuch mit einer Aspirationsthrombektomie oder mit lokalen Fibrinolyseverfahren gemacht werden. Während Kathetertherapien im Verlauf der A. subclavia und der proximalen A. axillaris gut toleriert werden, reagieren die weiter distal folgenden Gefäßabschnitte des Armes auf den mechanischen Reiz des Katheters sehr empfindlich in Form einer zuweilen therapieresistenten Spastik mit zusätzlich deszendierender lokaler Thrombose. Ist die lokale Thrombose Folge einer wie auch immer indizierten länger dauernden lokalen Kathetereinlage (A. brachialis, A. radialis), ist die chirurgische Thrombektomie Methode der Wahl.
Nachbehandlung. Thromozytenaggregationshemmer. 49.2.2 Chronische Durchblutungsstörungen
Periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) Die periphere arterielle Verschlusskrankheit manifestiert sich 3-mal häufiger an der unteren Extremität als an Arm und Hand. Das hat zum einen den Grund, dass sich die Arteriosklerose in den Gefäßen unterhalb der Nierenarterienabgänge stärker ausbildet – wofür man die Ursache nicht kennt – zum anderen kompensieren die speziellen anatomischen Gegebenheiten mit Verbindungen der Unterarm-Hauptarterien im Bereich der Hand (Hohlhand-
bögen) und an den Fingern Verschlüsse und lassen sie meist nur unter besonderen Umständen symptomatisch werden. Die Arteriosklerose ist durch Veränderungen in der Tunika intima charakterisiert, die durch Einlagerung von Lipiden und anderen Blutbestandteilen zur Verhärtung der Gefäßwand und Einengung des Lumens führen. Absolut gesicherte Kenntnisse über den Entstehungsmechanismus der Wandverkalkung existieren noch nicht. Im Gegensatz zur Erkrankung an der unteren Extremität, wo beim Laufen eine Durchblutungsinsuffizienz mit Schmerzen bemerkbar wird, entdeckt man kurzstreckige Stenosen oder Verschlüsse am Arm wegen der guten Kollateralisierung meist nur zufällig. Erst wenn erhöhter Bedarf besteht, z. B. zur Heilung nach Operationen oder – besonders deutlich – nach Anlage eines Shunts für eine Dialyse (⊡ Abb. 49.2a) wird die relative Mangelversorgung erkennbar. Die pAVK der Arme zeigt die gleiche klinische Symptomatik wie im Bereich der unteren Extremität: Einem asymptomatischen Stadium (Stadium I) folgen Belastungsbeschwerden (z. B. vorzeitige Ermüdbarkeit) bei muskulärer Arbeit (Stadium II), es können Ruheschmerzen (Stadium III) und Nekrosen (Stadium IV) folgen. Belastungsabhängige Beschwerden treten zunächst bei Überkopfarbeiten auf (IIa) erst später bei normaler Armposition (IIb). Bei Überkopfbeschwerden muss auch an eine arterielles Kompressionssyndrom gedacht werden, zumal bei gleichzeitig auftretender venöser Rückflussstörung. Eine Sonderform stellt die Symptomatik bei Abgangsverschluss der linken A. subclavia dar. Da hier Kompensation über den Vertebraliskreislauf erfolgt, können zur vorzeitigen Ermüdbarkeit auch Schwindelprobleme auftreten. Abgangsnahe und im Verlauf der Aa.subclaviae liegende Stenosen und Verschlüsse können sowohl gefäßchirurgisch als auch katheterinterventionell behandelt werden.
Nachbehandlung. Thrombozytenaggregationshemmer, bei Stenting dual für mindestens 6 Wochen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die weiter peripher liegenden Arterien auf Kathetermanipulationen sehr empfindlich reagieren und sich nur eingeschränkt zur interventionellen Therapie eignen. Möglicherweise ist dies Ausdruck der Tatsache, dass sie bereits zu den peripheren Widerstandsgefäßen zu rechnen sind. Zur symptomatischen Therapie eigenen sich Prostanoide unter Antikoagulation. Bei Unterarmarterienverschlüssen, bei denen wegen bereits bestehender Nekrosen Amputationsgefahr besteht, kann die Zelltherapie ebenso wie an den unteren Extremitäten versucht werden (⊡ Abb. 49.10) Nachbehandlung. Thrombozytenaggregationshemmer. Die Diagnosestellung erfolgt mittels Angiografie, die neben der Ursache auch die genaue Lokalisation der Störung und eine Therapieplanung ermöglicht. Die beiden wichtigsten Gefäßerkrankungen an der oberen Extremität trotz der im Vergleich zum Bein deutlich geringeren Erkrankungszahl sind aber dennoch die Arterioklerose mit den beiden Erscheinungsformen der Durchblutungsinsuffizienz bei Muskelanstrengung oder dem akuten thrombotischen Verschluss und die Thrombendangitis obliterans. Verschlüsse im Schulter- und Oberarmbereich sind der rekonstruktiven Gefäßchirurgie zugänglich, entweder im Bypassverfahren oder als Katheterangioplastie. Die peripheren Manifestationen (Verkalkungen in den Unterarm- und Handgefäßen können so ausgeprägt sein, dass ein normales Röntgenbild alle Gefäße abbildet) benötigen selten eine Therapie.
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 49.10 Arterielle Durchblutungsstörung der linken Hand. a Ausgangsbefund, b 8 Wochen nach Zelltherapie
a
b
Nach Beseitigung der Strömungshindernisse zielt die postoperative Therapie auf die Erhaltung des Operationsergebnisses (Thrombozytenaggregationshemmung, Steuerung der Gerinnung), das Behandeln bzw. Ausschalten der Risikofaktoren für die Arteriosklerose (Hochdruck, Cholesterin) und die Kontrolle der Krankheitsentwicklung.
Funktionelle Durchblutungsstörungen Zu den funktionellen Durchblutungsstörungen zählen: ▬ Erythrozyanose, ▬ Erythromelalgie, ▬ Akrozyanose, ▬ Raynaud-Syndrom, ▬ Perniones sowie ▬ Fingerapoplexie bzw. Achenbach-Syndrom
Primäres Raynaud-Syndrom Unter Morbus Raynaud – auch primäres Raynaud-Syndrom genannt – versteht man heute eine rein funktionelle Störung der Gefäßregulation, bei welcher es zu anfallsweisem und scharf abgegrenztem Weißwerden der Finger kommt, gelegentlich kombiniert mit Taubheitsgefühl. Es ist das klassische vasospastische Syndrom, das anfallsartig, meist temperaturabhängig bei Kälteexposition auftritt. Andere auslösende Faktoren können emotionaler Stress und einschnürende Kleidung sein. > Betroffen sind immer symmetrisch die Finger II–V beider Hände, nie der Daumen (⊡ Abb. 49.11)
Klinisch liegt die typische »Tricolor-Symptomatik« vor: ▬ Weißverfärbung als Ausdruck der Vasospastik (Arteriolen, präkapilläre Sphinkteren), ▬ Blauverfärbung im Stadium der venösen Stase, ▬ Rotverfärbung als Ausdruck der den Anfall beendenden reaktiven Hyperämie. Es treten nie Schmerzen und nie Nekrosen auf. Die Zehen, die Nasenspitze und die Ohrläppchen können mit betroffen sein. In dieser Form wird die Krankheit als »primärer Raynaud« bezeichnet.
⊡ Abb. 49.11 Primäres Raynaud-Syndrom im Stadium der Vasospastik
Ursache ist eine ätiologisch ungeklärte sympathische Hyperreaktivität. Diese »Anfälle« können durch Kältereiz, aber auch durch psychische Irritationen, ausgelöst werden. > Die Diagnose »Morbus Raynaud« darf erst gestellt werden, wenn keine Hinweise für eine andere zugrunde liegende Krankheit gefunden werden konnten. Manche Autoren fordern, dass sie erst 3 Jahre nach Auftreten der Erstsymptomatik gestellt werden darf, da die Symptomatik anderen Manifestationen der Grunderkrankung gelegentlich so lange vorausgehen kann.
Der echte Morbus Raynaud ist eine Domäne der konservativen Therapie: Diese besteht aus Schutz vor Kälteexposition, adäquater Kleidung. Beheizbare Handschuhe können hilfreich sein. Physiotherapie in Form von Faustschlussübungen und lokalen Wechselbädern sind im Sinne eines aktiven und passiven Gefäßtrainings nützlich. Falls erforderlich erfolgt eine medikamentöse Therapie mit Nitroglycerinsalbe lokal oder mit niedrig dosierten Kalziumantagonisten, z. B. Nifedipin (Cave Hypotonie!). In schweren Fällen
1373 49.2 · Spezielle Techniken
⊡ Tab. 49.1 Differenzialdiagnose primärer versus sekundärer Morbus Raynaud Primär
Sekundär
Anfallsartig, symmetrisch Finger II-V (Zehen zu 40% mitbetroffen, selten Nasenspitze, Ohrläppchen) Tricolore Ohne Nekrosen und Schmerzen Normale Nagelfalzkapillaren Negative Serologie
Anfallsartig, asymmetrisch Auch Daumen mitbetroffen Im Verlauf Neigung zu Nekrosen Schmerzen
Ausgelöst durch Kälte Lokale Kompression Emotionalen Stress
⊡ Abb. 49.12 Sekundäres Raynaud-Syndrom im Stadium der venösen Stase auch am Daumen Handfläche mit betroffen (identifizierte Grundkrankheit: solider maligner Tumor)
Kälteabhängig im Rahmen von primären und sekundären Vaskulitiden Paraneoplasie Drogenkonsum: Heroin, Cannabis Ergotamin Arteriosklerose
Wegen dieser Vielfalt ist das diagnostische Programm umfangreich: Diagnostik bei V.a. Sekundäres Raynaud-Syndrom
ist eine symptomatische Therapie mit Aprostadil parenteral oder Sildenafil oral (»off label use«!) angezeigt.
Sekundäres Raynaud-Syndrom Bei anfallsartigen Durchblutungsstörungen der Akren, die die o.g. Kriterien nicht erfüllen (Symmetrie, kein Schmerz, keine Nekrose, Daumen nicht mit betroffen) muß ein »Sekundärer Raynaud« angenommen werden (⊡ Tab. 49.1, ⊡ Abb. 49.12). > Einem sekundären Raynaud-Syndrom liegt immer eine zu identifizierende Grundkrankheit zugrunde ( Übersicht).
Die sekundäre Raynaud-Symptomatik ist Ausdruck einer systemischen Grunderkrankung (⊡ Abb. 49.13) (Haut- oder Bindegewebserkrankungen wie Sklerodermie, Lupus erythematodes, endokrine, hämatologische und neoplastische Erkrankungen); sie kommt aber auch als Zeichen von Nebenwirkungen bei Medikamenten vor und bei allen im Folgenden abgehandelten Gefäßerkrankungen. Mögliche Grunderkrankungen, die zu einem sekundären Raynaud Syndrom führen (nach Ludwig, Rieger u. Ruppert 2010)
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Arteriosklerose Kollagenkrankheiten Mikroembolie Autoimmunerkrankungen Thrombangitis obliterans Polyneuropathie Polyzythämie; Hyperviskositätssyndrome Kälte-Wärme-Antikörper Morbus Wellerhoff Paraneoplasie Medikamentös-toxische Krankheiten Vibrationstraumen
▬ Faustschlussprobe und Kälteprovokationstest ▬ Labor – crP – Blutbild – Plasmaviskosität – Kälteagglutinine bzw. Kryoglobuline – Ggf. spezielle serologische Diagnostik (Vaskulitisserologie) ▬ Bildgebung – Kapillarmikroskopie – Duplexsonografie – (Thermografie) – Arteriografie nur bei dringendem Hinweis auf Gefäßverschlüsse ▬ Funktionsmessungen – Fingeroszillografie – Digitalarteriendrucke – transkutane O2-Messung
> Die funktionelle Störung beim primären Raynaud-Syndrom kann der Manifestation einer organischen Erkrankung um Jahre vorausgehen. Daher kann nach heutiger Forderung diese Diagnose erst dann als gesichert gelten, wenn über einen Zeitraum von mindestens 3 Jahren die Untersuchungsbefunde ( Übersicht) negativ geblieben sind. Andererseits bleiben selbst eindeutig pathologische Befunde zuweilen über einen längeren Zeitraum ätiologisch ungeklärt.
Basis der Therapie ist die Behandlung der Grunderkrankung, sobald man sie erkannt hat. Das kann aber für die Rettung der wegen der Durchblutungsstörung vital bedrohten Finger eventuell zu lange Zeit in Anspruch nehmen, sodass akut eingegriffen und symptomatisch behandelt werden muss. Symptomatisch ist bei entsprechenden Beschwerden eine intermittierende Therapie mit Aprostadil oder Iloprost sinnvoll. Antikoagulation mit ASS.
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
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c
a
⊡ Abb. 49.13 Akrale Durchblutungsstörungen bei essenzieller Thrombozytose (JAK2 V617F-Mutation) mit Nekrosen. a Klinischer Befund im Bereich der Hand, b Angiografie, c klinischer Befund im Bereich des linken Fußes, d histologischer Befund
b
»Bei Auftreten umschriebener akraler Nekrosen ist eine chirurgische Therapie in Form der thorakalen Sympathektomie nach wie vor die überlegene Behandlungsmethode«. Dieser Satz aus Vollmars »Rekonstruktiver Chirurgie der Arterien« (letzte Auflage 1996) unterstreicht die Wichtigkeit und die unitäre Stellung der Sympathektomie zur Rettung vital bedrohter Gliedmaßenabschnitte bei diesen Erkrankungen. Keine andere Maßnahme vermag so schnell und so entscheidend die prekären Durchblutungsverhältnisse zu verbessern und gibt so zuverlässig einen Zeitgewinn, bis zum Greifen medikamentöser Maßnahmen. »Im Stadium III und IV dieses Krankheitsbildes (also bei drohender oder manifester Nekrose) sind die Behandlungsergebnisse in jeder Hinsicht überzeugend«. Voraussetzung ist die richtige Indikation und eine suffiziente Technik: Die Ganglien Th2 und Th3 müssen entfernt bzw. ausgeschaltet werden. Ob hierzu der endoskopischen (von Kux 1960 eingeführt) oder der offenen Technik der Vorzug gegeben wird, ist nicht entscheidend. Postoperativ ist die verbesserte Durchblutung der Haut unmittelbar (noch auf dem Operationstisch) zu spüren: Die Hand ist trocken (mit der Sympathektomie wird auch die Schweißsekretion ausgeschaltet) und deutlich wärmer. Die damit erreichte Mehrdurchblutung reicht immer aus, die drohende Nekrose abzuwenden. Gelegentlich braucht die Haut, die wegen der Trockenheit zu vermehrter Schuppung neigen kann, dermatologisch betreute Mitbehandlung. Gleichzeitig muss in Zusammenarbeit mit dem Angiologen die Therapie der Grunderkrankung einsetzen, denn die Wirkung der Sympathektomie verringert sich im Laufe von 1–2 Jahren durch eine enorme Regenerationstendenz der sympathischen Fasern. Das Hauptproblem der thorakalen Sympathektomie ist die falsche Indikationsstellung: Wenn die kollateralen Gefäße nicht reagibel sind, kann die Sympathektomie nicht wirken. Das ist bei manchen Formen der Sklerodermie der Fall (CREST-Syndrom). Hier ist eine Testung durch medikamentöse Sympathikusblockade unerlässlich, um zuvor probeweise die Wirksamkeit zu prüfen.
d
Ebenfalls unwirksam muss die Sympathektomie bleiben, wenn die Grunderkrankung durch Mitbeteiligung des Nervensystems (Polyneuropathie) bereits eine starke Verminderung der Sympathikuswirkung erzeugt hat (Diabetes). Und schließlich ist die Sympathektomie dann gefährlich, wenn sie bei zentralen Strömungshindernissen angewendet wird: Dann gibt es eine paradoxe Reaktion, indem der Druck, der durch die zentrale Stenose reduziert ist, bei Öffnung der Peripherie so stark abfällt, dass eine vital bedrohliche Minderperfusion der ganzen Extremität resultieren kann.
Vaskulitiden Vaskulitiden stellen ein recht unübersichtliches Kapitel angiologischer Pathologien dar. Letztendlich beruht die Diagnose einer Vaskulitis fast immer auf einer Zusammenschau von Symptom, Lokal- und Allgemeinbefund, Allgemeinzustand des Patienten (z. B. B-Symptomatik), Immunserolgie, bildgebender Diagnostik und Histologie. Zur Systematisierung sind diverse Klassifikationen, z. B. Chapell-Hill-Consensus, Klassifikation nach ACR-Kriterien und Diagnostik-Algorithmen der EMEA, hilfreich. Zu unterscheiden sind primäre und sekundäre Vaskulitiden.
Primäre Vaskulitis Primäre Vaskulitiden sind ebenso zahlreich wie meist selten. Die Einteilung erfolgt nach Befallsmuster und/oder nach immunpathogenetischen Grundsätzen. Es können große, mittelgroße und kleine Gefäße beteiligt sein (⊡ Tab. 49.2) In der Therapie der Vaskulitiden sind potente Antiphlogistica führend: ▬ nichtsteroidale Antirheumatika, ▬ Glukokortikoide, ▬ Metotrexat, ▬ Azathioprin, ▬ TNF-α-Hemmer, ▬ Cyclosporin und seine Analoge, ▬ Immunglobuline sowie die ▬ Plasmapherese.
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⊡ Tab. 49.2 Zusammenschau der primären und sekundären Vaskulitiden nach Befallsmuster und immunpathogenetischem Befund Betroffen
Primäre Vaskulitis
Sekundäre Vaskulitis
Große Arterie
Riesenzellarteriitis Morbus Takayasua
Bakterielle Infektion (Lues) Rheumatoide Arthritis Sjögren-Syndrom
Mittelgroße Arterie
Periarteriit nod.b/c Morbus Kawasaki
Hepatitis B/C A-Streptokokken
Kleine und mittelgroße Gefäße
Morbus Wegenerc Churg-Strauss-Syndrom
Rheumatische Erkrankungen Infektionen (HIV)
Kleine Gefäße
Gemischte Kryoglobulinämie Leukozytoklastische Angiitis
Medikamente (Hydralazin)
a
Periphere Seromarker negativ Komplement-verbrauchend peripher, Immunkomplexdepot in situ c ANCA ass. (peripher) pauci-immun in situ b
Für primäre Vaskulitiden sind diverse Therapieprotokolle eingeführt: ▬ Fauci-Schema, ▬ intensiviertes Fauci-Schema, ▬ Austin-Schema und ▬ Metotrexat-Schema. Allen vaskulitischen Erkrankungen ist gemeinsam, dass auch bei geeigneter Lokalisation eine angiologisch-interventionelle Therapie kontraindiziert ist. Gefäßchirurgische Maßnahmen mögen im Einzelfall indiziert sein. Bei Bedarf Prostanoide zusätzlich, ggf. Thrombozytenaggregationshemmer
⊡ Abb. 49.14 Sog. »Rattenbissnekrose« bei Sklerodermie
Sekundäre Vaskulitis Während sekundäre Gefäßentzündungen in der Folge von anderweitigen Grundkrankheiten auftreten, sind primäre Vaskulitiden entzündliche Krankheiten der Gefäße selbst, wenn auch durchaus mit Folgeerscheinungen an anderen Organen (⊡ Abb. 49.14). Eine Vielzahl immunologischer Erkrankungen kann unter sekundärer Gefäßbeteiligung ablaufen: ▬ systemischer Lupus erythematodes, ▬ Sklerodermie, ▬ rheumatoide Arthrititis, ▬ Sjögren-Syndrom, ▬ Morbus Crohn, ▬ biliäre Zirrhose u. a. Infektionskrankheiten unter Gefäßbeteiligung im Sinne der sekundären Vaskulitis sind z. B. ▬ Streptokokkeninfekte, ▬ Hepatitis B und C, ▬ Lues, ▬ Mykobakterien, ▬ Borreliose, ▬ HIV und ▬ Aspergillose. Von den Malignomen sind zu nennen: ▬ solide Tumoren, ▬ Haarzell-Leukämie, ▬ Lymphome und ▬ Gammopathien.
Intoxikationen (z. B. Kokain und Morphin) sind ebenso zu nennen wie zahlreiche Medikamente, ionisierende Strahlen und Traumen. Im Vordergrund der Therapie steht stets die Behandlung der Grundkrankheit bzw. die Ausschaltung der ursächlichen Noxe.
Thrombangitis obliterans (TAO) Die Thrombangitis obliterans (TAO) ist eine durch entzündliche Veränderungen der Intima gekennzeichnete Verschlusserkrankung, vornehmlich der mittleren und kleineren Extremitätengefäße. Selten sind auch Organgefäße betroffen. Eine ganz genaue Abgrenzung gegenüber der Arteriosklerose ist nicht immer möglich. Während lange Zeit eine spezielle Reaktion auf Nikotin angeschuldigt wurde, die nur beim männlichen Geschlecht vorkäme, wird die TAO zunehmend auch bei Raucherinnen beobachtet. Wichtigster Hinweis für die Diagnose sind typische Veränderungen der Gefäßmorphologie in der Angiografie und spezifische histologische Veränderungen in den betroffenen Gefäßen. Als pathognomonisch gilt die korkenzieherförmige Deformierung der Kollateralen (⊡ Abb. 49.15; ⊡ Abb. 49.16). Eine ungezielte Biopsie ist aber unergiebig, da im Gegensatz zu anderen Angiitiden die Veränderungen nicht in allen Gefäßen gefunden werden. Die Therapie erfordert eine strikte Nikotinkarenz und erfolgt im Übrigen symptomatisch mit Iloprost oder Aprostadil unter Antikoagulation mit ASS. Für die Zelltherapie scheinen nach unseren bisherigen Befunden in Übereinstimmung mit der Literatur TAO-Patienten besonders geeignet zu sein.
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 49.15 Perlschnurartige Darstellung einer großen Kollaterale bei TAO infolge korkenzieherartiger Deformierung des dargestellten Gefäßes
Bei akut amputationsbedrohten Fingern kann nur die Sympathektomie eine rettende Gefäßerweiterung bewirken; sie ersetzt aber nicht den Rauchverzicht und muss mit einer medikamentösen durchblutungsfördernden Therapie (Hämodilution, Gefäßerweiterung, Gerinnungshemmung, Kollateralisierungsförderung) ergänzt werden. Bypassverfahren, die nur bei Manifestation an größeren Gefäßen diskutiert werden, sind umstritten. Die postoperative Therapie zielt auf die Wirkung durchblutungsverbessernder Medikamente ab. Den Krankheitsprozess selbst scheint man bis heute nicht beeinflussen zu können, allenfalls kann das strikte Aussetzen der Nikotinexposition einen Stillstand der Gefäßveränderungen bewirken. Vor Durchführung einer Sympathektomie muss eine Stenose größerer vorgeschalteter Gefäßstrecken ausgeschlossen sein, da sonst eine paradoxe Reaktion zu massiver Durchblutungsverschlechterung führt: Der nach der Sympathektomie verringerte periphere Fließwiderstand führt zu bedrohlichem Druckabfall mit Mangelversorgung der ganzen Extremität.
Aneurysmen Arterielle Aneurysmen sind in der Armstrombahn meist Folge der kontinuierlichen mechanischen Belastung durch Engesyndrome. Als mögliche Ausgangspunkte für periphere Embolien müssen sie ausgeschaltet werden. In der Regel wird dies gefäßchirurgisch geschehen, wenn auch grundsätzlich ein Stenting mit einem gecoverten Stent möglich ist. Die verursachende Enge muss beseitigt werden. Generell unterscheidet man falsche von echten Aneurysmen.
Aneurysma spurium. Die Wandstruktur des falschen Aneurysmas besteht aus Narbengewebe, sie enthält keine typischen Gefäßwandbestandteile. Falsche Aneurysmen entstehen aus Wandverletzungen der Arterie, aus denen Blut austritt, welches sich in das perivaskuläre Gewebe ergießt und sich mit einer Vernarbungskapsel umgibt. Bleibt dieser Raum durchströmt, entwickelt sich das falsche Aneurysma (⊡ Abb. 49.17).
⊡ Abb. 49.16 Fingernekrose bei TAO
Erste ermutigende Berichte liegen zur Behandlung mit Immunadsorption vor. Gefäßoperationen sind bei TAO mit Einschränkung möglich, Katheterinterventionen werden mit einem akuten Aufflammen entzündlicher Prozesse beantwortet und sind daher kontraindiziert. Manifeste Nekrosen an den Fingerspitzen zwingen zur Therapie, die in erster Linie in einer Verbesserung der Durchblutung bestehen muss. Erst nach Ausschöpfen aller Möglichkeiten hierfür ist eine Heilung nach einer Grenzzonenamputation möglich. Ohne vorgängige Verbesserung der Durchblutung wird hieraus eine »Salami-Taktik« mit immer weiter nach proximal versetzter Amputationsebene. Bei infizierten Nekrosen muss vorgängig oder gleichzeitig mit der Durchblutungsverbesserung eine Infektsanierung durch Abtragen der Nekrosen und Öffnen aller Eiterverhaltungen erfolgen. Die offene Amputation in der Grenzzone hat erst nach Infektsanierung und Verbesserung der Durchblutung eine Heilungschance > IRA-Prinzip: Infektsanierung, Revaskularisation, Amputation. Grundpfeiler der Therapie ist die strikte Nikotinabstinenz, die aber gelegentlich schwer zu erreichen ist.
Echtes Aneurysma. Beim echten Aneurysma liegt demgegenüber eine lokal begrenzte Ausweitung des Gefäßlumens vor. Seine Wand besteht also aus normalen Gefäßwandschichten. Ein Aneurysma hat erhebliche strömungsrelevante Folgen: Die laminare Strömung wird gestört, es kommt zu Verwirbelungen, Thrombenbildung und weiterer Wandverdünnung. > Aneurysmen an der oberen Extremität sind selten. In der Regel sind sie Folge von akuten (direkte Gefäßverletzungen) oder chronischen Schädigungen.
Aus direkten Gefäßverletzungen können sich falsche Aneurysmen entwickeln oder – bei gleichzeitiger Venen- und Arterienverletzung – arteriovenöse Fisteln. Zwei Formen der chronischen Schädigung entwicklen Aneusysmen: zum einen die chronische partielle Kompression, wie z. B. beim vaskulären TOS, bei welchem sich poststenotisch ein Aneurysma entwickelt (⊡ Abb. 49.20); zum anderen als spezielle Gefäßreaktion auf wiederholtes Anschlagtrauma, wie beim HypothenarHammersyndrom (⊡ Abb. 49.21). Entsprechend der Ätiologie kommen Aneurysmen an der A. radialis als Folge von arterieller Druckmessung oder anderweitiger iatrogener Verletzung (Arterienpunktion) vor – hier meist als falsche Aneurysmen (⊡ Abb. 49.18). Am Hypothenar beobachtet man Aneurysmen im Verlaufe der distalen A. ulnaris als Folge der mechanischen Überlastung beim
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⊡ Abb. 49.17 Aneurysma spurium der A. subclavia 6 Wochen nach Anlage eines zentralen V.subclavia-Katheters. a Klinischer Aspekt mit präpektoraler Schwellung, b Doppler-sonografischer Befund, c angiografischer Befund vor und nach chirurgischer Therapie
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Hammersyndrom (⊡ Abb. 49.21). Partielle Gefäßrupturen können überall entstehen, bevorzugt ist aber jeweils die Gelenknähe (Ellbogen, Schulter), wo Dehnungstraumen der Arterien anlässlich von (Sub-) Luxationen Teileinrisse erzeugen, die als falsche Aneurysmen »heilen« können. Aneurysmen machen sich entweder durch ihre Raumforderung bemerkbar (vor allem im Bereich der distalen A. radialis), deswegen sind sie an der oberen Extremität auch häufig mit Nervenkompressionserscheinungen (Gefühlsstörungen) kombi-
⊡ Abb. 49.18 Falsches Aneurysma der A. radialis nach Punktion. a Darstellung des Aneurysma, b Isolierung mit der speisenden Arterie, c Abtrennung des Aneurysmas von der A. radialis
niert. Andererseits hat ein Aneurysma Durchblutungsstörungen zur Folge: Diese können bedingt sein durch sekundären thrombotischen Verschluss (Hammersyndrom) oder durch periphere Embolisation. Besonders die poststenotischen Aneurysmen der A. subclavia manifestieren sich häufig durch periphere Embolisierungen. Wegen der erheblichen Komplikationsmöglichkeiten sollten Aneurysmen beseitigt werden. Nur kleine Ausweitungen oder komplett thrombosierte Aneurysmen bedürfen keiner Therapie.
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
Das Aneurysma ist die diagnostische Domäne der Ultraschalluntersuchung. Hiermit ist heute die Aneurysmaausdehnung, Wandbeschaffenheit, Thrombusgehalt und Durchströmungsanteil zu ermitteln. Die chirurgische Behandlung eines falschen Aneurysmas erfolgt in drei Schritten: Zuerst wird die Arterie dargestellt, aus der es hervorgeht, und zwar proximal und distal des Aneurysmas. Damit ist beim Abtragen des Aneurysmas die Blutungskontrolle gewährleistet. Danach wird das Aneurysma möglichst bis zum Leck in der Arterie herauspräpariert und entfernt. Als letzter Schritt erfolgt die Rekonstruktion der Arterie, welche selten durch direkte Naht erfolgen kann, sondern meist einen Venenpatch zum Verschluss benötigt. Das echte Aneurysma wird reseziert und die betroffene Gefäßstrecke mit einem geeigneten Interponat ersetzt. Die postoperative Therapie entspricht derjenigen aller anderen Gefäßrekonstruktionen. Mit der Beseitigung des Aneurysmas ist die Thrombusgefahr gebannt, nach Abheilen der Anastomosen ist dann keine weitere Therapie mehr erforderlich. Je größer ein Aneurysma ist, desto höher ist die Perforationsgefahr: Die Wanddicke nimmt ab, aber mit der Größe nimmt der Druck auf die Wand zu. Wegen der meist engen Nachbarschaft zur Vene können insbesondere falsche Aneurysmen in die Vene einbrechen und so eine A-V-Fistel bilden mit allen Folgen für die lokale Durchblutung und den Gesamtkreislauf.
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Vaskuläre Kompressionssyndrome An zwei Stellen ist der Gefäßbaum der oberen Extremität möglicher Kompression bei anatomischen Anomalien ausgesetzt: in der kostoklavikulären Passage und in der Region der Ellbeuge.
Thoracic-Outlet-Syndrom Obwohl die klinisch relevante vaskuläre Beteiligung beim ThoraxOutlet-Syndrom mit etwa 3% selten ist, ist dieses Krankheitsbild wegen der markanten Klinik (Embolie) und wegen einer (eigentlich ebenfalls seltenen) Ursache, nämlich der Halsrippe, schon seit fast 200 Jahren bekannt (Erstbeschreibung 1821). Die chronische Einengung der Arterienpassage führt zu Strömungsverwirbelung mit Schwirren und Wandzerrüttung, und damit zu einer Aneurysmabildung, in welcher sich Thromben ansetzen, die in die Peripherie embolisieren (⊡ Abb. 49.19). Chronisch intermittierende Unterbrechungen des venösen Rückstroms könnten wesentliche Mitursache einer Armvenenthrombose sein (Paget-von-Schroetter-Syndrom) (⊡ Abb. 49.20). Meist liegen dem TOS Bandanomalien zugrunde, die im Einzelnen von Roos genau analysiert wurden. Seltener sind ossäre Anomalien (Halsrippe, Pseudarthrose der 1. Rippe). Auch sehr kurze Halsrippenstummel können Hinweis für eine TOS-Ursache sein, denn diese Stummel enden oft nicht blind, sondern haben eine muskuläre oder ligamentäre Fortsetzung, die bis weit nach ventral reichen und Kompressionen auf Plexus und Gefäße erzeugen kann. Wenn sie an den Innenrand der 1. Rippe ansetzen, findet sich hier oft eine ausgeprägte Skalenuszacke ( Kap. 56). > Eine vaskuläre Manifestation eines TOS ist eine absolute Operationsindikation.
Das Aneurysma muss beseitigt (Resektion und Gefäßstreckenersatz mit Veneninterponat) und die Kompression aufgehoben werden (Entfernung der Bandanomalien und Teilresektion der 1. Rippe). Auch wenn die eigentlich komprimierende Struktur ein Band oder eine Halsrippe ist, ist ohne die gleichzeitige Wegnahme eines Teils der 1. Rippe die Rezidivquote hoch und die unbefriedigende Rückbildung der fast immer begleitenden nervalen Störungen häufig.
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c ⊡ Abb. 49.19 Vaskuläres Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) – arterielle Seite. a Präoperatives Röntgenbild: Halsrippe links, b präoperative digitale Subtraktionsangiografie: Kompression der A. subclavia und poststenotischer Aufweitung, c intraoperativer Situs mit Thrombus im Aneurysma
Da alle Probleme kranial der 1. Rippe lokalisiert sind, ist es naheliegend, den übersichtlichen supraklavikulären Zugang zu wählen, um die Revision, die Befreiung des Plexus brachialis und die Resektion der 1. Rippe vorzunehmen. Von hier ist auch jede allenfalls nötige Gefäßrekonstruktion oder der Gefäßersatz (meist als Carotis-communis-Subklavia-Bypass) möglich. Das erlaubt der von Roos propagierte transaxilläre Zugang nicht, der zudem unübersichtlicher ist und eine höhere Komplikationsquote aufweist. Die Operation erfolgt in halbsitzender Rückenlage mit rekliniertem Kopf. Der Schnitt liegt in der Winkelhalbierenden zwischen
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> Der Schlüssel der kompletten Dekomprimierung ist die Isolierung und Entfernung der 1. Rippe, welche immer die kaudale Begrenzung jeder Passageeinengung darstellt.
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Mit deren Entfernung sind alle an ihr ansetzenden Bänder und Muskeln gelöst und die Gefäße und Nerven haben Platz, nach kaudal auszuweichen. Die Befreiung der Vena subclcavia in der oberen Thoraxpassage erfolgt in der Regel in gleicher Technik unmittelbar nachdem der thrombotische Verschluss durch Katheterthrombolyse aufgelöst wurde, um erneuten Thrombenbildungen vorzubeugen ( Kap. 56). Eine spezielle postoperative Therapie ist für die arteriellen Kompressionssyndrome nach der operativen Beseitigung des Hindernisses nicht erforderlich. In der Nachsorge der TOS-Operation erscheint wichtig, dass durch die oft zu beobachtende Narbenverhärtung 6–8 Wochen postoperativ besonders die nervalen Symptome (Einschlafen der Finger) noch einmal vorübergehend auftreten können. Eine gute Narbenbehandlung mit Massage, Ultraschall und Wärmeanwendungen beseitigt das Problem in der Regel dauerhaft. > Das Paget-von Schroetter-Syndrom benötigt eine suffiziente Thromboseprophylaxe.
Beschränkt man sich bei der Behandlung des TOS auf die Entfernung der unmittelbar erkennbaren komprimierenden Struktur (Bandanomalie, aberrierende Muskelansätze, Halsrippe), ist die Gefahr groß, dass sich begleitende neurologische Symptome nicht befriedigend zurückbilden. Wegen der nicht vermeidbaren Narbenbildung ist es ratsam, mehr Platz zu schaffen, als eigentlich benötigt wird, indem man die 1. Rippe im mittleren Anteil (da, wo Gefäße und Nerven passieren) immer reseziert. b
A.-brachialis-Kompressionssyndrom Muskel- oder Bandanomalien sind auch als Ursache des sehr seltenen Kompressionssyndroms der distalen A. brachialis in der Ellbeuge gefunden worden. Das Krankheitsbild macht sich mit intermittierenden Ischämien oder mit einem akuten Gefäßverschluss durch Thrombenbildung bemerkbar und wird meist im Nachhinein aufgrund der Befunde bei der operativen Versorgung (erkennbare Kompression nach Gefäßfreilegung) diagnostiziert. Die Behandlung des Brachialiskompressionssyndrom besteht in Freilegung, Beseitigung der Kompression und Thrombektomie, allenfalls muss das kompressionsgeschädigte Gefäß kurzstreckig ersetzt werden.
Gefäßschäden durch chronische Traumen c ⊡ Abb. 49.20 Vaskuläres Thoracis-Outlet-Syndrom (TOS) – venöse Seite. a Phlebografischer Befund: Einziehung an der kaudalen Venenkontur, Hinweis auf einschnürendes Band, b intermittierender Verschluss in Provokationsstellung, c ausgeprägter Kollateralkreislauf als Hinweis auf hämodynamisch wirksames Strömungshindernis
An der Hand ist die ulnare Handarterie im Gyon-Kanal relativ exponiert und gegen die Knochenunterlage wenig gepolstert. Deswegen kann sie hier durch wiederholte Traumen geschädigt werden. Dies geschieht vor allem dann, wenn der Handballen als Schlaginstrument missbraucht wird ( Kap. 56). Die A. radialis ist nur bei Prävalenz des beugeseitig über das Sattelgelenk in die Hohlhand eintretenden Astes (normalerweise ist der von dorsal durch die 1. Kommissur laufende Ast das Hauptgefäß) in ähnlicher Weise bei Schlagtraumen gefährdet.
Hypothenar- (und Thenar-) Hammersyndrom dem M. sternocleidomastoideus und der Klavikula. Orientierungshilfe ist der Vorderrand des M. homohyoideus als hintere Begrenzung der mittleren Halsfaszie, die geöffnet wird. In der vorderen Skalenuslücke wird die A. subclavia dargestellt und angeschlungen, dorsal der gesamte Plexus brachialis ebenfalls.
Die Arterie reagiert auf das wiederholte Trauma mit einer Wandzerrüttung, die einen Verschluss oder eine Aneurysmabildung zur Folge haben kann. Beides geht am Hypothenar häufig mit einer diskreten neurologischen Symptomatik des N. ulnaris parallel. Beim Verschluss zeigt sich eine Raynaud-Symptomatik an den
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 49.21 Hypothenar-Hammersyndrom. a Digitale Subtraktionsangiografie (DSA) präoperativ: Gefäßveränderungen mit Verschluss der A. ulnaris, b DSA präoperativ: Aneurysma der A. ulnaris, c intraoperativer Situs des Ulnarisaneurysmas
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ulnaren Fingern, das Aneurysma macht sich durch Embolien in die Fingerarterien bemerkbar. Der Allen-Test ist entsprechend pathologisch. Die Angiografie muss mit peripherer Gefäßerweiterung durchgeführt werden, um aussagefähige Bilder zu erhalten. Dann erkennt man korkenzieherartige Gefäßwindungen, Schlängelungen und Erweiterungen, bis zur Aneurysmabildung (⊡ Abb. 49.21). Rezidivierende Embolien, Leistungsinsuffizienz der Handbinnenmuskulatur oder Mangeldurchblutung der Finger zwingen zu therapeutischen Maßnahmen. Ein Aneurysma kann reseziert und die Gefäßtrecke mit einem Veneninterponat unter Verwendung mikrochirurgischer Technik ersetzt werden. > Verschlüsse sind nur dann (mikro-) chirurgisch angehbar, wenn distal anschlussfähige und gut durchgängige Gefäße (suffizienter »run-off«) vorhanden sind.
Beides erfolgt günstig unter Schutz einer Sympathektomie, was die Durchgängigkeitsrate solcher Rekonstruktionen deutlich verbessert. Zeller berichtet von einer erfolgreichen konservativen Therapie eines Ulnarisverschlusses infolge Hammersyndrom mit retrograder venöser Thrombolyse . Die wichtigste postoperative Maßnahme ist die Vermeidung weiterer Schlag- bzw. Vibrationstraumen. Häufigste Komplikation ist der Reverschluss solcher Gefäßrekonstruktionen im mikrogefäßchirurgischen Bereich. Die Rate liegt deutlich höher als bei der Versorgung traumatisch geschädigter Gefäße, weil eine Gefäßerkrankung zugrunde liegt, die auch in nicht unmittelbar verschlossene Gefäßstrecken hineinreicht und die Perfusion behindert. Strömungsraten unter 20 ml/min und mm² sind verschlussgefährdet, weswegen die Sympathektomie eine »Schutzfunktion« ausübt, denn sie erhöht den Durchfluss über die Minderung des peripheren Strömungswiderstandes
Vibrationsschäden Systematische Untersuchungen an Arbeitern, die Vibrationsbelastungen ausgesetzt waren, haben ähnliche Veränderungen an den Gefäßen gezeigt.
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Dass Vibrationsschäden die Durchblutung des Os lunatum schädigen können, wird seit Langem angenommen. Wird anamnestisch eine entsprechende Exposition bestätigt, gilt die Lunatummalazie als Berufserkrankung bei Arbeitern mit Pressluftwerkzeugen und entsprechend langer Exposition.
Pathologische arteriovenöse Fisteln Pathologische arteriovenöse Fisteln sind alle unphysiologischen Kurzschlussverbindungen zwischen dem arteriellen (Hoch-) Druck- und dem venösen (Nieder-) Drucksystem, welche in der Peripherie Mangelerscheinungen verursachen. Der Abstrom des Blutes ins Niederdrucksystem über eine solche Kurzschlussverbindung bewirkt distal davon eine Druckminderung, sodass die Perfusion der Peripherie nicht mehr sichergestellt ist (⊡ Abb. 49.22). Damit wirkt eine arteriovenöse Fistel wie eine Stenose, nur dass zusätzlich mit dem erhöhten Blutdurchsatz eine Herzbelastung einhergeht, die zu einer Herzschlagfrequenzzunahme führt. Diese Frequenz geht sofort zurück, wenn die Fistel komprimiert wird (Nikoladoni-Branham-Zeichen). Neben dem Fistelbeweis wird damit auch die Auswirkung der Fistel auf die Herzleistung angezeigt. Wichtigstes klinisches Zeichen einer arteriovenösen Fistel ist das typische systolisch-diastolische Strömungsgeräusch (Maschinengeräusch), welches immer zu hören ist (Stethoskop!). Die Ultraschalluntersuchung zeigt über der abfließenden Vene die pathologischen Strömungsmuster. Die häufigsten Fisteln am Arm sind iatrogen, nämlich Shuntanlagen zur Hämodialyse. Deren Shuntvolumen sollte so bemessen sein, dass das Nikoladoni-Zeichen negativ bleibt. Trotzdem können solche Dialyseshunts periphere Minderperfusionen verursachen, wenn nämlich zentral Stenosen in der Zuflussbahn entstehen und damit nicht genügend Blut »nachgeliefert« werden kann. Trauma Verletzungsbedingt können sich pathologische arteriovenöse Fisteln bei gleichzeitiger Läsion einer Arterie und Vene im selben Wundgebiet entwickeln. Auch ein sekundäres Durchbrechen eines falschen
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⊡ Abb. 49.22 Pathologische arteriovenöse Fistel. a Druckabfall wegen Strömungsverlust durch das arteriovenöse Fistelgebiet, b Schema Skelettierungsoperation nach Vollmar
Aneurysmas in die Vene ist als Ätiologie beschrieben (s. unten) Ob eine gemeinsame Ligatur von Arterie und Vene dazu führen kann, ist umstritten. Traumatologisch entstandene arteriovenöse Fisteln müssen wieder verschlossen werden. Das kann bei länger bestehenden Fisteln wegen der inzwischen entstandenen Wandausdünnung von Arterien und Venen technisch schwierig werden. Die Ausweitung der Gefäße in der Fistelumgebung kann groteske Ausmaße annehmen. Die Vierer-Ligatur mit arterieller Rekonstruktion durch einen Bypass ist dann das Verfahren der Wahl (⊡ Abb. 49.23). Einmal verschlossene posttraumatische Fisteln sind nachhaltig saniert.
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> Die Wandveränderungen, die sich infolge des erhöhten und turbulenten Blutstroms bis zu dem Behandlungszeitpunkt gebildet haben (Ausdünnung, Erweiterung, Schlängelung), bilden sich aber nicht zurück und können Anlass zu weiteren Problemen geben (Aneurysmabildung, Verschluss durch Kinking, Thrombusbildung mit Embolisierung), sodass eine langfristige Kontrollbetreuung ratsam ist.
Zu spät diagnostizierte oder behandelte arteriovenöse Fisteln können eine lebensbedrohliche Herzinsuffizienz verursachen, die relativ plötzlich dekompensieren kann, zumal das Shuntvolumen in der Regel ständig zunimmt. Im Bereich der oberen Extremität ist aber die peripher des Fistelgebietes auftretende Mangelversorgung das häufigere Problem. Oft werden diese »Hot ulcers« (⊡ Abb. 49.1; Fingerspitzennekrosen bei überwärmter Haut) als Infekt verkannt, heilen aber weder mit den Mitteln der Infektchirurgie noch unter Antibiotikagabe ab. Erst wenn man die eigentliche Ursache der chronischen Wunde, nämlich die unzureichende periphere Blutversorgung, bemerkt und behebt, kann das Problem gelöst werden. Vaskuläre Malformationen ( Kap. 47) Angeboren gibt es als Hämangiome imponierende Angiodysplasien mit arteriovenösen Fisteln (F.P.Weber-Syndrom), die neben den prominenten Venen mit einem vermehrten Längenwachstum
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f ⊡ Abb. 49.23 Posttraumatische arteriovenöse Fistel der A. subclavia. a Frühfüllung der Angiografie, b Spätphase der Angiografie, c groteske Aufweitung der Umgebungsgefäße (interkostal, Mammaria interna), d Schema: Prinzip der Vierer-Ligatur nach Vollmar, e Schema: überbrückender Bypass, f Angiografie postoperativ: überbrückender Bypass
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Kapitel 49 · Durchblutungsstörungen im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 49.24 F.P.Weber-Syndrom an der Hand. a Angiografischer Befund: arteriovenöse Fisteln, b klinischer Aspekt: proportionierter Riesenwuchs, c klinischer Aspekt: Nävus flammeus, d klinischer Aspekt: Pletora der Handrückenvenen
⊡ Abb. 49.25 F.P.Weber-Syndrom. a Operationssitus, b Angiogramm vor Skelettierungsoperation, c Angiogramm nach Skelettierungsoperation
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der betroffenen Extremitätenabschnitte und mit Naevus flammeus der Haut einhergehen (⊡ Abb. 49.24). Bei positivem Nikoladoni-Branham-Zeichen und/oder bei peripherer Mangelversorgung besteht absolute Indikation, die Fistel operativ oder per Embolisation zu verschließen oder zumindest das Shuntvolumen zu reduzieren. Es droht sonst eine Dekompensierung der Herzinsuffizienz bzw. Gliedmaßenverlust. Das F.P.Weber-Syndrom ist eine besondere therapeutische Herausforderung: Hier handelt es sich nicht um eine definierte Fistel, sondern um eine Region mit einer Missbildung, bei welcher alle Gewebebestandteile mit arteriovenösen Kurzschlüssen durchsetzt sind. Diese Fistelmissbildungen können in jeder Region des Körpers vorkommen, am häufigsten ist das Stromgebiet der Karotiden betroffen, in zweiter Linie die Extremitäten. Da alle Gewebe einer Region in die Missbildung der Gefäße einbezogen sind, entsteht im Fistelgebiet selbst eine Mehrperfusion mit Anregung des Wachstums, weswegen die betroffene Extremität oder der Extremitätenabschnitt (auch nur einzelne Finger können
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betroffen sein) länger ist, als auf der Gegenseite (sog. proportionierter Riesenwuchs). Wegen der diffusen Durchsetzung ist aber auch eine gezielte chirurgische Ausschaltung der Fistelregion nicht möglich. Durch die sog. Skelettierungsoperation nach Vollmar, bei welcher alle Abgänge der durch das Fistelgebiet ziehenden Arterienstrecke doppelt ligiert und durchtrennt werden, kann man die Strömungsverluste so reduzieren, dass die Peripherie wieder ausreichend perfundiert wird (⊡ Abb. 49.22, ⊡ Abb. 49.25) Problematisch bleibt allerdings, dass das Fistelgebiet aus der weiteren Umgebung ständig neue Zuflüsse rekrutiert, weswegen diese Patienten langzeitig überwacht werden müssen, um Rezidive früh genug erneut angehen zu können. Gelegentlich ist der Ersatz des fisteldurchsetzten Gewebes nötig, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten (⊡ Abb. 49.26). Gezielte Embolisationen der Fisteln mit Kathetertechnik werden mehr und mehr zu Alternativen zur operativen Therapie. Mit dem beschleunigten Abstrom ins Venensystem ist aber die Gefahr der zentralen (Lungen-) Embolisierung gegeben.
1383 Weiterführende Literatur
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Ebenfalls lebenslang unter Beobachtung bleiben müssen Patienten mit F.P.Weber-Syndrom, wenn das betroffene Gebiet nicht durch Amputation beseitigt wurde. Beobachtung der Ausbildung des subkutanen Venensystems (starkes Hervortreten bei arterieller Füllung des Venensystems), auskultatorisches Suchen nach Fistelgeräuschen, Prüfen der Durchblutungssituation distal des Fistelgebietes und Durchführung des Nikoladoni-Branham-Tests genügen für die rechtzeitige Erfassung einer erneuten Ausbreitung der arteriovenösen Fisteln. Dialyse Shunt Wenn ein über längere Zeit funktionierender Dialyseshunt zu peripherer Mangelversorgung führt, ist vordringlich nach einer zentral gelegenen Stenose zu suchen, die angioplastischen Verfahren zugänglich wäre. Auch eine Bypassanlage zu einer Arterie distal der Fistel kann die Situation verbessern. Eine andere Ursache zunehmender peripherer Perfusionsinsuffizienz ist eine Zunahme des Shuntvolumens, welches wieder reduziert werden müsste. 49.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Insgesamt ist die arterielle Mangelversorgung an der Hand ein eher seltenes Krankheitsbild in der handchirurgischen Praxis. Der erste klinische Eindruck mit einer offenen Wunde, Infektzeichen und bläulich livider Schwellung lässt oftmals auch eher an einen chronischen Infekt als an eine Ischämie denken. Damit liegt die größte Gefahr in der Verkennung der eigentlichen Ursache einer chronisch nicht heilenden Wunde. Einfache Inspektion und Tasten der Pulse führen hier oft schon auf die richtige Spur. Findet man hierbei Zeichen einer Mangelversorgung, folgt die Suche nach der Ursache. Dafür erscheint es wichtig, die oben beschriebenen Krankheitsbilder zu kennen und den Patienten rechtzeitig einer kausalen Therapie zuzuführen. Die thorakale Sympathektomie ist eine fast universell einsetzbare Technik, um akut nekrosegefährdete Finger zu retten, nahezu unabhängig von deren Ursache. Aber 3 Punkte sind dringend zu beachten: 1. Die thorakale Sympathektomie darf nicht die alleinige Therapie bleiben, sondern die Grunderkrankung muss erkannt und behandelt werden. 2. Sie darf nicht bei Stenosen in der Schulter-/Oberarm-Etage angewendet werden, da es sonst zu paradoxer Reaktion mit akuter Mangelversorgung der ganzen Extremität kommt.
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⊡ Abb. 49.26 F.P.Weber-Syndrom über 25 Jahre betreut (Stillstand der Fistelentwicklung seit 6 Jahren). a Weichteilersatz der Daumenbeugeseite, b Weichteilersatz der Zeigefingerbeugeseite, c Weichteilersatz der Daumenstreckseite
3. Um die Wirksamkeit zu testen, ist eine medikamentöse Probeausschaltung (Stellatumblockade) vor der endgültigen Indikationsstellung wünschenswert. Nach Beherrschung der akuten Situation einer Mangeldurchblutung ist die kontinuierliche Kontrolle des weiteren Verlaufes solcher Erkrankungen notwendig, da es sich – außer bei Verletzungsfolgen – in der Regel um chronische Krankheitsbilder handelt. Die dauerhafte Anbindung an eine angiologisch-internistische Überwachung gibt die beste Gewähr, Verschlechterungen der Situation zu einem Zeitpunkt zu entdecken, an welchem noch aussichtsreiche therapeutische Optionen bestehen.
Weiterführende Literatur Cissarek T, Kröger K, Santosa F, Zeller T (Hrsg) (2009) Gefäßmedizin. Therapie und Praxis. ABW Wissenschaftsverlag, Berlin Heberer G, van Dongen RJAM (1987) Gefäßchirurgie. Springer, Heidelberg Hepp W, Kogel H (Hrsg) (2006) Gefäßchirurgie, 2. Aufl. Urban & Fischer, München Jena Kappert A (1998) Lehrbuch und Atlas der Angiologie, 13. Aufl. Huber, Bern Lanz T von, Wachsmuth W (1959) Praktische Anatomie, 1. Band, 3. Teil Arm, 2. Aufl. Springer, Berlin Tilmann B (2004) Atlas der Anatomie des Menschen. Mit Muskeltrainer. Springer, Berlin Vollmar J (1996) Rekonstruktive Chirurgie der Arterien, 4. Aufl. Thieme, Stuttgart Wagner HH, Alexander K (1993) Durchblutungsstörungen der Hände. Ihr Erscheinungsbild im Angiogramm. Thieme, Stuttgart
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1385 49.3 · Weiterführende Literatur
Lymphödem der oberen Extremität Rüdiger G.H. Baumeister
50.1
Allgemeines – 1386
50.1.1 50.1.2 50.1.3 50.1.4 50.1.5 50.1.6 50.1.7 50.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1386 Epidemiologie – 1386 Ätiologie – 1388 Diagnostik – 1388 Klassifikation – 1388 Indikationen und Differenzialtherapie – 1389 Therapie – 1389 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1390
50.2
Spezielle Techniken
50.2.1 50.2.2 50.2.3
Mikrochirurgische Lymphgefäßnaht – 1390 Technik der Entnahme von Lymphgefäßen zur freien mikrochirurgischen Transplantation – 1392 Technik der freien mikrovaskulären Transplantation von Lymphgefäßen zur Überbrückung der Axilla – 1392 Mikrochirurgische lymphovenöse Anastomosierungen – 1394 Technik der Entnahme des freien mikrochiurgischen Lymphknotenlappens aus dem Leistenbereich – 1394 Technik der freien mikrochirurgischen Transplantation eines Lymphknotenlappens – 1394 Technik der kombinierten Resektions- und Drainageoperation – 1394 Technik der Liposuktion zur Verminderung überschüssigen Fett- Bindegewebes bei Lymphödemen – 1394
50.2.4 50.2.5 50.2.6 50.2.7 50.2.8
50.3
– 1390
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1396 Weiterführende Literatur
– 1397
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
50
1386
50.1
Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
Allgemeines
50.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
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Physiologie Topografie der Lymphgefäße im Bereich der oberen Extremität und Axilla Der Lymphabfluss im Bereich der oberen Extremität erfolgt über oberflächliche (Vasa lymphatica superficiales) und tiefe (Vasa lymphatica profunda) Lymphgefäße. Die oberflächlichen Lymphgefäße begleiten im wesentlichen die Vv. cephalica et basilica im Subkutangewebe zentralwärts. Man kann infolgedessen ein radiales und eine ulnares Lymphbündel unterscheiden. Beide Gefäßbündel kommunizieren vielfach untereinander, namentlich in der Ellenbeuge und durch Gefäß- und Nervenöffnungen der oberflächlichen Faszie mit den tiefen Lymphgefäßen. In der ulnaren Lymphgefäßstraße (ulnares Lymphbündel) sind bei etwa 30% der Menschen über dem Epicondylus medialis eine oder mehrere Nodi lymphatici cubiti superficiales eingeschaltet, die »erste oberflächliche Lymphstation« beim Fortschreiten einer Infektion aus dem Hand- und Unterarmbereich. Nur zum Teil begleiten die fortsetzenden Gefäße dann die V. basilica in ihrem superfizialen Verlauf zu der brachialen Gruppe der Nodi lymphatici axillares superficiales, der »zweiten oberflächlichen und tiefen Lymphstation«. Zum anderen Teil erreichen sie diese auch weiterhin subkutan verlaufend. Diesen oberflächlichen Stämmen schließt sich auch die Mehrzahl der radialen Lymphgefäße an. Nur wenige schwache radiale Gefäße verbleiben im Zuge der V. cephalica und erreichen erst durch das Trigonum deltopectorale, die proximale Gruppe der tiefen Achsellymphknoten, umgehen also die Achselgrube (laterales langes Oberarmbündel). So kann in seltenen Fällen auf diesem Weg eine Infektion der oberen Extremität ohne Beteiligung der oberflächlichen Achsellymphknoten dem Angulus venosum zugeleitet werden. Ihr Zug kann von einem oder mehreren Nodi lymphatici deltoideopectorales unterbrochen sein. Andererseits kann bei Unterbrechung des axillären Lymphflusses die Lymphe über dieses Bündel als »salvage pathway« umgeleitet werden. Die tiefen Lymphknoten sammeln sich um die Stämme der Aa. ulnaris, interossea und radialis aus Skelett, Muskulatur der Hohlhand und des Unterarmes. Häufig werden sie in der Ellenbeuge durch Nodi lymphatici cubitales profundi, der »ersten tiefen Lymphstation«, proximal und distal vom Gelenkspalt gefiltert. Mit dem Gefäß-Nerven-Strang des Oberarmes ziehen sie dann, nachdem sie noch die den Oberarm im Zuge der A. profunda brachii schraubig umgreifenden tiefen Lymphgefäße der Streckseite aufgenommen haben, ebenfalls zu der brachialen Gruppe der oberflächlichen Achsellymphknoten, der »zweiten oberflächlichen und tiefen Lymphstation. Im Achselbereich ist in die vom Arm, von der anterolateralen Brustwand (Mamma) und von der Schulter strahlenförmig zusammenlaufenden Lymphbahnen eine große Zahl regionärer Lymphknoten eingeschaltet. Ihre Zahl schwankt zwischen 8 und 50. Im Hinblick auf Größe und gruppenweise Zusammenordnung wechseln sie nicht nur nach Veranlagung des Einzelmenschen, sondern auch durch ihre jeweilige Vorbelastung sehr stark. Die Achsellymphknoten sind in zwei Gruppen angeordnet: Die oberflächlichen Achsellymphknoten, Nodi lymphatici axillares superficiales, liegen in den äußeren Lamellen der Fascia axillaris eingelagert (⊡ Abb. 50.1, ⊡ Abb. 50.2). Die tiefen Achsellymphknoten, Nodi lymphatici axillares profundi, liegen entlang des
axillären Gefäß-Nerven-Stranges (⊡ Abb. 50.1, ⊡ Abb. 50.2). Die oberflächlichen Achsellymphknoten gliedern sich nach ihren hauptsächlichen Einzugsgebieten in Nodi lymphatici brachiales (obere Extremität), Nodi lymphatici pectorales (vordere und seitliche Brustwand) und Nodi lymphatici subscapulares (Schulter- und Schulterblattgegend). Alle diese Lymphknotengruppen hängen unter sich und mit den tiefen Achselknoten zusammen. Nur in Anfangsstadien von Entzündungen werden daher ausschließlich die streng regionären Achselknoten reaktiv anschwellen. Später beteiligen sich so gut wie alle Achsellymphknoten an der Abwehr, sodass beim klinischen Nachweis vergrößerter Achsellymphknoten die Ursache in sämtlichen Ursprungsgebieten zu suchen ist. Von den tiefen Achsellymphknoten leitet eine proximal vom M. pectoralis minor gelegene Gruppe als Nodi lymphatici infraclaviculares zum Truncus subclavius weiter (⊡ Abb. 50.1, ⊡ Abb. 50.2). Der Truncus subclavius vereinigt sich mit den Lymphsammelgefäßen des Halses und mündet im sog. Venenwinkel in die V. jugularis interna (»physiologische lymphvenöse Anastomose«). > Die Entwicklung eines Lymphödems ist pathophysiologisch gekennzeichnet durch eine höhere lymphatische Last im Vergleich zur Lymphtransportkapazität.
Nach Földi ist die lymphatische Last bestimmt durch die Menge an eiweißreicher Flüssigkeit und Zellen, die im Lymphgefäßsystem pro Zeiteinheit aus einem Gewebeabschnitt abtransportiert werden muss. Die lymphatische Transportkapazität ist im Vergleich dazu die Menge an Lymphe, die aus einem Gewebeabschnitt pro Zeiteinheit abtransportiert werden kann. Sie ist abhängig von der Zahl und Funktionsfähigkeit der Lymphbahnen und Lymphknoten. Für chirurgische Aspekte ist insbesondere die Hauptengstelle des lymphatischen Systems an der oberen Extremität, die Achsel mit ihren Lymphknoten und Lymphbahnen von besonderer Bedeutung. Werden hier wesentliche Beeinträchtigungen des Lymphabflusses durch Operation, Bestrahlung oder Trauma verursacht, droht ein Rückstau der Lymphflüssigkeit, falls nicht ausreichend auf präformierte Nebenwege des Lymphabflusstransportes zurückgegriffen werden kann. Solche möglichen Wege bestehen im sog. langen lateralen Oberarmbündel, das die Lymphe an der Achsel vorbei, entsprechend der Verlaufsrichtung der Vena cephalica in die infraklavikulären oder supraklavikulären Lymphknoten leitet. Dieses Bündel findet sich nur in etwa 60% der Untersuchungspräparate. Ein weiterer Nebenweg des Lymphabflusses findet sich in der Schulterregion. Hier besteht oft ein Ausweichweg über die Halslymphknoten. Zusätzliche Unterbrechungen dieser Ersatzlymphabflusswege (z. B. durch rezidivierende Entzündungen) erhöhen das Risiko einer Ödembildung an dem betroffenen Arm. 50.1.2 Epidemiologie Lymphödeme der oberen Extremität treten in den entwickelten Ländern, insbesondere nach Eingriffen in der Achsel auf. Hierbei besteht ein Zusammenhang zwischen der Radikalität des operativen Eingriffs und einer zusätzlichen Strahlentherapie mit dem Auftreten von Ödemen. Entsprechend den Angaben von Schünemann liegt die Rate von Lymphödemen bei 44% nach radikaler Mastektomie mit Bestrahlungen und verringert sich auf etwa 10% nach brusterhaltenden Operationen, ebenfalls mit Bestrahlungstherapie.
1387 50.1 · Allgemeines
a
b
⊡ Abb. 50.1 Übersicht über das Lymphsystem des Armes. a Ansicht von ventral, b Ansicht von dorsal. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Auch nach Sentinel-Lymphknotenentfernungen werden immer noch Lymphödeme in etwa 3–5% der Patienten gesehen. Periphere Unterbrechungen der Lymphbahn an der oberen Extremität führen meist nicht zu dauerhaften Ödemen, wenn der
Gewebeschaden nicht zirkulär oder langstreckig ist. Nach Gliedmaßenabtrennungen mit anschließender Makroreplantation bilden sich anfängliche Ödeme zusammen mit der Ausbildung von lympholymphatischen Spontananastomosen meist zurück.
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Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
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⊡ Abb. 50.2 Schematische Darstellung der oberflächlichen und tiefen Achsellymphknoten und ihrer Haupteinzugsgebiete. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
50.1.3 Ätiologie Störungen des Lymphtransportes können angeboren (primär) oder erworben (sekundär) sein: Angeborene Lymphabflussstörungen sind an der oberen Extremität selten und manifestieren sich dann meist bereits im Kindesalter und sind oft assoziiert mit anderen Pathologien. Im Bereich der oberen Extremität sind die Lymphabflussstörungen in den meisten Fällen erworben, zumeist iatrogen (Operation, Bestrahlung) oder traumatisch bedingt. Daneben ist immer auch an tumorbedingte Lymphabflussbehinderungen als Ursache eines Lymphödems zu denken. Rezidivierende Entzündungen können ebenfalls zu einem Verkleben der Lymphkollektoren führen und damit ein Lymphödem verursachen. 50.1.4 Diagnostik Führend für die Diagnostik eines Lymphödems ist die klinische Untersuchung. Die Verbreiterung einer abgehobenen Hautfalte an den Fingern zusammen mit einem anamnestischen Hinweis auf eine lymphatische Obstruktion, das sog. Stemmer-Zeichen, weist auf ein Lymphödem hin. Oft sind zusätzlich sekundäre Hautveränderungen wie die sog. Orangenhaut und Hautrhagaden zu sehen. Auf mykotische Veränderungen ist ebenfalls zu achten. Zur Sicherung der Diagnose bietet sich die Lymphsequenzszintigrafie an. Sie zeigt als pathologischen Befund eine diffuse Verteilung des Radiopharmazeutikums, eine Abflussverzögerung und eine Rarefizierung oder einen Ausfall von dargestellten Lymphknoten. Diese Methode eignet sich auch für gutachterliche Fragestellungen, wenn es darum geht, ein globales Lymphabstromdefizit zu bestätigen oder auszuschließen. Postoperativ stehen für eine Beurteilung der Durchgängigkeit von Lymphgefäßanastomosen prinzipiell drei Verfahren zur Verfügung: die Lymphsequenzszintigrafie, die indirekte Lymphografie mit wasserlöslichem Kontrastmittel sowie die MRT-Lymphografie mit Gadolinium. > Die Anwendung von öligem Kontrastmittel verbietet sich, da es die Schädigung der Lymphbahnen und insbesondere der Anastomosen bewirken kann.
Mit der Lymphsequenzszintigrafie lässt sich zwar keine direkte Abbildung der Anastomosen erreichen, doch stellen sich lymphführende Kollektoren als Radioaktivitätsstraßen dar, z. B. Transplantate zwischen Oberarm und Hals. Insbesondere nach Transpositionen von Lymphbahnen von einer Leiste zur anderen lässt sich ein Nachweis der Durchgängigkeit auf folgende Weise erbringen. Es wird nur auf der erkrankten Seite das Radiopharmazeutikum eingespritzt. Bei durchgängigen Transplantaten stellen sich danach auch die Leistenlymphknoten der Gegenseite dar. Bei einer guten Durchströmung der Transplantate lassen sich diese als Aktivitätsstraßen in ihrem gesamten Verlauf von einer Leiste zur anderen verfolgen. Nach der Transplantation von Lymphkollektoren zwischen Oberarm und Hals zur Überbrückung von Lymphblockaden in der Achsel findet sich postoperativ bei durchgängigen Transplantaten auch hier eine entsprechende Aktivitätsstraße. Diese steht dann im Gegensatz zu dem präoperativen Befund, in dem häufig nur eine diffuse Aktivitätsansammlung am Unterarm zu erkennen ist. Bei der indirekten Lymphografie durch wasserlösliches Kontrastmittel werden subdermale Depots mittels Perfusorspritzen gesetzt. Von diesen Depots aus füllen sich Präkollektoren und Kollektoren, wobei diese Füllung nicht in jedem Fall erfolgt und in der Regel gefüllte Lymphkollektoren sich nur beschränkt verfolgen lassen. Im negativen Fall kann also nicht von einem Verschluss der Anastomose ausgegangen werden. Findet das Kontrastmittel jedoch Zugang zu den Transplantaten, so lassen sich diese, sowie die offene Anastomose, direkt nachweisen. Für spezielle Fragestellungen bietet sich neuerdings die Magnetresonanzuntersuchung des Lymphsystems an. Insbesondere zur Abklärung primärer Lymphödeme sowie von Lymphocelen ist dieses Verfahren hilfreich. 50.1.5 Klassifikation Lymphödeme werden in primäre und sekundäre Lymphödeme eingeteilt. An der oberen Extremität überwiegen bei weitem sekundäre Lymphödem aufgrund einer zentralen Obstruktion infolge therapeutischer Eingriffe an der Achsel. Der Schweregrad von Lymphödemen wird häufig in Stadien eingeteilt (⊡ Tab. 50.1):
1389 50.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 50.1 Klassifikation des Schweregrades des Lymphödems Schweregrad
Klinischer Aspekt
Stadium I
Weiches, Dellen hinterlassendes Ödem, das sich bei Ruhe oder entsprechender Lagerung wieder zurückbilden kann
Stadium II
Entspricht einem spontan irreversiblen Ödem; es zeigt Verhärtungen und Vertiefungen von Hautfalten – lymphostatische Fibrosklerose – das Gewebe ist palpatorisch konsistenzvermehrt (schwer eindrückbare Verhärtungen der Haut und des Subkutangewebes, die spontan irreversibel sind)
Stadium III
Entspricht einem elephanthiastisch ausgeprägten Ödem – unbehandelt: Fortschreiten der bindegewebigen Proliferation – Sklerosierung der Haut und säulenförmige Entstellung der Gliedmaßen (Elephantiasis), mit zum Teil monströsen Umfangszunahmen – häufige Komplikationen (Erysipel, Mykosen, Lymphfisteln, Lymphzysten, Hyperkeratosen)
> In seltenen Fällen kann sich in einem lang bestehenden Lymphödem ein Angiosarkom (Stewart-Treves-Syndrom) entwickeln.
50.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Lymphödeme, insbesondere im reversiblen Stadium I, sollten zunächst einer konservativen Therapie zugeführt werden. Eine konsequente konservative Therapie sollte mindestens für 6 Monate durchgeführt werden, bevor ein rekonstruktives Verfahren erwogen werden sollte. > Die Indikation zur Rekonstruktion sollte danach kurzfristig geprüft werden, da zunehmende sekundäre Gewebeveränderungen drohen.
Indikationen für eine Lymphkollektortransplantation, d. h. der Interposition eines peripheren Lymphkollektors, sind lokalisierte Unterbrechungen des Lymphsystems, wie Lymphgefäß- und Lymphknotendefekte sowie lokale Lymphgefäß- und Lymphknotenatresien. Als Interponat werden Lymphkollektoren aus dem Oberschenkelbereich verwendet ( Abschn. 50.2.2). Neben dem adäquaten Gefäßdurchmesser muss auf die richtige Interponatlänge geachtet werden ( Abschn. 50.2.3). Die Technik der Gefäßanastomosen entspricht jener der End-zu-End- oder End-zu-Seit- sowie der lympholymphonodulären Anastomosierung. Die mikrochiurgische Transplantation von Lymphknoten ( Abschn. 50.2.6) wird vor allem bei Patienten nach einer axillären Lymphknotendissektion der Zonen II und III angewandt. Mikrochirurgische lymphovenöse Anastomosen werden insbesondere bei obstruktiven Lymphödemen durchgeführt. Absolute Kontraindikationen bestehen hierfür bei venöser Hypertonie. Eine kombinierte Resektions- und Drainageoperation ( Abschn. 50.2.7) ist heute als Therapie der 2. Wahl zu sehen und kann bei Kontraindikationen oder Ablehnung einer mikrochirurgischen Rekonstruktion indiziert sein.
Resektionen in Form einer ausgedehnten Liposuktion im Spätstadium eines nicht mehr dellenbildenden Lymphödems, kombiniert mit einer lebenslangen konsequenten Kompressionstherapie, vermögen dauerhaft eine Normalisierung der Extremitätenvolumina zu erreichen. Geweberesektionen stehen am Ende der therapeutischen Kaskade, da hier nicht die Normalisierung des Lymphabstroms, sondern die Entfernung der sekundären Gewebeveränderungen, wie Fett und Bindegewebe, im Vordergrund steht ( Abschn. 50.2.8). 50.1.7 Therapie > Bei allen Entzündungen im Bereich einer lymphödematös veränderten Extremität sollte frühzeitig eine adäquate Antibiotikatherapie eingeleitet werden, um ein weiteres Veröden der Abflussstrecke möglichst klein zu halten bzw. zu vermeiden.
Konservative Therapie Die konservative Therapie stellt neben der Vermeidung von Noxen die Basis jeder Lymphtherapie dar. Neben der Eigenbehandlung durch entstauende Übungen, Hochlagerung und Vermeidung von Verletzungen und Dauerbelastung in abhängiger Stellung, hat sich die komplexe physikalische Entstauungstherapie (KPE) bewährt. Diese beruht auf einer manuellen Lymphdrainage, Kompression mittels Bandagen und maßgefertigter Kompressionsbestrumpfung, entstauenden Übungen sowie einer sorgfältigen Hautpflege. Bei Komplikationen des Lymphödems (Erysipel, Mykosen), akuter Thrombophlebitis oder Venenthrombosen ist die manuelle Lymphdrainage kontraindiziert. Die manuelle Lymphdarainage ist nur in Kombination mit einer adäquaten (lebenslangen) Kompressionstherapie sinnvoll und erfolgreich. Eine Kompressionsbehandlung ist kontraindiziert bei arteriellen Durchblutungsstörungen (pAVK). Bei ausgeprägten Fällen empfiehlt sich eine mehrwöchige stationäre Behandlung in einer Spezialklinik: In einer 3- bis 6-wöchigen ersten Phase mit mehrfachen täglichen Anwendungen soll die Mobilisation der rückgestauten eiweißreichen Ödemflüssigkeit bewirkt werden. Phase 2 hat anschließend bei geringerer Behandlungsintensität die Konservierung und Optimierung zum Ziel.
Operative Therapie > Vor der Durchführung chirurgischer Maßnahmen sollte eine vollständige konservative Therapie von mindestens 6 Monaten Dauer erfolgen, während derer sich auch passagere Ödeme zurückbilden können.
Für die chirurgische Behandlung von Lymphödemen gibt es drei unterschiedliche Verfahrensweisen (⊡ Tab. 50.2): ▬ Rekonstruktiv – ein unterbrochenes Lymphsystem wird wiederhergestellt; ▬ deviierend – Lymphe wird auf extraanatomischem Weg abgeleitet; ▬ resezierend – pathologisch verändertes Gewebe wird in unterschiedlichem Ausmaß entfernt (z. B. Liposuktion). Für die Rekonstruktion einer lokalen Unterbrechung des Lymphabflusses kommt die Überbrückung durch ein autologes Lymphbahnsegment der ursprünglichen Situation am nächsten. Beschrieben wurde auch die Interposition eines Venensegments, das aber
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Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
vergleichsweise eine schlechtere Durchgängigkeitsrate in experimentellen Studien erbracht hatte. Als weiteres Verfahren wurde die mikrovaskulär angeschlossene Verpflanzung von Lymphknoten beschrieben, wobei hier die fibrös veränderte Zone mit dem Lymphknotenlappen komplett überbrückt werden muss. Hier werden keine lympholymphatischen Anastomosierungen getätigt, da auf eine spontane Reanastomosierung mit peripheren Lymphbahnen gewartet wird. Über die Lymphknoten wird ein lymphovenöser Flüssigkeitsaustausch angestrebt. Von den deviierenden, extraanatomisch ableitenden Maßnahmen werden mikrochirurgische lymphovenöse Anastomosen häufiger durchgeführt, insbesondere bei einem obstruktiven Lymphödem. Kontraindikationen bestehen bei einer venösen Hypertonie, da der Lymphabfluss von einem Druckgefälle zwischen
⊡ Tab. 50.2 Anwendung und Effekte operativer Verfahren Operatives Verfahren
Anwendung
Rekonstruktive mikrochirurgische Verfahren Mikrochirurgische autogene Lymphgefäßtransplantation
Interposition autogener Venen
Lappenplastiken mit Inkorporation von Lymphgefäßen
Sekundäre und selektive primäre Lymphödeme Lymphödeme infolge lokalisierter Lympbahnunterbrechung, z. B. Armödeme nach Axilladissektion Einseitige Beinödeme (ein normales Bein ist Voraussetzung für die Gewinnung der Lymphgefäßtransplantate) Lymphödeme infolge lokalisierter Lymphbahnunterbrechung Zumeist kürzere Venensegmente wegen Kaliberdifferenzen Sekundäre Lymphödeme
Deviierende Verfahren Lymphovenöse, lymphonodulovenöse Anastomosen
Primäre und sekundäre Lymphödeme (Keine zusätzliche venöse Abflussbehinderung!)
Freie Lymphknotenverpflanzungen mit venöser Ableitung
Primäre und sekundäre Lymphödeme
Resektionsverfahren Liposuktion
Primäre u. sekundäre Lymphödeme Nicht eindrückbare Lymphödeme Als Zusatzmaßnahme auch nach rekonstruktiver Lymphabflussverbesserung zur minimalinvasiven Entfernung überschüssiger sekundärer Gewebeveränderungen
Geweberesektionen von Haut, Subkutangewebe, Faszie in unterschiedlichem Ausmaß, direkter Wundverschluss oder Lappenplastiken bzw. Spalthauttransplantation
Primäre und sekundäre fortgeschrittene und invalidisierende Lymphödeme
Lymphsystem und Venensystem abhängt. Lymphovenöse Anastomosen sind durch ein höheres Thromboserisiko im Vergleich zu lympholymphatischen Anastomosen gekennzeichnet. Die Drainageresektionsoperation ist heute als Therapie der 2. Wahl zu sehen und kann bei Kontraindikationen oder Ablehnung einer mikrochirurgischen Rekonstruktion indiziert sein. Die Resektionsmethoden stellen das Ende der Therapiekaskade dar. Von den Resektionsmaßnahmen bei elephanthiastischen Lymphödemen, die nicht mehr komprimierbar sind, stellt die Gewebereduktion mittels Liposuktion das Verfahren dar, das am wenigsten Narben erzeugt. 50.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die Diagnostik und Therapie von sekundären Lymphödemen im Kindesalter gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende Besonderheiten bestehen: Sekundäre Lymphödeme im Kindesalter sind äußerst selten, im Vordergrund stehen primäre Lymphödeme oder Lymphangiome. Prinzipiell besteht eine höhere Spontanregenerationstendenz als beim Erwachsenen. Darüber hinaus sind die Sekundärveränderungen viel geringer ausgeprägt. 50.2
Spezielle Techniken
50.2.1 Mikrochirurgische Lymphgefäßnaht Die operativen Schritte der mikrochirurgischen Lymphgefäßnaht sind in ⊡ Tab. 50.3 dargestellt.
Darstellung der Lymphgefäße Lymphgefäße sind im Gewebe mit bloßem Auge nicht erkennbar. Für die Präparation längerer Lymphgefäßstrecken, etwa bei der Entnahme von Lymphgefäßtransplantaten, stellt eine Anfärbung von Lymphgefäßen eine entscheidende Erleichterung dar. Hierfür kommt Patentblau in Frage. Es wird vorzugsweise in den 1. und 2. Interdigitalzwischenraum subdermal injiziert. Für eine gute Anfärbung von Lymphgefäßen an einem Bein werden etwa 2 ml benötigt. Da der blaue Farbstoff lang anhaltende blau-grünliche Verfärbungen der Haut hinterlassen kann, ist es ratsam, die Kanülenspitze nicht nach dorsal, sondern nach plantar zu richten, sodass die Blauverfärbung eher am Zehenballen auftritt. Im eigentlichen Ödemgebiet kommt es nach Injektion von Patentblau vielfach zu einer diffusen Blauverfärbung des Gewebes, sodass es sich empfiehlt, das Gewebe an der Stelle, an der die Anastomosen gefertigt werden sollen und an denen die meisten Lymphgefäße nach den anatomischen Untersuchungen liegen, allein unter dem Operationsmikroskop durchzumustern. Die größten Ansammlungen am Oberschenkel unterhalb der Leiste befinden sich dabei zwischen A. femoralis und V. saphena magna epifaszial. Am Oberarm verlaufen die meisten Lymphbahnen etwa oberhalb der A. und V. brachialis ebenfalls epifaszial im Subkutangewebe. Bei der Durchmusterung des Gewebes wird man auf längliche Strukturen stoßen, die kleinen Nerven, kleinen Venen, bindegewebigen Stränge und schließlich auch Lymphgefäßen entsprechen. Lymphgefäße erscheinen dabei eher gräulich-matt, während sich Nerven eher silbrig-weißlich, zum Teil mit Querstrukturierung darstellen. Bindegewebsstränge lassen sich durch seitwärts gerichtetes Zupfen mit der Pinzette auffasern.
1391 50.2 · Spezielle Techniken
Kleine Venen, wie auch natürlich kleine Arterien geben sich nach der Durchtrennung durch einen Blutaustritt zu erkennen.
Präparation der Gefäßstümpfe Bei jeder mikrochirurgischen Lymphgefäßoperation müssen nicht traumatisierte und ausreichend präparierte Gefäße vereinigt werden. Für die nun folgende Präparation der Gefäßstümpfe gelten folgende Grundregeln: 1. Atraumatische Präparation der Gefäßstümpfe 2. Gefäße dürfen nur an der Adventitia gefasst werden. Intimaverletzungen und Quetschungen der Gefäßstümpfe müssen vermieden werden. 3. Nach Darstellung der Gefäßenden wird das Lumen durch vorsichtiges Ziehen an der Außenseite der Gefäßwand mit einer feinen Pinzette eröffnet. Ein Anspülen mit verdünnter Ringer-Heparinlösung 1.000 IE/1.000 ml erleichtert dabei die Präparation. Die Beurteilung der Gefäßstümpfe erfolgt bei maximaler Vergrößerung (Zoom). Bei gleichem oder nur gering unterschiedlichem Gefäßkaliber erfolgt der Gefäßanschnitt senkrecht zur Gefäßachse.
Annäherung beider Lymphgefäßstümpfe Die Annäherung beider Gefäßstümpfe erfolgt unter Vermeidung jeglicher Spannung und Torsion. Zur Verbesserung des Kontrastes kann der Anastomosenbereich mit einem farbigen Hintergrund (gefärbtes Silikon oder Stück der Nadelverpackung) hinterlegt werden.
End-zu-End-Anastomose Zunächst wird die dem Operateur am entferntesten liegende Ecke des Lymphgefäßes mit einer Einzelknopfnaht vereinigt. Bei unveränderten Lymphgefäßen wird dann die Hinterwand so weit angehoben, bis die erste Naht mit der Stichrichtung außen–innen, innen–außen platziert werden kann. Mit etwa 2 Nähten ist die Rückwand ausreichend fixiert. Nach der vorderen Ecknaht erfolgt die Naht der Vorderwand in gleicher Technik (⊡ Abb. 50.3). Ist ein Lymphgefäß erheblich fibrosiert und verkleinert und damit nurmehr ein spaltförmiges Lumen vorhanden, ist zur Vermeidung einer zusätzlichen Stenosierung eine Adaptation der Lymphgefäße durch drei Nähte im Abstand von etwa 120° sinnvoll (⊡ Abb. 50.4).
End-zu-Seit-Anastomose Insbesondere bei der Verbindung von Lymphgefäßtransplantaten mit absteigenden Lymphbahnen am Hals ist manchmal eine Endzu-Seit-Anastomosierung angezeigt (⊡ Abb. 50.5). Vor einer seitlichen Eröffnung der leicht kollabierenden Lymphgefäße empfiehlt es sich, einen Faden in die dem Operateur zugewandte Wand nahe der Stelle der Eröffnung zu platzieren. Die Eröffnung wird am besten mit einem zarten Schlag der Mikroschere bewerkstelligt. Bereits eine kleine Inzision führt, insbesondere an den sehr zarten Halslymphgefäßen, zu einer für die Anastomosierung ausreichen-
Lymphgefäßnaht Abhängig vom Gefäßdurchmesser sowie Art und Anzahl der zur Verfügung stehenden Gefäße erfolgt die Gefäßnaht in End-zuEnd- oder in End-zu-Seit-Technik ( Abschn. 50.2.1). Die mikrochirurgische Lymphgefäßnaht erfolgt mit einem resorbierbaren Faden immer als Einzelknopftechnik. Lymphkollektoren haben eine zerreißliche Wand, wenn Scherkräfte quer zur Gefäßachse auf sie wirken. Gegenüber einem Längszug sind intakte Lymphgefäße dagegen erstaunlich resistent. Bei einem eröffneten Gefäß ist daher ein stärkerer Zug in querer Richtung, etwa durch lang gelassene Eckfäden, möglichst zu vermeiden. Daher wird von der sog. zugfreien Anastomosierungstechnik gesprochen. Hierbei wird, anders als in der Technik nach Cobbett, das Gefäß nicht an Eckfäden gewendet. Die beiden Lymphgefäßenden werden absolut spannungsfrei zueinander gelegt. Die Gefäßwände sind in der Regel kollabiert. Wenn es möglich ist, ist es hilfreich, vor der Durchtrennung eines Lymphgefäßes für die Anastomosierung einen tangentialen, in die Wand geführten Faden zu platzieren und durch leichten Zug das Lumen zu entfalten. Auftropfen von Heparinlösung kann ebenfalls hilfreich sein das Lymphgefäßende aufzuschwemmen, um so Vorder- und Hinterwand zu separieren. Leichtes Zupfen mit einer Pinzette oder Erfassen der mutmaßlichen Vorderwand mit der Spitze der Nadel sind weitere Hilfsmittel zur Darstellung des Lumens. Die zur mikrochirurgischen Naht verwendeten Rundkörpernadeln werden mit dem Nadelhalter gefasst. Die Nadel wird mit der Nadelhalterspitze am Übergang des mittleren zum proximalen Nadeldrittel gefasst. Die Nadelspitze soll dabei gleich in die für die Naht erforderliche Richtung zeigen. Der Einstich erfolgt leicht tangential oder senkrecht von außen nach innen durch alle Wandschichten. Bei stark verdickter Gefäßwand wird nur die äußerste Wandschicht gefasst. Die Entfernung der Einstichstelle vom Ende des Gefäßstumpfes soll etwa der doppelten Dicke der Gefäßwand entsprechen.
⊡ Abb. 50.3 Lympholymphatische End-zu-End-Anastomose in zugfreier Anastomosierungstechnik ohne Umwendung an Haltefäden. (Aus Berger u. Hierner 2003)
⊡ Abb. 50.4 Lympholymphatische End-zu-End-Naht mit einem stark fibrotisch veränderten Lymphgefäß in Dreipunkt-Fixationstechnik. (Aus Berger u. Hierner 2003)
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Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
kann zusätzlich zu der intraoperativen lokalen Applikation von Heparin versucht werden, durch additive Maßnahmen eine verbesserte Perfusion der Anastomosen zu erreichen. Experimentell hatte sich gezeigt, dass Infusionen von niedermolekularem Dextran (Molekulargewicht ca. 40.000) einen Anstieg des Druckes in den Lymphgefäßen peripher der Anastomose bewirken. Insofern wird nach Fertigstellung der Anastomose unter klinischen Bedingungen mit einer entsprechenden Infusionstherapie begonnen, die für etwa 5 Tage fortgeführt wird. Eine weitere Verbesserung der Perfusion wird erreicht, indem die ödematöse Extremität gewickelt wird und die Muskelpumpe durch entstauende Übungen aktiviert wird. Die Extremität wird zudem die ersten Tage konsequent hochgelagert.
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⊡ Abb. 50.5 Lympholymphatische End-zu-Seit-Anastomose. (Aus Berger u. Hierner 2003)
den Größe der Wandöffnung. Zunächst wird der vom Operateur am weitesten entfernte Teil der Wand mit einer Einzelknopfnaht vereinigt. Bei winkeliger Einmündung wird die Naht in der Winkelregion begonnen und danach die dem Operateur am entferntesten liegende Wand mit 1–2 Einzelknöpfen vereinigt. Die Anastomose wird durch den 2. Eckfaden und die Naht der restlichen Wand vervollständigt. Alle Knoten der Einzelknopfnähte kommen wie üblich nach außen zu liegen.
Beurteilung der Durchgängigkeit der Lymphgefäßanastomose Eine intraoperative Kontrolle der Durchgängigkeit einer lympholymphatischen Anastomose lässt sich im Gegensatz zu den arteriellen und auch venösen nicht durch einen Ausstreiftest eindeutig dokumentieren, da der Zufluss der Lymphe in der Regel, insbesondere bei fibrotisch veränderten Lymphgefäßen, vergleichsweise gering ist und die Gefäßwand möglichst wenig tangiert werden sollte. Bei zuvor kollabierten Lymphgefäßtransplantaten ist es möglich, eine langsame Füllung der Transplantate zu beobachten. Reste von blau gefärbter Lymphe in den Transplantaten lassen sich über die zentrale Anastomose unter Umständen in das Anschlussgefäß als bläulicher Schimmer weiter verfolgen. Postoperativ stehen für eine Beurteilung der Durchgängigkeit von Lymphgefäßanastomosen prinzipiell drei Verfahren zur Verfügung: die Lymphsequenzszintigrafie, die indirekte Lymphografie mit wasserlöslichem Kontrastmittel und die MRT-Lymphangiografie.
Bedeckung der Gefäßnaht Vor dem Wundschluss wird eventuell eingebrachtes Hintergrundmaterial entfernt und das Operationsfeld mit Elektrolytlösung gespült. Liegen Gefäße und Gefäßnähte ungeschützt an der Luft, trocknen sie leicht ein. Eine adäquate Bedeckung der Anastomose mit gut durchblutetem Gewebe ohne Druck ist deshalb notwendig. Hierbei ist darauf zu achten, dass kein übermäßiger Druck im Anastomosen- und Gefäßbereich auftritt, der zu einem Gefäßverschluss führen könnte. In der Regel ist keine Drainage notwendig. Eine Redon-Drainage mit Sog sollte auf keinen Fall in Anastomosennähe eingelegt werden, da hierdurch ein mechanischer Gefäßverschluss (Gefäßobliteration durch Unterdruck) auftreten kann.
Postoperative Kontrolle und additive Maßnahmen Zwar besteht angesichts der gegenüber dem Blut stark verminderten Koagulabilität der Lymphe und der bekannten Spontananastomosierungstendenz nur eine geringe Thrombosegefahr. Dennoch
50.2.2
Technik der Entnahme von Lymphgefäßen zur freien mikrochirurgischen Transplantation
An der Innenseite des Oberschenkels verlaufen im ventromedialen Lymphgefäßbündel bis zu 16 Lymphbahnen. Zwischen den Engstellen an der Innenseite des Knies und der Leiste werden etwa 2–3 Kollektoren entfernt, wobei die benachbarten Lymphbahnen die Transportleistung problemlos übernehmen können. Auf diese Weise gewinnt man, abhängig von der Länge des Oberschenkels, Transplantate bis zu einer Länge von etwa 30 cm (⊡ Abb. 50.6). Häufig finden sich am peripheren Ende der Transplantate Seitenäste. Diese können mit entnommen werden und erlauben dadurch die Anastomosierung mit einer größeren Anzahl peripherer Lymphbahnen als es der Zahl der entnommenen Kollektoren entspricht. Seitenäste, die im mittleren Abschnitt der Transplantate abgehen, werden durch bipolare Koagulation oder feine Ligaturen versorgt. Anhängende größere Fettbürzel werden so weit vorsichtig von den Gefäßen entfernt, dass sie während des späteren Durchzugmanövers nicht hinderlich sind. Zentral werden die Transplantate unterhalb ihrer Einmündung in die inguinalen Lymphknoten abgesetzt und mit einem lang gelassenen 6/0-Faden verschlossen. Distal werden sie offen gelassen. Die Lumina der Stümpfe der belassenen Gefäße werden entweder durch bipolare Elektrokoagulation oder durch feine Ligatur verschlossen. An den lang gelassenen zentralen Ligaturen werden die Transplantate später orthograd in Position gezogen. Für eine zwischenzeitliche Lagerung werden sie in ein gut befeuchtetes Tuch eingewickelt. 50.2.3 Technik der freien mikrovaskulären
Transplantation von Lymphgefäßen zur Überbrückung der Axilla Bei Lymphbahnunterbrechungen in der Achsel wird distal der Achsel im nicht voroperierten Gebiet eine oberflächliche quere Hautinzision im Bereich der Gefäß-Nerven-Bündel an der Innenseite des Oberarms durchgeführt. Die weitere Präparation erfolgt stumpf unter dem Operationsmikroskop. Die Lymphbahnen können dabei als milchig erscheinende zarte Strukturen von den silbrig glänzenden, z. T. mit Querstreifen versetzten kleinen Nerven, den zentral bläulich durchscheinenden kleinen Venen und den flachen, zerfaserbaren Bindegewebesträngen unterschieden werden. Endgültige Klarheit erhält man nach Durchtrennung der entsprechenden Struktur. Hierbei sollte ein zentrales Lumen ohne Austritt von Blut erkennbar sein. Bei lange bestehenden Lymphödemen mit einer fortgeschrittenen Fibrosierung auch der Lymphgefäße sind diese unter Um-
1393 50.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 50.6 Technik der Entnahme von Lymphgefäßen zur freien mikrochirurgischen Transplantation: Entnahme von 2–3 Lympgefäßtransplantaten aus dem ventromedialen Oberschenkelbereich, in dem bis zu 16 Lymphbahnen verlaufen. (Aus Berger u. Hierner 2009)
ständen nur noch als Spalt erkennbar. Da im Ödem Farbstoffe schlecht transportiert werden und sich hauptsächlich über Hautlymphkapillaren ausbreiten, wird auf eine Farbstoffinjektion am Arm verzichtet. Zum Auffinden der zentralen Anschlussgefäße am Hals kann jedoch eine Farbstoffinjektion hinter dem Ohr und im behaarten Schläfenbereich nützlich sein. Für die zentrale lympholymphatische Anschlussmöglichkeit wird etwa 2–3 cm oberhalb der Klavikula am Hinterrand des M. sternocleidmastoideus quer inzidiert. Unter dem Muskel, lateral der V. jugularis interna finden sich im Fettgewebe zartwandige, vom Kopf zum Venenwinkel absteigende Lymphbahnen sowie kleine Lymphknoten. Durch die vorangegangene retroaurikuläre subdermale Patentblauinjektion kommt es zur Blaufärbung von Lymphbahnen, sodass diese sich leichter identifizieren lassen. Zwischen den beiden Inzisionen am Oberarm und am Hals wird im subkutanen Fettgewebe ein auf die entsprechende Länge zugeschnittener großkalibriger Redon-Schlauch, in den zuvor ein dicker Faden eingebracht worden war, eingezogen. An den Inzisionen wird zunächst vorsichtig mit einem Pean der Beginn und das Ende des Kanals gebildet. Eine gebogene Kornzange wird nun vorgeschoben und beim Zurückziehen der gefasste Redon-Schlauch eingezogen. Der innen liegende dicke Faden wird nun peripher mit den lang gelassenen zentralen Ligaturen der Transplantate verknüpft und die Transplantate auf diese Weise von peripher nach zentral in den zuvor gut befeuchteten Redon-Schlauch eingezogen. Wenn die zentralen Abschnitte der Transplantate in genügender Länge in der Halswunde erscheinen, werden sie am Faden gefasst und der Redon-Schlauch nach peripher zurückgezogen. Nun liegen die Transplantate spannungsfrei im Subkutangewebe, bereit zur Anastomosierung. Hierfür werden unter die Gefäße dunkelgrüne kleine Kunststofffolien geschoben, um die zarten Gefäße vor dem dunklen Hintergrund besser sichtbar zu machen. Die lympholymphatische Anastomosierung am Oberarm und am Hals erfolgt unter maximaler Vergrößerung des Operationsmikroskops in der sog. zugfreien Anastomosierungtechnik peripher zumeist End-zu-End, zentral unter Umständen auch End-zuSeit. Hierzu wird feinstes resorbierbares Nahtmaterial der Stärke 10/0 verwendet. Die Gefäße werden ohne Umwenden und ohne Zug an etwaigen Haltefäden mittels Einzelknopfnähten vereinigt (⊡ Abb. 50.7). Ein besonders gravierendes Problem, insbesondere für Patientinnen, besteht in der stigmatisierenden Schwellung der Hand. Das Beispiel einer 50-jährigen Patientin zeigt, wie sich eine Rekonstruktion des Lymphabflusses auf die Hand auswirken kann (⊡ Abb. 50.8).
⊡ Abb. 50.7 Technik der freien mikrovaskulären Transplantation von Lymphgefäßen zur Überbrückung der Axilla: Lage der Transplantate im Subkutangewebe nach Tunnelierung. (Aus Berger u. Hierner 2009)
a
b ⊡ Abb. 50.8 50-jährige Patientin, sekundäres Armlymphödem rechts nach Axilladissektion. a Klinischer Aspekt nach 6-monatiger komplexer physikalischer Entstauungstherapie (KPE) ohne deutliche Ödemminderung, b 9 Monate nach freier mikrovaskulärer Lymphgefäßtransplantation: Das die Patientin stigmatisierende Handödem ist verschwunden. (Aus Berger u. Hierner 2009)
50
1394
Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
50
⊡ Abb. 50.9 Technik der Invagination des Lymphkollektors in das Venenlumen und Fixierung mithilfe einer mikrochirurgischen Naht
50.2.4 Mikrochirurgische lymphovenöse
Anastomosierungen Nach Patentblauinjektion in die 1. Kommissur werden im Bereich der Ventromedialregion des Armes unterhalb des Lymphstopps in Blutsperre Lymphgefäße und Venen dargestellt. Nach Öffnen der Blutsperre werden mit 11/0-Faden Lymphgefäß und Vene entweder in End-zu-End- oder End-zu-Seit-Technik ( Abschn. 50.2.1) miteinander verbunden. Alternativ kann der Lymphkollektor in das Venenlumen gezogen und mit einem Stich an der Venenwand fixiert werden (⊡ Abb. 50.9). Da das postoperative Ergebnis von der Anzahl der durchgeführten lymphovenösen Anastomosen abhängig ist, sollten so viele lymphovenöse Anastomosen wie möglich durchgeführt werden. Postoperativ wird die Extremität für 4–5 Tage hochgelagert und wiederholt in zentripedaler Richtung massiert. 50.2.5 Technik der Entnahme des freien
mikrochiurgischen Lymphknotenlappens aus dem Leistenbereich Für die Entnahme eines freien mikrovaskulären Lymphknotenlappens stehen grundsätzlich der Halsbereich und der Leistenbereich zur Verfügung. Da der Leistenbereich den geringeren ästhetischen Spenderdefekt aufweist, wird dieser bevorzugt. Zur Minimierung des funktionellen Spenderdefektes werden die Nodi lymphatici superiolaterales des Tractus horizontalis in das Transplantat eingeschlossen. Da diese Lymphknoten hauptsächlich die Gesäßregion drainieren, ist die Gefahr eines iatrogen induzierten sekundären Lymphödems der unteren Extremität sehr klein (⊡ Abb. 50.10a). Der freie mikrovaskuläre inguinale Lymphknotenlappen entspricht in seiner Durchblutung (Vasae cicumflexa ilium superficales) und Ausdehnung dem klassischen Leistenlappen nach McGregor. Ist auch Haut im Empfängergebiet nötig, wird zusätzlich eine Hautinsel mitpräpariert. Ist nur ein Lymphknotentransplantat notwendig, werden die Lymphknoten über eine quere Inzision entlang der Beugefalte und nach Durchtrennung der Scarpa-Faszie dargestellt. Nun wird der Fettlappen mit den darin enthaltenen lateralen Lymphknoten (hauptsächlich gluteales Drainagegebiet) des oberflächlichen Lymphknotenpakets entlang der A. et V circumflexa ilium superficiales »en bloc« von lateral nach medial direkt von der darunter liegenden Muskelfaszie gehoben. Der Lymphknotenlappen bleibt so lange im Spendergebiet gestielt, bis die Präparation im Empfängergebiet abgeschlossen ist und die Gefäße für den arteriellen und venösen mikrochirurgischen Anschluss vorbereitet
sind. Es wird keine mikrochirurgische lymphatische Anastomose durchgeführt (⊡ Abb. 50.10b). 50.2.6 Technik der freien mikrochirurgischen
Transplantation eines Lymphknotenlappens Die Operation erfolgt in Rückenlage. Der betroffene Arm wird steril abgewaschen und auf einem Handtisch ausgelagert. Für den Hautschnitt wird die ursprüngliche Inzision der axillären Lymphadenektomie wiederverwendet und ggf. nach proximal und distal erweitert. Es ist wichtig, dass der freie inguinale Lymphknotenlappen den gesamten Narbenbereich überspannt und proximal und distal mit dem tiefen Lymphabflüssen in Kontakt kommt. Nach Durchführung der mikrochirurgischen Anastomosen wird eine Easy-Flow-Drainage eingelegt und die Wunde schichtweise verschlossen. Laut Autorenangabe können die Patienten nach 1–3 Tagen entlassen werden und ihre tägliche Arbeit ohne Einschränkung durchführen, mit Ausnahme von schwerer körperlicher Arbeit (6 Wochen Pause). Unmittelbar postoperativ beginnt eine intensive Lymphbehandlung. Hierbei ist nur darauf zu achten, dass für die ersten 2 Wochen keine Kompression im Bereich der mikrovaskulären Anastomosen appliziert wird. 50.2.7 Technik der kombinierten Resektions- und
Drainageoperation Das Prinzip der Operation nach Thompson besteht in der Verlagerung eines ausgedünnten deepithelialisierten Haut-SubkutisLappens in die subfasziale Tiefe der Muskulatur nahe der radialen und ulnaren Gefäß-Nerven-Straße. Der Haut-Subkutis-Lappen soll mit seiner deepithelisierten Randzone als sekundäre Drainagestraße Lymphe aus dem oberflächlichen Drainagebereich zum tiefen Drainagebereich führen (⊡ Abb. 50.11). 50.2.8 Technik der Liposuktion zur Verminderung
überschüssigen Fett- Bindegewebes bei Lymphödemen Insbesondere an der oberen Extremität ist heute die Resektion des überschüssigen und verhärteten Fett- und Bindegewebes durch Liposuktion verbreitet. Durch multiple Inzisionen kann auf diese Weise unter Umständen mehr Subkutangewebe entfernt werden, als dem Überschuss des Gewebes entspricht, sodass auch geringere Volumina des erkrankten Armes im Vergleich zum gesunden möglich sind. Kri-
1395 50.2 · Spezielle Techniken
a
b
⊡ Abb. 50.10 Technik der Entnahme des freien mikrochirurgischen Lymphknotenlappens aus dem Leistenbereich. a Einzugsbereich der inguinalen Lymphknoten. (Aus Berger u. Hierner 2009) b Die Nodi lymphatici superolaterales des Tractus horizontalis werden an den Vasa cicumflexa ilium superficiales gestielt »en bloc« von der darunter liegenden Muskelfaszie präpariert und frei mikrochirurgisch transplantiert. (Aus Berger u. Hierner 2009)
50
1396
Kapitel 50 · Lymphödem der oberen Extremität
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⊡ Abb. 50.11 Technik der kombinierten Resektions- und Drainageoperation zur Reduktion eines chronischen Lymphödems. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
tisch für den Bestand der Gewebereduktion ist eine kontinuierliche konsequente Kompressionstherapie, da durch die Resektion keine Erhöhung der lymphatischen Transportkapazität erreicht wird. Gegebenenfalls ist eine Liposuktion zu erwägen, wenn zuvor die Lymphtransportkapazität etwa durch eine Lymphkollektortransplantation erhöht worden ist, um überschüssiges Fett- und Bindegewebe zu entfernen und im optimalen Fall dann auf eine zusätzliche Kompression verzichten zu können. 50.3
⊡ Tab. 50.3 Schritte der mikrochirurgischen Lymphgefäßnaht und mögliche Fehlerquellen. (Aus Berger u. Hierner 2009) Arbeitsschritte
Fehler und Gefahren
1. Darstellung der Lymphgefäße
Verwechslung mit kleinen Venen, Nerven und Bindegewebesträngen
2. Präparation der Lymphgefäßstümpfe
Aufreißen der Gefäßwand durch zu starken externen Zug oder unkontrolliertes inneres Aufdehnen Kein adäquater Lymphstrom (inadäquater Kollektor, inadäquates Abflussgebiet, zusätzliche proximale Gefäßschädigung)
3. Annäherung der Lymphgefäßstümpfe
Zu große Spannung (Lumeneinengung, Ausreißen der Fäden) Torsion
4. Lymphgefäßnaht
Inadäquate Nahttechnik (Mitfassen der Hinterwand)
5. Kontrolle der Durchgängigkeit
Quetschung von Gefäßwand und/oder Nahtbereich durch inadäquaten Patency-Test
6. Schutz der Lymphgefäßnaht
Fehlende Bedeckung der Anastomose mit gut durchblutetem Gewebe Externer Druck auf Gefäßnaht durch zu straffen Hautschluss im Anastomosenbereich
7. Postoperative Kontrolle und additive Maßnahmen
Einschnürender Verband über der Anastomose (inadäquate Revision)
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Bei der Diagnostik eines Lymphödems ist immer auch eine okkulte Tumorerkrankung in Betracht zu ziehen und sollte ggf. durch ein CT oder ein MRT ausgeschlossen werden. Ein wesentlicher Fehler bei der konservativen Therapie besteht darin, nur eine Lymphdrainage zu applizieren, ohne danach den Arm mittels Kompressionsverband zu bandagieren und später einen maßgeschneiderten Strumpf zu applizieren. Bei der Strumpfversorgung ist auf eine mögliche abschnürende Wirkung zu achten, die ggf. zu einer Zunahme der Anschwellung der distalen Gewebeteile, wie insbesondere der Hand führen kann. Bei der Indikationsstellung zum operativen Eingriff wird häufig zu lange mit einer Rekonstruktionsmöglichkeit gewartet, da offensichtlich die operativen Möglichkeiten nur insgesamt betrachtet werden und nicht beachtet wird, dass speziell für eine Rekonstruktionsoption die Zunahme der sekundären Gewebsveränderungen unvorteilhaft ist. Langes Zuwarten ist demgegenüber nur für Resektionsoperationen angebracht. Für die Entnahme von Lymphgefäßtransplantaten ist immer das Vorhandensein von vorbestehenden Lymphabflussbehinderungen an der Entnahmestelle zu überprüfen. Immer sind bei der Ent-
nahme von Lymphbahnen gefärbte Lymphbahnen zu belassen, um einen ungestörten Lymphabtransport zu gewährleisten. Die möglichen Fehlerquellen bei der mikrochirurgischen Lymphgefäßnaht sind in ⊡ Tab. 50.3 zusammengefasst.
1397 Weiterführende Literatur
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50
1399 50.3 · Weiterführende Literatur
XIII Arthrose und Arthritis
51
Rhizarthrose – 1401 Raymund E. Horch, Frank Unglaub
52
Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand) – 1413 Stefan Rehart, Martina Henniger (Mit einem Beitrag von Cornelia Wortmann und Hartmut Michels)
XIII 50
1401 50.3 · Weiterführende Literatur
Rhizarthrose Raymund E. Horch, Frank Unglaub
51.1
Allgemeines – 1402
51.1.1 51.1.2 51.1.3 51.1.4 51.1.5 51.1.6 51.1.7 51.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1402 Epidemiologie – 1403 Ätiologie – 1403 Diagnostik – 1404 Klassifikation – 1404 Indikationen und Differenzialtherapie – 1405 Therapie – 1405 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1406
51.2
Spezielle Techniken
51.2.1 51.2.2 51.2.3 51.2.4 51.2.5 51.2.6 51.2.7 51.2.8 51.2.9 51.2.10
Arthroskopie des Daumensattelgelenks – 1406 Denervierung des Daumensattelgelenks nach Wilhelm – 1406 Bandplastik nach Eaton u. Littler – 1406 Umstellungsosteotomie des Os metacarpale I nach Wilson – 1407 Alleinige Resektion des Os trapezium nach Gervis – 1407 Resektion des Os trapezium und Suspensionsarthroplastik nach Epping – 1407 Resektion des Os trapezium und Suspensionsarthroplastik nach Lundborg – 1408 Resektion des Os trapezium und Suspensionsarthroplastik nach Beckenbaugh-Linscheid Arthrodese des CMC-1-Gelenks – 1408 Begleitende Operationen – 1408
– 1406
51.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1409 Weiterführende Literatur
– 1409
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1408
51
1402
51.1
51
Kapitel 51 · Rhizarthrose
Allgemeines
Bei der Rhizarthrose handelt es sich meist um eine idiopathische Arthrose des Daumensattelgelenks, an der häufig Frauen im mittleren Alter erkranken. Selten tritt die Rhizarthrose posttraumatisch auf. Die Röntgenuntersuchung ist hilfreich, sowohl bei der Diagnosestellung als auch bei der Therapieplanung. Die konservative als auch die operative Therapie spielen in der Behandlung der Rhizarthrose eine wichtige Rolle. Ziel der Therapie ist die Schmerzreduktion, bei größtmöglicher Erhaltung der Beweglichkeit und Kraft. 51.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Die Articulatio carpometacarpea pollicis (CMC-1-Gelenk) wird gebildet aus den Gelenkflächen des Os trapezium und dem 1. Metakarpaleknochen. Die Gelenkfläche des Trapeziums ist in dorsopalmarer Richtung konvex und in radioulnarer Richtung konkav gebildet. Die Gelenkfläche der Os-metacarpale-I-Basis ist korrespondierend dazu gegensinnig gekrümmt. Diese korrespondierenden Gelenkflächen sind nur in der Hälfte der Fälle deckungsgleich. Das Os trapezium besitzt insgesamt 4 Gelenkflächen. Es artikuliert neben dem Os metacarpale auch mit dem Os metacarpale II, dem distalen Skaphoidpol und dem Os trapezoideum. Neben der Flexion/Extension und Abduktion/Adduktion ist auch eine Pronation/Supination des Daumensattelgelenks möglich. Im Daumensattelgelenk können Bewegungen ähnlich einem Kugelgelenks ablaufen. Diese Gelenkfreiheit ist insbesondere für den Pinch-Griff und die Daumenopposition notwendig. Eine Gelenkkongruenz ist im Daumensattelgelenk in keiner Stellung des Gelenks gegeben. Die Stabilität im CMC-1-Gelenk wird nur in geringem Ausmaß durch den knöchernen Anteil des Gelenks ermöglicht und hauptsächlich durch Ligamenti gewährleistet. Der Verlust der Ligamentstabilität wird als ursächlicher Faktor der Rhizarthrose diskutiert. Die Gelenkkapsel des Daumensattelgelenks ist aufgrund der großen Beweglichkeit des Gelenks sehr weit und schlaff. Für eine sichere Führung des Gelenks sind daher mehrere Verstärkungsligamente notwendig (⊡ Abb. 51.1). Mindestens ein oder mehrere Ligamente sind in jeder Position des Daumensattelgelenks angespannt. Folgende Ligamente spielen eine wichtige Rolle für die Stabilität des Daumensattelgelenks: ▬ Lig. carpometacarpale obliquum anterius superficiale (SAOL), ▬ Lig. carpometacarpale obliquum anterius profundum (DAOL, »Beak-Ligament«),
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Lig. collaterale ulnare (UCL), Lig. intermetacarpale (IML), Lig. intermetacarpale dorsale (DIML), Lig. carpometacarpale obliquum posterius (POL), Lig. carpometacarpale dorsoradiale (DRL).
Lig. carpometacarpale obliquum anterius superficiale (SAOL). Dieses Ligament ist breitbasig und kräftig und wird insbesondere bei der Pronation und extendiertem Gelenk angespannt. Zusätzlich begrenzt das SAOL die palmare Subluxation in Pronation, Supination und Neutralstellung. Das Ligament verbindet das palmare Tuberkulum des Trapeziums mit der palmaren Basis des 1. Mittelhandknochens.
Lig. carpometacarpale obliquum anterius profundum (DAOL). Das DAOL, auch als »Beak-Ligament« bekannt, liegt unter dem SAOL. Es gilt als intraartikuläres Ligament und liegt nahe dem Rotationszentrums des Daumensattelgelenks. Es gilt als Drehpunkt für die Rotation, insbesondere bei Pronation, und wird in Abduktion und Extension angespannt. Das DAOL und das SAOL stabilisieren den 1. Mittelhandknochen gegen eine palmare Subluxation ähnlich der Funktion der palmaren Platte am Finger.
Lig. collaterale ulnare (UCL). Das UCL ist ein extrakapsuläres Ligament und liegt ulnarseitig des SAOL.
Lig. intermetacarpale (IML). Das IML ist eine weitere extrakapsuläre Struktur und ist in Opposition und Abduktion sowie Supination angespannt. Es stabilisiert den Daumen während der radiopalmaren Bewegung. Das Ligament zieht von der palmarradialen Basis des 2. Mittelhandknochens an die ulnare Basis des 1. Mittelhandknochens. Dieses Band verhindert die Proximalisierung nach Trapeziumresektion und hemmt die Abduktion des Daumens.
Lig. intermetacarpale dorsale (DIML). Das DIML ist ebenfalls eine extrakapsuläre Struktur. Es ist, wie das palmare Intermetakarpalligament, zwischen der Basis des Daumens sowie der Basis des Zeigefingers orientiert. Lig. carpometacarpale obliquum posterius (POL). Das POL ist ein kapsuläres Ligament, das teilweise durch die Extensorpollicis-longus-Sehne (EPL) bedeckt ist. Das POL ist in starker Abduktion, Opposition und Supination angespannt und zieht vom dorsoulnaren Tuberkulum des Trapeziums zum dorsoulnaren Tuberkel des 1. Mittelhandknochens.
IML IML
DIML
DIML
⊡ Abb. 51.1 Stabilisierende Ligamente des Daumensattelgelenks: Lig. carpometacarpale obliquum anterius superficiale (SAOL), Lig. carpometacarpale obliquum anterius profundum (DAOL, »BeakLigament«), Lig. collaterale ulnare (UCL), Lig. intermetacarpale (IML), Lig. intermetacarpale dorsale (DIML), Lig. carpometacarpale obliquum posterius (POL), Lig. carpometacarpale dorsoradiale (DRL)
SAOL
SAOL DRL DAOL
POL UCL
1403 51.1 · Allgemeines
Lig. carpometacarpale dorsoradiale (DRL). Dieses kapsuläre Ligament ist das dickste und längste Ligament zur Stabilisierung des CMC-1-Gelenks. Es entspringt fächerförmig am Os trapezium und zieht zur dorsalen Basis des 1. Mittelhandknochens. Das Ligament ist in dorsaler und dorsoradialer Subluxation gespannt. Die einzelnen Ligamente sind in ⊡ Abb. 51.1 von ulnarer, palmarer und dorsaler Ansicht dargestellt. Xu et al. (1988) konnten zeigen, dass das CMC-1-Gelenk bei Frauen kleiner, weniger kongruent und mit einer dünneren Knorpelschicht ausgestattet ist als bei Männern. Die Bewegungsausmaße des Daumensattelgelenks liegen durchschnittlich bei 53° Flexion/Extension und bei 42° Abduktion/Adduktion (Cooney und Chao). Durch den degenerativen Prozess des Daumensattelgelenks kommt es zu einer Elongation des ligamentären Kapsel-Band-Apparates mit radiodorsaler Subluxationsneigung der Basis des 1. Mittelhandknochens. Die Kraftbelastung des Daumensattelgelenks ist um ein Vielfaches gesteigert im Vergleich zum Metakarpophalangealgelenk bzw. dem Interphalangealgelenk (Cooney und Chao). Neben dem Bandapparat stabilisieren die intrinsischen und extrinsischen Muskeln das Daumensattelgelenk. Folgende Muskeln tragen zu einer Stabilisierung des Daumens bei: ▬ M. extensor pollicis longus (EPL), ▬ M. extensor pollicis brevis (EPB), ▬ M. flexor pollicis longus (FPL), ▬ M. adductor pollicis (ADD), ▬ M. flexor pollicis brevis (FPB), ▬ M. abductor pollicis longus (APL), ▬ M. abductor pollicis brevis (APB), ▬ M. opponens pollicis (OPP), ▬ M. interosseus dorsalis I (ID). Die stabilisierenden intrinsischen und extrinsischen Muskeln sind in ⊡ Abb. 51.2 dargestellt. Die Hauptbewegungen im Daumensattelgelenk (Ab- und Adduktion, Extension und Flexion) erfolgen um zwei Achsen, die beiden Hauptachsen stehen in einem Winkel von 90° zueinander.
51.1.2 Epidemiologie In der Regel werden Frauen um das 50. Lebensjahr von der Rhizarthrose betroffen. Die Daumensattelgelenksarthrose tritt häufig beidseits auf (in 20–30%) und betrifft nicht bevorzugt eine Hand. Frauen erkranken 10- bis 15-mal häufiger an Rhizarthrose als Männer. Über ein gehäuftes Auftreten nach der Menopause wurde ebenfalls berichtet. Es konnte gezeigt werden, dass Frauen ein kleineres Os trapezium im Verhältnis zum Os metacarpale I besitzen als Männer. Die kaukasische Bevölkerung ist am häufigsten betroffen. Weiterhin scheint Adipositas ein determinierender Faktor der Rhizarthrose zu sein. Handwerker und Schwerstarbeiter sind seltener betroffen als Personen mit geringer bis mittlerer Beanspruchung des Daumens und häufigem Pinchund Oppositionsgriff. 51.1.3 Ätiologie Der Name »Rhiz«-Arthrose (»Wurzel«-Arthrose) wurde von Forestier (1937) geprägt. Bei der Arthrose des Daumensattelgelenks handelt es sich nach Swanson in den meisten Fällen um eine periossäre Arthrose des Trapeziums. Die Arbeiten von North u. Eaton (1983) konnten jedoch zeigen, dass eine Gelenkarthrose zwischen Os trapezium und trapezoideum und zwischen Os trapezium und metacarpale II selten ist (ca. 1%). Die Bandlaxizität wird als prädisponierender Faktor der Rhizarthrose diskutiert. Doerschuk et al. (1999) postulierten, dass das Beak-Ligament eine entscheidende Rolle für die Stabilität des Daumensattelgelenks spielt. Bei Instabilität dieses Ligaments kommt es zu einer dorsalen Translation des Os metacarpale I. Als Frühzeichen der Bandlockerung wird eine knöcherne Ausziehung an der Basis des 2. Metakarpaleknochens gesehen. Diese Spornbildung resultiert aus einer Teilverknöcherung des Lig. intermetacarpale dorsale. Die bei der Opposition des Daumens auftretende Gelenkinkongruenz des Daumensattelgelenks wird bei Bandlaxizität noch verstärkt. Die geringen Knorpelkontaktflächen sind dementsprechend einer hohen Druck-
⊡ Abb. 51.2 Zugrichtung der Daumenmuskeln und ihr Verhältnis zu den Hauptbewegungsachsen des Daumensattelgelenkes. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
51
1404
51
Kapitel 51 · Rhizarthrose
belastung ausgesetzt. Hierdurch entstehen Knorpeldefekte an den artikulierenden Gelenkflächen. Die dorsoradiale Gelenkfläche ist erst im fortgeschrittenen Stadium der Rhizarthrose degnerativ verändert. Im weiteren Verlauf der Lockerung des ulnaren Bandapparates kommt es zur Tonuserhöhung der Beuge- und Adduktionsmuskulatur. Hierdurch entsteht das sog. Forestier-Zeichen (⊡ Abb. 51.3; s. auch weiter unten). Die sekundäre Arthrose infolge eines Traumas, z. B. nach einer Bennett-Fraktur, steht zahlenmäßig in der Minderheit im Vergleich zur idiopathischen Arthrose. Weiterhin abgrenzbar ist die sekundäre, entzündliche Rhizarthrose, z. B. infolge von Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis, Stoffwechselerkrankungen oder Infektionen. 51.1.4 Diagnostik Anamnese Die Patienten berichten häufig über Schmerzen im Daumensattelgelenk bei Umgreifen von Gegenständen wie z. B. einer Wasserflasche. Auch Drehbewegungen z. B. beim Schlüsselgriff sind schmerzhaft. In den Frühstadien beschreiben die Patienten ebenfalls eine Instabilität des Daumensattelgelenks. Im Verlauf von mehreren Jahren kommt es zu einer dorsalen Subluxationsstellung des Daumes, dem sog. Pollex adductus. Es handelt sich um eine Subluxationsstellung des 1. Mittelhandknochens gegenüber dem Os trapeziums. Dieses Erscheinungsbild wird als Forestier-Zeichen bezeichnet. Im angloamerikanischen Raum wird diese Stellung auch als »shoulder sign« bezeichnet (⊡ Abb. 51.3). Durch die Subluxation des CMC-1-Gelenks stellt sich der 1. Mittelhandknochen parallell zum 2. Mittelhandknochen. Insbesondere der Zug bzw. die Kontraktur des M. adductor pollicis ist hierfür verantwortlich. Konsekutiv kommt es zu einer Hyperextensionsstellung des Metakarpophalangealgelenks und eine Flexionsstellung des Interphalangealgelenks. Bei aktivierter Arthrose kann zusätzlich eine deutliche Schwellung am Daumensattelgelenk auftreten und palpiert werden. Die Hyperextensionsstellung des Metakarpophalangealgelenks sollte mit dem Winkelmesser ausgemessen und dokumentiert werden. Hierzu kann man den Patienten z. B. große Gegenstände wie eine Flasche umgreifen lassen. Zeigt sich hier eine Hyperextension von mehr als 20°, können sich hieraus weitere operative Schritte ergeben (s. unten) ( Kap. 22). Klinische Tests Beim sog. Grinding-Test wird das Daumensattelgelenk durch einen axialen Druck des Untersuchers über dem 1. Mittelhandknochen einer Drehbewegung ausgesetzt. Dies führt beim Patienten zu Schmerzen bei Daumensattelgelenksarthrose. Eine Krepitation ist teilweise zu vernehmen. Ein weiterer Test ruft Schmerzen bei Palpationen des Daumensattelgelenks hervor, wenn der 1. Mittelhandknochen aus der Subluxationsstellung reponiert wird. Der Distraktionstest wird durch passive Rotation des 1. Strahls und gleichzeitigen axialen Zug ausgeübt. Auch hier treten typischerweise Schmerzen beim Patienten mit Rhizarthrose auf. Häufige Begleiterkrankungen Weitere handchirurgische Erkrankungen wie das Karpaltunnelsyndrom oder die Ringbandstenose sind häufig mit der Rhizarthrose kombiniert. Differenzialdiagnosen ▬ Tendovaginitis stenosans de Quervain, ▬ Ringbandstenose,
⊡ Abb. 51.3 Pollex adductus. Durch die Instabilität des Kapselbandapparates entsteht eine Subluxation der Basis des 1. Mittelhandknochens nach dorsoradial. Weiterhin tritt eine Adduktionkontraktur des M. adductus pollicis auf. Die 1. Kommisur wird schmaler, der 1. Mittelhandknochen stellt sich parallel zum 2. Mittelhandknochen. Durch die Muskeldysbalance und den Versuch des Patienten die Zeigefinger-Daumen-Spannweite zu erhalten, kommt es zu einer Überstreckstellung des Grundgelenks und eine Beugestellung des Endgelenks. Die Fehlstellung wird im europäischen Raum als Forestier-Zeichen, im angloamerikanische Raum als »shoulder sign« bezeichnet. Osteophyten und eine Gelenksynovitis im Basisbereich des Os metacarpale I tragen ebenfalls zu dieser typischen Daumenstellung bei
▬ STT-Gelenksarthrose, ▬ Sesambeinarthrose des Daumens, ▬ Skaphoidpseudarthrose. 51.1.5 Klassifikation Am weitesten verbreitet ist die röntgenologische Klassifikation der Daumensattelgelenksarthrose von Eaton u. Littler (1973). Diese Klassifikation setzt ein streng seitliches Röntgenbild des Daumens mit übereinander projezierten Ossa sesamoidaea sowie eine Zentrierung auf das Os trapezium voraus. Die Stadienbeschreibung ist in ⊡ Tab. 51.1 aufgeführt. Aufgrund der nach palmar gerichteten Oppositionsstellung des Daumens kann eine Darstellung aller Gelenkflächen des Os trapezium nur in hyperpronierter Hand erfolgen. In maximal pronierter Hand (»Robert‘s view«) ist es möglich, alle vier Facetten des Os trapezium darzustellen. Dies setzt jedoch eine maximal innenrotierte Schulter voraus. Es konnte erwartungsgemäß gezeigt werden, dass die radiologischen Veränderungen verglichen mit den anatomischen Veränderungen zeitlich verzögert auftreten.
1405 51.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 51.1 Röntgenologische Klassifikation der Rhizarthrose nach Eaton und Littler
⊡ Tab. 51.2 Therapeutische Möglichkeiten entsprechend der einzelnen Klassifikationstadien nach Eaton und Littler (1973)
Stadium
Röntgenologische Zeichen
Stadium
Chirurgische Therapiemöglichkeiten
I
Normale Gelenkkonturen, ggf. erweiterter Gelenkspalt (Erguss), geringe Subluxation des Os metacarpale I
I–II
II
Geringe Gelenkspaltverschmälerung, Osteophyten kleiner als 2 mm, deutliche Subluxation des Os metacarpale I
Denervierung nach Wilhelm (Wilhelm 1972) Bandplastik nach Eaton und Littler (Eaton und Littler 1973) Arthroskopie mit Débridement Korrekturosteotomie (Wilson 1973)
II
Sklerotische und zystische Veränderungen im subchondralen Knochen, Osteophyten größer als 2 mm, deutliche Subluxation des Os metacarpale I, deutliche Gelenkspaltverschmälerung.
II–IV
IV
Gelenkdestruktion, zystische, sklerotische Umbauvorgänge, Mitbeteiligung des skaphotrapezialen Gelenks
Trapeziumresektion Trapeziumresektion und Suspensionsarthroplastik Trapeziumresektion und Interpostionsarthroplastik Trapeziumresektion und Suspensions-InterpositionsArthoplastik Silikon-Spacer Totale Endoprothese Ggf. Auflösung der 1. Kommissur, Muskel-Release Ggf. operative Therapie der Hyperextension des Daumengrundgelenks
51.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Bei Diagnosestellung der Rhizarthrose sollte zunächst ein konservativer Therapieversuch erfolgen. Selbst in weit fortgeschrittenem Stadium lässt sich eine deutliche Besserung der Schmerzsymptomatik durch ein konservatives Vorgehen erreichen. Bei jungen Patienten mit einem Frühstadium (Stadium I) der Rhizarthrose ist eine Denervierung bzw. Arthroskopie und Debridement als Therapieversuch möglich. Ebenfalls im Frühstadium hat sich die Osteotomie des 1. Mittelhandknochens bewährt. Ältere Patienten profitieren nach Ausreizung der konservativen Therapie von einer Resektionsarthroplastik des Os trapezium. Hier werden verschiedene Möglichkeiten der operativen Therapie der Daumensattelgelenkarthrose unterschieden. In der Regel beinhalten alle Techniken, die auf Gervis (1949) zurückzuführende vollständige Trapeziumresektion mit straffer Kapselnaht. Es wird unterschieden zwischen: ▬ Trapeziumresektion mit Sehneninterposition (z. B. Palmarislongus-Sehne, Abductor-pollicis-longus-Sehne, Flexor-carpiradialis-Sehne), ▬ Trapeziumresektion mit Sehnensuspensionsplastik (z. B. Abductor-pollicis-longus-Sehne, Flexor-carpi-radialis-Sehne) und ▬ Trapeziumresektion mit Sehneninterposition und Suspensionsplastik (Ligamentrekonstruktion). Die alleinige Trapeziumresektion und die Trapeziumresektion mit Sehneninterposition werden häufiger im Stadium II und III angewandt, wenn eine gewisse Kapselbandstabilität des CMC1-Gelenks noch vorhanden ist. Im Stadium IV wird meist eine zusätzliche Stabilisierung durch Ligamentrekonstruktion (Suspensionsarthroplastik) kombiniert mit Trapeziumresektion und Sehneninterposition durchgeführt. Die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Techniken werden kontrovers diskutiert. Trotz randomisierter Studien kann eine klare Überlegenheit einer Operationstechnik nicht nachgewiesen werden). Im angloamerikanischen Raum hat sich die Ligamentrekonstruktion mit Sehneninterposition LRTI (»ligament reconstruction tendon interposition arthroplasty«) etabliert. Eine Versteifung des CMC-1-Gelenks ist nur in Ausnahmefällen, bei jungen, handwerklich schwer arbeitenden Patienten und dann nur bei isolierter Rhizarthrose indiziert (⊡ Abb. 51.10).
Silikon-Spacer nach Swanson werden häufig und erfolgreich in der Rheumachirurgie eingesetzt. Ihr Einsatz bei der Rhizarthrose wird kontrovers diskutiert. Bezüglich Indikation und Ergebnisse der in der letzten Zeit häufiger eingesetzten totalen Endoprothese liegen ebenfalls kontroverse Meinungen vor. Eine ausführliche Darstellung erfolgt in Kap. 11. Ein Therapieschema ist in ⊡ Tab. 51.2 dargestellt. 51.1.7 Therapie
Konservative (nichtoperative) Therapie Die konservative Therapie der Rhizarthrose des Daumens beinhaltet das Tragen einer Orthese des Daumensattelgelenks (⊡ Abb. 51.4) und die Verabreichung von NSAR. Hierbei umfasst die Orthese zirkulär die Handwurzel und die Mittelhand. Des Weiteren wird der Daumen bis kurz vor dem Interphalangealgelenk in leichter Oppositionsstellung fixiert. Die Berührung der Daumenspitze mit den übrigen Fingern sollte möglich sein. Bei schlechter Weichteilsituation oder stärkerer Deformierung ist die Individualversorgung vorzuziehen, sonst ist auch eine konfektionierte Orthese ausreichend. Zusätzlich kann eine Nachtlagerungsschiene sinnvoll sein. Weiss et al. (2000) konnten in einer prospektiven Studie zeigen, dass eine kurze Handgelenkorthese die gleiche Schmerzreduktion wie eine lange Handgelenkorthese erreicht, bei deutlich besserer Funktion des Handgelenks. Weiterhin hat sich die Infiltration von Kortikoiden unter sterilen Kautelen in und um das CMC-1-Gelenk im Radialisblock als erfolgreich erwiesen. Jedoch kann eine wiederholte Infiltration negative Auswirkungen auf die Stabilität des kapsuloligamentären Bandapparates haben.
Operative Therapie Die chirurgische Therapie erfolgt anhand der Klassifizierung nach Eaton u. Littler (1973). Ziel der Therapie ist die langfristige Schmerzreduktion bei Wiedererlangung von größtmöglicher Beweglichkeit und Kraft. Da die Übergänge der einzelnen Stadien fließend sind, sind die chirurgischen Therapieoptionen nicht genau einem Stadium zuzuordnen. Fast alle Operationstechniken der fortgeschrittenen Rhizarthrose beinhalten die Trapeziumresektion. Dies führt zu einer Änderung der Kinematik des Skap-
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1406
Kapitel 51 · Rhizarthrose
51
⊡ Abb. 51.4 Daumensattelgelenkorthese. a Individuell gefertigt, b konfektionierte, individuell angepasste Daumensattelgelenkorthese. (Aus Specht et al. 2007)
a
hoids und somit sollte ein intaktes skapholunäres (SL-) Band bei Trapeziumresektion vorliegen. Auch sollten intraoperativ bei der Trapeziumresektion die Gelenkflächen zwischen Skaphoid und Os trapezoideum beurteilt werden und ggf. eine Resektion von 2–3 mm des distalen Skaphoidanteils bei ausgeprägter Arthrose durchgeführt werden. 51.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Da es sich bei der Rhizarthrose per definitionem um eine degenerative Veränderung des Gelenks handelt, besteht dieses Krankheitsbild im Allgemeinen nicht im Kindesalter. Bei einigen wenigen Kindern treten genetisch bedingte Knorpelveränderungen systemisch auf, hier kann dann auch das CMC-I-Gelenk betroffen sein. 51.2
Spezielle Techniken
51.2.1 Arthroskopie des Daumensattelgelenks Die Arthroskopie des Daumensattelgelenks wird bis jetzt nur in kleinen Fallzahlen durchgeführt, zum Teil in Kombination mit einem Débridement des Gelenks und einer Osteotomie. Die Indikation zur Arthroskopie liegt in den frühen Stadien der Rhizarthrose, insbesondere bei jungen Patientinnen, bei denen man eine invasivere Operationstechnik noch hinauszögern möchte. Derzeit fehlen noch klinische Studien, insbesondere Langzeituntersuchungen, sodass noch keine generelle Empfehlung zu dieser Operationstechnik gegeben werden kann ( Abschn. 13.2.8). 51.2.2 Denervierung des Daumensattelgelenks
nach Wilhelm Für die Denervierung des Daumensattelgelenkes ist die Ausschaltung der Gelenknerven des R. superficialis n. radialis, des R. ar-
b
ticularis spatii interossei I, des N. cutaneus antebrachii radialis sowie die Gelenkäste des N. digitalis dorsalis proprius I und des R. articularis r. palmaris n. mediani erforderlich. Verschiedene Techniken wurden bereits publiziert, jedoch sind nur wenige klinische Studien zu diesem Thema veröffentlicht. Zusammenfassend kann die Denervierung bei jungen Patienten als temporäre Therapieoption in frühen Stadien der Rhizarthrose durchgeführt werden, wenn die konservative Therapie bereits ausgereizt ist. Der Degenerationsprozess des Daumensattelgelenks wird jedoch nicht aufgehalten und eine weitere Operation ist im Verlauf häufig notwendig. Eine genaue Darstellung der Operationstechnik erfolgt in Kap. 17. 51.2.3 Bandplastik nach Eaton u. Littler Die Bandplastik nach Eaton u. Littler (1973) ist indiziert bei Schmerzen im Sattelgelenk und gleichzeitig klinisch und röntgenologisch nachweisbarer Subluxationstendenz. Als Kontraindikation wird die weit fortgeschrittene Arthrose im Sattelgelenk oder in den übrigen Gelenken des Os trapezium angesehen. Aus diesem Grund empfehlen Eaton et al. (1984) die Bandplastik nur in Stadium I gegebenenfalls auch Stadium II der Rhizarthrose. Hierbei wird die längs halbierte Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR) gespalten und durch ein distal durch die Basis des Os metacarpale I gebohrtes Loch gezogen, dann unter der Abductor-pollicis-longus-Sehne und weiter um die Flexor-carpiradialis-Sehne geführt und schließlich fixiert (⊡ Abb. 51.5). Eine Kirschner-Draht-Osteosynthese erfolgt nach Reposition des Os metacarpale und vor der endgültigen Fixierung. Hierbei werden das Os metacarpale und das Os trapezium mit einem 1,2 mm starken Kirschner-Draht temporär fixiert. Durch diese Sehnenplastik soll die Stabilität des kapsuloligamentären Bandapparates, insbesondere des Lig. obliquus anterior, wiederhergestellt werden. Eine Kirschner-Draht-Entfernung erfolgt nach 4 Wochen und danach eine weitere Ruhigstellung des Daumens für 1 Woche.
1407 51.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 51.6 Umstellungsosteotomie des Os metacarpale I nach Wilson
⊡ Abb. 51.5 Bandplastik nach Eaton u. Littler
Eine weitere Operationstechnik zur Stabilisierung des KapselBand-Apparates wurde von Brunelli et al. (1989) veröffentlicht. Hierbei erfolgt die Aufhängung mit der Abductor-pollicis-longus-Sehne durch die Basen der ersten beiden Mittelhandknochen ( Kap. 22). 51.2.4 Umstellungsosteotomie des Os metacarpale I
nach Wilson Eine weitere Operationstechnik im frühen Stadium der Rhizarthrose ist die Osteotomie nach Wilson (1973). Diese Technik hat eine Kraftrichtungsänderung des 1. Mittelhandknochens zum Ziel und somit eine Entlastung des bereits degenerativ geschädigten Sattelgelenks durch Verschiebung der Kontaktfläche des Sattelgelenks vom palmaren geschädigten Knorpel zum dorsalen intakten Knorpel. Die Indikation besteht bei erst- und zweitgradigen Stadien der Rhizarthose. Ein radial basierender Keil von 20–30° wird ca. 2 cm vom CMC-1-Gelenk mit der Säge reseziert. Die Form des Keils ermöglicht einerseits eine Extensionstellung (in der anterior-posterior Ebene des Os metacarpale), andererseits eine Abduktionsstellung (in der lateralen Ebene des Os metacarpale) des Daumens (⊡ Abb. 51.6). Die Kortikalis der Gegenseite wird nicht durchtrennt. Wilsons Orginaltechnik beschreibt eine intraossäre Drahtnaht, verschiedene andere Osteosynthesemethoden, wie z. B. eine reine Kirschner-Draht-Osteosynthese oder Plattenosteosynthese, sind ebenfalls möglich. Eine Ruhigstellung erfolgt für 6 Wochen mit Daumen in Abduktionsstellung (Wilson 1973). 51.2.5 Alleinige Resektion des Os trapezium nach
Gervis Nach Hautinzision und Darstellung der Gelenkkapsel unter Schonung des R. superficialis n. radialis erfolgt die Eröffnung der Gelenkkapsel. Dies kann nach Gervis (1949) in Form eines H oder
längs durchgeführt werden. Das Os trapezium kann dann mit einem Skalpell aus der Gelenkkapsel geschält und mit einem Raspatorium weiter gelöst werden. Die Einbringung eines KirschnerDrahtes mit Gewinde (z. B. 2 mm Stärke) ermöglicht als Joystick eine bessere Fixierung des Os trapeziums und erleichtert die Exstirpation. Eine Teilung des Os trapeziums kann mit einem Meißel erfolgen. Hier muss unbedingt auf den Verlauf der Flexor-carpiradialis-Sehne und der A. radialis geachtet werden. Die Entfernung des Os trapezium kann dann mit dem Luer erfolgen. Die alleinige Trapeziektomie stellt ein ausreichendes Verfahren bei noch stabilem Kapsel-Band-Apparat dar. Bei der Trapeziumresektion, ob als alleiniger Eingriff oder in Kombination mit einer Sehnenplastik, sollte insbesondere auf die komplette Entfernung des Os trapezium zwischen den ersten beiden Metakarpalbasen geachtet werden. 51.2.6 Resektion des Os trapezium und
Suspensionsarthroplastik nach Epping Bei der Operationstechnik nach Epping erfolgt eine Stabilisierung des 1. Mittelhandknochens nach Trapeziumexstirpation durch Rekonstruktion oder Verstärkung der Bandverbindung zwischen den Basen der Mittelhandknochen I und II. Es erfolgt eine transossäre Verlagerung der Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR), ausgehend von der Annahme, dass die Bandlockerung an der Basis der Metakarpalknochen I und II ein wichtiger Faktor für die Entstehung der Sattelgelenkarthrose ist. Zunächst erfolgt eine dorsale Längsinzision unter Schonung des R. superficialis n. radialis im Bereich der Tabatière. Danach Darstellung des Kapselbandapparates, Längsinzision der Kapsel und Exstirpation des Os trapeziums. Hierbei muss unbedingt eine Verletzung der FCR in der Tiefe vermieden werden, insbesondere wenn das Os trapezium durch Zerkleinerung mit dem Meißel erfolgt. Nach Trapeziumresektion wird in der Tiefe die FCR-Sehne sichtbar. Sie wird nach proximal zum FCR-Kanal mit der Schere weiter gelöst und mit einem gebogenen Sehnenhäkchen nach distal vorgezogen. Bei gleichzeitiger Beugung des Handgelenks kann so eine Sehnenstrecke von etwa 5–6 cm Länge mobilisiert werden. Die Rekonstruktion der Bandverbindung zwi-
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1408
Kapitel 51 · Rhizarthrose
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⊡ Abb. 51.7 Resektion des Os trapezium und Aufhängearthroplastik nach Epping
⊡ Abb. 51.8 Resektion des Os trapezium und Aufhängearthroplastik nach Lundborg
schen Metakarpale I und II erfolgt dann durch einen von der FCRSehne abgespaltenen Streifen, der durch einen etwa 3,5 mm großen Bohrkanal in der Metakarpale-I-Basis gezogen und im Bereich der Metakarpale-II-Basis mit sich selbst vernäht wird (⊡ Abb. 51.7). Eine zu straffe Fesselung sollte vermieden werden, da dies zu vermehrter Reibung zwischen den Metakarpalebasen und somit einem arthrotischen Prozess in diesem Bereich führt. Ohne weitere Interposition wird die Kapsel verschlossen und der Daumen für 3 Wochen in Abspreizung ruhiggestellt. Geldmacher und Woppmann empfehlen die Verblockung der Sehne in ihrem Bohrkanal zusätzlich durch einen aus dem resezierten Trapezium gewonnenen Spongiosakeil.
einer Sehneninterposition. Die halbierte FCR-Sehne wird durch ein Bohrloch, das in der Basis des 1. Mittelhandknochens platziert wurde, hindurchgezogen. Hierbei ist zu beachten, dass das Bohrloch im Lot zur Ebene des Daumennagels gebohrt wurde. Dann werden die FCR-Anteile wieder vereinigt und miteinander vernäht (⊡ Abb. 51.9). Der Rest der FCR-Sehne kann dann als Platzhalter für das resezierte Os trapezium genutzt werden. Im angloamerikanischen Raum erfolgt die komplette Entnahme der FCR, da gezeigt werden konnte, dass keine subjektiven und objektiven Einschränkungen bei kompletter Entnahme der FCR im Vergleich zur halbierten FCR bestehen. Hier ist dann jedoch keine Vereinigung der FCR-Hälften möglich. Eine ähnliche Operationstechnik beschrieb Weilby (1988). Hierbei wird ein ca. 10 cm langer Streifen der FCR-Sehne (ein Drittel der Breite) proximal abgesetzt und bis zu ihrem Ansatz am 2. Mittelhandknochen verfolgt. Dann wird die gehobene Sehne in einer Achtertour um die APL-Sehne geführt und wiederum mit den übrigen zwei Dritteln der FCR-Sehne vernäht. Der Sehnenrest wird dann zu einer Kugel geformt und als Platzhalter für das resezierte Trapezium genutzt. Ein Bohrloch an der Basis des 1. Mittelhandknochens ist bei dieser Operationstechnik nicht notwendig.
51.2.7 Resektion des Os trapezium und
Suspensionsarthroplastik nach Lundborg Die Suspensionsarthroplastik nach Lundborg erfolgt nach Exzision des Os trapeziums mithilfe der Abductor-pollicis-longus-(APL-) Sehne. Hierbei wird die Sehne an ihrem distalen Ansatz belassen und ca. 6–7 cm weiter proximal reseziert. Bei drei vorhandenen APL-Sehnen-Anteilen wird die radial liegende Sehne verwendet, bei zwei APL-Sehnen-Anteilen, die radiale Sehne längs halbiert. Die Sehne wird dann durch einen Längsinzision der Flexor-carpi-radialis-Sehne durchgezogen und mit sich selbst vernäht. Bei ausreichend langer Sehne kann auch eine Achtertour erfolgen (⊡ Abb. 51.8). Es erfolgt eine Ruhigstellung des Daumens für 4–5 Wochen. 51.2.8 Resektion des Os trapezium und
Suspensionsarthroplastik nach Beckenbaugh-Linscheid Diese Operationstechnik geht auf Burton (1983) zurück. Eine Vielzahl von Varianten besteht hinsichtlich dieser Operationstechnik. Hierbei erfolgt eine Trapeziumresektion und eine Aufhängeplastik mit einer halbierten Flexor-carpi-radialis-(FCR-)Sehne und
51.2.9 Arthrodese des CMC-1-Gelenks ( Kap. 23.2.28)
51.2.10 Begleitende Operationen
Therapie der Hyperextensionsstellung des Metakarpophalangealgelenk Wie bereits weiter oben erwähnt, bewirkt die Parallelstellung des 1. zum 2 Mittelhandknochen und die Kontraktur des M. adductor pollicis eine Hyperextension im Metakarpophalangealgelenk (MCP). Insbesondere bei weit fortgeschrittener Rhizarthrose kann sie eine Hyperextensionsstellung von 40° und mehr im MCP-Gelenk erreichen. Hier kann eine Fixierung des radialen
1409 Weiterführende Literatur
⊡ Abb. 51.9 Resektion des Os trapezium und Suspensionsarthroplastik nach BeckenbaughLinscheid
Sesambeins in ca. 20° Flexion mit einer Schraube erfolgen. Eine weitere Therapiemöglichkeit stellt die Neupositionierung der palmaren Platte und Fixierung mit einem Knochenanker da. Bei einer Hyperextension von weniger als 30° kann eine temporäre Arthrodese des MCP-Gelenks in 30–40° Flexion für 4 Wochen hilfreich sein.
Auflösung einer Adduktionskontraktur durch Lappenplastik und Desinsertion der Daumenmuskulatur Bei weit fortgeschrittener Rhizarthrose kann eine Lösung der Adduktionskontraktur des Daumens gleichzeitig zur Resektionsarthroplastik notwendig werden. Hierbei sollte einerseits die 1. Kommissur eröffnet werden, z. B. durch eine Schmetterlingsplastik (»Jumping-Man-Plastik«) oder durch eine Z-Plastik. Die kontrakte Muskulatur kann durch eine Längsfaszietomie des Adductor pollicis erfolgen ggf. durch eine Desinsertion. Auch der 1. Interosseusdorsalis-Muskel sollte bei einer fortbestehenden Kontraktionsstellung desinsertiert werden ( Kap. 35).
rochirurgische Versorgung und nach Wundheilung ein Narbenabhärtungs- und Desensibilisierungstraining erfolgen.
Nervendurchtrennung und Parästhesien im Ausbreitungsgebiet R. palmaris n. medianus. Der R. palmaris n. medianus verläuft ulnarseitig der Flexor-carpi-radialis-(FCR-)Sehne und sollte insbesondere bei der Hebung der FCR-Sehne dargestellt und geschont werden.
Verletzung der Arteria radialis. Die A. radialis verläuft nahe zum Os trapezium und gibt in ihrem Verlauf verschiedene Äste zum Karpus ab. Bei Verletzung sollte eine mikrochirurgische Versorgung erfolgen. Proximalisierung des Daumens. Eine Proximalisierung des Daumens nach Trapeziumresektion kann zur Arthrose zwischen dem Os scaphoideum und der Basis des 1. Mittelhandknochens führen. Hier kann die Einbringung eines Silikon-Spacers Beschwerdelinderung bringen.
Rekonstruktion der Kapsel
Pseudarthrosebildung nach CMC-1-Gelenk-Arthrodese. Bei
Insbesondere im Stadium IV der Rhizarthrose ist die Gelenkkapsel des Os trapezium häufig aufgebraucht und kann selten nach Trapeziumresektion wieder suffizient verschlossen werden. Hierzu kann ein Palmarissehnentransplantat oder ein Sehnenanteil der Abductor-pollicis-longus-Sehne zur Rekonstruktion des dorsalen Anteils der Gelenkkapsel genutzt werden. Je nach Zugang wird das Sehnentransplantat quer oder kreuzförmig aufgesteppt.
einer Pseudarthrose nach CMC-1-Gelenk-Arthrodese hat sich die Einbringung eines Beckenkammspans mit Kirschner-Draht- bzw. Zuggurtungs- oder Plattenosteosynthese bewährt.
51.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Nervendurchtrennung und Parästhesien im Ausbreitungsgebiet R. superficialis n. radialis. Der R. superficialis n. radialis sollte bei Trapeziumresektion dargestellt werden, jedoch sollte ein Fettmantel um den Nerv erhalten bleiben. Dies vermindert das Einwachsen des Nervs in die Narbe. Bei Verletzung sollte eine mik-
CRPS I (M. Sudeck). Eine ausführliche Darstellung und Therapiemöglichkeiten dieser Erkrankung erfolgt in Kap. 18.
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Kapitel 51 · Rhizarthrose
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51
1413 51.3 · Weiterführende Literatur
Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand) Stefan Rehart, Martina Henniger (Mit einem Beitrag von Cornelia Wortmann und Hartmut Michels)
52.1
Allgemeines – 1414
52.1.1 52.1.2 52.1.3 52.1.4 52.1.5 52.1.6 52.1.7 52.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie – 1414 Epidemiologie – 1417 Ätiologie – 1417 Diagnostik – 1417 Klassifikation – 1419 Indikationen und Differenzialtherapie – 1419 Therapie – 1420 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1425
52.2
Spezielle Techniken
52.2.1 52.2.2 52.2.3
Handgelenk – 1428 Daumen – 1432 Finger – 1434
– 1428
52.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1440
52.3.1 52.3.2 52.3.3 52.3.4 52.3.5
Präoperative Behandlung – 1440 Anästhesiologische Besonderheiten – 1440 Perioperativer Umgang mit Medikamenten – 1441 Patientenmanagement während der Operation – 1441 Postoperatives Management – 1441
Weiterführende Literatur
– 1441
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
52
1414
52.1
52
Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
Allgemeines
Von den über 400 von der WHO aufgelisteten Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises ist die rheumatoide Arthritis die häufigste. Sie soll in diesem Kapitel für die Abhandlung der Besonderheiten der rheumatischen Erkrankungen exemplarisch dienen. Es handelt sich um eine chronisch-progressive entzündliche Systemerkrankung ungeklärter Ätiologie mit überwiegender Manifestation an den Gelenken des Bewegungsapparates. Unbehandelt führt die Erkrankung über schmerzhafte Gelenkschwellungen und Funktionseinschränkungen zu persistierenden Deformierungen und Destruktionen der Gelenke, die unter Umständen die Verrichtung von Aktivitäten des täglichen Lebens nicht mehr eigenständig zulassen. Die Gelenke der Hand sind in mehr als 80% befallen. Nach 10-jährigem Krankheitsverlauf ist praktisch regelhaft mit klinischen und radiologischen Veränderungen sowie mit mehr oder minder ausgeprägten Funktionsdefiziten der Hand zu rechnen. Veränderungen an den Fingern sind immer zusammen mit dem Handgelenk zu beurteilen, da die komplexe Funktion der Finger von der schmerzfreien Funktion, Stabilität und Stellung des Handgelenks abhängt. Ein Viertel aller rheumaorthopädischen Eingriffe erfolgt an der Hand. Nach der Erhebung der Verdachtsdiagnose einer rheumatoiden Arthritis sollte frühzeitig eine umfassende Therapie zur Eindämmung des Entzündungsgeschehens eingeleitet werden. Die Zielrichtung heute tendiert zur Remission oder gar Heilung. Gerade die frühe Behandlung in dem sog. »window of opportunity« (d. h. nach der Verdachtsdiagnose, aber vor der Entwicklung von strukturellen Schäden an den betroffenen anatomischen Strukturen) ist von Bedeutung, weil damit nicht nur die klinische Situation gebessert wird, sondern auch die artikulären bzw. tendinealen Spätschäden vermeidbar erscheinen. Dabei stellt initial die medikamentöse Therapie die Basis des Konzepts dar. Konservative Maßnahmen bestehen daneben in der Schienenversorgung, Physiotherapie, physikalischen Maßnahmen, Ergotherapie, orthopädietechnischer Versorgung, Orthopädieschuhtechnik und psychologischen Betreuungsangeboten, sowie intra- und periartikulären Infiltrationen. Kommt es trotz dieser kombinierten Maßnahmen zu persisitierenden Synovialitiden oder einer Progredienz sind operative Interventionen angezeigt. Die Wahl eines entsprechenden Verfahrens ist dann gelenk- und stadienabhängig. Generell werden präventive, rekonstruktive und palliative Eingriffe unterschieden.
ebenfalls befallen sein kann. Das entzündliche Gewebe kann im Erkrankungsverlauf die Sehne selbst durchsetzen und zuletzt zu einer Sehnenruptur führen. Zu beachten sind die lokalen entzündlichen Phänomene an den befallenen Strukturen selbst (»intrinsischer« Prozess) und die indirekten distanten Einflüsse (»extrinsischer« Prozess), z. B. ein pathologischer Sehnenzug auf ein arthritisches Gelenk. Im Zusammenspiel dieser Faktoren entstehen oft typische Fehlstellungsmuster, so beispielsweise die »Handskoliose« als Ausdruck der kinetischen Kette nach Landsmeer. Zu Beginn der Erkrankung kann das klinische Bild völlig blande sein. Im Verlauf zeigen sich dann meist schmerzhafte synovialitische Gelenkschwellungen und Bewegungseinschränkungen. Später treten typische Fehlstellungen auf, die zunächst noch aktiv, dann nur noch passiv und zuletzt gar nicht mehr ausgeglichen werden können. Im Bereich der Sehnen kann es über schmerzhafte Tenosynovialitiden bis zur kompletten Ruptur mit entsprechendem Funktionsausfall kommen. Gelenkschwellungen an der Hand sind meist gut erkennbar. Gelegentlich schwierig zu diagnostizieren sind die palmaren Beugesehnensynovialitiden, da sie sich nicht so deutlich klinisch darstellen.
Handgelenk Durch Lockerung der kapsuloligamentären Strukturen und zunehmende Knorpel- bzw. Knochendestruktion entstehen die für die rheumatische Hand typischen Veränderungen. Der Prozess beginnt in der Regel am distalen Radioulnargelenk. Die chronische Synovialitis schwächt den TFCC (triangulären fibrokartilaginären Kapsel-Band-Komplex) und führt zur klinischen Progredienz des Ulnaköpfchens als Ausdruck der ulnaren Subluxation des Handgelenks gegenüber dem Unterarm. Nur gelegentlich kommt es zu einer tatsächlichen Dorsalluxation des Caput ulnae mit instabiler, federnder Ulna (Klaviertastenphänomen). Als Erstes wird funktionell die Unterarmdrehbewegung schmerzhaft behindert (⊡ Abb. 52.1).
52.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie Durch eine fehlgesteuerte Immunreaktion kommt es zu Veränderungen der Synovialmembran im Sinne einer Erweiterung der synovialen Gefäße, der Bildung von Fibrinexsudat und der Immigration von Entzündungszellen. Es entsteht eine ausgeprägte villöse Hyperplasie mit lymphoplasmazellulären Infiltraten. In den Plasmazellen werden intrasynovial Rheumafaktoren gebildet. Es kommt zum Gelenkerguss, der die Kapseln und den Bandapparat der Gelenke überdehnt und letztlich zur Instabilität führt (»loose type«). Durch Übergreifen der wuchernden Synovialitis auf den Gelenkknorpel und durch die Freisetzung pro- und inflammatorischer Zytokine, insbesondere TNFα, IL-1b und PGE2, wird der Gelenkknorpel von zwei Seiten her angegriffen. Im fortgeschrittenen Stadium unterminiert die Synovialitis von den Gelenkrändern her den Knochen und führt schließlich zur Zerstörung bzw. Deformierung des gesamten Gelenks, das dann rigide einsteifen kann (»stiff type«). Auch sind alle Sehnen der Hand von einer Synovialschicht umgeben, die
⊡ Abb. 52.1 Rheumatische Veränderungen im Handgelenk. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1415 52.1 · Allgemeines
Gelockerte ulnare radiokarpale Bandverbindungen und der Verlust der ulnar stabilisierenden Wirkung einer nach palmar verlagerten Extensor-carpi-ulnaris-Sehne führen zum Ulnardrift des Karpus entlang der nach palmar und ulnar geneigten Gelenkfläche des Radius. Der M. extensor carpi ulnaris verliert seine »antisupinatorische« Wirkung und mutiert zuletzt zu einem Flexor des Handgelenks. Der M. extensor carpi radialis longus fixiert den Karpus und Metakarpus in radialer Inklination. Die direkte entzündliche Destruktion der skapholunären und interkarpalen Bänder führt zu skapholunärer Dissoziation und einem weiteren Verschieben des Karpus nach ulnar, genau wie zu einer Disintegration der proximalen Reihe (»intercalated segment«), im Sinne einer DISI-Fehlstellung. Das Vollbild der Destruktion zeigt sich in der ulnaren Translokation des proximalen Karpus, der Radialinklination des distalen Karpus und Metakarpus (klinisch: der Hand) sowie dem Palmardrift und der Supination des gesamten Karpus gegenüber dem Unterarm. Diese dreidimensionale Achsabweichung wird als »Supinationsdeformität« bezeichnet und hat entscheidende Bedeutung in der Pathogenese der Ulnardeviation der Finger und deren Funktionsfähigkeit über die extrinsischen Mechanismen (⊡ Abb. 52.2). Durch mechanische Belastung, zunehmende knöcherne Erosionen sowie zusätzliche Tenosynovialitiden kann es direkt (synovialitischer Sehnendurchsatz) oder indirekt (Zerspleiß an Knochenvorsprüngen) zur Ruptur von Sehnen mit entsprechendem Funktionsausfall kommen. Dabei bestehen langstreckige Destruktionen oder narbige Elongationen, die eine direkte Naht nicht zulassen.
zu einer verminderten Beugefähigkeit im Daumengrundgelenk führt. Kompensiert wird dies mit einer Überstreckfehlstellung in Kombination mit ulnarer und radialer Instabilität. Letztlich bietet dieser multidirektional instabile Daumen den Fingern keinen adäquaten Widerstand mehr beim Halten von Gegenständen. Weiter bedingt die artikuläre Entzündung eine palmare Subluxation der Grundphalanx gegenüber dem Metakarpale 1 und führt in Verbindung mit einer Hyperextensionsdeformität der End- gegenüber der Grundphalanx zur »Ninety-to-Ninety-« oder Knopflochdeformität des Daumens (⊡ Abb. 52.3). Wenn die Retinakularligamente kontrakt werden, verhindern diese einen aktiven bzw. passiven Ausgleich der Hyperextension im Endgelenk. Sehnenrupturen im 1. Strecksehnenfach führen zu einer aktiven Streckinsuffizienz der Grundphalanx. Bei Ruptur der Sehne des M. extensor pollicis longus kann die Endphalanx nicht mehr gegen Widerstand gestreckt werden, bei Ruptur der Sehne des M. flexor pollicis longus (im sog. »critical corner«
Daumen Schlüsselgelenk des 1. Strahls ist das Karpometakarpalgelenk (CMC 1). Die entzündlichen Veränderungen führen hier zu einer Proximalisierung des Metakarpale 1 gegenüber dem Widerlager des Os trapezium. Diese Subluxation wird durch den Sehnenzug im 1. Strecksehnenfach unterstützt. Die Abduktorenmuskulatur wird relativ insuffizient. Im weiteren Verlauf resultiert eine zunächst noch reversible Adduktionsfehlstellung des Daumens, die
a
b
⊡ Abb. 52.3 90-to-90-Deformität des Daumens. (Aus Berger u. Hierner 2009)
c
⊡ Abb. 52.2 Handgelenkdestruktion. a Klinisches Bild der Handgelenkdestruktion: Ansicht von dorsal, b klinisches Bild der Handgelenkdestruktion: Ansicht von lateral, c Schema: Verlauf der Gelenkdestruktion im Handbereich. (Aus Berger u. Hierner 2009)
52
1416
Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
an dem entzündlich fehlpositionierten vertikalgestellten Os scaphoideum) kann die Endphalanx nicht mehr gegen Widerstand gebeugt werden.
Finger
52
Typische Fehlstellungen der Finger bei Patienten mit rheumatoider Arthritis bestehen in der: ▬ Schwanenhalsdeformität ▬ Knopflochdeformität ▬ Ulnardeviation der MCP-Gelenke.
Schwanenhalsdeformität. Ausgangspunkt der Schwanenhalsdeformität (»col de cigne«) ist die chronisch-entzündlich induzierte Palmarsubluxation der Grundphalanx gegenüber dem Metakarpale. Diese führt zur Ruptur der palmaren Platte und zur Zerstörung des Halteapparates der Beugesehnen, die sich dann bei Beugung bogensehnenförmig vom Knochen entfernen. Eine Insuffizienz der Landsmeer-Ligamente und Kontraktur der queren Faserzüge fixieren die Palmarsubluxation. Daraus folgt eine Hyperextension des PIP-Gelenks und Flexionsstellung des DIP-Gelenks. Man unterscheidet 3 Stadien der Schwanenhalsdeformität: im 1. Stadium kann der Patient die Deformität noch aktiv ausgleichen, im 2. Stadium gelingt dies nur noch passiv und im 3. Stadium bestehen kontrakte Verhältnisse, die Fehlstellung kann weder aktiv noch passiv ausgeglichen werden (⊡ Abb. 52.4).
Knopflochdeformität. Die Knopflochdeformität (»boutonière«) beinhaltet die Flexion des PIP-Gelenks und die Hyperextension im DIP-Gelenk. Ursächlich ist die Insuffizienz des Tractus intermedius dafür verantwortlich. Es kommt zur Subluxation der beiden Tractus laterales des Extensorenapparates nach radial und ulnar unter die Bewegungsachse des PIP-Gelenks. Mit der Zeit verkürzen sich die schrägen Landsmeer-Bänder (Ligg. laterales obliquum) und die Hyperextensionsfehlstellung des Endgliedes wird zunehmend fixiert. Analog zur Schwanenhalsdeformität unterscheidet man 3 Stadien (⊡ Abb. 52.5).
⊡ Abb. 52.4 Mechanismus der Schwanenhalsdeformität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Ulnardeviation der MCP-Gelenke. Durch die synovialitische Schwellung der Gelenke wird deren gesamter Halteapparat elongiert. Die Ulnardeviation der Grundphalanx und die Luxation der Strecksehnen nach ulnar (bei den juvenilen Formen auch nach radial) erfolgt dabei ganz unter dem Einfluss des extrinsischen pathologischen Sehnenzugs bei fehlrotiertem Handgelenk. In späteren Stadien kommt eine Palmarsubluxation der Grundphalanx hinzu. Anfangs kann die Fehlstellung noch aktiv ausgeglichen werden, später nur noch passiv. Im Endstadium sind der KapselBand-Apparat mit palmarer Platte und die intrinsischen sowie extrinsischen Sehnen so kontrakt, dass eine Reposition nicht mehr möglich ist. Zusätzlich kann eine Pronationsfehlstellung der Finger auftreten (⊡ Abb. 52.6).
Schnellender Finger (Digitus saltans). A1-Ringband-Stenosen, bzw. Sehnenhygrome können zum Schnellen eines Fingers (Digitus saltans) führen. Ursächlich hierfür kann aber auch eine Flexorentenosynovialitis sein, bei der ein Schnappphänomen im Bereich des Chiasmas der Sehnen entsteht.
Rheumaknoten. Extraartikuläre Manifestationen in Form von Rheumaknoten finden sich bevorzugt an mechanisch exponierten Stellen über Strecksehnen. An der Hand behindern sie durch die mechanische Beeinträchtigung und durch Schmerzen die Greiffunktion.
⊡ Abb. 52.5 Mechanismus der Knopflochdeformität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1417 52.1 · Allgemeines
Dehnung der Extensorkappe
52.1.3 Ätiologie
intraartikuläre Synovitis
Lockerung der Seitenbänder a Kontraktur der intrinsischen Muskulatur
Die Ätiologie der rheumatoiden Arthritis ist letztlich ungeklärt. Für das Krankheitsrisiko sowie die Schwere des Krankheitsverlaufs spielen bestimmte genetische Prädispositionen eine Rolle. Ein Risikofaktor für die Erkrankung ist das Vorhandensein des HLADRB1-Allels. Als krankheitsauslösend werden exogene (virale oder bakterielle Infektionen) sowie immunologische und endokrine Pathomechanismen diskutiert. Eine besondere Rolle in den dann ablaufenden Prozessen spielen die T- und die B-Zellen, die auch die Bildung von Entzündungsmediatoren fördern und Ziel medikamentöser Interventionen sind. Auch für den Krankheitsverlauf spielen genetische Faktoren eine bedeutsame Rolle, wobei wahrscheinlich nicht einzelne HLAKlasse-II-Subtypen, sondern bestimmte Kombinationen von verschiedenen Genen die Krankheitsinduktion und die Schwere des Verlaufes bestimmen. 52.1.4 Diagnostik In der internistischen und orthopädischen Rheumatologie sind Anamnese und klinischer Befund besonders wichtig. Das gilt sowohl für die Diagnosestellung als auch für den Krankheitsverlauf bzw. das Ansprechen auf die Therapie. Das American College of Rheumatology (ACR) hat 1987 für die Rahmenbedingungen wissenschaftlich vergleichbarer Studien Kriterien für die Diagnose »rheumatoide Arthritis« aufgestellt, wobei 5 der 7 Kriterien durch Anamnese und klinische Untersuchung festzustellen sind. Von einer rheumatoiden Arthritis ist auszugehen, wenn ein Patient mindestens 4 der 7 Kriterien erfüllt, wobei die Kriterien 1–4 für mindestens 6 Wochen bestanden haben müssen. Bei Vorliegen von 4 beliebigen dieser Kriterien ist von einer Sensitivität von 93% und einer Spezifität von 90% für das Vorliegen einer rheumatoiden Arthritis auszugehen. ACR-Kriterien für die Diagnose der rheumatoiden Arthritis
b ⊡ Abb. 52.6 Mechanismus der Ulnardeviation der Finger. a Pathophysiologie der MCP-Gelenke b klinischer Aspekt. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1. 2. 3. 4.
52.1.2 Epidemiologie
5.
Die rheumatoide Arthritis ist eine chronisch-progressive, entzündliche Systemerkrankung, die weltweit homogen verbreitet ist. Die Prävalenz beträgt etwa 0,5–1% und nimmt mit steigendem Lebensalter zu. In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 30.000– 52.000 Menschen neu an rheumatoide Arthritis. Frauen sind 3-mal häufiger betroffen als Männer. Das Manifestationsalter von Männern liegt zwischen dem 52. und 65. Lebensjahr, von Frauen zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr oder nach dem 52. Lebensjahr. Zu Beginn der Erkrankung manifestiert sich diese am häufigsten an den kleinen Gelenken wie den Fingergrund- und -mittelgelenken, wobei die Extremitäten meist symmetrisch betroffen sind. Nach 10-jährigem Verlauf sind zu fast 100% die Handgelenke sowie Fingergrund- und Fingermittelgelenke befallen, die Fingerendgelenke demgegenüber nur äußerst selten (z. B. bei der Psoriasis).
6. 7.
Morgensteifigkeit von mindestens 1 Stunde Dauer Mindestens 3 Gelenkbereiche müssen gleichzeitig eine Weichteilschwellung oder einen Gelenkerguss aufweisen Mindestens eine Gelenkschwellung betrifft ein Hand-, Fingergrund- oder Fingermittelgelenk Symmetrischer gleichzeitiger Befall der gleichen Gelenkregionen auf beiden Körperseiten Rheumaknoten über Knochenvorsprüngen oder in Gelenknähe Rheumafaktor im Blut nachweisbar Für die rheumatoide Arthritis typische radiologische Veränderungen auf einem Röntgenbild der Hand
Eine klinisch bedeutende Rolle für die Einleitung einer direkten medikamentösen Basistherapie (»hit hard and hit early«) spielt die Anamnese mit den Faktoren: ▬ Morgensteifigkeit über 6 Wochen über mehr als 1 Stunde, ▬ symmetrischer Gelenkbefall und ▬ Arthritis in mehr als 2 Gelenken über mehr als 6 Wochen. Kommen dazu ein positiver Anti-CCP-Wert und hohe Entzündungsparameter wie die BSG/CRP sowie ein positiver Rheumafak-
52
1418
Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
tor, sehen heute viele führende Rheumatologen die sofortige Einleitung einer Basismedikation als gerechtfertigt an.
Anamnese
52
Die Anamnese hat im Bereich der Rheumatologie einen besonderen Stellenwert und führt in über 60% schon zur korrekten Diagnose. Neben der Frage nach dem Zeitpunkt des Auftretens der Beschwerden sowie deren Verlauf und dem Befallsmuster sollte eine gute Schmerzanamnese erhoben werden. Hierzu gehören Fragen nach dem Auftreten der Schmerzen (wann, allmählich, plötzlich), der genauen Lokalisation bzw. deren Ausstrahlung, der Dauer der Morgensteifigkeit, dem Verlauf der Schmerzen, deren Intensität, sowie nach lindernden oder intensivierenden Faktoren (Schonung, Wärme/Kälte, Medikamente). Erfasst werden sollten auch die Funktionsstörungen bzw. die Einschränkungen des Patienten bei den Aktivitäten des täglichen Lebens, wie z. B. Gehstrecke, Aufstehen und Hinsetzen, Körperpflege, Flaschenöffnen und die Händigkeit. Gezielt befragt werden sollte der Patient außerdem nach Hauterscheinungen (Psoriasis, Vaskulitis- und Kollagenosezeichen wie Erythema nodosum, Fingerkuppenrhagaden, Haarausfall), Schleimhautveränderungen (Bläschen, Ulzerationen, Beläge), Augenveränderungen, Durchfällen, Urethritis- und Balanitis-Zeichen sowie Zeckenbissen. Des Weiteren sollte eine Allgemeinanamnese erfolgen mit Fragen nach Müdigkeit, Fieber, Dyspnoe, Angina pectoris, Schluckstörungen, Stuhl- und Urinverhalten. Bei der Eigenanamnese sind Vorerkrankungen wie z. B. chronisch entzündliche Darmerkrankungen und Psoriasis, stattgehabte Verletzungen, Voroperationen, bisherige Therapien und Allergien von Bedeutung. Hinzu kommen die Medikamentenanamnese, die Sozialanamnese (Beruf, Sport, Familienstand, Rente) sowie eine Familienanamnese.
Klinik Die Gelenkbeteiligung zeichnet sich durch die 5 klassischen Arthritissymptome, Schwellung, Überwärmung, Rötung, Schmerz und gestörte Funktion bzw. Bewegungseinschränkung, aus. Zu Beginn sind am häufigsten die kleinen Gelenke wie Fingergrund- und -mittelgelenke sowie Zehengrundgelenke, meist symmetrisch, betroffen. Bei ca. einem Drittel der Patienten ist initial nur ein Gelenk oder es sind große Gelenke wie Knie- oder Sprunggelenk betroffen, was die Diagnosestellung erschwert. Im weiteren Verlauf kommt es zur symmetrischen Polyarthritis mit zunehmender Destruktion der Gelenke, Tenosynovialitiden bis hin zu Sehnenrupturen meist im Bereich von Hand- und Fingergelenken und Bursitiden, die am häufigsten im Bereich von Ellenbogen, Knie, Schulter und Achillessehne auftreten. Extraartikuläre Manifestationen in Form von Rheumaknoten finden sich bevorzugt an mechanisch exponierten Stellen über Strecksehnen. Sie können aber auch im Bereich der Augenskleren, in der Lunge, in Pleura, Perikard und Myokard, Peritoneum oder am Kehlkopf auftreten. Weitere extraartikuläre Manifestationen können an den Augen in Form eines Sicca-Syndroms oder einer Episkleritis, an Herz und Lunge als Perikarditis bzw. Pleuritis exsudativa beobachtet werden. Durch die hohe systemische Entzündungsaktivität oder als Medikamentennebenwirkung können im Bereich der Niere glomeruläre und interstitielle Veränderungen, im Bereich der Leber unspezifische Hepatitiden oder Cholangitiden sowie hypochrome, mikrozytäre Anämien auftreten. Allgemeinsymptome wie rasche Ermüdbarkeit, Leistungsschwäche, Appetitlosigkeit mit Gewichtsabnahme, subfebrile Tem-
peraturen oder sogar Fieberschübe, Hyperhidrosis palmaris und intermittierende Parästhesien in Händen und Füßen sind nicht selten initiale Zeichen einer rheumatoiden Arthritis.
Labor Die rheumatologische Labordiagnostik spielt in der Diagnostik der rheumatoiden Arthritis eine untergeordnete Rolle und ist immer in Zusammenhang mit dem klinischen Bild zu beurteilen. Zur Diagnosefindung werden insbesondere der Rheumafaktor (RF) und Antikörper gegen zitrulliniertes zyklisches Peptid (Anti-CCPAntikörper) im Serum bestimmt. Der RF ist ein Antikörper der Klasse IgM, der gegen vier antigene Determinanten des Fc-Fragmentes am IgG-Molekül gerichtet ist und in der Synovialis der erkrankten Gelenke gebildet wird. Er entwickelt sich oft erst in den ersten Jahren der Erkrankung. Der RF tritt bei 75–80% der Patienten mit rheumatoider Arthritis auf, häufig erst im Verlauf der Erkrankung, ist jedoch nicht spezifisch für die rheumatoide Arthritis, sondern kommt auch bei Patienten mit infektiösen oder anderen Autoimmunerkrankungen, B-Zelllymphoproliferativen Erkrankungen und im höheren Alter vor. Anti-CCP-Antikörper sind IgG-Antikörper. Sie haben mit 95% eine deutlich höhere Spezifität als der RF. Es handelt sich um Antikörper gegen epidermales Filaggrin, ein Protein in der Epidermis, das Keratinfilamente miteinander verbindet. Anti-CCP-Antikörper treten bei anderen Autoimmunerkrankungen selten auf und werden bei der rheumatoiden Arthritis schon sehr früh im Verlauf der Erkrankung beobachtet. Die Kombination von Anti-CCP-Antikörpern mit einem positiven Rheumafaktor erhöht die Spezifität auf fast 100%. Weitere Laboruntersuchungen haben differenzialdiagnostische Bedeutung, z. B. zur Abgrenzung von infektiösen oder reaktiven Arthritiden sowie anderen Autoimmunerkrankungen. Zur entzündlichen Aktivitätsbeurteilung bzw. der Beurteilung des Ansprechens auf die medikamentöse Therapie dienen BSG und CRP. Das Monitoring der antirheumatischen Therapie erfolgt über Laborwerte, die den Funktionszustand der Organe bewerten lassen. In bestimmten Fällen kann zur Diagnosesicherung eine Gelenkpunktion hilfreich sein. Diese muss unter streng sterilen Bedingungen durchgeführt werden, da die immungeminderten, multilokulär betroffenen, systemisch erkrankten Patienten eine deutlich erhöhte Rate an Infektionen aufweisen. Die gewonnene Synovia sollte innerhalb von 4 Stunden nach Punktion analysiert werden, da sonst im Punktat die Zellzahl sinkt und sich Art und Zahl der Kristalle verändern. Beurteilt werden Farbe, Trübung, Zellzahl, Neutrophilenanteil und das Vorhandensein von Rhagozyten (weitgehende Pathognomonität für die rheumatoide Arthritis), Bakterien oder Kristallen. Ein für die rheumatoide Arthritis typischer Befund ist ein gelbes, trübes bis flockiges Punktat mit Zellzahlen von 5.000–52.000/μl und einem Neutrophilenanteil von 50–75% sowie reichlich Rhagozyten. Bei Letzteren handelt es sich um neutrophile Zellen mit vermehrt brechenden zytoplasmatischen Einschlüssen, die Immunkomplexe und Komplement enthalten. Sie sind jedoch nicht nur bei der rheumatoiden Arthritis, sondern auch bei reaktiver Arthritis und anderen entzündlichen Gelenkerkrankungen zu finden.
Bildgebende Verfahren Konventionelles Röntgen Zur Diagnosestellung, Verlaufsbeobachtung und Operationsplanung sind konventionelle Röntgenaufnahmen der Hand unabdingbar. Die Finger werden in p.-a., streng seitlicher und in Ballfangprojektion dargestellt. Das Handgelenk sollte in p.-a. und streng seitlicher Projektion mit Darstellung der Metakarpalia in toto abgebildet werden.
1419 52.1 · Allgemeines
Die typischen radiologischen Veränderungen bei der rheumatoiden Arthritis sind konzentrische Gelenkspaltverschmälerungen, gelenknahe Entkalkung, periartikuläre Weichteilschwellung, Erosionen der Gelenkflächen, später Zerstörung der Gelenkflächen sowie knöcherne Ankylose oder Gelenk(sub)luxationen.
⊡ Tab. 52.1 Klassifikation des Erkrankungsstadiums an der Hand nach Larsen Stadium
Larsen-Score
Grad 1
Geringe unspezifische Veränderungen: – Periartikuläre Weichteilschwellung – Gelenknahe Entkalkung – Gelenkspaltverschmälerung ( Die präoperative Vorbereitung, der perioperative Umgang und nicht zuletzt die operativen Verfahren unterscheiden sich wesentlich vom üblichen allgemein-handchirurgischen Vorgehen.
Die Zerstörung von anatomischen Strukturen an der rheumatischen Hand folgt bestimmten pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten. In jedem Fall ist daher eine Evaluation der Gelenke vor einer vom Patienten demonstrierten Problematik angezeigt und ggf. auch vor dieser zu versorgen, um Aussicht auf nachhaltigen Erfolg zu zeitigen (z. B. die evtl. erforderliche Stabilisierung des Handgelenks vor einer Korrektur von Ulnardeviationen der MCP-Gelenke). Die Operationsindikation ist in den Kontext der Akuität des Geschehens, der persönlichen und beruflichen Umstände, ggf. anderer Operationsindikationen am muskuloskelettalen System und der individuellen Möglichkeiten des Patienten zu setzen und mit diesem abzustimmen. Immer sind die Weichteile und die knöchernen Verhältnisse in die Entscheidungsfindung zusammen einzubeziehen. Bei Bedarf ist eine Konzepterstellung über vorzusehende Eingriffe und deren zeitlichen Ablauf sinnvoll. Die frühe gemeinsame Betreuung seitens des Anästhesisten, des internistischen Rheumatologen, der Familie und der adjuvanten Berufsbilder (Ergotherapie, Krankengymnastik, Orthopädietechnik etc.) ist zu empfehlen. Das Risiko seitens der Operation ist sorgfältig gegenüber bestehenden Komorbiditäten, der Langständigkeit der Erkrankung und dem zu erwartenden Gewinn in Bezug auf Beschwerdelinderung und Funktionsverbesserung oder ästhetischen Benefit abzuwägen. Die Situation der Haut ist in Bezug zum Eingriff zu setzen. Eine erforderliche Schienenbehandlung ist bereits vor der Intervention zu planen und abzustimmen. Die Voraussetzungen für die postoperative Versorgung in der persönlichen Lebensführung sind zu prüfen. Das perioperative Management, insbesondere das medikamentöse, ist in Kooperation mit dem Patienten und anderen behandelnden Kollegen festzulegen. Die operative Therapie wird notwendig, wenn konservative Therapiemaßnahmen nicht mehr greifen, einzelne Gelenke weiterhin eine entzündliche Aktivität aufweisen, die Gelenkzerstörung rasch voranschreitet, Sehnenrupturen drohen oder neurologische Ausfälle auftreten. Selbstverständlich gehört bei bestehender Destruktion von Gelenken bzw. Verlust von Funktionen auch die Rekonstruktion über den endoprothetischen Ersatz bzw. funktionsgünstige Arthrodesen zum Arsenal der Verfahren. Die Wahl des Operationsverfahrens ist stadienabhängig. Man unterscheidet generell präventive (z. B. Synovektomien), rekonstruktive (z. B. Gelenkersatzoperationen) und palliative Eingriffe (z. B. Resektionsarthroplastiken). Indikationen zu chirurgischem Vorgehen bestehen bei rheumatischen Affektionen an der Hand nach ausgereizter konservativer Therapie in verschiedenen Stadien: ▬ So kommen bei erhaltenen und stabilen Gelenken (LDE 0–2/3) bei Synovialitiden Synovektomien in Betracht, die auch arthroskopisch erfolgen können (Handgelenke, kleine Fingergelenke). Dann ist 6–8 Wochen später eine Radiosynoviorthese oder Chemosynoviorthese zu empfehlen (nicht nach offenen Eingriffen!). Sind die Sehnen zusätzlich in ihren Hüllen synovialitisch verändert, ist in gleicher Sitzung eine offene
Tenosynovektomie angezeigt. Ggf. kann eine Weichteilkorrektur erfolgen, um ligamentären oder kapsulären Instabilitäten vorzubeugen (hierzu zählen z. B. die frühen Korrekturen der Knopfloch- und Schwanenhalsdeformität an Daumen und Fingern). ▬ Sind die Gelenke mäßig bis deutlich verändert (LDE 3–4) kann bei einem Abrutschen des Handgelenks eine partielle Arthrodese (radiolunär oder radioskapholunär) die Beweglichkeit erhalten und eine schnelle Progression zur Supinationsdeformität verhindern. Das mediokarpale Gelenk, in dem die Bewegung dann erfolgt, muss noch so weit erhalten sein, dass dieses Vorgehen aussichtsreich erscheint. ▬ Zuletzt bleibt bei knöchern völlig zerstörtem Gelenk oder funktionsloser Instabilität nur die Rekonstruktion eines Gelenks in Form einer Endoprothese oder der Arthrodese. Dabei ist beispielsweise die Arthrodese des MCP-Gelenks am Daumen eine »Winner-Operation« und ist ohne Alternative, dagegen ist bei den MCP-Gelenken 2–5 eine Versteifung kontraindiziert und eine endoprothetische Versorgung in dieser Situation imperativ. ▬ Als palliativer Eingriff ist z. B. eine Spätsynovektomie oder eine Resektions-Interpositions-Arthroplastik möglich. 52.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Hartmut Michels Juvenile idiopathische Arthritis (JIA) Entsprechend den Kriterien der ILAR (International League of Associations for Rheumatology) wird eine Arthritis als juvenile idiopathische Arthritis (JIA) klassifiziert, wenn sie mindestens 6 Wochen dauert, alle anderen in Frage kommenden Ursachen ausgeschlossen sind, es sich also um eine »idiopathische« Arthritis handelt, und die Erkrankung vor dem 16. Geburtstag beginnt. Die klinischen Unterschiede zur rheumatoiden Arthritis des Erwachsenen resultieren insbesondere aus dem Wachstum, das durch die rheumatische Entzündung beeinflusst wird. Je nach Verlauf während der ersten 6 Monate wird die Erkrankung einer von 7 Subgruppen (»Kategorien«) zugeordnet (⊡ Tab. 52.2). Die Prävalenz liegt bei 1 Patient mit JIA pro 1.000 Kinder, die Inzidenz bei 10 pro 100.000 Kinder pro Jahr. Die Ätiologie ist ungeklärt. Bislang wird angenommen, dass bei genetisch prädisponierten Individuen ein auslösendes Agens (Virus?) zu einer unkontrollierten, chronischen, gegen die Synovialis und andere Strukturen gerichteten Immunreaktion und damit zur chronischen Synovialitis mit den Folgeerscheinungen wie Knorpel- bzw. Knochenschädigung und resultierender Gelenkfunktionsstörung führt. Zur Diagnosestellung trägt ganz wesentlich die Anamnese bei, die auch das weitere diagnostische Vorgehen bestimmt. Dabei gibt es keine diagnostisch beweisenden Einzelbefunde. Vielmehr haben die verschiedenen Befunde »Mosaiksteinchencharakter« und tragen je nach Wertigkeit zur Diagnosestellung bei. Von den Laborbefunden sind die Entzündungsparameter BSG und CRP von besonderer Bedeutung. Die »Immunmarker« ANA, HLA-B27 und IgM-Rheumafaktor (RF) tragen zur Risikoeinschätzung (positive ANA – erhöhtes Uveitis-Manifestationsrisiko; HLA-B27-Positivität – Risiko für Enthesitiden und späteren Übergang in Spondyloarthritis; IgM-Rheumafaktor-Positivität – Risiko für erosive Gelenkschädigung) und Subgruppenklassifizierung bei (⊡ Tab. 52.2). Der IgM-RF charakterisiert die Subgruppe »RF-positive Polyarthritis«, die lediglich 1–4% der Gesamtpatientenzahl ausmacht (⊡ Tab. 52.2)
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1426
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
und der »rheumatoiden Arthritis« des Erwachsenen entspricht. Die Behandlung der JIA ruht auf den »Säulen« Medikamente, spezifische Krankengymnastik, Ergotherapie, Hilfsmittelversorgung (z. B. Orthesen) und weiteren Maßnahmen wie Patientenschulung oder psychologische Unterstützung. Als wesentlich für die weitere Erkrankungsprognose wird neben der Subgruppenzugehörigkeit und individuellen Faktoren die kompetente Frühbehandlung vor Manifestation irreversibler Folgeschäden angesehen. Die medikamentöse Therapie entspricht im Wesentlichen der der rheumatoiden Arthritis (Stufentherapie mit nichtsteroidalen Antirheumatika, »Basistherapeutika«, Biologika und Glukokortikoiden), wobei eine systemische Glukokortikoidtherapie wegen ihrer unerwünschten Wirkungen, insbesondere wegen der wachstumshemmenden Effekte, nur mit großer Zurückhaltung eingesetzt wird. Bei dem zunehmend suffizienteren Management der JIA besteht heute nur selten Operationsbedarf im kindlichen Alter. Dieser ergibt sich ggf. in Fällen unzureichender Behandlung oder eines unzureichend kontrollierbaren Verlaufes.
Handgelenk- und Fingerbefall in Abhängigkeit von der JIA-Subgruppe Hand- und Fingergelenkbefall ist praktisch bei jeder JIA-Subgruppe möglich. Vor allem im Säuglings- und frühen Kleinkindalter muss als entwicklungsphysiologischer Aspekt beachtet werden, dass dadurch das »Begreifen« eingeschränkt sein kann, insbesondere, wenn beide Seiten betroffen sind. Hier muss krankengymnastisch und ergotherapeutisch von vornherein gegengesteuert werden. Bei Schulkindern kann das Schreiben (-lernen) beeinträchtigt sein. Bei der polyarthritischen systemischen JIA (Still-Syndrom) sowie bei der RF-positiven und -negativen Polyarthritis handelt es sich typischerweise um eine symmetrische Arthritis der Hand-, Fingergrund- und -mittelgelenke; nicht ganz selten, vor allem bei der RF-negativen Polyarthritis, können auch die Endgelenke involviert sein. Bei der Subgruppe Oligoarthritis stehen Knie- und Sprunggelenke im Vordergrund. Sind hier einzelne Fingergelenke (und/ oder Zehengelenke) betroffen, so findet sich familiär häufig eine
⊡ Tab. 52.2 ILAR-Klassifikation chronischer Arthritiden des Kindes- und Jugendalters: juvenile idiopathische Arthritis (Petty et al. 2004). Prozentangaben der jeweiligen Kategorien nach den Ergebnissen der deutschen Kerndokumentation 2004 (n = 4009) Kategorien
Relative Häufigkeit (%)
Definition
Exklusionen
Systemische Arthritis
6,0
Arthritis mit oder nach mindestens 2-wöchigem Fieber plus mindestens einer der folgenden Befunde: – Flüchtige (nichtfixierte) rötliche Exantheme – Generalisierte Lymphknotenschwellungen – Hepatomegalie oder Splenomegalie – Serositis
a, b, c, d
Oligoarthritis
52,8
Arthritis von 1–4 Gelenken während der ersten 6 Erkrankungsmonate – Persistierende Oligoarthritis: nach 6 Monaten ≤4 Gelenke – Extended Oligoarthritis: nach 6 Monaten ≥5 Gelenke
a, b, c, d, e
Polyarthritis (RF-negativ)
13,2
– Arthritis von ≥5 Gelenken während der ersten 6 Erkrankungsmonate – RF-Negativität während der ersten 6 Erkrankungsmonate
a, b, c, d, e
Polyarthritis (RF-positiv)
1,6
– Arthritis von ≥5 Gelenken während der ersten 6 Erkrankungsmonate – RF während der ersten 6 Erkrankungsmonate mindestens 2-mal positiv (Mindestabstand zwischen 2 Bestimmungen 3 Monate)
a, b, c, e
Psoriasisarthritis
7,0
Arthritis + Psoriasis oder Arthritis plus mindestens 2 der 3: – Daktylitis – Tüpfelnägel oder Onycholyse – Psoriasis bei einem Verwandten 1. Grades
b, c, d, e
Enthesitisassoziierte Arthritis
14,8
Arthritis + Enthesitis oder Arthritis oder Enthesitis plus mindestens 2 der 5: – Vorliegen oder Anamnese: ISG-Schmerz bzw. entzündlicher lumbosakraler Schmerz – HLA-B27-Positivität – Arthritisbeginn bei einem Jungen im Alter >6 Jahre – Akute (symptomatische) anteriore Uveitis – Familienanamnese: ankylosierende Spondylitis, enthesitisassoziierte Arthritis, Sacroiliitis bei entzündlicher Darmerkrankung, Reiter-Syndrom oder akute anteriore Uveitis bei einem Verwandten 1. Grades
a, d, e
Undifferenzierte Arthritis
4,5
Arthritis, die die Kriterien keiner Kategorie oder mehr als 1 Kategorie erfüllt
∅
RF Rheumafaktor a Psoriasis oder Psoriasisanamnese beim Patienten oder bei einem Verwandten 1. Grades b Arthritis bei einem HLA-B27-positiven Jungen mit Beginn nach dem 6. Geburtstag c Ankylosierende Spondylitis, enthesitisassoziierte Arthritis, Sacroiliitis bei entzündlicher Darmerkrankung, Reiter-Syndrom oder akute anteriore Uveitis oder Anamnese einer dieser Erkrankungen bei einem Verwandten 1. Grades d Mindestens 2-maliger Nachweis eines IgM-Rheumafaktors (Mindestabstand 3 Monate) e Vorliegen einer systemischen JIA beim Patienten
1427 52.1 · Allgemeines
Psoriasis, ohne dass die betroffenen Kinder klinische Hinweise auf eine Psoriasis wie entsprechende Hauterscheinungen, Tüpfelnägel oder eine Daktylitis aufweisen müssen. Für die juvenile Psoriasisarthritis ist ein asymmetrischer Gelenkbefall unter Einbezug einzelner Fingergelenke einschließlich der Endgelenke charakteristisch. Darüber hinaus findet sich nicht selten eine Daktylitis. Röntgenologisch kann am betroffenen Finger durch eine Periostitis eine Periostabhebung mit röntgenologischer Doppelkonturierung entstehen (Differenzialdiagnose Leukämie), im weiteren Verlauf entsteht eine Verbreiterung der gesamten Phalanx.
Fehlstellungen
⊡ Abb. 52.7 Kindliche Handskoliose: 12-jähriges Mädchen mit JIA bzw. Oligoarthritis und Handgelenkbeteiligung: Ulnardeviation im Handgelenk und kompensatorische Radialabweichung der Finger; eine Arthritis liegt nur im Handgelenk vor
Ein Handgelenkbefall führt bei Kindern reflektorisch zu einer schmerzentlastenden Schonhaltung durch Anspannung des M. flexor carpi ulnaris und gleichzeitiger Erschlaffung der Handstrecker (M. extensor carpi ulnaris, M. extensor carpi radialis brevis et longus). Das bringt die Hand in eine leichte Flexion und Ulnardeviation, die aktive Streckung ist frühzeitig eingeschränkt. Die Ulnardeviation der Mittelhand wird häufig durch eine Radialabweichung der Finger in den Grundgelenken kompensiert, ohne dass diese selbst erkrankt sein müssen. Insgesamt ergibt sich das Bild der »kindliche Handskoliose« (⊡ Abb. 52.7). Im weiteren Verlauf entwickelt sich, ebenfalls begünstigt durch den Hypertonus des M. flexor carpi ulnaris, eine Subluxation des Karpus nach palmar. Häufig finden sich Tendovaginitiden, vor allem bei den polyarthritischen Subgruppen. Bei einer Flexotenosynovialitis drohen Beugekontrakturen, denen krankengymnastisch und mittels Orthesen konsequent entgegengearbeitet werden muss. Schwanenhals- und Knopflochdeformitäten sind bei polyarthritischen Verläufen auch im Kindes- und Jugendalter geläufig. Bei heftiger und chronischer Entzündung kann es zu einem Verlust der Gelenkspalte zwischen den Ossa carpalia kommen mit Ausbildung eines Os carpale.
Lokale Wachstumsstörungen
⊡ Abb. 52.8 Mehrwachstum durch entzündlichen Wachstumsreiz. 3-jähriges Mädchen mit Arthritis im MCP-Gelenk 4 links bei JIA bzw. Oligoarthritis – der linke Ringfinger ist länger als der nicht betroffene rechte
Bei Befall einzelner Fingergrundgelenke kann der Entzündungsreiz zunächst zu einem Wachstumsreiz und Mehrwachstum führen, sodass der betroffene Finger dann länger ist als der nicht betroffene Finger der Gegenseite (⊡ Abb. 52.8). Bei längerer Dauer der lokalen Entzündung schließt sich die Wachstumsfuge vorzeitig, während die übrigen, nicht betroffenen Finger weiterwachsen. Im Endergebnis ist der Finger mit dem betroffenen MCP-Gelenk kürzer als der der Gegenseite (⊡ Abb. 52.9). Entsprechend führt eine einseitige
a ⊡ Abb. 52.9 Entzündungsbedingter vorzeitiger Wachstumsfugenschluss (Os metacarpale 3 links): 16-jähriger Junge mit Arthritis des MCP-Gelenks 3 links bei JIA bzw. enthesitisassoziierter Arthritis. a Der linke Mittelfinger erscheint verkürzt, b die Epiphysenfuge des Os metacarpale 3 links ist (vorzeitig) geschlossen
b
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
roskopischen Artikulosynovektomie (plus RSO im Anschluss), damit der Kapselapparat des Handgelenks nicht inzidiert werden muss. Beim offenen Vorgehen erfolgt die Hautinzision über dem Handgelenk dorsal, längsverlaufend über ca. 4 cm, in Verlängerung des 3. Strahls. Darstellung des Retinakulum extensorum. Dieses wird türflügelartig doppelt inzisiert und zwei radial gestielte Lappen präpariert. Dann erfolgt die Synovektomie der Strecksehnen. Der N. interosseus posterior wird reseziert und damit das Handgelenk teilweise denerviert, das Lister-Tuberkel wird abgetragen. Inzision der Kapsel des distalen Radioulnargelenks (DRUG). Sorgfältige Synovektomie des DRUG. Bei schmerzhaft eingeschränkter Supination und entsprechender Destruktion der Gelenkflächen wird das Ulnaköpfchen reseziert (dann RL-Arthrodese). Danach dorsale Inzision der Kapsel des Handgelenks. Synovektomie – in Beugestellung – des radialen und ulnaren Kapselrezessus sowie des Ansatzes des RSL-Bandes, von dem aus die Destruktion der radialen Gelenkfläche beginnt (Mannerfelt-Krypte). Resektion der entzündlich veränderten Anteile des Discus articularis. Synovektomie der Interkarpalgelenke in allen Anteilen (radial – ulnar – dorsal – palmar – radiokarpal – mediokarpal). Anschließend kann bei Bedarf mit dem distal gestielten Kapsel-Band-Lappen in Streckstellung, Pronation und Ulnarduktion eine dorsale Kapsel-BandPlastik durchgeführt und der Lappen in dorsoradialer Richtung transossär am Radius vernäht werden. Diese wird ggf. mit dem distalen Streifen des Retinakulum extensorum verstärkt. Dann erfolgt die Kapselnaht des distalen Radioulnargelenks. Reposition der Strecksehnen und Vernähen des proximalen Anteils des Retinakulum extensorum. Hautnaht (⊡ Abb. 52.11).
52 a
b ⊡ Abb. 52.10 Entzündungsbedingt beschleunigte karpale Knochenkernentwicklung. Knapp 3-jähriges Mädchen mit Handgelenkarthritis links bei JIA bzw. Oligoarthritis. a Die linke Hand erscheint insgesamt kleiner als die rechte, b die karpale Knochenkernentwicklung ist gegenüber der nicht betroffenen rechten Hand deutlich beschleunigt
Handgelenkentzündung durch den wachstumsstimulierenden Entzündungsreiz zu einer rascheren Knochenkernentwicklung, während die Hand insgesamt infolge des schmerzbedingt geringeren Gebrauchs weniger wächst und kleiner erscheint als die nicht betroffene Hand (⊡ Abb. 52.10). 52.2
Spezielle Techniken
52.2.1 Handgelenk
Synovektomie des Handgelenks Die Synovektomie des Handgelenks ist als präventiver Eingriff bei Versagen der konservativen Therapie in den Larsen-Stadien 0–2/3 indiziert. In fortgeschritteneren Stadien wird sie mit anderen Eingriffen (Arthrodesen, Arthroplastiken) kombiniert und ist immer Teil jedes anderen Eingriffes. Besteht eine Schleimhautentzündung ohne Befall der Sehnen, kann eine arthroskopische Synovektomie trikompartimental erfolgen. Dann ist eine RSO 6–8 Wochen später mit Rhenium vorzusehen. Ist eine ligamentäre Instabilität absehbar, sollte offen vorgegangen und eine entsprechende Plastik vorgesehen werden. Bei tenosynovialitischem Befall ist offen vorzugehen und die Sehnenscheiden sind zu resezieren. Denkbar wäre dann auch die Kombination einer offenen Tenosynovektomie und einer arth-
Nachbehandlung. Verband bis zur Wundheilung, Mobilisierung ab sofort, intensive aktive Fingerbeuge- und -streckübungen. Entfernung des Hautnahtmaterials nach 14 Tagen.
Radiolunäre Arthrodese Eine radiolunäre Arthrodese ist im Larsen-Stadium 3–4 indiziert, bei destruiertem distalen Radioulnargelenk mit Impingement des Ulnaköpfchens und Destruktion der proximalen Handwurzelreihe sowie bei beginnender Radialrotation und Supinationsfehlstellung der Handwurzel. Das Dezentrieren des Handgelenks entspricht dabei dem Stadium 3 der Einteilung nach Simmen bezüglich der Destruktionseinstellungen von rheumatischen Handgelenken. Der Eingriff ermöglicht die Rezentrierung der Handwurzel und das dauerhafte Verhindern zunehmender Fehlrotation. Das intakte Ligamentum lunotriquetrale ist von Vorteil für das sichere Halten des Ergebnisses. Die Hautinzision entspricht der bei der Synovektomie – wie oben beschrieben – einschließlich der Resektion des Ulnaköpfchens, mit der die radiolunäre Arthrodese kombiniert wird. Nach der Schleimhautresektion erfolgt das Entknorpeln und Anfrischen der proximalen Gelenkfläche des Os lunatum und der Fovea lunata am distalen Radius. Reposition der Radialrotation und Supinationsfehlstellung sowie Ausgleich der Dorsalextension und anschließendes Fixieren von Os lunatum und distalem Radius z. B. mit zwei Shapiro-Klammern (mithilfe eines pneumatischen Klammergerätes, Klammerbreite 10–13 mm; Klammertiefe 15 mm). Anlagern freier Spongiosatransplantate aus dem resezierten Ulnaköpfchen. Wundverschluss wie nach Synovektomie (⊡ Abb. 52.12).
Nachbehandlung. 14 Tage palmare Gipsschiene, anschließend zirkulärer Unterarmcast für 4 Wochen.
1429 52.2 · Spezielle Techniken
a
b
c
⊡ Abb. 52.11 Caput-Ulnae-Syndrom. a Progredienz des Ulnaköpfchens als Ausdruck der ulnaren Subluxation des Handgelenks gegenüber dem Unterarm, b Osteotomie des destruierten Ulnaköpfchens, c Resektion des destruierten Ulnaköpfchens. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, c])
Arthroplastik des Handgelenks Kap. 12 Die Indikation besteht bei schmerzhaft entzündlich destruiertem Handgelenk im Larsen-Stadium 4–5. Die Prothesenversorgung kann alternativ zur Arthrodese durchgeführt werden, wenn bei eingesteiftem Ellenbogen- und Schultergelenk die Mobilität des Handgelenks unbedingt erforderlich ist. Bei gleichwertiger Indikation an beiden Handgelenken bevorzugen wir die Versorgung der nicht dominanten Hand mit einer Prothese, da diese geringeren Belastungen ausgesetzt ist und damit eine höhere Standzeit erwarten lässt. Die Prothese nach Meuli besteht aus einer metakarpalen Pfanne mit Polyethyleneinlage und zwei Titanstiften. Proximalseitig besteht sie aus einem mit Titaniumnitrid beschichteten Metallkopf und zwei Titaniumstiften. Der proximale Teil ist asymmetrisch. Es gibt eine Rechts- und eine Linksversion. Die Hautinzision erfolgt dorsal, längsverlaufend über dem Handrücken. Dann erfolgt zunächst wie oben beschrieben die Synovektomie des Handgelenks, einschließlich der Resektion des Ulnaköpfchens. Darstellen und Resektion der distalen Radiusgelenkfläche sowie des Os lunatum, des proximalen Anteils des Skaphoids und des dorsalen proximalen Anteils des Os capitatum. Dann erfolgt die Präparation des Prothesenlagers im Os capitatum und 3. Metakarpale sowie im Skaphoid, Os trapezoideum und 2. Metakarpale mit dem Pfriem. Mit einem Luer wird zwischen Skaphoid und Os capitatum eine Nut angelegt, damit die Prothese ausreichend tief eingeführt werden kann. Entsprechend der Divergenz des 2. und 3. Metakarpale wird die distale Prothesenkomponente zurechtgebogen und implantiert. Proximal werden im distalen Radius zwei parallele, 1 cm tiefe Knochenkanäle angelegt und bei gebeugtem Gelenk die proximale Prothesenkomponente eingebracht. Dann erfolgt der Verschluss der Gelenkkapsel und des Retinakulum extensorum wie oben beschrieben. Die intraoperative Überprüfung der Kapselspannung ist von eminenter Wichtigkeit. Die Höhe des
Handgelenks ist wiederherzustellen und das Drehzentrum zu beachten. Die präoperative Kontrolle über die suffiziente Funktion aller das Handgelenk motorisierenden Muskeln ist imperativ.
Nachbehandlung. Palmare Gipsschiene für 6 Wochen. Ab dem 2. postoperativen Tag Mobilisierung des Handgelenks in Beugung und Streckung (20–0–20°), nach 6 Wochen zunehmend bis zur freien Bewegung.
Arthrodese des Handgelenks nach Mannerfelt Die Indikation zur Arthrodese des Handgelenks besteht bei rheumatischer Handgelenkdestruktion im Stadium 4 und 5 nach Larsen, Dale und Eek bzw. bei vollkommener, funktionsbehindernder Instabilität. Aufgrund der Haut- und Weichteilverhältnisse ist die Arthrodese mit einer intramedullären Schienung (Rush-Pin Stärke 2,5–3 mm) in der Technik nach Mannerfelt zu bevorzugen. Hierdurch werden auch die darüber liegenden, oft vorgeschädigten Sehnen geschont, die nicht über an den Knochen auftragenden Osteosynthesematerialien mit der Gefahr sekundärer Ruptur laufen müssen. Mit Klammern kann bei Bedarf an den Handwurzelknochen eine zusätzliche Rotationsstabilität der Fusion erreicht werden. Die Hautinzision erfolgt dorsal, gerade über dem Radius bis zum 3. Metakarpale. Dann erfolgt zunächst die Synovektomie der Strecksehnen und des Handgelenks einschließlich der Resektion des Ulnaköpfchens, wie oben beschrieben. Lösen der Handwurzelknochenreste, Entknorpeln und Anfrischen der Gelenkflächen und Reposition der Handwurzel. Zur Schaffung des Knochenlagers für den Rush-Pin wird der Pfriem von proximal durch die Handwurzelknochen, die häufig zu einem Os carpale verschmolzen sind, in das 3. Metakarpale geführt. Dann wird ein ausreichend langer,
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
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b
a
d
c
⊡ Abb. 52.12 Radiolunäre Arthrodese. a Schema: Bildung von zwei Retinakulumlappen, b Präparation des Retinakulum extensorum, c Schema: Synovektomie des Handgelenks, d Entknorpeln und Anfrischen der proximalen Gelenkfläche des Os lunatum und e Einbringen von Shapiro-Klammern mithilfe eines pneumatischen Klammergerätes, f postoperative Röntgenaufnahmen nach radiolunärer Arthrodese – eingebrachte Shapiro-Klammern fixieren Os lunatum und distalen Radius, g Schema: Retinakulumschluss. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, c, g])
e
f
g
1431 52.2 · Spezielle Techniken
a
b
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h
i
⊡ Abb. 52.13 Arthrodese des Handgelenks nach Mannerfelt. a Röntgenaufnahme einer rheumatischen Handgelenkdestruktion im Stadium LDE 5 in a.-p.Projektion, b Röntgenaufnahme einer rheumatischen Handgelenkdestruktion im Stadium LDE 5 in streng seitlicher Projektion, c Schaffung des Knochenlagers für den Rush-Pin in Radius, Handwurzelknochen und 3. Metakarpale, d, e, f schrittweises Vorgehen bei der Implantation des Rush-Pin, g vollständig eingebrachter Rush-Pin, h, i postoperative Röntgenaufnahmen nach Handgelenkarthrodese mittels Rush-Pin
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
entsprechen ausgemessener Rush-Pin unter Bildwandlerkontrolle vorsichtig durch den geschaffenen Knochenkanal in den Radius bis etwa zur Tuberositas radii eingeschlagen (wichtig, weil eventuell zu einem anderen Zeitpunkt am Ellenbogen eine Radiusköpfchenresektion erforderlich werden kann!). Dieser wird zuvor leicht vorgebogen, um zum einen die Kontur des Radius zu imitieren und zum anderen das Handgelenk definitiv in einer 10- bis 20-gradigen Extension, bei leichter Ulnarduktion, zu positionieren. Bei größeren Knochendefekten müssen eventuell kortikospongiöse Beckenkammspäne und Spongiosa angelagert werden. Danach werden zur Rotationssicherung bei Bedarf zwei radiokarpale Klammern (Blount/Richards) eingebracht. Schichtweiser Wundverschluss wie oben beschrieben (⊡ Abb. 52.13).
Nachbehandlung. Palmare Gipsschiene für 2 Wochen, anschließend zirkulärer Unterarmcast für 4 Wochen. Sofortige Mobilisierung der Fingergelenke und des Ellenbogengelenks. 52.2.2 Daumen
Resektions-Interpositions-Arthroplastik mit autologem gestieltem Transplantat am Karpometakarpalgelenk (Daumensattel)
Knopflochdeformität des Gelenks besteht die Indikation zur Synovektomie. Hierbei erfolgt die Hautinzision über dem MCP-1-Gelenk von proximal entlang der ulnaren dorsalen Daumenkante mit bogenförmiger Abweichung auf die Dorsalseite nach distal. Nach dorsaler Eröffnung der Gelenkkapsel radial- und ulnarseitig wird die Synovektomie in allen Gelenkanteilen durchgeführt. Anschließend wird (nur bei der Knopflochdeformität Stadium 1–2) zur Korrektur der Fehlstellung im IP-Gelenk die Sehne des M. extensor pollicis longus abgelöst und eine dorsale Tenodese des MCP-Gelenks mit der Sehne des M. extensor pollicis longus durchgeführt. In manchen Fällen müssen die Ligg. retinaculare obliquum verlängert werden. Die Einstrahlung des M. abductor pollicis brevis und des M. adductor pollicis in die Dorsalaponeurose wird dreieckförmig exzidiert und dann die Dorsalaponeurose mittels Raffnaht über dem MCP-Gelenk wieder verschlossen.
Nachbehandlung. In Fällen mit lang andauernder Fehlstellung kann eine temporäre Fixierung des MCP- und IP-Gelenks mittels Kirschner-Draht für 2–3 Wochen sinnvoll sein, ansonsten erfolgt die äußere Ruhigstellung mittels Gipsschiene oder Orthese für 2–3 Wochen, das IP-Gelenk kann meist unmittelbar postoperativ aktiv und passiv gebeugt werden.
Bei rheumatischer Destruktion des Karpometakarpalgelenks von D 1 führen wir eine Resektions-(Os trapezium-)InterpositionsSuspensions-Arthroplastik durch. In unseren Händen hat sich das Nutzen der Sehne des M. extensor carpi radialis longus für die Suspension der Metakarpalebasis 1 bewährt. Die Hautinzisionen erfolgen distal von der Basis des Metakarpale 1 zur Basis des Metakarpale 2 quer verlaufend, die zweite etwa 6 cm proximal des Lister-Tuberkels ebenfalls 2 cm quer verlaufend. Distal schichtweise Präparation und Darstellung sowie Anschlingen und intraoperative Schonung der A. radialis. Eröffnen des Karpometakarpalgelenks und Herauslösen des Os trapezium in toto. Dann Vorlegen eines Bohrloches in der Basis des Metakarpale 1 zur Aufnahme der Sehnenplastik. Darstellen der Ansatzzone der Sehnen der Mm. extensor carpi radialis longus et brevis am Metakarpale 2. Dann Aufsuchen der Sehne in dem proximalen Situs am dorsoradialen Unterarm. Die Sehne wird isoliert, zu einem Drittel gesplittet und unter den Extensorenstrukturen nach distal durchgeführt, sodass sie an der Basis des Metakarpale 2 gestielt verbleibt. Distales Hindurchführen der Sehne unter den Gefäß-Nerven-Strukturen der 1. Kommissur. Anschließend Einfädeln in das Bohrloch und Vernähen mit sich selbst unter solider Vorspannung durch Annäherung der Basis des Metakarpale 1 an die Basis des Metakarpale 2. Dabei wird auf die Öffnung der 1. Kommissur ebenso geachtet, wie auf den Längenausgleich der Basis des Metakarpale 1. Die überschüssige Sehne von 6–8 cm wird aufgerollt und in die Trapeziumhöhle eingebracht. Temporär wird zum Halten der Position des Daumens ein Kirschner-Draht transossär vom Metakarpale 1 in 2 eingebracht (⊡ Abb. 52.14).
Arthrodese des Metakarpophalangealgelenks
Nachbehandlung. Belassen des eingebrachten Kirschner-Drah-
Nachbehandlung. Ruhigstellung des MCP-Gelenks mittels Gipsschiene oder Kunststoffschiene für 4–6 Wochen, das IP-Gelenk kann aktiv und passiv mobilisiert werden.
tes und Anlage eines Unterarmgipses mit Daumeneinschluss ohne IP-Gelenk für 6 Wochen.
Synovektomie und Korrektur der Knopflochdeformität (Funktionsstadium 1–2) am Metakarpophalangealgelenk des Daumens Das operative Vorgehen ist stadienabhängig. Im radiologischen Stadium 0–3 nach Larsen, Dale und Eek bei passiv korrigierbarer
Eine radiologische Destruktion dieser Artikulation im Stadium 4 und 5 nach Larsen, Dale und Eek, eine fixierte Knopflochdeformität oder eine behindernde, funktionsreduzierte Instabilität des MCP-Gelenks vom Daumen ist eine gute Indikation für eine Arthrodese (sog. »Winner-Operation«). Die Patienten gewinnen die Stabilität des Greifwiderlagers der Finger zurück. Die Hautinzision wird hierbei ebenso radial-dorsal geschwungen über dem MCP-Gelenk D 1 ausgeführt, wie bereits beschrieben. Nach Eröffnung der Gelenkkapsel werden die Seitenbänder abgelöst, sodass die Grundphalanx gebeugt und palmare Verwachsungen gelöst werden können. Dann erfolgen die Entknorpelung und das sparsame subchondrale Anfrischen der Gelenkflächen (alternativ: das sparsame Absetzen der beiden Gelenkpartner retrochondral), sodass diese in ca. 10° Beugung aufeinandergestellt werden können. Die Öffnung der 1. Kommissur (bei der rheumatischen Deformität kommt es gehäuft zu einer verminderten, später kontrakten Adduktion des Metakarpale 1!) wird bei der Festlegung der Schnittebenen klar beachtet. Es kann erforderlich werden, eine nach radial inklinierte Osteotomieebene wählen zu müssen, um die 1. Kommissur offen zu halten. Die Zuggurtungsosteosynthese führt zur soliden Kompression des Arthrodesenspaltes. Hierzu werden 2 dünne Kirschner-Drähte von proximal-dorsal nach distal-palmar in die Grundphalanx eingebracht. Dann wird in der Basis der Grundphalanx ein querer Kanal gebohrt durch den in Achterform der 0,8-Cerclagedraht gelegt und danach im Cerclagenschloss verzwirbelt wird. Schraubenarthrodesen sind bei den in der Regel osteoporotischen Knochenverhältnissen nicht stabil.
Transfer der Sehne des M. extensor indicis bei Strecksehnenruptur des Daumens Die Daumenstrecksehne rupturiert bei der rheumatoiden Arthritis in der Regel langstreckig im 3. Strecksehnenfach zwischen dem Lister-Tuberkel und dem Retinakulum extensorum. Aufgrund der
1433 52.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 52.14 Resektions-(Os-trapezium-)Interpositions-Suspensions-Arthroplastik. a Anschlingen der A. radialis, b, c Resektion des Os trapezium, d Os trapezium, e, f Präparation der ECRL-Sehne, g Hautinzisionen (nach Hautnaht), transossär eingebrachter Kirschner-Draht von Metakarpale 1 in 2
nekrotischen Sehnenenden ist eine direkte Sehnennaht praktisch nie möglich. Im Allgemeinen stellen wir nicht die Indikation für das Opfern der Sehne des EIP zur Korrektur dieses beim Rheumatiker oft nur wenig beeinträchtigenden Defizites. Da meist auch das Zielgelenk (IP-Gelenk des Daumens) entzündlich induzierte Destruktionen aufweist, schreiten wir regelhaft zu der Arthrodese des Daumenendgelenks. So wir für eine Rekonstruktion über den EIP-Transfer votieren, empfehlen wir folgendes Vorgehen: Die Hautinzisionen erfolgen bei den seltenen Indikationen für das Verfahren schräg über dem Handgelenk entlang des 3. Strecksehnenfaches sowie quer über dem MCP 2. Inzision des Retinakulum extensorum. Dann zunächst Mobilisation der Sehne des M. extensor indicis an der Basis des Metakarpale 2 und Verlagern derselben subkutan nach proximal. Vernähen derselben distal mit dem proximalen Ende der Sehne des M. extensor pollicis longus (Technik nach Pulvertaft) nach Resektion der nekrotischen Enden. Abtragen des Lister-Tuberkels. Das Retinakulum extensorum wird unter der Durchflechtungsnaht verschlossen, sodass diese extrafaszial zu Liegen kommt ( Abschn. 5.2.15).
Nachbehandlung. Palmare Kunsstoffschiene für 4 Wochen. Die aktive und passive Mobilisierung des Handgelenks und der Daumengelenke ist nach einigen Tagen in geringem Grad (Bewegungs-
ausschlag 20°) möglich. Die aktive Extension des Daumens gegen Widerstand sollte 6 Wochen vermieden werden.
Beugesehnenruptur des Daumens – Rekonstruktion mit einem freien Transplantat der Sehne des M. palmaris longus Die Beugesehnenruptur des Daumens ist seltener als die Strecksehnenruptur. Für die Rekonstruktion gilt das Ausgeführte bezüglich der EPL-Ruptur bei Patienten des rheumatischen Formenkreises (Arthrodese des Endgelenks bevorzugt). Die Sehne rupturiert meist im Bereich des Karpaltunnels zwischen Os scaphoideum und Os trapezium, wo die Sehne nach radial abbiegt (»critical corner«). Die Hautinzision erfolgt palmar zickzackförmig über dem MCPGelenk bis zum distalen Unterarm. Zunächst wird die rupturierte Beugesehne freigelegt, synovektomiert und ggf. durch Resektion des Schrägbandes und Inzision des Ringbandes mobilisiert. Die nekrotischen Sehnenenden werden exzidiert. Dann wird die Sehne des M. palmaris longus mit einem Sehnenstripper gewonnen. Das freie Transplantat wird mit dem distalen Ende der Daumenbeugesehne vernäht, am proximalen Ende erfolgt eine Durchflechtungsnaht unter adäquater Vorspannung. Hierbei soll bei 20° extendiertem Handgelenk der Daumen den Zeigefinger seitlich berühren.
Nachbehandlung. Dynamische Kunststoffschiene für 6 Wochen.
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
A1-Ringband-Stenose des Daumens Die Indikation zur A1-Ringband-Spaltung besteht bei Ringbandstenose mit schnellendem Daumen. Die Hautinzision erfolgt (z. B. in Lokalanästhesie) quer in Höhe des MCP-1-Gelenks zwischen dem ulnaren und radialen Sesambein. Dann wird das A1-Ringband dargestellt und inzidiert. Bei Bedarf wird eine Synovektomie der Beugesehne durchgeführt.
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Nachbehandlung. Aktive und passive Mobilisation ab dem 1. postoperativen Tag.
Destruktion des Endgelenks des Daumens Im Stadium 0–3 LDE ist bei einer therapieresistenten Synovialitis eine offene Synovektomie angezeigt. Später (LDE 4–5) oder einer Instabilität bzw. einer funktionsbehindernden Achsabweichung kann die Arthrodese des IP-Gelenks am Daumen sehr hilfreich sein. Sie kann auch neben der Arthrodese des MCP-Gelenks genutzt werden. Das technische Vorgehen kann in der queren Inzision der Streckfalte am IP-Gelenk bestehen. Nach der schichtweisen Präparation auf die Strecksehne wird diese quer inzidiert und angeschlungen. Die Synovektomie ist zuerst auszuführen. Dann können die Gelenkflächen bei Bedarf sehr sparsam (Cave: Längenverlust!) mit dem Lüer oder der oszillierenden Säge abgesetzt werden. Die retrograde Schraubenarthrodese mit einer Doppelgewindeschraube oder einer 2,0-Kortikalis-Zugschraube in 0-Grad-Stellung des Gelenks ist funktionell günstig.
Nachbehandlung. Die Arthrodese mittels Schraube erfordert üblicherweise keine Ruhigstellung. Für 6 Wochen sollten Lasten >1 kg vermieden werden ( Abschn. 23.2.9 und 23.2.10). 52.2.3 Finger
Synovektomie und Weichteilrekonstruktion der Metakarpophalangealgelenke 2–5 Bei chronischer Synovialitis der MCP-Gelenke und erhaltenen Gelenkflächen (Stadien 0–III nach Larsen, Dale und Eek) ist die Synovektomie der Gelenke indiziert. Bei Bedarf wird dies mit einer Rekonstruktion bzw. Rezentrierung der periartikulären Weichgewebe, insbesondere der Streckhaube kombiniert. Zu beachten bleibt, dass bei der Schwanenhalsdeformität im Stadium 1–2 das Release der intrinsischen Muskulatur nach Littler von diesem Zugang aus mit durchgeführt wird. Die Hautinzision erfolgt quer über den MCP-Gelenken, auch dann, wenn nur einzelne Gelenke versorgt werden sollen. Dadurch wird bei späteren Interventionen eine unschöne Narbensituation vermieden. Die Inzision der Haut ist vorsichtig auszuführen, damit die Streckhaube nicht versehentlich verletzt wird. Danach wird die Streckhaube ulnar und radial longitudinal weit nach distal inzidiert und von der Gelenkkapsel gelöst. Diese wird danach H-förmig eröffnet und die Synovialitis auch palmar herausgelöst. Anschließend erfolgt der Verschluss der Gelenkkapsel und die Refixation des Tractus intermedius, wobei die Streckhaube durch radial überwändige Raffnähte bewusst nach radial verlagert wird. Auf den Verschluss der ulnaren Inzision der Streckhaube wird verzichtet.
Nachbehandlung. In Abhängigkeit von der Rigidität einer Ulnardeviation der Finger ist eine Versorgung mit einer dynamischen, individuell angepassten Fingerextensionsschiene für 3 Monate angezeigt. Diese wird 14 Tage nach dem Eingriff, nach der
Hautnahtmaterialentfernung, angelegt, nachdem sie 7 Tage postoperativ angepasst wurde (⊡ Abb. 52.15).
Arthroplastik der Metakarpophalangealgelenke Bei funktionsbehindernden Instabilitäten, destruierten MCP-Gelenken im Stadium 4 und 5 nach Larsen, Dale und Eek, meist einhergehend mit einer Palmarsubluxation der Grundphalangen und Ulnardeviationen der Finger, besteht spätestens die Indikation zur Arthroplastik. Als »Goldstandard« gelten auch heute noch die langjährig bewährten Silastic-Prothesen nach Swanson. Vom Prinzip stellen sie Platzhalter dar, die über den Effekt des »encapsulation« zu einer stabilen Neokapselbildung führen und im Knochen selbst eine Gleitbewegung durchführen. Moderne, nicht gekoppelte Prothesen, wie z. B. die Elogenics-TEP, hängen im Wesentlichen von einem noch intakten Kapsel-Band-Apparat ab und erfahren deshalb wenig Indikation, weil die Gelenkflächen zu diesem Zeitpunkt meist noch nicht prothesenpflichtig erscheinen (Patient und Operateur!). Essenziell für den Operationserfolg ist die operative Korrektur der umgebenden Weichteile. Die Hautinzision erfolgt dorsal transversal über den MCP-Gelenken. Dann werden die ulnaren Retinakularfasern inzidiert, der Strecksehnenapparat nach radial präpariert und die Gelenkkapsel dargestellt, die türflügelartig inzidiert wird. Anschließend wird das Gelenk komplett synovektomiert. Die Gelenkflächen werden dargestellt und die Osteotomien vorgenommen. Am Mittelhandköpfchen erfolgt die sparsame Resektion in etwa 10° palmarer Inklination. Die Grundphalanx wird proximal senkrecht auf die Längsachse sehr sparsam abgesetzt. Dann werden die Markräume eröffnet und mit entsprechenden Raspeln bis zur passenden Größe aufgeraspelt. Einsetzen eines Probeimplantats zur Kontrolle von Beweglichkeit, Spannung und Stabilität. Danach wird das definitive Implantat eingesetzt. Grommets zum Schutz des Implantats vor Abrieb an den Knochenrändern haben nicht zu verbesserten Ergebnissen geführt und erscheinen verzichtbar. Schließlich erfolgt die raffende Kapselnaht und der weitere Verschluss, wie bereits beschrieben (⊡ Abb. 52.16).
⊡ Abb. 52.15 Synovektomie und Weichteilrekonstruktion der Metakarpophalangealgelenke 2–5. a Schema: Ulnardirft der Finger im MCP-Gelenk-Bereich. b Das Strecksehnenhäubchen wird über einen Längsschnitt im radialen Rand der Strecksehne eröffnet, von der Gelenkkapsel und vom Synovialsack abgelöst und nach ulnar und radial beiseite gehalten. Der dorsale Synovialsack wird abgetragen. Das Synovialgewebe wird sorgfältig – mit einem feinen Luer – aus den Seitenbandnischen und der palmaren Tasche entfernt. Die Usuren werden mit einem scharfen Löffel und einem Zahnarzthaken ausgeräumt und gesäubert. Scharfkantige Ränder der Usuren werden geglättet: Ansicht von dorsal, c Ansicht von distal. d Die radiale Seitenbandnische wird so lange angefrischt, bis spongiöser Knochen freiliegt. Durch den radialen Höcker des Mittelhandköpchens werden zwei paralelle Bohrkanäle schräg von dorsal/proximal nach palmar/distal in die angefrischte Seitenbandnische angelegt. e Das Grundglied ist aus seiner Fehlstellung wieder in die regelrechte Lage zurückgeführt. Das radiale Seitenband ist unter Verkürzung und teilweiser Doppelung mit einer transossären halben Kessler-Naht in die angefrischte Seitenbandnische eingezogen. Der proximale Bandstumpf ist zur Verstärkung auf das radiale Seitenband aufgenäht. f Die ausgeweitete radiale Hälfte der Streckerhaube ist unter der Strecksehne nach ulnar durchgezogen und dort mit der ulnaren Hälfte der Streckerhaube vernäht. Die Strecksehne ist unter leichter Überkorrektur nach radial verlagert und mit der Streckerhaube vernäht. Die Drehstellung ist durch die Verkürzung des radialen Seitenbandes im Sinne der (funktionell günstigen) Supination gering überkorrigiert: Ansicht von dorsal, g Ansicht von distal. h Schema: postoperativer Aspekt. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, h], Hausmann u. Das Gupta 2003 [b–g])
1435 52.2 · Spezielle Techniken
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Kapitel 52 · Veränderungen an der Hand bei Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis (Die »rheumatische« Hand)
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⊡ Abb. 52.16 Arthroplastik der MCP-Gelenke. a Schema der häufigsten rheumatischen Gelenkzerstörungen im Handbereich, präoperativer Aspekt, b Hautinzision über den MCP-Gelenken, c destruiertes Metakarpale 2-Köpfchen, d sparsame Köpfchenresektion mittels oszillierender Säge, e Aufsuchen des Markraumes, f Aufraspeln des Markraumes, g Einbringen des Impantats, h Schema: postoperativer Aspekt (Aus Berger u. Hierner a, h)
1437 52.2 · Spezielle Techniken
Nachbehandlung. Dorsale dynamische Schiene mit radialem Zug für 12 Wochen. Mobilisation der MCP-Gelenke zu Beginn in Beugung mit in Streckstellung fixierten PIP-Gelenken. Dabei sind die MCP-Gelenke nach dorsal zu zentrieren.
»Intrinsic Release« bei Schwanenhalsdeformität Die Indikation zum Intrinsic Release nach Littler besteht bei einer Schwanenhalsdeformität im Stadium 1. Kombiniert wird der Eingriff bei Bedarf mit der Synovektomie der Grundgelenke und der Rezentrierung der Streckhaube. Die Hautinzision erfolgt wie beschrieben dorsal transversal über den MCP-Gelenken. Dann wird das Spatium zwischen Streckapparat der PIP- und DIP-Gelenke und der Haut subkutan beinahe bis zum PIP-Gelenk stumpf präpariert. Unter Sicht (2 LangenbeckHaken) erfolgt ulnar und radial eine dreieckförmige Exzision der kontrakten Lamina intertendinea superficialis (Landsmeer), das entspricht der Schicht zwischen dem Tractus centralis und den Tractus laterales beidseits. Damit wird die funktionelle Verlängerung des Tractus lateralis erreicht und alle kontrakten Strukturen, die seitens der intrinsischen Muskulatur die proximale Grundphalanx nach palmar ziehen, werden gelöst.
a
Nachbehandlung. Sofortige aktive und passive Mobilisation der Finger. Versorgung mit einer dynamischen, individuell angepassten Fingerextensionsschiene für 3 Monate.
Retinakularrekonstruktion bei Schwanenhalsdeformität Die Indikation zur Retinakularrekonstruktion bei Schwanenhalsdeformität besteht bei einer Schwanenhalsdeformität im Stadium 2. Die Hautinzision erfolgt längsgestellt ulnarseitig vom Endgelenk bis zum proximalen Drittel der Grundphalanx am Übergang der dorsalen zur palmaren Haut. Der ulnare Tractus lateralis der Strecksehne wird dargestellt und ein Streifen desselben unter Schonung der Bandverbindungen zwischen PIP-Gelenk und Haut mobilisiert. Dann wird der distal gestielt verbleibende Streifen von distal nach proximal gezogen und durch zwei schlitzförmige Öffnungen des A2-Ringbandes geführt. Nach ausreichender Vorspannung wird das Transplantat zurück nach distal umgeschlagen und mit sich selbst vernäht. Durch diesen Zug streckt sich das DIP-Gelenk und das PIP-Gelenk wird gebeugt. Bei länger bestehender Fehlstellung mit hochgradiger palmarer Instabilität des PIP-Gelenks wird der Streifen durch Vernähen mit dem ulnaren Anteil der Sehne des M. flexor digitorum superficialis verstärkt.
Nachbehandlung. Temporär können das PIP- und DIP-Gelenk mit einem Kirschner-Draht fixiert werden, anschließend Tragen einer Fingerschiene in korrigierter Position (PIP-Gelenk gebeugt, DIP-Gelenk gestreckt) für 6 Wochen. Aktive und passive Mobilisierung des PIP- und DIP-Gelenks frühestens ab der 3. postoperativen Woche.
Synovektomie am proximalen Interphalangealgelenk (PIP) Diese wird wie an den MCP-Gelenken bei chronischer, therapieresistenter Synovialitis, stabilen Bandverhältnissen und erhaltenen Gelenkflächen (Stadium 0–3 nach Larsen, Dale und Eek) durchgeführt. Die Inzision erfolgt bogenförmig streckseitig über dem PIP-Gelenk. Die Haut wird beidseits des Gelenks mobilisiert. Die Streckhaube wird radial und ulnar des Tractus intermedius inzidiert. Dann werden die dorsalen Gelenkabschnitte und die Seitenbandtaschen synovektomiert. Um die palmaren Anteile zu erreichen, muss
b ⊡ Abb. 52.17 Synovektomie am proximalen Interphalangealgelenk. a Klinisches Bild einer Synovialitis des PIP, b Inzision der Streckhaube radial und ulnar des Tractus intermedius zur Synovektomie des PIP
gelegentlich eine Durchtrennung des ulnaren Seitenbandes (mit Rekonstruktion) vorgenommen werden. Abschließend erfolgen dann die sorgfältige Naht der Streckhaube und der Haut (⊡ Abb. 52.17).
Nachbehandlung. Sofortige aktive und passive Mobilisation ohne Last oder Widerstand.
Arthroplastik der PIP-Gelenke mittels SwansonSilastic-Spacer Die Indikation besteht bei der Destruktion der Gelenkflächen entsprechend dem Stadium 4 und 5 nach Larsen, Dale und Eek oder bei ästhetisch bzw. funktionell behindernden Instabilitäten bzw. Fehlstellungen. Kontraindikationen sind eine fixierte Schwanenhalsdeformität oder absehbar erforderliche bzw. bereits stattgehabte Arthroplastiken der MCP-Gelenke. Die Hautinzision erfolgt dorsal bogenförmig geschwungen über dem PIP-Gelenk. Darstellen der Streckhaube, Längsinzision derselben radial und ulnar und Lösen des Tractus intermedius an der Basis der Mittelphalanx (alternativ retrograde Lappenbildung). Dann zunächst Synovektomie, bei ungenügender Flexion Wenn der Arm in kaudale Richtung gezogen wird, sind die oberen Wurzeln (C5, C6) der stärksten Traktion ausgesetzt. Bei Zug in lateraler Richtung wird die C7-Wurzel am meisten belastet. Wenn der Arm nach kranial gezogen wird müssen die unteren Wurzeln (C8, T1) dem Zug am meisten Widerstand leisten.
Zusätzlich kann der Plexus brachialis bei einem Trauma, das die Schulter in kraniokaudaler Richtung bewegt zwischen Klavikula und 1. Rippe komprimiert werden. Auch bei einer Fraktur der Klavikula, des Processus coracoideus oder eines Processus transverse kann der Plexus brachialis durch ein knöchernes Fragment komprimiert werden. Eine Kompression des Plexus brachialis gefolgt von schwerer Fibrose ist auch oft verursacht durch große Hämatome oder Ödeme. Eine Kombination aus Kompression und Traktion entsteht beispielsweise, wenn der Plexus zwischen Klavikula und 1. Rippe komprimiert und gleichzeitig der Kopf zur Gegenseite bewegt wird. Hierdurch werden die zentralen Anteile des Plexus elongiert. Um die lateralen Anteile des Plexus zu elongieren kann umgekehrt nach Fixierung des Plexus zwischen Klavikula und 1. Rippe der Arm nach lateral gezogen werden. 53.1.4 Diagnostik Für eine möglichst exakte Schadenserfassung dient uns ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen (⊡ Abb. 53.7). Bei posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis im Rahmen eines Polytraumas muss das oben genannte standartisierte diagnostische Vorgehen in ein umfassendes Diagnostik- und Therapieschema bei Polytrauma integriert werden. Das computergestütze »Plexus brachialis Evaluationssystem« (Plexusevaluationssystem; PES) nach Hierner wird seit mehreren Jahren erfolgreich eingesetzt. Das PES wurde aufgrund eigener klinischer Erfahrungen und einer Durchsicht der Literatur erstellt. Einige der im PES aufgeführten Vorschläge zur Erhebung der Untersuchungsbefunde sind
bereits in unterschiedlichen Kombinationen und Gewichtungen in klinischer Anwendung. Mit dem PES sollen diese nun aber als Kompendium zur Vereinheitlichung der Diagnostik und Optimierung des Behandlungsschemas bei posttraumatischen Plexusbrachialis-Läsionen vorgestellt werden. Bei posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis im Rahmen eines Polytraumas muss das oben genannte standardisierte diagnostische Vorgehen in ein umfassendes Diagnostik- und Therapieschema bei Polytrauma integriert werden. Bei der Erstuntersuchung einige Tage bis Wochen nach Trauma wird erst- und einmalig eine detallierte Allgemeinanamnese erhoben. Darüber hinaus erfolgt eine klinische Untersuchung, welche durch apparative Untersuchungen ergänzt wird. Die standardisierte klinische Untersuchung, welche sich bis zum 6. (spätestens 9.) posttraumatischen Monat monatlich wiederholt, beinhaltet die subjektive Bewertung von Beschwerden (Schmerzskala 0–10), Wetterfühligkeit und Kälteempfindlichkeit, die Sensibilitätstestung im Unterarm- und im Handbereich (radial und ulnar), die Untersuchung der aktiven und passiven Gelenkbeweglichkeit von Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk, sowie der Hand mithilfe der Neutral0-Methode und die Beurteilung der Muskelkraft jedes einzelnen Muskels der oberen Extremität nach der Klassifikation des Medical Research Councils (MRC). Foto- und Videodokumentation sind sehr hilfreich und sollten ebenfalls zur Erstuntersuchung und danach vierteljährlich wiederholt werden. Ab dem 3. posttraumatischen Monat können fakultativ zur Unterstützung und Sicherung der Diagnose und der Einschätzung des Schädigungsausmaßes EMG/NLG, Myelografie/Myelo-CT und MRT vor eventuell geplanter Exploration des Plexus brachialis angefertigt werden. Spätestens zum 6. posttraumatischen Monat sollte die Entscheidung für oder gegen die frühzeitige mikrochirurgische Exploration des Plexus brachialis getroffen werden. Bei der operativen Revision des Plexus brachialis werden direkte Nervenstimulation, Gewebeentnahmen aus dem Bereich der proximalen Nervenstümpfe und eine Fotodokumentation routinemäßig durchgeführt. Abhängig von den apparativen Möglichkeiten sollten neben den somatosensorisch evozierten Poten-
PLEXUS EVALUATIONS SYSTEM A B C D E F
Kenndatenerhebung Allgemeinanamnese Untersuchungsbefunde (Erstvorstellung) Untersuchungsbefunde (3. posttraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (6. posttraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (9. posttraumatischer Monat) PROCEDERE ?
Primäre Nervenrekonstruktion G H I J K L M N O P Q R S
intraoperative und histologische Befunde postoperative Befunde (6. Woche) postoperative Befunde (6. Monat) postoperative Befunde (9. Monat) postoperative Befunde (12. Monat) postoperative Befunde (18. Monat) postoperative Befunde (24. Monat) postoperative Befunde (30. Monat) postoperative Befunde (36. Monat) postoperative Befunde (42. Monat) postoperative Befunde (48. Monat) postoperative Befunde (54. Monat) postoperative Befunde (60. Monat)
keine primäre Nervenrekonstruktion
I’ J’ K’ L’ M’ N’ O’ P’ Q’ R’ S’
Untersuchungsbefunde (12. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (15. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (18. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (24. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (30. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (36. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (42. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (48. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (54. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (60. postraumatischer Monat) Untersuchungsbefunde (66. postraumatischer Monat)
⊡ Abb. 53.7 Plexusevaluationssystem (PES) nach Hierner
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Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
zialen (SEP) auch motorisch evozierte Potenziale (MEP) abgeleitet werden. Postoperative Befunde werden nach 6 Wochen, 6, 9, 12 Monaten und dann im halbjährlichen Abstand erhoben. Zusätzlich zu der oben beschriebenen klinischen Untersuchung erfolgt die Kontrolle der Wundheilung. Jährliche Foto- und fakultative Videodokumentationen sind wiederum hilfreich. Ab dem 24. postoperativen Monat können fakultativ vor geplanter funktionsverbessernder sekundärer Ersatzoperation (Muskel-Sehnen-Transfer), Röntgenaufnahmen, EMG/NLG und eventuell eine Arthro-CT-Untersuchung durchgeführt werden. Man achtet auf Achsenfehlstellungen, knöcherne Defekte, Bruchheilungsstörungen, arthrotischen Veränderungen und Gelenkfehlstellungen (Subluxationen, Luxationen). Fakultativ vor geplantem Muskel-Sehnen-Transfer erfolgt die Beurteilung der Muskelkraft nach der Klassifikation des MRC. Hat man sich aufgrund einer guten Spontanregeneration bis zum 6. posttraumatischen Monat zur konservativen Therapie der Läsion des Plexus brachialis entschieden, sollten bis zum 18. posttraumatischen Monat vierteljährlich, danach halbjährlich Kontrolluntersuchungen stattfinden. Diese beinhalten klinische Untersuchung sowie Foto- und eventuell Videodokumentation (6-monatiger Abstand). Ab dem 30. posttraumatischen Monat können, falls funktionelle und/oder ästhetische Beeinträchtigungen aufgetreten sind, fakultativ vor geplantem Muskel-Sehnen-Transfer Zusatzuntersuchungen wie EMG/NLG, Röntgen und Muskeltestung nach der MRC-Klassifikation durchgeführt werden.
Untersuchungskriterien Die Diagnostik der posttraumatischen Plexus-brachialis-Läsionen umfasst die Erhebung einer detallierten Allgemeinanamnese und klinische Untersuchungen, welche durch apparative Untersuchungen wie Röntgen, Elektromyelografie/Nervenleitgeschwindigkeit, Myelografie/Myelo-Computertomografie und Kernspintomografie ergänzt werden. Foto- und Videodokumentation sind sehr hilfreich zur Verlaufskontrolle und zur Dokumentation des Behandlungserfolges. Es wird empfohlen den Patienten einige Tage bis wenige Wochen nach dem Trauma beim Spezialisten vorzustellen und danach Kontrolluntersuchungen im Abstand von 3 Monaten durchzuführen bis zur Entscheidung einer funktionsverbessernden sekundären Operation. Ab dem 18. Monat nach Trauma genügen dann Vorstellungen im Abstand von 6 Monaten. Spätestens zum 6. posttraumatischen Monat sollte die Entscheidung für oder gegen eine operative Primärtherapie getroffen werden. Die postoperativen Befunde sollten nach 6 Wochen, 6, 9 und 12 Monaten und dann im halbjährlichen Abstand erhoben werden (⊡ Abb. 53.7). Die vorgeschlagenen präoperativen und postoperativen Untersuchungspläne beinhalten folgende Untersuchungen: detaillierte Anamneseerhebung (einmalig), klinische Untersuchung, Foto- und Videodokumentation, Röntgen, Elektromyelografie/Nervenleitgeschwindigkeit, Myelografie/Myelo-CT, Kernspintomografie und Muskel-Grading nach dem Medical Research Council. Intraoperativ sollten direkte Nervenstimulationen, Testungen motorisch evozierter und sensibel evozierter Potenziale (fakultativ), histologische Befundung und eine Fotodokumentation stattfinden (⊡ Abb. 53.8).
Kenndatenerhebung Die Erhebung der Kenndaten umfasst neben den persönlichen Daten des Patienten, wie Name, Geburtsdatum, Adresse und Telefonnummer, auch die Erfassung von Anschriften und Telefonnum-
mern des Therapieteams (⊡ Abb. 53.9), dazu gehören der Hausarzt, Physiotherapeut (Krankengymnastik, Ergotherapie etc.), Operateur (Plastische Chirurgie, Neurochirurgie, Orthopädie, Unfallchirurgie) – oft in Verbindung mit dem Neuropathologen, Neurologen, der anästhesiologischen Schmerzambulanz (bei Deafferenzierungsschmerzen und Kausalgien), Sozialdienst/Arbeitsamt/ Krankenkasse/Berufsgenossenschaft (berufliche Rehabilitation und Wiedereingliederung), Orthopädietechniker (Hülsen- und Schienenapparate), Psychotherapeut, Patienten-Selbsthilfegruppe und andere den Patienten behandelnden oder betreuenden Personen. Besondere Bedeutung kommt dem Hausarzt zu, da er als bekannter und vertrauter Arzt des Patienten dessen erster und wichtigster Ansprechpartner ist. Der Hausarzt stellt eine Art »Drehscheibe« für den stetigen Informationsaustausch innerhalb des Teams dar und sorgt für die nötige Teambildung mit überregionärer Organisation. Wegen der komplexen Therapie ist eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit (über den Hausarzt) anzustreben, um ein optimales Therapieergebnis für den Patienten zu erreichen.
Anamnese Bei der Erstvorstellung des Patienten sollte erst- und einmalig eine detaillierte Anamnese erhoben werden. Allgemeinanamnese 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Geschlecht Händigkeit Beruf Zusatzverletzungen Lokalisation der Plexusschädigung Erstdiagnose Überweisung an unsere Klinik Ätiologie Pathomechanismus Berufstätigkeit Arbeitsunfähigkeit Arbeitsunfall Nikotin Chronische Erkrankungen
Von großer Bedeutung ist hier der Punkt 4 »Zusatzverletzungen«, da neben der Erkennung der posttraumatischen Läsion des Plexus brachialis andere Verletzungen, die das Krankheitsbild der Plexusläsion imitieren können, ausgeschlossen werden müssen. Dies können z. B. eine Tetraplegie, eine Pseudoparese bei Klavikulafraktur oder eine Parese des Nervus radialis sein (⊡ Abb. 53.10). Nach weiteren Verletzungen im Bereich von HWS, Klavikula, Rippen, Glenohumeralgelenk, AC-Gelenk, Lunge, Weichteilen und Unterschenkel sowie Frakturen im Oberarm-, Unterarm-, Handgelenk-, Metacarpal- und Fingerbereich muss systematisch untersucht werden. Wichtig sind hier auch Verletzungen von Arterien und Venen, Muskelschädigungen im Schulter- und Armbereich, Kompartmentspaltungen und die bisherige Nachbehandlung z. B. in Form von Krankengymnastik zu dokumentieren (⊡ Abb. 53.10).
Klinische Untersuchung Bei der klinischen Untersuchung des Patienten, die sich aus den in folgender Übersicht aufgeführten Punkten zusammensetzt, kann die kontralaterale gesunde Extremität als intraindividuelle Vergleichsmöglichkeit bei Patienten mit einer unilateralen Plexusparese genutzt werden.
53
1453 53.1 · Allgemeines
UNTERSUCHUNGSPLAN (MASTER SHEAT) C
D E F U NT E R SU C HU NG SB E FU NDE 3 6 >6 (posttraumatische Denervierungszeit in Monaten)
Z E I T PU N K T E UNT E R SUC HUNG A NA M NE SE K L I NI SC HE UNT E R SUC HUNG F OT OD OK U M E N T A T I ON V I D E OD OK U M E N T A T I ON R ÖN T G E N E M G / NL G M Y E L O G R A PH I E / M Y E L O -C T MR T
* * * (* ) *
* * (* )
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* * (* )
( #) ( #) ( #)
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PROCEDERE ? Primäre Nervenrekonstruktion
keine primäre Nervenrekonstruktion
Primäre Nervenrekonstruktion ZEITPUNKT
G INTRAOPERATIVE B E FU NDE
H
I
J K L M N POSTOPERATIVE BEFUNDE
O
P
Q
R
S
1, 5.
6.
9.
36.
42.
48.
54.
60.
*
*
*
*
12.
18.
24.
30.
(Monate postoperativ) UNT E R SUC HUNG KLINISCHEUNT E R SUC HUNG FOTOD OK U M E N T A T I ON VIDEOD OK U M E N T A T I ON
*
*
*
*
*
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*
*
*
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R ÖN T G E N
( +)
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(+)
E M G / NL G
( +)
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(+)
( +)
( +)
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Q
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S
54.
60.
66.
*
* * (* )
E X PL O R A T I O N ME P SE P H I S T OL OG I E M U S K E L -G R A D I N G
* * (* ) *
Keine primäre Nervenrekonstruktion I
J
12.
15.
Z E I T PU N K T
K L M N O P U NT E R SU C HU NG SB E FU NDE 18. 24. 30. 36. 42. 48. (Monate posttraumatisch)
UNT E R SUC HUNG K L I NI SC HE UNT E R SUC HUNG F OT OD OK U M E N T A T I ON V I D E OD OK U M E N T A T I ON
* * (*)
*
R ÖN T G E N
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M U S K E L -G R A D I N G
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( +)
( +)
( +)
( +)
( +)
* ( ) (#) (+)
obligat fakultativ fakultativ vor geplanter Exploration des Plexus brachialis fakultativ vor geplantem Muskel-Sehnen-Transfer
⊡ Abb. 53.8 Untersuchungsplan (Master Sheat)
* * (* )
*
* * (* )
*
* * (*)
*
* * (*)
1454
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
THERAPIETEAM Anästhesist (Schmerzambulanz) Physiotherapeut
Neurologe
PATIENT
Sozialdienst/Krankenkasse/ Berufsgenossenschaften
53
⊡ Abb. 53.9 Therapieteam bei posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis
Hausarzt
Operateur/ Neuropathologe
Pflegedienst
Psychotherapeut
Gefäßläsion AC- Gelenksprengung
Claviculafraktur
Scapulahalsfraktur proximale Humerusfraktur
Scapulafraktur
Humerusspiralfraktur
Rippen(serien)fraktur
Phrenicusläsion (Diaphragmahochstand)
Pneumothorax
⊡ Abb. 53.10 Zusatzverletzungen bei posttraumatischen Verletzungen des Plexus brachialis
Klinische Untersuchung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
▼
Subjektive Beschwerden Schmerzen Schmerztherapie Wetterfühligkeit Kälteempfindlichkeit Physiotherapie Funktionelle Elektrostimulation (FES) Narben/Wundverhältnisse Narbenkontrakturen Rekapillarisierungszeit
11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21.
▼
Zyanose Puls der Arteria brachialis Puls der Arteria radialis Puls der Arteria ulnaris Blutdruckdifferenz Sensibilitätstestung Unterarmbereich Sensibilitätstestung Handbereich Sekundärverletzungen Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit Schulter Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit Ellenbogen Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit Handgelenk
53
1455 53.1 · Allgemeines
22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33.
sollte die Anwendung funktioneller Elektrostimulation in ms/mA dokumentiert werden.
Aktive Gelenkbeweglichkeit Hand Passive Gelenkbeweglichkeit Hand Muskel-Grading nach dem Medical Research Council HWS-Röntgen Schulter-Röntgen Thorax-Röntgen Myelografie (Myelo-CT) MRT Angiografie Elektrophysiologie Fotodokumentation Videodokumentation
Narben, Wundverhältnisse und Narbenkontrakturen Bei vorhandenen Narben sollte die Lokalisation dokumentiert und die Wundheilung kontrolliert werden. Mögliche Störungen der Wundheilung wie Narbenkontrakturen werden ebenfalls dokumentiert.
Subjektive Beschwerden, Schmerzen, Schmerztherapie, Wetterfühligkeit und Kälteempfindlichkeit Die Einteilung der Schmerzintensität erfolgt auf einer Skala von 0–10, wobei 0/10 keine Schmerzen vorhanden und 10/10 maximal vorstellbare Schmerzen anzeigt (⊡ Abb. 53.11). Diese Einstufung der Schmerzen erfolgt subjektiv durch den Patienten, abhängig von der subjektiven Schmerzempfindung, Vormedikationen etc. Daher ist diese Angabe nur im Verlauf aussagekräftig. Auftreten der Schmerzen bei Ruhe, Belastung, Perkussion/Berührung oder Sonstigem sollte dokumentiert werden, ebenso die Schmerztherapie durch Medikamente o. Ä. Auch nach einer vorhandenen Wetterfühligkeit und/oder Kälteempfindlichkeit sollte gefragt werden. Physiotherapie und funktionelle Elektrostimulation Die Anzahl der durchgeführten physiotherapeutischen Behandlungen pro Woche sowohl unter fachlicher Anwendung eines Physiotherapeuten als auch im häuslichen Bereich sollten dokumentiert werden. Durch eine intensiv durchgeführte Physiotherapie können Komplikationen wie Kontrakturen vermieden werden. Ebenso
Rekapillarisierungszeit, Zyanose und Pulse Aa. brachialis, radialis et ulnaris Mit einfachen klinischen Untersuchungen kann der Umfang der Blutversorgung des betroffenen Armes getestet weden. Im Nagelbettbereich können sowohl Quantität als auch Qualität der akralen Durchblutung durch die Rekapillarisierungszeit bestimmt werden. Der Untersucher drückt hierzu kurz auf das Nagelbett des Fingers des Patienten, um sofort nach dem Loslassen die Rekapillarisierung der Finger zu beurteilen. Das Ergebnis wird eingestuft in normal (unter 1 Sekunde), verlängert (über 1 und unter 3 Sekunden) und pathologisch (über 3 Sekunden). Aufgrund der Ergebnisse der Palpation der Pulse der Aa. brachialis, radialis und ulnaris können sich Hinweise auf stammnah gelegene Gefäßverengungen oder -verschlüsse ergeben. Blutdruckdifferenz Eine Blutdruckdifferenz über 30 mmHg zwischen dem geschädigten Arm und dem gesunden Arm wird als pathologisch eingestuft. Sensibilitätstestung Unterarm- und Handbereich Die Reaktion der Sensibilitätstestung wird radial und ulnar beim Patienten durchgeführt und eingeteilt in keine Schmerzreaktion, vorhandene Schmerzreaktion (protektive Sensibilität), vorhandene Reaktion auf Berührung und der Testung mit der statischen 2-Punkte-Diskrimination, wobei der 2-Punkte-Abstand im Unterarmbereich unter 20 mm und im Handbereich unter 10 mm betragen sollte (⊡ Abb. 53.12).
SCHMERZ-SKALA 0
1
2
3
4
5
6
kein Schmerz
7
8
9
10
maximal vorstellbarer Schmerz
⊡ Abb. 53.11 Numerische Kategorienskala Schmerzintensität
Sensibilitätstestung nach Medical Research Council S0
keinerlei Sensibilität
S1
tiefe kutane Sensibilität (Schmerzempfindung) in der autonomen Zone
S2
gewisse oberflächliche kutane Schmerzempfindung und taktile Sensibilität in der autonomen Zone
C4
C4 C5
S3
S4
oberflächliche kutane Schmerzempfindung sowie Berührungsempfindung in der ganzen autonomen Zone. Verschwinden der beim Regernerationsvorgang vorher vorhandenen Überempfindlichkeit
dorsale Achse
T2
C6 T1
ventral
normale Sensibilität C7
⊡ Abb. 53.12 Sensibilitätstestung nach Medical Research Council
C5 T3
ventrale Achse
C8
C6 T1
dorsal C8
C7
1456
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
Sekundärverletzungen Unter Sekundärverletzungen versteht man Läsionen (z. B. Verbrennungen, Schnittverletzungen) der betroffenen oberen Extremität, hervorgerufen durch die Funktionsbeeinträchtigung im Sinne von Sensibilitätsausfällen (keine protektive Sensibilität) oder Störungen der Motorik (»ungeschickte Bewegungen«).
53
Aktive und passive Gelenkbeweglichkeit Schulter, Ellenbogen, Handgelenk und Hand Die international gebräuchliche Methode zur standardisierten Befunderhebung der Gelenkbeweglichkeit ist die »Neutral-0-Methode«. Dabei werden die Gelenkstellungen eines aufrecht stehenden Menschen mit herabhängenden Armen als 0°-Ausgangsstellung definiert. Jede Bewegung aus dieser Stellung wird in Winkelgraden gemessen und dokumentiert. Bei der aktiven Gelenkbeweglichkeitwird wird der Bewegungsumfang gemessen, wie er durch eigentätige, vom Patienten durchgeführte Bewegungen möglich ist. Während bei der passiven Gelenkbeweglichkeit der Untersucher die Bewegungen durchführt. Die Bewegungsumfänge der passiven Beweglichkeit zeigen das maximal mögliche Bewegungsausmaß für die aktive Bewegung auf und geben wichtige Informationen über gelähmte Muskelgruppen und die Qualität der durchgeführten physiotherapeutischen Begleittherapie. Als Vergleichsgrößen dienen
⊡ Abb. 53.13 Dokumentationsschema nach Narakas. (Aus Berger u. Hierner 2009)
die Normwerte der gesunden Normalbevölkerung sowie die gesunde kontralaterale Seite. Muskel-Grading Die Muskelkraft jedes einzelnen Muskels der oberen Extremität wird untersucht und mit den Graden M0 bis M5 nach dem British Medical Research Council beurteilt und dokumentiert. Diese Beurteilung ist obligat vor geplanter Operation (⊡ Tab. 53.2). Die Dokumentation der Muskelkraft erfolgt auf dem Schema nach Narakas (⊡ Abb. 53.13). ⊡ Tab. 53.2 Muskel-Grading nach dem Medical Research Council M0
Keine Muskelaktivität
M1
Sichtbare oder fühlbare Muskelkontraktion ohne Bewegungseffekt
M2
Bewegungsmöglichkeit unter Ausschaltung der Schwerkraft des abhängigen Gliedabschnittes
M3
Bewegungsmöglichkeit gegen die Schwerkraft
M4
Bewegungsmöglichkeit gegen mäßigen Widerstand
M5
Normale Kraft
1457 53.1 · Allgemeines
Röntgen HWS, Schulter und Thorax Bei der Erstuntersuchung dienen die Röntgenaufnahmen von Halswirbelsäule (a.-p., seitlich, re./li. Foramina), Schulter (a.-p., transaxillär) und Thorax (a.-p., maximale Inspiration/Exspiration) zur Erkennung von Zusatzverletzungen wie HWS-Frakturen, Glenohumeraldislokation, Humerusfraktur, Zwerchfellhochstand, Fraktur der 1. Rippe, Rippenserienfraktur, Medialstinalverbreiterung und Klavikularfraktur. Bei älteren posttraumatischen Plexus-brachialis-Läsionen dient die Röntgenuntersuchung zur Diagnostik von Skelettdeformierungen, Gelenksubluxationen und -luxationen vor geplanter sekundärer Ersatzoperation, die auch Ellenbogen, Unterarm und Handgelenk (jeweils a.-p. bzw. d. p., seitlich) beinhalten sollte.
und Ausmaß einer Nervenschädigung. Vorhandene Regenerationsvorgänge können hiermit früher als mit der klinischen Untersuchung erkannt werden. Damit dienen die EMG und die NLG als zusätzliche Informationsquelle bei frühzeitiger Stellung der Operationsindikation. Die Kriterien beim EMG sind normale oder gelichtete Willküraktivität und pathologische Muskelaktivität in Form von scharfen Wellen oder Fibrillationen. Die Beurteilung der NLG erfolgt anhand von Normalwerten der einzelnen Nerven. Bei der Messung der Nervenaktionspotenziale (NAP) werden die Nerven mittels Oberflächen- oder Nadelelektroden stimuliert und die Potenziale abgeleitet. Es werden die Amplitude, Anzahl der Komponenten, Dauer des Nervenaktionspotenzials und die maximale Nervenleitgeschwindigkeit bestimmt.
Myelografie/Myelo-CT und Magnetresonanztomografie (MRT) Hiermit sollen vor allem Raumforderungen im Schulter-HalsBereich (Meningomyelozele), Verschiebungen und/oder Formveränderungen des Myelons und Kontinuitätsunterbrechungen der hinteren sensiblen und der vorderen motorischen Nervenwurzel diagnostiziert werden (⊡ Abb. 53.14). Es ist darauf hinzuweisen, dass auch bei optimal durchgeführter Untersuchung eine Irrtumswahrscheinlichkeit von bis zu 30% besteht.
Foto- und Videodokumentation Um eine aussagekräftige Foto- und Videodokumentation zu erstellen, müssen Aufnahmen die Schulter in aktiver Abduktion, Adduktion, Anteversion, Retroversion, Außenrotation und Innenrotation zeigen, sowie das Ellenbogengelenk in aktiver Flexion, Extension, Pronation und Supination. Aufnahmen des Handgelenks und der Hand sollten die Funktionen der aktiven Handgelenkflexion und -extension, sowie aktiver Faustschluss und Fingerstreckung zeigen (⊡ Tab. 53.3).
Angiografie Indikationen zur Durchführung einer Angiografie (Arcus aortae bis Hand) sind pathologische Ergebnisse beim Testen der Rekapillarisierungszeit, vorhandene Zyanose, sowie fehlende Pulse der Arteria brachialis, radialis oder ulnaris. Des Weiteren ist eine Angiografie obligat vor geplanten freien mikrovaskulären funktionellen Muskeltransplantationen ( Abschn. 53.1.7). Elektrophysiologie Die registrierten willkürlich aktivierbaren und spontanen elektrischen Muskelaktivitäten bei der elektrophysiologischen Untersuchung mittels Elektromyelografie (EMG) und Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) geben Aufschluss über Lokalisation
a
b
⊡ Tab. 53.3 Standardisierte Foto- und Videodokumentation Schulter
Ellenbogen
Handgelenk
Hand
Abduktion
Extension
Extension
Faustschluss
Adduktion
Flexion
Flexion
Fingerstreckung
Anteversion
Pronation
Retroversion
Supination
Außenrotation Innenrotation
⊡ Abb. 53.14 Radiologische Diagnostik bei Patienten mit Wurzelausriss des unteren Plexus brachialis rechts. a Myelogramm, b MRT-Befund. (Aus Berger u. Hierner 2009)
53
1458
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
Intraoperative Diagnostik Nach Beendigung der Darstellung des Plexus brachialis erfolgt die intraoperative Diagnostik. Erste Hinweise geben die klinische Inspektion und Palpation. Neben der direkten Nervenstimulation haben sich sensomotorisch evozierte Potenziale (SEP), motorisch evozierte Potenzial (MEP) und die NAP bewährt. Darüber hinaus können auch histologische Untersuchungen in Schnellschnitttechnik zur Beurteilung der Myelinisierung und zur Unterscheidung von motorischen und sensiblen Fasern (schnelle ACH-EsteraseReaktion) durchgeführt werden.
53
> Am Ende der intraoperativen Diagnostik sollte der Chirurg folgendes wissen: 1. Welche Wurzeln sind ausgerissen und welche proximalen Stümpfe sind verfügbar im Falle der Abrissverletzung? 2. Besteht im Falle einer Läsion in continuitatem die realistische Chance auf spontane Regeneration oder ist trotzdem eine Resektion mit Wiederherstellung erforderlich?
die Gefahr einer inadäquaten Vorbereitung der Nervenstümpfe besteht. Bei geschlossenen Läsionen ohne akute Ischämie der oberen Extremität erfolgt die Erstuntersuchung einige Tage bis 3 Wochen nach Trauma. Das Ergebnis dieser Untersuchung ergibt noch keinen schlüssigen Hinweis auf die zu erwartende Prognose. Die nächste Untersuchung erfolgt 3 Monate nach Trauma. Zwei Situationen können unterschieden werden: ▬ Der Verletzte Patient zeigt Spontanregeneration. Je früher die Schulterfunktion (M. deltoideus) und Ellenbogenbeugefunktion (Mm. biceps brachii, brachialis) zurückkehren, desto kompletter ist die Spontanregeneration. ▬ Für die Patienten, die keine Spontanregeneration zu diesem Zeitpunkt zeigen bestehen mehrere Möglichkeiten: – Im Falle einer kompletten Läsion (C5–T1) mit zusätzlichem Horner-Zeichen besteht eine sehr schlechte Prognose und eine operative Revision sollte so früh wie möglich (meist kurz nach dem 3. posttraumatischen Monat) durchgeführt werden. – Bei inkompletter Läsion besteht noch Aussicht auf eine ausreichende Spontanregeneration bei weiterer Beobachtung.
53.1.5 Klassifikation Posttraumatische Plexusläsionen können klassifiziert werden nach der Lokalisation (unilateral/bilateral), Ausprägung (obere Armplexusläsion, erweiterte obere Armplexusläsion, annähernd komplette Lähmung, komplette Lähmung) und Schwere der Nervenschädigung (Nervenschädigung Grad I–V nach Sunderland bzw: I–VI nach Dellon). Die Schwere der Nervenläsion kann erst aufgrund mehrmaliger klinischer (und elektrophysiologischer) Untersuchungen angegeben werden. Einen entscheidenden Einfluss auf die Prognose der möglichen Wiederherstellung haben mitbestende Knochen- und/oder Weichteilschädigungen (offene Verletzung vs. geschlossene Verletzung, mitbestehende knöcherne Verletzungen, mitbestehende Gefäßverletzungen): Bei allen Verletzungen ist zu unterschieden, ob es sich um eine isolierte Schädigung des Plexus brachialis oder eine Schädigung im Rahmen einer Mehrfachverletzung (Polytrauma) handelt (⊡ Tab. 53.4). 53.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Die Festsetzung der Primärtherapie (konservativ vs. operativ) erfolgt aufgrund der Ergebnisse bei wiederholter klinischer und apparativer Untersuchung. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse können 3–6 Monate nach Trauma mit hoher Wahrscheinlichkeit die Patienten herausgefiltert werden, welche mit einer gravierenden Defektheilung nach konservativer Therapie rechnen müssen. Das in ⊡ Abb. 53.15 dargestellte differenzialtherapeutische Vorgehen hat sich in unseren Händen bewährt. Liegt am Unfalltag eine offene Läsion des Plexus brachialis oder eine akute Ischämie der oberen Extremität durch eine zusätzliche Gefäßverletzung vor, erfolgt die chirurgische Exploration am Unfalltag. Die Gefäßläsion sowie die mitbestehenden Knochen-Weichteil-Schäden werden primär versorgt. Die Läsion des Plexus brachialis wird sorgfältig dokumentiert, ebenso die Lage von dehiszenten Plexusanteilen. Die definitive Versorgung findet früh sekundär innerhalb der nächsten 3–6 Monate statt. Eine primäre Versorgung der Plexusläsion am Unfalltag erscheint aus mehreren Gründen nicht indiziert. Meist handelt es sich um polytraumatisierte Patienten, deren Allgemeinzustand keine längeren Operationen zulässt. Darüber hinaus kann das exakte Ausmaß der Nervenschädigung am Unfalltag nicht bestimmt werden, sodass
⊡ Tab. 53.4 Eigene Klassifikation der posttraumtischen Läsionen des Plexus brachialis Lokalisation – unilateral – bilateral Ausdehnung der Schädigung
(und fehlende Funktion)
Obere Armplexuslähmung (C5/C6 = Erb-Lähmung)
Schulterabduktion/Außenrotation Ellenbogenbeugung
Erweiterte obere Armplexuslähmung (C5/C6/C7)
+ Ellenbogenstreckung + Handgelenk- und Fingerstrecker
Annähernd komplette Lähmung (C5/C6/C7/C8)
+ Handgelenkbeugung + Fingerbeugung D I, D II
Komplette Lähmung (C5–T1)
+ Fingerbeugung D III–D V + Intrinsic-Funktion
Inkomplette Lähmung nach Regeneration (nicht klassifizierbare Mischformen) Schwere der Nervenschädigung Sunderland
Seddon
I
Neuropraxie
II III
Axonotmesis
IV V
Neurotmesis
Ausmaß der Gesamtverletzung – Monotrauma – Polytrauma Mitbestehende Knochen-Weichteil-Schädigung – Mitbestehende Gefäßverletzung – Mitbestehende knöcherne Verletzung – Offene vs. geschlossene Verletzung
1459 53.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 53.15 Eigener Algorithmus posttraumatische Läsion des Plexus brachialis beim Erwachsenen. (Aus Berger u. Hierner 2009)
53
1460
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
Die nächsten Untersuchungen erfolgen in monatlichem Abstand bis 6 Monate nach Trauma. Wiederrum können zwei Situationen unterschieden werden: ▬ Der verletzte Patient zeigt eine gut progrediente Spontanregeneration. In diesen Fällen ist eine konservative Therapie indiziert. ▬ Trotz des Abwartens zeigt sich keine oder nur inadäquate, d. h. zu geringe oder stagnierende Spontanregeneration. In diesen Fällen ist eine operative Revision des Plexus brachialis umgehend durchzuführen.
53
Die verbleibenden Patienten, bei denen noch eine ausreichende Spontanregeneration erwartet werden kann, werden wie die operierten Patienten bis zum Abschluss der Regeneration nach 2–3 Jahren in 3- bis 6-Monats-Abständen untersucht. Zwei Patientengruppen können unterschieden werden: ▬ Funktionsverbessernde sekundäre Eingriffe sind nicht notwendig oder erwünscht. Eine Sonderform der konservativen Therapie stellt die intramuskuläre Gabe von Botulinustoxin dar. Mithilfe dieser Technik können Kokontraktionen bei Reinnervation vor allem im Bizeps-Trizeps-Bereich deutlich verringert werden. ▬ Bei den meisten Patienten kann durch sekundäre MuskelSehnen-Umsetzungen und/oder adjuvanten Eingriffen eine deutliche funktionelle und ästhetische Ergebnisverbesserung erreicht werden.
DIAGNOSTIK- UND THERAPIETEAM Chirurgie/(Neuro-)Pathologie Physiotherapie
HAUSARZT/ PATIENT
Neurologie Schmerzambulanz (Anästhesie)
Orthopädie-Techniker
Psychotherapeut
Sozialdienste/Arbeitsamt/ Berufsgenossenschaft
Selbsthilfegruppen
(-0-6 -Monate) 1) NERVENREKONSTRUKTION(-12 Monate-) - Neurolyse - direkte spannungsfreie Koaptation (----)- Nerventransplantation (------------24-36 Monate-) 2) MUSKEL/SEHNENTRANSPOSITION ----------- monopolar/bipolar - monoartikulär/polyartikulär FREIER FUNKTIONELLER MIKROCHIRURGISCHER MUSKELTRANSFER - einzeitig - mehrzeitig (---------------------------------) 3) ADJUVANTE EINGRIFFE --------------- Schmerztherapie - Botulinustoxin - Tenodese - Kapsulodese - Arthrodese - Orthetische Hilfsmittel * Schienen * Hülsenapparate 0 3 6
53.1.7 Therapie Für Diagnostik und Therapie von Läsionen im Bereich der Hirnnerven und der peripheren Nerven (Plexus brachialis und dessen terminale Endäste) verwenden wir ein sog. »integratives Therapiekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden Nervenrekonstruktion sekundäre Muskelersatzoperationen und (tertiäre) adjuvante Eingriffe umfasst. Die Therapiedauer beträgt unabhängig von der gewählten Primärtherapie (konservativ vs. operativ) etwa 3–5 Jahre. Während dieser Zeit ist eine physiotherapeutische Basistherapie – in unterschiedlicher Form und Intensität – fortzuführen. Unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche primäre oder sekundäre Wiederherstellung der Funktion sind stabile knöcherne Verhältnisse, ein »ersatzstarkes« Transplantatlager und freie passive Gelenkbeweglichkeit. Nur durch eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit kann ein optimales Therapieergebnis erreicht werden. Mitglieder des Therapieteams sind neben dem Chirurgen (Plastische Chirurgie, Neurochirurgie, Orthopädie, Unfallchirurgie) – oft in Verbindung mit dem Neuropathologen – der Hausarzt (»Drehscheibe«), Physiotherapeut (Krankengymnastik, Ergotherapie etc.), Neurologe und in besonderen Fällen anästhesiologische Schmerzambulanz (bei Deafferenzierungsschmerzen oder Kausalgien), Sozialdienste/Arbeitsamt/Berufsgenossenschaft (berufliche Rehabilitation bzw. Wiedereingliederung) Orthopädietechniker (Hülsen- und Schienenapparate), Psychotherapeuten und Patienten-Selbsthilfegruppen. Der stetige Informationsaustausch (Telefonate, Arztbriebe) innerhalb des Teams ist von außerordentlicher Wichtigkeit (⊡ Abb. 53.16). Ein optimales Behandlungsergebnis kann nur dann ereicht werden, wenn alle Mitglieder des Therapieteams lückenlos zusammenarbeiten. Besonders muss auf die Bedeutung der prä- und postoperativen Physiotherapie hingewiesen werden. Für ein gutes Ergebnis ist es immer günstig, wenn der Patient vor der Operation gelernt hat, den ausgewählten Muskel bewusst isoliert anzuspannen. Darüber hinaus sollte im-
12 18 24 36 48 60 7 8 9 10 .............. Monate Jahre NOTWENDIGE VORAUSSETZUNGEN - stabile knöcherne Verhältnisse - »ersatzstarkes« Transplantatlager - frei passive gelenkbeweglichkeit (Physiotherapie)
⊡ Abb. 53.16 Das »integrative Therapiekonzept« bei Läsionen peripherer Nerven
mer ein spezielles Auftrainieren des zu transponierenden Muskels durchgeführt werden. Der nervalen Rekonstruktion durch spontane Regeneration oder frühzeitige mikrochirurgische Rekonstruktion wird höchste Priorität gegeben. Bei Ausbleiben der Spontanregeneration oder inadäquater Spontanregeneration können durch Neurolyse, direkte spannungsfreie Naht (in seltenen Fällen) und Nerventransplantation in der Regel die besten funktionellen Ergebnisse erzielt werden. Die wiedergewonnenen motorischen Funktionen werden umso besser eingesetzt, je besser die Sensibilität im Handbereich (»taktile Gnosis«) rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus nimmt auch die Anzahl der für sekundäre motorische Ersatzoperationen zur Verfügung stehenden Muskeln signifikant zu. Liegt zum Zeitpunkt der Nervenläsion kein Nervendefekt vor, sollte, vorausgesetzt der Allgemeinzustand des Patienten erlaubt es, wenn immer möglich eine spannungsfreie primäre Nervennaht durchgeführt werden. In allen anderen Fällen erfolgt die Versorgung der Nervenläsion sekundär nach 3 bis maximal 6 Monaten mithilfe einer Nerventransplantation. Da die funktionellen Ergebnisse nach Nerventransplantation 6 Monate nach Unfall aufgrund einer Endorganschwäche in den reinnervierten Muskeln deutlich schlechter werden, muss die nervale Rekonstruktion Priorität gegenüber sekundären traumatologischen Eingriffen haben. Eine nervale Rekonstruktion mit dem Ziel der Verbesserung der Motorik sollte abhängig von der Entfernung zwischen Läsionshöhe
1461 53.1 · Allgemeines
und Muskel nicht später als 12 maximal 18 Monate (schluternahe Muskulatur) durchgeführt werden. Soll nur eine Verbesserung der (protektiven) Sensibilität erreicht werden, kann eine nervale Rekonstruktion auch nach 24–36 Monaten noch durchgeführt werden. Bei allen mikrochirurgischen Nervennähten ist eine postoperative Ruhigstellung für 10 Tage obligat, weshalb nie gleichzeitig Sehnen- und/oder Gelenkeingriffe durchgeführt werden dürfen. Übungsstabilität im Bereich der Nervennaht besteht nach 3 Wochen. Durch einfache oder multiple Sehnenumsetzplastik(en) kann eine spezifische Bewegungsform wiederhergestellt oder verstärkt (augmentiert) werden. Sehnentranspositionen können monopolar, d. h. nur eine Insertion wird verändert, und bipolar, d. h. Ansatz und Insertion werden abgelöst und neu inseriert, durchgeführt werden. Sie können ein (monoartikulär) oder mehrere (polyartikuläre) Gelenke bewegen. Sekundäre Ersatzoperationen werden im Allgemeinen 2–3 Jahre nach erfolgter Nervenrekonstruktion durchgeführt. In seltenen Fällen kann die Sehnentransposition auch gleichzeitig mit der Nervenrekonstruktion erfolgen. Vor allem im Bereich des N. radialis (Oberarmsegment) hat sich ein derartiges Vorgehen bei Patienten über 50 Jahre bewährt. Stehen bei ausreichender Innervation keine Muskel-Sehnen-Gruppen für die Transposition zur Verfügung (direkte Muskelschädigung, Muskeldegeneration bei Denervationszeit über 2–3 Jahre) kann eine freie mikrovaskuläre funktionelle Muskeltransplantation durchgeführt werden. Fehlt eine ausreichende Innervation kann mithilfe eines mehrzeitigen Vorgehens ein Nerventransplantat vorgelegt werden, um dann bei ausreichender Axonzahl im Bereich des distalen Transplantatstumpfes eine freie mikrovaskuläre Muskeltransplantation durchzuführen. Um ein möglichst optimales Ergebnis erreichen zu können, sind folgende Punkte von besonderer Bedeutung: ▬ die Beachtung der notwendigen Voraussetzungen für eine Muskel- bzw. Sehnentransplantation, ▬ die Beachtung der Besonderheiten der motorischen Ersatzoperationen bei Patienten mit Plexus brachialis Läsion, ▬ die Berücksichtigung von patientenabhängigen Faktoren, ▬ eine exakte Beschreibung der vorliegenden Schädigung des Plexus brachialis und/oder ventralen Oberarmmuskulatur, ▬ die richtige Wahl des Operationszeitpunktes, ▬ die Kenntnis aller therapeutischen Möglichkeiten. Zum Zeitpunkt der Operation müssen notwendige Voraussetzungen für sekundäre Ersatzoperationen erfüllt sein: 1. Die Weichteilverhältnisse sollen ohne Probleme Muskel- und Sehnenverlagerungen zulassen oder der Weichteilmantel muss vor oder gleichzeitig mit der Ersatzoperation wiederhergestellt werden können (z. B. myokutaner M.-latissimus-dorsi-Transfer). 2. Die passive Gelenkbeweglichkeit muss frei sein, da Weichteilkontrakturen zu einem signifikanten Bewegungs- und Kraftverlust bis zum Fehlschlag des Muskeltransfers führen. 3. Die für den Transfer ausgewählten Muskeln sollten entweder eine ähnliche Funktion haben oder in der gleichen Bewegungsphase aktiviert werden. 4. Der Muskel muss als Ganzes transponiert werden. Es ist nicht möglich, dass der gleiche Muskel als Agonist und Antagonist eingesetzt wird. 5. Neben einer ausreichenden Bewegungsamplitude muss die sekundäre Ersatzoperation auch eine ausreichende Kraft (Muskelquerschnitt) wiederherstellen. Um einen unnötigen
Kraftverlust zu vermeiden, sollte ein möglichst gerader Verlauf gewählt werden. Ist eine Richtungsänderung notwendig, müssen Umlenkvorrichtungen (»pulley«) vorhanden sein. 6. Die richtige Spannung des Muskel-Sehnen,Transfers spielt eine entscheidende Rolle für dessen Funktion. 7. Bei der Sehnenumlegung ist vor allem auf die Schonung des Paratendineums zu achten, um die Gleitfähigkeit zu erhalten. Verletzungen führen zu Adhäsionen mit Funktionseinschränkungen. 8. Schließlich muss auch der Spenderdefekt eines jeden Muskeltransfers beachtet werden. Der durch das Umsetzen des Spendermuskels zu erwartende Funktionsgewinn muss größer sein als der Funktionsverlust an der Entnahmestelle. Da bei den Patienten mit Plexus-brachialis-Läsion oft regenerierte Muskeln für eine motorische Ersatzoperation eingesetzt werden, müssen einige Besonderheiten beachtet werden: Besonderheiten der Muskel-/Sehnenumsetzung bei Patienten mit Plexus brachialis-Läsion 1. 2.
3.
Nur Muskeln mit einer Kraftentwicklung >M3 sind für eine Transposition geeignet Wegen einer beeinträchtigten Innervation können die umgesetzten Muskeln oft nur unergonomisch eingesetzt werden, was bei der Auswahl des Operationsverfahrens zu bedenken ist Aufgrund der höheren Fibroserate, der geringeren Muskelmasse und der beeinträchtigten Innervation sind regenerierte Muskel weniger wiederstandsfähig
Neben den defektbedingten Faktoren lassen sich auch patientenbedingte Faktoren benennen, welche die Auswahl des Verfahren signifikant beeinflussen können. Zu den patientenbedingten Faktoren gehören Alter, Geschlecht, allgemeiner Gesundheitszustand, Beruf und Freizeitverhalten, Intelligenz, Wünsche des Patienten, Compliance, soziales Umfeld und Motivation. Die bisher genannten Rekonstruktionsverfahren können durch adjuvante Eingriffe zu jedem Zeitpunkt der Therapie oft funktionell deutlich verbessert werden. Neben der Möglichkeit der Tenodese und Kapsulodese sollte auch die Arthrodese bedacht werden. Schließlich können auch orthetische Hilfsmittel und Hülsenapparate eingesetzt werden, um die Funktionalität der gesamten Extremität zu verbessern. Zur Optimierung der Nervenregeneration und zur Therapie von Kokontraktionen kann die intramuskuläre Injektion von Botulinustoxin erfolgreich eingesetzt werden.
Konservative Therapie Physiotherapie Die Physiotherapie ist während der gesamten Therapiedauer – in unterschiedlicher Form, Intensität und Zielsetzung – ein fester Bestandteil der Therapie. Physiotherapeutische Maßnahmen gehören zum Gesamtbehandlungsplan. Die Physiotherapie ist sowohl in der Lage, antiphlogistisch und schmerzlindernd (Initialphase) zu wirken, wie auch unentbehrlich, wenn es darum geht, die funktionelle Leistungsfähigkeit des betroffenen Extremitätenabschnittes in Bewegung, Kraft und Ausdauer zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen. Um aus der Vielzahl der möglichen physiotherapeutischen Maßnahmen die für den Patienten geeignete
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1462
53
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
herauszusuchen, bedarf es einer genauen Kenntnis des Schadensausmaßes und der durchgeführten Operation. Daher ist die kontinuierliche Kommunikation zwischen Operateur und Therapeut höchst bedeutsam. Zum besseren Verständnis wie auch zur objektiven Ergebnisauswertung hat sich eine einheitliche Befunddokumentation bewährt. Die Neutral-0-Methode hat sich zur Messung der Gelenkbeweglichkeit international durchgesetzt. Physiotherapeutische Maßnahmen können vorbereitend, präoperativ, und/oder nachsorgend, postoperativ, eingesetzt werden. So sind freie passive Gelenkbeweglichkeit, ausreichende präoperative Muskelkraft und ausreichende Gleitkapazität der Sehnen absolute Voraussetzungen für jede Muskel-Sehnen-Transposition. Postoperativ können durch den Einsatz begleitender Maßnahmen z. B. Schwellneigung und Schmerz deutlich verringert werden, wodurch eine effiziente frühzeitige Beübung möglich wird, die wiederum einer Gelenkeinsteifung vorbeugt und zu einer deutlichen Verbesserung der Gelenkknorpelversorgung führt. Die Physiotherapie bedient sich einer Vielzahl von Wirkungsfaktoren. Je nach Anwendungsform und je nach Art der Wirkungsfaktoren sind verschiedene Behandlungsmethoden zu nennen ( Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis). Als zentrale Säule der physiotherapeutischen Maßnahmen bei der Behandlung von Handdefekten ist die krankengymnastische Übungsbehandlung zu nennen, gemeinsam mit der Schienenversorgung der Extremität ( Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis). Ihre Hauptziele sind die Reduktion der postoperativen Schwellung durch Lagerung und passives Durchbewegen, die Prävention von Gelenksteifigkeiten durch Lagerung, passives Durchbewegen und isometrische Übungen zur Erhaltung der Muskelkraft, die Mobilisation von teilsteifen Gelenken durch Lockerungs-, Dehnungs- und vorwiegend isotonische Kräftigungsübungen, die Stabilisation instabiler Gelenke durch isometrische Übungen und Übungselemente gegen manuellen Widerstand sowie die Korrektur von Fehlstellungen durch Kräftigung der entsprechenden Antagonisten. Dazu dienen passive und/oder aktive Bewegungsübungen im Trockenen oder im Bewegungsbad. Eine gleichzeitige Schienenbehandlung der Hand (s. Ergotherapie) kann hierbei sehr hilfreich sein. Hauptziele der Schienenversorgung sind der Schutz rekonstruierter Strukturen, z. B. nach Muskel-Sehnen-Transposition, die Prävention von Kontrakturen und Fehlstellungen sowie die Bewegungsführung während der Rehabilitation. Die krankengymnastische Übungsbehandlung von Läsionen des Plexus brachialis wird meist in Form der Individualtherapie durchgeführt. Vor allem nach komplexen Handverletzungen hat sich eine 3- bis 4-wöchige stationäre Anschlussheilbehandlung in einem auf Handtherapie spezialisierten Therapiezentrum bewährt. Hier wird oft das Prinzip der Gruppentherapie eingesetzt, welches auf die Stimulation der Patienten untereinander setzt. Bei der Ergotherapie ( Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis) werden die aktiven Bewegungsübungen in Beschäftigungen eingebaut, die für das tägliche Leben und auch im Beruf des Patienten wichtig sind. Hauptziele der Ergotherapie sind die Schienenversorgung der Hand, die Verbesserung noch verbliebener Funktionen, die Unterstützung von regenerativen Vorgängen, wie z. B. beim Sensibilitätstraining, das Erlernen von Ersatzgriffen der Hand, vor allem zur Bewältigung des täglichen Lebens, und die Evaluation der Restfunktionalität der geschädigten Extremität im Hinblick auf die berufliche Wiedereingliederung.
Ein besonders wichtiger Aspekt ist die Schienenversorgung der Hand, die zusammen mit der krankengymnastischen Übungstherapie die Basis einer jeden physiotherapeutischen Behandlung bei Läsionen peripherer Nerven und des Plexus brachialis darstellt. Statische bzw. Lagerungsschienen dienen der Prävention von Kontrakturen und Erhaltung der funktionellen Gelenkstellung. Mit dynamischen Übungsschienen, wie z. B. Streckquengel nach Strecksehnennaht, lassen sich durch intermittierenden Druck oder Zug Strukturen entlasten oder Einsteifungen vermindern und die Bewegungsausmaße verbessern. Durch gezielte, an die jeweilige Behinderung angepasste handwerkliche Tätigkeit kann einerseits die Handfunktion gezielt beübt werden, andererseits entsteht für den Patienten die Möglichkeit, etwas Eigenhändiges zu schaffen, was ihm ein Erfolgserlebnis vermittelt und sich psychologisch positiv auswirkt. Bei Nervenschädigungen wird das sog. Sensibilitätstraining angewendet. Durch eine bewusstere Aufnahme und Verarbeitung der reduzierten peripheren taktilen Information kann eine entscheidende Verbesserung der Sensibilität im rekonstruierten Handabschnitt erzielt werden. Durch Desensibilisierung kann dagegen eine Hypersensibilität im Innervationsbereich eines geschädigten Nervs verhindert oder vermindert werden. Funktionshilfen, z. B. nach bilateraler Handamputation, können sinnvoll gerade bei den Elementarbedürfnissen, wie Körperpflege, Essen, Ankleiden oder anderen Tätigkeiten des täglichen Lebens eingesetzt werden und helfen dadurch, den erlittenen Schaden zu mindern. Die Begriffe Thermo- und Kryotherapie umfassen alle Maßnahmen, bei denen Wärme oder Kälte zur Anwendung gelangen. Die Hydrotherapie, bei der Wasser als Temperaturträger benützt wird, stellt eine Sonderform dar. Durch lokale Temperaturänderung können Schmerz, Durchblutung, Muskeltonus und Entzündungsreaktionen beeinflusst werden. Nach mikrovaskulären Eingriffen ist wegen der vasokonstriktiven Wirkung von Kälte die Kryotherapie zur postoperativen Behandlung der Schwellneigung jedoch kontraindiziert. Durch Massagen ( Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis) können entweder Lokal- oder Fernwirkungen erzielt werden. Lokale Wirkungen der Massage bestehen in Lockerung der Muskulatur, Verbesserung der Durchblutung, Aktivierung des lokalen Stoffwechsels, Entstauung von Ödemen und in der Schmerzlinderung. Wegen ihrer hyperämisierenden Wirkung ist die lokale Massage jedoch in der akut postoperativen Phase kontraindiziert. Durch die klassischen Massagetechniken können bis zu einem gewissen Grad verbackene Gleitschichten wieder voneinander gelöst und »gängig« gemacht werden. Ein Beispiel dafür ist die »deep friction« bei Strecksehnenadhäsionen. Die Möglichkeit von Fernwirkungen der Massage wird bei der Reflexzonenmassage benützt. Die Elektrotherapie ( Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis) beschreibt den Einsatz von Stromreizen unterschiedlicher Eigenschaften, wie Frequenz und Amplitude, Stromstärke, Spannung, Felddichte, Feldpolung etc. Abhängig von der Stimulationsfrequenz werden Niederfrequenz- (300.000 Hz) unterschieden. Die Applikation von Strom führt zu einer elektrischen und/oder chemischen Reizung (Nieder- und Mittelfrequenz) oder nur zu einer Wärmeapplikation (Hochfrequenz). Eine in Bezug auf Frequenz und Stromstärke adäquate Elektrostimulation eines denervierten Muskels kann bis zu dessen Reinnervierung Muskelmasse
1463 53.1 · Allgemeines
und Kontraktilität erhalten. Darüber hinaus kann durch Veränderung des Stimulationsmusters das Verhältnis von aeroben und anaeroben Muskelfasern direkt beeinflusst werden. Physiotherapeutische Maßnahmen nach posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis Krankengymnastische Übungsbehandlung
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
(Allgemeine Patientenmobilisation und Lungentherapie) Lagerung Passives Durchbewegen Lockerungsübungen Dehnungsübungen Isometrische Übungen zur Erhaltung der Muskelkraft Isotonische Kräftigungsübungen Aktive Übungselemente gegen manuellen Widerstand
Ergotherapie
▬ ▬ ▬ ▬
Schienenversorgung der Hand Funktionelle Ergotherapie Sensibilitätstraining Versorgung mit Hilfsmitteln
Thermo- und Kryotherapie
▬ (Sonderform: Hydrotherapie) ▬ Thermo-(= Wärme-)Therapie – Feuchte Wärme (Fango, Moor, Schlamm) – Trockene Wärme (Infrarot, hochfrequente Elektrotherapie, Ultraschall) ▬ Kryo-(= Kälte-)Therapie – Feuchte Kälte (Eiswasser) – Trockene Kälte (Eispackungen, Beblasen mit kalter Luft)
Massage
▬ Klassische Massage – Knetung, Reibung, Walkung
▬ Mechanische Massage – Bürstenmassage
▬ Reflexzonenmassage Elektrotherapie
▬ Niederfrequenz (300.000 Hz) Kurzwelle, Dezimeterwelle, Mikrowelle
Botolinumtoxin-Typ-A-Therapie ( Abschn. 29.1.7) Operative Therapie Primäre nervale Rekonstruktion Grundlagen der nervalen Rekonstruktion durch intra- und extraplexuelle Neurotization Nach Beeindigung der Exploration und anschließender intraoperativer Diagnostik muss die Entscheidung gefällt werden, welche proximalen Stümpfe mit welchen distalen koaptiert werden (intraplexuelle Neurotisation) und bei Ausrissverletzungen, welche distalen Stümpfe für eine Neurotisation durch welche Spendernerven im Rahmen einer extraplexuellen Neurotisation geeignet sind. Wei-
terhin muss der Chirurg entscheiden wieviele Nerventransplantate gebraucht werden und welche Spenderstellen hierzu zur Verfügung stehen. Als Grundsatz bei der Auswahl des Neurotisationsverfahrens gilt, dass eine Nervenwurzel von guter Qualität besser ist als ein extraplexueller Neuronspender. Es gilt aber zu beachten, dass bei Transplantation von einer Nervenwurzel aus, manchmal lange Regenerationswege in Kauf genommen werden müssen (vor allem supraklavikulär nach infraklavikulär). Hier kann es häufig zu dem Problem kommen, dass nicht genung autologes Material für eine Nerventransplantation zur Verfügung steht. In diesen Fällen ist die Möglichkeit einer extraplexuellen Neurotisation mithilfe des N. accessorius, N. phrenicus, N. hypoglossus, der Nn. intercostales, des motorischen Asts für M. flexor carpi ulnaris aus N. ulnaris und der kontralateralen C7-Wurzel zur prüfen. (⊡ Tab. 53.5). > Vor allem bei ausgedehnteren Schädigungen wird heutzutage immer eine Kombination aus intra- und extraplexueller Neurotisation unter Beachtung der Therapieziele gewählt.
Rekonstruktionsplan bei komplettem Ausriss (C5–T1) Die Standardrekonstruktion bei kompletter Ausrissverletzung ist in in folgender Übersicht dargestellt. Nur wenn eine ausreichende Stabilisierung der Skapula möglich ist, kann im Glenohumeralbereich alternativ eine Arthrodese durchgeführt werden. Therapieplan bei kompletter Läsion (Ausriss C5–T1) des Plexus brachialis 1.
Thorakohumerale Zange (Nn. pectorales) – T2 oder T3 – Motorische Äste des Plexus cervicalis 2. Ellenbogenbeugung (N. musculocutaneus) – N. phrenicus – T3, T4, T5 (motorischer Anteil) – (N. XII) 3. Schulterstabilisation ▬ Stabilisation des Schulterbrlattes (N. thoracisus longus) – T2 oder T3 – Motorische Äste des Plexus cervicalis ▬ Stabilisation des Gleonhumeralgelenks (N. suprascapularis) – ½ N. XI (direkte Koaptation) – sekundärer Transfer des kranialen Anteils des M. trapezius 4. Protektive Sensibilität im Handbereich (N. medianus) – Kontralateraler C7-Transfer (sekundär nach 2 Monaten) – T3, T4, T5, T6, T7, T8 (sensible Äste) – Sensible Äste des Plexus cervicalis 5. Handgelenk- und Fingerbeugung (N. medianus) – Kontralateraler C7-Transfer (sekundär nach 2 Monaten) – T3, T4, T5, T6, T7, T8 (motorische Äste)
Rekonstruktionsplan bei Ausriss C6–T1 und brauchbarer Wurzel C5 Abhängig von der Größe und der Qualität der Wurzel erfolgt eine intraplexuelle Neurotisation auf den N. musculocutaneus alleine oder auf den Fasziculus lateralis unter hauptsächlicher Abdeckung des N. musculocutaneous. Vor allem durch den sekundär (2 Monate nach primärer Exploration) durchgeführten kontralarteralen C7-Transfer ist eine Verbesserung der Ergebnisse im Unterarm und Handbereich zu erwarten.
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1464
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Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
Therapieplan bei Ausriss C6–T1 und brauchbarer Wurzel C5
Therapieplan bei Ausriss C7–T1 und brauchbarer Wurzel C5/C6
1.
1.
Thorakohumerale Zange (Nn. pectorales) – Anteriore Anteile der C5-Wurzel – Motorische Äste des Plexus cervicalis 2. Ellenbogenbeugung (N. musculocutaneus) – C5 3. Schulterstabilisierung ▬ Stabilisierung der Skapula (N. thoracicus longus) – T2 oder T3 – Motorische Äste des Plexus cervicalis ▬ Stabilisierung des Glenohumeralgelenks (N. suprascapularis) – ½ N. XI – Sekundärer Transfer des kranialen Anteils des M. trapezius 4. Protektive Sensibilität im Handbereich (N. medianus) – C5 (bei großer Wurzel) – Kontralteraler C7-Transfer (2 Monate nach Exploration) – sensible Äste des Plexus cervicalis 5. Handgelenk- und Fingerbeugung (N. medianus) – C5 (bei großer Wurzel) – Kontralateraler C7-Transfer (2 Monate nach Exploration)
Rekonstruktionsplan bei Ausriss C7–T1 und brauchbarer Wurzel C5/C6 Im Gegensatz zu den Läsionen mit nur einer brauchbaren Wurzel kann durch die selektive Verwendung der Wurzel C5 für die Schulterfunktion und C6 für die Ellenbogenfunktion eine Regeneration von besserem Ausmaß und höherer Zuverlässigkeit im Schulterbzw. Ellenbogenbeugebereich erzielt werden. In einigen Fällen gelingt es auch durch extraplexuelle Neurotisation des N. radialis die aktive Ellenbogenstreckung wiederherzustellen. Im Handbereich ist derzeit maximal mit einer Grobgrifffunktion (Handgelenkund Fingerbeugung) zu rechnen. Die Ulnarisfunktion wird nicht wiederhergestellt, weshalb der N. ulnaris als (vaskulär gestieltes) Nerventransplantat entnommen werden kann.
Thorakohumerale Zange (Nn. pectorales) – Anteriore Anteile der C6-Wurzel – Motorische Äste des Plexus cervicalis 2. Ellenbogenbeugung (N. musculocutaneus) – C6 3. Schulterstabilisierung ▬ Stabilisierung der Skapula (N. thoracicus longus) – T2 oder T3 – Motorische Äste des Plexus cervicalis ▬ Stabilisierung des Glenohumeralgelenks (N. suprascapularis) – 1/2 N. XI (N. suprascapularis) – C5 (N. axillaris) – Sekundärer Transfer des kranialen Anteils des M. trapezius 4. Protektive Sensibilität im Handbereich (N. medianus) – C6 – Kontralteraler C7-Transfer (2 Monate nach Exploration) – Sensible Äste des Plexus cervicalis 5. Handgelenk- und Fingerbeugung (N. medianus) – C6 – Kontralateraler C7-Transfer (2 Monate nach Exploration)
Rekonstruktionsplan bei Ausriss C5/C6 und erhaltener Funktion von C7–T1 Bei der C5/C6-Läsion, der eigentlichen Erb-Lähmung, kommt es zu einem Ausfall der Schulter- und Ellenbogenbeugefunktion bei erhaltener Ellenbogenstreckung sowie Unterarm- und Handfunktion. Für die Wiederherstellung der aktiven Ellenbogenbeugung hat sich in den letzten Jahren die periphere intraplexuelle Neurotisation des motorischen Astes für den M. flexor carpi ulnaris aus dem N. ulnaris direkt auf den motorischen Ast des N. musculocutaneus nach Oberlin bewährt. Für die Wiederherstellung der Schulterfunktion steht nur der N. XI zur Verfügung. Die wichtige zusätzliche Funktion des N. axillaris kann nicht wiederhergestellt
⊡ Tab. 53.5 Möglichkeiten der intra- und extraplexuellen Neurotization Nerv
Anzahl myelinisierter Axone
Spenderdefekt
Funktionelles Ergebnis
C5
16.400
--
+++
C6
27.400
--
+++
Plexus cervicalis
500
N. levator scapulae
0
1/2 N. XI
1.700
Gering
+
N. XII
5.000
Sprachbeeinträchtigung
+ (Autonomisation)
N. phrenicus
2.000
Vitalkapazität
+
Nn. intercostales
je 500
Vitalkapazität
0 (Autonomisation)
N. ulnaris (FCU-Ast)
1.100
--
++
Kontralateraler partieller C7
12.000
Parästhesie D I–D III dorsal P3
++ (Autonomisation)
Intraplexuelle Neurotisation
Extraplexuelle Neurotisation
1465 53.1 · Allgemeines
werden, weshalb zusätzliche eine sekundäre Muskel-Sehnen-Transpositionen (kranialer anteil des M. trapezius, M. levator scapulae) durchgeführtwerden muss. Rekonstruktionsplan bei Ausriss C5/C6 und brauchbarer Wurzeln C7–T1 1. 2.
3.
▬ ▬
4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Thorakohumerale Zange (Nn. pectorales) – Innerviert durch N. pectoralis medialis Ellenbogenbeugung (--- N. musculocutaneus) – Oberlin-Transfer (motorischer Ast für FCU aus N. ulnaris) – N. phrenicus Schulterstabilisierung Stabilisierung der Skapula (N. thoracicus longus) – Meist noch Restfunktion erhalten Stabilisierung des Glenohumeralgelenks (N. suprascapularis) – 1/2 N. XI – Sekundärer Transfer des kranialen Anteils des M. trapezius (Protektive) Sensibilität im Handbereich Handgelenk- und Fingerbeugung Handgelenk- und Fingerstreckung Schulteraußenrotation Ellenbogenstreckung Daumenopposition Pronation/Supination Intrinsische Fingerfunktion
Sekundäre Muskel-Sehnen-Umsetzplastiken Ellenbogen > Die Ersatzoperation zur Verbesserung der Ellenbogenbeugung hat in unserem Therapiekonzept höchste Priorität. Die Wiederherstelllung der Ellenbogenbeugefunktion bei ansonst kompletter Parese führt zu einer signifikanten Funktionsverbesserung der Extremität, da hierdurch bimanuelle Funktionen ausgeführt werden können.
In Abhängigkeit von der Bewegungsamplitude und der Kraft der erworbenen Ellenbogenbeugung können unterschiedliche Funktionsgrade unterschieden werden. Durch die Auflage der Hand auf einen Gegenstand wird im einfachsten Fall ein »Papierpressemechanismus« möglich. Kann der Ellenbogen auf 90° gebeugt werden ist eine sog. »Tablettfunktion« möglich. Mit einer Ellenbogenbeugungn von mehr als 90° und einer Handgelenk- und Fingerbeugung kann ein Grobgriff durchgeführt und Gegenstände zum Mund hin bewegt werden (»Hakenfunktion«). Für ein gutes funktionelles Ergebnis muss mit dieser »Hakenfunktion« ein Gewicht von mindestens 1 kg (am Handgelenk angebracht) zum Mund gebracht werden können. Um mehr als nur eine »Tablettfunktion« der rekonstruierten Extremität zu erreichen, sollte als Nächstes die aktive Handfunktion in der Reihenfolge Handgelenk- und Fingerbeugung, Handgelenk- und Fingerstreckung mit (wenn möglich) Individualisierung der Daumenfunktion verbessert werden. Schließlich können durch Verbesserung der Schulterbeweglichkeit (Abduktion/Adduktion, Extension/Flexion, Außenrotation/Innenrotation) die gewonnenen Bewegungen besser im Raum eingesetzt werden. Übermäßige Spannung während der Operation und ein zu schneller Belastungsaufbau nach Mobilisierung müssen vermieden werden. Postoperativ wird der Ellenbogen in einer Oberarmschiene (mit Handgelenk- und Fingereinschluss in Intrinsic-plus-Stellung) mit 100° Beugung im Ellenbogengelenk für 6 Wochen (Wundheilung von Sehnennähten) immobilisiert. Nach 6 Wochen wird mit
aktiven und passiven Übungen »aus der Schiene« heraus begonnen. Jede Woche wird die Schiene um 10° mehr in die Streckung gebracht. Am Ende von 3 Montaten sollte ein Reststreckdefizit von 30–40° nicht unterschritten werden. Die exakte präoperative Analyse des gesamten Ausfalles, insbesondere im Bereich der benachbarten Armabschnitte wie Unterarm und Schulter ist von zentraler Bedeutung. Folgende klinische Situationen können im Hinblick auf die sekundäre Wiederherstellung der Ellenbogenbeugefunktion unterschieden werden: Klassifikation der Lähmung im Ellenbogenbeugebereich bei Läsionen des Plexus brachialis
▬ Komplette Paralyse der gesamten Extremität ▬ Partielle Paralyse nach Spontanregeneration oder operativer Revision mit fehlender Regeneration im Bereich der Ellenbogenbeugemuskulatur (Kraftgrad M0) ▬ partielle Paralyse nach Spontanregeneration oder operativer Revision mit ungenügender Regeneration im Bereich der Ellenbogenbeugemuskulatur (Kraftgrad M1 oder M2)
Für alle Formen der partiellen Lähmung gilt es die bestehende Funktion optimal zu verteilen (balanzieren). In diesem Zusammenhang ist vor allem an die Bedeutung der Unterarmmuskeln für die Ellenbogenbeugung zu denken, welche am distalen Humerus ihren Ursprung haben. In seltenen Fällen könen diese Muskeln derart stark ausgeprägt sein, dass eine aktive Ellenbogenbeugung unter Ausschaltung (M2+) oder sogar gegen die Schwerkraft (M3) möglich ist. Bei partieller Paralyse nach Spontanregeneration oder operativer Revision mit ungenügender Regeneration im Bereich der Ellenbogenbeugemuskulatur (Kraftgrad M1 oder M2) können mit den verschiedenen Verfahren – im Sinne eines Augmentationstransfers – meist deutlich bessere Ergebnisse erzielt werden als bei komplett fehlender Ellenbogenbeugung. Dies ist möglicherweise auf eine bessere sensomotorische Steuerung der Gelenkfunktion durch die regenerierte Ellenbogenbeuemuskulatur zurückzuführen. In Ausnahmefällen können in diesen Fällen auch Muskeln mit einem Kraftgrad >M2 transponiert werden. Oft ist hierbei ein befriedigendes Ergebnis, vor allem bei Kindern, zu erreichen. Ersatzoperationen an Oberarm und Ellenbogen werden bei Patienten durchgeführt, bei denen die operative Behandlung von Verletzungen des Plexus brachialis nach Ablauf von 2–3 Jahren keinen oder nur einen Teilerfolg (s. Klassifikation) ergeben hat, bei denen bei vorliegenden Wurzelausrissen keine Neurotisationsoperationen (1/2 N. accessorius, Interkostalestransfer 3–6, kontralateraler C7-Transfer) durchgeführt werden kann und/oder bei denen neben der Nervenschädigung auch direkte Muskelschädigungen im Oberarmbereich vorliegt. Für die sekundäre Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung stehen mehrere Verfahren zur Vefügung (⊡ Tab. 53.6). Die verschiedenen Verfahren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Innervation, Bewegungsamplitude, Kraftentwicklung, Spenderdefekt und Einfluss auf benachbarte Gelenke. Neben der Möglichkeit der bimanuellen Tätigkeiten, kann in unterschiedlichem Maß mit den verschiedenen Verfahren eine Stabilisierung im Glenohumeralgelenk sowie die Supinationsfähigkeit im Unterarmbereich erreicht werden. Der M. latissimus dorsi wird durch den N. thoracodorsalis (C6–C8), einem Ast des Fasziculus posterior, innerviert. Es handelt sich um einen sehr kräftigen Muskel mit konstanten anatomischen Verhältnissen und einem ausreichend langen Gefäß-Nerven-Stiel. Durch den bipolar transponierten M. latissimus dorsi kann durch-
53
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Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
⊡ Tab. 53.6 Möglichkeiten der sekundären Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung Therapie
53
Innervation
ROM (Extension/Flexion)
Kraft (kg)
Spenderdefekt
Polyartikuläre Wirkung Schulter
Unterarm
Intraplexuelle Nervenrekonstruktion
-
0/30/130°
6–16
-
+
+
Bipolarer Latissimus-dorsi-Transfer
C6–C8
0/0/115°
0,5–4
+
+
-
Pectoralis-major-Transfer
C5–T1
0/20/150°
1–4,5
+
+
-
Pectoralis-minor-Transfer
C5–T1
90°
--
-
-
-
Trizepstransfer
C7–T1
-
1–2
+
-
-
Steindler-Transfer
C6–T1
0/22/115°
0- 2
-
-
+
Modifizierter Steinler-Transfer
C6–T1
0/33/113°
3–4
-
-
+
Mehrzeitiger freier funktioneller Muskeltransfer (Schulter, Ellenbogen)
N. XI T3-5 N. phrenicus Kontralateraler C7
0/20/100°
1–2,5
+
+
-
Mehrzeitiger polyartikulärer (Ellenbogen, Handgelenk, Hand) freier funktioneller Muskeltransfer
N. XI T3-5 Kontralateraler C7
0/45/95°
0–0,7
+
-
+
schnittlich eine Bewegungsamplitude von Extension/Flexion 0-0115° und eine Kraft von 0,5–4 kg erreicht werden. Trotz guter Perfusion der Hautinsel zeigte ein Muskel in unserer Serie (n=10) postoperativ einen signifikanten Kraftverlust. Die restlichen 9 Patienten erreichten eine durchschnittliche aktive Bewegungsamplitude von Extension/Flexion 0-30-130° und konnten etwa 4 kg bei 90° gebeugtem Ellenbogen halten (⊡ Tab. 53.6). Durch die Technik des bipolaren Transfers ist es möglich, neben der Ellenbogenbeugung auch eines Stabilisierung des Gleonhumeralgelenks und eines gewisse Supinationsfähigkeit des Unmterarmes gleichzeitig zu rekonstruieren. Der M. pectoralis major wird durch die Ansa pectoralis (C5–T1) innerviert, wobei der klavikuläre Anteil aus Fasern des Fascikulus lateralis (C5/C6/C7) und der sternokostale Anteil aus Fasern des Fasciculus medialis (C8/T1) versorgt wird. Wegen der breiten Innervation ist dieser Muskel oft bei partiellen Läsionen einsetzbar. Im Allemeinen ist nach der Muskeltransposition mit einer kraftvollen Wiederherstellung der Ellenbogengelenkbeweglichkeit zu rechnen, wobei gegenüber der Verwendung des M. latissimus dorsi die Präparation des Gefäß-Nerven-Stiels wegen der nicht ganz konstanten Verhältnisse schwieriger sein kann. Aufgrund der ästetisch unschönen Narbe wird dieser Transfer bei Frauen nur zurückhaltend eingesetzt. Da der M. pectoralis major auch die thorakohumerale Zangenfunktion maßgeblich bedingt, darf dieser Muskel nur genommen werden, wenn entweder der M. latissimus dorsi oder der M. teres major eine aktive Oberarmadduktion gegen die Thoraxwand ermöglicht. Patienten mit einem Pectoralis-major-Transfer erreichen eine durchschnittliche Bewegungsamplitude von Extension/Flexion 0-20-150°, wobei 1–4,5 kg gehoben werden können (⊡ Tab. 53.6). Eigene Erfahrungen liegen nicht vor. Der M. pectoralis minor wird durch die Ansa pectoralis (C5–T1) innerviert. Wegen der breiten Innervation ist dieser Muskel oft bei partiellen Läsionen einsetzbar. Der M. pecoralis minor ist ein sehr schwacher kurzer Muskel, weshalb dieser Transfers entweder in Kombination mit einem Steindler-Transfer (Proximalisierung der Flexor-Pronator-Muskelmasse) oder als Augmentationstransfer bei noch bestehender Ellenbogenbeugekraft von M2 eigesetzt werden sollte. Eine gewisse Rezentrierung des Humeruskopfes kann erreicht werden.
Der M. triceps wird durch Äste des N. radialis (C7–T1) versorgt. Da es sich um einen Antagonisten des Bizeps handelt treten Schwierigkeiten bei der postoperativen Umlernphase nur in Ausnahmefällen auf. In der eigenen Serie (n=15) kam es bei einem Muskel zu einem Funktionsverlust. Die restlichen 14 Patienten erreichten durchschnittlich eine aktive Bewegungsamplitude von Extension/Flexion 0-40-100° und konnten durchschnittlich 2 kg bei 90° gebeugtem Ellenbogen halten (⊡ Tab. 53.6). Durch die Transposition verliert der Patient die Möglichkeit der aktiven Ellenbogenstreckung. Ist eine Schulterabduktion bzw. -flexion nicht über 90° möglich, kann dieser Spenderdefekt als nicht sehr gravierend angesehen werden. Allerdings gibt es immer wieder Indikationen, die auch eine aktive Ellenbogenstreckung erfordern, vor allem bei Patienten mit speziellen Berufen oder bei Patienten, die infolge einer Behinderung auf den Gebrauch von Gehstöcken oder eines Rollstuhles angewiesen sind. Aufgrund des Wegfalls des Antagonisten nach Transposition besteht beim unreifen Skelett die erhöhte Gefahr von Wachstumsstörungen mit zunehmendem Streckdefizit. Da nur ein monopolarer Transfer durchgeführt wird, kann gleichzeitig keine Stabilisierung im Glenohumeralgelenk erzielt werden. Vor allem bei Kokontraktionen im Bereich der Mm. biceps und triceps brachii nach Regeneration oder bewusster Rekonstruktion kann durch die Verlagerung des Trizeps eine sehr gute Bewegungsfähigkeit und Kraftentwicklung erreicht werden. Die Flexor-Pronator-Muskelmasse des Unterarmes wird durch den N. medianus (C6–T1) innerviert. Nach Angaben der Literatur beträgt die durchschnittliche aktive Beweglichkeit Extension/Flexion 0-22-115° wobei 0–2 kg, am Handgelenk befestigt, gehoben werden können. Bei 6 Patienten haben wir eine eigene Modifikation der Steindler-Operation eingesetzt. Aufgrund einer tiefen Infektion haben wir einen Fall verloren. Durch eine vermehrte Proximalisierung auf 8–10 cm proximal des Ellenbogengelenkspaltes kann eine aktive Bewegungsamplitude von 0-32-113° mit einer durchschnittlichen Kraftentwicklung von 3,2 kg erreicht werden (⊡ Tab. 53.6). Wegen der Ausbildung einer Pronations-FlexionsKontraktur im Handgelenk- und Fingerbereich bei fehlender aktiver Handgelenk- und Fingerstreckung sollte dieses Verfahren nur dann eingesetzt werden, wenn eine aktive Handgelenk- und
1467 53.1 · Allgemeines
Fingerstreckung vorliegt oder durch primären Transfer der Flexorcarpi-ulnaris-Sehne wiederhergestellt werden konnte. Im Falle einer kompletten Parese kann die Ellenbogenbeugung nur durch eine mehrzeitige mikrochirurgische Rekonstruktion widererlangt werden. In der ersten Operation werden Nerventransplantate vorgelegt. Als Axonspender dienen entweder extraplexuelle Quellen, (N. accessorius, Interkostalistransfer) oder Teile (Pectoralis-major- oder Latissimus-dorsi-Anteil) der kontralateralen C7-Wurzel. 12–18 Monate nach der ersten Operation erfolgt eine Biopsie des distalen Nerventransplantatendes zur Überprüfung der Qualität der Nervenregeneration. Neben der Qualität der Axone (motrorisch/sensibel: Azethylcholinesterasereaktion) wird die Quantität der Axone 90°
53.2.14 Kombinierte freie funktionelle
Muskeltransplantation zur Rekonstruktion einer Basisfunktion bei kompletter Läsion des Plexus brachialis nach DOI Abschn. 58.2.7 53.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
» Für jemanden, der nichts hat, ist wenig viel. (Sterling Bunnell) « Da die Erwartungen der Patienten oft wesentlich höher sind, müssen präoperativ in dieser Hinsicht die Therapieziele ganz klar
definiert und besprochen werden. Die erzielbaren Ergebnisse sind abhängig vom Ausmaß (C5, C6 etc.) und Art (Wurzelabriss/Wurzelausriss) der Schädigung, dem Zeitpunkt der Operation, der prä- und postoperativen konservativen Begleittherapien sowie von der Erfahrung und Kooperation des Therapieteams (Eltern, Selbsthilfegruppen, Anästhesist/Schmerztherapeut, Neurologe, Physiotherapeut, Psychotherapeut, Operateur). Die Therapieziele bei der primären und sekundären Behandlung von posttraumatischen Läsionen des Plexus brachialis sind Vermeidung eines sozialen Abgleitens, suffiziente Schmerztherapie, funktionelle, ästhetische Verbesserungen sowie die Vermeidung einer psychologischen Beeinträchtigung (z. B. durch prothetischen Versorgung).
1485 53.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
mögliche Funktionen KOMPLETTE FUNKTION ulnare intrinsische Handfunktion
ulnare Sensibilität
Pronation/Supination
Schulteraußenrotation
aktive Ellenbogenextension KOMFORT BASIS
dynamische Daumenopposition statische Daumenopposition (Spitzgriff) HG-/Fingerextension (Schlüsselgriff) HG-/Fingerflexion (Hakengriff) radiale protektive Sensibilität nützliche Schulterabduktion/-flexion >45° nutzlose Schulterabduktion/-flexion Bei der Therapie der Plexusläsion darf der Patient als Ganzes nicht vergessen werden. Ein familiäres, berufliches und soziales Abgleiten muss aktiv verhindert werden.
▬ Soziale Therapieziele – Vermeidung von beruflichem und sozialem Abgleiten
▬ Adäquate Schmerztherapie – Vermeidung bzw. Verringerung der Deafferenzierungsschmerzen ▬ Funktionelle Therapieziele – Vermeidung von sekundären Kontrakturen – Wiederherstellung der Funktion der oberen Extremität
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Schulteradduktion (thorakohumerale Zange) Ellenbogenbeugung (Protektive) Sensibilität im Handbereich Schulterabduktion/-flexion Handgelenk- und Fingerbeugung Handgelenk- und Fingerstreckung Schulteraußenrotation Ellenbogenstreckung Daumenopposition Pronation/Supination Intrinsische Fingerfunktion
▬ Psychologische Therapieziele – Verminderung einer prothetischen Versorgung
Die soziale und berufliche Wiedereingliederung muss so früh wie möglich und nicht erst nach Abschluss der Therapie erfolgen. Da die meisten Patienten mit ausgedehnten Plexusläsionen als »funktionell einhändig« anzusehen sind, müssen Umschulungsmaßnahmen so früh wie möglich begonnen werden. Mit Ausnahme der frühzeitigen mikrochirurgischen nervalen Wiederherstellung können alle Operationen und therapeutischen Maßnahmen an die berufliche und soziale Wiedereingliederung angepasst werden. Je ausgedehnter die posttraumatische Plexusläsion ist, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von Deafferenzierungsschmerzen. Deafferenzierungsschmerzen können so ausgeprägt sein, dass der Patient trotz guter Funktionswiederkehr den betroffenen Arm nicht einsetzt, d. h. »funktionell ausschaltet«. Eine Verminderung der Deafferenzierungsschmerzen kann erreicht werden durch eine frühzeitig einsetztende adäquate Schmerztherapie (Schmerzambulanz) im Sinne einer Prävention, eine mikrochirurgische Revision des Plexus (etwa bei 50% der Patienten kommt es postoperativ zu einer deutlichen Schmerzreduktion) und einen hohen Aktivitätsgrad des Patienten (Patient »vergisst« seine Schmerzen). Zu den funktionellen Therapiezielen zählen Verringerung der Deafferenzierungsschmerzen, die Vermeidung von sekundären
53
1486
53
Kapitel 53 · Posttraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Erwachsenen
Kontrakturen und die Wiederherstellung der Funktion der oberen Extremität. Bezüglich der Bewertung der Funktionalität der geschädigten Extremität hat sich die Klassifikation nach Hierner in »Basisfunktion«, »erweiterte Basisfunktion« und »komplette Funktionalität« klinisch bewährt (⊡ Abb. 53.31). Neben operationstechnischen Fehlern sind eine ungünstige Wahl des Zeitpunktes der Nervenrekonstruktion sowie eine mangelhafte postoperative Ruhigstellung die Hauptursachen für eine unbefriedingendes Ergebnis nach Nervenwiederherstellung. Die primäre Nervenrekonstruktion in traumatisch stark verschmutztem und geschädigtem Gebiet ist durch sekundäre Infektionen und Hämatome hoch gefährdet und wird daher nicht empfohlen. Dies gilt umso mehr für den Einsatz von Nerventransplantaten ( Kap. 8.3). Misserfolge bei sekundären motorischen Ersatzoperationen sind meist entweder auf eine falsche Indikationsstellung oder technische Fehler zurückzuführen ( Kap. 57.3). Die Handrehabilitation ist in den vergangenen Jahren zu einem immer wichtiger werdenden Faktor in einer erfolgreichen Behandlung avanciert, die jedoch unter den zunehmend knapperen stationären Aufenthaltszeiten und begrenzten ambulanten therapeutischen Verordnungsmöglichkeiten steigendem Erfolgsdruck ausgesetzt ist ( Kap. 15.3). Die Realisierung derartiger Eingriffe setzt ein ausgezeichnet eingespieltes Team voraus. Bei der Seltenheit von operationsbedürftigen geburtstraumatischen Armplexusläsionen kann die nötige Teambildung mit ausreichender Erfahrung nur bei überregionaler Organisierung errreicht werden.
Weiterführende Literatur Akasaka Y, Hara T, Takahashi M (1990) Restoration of elbow flexion and wrist extension in brachial plexus paralyses by means of free muscle transplantation innervated by intercostal nerve. Ann Hand Surg 9: 341–350 Allieu Y, Triki F, de Godebout J (1987) Les paralysies totales du plexus brachial. Valeur de la conservation du membre et de la restauration de la flexion du coude. Rev Chir Orthop 73: 665–673 Alnot JY, Narakas A (1995) Les paralysies du plexus brachial, 2nd ed. Masson, Paris Alnot JY, Abols Y (1984) Réanimation de la flexion du coude par transferts tendineux dans les paralysies traumatiques du plexus brachial de l`adulte. Rev Chir Orthop 70: 313–323 Alnot JY, Oberlin C (1991) Transferts musculaires dans les paralysies de la flexion du coude et de l`extension du coude. Techniques chirurgical. In: Tubiana R (Hrsg) Traité de chirurgie de la main, Bd. 4. Masson, Paris, S 162–175 Alnot JY, Rostoucher P, Houvet P (1995) Paralysie de la flexion du coude, S 239–242. In: Alnot JY, Narakas A (Hrsg) Les paralysies du plexus brachial, 2nd ed. Expansion Scientifique Francaise, Paris Berger A (1985) Ersatzoperationen nach Plexus brachialis-Verletzungen. In: Hase U, Reulen HJ (Hrsg) Läsionen des Plexus brachialis. de Gruyter, Berlin, S 107–120 Berger A, Flory PJ, Schaller E (1990) Muscle transfer in brachial plexus lesions. J Reconstr Microsurg 6: 113–115 Berger A, Schaller E, Mailänder P (1991) Brachial plexus injuries: An integrated treatment concept. Ann Plast Surg 26: 70–76 Berger A, Brenner P (1995) Secondary surgery following brachial plexus injuries. Microsurgery 16: 43–47 Berger A, Schaller E, Becker MHJ (1995) Pulley zur Verstärkung einer Muskelersatzoperation über zwei Gelenke bei Plexus brachialis-Läsionen: Beschreibung der Operationstechnik. Hand Chir Mikro Chir Plast Chir 26: 51–54 Berger A, Hierner R, Kleinschmidt L (2001) Palliative surgery: The elbow and forearm. In: Gilbert A (Hrsg) Brachial plexus injury. Dunitz, London
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1487 Weiterführende Literatur
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53
1489 53.3 · Weiterführende Literatur
Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen Alfred Berger, Robert Hierner
54.1
Allgemeines
54.1.1 54.1.2 54.1.3 54.1.4 54.1.5 54.1.6 54.1.7
Chirurgisch relevante Anatomie – 1490 Epidemiologie – 1490 Ätiologie – 1490 Diagnostik – 1490 Klassifikation – 1493 Indikationen und Differenzialtherapie – 1493 Therapie – 1496
– 1490
54.2
Spezielle Techniken
54.2.1 54.2.2 54.2.3
Chirurgische Exploration des Plexus brachialis beim Neugeborenen – 1502 Geschlossener Weichteil-Release des M. subscapularis nach Gilbert – 1502 Offener Weichteil-Release des M. subscapularis und anteriorer Kapselrelease mit anschließender Z-förmiger Verlängerung der Ansatzsehne des M. subscapularis nach Birch – 1504 Transposition des M. latissimus dorsi zur Verbesserung der Außenrotation nach L‘Episcopo – 1504 Z-Plastik und Umleitung der Bizepssehne mit Release der Membrana interossea zur Wiederherstellung der Pronation bei lähmungsbedingten Supinationsfehlhaltungen und -kontrakturen nach Zancolli – 1506 Außenrotationsosteotomie des Humerus zur Behandlung des lähmungsbedingten Außenrotationsdefizits der Schulter – 1506
54.2.4 54.2.5
54.2.6
54.3
– 1502
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1507 Weiterführende Literatur
– 1509
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
54
1490
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
54.1
Allgemeines
54.1.1
Chirurgisch relevante Anatomie Abschn. 53.1.1
54.1.2 Epidemiologie
⊡ Tab. 54.1 Baby-Plexus-Evaluations-Schema (Baby-PES) nach Hierner A) Kenndatenerhebung B) Allgemeinanamnese
54
Eine geburtstraumatische Läsion des Plexus brachialis tritt in 0,5–3 von 1.000 Geburten auf. »Risikofaktoren« für eine geburtstraumatische Lähmung sind ein Geburtsgewicht des Kindes >4.000 g (Cave: Diabetes mellitus der Mutter), anatomische Varianten im Bereich der Geburtswege der Frau, eine Steißlage (meist mit geringem Geburtsgewicht des Kindes) und eine Notfallsituation während der fortgeschrittenen Geburt mit Bedrohung für Kind und/ oder Mutter.
C) Untersuchungsbefunde (Geburt) D) Untersuchungsbefunde (1. Lebensmonat) E) Untersuchungsbefunde (2. Lebensmonat) F) Untersuchungsbefunde (3. Lebensmonat) G) Untersuchungsbefunde (4. Lebensmonat) H) Untersuchungsbefunde (5. Lebensmonat)
54.1.3 Ätiologie
I) Untersuchungsbefunde (6. Lebensmonat) J) Untersuchungsbefunde (9. Lebensmonat)
Geburtstraumatisch bedingte Lähmungen des Plexus brachialis können bei Spontangeburt aber hauptsächlich bei abnormer Kindslage und/oder geburtshilflichen Schwierigkeiten auftreten. Auch bei Zangenentbindungen kann es durch direkten Druck der Zangenblätter auf den Plexus zu einer Schädigung kommen. Die Entwickelung des nachfolgenden Kopfes bei Steißlage mit dem Handgriff nach Veit-Smellie kann durch Druck des 2. und 3. Fingers des Geburtshelfers auf den Plexus bzw. durch den so ausgeübten Zug zu schweren Plexuslähmungen führen, sodass das Aufgeben dieser Methode zugunsten der Zange empfohlen wird. Experimentelle Untersuchungen an totgeborenen Kindern zeigten, dass der Zug am Kopf des Kindes bei festgehaltener Schulter zunächst zu einer Zerrung der Spinalnerven C5 und C6 führt. Bei weiterhin anhaltendem Zug kommt es dann zu einer Ruptur der beanspruchten Nervenstränge und der Zug wirkt sich dann auch auf die C7-Wurzel aus. Obwohl die Faszikel in ihrer Kontinuität unterbrochen sind, bleibt das Epineurium noch erhalten. Die soeben beschriebenen Erscheinungen treten bei Zugkräften von 35–40 kg auf. Bei noch größeren Kräften kann es zu einer vollständigen Ruptur unter Einbeziehung des Epineuriums kommen. Auch der Strang C7 wird dann entweder aus dem Rückenmark ausgerissen oder infraganglionär am Ausgang des Foramen intervertebrale unterbrochen. Wenn auch C7 nachgegeben hat, werden anschließend die beiden kaudalen Wurzeln C8 und T1 beeinträchtigt. Hier genügen 20–25 kg, um diese Wurzeln zu schädigen, wobei sie meist aus dem Rückenmark ausgerissen werden. Operative Feststellungen haben allerdings gezeigt, dass sich die operativen Befunde nicht ganz mit den oben erwähnten, experimentellen Verhältnissen decken. Mehrfach wurde bei der operativen Exploration eine Ruptur des oberen Primärstranges C5/C6 gefunden, die von einem Wurzelausriss C7 und einer Läsion bzw. einem Ausriss der Wurzel C8 bei nur gezerrtem Spinalnerv T1 begleitet wurde. Geschieht der Zug am elevierten Arm, wie bei der Steißlage, dann kommt ein umgekehrter Mechanismus in Gang und die unteren Wurzeln werden zuerst beansprucht.
PROCEDERE ? Operative Therapie
Konservative Therapie
K) Intraoperative und histologische Befunde L) Postoperative Befunde (6. Woche)
L) Untersuchungsbefunde (12. Lebensmonat)
M) Postoperative Befunde (6. Monat)
M) Untersuchungsbefunde (15. Lebensmonat)
N) Postoperative Befunde (9. Monat)
N) Untersuchungsbefunde (18. Lebensmonat)
O) Postoperative Befunde (12. Monat)
O) Untersuchungsbefunde (21. Lebensmonat)
P) Postoperative Befunde (15. Monat)
P) Untersuchungsbefunde (24. Lebensmonat)
Q) Postoperative Befunde (21. Monat)
Q) Untersuchungsbefunde (30. Lebensmonat)
R) Postoperative Befunde (27. Monat)
R) Untersuchungsbefunde (36. Lebensmonat)
S) Postoperative Befunde (33. Monat)
S) Untersuchungsbefunde (42. Lebensmonat)
T) Postoperative Befunde (39. Monat)
T) Untersuchungsbefunde (48. Lebensmonat)
U) Postoperative Befunde (54. Monat)
U) Untersuchungsbefunde (54. Lebensmonat)
V) Postoperative Befunde (54. Monat)
V) Untersuchungsbefunde (60. Lebensmonat)
W) Postoperative Befunde (57. Monat)
W) Untersuchungsbefunde (66. Lebensmonat)
54.1.4 Diagnostik Für die Diagnostik- und Dokumentation der geburtstraumatischen Läsionen des Plexus brachialis verwenden wir das Baby-PlexusEvaluations-System (Baby-PES) nach Hierner (⊡ Tab. 54.1). Es ist zu empfehlen, dass alle Patienten einige Tage nach der Geburt und dann monatlich bis zum 6. Lebensmonat dem Spe-
zialisten vorgestellt werden. Nach dem 6. Lebensmonat sollte ein strenger Untersuchungsplan von 3-monatlichen Kontrolluntersuchungen bis zur Entscheidung über eventuell funktionsverbessernde weitere Operationen eingehalten werden. Ab dem Eintritt ins Schulalter bis zum Abschluss des Längenwachstums genügen Vorstellungen im halbjährlichen Intervall (⊡ Abb. 54.1).
54
1491 54.1 · Allgemeines
UNTERSUCHUNGSPLAN (MASTER SHEAT) Z E I T PU N K T G. UNT E R SUC HUNG A NA M NE SE K L I NI SC HE UNT E R SUC HUNG F OT OD OK U M E N T A T I ON V I D E OD OK U M E N T A T I ON R ÖN T G E N E M G / NL G M Y E L O G R A PH I E / M Y E L O -C T MR T
* * * (*)
1.
2.
*
*
UNTERSUCHUNGSBEFUNDE 3. 4. 5. (Lebensmonat)
6.
7.
9.
* * (*)
*
*
* * (*)
*
* * (*)
(#) (#) (#)
(#) (#) (#)
(#) (#) (#)
(#) (#) (#)
(#) (#) (#)
(#) (#) (#)
*
PROCEDERE ? operative Therapie
konservative Therapie
operative Therapie ZEITPUNKT
INTRAOPERATIVE B E FU NDE
1,5.
6.
10,5. 15. UNT E R SUC HUNG KLINISCHEUNT E R SUC HUNG FOTOD OK U M E N T A T I ON VIDEOD OK U M E N T A T I ON R ÖN T G E N E M G / NL G E X PL O R A T I O N ME P SE P H I S T OL OG I E ARTHRO-CT M U S K E L -G R A D I N G (HIGHET)
*
*
POSTOPERATIVE BEFUNDE 9. 12. 15. 21. 27. 33. (Monate postoperativ) 18. 21. 24. 30. 36. 42. (entspr. Lebensmonat) *
*
*
*
*
*
*
*
(*)
(*)
*
*
39.
45.
51.
57.
48.
54.
60.
66.
*
*
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(*)
*
(*)
(*)
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U NT E R SU C HU NG SB E FU NDE 21. 24. 30. 36. 42. 48. (Lebensmonat)
54.
60.
66.
* * (*) (+) (+) (+) (+)
*
* * (*) (+) (+) (+) (+)
* * (* ) *
konservative Therapie Z E I T PU N K T
UNT E R SUC HUNG K L I NI SC HE UNT E R SUC HUNG F OT OD OK U M E N T A T I ON V I D E OD OK U M E N T A T I ON R ÖN T G E N E M G / NL G ARTHRO-CT M U S K E L -G R A D I N G (HIGHET)
* ( ) (#) (+)
12.
15.
18.
*
* * (*)
*
obligat fakultativ fakultativ vor geplanter Exploration des Plexus brachialis fakultativ vor geplantem Muskel-Sehnen-Transfer
⊡ Abb. 54.1 Untersuchungsplan (Master Sheat)
* * (*)
*
* * (*) (+) (+) (+) (+)
*
(+) (+) (+) (+)
* * (*) (+) (+) (+) (+)
*
(+) (+) (+) (+)
(+) (+) (+) (+)
1492
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
Die Untersuchung eines Kindes, besonders die eines Neugeborenen ist zeitaufwendig und schwierig und erfordert große Erfahrung und Einfühlungsvermögen vonseiten des Untersuchers. Zur Basisuntersuchung gehören Allgemeinanamnese, klinische und apparative Untersuchungen (s. die folgenden Übersichten sowie ⊡ Tab. 54.2, ⊡ Tab. 54.3, ⊡ Tab. 54.4, ⊡ Tab. 54.5, ⊡ Tab. 54.6, ⊡ Tab. 54.7, ⊡ Tab. 54.8 und ⊡ Abb. 54.2). Die apparative Diagnostik
wird gezielt angeordnet und umfasst Röntgen, Elektromyografie/ Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, Myelografie, Kernspintomografie und Arthrocomputertomografie. Foto – und Videoaufnahmen können zur Dokumentation des Behandlungserfolges sehr hilfreich sein und sollten deshalb ebenfalls erwogen werden.
⊡ Tab. 54.2 Muskeltestung nach dem »Hospital for Sick Children Grading System« Numerischer Score
54
0
Keine Kontraktion
0
1
Kontraktion ohne Bewegungen
0,3
2
Gelenkbewegung ½ Bewegungsamplitude
0,6
4
Volle Bewegungsamplitude
0,6
Ohne/mit Schwerkraft
Allgemeinanamnese 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Geschlecht Bisherige Schwangerschaften Bisherige Geburten Schwangerschaftsdauer Komplikationen während der Schwangerschaft Geburtsart Geburtslage Geburtskomplikationen Geburtsgewicht Apgar-Index Zusatzverletzungen Lokalisation der Plexusschädigung Erstdiagnose durch wen? Überweisung erfolgte durch wen? Bisherige Therapie
Ellenbogenbeugung Ellenbogenstreckung Handgelenkstreckung
/10
Fingerstreckung
⊡ Tab. 54.5 Funktionsanalyse »Hand« nach Raimondi
Daumenstreckung
Gradeinteilung
Handfunktion
0
Komplette Lähmung oder nur geringe nutzlose Fingerbewegung, nutzlose Daumenfunktion, wenig oder keine Sensibilität
I
Eingeschränkte aktive Fingerbeugung, keine aktive Handgelenk- und Fingerextension, Schlüsselgrifffunktion des Daumens
II
Aktive Handgelenkstreckung mit passiver Fingerbeugung (Tenodeseeffekt), passive Schlüsselgrifffunktion des Daumens (Pronation)
III
Komplette Handgelenk- und Fingerbeugung, mobiler Daumen mit partieller Abduktion, Opposition, Intrinsic Balance, keine aktive Supination
IV
Komplette Handgelenk- und Fingerbeugung, aktive Handgelenkextension, fehlende oder schwache Fingerstrecker, gute Daumenopposition mit aktiver intrinsischer Muskulatur (N. ulnaris), partielle Pronation und Supination
V
Hand IV mit aktiver Fingerextension, fast komplette Pronation und Supination
5
Gelenkbewegung ½ Bewegungsamplitude
7
Volle Bewegungsamplitude
⊡ Tab. 54.3 Funktionsanalyse »Schulter« nach Gilbert Gradeinteilung
Schulterfunktion
0
Komplett paretische Schulter
I
Abduktion >45°, Flexion möglich, keine aktive Außenrotation
II
Abduktion Therapieziele bei geburtstraumatischer Läsion des Plexus brachialis ▬ Funktionelle Therapieziele – Vermeidung eines Neglekts der betroffenen Hand – Vermeidung von sekundären Kontrakturen – Wiederherstellung der Funktion der oberen Extremität 1. (Protektive) Sensibilität im Handbereich 2. Handgelenk- und Fingerbeugung 3. Handgelenk- und Fingerstreckung 4. Daumenopposition 5. Schulteradduktion (thorakohumerale Zange) 6. Ellenbogenbeugung 7. Schulterabduktion/-flexion 8. Ellenbogenstreckung 9. Schulteraußenrotation 10. Pronation/Supination 11. Intrinsische Fingerfunktion ▬ Ästhetische Therapieziele ▬ Verminderung von Wachstumsstörungen
Primärtherapie (0–6. Lebensmonat) Besonderheiten der operativen Revision des Plexus brachialis im Säuglingsalter Die operative Revision des Plexus brachialis beim Säugling unterscheidet sich von jener beim Erwachsenen in mehreren Punkten: Aufgrund der guten Gewebeelastizität kann beim Säugling der supra-und retroklavikuläre Plexusanteil über eine strichförmige,
entlang den Spannungslinien der Haut verlaufende Inzision dargestellt werden ( Abschn. 54.2.1). Wegen der Überbewertung noch vorhandener Bewegungen bei (inadäquater) intraoperativer Nervenstimulation führt die mikrochirurgische Neurolyse oft zu enttäuschenden postoperativen Ergebnissen (Lernkurve). Lässt sich bei adäquater direkter Reizung keine eindeutige Muskelkontraktion erreichen, sollte der geschädigte Plexusanteil reseziert und mit Transplantaten (⊡ Abb. 54.7c) überbrückt werden, da deutlich bessere funktionelle Ergebnisse erreicht werden können. Wenn immer möglich, ist die anatomische Rekonstruktion im Plexusbereich anzustreben. Bei annähernd kompletter (C5–C8) oder kompletter Läsion (C5–T1) hat beim Neugeborenen – im Gegensatz zum Erwachsenen – die Wiederherstellung der Handfunktion (»taktile Gnosis« und Greiffunktionen) die höchste Priorität. Je mehr Handfunktionen möglich sind, desto wahrscheinlicher wird das Kind die betroffene Extremität benützen und in sein Körperschema integrieren. Ein Neglekt kann vermieden werden. Deshalb werden der N. medianus und der N. ulnaris bevorzugt von intraplexuellen Strukturen (proximalen Wurzelstümpfen) reneurotisiert. Die Schulterabduktion und -außenrotation erfolgt durch direkte extraplexuelle Neurotisation des N. suprascapularis mit dem absteigenden Anteil des N. XI. Die Ellenbogenbeugung wird durch extraplexuelle Neurotisation ausgehend von den Nn. Intercostales III–VI oder dem N. XII wiederhergestellt. Wegen der großen funktionellen Beeinträchtigung verwenden wir den N. phrenicus nicht als Axonspender für extraplexuelle Neurotisationen. Die Rekonstruktion der Ellenbogen-
1499 54.1 · Allgemeines
streckung erfolgt durch Neurotisation des N. radialis. Postoperativ erfolgt eine Ruhigstellung mit einem Kopf-Rumpf-Gipsverband für 10 Tage. Eine funktionelle Elektrostimulation (FES) führen wir bei Säuglingen im Gegensatz zu Erwachsenen nicht durch. Rekonstruktion bei kompletter Ausrissverletzung Die komplette Ausrissverletzung beim Kind stellt eine absolute Seltenheit dar (1% in unserem Krankengut). Ist keine Wurzel für eine intraplexuelle Neurotisation vorhanden, muss eine extraplexuelle Neurotisation ( Kap. 28) durchgeführt werden. Hierbei stehen bei Kindern folgende Möglichkeiten zur Verfügung: kontralateraler partieller C7-Transfer, N. hypoglossus (XII), N. accessorius (XI), N. phrenicus und Nn. Intercostales 3–5 (T3–T5). Der partielle kontralaterale C7-Transfer kann nur dann eingesetzt werden, wenn der N. ulnaris nicht reinnerviert wird und deshalb als gestieltes vaskularisiertes Nerventransplantat eingesetzt werden kann. Die Reinnervation des N. musculocutaneus mithilfe des ipsilateralen N. hypoglossus (XII) stellt eine zuverlässige Methode dar. Eine intensive logopädische Begleittherapie sollte unbedingt durchgeführt werden, um theoretisch mögliche Beeinträchtigungen der Sprachentwicklung zu vermeiden. Wegen der Beeinträchtigung der Atemfunktion, sollte der N. phrenicus bei Neugeborenen nur dann als Axonspender verwendet werden, wenn ein Restanteil in Kontinuität verbleibt. Da der N. phrenicus oft doppelt angelegt ist oder zwei Faszikel aufweist, kann ein Anteil ohne klinisch messbare Funktionseinbuße verwendet werden. Wegen möglicher Wachstumsbeeinträchtigung der Brustwand sollte der Interkostalistransfer – vor allem bei Mädchen – ebenfalls sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Muss er durchgeführt werden, sollten maximal nur drei Intercostalnerven (T3, T4, T5) verwendet werden. Für die Standardrekonstruktion verwenden wir bei kompletter Ausrissverletzung einen partiellen kontralateralen C7-Transfer über den gestielten N. ulnaris als Transplantat zur Reinnervation des N. medianus. Für die Neurotisation des N. radialis erfolgt eine Intercostalistransfer von T3, T4 und T5 aus. Für die Reinnervation des N. musculocutaneus verwenden wir den N. phrenicus, wenn eine Restfunktion erhalten bleiben kann. Als Therapie der 2. Wahl kann der N. XII eingesetzt werden. Für die Reanimation der Schulter verwenden wird die Hälfte des N. XI (Anteile für den mittleren und distalen Trapeziusanteil), welche direkt auf den N. suprascapularis gepropft werden. Sind ausreichend große motorische Äste des Plexus cervicalis vorhanden, kann bei ausreichendem Nerventransplantationsmaterial zusätzlich der N. axillaris reinnerviert werden. Bei erfolgreicher Reinnervation des M. eltoideus ergibt sich eine deutlich bessere Schulterfunktion. Sekundäre Verbesserungen können 2–3 Jahre nach primärer Nervenrekonstruktion durch einen Trapeziustransfer erzielt werden (⊡ Tab. 54.11). Rekonstruktion bei einer verfügbaren Wurzel Der Schlüssel für eine erfolgreiche Nerventransplantation liegt u. a. in einer ausreichenden Menge an adäquaten Nerventransplantaten. Prinzipiell sollten eher zu viele als zu wenige Nerventransplantate verwendet werden. Da der N. ulnaris als Nerventransplantat nicht zur Verfügung steht, liegt häufig ein Mangel an autologem Nerventransplantatmaterial vor. Neben den beiden Nn. surales können beide Nn. saphenus, und beide Rr. Superficialis N. radiales entnommen werden. Ist eine Wurzel vorhanden, erfolgt die extraplexuelle Neurotisation des Truncus inferior. Abhängig von Größe und Qualität der Wurzel, wird der N. musculocutaneus auch von der vorhandenen Wurzel reinnerviert oder eine extraplexuelle Neurotisation durchgeführt. Die weitere nervale Rekonstruktion im Ellenbogen- und
⊡ Tab. 54.11 Therapieplan bei kompletter Ausrissverletzung Hand N. medianus
Kontralateraler partieller C7-Transfer
N. ulnaris
-
N. radialis
T3–T5
→ sekundäre Sehnentransfers in Abhängigkeit von der nervalen Regeneration Ellenbogen N. musculocutaneus
N. XII
N. radilais
T3–T5
Schulter N. suprascapularis
½ N. XI
N. axillaris
(Motorische Äste des Plexus cervicalis)
→ sekundärer Trapeziustransfer
⊡ Tab. 54.12 Therapieplan bei einer verfügbaren Wurzel Hand Truncus inferior (N. medianus, N. ulnaris)
Vorhandene Wurzel
N. radialis
T3–T5
→ sekundäre Sehnentransfers in Abhängigkeit von der nervalen Regeneration Ellenbogen N. musculocutaneus
Vorhandene Wurzel (wenn ausreichend) N. XII
N. radialis
T3–T5
Schulter N. suprascapularis
½ N. XI
N. axillaris
(Motorische Äste des Plexus cervicalis)
→ sekundärer Trapeziustransfer
Schulterbereich entspricht der Vorgehensweise bei komplettem Wurzelausriss (⊡ Tab. 54.12). Rekonstruktion bei zwei verfügbaren Wurzeln Bei zwei verfügbaren Wurzeln erfolgt die Reinnervation des Truncus inferior und des Fasciculus lateralis jeweils mit einer Wurzel. Die weitere Vorgehensweise entspricht den zuvor genannten (⊡ Tab. 54.13). Rekonstruktion bei drei verfügbaren Wurzeln Bei drei verfügbaren Wurzeln werden Truncus inferior (Hand), Faszikulus lateralis (Schulter, Ellenbogen, Hand) und Truncus intermedius bzw. Fasciculus posterior reinnerveirt. Die weitere Vorgehensweise entspricht der zuvor genannten (⊡ Tab. 54.14).
54
1500
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
⊡ Tab. 54.13 Therapieplan bei zwei verfügbaren Wurzeln Hand Truncus inferior (N. medianus, N. ulnaris)
Vorhandene Wurzel
N. radialis
T3–T5
→ sekundäre Sehnentransfers in Abhängigkeit von der nervalen Regeneration Ellenbogen
54
Fasziculus lateralis (N. musculocutaneus, N. medianus)
Vorhandene Wurzel
N. radialis
T3–T5
Schulter N. suprascapularis
½ N. XI
N. axillaris
(motorische Äste des Plexus cervicalis)
→ sekundärer Trapeziustransfer
⊡ Tab. 54.14 Therapieplan bei drei verfügbaren Wurzeln Hand Truncus inferior (N. medianus, N. ulnaris)
Vorhandene Wurzel
Truncus intermedius (N. radialis)
Vorhandene Wurzel
→ sekundäre Sehnentransfers in Abhängigkeit von der nervalen Regeneration Ellenbogen Fasziculus lateralis (N. musculocutaneus, N. medianus)
Vorhandene Wurzel
Truncus intermedius(N. radialis)
Vorhandene Wurzel
Schulter N. suprascapularis
½ N. XI
N. axillaris
(Motorische Äste des Plexus cervicalis oder vorhandene Wurzel)
→ sekundärer Trapeziustransfer
Sekundärtherapie Sekundäre Ersatzoperationen werden nach einer Regenerationszeit von 1–3 Jahren notwendig, wenn Bewegungsfunktionen nach Spontanregeneration oder operativer Therapie fehlen oder nur ungenügend vorhanden sind. Bei allen Sekundär- und Tertiäreingriffen ist darauf zu achten, nützliche Heilungstendenzen nicht zu übersehen und eine Dekompensation der durch Wachstums- und Adaptationsvorgänge »kompensierten« Fehlentwicklung der Extremität zu vermeiden (»nil nocere«). Das Risiko einer iatrogen bedingten Dekompensation ist umso größer, je länger die Funktionsbehinderung bei dem Kind bestanden hat. Eine freie passive Gelenkbeweglichkeit stellt eine absolute Voraussetzung für die Durchführung solcher Operationen dar. Durch
einfache oder multiple Sehnenumsetzplastik(en) kann eine spezifische Bewegungsform wiederhergestellt oder verstärkt (augmentiert) werden. Die bisher genannten Rekonstruktionsverfahren können durch adjuvante Eingriffe oft funktionell deutlich verbessert werden. Wegen des noch nicht abgeschlossenen Wachstums sollten Tenodesen nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Mehrmalige Korrekturen bis zur völligen Skelettreife können notwendig werden. Kapsulodesen sollten mit Ausnahme an der Hand ebenfalls nur sehr restriktiv vor Eintritt in die Pubertät eingesetzt werden. Vor Abschluss des Skelettwachstums sind Arthrodesen eine absolute Seltenheit. Der Einsatz von orthetischen Hilfsmitteln und Hülsenapparaten zur Verbesserung der Funktionalität der gesamten Extremität ist abhängig von der Akzeptanz durch das Kind. Insgesamt ist jedoch mit einer sehr geringen Compliance, vor allem nach Schuleintritt, zu rechnen.
Hand > Im Gegensatz zum Erwachsenen stellt die motorische und sensible Reanimation der Hand beim Neugeborenen das wichtigste Therapieziel dar, denn nur wenn die Sensibilität der Hand der betroffenen Extremität wiederhergestellt wird, wird die Extremität kortikal angelegt und benutzt. Vordringlichstes Ziel muss es sein, einen Neglekt der betroffenen Extremität zu vermeiden.
Bezüglich der Voraussetzungen und der Operationstechniken gelten die gleichen Regeln wie beim Erwachsenen. Folgende Punkte gilt es besonders zu beachten: Die motorischen Ersatzoperationen sollten nicht vor dem 2.–3. Lebensjahr durchgeführt werden, da vor allem bei der Radialisersatzoperation mit schlechteren funktionellen Ergebnissen gerechnet werden muss. Neben vermuteten kortikalen Prozessen bei sich noch entwickelnden Bewegungsmustern ist auch die mangelnde Compliance bei der Nachbehandlung als Grund zu nennen. Die Therapie der Pronations-Supinations-Fehlstellung stellt die letzte rekonstruktive Etappe im Unterarm-Hand-Bereich dar. Diese Fehlstellung ist bedingt durch eine Imbalance zwischen Supinatoren (vor allem M. biceps brachii) und Pronatoren (Pronator-FlexorenMuskelmasse im Unterarmbereich). Die Mechanismuskette stellt sich wie folgt dar: muskuläre Imbalance, Kontraktur im Bereich derAa. radioulnares proximalis et distalis und der dazwischenliegenden Membrana interossea und schließlich Ausbildung und federnde Fixierung der Subluxations-Luxations-Fehlstellung des Radiusköpfchens mit dem Capitulum humeri. Die beste Therapie der Verringerung der muskulären Imbalance ist die frühzeitige Regeneration des M. biceps brachii. Ist dies nicht möglich, sollte eine temporäre reversible Schwächung der Pronator-Flexoren-Muskelmasse im Unterarmbereich mithilfe von Botulinumtoxim Typ A durchgeführt werden. Für die bereits manifesten sekundären Veränderungen hat sich das therapeutische Vorgehen nach Millesi bewährt.
Ellenbogen Abschn. 28.1.7 Im Gegensatz zum Erwachsenen sollte der Trizpestransfer aus mehreren Gründen nur als Therapie der letzten Wahl eingesetzt werden. Da die Schulterbewegung meist eine Abduktion von 90° zulässt, kommt es bei fehlender aktiver Ellenbogenstreckung bei einer Abduktion bzw. Flexion im Schulterbereich zu einer unkontrollierten Ellenbogenbeugung mit der Gefahr der Verletzung im Gesichtsbereich. Durch die fehlende Streckwirkung des Trizeps resultiert durch das Überwiegen der Ellenbogenbeuger im Verlauf des Wachstums eine schließlich fixierte Luxationsstellung im Bereich des Ellenbogengelenks.
1501 54.1 · Allgemeines
Schulter > Die Schulter und hier vor allem die Außenrotationsbewegung im Glenohumeralgelenk ist das beste Qualitätsmaß für die Regeneration spontan oder nach operativer Therapie.
Je früher und je besser die Regeneration im Bereich der Rotatorenmanschettenmuskulatur und des M. deltoideus einsetzt, umso geringer wird das Außenrotationsdefizit. Aufgrund der geringeren Inzidenz an Ausrissvereltzungen im Bereich von C5 und C6 ist – im Gegensatz zum Erwachsenen – oft eine Restfunktion im Bereich des M. deltoidues vorhanden. Diese und die günstigeren Winkelverhältnisse beim Kind sind hauptsächlich dafür verantwortlich, warum die Schulterfunktion beim Kind im Vergleich zum Erwachsenen deutlich besser wiederkehrt. Die häufigsten Bewegungen, die durch sekundäre Muskel-Sehnen-Transpositionen wiederhergestellt oder augmentiert werden müssen, sind die Abduktion und die Außenrotation. Für die Abduktion hat sich – wie beim Erwachsenen – die Transposition des kranialen Anteils des M. trapezius auf dem Humeruskopf – unter Schonung der Epiphyse – bewährt. Für die Wiederherstellung der Außenrotation kommen mehrere Verfahren zum Einsatz. Da der M. subscapularis in den meisten Fällen seine Funktion (teilweise) behält, die Außenrotation jedoch meist komplett
paretisch sind, kommt es durch das Ungleichgewicht der Kräfte zu einer Innenrotation im Gelnohumeralgelenkbereich. Folgende Mechanismuskette führt schließlich zu einer manifesten Innenrotationskontraktur: Verkürzung der Sehne des M. subscapularis, sekundäre Verkürzung der Gelenkkapsel im Glenohumeralgelenkbereich, sekundäre knöcherne Veränderungen im Gelenkbereich und periartikulären Bereich. Um diese Ereigniskette zu vermeiden oder zumindest deutlich zeitlich zu verzögern, führen wir bei allen schwereren Läsionen (inadäquate Regeneration der Schulter zum Zeitpunkt 2.–3. Monat) eine Injektion von Botulinumtoxin Typ A durch. Liegt bereits eine Verkürzung der Subscapularissehen vor, ist der sog. Subscapularis-Release indiziert. Durch stumpfes Ablösen des M. subscapularis von der Unterfläche der Skapula kann bei frühzeitiger Operation im 12.–18. Lebensmonat eine deutliche Verbesserung der passiven Außenrotation um 30–50° erreicht werden. Bei Durchführung der Operation jenseits des 18. Lebensmonats ist nur noch eine Verbesserung der Außenrotationsfähigkeit von durchschnittlich 20–30° zu erwarten. Dies ist bedingt durch die stärker ausgeprägte Kontraktur und die sekundären Veränderungen im Knochen-, Gelenk- und Weichteilbereich. Bei bereits vorliegender Kontraktur vor allem der anterioinferioren Kapselanteile kann eine Verbesserung der passiven Gelenkbeweglichkeit nur noch durch einen Gelenk-Release durch Kapsulotomie bzw. Kapse-
⊡ Abb. 54.6 Therapie der Trizeps-BizepsKokontraktion durch mehrmalige Injektion von Botolinumtoxin Typ A in den M. triceps. a Schema: Pathomechanismus der muskulären Kokontraktionen (mod. nach Schliack, aus Berger u. Hierner 2009), b klinischer Aspekt vor Therapie, c klinischer Aspekt nach Beendigung der Therapie (Ellenbogenstreckung), d klinischer Aspekt nach Beendigung der Therapie (Ellenbogenbeugung, »Lutscher-Test«), e 15 Jahre nach Therapie
a
b
c
d
e
54
1502
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
⊡ Abb. 54.7 Therapie der M.-teres-major/deltoideus-Kokontraktion durch mehrmalige Injektion von Botolinumtoxin Typ A in den M. teres major. a klinischer Aspekt vor Therapie (Schulterabduktion < 90°), b klinischer Aspekt nach Beendigung der Therapie (Schulterabduktion 120°)
a
b
54 plastik erreicht werden. Bezüglich der resultierenden Instabilitäten und der Langzeitergebnisse liegen keine größeren Erfahrungen vor. Um den gewonnenen passiven Gelenkbereich erhalten zu können, müssen ausreichend starke aktive Muskel vorhanden sein. Oft reicht die Kraft der regenerierten Schulteraußendreher aus. Ist dies nicht der Fall ist die Transposition des M. latissimus dorsi die Therapie der 1. Wahl. Bei der Transposition des tendinösen Ursprungs ist auf die exakte Planung der neuen Ursprungsstelle zu achten. Oft wird zwar die Außenrotation deutlich verbessert, es kommt jedoch auch zu einer Verringerung der Abduktionsfähigkeit, vor allem dann, wenn der neue Insertionspunkt unterhalb der AbduktionsAdduktions-Achse zu liegen kommt.
a
Adjuvante Eingriffe Adjuvante Eingriffe können notwendig werden, wenn während des Wachstums Fehlstellungen eintreten bzw. wenn nach weitgehender Skelettreife Tenodesen, Kapsulodesen oder Arthrodesen indiziert sind. Bei einigen Patienten kann auch zu diesem Zeitpunkt noch eine ein- oder mehrzeitige freie mikrochirurgische funktionelle Muskeltransplantation durchgeführt werden.
Botulinustoxin Wiederholte intramuskuläre Injektionen von Botulinumtoxin A bei muskulären Kokontraktionen führen zu einer anhaltenden Stärkung des Agonisten, der letztlich den weiterhin ko-kontrahierenden Antagonisten überwinden kann. Zurzeit wird der Haupteffekt der Wirkung mechanistisch den Muskeln selber zugeschrieben. Der Agonist (injizierter Muskel) wird gedehnt und der Antagonist wird durch Anspannung gekräftigt. Ob jedoch eine gewisse Plastizität des kindlichen Gehirns allein oder in Kombination mit Effekten auf das periphere und/oder zentrale Nervensystem die Ursache der Wirkung des Botulinumtoxins A sein könnte, ist zurzeit Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Indikationen stellen muskuläre Imbalancen und Kokontraktionen im Oberarmbereich – Bizeps/Trizeps (⊡ Abb. 54.6), Schulter, M. teres major/deltoideus (⊡ Abb. 54.7) – und im Unterarmbereich Pronations-/SupinationsKokontraktionen dar. 54.2
Spezielle Techniken
b ⊡ Abb. 54.8 Hautinzision bei der Darstellung des Plexus brachialis beim Neugeborenen. a Klinischer Aspekt: Planung der Hautinzision, b klinischer Aspekt: Darstellung des gesamten supra- und retroklavikulären Plexus brachialis
gestellt werden (⊡ Abb. 54.8). Bei V. a. zusätzliche infraklavikuläre Schädigung kann eine ebenfalls ästhetisch unauffällige Narbe im Verlauf des Sulcus deltopectoralis gelegt werden. Die ästhetisch auffällige Zickzackinzision für die Exploration posttraumatischer Plexusläsionen beim Erwachsenen kann vermieden werden.
54.2.1 Chirurgische Exploration des Plexus
brachialis beim Neugeborenen
54.2.2 Geschlossener Weichteil-Release
des M. subscapularis nach Gilbert Aufgrund der guten Gewebeelastizität kann beim Säugling der supra-und retroklavikuläre Plexusanteil über eine strichförmige, entlang den Spannungslinien der Haut verlaufende Inzision, dar-
Die Operation erfolgt in Seitenlage. Die betroffene Extremität wird frei gelagert. Über eine kleine Inzision über der Skapulaspitze wird
1503 54.2 · Spezielle Techniken
a
c
b
d
⊡ Abb. 54.9 Geschlossener Weichteil-Release des M. subscapularis nach Gilbert. a Klinischer Aspekt: Lagerung des Patienten in Seitenlage mit frei beweglichem Arm, M. b Schema: anatomische Verhältnisse um das Glenohumeralgelenk c Hautinzision im Bereich des Angulus inferior scapulae, d klinischer Aspekt 3 Monate postoperativ. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a,c,d]; Lanz Wachsmuth 1959)
der M. subscapularis dargestellt. Die Faszie wird inzidiert und das Rasperatorium unterhalb des Muskels geführt. Durch fächerförmiges Abstreichen des M. subscapularis von der Unterfläche der
Skapula wird der Muskel solange abgeschoben bis die Außenrotation bei anliegendem Ellenbogen am Thorax deutlich zunimmt (⊡ Abb. 54.9).
54
1504
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
54.2.3 Offener Weichteil-Release des
M. subscapularis und anteriorer Kapselrelease mit anschließender Z-förmiger Verlängerung der Ansatzsehne des M. subscapularis nach Birch
54
Die Operation erfolgt in Rückenlage mit dem Arm auf einem Handtisch ausgelagert. Als Zugang wird ein vorderer axillärer Zugang gewählt, da dieser ausreichend Sicht und vor allem ein besseres ästhetisches Narbenergebnis – verglichen mit dem vorderen Zugang im Sulcus deltopectoarlis – erzielt. Nach Inzision der Fascia clavipectoralis werden die Sehnen des kurzen Bizepskopfes und des M. coracobrachialis nach medial und der M. deltoideus nach lateral weggehalten. Durch Außenrotation wird der M. subscapularis ausreichend dargestellt. Bei ungenügender Übersicht kann der Proc. coracoideus osteotomiert werden. Der N. musculocutaneus sollte konsequent aufgesucht, präpariert und angeschlungen werden. Die Sehne des M. subscapularis kann nun Z-förmig eingeschnitten werden. Sie wird nach medial meist stumpf von der vorderen Gelenkkapsel abgeschoben. Nun wird die Gelenkkapsel in ihrem superioren (Teile der Sehne des M. supraspinatus), anterioren und inferioren Anteil eingekerbt und das Glenohumeralgelenk mobilisiert. Bei verbesserter passiver Gelenkbeweglichkeit erfolgt die Naht der Sehne des M. subscapularis unter Z-förmiger Verlängerung. Eine postoperative Immobilisation erfolgt in Außenrotation und Abduktion für 6 Wochen (⊡ Abb. 54.10). 54.2.4 Transposition des M. latissimus dorsi
zur Verbesserung der Außenrotation nach L‘Episcopo Die Operation erfolgt in Seitenlage, die betroffene Extremität wird frei beweglich gelagert. Es werden zwei Zugänge angezeichnet. Der superolaterale Zugang verläuft zwischen dem Akromioklavikulargelenk und dem lateralen Akromion. Die Inzision verläuft parallel zum lateralen Akromion und beginnt bei der Spina scapulae (⊡ Abb. 54.11a). Nach Durchtrennung der Haut wird der M. deltoideus freipräpariert. Der M. deltoideus wird mit einem Periostlappen oder einer dünnen Knochenschuppe abgelöst. Dies
⊡ Abb. 54.10 Offener Weichteil-Release des M. subscapularis und anteriorer Kapsel-Release mit anschließender Z-förmiger Verlängerung der Ansatzsehne des M. subscapularis nach Birch. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
erleichtert die spätere Refixierung. Anschließend muss der M. deltoideus zwischen dem anterioren und lateralen Muskelanteil scharf gespalten werden, um Sicht auf die Rotatorenmanschette zu bekommen. Bei der Muskelspaltung muss unbedingt der N. axillaris geschont werden. Als Nächstes wird die Bursa subacromialis entfernt um ausreichend Sicht auf die Rotatorenmanschette zu bekommen (⊡ Abb. 54.11b). Nun erfolgt die Präparation des M. latissimus dorsi. Über eine axilläre Inzision, die nach distal fortgeführt wird, erfolgt die Darstellung des kranialen Anteils des M. latissimus dorsi. Nach Präparation und Anschlinger des thorakoakromialen Gefäß-NervenBündels erfolgt die Präparation des Muskels und die Darstellung der gemeinsamen Ansatzsehne am Humerus mit dem M. teres major. Der M. latissimus dorsi wird vom M. teres major separiert. Die Sehne wird knochennah abgesetzt, hierbei ist auf den N. radialis zu achten. Die Ansatzsehne wird mit zwei kräftigen Fäden angeschlungen. Anschließend wird der M. latissimus dorsi nach distal so weit präpariert, bis er ohne übermäßige Spannung seinen neuen Insertionsort erreichen kann. Als nächstes muss die Passage vom Rücken zum Humeruskopf präpariert werden. Hier erfolgt zuerst die Identifikation des Zwischenraumes zwischen dem dorsalen Anteil des M. deltoideus und dem langen Kopf des M. tirceps brachii. Hier ist auf eine Gefährung des N. axillaris zu achten. Als Nächstes erfolgt die Präparation des Zwischenraumes zwischen dem posterioren Anteil des M. deltoideus und der Rotatorenmanschette. In den ausreichend groß geschaffenen Zwischenraum wird eine Klappe durchgeschoben und der angeschlungene M. latissimus dorsi zum Humeruskopf geführt (⊡ Abb. 54.11c). Nach Einlage einer RedonDrainage im Bereich des Spendergebietes am Rücken erfolgt der schichtweise Wundverschluss. Die Sehne des M. latissimus dorsi wird in 45–60° Außenrotation und Abduktion mit nicht resorbierbaren Nähten mit der gemeinsamen Ansatzsehne der M. supraspinatus und infraspinatus im Bereich des Tuberculum majus vernäht (⊡ Abb. 54.11d). Anschließend wird der abgelöste M. deltoideus reinseriert. Nach Einlage einer Redon-Drainage erfolgt der schichtweise Wundschluss im Schulterbereich. Der Arm wird postoperativ auf einer Abduktionsschiene oder einem Abduktionsgips mit 45° Außenrotation und 45° Abduktion für 6 Wochen immobilisiert.
54
1505 54.2 · Spezielle Techniken
N. axillaris
M. deltoideus
Tendo m. latiss. dors.
Acromion Spina scapulae
M. triceps brachii
M. teres major
M. latissimus dorsi
M. latissimus dorsi
c
a
Proc. coracoideus M. supraspinatus M. deltoideus M. deltoideus
N. axillaris M. triceps brachii M. teres major M. latissimus dorsi
M. infraspinatus M. teres minor M. teres major
Thorakodorsaler Pedikel b
N. radialis
d M. triceps brachii M. latissimus dorsi
M. teres minor ⊡ Abb. 54.11 Transposition des M. latissimus dorsi zur Verbesserung der Außenrotation nach L‘Episcopo. a Planung der beiden Hautinzisionen; superolateraler Zugang und axillodorsaler Zugang, b Darstellung der Rotatorenmanschette durch Ablösung und Einkerbung des M. deltoideus und Resektion der Bursa subacromialis, c Darstellung der oberen Hälfte des M. latissimus dorsi, Separation der Sehne des M. latissimus dorsi von der Sehne des M. teres major und Anschlingen des humeralen Ansatzes des M. latissimus dorsi mit zwei nicht resorbierbaren Fäden und Durchzug des M. latissimus dorsi zwischen M. deltoideus und Rotatorenmanschette zum Tuberculum majus humeri, d Refixierung der Sehne des M. latissimus dorsi mit der gemeinsamen Ansatzsehne des M. suprasinatus und M. infraspinatus entlang der L’Epiccopo-Linie am Tuberculum majus humeri. (Aus Thomann, Dumont u. Gerber 2001)
1506
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
54.2.5 Z-Plastik und Umleitung der Bizepssehne
mit Release der Membrana interossea zur Wiederherstellung der Pronation bei lähmungsbedingten Supinationsfehlhaltungen und -kontrakturen nach Zancolli
54
Die Operation erfolgt in Rückenlage, die betroffene Extremität wird frei beweglich auf einem Handtisch gelagert. Am narkotisierten Patienten wird die passive Pronation nochmals überprüft. Bei Pronation bis mindestens zur Neutralposition, kann die alleinige Umleitung der Bizepssehne erfolgen. Ist die Einschränkung der passiven Pronation größer, muss vor Umleitung der Bizepssehne die Pronationsfähigkeit durch Kürzung einer verlängerten Tuberositas radii und/oder durch schrittweise Durchtrennung der Membrana interossea zurückgewonnen werden. Zur Freilegung des Bizepssehnenansatzes wird eine S-förmige Inzision in der Ellenbeuge angelegt; sie beginnt am Oberarm medial des M. biceps, verläuft quer in der Beuge und zieht nach distal lateral (⊡ Abb. 54.12a). Die Faszie wird in Längsrichtung nach Ligatur querverlaufender Venen gespalten. Die Bizepssehne kann jetzt ausfindig gemacht und bis zu ihrem Ansatz an der Tuberositas radii dargestellt werden. Zur besseren Mobilisierung der distalen Bizepssehne kann der Lacerus fibrosus durchtrennt werden. Die Bizepssehne wird Z-förmig von der Tuberositas radii bis zum Muskelbauch des M. biceps gespalten. Die Sehnenenden werden mit einer nicht resorbierbaren Naht armiert (⊡ Abb. 54.12b). Bei eingeschränkter passiver Pronation erfolgt jetzt das Release der Membrana interossea. Hierfür stehen zwei chirurgische Zugänge zur Wahl: der palmare Zugang zum Radius (⊡ Abb. 54.12c) oder der dorsale Zugang zur Ulna (⊡ Abb. 54.12d). Für die Durchtrennung der Chorda obliqua und des proximalen Drittels der Membrana interossea kann der anteriore Zugang zum Ellenbogen nach distal in den palmaren Zugang zum Radius erweitert werden. Die Hautinzision liegt auf einer Linie zwischen Ansatz der Bizepssehne und Processus styloideus radii bei supiniertem Unterarm. Der Schnitt folgt dem ulnaren Rand des M. brachioradialis. Die Zugangsebene zur Membrana interossea liegt zwischen dem M. brachialis und dem M flexor carpi radialis, dem Intervall, in dem auch Arteria und Vena radiales verlaufen. Der M. brachioradialis wird nach radial mobilisiert, dazu müssen die Perforatoren aus der Arteria und Vena radiales sorgfältig unterbunden werden. Auf den Ramus superficialis des Nervus radialis, der auf der Unterseite des M. brachioradialis verläuft, muss geachtet werden. Bei voller Supination geht man knapp lateral der Bizepssehne direkt auf den Knochen. Der M. supinator wird in seiner gesamten radialen Insertion nach lateral abgeschoben. Bleibt man direkt an der Bizepssehne, kann der Ramus profundus des N. radialis, der hier im M. supinator liegt, nicht verletzt werden. Durch Pronation kann nun das gesamte proximale Radiusende voll entwickelt werden. Der Ramus profundus des N. radialis liegt dabei lateral und dorsal. Um das mittlere und distale Radiusdrittel freizulegen, müssen die hier ansetzenden und nach ulnar ziehenden Mm. pronator teres und flexor digitorum superficialis nach ulnar abgeschoben werden. Zur Freilegung des distalen Drittels, müssen der M. flexor pollicis longus und der M. pronator quadratus vom Radius abgelöst werden. Die Membrana interossea wird nun radiusnah inzidiert und ein 0,5 cm breiter Streifen exzidiert (⊡ Abb. 54.12c). Aufgrund der ästhetisch weniger auffallenden Narbe im dorsalen Unterarmbereich, sollten mittleres und distales Drittel der Membrana interossea über den dorsalen Zugang zur Ulna gespal-
ten werden. Dafür wird eine longitudinale Hautinzision an der Dorsalseite des Unterarms zwischen Radius und Ulna angelegt. Der Schnitt beginnt 4–5 cm distal des Radiusköpfchens, verläuft entlang des ulnaren Rands des Radius und endet 2–3 cm proximal des distalen Radioulnargelenks. Die Extensorenansätze werden zwischen M. extensor carpi ulnaris und M. extensor digittotum quinti gespalten, um die Membrana interossea zu erreichen. Die Äste des N. interosseus posterior werden dadurch geschützt, dass sie nach radialwärts weggehalten warden. Mittlerer und distaler Anteil der Membrana interossea werden so exploriert und nahe ihres ulnaren Ansatzes reseziert. Wenn die passive Funktionsprüfung danach eine unzureichende Pronation ergibt, werden die dorsalen Ligamente des distalen Radioulnargelenks reseziert (⊡ Abb. 54.12d). Der distale Sehnenanteil wird von medial beginnend dorsal um den Radius herumgeführt und lateral ausgeleitet. Danach erfolgt eine Vereinigung des proximalen und umgeleiteten distalen Sehnenanteils durch Seit-zu-Seit-Nähte oder besser Pulvertaft-Nähte bei 90° gebeugtem Ellbogengelenk und Neutral-Pro-/Supination. Zur intraoperativen Prüfung der Naht und des Ergebnisses wird der Unterarm bei 90° Beugung zunächst in die vollständige Supination gebracht; danach wird im Ellbogengelenk bis 60° Beugung gestreckt, wodurch der sich anspannende Bizeps den Unterarm über die umgeleitete Sehne in Pronation ziehen muss. Schichtweiser Wundverschluss nach Einlage einer Wunddrainage (bei zwei Inzisionen 2 Drainagen). Die Immobilisation erfolgt in einem gespaltenen Oberarmgips oder Gilchrist-Verband in 90° Flexionsstellung und Pronation, keine Streckung unter 90° bzw. keine Supination für 6 Wochen. Zur postoperativen Lagerung im Bett wird ein Kissen unter dem Ellbogen angebracht (⊡ Abb. 54.12e). 54.2.6 Außenrotationsosteotomie des Humerus
zur Behandlung des lähmungsbedingten Außenrotationsdefizits der Schulter Der Patient wird auf dem Rücken gelagert, die betroffene obere Extremität wird frei beweglich gelagert. Zur Verbesserung des Rotationssektors muss die Osteotomie unterhalb der an der Innenrotation beteiligten Muskeln durchgeführt werden. Klassischerweise erfolgt sie deshalb in Humerusschaftmitte, also distal des Ansatzes des M. deltoideus und M. coracobrachialis (⊡ Abb. 54.13a). Der Humerus wird über einen lateralen longitudinalen Zugang dargestellt. Der Hautschnitt verläuft maximal vom Ansatz des M. deltoideus bis zum Epikondylus lateralis humeri (⊡ Abb. 54.13b). Nach Durchtrennung der Faszie zwischen M. brachialis und M. trriceps brachii wird zuerst der N. radialis identifiziert und mit einem »vessel loop« angeschlungen. Es empfiehlt sich den N. radialis über den kompletten Wundbereich freizupräparieren, damit er während der gesamten Operation sicher identifiziert und geschont werden kann. Der Humerus wird dargestellt und auf der Höhe der geplanten Osteotomie in Schaftmitte mit zwei Hohmann-Hebeln umfahren. Proximal und distal der geplanten Osteotomie werden anterolateral im 45°-Winkel zwei Kirschner-Drähte parallel eingebracht. Diese Position der Kirschner-Drähte gewährleistet, dass die Platte später lateral angebracht werden kann, ohne dass der distale Humerusanteil den Sitz der Platte behindert (⊡ Abb. 54.13c). Nun erfolgt die Humerusosteotomie. Entsprechend der präoperativ festgelegten erforderlichen Außenrotation erfolgt eine Rotation des distalen Humerusanteils um 30–60°. Das genaue Ausmaß der Rotation kann mithilfe eines Goniometers unter Zuhilfenahme
1507 54.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
a
M. brachioradialis Ramus superficialis M. supinator n. rad.
Tendo m. bicip. brach.
Radius
Bizepssehne Z-förmig gespalten
Tuberositas radii
b
c
M. pronator teres M. flexor carp. rad. Vasa radialia
M. supinator
N. interosseus antebrach. post. und Vasa interossea post.
M. extensor carp. uln.
e
M. extensor carp. rad. long. et brev.
M. extensor dig.
M. abductor poll. long. M. extensor poll. brev.
M. extensor ind.
d
der eingebrachten Kirschner-Drähte eingestellt und kontrolliert werden. Die gewünschte Stellung wird dann mit einer 6-LochOsteosyntheseplatte fixiert (⊡ Abb. 54.13c). Nach Überprüfung des intraoperativen Bewegungsausmaßes und der Übungsstabilität der Osteosynthese, erfolgt nach Einlage einer Redon-Drainage, der schichtweise Wundverschluss. Zur postoperativen Immobilisation ist ein Gilchrist-Verband ausreichend.
⊡ Abb. 54.12 Z-Plastik und Umleitung der Bizepssehne mit Release der Membrana interossea zur Wiederherstellung der Pronation bei lähmungsbedingten Supinationsfehlhaltungen und -kontrakturen nach Zancolli. a Planung der Hautinzision, b Z-förmige Spaltung der Ansatzsehne des M. biceps brachii, c Spaltung der Membrana interossea bei eingeschränkter passiver Pronation über den extendierten palmaren Zugang (ästhetisch schlechter), d Spaltung des mittleren und distalen Anteils der Membrana interossea über den ästhetisch besseren dorsalen Zugang, e Herumführen des distalen Sehnenansatzes von medial nach drosal um den Radius in Pronationsstellung und Vernähung der Sehne mit dem proximalen Anteil der Sehne des M. biceps brachii mithilfe von nicht resorbierbaren Nähten. (Aus Rühmann u. Hierner 2009)
54.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Wie mehrere klinische Studien und die eigenen Ergebnisse zeigen, kann eine deutliche Ergebnisverbesserung, nicht aber eine »Restitutio ad integrum« für die Patienten der Gruppe III durch die frühzeitige mikrochirurgische Revision des Plexus brachialis erreicht werden. Da die Erwartungen der Eltern oft wesentlich höher sind,
54
1508
Kapitel 54 · Geburtstraumatische Läsionen des Plexus brachialis beim Neugeborenen
M. trapezius M. coracobrachialis M. subscapularis M. latissimus dorsi M. pectoralis major
M. pectoralis major
M. deltoideus M. coracobrachialis
b
54
a
Parallele K-Drähte
45°
Verbrügge-Zange
45° schräg anterolateral
30°
M. brachialis 30–60°
c
60°
d
Sechs-Loch-DC-Platte
M. brachioradialis N. radialis (angeschlungen)
N. radialis (angeschlungen)
⊡ Abb. 54.13 Außenrotationsosteotomie des Humerus zur Behandlung des lähmungsbedingten Außenrotationsdefizits der Schulter nach Rühmann. a Vorüberlegungen zum Osteotomieniveau: 1. Bei einer Osteotomie proximal funktionsfähiger Schulterinnenrotatoren würden diese postoperativ vermehrt unter Vorspannung geraten und den außenrotierten distalen Humerusanteil in eine Innenrotationsposition zurückziehen. 2. Erfolgt die Osteotomie zwischen dem Ansatz des M. pectoralis major und M. deltoideus, können bei deren Funktionsfähigkeit der M. coracobrachialis und die ventralen Anteile des M. deltoideus zur Innenrotation des distalen Humerus führen. 3. Klassischerweise verläuft die Osteotomielinie unterhalb des Ansatzes der Mm. deltoideus et coracobrachialis. b Intraoperative Lagerung und Planung der Hautinzision, c Einbringen von 2 Kirschner-Drähten zur exakten Messung der Außenrotation und Humerusosteotomie, d Derotation des distalen Humerusanteils und Fixierung der neuen Position mithilfe einer 6.Loch.Osteosyntheseplatte. (Aus Rühmann, Lipka u. Bohnsack 2009)
müssen präoperativ in dieser Hinsicht die Therapieziele ganz klar definiert und besprochen werden. Die erzielbaren Ergebnisse sind abhängig von Ausmaß (C5, C6 etc.) und Art (Wurzelabriss/Wurzelausriss) der Schädigung, vom Zeitpunkt der Operation, der präund postoperativen konservativen Begleittherapie sowie Erfahrung und Kooperation des Therapieteams (Eltern, Selbsthilfegruppen, Geburtshelfer, Neurologe, Pädiater, Physiotherapeut, Operateur). Mithilfe der frühzeitigen operativen Revision kann in 80–90% der Kinder mit schwerer Schädigung des Plexus brachialis (Gruppe III) eine Regeneration ohne nennenswerte funktionelle und ästhetische Beeinträchtigung (Gruppe II) erzielt werden. Darüber hinaus kann durch die operative Plexusrekonstruktion auch die Anzahl der für sekundäre motorische Ersatzoperationen zur Verfügung stehenden Muskeln signifikant erhöht werden.
Auch für die Fälle, welche einer operativen Therapie zugeführt werden, ist eine intensive prä- und postoperative konservative Therapie zur Vermeidung von Gelenkkontrakturen und Unterstützung der Reinnervation unerlässlich. Je früher die Operation durchgeführt wird, desto bessere funktionelle Ergebnisse lassen sich vor allem im Schulterbereich (durch die Vermeidung von sekundären Gelenkkontrakturen) erzielen. Der optimale Operationszeitpunkt liegt für die meisten Fälle zwischen dem 3.–6. Monat ,da hier die Diagnostik mit hoher Sicherheit erfolgen kann und das Risiko einer 4- bis 6-stündigen Narkose für den Säugling absolut vertretbar ist. Darüber hinaus ist es oft ratsam, die Eingriffe nicht später durchzuführen, da sonst spontan schon wieder gewonnene Teilfunktionen vorübergehend durch den Eingriff verloren gehen können. Eine operative Revision des
1509 Weiterführende Literatur
Plexus brachialis nach dem 1. Lebensjahr ist nur in extremen Ausnahmefällen bei ausgedehnter Schädigung und unzureichender Reinnervation diskutabel. Die Realisierung derartiger Eingriffe setzt ein ausgezeichnet eingespieltes Team voraus. Bei der Seltenheit von operationsbedürftigen geburtstraumatischen Armplexusläsionen kann die nötige Teambildung mit ausreichender Erfahrung nur bei überregionaler Organisation erreicht werden.
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54
1511 54.3 · Weiterführende Literatur
Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis) Hisham Fansa, Gregor M. Landwehrs
55.1
Allgemeines – 1512
55.1.1 55.1.2 55.1.3 55.1.4 55.1.5 55.1.6 55.1.7 55.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1512 Epidemiologie – 1522 Ätiologie – 1522 Diagnostik – 1522 Klassifikation – 1523 Indikationen und Differenzialtherapie – 1524 Therapie – 1525 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1527
55.2
Spezielle Techniken
55.2.1 55.2.2 55.2.3 55.2.4 55.2.5 55.2.6 55.2.7 55.2.8 55.2.9 55.2.10 55.2.11 55.2.12 55.2.13
Operative Zugangswege – 1527 Neurolyse – 1529 End-zu-End-Koaptation – 1529 End-zu-Seit-Koaptation – 1529 Intramuskuläre Neurotisation nach Brunelli – 1529 Oberlin-Transfer (Anteile des N. ulnaris für den motorischen N.-musculocutaneus-Anteil) – 1529 Mackinnon-Transfer (motorischer Transfer distaler N.-medianus-Anteile auf den N. ulnaris) – 1531 Bertelli-Transfer – 1531 Sensibler End-zu-End-Transfer distaler N.-medianus-Anteile auf den N. ulnaris – 1531 Rekonstruktion der Daumenopposition (Läsion des Ramus thenaris nervi mediani) – 1531 Rekonstruktion der Fingerbeugung (hohe Läsion von N. ulnaris oder N. medianus) – 1531 Korrektur der Kleinfingerabduktionsfehlstellung (Wartenberg-Zeichen) bei distaler Ulnarisläsion – 1532 Technik der operativen Versorgung von Neuromen – 1532
– 1527
55.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1534 Weiterführende Literatur
– 1535
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
55
1512
55.1
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
Allgemeines
55.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Neben der Durchblutung sind die Sensibilität und Motorik von Hand und Arm essenziell für die Funktion. Hierbei werden an die Hand spezielle Anforderungen gestellt. Die Motorik soll nicht nur grobe Bewegung ermöglichen, sondern Feinarbeit. Die Sensibilität der Hand erlaubt sogar das Lesen von Blindenschrift. Dies wird ermöglicht durch ausgeprägte sensible (⊡ Abb. 55.1a) und motorische (⊡ Abb. 55.1b) Repräsentationsareale im zentralen Nervensystem (ZNS; Kap. 8).
Um diese Leistung zu erbringen, muss aber auch das periphere Nervensystem (PNS) entsprechend ausgestattet sein. Alle drei die Hand versorgenden Hauptnerven – Nn. medianus, ulnaris und radialis – vermitteln Sensibilität und Motorik der Hand und erlauben sowohl grobes Arbeiten als auch feine Uhrreparaturen. Ferner versorgen sie die obere Extremität mit vegetativen Funktionen, steuern beispielsweise Schweißsekretion und Durchblutung (⊡ Abb. 55.2). Eine Verletzung peripherer Nerven im Arm- und Handbereich bedingt teils ausgeprägte und mitunter irreversible Ausfälle einer oder mehrerer oben genannter Funktionen, was nicht selten mit einer Stigmatisierung der Betroffenen einhergeht. Der Verlust der Fingersensibilität z. B. kann für manche Patienten einen Berufswechsel notwendig machen, motorische Einschränkungen können
55
⊡ Abb. 55.1a Sensible und motorische Verbindungen ZNS/PNS. a Sensible, kortikoafferente Bahnen und deren Kerne (Rückenmark schräg abgeschnitten) – Tractus projectionis, vereinfachtes Schema. (Aus Lang 1985)
1513 55.1 · Allgemeines
Patienten schon beim Verrichten alltäglicher Arbeiten massiv behindern. Aus diesem Grund kommt der adäquaten Rekonstruktion der entsprechenden Strukturen eine hohe Bedeutung zu.
Extraneurale Topografie der peripheren Nerven Für eine adäquate Diagnose und mikrochirurgische Versorgung verletzter Nerven ist die Kenntnis der Anatomie und Topografie (»Astfolge«) unerlässlich. Bereits das Muster des Ausfalls kann ohne aufwendige apparative Diagnostik die Höhe der Läsion und damit die mutmaßliche Verletzungslokalisation determinieren. Dies ist vor allem bei älteren und stumpfen Läsionen (z. B. Traktionsschäden) hilfreich, da oftmals eine äußere Verletzung fehlt. An der oberen Extremität gilt es insbesondere die Verläufe von N. medianus, N. ulnaris und N. radialis mit ihren jeweiligen Endästen und Zielorganen zu kennen.
N. cutaneus brachii medialis Der N. cutaneus brachii medialis ist ein rein sensibler Nerv aus dem Fasciculus medialis (C8–Th1/Th2) des Plexus brachialis. Er zieht durch die Fossa axillaris zunächst dorsal anschließend medial der V. axillaris zur Haut des medialen Oberarmes (⊡ Abb. 55.3). > Der N. cutaneus brachii medialis kann bei Läsionen des Plexus brachialis als Spendernerv für die autologe Nerventransplantation eingesetzt werden.
N. cutaneus antebrachii medialis Der N. cutaneus antebrachii medialis ist ein rein sensibler Nerv aus dem Fasciculus medialis (C8–Th1) des Plexus brachialis. Er beginnt medial der A. axillaris und verläuft in der Tiefe nach distal bis er mit der V. basilica durch die Fascia brachii tritt. Kurz
⊡ Abb. 55.1b Sensible und motorische Verbindungen ZNS/PNS. b kortikoefferente Bahnen und motorische Hirnnervenkerne (Rückenmark schräg abgeschnitten) – Tractus projectionis corticofugalis. (Aus Lang 1985)
55
1514
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
55
⊡ Abb. 55.2 Übersicht über die langen Nervenstämme des Armgeflechtes. Alle drei die Hand versorgenden Hauptnerven – Nn. medianus, ulnaris und radialis – vermitteln Sensibilität und Motorik der Hand und erlauben sowohl grobes Arbeiten als auch feine Uhrreparaturen. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
1515 55.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 55.3 N. cutaneus brachii medialis. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
⊡ Abb. 55.4 N. cutaneus antebrachii medialis. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
danach teilt er sich in seine zwei Endäste, den Ramus anterior zur medialen Beugeseite des Unterarmes und den Ramus posterior zu den ulnaren proximalen zwei Dritteln der Unterarmstreckseite (⊡ Abb. 55.4).
Prädilektionsstelle für Läsionen ist hier der humerusnahe Verlauf auf Höhe des Collum chirurgicum. Ursachen können beispielsweise eine ventrale Schulterluxation (oder Reposition derselben), eine subkapitale Humerusfraktur oder ein Druckschaden durch Achselgehstützen sein (⊡ Abb. 55.5).
N. axillaris Der N. axillaris erhält seine Fasern aus dem Fasciculus posterior (C5–C6) des Plexus brachialis. Er verläuft in der Fossa axillaris nach dorsal und gelangt durch die laterale, viereckige Achsellücke auf die Streckseite des Humerus, über die Innervation der Mm. deltoideus und teres minor ist er maßgeblich an der Schulterfunktion beteiligt. (Abduktion, Außenrotation, aber auch Adduktion, Anteund Retroversion). Begleitet wird er von der A. und V. circumflexa humeri posterior. Abgänge des N. axillaris
▬ Rami musculares zu M. deltoideus und M. teres minor ▬ N. cutaneus brachii lateralis superior zur Haut über dem M. deltoideus
▬ Rami articulares zur Versorgung des Schultergelenks
N. musculocutaneus Der N. musculocutaneus entsteht aus dem Fasciculus lateralis (C5– C7) des Plexus brachialis. Er zieht durch den M. coracobrachialis zum beugeseitigen Oberarm und verläuft zwischen M. bizeps brachii und M. brachialis nach distal zum radialen proximalen Unterarm. Abgänge des N. musculocutaneus von proximal nach distal (⊡ Abb. 55.6)
▬ Rami musculares zu M. coracobrachialis, M. bizeps brachii und M. brachialis
▬ Rami articulares zur ventralen Gelenkkapsel des Ellenbogens ▬ N. cutaneus antebrachii lateralis, lateral der Sehne des M. biceps in der Ellenbeuge für die Haut des radialen proximalen Unterarmes
55
1516
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
55
⊡ Abb. 55.5 N. axillaris. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
N. medianus Der N. medianus erhält seine Fasern aus der Radix lateralis des Fasciculus lateralis (C5-C7) und der Radix medialis aus dem Fasciculus medialis (C8-Th1) des Plexus brachialis. Diese vereinigen sich als Medianusgabel, die A. axillaris umschließend, zum N. medianus. Neben der Beugung des Handgelenks und der Finger sind die Daumenopposition und sensible Versorgung der radialen 3½ Finger seine Hauptfunktionen. Er zieht im Sulcus bicipitalis medialis (medial der A. brachialis) zur Ellenbeuge, unterkreuzt hier den Lacertus fibrosus und gelangt zwischen den Muskelbäuchen des M. pronator teres, den er versorgt, zum Unterarm. Im Bereich der Ellenbeuge gibt er Rami articulares, auf Höhe des proximalen Unterarmes die motorischen Äste für die Mm. flexor carpi radialis, palmaris longus und flexor digitorum superficialis ab. > In ca. 15% der Fälle besteht eine Martin-Gruber-Anastomose, bei der motorische Nervenfasern der ulnaren intrinsischen Muskulatur zunächst dem N. medianus zugeordnet sind und ab Höhe der Fossa cubitalis mit dem N. ulnaris zur Hohlhand ziehen. Bei hohen Medianusläsionen kann so eine Ulnarisbeteiligung vorgetäuscht werden. Ein weiterer Austausch motorischer Fasern zwischen N. medianus und N. ulnaris, kann den Ramus muscularis thenaris betreffen. Bei der als Riche-Cannieu-Anastomose oder Ansa thenaris bezeichneten Verbindung können
distale Medianusverletzungen rein sensible Ausfallerscheinungen zeigen. Die Häufigkeitsangaben schwanken zwischen 15 und 77%.
Anschließend verlässt der N. interosseus (antebrachii) anterior den Hauptstamm und innerviert die Mm. flexor pollicis longus, flexor digitorum profundus (D2/variabel D3) und pronator quadratus. Auf Höhe des mittleren Unterarmdrittels verläuft der N. medianus zwischen oberflächlichen und tiefen Fingerbeugern, bis er ca. 4 cm proximal der Raszetta, zwischen den Sehnen der Mm. flexor carpi radialis und palmaris longus zum Karpalkanal gelangt. Hier verläuft der Nerv unter der Sehne des M. palmaris longus und der Fascia antebrachii sehr oberflächlich und tritt, nach Abgabe des sensiblen Ramus palmaris n. mediani zum Daumenballen, unter dem Retinaculum flexorum in die Hohlhand ein. Im Karpaltunnel entspringt der Ramus muscularis thenaris und versorgt die Mm. abductor pollicis brevis, flexor pollicis brevis und M. opponens pollicis. Anschließend teilt sich der N. medianus in die Nn. digitales communes auf, die, nach Abgabe der Rami musculares zu den Mm. Lumbricales 1 und 2, die radialen 3½ Finger sensibel innervieren (⊡ Abb. 55.7). Prädilektionsstellen für Läsionen liegen im Bereich des Ellenbogengelenks sowie auf Höhe des palmaren Handgelenks. Ursachen sind proximal meist Frakturen oder Luxationen des Ellenbogengelenks, distal häufig Schnittverletzungen akziden-
1517 55.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 55.6 N. musculocutaneus. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
tell oder beispielsweise im Rahmen eines Suizidversuches. Aber auch distale Radiusfrakturen oder Frakturen und Luxationen der Carpalia (z. B. Os lunatum) können bei Dislokation oder Hämatombildung zu einer Beeinträchtigung des N. medianus führen. ( Kap. 56). N. ulnaris Der N. ulnaris stellt die direkte Fortsetzung des Fasciculus medialis (C8–Th1) des Plexus brachialis dar. Neben der Handgelenkbeugung ist er insbesondere für die Handbinnenmuskulatur und damit für einen wesentlichen Teil der Feinmotorik verantwortlich. Er
verläuft medial der A. axillaris, später A. brachialis, im Sulcus bicipitalis medialis bis er durch das Septum intermusculare mediale auf die Streckseite des Oberarmes wechselt. Zwischen dem Septum und dem Caput mediale des M. triceps gelangt er zum Ellenbogen, und durch den Sulcus nervi ulnaris zum Unterarm. Von hier zieht er zwischen den beiden Köpfen des M. flexor carpi ulnaris auf die Beugeseite des Unterarmes. Weiter verläuft er auf dem M. flexor digitorum profundus, radial des M. flexor carpi ulnaris, zum ellenseitigen Handgelenk, wo er sich auf Höhe des Os pisiforme in seine Endäste, den Ramus superficialis und den motorischen Ramus profundus aufteilt.
55
1518
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
55 ⊡ Abb. 55.7 Klinische Zeichen der Lähmung des N. medianus. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
⊡ Abb. 55.8 Klinische Zeichen der Lähmung des N. ulnaris. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
Er versorgt die ulnaren Flexoren des Unterarmes und der Finger (tiefe Beuger), sowie die Haut der ulnaren Hand und Finger. > Abgänge des Nervus ulnaris von proximal nach distal
▬ Rami articulares zum Ellenbogengelenk ▬ Rami musculares zum M. flexor carpi ulnaris und ulnaren Anteil des M. flexor digitorum profundus (D4/D5) ▬ Ramus dorsalis auf Höhe des mittleren Unterarmdrittels zur Haut des ulnaren Handrückens, sowie der dorsalen 2–2½ Finger (bis auf Mittelgelenkhöhe) ▬ Ramus palmaris nervi ulnaris (im distalen Unterarmdrittel) zur Haut des Kleinfingerballens
> Bei motorischem Ausfall des N. ulnaris (Krallenhand), kann über die Sensibilitätsprüfung am ulnaren Handrücken eine erste Einschätzung der Höhenlokalisation der Läsion vorgenommen werden.
Nach Aufteilung in seine Endäste verläuft der Ramus superficialis in der ulnaren Hohlhand zum M. palmaris brevis und innerviert
abschließend die palmare Haut des Kleinfingers sowie den ulnaren Anteil des Ringfingers sensibel. Der Ramus profundus versorgt die Mm. abductor digiti minimi, opponens digiti minimi und flexor digiti minimi, verläuft dann proximal unter dem tiefen Hohlhandbogen nach radial und innerviert die ulnaren Mm. lumbricales (3/4), den M. adductor pollicis sowie sämtliche Mm. interossei und das Caput profundum des M. flexor pollicis brevis (⊡ Abb. 55.8). Prädilektionsstellen für Läsionen sind das Ellenbogengelenk (exponierte Lage im Sulcus nervi ulnaris), das palmare Handgelenk sowie die Hohlhand. Als Ursachen kommen Frakturen und Luxationen im Ellenbogengelenk in Frage, distal sind meist Schnittverletzungen ursächlich bzw. bei Läsion des Ramus profundus auch chronische Druckschäden. Eine isolierte Schnittverletzung des R. profundus wird häufig übersehen, da bei der klinischen Untersuchung meist nur die Sensibilität überprüft wird. Diese Läsionen fallen dann erst nach Atrophie der Handbinnenmuskulatur auf. Leitmuskel hier ist der M. interosseus dorsalis I, der als prominenter Muskelbauch zwischen Daumen und Zeigefinger im Falle einer Atrophie bereits eine Blickdiagnose der Läsion ermöglicht ( Kap. 56).
1519 55.1 · Allgemeines
N. radialis Der N. radialis ist ein gemischt motorischer und sensibler Nerv aus dem Fasciculus posterior des Plexus brachialis (C6–Th1). Sämtliche Streckmuskeln des Ober- und Unterames sowie der Hand werden von ihm innerviert. Er verläuft mit der A. profunda brachii dorsal des Humerus im Sulcus nervi radialis. Nach Passieren des Septum intermusculare laterale gelangt er im Radialistunnel (zwischen M. brachioradialis und M. brachialis) zur Ellenbeuge. Hier zweigt er sich in seine Endäste, Ramus superficialis und Ramus profundus auf. Abgänge des N. radialis von proximal nach distal
▬ Rami articulares zum Schultergelenk ▬ N. cutaneus brachii posterior zum dorsalen Oberarm ▬ N. cutaneus brachii lateralis inferior zum dorsolateralen Oberarm
▬ Rami musculares zu Mm. triceps und anconeus, sowie
⊡ Abb. 55.9 Klinische Zeichen der Lähmung des N. radialis. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
nach Verlassen des Septum intermusculare laterale zu den Mm. brachialis, brachioradialis und extensor carpi radialis longus ▬ N. cutaneus antebrachii posterior zur Haut des Ellenbogens und des streckseitigen Unterarmes
Der Ramus superficialis verläuft auf dem beugeseitigen radialen Unterarm nach distal, bis er unter der Sehne des M. brachioradialis (distales Unterarmdrittel) auf die Streckseite gelangt und mit seinen Endaufzweigungen, den Nn. digitales dorsales die radialen 2½–3 Finger sensibel versorgt. Er bildet zusätzlich über den Ramus communicans ulnaris den N. digitalis dorsalis für den Mittel- oder Ringfinger. Äste des Ramus profundus nervi radialis (N. interosseus posterior) von proximal nach distal
▬ Rami musculares zu den Mm. extensor carpi radialis brevis und supinator
▬ Rami musculares zu den Mm. extensor digitorum, extensor digiti minimi, extensor carpi ulnaris, extensor pollicis brevis und abductor pollicis longus ▬ Rami musculares zu den Mm. extensor indicis und pollicis longus ▬ Rami articulares zum Handgelenk sowie den Grundgelenken D1–D4
Prädilektionsstellen für Läsionen liegen im Sulcus nervi radialis (Verlauf des Nerven unmittelbar in Knochennähe) und im distalen radiodorsalen Unterarmdrittel (oberflächliche Lage des Ramus superficialis im Ansatzbereich des M. brachioradialis; ⊡ Abb. 55.9; Kap. 56).
Intraneurale Topografie der peripheren Nerven Für die Rekonstruktion verletzter Nerven ist neben der allgemeinen Anatomie die Kenntnis der intraneuralen Topografie des betroffenen Nervs entscheidend. Nur bei korrekter Zuordnung der Faszikelgruppen (motorisch/ sensibel) wird eine entsprechend hohe Axonzahl und damit gute Funktion am Zielorgan erreicht. Die Faszikelstruktur unterliegt im Verlauf des Nervs einem permanenten Wechsel. Von proximal nach distal verringert sich nicht nur die Faszikelmenge, auch der
⊡ Abb. 55.10 Faseraustausch im Verlauf peripherer Nerven (distale Plexusbildung). (Aus Berger u. Hierner 2009)
intraneurale Fasertausch nimmt zur Peripherie hin ab, d. h. proximal liegt eine höhere Durchmischung der sensiblen und motorischen Fasern vor, während distal eine definierte Zuordnung in den einzelnen Faszikeln vorliegt. Das gilt nicht nur für die motorische und sensible Zuordnung, sondern auch für die Innervation verschiedener Muskelgruppen (⊡ Abb. 55.10). Dies bedeutet, dass beispielsweise eine Nervenverletzung in Oberarmhöhe mit einer Defektstrecke ein unterschiedliches Faszikelmuster beider Nervenstümpfe zeigen kann. Um die adäquate
55
1520
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
ventral
PT FCR
radial
ulnar
H (S/M) RP FDS
a
FDS FCR
IA
55
dorsal
a
PT ... M. pronator teres FCR ... M. flexor carpi radialis H (S/M) ... Hand sensibel/motorisch RP ... Ramus palmaris n.mediani FDS ... M. flexor digitorum superficialis IA ... N. interosseus anterior
ventral
radial
b
D 1 1 1 1
⊡ Abb. 55.11 Rekonstruktion der intraneuralen Topografie in der Akutsituation. a Exakte Koaptation der korrespondierenden Faszikel eines peripheren Nervens durch Orientierung an epineuralen Gefäßen (aus Berger u. Hierner 2009), b Faszikelstruktur der beiden korrespondierenden Schnittflächen
M 1 11 1 1 1 1
3 3 3 3 3 3 3
L M
ulnar
2 2 2 2 2 2 2 2 dorsal
Zuordnung zu gewährleisten muss bei einer Rekonstruktion auf die intraneurale Topografie, also den Querschnitt und die Lage der Faszikel (motorisch vs. sensibel) geachtet werden. Intraoperativ sollte also immer eine Betrachtung der Nervenquerschnitte erfolgen, ggf. eine Zeichnung angefertigt werden, die eine Zuordnung proximal und distal erleichtert. In der Akutsituation kann man die exakte Orientierung aufgrund der epineuralen Blutgefäße und der korrespondierenden Faszikelstümpfe relativ zuverlässig wiederherstellen (⊡ Abb. 55.11). Bei der sekundären Rekonstruktion können die Orientierungspunkte der primären Naht nicht mehr verwendet werden. Je länger die Defektstrecke, desto unterschiedlicher sind die Faszikelgruppierungen des proximalen und distalen Stumpfes. > Da sich periphere Nerven nicht konstant aufteilen, ist die Kenntnis der wahrscheinlichen Lage der Faszikel (⊡ Abb. 55.12, ⊡ Abb. 55.13, ⊡ Abb. 55.14) nur ein unsicherer Faktor.
Zusammen mit der Möglichkeit der immunhistochemischen Anfärbung der motorischen Fasern (Azethycholinesterasereaktion nach Karnowsky; ⊡ Abb. 55.15) gewinnen die approximativen topografischen Lagekenntnisse vor allem in den distalen Abschnitten an Bedeutung.
Prognose der peripheren Nervenläsion Die Prognose einer peripheren Nervenläsion hängt von einer Reihe unterschiedlicher Faktoren ab. Beschränkt man sich nur
b
M ... Thenar, motorisch L ... Mm. lumbricales D ... Daumen, sensibel, radial 1 ... interdigital 1 + sensibel D1 ulnar und D2 radial 2 ... interdigital 2 + kommuner Nerv 2/3 3 ... interdigital 3 + kommuner Nerv 3/4
⊡ Abb. 55.12 Intraneurale Topografie des N. medianus nach Sunderland (1991). a Höhe Ellenbogen, b Höhe Handgelenk
auf den jeweiligen Nerv, ist natürlich die Lokalisation entscheidend. Je proximaler die Läsion liegt, desto mehr Ausfälle müssen kompensiert werden. Zudem kommt es bei proximalen Läsionen häufiger zum Untergang der jeweiligen Neuronen im Rückenmark (retrograde Degeneration; Kap. 8). Eine Verminderung des Neuronenpools kann das funktionelle Ergebnis ebenso beeinträchtigen, wie der Verlust der Repräsentationsareale für die jeweilige sensible Region oder den Muskel im ZNS (⊡ Abb. 55.1). Eine schlechte Regeneration kann bei technisch einwandfreier, peripherer Rekonstruktion, daher auch mit den ZNS-Veränderungen erklärt werden. Die Möglichkeiten, dies diagnostisch zu verifizieren sind derzeit, bis auf experimentell angewandte funktionelle Kernspintomografien, noch nicht etabliert. Liegt die Läsion dagegen distal, können die Einschränkungen überschaubar bleiben. Auch die Endorgane, Haut und Muskel, können das Regenerationsergebnis beeinflussen. So gilt als Faustregel, dass Muskeln etwa ein halbes Jahr reinnervierbar bleiben, bis sie
55
1521 55.1 · Allgemeines
ventral ventral
U
5
SM
U
SM
radial
SM S P
ulnar
SM
radial
M
4 4
M
dorsal
a
ulnar
5
4
SD
P
H
5
5
4 SM
5
dorsal
U ... M. flexor carpi ulnaris SM ... kombinierte sensible/motorische Fasern, Hand palmar S ... sensible Fasern, Hand palmar SD ... sensible Fasern, Hand dorsal P ... M. flexor digitorum profundus
H ... Hypothenar, cutan M ... Handbinnenmuskeln 4 ... Interdigital 4 + kommuner Nerv 4/5 5 ... Sensibel D5 ulnar
b
⊡ Abb. 55.13 Intraneurale Topografie des N. ulnaris nach Sunderland (1991). a Höhe Ellenbogen, b Höhe Handgelenk
ventral
BR H RS IP radial
ventral
BR RS H
RS RS
BR RS H
BL H IP
RS
ulnar
IP RS
ulnar
B
radial
S IP IP
IP IP
RS IP H
IP
RS IP
IP
dorsal
dorsal
a
BR ... M. brachioradialis RS ... Ramus superficialis n. radialis IP ... N. interosseus posterior BL ... M. brachialis H ... Handgelenk + Fingerextensoren
RS ... Ramus superficialis n.radialis B ... M. extensor carpi radialis brevis S ... M. supinator IP ... N. interosseus posterior
b
⊡ Abb. 55.14 Intraneurale Topografie des N. radialis nach Sunderland (1991). a Höhe Ellenbogen, b Höhe Collum chirurgicum
⊡ Abb. 55.15 Immunhistochemische Darstellung der motorischen Anteile eines peripheren Nervens mithilfe der Acethylcholinesterasereaktion nach Karnowsky
1522
55
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
irreversibel degenerieren (⊡ Tab. 55.1); Haut bleibt länger, bis zu 2 Jahren, reinnervierbar. Bei einer »durchschnittlichen« Regenerationsgeschwindigkeit eines peripheren Nervs von ca. 1 mm am Tag (Faustregel: 1 inch [=2,54 cm] pro Monat) muss die Strecke bis zum Endorgan in die Planung mit einberechnet werden. Bei Nervenläsionen sollten zudem mögliche Begleitverletzungen der Muskeln, die von der Nervenläsion maskiert und so nicht auffällig sind, in Betracht gezogen werden. So kann bei einem Trauma mit initialer Nervenläsion und einem unerkannten Kompartmentsyndrom eine Reinnervation niemals eine adäquate Regeneration herbeiführen, da das Endorgan irreversibel geschädigt ist ( Kap. 48). Im klinischen Alltag hat man jedoch neben isolierten Nervenverletzungen in der Regel komplexe Verletzungen mit Beteiligung mehrerer funktioneller Strukturen (Sehnen, Muskeln, Gefäße, Knochen) zu versorgen. Auch bei chronischen Nervenläsionen bestehen meist begleitende Gelenk- und Muskelkontrakturen, sowie gelegentlich funktionell beeinträchtigende Narben. Während bei frischen Nervenverletzungen der Versuch einer anatomisch korrekten Rekonstruktion im Vordergrund steht, gilt es bei chronischen Läsionen abzuschätzen, welche Funktionen von den ursprünglichen Strukturen wieder übernommen werden können und welche durch Ersatzoperationen ermöglicht werden müssen. Dies bedeutet, Operationen mit unterschiedlichen Nachbehandlungsschemata in eine sinnvolle Behandlungsfolge zu bringen. Eine sorgfältige präoperative Planung ist daher erforderlich, an deren Ende ein vollständiges Behandlungskonzept unter Berücksichtigung aller zu erwartenden und möglichen Komplikationen stehen sollte. Eine regelmäßige Korrektur dieses Konzeptes ist unabdingbar. Der Patient sollte frühzeitig informiert und in das Konzept integriert werden, denn nur mit ihm und seiner Mitarbeit sind die komplexen Rekonstruktionen letztlich erfolgreich.
55.1.2 Epidemiologie Kap. 8 55.1.3 Ätiologie Kap. 8 55.1.4 Diagnostik Besteht der Verdacht auf eine Nervenläsion, unabhängig davon ob frisch oder veraltet, stehen am Beginn der diagnostischen Maßnahmen die sorgfältige Anamneseerhebung und klinische Untersuchung. Diese werden maßgeblich vom Zustand des Patienten beeinflusst und können beispielsweise durch Alter, Begleiterkrankungen und -verletzungen bzw. die Vigilanz erschwert werden. Neben Art (stumpf/spitz) und Höhe (distal/proximal) des stattgehabten Traumas, lassen der Krankheitsverlauf sowie die Symptomatik verstärkende Faktoren (z. B. Belastungs- und Bewegungsabhängigkeit) Rückschlüsse auf die vermutlich vorliegende Läsion zu. Die hierdurch gestellte Verdachtsdiagnose wird anschließend durch apparative Maßnahmen (EMG, NLG, Röntgen, MRT etc.; ⊡ Tab. 55.1) verifiziert ( Abschn. 8.1.4) und die notwendigen therapeutischen Schritte abgeleitet.
Anamnese Die Anamneseerhebung erfolgt im günstigsten Fall in Form der Eigenanamnese durch Befragung des Patienten, ist dies z. B. aufgrund einer verminderten Vigilanz nicht möglich, muss eine Fremdanamnese erhoben werden (Angehörige, Vorbehandler, Unfallbeteiligte). Die Frage nach Vorerkrankungen und Dauermedikationen, insbesondere solcher die eine Beteiligung peripherer Nerven zeigen können (Diabetes, Angiopathien, Nierenerkrankungen, Isoniazid, Vincristin etc.), hilft das Ausmaß der Läsion einzuschätzen. Desweiteren muss geklärt werden, ob der jeweilige Ausfall akut eingetreten ist (z. B. durch eine frische Verletzung) oder sich bereits
⊡ Tab. 55.1 EMG-Befunde (Differenzierung des Innervations-/Denervationsstatus) Einstichaktivität
Spontanaktivität
Interferenzmuster bei maximaler Willkürinnervation
Erscheinungsbild der Potenziale
Gesunder Muskel
Ja, normal ausgeprägt
Nein, gelegentlich Endplattenpotenziale sichtbar (negative Amplitude unter 50 μV, Dauer 0,5–2 ms)
Dichtes Interferenzbild
Normale Amplitudenhöhe und Amplitudenrate
Neurapraxie
Ja, normal ausgeprägt
Nein
Keine Willkürinnervation möglich
Normal bei Stimulation distal des Leitungsblocks; kein Potenzial auslösbar bei Stimulation proximal
Denervierter Muskel (früh)
Ja, gesteigert
Ja, Fibrillationspotenziale (Dauer 1–5 ms, Amplituden bis mehrere 100 μV, meist bi- oder triphasisch) und positive scharfe Wellen (Dauer ca. 4 ms, Amplituden bis mehrere 100 μV, meist biphasisch, Frequenz 3–50 Hz)
Keine Willkürinnervation möglich
Normal, in den ersten Tagen nach Denervation, im Verlauf Potentialverlust
Denervierter Muskel (spät)
Nein, aufgrund zunehmender Fibrosierung
Abnahme der Fibrillationspotenziale bis zum vollständigen Erlöschen
Keine Willkürinnervation möglich
Keine Potenziale ableitbar
Reinnervierter Muskel
Ja
Ja, aber im Verlauf abnehmend
Zunächst gelichtetes Interferenzbild, mit Zunahme der rekrutierbaren Einheiten zunehmend dichtes Interferenzbild
Niedrige Amplitudenhöhe, kurze Amplitudendauer, im Verlauf der Reinnervierung zunehmende Polyphasie und Zunahme der Amplitudendauer und -höhe
1523 55.1 · Allgemeines
über einen längeren Zeitraum entwickelt hat (z. B. Nerventumor, oder zunehmende Kompression durch extranervale Tumore, Folge einer alten Verletzung). Im Falle eines durch Verletzung entstandenen Ausfalls ist der Verletzungsmechanismus zu eruieren, da dieser entscheidenden Einfluss auf den zu erwartenden Grad der nervalen Schädigung (glatte Durchtrennung vs. Avulsion) und damit die Prognose hat. Bei chronischen Nervenschädigungen ist zusätzlich nach einer evtl. wechselnden Intensität zu fragen, d. h., besteht die Beeinträchtigung permanent oder ist sie abhängig von bestimmten Tätigkeiten, Bewegungsmustern oder anderen äußeren Faktoren.
Klinische Untersuchung Die Untersuchung beginnt mit der Inspektion, hier liegt das Augenmerk auf der Lokalisation der Läsion, evtl. Fehlstellungen, Reliefveränderungen sowie bei frischen Verletzungen den Wundverhältnissen (glatte Schnittverletzung, Risswunde, Weichteildefekt). Über eine sorgfältige Palpation können Druckschmerzhaftigkeit, Tumore, Atrophien oder beispielsweise Frakturen erkannt werden. Neben den vom Patienten ggf. bereits aktiv geschilderten Ausfällen muss anhand oben genannter Kriterien gezielt auf zur vermeintlichen Läsion passende Ausfälle (sensibel/motorisch) untersucht werden ( Abschn. 55.1.1). Zudem muss differenziert werden, ob motorische Ausfälle nerval oder durch begleitende Sehnen- oder Muskelverletzungen bzw. Frakturen/Kontrakturen bedingt sind. Die hierdurch gewonnene Information lässt eine gezielte apparative Diagnostik zu. Bevor eine operative Intervention vorgenommen wird, ist anhand der durchgeführten Diagnostik abzuschätzen, ob mit einer spontanen Regeneration (bei einer einfachen Neurapraxie) zu rechnen, also ein konservativer Therapieversuch gerechtfertigt ist. Sollte dies nicht der Fall sein, muss man sich die Frage stellen, ob eine anatomische Rekonstruktion möglich ist (ggf. unter Verwendung eines Transplantats) oder ob die durch Ausfall des verletzten Nervs verlorenen motorischen Funktionen durch motorische Ersatzoperationen wiederhergestellt werden müssen. Bei frischen Verletzungen erfolgt die Indikationsstellung in der Regel klinisch. Hier ist eine frühzeitige Rekonstruktion anzustreben, um einer dauerhaften Denervation des Zielorgans vorzubeugen. Bei veralteten oder chronischen Nervenverletzungen kommt der motorischen Reinnervation eine höhere Priorität zu. Im Falle eines nachgewiesenen (EMG, MRT) irreversiblen Ausfalls des betroffenen Muskels werden Ersatzoperationen notwendig. Für eine
adäquat nutzbare obere Extremität sind Extension und Flexion des Ellenbogens, des Handgelenks und der Finger sowie die Daumenopposition essenziell. Diese können beispielsweise durch Muskel-/Sehnentransfers oder -transplantationen bzw. selektive Nerventransfers wiederhergestellt werden. Beim sog. Hoffmann-Tinel-(HT-)Zeichen entstehen beim Beklopfen eines Nervs Sensationen, die vom Patienten in das Versorgungsgebiet des jeweiligen Nervs lokalisiert werden (meist ein Elektrisieren, manchmal auch von den Patienten als Schmerz wahrgenommen). Ein positives HT-Zeichen korreliert meist mit auswachsenden Nervenfasern. Ein fehlendes HT-Zeichen deutet eher auf eine fehlende Reinnervation hin, beispielsweise bei einem Wurzelausriss. Damit ist das HT-Zeichen ein gutes Diagnostikum, um ein Neurom/auswachsenden Nerv zu lokalisieren. Wichtig ist es, das Punctum maximum des HT-Zeichens zu finden. Das Beklopfen sollte dem Patienten angekündigt und der Sinn dieser Maßnahme erklärt werden. Immer wird das Zeichen über dem Verlauf des Nervs von distal nach proximal untersuchend ausgelöst, um sich langsam an das Punctum maximum heranzuarbeiten und es nicht zu überlagern. Das HT-Zeichen lässt sich auch über rein motorischen Nerven bzw. Stümpfen auslösen (⊡ Abb. 55.16). Darüber hinaus eignet es sich auch sehr gut Reinnervationsverläufe zu beurteilen: So deutet ein wanderndes Punctum maximum des HT-Zeichens eine voranschreitende Regeneration an. Die Qualität der Regeneration ist damit allerdings nicht bestimmbar. Umgekehrt spricht ein stehendes HT-Zeichen für eine Regenerationsbarriere, die eventuell operativ beseitigt werden muss. 55.1.5 Klassifikation Die Klinik der Schädigung eines peripheren Nervens ist abhängig von der Höhe der Läsion. Durch gezielte klinische Prüfung der Funktionen der einzelnen von betroffenen Nerven innervierten Muskeln und gleichzeitiger klinischer Prüfung der Sensibilität sollte es möglich sein, den Ort der Nervenläsion zu lokalisieren ( Kap. 8)
N. radialis Beim N. radialis unterscheidet man grob eine untere, mittlere und obere Radialislähmung:
⊡ Abb. 55.16 Hoffmann-Tinel-Zeichen. Beim Beklopfen eines Nervs entstehen Sensationen, die vom Patienten in das Versorgungsgebiet des jeweiligen Nervs lokalisiert werden (meist ein Elektrisieren, manchmal auch von den Patienten als Schmerz wahrgenommen). (Aus Berger u. Hierner 2009)
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55
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
Bei der unteren Radialislähmung kann der Daumen nicht in der Handebene abduziert und die Finger nicht im Grundgelenk gestreckt werden. Die Streckung in den Interphalangealgelenken II–V ist ungestört, da sie eine Ulnarisfunktion darstellt. Es besteht keine Fallhand. Darüber hinaus bestehen keine Sensibilitätsstörungen. Bei der mittleren Radialisparese treten zu den genannten Symptomen eine Fallhand mit Schwäche für die Dorsalflexion im Handgelenk und eine Lähmung des M. brachioradialis hinzu. Der Radiusperiostreflex (RPR) ist abgeschwächt oder erloschen, der Trizepssehnenreflex (TSR) ist erhalten. Eine wichtige Variante im mittleren distalen Bereich ist das Supinatorlogensyndrom durch Kompression des Nerven beim Durchtritt durch den M. supinator. Hier sind M. brachioradialis (mit RPR) und M. extensor carpi radialis intakt, die übrigen, distal gelegenen radialisinnervierten Muskeln paretisch. Es besteht also keine Fallhand, und eine Sensibilitätsstörung fehlt. Bei oberer Radialislähmung ist auch der M. triceps betroffen und der TSR abgeschwächt oder erloschen. Die lokalisatorische Bedeutung der sensiblen Störungen ist wegen der anatomischen Varianten gering. Bei der Fallhand ist die Kraftentfaltung des Faustschlusses herabgesetzt, weil die Beuger von Hand und Fingern durch den Ausfall der Strecker schon in der Ruhe verkürzt sind. Gleicht man die Fallhand passiv aus, zeigt sich, dass Medianus und Ulnaris intakt sind. Klinisch können auch isoliert Sensibilitätsstörungen dorsal über dem Spatium interosseum I auftreten ohne motorische Ausfälle. Dies entspricht einer isolierten Läsion des R. superficialis n. radialis.
N. medianus Je nach Höhe der Läsion differenziert man drei verschiedene Lähmungstypen: Bei Läsionen des Nervs im Karpaltunnel unter dem Ligamentum carpi transversum entsteht das Karpaltunnelsyndrom: die isolierte Abductor-Opponens-Atrophie und -Parese. Im Extremfall ist der Daumenballen atroph (Affenhand), seine Greiffunktion ist aufgehoben. Eine Läsion oberhalb des Abgangs der Äste zu den langen Hand- und Fingerbeugern, d. h. am Oberarm oder Ellenbogen, führt zur kompletten Medianuslähmung. Zu den bereits beschriebenen Symptomen tritt eine Schwäche für die Pronation des Unterarmes (M. pronator teres und M. pronator quadratus) und die Beugung des Handgelenks (M. flexor carpi radialis) hinzu. Der Versuch das Handgelenk zu beugen führt durch den intakten M. flexor carpi ulnaris (Innervation: N. ulnaris) zur Ulnarabduktion im Handgelenk. Beim Versuch, die Finger in den Mittel- und Endgelenken zu beugen, entsteht die sog. Schwurhand. Nur die vom N. ulnaris motorisch innervierten Finger IV und V und in geringem Maße der Finger III können im Endgelenk gebeugt werden, Daumen und Zeigefinger bleiben gerade stehen. Bei oberer und mittlerer Medianuslähmung ist der Pronatorenreflex abgeschwächt oder erloschen. Eine isolierte Läsion des N. interosseus anterior führt zu rein motorischen Störungen. Dieser innerviert den M. flexor digitorum profundus II–III, den M. flexor pollicis longus und den M. pronator quadratus. Daher kommt es zu einer Unfähigkeit die Endgelenke des Daumens und des Zeige- sowie Mittelfingers zu beugen.
N. ulnaris Je nach Höhe der Läsion differenziert man zwei verschiedene Lähmungstypen:
Bei der distalen Läsion können beide Endäste des N. ulnaris betroffen sein, wie typischerweise beim Loge-de-Guyon-Syndrom an der Handwurzel, oder auch einzeln nur der R. profundus oder der R. superficialis n. ulnaris weiter distal. Motorisch fällt bei Läsion beider Endäste oder zumindest des motorischen Endastes eine Parese des Hypothenars sowie aller übrigen vom N. ulnaris versorgten kleinen Handmuskeln auf. Dies führt zu einer Krallenhand, da durch Ausfall der Mm. interossei die Finger in den Grundgelenken überstreckt, in den Mittel- und Endgelenken dagegen leicht gebeugt werden. Diese Krallenstellung zeigt sich an den radialen Fingern weniger ausgeprägt, da die medianusinnervierten Mm. lumbricales I und II entgegensteuern. Durch Ausfall der Mm. interossei und Überwiegen der radialisinnervierten Fingerstrecker sind Ring- und Kleinfinger leicht abgespreizt und können nicht adduziert werden. Wegen der Lähmung des M. flexor pollicis brevis wird der Daumen im Grundgelenk überstreckt gehalten. Durch die Muskelparesen kommt es zu einer deutlich sichtbaren Atrophie insbesondere im 1. Spatium interosseum aber auch am Hypothenar. Bei einer Läsion am proximalen bis mittleren Unterarm bestehen die gleichen motorischen Ausfälle, nur die Sensibilitätsstörungen betreffen außer der distalen Hohlhand ulnarseitig, der ulnaren Hälfte des Ringfingers sowie des gesamten Kleinfingers palmar zusätzlich noch das Ausbreitungsgebiet des R. palmaris n. ulnaris und des R. dorsalis n. ulnaris und damit die Hohlhand und den Handrücken jeweils ulnarseitig. Bei einer Läsion am Oberarm bis zur Ellenbeuge bestehen neben den motorischen Ausfällen der distalen Läsion noch Lähmungen des M. flexor carpi ulnaris sowie der ulnaren Anteile des M. flexor digitorum profundus. Funktionell zeigt sich dabei nur eine diskrete Schwäche für die Handgelenkbeugung und für die Beugung der Endgelenke des Ring- und Kleinfingers. Die auftretenden Sensibilitätsstörungen entsprechen denen einer Läsion im Unterarmbereich. 55.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Für Diagnostik und Therapie von Läsionen im Bereich der Hirnnerven und der peripheren Nerven (Plexus brachialis und dessen terminale Endäste) verwenden wir ein sog. »integratives Therapiekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden Nervenrekonstruktion, sekundäre Muskelersatzoperationen und (tertiäre) adjuvante Eingriffe umfasst. Die Therapiedauer beträgt unabhängig von der gewählten Primärtherapie (konservativ vs. operativ) etwa 3–5 Jahre. Während dieser Zeit ist eine physiotherapeutische Basistherapie – in unterschiedlicher Form und Intensität – fortzuführen. Unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche primäre oder sekundäre Wiederherstellung der Funktion sind stabile knöcherne Verhältnisse, ein »ersatzstarkes« Transplantatlager und freie passive Gelenkbeweglichkeit ( Abschn. 8.1.6).
Konservative und/oder operative Therapie Bei der Behandlung jeder peripheren Nervenläsion muss entschieden werden, ob eine operative oder konservative Therapie indiziert ist. Eine konservative Therapie ist gerechtfertigt bei: ▬ geschlossenen Verletzungen ohne dislozierte Frakturen und ohne Gefahr einer peripheren Minderperfusion und ▬ bei durch intermittierenden Druck ausgelösten Nervenschäden (z. B. N.-axillaris-Parese durch Gehstützen).
1525 55.1 · Allgemeines
> Sollte es bei konservativer Therapie innerhalb der ersten 6 Wochen nach Trauma zu keinerlei myografisch oder klinisch messbaren Regeneration der Nervenfunktion kommen, ist die operative Revision angezeigt. Bei stetiger Besserung hingegen ist eine erneute Begutachtung in der Regel nach 3 Monaten ausreichend.
Weitere Fälle, in denen von einer primären Nervenrekonstruktion Abstand genommen werden sollte, sind ein schlechter Allgemeinzustand des Patienten (»life before limb«), die Gefahr einer lokalen Infektion oder generalisierten Sepsis und Fälle, in denen aufgrund einer massiven langstreckigen Nervenschädigung nicht mit einer ausreichenden und frühzeitigen Reinnervation zu rechnen ist und daher beispielsweise Muskeltransfers eine schnellere und bessere Lösung darstellen. Eindeutige Operationsindikationen sind: 1. motorische und/oder sensible Ausfälle in Verbindung mit einer frischen Wunde im Verlauf eines Nervenstammes, 2. motorische und/oder sensible Ausfälle bei geschlossenen Verletzungen z. B. nach Hochrasanztraumen mit entsprechender Weichteilkontusion, 3. motorische und/oder sensible Ausfälle in Verbindung mit dislozierten Frakturen oder Luxationen, 4. Behandlung des schmerzhaften Neuroms bzw. Prävention eines Neuroms, 5. ausbleibende bzw. unzureichende Rückbildung der Ausfälle bei konservativer Therapie . Die zur Verfügung stehenden Methoden umfassen neben der einfachen Koaptation die Interposition eines Transplantates, eines Neurotubes oder Veneninterponates sowie die Neurolyse, jeweils in Abhängigkeit von Art und Ausdehnung der Läsion, der Lokalisation und dem Zustand des umgebenden Gewebes ( Kap. 8). Bei chronischen oder verzögert diagnostizierten Läsionen sind unter Umständen Muskel-/Sehnentransfers (z. B. Opponensplastik) ( Kap. 57) oder auch selektive Nerventransfers (z. B. »OberlinTransfer«; Kap. 53) notwendig.
Zeitpunkt Neben den klaren Indikationen für eine primäre Revision, wird immer die Frage gestellt, zu welchem Zeitpunkt eine indizierte sekundäre Exploration erfolgen sollte. Grundsätzlich sollte man sich an der Reinnervierbarkeit der Endorgane orientieren, d. h., je eher die Rekonstruktion erfolgt, desto eher können Muskeln und Haut wieder Signale erhalten und weitergeben. Andererseits durchläuft der Nerv distal der Läsion komplett und proximal der Läsion zumindest bis zu den ersten beiden Ranvier-Schnürringen die Waller-Degeneration. Diese dauert ca. 21–28 Tage und führt durch die Schwann-Zellen, Fibroblasten und Makrophagen zu einem Abräumen des alten Myelins und versetzt den distalen Nerv in eine Art regenerativen Modus. Auch freie Nerventransplantate müssen die Waller-Degeneration durchlaufen. Erst nach der Waller-Degeneration kann der Nerv von proximal in das distale Segment vorwachsen. Wobei man sich diesen Prozess von Degeneration und Regeneration auch in Teilen parallel vorstellen muss ( Kap. 8). Ein anderer Faktor ist die Narbenbildung bzw. Fibrosierung. Als Argument gegen eine frühzeitige Revision wird angeführt, dass erst nach kompletter Ausbildung der Narben am Nerv das Ausmaß des Débridements bestimmt werden kann, da man ggf. bei zu früher Revision zu wenig Fibrose reseziert, was das erneute regenerative Wachstum behindern kann. Ein weiterer Punkt sind Begleitverletzungen und deren Nachbehandlungen (z. B. Sehnennähte), die in den Zeitplan mit integriert werden müssen.
In unserem Patientengut hat es sich bewährt, eine sekundäre Revision zwischen der 6. und 12. Woche nach dem Trauma zu planen. Es wird immer Ausnahmen geben, wenn Patienten beispielsweise erst spät vorgestellt werden oder aufgrund schwerer anderer Verletzungen nicht sinnvoll operierbar sind. In der Literatur werden als Ende des Zeitfensters für eine Nervenrevision meist 6–12 Monate angegeben. Es gibt aber auch immer Indikationen, trotzdem später zu revidieren: Wenn die Läsion nahe am Muskel ist und dieser noch erregbar ist, kann man bei entsprechender Aufklärung und Compliance des Patienten, eine Nervenrevision im Einzelfall erwägen. Auch die Frage, ob die ausgefallene Funktion durch sekundäre Maßnahmen rekonstruierbar ist, spielt hierbei eine Rolle. Ist eine sekundäre Operation schnell und einfach machbar, so ist eine verspätete Nervenrevision wohl nicht sinnvoll. Existiert keine gute sekundäre Operation, wird man eher zur Nervenrevision neigen, vorausgesetzt man verschlechtert vorhandene Funktion nicht durch den Eingriff. 55.1.7 Therapie Eine optimale Wiederherstellung der verletzten Nerven bedarf einer entsprechenden Infrastruktur der versorgenden Einrichtung, dies beinhaltet neben der personellen und apparativen Ausstattung auch die Möglichkeit, eine adäquate Nachbehandlung (Physiotherapie, Ergotherapie, Diagnostik) gewährleisten zu können. Eine Behandlung sollte daher nur in Zentren erfolgen, die diese Kriterien erfüllen.
Konservative (nichtoperative) Therapie Hat man sich zu einer konservativen Therapie, d. h. gegen die primäre Exploration des Nervs, entschieden, so bedeutet das keinesfalls ein passives abwartendes Verhalten. Im Gegenteil, die Zeit bis zum erneuten Entscheid über die Operationsdringlichkeit muss für physio- und ergotherapeutische Beübung genutzt und der klinische Befund regelmäßig kontrolliert werden. Des Weiteren sind regelmäßige klinische (elektromyografische und neurografische) Kontrollen notwendig. Bei sehr oberflächlich gelegenen Nerven kann im Einzelfall ein Neurom oder auch eine Kontinuitätsunterbrechung mittels Sonografie dargestellt werden.
Operative Therapie Das Ziel jeder Nervenrekonstruktion besteht darin, über eine Wiederherstellung der Kontinuität eine möglichst hohe Axonzahl am denervierten Zielorgan zu erhalten. Je nach Verletzungsmuster und -lokalisation muss der versorgende Chirurg diverse Techniken beherrschen um die Operationsindikation richtig stellen zu können. Neben den einzelnen Operationsverfahren, die nachfolgend erläutert werden sollen, gibt es allgemeingültige Behandlungsprinzipien im Rahmen der Versorgung von Nervenverletzungen. Hierzu gehören im Einzelnen: 1. Absprache mit dem Anästhesisten, ob eine intraoperative Nervenstimulation notwendig sein wird, um Muskelrelaxanzien während der Narkose zu vermeiden, oder zumindest zu vermindern; 2. Verwendung einer Lupenbrille, besser noch eines Mikroskops; 3. Verwendung des jeweils optimalen Nahtmaterials (ausreichende Stabilität bei geringer Fremdmaterialdichte); 4. Notwendigkeit einer atraumatischen Präparation, um eine zusätzliche Schädigung der verletzten Strukturen zu vermeiden und einer Wundinfektion vorzubeugen; 5. Darstellung des verletzten Nerven aus dem Gesunden mit anschließender Präparation zur Verletzungsstelle/Vernarbung;
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Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
6. Möglichst geringe Mobilisation der Nervenenden, um eine Minderperfusion und damit vermehrte Fibrosierung zu verringern sowie im Bereich des proximalen Stumpfes einen zusätzlichen Axonverlust zu vermeiden; 7. Ausreichende Wundbettvaskularisation (ggf. mittels lokalem oder freiem Gewebetransfer; 8. Sorgfältiger, schichtweiser Wundverschluss unter besonderer Berücksichtigung der spannungsfreien Lage des versorgten Nervs; Vermeidung von Hämatomen, oder Drainagen, die bei Entfernung beispielsweise das Transplantat alterieren könnten; 9. Adäquate Ruhigstellung angrenzender Gelenke bezüglich Position, Dauer, Stabilität und Polsterung; 10. Engmaschige Nachsorge mit interdisziplinärer Zusammenarbeit (Operateur, Physiotherapeut, Ergotherapeut, Neurologe etc.); 11. Ausführliches Briefing des Patienten hinsichtlich der voraussichtlichen Behandlungsdauer, des zu erwartenden Ergebnisses und postoperativer Verhaltensregeln (Exposition gegenüber Hitze/Kälte etc.).
Primäre nervale Rekonstruktion In der Akutsituation stellt die primäre spannungsfreie End-zuEnd-Koaptation den Goldstandard in der Rekonstruktion verletzter peripherer Nerven dar, liegen Substanzdefekte vor, können diese mit autologen Nerventransplantaten oder bei kurzen sensiblen Defekten durch Nerven-Conduits (z. B. aus PGA) oder auch Veneninterponaten überbrückt werden; wobei im Falle der Conduits und Veneninterponate die Defektstrecke 2–3 cm nicht überschreiten sollte, da die Ergebnisse sonst signifikant schlechter werden.
Aus Sicht der Autoren ist allerdings in jedem Fall das autologe Transplantat den Conduits überlegen, sodass diese entgegen der Meinung einzelner Fallgruppenberichte generell auf Conduits in der klinischen Versorgung verzichten.
Ein kurzer zu transplantierender Defekt, beispielsweise an einem Fingernerv, kann durchaus ohne signifikante Hebemorbidität mit einem distalen N. interosseus posterior-Endast oder einem Endast des N. suralis versorgt werden. Die Verwendung von Transplantaten kann, trotz der Möglichkeit einer Primärnaht, gerade im Gelenkbereich sinnvoll sein um ausreichende Längenreserven für die Freiheitsgrade des jeweiligen Gelenks zu haben und eine traktionsbedingte Minderperfusion zu vermeiden. Die zur Verfügung stehenden Transplantate sind neben Nn. suralis, cutaneus antebrachii medialis und lateralis, der N. cutaneus brachii medialis sowie der distale Anteil des N. interosseus posterior. Die Regeneration bei Verwendung von Transplantaten hängt maßgeblich vom Transplantatlager ab, die Koaptation kann noch so sorgfältig vorgenommen werden, wenn das Transplantat in den ersten 72 Stunden postoperativ nicht ausreichend perfundiert wird, wird auch das Endergebnis nicht zufriedenstellend sein, da es im Transplantat zu einem Absterben der Schwann-Zellen kommt, die als wesentliche Zellen die Regeneration des Nervs fördern und begleiten. Daher ist es in bestimmten Situationen (z. B. bei ausgedehnten Vernarbungen) erforderlich, durch einen zusätzlichen Gewebetransfer die lokale Perfusionssituation zu optimieren oder einen vaskularisierten Nerventransfer zu erwägen. Die Wahl des Transplantats wird von der Länge der Defektstrecke sowie der Lokalisation und damit der Zirkumferenz des Nervs bestimmt. Im Bereich der Hauptstämme der Nn. medianus, ulnaris
und radialis (polyfaszikulär) ist eine Rekonstruktion meist nur durch mehrere Interponate möglich, sodass hier in der Regel der N. suralis verwendet wird. Bei Rekonstruktionen der Digitalnerven (monofaszikulär) sind dünnere Transplantate ausreichend. Hier kann beispielsweise der N. interosseus posterior verwendet werden, da dieser zusätzlich eine geringe Hebemorbidität aufweist. Im Bereich der Hauptnervenstämme sind zur Rekonstruktion der einzelnen Faszikelgruppen meist mehrere Transplantate notwendig. Mono- bzw. bifaszikuläre Transplantate wie z. B. der N. cutaneus antebrachii lateralis/medialis oder N. interosseus posterior scheiden daher aus. Als Spendernerv der Wahl für eine oligo- oder polyfaszikuläre Nervenrekonstruktion hat sich der N. suralis bewährt. Dieser kann über mehrere Querinzisionen von distal nach proximal im Bereich des fibularen/fibulo-dorsalen Unterschenkels auf einer Länge von 30–45 cm (je nach Unterschenkellänge) gehoben und somit zur Rekonstruktion von längeren Defekten verwendet werden (durchschnittlich 4–6 Interponate pro Hauptstamm). Bei ausgeprägten Läsionen mehrerer Hauptnerven kann eine beidseitige N. suralis-Entnahme notwendig sein. Auch die Verwendung eines Nervenstrippers ist möglich. Die Studienlage zur Qualität solcher Art entnommener Nerven ist allerdings nicht optimal. Der N. suralis kann über Perforatoren aus dem A.-fibularis-System und der V. saphena parva als vaskularisiertes Transplantat verwendet werden. Für die Rekonstruktion der meist mono- oder bifaszikulären Endäste von N. medianus, radialis und ulnaris kommen z.B. die Nn. cutaneus antebrachii lateralis/medialis oder N. interosseus posterior in Betracht. Vorteil des N. interosseus posterior gegenüber dem N. cutaneus antebrachii lateralis ist ein deutlich geringerer Hebedefekt ohne (bis auf die Narbe) für den Patienten spürbare Ausfälle. Im Rahmen der Primärversorgung wird die Rekonstruktion aller verletzten Strukturen angestrebt. Ziel ist es, eine Reinnervation der ausgefallenen Endorgane zu erreichen. Hierbei müssen häufig Kompromisse hinsichtlich der Nachbehandlungsregime eingegangen werden. So kann beispielsweise bei Läsion größerer Nerven die dynamische Nachbehandlung einer begleitenden Sehnenverletzung erst mit einer 2-wöchigen Verzögerung, d. h. nach Abheilung der Nervenkoaptation beginnen. Das Ergebnis ist dennoch besser als bei Verzicht auf die primäre Rekonstruktion einer der verletzten Strukturen. Nach Koaptationen digitaler Nerven und Beugesehnennaht, kann es allerdings sinnvoller sein, die dynamische Nachbehandlung der Sehne in den Vordergrund zu stellen, und das Beübungsschema bei stabilen Wundverhältnissen bereits innerhalb der ersten 5 Tage zu beginnen. Bei chronischen Läsionen hingegen ist ein genaues Timing der geplanten Rekonstruktionsschritte notwendig. Neben Wiederherstellung des »Motors« sind in vielen Fällen begleitende Gelenkkontrakturen und/oder Sehnenadhäsionen zu beheben. Die isolierte Betrachtung der Nervenrekonstruktion ist hier nicht sinnvoll. Im Falle eines seit 1 Jahr oder länger denervierten Muskels kann, trotz erhaltener Stimulierbarkeit, der regenerierende Nerv letztendlich auf ein nicht mehr reinnervierbares Zielorgan treffen. Die Indikation zur Nervenrekonstruktion wäre somit falsch gestellt. In diesen Fällen muss die verlorene Funktion ggf. durch Muskel- oder selektive Nerventransfers wiederhergestellt werden. Eine Arthrolyse oder Tenolyse in Kombination mit einem Muskeltransfer durchzuführen ist aufgrund der völlig unterschiedlichen Nachbehandlung (Ruhigstellung vs. Mobilisation) ebenfalls wenig erfolgversprechend; daher kommt der präoperativen Planung hier besondere Bedeutung zu. Auch einfache Dekompressionen und Neurolysen (extern/epineural – intern/interfaszikulär) teils in Kombination mit lokalen Lappenplastiken (Karpaltunnelsyndromrezidiv) kommen zur An-
1527 55.2 · Spezielle Techniken
wendung. Indikationen hierfür sind kompressionsbedingte Ausfälle, z. B. durch Osteosynthesematerial (N. radialis am Humerusschaft), Tumore, iatrogen ligierte Nerven (z. B. durch Hautnaht), aber auch narbig ummauerte bzw. umgebaute Nerven nach einer primären Rekonstruktion oder einem zunächst konservativ behandelten Traktionsschaden. > Die Behandlung nervaler Ausfälle ist nicht ausschließlich von einer sorgfältigen Durchführung der einzelnen Therapieschritte abhängig, sondern vor allen Dingen von der richtigen Indikationsstellung bezüglich des Verfahrens und des Versorgungszeitpunktes.
Blutleere bzw. -sperre Die Rekonstruktion verletzter Strukturen im Bereich der Extremitäten erfolgt in der Regel unter Zuhilfenahme einer Blutleere oder -sperre. Diese wird bei erwachsenen Patienten auf 250–300 mmHg, bei Kindern auf 200–250 mmHg eingestellt. Der Vorteil ist eine gute Übersicht mit erleichterter Präparation und Identifikation der einzelnen Gewebe. Die Dauer der Blutleere sollte 2 Stunden nicht überschreiten, wird eine längere Nutzung notwendig kann nach einer 20- bis 30-minütigen Pause die Blutleere für eine weitere Stunde angelegt werden. Grundsätzlich besteht bei Nutzung der Oberarmtourniquets das Risiko von Nervenkompressionsschäden (passager/dauerhaft) oder ischämischen Komplikationen. Die Häufigkeit ist bei sorgfältiger Anwendung allerdings gering. Wenn bereits präoperativ die Notwendigkeit einer intraoperativen Elektrostimulation absehbar ist, muss auf die Blutleere verzichtet werden, da die Muskulatur nach ca. 15-minütiger Blutleere nicht mehr adäquat stimulierbar ist. > Bei Anlage einer Blutleere ist darauf zu achten dass 1. die Manschette eine ausreichende Breite und Länge hat, 2. der Oberarm entsprechend gepolstert wird, 3. das verwendete Gerät geeicht ist (eine Verwendung normaler Blutdruckmanschetten ist nicht zulässig), 4. eine Flüssigkeitsansammlung unter der Manschette (z. B. Desinfektionsmittel) vermieden wird (Cave: Gefahr der Verbrennung bei Verwendung von monopolarer Koagulation)
Sekundäre funktionsverbessernde Ersatzoperationen Bei veralteten oder zu spät erkannten Läsionen motorischer Nerven kann, entweder aufgrund einer zu langen Reinnervationszeit oder einer fehlenden Reinnervierbarkeit des Zielmuskels (Verlust der motorischen Endplatten, direkte Muskelschädigung z. B. durch ein stattgehabtes Kompartementsyndrom) die Funktionsverbesserung nur durch motorische Ersatzoperationen erreicht werden. Analog zu der breiten Variation der Ausfallmuster ist das auch das Spektrum der zur Verfügung stehenden Verfahren. Da diesem Punkt ein eigenes Kapitel gewidmet ist ( Kap. 57), soll hier nur eine Auswahl kurz dargestellt werden.
Adjuvante Eingriffe Kap. 8
55.2
Spezielle Techniken
55.2.1 Operative Zugangswege Im Rahmen der präoperativen Planung kommt der Wahl des geeigneten Operationszuganges eine nicht unerhebliche Bedeutung zu. Neben einer ausreichenden Übersicht bezüglich der voraussichtlich zu versorgenden Strukturen gilt es eventuell notwendige Erweiterungen des Eingriffs sinnvoll einzuplanen. Bei frischen, traumatisch entstandenen, offenen Verletzungen ist diese Planungsfreiheit bereits eingeschränkt. Hier müssen normalerweise Schnitterweiterungen nach proximal und distal vorgenommen werden, die die gängigen Regeln bei Hautinzisionen berücksichtigen (gerade Inzisionen im Gelenkbereich vermeiden, wenn möglich Hautspaltlinien berücksichtigen) und die traumatisch entstandene Wunde mit einbeziehen, auch evtl. Folgeeingriffe, wie z. B. Ersatzplastiken, sollten in die Überlegungen mit einfließen. Bezüglich der Standardinzisionen bei Elektiveingriffen im Handbereich (z. B. bei Kompressionssyndromen) sei auf Kap. 56 verwiesen. Wir möchten uns an dieser Stelle auf die Zugänge im Bereich des Ellenbogens und der Axilla beschränken.
Operativer Zugangsweg zum N. axillaris Die komplette Darstellung des N. axillaris ist meist nur über zwei Inzisionen möglich. Die stammnahe Präparation erfolgt über die infraklavikuläre Darstellung wie beim Plexus brachialis. Hier kann der Nerv an seinem Abgang aus dem posterioren Faszikel in etwa zwischen Klavikula und M. pectoralis minor exploriert werden. Die distale Präparation erfolgt über eine dorsale Inzision über der lateralen Achsellücke. Der Nerv wird hier zwischen den Mm. deltoideus und M. triceps (Caput laterale und longum) dargestellt. Die A. circumflexa humeri posterior begleitet den Nerv (⊡ Abb. 55.17).
Operativer Zugangsweg zum N. medianus Auch der N. medianus ist häufig auf Höhe der Ellenbeuge entweder als Traumafolge (Luxationen, Frakturen) oder im Rahmen von Kompressionssyndromen (N.-interosseus-anterior-Syndrom) in Mitleidenschaft gezogen. Inzision der Wahl ist hier ebenfalls eine S-förmige Schnittführung, diesmal vom medialen distalen Oberarm (Verlängerung des Sulcus bicipitalis medialis) zur Mitte des proximalen Unterarmdrittels. Nach Durchtrennung der Aponeurosis bicipitalis lässt sich hierüber der N. medianus, begleitet von der A. brachialis, darstellen (⊡ Abb. 55.18).
Operativer Zugangsweg zur Gefäß-Nerven-Straße am proximalen medialen Oberarm Der Zugang zu Axilla und proximalem Oberarm ist von besonderer Bedeutung, da hierdurch die Hauptstämme von Nn. medianus, ulnaris und radialis dargestellt werden können. Gewählt wird hier eine Längsinzision von der ventralen, lateralen Begrenzung des Fossa axillaris entlang des Sulcus bicipitalis medialis nach distal (⊡ Abb. 55.19). Indikationen für diesen Zugang sind beispielsweise eine Verletzung des N. radialis im Rahmen einer Humerusfraktur oder, da auch der N. musculocutaneus darstellbar ist, ein geplanter selektiver Nerventransfer (nach Oberlin).
55.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Operativer Zugangsweg zum N. radialis
Für Diagnostik und Therapie von Verletzungen und Defekten im Bereich der peripheren Nerven gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Die Besonderheiten sind in Abschn. 8.1.8 aufgeführt.
Bei operativer Versorgung des N. radialis stellt die Regio cubitalis eine wichtige Lokalisation dar. Zum einen besteht hier eine Prädilektionsstelle für Kompressionssyndrome (Radialistunnel, Supinatorkanal), zum anderen liegt hier die Bifurkation mit Teilung des Hauptstammes in motorischen und sensiblen Endast.
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Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
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55 ⊡ Abb. 55.17 Operativer Zugangsweg zum N. axillaris. a Inzision, b Darstellung des Nervs. (Aus Penkert u. Fansa 2004)
b
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⊡ Abb. 55.18 Operativer Zugangsweg zum N. medianus. a Inzision, b oberflächlich zu den Muskeln, c Darstellung des Nervs. (Aus Penkert u. Fansa 2004)
c
1529 55.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 55.19 Operativer Zugangsweg zur Gefäß-Nerven-Straße am proximalen medialen Oberarm. a Inzision, b Darstellung N. medianus und N. ulnaris, c Darstellung N. radialis. (Aus Penkert u. Fansa 2004)
Bewährt hat sich in diesem Bereich eine S-förmige Inzision beginnend am distalen lateralen Oberarm, die Ellenbeuge passierend bis zur Mitte des proximalen Unterarmdrittels (⊡ Abb. 55.20). Über diesen Zugang ist es problemlos möglich, sowohl nach proximal den Radialistunnel (zwischen den Mm. brachialis und brachioradialis) darzustellen, als auch nach distal den Supinatorkanal und den Abgang des Ramus superficialis. Alternativ gibt es die Möglichkeit einen Zugang distal der Ellenbeuge, dorsoradial auf Höhe der Muskelbäuche des Extensor digitorum und der Handgelenkextensoren zu wählen. Bei diesem eher indirekten Zugang ist zu beachten, dass eine Darstellung des Supinatorkanals nur nach vollständiger Durchtrennung des M. supinator bzw. nach entsprechender proximaler Schnitterweiterung möglich ist.
c
55.2.2 Neurolyse Kap. 8 55.2.3 End-zu-End-Koaptation Kap. 8 55.2.4 End-zu-Seit-Koaptation Kap. 8 55.2.5 Intramuskuläre Neurotisation nach Brunelli Kap. 8
55.2.6 Oberlin-Transfer (Anteile des N. ulnaris für
den motorischen N.-musculocutaneus-Anteil) Abschn. 53.2.6
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Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
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a
c
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⊡ Abb. 55.20 Operativer Zugangsweg zum N. radialis. a Darstellung im Ellbogen: Planung der Hautinzision, b Darstellung im Ellbogen: Präparation des proximalen Nervanteils, c Darstellung im Unterarmbereich: Planung der Hautinzision, d Darstellung im Unterarmbereich: Präparation des distalen Nervanteils. (Aus Penkert u. Fansa 2004)
1531 55.2 · Spezielle Techniken
55.2.7 Mackinnon-Transfer (motorischer
Transfer distaler N.-medianus-Anteile auf den N. ulnaris) Proximale Verletzungen des N. ulnaris zeigen in der Regel ein schlechtes Regenerationsbild, vor allem für die motorische Funktion. Während der Ausfall des M. flexor carpi ulnaris bei intaktem N.-medianus-versorgtem M. flexor carpi radialis noch gut kompensiert werden kann und für die Fingerbeugung die Kopplung der Beugesehnen an N.-medianus-innervierte Sehnen eine ausreichende Funktion wiederherstellen kann, sind die Ersatzplastiken für den Ausfall der N.-ulnaris-innervierten Handmuskulatur meist aufwendig und in ihrem Ergebnis nicht optimal. Um hier eine verbesserte Rekonstruktion zu erreichen, sind Konzepte des selektiven Nerventransfers verfeinert worden. Für die motorische Funktion des N. ulnaris wird der distale N. interosseus anterior eingesetzt. Dieser wird beim Eintritt in den M. pronator quadratus aufgesucht. Der motorische Ast des N. ulnaris wird ebenfalls langstreckig von distal nach proximal aus dem N. ulnaris herauspräpariert und, wenn möglich, ohne Transplantat End-zu-End an den N. interosseus anterior koaptiert. Es wird empfohlen, gleichzeitig auch den Nerv im Guyon-Kanal zu dekomprimieren. Für diesen Transfer ist es wichtig, die intraneurale Topografie zu beachten, um keine Fehlaussprossung zu haben. Selbst bei dieser nah an der Muskulatur gelegenen Rekonstruktion sollte bei evidentem proximalem N.-ulnaris-Schaden eine frühzeitige Revision erfolgen, um eine irreversible Degeneration der Muskulatur zu vermeiden. Sollte die Läsion länger bestehen, so ist vor einem selektiven Nerventransfer die Reinnervierbarkeit der Handbinnenmuskulatur durch eine EMG-Untersuchung zu verifizieren. Zeigt diese noch in ausreichender Form eine Einstich- oder Spontanaktivität, so ist davon auszugehen, dass eine Reinnervierung möglich ist. Bei zu lang zurückliegenden Nervenschäden oder bei direktem Muskelschaden, beispielsweise durch ein intrinsisches Kompartment, sind die Muskeln nicht mehr reinnervierbar. Die postoperative Behandlung besteht in einer adäquaten Ruhigstellung für 14 Tage. Die Übungstherapie muss, bei den Transfers motorischer Fasern, neben der Beübung der Zielfunktion immer auch die Bewegung des vom Spendernerv innervierten Muskels mit einbeziehen, da dies der Trigger für das Umlernen auf die neue Funktion ist. Die Regeneration motorischer Funktion kann durchaus 6–12 Monate in Anspruch nehmen (⊡ Abb. 55.21). 55.2.8 Bertelli-Transfer Abschn. 53.2.7
kalisation des richtigen N.-medianus-Anteils, der meistens vom N.-medianus-Hauptstamm gut separierbar ist. Die Kenntnis der intraneuralen Topografie ist daher auch hier absolut wichtig, um keinen wichtigeren N.-medianus-Anteil zu verlieren. Bei Unsicherheit oder anatomischen Variationen sollte eine Präparation von distal nach proximal erfolgen, um den Nervenanteil genau zu lokalisieren (⊡ Abb. 55.22). Um eine Schutzsensibilität für die nicht mehr innervierten Finger (ulnarer Mittelfinger und radialer Ringfinger) zu erhalten, empfiehlt es sich eine End-zu-Seit-Koaptation des distalen, abgesetzen N.-medianus-Stumpfes an den N.-medianus-Stamm durchzuführen. Das gleiche Konzept der End-zu-Seit-Koaptation wird für den dorsalen ulnaren Ast vorgeschlagen. Dies führt mit Sicherheit nicht zu einer sensiblen Innervation mit Wiederherstellung einer 2-Punkte-Diskrimination, allerdings kann dadurch eine Schutzsensibilität hergestellt werden. Das Konzept der distalen Nerventransfers ist in der Klinik noch nicht an großen Fallzahlen erprobt, sodass in den nächsten Jahren durchaus Veränderungen der klinischen Applikationen auftreten können. Die postoperative Behandlung besteht in einer adäquaten Ruhigstellung für 14 Tage. Die Regeneration sensibler Funktion kann durchaus 1–2 Jahre in Anspruch nehmen. 55.2.10 Rekonstruktion der Daumenopposition
(Läsion des Ramus thenaris nervi mediani) Der Daumen hat als Konterpart zu den Fingern eine übergeordnete Bedeutung für die Handfunktion. Eine intakte Daumenbeugung und -streckung ist ohne ausreichende Opponierbarkeit nahezu wertlos. Typische Ursachen für einen distal bedingten Ausfall der Opposition sind die irreversible Thenaratrophie bei zu spät behandeltem Karpaltunnelsyndrom, aber auch die direkte traumatische oder iatrogene Schädigung des Ramus thenaris. Die gängigsten Verfahren sind die Transposition der Sehne des M. flexor digitorum superficialis 4 (FDS D4) sowie des M. abductor digiti minimi. Beides setzt einen intakten N. ulnaris voraus. Im Falle der FDSD4-Transposition wird die M.-flexor-carpi-ulnaris-Sehne als Hypomochlion verwendet. Der distale Sehnenanteil wird bei beiden Verfahren gespalten und sowohl an der Insertion des M. abductor pollicis brevis als auch an der M.-extensor-pollicis-longus-Sehne fixiert ( Kap. 57). 55.2.11 Rekonstruktion der Fingerbeugung (hohe
Läsion von N. ulnaris oder N. medianus) 55.2.9 Sensibler End-zu-End-Transfer distaler
N.-medianus-Anteile auf den N. ulnaris Der Ausfall sensibler N.-ulnaris-Anteile betrifft den ulnaren Ringfinger und den gesamten Kleinfinger auf der palmaren Seite sowie über den Ramus dorsalis den ulnaren Handrücken. Während die Handrückensensibilität nicht unbedingt rekonstruiert werden muss, so sollte doch erwogen werden über einen distalen Transfer die ulnare Handseite zu reinnervieren. Erneut ist der N. medianus der Spender. Hierbei werden die Anteile des N. medianus verwendet, die die 3. Zwischenfingerfalte und die komplementären Fingeranteile, also ulnaren Mittelfinger und radialen Ringfinger, versorgen. Die Koaptation sollte oberhalb des Handgelenks stattfinden und kann mit der motorischen Rekonstruktion ( Abschn. 55.2.7) gekoppelt werden. Voraussetzung für diesen Transfer ist die Lo-
Bei einer proximalen N.-medianus-Läsion mit Ausfall des M. flexor pollicis longus (FPL) sowie der tiefen Beuger des Zeige- und ggf. Mittelfingers, kann die Fingerbeugung über eine Kopplung der M.-flexor-digitorum-profundus-Sehnen 4 und 5 an die Profundussehnen 2 und 3 wiederhergestellt werden. Diese Kopplung wird auf Höhe des Handgelenks durchgeführt. Eine ausreichende Funktion des FPL wird zusätzlich über Transposition des M. brachioradialis gewährleistet. Bei ausreichend aktivem kurzem Daumenbeuger kann eine IP-Gelenk-Arthrodese des Daumens ebenfalls eine gute Funktion erzielen. Im Falle einer proximalen N.-ulnaris-Parese ist ein analoges Vorgehen, mit Ausnahme der Brachioradialistransposition möglich, eine Unterstützung der ulnaren Beuger kann durch ergänzende Transposition eines Handgelenkstreckers (z. B. M. extensor carpi radialis longus) erreicht werden ( Kap. 57).
55
1532
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
motorischer Ast des N. ulnaris M. pronator quadratus N. interosseus anterior (End zu End Transfer)
sensibler Anteil des N. ulnaris
55
Ulna N. ulnaris
⊡ Abb. 55.21 Motorischer End-zu End Transfer distaler N. medianus-Anteil auf den R. profundus N. ulnaris
55.2.12 Korrektur der Kleinfingerabduktions-
fehlstellung (Wartenberg-Zeichen) bei distaler Ulnarisläsion
motorischer Anteil des N. ulnaris Ramus cutaneus dorsalis n. ulnaris
Sehne des M. extensor carpi radialis longus (als Hypomochlion) geschlungen, um dann im Bereich des radiodorsalen Kleinfingers entweder ligamentär oder knöchern reinseriert zu werden.
Partieller Transfer des Extensor digtorum 4 bzw. Connexus intertendineum (Voche und Merle). ei der dritten Möglichkeit
Im Falle einer Verletzung des N. ulnaris auf Handgelenk- oder Hohlhandhöhe ist häufig das sog. Wartenberg-Zeichen zu beobachten. Hierbei besteht eine Abduktionsfehlstellung des Kleinfingers, häufig in Kombination mit einer Hyperextension des Metakarpophalangealgelenks. Ursächlich hierfür ist die ulnare Insertion des M. extensor digiti minimi, die bei Ausfall der intrinsischen Muskulatur (insbesondere M. interosseus palmaris 3) und damit der Antagonisten zu einer ulnaren Abduktion und Hyperextension führt. Die Ausprägung variiert je nach Art der Verletzung, d. h. bei einer partiellen Durchtrennung des N. ulnaris mit ggf. erhaltenem M. abductor digiti minimi zeigt sich eine deutlich stärkere Fehlstellung. Milde Formen werden von den betroffenen Patienten häufig nicht als störend empfunden und sind demnach selten therapiebedürftig. Bei starker Abduktionsstellung besteht jedoch u. a. eine erhöhte Anfälligkeit für Abduktionstraumen (die teils fälschlicherweise als Ursache gewertet werden). Zur Korrektur oben genannter Fehlstellung kommen verschiedene Verfahren zum Einsatz.
wird der Connexus intertendineum zwischen ED 4 und 5 über das MP-Gelenk des Kleinfingers aus der Streckerhaube herauspräpariert und anschließend retrograd bis zu seinem Ursprung in der ED-4Sehne mobilisiert. Nach Verschluss der Streckerhaube wird der auf diese Weise gewonnene Sehnenstreifen unter dem Ligamentum metacarpeum transversum profundum durchgezogen und in der Regel am radialen Seitenband des Kleinfingergrundgelenks fixiert. Bei nachgewiesener Verletzung eines Hauptnervenstammes zeigen sich abhängig von der Läsionshöhe normalerweise klassische Ausfallmuster (Krallen-, Fall-, Schwurhand). Die Planung motorischer Ersatzoperationen gestaltet sich hierbei relativ einfach, da auf »Standards« zurückgegriffen werden kann. Liegen jedoch Kombinationsverletzung vor, ist die Identifikation und nicht zuletzt die richtige Verwendung der zur Verfügung stehenden »Motoren« entscheidend für den Erfolg der durchgeführten Ersatzplastik ( Kap. 57).
Partieller Transfer der M.-extensor-digiti-minimi-Sehne (EDM). Hierbei wird eine Teilung des EDM vorgenommen und der
55.2.13 Technik der operativen Versorgung von
ulnare Anteil nach proximal präpariert. Anschließend wird der so gewonnene zusätzliche Sehnenanteil unter radialem EDM und ED durch den 4. Intermetakarpalraum nach palmar geführt. Abhängig davon, ob eine begleitende Krallenfehlstellung besteht, wird der Sehnenstreifen entweder über (ohne Krallenfehlstellung) oder unter (mit Krallenfehlstellung) dem Ligamentum metacarpeum transversum profundum durchgezogen und anschließend im Bereich des radialen palmaren Grundgliedes fixiert. Bei begleitender Krallenstellung kann der Sehnenstreifen zusätzlich durch das A2-Ringband gezogen und mit sich selbst vernäht werden (Brook-Insertion).
Vollständiger EDM-Transfer (nach Goldner). Bei dieser Technik wird der EDM auf Höhe des Grundgelenks abgelöst, bis zum Retinaculum extensorum mobilisiert und anschließend um die
Neuromen Nach Durchtrennung eines Nervs, der nicht rekonstruiert wird, entwickelt sich ein Neurom. Das Neurom ist ein Auswachsen von Fasern an der Stelle der Durchtrennung (⊡ Abb. 55.22). Es ist kein malignes Geschehen und sollte nicht mit dem Neurinom verwechselt werden. Das Auswachsen der Fasern führt zu einer Verdickung am Ende des Nervs. Handelt es sich um einen motorischen Nerv oder liegt dieses Neurom in der Tiefe, weichteilgeschützt ohne wesentliche Vernarbung, so hat das Neurom bis auf einen Nervenfunktionsverlust keine Konsequenz. Handelt es sich allerdings um einen Nerv mit vorwiegend sensiblen oder vegetativen Fasern und liegt das Neurom nah unter der Haut oder in einer Narbe, so kann eine Reizung des Neuroms zu einem dauerhaften
1533 55.2 · Spezielle Techniken
3. Fingerzwischenraum
N. ulnaris N. medianus
End-zu-Seit Transfers
End-zu-End Transfer der Fasern zum 3. Fingerzwischenraum auf sensiblen Anteil des N. ulnaris
⊡ Abb. 55.22 Sensibler End-zu-End Transfer distaler N. medianus Anteile auf N. ulnaris
Narbe mit Narbenplexus
proximaler Stumpf
distaler Stumpf Wachstumskolben im Interstitium (extratubal)
intratubaler Wachstumskolben
rückläufige Fasern (intrafaszikulär)
Perroncitos Spiralen Wachstumskolben in der Narbe
abweichende rückläufige Fasern (extrafaszikulär)
Eintrittszone in den distalen Stumpf, Konvergenz der Fasern und Bifurkationen
⊡ Abb. 55.23 Schema der Nervenregeneration nach Nervendurchtrennung (mod. nach Cajal 1928); proximaler Stumpf; distaler Stumpf; Narbe mit Narbenplexus; abweichende rückläufige Fasern (extrafaszikulär); rückläufige Fasern (intrafaszikulär); Wachstumskolben in der Narbe; PerroncitosSpiralen; Eintrittszone in den distalen Stumpf, Konvergenz der Fasern und Bifurkationen; Wachstumskolben im Interstitium (extratubal); intratubaler Wachstumskolben
55
1534
55
Kapitel 55 · Läsionen peripherer Nerven im Handbereich (ohne Plexus brachialis)
Schmerz führen. Die Reizung kann durch simplen Druck, Zug oder Vernarbung ausgelöst werden. Die Diagnose eines Neuroms ist relativ typisch. Die Patienten beschreiben bei Berühren oder Beklopfen des Hautareals über dem Neurom einen klassischen elektrisierenden, vereinzelt auch brennenden Schmerz (HoffmannTinel-Zeichen). Distal des Neuroms besteht in der Frühphase eine Hypästhesie. Diese kann je nach Größe des Areals über benachbarte Nerven vereinzelt kompensiert werden, sodass eine Hypästhesie länger bestehende Neurome nicht zwangsweise begleiten muss. Die Ursachen für Neurome sind nicht nur traumatisch, sondern auch häufig iatrogen, so kann es z. B. bei Ganglionoperationen, Behandlungen von Radiusfrakturen oder Rhizarthrosen zu Läsionen des Ramus palmaris des N. medianus oder zu Läsionen von Ästen des Ramus superficialis n. radialis kommen. Erfolgt im Rahmen der Revision bei Trauma oder bei Verletzung iatrogenen Ursprungs keine sofortige Wiederherstellung des Nervs, wird das Neurom meist erst spät bemerkt, da die frustrane Regeneration aus dem proximalen Nervenstumpf erst manifest werden muss. Frühestens 1–2 Monate nach einer solchen Läsion bemerkt der Patient den Schmerz. Neben der genauen Anamnese zur Diagnose ist auch der Schmerz über die visuelle Analogskala zu dokumentieren. Die Frage, ob eine Revision vorgenommen werden sollte, sollte durch eine Testausschaltung beantwortet werden. Bei der Testausschaltung wird eine Mischung aus einem kurz und einem lang wirksamen Lokalanästhetikum (vorher Allergien erfragen) direkt in die vom Patienten angegebene Stelle injiziert. Dies sollte mit einer dünnen Kanüle erfolgen. Auch sollte keine flächige Infiltration, sondern lediglich eine punktgenaue Injektion erfolgen, um ein möglichst genaues Bild zu erhalten. Gibt der Patient nach der Injektion ein länger dauerndes schmerzfreies Intervall an, so sollte eine Revision erfolgen. Ist der Patient nach einer solchen Injektion nicht schmerzfrei, so sollte das Procedere wiederholt werden, führt auch dies nicht zum Erfolg, ist anzunehmen, dass der Schmerz nicht über eine periphere Revision beseitigt werden kann, sondern wahrscheinlich auf Rückenmarksebene oder darüber hinaus im zentralen Nervensystem chronifiziert ist. Die Behandlung von Patienten mit Neuromen ist nicht einfach, da die meisten Patienten bereits durch dauerhafte Schmerzen alteriert sind. Es ist trotzdem wichtig, die Patienten ernst zu nehmen und über eine Probeausschaltung die Indikation ggf. zu einer Operation zu stellen, um die meist für die Patienten unerträglichen Schmerzen zu mindern. Neben lokalen Verfahren zur Schmerzminderung beispielsweise über peripher angelegte Schmerzkatheter, sollte immer die Schmerztherapie mit in das Behandlungskonzept integriert werden ( Kap. 18). Bei jeder Überempfindlichkeit, vor allem wenn sie erst kurz besteht, sollte eine intensive physiotherapeutische Therapie zur Desensibilisierung durchgeführt werden ( Kap. 15). Obwohl Neurome ein altbekanntes Problem darstellen, existiert keine optimale Operationstechnik. Experimentell sind Substanzen (beispielsweise das Neurotoxin Ricin) beschrieben, die in das Neurom injiziert werden, die über retrograden axonalen Transport zu einem Untergang der Rückenmarksneurone führen und damit die Schmerzweiterleitung blockieren. Dieses Verfahren hat jedoch bisher keinen Einzug in die Klinik gehalten. Obwohl Neurome ein altbekanntes Problem darstellen, existiert keine optimale Operationstechnik. Die einfachste und physiologischste Vorgehensweise ist die der Rekonstruktion des Nervs. Dies kann, wenn möglich, über eine primäre Naht oder ein Transplantat geschehen. Dies setzt voraus, dass der distale Nervenstumpf aufgefunden werden kann. Über dieses Verfahren kann beispielsweise
beim Ramus palmaris des N. medianus oder für Äste des Ramus superficialis n. radialis eine primäre Rekonstruktion angestrebt werden. Ist dies nicht möglich, so kann mit geringer Hebemorbidität der Endast des N. interosseus posterior gehoben und als Transplantat verwendet werden. Ist eine Rekonstruktion des betroffenen Nervs nicht möglich, so existieren in der Literatur vielerlei Verfahren das Neurom zu »versenken«. Die Idee dahinter ist, dass ein Neurom, das nicht mehr unmittelbar getastet werden kann oder nicht mehr direkt unter der Haut liegt, weniger Schmerz verursacht, da kein ständiger Reiz vorliegt. Das Neurom kann hierbei entweder in einen Knochen oder in einen Muskel transponiert werden. Diese Technik ist jedoch nur dann erfolgreich, wenn der Nerv weiter nach proximal präpariert wird, sodass er ohne jedwede Spannung in das neue Bett gelegt werden kann und gesichert ist, dass kein Zug oder Druck in der neuen Position entsteht, denn damit wird das Neurom erneut aktiviert. Auch hier gilt, dass die Patienten unmittelbar postoperativ in der Regel schmerzfrei sind, erneute Schmerzen aber bei Vernarbung oder Traktion bei erneutem Auswachsen von proximal auftreten können. Neben der Rekonstruktion und der Neuromversenkung existieren noch andere Konzepte, die als erfolgreich beschrieben wurden, so werden beispielsweise bei der zentrozentralen Anastomose (eigentlich müsste es korrekter Weise »Koaptation« heißen) das Neurom reseziert und die Faszikel des Nervs miteinander vernäht. An einer weiter proximal gelegenen Stelle erfolgt eine erneute Durchtrennung und Naht eines Faszikelanteils, sodass von beiden proximalen Nervanteilen ein Faserauswachsen in das nunmehr entstandene Transplantat stattfindet. Ein neues Faserwachstum entspricht nun eher einem Neuroma in continuitatem in einem Nerventransplantat. Dieses soll weniger schmerzhaft und empfindlich für Druck oder Zug sein. Alternativ dazu kann der betroffene Nerv in seinem Verlauf weiter proximal aufgesucht und dort durchtrennt werden. Der Vorteil hierbei ist, dass in der Regel weiter proximal eine bessere Weichteilpolsterung vorliegt. Dieses Verfahren wurde von Millesi für sensible Nerven beschrieben, die als Transplantate verwendet und bei denen nur die distalen Anteile entnommen wurden. Eine solche Form der Neurombehandlung ist allerdings auch für den Ramus superficialis n. radialis möglich, wenn dieser eine Irritation auf Höhe des distalen Unterarmes hat, bei dem dann eine Durchtrennung weiter proximal nach Abgang aus dem N.-radialis-Stamm auf Höhe des M. supinator möglich ist. Bei diesem Vorgehen ist mit dem Patienten zu besprechen, dass nach einer solchen Operation eine komplette Hypästhesie vorliegt, die auch störend sein kann. Eine relativ neue Form der Neurombehandlung hat sich aus der sog. End-zu-Seit-Koaptation entwickelt. Zunächst experimentell erprobt, wird es inzwischen auch in der Klinik eingesetzt; hierbei wird das Neurom entfernt und der proximale Stumpf End-zu-Seit auf einen anderen sensiblen Nerv gesetzt. Es kommt in diesen Fällen zu einem physiologischen Beschneiden der auswachsenden Axone oder zu einer kollateralen Innervation über die Neurone, die vorher funktionslos gewesen sind. Auch dieses Verfahren versucht dem Nerv eine möglichst physiologische Umwelt zu rekonstruieren, und so eine Kontinuität wiederherzustellen, um eine Schmerzbildung zu vermindern. 55.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Die Güte jeder Nervenrekonstruktion hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, diese sind jedoch nur zum Teil beeinflussbar (Alter bzw. Vorerkrankungen des Patienten, Verletzungsmechanismus).
1535 Weiterführende Literatur
Lässt man zusätzlich technische Fehler (nachlässige Koaptation, falsches Nahtmaterial, ungünstige Vorspannung bei Sehnentransfers, falsche Faszikelwahl bei Nerventransfers etc.) außer Acht, sind es vor allem Fehler bei der primären Einschätzung des vorliegenden Schadens sowie bei der Indikationsstellung. Bei der Erstuntersuchung bzw. Begutachtung des Patienten werden die Weichen für eine adäquate Versorgung gestellt, d. h. es werden notwendige diagnostische Maßnahmen, Konsiliaruntersuchungen o. Ä. initiiert und somit das bereits eingangs erwähnte Behandlungskonzept erstellt. Ein optimales Ergebnis bei Nervenrekonstruktionen wird nur mit entsprechender Ruhe und Sorgfalt bei Untersuchung und Indikationsstellung erreicht. Die Anatomie und ihre Kenntnis bei der klinischen Untersuchung sind dabei die wichtigsten Grundlagen.
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55
1537 55.3 · Weiterführende Literatur
Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität Margot Wüstner-Hofmann, Hans Assmus (Mit Beiträgen von Gregor Antoniadis, Albrecht Wilhelm, Christian Bischoff, Henrich Kele, Martin Bendszus, Mirko Pham)
56.1
Allgemeines
56.1.1 56.1.2 56.1.3 56.1.4 56.1.5 56.1.6 56.1.7 56.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie Epidemiologie – 1539 Ätiologie – 1539 Diagnostik – 1541 Klassifikation – 1548 Indikationen und Differenzialtherapie – 1548 Therapie – 1548 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1548
– 1538
56.2
Spezielle Techniken
56.2.1 56.2.2 56.2.3 56.2.4 56.2.5
Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) – 1548 Kompression des N. suprascapularis (Incisura-scapulae-Syndrom) Kompression des N. radialis – 1558 Kompression des N. medianus – 1581 Kompression des N. ulnaris – 1603
56.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
– 1538
– 1548
Weiterführende Literatur
– 1616
– 1617
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_23, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1556
56
1538
56.1
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
56.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Abschn. 8.1.1 Histopathologische Veränderungen
56
Gegenüber mechanischen Einwirkungen sind periphere Nerven erstaunlich widerstandsfähig. Dies liegt an dem mehrschichtigen Hüllgewebe, in welches die empfindlichen Nervenfasern eingebettet sind. Trotzdem kann durch starke mechanische Kräfte die Widerstandsfähigkeit des Hüllgewebes überschritten werden, sodass es mit oder auch ohne Schaden am Hüllgewebe zur Schädigung der Nervenfasern kommt. Nervenstamm bzw. Nervenfasern können durch traumatische Einwirkungen unmittelbar oder mittelbar geschädigt werden, wobei je nach Art, Dauer und Energie der Einwirkung der Schaden variiert. Eine unmittelbare traumatische Läsion der Nervenfaser im Sinne einer akuten Kontinuitätsunterbrechung oder Neurotmesis ist die glatte Durchschneidung. Stumpfe Traumen führen zu einer eher mittelbaren traumatischen Läsion der Nervenfaser durch Störungen der Durchblutung oder Veränderungen der Schrankenfunktion (Blut-Nerven-Schranke, perineurale Diffusionsbarriere). Nervenfasern reagieren auf Schädigungen im Prinzip gesetzmäßig und einförmig. Bleibt bei der Schädigung die Kontinuität der Axone erhalten, beobachtet man einen segmentalen Markscheidenzerfall im Bereich der Läsion mit oder ohne sekundäre axonale Veränderungen (Neurapraxie). Dies tritt besonders bei leichteren stumpfen Traumen oder chronischen Kompressionssyndromen auf.
Es kommt durch die Demyelinisierung zur Verzögerung der Leitungsgeschwindigkeit, gelegentlich, bei akuten Verletzungen auch zum Leitungsblock. Proximal und insbesondere distal der Läsion zeigen sich aber morphologisch und elektrophysiologisch Normalbefunde. Diese Läsionen heilen unter Remyelinisierung ab, wobei die neu gebildeten Internodien kürzer und dünner myelinisiert als zuvor sind. Wiederholte geringgradige Schädigungen, wie für das chronische Kompressionssyndrom typisch, führen zu wiederholten De- bzw. Remyelinisierungen, was sich histopathologisch in einem konzentrischen Aufbau von vermehrten Schwann-Zellen mit Verbreiterung des kollagenfaserreichen endoneuralen Interstitiums manifestiert. Hieraus resultiert eine der Zwiebelschale ähnliche Anordnung des Endoneuralraumes. Bei erfolgter Axondurchtrennung (Axonotmesis) zeigt sich gesetzmäßig die anterograde, sekundäre oder Waller-Degeneration der Nervenfaser proximal und distal der Läsionsstelle. Distal zeigt sich hier nach 25–45 Stunden eine Auflösung der Axone am Läsionsort, die nach distal verläuft. Die Degenerationsgeschwindigkeit ist zu der Dicke und der Internodallänge der betroffenen Nervenfaser umgekehrt proportional (46–250 mm/d). Neben der anterograd verlaufenden Waller-Degeneration beginnt auch eine retrograd gerichtete, die jedoch nur wenige Segmente der Nervenfaser betrifft. Diese Läsionen heilen letztlich durch Axonsprossung aus dem proximalen Stumpf aus, wobei entscheidend ist, dass die auswachsenden Axone den distalen Stumpf erreichen können. Beginnend wenige Tage nach der Verletzung zeigt sich typischerweise eine Regenerationsgeschwindigkeit von etwa 1–2 mm/d. Nach der vollständigen Regeneration ist der Achsenzylinder jedoch nur von
⊡ Tab. 56.1 Form der peripheren Nervenschädigung, Folgen und Komplikationen der Restitutio Form der Schädigung der Nervenfaser
Folgen und Komplikationen der Restitution
Veränderung der Markscheide
Remyelinisation beginnt nach 3 Wochen
1. Paranodale Demyelinisation
Interkalierte Segmente
2. Segmentale Demyelinisation a) einfach (»Neuropraxie«)
1. Verkürzung der Internodien nach Remyelinisation 2. Reduktion der Markscheidendicke
b) rezidivierend
1. 2. 3. 4.
Zwiebelschalendeformation »Hypertrophie« des Nervs Sekundäre axonale Degeneration Reaktive endoneurale Bindegewebsvermehrung
Axonale Veränderungen 1. Kompression
Distal: Atrophie Proximal: Auftreibung
2. Unterbrechung nur der Axone (»Axonotmesis«)
1. Waller-Degeneration des distalen Nervenabschnitts mit Ausbildung Bünger-Bänder (proliferierte Schwann-Zellen) 2. Folgen bei verhinderter oder frustaner Regeneration: a) Retrograde Atrophie mit Synapsenverlust am Motoneuron b) Retrograde Degeneration (Neuronenverlust) 3. Folgen bei optimal ausgerichteter Regeneration: a) Regeneration etwa 1 mm pro Tag b) Überschussbildung von Axonen c) Verkürzung der neu gebildetesn Internodien d) Reduktion der Markscheidendicke
3. Unterbrechung der Kontinuität des gesamten Nervenquerschnitts (»Neurotmesis«)
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Regeneration ungeordnet mit Neurombildung und Minifaszikeln Aberrierende Regeneration Fehlinnervation motorisch und sensorisch Kausalgien Phantomschmerz und -empfindungen Mitbewegung fehlinnervierter Muskeln
1539 56.1 · Allgemeines
neu gebildeten dünnen Markscheiden umhüllt, deren Segmentlänge deutlich verkürzt ist. Bei Kompressionssyndromen tritt eine vollständige Nervendurchtrennung (Neurotmesis), die in der Regel beim Menschen keine Regeneration, sondern einen dauerhaften Funktionsverlust unter Narbenneurombildung zeigt, nicht auf (⊡ Tab. 56.1). 56.1.2 Epidemiologie Die relevanten Daten sind für die einzelnen Kompressionssyndrome Abschn. 56.2 angegeben. 56.1.3 Ätiologie Bei einem Nervenkompressionssyndrom – auch Engpass-Syndrom genannt – handelt es sich um eine chronische Nervenläsion. Sie tritt an Stellen auf, an denen periphere Nerven anatomische Engen passieren, die von starren Strukturen begrenzt werden. Diese Engstellen können fibröse oder osteofibröse Kanäle sein, die Kompression entsteht an einem Muskeldurchtritt, einem scharfen oder beengenden Faszienrand oder auch sehr selten in Form einer Engstelle unter einem Blutgefäß. Zu der Druckeinwirkung kommt es bei den typischen Engpasssyndromen durch das Missverhältnis zwischen dem Volumen des Nervs und der anatomischen Struktur, die er passiert. Ein typisches Tunnelsyndrom an der oberen Extremität ist das Karpaltunnelsyndorm (KTS) in Form einer Einengung in einem osteofibrösen Kanal. Das Supinatorsyndrom, das Pronator-teresSyndrom und auch das N.-inteosseus-anterior-Syndrom weisen hingegen eine Kompression unter einer Sehnenarkade auf. Neben der Kompression des Nervs aufgrund von anatomischen Gegebenheiten kann eine Läsion durch eine äußere Druck- und Gewalteinwirkung auftreten. Es existieren Mischformen aus diesen beiden Ursachen. Bei Kompressionssyndromen wie dem Kubitaltunnelsyndroms (KUTS) begünstigt die exponierte Lage des N. ulnaris am Ellenbogen neben dem eigentlichen Tunnel eine externe Druckschädigung. Auch Zug- und Dehnungsbeanspruchung des Nervs in Gelenknähe führt zu einer zusätzlichen Irritation. Wiederum beim Kubitaltunnelsyndrom spielt typischerweise diese Dynamik im Bewegungsablauf eine Rolle; durch Beugung im Ellenbogengelenk verstärkt oder manifestiert sich die Kompression. In Studien konnte festgestellt werden, dass bei Patienten mit einem Karpaltunnelsyndrom der Gewebedruck innerhalb des Tunnels bereits in Neutralstellung des Gelenks mit etwa 30 mmHg erheblich erhöht ist im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen mit nur 2,5 mmHg. Der Druck steigt dann deutlich bei Streck- und Beugebewegungen des Handgelenks bis auf etwa 100 mmHg an. Bei diesem Druck kommt es zu einer Okklusion der intraneuralen Blutgefäße. Raumfordernde Prozesse in unmittelbarer Nervennähe führen zu einer Verdrängung des Nervs und nicht zwangsläufig zu einer Kompression. Liegt jedoch eine anatomische Engstelle wie ein osteofibröser Kanal oder eine beengende Faszienloge in der Nähe, kann es bei fehlender Ausweichmöglichkeit zu einem Kompressionsschaden kommen. Eine weitere äußere Kompressionsursache findet sich selten in Form von einschnürenden peripheren Gefäßen, eine innere nach Torsion von Faszikeln bei der oligofaszikulären Kompression.
Die einzelnen Faktoren, die eine Kompressionsneuropathie bewirken sind somit zumeist komplex. Bei der chronischen Kompression wird die Nervenfaser nicht nur unmittelbar durch mechanischen Druck, sondern auch durch eine daraus entstandene Durchblutungsstörung geschädigt. Vereinfacht dargestellt kommt es zu einer Entzündungsreaktion mit erhöhter Gefäßdurchlässigkeit. Der zunehmende Außendruck führt über den Venendruck zu einer venösen Stauung, die zunächst eine funktionelle und bei Persistenz auch eine strukturelle Veränderung an der Nervenfaser bis hin zu einer axonalen Degeneration verursacht (⊡ Abb. 56.1). Bei andauernder Kompression mit Demyelinisierung des Nervs tritt eine Einwanderung von Fibroblasten ein, die zu einer Fibrosierung im Epineurium und später auch im Endoneurium führt. Es folgt der Untergang von Axonen mit Waller-Degeneration ( Abschn. 56.1.1). Akute und chronische biomechanische Vorgänge mit De- und Regeneration wechseln sich bei der Kompressionsneuropathie ab und finden gleichzeitig statt. Proximal der Kompression findet sich makroskopisch häufig ein sog. Pseudoneurom. Diese vermehrte Schwellung vor der Engstelle ist auf einen Stau des axonalen Transports sowie eine entzündliche und ödematöse Begleitreaktion zurückzuführen. Die Effekte der Kompression auf das intraneurale Gewebe sind in ⊡ Abb. 56.2 dargestellt. Periphere Nerven mit großen Faszikeln und geringem Epineuralgewebe sind anfälliger gegen Druckschädigungen als Nerven mit vielen kleineren Faszikeln. Dies ist auf fehlende Ausweichmöglichkeiten zurückzuführen. Bei der Kompression wird der Druck hier direkt auf Gefäße und Faszikel ausgeübt, bei Nerven mit vielen dünnen Faszikeln und viel epineuralem Gewebe ändert sich hingegen nur die Lage der Faszikel zueinander (⊡ Abb. 56.3). Die Lageveränderungen eines peripheren Nervens sind abhängig von einem komplexen System zahlreicher extra und intraneuronaler Gleitzonen (⊡ Abb. 56.4). Bei chronischer Kompression kommt es durch vermehrte extra- und intraneurale Fibrosierung zu einer Verminderung der äußeren und inneren Gleitfähigkeit des peripheren Nervens und somit zu einer höheren Anfälligkeit gegen Druckläsionen aufgrund der eingeschränkten Kompensationsmechanismen.
Pext
Pven
Pcap Pend
Part
⊡ Abb. 56.1 Pathogenetisches Modell der Kompressionswirkung am peripheren Nerv nach Sunderland. Steigender Außendruck (Pext) über den Venendruck (Pven) führt zu einer venösen Stauung, die funktionelle und schließlich strukturelle Veränderungen im Bereich der Druckbelastung bis hin zur axonalen Degeneration zur Folge haben kann. (Aus Berger u. Hierner 2009)
56
1540
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Andere pathogenetische Faktoren, die eine Nervenkompression begünstigen, sind ödematöse Veränderungen der bindegewebigen Umgebung des Nervs. Es kann sich hierbei um entzündliche, hormonelle, metabolische oder auch traumatische Ursachen handeln. Die Einlagerung von Substanzen wie bei der Mucopolysac-
akute Effekte
chronische Effekte Kompression
vermehrte vaskuläre Permeabilität Nervenfaserdeformation lokale Ischämie
Fibroblasteninvasion
Ödem
56
Narbenbildung
charidose oder der Amyloidose kann wie z. B. im Karpaltunnel zu einer Raumbeengung führen. Bei Diabetikern scheint eine Neigung zu Druckschädigungen vorzuliegen. Der axonale Transport unter Druckbelastung ist hier verstärkt beeinträchtigt. Hinzu kommt bei der Polyneuropathie eine bereits im subklinischen Stadium vorliegende generalisierte Erhöhung des intraneuralen Drucks. Die Kompressionssyndrome kommen vorwiegend als chronische Läsionen vor. Die daraus resultierende funktionelle Störung hängt von Ausmaß und Dauer der Einengung ab. Sie kann von leichten Parästhesien über eine geringe motorische Schwäche bis hin zu einer kompletten sensomotorischen Lähmung reichen. Faktoren wie Stoffwechselstörungen oder toxischer Art begünstigen das Auftreten von Kompressionssyndromen. Immer wieder liegt bei Patienten neben einem peripheren Kompressionssyndrom gleichzeitig eine radikuläre Läsion vor (»Double-CrushSyndrom«).
ungleiches Gleiten chronische Gewebsirritation
vermehrter EFP (endoneuraler Flüssigkeitsdruck)
Veränderungen des Mikromilieus
Nervenfaserdysfunktion
Nervenfaserdeformation/ degeneration
⊡ Abb. 56.2 Effekte der Kompression auf das intraneurale Gewebe nach Lundborg
0
1
⊡ Abb. 56.3 Pathogenetisches Modell der Kompressionswirkung an peripheren Nerven unterschiedlicher Struktur. Bei Kompression wird in Nerven mit vielen dünnen Faszikeln und viel epineuralem Gewebe im Wesentlichen nur die Lage der Faszikel zueinander verändert. Bei Nerven mit wenig Epineuralgewebe und großen Faszikeln werden die Faszikel und die Gefäße deutlich komprimiert. (Aus Berger u. Hierner 2009)
2
⊡ Abb. 56.4 Gleitzonen des peripheren Nervs nach Lundborg
1541 56.1 · Allgemeines
56.1.4 Diagnostik
Hans Assmus, Christian Bischoff, Henrich Kele, Martin Bendszus, Mirko Pham Goldstandard der Diagnostik peripherer Nervenläsionen und unerlässlich für eine klare Indikationsstellung zur operativen Behandlung (nicht nur) der Nervenkompressionssyndrome sind die klinische und elektrophysiologische Untersuchung. Beide Untersuchungen müssen jedoch mit der erforderlichen Sorgfalt und Kritik vorgenommen und interpretiert werden. Leider kommt es gerade bei der präoperativen Diagnostik von Nervenkompressionssyndromen öfter vor, dass nicht verwertbare oder sogar falsche oder falsch interpretierte neurophysiologische Daten geliefert werden, sodass sich der Operateur keineswegs blind hierauf verlassen darf. Durch laufende technische Verbesserungen, insbesondere einer wesentlich höheren Auflösung, gewinnen die bildgebenden Verfahren zunehmend an Bedeutung. Sie sind eine wertvolle Ergänzung der Elektrophysiologie, insbesondere dann, wenn es um Fragestellungen geht, die die Morphologie betreffen. Jedoch ist auch hier vor einer unkritischen Anwendung zu warnen.
Klinische Untersuchung Hans Assmus Anamneseerhebung und klinische Untersuchung sind nach wie vor nicht durch technische Untersuchungen zu ersetzen. Die Beschwerdeschilderung des Patienten und seine genaue klinische Untersuchung bilden die Grundlage jeder Diagnose. Die Anamnese kann bereits wichtige diagnostische Hinweise auf das Vorliegen einer Nervenstörung geben. Gefühlsstörungen, von dem Patienten als »Taubheit« oder »Pelzigkeit« bezeichnet oder die Angabe, keine Handarbeiten mehr verrichten können, weil ihnen das Einfädeln einer Nadel unmöglich sei, sind verlässliche Hinweise auf eine neurogene Läsion, hier des N. medianus. Atrophien und Paresen entwickeln sich bei Nervenkompressionssyndromen in der Regel schleichend und werden vom Patienten kaum bemerkt. Nur selten ist er in der Lage, den Beginn der Störung einigermaßen genau anzugeben, sodass man gelegentlich auf fremdanamnestische Angaben angewiesen ist. Die klinische Untersuchung kann oft schon verlässliche Hinweise zur die Höhe einer Läsion zu geben. Fehlen z. B. bei N.-radialis- und N.-ulnaris-Läsionen sensible Störungen, kann dies auf eine Kompression des motorischen N. interosseus posterior unter der FrohseArkade oder beim N. ulnaris auf eine Kompression des ebenfalls motorischen Ramus profundus im Bereich der Handwurzel hindeuten. Die klinische Untersuchung stellt in jedem Fall bereits die Weichen für die anschließende elektrophysiologische und ggf. auch bildgebende Diagnostik, deren Ergebnisse immer in den klinischen Befund integriert werden und mit diesem stimmig sein müssen. Die klinisch-neurologische Untersuchung beschränkt sich bei den Kompressionssyndromen im Wesentlichen auf die Beurteilung der Sensibilität und Motorik. Vegetativ-trophische Störungen sind weniger bedeutsam. Es geht zunächst darum, den komprimierten oder geschädigten Nerv zu identifizieren und die Höhe der Läsion zu bestimmen. Gleichzeitig muss eine systematische Störung (z. B. eine Polyneuropathie) ausgeschlossen und auch auf eine mögliche Zweitläsion z. B. ein sog. Double-Crush-Syndrom mit einer gleichzeitigen radikulären Läsion geachtet werden. Die neurologische Untersuchung beinhaltet auch die Prüfung der Muskeldehnungsreflexe, die z. B. bei der Abgrenzung zentraler und spinaler bzw. radikulärer Störungen eine wichtige Rolle spielen. Im Rahmen der Differenzial-
diagnose müssen auch Sehnenrupturen, arthrogene Einschränkungen und funktionelle Lähmungsbilder bedacht werden.
Motorik Die wichtigsten Kennmuskeln der Nerven sollten jeweils einzeln geprüft und ihr Kraftgrad festgelegt werden. Die Kraftgrade werden (nach den Vorgaben des Medical Research Council) in 5 Stadien (ggf. mit Unterstadien)eingeteilt ( Kap. 8): ▬ MO – keine Kontraktion, ▬ M1 – fühlbare Kontraktion, ▬ M2 – beginnende aktive Bewegung, ▬ M3 – Bewegung gegen Schwerkraft, ▬ M4 – Bewegung gegen Widerstand, ▬ M 5 – normale Kraft. Im Bereich der Hand, z. B. bei dem Daumen-Zeigefinger-Spitzgriff, liegen meist komplexe Bewegungsabläufe vor, an denen mehrere Muskeln beteiligt sind. So sind bei der Oppositionsbewegung des Daumens keinesfalls nur der M. opponens pollicis beteiligt, sondern darüber hinaus intrinsische Muskeln der Hand. Zur Beurteilung der Gebrauchsfähigkeit der Hand werden Kraftmesser (Vigorimeter) eingesetzt, die bestimmte Funktionen wie den Grobriff der Hand oder den Schlüsselgriff (oder Spitzgriff) quantifizieren können – immer unter der Voraussetzung einer optimalen Mitarbeit des Patienten ( Kap. 2).
Sensibilität Auch die klinische Sensibilitätsprüfung stellt besondere Anforderungen an Aufmerksamkeit und Kooperation des Patienten. Um zufällige Angaben auszuschließen, sollte die Prüfung mehrfach wiederholt werden. Zunächst geht es darum, festzustellen, ob überhaupt eine sensible Störung vorliegt. Wenn dies der Fall ist, sollte das Gebiet abgegrenzt bzw. einem Innervationsgebiet eines Nerven zugeordnet werden. Die Berührungsempfindung kann am einfachsten durch Bestreichen mit der eigenen Fingerkuppe oder einem Wattebausch getestet werden. Bei dieser Reizschwellenuntersuchung ist zu prüfen, ob ein Reiz überhaupt wahrgenommen wird. Ein Schmerzreiz kann mit einer Nadelspitze gesetzt werden, wobei abwechselnd die spitze und stumpfe Seite eingesetzt wird. Hiermit lässt sich am schnellsten das autonome Gebiet eines bestimmten Nervs abgrenzen, indem man von einem gesunden Hautareal beginnend sich langsam dem Gebiet der gestörten Sensibilität nähert. Bei der Sensibilitätsprüfung ist auch die Angabe einer veränderten Qualität von Bedeutung. Diese kann sich in einer Berührungsüberempfindlichkeit bzw. Hyperpathie, Dysästhesie oder Parästhesie ausdrücken. Die Prüfung der Thermästhesie ist bei Kompressionssyndromen weniger wichtig, ebenso die Prüfung der Tiefensensibilität bzw. des Vibrationsempfindens mittels einer Stimmgabel. Ein gestörtes Vibrationsempfinden ist jedoch bei differenzialdiagnostischen Fragestellungen von Bedeutung, z. B. bei der Abgrenzung einer Polyneuropathie oder von spinalen Prozessen. Zur Beurteilung des Grads der sensiblen Störung wird folgende Skala (ebenfalls nach dem Medical Research Council) verwendet ( Kap. 8): ▬ S0 – keine Sensibilität, ▬ S1 – Schmerzempfindung in der autonomen Zone, ▬ S2 – geringe Oberflächensensibilität, ▬ S2+ – zusätzlich persistierende Überempfindlichkeit, ▬ S3 – Berührungsempfindung und Tiefensensibilität ohne Überempfindlichkeit, ▬ S3+ – 2–Punkt-Diskrimination, ▬ S4 – normale Sensibilität.
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1542
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Eine gewisse Standardisierung der Sensibilitätsprüfung wurde mit technischen Hilfsmitteln wie dem Monofilament- bzw. SemmesWeinstein-Test und der 2-Punkte-Diskrimination (2PD) versucht. Die statische 2PD prüft den Abstand der beiden Punkte, die noch als zwei Berührungsreize wahrgenommen werden. Man kann einen Tastzirkel verwenden oder eine aufgebogene Büroklammer. Da ein zu starker Auflagedruck das Ergebnis verfälscht, wird eine »Diskriminationsscheibe« (⊡ Abb. 56.5) verwendet, die einen gleichmäßigen Auflagedruck erlaubt. Der Normalwert liegt an den Kuppen des Daumens und Zeigefingers bei 2–4 mm und an den übrigen Fingern bei 3–5 mm. Die dynamische Zwei-Punkte-Diskrimination ist im Fühstadium der Reinnervation ein noch empfindlicherer Indikator als die statische. Der Normwert liegt bei 2 mm. Die taktile Fähigkeit der Hand wird auch durch den Münztest nach Seddon untersucht, wobei der Patient festzustellen hat, ob der Münzrand glatt oder geriffelt ist. Der Auflesetest nach Moberg hat bei Kompressionssyndromen weniger Bedeutung und wird vorwiegend bei gutachtlichen Fragestellungen nach Nervenverletzungen oder Nervenwiederherstellung verwendet. Das gleiche gilt für den Buchstabenerkennungstest. Weitere Tests wurden ausschließlich für das KTS entwickelt ( Abschn. 56.2.4). Alle klinischen Tests sind nur semi-quantitativ, d. h. mehr oder weniger subjektiv, da der Untersucher auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen ist, und bringen entsprechend viele Fehlermöglichkeiten und Ungenauigkeiten mit sich. Um diese zu umgehen, hat man nach objektiven Sensibilitätstests gesucht. Der Ninhydrintest war ein früher viel verwendeter Test, er prüft jedoch nur die Schweißsekretion und sagt letztlich nichts über die sensible Funktion aus. In schweren Fällen einer Nervenschädigung besteht eine gewisse Korrelation zwischen Nervenschädigung und verminderter Schweißsekretion, in leichten Fällen einer sensiblen Störung versagt der Test jedoch. Da er außerdem umständlich durchzuführen ist, wird er nur noch selten angewandt. Ein ebenfalls objektiver, jedoch indirekter Test ist der Hautfaltentest. Bei einem Bad in kaltem Wasser entwickelt die normal innervierte Haut Runzeln und Falten, die bei gestörter Innervation fehlen. Im Übrigen gilt auch bei der Sensibilitätsprüfung, dass im Rahmen der Diagnostik der Kompressionssyndrome einfache Kriterien wie Schmerz- und Berührungswahrnehmung in der Regel ausreichen.
⊡ Abb. 56.5 Untersuchung der Zwei-Punkte-Diskriminationsfähigkeit (2PD) mit dem Greulich-Stern. Das Gewicht des Rädchens erlaubt einen definierten Auflagedruck. (Aus Assmus und Antoniadis 2008)
Trophik Durch Ausfall vegetativer Fasern im Rahmen von Nervläsionen kommt es auch zu trophischen Veränderungen der Haut, z. B. der Papillarleisten, der Schweißsekretion (Ninhydrintest) oder des Nagelbetts (Alföldi-Zeichen). Diese können auch bei fortgeschrittenen Fällen von Karpaltunnelsyndrom vorkommen, haben jedoch in der Diagnostik keine besondere Bedeutung, da sie erst bei vollständigem Funktionsausfall des N. medianus positiv werden.
Elektrophysiologische Untersuchungen Christian Bischoff In vielen Fällen sind die klinischen Befunde nicht eindeutig, sodass elektrophysiologische Zusatzuntersuchungen zwingend notwendig werden. Elektrophysiologische Untersuchungen ermöglichen bei einer Vielzahl von Nervenkompressionssyndromen besser als die alleinige klinische Untersuchung eine Objektivierung der Störung, erleichtern die lokalisatorische Zuordnung, z. B. einer Kompression des N. ulnaris in der Loge de Guyon oder am Ellbogen. Sie erlauben mitunter auch eine prognostische Einordnung, z. B. Leitungsblock versus axonale Schädigung, und gestatten die Objektivierung von Regenerationsvorgängen. Neben der elektrischen Neurografie (ENG) und der Elektromyografie (EMG) kommen gelegentlich auch die Magnetstimulation (MEP) und die Untersuchung der somatosensibel evozierten Potenziale (SEP) zum Einsatz. Die Anwendung aller elektrophysiologischen Techniken setzt neben guten anatomischen Kenntnissen des Untersuchers auch eine Expertise und ein Training unter Anleitung voraus, da anderenfalls die Zahl der falsch-positiven wie falsch-negativen Befunde und damit die Gefahr der Fehldiagnosen zunehmen. Mitunter ist es aufgrund der erhobenen Messwerte notwendig, die Untersuchungsstrategie während der Messungen zu ändern, d. h. auszuweiten oder das Vorgehen zu modifizieren und auch andere Verfahren einzusetzen. Vorsicht ist immer dann geboten, wenn Befunde erhoben werden, die nicht mit den klinischen Befunden übereinstimmen. Viele nicht zuzuordnende Befunde sind auf mess- bzw. untersuchungstechnische Probleme (falsche Ableit- oder Stimulationsorte, submaximale Stimulation, d. h. Verwendung zu niedriger Stimulationsintensitäten, Abschwächung der Stimulationsintensität durch lokale Schwellungen) zurückzuführen. Nicht jeder pathologische Wert hat auch einen Krankheitswert. So findet man des Öfteren bei der Bestimmung der distal motorischen Latenz des N. medianus einen pathologischen Wert, ohne dass der Patient über Beschwerden klagt. Sind Untersuchungsfehler, wie zu lange Distanz zwischen Stimulations- und Ableitort, zu niedrige Temperatur oder zu niedrige Stimulationsintensität, ausgeschlossen, handelt es sich dann um latente, d. h. klinisch nicht relevante Kompressionen. Diese gilt es dann zur Kenntnis zu nehmen, ohne therapeutische Konsequenzen daraus zu ziehen. Sind trotz eindeutiger anamnestischer Angaben und klinischer Befunde die neurophysiologischen Untersuchungen normal, können die Verdachtsdiagnose falsch gewesen oder die Untersuchung falsch durchgeführt worden sein oder die Veränderungen noch nicht lange genug bestanden haben, dass bereits Verschlechterungen der Nervenleitung eingetreten sind. Bei einem ausgeprägten KTS mit hochgradiger Thenaratrophie wird nicht selten ein falsch negativer Befund erhoben, da durch die hohe Stimulationsintensität gleichzeitig der N. ulnaris stimuliert wird und ein normales Muskelantwortpotenzial der vom N. ulnaris versorgten Thenarmuskeln abgeleitet wird.
1543 56.1 · Allgemeines
Ziel der elektrophysiologischen Untersuchungen ist nicht nur eine Sicherung der Diagnose, sondern auch ein Ausschluss begleitender oder differenzialdiagnostisch zu erwägender Störungen. Schwierig ist auch die Beurteilung postoperativer Ergebnisse. Nach erfolgreicher Therapie können die Messwerte weiterhin pathologisch verändert sein, da z. B. einen Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit infolge unvollständiger Remyelinisierung nicht komplett reversibel sein muss. > Bei divergenten klinischen und elektrophysiologischen Befunden muss zuerst ein Messfehler ausgeschlossen werden. Bei sorgfältig durchgeführter Untersuchung hat der klinische Befund Vorrang. Die Indikation zu einem operativen Eingriff erfolgt nur aufgrund der Symptomatik und der klinischen Befunde, nicht aufgrund von Messwerten.
Motorische Neurografie Ein motorischer oder gemischter Nerv wird an mehreren Stellen supramaximal gereizt und die Antwort mit Oberflächenelektroden vom entsprechenden Kennmuskel abgeleitet. Bei stark atrophierten Muskeln muss eine konzentrische Nadelelektrode verwendet werden. Beurteilt werden die distal motorische Latenz, die Amplituden der MAP und die NLG. Um die distal motorische Latenz mit Referenzwerten vergleichen zu können, soll die Distanz zwischen der Ableit- und der Stimulationselektrode konstant gehalten werden. Zur Berechnung der NLG wird die Entfernung zwischen den beiden Stimulationsorten (in Millimetern) durch die Latenzdifferenz der beiden Stimulationen (in Millisekunden) dividiert. Bei umschriebenen Nervenkompressionssyndromen, z. B. Kompression des N. ulnaris am Ellenbogen, wird die Messung fraktioniert durchgeführt, d. h. der Nerv an mehreren Stellen stimuliert, um
⊡ Abb. 56.6 Motorische Neurografie. a EMG-Ableitung aus der Medianusinnervierten Daumenballenmuskulatur (APB) bzw. der lnaris-innervierten Hypothenarmuskulatur (ADM), b verschiedene Innervationsgrade in der EMG: links Einzeloszillationen, Mitte Übergangskurve bei noch teilweise sichtbarer Grundlinie, rechts volles Interferenzmuster mit Verschmelzung der Einzelpotenziale, c Neurografie bei einem inkompletten Leitungsblock bei Stimulation proximal des Blocks: MSAP-Amplitude Die Sonografie stellt eine – im Vergleich zu der konkurrierenden MRT – kostengünstigere und schneller durchzuführende dynamische Methode dar. Ihr besonderer Vorteil ist, dass sie erlaubt, Nerven kontinuierlich in ihrem Verlauf innerhalb kurzer Zeit darzustellen. Darüber hinaus ist sie, auch am Krankenbett, in einem Untersuchungsgang mit der klinischen und elektrophysiologischen Untersuchung durchführbar. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass die Methode untersucherabhängig ist und eine entsprechende Ausbildung und Erfahrung voraussetzt.
Magnetresonanzneurografie Martin Bendszus, Mirko Pham
⊡ Abb. 56.9 Normaler N. medianus (dicker Pfeil) am Unterarm. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
Das Verfahren der Wahl in der Schnittbilddiagnostik von Nerv und Muskel ist die Magnetresonanztomografie (MRT), die bei Anwendung an peripheren Nerven als MR-Neurografie bezeichnet wird, weil sie sich durch spezifische Techniken von der üblichen MRT abhebt. Eine MR-Neurografie bei neuromuskulären Fragestellungen sollte definierte Sequenzen beinhalten. Zur Beurteilung der anatomischen Verhältnisse eignet sich besonders eine T1-w-Sequenz orthogonal zum betroffenen Nerv oder Muskel. Ergänzend können zusätzliche Schnittebenen zur Anwendung kommen wie z.B. eine T2-w-Sequenz mit Fettunterdrückung. Hierdurch können pathologische Signalveränderungen im T2-wBild im Nerv oder Muskel dem anatomischen Korrelat exakt zugeordnet werden. Ergänzend kann eine kontrastmittelverstärkte, fettgesättigte T1-w-Sequenz angewendet werden, was die Identifizierung von Blutgefäßen erleichtert. Dieses Sequenzprotokoll ermöglicht in den meisten Fällen eine Erfassung von pathologischen Veränderungen des Nervs. Längs des Nervs können schräge Schnittebenen zur Verdeutlichung der räumlichen Beziehung von Läsionen und dem Nervenverlauf beitragen. Die Identifizierung und anatomische Abgrenzbarkeit des Nervs und die Beurteilbarkeit eines veränderten T2-Signals als wichtigstes Kriterium ist jedoch erschwert. Denn es ist selten möglich – im Unterschied zur
1547 56.1 · Allgemeines
Sonografie – die Nerven im Längsverlauf in einer Schnittebene langstreckig zu erfassen. Die Untersuchungen sollten an einem MR-Gerät mit einer Feldstärke von mindestens 1 Tesla erfolgen. Neben MR-Gerät und Optimierung der MR-Sequenzen spielt auch die Auswahl der Spulen, die jeweils der zu untersuchenden Körperregion angepasst sei sollten, eine wichtige Rolle für die Bildqualität. Die wesentliche Signalveränderung bei Erkrankungen des Nervs und Muskels ist eine Signalanhebung auf T2-w-Bildern. Um diese zu erfassen, ist eine starke und homogene Fettunterdrückung sowie starke T2-Gewichtung der Sequenz unverzichtbar. Die Signalveränderungen sind zwar sensitiv, aber wenig spezifisch hinsichtlich der zugrunde liegende Erkrankung (z. B. Trauma, Entzündung). Durch höhere Feldstärken (≥3 Tesla) werden neben der morphologischen Bildgebung mit T1-w- und T2-w-Sequenzen zunehmend auch funktionelle Untersuchungen des peripheren Nervs möglich. Weitere zukunftsträchtige Entwicklungen sind spezifische MR-Kontrastmittel, die Auskunft über den Regenerationsverlauf geben, insbesondere die Möglichkeit eröffnen, die Nervenregeneration zu einem frühen Zeitpunkt zu erfassen. Im T1-w-Bild erscheinen periphere Nerven rund bis ovalär, sind isointens zum Muskelgewebe und durch eine faszikuläre Struktur gekennzeichnet. Typisch ist ein perineuraler Fettsaum, der im T1-w-Bild hell erscheint. Im T2-w-Bild ist der Nerv iso- bis leicht hyperintens zum Muskel (⊡ Abb. 56.10b). Zeichen einer Druckschädigung des Nervs an Prädilektionsstellen sind 1. Abflachung des Nervs, 2. Verlust der faszikulären Struktur, 3. fehlendes perineurales Fettgewebe und 4. ein hyperintenses Nervsignal auf T2-w-Sequenzen. Die Punkte 1-3 charakterisieren die Stelle der anatomischen Einengung des Nervs. Das hyperintense Nervsignal auf T2-w-Bildern kann fokal an der Kompressionsstelle oder ab der Kompressionsstelle entlang des gesamten Nervs bestehen. Eine umschriebene Signalanhebung spricht für eine fokale Demyelinisierung (Neurap-
⊡ Abb. 56.10 MR-Neurografie Kubitaltunnelsyndrom. Im linken Teil A der Abbildung zeigt der weiße Pfeil auf die typische intraneurale T2-whyperintense Nervenläsion wie sie bei Kompressionsneuropathien an der Belastungsstelle beobachtet wird. In diesem Fall ist gleichzeitig ein Musculus epitrochleoanconeus zu erkennen der das Auftreten eines Kubitaltunnelsyndroms begünstigt (*). Im rechten Teil B der Abbildung ist der N. ulnaris einer gesunden Kontrollperson an identischer Stelle abgebildet. Im Verhältnis zur umgebenden Muskulatur ist hier der Nerv normintens (weißer Pfeil in B).
raxie) ohne schweren axonalen Schaden (⊡ Abb. 56.10 links). Im Gegensatz hierzu führt eine axonale Schädigung (Axonotmesis oder Neurotmesis) zu einer Signalanhebung an der Kompressionsstelle sowie im gesamten distalen Nervenabschnitt. Bei der Neurotmesis lässt sich u. U. noch eine Kontinuitätsunterbrechung im Nerven in der MRT direkt visualisieren; diese kann jedoch auch intraneural, z. B. durch Narbengewebe bedingt sein und somit dem Nachweis in der MRT entgehen. Normales Muskelgewebe erscheint isointens zum sonstigen Weichteilgewebe auf T1-w- und T2-w-Sequenzen. Bei einer akuten Denervierung kommt es zu einer deutlichen Signalanhebung auf T2-w-Bildern. Diese kann bei einer kompletten Nervschädigung bereits innerhalb von wenigen Tagen auftreten. Man kann das Muster der Signalanhebung in einer Muskelgruppe (Kennmuskeln eines bestimmten Nervs) dazu benutzen, um auf die zugrunde liegende Nervenläsion zu schließen. Im chronischen Stadium (Monate bis Jahre) kommt es zur Atrophie von Muskelfasern mit Vakatfettersatz, welcher auf T1-w-Sequenzen hell erscheint. Die MRT kann in diesem Fall eine wertvolle Hilfe geben über das Ausmaß bzw. den Schweregrad der neurogen bedingten Muskelatrophie. Bei einer Druckläsion des Nervs kommt es zu verschiedenen Veränderungen von Morphologie (am besten auf T1-w-Sequenzen beurteilbar) und Signalverhalten des Nervs (am besten auf T2-w-Sequenzen erkennbar). Morphologisch imponiert ein Verlust der rundlich-ovalen, faszikulären Struktur des Nervs, der an der Kompressionsstelle abgeflacht und verquollen erscheint. Typisch ist weiterhin ein Verlust des perineuralen Fettgewebes. In manchen Fällen ist auch eine umschriebene Schwellung des Nervs zu beobachten, insbesondere prästenotisch (sog. Pseudoneurom). Die Signalveränderung im T2-w-Bild drückt sich durch eine Signalanhebung an der Kompressionsstelle aus. Im Falle einer schweren axonalen Läsion können auch die distalen Nervenabschnitte hiervon eine Signalanhebung zeigen. Eine spezifische Kontrastmittelaufnahme (z. B. Gd-DTPA) ist in der Regel nicht zu beobachten Die höchste Sensitivität für die Einzelkriterien zeigte sich für eine Signalanhebung im Nerven (91%), die höchste Spezifität für eine Signalanhebung im Muskel als Ausdruck für Denervierung (97%). Die MRT ist hochsensitiv bei einem Karpaltunnelsyndrom bei einer im Vergleich zu elektrodiagnostischen Studien geringer Spezifität. Daher kann die MRT eine wertvolle Entscheidungshilfe sein bei Patienten mit klinischem Karpaltunnelsyndrom ohne bzw. unklare elektrophysiologische Auffälligkeiten. Beim Kubitaltunnelsyndrom war am häufigsten eine umschriebene Signalanhebung des Nervs an der Kompressionsstelle zu beobachten, wohingegen morphologische Veränderungen seltener waren. Mittels MRT lässt sich auch die Stelle der Nervenkompression lokalisieren, nämlich retroepikondylär sowie im Kubitaltunnel. Neben der klassischen Ulnarisneuropathie am Ellenbogen kann die MRT zuverlässig anderweitige Kompressionssyndrome nach Trauma, durch Ganglien, aberrierende Muskeln oder sonstige Raumforderungen nachweisen. > Die bildgebenden Verfahren Sonografie und MRT können die klinische Untersuchung und Elektrophysiologie nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen, insbesondere, wenn es um den Nachweis morphologischer Veränderungen am Nerv selbst, aber auch in dessen Umgebung geht. Bei Kompressionssyndromen kann die Bildgebung zuverlässig an den typischen Engstellen Veränderungen von Morphologie und Signalverhalten des Nervs nachweisen
56
1548
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
56.1.5 Klassifikation Die relevanten Klassifikationen für die einzelnen Kompressionssyndrome werden spezifisch im Abschn. 56.2 angegeben. 56.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
56
dikationsstellung, und auch die korrekte, d. h. rechzeitige und fachgerechte Durchführung des Eingriffs. 56.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter
Für Diagnostik und Therapie von Läsionen der peripheren Nerven (Plexus brachialis und dessen terminale Endäste) verwenden wir ein sog. »integratives Therapiekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden Nervenrekonstruktion sekundäre Muskelersatzoperationen und (tertiäre) adjuvante Eingriffe umfasst ( Abschn. 8.1.6).
Nervenkompressionssyndrome treten selten auch im Wachstumsalter auf. Ursachen hierfür sind u. a. Stoffwechselstörungen wie z. B. die Mucopolysaccharidose oder eine angeborene Fehlbildung wie die Lipofibromatose, die bei Kindern – in der Regel jedoch erst im Erwachsenenalter – zu einem Karpaltunnelsyndom führen können ( Abschn. 56.2.5). Speziell bei der suprakondylären Humerusfraktur ist in der Folge auf eine durch äußere Kompression (Frakturhämatom, Kallusetc.) bedingte Kompression des N. ulnaris zu achten.
56.1.7 Therapie
56.2
Die Therapie des Nervenkompressionssyndroms ist abhängig von der Ursache und Dauer der vorliegenden Läsion, der klinischen Symptomatik und den elektrophysiologischen Befunden. Prinzipiell stehen die konservative und operative Therapie zu Verfügung, es kommt jedoch auch ein abwartendes Verhalten in Frage. Grundprinzip der konservativen Therapie ist die Vermeidung der Exposition gegenüber Druckschäden sowie einer vermehrten mechanischen Reizung in Gelenknähe durch Ruhigstellung auf einer adäquaten Schiene (KTS und KUTS), vor allem nachts. Injektionstherapien mit Kortikoid müssen sehr differenziert und selektiv unter Beachtung der korrekten Injektionstechnik eingesetzt werden. Die chirurgische Therapie ist dann indiziert, wenn unter konservativer Behandlung keine Erfolge zu sehen sind sowie motorische und/oder sensible Ausfallserscheinungen vorliegen. Hauptziele der chirurgischen Therapie von Kompressionssyndromen sind: 1. Beseitigung der externen Kompression durch Spaltung komprimierender Strukturen bzw. Eröffnung eines Tunnels, 2. wenn notwendig und beim Primäreingriff selten erforderlich, Beseitigung der internen Kompression des peripheren Nervens durch mikrochirurgische Neurolyse und 3. Prävention von erneuten Beschwerden mithilfe von adjuvanten Eingriffen. Adjuvante Eingriffe nach Dekompression sind Nerventranspositionen (z. B. Ventralverlagerung des N. ulnaris bei schwerer Kompression im Bereich des Sulcus N. ulnaris) oder Deckung des Neurolysebereiches mithilfe von Lappenplastiken beim Rezidiveingriff. Die intraoperative Applikation von Substanzen, die die postoperative Bindegewebebildung hemmen sollen, ist beschrieben, hat sich in unseren Händen jedoch nicht bewährt. Die Ziele der adjuvanten Eingriffe können wie folgt angegeben werden: a) Reduktion der erneuten Bindegewebsbildung im Rahmen der Wundheilung auf ein Minimum, b) Verbesserung der Durchblutung des umliegenden Gewebes im Bereich der Neurolyse, c) mechanische Abpolsterung im Bereich der Neurolyse zur Verringerung von Neurombeschwerden, 4. Therapie der irreparablen Nervenschädigungen unter Anwendung des »integrativen Therapiekonzepts«.
56.2.1 Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS)
Die Resultate der operativen Behandlung eines gesicherten Kompressionssyndroms sind in der Regel gut und führen zu einer dauerhaften Heilung. Voraussetzung ist allerdings die richtige In-
Spezielle Techniken
Gregor Antoniadis, Ralph König Das Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS) ist ein unscharf definierter Beschwerdekomplex, der durch eine Kompression des sog. neurovaskulären Bündels, d.H. des Plexus brachialis und/oder der Arteria und Vena subclavia im Bereich der oberen Thoraxapertur erklärt wird. Das Syndrom wird nach wie vor kontrovers beurteilt und gilt als eines der umstrittensten Kompressionssyndrome. Abhängig von der Kompressionsursache wurden verschiedene Begriffe gebraucht: Halsrippensyndrom, Skalenus-anterior-Syndrom oder kostoklavikuläres Kompressionssyndrom. In der S2-Leitlinie der deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie wird eine Definition des Krankheitsbildes vermieden und durch folgende Beschreibung ersetzt: Die Bezeichnung Thoracicoutlet-Syndrom (TOS) wird undifferenziert für alle Beschwerdebilder zusammengefasst, bei denen im oberen Brustkorb (Thorax) Nerven oder Blutgefäße (Arterien und/oder Venen) durch Druck geschädigt bzw. beeinträchtigt werden.
Chirurgisch relevante Anatomie Die obere Thoraxapertur (»thoracic outlet«) ist anatomisch definiert als der Bereich, der von unten durch die Lungenspitze, von dorsal durch die Wirbelsäule und seitlich durch die 1. Rippe begrenzt ist. Während des Verlaufes des neurovaskulären Bündels vom Hals zur oberen Extremität, bestehen verschiedene Möglichkeiten einer statischen und/oder dynamischen Engstelle (⊡ Abb. 56.11): Möglichkeiten der Kompression des Gefäß-NervenBündels im Verlauf vom Hals zur oberen Extremität
▬ Supraklavikuläre Kompression – Durch Lücke des Halteapparats der Pleura (obere Thoraxappertur) – Skalenuslücke – Halsrippe und/oder ligamentäre Strukturen ▬ Retroklavikuläre Kompression zwischen Klavikula und 1. Rippe (Kostoklavikularsyndrom, Rucksacklähmung) ▬ Infraklavikuläre Kompression – Klavipektorale Region – Region dorsal des M. pectoralis minor – Region ventral des Humeruskopfes
1549 56.2 · Spezielle Techniken
M. scalenus medius M. scalenus anterior
Processus coracoideus
Plexus brachialis
1
2 3
A. subclavia V. subclavia
M. pectoralis minor
⊡ Abb. 56.11 Möglichkeiten einer statischen und/oder dynamischen Engstelle während des Verlaufs des neurovaskulären Bündels vom Hals zur oberen Extremität. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Paravertebral können Bänder des »Halteapparates der Pleurakuppel« für eine dynamische und/oder statische Kompression des Gefäß-Nerven-Stanges führen. Das Lig. pleurocostale verläuft vom tuberculum anterior des Proc. transversalis dorsal der A. subclavia zur Pleurakuppel. Das Lig. pleurovertebrale hat seinen Ursprung an der Ventralfläche des HWK 7 und/oder BWK 1 und inseriert ventral der A. subclavia an der Pleurakuppel (⊡ Abb. 56.12). Im Bereich der sog. Skalenuslücke können Muskelhypertrophien der Mm. scaleni anterior oder medius und/oder atypische Muskel für eine dynamische und/oder statische Kompression des Plexus brachialis und der A. subclavia sorgen. Die V. subclavia verläuft vor dem Ansatz des M. scalenus anterior über die 1. Rippe hinweg (⊡ Abb. 56.13a). Der M. scalenus anterior entspringt vom Tuberculum anterius des 3.–6. Halswirbelquerfortsatzes und zieht zum Tuberculum mi. scaleni anterioris an der Außenseite der 1. Rippe. Der M. scalenus medius, der kräftigst der Treppenmuskeln, hat seinen Ursprung in der zwischen vorderem und hinteren Höcker gelegenen Rinne am Proc. transversus des 3.–7. Halswirbels und erhält oft akztessorische Ursprungszacken von Atlas und Axis. Der Muskel inseriert dorsolateral vom Sulcus a. subclaviae an der 1. Rippe, gelegentlich auch mit einigen Faszienbündeln an der Außenseite der 2. Rippe. Zahlreiche anatomische Varianten wurden im Bereich der Skalenuslücke beschrieben. Sehr häufig zieht ein kleiner mitunter kräftiger M. scalenus minimus vom Querfortsatz des 7. Halswirbels an den Innenrand der 1. Rippe, manchmal auch an die Pleurakuppe (⊡ Abb. 56.13b). Sein Ursprung kann bis zum Querfortsatz des
b
a
c
⊡ Abb. 56.12 Bänder des Halteapparates der Pleurakuppel. a Topografie der Pleurakuppel, b Lig. pleurocostale, c Lig. Pleurovertebrale. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
56
1550
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
b
56
⊡ Abb. 56.13 Skalenuslücke. a Topografie der Skalenuslücke, b M. scalenus minimus, c M. scalenus minimus. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
a
⊡ Abb. 56.14a–e Halsrippen. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
c
a
5. Halswirbels ausgedehnt sein (⊡ Abb. 56.13c). Fehlt der M. scalenus minimus, so zieht statt seiner ein fibröser Streifen, das Lig. pleurocostale vom Proc. costotransversarius des 7. Halswirbels oder auch vom Hals der 1. Rippe zur Pleura. Muskel bzw. Band halten die Pleurakuppe in ihrer Lage (⊡ Abb. 56.13c). Die häufigste Ursache einer Kompression des Plexus brachialis ist eine Halsrippe bzw. ein atypisch langer Querfortsatz des 7. Halswirbelkörpers mit zur 1. Rippe ziehender fibröser Struktur (⊡ Abb. 56.14). Der kostoklavikuläre Raum erstreckt sich zwischen der Vorderfläche der 1. Rippe und der Rückfläche der Klavikula(⊡ Abb. 56.15). Das Maß der Engstelle wird definiert durch das Volumen des M. subclavius (»Polstermuskel«) und der Position des Arms. Mit zunehmender Elevation des Arms kommt es zu einer zunehmenden Einengung. Den gleichen Effekt hat eine Schwächung der Schulterhebermuskeln (anatomische Erklärung für das primäre Auftrainieren der Schulterhebermuskeln). Der klavipektorale Raum erstreckt sich zwischen dem Manubrium sterni und dem Oberrand des M. pectoralis minor. Das Lig. coracoclaviculare kann verbreitert sein und im gesamten Bereich der Klavikula bis hin zum Manubrium sterni verlaufen (⊡ Abb. 56.15). Durch eine Anspannung kann hier vor allem eine Kompression der V. subclavia erfolgen.
b
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Im retropektoralem Raum kann es durch Anspannung des M. pectoralis minor bei Elevation des Arms zu einer Kompression des Gefäß-Nerven-Bündels kommen (⊡ Abb. 56.15). Im prähumeralen Raum kommt es bei Abduktion und Retroversion des Arms zu einer Annäherung zwischen dem Humeruskopf und dem Gefäß-Nerven-bündel. Ist darüber hinaus noch ein akzessorischer M. axillaris (Langer-Muskel) vorhanden, kommt es zu einer Kompression des Gefäß-Nerven-Bündels zwischen dem M. pectoralis major und dem M. latissimus dorsi (⊡ Abb. 56.16).
Epidemiologie Betroffen sind überwiegend 20- bis 50-jährige, leptosome Patientinnen mit asthenischer oder muskulöse Patienten mit athletischer Konstitution. Der Altersgipfel liegt zwischen 30 und 40 Jahren mit einer deutlichen Bevorzugung des weiblichen Geschlechts. Insgesamt ist das Krankheitsbild jedoch selten. Die Angaben über die Prävalenz sind allerdings unsicher und schwanken zwischen 0,1‰ und 1%. Bei Patienten im Alter unter 40 Jahren wird das TOS als die häufigste Ursache eines akuten arteriellen Gefäßverschlusses angegeben. Eine wesentliche Ursache dafür ist eine oft jahrelang verzögerte und verkannte Diagnosestellung. Die Prävalenz einer Halsrippe wird mit 0,5–1,0% angegeben. Eine klinische Symptomatik entsteht nur in 5–10%.
1551 56.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 56.15 Topografie des kostoklavikulären, klavipektoralen und retropektoralen Raumes. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
Ätiologie Die häufigsten Ursachen eines TOS sind: 1. Anatomische Fehlbildungen im Bereich der knöchernen Strukturen (Halsrippen) sowie fibromuskuläre Bandanomalien an der oberen Thoraxapertur (Lig. transversocostale, Lig. pleurokostale) zwischen Querfortsatz des 7. HWK und der 1. Rippe, ein Sehnenbogen zwischen M. scalenus anterior und medius und ein M. scalenus minimus, 2. Traumen im Schulter- und Halsbereich (Schleuder, Schlagund Zerrungstraumen)3. Haltungsanomalien (asthenischer oder leptosomer weibliche Phänotyp mit schlaffer Körperhaltung mit nach vorne hängenden Schultern, bei den Männern eher muskulöse aktive Sportler). Charakteristisch ist, dass die Beschwerden im 3. Lebensjahrzehnt, d. h. zum Zeitpunkt der physiologischen Senkung des Schultergürtels, auftreten.
Diagnostik
⊡ Abb. 56.16 Muskulärer Latissimusachselbogen mit Einstrahlung in die Fascia axillaris. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
Der Anamnese kommt eine besondere Bedeutung zu. Die Patienten berichten anfänglich meist über Reizerscheinungen in Form von Parästhesien oder Schmerzen vorwiegend im Dermatom Th1, später auch C8. Überkopfarbeiten oder das Tragen schwerer Lasten am herabhängenden Arm können die Symptome auslösen oder verstärken. In späteren Stadien kommt es zu Paresen und Atro-
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56
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
phien der kleinen Handmuskulatur, vorzugsweise des M. abductor pollicis brevis, wobei die Patienten über eine verminderte Feingeschicklichkeit der Hand klagen. Verschiedene Provokationstests, u. a. der Adson-Test, der Traktionstest oder der Roos-Test, sind für das TOS beschrieben worden. Die Wertigkeit dieser Provokationstest ist umstritten. Der verlässlichste Test stellt der sog. Roos- oder AER-Test (Abduktion und externe Rotation) dar. Hierbei werden beide Arme rechtwinklig abduziert und im Ellenbogengelenk rechtwinklig gebeugt. Die Handflächen werden nach außen rotiert. In dieser Position muss der Patient über 3 Minuten Faustschlussbewegungen ausführen. Lassen sich durch diesen Test die typischen Beschwerden auslösen, wird der Test als positiv angesehen (⊡ Abb. 56.17). Auch ein positives HoffmannTinel-Zeichen supraklavikulär, d. h. über der Kompressionsstelle des Truncus inferior, kann für die Diagnosesicherung hilfreich sein. Bei all diesen Test werden mechanisch die anatomischen Engpässe im Schulterbereich, insbesondere der Raum zwischen 1. Rippe und Klavikula zusätzlich eingeengt. Es zeigt sich jedoch, dass bei vielen Gesunden unter dieser Provokation ebenfalls der Radialispuls verschwindet und, dass bei Patienten mit TOS diese Provokationstests auf der asymptomatischen Körperseite ebenfalls positiv sind. Insofern sind diese Testebezüglich der diagnostischen Wertigkeit sehr zurückhaltend zu beurteilen. Selbiges gilt für in Provokationstests gefundene pathologische dopplersonografische oder angiografische Befunde. Klinisch letztlich am wichtigsten, jedoch in keiner Weise
⊡ Abb. 56.17 Provokationstests. (Aus Heberer et al. 1986)
beweisend, sind die durch Längszug am Arm ausgelösten Schmerzen und Missempfindungen an der Ulnarseite von Hand und Unterarm. Elektrophysiologische Untersuchungen erlauben den Ausschluss eines peripheren Nervenkompressionssyndroms (Karpaltunneloder Kubitaltunnelsyndrom). Mit der Elektromyografie lässt sich eine Denervationsschädigung subklinisch betroffener Muskeln nachweisen und die Diagnose sichern. Die motorischen Leitgeschwindigkeiten der Nn. medianus und ulnaris im Bereich des Unterarms sind meist normal bzw. grenzwertig. Lediglich die Amplitude der evozierten Muskelaktionspotenziale aus dem M. abductor pollicis brevis (Stimulation supraklavikulär) kann evtl. bei Vergleich mit der Gegenseite erniedrigt sein. Die Amplitude sensibler Nervenaktionspotenziale des N. ulnaris ist in Abhängigkeit vom Ausmaß der Degeneration sensibler Axone erniedrigt bzw. mit Oberflächenelektroden nicht mehr registrierbar. Die Wertigkeit der Untersuchung somatosensorisch evozierter Potenziale (SEP) nach Medianus- und Ulnarisstimulation wird kontrovers beurteilt. Die Messung der sensiblen NLG des N. cutaneus antebrachii medialis trägt ebenfalls zur Diagnosesicherung bei. Intraoperative Untersuchungen zeigten ein reduzierte Amplitude des NAP und reduzierte NLG, wenn C8- und Th1-Wurzeln stimuliert und vom unteren Plexus abgeleitet wurde, seltener nach Stimulation von C7, während die oberen Plexusanteile C5 und C6 nicht beteiligt waren. In 32% sind die Messwerte normal. Bildgebende Untersuchungen (MRT der HWS und des Plexus brachialis) ermöglichen den Ausschluss eines zervikalen Wurzelkompressionssyndroms. Durch Röntgenaufnahme der oberen Thoraxapertur können knöcherne Anomalien, insbesondere eine Halsrippe nachgewiesen werden (⊡ Abb. 56.14, ⊡ Abb. 56.18). Eine invasive Gefäßdiagnostik (Funktionsangiografie der A. subclavia) ist zum Nachweis eines neurogenen TOS wenig hilfreich, da eine Einengung bzw. ein Verschluss der A. subclavia bei Armabduktion häufig bei Gesunden vorkommen können. Eine Aortenbogenangiografie kann in Einzelfällen zum Ausschluss eines vaskulären TOS bei dopplersonografischem Hinweis auf eine relevante Einengung des Lumens der A. und V. subclavia indiziert sein. Die sonografische Darstellung der Nervenwurzeln C4–C7 und des Plexus brachialis ist möglich, jedoch sind insbesondere die Trunci inferiores und Faszikel schwieriger zu differenzieren. Zusätzlich behindern die Klavikula und die tiefe Lage unter dem M. pectoralis eine Darstellung des infraklavikulären Abschnitts.
⊡ Abb. 56.18 Röntgenbefund bei TOS mit Halsrippe. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
1553 56.2 · Spezielle Techniken
Differenzialdiagnosen
Operative Therapie
> Das TOS ist eine klinische und Ausschlussdiagnose.
Die Indikation zur operativen Behandlung ist wegen der nicht unerheblichen Komplikationen, besonders beim transaxillären Zugang, kritisch zu stellen. Außerdem kommt eine aktuelle Cochrane-Studie (2010) zu dem Ergebnis, dass es bis heute keine randomisierte Evidenz zur Wirksamkeit einer interventionellen Behandlung gegenüber einer Nichtbehandlung gibt. Legt man die Patientenzufriedenheit zugrunde, sieht die Situation etwas besser aus. Eine Langzeitstudie an 24 Patienten (jeweils zur Hälfte mit neurogenem und atypischem (»disputed«) neurogenem TOS von Vögelein et al. (2006) ergab eine anhaltende Besserung der Symptome in beiden Gruppen. Eine prospektive Studie von Chang et al. (2009) an 70 Fällen von neurogenem und venösem TOS zeigte eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität in beiden Gruppen, wobei allerdings die vaskulären Fälle ein besseres Outcome aufwiesen. Bei therapieresistenten Schmerzen mit erheblicher Beeinträchtigung des Patienten und/oder neurologischen Störungen kommen prinzipiell drei verschiedene operative Techniken in Frage: 1. der supraklavikuläre Zugang zur oberen Thoraxapertur, 2. die transaxilläre Resektion der 1. Rippe und 3. der posteriore subskapuläre Zugang
Differenzialdiagnostisch sind beim neurogenen TOS in erster Linie zervikale Wurzelkompressionssyndrome, insbesondere das C8Syndrom, abzugrenzen. Andere Läsionen des Plexus brachialis, wie Neurinome oder infiltrierende metastatische Prozesse (z. B. Pancoast-Tumor), können mit ähnlichen Beschwerden einhergehen. Halsmarkprozesse, die progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran) ohne Schmerzen und Sensibilitätsstörungen, spinale Tumoren oder eine Syringomyelie müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. Neben bildgebenden Verfahren, wie z. B. MRT der HWS und der Plexusregion sind vor allem elektrophysiologische Untersuchungen in der differenzialdiagnostischen Abgrenzung hilfreich.
Klassifikation Je nach der im Vordergrund stehenden klinischen Symptomatik wird das TOS nach Janjua et al. (2006) in zwei große Gruppen mit vier Kategorien eingeteilt: ▬ neurogenes TOS: – klassisches oder typisches neurogenes TOS, – zweifelhaftes oder atypisches neurogenes TOS; ▬ vaskuläres TOS: – venöses TOS, – arterielles TOS. Das hier interessierende neurogene TOS basiert auf objektivierbaren Befunden einer Kompression der unteren Plexusanteile (Truncus inferior), wie Schmerzen und Parästhesien des ulnaren Unterarms und der ulnaren Hand, und einer fortschreitenden Schwäche und Atrophie der intrinsischen Handmuskeln und langen Fingerflexoren. Fehlen solche Kriterien, spricht man von einem atypischen neurogenen TOS. Letzteres ist durch eine diffus ausgeprägte Symptomatik gekennzeichnet. Neben den Kernsymptomen, wie Schmerzen und Parästhesien überwiegend des ulnaren Unterarms und der ulnaren Hand, wurde eine Vielzahl weiterer, unspezifischer Symptome von Kopfschmerzen bis zur vertebrobasilären Insuffizienz beschrieben. Beim vaskulären TOS gibt es eine arterielle und eine venöse Form. Arterielle Symptome äußern sich vor allem in akuten intermittierenden Ischämien des betroffenen Arms, venöse als Schweregefühl des Arms, Schwellung und livide Verfärbung von Hand und Fingern. Thrombosen der V. subclavia, auch als Paget-von-Schrötter-Syndrom bezeichnet, können teilweise spontan, vor allem aber nach forcierter Belastung der betroffenen Extremität auftreten ( Kap. 49). > Bei einem TOS sollte immer an die Möglichkeit einer »Double-Crush-Läsion« gedacht werden. Häufigste Zweitläsionen sind das Karpaltunnelsyndrom (19–31%), das Kubitaltunnelsyndrom (7–9%) und das Supinatorsyndrom (2–15%).
Therapie Konservative Therapie Eine physiotherapeutische Behandlung und ein gezieltes Training zur Kräftigung der Schultergürtelmuskulatur, welche sich über Wochen bis Monate erstrecken muss, ist vor allem dann indiziert, wenn keine neurologischen Ausfälle vorliegen. Auch passive Maßnahmen (Massage, Wärmetherapie etc.) mit aktiven Behandlungsformen, welche eine Haltungskorrektur des Schultergürtels bewirken sollen, können kombiniert werden.
Der supraklavikuläre Zugang ist hinsichtlich des Langzeittherapieerfolges, als auch der Rezidivrate dem transaxillären Zugang ebenbürtig. Die Komplikationsrate scheint beim supraklavikulären Vorgehen vergleichsweise niedrig zu sein, sodass der supraklavikulären Dekompression auch aufgrund der hervorragenden Übersicht über die relevanten neurovaskulären Strukturen der Vorzug gegeben wird. Die einzige prospektiv randomisierte Vergleichsstudie, die allerdings wegen der Beschränkung auf Fälle mit atypischem TOS nur eine mindere Qualität aufweist und supraklavikuläre und transaxilläre Dekompression der oberen Thoraxapertur vergleicht (Patienten mit Halsrippen, Lähmungen der intrinsischen Handmuskulatur und mit vaskulären Symptomen wurden ausgeschlossen), favorisiert wegen der besseren Schmerzkontrolle die transaxilläre Operation. Der transaxilläre Zugang wird auch vonseiten der Gefäßchirurgie für alle Krankheitsbilder uneingeschränkt empfohlen. Aufgrund des erheblichen, zugangsbedingten Weichteiltraumas sollte der dorsale subskapuläre Zugang Rezidiveingriffen vorbehalten bleiben. Supraklavikulärer Zugang Beim anterioren supraklavikulären Zugang, der neurochirurgischerseits bevorzugt wird, erlaubt ein ca. 5–6 cm langer oberhalb und parallel zur Klavikula geführter Hautschnitt eine gute Exposition des Plexus brachialis und seiner begleitenden Gefäße (⊡ Abb. 56.19). Nach Durchtrennung des Platysmas erfolgt die Mobilisierung des Meckel-Fettpfropfes lateral des M. sternocleidomastoideus. Dieser kann mit Sperrern oder Spateln nach lateral gehalten werden. Der auf dem M. scalenus anterior verlaufende N. phrenicus wird identifiziert und eine Skalenotomie nahe am Ansatz des Muskels an der 1. Rippe vorgenommen. Der Truncus inferior wird bis zu den Neuroforamina der C8- und Th1-Wurzeln dargestellt. Halsrippen oder Rippenstummel und die von ihnen ausgehenden Bandstrukturen werden exstirpiert. Die Halsrippe wird im Bedarfsfall reseziert. Seltene Komplikationen dieses Zugangs sind Druckschäden der Nn. phrenicus und thoracicus longus sowie eine Verletzung des Ductus thoracicus bei linksseitigem Eingriff. Kleine Einrisse der Pleura können direkt abgeklebt werden. Ein drainagepflichtiger Pneumothorax wird als mögliche Komplikation angegeben, ist aber selten.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 56.19 Supraklavikulärer Zugang. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955 [a]; Assmus u. Antoniadis 2008 [b,c])
Transaxillärer Zugang Der transaxilläre Zugang wird von Gefäßchirurgen favorisiert. Die Verfechter diese Technik sehen die 1. Rippe als wesentliche Kompressionsursache des TOS an. Über eine quere Hautinzision in der Axilla werden die 1. Rippe subperiostal präpariert und die Mm. skalenus anterior und medius sowie alle an ihr ansetzenden fibromuskulären Strukturen durchtrennt und anschließend die 1. Rippe zwischen Kostotransversalgelenk und ihrem knorpeligen Anteil reseziert. Halsrippen oder prominente Querfortsätze des 7. Halswirbels mit ihren fibromuskulären Strukturen sind bei diesem Operationsverfahren weniger gut zugänglich (⊡ Abb. 56.20).
! Cave Die häufigsten Komplikationen sind Pneumothorax und Plexusschädigungen.
Dorsaler subskapulärer Zugang Dieser Zugang, der ursprünglich für die zervikothorakale Sympathektomie beschrieben wurde, erfuhr zur Dekompression des Plexus brachialis eine Modifikation. In Bauchlagerung wird der Hautschnitt zwischen den Dornfortsätzen und dem medialen Skapularand geführt. Nach Durchtrennung des M. trapezius werden die drei an der Skapula ansetzenden Muskeln (M. levator scapulae, Mm. rhomboideus major und minor)
1555 56.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 56.20 Transaxillärer Zugang nach Roos. (Aus Heberer u. van Dongen 1987)
am medialen Rand abgesetzt. Dadurch wird eine Dekompression sowohl der C8- und Th1-Wurzeln als auch des Truncus inferior und der Gefäße erreicht. Falls erforderlich, kann zusätzlich eine Halsrippe bzw. die 1. Rippe entfernt werden. Abschließend werden die Muskeln schichtweise reinseriert. Wegen des erheblichen Weichteiltraumas dieses Eingriffs klagen die Patienten postoperativ über verstärkte Wundschmerzen und häufig über eine länger anhaltende schmerzbedingte Schwäche der Schultergürtelmuskulatur.
Fehler, Gefahren und Komplikationen Die häufigste Komplikation stellt die Verletzung der Pleura parietalis mit Pneumothorax dar. Eine postoperative Auskultation der Lunge und eine Röntgenkontrolle des Thorax sind unerlässlich. Die spezifischen, zugangsbedingten Komplikationen sind unter der jeweiligen Operationstechnik beschrieben ( Abschn. 56.2).
> Wegen der nicht unerheblichen, teilweise sogar schwerwiegenden Folgen sollte die Indikation für den nicht unumstrittenen und diagnostisch unsicheren Eingriff streng gestellt werden.
Prognose und Verlauf Verlässliche prognostische Aussagen sind bei Patienten, bei denen eine Schmerzsymptomatik ohne eindeutige neurologische Ausfälle im Vordergrund steht, schwierig. Bei kritischer Indikationsstellung sind 2 Jahre nach der Operation etwa 62% der Patienten beschwerdefrei und 80% gebessert. Die Studie von Chang et al. (2009) zeigte eine erhöhte Lebensqualität durch den Eingriff.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
56.2.2 Kompression des N. suprascapularis
(Incisura-scapulae-Syndrom) Hans Assmus, Gregor Antoniadis Chirurgisch relevante Anatomie Der N. suprascapularis ist ein überwiegend motorischer Nerv, der in seltenen Fällen einen sensiblen Ast abgibt. Dieser Ast versorgt ein kleines Hautareal in der Nähe des Akromions. Der N. suprascapularis ist Teil des Truncus superior und enthält Fasern aus
den Nervenwurzeln C5 und C6, gelegentlich erhält er zusätzliche Fasern aus C4. Der Nerv verlässt den Truncus superior supraclavikulär ungefähr 3 cm oberhalb der Klavikula auf Höhe von dessen Aufteilung in die vorderen und hinteren Verzweigungen. Er verläuft supraklavikulär tief im hinteren Halsdreieck nach dorsal und lateral zur Incisura scapulae. Die Incisura scapulae liegt am Oberrand der Skapula, direkt medial der Basis des Processus coracoideus. Diese kann sehr unterschiedlich ausgebildet sein. Bis zu 8% der Menschen weisen keine Inzisur auf, bei weiteren ca. 8% ist sie als knöchernes Foramen ausgebildet. Der Nervus suprascapu-
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a
⊡ Abb. 56.21 Kompression des N. suprascapularis. a chirurgisch relevante Anatomie
1557 56.2 · Spezielle Techniken
laris teilt sich distal der Inzisur in der Fossa supraspinata in zwei Äste, die jeweils den M. supra- und infraspinatus innervieren. Der Ast zum M. infraspinatus zieht weiter unter dem Lig. transversum scapulae inferius (LTSI) nach distal bis in die Fossa infraspinata (⊡ Abb. 56.21).
Epidemiologie Eine Kompression des N. suprascapularis ist eine seltene, aber in der Differenzialdiagnostik des Schulterschmerzes wichtige Diagnose. Epidemiologische Studien hierzu existieren nicht. Man
vermutet jedoch, dass das Syndrom häufiger vorkommt, als es diagnostiziert wird.
Ätiologie Durch seine weitgehende Fixierung in der Incisura scapulae wird der N. suprascapularis durch die Angulation der Skapula bei Schulterbewegungen repetitiv gegen das Lig. transversum scapulae transversum superius gedrückt. Dieser Mechanismus wurde als »sling effect« beschrieben. Insbesondere bei Sportarten mit besonderer Belastung des Arms, wie beispielsweise bei Volleyball-, Handball-,
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⊡ Abb. 56.21 Kompression des N. suprascapularis. b Verlauf des N. suprascapularis, c Schmerzlokalisation bei Kompression des N. suprascapularis, d Patientenlagerung und Anzeichnung der Hautinzision, e Anatomieschema des N. suprascapularis und seines Verlaufs zusammen mit der A. suprascapularis unter dem Lig. transversum scapulae superius. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, c, e], Lanz u. Wachsmuth 1955 [b], Assmus u. Antoniadis 2008 [d])
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Tennis-, und Basketballspielern, kann es zu einer chronischen Irritation des Nervs kommen. Meist sind Hochleistungssportler betroffen. Auch bei Maurern und Bauarbeitern wurde dieses Syndrom beobachtet. Ganglien sind öfters Ursache einer Kompression des N. suprascapularis. Frakturen des Schulterblattes mit Beteiligung der Incisura scapulae können zu direkten Verletzungen, aber auch zu chronischen Kompressionen des N. suprascapularis führen.
Diagnostik
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Unspezifische, tiefsitzende Schmerzen im Bereich der Schulter sind in der Regel die Erstsymptome des Incisura-scapulae-Syndroms (⊡ Abb. 56.21c). Die anfänglichen Schmerzen führen nur selten sofort zur korrekten Diagnose. Erst wenn Paresen und Atrophien auftreten wird die Diagnose gestellt. Die Atrophie des M. supraspinatus, die sich erst im fortgeschrittenen Stadium entwickelt, wird häufig wegen des darüber liegenden kräftigen M. trapezius übersehen. Die Schädigung des N. suprascapularis äußert sich in einer Außenrotationsschwäche im Schultergelenk, sowie in einer Schwäche der initialen Schulterabduktion. Nur ausnahmsweise besteht eine Hypästhesie über der dorsalen Schulter. Bei Lähmungen der Mm. spinati kann deren Funktion partiell von anderen Muskeln, wie dem M. teres major oder dem M. deltoideus übernommen werden. Aus diesem Grund kann die Schultergürtelfunktion in leichteren Fällen nur gering beeinträchtigt sein. Die Diagnose des Incisura-scapulae-Syndroms erfolgt in erster Linie klinisch. Sie wird bestätigt durch die elektromyografische Untersuchung des M. supra- und infraspinatus, die bereits im Anfangsstadium, wenn höhergradige Paresen noch nicht vorliegen, den Nachweis von Denervierungszeichen erbringt. Die Myografie wird ergänzt durch eine elektroneurografische Untersuchung, die immer im Vergleich zur kontralateralen Seite erfolgt. Nach Stimulation des N. suprascapularis am Erb-Punkt wird die motorische Latenz zu den Mm. supraspinatus und infraspinatus bestimmt. Pathologisch sind Werte über 4 ms. Ganglien lassen sich sonografisch oder im MRT darstellen. Knöcherne Verletzungen der Skapula und Anomalien der Incisura scapulae sind röntgenologisch nachweisbar. Differenzialdiagnostisch müssen ein C5-Wurzelkompressionssyndrom, eine Ruptur der Rotatorenmanschette, eine Periarthritis humeroscapularis, eine progressive Muskeldystrophie und eine spinale Muskelatrophie mit Schultergürtelbeteiligung abgegrenzt werden. Druckläsionen durch Tragen schwerer Lasten auf der Schulter bilden sich spontan zurück.
Klassifikation Der N. suprascapularis kann in Höhe der Incisura scapulae komprimiert werden. Eine distale Kompression unter dem Lig. transversum scapulae inferius ist selten. Sie tritt meistens durch Vorliegen eines Ganglions in Höhe der Fossa supraspinata auf. Bei der Kompression des N. suprascapularis unterscheidet man ein zentrales Kompressionssyndrom im Bereich der Incisura scapulae und ein peripheres Kompressionssyndrom im Bereich der Spina scapulae beim Durchtritt unter dem Lig. transversum scapulae inferius (LTSI; ⊡ Abb. 56.21a,b).
Therapie Bei einem Incisura-scapulae-Syndrom mit reiner Schmerzsymptomatik können konservative Maßnahmen, welche vor allem in einer Schonung der Schultermuskulatur bestehen, durchaus erfolgversprechend sein. Lokale Infiltrationen (Blockaden) können
die Schmerzsymptomatik positiv beeinflussen. Bestehen Paresen oder Atrophien der Mm. supra- und infraspinatus, ist eine Dekompression des N. suprascapularis im Bereich der Incisura scapulae indiziert. Eine Dekompression des tiefen Astes zum M. infraspinatus mit Durchtrennung des Lig. transversum scapulae inferior ist nur in seltenen Fällen erforderlich, sollte aber immer intraoperativ exploriert werden. Operative Technik Der Eingriff kann sowohl in Bauch- als auch in Rückenlage mit Unterpolsterung der betroffenen Schulter durchgeführt werden. Bauchlage und Intubationsnarkose haben sich als zweckmäßig erwiesen (⊡ Abb. 56.21d). Der Hautschnitt über eine Länge von etwa 5 cm wird ca. 2 cm oberhalb und parallel zur Spina scapulae angesetzt (⊡ Abb. 56.21d). Durch stumpfe Präparation der Fasern des M. trapezius in ihrem Verlauf und Zurückhalten des M. supraspinatus durch Spatel kann die Incisura scapulae in einer Tiefe von 8–10 cm identifiziert werden. Wegen der besseren Sicht und Ausleuchtung der tiefliegenden Strukturen ist der Einsatz des Operationsmikroskops zu empfehlen. Lange selbsthaltende Spatel erleichtern den Eingriff. Aufgrund anatomischer Varianten der Incisura scapulae kann deren Auffinden in der Tiefe Schwierigkeiten bereiten. In der Regel verlaufen oberhalb des Lig. transversum scapulae superius die A. und V. suprascapularis, unterhalb davon der N. suprascapularis. Die Strukturen werden identifiziert und das Ligament unter mikroskopischer Sicht durchtrennt (⊡ Abb. 56.21e).
Fehler, Gefahren und Komplikationen Die intraoperative Darstellung der Incisura scapulae und des N. suprascapularis können wegen der erwähnten anatomischen Varianten und bei kräftig entwickeltem M. trapezius (besonders für den weniger Geübten) schwierig sein. Eine Verletzung der A. und V. suprascapularis, die unmittelbar auf dem Nerv liegen können, ist zu vermeiden.
Prognose und Verlauf Die Prognose nach Dekompression des N. suprascapularis ist günstig. 84,2% der Patienten waren nach dem Eingriff komplett schmerzfrei. Eine Verbesserung der Kraft im M. suprascapularis war etwas häufiger (86,7%) als beim M. infraspinatus (70,8%) zu beobachten. 56.2.3 Kompression des N. radialis
Margot Wüstner-Hofmann Chirurgisch relevante Anatomie Der N. radialis geht als kräftigster Ast aus dem Fasciculus posterior des Armplexus hervor. Er bezieht Fasern aus den ventralen Nervenwurzeln C5–Th1. Zunächst verläuft er zusammen mit der A. axillaris bis zum Oberarm. Noch im Bereich der Achselfalte zweigt der N. cutaneus brachii posterior vom Hauptstamm ab. Der sensible Ast erreicht über den langen Trizepskopf die Oberarmstreckseite und versorgt dort die Dorsalseite bis zum Olekranon. Nach dem Überqueren der hinteren Achselfalte verläuft der N. radialis zwischen dem Caput longum und dem Caput mediale mi. tricipitis auf die Dorsalseite des Oberarms. Im Sulcus ni. radialis windet er sich in Unterarmmitte spiralartig um den Humerus und liegt direkt dem Periost auf. Hier verläuft er zusammen mit der A. profunda brachii. Direkt benachbart liegen die Ursprungs-
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⊡ Abb. 56.22 Überblick über den Verlauf und die motorischen Äste des N. radialis. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
flächen des Caput mediale und des Caput laterale des M. triceps. Die entsprechenden Muskelbäuche ergänzen den Sulkus zu einem eigentlichen Kanal. Vor dem Sulkus verlassen motorische Äste zum M. triceps brachii den Nervenhauptstamm. Im Sulkus zweigt der N. cutaneus antebrachii posterior ab, der die Streckseite des Unterarms sensibel versorgt. Etwa an der Grenze zwischen mittlerem und distalem Drittel des Oberarms durchbricht der N. radialis das Septum intermusculare laterale (Hiatus ni. radialis). Bei diesem Abschnitt im Verlauf von der Strecker- zur Beugerloge des Oberarms handelt es sich um eine physiologische Enge, die einem relativ kurzen osteofibrösen Kanal entspricht. Hier ist der Nerv z. B. bei Oberarmfrakturen oder durch äußeren Druck (»Parkbanklähmung«) besonders gefährdet. Auf der Beugeseite am distalen Oberarm liegt der N. radialis dann zusammen mit der A. collateralis radialis zwischen dem lateralen Rand des M. brachialis und dem M. brachioradialis und gelangt so in die Fossa cubitalis. Die dort abgehenden Muskeläste versorgen die Mm. brachioradialis, extensor carpi radialis longus und brevis sowie den M. brachialis. Etwa auf Höhe des Speichenkopfs teilt sich der Nerv in seine Endäste, den sensiblen R. superficialis und den motorischen R. profundus, der nach seinem Durchtritt durch den M. supinator N. interosseus posterior heißt. Direkt nach der Teilung bzw. dem Abgang des oberflächlichen Astes wird der R. profundus von kleinen Arterien (Aa. recurrentes radiales aus der A. radialis – »Leash of Henry«) gekreuzt. Der R. superficialis liegt oberflächlich zum M. supinator und verläuft entlang der Innenseite des M. brachioradialis nach distal. Im distalen Drittel des Unterarms gelangt er unter der Sehne des M. brachioradialis auf die Streckseite und zur radialen Seite des Handgelenks. Der R. profundus ni. radialis verläuft aus der Ellenbeuge heraus auf die Streckseite des Unterarms. In den M. supinator eingebettet zieht er schraubenförmig um den Radius. Der sehnig ausgebildete Rand des Eintritts in den muskulären Kanal, die Supinatorloge, ist die Frohse-Arkade. An der Grenze zwischen proximalem und mittlerem Drittel des Unterarms erreicht der R. profundus den distalen Rand des M. supinator und verläuft als N. interosseus posterior zwischen der tiefen Schicht (M. extensor pollicis longus, M. extensor indicis proprius, M. abductor pollicis longus und M. extensor pollicis brevis) sowie der oberflächlichen Schicht (M. extensor carpi ulnaris, M. extensor digiti minimi proprius, M. extensor digitorum communis) der Unterarmstrecker. Der sensible Endast des N. interosseus posterior verläuft auf der Membrana interossea und erreicht hier schließlich die dorsale Fläche des Handgelenks und das Periost von Radius und Ulna. Somit versorgt der N. radialis sämtliche Strecker für Ellenbogen-, Hand- und Fingergelenke (⊡ Abb. 56.22). Der R. superficialis ni. radialis teilt sich an der Radialseite des Handgelenks in mehrere Äste und versorgt die Haut des radialen Handrückens sowie die Streckseite der Grund- und Mittelglieder der radialen Finger. Die autonome Zone ist jedoch auf ein kleines Hautareal über dem 1. und 2. Metakarpale und das 1. Spatium interosseum beschränkt (⊡ Abb. 56.23). Für die Funktionsprüfung des Nervs ist wichtig zu wissen, dass die Supination in Streckstellung des Ellenbogengelenks allein vom M. supinator übernommen wird, bei gebeugtem Ellenbogen jedoch der M. biceps diese Funktion übernehmen kann. Die Wirkung der Fingerstrecker bezieht sich auf das Grundgelenk. Mittel- und Endgelenke der Finger können über die Mm. interossei und lumbricales gestreckt werden. Je weiter proximal die Kompression des N. radialis gelegen ist, umso mehr Streckermuskeln sind betroffen. Die Kompressionen des N. radialis können aufgrund der Lage der anatomischen Engpässe in eine proximale, mittlere und dis-
⊡ Abb. 56.23 Sensibilitätsareal des N. radialis, dunkel: autonome Zone. (Aus Berger u. Hierner 2009)
tale eingeteilt werden. Im Bereich des N. radialis werden mehrere Kompressionssysdrome unterschieden (⊡ Abb. 56.24): ▬ Kompression des N. radialis im proximalen Oberarmbereich, ▬ Kompression des N. radialis im distalen Oberarmbereich an der Durchtrittsstelle des N. radialis durch das Septum intermusculare laterale (Hiatus ni. radialis),
1561 56.2 · Spezielle Techniken
Kompression des N. radialis im proximalen Oberarmbereich (proximales Radialiskompressionssyndrom, PRKS) Albrecht Wilhelm
Kompression durch ein Septum intermusculare laterale
Supinatorsyndrom
Wartenbergsyndrom
⊡ Abb. 56.24 Lokalisation möglicher Kompressionssyndrome im Verlauf des N. radialis. (Aus Berger u. Hierner 2009)
▬ Kompression des R. profundus ni. radialis im Bereich des M. supinator: – Eintritt (Frohse-Arkade), – Verlauf (aberante Gefäße), – Austritt, ▬ Kompression des N. interosseus posterior: – proximal: sensomotorisch, – distal: sensorisch, ▬ Kompression des R. superficialis ni. radialis an der Durchtrittsstelle durch die Fascia antebrachii zwischen dem M. brachioradialis und dem M. extensor carpi radialis longus
Der N. radialis kann während seines Verlaufes im Bereich der Axilla und des Oberarms durch akute und chronische Druckeinwirkungen geschädigt werden, die je nach Kraft und Dauer der Einwirkung zu Paresen führen können. Unter den exogenen Ursachen im axillären Bereich ist zunächst die falsche Verwendung von Krücken zu nennen, die das Körpergewicht abstützen müssen, wodurch es zwischen dem proximalen Abschnitt des Humerus und den Sehnen der Mm. latissimus dorsi et teres major zur Druckschädigung des Nervs kommen kann (Tackmann et al. 1989). Wesentlich häufiger sind derartige Druckschäden des N. radialis dagegen im Verlauf seines flachen Canalis spiralis, da er hier im unmittelbaren Kontakt mit dem Humerusschaft verläuft. Typische Beispiele hierfür sind die Parklähmung, die »SaturdayNight-Paralysis« und die »Paralysie des Amoureux« zu nennen, die im tiefen Schlaf eintreten können, ferner die Tourniquet- und lagerungsbedingten Paralysen bei operativen Eingriffen in Vollnarkose. Die besondere Vulnerabilität des N. radialis im Bereich des Canalis spiralis wird in der Literatur daher zu Recht auf seine besonderen Lagebeziehungen zum Humerusschaft zurückgeführt. Weitere Schädigungen des N. radialis können während der Geburt auftreten, sei es durch Kompression oder durch Traktion ( Abschn. 56.2.2), oder durch Raumforderungen (Hämatome, Tumoren). Die Existenz eines proximalen Kompressionssyndroms des N. radialis konnte bis dahin zunächst nicht bewiesen werden, obwohl Gowers bereits 1892 über drei komplette Radialislähmungen berichtet hatte, die alle nach einer brüsken Kontraktion des M. triceps aufgetreten waren, z. B. durch Werfen eines schweren Steines. In der Vergangenheit sind auch ähnliche Paresen, vor allem nach chronischer Überbeanspruchung des M. triceps beschrieben worden, wie sie bei Hafen- und Müllabfuhrarbeitern, Webern, Kellnern und Violinvirtuosen auftreten können. Dies gilt auch für sekundäre Paresen, die im weiteren Behandlungsverlauf einer Oberarmfraktur und bei entzündlichen sowie tumorösen Veränderungen auftreten, die eigentlich schon längst für das Vorhandensein eines proximalen Kompressionsmechanismus im Bereich des Oberarms sprachen. Erst zufällige Beschäftigungen mit Radialisparesen, die nach bestimmten Bewegungsabläufen im Ellenbogengelenk mit übermäßiger Beanspruchung der Trizepsmuskulatur, wie sie z. B. nach stundenlangem Autofahren und bei der Arbeit mit Pressluftwerkzeugen auftreten, führte schließlich 1969 zur Aufklärung der Lokalisation und der Pathogenese eines proximalen Radialiskompressionssyndroms (PRKS), das anhand von 8 Patienten, die von 1969 bis Anfang 1970 an der Chirurgischen Klinik des Lehrkrankenhauses Aschaffenburg operiert wurden, 1970 erstmals publiziert werden konnte (⊡ Tab. 56.3, ⊡ Tab. 56.4). Als Prädilektionsstellen für eine derartige Kompression fanden sich die sehnige Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis, die unmittelbar vor dem Septum intermusculare laterale den N. radialis kreuzt (⊡ Abb. 56.26), und der Hiatus ni. radialis. Letzterer funktioniert als ein relativ kurzer osteofibröser Kanal, der distal des Septums ausnahmsweise auch einmal durch kreuzende Bindegewebsfasern, die vom Humerusschaft bzw. von der Basis des M. brachialis zum Septum verlaufen, ergänzt werden kann (⊡ Abb. 56.25). Bereits 1971 ist der von uns angegebene Kompressionsmechanismus von Bosworth als Erklärung für die relativ häufigen Radialisparesen bei Müllabfuhrarbeitern akzeptiert worden. Im gleichen
56
1562
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 56.3 Proximales Radialiskompressionssyndrom (eigenes Patientengut 1969–1990, n=30. Weitere 7 Patienten konnten wegen Vernichtung der Unterlagen nicht beurteilt werden. Die Gesamtzahl der operierten PRKS beträgt somit 37)
56
Pat. Nr.
Operation Nr. /Jahr
m
w
1
1263/69
+
27
Masch.-Setzer
2
1560/69
+
63
Metallarbeiter
R
+
Beruf
3
2670/69
+
34
Autofahrer
L
+
Beruf
4
2746/69
65
Hausfrau
R
+
Osteitis
5
238/70
+
27
Bohrarbeiter
L
6
785/70
+
41
Lackierer
L
7
1364/70
+
20
Installateur
L
+
Osteitis
8
1648/70
+
50
Rentnerin
R
+
Anat. Besonderh.
9
3050/70
+
65
Hausfrau
L
10
275/71
50
Maurer
L
+
Beruf/anat. Bes.
11
3625/71
+
63
Hausfrau
R
+
Ödem bei TIS
12
1721/72
45
Arbeiter
R
+
Beruf
13
3096/73
+
40
Hausfrau
R
+
OA-Pseudarthro.
14
3339/75
+
26
Verputzer
R
+
Schwerstarbeit
15
3357/75
+
37
Maurer
R
+
Schwerstarbeit
16
1666/78
+
52
Maurer
R
+
Beruf
17
1838/78
19
Näherin
L
+
Beruf
18
3103/78
38
Arbeiter
L
+
OA-Fraktur/AO-Pl
19
983/80
+
48
Hausfrau
L
+
Ödem bei TIS
20
1859/84
+
57
Hausfrau
L
+
Anat. Besonderh.
21
1958/84
+
70
Rentner
L
+
Intraneur. Splitter
22
2921/84
+
45
Schreiner
R
+
23
2674/86
+
18
Student
R
+
24
2796/86
+
46
Friseurin
R
+
Ödem bei TIS
25
2066/87
+
45
Hausfrau
L
+
Ödem bei TIS
26
730/88
33
Prüfer
L
27
1799/88
47
Zeichnerin
L
+
Anat. Besonderh.
28
11.11.89
66
Rentner
L
+
OA-Fraktur
+
+
+
+ +
+ + +
Alter
Beruf
Lok. R/L
Ursachen Akutes Trauma
L
Chron. Trauma
Auslösende Ursache
+
Kugelkallus
+
Beruf +
+
Beruf
OA-Fraktur
OA-Fraktur/AO-Pl OA-Fraktur/Nagel
+
OA-Fraktur/AO-Pl
29
07.11.90
+
38
Krankenschw.
L
+
Anat. Besonderh.
30
13.09.90
+
49
Hausfrau
L
+
Anat. Besonderh.
Jahr wurde das PRKS auch von Lotem et al. anhand von anatomischen Untersuchungen und drei konservativ behandelten Patienten bestätigt. Als Ursache der Kompression machten Letztere ebenfalls eine fibröse Arkade des Caput laterale mi. tricipitis verantwortlich. Die erste operative Bestätigung des PRKS wurde von Manske (1977) veröffentlicht. Weitere Publikationen stammen von Lubahn u. Lister (1983), Wilhelm u. Suden (1985), Wilhelm (1986), Mitsunaga u. Nakano (1988), Nakamishi u. Tschibana (1991) sowie von Wilhelm (1993). Als Folge hiervon kann es zu einer partiellen oder gar kompletten Lähmung der radialisinnervierten Unterarmmuskulatur und zu Störungen der Sensibilität im Bereich des N. cutaneus
brachii lateralis inferior, des N. cutaneus antebrachii posterior und des R. superficialis ni. radialis kommen (⊡ Abb. 56.26). Bei Irritationen des N. radialis an dieser Stelle sieht man nicht selten Schmerzausstrahlungen in die laterale Epikondylenregion (TE), in die Streckseite der Hand (Neuralgie des N. interosseus posterior; Wachsmuth u. Wilhelm 1967) und in die Region des Proc. styloides radii (sog. Styloiditis radii), die als Radialisirritationssyndrom (RIS) zusammengefasst werden ( Abschn. 17.2.2; Wilhelm 1972). Die nächste physiologische Enge wird durch die fibrös begrenzte Arkade des Hiatus ni. radialis gebildet und in Einzelfällen auch noch von schrägen, vorgeschalteten fibrösen Faserzügen des Septums weiter eingeengt (⊡ Abb. 56.27). In diesem Fall finden sich
1563 56.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 56.25 Regio brachii posterior und Canalis ni. radialis. Tendo capitis lateralis mi. tricipitis lateralis durch Muskulatur verdeckt. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
56
1564
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 56.4 PRKS – Krankengut: Np (1969–1990) = 30, Nop = 30, nachuntersucht: 27a + (3b)
⊡ Tab. 56.6 PRKS – Präoperative Befunde, Npath. = 30 Motorik
Alter (18–70) Ø 45 Jahre
17m : 13w
Lokalisation (rechts : links)
12 : 18
Auslösende Ursachen: Beruf
11
Oberarmfrakturen
8 (sekundäre Paresen)
Oberarmosteitis
2
Handödem (TOS!)
4
Intraneuraler Splitter
1
Anatomische Besonderheiten
4
56
7
Chronisch
23
14-mal
Teilparesen
8-mal
Verminderung der groben Kraft (PRIS)a
8-mal
Sensibilitätsstörungen N. radialis: Hoffmann-Tinel
27-mal
N. cutaneus brachii lateralis
5-mal
N. cutaneus antebrachii posterior
20-mal
R. superficialis ni. Radialis
20-mal
Schmerzfelder
Traumatisierung des N. radialis: Akut
Komplette Paresen
Laterale Epikondylenregion
15-mal
Proc. styloideus radii
4-mal
Handrücken (Interosseusneuralgie)
6-mal
a
Nachuntersuchung 1988, publiziert 1993 b Nachuntersuchung der Patienten 28, 29 u. 30 wegen fehlender Unterlagen nicht mehr möglich
⊡ Tab. 56.5 PRKS – Lokalisation des Druckschadens Caput laterale mi. tricipitis
13-mal
Hiatus ni. radialis
10-mal
Kombination von A und B
5-mal
Lokalisation distal des Hiatus
2-mal
ebenfalls eine Druckschädigung der oben genannten Nerven und Schmerzausstrahlungen in die eben genannten Regionen, wobei jedoch das supraepikondyläre und posteriore Schmerzfeld fehlen, die durch den R. collateralis lateralis ni. radialis bzw. durch den R. muscularis anconaei innerviert werden. Störungen der Sensibilität sind in diesem Fall nur im Bereich des R. superficialis ni. radialis nachweisbar. > Eine weitere, wenn auch relativ seltene physiologische Enge wird durch eine fibröse Bandstruktur distal des Hiatus ni. radialis gebildet, die zwischen den Basen des M. brachialis und des Septum intermusculare laterale den Humerusschaft in geringer Höhe überspannt.
Die motorischen und sensiblen Störungen entsprechen im Wesentlichen denen der Kompression im Bereich des Hiatus ni. radialis. Die Lokalisation der Druckschäden ist in ⊡ Tab. 56.5 dargestellt.
Epidemiologie Bezüglich der Häufigkeit des PRKS lassen sich im Augenblick noch keine definitiven Aussagen machen, da außer der Statistik des Verfassers noch keine weiteren aussagekräftigen Publikationen existieren. Die Häufigkeit des PRKS lässt sich daher nur indirekt, z. B. durch einen Vergleich mit dem Supinatorsyndrom, abschätzen. Dieses Verhältnis betrug nach einer Untersuchung im Zeitraum von 1968–1988 27:29 zugunsten des Supinatorsyndroms. Aus diesem
a
Proximales Radialisirritationssyndrom
Ergebnis können jedoch keine verbindlichen Schlüsse hinsichtlich der Prävalenz geschlossen werden. Anhand des vorliegenden Krankengutes kann aber sehr wohl ein Durchschnittsalter von 45 Jahren (18–70 Jahre) und eine Bevorzugung des männlichen Geschlechtes im Verhältnis von 17:13 sowie eine Seitenlokalisation im Verhältnis von 12:18 zugunsten des linken Arms festgestellt werden. Als auslösende Ursachen finden sich vornehmlich berufsbedingte, akute und chronische Überlastungen des M. triceps in einem Verhältnis von 10:20, wobei begünstigende anatomische Gegebenheiten und Variationen eine besondere Rolle spielen (⊡ Tab. 56.3).
Ätiologie Die wichtigsten auslösenden Ursachen eines PRKS sind in dem vorangehenden ‚Abschnitten bereits besprochen und in ⊡ Tab. 56.3 und ⊡ Tab. 56.4 zusammenfassend dargestellt worden. > Als Ursache eines PRKS konnten 4 Kompressionsmechanismen gefunden werden.
Bei dem 1. Kompressionsmechanismus handelt es sich um die relativ schmale, in Längsrichtung verlaufende sehnige Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis, die im Falle einer akuten oder chronischen Überbelastung dieses Muskels den im flachen Sulcus spiralis verlaufenden Nerven komprimiert. Im eigenen Krankengut konnte das sofortige Auftreten einer derartigen kompletten Radialisparese erstmals nach dem plötzlichen Steckenbleiben eines Pressluftbohrers, das infolge einer dadurch ausgelösten brüsken Kontraktion des M. triceps zu einer erheblichen Druckschädigung des Nervs führte, beobachtet werden (⊡ Tab. 56.3, Nr. 5; ⊡ Abb. 56.26). Kommt es in derartigen Fällen auch noch zu einer starken Anschwellung des Nervs, dann ist auch eine sekundäre Nerveneinklemmung im Bereich des Septum intermusculare laterale möglich. Für den 2. Kompressionsmechanismus kommt der Hiatus ni. radialis in Frage, der funktionell als relativ kurzer osteofibröser Kanal imponiert (⊡ Tab. 56.3, Nr. 29; ⊡ Abb. 56.27). Auch raumfordernde Prozesse, wie Kallusbildungen im Verlauf einer Ober-
1565 56.2 · Spezielle Techniken
a
c
b
d
⊡ Abb. 56.26 Proximales Radialiskompressionssyndrom (PRKS): 1. Kompressionsmechanismus (relativ schmale, in Längsrichtung verlaufende sehnige Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis, die im Falle einer akuten oder chronischen Überbelastung dieses Muskels den im flachen Sulcus spiralis verlaufenden Nerven komprimiert (Pat. 5). a Klinischer Aspekt: komplette Radialisparese mit Sensibilitätsstörungen im Bereich des N. cutaneus brachii lateralis inferior, des N. cutaneus antebrachii posterior und des R. superficialis ni. radialis, b Darstellung des N. radialis und der komprimierenden sehnigen Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis, die noch reseziert werden muss (1. Kompressionsmechanismus), und des bereits teilresezierten Hiatus. Vordere Begrenzung des Septum intermusculare laterale (SIL) mit schwarzem Faden angeschlungen. MB M. brachialis; NCAP N. cutaneus antebrachii posterior; CLMT Caput laterale mi. tricipitis; SUCL sehnige Ursprungsportion des Caput laterale; NR = N. radialis mit Störung der subepineuralen Durchblutung und angedeuteter Dellenbildun. c Funktionelles Ergebnis 8 Wochen postoperativ: Handgelenkstreckung, d funktionelles Ergebnis 5 Monate postoperativ: Handgelenk- und Fingerstreckung. (Aus Wilhelm 1976)
armfrakturheilung, Hämatome und Tumore, können in diesem Bereich zu einer Kompression des N. radialis führen, da der Nerv unter diesen Umständen von innen nach außen abgedrängt und dann unter erhöhtem Druck gegen die scharfrandige Begrenzung des Hiatus gepresst wird. Entzündliche und nicht entzündliche Schwellungen des Nervs können in diesem Bereich ebenfalls zu einer Nervendruckschädigung führen. Bei dem 3. Kompressionsmechanismus handelt es sich um eine fibröse Arkade, die sich wenige Zentimenter distal des Hiatus ni. radialis in der Tiefe vom M. brachialis bis zur Basis des Septums erstreckt und zusammen mit dem darunter gelegenen Humerusschaft ebenfalls einen osteofibrösen Kanal bildet (⊡ Tab. 56.3, Pat. 26; ⊡ Abb. 56.29). Bei diesem Patienten führte ein angedeuteter Kugelkallus nach Oberarmfraktur innerhalb von 5 Wochen zu einer sekundären kompletten Radialisparese. Nach Dekompression kam es dann innerhalb von 4 ½ Monaten zu einer vollständigen funktionellen Restitution (⊡ Tab. 56.8). Im weiteren Verlauf des Oberarms kann der N. radialis zwischen M. brachioradialis und M. brachialis außerdem auch noch durch Überbeanspruchung dieser Muskeln, z. B. beim Hochheben
eines schweren Ofens, druckgeschädigt werden (4. Kompressionsmechanismus).
In diesem Fall kam es zu einer schweren partiellen Radialisparese. Als Ursache dieser Schädigung fand sich anamnestisch und bei Überprüfung des Bewegungsablaufes eine massive Anspannung der oben genannten Muskeln, wodurch der N. radialis plötzlich in anteriorer Richtung gepresst und dabei durch kreuzende Strukturen, meist in Form von Bindegewebsfasern und Gefäßen, an mehreren Stellen eines Faszikels im Sinne einer Axonotmesis druckgeschädigt wurde, d. h. unter Erhaltung der Kontinuität der Nervenhüllen. Derartige Verletzungen an einer Stelle des Faszikels bezeichnet man als sanduhrförmige Einschnürung (Konstriktion). Bei mehreren, hintereinander gereihten Läsionen sollte man besser von Segmentationen sprechen. Die erstgenannte Bezeichnung ist dabei etwas irreführend, weil, im Gegensatz zur normalen Funktion einer »Sanduhr«, der Einschnürungsring bei einer derartigen Verletzung durch Verdrehung der Nervenstümpfe bzw. -segmente zustande kommt und in vielen Fällen für die aussprossenden Neuriten nicht mehr durchgängig ist, wie dies durch den klinischen Verlauf nach längerem Zuwarten und auch durch histologische Untersuchungen längst bewiesen worden
56
1566
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
b
56
a
⊡ Abb. 56.27 Proximales Radialiskompressionssyndrom (PRKS): 2. Kompressionsmchanismus (Kompression des N. radialis im Bereich des Hiatus ni. radialis). a Komplette Radialisparese mit Sensibilitätsstörungen im Bereich des R. superficialis ni. radialis. b Intraoperativer Aspekt: Freilegung des N. cutaneus antebrachii posterior (NCAP) und des N. radialis (NR), Hiatus ni. radialis (HNR) mit vorgeschalteter Faserplatte (VF), mit schwarzem Faden angeschlungen (Pat. 29), SIL Septum intermusculare laterale. c Intraoperativer Aspekt: Zustand nach Resektion der Faserplatte und des Hiatus ni. radialis (Pat. 29), ausgedehnte Störung der subepineuralen Durchblutung und leichte Dellenbildung im mittleren Bereich (2. Kompressionsmechanismus), NCAP N. cutaneus antebrachii posterior; FS Fascia superficialis, mit schwarzem Faden nach oben angeschlungen; postoperativ vollständige Wiederherstellung der Funktion
a
c
b
⊡ Abb. 56.28 Proximales Radialiskompressionssyndrom (PRKS): 3. Kompressionschanismus (fibröse Arkade, die sich wenige Zentimenter distal des Hiatus ni. radialis in der Tiefe vom M. brachialis bis zur Basis des Septums erstreckt und zusammen mit dem darunter gelegenen Humerusschaft ebenfalls einen osteofibrösen Kanal bildet). a Intraoperativer Aspekt: Komplette sekundäre Parese mit Sensibilitätsstörungen im Bereich des R. superficialis ni. radialis, verursacht durch eine straffe Faserplatte (FP), die zwischen den Basen des M. brachialis (MB) und des Septum intermusculare laterale (SIL) verläuft (3. Kompressionsmechanismus); NCAP N. cutaneus antebrachii posterior; NR N. radialis. b Intraoperativer Aspekt: Nach Resektion der fibrösen Platte findet sich eine Störung der subepineuralen Durchblutung und eine angedeutete Dellenbildung (Pat. 26)
1567 56.2 · Spezielle Techniken
a
d
e
b
c
ist. Als Folge hiervon kommt es im proximalen Nervenstumpf zur Bildung eines Neuroms, während im distalen Bereich degenerative Veränderungen vorherrschen. Dieses Ergebnis lässt sich bei frischen Verletzungen nur durch eine sofortige Indikationsstellung zur Nervenrevision mit Derotation der Nervenstümpfe bzw. der einzelnen Segmente beheben, die dann durch feinste atraumatische Nähte an benachbarten Strukturen aufgehängt werden müssen, um eine erneute Torsion der Segmente zu vermeiden ⊡ Abb. 56.29). Je nach Ausdehnung des
⊡ Abb. 56.29 Proximales Radialiskompressionssyndrom (PRKS): 4. Kompressionsmechanismus (Druckschädigung des N. radialis zwischen M. brachioradialis und M. brachialis durch Überbeanspruchung dieser Muskeln, die in diesem Fall zur »Segmentation« bzw. Torsion eines motorischen Nervenfaszikels geführt hat). a Intraoperativer Aspekt: Freilegung des N. radialis im proximalen Abschnitt des anterioren Radialiskanals wegen kompletter Parese der Finger- und Daumenstrecker sowie des ECU; Teilparese der radiodorsalen Handstellmuskeln. Lokal findet sich eine subepineurale Einblutung in einer Ausdehnung von 3 cm, und zwar in Höhe der Epikondylenlinie. NR N. radialis; MBR M. brachioradialis; LF Lacertus fibrosus; MBB M. biceps brachii; MB M. brachialis (Pat. tabellarisch nicht berücksichtigt). b Intraoperativer Aspekt: Nach Epineurolyse findet sich im Bereich des stärkeren Faszikels in Höhe von kreuzenden Strukturen an insgesamt 3 Stellen eine Durchquetschung in einem Abstand von 1–1,5 cm, sodass die einzelnen Segmente nur noch durch den Perineuralschlauch verbunden sind. Außerdem sind die Segmente im Bereich der uhrglasförmigen Konstriktionen gegeneinander verdreht (Pfeile). Die kreuzenden Strukturen sind durch schwarze Hinweislinien markiert. NR N. radialis; MBR M. brachioradialis; LF Lacertus fibrosus; MBB M. biceps brachii; MB M. brachialis. c Intraoperativer Aspekt: Therapeutisch werden die kreuzenden Strukturen reseziert, die Segmente derotiert und mit feinsten Nähten am M. brachialis angeheftet, um eine erneute Verdrehung derselben zu verhindern. FNR Faszikel des N. radialis; MBR M. brachioradialis; LF Lacertus fibrosus; MBB M. biceps brachii; MB M. brachialis. d und e Funktionelles Ergebnis nach 5 Monaten. (Aus Wilhelm 1976)
Befundes ist zusätzlich noch eine entsprechende mehrwöchige Ruhigstellung erforderlich. Derartige mono- und polyfaszikuläre Radialisverletzungen im Bereich des Oberarms sind von Wilhelm (1976), Burn u. Lister (1984), Yamamoto et al. (2002), Yongwei et al. (2003) und Wasmeier et al. (2004) beschrieben worden. Über eine einfache Druckschädigung des N. radialis zwischen M. brachioradialis und M. brachialis in Form einer Dellenbildung ist von Lee et al. (2006) berichtet worden.
56
1568
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Diagnostik
56
Das Wichtigste bei der diagnostischen Abklärung einer proximalen Radialiskompression ist die Anamnese, um exogene Faktoren ausschließen und einen Anhalt für das Vorliegen einer akuten oder chronischen endogenen Schädigung des Nervs zu erhalten. Dabei spielt neben der Dauer der Traumatisierung und dem Zeitpunkt des Eintritts der Radialisparese vor allem die Abklärung einer beruflichen oder sportlichen Belastung, durch die vor allem die Funktion des M. triceps in Anspruch genommen wird, eine besondere Rolle. Als nächste diagnostische Maßnahme kommt ein genaues Studium des in Frage kommenden Bewegungsablaufs und eine Überprüfung der radialisinnervierten Muskulatur sowie der vorhandenen Sensibilitätsstörungen und Schmerzlokalisationen in Betracht (⊡ Tab. 56.6). Bei Ausfall der radialisinnervierten Unterarmmuskulatur finden sich eine Fallhand und ein Verschwinden des Brachioradialiswulstes bei Beugung des Ellenbogengelenks sowie Sensibilitätsstörungen im Bereich des N. cutaneus brachii lateralis inferior des N. cutaneus antebrachii posterior un d des R. superficialis ni. radialis (⊡ Abb. 56.26). Dies gilt in vielen Fällen auch für das Vorliegen von Schmerzarealen in der lateralen Epikondylenregion (Tennisellenbogen), am Handrücken (Neuralgie des N. interosseus posterior) und über dem Proc. styloideus radii (Styloiditis radii), vor allem bei leichteren Druckschäden (⊡ Tab. 56.6). Falls nur sensible Störungen im Bereich des R. superficialis ni. radialis und neben einem Schmerzareal im anterioren Bereich der lateralen Epikondylengegend auch noch eine Neuralgie des N. interosseus posterior vorhanden sind, kommt als Lokalisation der Druckschädigung entweder der Hiatus ni. radialis oder der unmittelbar distal hiervon gelegene kurze osteofibröse Kanal, der durch den Humerusschaft und eine fibröse Faserplatte gebildet wird, oder eine Kompression des Nervs im mittleren Bereich des Radialistunnels und des Supinatorschlitzes (Tennisellenbogen) in Frage (⊡ Abb. 56.27, ⊡ Abb. 56.28). Dabei muss genau geprüft werden, ob und inwieweit in diesem Fall eine »double crush nerve lesion« vorliegt. Falls sich aus der Anamnese auch Hinweise auf eine Humerusschaftfraktur sowie auf einen entzündlichen oder tumorösen Prozess ergeben sollten, sind selbstverständlich entsprechende Röntgenuntersuchungen durchzuführen. Anschließend steht noch eine neurologische Untersuchung an, die vor allem bei akut aufgetretenen Paresen möglichst umgehend erfolgen sollte, um bei Vorliegen einer mono- oder polyfaszikulären Segmentation keine sekundäre Naht oder gar Überbrückung des Defektes durch ein Nerventransplantat in Kauf nehmen zu müssen. Differenzialdiagnostisch kommen neben exogenen Druckschäden vor allem primäre Radialisverletzungen durch Oberarmfrakturen und tumorbedingte Kompressionen im Zwischenraum der Mm. brachialis et brachioradialis in Frage. Neben einem isoliert vorhandenen Tennisellenbogen, der nicht im Rahmen eines RIS als »double crush nerve lesion« aufgetreten ist, muss schließlich auch noch die Symptomatik eines ThoracicInlet-Syndroms (TIS) genannt werden, da, wie aus ⊡ Tab. 56.3 hervorgeht, ein chronisches Ödem in 4 von 30 Fällen die Nervenkompression im Sinne einer auslösenden Ursache begünstigt hat. Die pathogenetische Bedeutung von derartigen chronischen Ödembildungen konnte übrigens bereits 1985 als Ursache der idiopathischen distalen Medianuskompression durch klinische und histologische Untersuchungen nachgewiesen werden. Der Vollständigkeit halber sei auch noch auf das »motorische« Supinatorsyndrom hingewiesen, bei dem nur die Funktion des M. brachioradialis und der beiden Radialextensoren erhalten
geblieben ist. In diesem Fall kann das Handgelenk zwar gestreckt werden, aber nur unter gleichzeitigem Abweichen der Hand in radialer Richtung, da auch der M. extensor carpi ulnaris gelähmt ist. Gleichzeitig kommt es zu einem Verlust der Fingerstreckung in allen MP-Gelenken, während die Extension in den Interphalangealgelenken erhalten ist, da diese Funktion von den ulnarisinnervierten Mm. lumbricales übernommen wird. Bei dieser Form eines Supinatorsyndroms finden sich nicht selten Druckschmerzen im Bereich des Eingangs und Ausgangs des Supinatorkanals, ebenso über dem intramuskulären Verlauf des N. radialis, der hier an einer oder mehreren Stellen noch zusätzlich komprimiert werden kann. Dabei können die Schmerzen in Richtung des lateralen Epikondylus und gleichzeitig auch nach proximal in den Oberarm und nach distal bis zum Handrücken und den MP-Gelenken der Finger ausstrahlen (Neuralgie des N. interosseus posterior) (weitere Informationen in Kap. 17). Schließlich sei noch erwähnt, dass man bei Sensibilitätsstörungen im Bereich des oberflächlichen Radialisastes gelegentlich auch an ein Kompressionssyndrom dieses Nervs in der Zwinge zwischen den Sehnen des M. brachioradialis und des M. extensor carpi radialis longus (Wartenberg-Syndrom) denken sollte. Die Diagnose ist einfach, da lokal ein Druckschmerz und eine Schmerzverstärkung durch Pronation des Unterarms ausgelöst werden können, und zwar durch Schließung der genannten Zwinge, wobei die gegenüberliegenden Ränder der genannten Muskeln den oberflächlichen Radialisast komprimieren. In Supination dagegen weichen die genannten Sehnenränder auseinander, wodurch die Zwinge wieder geöffnet wird und eine Schmerzlinderung eintritt.
Klassifikation Bei der Durchsicht des Krankenguts hat sich herausgestellt, dass die Regenerationszeiten bei kompletten Paresen in keiner Weise von der Dauer der Vorgeschichte abhängen, sondern einzig und allein von der Schwere des lokalen Kompressionsschadens bzw. der Nervenverletzung. Aus diesem Grund wurden die kompletten Paresen in solche mit schwersten lokalen Veränderungen (+++: Pat. 4; Nekrose des N. radialis) sowie schwereren (++: Pat. 9, 13, 26, 23, 1), leichteren (+: Pat. 18, 19, 5, 11, 8, 15, 28, 29) und geringfügigerene ((+): Pat. 21, 22, 14, 10, 2, 7, 12, 6) Grades eingeteilt. Länger bestehende proximale Radialisirritationssyndrome wurden ebenfalls gekennzeichnet (-) (⊡ Abb. 56.30).
Therapie Eine konservative Behandlung kommt nur bei einer einmaligen Überbelastung des M. triceps mit nachfolgender Minderung der groben Kraft und Sensibilitätsstörungen sowie bei kurzfristig aufgetretenen proximalen Radialisirritationssyndromen in Betracht. Therapeutisch steht in beiden Fällen die Entlastung des M. triceps durch Schonung und die sofortige Beendigung bzw. Beseitigung der auslösenden Ursache mit entsprechender Aufklärung absolut im Vordergrund. Auch sollte der Patient darüber informiert werden, dass jede Beugung im Ellenbogengelenk, vor allem bei Kraftaufwand den Heilverlauf verzögert. Das Anlegen einer dorsalen Oberarmkunststoffschiene in einer Beugestellung des Ellenbogengelenks von 0-30-0° kann vor allem bei stärkeren Schmerzen, zumindest für die Nachtruhe, empfehlenswert sein. Ansonsten kommt eine konservative Behandlung bei einmaliger Überlastung des M. triceps mit nachfolgender kompletter oder Teilparese nur bis zum Abschluss der Voruntersuchungen in Betracht. Bei chronischen Traumatisierungen sollte bis zum Abschluss der einzelnen Untersuchungen und etwaiger dringend
1569 56.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 56.30 PRKS – Np (1969–1990), Nop = 30 – Ergebnisse
indizierter Vorbehandlungen zunächst ebenfalls eine konservative Behandlung vorgenommen werden.
b) Operative Revision des proximalen Radialiskanals innerhalb von 1 Woche, um mono- oder multifaszikuläre Nerveneinschnürungen optimal, d. h. durch Derotation und Fixation der Segmente, versorgen zu können
PRKS – Konservative Behandlung 1.
Akutes Trauma mit einmaliger Überbelastung des M. triceps, Verminderung der groben Kraft und Sensibilitätsstörungen (neurologische Untersuchung!)
a) Entlastung des M. triceps durch Schonung, Beendigung der auslösenden Ursache b) Antiphlogistika bei Bedarf 2.
Einmalige Überbelastung des M. triceps mit kompletter u. Teilparese
a) Konservative Therapie bis zum Abschluss der neurologischen Untersuchung, die innerhalb von 3 Tagen erfolgen sollte ▼
3.
Chronisches Trauma
a) Konservative Therapie bis zum Abschluss der Untersuchungen und etwaiger dringend indizierter Vorbehandlungen b) Überprüfung des Arbeitsplatzes und der Bewegungsabläufe des geschädigten Arms c) Vorbehandlung von Zusatzfaktoren (Fokaltoxikosen u. Stoffwechselstörungen) – Alkoholabusus! d) Nach neurologischer Untersuchung operative Revision des N. radialis
56
1570
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 56.7 PRKS – Operationsindikationen
56
Akut aufgetretene Paresen, nach konservativem Behandlungsversuch
4-mal
Paresen infolge chronischer Traumatisierung
15-mal
Paresen bei entzündlichen Prozessen
3-mal
Sekundäre Paresen im Verlauf einer Frakturheilung
8-mal
Operationen insgesamt:
30-mal
Die Indikationen zur operativen Therapie sind in ⊡ Tab. 56.7 angegeben. Technik der Dekompression des PRKS und der operativen Behandlung der differenzialdiagnostisch in Frage kommenden Radialisschädigungen im Bereich des Sulcus bicipitalis im Zwischenraum der Mm. brachialis et brachioradialis (s. unten). Patientenaufklärung
▬ Erklärung der in Frage kommenden Kompressionsmechanis-
▬ ▬ ▬
▬ ▬
men und der Operationsprinzipien mit Hinweis auf mögliche kombinierte Eingriffe, wie Resektion einer veralteten Konstriktion mit nachfolgender primärer Nervenkoaptation bzw. interfaszikulärer Nerventransplantation und 3-wöchiger Ruhigstellung. Dies gilt auch für die Kompression des N. radialis im anterioren Bereich des Radialiskanals. Bei tumorbedingten Radialisparesen sollte man auch auf eine Verletzung der äußeren Nervenhülle bei der Präparation hinweisen. Operationsdauer je nach Lokalbefund etwa 60–90 Minuten. Die zu erwartende Erfolgsquote bei der Behandlung des proximalen Radialiskompressionssyndroms ist sehr gut, von schwersten Druckschäden im Sinne einer Nekrose des Nervs abgesehen. Ein Funktionsersatz durch eine Radialisplastik ist möglich. Restbeschwerden, insbesondere bei unabhängig fortbestehenden Störzonen im Hals-, Schulter- und Armbereich. Übliche postoperative Komplikationen, wie Weichteilschwellung, Nachblutung, Infekte usw.
Instrumentarium ▬ Handchirurgisches Instrumentarium. ▬ Bipolare Elektrokoagulation. ▬ Lupenbrille oder Operationsmikroskop. Anästhesie und Lagerung ▬ Obere oder untere Plexusanästhesie oder Intubationsnarkose. ▬ Rückenlage. ▬ Auswickeln des Arms und Anlegen einer kontrollierten Oberarmblutsperre. Manschettendruck je nach RR-Wert 200 bis maximal 300 mmHg. ▬ Lagerung des leicht gebeugten Arms auf einem Tuchpolster. Die Kompression des N. radialis im Bereich des sehnigen Ursprungs des Caput laterale mi. tricipitis und des Hiatus ni. radialis (Kompressionsmechanismen 1, 2 und 3) Für die Freilegung des N. radialis benötigt man eine möglichst hoch sitzende Blutsperre. Nach Längsinzision an der Oberarmaußenseite in Verlängerung der Crista supraepicondylaris wird zunächst die Oberarmfaszie hinter dem Septum intermusculare la-
terale und die Austrittsstelle des N. cutaneus antebrachii posterior dargestellt. Letzterer dient als Leitstruktur für das Aufsuchen des N. radialis zwischen Vorderrand des Caput laterale mi. tricipitis und dem Septum intermusculare laterale. Hierzu sucht man sich zunächst den in der Subkutis verlaufenden Hautnerven auf und verfolgt ihn dann in proximaler Richtung bis zu seinem Austritt aus der oberflächlichen Faszie. Von hier aus wird die Oberarmfaszie zunächst zwischen Vorderrand des M. triceps und dem Septum intermusculare laterale unter sorgfältiger Schonung des Hautnerven und seiner Begleitgefäße längs inzidiert. Nach Beiseiteziehen des Trizepswulstes sieht man dann den am Hinterrand des Septums verlaufenden Hautnerven, der, wie in ⊡ Abb. 56.31 dargestellt, auch einmal durch eine oberflächliche Faserschicht des Septums bedeckt sein kann. Diese Struktur wird bis in Höhe des Hiatus ni. radialis längs inzidiert. Nach Beiseiteziehen des Trizepswulstes erkennt man dann den in den Hiatus eintretenden N. radialis und den proximal hiervon entspringenden N. cutaneus antebrachii posterior sowie die in der Tiefe gelegene sehnige Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis. Diese wird über dem schrägen Verlauf des N. radialis reseziert, da sie für den ersten Kompressionsmechanismus verantwortlich ist. Danach wird der N. radialis in diesem Bereich sorgfältig untersucht, wobei insbesondere auf das Vorhandensein oder Fehlen der subepineuralen Durchblutung und sonstiger Kompressionsfolgen zu achten ist. Danach wird der Hiatus, der für den zweiten Kompressionsmechanismus verantwortlich ist, über den in anteriorer Richtung verlaufenden N. radialis eröffnet und ausgiebig reseziert. Dabei sollte man stets darauf achten, ob der Nerv nicht auch noch zusätzlich durch eine vorgeschaltete fibröse Struktur druckgeschädigt wird (⊡ Abb. 56.27b). Bei normalen Befunden sollte der Nerv auch distal des Septums revidiert werden, da er in diesem Bereich, wenn auch relativ selten, ebenfalls durch kreuzende fibröse Fasern druckgeschädigt werden kann (3. Kompressionsmechanismus; ⊡ Abb. 56.28). Eine Unterfütterung des druckgeschädigten N. radialis mit gut durchblutetem Gewebe ist nur bei entzündlichen Prozessen und erheblichen Narbenbildungen sowie frakturbedingten Veränderungen im Bereich des Sulcus ni. radialis erforderlich. Nach Blutstillung wird eine Redon-Drainage eingelegt und der schichtweise Wundverschluss durchgeführt. Dabei wird die oberflächliche Faszie nur durch einige locker adaptierende Nähte versorgt. Im Falle einer Dekompression des RIS genügt für die postoperative Behandlung ein einfacher Kompressionsverband. Bei partiellen und kompletten Lähmungen ist eine Kunststoffoberarmschiene, ergänzt durch eine dynamische Radialisschiene, zur Entlastung der paretischen Unterarmmuskulatur erforderlich, um eine Überdehnung der gelähmten Unterarmmuskulatur zu verhüten. Die Redon-Drainage wird je nach Sekretanfall nach 1–2 Tagen entfernt. Intraoperative Befunde Stärkergradige Druckschädigungen des N. radialis fanden sich bei 6 von 30 Patienten (⊡ Abb. 56.30). Auch in den übrigen Fällen konnte der Kompressionsschaden makroskopisch eindeutig lokalisiert werden (⊡ Tab. 56.8). Als Ort der Schädigung fand sich bei 13 von 30 Eingriffen die Kreuzungsstelle der sehnigen Ursprungsportion des lateralen Trizepskopfes (1. Druckmechanismus) und in 10 Fällen im Bereich des Hiatus ni. radialis (2. Druckmechanismus). Kombinationen dieser beiden Drucklokalisationen waren bei 5 Patienten erforderlich, während eine Kompressionsschädigung des N. radialis distal des Hiatus nur 2-mal registriert werden konnte (3. Druckmechanismus). Außerdem kann der N. radialis im Bereich des Sulcus bicipitalis lateralis auch durch brüske Muskelkontraktio-
56
1571 56.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 56.31 Dekompression des N. radialis bei proximalem Radialiskompressionssyndrom nach Wilhelm. Präparation des N. cutaneus antebrachii posterior (Leitstruktur) in proximaler Richtung und Darstellung des N. radialis (gestrichelte Linie). Rote Linien: Resektion des sehnigen Ursprungsanteils des Caput laterale mi. tricipitis im Verlauf des N. radialis und des Hiatus ni. radialis. (Aus Mittelbach 1972)
nen druckgeschädigt werden, wobei der Nerv plötzlich in anteriore Richtung verlagert und gegen kreuzende Strukturen (Gefäße und Bindegewebsfasern) gepresst wird. Als Folge hiervon kann es zu mono- und polyfaszikulären Kompressionsläsionen kommen (4. Druckmechanismus; ⊡ Abb. 56.29, tabellarisch nicht erfasst). Die meisten makroskopischen Veränderungen konnten intraoperativ in Form von Dellenbildungen im Bereich des Caput laterale mi. tricipitis und des Hiatus ni. radialis ausgemacht werden, und zwar in der Hälfte der Eingriffe (⊡ Tab. 56.8). Schnürringförmige Kompressionen konnten nur im Bereich des Hiatus beobachtet werden. Anatomische Besonderheiten in der Nähe des Hiatus waren für die Kompression des N. radialis an dieser Stelle mitverantwortlich, könnten aber auch für sich allein als einzige Druckursache in Frage kommen. Die schwerste Kompression in Form einer ausgedehnten Nekrose im Bereich des lateralen Trizepskopfes und des Hiatus fand sich nur einmal (⊡ Abb. 56.30). Die unter Berücksichtigung des Lokalbefundes und des Alters der Patientin indizierte Radialisersatzplastik wurde leider abgelehnt. Eine Verdickung des Epineuriums zeigte sich bei 3 Patienten, während narbige Einbettungen des N. radialis immerhin bei 6 Patienten nachgewiesen werden konnten. Nur bei 4 von 30 Patienten konnte nach Dekompression des N. radialis makroskopisch kein wesentlich pathologischer Befund erhoben werden, sodass als Ursache der Beschwerden eine Beeinträchtigung des intraneuralen »Flows« angenommen werden muss. Anatomische Besonderheiten fanden sich in 7 Fällen Die Dekompression des N. radialis im anterioren Bereich des Oberarms bei Konstriktionsverletzungen (Kompressionsmechanismus 4) und Tumorbildungen Der N. radialis kann im Bereich des Sulcus bicipitalis lateralis nicht nur durch eine plötzliche Kontraktion der Mm. brachioradialis, brachialis et biceps brachii, sondern auch durch Tumorbildung komprimiert werden. Obwohl Letztere für das PRKS an sich nur in differenzialdiagnostischer Hinsicht von Bedeutung sind, werden sie an dieser Stelle dennoch besprochen, da ihre Symptomatik derjenigen des 3. und 4. Kompressionsmechanismus entsprechen kann (⊡ Abb. 56.31).
⊡ Tab. 56.8 PRKS – Intraoperative Befunde, Nop = 30 Dellenbildung (Caput laterale u. Hiatus ni. radialis) und Störung der subepineuralen Durchblutung (Np: 2, 3, 5, 7, 8, 10, 11, 14, 16, 18, 19, 20, 26, 28, 29)
15-mal
Schnürring (Hiatus ni. radialis) (Np: 1, 7, 9, 12, 13, 17)
6-mal
Verdickung des Epineuriums (Np: 1, 5, 7)
3-mal
Narbige Einbettung (Np: 1, 12, 21, 22, 23, 29)
6-mal
Drucknekrose (Caput laterale u. Hiatus ni. radialis) (Np: 4)
1-mal
N. radialis makroskopisch o. B.; Beeinträchtigung des intraneuralen Flows (Np: 6, 15, 24, 25)
4-mal
Anatomische Besonderheiten (Np: 8, 10, 18, 20, 27, 29, 30)
7-mal
Die Hinweiszahlen (Np) entsprechen den laufenden Nummern der ⊡ Tab. 56.3
Als Zugangsweg dient eine Längsinzision im Bereich des Sulcus bicipitalis lateralis, die bei Bedarf in der Ellenbeuge bogenförmig verlängert werden kann, und zwar unter Beachtung der distalen Beugefalte des Gelenks (⊡ Abb. 56.32a; punktierte Linie). Die oberflächliche Faszie wird dann entlang des medialen Randes der V. cephalica eröffnet und in der Ellenbeuge ebenfalls bogenförmig verlängert. Außerdem sollte dabei auch die Austrittsstelle des N. cutaneus antibrachii lateralis geschont werden (⊡ Abb. 56.32b). Danach wird der in der Tiefe zwischen den Mm. brachioradialis und brachialis gelegene N. radialis aufgesucht und inspiziert, wobei insbesondere auch auf kreuzende Strukturen geachtet werden sollte (⊡ Abb. 56.32c).
1572
Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
56
a
⊡ Abb. 56.32 Operativer Zugang bei Kompression des N. radialis in der distalen Oberarmhälfte, a Planung der Hautinzision, b Planung der Faszieninzision, c schematischer Operationssitus des N. radialis am Oberarm. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1959)
b
c
1573 56.2 · Spezielle Techniken
a c
b
d
⊡ Abb. 56.33 Partielle Radialisparese rechts, durch Tumorbildung im Bereich des Sulcus bicipitalis lateralis verursacht. a Präoperativer Befund, b röntgenologisch große knöcherne Tumorbildung (Osteofibrom, histologisch gesichert), c intraoperativer Situs: komprimierter N. radialis (NR) infolge eines hemizirkulär gewachsenen Tumors (OF); Nerv aus der Rinne des Tumors (Spatel) bereits herausgelöst; MB M. brachialis; MBR M. brachioradialis, d postoperatives Ergebnis nach 4 Monaten
Bei singulären oder multiplen Konstriktionen (Segmentationen) hängt das weitere Vorgehen in erster Linie vom Alter der Verletzung ab. Bei frischen Verletzungen empfiehlt sich eine Derotation der Segmente, die durch feinste atraumatische Nähte an benachbarten Strukturen (M. brachialis) fixiert werden müssen, um eine erneute Rotation zu verhindern. Bei älteren Verletzungen kommt je nach Ausdehnung des Schadens entweder eine Resektion des bereits vernarbten Schnürrings mit anschließender Naht oder aber eine ausgedehnte Resektion mit Defektüberbrückung durch ein Nerventransplantat in Frage. In allen Fällen muss anschließend eine Ruhigstellung des Arms durch eine Oberarmkunststoffschiene bei leicht gebeugtem Ellenbogengelenk 0-30-0° durchgeführt werden, und zwar in Kombination mit einer zusätzlichen Ergänzung im Sinne einer dynamischen Radialisschiene. Bei tumorbedingten Läsionen wird der Nerv vorsichtig freipräpariert und der Tumor exstirpiert. Eine Längsinzision des Epineuriums ist in diesem Fall nur bei einer sehr starken Druckschädigung mit erheblicher Verjüngung des Nervenquerschnitts erforderlich.
Fehler, Gefahren und Komplikationen Bei sorgfältiger Erhebung der Anamnese und Untersuchung der gesamten oberen Extremität sowie bei rechtszeitiger neurologischer Untersuchung und Beachtung der therapeutischen Indikati-
onen (⊡ Tab. 56.9) dürfte kaum mit folgeschweren Fehlern zu rechnen sein, es sei denn, der N. radialis wird direkt, d. h. ohne primäre Darstellung seiner Leitstruktur (N. cutaneus antebrachii posterior) freigelegt. In diesem Fall besteht neben dem Risiko einer stärkeren Gewebetraumatisierung durchaus die Gefahr einer Verletzung nervöser Strukturen, insbesondere des genannten Hautnervs, aber auch für den N. radialis selbst. Fehler können sich auch daraus ergeben, dass bei einem makroskopisch erkennbaren Druckschaden im Bereich des Hiatus ni. radialis darauf verzichtet wird, die sehnige Ursprungsportion des Caput laterale mi. tricipitis ebenfalls zu resezieren, obwohl eine exakt erhobene Anamnese für eine erhebliche Überbelastung des M. triceps gesprochen hätte. Auch im Zweifelsfall sollte man daher eine Dekompression des N. radialis im Bereich der beiden ersten Drucklokalisationen durchführen. Falls im Bereich derselben keine auffallenden Kompressionszeichen vorhanden sein sollten, muss der Nervenverlauf auch distal des Hiatus revidiert werden. Bei akut aufgetretenen Konstriktionsverletzungen kommt es im Wesentlichen darauf an, dass die Nervenrevision möglichst umgehend, d. h. noch innerhalb der ersten Woche durchgeführt wird, um dem Patienten die einfachste Behandlung in Form einer Derotation mit zusätzlicher Fixierung der Segmente angedeihen lassen zu können. In allen Fällen, bei denen zu lange mit der
56
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Revision gewartet wird, muss der Patient mit einer Resektion der Einschnürung mit nachfolgender Naht oder gar mit einer Nerventransplantation rechnen. Diese letzten Therapiemöglichkeiten gelten natürlich auch für die Konstriktionen mit einer längeren Vorgeschichte. So konnten von Yongwei et al. (2003) nur 3 von 8 Patienten durch eine Epineurolyse behandelt werden, bei denen lediglich eine beginnende Konstriktion vorlag, in einem Fall jedoch ohne den gewünschten Erfolg. Bei den übrigen 5 Patienten musste 2-mal eine Resektion der Konstriktion mit Nervennaht und 3-mal eine Nerventransplantation durchgeführt werden. Postoperative Weichteilschwellungen lassen sich vermeiden, wenn die Drainage erst nach Rückgang der Sekretion entfernt und der erste Verbandswechsel erst nach Abklingen der Ödemphase durchgeführt wird. Postoperative Infektionen können erheblich minimiert werden, wenn das Operationsgebiet nach handchirurgischen Grundsätzen (Waschen und Anlegen eines 30%igen Alkoholverbandes) vorbereitet wird.
Prognose und Verlauf
56
Die postoperativen Ergebnisse sind in ⊡ Tab. 56.9 und ⊡ Abb. 56.30 zusammenfassend dargestellt. Daraus geht hervor, dass sich die kompletten und inkompletten Paresen sowie die Irritationssyndrome (–) in 29 von 30 Fällen wieder vollständig zurückgebildet haben. Nur bei einem Patienten (Pat. 9, Nr. 4), bei dem eine ausgedehnte Drucknekrose vorlag, konnte die Funktion nicht mehr wiederhergestellt werden, da die in diesem Fall indizierte Radialisersatzplastik abgelehnt worden ist.
Auch bei den Patienten 28 und 29 bildeten sich die Lähmungen ebenfalls vollständig zurück. Angaben über die Dauer der Regeneration konnten in diesen Fällen allerdings nicht mehr gefunden werden. Dies gilt auch für eine Patientin (30) mit einem RIS, bei der die Regenerationszeit ebenfalls nicht mehr eruiert werden konnte. Wie weiter oben bereits erwähnt, war die Dauer der Regeneration einzig und allein von der Schwere des Lokalbefundes abhängig. Komplette Paresen mit schweren Kompressionsschäden zeigten dabei die längsten Regenerationszeiten, während sich dieselben Paresen mit geringeren Läsionen in wesentlich kürzeren Zeiträumen wieder erholten. Bei den partiellen Lähmungen dauerte die Regeneration nur 12 Stunden bis max. 1 Monat! Bei den Irritationssyndromen (–) bildete sich die Symptomatik dagegen in 2 Tagen bis max. 1½ Monaten und in einem Fall sogar erst nach 6 Monaten zurück (⊡ Abb. 56.30). Für die Beurteilung der postoperativen Ergebnisse ist auch eine Kontrolluntersuchung der Nervenleitgeschwindigkeit erforderlich. Das in ⊡ Abb. 56.34 dargestellte Beispiel zeigt präoperativ eine Leitgeschwindigkeit von nur 33,3 m/s und 5 Wochen nach dem Eingriff einen fast normalen Wert von 46,0 m/sek. (Tab. 4, Pat. 27).
⊡ Tab. 56.9 Postoperative Ergebnisse – Np = 27/(30a) Motorik Komplette Parese infolge Drucknekroseb
1-mal
Völlige Restitution der Teilparesen
8-mal
Wiederherstellung der groben Kraft
17-mal
Besserung der groben Kraft
2-mal
Fehlen der groben Kraftb
1-mal
Sensibilitätsstörungen N. radialis: Hoffmann-Tinel
1-mal
N. radialis: Hoffmann-Tinel angedeutet
2-mal
N. cutaneus brachii posterior
1-mal
N. cutaneus antebrachii posterior
1-mal
R. superficialis ni. radialis
2-mal (+ 1-mal)c
Schmerzfelder Laterale Epikondylenregion
1-mal (+ 2-mal)c
Proc. styloideus radii
0 (+ 1-mal)c
Handrücken (Interosseusneuralgie)
0 (+ 1-mal)c
a
Die einzelnen postoperativen Ergebnisse bei den Patienten 28, 29 u. 30 konnten wegen fehlender Unterlagen nicht berücksichtigt werden (Unterlagen bereits vernichtet). b siehe ⊡ Abb. 56.30, Nr. 1 c Die in Klammern gesetzten Befunde sind auf einen unabhängig bestehenden Tennisellenbogen zurückzuführen.
⊡ Abb. 56.34 Prä- und postoperative Kontrolle (unten) und Nervenleitgeschwindigkeit.
1575 56.2 · Spezielle Techniken
Supinatorlogensyndrom (Synonyme: Supinatortunnelsyndrom, N.-interosseus-posterior-Syndrom) Margot Wüstner-Hofmann Etwa auf Höhe des Speichenkopfs teilt sich der N. radialis in seine Endäste, den sensiblen R. superficialis und den motorischen R. profundus, der nach seinem Durchtritt durch den M. supinator N. interosseus posterior heißt (⊡ Abb. 56.35).
Epidemiologie Das Syndrom ist das häufigste Kompressionssyndrom des N. radialis bzw. seines motorischen Astes. Es liegt eine Läsion des R. profundus ni. radialis bei seinem Eintritt unter den proximalen sehnigen Rand des M. supinator am proximalen Unterarm vor.
Ätiologie Als Ursache für das Supinatortunnelsyndrom wird ein stark sehnig ausgebildeter Rand am Eintritt des Nervs in den M. supinator, die Frohse-Arkade, angesehen. Der M. extensor carpi radialis brevis kann einen scharfen sehnigen Rand aufweisen und neben der Kompression durch die Frohse-Arkade zusätzlich oder auch allein Ursache einer Kompression sein. Eine abnorme sehnige Verhärtung des M. supinator selbst kann ebenfalls zu einer mechanischen Irritation führen. Für eine mechanische Ursache spricht das Auftreten einer Parese des N. interosseus posterior nach stärkerer Belastung des Arms. So kann das Syndrom durch eine repetitive Betätigung, z. B. beim Tennisspielen, beim Wurfsport oder auch durch das Geigespielen, provoziert werden. Tumoren im Bereich der Supinatorloge, häufig Lipome, aber auch Ganglien in der Ellenbeuge können eine Kompression des tiefen Radialisastes verursachen. Am häufigsten sind parosteale Lipome, die vom Radiushals ausgehen. Ganglien nehmen ihren Ursprung von der vorderen Kapsel des proximalen radioulnaren Gelenks und liegen am proximalen Rand des M. supinator. Sowohl Lipome als auch Ganglien lassen sich durch Magnetresonanztomografie (MRT) nachweisen. Raumfordernde Prozesse verursachen bei entsprechender Größe häufig eine massive Kompression des R. profundus ni. radialis. Als Kompressionsursachen werden außerdem rheumatoide Arthritiden des Ellenbogengelenks mit und ohne Synovialitis, ein Cubitus varus sowie Entzündungen der Bursa bicipitis radialis zwischen dem Ansatz der Bizepssehne und dem Radius beschrieben. Vom idiopathischen Kompressionssyndrom sind traumatisch entstandene Läsionen abzugrenzen. Eine persistierende Luxation des Speichenkopfes mit starker Dislokation oder ein Zustand nach Monteggia-Fraktur mit Fraktur von Ulna und Luxation des Speichenkopfes können eine isolierte Läsion des R. profundus ni. radialis verursachen. Differenzialdiagnostisch muss außerdem an eine ohne Sensibilitätsstörung einhergehende spinale Läsion oder eine degenerative Vorderhornerkrankung (spinale Muskelatrophie) gedacht werden.
Diagnostik Da es sich um die Kompression eines motorischen Nervs handelt, geht das Supinatorsyndrom mit einem rein motorischen Lähmungsbild einher. Eine Sensibilitätsstörung findet sich deshalb nicht. Die Mm. triceps, brachioradialis und die radialen Handextensoren bleiben ausgespart. Betroffen sind der M. supinator, der M. extensor carpi ulnaris sowie die langen Finger- und die Daumenextensoren. Bei einer chronischen Kompression fällt zuerst eine Schwäche des M. extensor digiti minimi und später sämtlicher
vom N. interosseus posterior versorgten Finger -und Handextensoren auf. Bei der klinischen Prüfung ist eine aktive Streckung der Finger in den Grundgelenken nicht oder nur angedeutet möglich. Hingegen gelingt durch die Mm. interossei eine Streckung der Fingermittel- und endglieder bei gebeugten Grundgliedern. Im Verlauf des R. profundus ni. radialis und über dem Supinatorschlitz kann eine umschriebene Druckdolenz vorliegen. Es kommt dort zu einer Schmerzverstärkung bei Supination des Unterarms und auch bei Extension der Finger gegen Widerstand. Sensible Störungen finden sich nicht. Bei Vorhandensein eines Tumors, insbesondere eines Lipoms, kann dieser bei entprechender Größe im Bereich des M. supinator zu tasten sein. Differenzialdiagnostisch muss an das Vorliegen von Strecksehnenrupturen gedacht werden, des Weiteren sollten radikuläre und spinale Syndrome, die ohne Sensibilitätsstörungen einhergehen, abgegrenzt werden. Elektrophysiologische Befunde Eine elektromyografische Untersuchung ist erforderlich, insbesondere wenn keine eindeutige motorische Parese vorliegt. Bei der elektroneurografischen Untersuchung wird der N. radialis proximal des Epicondylus humeri radialis stimuliert und mit Oberflächen- oder Nadelelektroden vom M. extensor indicis proprius abgeleitet. Bei zusätzlicher Stimulation distal des Supinatortunnels kann die motorische NLG des N. interosseus posterior bzw. des N. radialis im Bereich des Ellenbogengelenks ermittelt werden. Im Seitenvergleich zeigt sich dann in pathologischen Fällen auch bei weniger veränderter NLG eine Reduktion der Amplitude der Muskelantwort. Ergänzend kann eine sensible Neurografie des R. superficialis ni. radialis erfolgen. Diese ergibt bei einem typischen Supinatorlogensyndrom normale Werte. Bildgebende Verfahren Mittels Sonografie und MRT können Raumforderungen im Bereich der Supinatorloge dargestellt werden. Die Kompression imponiert sonografisch in Form einer echoarmen Schwellung des Nervs als Ausdruck eines Ödems.
Klassifikation Die Nomenklatur dieses Kompressionssyndroms ist nicht einheitlich. In Green’s »Operative Hand Surgery« wird zwischen dem mit motorischen Ausfällen einhergehenden »posterior interosseous nerve syndrome« und dem »radial tunnel syndrome« unterschieden. Letzteres wird unterschiedlich interpretiert und mit einer algetischen Form des Interosseus-posterior-Syndroms und dem »resistant tennis elbow« in Beziehung gebracht. Von neurologischer Seite werden solche Zusammenhänge grundsätzlich abgelehnt. Für Beasly in Slutsky u. Hentz »Peripheral Nerve Surgery« (2006) gibt es kein Radialistunnelsyndrom, sondern nicht genau abgrenzbare »proximal forearm radial compression neuropathies« mit einer diffusen, bis zur HWS ausstrahlenden Schmerzsymptomatik. Paretische Formen sind diesem Autor nicht bekannt.
Therapie Konservative Therapie Bei akut aufgetretenen und schmerzhaften Läsionen kann zunächst antiphlogistisch oder auch mit Ruhigstellung des Arms auf einer Oberarmschiene behandelt werden. Sind die Paresen jedoch zunehmend, ist eine operative Exploration unumgänglich.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 56.35 Regio cubiti. Gefäß-Nerven-Strang und N. radialis vollständig dargestellt. a Ansicht von palmar (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
1577 56.2 · Spezielle Techniken
⊡ Abb. 56.35 Regio cubiti. Gefäß-Nerven-Strang und N. radialis vollständig dargestellt. b Ansicht von radial. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 56.36 Mediolateraler Zugang zur Darstellung des N. radialis im Bereich der Ellenbeuge. a Planung der Hautinzision, b Darstellung des N. radialis und seiner beiden Endäste. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
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Operative Therapie Die Operation erfolgt in der Regel in Plexusanästhesie oder auch in Allgemeinanästhesie. Empfehlenswert ist die Anlage einer Blutleere. Es kommen zwei Zugangswege in Frage: ▬ mediolateraler (anterolateraler) Zugang und ▬ dorsoradialer Zugang. Mediolateraler Zugang Dieser hat den Vorteil, dass er sowohl eine gute Darstellung des N. radialis zum Oberarm hin als auch nach distal bis zum Ende des M. supinator ermöglicht. Die Schnittführung beginnt am Oberarm distal und lateral und verläuft weiter in der mediolateralen Ellenbeuge, am Unterarm entlang des medialen Randes des M. brachioradialis (⊡ Abb. 56.36). Große Venen sowie der N. cutaneus antebrachii lateralis müssen erhalten werden. Nach Eröffnen der Faszie wird zwischen dem M. brachioradialis und dem M. brachialis eingegangen und der N. radialis dargestellt. Die Muskeln werden hierbei stumpf auseinandergehalten. Am Unterarm wird zunächst zwischen M. brachioradialis und M. ext. carpi radialis longus eingegangen. Dies gelingt ohne Verletzung von Muskelfasern und Gefäßen. Der Eingang zum Supinatorkanal ist nun gut einsehbar. Vor der Aufteilungsstelle des N. radialis in den oberflächlichen und den tiefen Ast zweigt der Ast zum M. extensor carpi radialis ab. Über dem gut tastbaren Speichenkopf liegt Fettgewebe, das den Nerv umschließt. In dieser Höhe teilt sich der N. radialis in den R. superficialis und R. profundus bzw. N. interosseus posterior. Dort kreuzende Gefäße (»Leash of Henry«) werden in der Regel unterbunden und durchtrennt. Die Frohse-Arkade wird nach Darstellung einschließlich des sehnigen Ansatzes des M. supinator vollständig gespalten und falls erforderlich auch Anteile davon reseziert. Bereits vor der Frohse-Arkade kann ein sehniger Ursprung des M. extensor carpi radialis brevis zu einer Einengung führen, die ebenfalls beseitigt wird (⊡ Abb. 56.37). Es zeigt sich am R. profundus ni. radialis bei deutlicher Kompression eine Abschnürung und häufig auch ein Pseudoneurom.
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⊡ Abb. 56.37 Operationssitus des R. profundus ni. radialis beim Eintritt in die Frohse-Arkade. a vor Dekompression, b nach Dekompression
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⊡ Abb. 56.38 Dorsolateraler Zugangs zum N. radialis. a Verlauf des Hautschnitts, b Präparation. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008 [a])
Bei der weiteren Darstellung nach distal wird zwischen dem M. extensor carpi radialis brevis und M. extensor digitorum eingegangen und der N. radialis in seinem Verlauf durch den Supinatorkanal dargestellt. Ein evtl. vorliegender Tumor wie ein Lipom kann u. U. sehr groß sein, wird bereits frühzeitig sichtbar und muss sorgfältig präpariert werden. Eine interfaszikuläre Neurolyse des Nervs ist nicht indiziert. Nach Einlage einer Wunddrainage und Wundverschluss wird ein lockerer Kompressionsverband angelegt, eine Ruhigstellung ist nicht erforderlich. Dorsoradialer Zugang Dieser Zugang ermöglicht lediglich eine Darstellung im Bereich des Supinatortunnels und nicht des Nervenverlaufs am Oberarm, die Präparation erfolgt durch die Extensoren hindurch (M. bachioradialis und M. extensor digitorum). Die Hautinzision verläuft hier etwas kürzer und bogenförmig über dem M. brachioradialis. Nach Eröffnung der Unterarmfaszie wird zwischen M. brachioradialis und dem M. ext. carpi radialis eingegangen. Die Muskulatur wird mit Langenbeck-Haken auseinandergehalten. Unter dem M. brachioradialis ist der R. superficialis als Leitstruktur sichtbar. Der R. profundus ist in dieser Region ca. 6 cm distal des lateralen Epicondylus auffindbar. Das weitere Vorgehen ist identisch wie beim mediolateralen Zugang mit Spaltung der beengenden Strukturen des Supinatortunnels (⊡ Abb. 56.38). Wir bevorzugen den medio -bzw. anterolatealen Zugang, der eine erweiterte Darstellung zum Oberarm hin ermöglicht und eine bessere Übersicht bietet, insbesondere wenn der Nerv bereits an seiner Aufzweigungsstelle dargestellt werden soll.
Fehler, Gefahren und Komplikationen ( Abschn. 56.3) Prognose und Verlauf Die Prognose nach Dekompression ist gut , sie hängt jedoch von der Dauer und dem Ausmaß der vorbestehenden Schädigung ab. Es wird eine Rückbildung der Paresen im Mittel nach Ablauf von 5–6 Monaten beschrieben. Länger als 1 Jahr bestehende vollstän-
dige Paresen haben eine deutlich schlechtere Prognose. Bei einer irreversiblen Läsion mit ausbleibender Funktion der Fingerstrecker ist eine Radialisersatzplastik möglich.
Wartenberg-Syndrom (Kompression des sensiblen R. superficialis ni. radialis, Cheiralgia parästhetica) Margot Wüstner-Hofmann Epidemiologie Das Kompressionssyndrom tritt selten auf. Aufgrund der vorhandenen Daten können keine exakten Angaben zur Häufigkeit des Vorkommens gemacht werden
Ätiologie Der sensible Endast des N. radialis verläuft an der Unterseite des M. brachioradialis entlang des Muskelbauchs und der Sehne. Er durchtritt am distalen Unterarm die Unterarmfaszie und verzweigt sich dann in 2 oder 3 Endäste, die den radialen Handrücken sowie das streckseitige Daumengrundglied und die Streckseiten von Zeige- und Mittelfinger bis zu den Grundgelenken sensibel versorgen (⊡ Abb. 56.39). Eine eigentliche Kompression des Nervs findet sich an der Durchtrittsstelle durch die Unterarmfaszie bzw. zwischen den sehnigen Anteilen des M. extensor carpi radialis longus und des M. brachioradialis. Abhängig von Pronation oder Supination kann es hier zu einer scherenartigen Einklemmung durch die Faszienkanten kommen. Durch äußere Druckeinwirkung am distalen radialen Unterarm z. B. durch ein zu enges Uhrenarmband sind die Äste des Ramus superficialis ni. radialis über dem 1. Strecksehnenfach für eine Läsion anfällig. Auch Handschellen sind als Ursache einer solchen Druckläsion beschrieben. Traumatische Läsionen finden sich nach osteosynthetischen Eingriffen am distalen Radius, nach Shunt-Operationen aber auch nach Schlagverletzungen, sowie nach intravenösen Injektionen. Externe Druckläsionen sind häufiger als Kompressionssyndrome.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
56 ⊡ Abb. 56.39 Wartenberg-Syndrom: Kompression des R. superficialisni. radialis beim Durchtritt durch die Faszia antebrachii. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Diagnostik Die Patienten beklagen Schmerzen und Sensibilitätsstörungen im Ausbreitungsgebiet des R. superficialisni. radialis, d. h. am radialen Handrücken und der Daumenstreckseite. Beim typischen Kompressionssyndrom ist häufig ein umschriebener Druckschmerz über dem Nervenverlauf im distalen Unterarmdrittel zu finden, auch ein positiver Finkelstein-Test mit entsprechendem Dehnungsschmerz ist nachweisbar. Hiervon muss eine Tendovaginitis stenosans de Quervain abgegrenzt werden. Bei einer Tendovaginitis beschränkt sich der Schmerz auf den Bereich des 1. Strecksehnenfachs, während er bei der Cheiralgie zum Daumen hin ausstrahlt. Pronations-Abduktions-Test nach Dellon und Mackinnon Durch Pronation des Unterarms und Abduktion der gestreckten Hand können durch entstehende Dehnung und Kompression des Nervs zwischen den Sehnen der Mm. brachioradialis und ext. carpi radialis longus Parästhesien ausgelöst werden. Liegt hingegen nur eine Hypästhesie ohne Druckdolenz im Nervenverlauf vor, ist dies ein Hinweis auf eine externe Druckläsion. Elektroneurografie Die elektroneurografische Untersuchung ist nur eingeschränkt zur Diagnosesicherung verwertbar. Mondelli et al. (2005) fanden in 30% der Patienten ein fehlendes SAP sowie bei den übrigen Patienten eine Amplitudenminderung.
Klassifikation Eine nähere Klassifikation für dieses Kompressionssyndrom existiert nicht.
Therapie Konservative Theapie Bei Vorliegen einer externen Druckschädigung kann abgewartet werden. Die Vermeidung der Ursache führt in der Regel zu einer Besserung. Ein operatives Vorgehen ist selten erforderlich. Hingegen ist die operative Revision bei anhaltenden Beschwerden insbesondere beim typischen Kompressionssyndrom indiziert.
Operative Therapie Die Operation erfolgt in Plexusanästhesie und Oberarmblutleere. Die Inzision wird längsverlaufend über dem mittleren Unterarm dorsoradial entlang des Randes des M. brachioradialis vorgenommen. Über einen Schnitt von etwa 6 cm Länge werden die Hautäste des R. cutaneus antebrachii dorsalis präpariert. Der sehnige Rand des M. brachioradialis sowie des M. extensor carpi radialis longus wird dargestellt. Der R. superficialis ni. radialis kann von seinem Austrittspunkt unter dem M. brachioradialis nach distal verfolgt werden. Die intraoperative Bewegungsprüfung in Supination und Pronation des Unterarms ergibt genaue Hinweise auf die Lokalisation einer Kompression. Findet sich ein abschnürender Faszienrand wird dieser entfernt. Ein weit nach radiopalmar überlappender sehniger Rand des M. brachioradialis kann sowohl reseziert als auch mit einer von Wilhelm 1984 beschriebenen Umklappnaht versorgt werden (⊡ Abb. 56.40).
Fehler, Gefahren und Komplikationen ( Abschn. 56.3) Prognose und Verlauf Die Ergebnisse der operativen Behandlung wurden von Foucher und Pajarda (2002) dargestellt. Hier ergab sich bei 78 Fällen in 71% excellente und in 19% gute Ergebnisse.
Irritation des Endastes des N. interosseus posterior Margot Wüstner-Hofmann Bei der isolierten Kompression des sensiblen Endastes des R. profundus ni. radialis, des N. interosseus posterior, handelt es sich um eine sehr seltene Kompression bzw. Irritation. Dieser Nervenast versorgt kein Hautareal, sondern lediglich die dorsale Handgelenkkapsel. Er kann Ursache eines Schmerzsyndroms mit dumpfen Schmerzen über dem streckseitigen Radiokarpalgelenk sein. Ursächlich kommt eine Irritation oder Kompression des Nervs z. B. durch ein Handgelenkganglion in Frage, eine Reizung des
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56.2.4 Kompression des N. medianus
Margot Wüstner-Hofmann Chirurgisch relevante Anatomie
⊡ Abb. 56.40 Operationssitus N. radialis superficialis vor und nach Spaltung der Faszie und Umklappnaht nach Wilhelm
Nervs durch wiederholte Beanspruchung oder bei Laxizität des Handgelenks ist ebenso möglich. Diagnostisch kann eine probatorische Leitungsanästhesie des Nervs durchgeführt werden und abhängig vom Erfolg die Resektion des N. interosseus posterior distal erfolgen. Bei Kompression durch ein Ganglion ist sowohl die Entfernung des Ganglions als auch eine Neurotomie des N. interosseus posterior empfehlenswert.
Der N. medianus geht aus den medialen und lateralen Faszikeln des Armplexus hervor, die ihren Ursprung in den Wurzeln C5–C8 haben. Mit den Armgefäßen verläuft er durch die Axilla und ventral am Oberarm bis zum Sulcus bicipitalis medialis, im weiteren Verlauf liegt er in der Ellenbeuge an der Medialseite der Arteria brachialis. Unter dem Lacertus fibrosus werden mehrere Muskeläste abgegeben (Mm. pronator teres, flexor carpi radialis, palmaris longus, flexor digitorum superficialis). Am proximalen Unterarm tritt der Nerv dann in den M. pronator teres ein, zwischen dessen beiden Köpfen er im Regelfall hindurchläuft. Hier können anatomische Varianten bestehen, ebenso wie auch im weiteren Verlauf am Unterarm. Nach Durchtritt durch die Pronator-teres-Köpfe verläuft der N. medianus weiter nach distal am Unterarm unter dem M. flexor carpi radialis und dem M. flexor digitorum superficialis, nachdem er seinen tiefen Ast, den N. interosseus anterior, abgegeben hat. Dieser versorgt motorisch den Zeigefingeranteil des M. flexor digitorum profundus sowie den M. flexor pollicis longus und den M. pronator quadratus, der Nerv führt auch sensible Äste für das Handgelenk. In Höhe der Abzweigungsstelle des N. interosseus anterior gibt es gelegentlich »Anastomosen« bzw. einen Transfer von Fasern zum N. ulnaris (Martin-Gruber-Anastomose). Im distalen Abschnitt des Unterarms liegt der N. medianus zwischen den Sehnen des M. flexor carpi radialis und des M. palmaris longus in einer tieferen Schicht. Zum Karpalkanal hin weist der Nerv eine immer mehr abgeplattete Form auf und gibt ca. 5 cm proximal des Retinaculum flexorum einen Ramus palmaris ab, der die Faszie durchtritt und radial des Hauptstamms verläuft. Dieser Ast versorgt die Haut über dem Thenar sowie die radiale Hälfte der Handfläche. Der Ramus palmaris ni. medianus ist variabel und kann auf unterschiedlicher Höhe am distalen Unterarm vom N. medianus abzweigen. Er kann sowohl subkutan verlaufen oder auch Anteile des Retinakulum perforieren. Durch atypische Schnittführungen bei der Karpaltunneloperation ist eine Läsion möglich (⊡ Abb. 56.41). Klinisch ist der Verlauf durch den Karpalkanal wegen der hier möglichen Raumbeengung wichtig. Der Karpalkanal ist ein osteofibröser Kanal, der von den Karpalknochen und dem Retinaculum flexorum (Lig. carpi transversum) gebildet wird. Das Retinaculum flexorum spannt sich zwischen dem Tuberculum ossis scaphoidei und ossis trapezii einerseits sowie dem Os pisiforme und dem Hamulus ossis hamati andererseits aus. Der Karpalkanal selbst enthält die Sehnen des M. flexor pollicis longus sowie alle Fingerbeugesehnen, umhüllt von ihren Sehnenscheiden. Der engste Bereich des Karpalkanals liegt etwa 2,5 cm distal des Eingangs. Im Karpalkanal kann der N. medianus als Variante von einer stärker als gewöhnlich ausgebildeten A. mediana begleitet sein (⊡ Abb. 56.42). Nach Verlassen des Karpalkanals teilt sich der N. medianus in die sensiblen Rami palmares communes sowie den motorischen Thenarast (R. thenaris). Dieser verläuft am Ausgang des Karpalkanals nach radial palmar subligamentär oder auch transligamentär. Es werden die Mm. flexor pollicis brevis, abductor pollicis brevis sowie der M. opponens pollicis versorgt. Der R. thenaris kann aus mehreren Ästen bestehen und unterschiedliche Verläufe nehmen. Es existieren anatomische Varianten, die insbesondere von Lanz (1977) beschrieben wurden. Hierbei handelt es sich um ulnarseitige Abzweigungen, ein Verlauf dorsal
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⊡ Abb. 56.41 Überblick des Verlaufs und der motorischen Äste des N. medianus. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
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⊡ Abb. 56.42 Topografie des Karpalkanals. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
der Sehne des M. flexor pollicis longus, zusätzliche Innervationen vom N. ulnaris (23%), ausschließliche Innervationen vom N. ulnaris (20%). Es sind »Anastomosen« zwischen dem Ramus profundus ni. ulnaris und Ästen des Ramus thenaris bekannt, so die RicheCannieu-Anastomose. Diese Anomalie erklärt auch die Beobachtung, dass komplette Läsionen des N. medianus nicht immer zu einer relevanten motorischen Störung führen. Die sensiblen Medianusäste versorgen die Palmarseite des Daumens, des Zeige- und Mittelfingers sowie die ulnare Hälfte des Ringfingers und die Streckseiten der Mittel- und Endglieder von Zeige- und Mittelfinger (⊡ Abb. 56.43). Extrem selten sind sensible Innervationsanomalien wie die »all ulnar nerve hand«. Im Bereich des N. medianus werden zahlreiche Kompressionssyndrome unterschieden (⊡ Abb. 56.44): ▬ Kompression am Oberarm durch: – Proc. supracondylaris, – Struthers-Ligament,
▬ Kompression durch die Aponeurosis mi. bicipitis, ▬ Kompression durch den M. protator teres: – hoher (proximaler) Ansatz, – Sehnenbögen, ▬ N.-interosseus-anterior-Syndrom, ▬ Karpaltunnelsyndrom, ▬ Kompression des R. palmaris.
Kompression des N. medianus am Oberarm Epidemiologie Im Bereich des Oberarms findet sich bei etwa 1% der Menschen an der Innenkante des Humerus etwa 6 cm oberhalb des Ellenbogens ein sog. Processus supracondylaris humeri. Von der Spitze dieses Processus zieht oft ein fibröses Band zum Epicondylus medialis. Dieses wird auch als Struthers-Ligament bezeichnet. Der N. medianus verläuft an der Basis dieses Processus unter dem Band hindurch und wird dort von dem hier entspringenden oberflächlichen Kopf des M. pronator teres bedeckt (⊡ Abb. 56.45).
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Kompression durch Struther-Ligament
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Kompression durch die Aponeurosis m. bicipitis Pronatorsyndrom N. interosseus Syndrom
Karpaltunnelsyndrom
⊡ Abb. 56.44 Lokalisation möglicher Kompressionssyndrome im Verlauf des N. medianus
⊡ Abb. 56.43 Sensibilitätsareal des N. medianus, dunkel: autonome Zone. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
Ätiologie Eine direkte Reizung des N. medianus durch den Knochensporn wird angenommen. Sowohl ein Processus supracondylaris humeri vergesellschaftet mit einem Struthers-Ligament als auch allein das Struthers-Ligament können eine Medianussymptomatik verursachen. Drucklähmungen, die im Schlaf auftreten, betreffen nicht nur den N. radialis, sondern selten auch den N. medianus. Bei der »Paralysie des amants« kommt es zu einer Druckläsion des N. medianus am Oberarm durch den Kopf des schlafenden Partners. Die Anlage einer Blutsperre kann bei schlanken Oberarmen und zu hohem Druck sowohl zu einer Radialis- als auch zu einer
Medianusparese führen. Selten kann es nach Osteosynthese von Humerusschaftfrakturen mit Verletzung der A. brachialis im Verlauf des Sulcus bicipitalis zu einem Aneurysma mit nachfolgender Kompression des N. medianus kommen.
Diagnostik Ein deutlich positives Hoffmann-Tinel-Zeichen im medialen Oberarmbereich sollte immer eine Röntgenuntersuchung zur Folge haben. Der röntgenologische Nachweis einer Struthers-Arkade ist beweisend. Allerdings kann auch ein Struthers-Band ohne knöchernen Vorsprung vorliegen.
Klassifikation Eine nähere Klassifikation für dieses Kompressionssyndrom existiert nicht.
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Processus supracondylaris
Struther Ligament N. medianus
⊡ Abb. 56.45 Kompression des N. medianus durch das Septum intermusculare mediale bei vorhandenem Processus supracondylaris, 1 Proc. supracondylaris, 2 Struthers-Ligament, 3 N. medianus
Therapie Die Behandlung liegt in einer operativen Entfernung des Processus supracondylaris humeri und in einer Durchtrennung des Ligaments.
Fehler, Gefahren und Komplikationen ( Abschn. 56.3) Prognose und Verlauf Die durch äußeren Druck entstandenen Läsionen sind in der Regel immer volIständig reversibel und bedürfen keiner besonderen Behandlung.
Pronator-teres-Syndrom Epidemiologie Die Inzidenz des Pronator-teres-Syndroms ist schwer abzuschätzen. Es sind vorwiegend Männer betroffen und häufiger der dominante Arm. Das mittlere Alter wird bevorzugt. Aufgrund der verschiedenartigsten Symptome ist eine sehr sorgfältige Abgrenzung zu anderen Kompressionssyndromen erforderlich.
Ätiologie Es handelt sich um eine Kompression des N. medianus im Bereich der Durchtrittstelle des Nervs zwischen dem ulnaren und humeralen Kopf des M. pronator teres. Seltener kann eine Engstelle
unter einer fibrösen Arkade des M. flexor digitorum superficialis vorliegen. Gelegentlich tritt auch weiter proximal im Bereich des Lacertus fibrosus des M. biceps eine Engstelle auf. Der Lacertus fibrosus umfasst wie ein straffer Gürtel den proximalen Abschnitt der humeralen Ursprungsportion des M. pronator teres und drückt diesen Muskelabschnitt mit zunehmender Ellenbogengelenkstreckung gegen die vordere Zirkumferenz der Trochlea humeri. Dieser Kompressionsmechanismus wird bei gleichzeitiger Pronation gegen Widerstand noch verstärkt. Der M. pronator teres selbst kann durch Veränderungen fibröser Art an der Eintrittspforte oder durch eine stark ausgeprägte ligamentäre ulnare Ursprungsportion den N. medianus ebenfalls komprimieren. Am häufigsten liegt jedoch der Ort der Kompression unmittelbar distal des Austritts aus dem M. pronator teres am proximalen Rand der mittleren Ursprungsportion des M. flexor digitorum superficialis. In diesem Bereich findet sich der Übergang bzw. die Abgrenzung zum N.-interosseus-anterior-Syndrom, bei dem isoliert die Muskulatur betroffen ist. Der N. medianus kann beim Pronator-teres-Syndrom durch folgende Strukturen komprimiert werden (⊡ Abb. 56.46): 1. Lacerus fibrosus, 2. hoher Ursprung des M. pronator teres vom distalen medialen Humerus (Septum intermusculare mediale), 3. sehniger Ursprung des tiefen Pronator-teres-Kopfes, 4. Kompression zwischen humeralem und ulnarem Kopf des M. pronator teres, 5. Kompression des N. medianus bei transmuskulärem Verlauf durch den M. pronator teres, 6. vergrösserte Bursa bicipitalis, 7. sehniger Ursprung des M. flexor digitorum superficialis, 8. akzessorischer Muskelbauch bzw. Sehne des M. flexor digitorum superficialis zum M. flexor pollicis longus, 9. akzessorischer Ursprungskopf des M. flexor pollicis longus (sog. Gantzer-Muskel), 10. sehniger Ursprung eines variabel vorhandenen M. palmaris profundus. Möglicherweise spielt ursächlich eine chronische berufliche oder sportliche Überlastung des Arms z. B. bei Kletterern eine Rolle. Besonders in Streckstellung des Arms und bei bestimmten Beschäftigungen kann es zu einer chronischen mechanischen Reizung des N. medianus und Kompression an den benannten Engstellen kommen. Bei traumatischer Ursache mit äußerer Druckeinwirkung wie nach Ellenbogenluxationen, suprakondylären Frakturen, Kontusion und perineuralem Hämatom des Nervs ist ebenfalls eine Kompressionsneuropathie möglich. Infrage kommt auch eine VolkmannKontraktur sowie die iatrogene Schädigung durch Punktionen und Injektionen im Bereich der medialen Ellenbeuge. Hier kann ein entstandenes Aneurysma sekundär zu einer Kompression des N. medianus führen. Weitere seltene Ursachen sind eine partielle Ruptur der Bizepssehne, Einblutungen in die Unterarmweichteile z. B. bei Antikoagulation, eine Thrombophlebitis der Kubitalvene oder auch das Auftreten nach Arthroskopie des Ellenbogengelenks.
Diagnostik Häufigstes initiales Symptom sind bei den meisten Patienten diffuse Schmerzen an der Beugeseite des Unterarms. Oft wird eine zunehmende Ungeschicklichkeit der Hand und eine Greifschwäche sowie Schmerzen am Daumenballen geschildert. Aufgrund der unspezifischen und verschiedenartigen Symptome werden diese manchmal fälschlicherweise als psychogen eingestuft ( Kap. 61).
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
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⊡ Abb. 56.46 Möglichkeiten der Kompression des N. medianus im Ellenbogenbereich. a Lacerus fibrosus intakt, b Lacerus fibrosus gespalten, c Verlaufsvarianten des N. medianus durch den M. pronator teres, d Kanal im M. flexor digitorum superficialis. (Aus Lanz u. Wachsmuth 1955 [a-c], Schmidt-Neuerburg et al. 2001 [d])
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Neben den Schmerzen treten Krämpfe der beugeseitigen Muskulatur sowie Parästhesien der radialen 3 oder 3½ Finger auf. Die Symptome können einem Karpaltunnelsyndrom ähneln, unterscheiden sich jedoch vor allem durch das Fehlen nächtlicher Parästhesien. Gelegentlich klagen Patienten über schreibkrampfähnliche Beschwerden. Die Diagnose wird in der Regel klinisch gestellt. Bei der Untersuchung kann sowohl eine Druckdolenz im Bereich des M. pronator teres aber auch ein Druckschmerz am Thenar zu finden sein. Distal der Ellenbeuge ist häufig über dem N. medianus ein positives Hoffmann-Tinel-Zeichen nachweisbar. Eine Schwäche der Mm. flexor pollicis longus et abductor pollicis brevis kann vorliegen. Selten finden sich verifizierbare motorische Störungen in Form einer Greifschwäche z. B. beim Spitzgriff zwischen Daumen und Zeigefinger. Hier muss eine Abgrenzung zum N.-interosseusanterior-Syndrom erfolgen. Typische Provokationstests wurden von Spinner (1972) beschrieben. Bei Beugung und Supination des Unterarms gegen Widerstand treten Schmerzen auf. Bei positivem Manöver ist eine Kompression im Bereich des Lacertus fibrosus oder unter der Struthers-Arkade zu vermuten. Des Weiteren wird eine Schmerzverstärkung bei Streckung des pronierten Unterarms gegen Widerstand angegeben. Hier ist eine Kompression im Bereich des M. pronator anzunehmen. Eine Schmerzverstärkung bei Beugung des Mittelfingers gegen Widerstand spricht für eine Kompression in Höhe der bindegewebigen Arkade an der Durchtrittsstelle des N. medianus unter den M. flexor digitorum superficialis. Abhängig von der Läsionshöhe kann auch der N. interosseus anterior mitbeteiligt sein. Elektrophysiologie Die elektrophysiologischen Untersuchungen sind nicht richtungsweisend. In 30% ist eine verminderte motorische NLG des N. medianus am Unterarm beschrieben, 65% weisen einen pathologischen Befund der sensiblen Neurografie auf. Elektromyografisch sind vereinzelt Denervationspotenziale in den medianusinnervierten Unterarm- und Handmuskeln abzuleiten. Die motorische NLG des N. medianus ist häufig normal. Bildgebende Diagnostik Eine MRT-Untersuchung ergibt in der Regel keinen Hinweis auf die Kompression. Gelegentlich ist eine Läsion jedoch durch Signalveränderungen der Kennmuskulatur nachzuweisen. Differenzialdiagnosen Differenzialdiagnostisch müssen traumatische Läsionen im Bereich des Unterarms sowie auch Radikulopathien ausgeschlossen werden. Ein Wurzelkompressionssyndrom der Wurzeln 6 und 7 verursacht in der Regel Nacken-, Schulter- und Armschmerzen. Hier liegen auch eine Abschwächung des BSR und sensible Störungen an den drei radialen Fingern vor. Schwierig kann die Abgrenzung zu einem N.-interosseus-anterior-Syndrom sein (s. unten). Die Abgrenzung zu einem Karpaltunnelsyndrom ist in der Regel elektrophysiologisch eindeutig.
Klassifikation Eine nähere Klassifikation für dieses Kompressionssyndrom existiert nicht.
Therapie Konservative Therapie Die Behandlung ist zunächst konservativ. In erster Linie sollten auslösende belastende Tätigkeiten vermieden werden. Eine Ruhig-
stellung in Oberarmschiene kann zu einer Besserung führen. Erfolge wurden auch durch Gabe von Antiphlogistika und Infiltration des M. pronator teres mit Kortikoiden gesehen. Operative Therapie Kommt es unter konservativer Therapie zu keiner ausreichenden Besserung, ist eine operative Freilegung des N. medianus am proximalen Unterarm indiziert. Der Eingriff wird in der Regel in subaxillärer Plexusanästhesie und Oberarmblutleere durchgeführt. Die Inzision erfolgt S-förmig an der Innenseite des distalen Oberarms beginnend, in der Ellenbeuge umbiegend und weiter nach distal zum proximalen Drittel der Unterarmbeugeseite reichend (⊡ Abb. 56.47). Im proximalen Unterarmanteil wird der N. medianus medial der Bizepssehne aufgesucht, es erfolgt eine Eröffnung des Lacertus fibrosus. Darunter findet sich der N. medianus radial der Arteria brachialis und gibt hier zunächst einen Ramus muscularis zum M. pronator teres ab. Die weitere Präparation verläuft entlang des radialen Randes des M. pronator teres, der nach ulnar weggehalten wird. Der N. medianus liegt dann zwischen den beiden Köpfen des M. pronator teres und gibt dort regelmäßig Äste nach ulnar ab. Radial des Nervs begleitet ihn die Arteria brachialis, die sich hier teilt. Weiter lateral liegt die Sehne des M. biceps brachii und noch weiter lateral davon der N. cutaneus antebrachii lateralis. Der N. medianus tritt in den Hiatus nervi mediani zwischen den Köpfen des M. pronator teres ein und gelangt dann unter einem sehnigen Bogen unter den M. flexor digitorum superficialis. Der N. interosseus anterior kann sowohl proximal als auch unter oder distal des M. pronator teres vom Hauptstamm des N. medianus radialseitig abzweigen. Diese Aufzweigung befindet sich durchschnittlich 5,4 cm distal des Epicondylus medialis humeri. Um den weiteren Verlauf des N. medianus nach distal darzustellen wird der Pronatormuskel angehoben, ebenso wird nach Anheben des M. flexor digitorum superficialis der N. medianus von distal her nach proximal verfolgt. Alle vorhandenen einengenden Faszien und Bänder können auf diese Weise auch ertastet und durchtrennt werden. Ein Arcus tendineus des M. flexor digitorum superficialis, welcher häufig die Ursache der Kompression ist, wird gespalten. Ein sehniger Ursprung des Caput ulnare des M. pronator wird bei Vorhandensein ebenfalls inzidiert. Eine operative Durchtrennung des gesamten M. pronator teres mit einer Z-förmigen Verlängerung ist lediglich bei einer vorhandenen Volkmann-Kontraktur notwendig. Im gesamten Verlauf muss mit häufig vorkommenden Varianten des N. medianus gerechnet werden. Dieser kann oberflächlich zum M. pronator teres und oberflächlich zum M. flexor digitorum superficialis liegen. Der N. medianus kann das Caput humerale des M. pronator teres durchbrechen und auch unter dem Caput ulnare des M. pronator teres verlaufen. Vom N. medianus ist eine Nervenfaserverbindung zum N. ulnaris (Mm. flexor digitorum superficialis et profundus) möglich. Bei der sog. Martin-Gruber-Anastomose führen motorische und sensible Fasern vom N. medianus zum N. ulnaris, sodass eine Läsion des N. medianus distal davon nur einen Teilausfall des Nervs verursacht. Postoperativ wird ein Verband angelegt, eine Ruhigstellung in Oberarmschiene ist in der Regel nicht erforderlich. Die Hand kann bereits einen Tag postoperativ bewegt und das Ellenbogengelenk nach wenigen Tagen aktiv beübt werden.
Fehler, Gefahren und Komplikationen Beim operativen Vorgehen müssen die häufiger vorkommenden Varianten im Verlauf des N. medianus am Unterarm berücksich-
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⊡ Abb. 56.47 Zugang zum N. medianus in der Ellenbeuge. a Anzeichnen der Hautinzision (aus Schmidt-Neuerburg et al. 2001), b Dekompression des N. medianus (Ausschnitt: Zugang zum Kanal im M. flexor digitorum superficialis) (aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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tigt werden. Ein postoperativ aufgetretener Unterarmschmerz mit Sensibilitätsstörung an der Beugeseite des Unterarms weist auf eine Läsion des N. cutaneus antebrachii lateralis hin.
Prognose und Verlauf Der Verlauf nach operativer Behandlung ist günstig. Die Schmerzen verschwinden in der Regel sofort. Motorische und sensible Störungen benötigen eine lange u. U. Monate dauernde Rückbildungsphase.
N.-interosseus-anterior-Syndrom (Kiloh-Nevin-Syndrom) Epidemiologie Das Vorkommen des N.-interosseus-anterior-Syndroms ist selten. Die Erstbeschreibung dieser isolierten Parese erfolgte durch Parsonage u.Turner (1948) im Rahmen einer sog. neuralgischen Schulteramyotrophie. Kiloh u. Nevin (1951) ordneten ein ähnliches Krankheitsbild erstmals einer Läsion des N. interosseus anterior im Rahmen einer akuten Armplexusneuritis zu. Seit der Darstellung durch Kiloh u. Nevin wurden zahlreiche Fälle publiziert. Das Alter schwankte dort bei 46 beschriebenen Fällen zwischen 9 und 67 Jahren und es waren 12 Männer und 34 Frauen betroffen.
Ätiologie Der N. interosseus anterior ist ein rein motorischen Ast des N. medianus, der etwa am Übergang vom proximalen zum mittleren Drittel des Unterarm vom Medianushauptast abgegeben wird. Er liegt dann zwischen dem M. flexor digitorum profundus (ulnar) und dem M. flexor pollicis longus (radial). Auf der Membrana interossea erreicht er unter dem M. pronator quadratus verlaufend die Beugeseite des Handgelenks. Motorisch versorgt werden der M. flexor pollicis longus, die tiefen Fingerbeuger des Zeigefingers und Mittelfingers sowie der M. pronator quadratus. Die beim N.-interosseus-anterior-Syndrom vorliegende Parese betrifft ausschließlich diese Muskulatur, sensible Störungen finden sich nicht (⊡ Abb. 56.48). Unter den idiopathischen Fällen findet sich eine Kompression des N. interosseus anterior an der sehnigen Arkade des M. flexor digitorum superficialis oder dem sehnigen Ursprung des Caput ulnare des M. pronator teres. Des Weiteren werden Ursachen wie ein Ligamentum arcuatum, ein akzessorischer Kopf des M. flexor pollicis longus sowie eine thrombosierte A. interossea anterior beschrieben. Eine Läsion des N. interosseus anterior wurde bei einer neuralgischen Schulteramyotrophie gesehen. Häufiger sind wohl traumatische Läsionen wie nach proximaler Unterarmfraktur, bei Vorliegen einer Volkmann-Kontraktur, nach Quetschungen, nach
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
A. brachialis
N. interosseus anterior
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M. flexor digitorum superficialis mit fibröser Durchsetzung zus. Markierung des Hauptstammes des N. medianus
a
b
⊡ Abb. 56.48 Verlauf des N. interosseus anterior. a Ellbogen (aus Berger u. Hierner 2009), b Unterarm (aus Lanz u. Wachsmuth 1955)
Stichverletzungen oder in Folge einer Ellenbogenarthroskopie. Auch Metastasen im Unterarm wurden als Kompressionsursache beschrieben. Eine sehr seltene und ungewöhnliche Ursache stellt die Torsion der den N. interosseus anterior bildenden Faszikel innerhalb des Stammes des N. medianus (intratrunkuläre faszikuläre Torsion) dar.
Diagnostik Die Patienten beklagen oft eine vorausgegangene Überlastung oder auch einen entzündlichen Schwellungszustand des Unterarms. Es wird ein diffuser und tiefer Unterarmschmerz angegeben. Danach fällt eine Unfähigkeit, den Daumen sowie den Zeigefinger im Endglied zu beugen, auf. Bei der klinischen Prüfung ist ein pathologischer »Pinch-Griff« zu sehen. Durch Ausfall des M. flexor pollicis longus und des M. flexor digitorum profundus des Zeigefingers kommt es beim Spitzgriff nicht zu Beugung von Daumenendglied und Zeigefingerendglied. Es resultiert eine Überstreckung der jeweiligen Endglieder, ein exakter Bogen zwischen den Fingern mit Ausbildung eines runden O kann nicht geformt werden (⊡ Abb. 56.49). Es können auch nur einzelne der aufgeführten Muskeln betroffen sein, so z. B. lediglich der M. flexor pollicis longus oder der M. flexor digitorum profundus des Zeigefinges.
⊡ Abb. 56.49 Pathologischer Pinch-Griff: Durch Lähmung des M. flexor pollicis longus und des M. flexor digitorum profundus II (und III) resultiert die Unfähigkeit mit Daumen und Zeigefinger ein O zu formen
Ähnlich wie bei dem Pronator-teres-Syndrom wird auch bei dem N.-interosseus-anterior-Syndrom die Diagnose eher klinisch gestellt.
1591 56.2 · Spezielle Techniken
Bei der Untersuchung muss immer an Verwechslungen mit einer Beugesehnenruptur der Finger gedacht werden. Die Unterscheidung kann klinisch vor allem durch Druck auf die jeweiligen Muskelbäuche am Unterarm getroffen werden. Bei intakter Beugesehne und somit einer nervalen Ursache kann dadurch eine Beugung in den jeweiligen Endgliedern erzeugt werden. Bei durch Druck auf den Muskel nicht auslösbarer Beugung muss an eine Beugesehnenruptur z. B. bei degenerativen oder rheumatischen Handgelenkveränderungen mit begleitenden Synovialitiden gedacht werden. Elektrophysiologische Diagnostik Eine elektroneuro- und auch myografische Untersuchung sollte in jedem Fall durchgeführt werden. Die myografische Untersuchung erlaubt eine Bestätigung der klinischen Verdachtsdiagnose beim Nachweis von Denervationsaktivitäten in den Mm. flexor digitorum profundus sowie pollicis longus und pronator quadratus. In leichteren Fällen können diese Denervierungszeichen auch fehlen. Die motorische NLG des N. medianus am Unterarm ist normal, auch die DML und die sensible Neurografie des N. medianus ergibt in der Regel keine pathologischen Veränderungen. Differenzialdiagnostisch muss das Vorliegen einer neuralgischen Schulteramyotrophie abgegrenzt werden, bei der es auch isoliert auf den N. interosseus anterior beschränkte Ausfälle gibt.
a
Bildgebende Diagnostik Bildgebende Verfahren wie z. B. MRT und auch die Sonografie können ein Ödem des M. pronator quadratus nachweisen.
Klassifikation Eine nähere Klassifikation für dieses Kompressionssyndrom existiert nicht.
Therapie Konservative Therapie Ist das N.-interosseus-anterior-Syndrom ohne fassbare Ursachen aufgetreten, gibt es in vielen Fällen wieder eine spontane Erholung der Parese. Diese kann sowohl bei unklarer Ursache, als auch bei traumatischen Fällen bereits innerhalb einiger Wochen nach der Läsion beginnen, eine vollständige Regeneration tritt oft erst nach über 1 Jahr ein. Zunächst kann ohne eine spezielle Behandlung abgewartet werden. Bleibt nach ca. 2 Monaten eine spontane Besserung aus, ist insbesondere bei den Fällen, die auch eine Veränderung der Elektromyografie der Kennmuskeln zeigen eine operative Exploration empfehlenswert. Operative Therapie Der operative Zugang und das Vorgehen sind identisch wie beim Pronator-teres-Syndrom. Die Inzision erfolgt S-förmig oder auch längsverlaufend am proximalen Unterarm. Der M. pronator teres wird nach radial, der M. flexor carpi ulnaris nach ulnar gehalten. Radial des M. flexor digitorum superficialis kann der N. medianus mit dem in dieser Höhe abzweigenden N. interosseus anterior dargestellt werden (⊡ Abb. 56.50). Bereits vor der Teilungsstelle ist eine isolierte Schädigung des Nervs möglich. Einengungen wie sehnige Bänder, fibröse Veränderungen im Verlauf des Caput radiale des M. flexor digitorum superficialis werden eröffnet oder ausgeschnitten und damit eine mögliche Einengung beseitigt. Postoperativ legen wir einen komprimierenden Verband an, eine Ruhigstellung ist nicht erforderlich, die weitere Behandlung ist funktionell.
b
⊡ Abb. 56.50 Operationssitus beim N.-interosseus-anterior-Syndrom. Darstellung des N. interosseus anterior. a vor Dekompression, b nach Dekompression mit Durchtrennung einer fibrösen Arkade
Fehler, Gefahren und Komplikationen Bei der Exploration nicht traumatischer Fälle wurde mehrfach das Vorhandensein eines den Nerv komprimierenden fibrösen Bandes beschrieben, dessen Durchtrennung zu einer Rückbildung der Parese führte. Auch im eigenen Krankengut konnte dies bestätigt werden. Findet sich an den beschriebenen Stellen keine Ursache für eine Kompression des N. interosseus anterior, so sollte an die oben erwähnte intratrunkuläre faszikuläre Kompression gedacht und der N. medianus auf Höhe und proximal des Ellenbogengelenks mikrochirurgisch revidiert und ggf. das komprimierende perifaszikuläre Bindegewebe entfernt werden. Ein mikrochirurgisches Vorgehen unter Lupensicht oder Mikroskop ist hier unerlässlich.
Prognose und Verlauf Die Reinnervation des Nervs kann sich wiederum über Monate hinziehen und sogar über 1 Jahr andauern. Sollte sich auch nach 2 Jahren keine weitere Besserung einstellen und eine funktionelle Beeinträchtigung vorliegen, ist die Durchführung von Ersatzoperationen beschrieben. Zur Wiederherstellung der Beugefunktion des Daumenendglieds wird die Sehne des M. flexor pollicis longus mit der Sehne des M. extensor carpi radialis oder des M. flexor digitorum des Ringfingers verbunden ( Kap. 57).
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Karpaltunnelsyndrom (Synonyme: distales Medianuskompressionssyndrom, Handgelenktunnelsyndrom, Brachialgia paraesthetica nocturna)
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Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist das häufigste Kompressionssyndrom des N. medianus. Wir verstehen darunter die chronische Kompression des Nervs im Karpalkanal, d. h. beginnend von dem Durchtritt unter dem Retinaculum flexorum bis zu seiner Aufzweigung in die Fingeräste und den Ramus thenaris. Die Erstbeschreibung des Syndroms und insbesondere auch seiner Symptome erfolgte durch Pierre Marie u. Foix (1913). Die erste Retinakulumspaltung wurde 1930 durch Learmonth durchgeführt und auch 1933 veröffentlicht. Rosenberg u. Ochoa veröffentlichten 2002 eine umfangreiche Übersicht zum KTS. Eine Literaturübersicht hierzu mit kritischer Beurteilung wurde von Haase (2007) publiziert. 2007 erschien die erste deutsche fachübergreifende S3-Leitlinie »Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms« (Assmus et al. 2007). Die Eingriffe werden in Deutschland zurzeit vorwiegend ambulant durchgeführt. Es handelt sich hier um sehr große Zahlen ambulanter Operationen von etwa 120.000 Eingriffen jährlich. Die operativen Techniken des KTS haben sich in den letzten 15 Jahren verändert. Neben der klassisch offenen Spaltung wurden verschiedene endoskopische Verfahren entwickelt.
▬ tumoröse und tumorähnliche Raumforderungen (Lipome, Ganglien, Osteophyten);
▬ multifaktoriell bei Dialysepatienten.
Epidemiologie
Eine seltene Manifestation liegt im Kindesalter vor. Ursachen hierfür sind dann zumeist Stoffwechselstörungen wie z. B. die Mucopolysaccharidose oder auch angeborene Fehlbildungen wie die Lipofibromatose. Ein wichtiger auslösender Faktor bei Rheumapatienten ist die Synovialitis der Beugesehnen. Die Pathogenese stellt sich in vereinfachter Form folgendermaßen dar: In einem bereits primär engen Karpalkanal führt eine Druckerhöhung zur Kompression der Venolen, später auch der Arteriolen und Kapillaren des Epi- und Perineuriums mit nachfolgender Ischämie des N. medianus und Ausbildung eines intraneuralen Ödems, das eine fokale Demyelinisierung auslöst. Es resultieren Nervenfaserläsionen, wobei die dicken markhaltigen Fasern als erste geschädigt werden. Die chronisch-rezidivierende Druckerhöhung führt schließlich zu einem weiteren ödematös geschwollenen Nerven, einem Einsprossen von Fibroblasten, was zu einer weiteren Fibrosierung und Schädigung der Nervenfasern mit Axondegeneration führt. Das Ausmaß der Nervschädigung ist abhängig von Stärke und Dauer der Kompression.
> Das KTS ist das häufigste Engpasssyndrom eines peripheren
Diagnostik
Nervs.
Die divergierenden epidemiologischen Daten beruhen auf dem Fehlen einer einheitlichen und allgemein akzeptierten Klassifikation (und Stadieneinteilung). Untersuchungen ergaben eine Häufigkeit von 14,8% für die typischen Symptome des KTS und von 4,9% für die elektroneurografisch verifizierten Fälle. Die Inzidenz (Zahl der Neuerkrankungen) wurde in einer italienischen Studie mit 3,3 Fällen auf 1.000 Einwohner und Jahr angegeben. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer (72% Frauen). Die Erkrankung kann jedes Lebensalter betreffen, liegt jedoch vorwiegend zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr. Es kommt sowohl bei Jugendlichen als auch in hohem Alter vor. Bei Kindern ist es sehr selten. Das Syndrom tritt in der Regel beidseitig auf, wobei hier eine Behandlungsbedürftigkeit von mehr als 50% besteht. Die Prävalenz wird in der Gravidität mit 43% angegeben, bei Dialysepatienten mit 32%.
Ätiologie Zu möglichen Ursachen eines KTS existieren zahlreiche Publikationen und Einzelmitteilungen (Übersicht bei Rosenbaum u. Ochoa, 2002). Voraussetzung für die Entstehung des Krankheitsbildes ist ein anatomischer Engpass als konstitutionelle Variante oder auch eine Variante des Os hamatum. Es gibt Hinweise für eine familiäre Häufung. Die Enge des Karpalkanals kann computertomografisch bei KTS-Patienten nachgewiesen werden. Sie wird als erbliches Merkmal und somit auch wichtiger Faktor beim Zustandekommen des KTS angenommen. Prädisponierend für das Auftreten klinischer Symptome ist eine Volumenzunahme des Tunnelinhalts. Ursachen dieser Volumenvermehrung können sein: ▬ Schwellungszustände des Sehnengleitgewebes bei degenerativen, rheumatischen, hormonellen und stoffwechselbedingten Erkrankungen (Myxödem, Akromegalie, Gicht, Mucopolysaccharidose u. a.), in der Gravidität oder überlastungsbedingt; ▬ Traumata (Radiusfraktur, Handwurzelluxation, posttraumatische Handgelenkarthrose mit Osteophyten, Einblutung); ▬ Handgelenkarthrose anderweitiger Ursache;
Im Vordergrund stehen zunächst die Symptome mit vor allem nächtlich auftretenden Parästhesien und Dysästhesien (»Hände schlafen ein«). > Die Brachialgia paraesthetica nocturna ist typisches Erstsymptom und nahezu pathognomonisch für das KTS.
Die nächtliche Symptomzunahme wird hier auf das Abknicken des Handgelenks während des Schlafes zurückgeführt, bei dem der Druck im Karpalkanal zusätzlich erhöht und die Durchblutung weiter gedrosselt wird. Die häufigen schmerzhaften Kribbelparästhesien sowie nadelstichartigen Missempfindungen betreffen vorwiegend den mittleren Finger, später auch Daumen und Zeigefinger. Es kann eine Schmerzausstrahlung bis in den Arm vorliegen. Symptome treten in typischer Weise aber auch tagsüber bei bestimmten Handhaltungen auf wie Zeitunglesen, Telefonieren, Stricken, Rad- und Motorradfahren usw. Eine leichte Kompression des N. medianus im Karpaltunnel führt zu diesen Reizsymptomen. Die Missempfindungen lassen sich in der Regel durch Ausschütteln, Reiben oder Pumpbewegungen der Finger bzw. auch Stellungsveränderung des Arms bessern bzw. beseitigen. Bei zunehmender Medianusschädigung liegen häufig elektrisierende Missempfindungen vor oder auch permanent anhaltende Sensibilitätsstörungen (»Finger kribbeln ständig«). Erst bei weiterem Fortschreiten kommt es zu Ausfallerscheinungen mit einer zunehmenden Hypästhesie einschließlich Beeinträchtigung der Stereoästhesie. Im Spätstadium, meist von den Patienten selbst nicht bemerkt, entsteht eine Atrophie des Daumenballens bzw. der Mm. abductor pollicis brevis und opponens pollicis mit Oppositionsschwäche und Abspreizschwäche des Daumens. Vegetative Störungen in Form von trophischen Haut- und Nagelverändeungen werden nur selten beobachtet. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein. Viele Patienten haben über Jahre nur relativ geringfügige Beschwerden mit längeren beschwerdefreien Intervallen. Ein erneutes Auftreten oder eine Zunahme der Beschwerden wird nach manueller Überlastung, in der Gravidität oder nach Verletzungen (Radiusfraktur) beobachtet.
1593 56.2 · Spezielle Techniken
Klinische Untersuchung > Obwohl die Diagnose häufig bereits aufgrund der Anamnese eindeutig gestellt werden kann, ist die klinische Untersuchung zur Diagnosesicherung und auch Dokumentation des Schweregrades sowie zur Indikationsstellung für eine operative Therapie unentbehrlich.
Für die klinische Untersuchung stehen uns folgende Untersuchungstechniken zur Verfügung: ▬ Inspektion und Palpation vor allem zur Erkennung oder zum Ausschluss einer Muskelatrophie. Hierbei ist zu beachten, dass eine beginnende Atrophie des lateralen Thenars (evtl. durch subkutanes Fettgewebe verdeckt), besser palpatorisch und im Seitenvergleich feststellbar ist. Das Gleiche gilt für eine verminderte Schweißsekretion, die allerdings nur bei hochgradiger Nervenschädigung zu beobachten ist. ! Cave Durch eine Daumensattelgelenkarthrose (Rhizarthrose) kann eine (neurogene) Thenaratrophie vorgetäuscht werden (s. auch »Prüfung der Motorik«)!
⊡ Abb. 56.51 »Flaschenzeichen« bei Läsion des N. medianus durch die Schwäche des M. abductor pollicis brevis. Durch die ungenügende Abspreizung des Daumens beim Versuch einen runden Gegenstand, z. B. eine Flasche zu umgreifen liegt die Hautfalte der 1. Kommissur nicht vollständig der Flasche an (positiver Test). (Aus Berger u. Hierner 2009)
▬ Prüfung der Oberflächensensibilität (Berührung mit Wattebausch) und der Stereoästhesie durch die 2-Punkte-Diskrimination, Aufsammeln und Erkennen von Münzen oder Büroklammern. ▬ Bei der Prüfung der Motorik ist auf eine Abduktions- und Oppositionsschwäche des Daumens zu achten, die ein Spätsymptom darstellt. Das »Flaschenzeichen« erlaubt eine gute Beurteilung der Funktion des M. abductor pollicis brevis und gilt als empfindlichster Indikator einer motorischen Läsion beim KTS (⊡ Abb. 56.51). ! Cave Eine Adduktionskontraktur des Daumens bei Rhizarthrose kann ein positives Flaschenzeichen vortäuschen.
An Provokationstests sind am bekanntesten der Phalen-Test (⊡ Abb. 56.52) und das Hoffmann-Tinel-Zeichen. Weniger gebräuchlich sind Druck- bzw. Tourniquet-Tests wie z. B. der Durkan-Test. Die beschriebenen klinischen Tests können im Frühstadium der Erkrankung wichtige Hinweise auf einen Reizzustand des N. medianus ergeben, wenn andere klinische und diagnostische Tests negativ ausfallen. Sie sind jedoch weniger sensitiv und zuverlässig als die elektrophysiologische Diagnostik. Elektrophysiologische Diagnosik > Trotz typischer Anamnese und auch einem klaren klinischen Befund sollte eine elektroneurografische Untersuchung beim KTS immer durchgeführt werden.
Sie dient der Sicherung der Diagnose und ist auch nach einer Operation die Grundlage für Verlaufskontrollen. Im Vordergrund stehen die sensible und die motorische Neurografie. Sie sind empfindliche und zuverlässige Methoden zum Nachweis des chronischen KTS. Leitbefund ist die reduzierte NLG des N. medianus im Karpaltunnel als Folge der Demyelinisierung. Entwickelt sich in fortgeschrittenem Stadium ein Axonschaden, so führt dieser zusätzlich zu erniedrigten Amplituden der Reizantworten. Sensitivität und Spezifität der einzelnen Untersuchungen steigen deutlich bei intraindividueller Vergleichsmessung mit nicht betroffenen Nerven oder Nervensegmenten. Voraussetzung für reproduzierbare und valide Messungen sind einheitliche
⊡ Abb. 56.52 Phalen-Test. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
Untersuchungsbedingungen und Einstellungen der Messgeräte gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie (DGKN): ▬ Einsatz geeigneter geeichter EMG-Geräte der MedGV entsprechend, ▬ hinreichende Expertise des Untersuchers (z. B. EMG-Zertifikat der DGKN), ▬ Beachtung der empfohlenen Geräteeinstellungen, ▬ Messung, ggf. Korrektur der Hauttemperatur auf 34°, ▬ exakte Messung der Distanz. Prinzipiell ist die elektrophysiologische Diagnostik als relevante Methode zum zuverlässigen Nachweis eines KTS zu empfehlen. Folgende Messungen stehen zur Verfügung: Motorische Neurografie Die Bestimmung der distal-motorischen Latenz des N. medianus (im Vergleich zur motorischen Latenz des N. ulnaris der betroffenen Hand) ist einfach durchzuführen und zuverlässig. Bei einer
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Distanz von 6,5 cm ist ein Wert von >4,2 ms pathologisch. Die DML des N. ulnaris darf dann einen Grenzwert von 3,3 ms nicht überschreiten. Die Spezifität dieser Messung ist relativ hoch, die Sensitivität jedoch nur gering (AAEM: »practice parameter for electrodiagnostic studies in carpal tunnel syndrome«). Die Untersuchung des N. medianus sollte den Unterarmabschnitt des Nervs mit einbeziehen, beidseits erfolgen und vorzugsweise auf der symptomatischen Seite auch für den N. ulnaris durchgeführt werden. Sensible Neurografie Bei grenzwertigem oder nicht eindeutigem Befund ist zusätzlich eine sensible Neurografie empfehlenswert. Hierbei stehen 2 Methoden zur Auswahl:
▬ Sensible NLG des N. medianus im Segment D III-Handgelenk
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(antidrom oder orthodrom). Bei einer Normtemperatur von 34° und mittlerem Lebensalter (8 m/s eine hohe Spezifität von 98% auf. Die Sensitivität ist mit 89% ebenfalls hoch. ▬ Nicht ganz so empfindlich, jedoch schneller durchführbar ist der Vergleich der sensiblen Potenziale am Ringfinger, der keine Temperaturkorrektur erfordert. Eine Latenzdifferenz von >0,5 ms ist pathologisch. Die Spezifität dieser Messung beträgt 97%, die Sensitivität 85%. Zusätzliche neurografische Untersuchungen Sollte trotz dieser Messungen noch keine eindeutige diagnostische Einordnung möglich sein, ist die intraindividuelle Messung einzelner Nervensegmente die sensitivste, aber aufwendigste Methode: ▬ Sensible/gemischte NLG des N. medianus in kurzen Segmenten (8 cm) Finger – Hohlhand im Vergleich zu Hohlhand – Handgelenk. Werte der NLG-Differenz >8 m/s sind signifikant. ▬ Sensible/gemischte NLG in kurzen Segmenten (8 cm) des N. medianus und N. ulnaris im Vergleich. Als pathologisch werden Latenzen >1,8 ms oder Differenzen >0,5 ms gewertet. Die Spezifität beträgt 98%, die Sensitivität 71%. ▬ Ähnlich empfindlich ist die vergleichende Untersuchung der DML des N. medianus bei Ableitung in der Hohlhand über dem medianusinnervierten M. lumbricalis II und dem ulnarisinnervierten M. interosseus dorsalis II nach Stimulation des N. medianus und N. ulnaris bei identischer Distanz. Eine Latenzdifferenz >0,6 ms ist pathologisch. Die Spezifität dieser Messung beträgt 98%, die Sensitivität liegt bei 87%. ▬ Immer wieder gibt es diagnostische Besonderheiten. So kann ein pathologisch-neurografischer Befund überbewertet werden, insbesondere dann, wenn die klinische Symptomatik nicht zum Bild eines KTS passt. Das Gleiche gilt für fehlerhafte Untersuchungen wie die submaximale Stimulation oder die versehentliche Mitstimulation des N. ulnaris. ▬ Wegen der Möglichkeit eines beidseitigen KTS und einer systemischen Affektion des peripheren Nervensystems (z. B. bei einer Polyneuropathie) sollte stets die motorische und sensible Neurografie auch des ipsilateralen N. ulnaris und des kontralateralen N. medianus durchgeführt werden. > Innervationsanomalien wie die Martin-Gruber-Anastomose haben Einfluss auf die Messung. Bei dieser Anomalie erfolgt ein Fasertransfer vom N. medianus zum N. ulnaris.
▬ Liegt ein seltenes »akutes« KTS vor, kann auch nur ein Leitungsblock nachweisbar sein.
▬ Es gibt Fälle eines klinisch lange asymptomatischen KTS, bei dem elektroneurografische Veränderungen nachweisbar sind, die klinischen Symptome jedoch dem nicht entsprechen. In diesem Fall ist auch keine operative Behandlung des KTS erforderlich. ▬ Bei postoperativen Kontrollen ist zu berücksichtigen, dass die elektroneurografischen Parameter in fortgeschrittenen Fällen häufig nicht mehr normal werden, da eine vollständige Regeneration der Nervenfasern ausbleibt. Hier wird immer wieder die Fehldiagnose eines »KTS-Rezidivs« gestellt. Bildgebende Verfahren Bildgebende Untersuchungen haben zunehmend ihren Stellenwert bei der Diagnostik des KTS und auch zur Differenzialdiagnose von Begleiterkrankungen. ▬ Eine Röntgenuntersuchung des Handgelenks ist bei klinischem Verdacht auf Arthrose bzw. knöchernen Veränderungen nützlich. ▬ Mit der hoch auflösenden Sonografie können die Weite des knöchernen Karpalkanals und zystische Veränderungen (z. B. ein Ganglion im Karpaltunnel) sichtbar gemacht werden. Die Sonografie ist stark abhängig von der Erfahrung des Untersuchers. Mit zunehmend verbesserter Auflösung nimmt auch die Bedeutung dieser Untersuchung zu. ▬ Die Magnetresonanztomografie (MRT) ist bei Tumorverdacht empfehlenswert. Lageveränderungen und morphologische Veränderungen des Nervs lassen sich hiermit gut darstellen. Ein evtl. Nutzen liegt in der Diagnose des KTS-Rezidivs. Differenzialdiagnose In den meisten Fällen ist die Diagnostik eines Karpaltunnelsyndroms sowohl klinisch als auch elektroneurografisch eindeutig. Es gibt jedoch Patienten, die über diffuse Schmerzen und Parästhesien von Arm und Hand klagen, die nicht sofort klar einzuordnen sind. Differenzialdiagnostisch muss hier an die wichtigste Differenzialdiagnose, eine zervikale Radikulopathie der Wurzeln C6 und C7 gedacht werden. In diesen Fällen sind die Parästhesien in der Regel durch Manipulation nicht reversibel, sie reichen über das Innervationsgebiet des N. medianus hinaus, können sich durch Kopfbewegen oder Husten sogar verstärken. Eine weitere häufige Differenzialdiagnose ist die Polyneuropathie (⊡ Abb. 56.53). Seltenere Differenzialdiagnosen umfassen: ▬ Läsionen oder anderweitige Kompressionen des N. medianus (Pronator-Syndrom, Thoracic-Outlet-Syndrom, Skalenussyndrom, Cave: Double-Crush-Läsion), ▬ spinale Erkrankungen (zervikale Myelopathie, Syringomyelie, spinale Muskelatrophie), ▬ nichtneurogene bzw. anderweitige Erkrankungen (UnterarmKompartmentsyndrom, Polymyalgie, Raynaud-Syndrom, Borreliose u. a.). Die Kombination eines KTS mit einer Radikulopathie des Nervs wird auch »Double-Crush«-Syndrom genannt. In diesen Fällen ist eine möglichst genaue Abwägung der überwiegenden bzw. im Vordergrund stehenden Ursache notwendig. Eine erweiterte elektroneurografische Diagnostik ist zwingend erforderlich. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung eines KTS kann z. B. eine probeweise nächtliche Schienung des Handgelenks oder die Injektion eines Kortikosteroidpräparats in den Karpaltunnel sinnvoll sein. Hierbei ist die adäquate Injektionstechnik zu beachten. Wenn bei den Patienten »Durchblutungsstörungen« als Ursache der Gefühlsstörungen genannt werden, muss auch an ein
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⊡ Abb. 56.53 Differenzialdiagnose des KTS. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
Raynaud-Syndrom gedacht werden. Dieses geht mit typischem »Weißwerden« der Finger einher. Die Kombination eines KTS mit einem Raynaud-Syndrom ist ebenfalls möglich. Auch bei einem diagnostizierten Sudeck-Syndrom kann ein KTS vorliegen und zu entsprechenden Symptomen führen.
Klassifikation Für das KTS gibt es keine allgemein akzeptierte Klassifikation (und Stadieneinteilung). Es besteht allenfalls Übereinstimmung darüber, dass die Kombination von elektrodiagnostischem Befund und typischer klinischer Symptomatik eine gute Grundlage für eine Klassifikation wäre.
Therapie Behandlungsbedürftigkeit besteht, wenn die typischen Beschwerden bzw. Symptome häufig auftreten oder anhalten. Hingegen muss bei pathologischem elektrophysiologischem Befund ohne klinische Symptome nicht behandelt werden. Konservative Therapie: Im Frühstadium der Erkrankung, wenn lediglich Reizsymptome wie z. B. nächtliche Parästhesien bestehen, ist ein konservativer Behandlungsversuch gerechtfertigt. Es stehen folgende Verfahren zur Verfügung: ▬ Durch eine nachts anzulegende palmare Handgelenkschiene kommt es allein durch das Vermeiden eines Abwinkelns des
Handgelenks zu einer deutlichen Besserung der nächtlichen Parästhesien. Die Wirksamkeit der Behandlung wurde durch prospektive und randomisierte Studien belegt. ▬ Die orale Verabreichung eines Kortikoidpräparates ist eher nicht wirksam. Hingegen hat die lokale Infiltration von Kortikoid-Kristall-Suspension in den Karpaltunnel einen besseren Effekt. Die Wirkung ist für einen Zeitraum von 8 Wochen vergleichbar mit einer Kombination aus einer entzündungshemmenden Medikation und Schiene. Sie kann kurzfristig rascher zur Besserung führen als die operative Behandlung. In der Langzeitwirkung sind die Schiene genauso wie die Operation aber überlegen, daher sollten Mehrfachinjektionen vermieden werden. Hier muss auch an das Risiko einer Nerv- und Sehnenschädigung durch unzulängliche Injektionstechnik gedacht werden. Die Injektion eines Kortikoidpräparats kann unter Berücksichtigung der korrekten Injektionstechnik in diagnostisch unklaren Fällen oder z. B. bei einem »Double-Crush-Syndrom« auch probatorisch zur weiteren Differenzialdiagnose angewandt werden. Die Einnahme von entzündungshemmenden, nichtsteroidalen Medikamenten ist weit verbreitet. Die gegenwärtige Datenlage zeigt jedoch keinen anhaltenden signifikanten Effekt gegenüber Placebo. Dies gilt auch für Diuretika, Vitamin-B-6-Präparate und Laserbehandlung.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
In einer systematischen Literaturübersicht der Cochrane Library durch O’Connor et al. (2003) werden weitere konservative Behandlungsverfahren aufgeführt wie die lokale Ultraschalltherapie, die allerdings nur nach mehrwöchiger Anwendung (etwa 7 Wochen) einen Effekt zu zeigen scheint. Andere Behandlungsverfahren wie Yoga, Handwurzelmobilisation, Nervengleitübungen und Magnettherapie zeigen allenfalls eine zeitlich begrenzte Wirkung und können somit nicht empfohlen werden.
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Operative Therapie Die Indikation zur Operation stellen wir bei anhaltenden sensiblen und/oder motorischen Ausfallserscheinungen wie Beeinträchtigung der Stereoästhesie und Nachlassen der Abduktions- und Oppositionskraft des Daumens bzw. einer Thenaratrophie sowie bei relevanten, den Patienten beeinträchtigenden oder durch konservative Behandlung nicht gebesserten, insbesondere schmerzhaften Parästhesien. Der Eingriff ist insbesondere dann dringlich, wenn bereits persistierende manifeste Sensibilitätsstörungen vorliegen. Die klinischen Symptome sollten in Zusammenschau mit den elektrophysiologischen Veränderungen gesehen werden. »Es werden keine Messwerte operiert«, d. h. es können durchaus pathologische Messwerte ohne klinische Symptomatik vorliegen und umgekehrt gibt es auch Fälle, in denen typische und sehr störende Beschwerden ohne signifikant erhöhte Messwerte zu finden sind. Auch hier kann bei entsprechenden Beschwerden mit Störung der Nachtruhe zu einer Operation geraten werden. Die Operation ist bei überlagernder diabetischer Polyneuropathie indiziert und wirksam, auch bei Schwangeren ist sie empfehlenswert, wenn entsprechende Ausfallserscheinungen vorliegen, zumal – häufiger als bisher angenommen – in mehr als 50% die Beschwerden postpartal anhalten bzw. später erneut auftreten können. Bei Vorliegen eines manifesten komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) und gleichzeitigem nachgewiesenen KTS kann unter ausreichender Analgesie die Retinakulumspaltung, die zu sofortiger Schmerzreduktion führt, durchgeführt werden. Nach Operation eines Mammakarzinoms ist die ipsilaterale KTS-Operation (auch in Blutsperre) ohne erhöhtes Risiko möglich. Die operative Behandlung in sehr fortgeschrittenen Fällen wie beim sog. »ausgebrannten« KTS führt ebenfalls oft noch zu einem befriedigenden Ergebnis, auch wenn die Thenaratrophie nicht mehr rückbildungsfähig ist. In hohem Alter profitieren die Patienten ebenfalls von einem Eingriff. Eine gleichzeitige radikuläre Irritation oder Läsion schließt eine operative Indikation nicht aus. Man sollte den Patienten jedoch darauf hinweisen, dass der Behandlungserfolg (aus der Sicht des Patienten) möglicherweise ungenügend ist. Präoperativ ist eine adäquate Aufklärung des Patienten über Operationstechnik, Verlauf, Risiken und mögliche Komplikationen unerlässlich. Der Patient sollte auch immer darüber informiert werden, dass die sensiblen Reizsymptome wie die Brachialgia parästhetica nocturna häufig als einziges Symptom über viele Jahre bestehen kann ohne jegliche Zeichen einer sensiblen oder motorischen Medianusparese. Es sind Spontanremissionen über viele Jahre hinweg beschrieben, eine Belastungsreduktion kann zu einer Verbesserung der Symptomatik führen, phasenartige Verläufe mit rezidivierenden Beschwerden sind ebenso typisch. In jedem Fall sollte spätestens dann operiert werden, wenn persistierende neurologische Ausfälle vorliegen.
Der Eingriff wird in der Regel ambulant (aus patientenbezogenen Gründen auch stationär) durchgeführt. Möglichkeiten der Anästhesie sind die lokale Infiltrationsanästhesie (mit feiner Nadel), die i.v. Regional- oder Plexusanästhesie sowie die Allgemeinnarkose. Die operative Therapie des Karpaltunnelsyndroms stellt die Spaltung des Retinaculum flexorum dar (⊡ Abb. 56.54, ⊡ Abb. 56.55, ⊡ Abb. 56.56). Neben der Retinakulumspaltung können in derselben operativen Sitzung auch Begleiterkrankungen wie die Ringbandspaltung von Fingern bei Tendovaginosis stenosans durchgeführt werden. > Ziel des Eingriffs ist die Dekompression des N. medianus durch vollständige Retinakulumspaltung, auch der Anteile proximal der Handgelenkbeugefalte einschließlich des Ligamentum carpi palmare unter Schonung atypischer motorischer Äste sowie des R. palmaris ni. medianus und seiner Seitenäste.
Der Eingriff sollte wegen der damit einhergehenden Risiken nur durch einen hierfür ausgebildeten und erfahrenen Operateur vorgenommen werden. Komplikationen können vermieden werden, wenn eine exakte Indikationsstellung vorliegt und mikrochirurgische Techniken angewandt werden. Neben der als sicherste Standardmethode anzusehenden offenen Operation haben sich in den letzten Jahren auch endoskopische Techniken entwickelt. 1. Offene Retinakulumspaltung Es empfiehlt sich das Anlegen einer Oberarmblutsperre/-leere. Die Notwendigkeit wird allerdings derzeit kontrovers beurteilt. Mit Sicherheit erleichtert sie insbesondere im Rahmen von Revisionseingriffen die Präparation, ebenso sind Innervationsanomalien leichter zu erkennen. Die Schnittführung ist beim offenen und auch beim endoskopischen Verfahren weiterhin Gegenstand vieler Diskussionen. Während in den 50er Jahren das Retinaculum flexorum geschlossen oft nur mit einem Scherenschlag durchtrennt wurde, begann man später mit ausgedehnteren Schnitten, die von der Hohlhand bis zum Unterarm führten. Beide Techniken ergaben Komplikationen wie unvollständige Durchtrennung des Retinakulum oder aber Durchtrennungen des R. palmaris sowie seiner Äste mit in der Folgezeit Auftreten eines schmerzhaften Neuroms. Auch die Narbenbildung zwischen Thenar und Hypothenar verursachte Beschwerden. In jüngerer Zeit wurden die Operationsschnitte wieder kürzer. Die heute bevorzugte Standardinzision liegt über eine Länge von ca. 3 cm ulnar der Thenarfalte und sollte die distale quere Handgelenkbeugefalte nicht überschreiten. Dadurch wird eine hypertrophe Narbenbildung in diesem Bereich vermieden. Die Verbindungsäste vom R. palmaris ni. medianus zur Ulnarseite der Hohlhand werden hierbei ebenfalls nicht durchtrennt. Bei Verletzungen dieser Äste kommt es häufig zur Entwicklung schmerzhafter Neurome (⊡ Abb. 56.54a). Ein Neurom am Übergang zwischen Thenar/Hypothenar kann vermieden werden, wenn hier handgelenknah eine Hautbrücke bestehen bleibt. Falls eine erweiterte Präparation erforderlich wird, kann zusätzlich eine quere Inzision in der Handgelenkbeugefalte proximal angelegt werden oder der Schnitt bogenförmig nach ulnar umbiegend am distalen Unterarm fortgesetzt werden. Von dem Standardschnitt aus kann falls erforderlich eine partielle Synovialektomie durchgeführt werden.
1597 56.2 · Spezielle Techniken
b
c
Tendo m. flexoris carpi radialis N. medianus A., N. ulnaris Tendo m. palmaris longi
a
Retinaculum flexorum
d
Als weitere Alternative kommt ein sog. Kurzschnitt unmittelbar distal der Raszetta in Frage. Bei diesen sog. Miniinzisionen wird allerdings häufiger eine inkomplette Retinakulumspaltung beobachtet. Ein sog. Kurzschnitt sollte daher aufgrund der deutlich erhöhten operativen Risiken nur von einem erfahrenen Operateur durchgeführt werden. Zusammenfassend sollte die Inzision ausreichend groß sein, um eine gute Übersicht im Operationsgebiet zu gewährleisten. Die zahlreichen Varianten des Verlaufs des R. palmaris ni. medianus bzw. seiner Seitenäste und der möglichen Verbindungen zum N. ulnaris erlauben jedoch keine gesicherte Empfehlung zur Schnittführung. Der Kurzschnitt unmittelbar distal der Raszetta sowie eine weiter distal gelegene »Miniinzision« oder auch eine Doppelinzision können möglicherweise die Läsion dieser variablen Hautnerven verhindern. Inadäquate Inzisionen erhöhen wiederum das Risiko von inkompletten Retinakulumspaltungen und Läsionen des N. medianus und seiner Äste. z Operatives Vorgehen bei der offenen Retinakulumspaltung Wir bevorzugen eine ca. 3 cm lange Hautinzision, die distal der Raszetta gelegen ist, ulnar der Palmaris-longus-Sehne beginnt und in Richtung zum 3./4. Interdigitalraum hin verläuft (⊡ Abb. 56.54a). Das Subcutangewebe wird durchtrennt, wobei bereits sorgfältig auf einen hier möglicherweise verlaufenden ulnaren Seitenast des R. palmaris geachtet werden muss (⊡ Abb. 56.54c).
⊡ Abb. 56.54 Offene Spaltung des Karpaltunnels. a Schematische Darstellung (aus Berger u. Hierner 2009), b Anzeichnung des Hautschnitts, c erhaltener Seitenast des R. palmaris ni. medianus, d nach Spaltung des Retinaculum flexorum deutlich komprimierter N. medianus mit pseudoneuromartige Auftreibung vor der Engstelle
Die Palmaraponeurose wird längsverlaufend durchtrennt. Darunter wird das proximal und ulnar gelegene Fettgewebe mit Langenbeck-Haken oder einem Wundspreizer nach ulnar weggehalten. Es erfolgt dann proximal die Darstellung des Retinaculum flexorum, das mit dem Messer eröffnet wird. Nachdem der N. medianus sichtbar ist, kann dieses weiter mit dem Skalpell oder der Schere über eine eingesetzte gebogene Rinne eröffnet werden. Die Eröffnung erfolgt ulnarseitig und schrittweise unter sorgfältiger Beachtung der möglichen Varianten des motorischen Thenarastes. Die Retinakulumspaltung wird nach distal fortgesetzt, bis die Beugesehnen bzw. das dort dem Nerv aufliegende Fettgewebe erscheint und manchmal auch bereits der Hohlhandbogen sichtbar wird. Proximal ist ebenfalls auf eine vollständige Durchtrennung des Retinaculum flexorum zu achten, wobei auch proximal der Raszetta kräftige Anteile der Unterarmfaszie durchtrennt werden. Hierzu kann Haut und Subkutis mit Langenbeck-Haken oder auch einem Spekulum angehoben werden. Der N. medianus wird inspiziert, die häufig in der Mitte des Karpalkanals gelegene Engstelle ist vermehrt gefäßinjiziert, nicht selten kann bei einer starken Engstelle auch proximal davon ein sog. Pseudoneurom sichtbar werden (⊡ Abb. 56.54d). Auf weitere Auffälligkeiten im Karpaltunnel wie raumfordernde Prozesse muss geachtet werden. Eine Austastung des Karpaltunnelbodens empfiehlt sich. Immer wieder wurde über begleitende Maßnahmen, die über die eigentliche Dekompression des Nervs hinausgehen, diskutiert. So z. B. über die separate Darstellung des motorischen Astes. Diese
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
ist routinemäßig nicht erforderlich, jedoch ist bei atypischem Abgang bzw. Normvarianten Vorsicht geboten. Eine routinemäßige Epineurotomie ist bei Ersteingriffen nicht notwendig. Auch die Resektion der Palmaris-longus-Sehne ist überflüssig. Im Karpalkanal verlaufende atypische Muskeln oder Sehnen können im Einzelfall reseziert werden. Eine Synovialektomie ist routinemäßig nicht empfehlenswert. Bei auffallenden pathologischen Veränderungen wie z. B. hypertropher oder entzündlich-rheumatischer Synovialitis und Amyloidose bei Dialysepatienten kann sie jedoch indiziert sein. > Eine Rekonstruktion des Retinakulum (z. B. durch eine Z-Plastik) zur Verbesserung der postoperativen Grobkraft wird widersprüchlich beurteilt.
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2. Endoskopische Techniken Die endoskopische Dekompression des N. medianus im Karpalkanal wird seit den 80er Jahren durchgeführt. Als erster stellte Okuzu 1989 eine monoportale Methode vor. Über eine quere Inzision proximal der distalen Handgelenkbeugefalte wurde über eine Optik das Retinaculum flexorum dargestellt und mittels eines eingeführten Hakenmessers von distal nach proximal durchtrennt. 1989 entwickelte Chow die biportale endoskopische Technik. Hierbei wird über eine kurze Inzision proximal des Os pisiforme ein Endoskop in den Karpalkanal nach distal eingeführt. Über
eine zweite kurze Inzision in der Hohlhand wird das Retinaculum flexorum zunächst nach distal unter endoskopischer Sichtkontrolle durchtrennt, anschließend erfolgt nach Einführen des Endoskops von distal nach proximal in umgekehrter Richtung die Durchtrennung des Retinakulums (⊡ Abb. 56.55). Agee entwickelte 1992 bzw. 1994 eine monoportale Technik, bei der über eine quere kurze Inzision in der Handgelenkbeugefalte eine Hülse mit integrierter Optik und Messer über einen pistolenartigen Griff eingebracht wird. Das Retinaculum flexorum wird hier nach Aufweitung des Karpalkanals und Darstellung des distalen Randes unter Zurückziehen der Klinge komplett durchtrennt (⊡ Abb. 56.56). Seit der Darstellung dieser beiden Verfahren werden dazu verschiedenste endoskopische Systeme angeboten. Die bislang am häufigsten eingesetzten sind für die monoportale Technik das Agee-Verfahren und für die biportale Technik das Chow-System. Andere ebenfalls häufiger verwendete monoportale Techniken werden u. a. von Preißler (1996) angegeben. Die Wertigkeit der endoskopischen Spaltung des Karpaltunnels gegenüber der offenen Technik wird weiterhin kontrovers diskutiert. Die endoskopischen Verfahren haben gegenüber den offenen Techniken weder eindeutige Vor- noch Nachteile. Die Befürworter der endoskopischen Methode beschreiben vor allem in der frühen postoperativen Phase einen geringeren Wund- bzw. Narbenschmerz und eine kürzere Wundheilung. Möglicherweise
b
a
⊡ Abb. 56.55 Zwei Portal-Technik nach Chow. a Landmarken für die beiden Inzisionen, b typische Lage des Obturators mit der geschlitzten Kanüle, c nach Entfernung des Obturators wird unter endoskopischer Sicht das Retinakulum mit dem retrograden Messer von distal nach proximal durchtrennt. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
c
1599 56.2 · Spezielle Techniken
wird auch die Kraft der Hand früher wiedererlangt und die Arbeitsunfähigkeit ist kürzer. Die Operationsergebnisse sind insgesamt vergleichbar mit denen der offenen Operation, auch im Vergleich zur Miniinzision. Der höheren Patientenzufriedenheit bei unkompliziertem Verlauf und dem geringeren Narbenschmerz bei endoskopischen Verfahren stehen möglicherweise eine höhere Komplikationsrate oder schlechtere Langzeitergebnisse bzw. eine höhere Rezidivhäufigkeit gegenüber als bei offenen Operationen. z Operatives Vorgehen bei der endoskopischen Retinakulumspaltung Der Eingriff kann sowohl in Lokalanästhesie als auch in i. v. lokaler oder Plexusanästhesie durchgeführt werden. Empfehlenswert ist in jedem Fall eine Blutsperre bzw. Blutleere zur Verbesserung der Übersicht.
z Operatives Vorgehen nach Agee (⊡ Abb. 53 a,b) Wir wählen einen ca. 1–1,5 cm langen quer- und proximal der Raszetta verlaufenden Schnitt. Mit der Schere wird das subkutane Gewebe präpariert und die Unterarmfaszie dargestellt. Diese wird angehoben und vorsichtig quer eröffnet. Die Sehne des M. palmaris longus wird nach radial weggehalten. Nun wird mit einem stumpfen gebogenen Dissektor der Karpalkanal ausgetastet. Mithilfe des Dissektors wird das sich an der Unterseite des Retinakulum befindende Bindegewebe abgeschoben. Danach wird der Obturator eingebracht und der Kanal etwas erweitert. Anschließend Einführen des pistolenartigen Instruments nach Agee. Durch Drücken des Auslösers wird ein kleines Messer ausgefahren und das Retinakulum durch Zurückziehen des Instruments von distal nach proximal gespalten. Unter Endoskopsicht erscheint nach kompletter Spaltung subkutanes Fettgewebe. Der Situs muss auf eine komplette Durchtrennung überprüft werden (⊡ Abb. 56.57).
a
Lig. carpi transversum Trokar N., A. ulnaris
N. medianus
R. superficialis palmaris A. radialis
Beugesehnen
b
⊡ Abb. 56.56 Monoportale Technik nach Agee. a Schematische Darstellung, b Querschnitt in Höhe des Karpalkanals. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
a
b
c
d
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⊡ Abb. 56.57 Endoskopische Bilder der monoportalen Technik. a Darstellung des Retinakulums mit seiner geriffelten Sruktur, b mit einem schuhartigen Messer wird das Retinakulum von proximal nach distal durchtrennt, c sichtbares Fettgewebe nach Durchtrennung, d komplette Durchtrennung
z Vorgehen bei anderen Techniken Bei anderen monoportalen Techniken kann das Messer in dem Endoskop unter ständiger Sicht von proximal nach distal vorgeschoben werden mit auch hier kompletter Durchtrennung des Retinaculum flexorum (⊡ Abb. 56.58). Während des gesamten Vorgehens sollte die Richtung mit Zielpunkt auf den 4. Finger eingehalten werden. Die Hand bleibt während der Operation z. B. durch Lagerung auf einem gerollten Tuch leicht überstreckt. > Bei engem Karpaltunnel, fehlender Sicht aufgrund von Einblutung oder Synovialitis sowie auch bei akzessorischen Muskeln kann die endoskopische Operation nicht weitergeführt werden. Es muss dann auf die offene Technik umgestellt werden.
Die Komplikationsrate ist bei der endoskopischen Operation stark von der Erfahrung des Operateurs abhängig. Bei Operateuren mit weniger als 25 Eingriffen mit der Chow-Methode betrug die Komplikationshäufigkeit bis zu 5,6%, bei mehr als 100 Eingriffen sank sie auf weniger als 1%. Da die »Lernkurve« länger ist als bei der offenen Technik, ist ein ausreichendes endoskopisches Training erforderlich. Bei entsprechendem Training des Operateurs und der Voraussetzung ausreichender Erfahrung mit der offenen Technik handelt es sich
jedoch um eine elegante Operationstechnik, die sich an vielen Zentren etabliert hat. Eine relative Kontraindikation besteht bei Einschränkung der Streckfähigkeit des Handgelenks (Letzteres gilt besonders für die 2-Portal-Methode), eine absolute Kontraindikation stellen Revisionseingriffe, eine ausgeprägte rheumatische Synovialitis, Tumoren, Infektionen und ein Handödem dar. z Nachbehandlung Sowohl bei der offenen als auch bei der endoskopischen Technik kann postoperativ eine Mini-Redon-Drainage eingelegt werden. Es wird ein Watteverband oder ein Verband mit leichter Kompression im Wundgebiet ohne Einschnürung angelegt. Dieser ist für nur wenige Tage erforderlich. Eine kurzzeitige Ruhigstellung des Handgelenks durch eine Schiene liegt im Ermessen des Operateurs. Eine analgetische Medikation kann bei Bedarf erfolgen. Nach Entfernung der Fäden ist eine fetthaltige Salbe zur Narbenbehandlung empfehlenswert. Wichtig ist eine frühe funktionelle Behandlung mit selbstständigen Bewegungsübungen der Finger ohne oder mit nur geringen Belastungen. Dadurch kann einer Einsteifung der Finger und einem Handödem vorgebeugt werden und eine frühe Gebrauchsfähigkeit der Hand im täglichen Leben erreicht werden. Bei normalem Verlauf
1601 56.2 · Spezielle Techniken
Fehler, Gefahren und Komplikationen
a
b
c
⊡ Abb. 56.58 Instrumentarium und Vorgehen bei der monoportalen Technik von proximal nach distal. a Präoperativer Aspekt, b Querinzision und Präparation unterhalb des Retinaculum flexorum, c Durchtrennung des Retinaculum flexorum von proximal nach distal unter ständiger endoskopischer Sicht
beträgt die Arbeitsunfähigkeit abhängig vom Ausmaß der manuellen Belastung 3–6 Wochen, für leichtere Arbeiten auch weniger. Zusatzeingriffe bei Begleiterkrankungen des Karpaltunnelsyndroms Da neben der heriditären Karpaltunnelstenose der Synovialitis eine wichtige pathogenetische Bedeutung bei der Entstehung des KTS zukommt, können neben dem KTS weitere Manifestationen einer Synovialitis vorkommen wie z. B.: ▬ Tendovaginitis stenosans der Beugesehnen ( Kap. 6), ▬ Tendovaginitis stenosans de Quervain ( Kap. 5).
Eine Metaanalyse von Boeckstyns und Sorensen (1999) ergab eine Komplikationsrate von 5,6% für endoskopische und von 2,8% für offene Eingriffe, wobei die erhöhte Zahl von Komplikationen bei den endoskopischen Eingriffen vor allem auf passagere Nervenläsionen zurückzuführen war. Eine Umfrage in den USA hatte eine Komplikationsrate von 0,8% bei offenen und von 1,6% bei endoskopischen Eingriffen gezeigt. Protrahierte Narbenschmerzen klingen in der Regel nach spätestens 6 Monaten ab. Ursache sind meist kleine Neurome von Seitenästen des R. palmaris ni. medianus. Eine hypertrophe Narbenbildung ist bei korrekter Schnittführung selten. Schwer arbeitende Patienten können postoperativ länger über eine Kraftminderung der Hand klagen. Diese wird teilweise auf die schmerzhafte Narbe, zum anderen auch auf die veränderte Statik der Hand zurückgeführt und verschwindet spätestens nach 3 Monaten. Die Beschwerden sind nach endoskopischen Eingriffen zumeist innerhalb der ersten 6 Wochen geringer. Komplette Nervendurchtrennungen sind bei regelrechtem Vorgehen und einem erfahrenen Operateur extrem selten. Sie werden in Das Kubitaltunnelsyndroms ist nach dem Karpaltunnelsyndrom das zweithäufigste Kompressionssyndrom eines peripheren Nervs.
Die jährliche Inzidenz erreicht mit etwa 25 Fällen auf 10.000 nur 1/13 der Häufigkeit des Karpaltunnelsyndroms. Es ist bei Männern etwa doppelt so häufig wie bei Frauen, d. h. die Relation ist umgekehrt wie beim KTS. Die linke Seite ist, auch hier im Gegensatz zum KTS, häufiger betroffen. Das KUTS kommt in bis zu 40% der Fälle doppelseitig vor.
Ätiologie Je nach Ursache lässt sich das Krankheitsbild in eine primäre oder idiopathische und eine sekundäre oder symptomatische Form aufteilen. Zu der idiopathischen oder primären Form des KUTS zählen auch Fälle, die als prädisponierende Faktoren Normvarianten wie die Ulnarisluxation, die bei 16% und den M. epitrochleoancona-
eus bei 3–23% der Bevölkerung vorkommen. Hierzu gehört auch die Hypertrophie oder Dislokation des medialen Trizepskopfes. Die anatomischen Varianten führen jedoch nicht zwangsläufig, sondern nur unter bestimmten Voraussetzungen zu einer klinisch manifesten Läsion. Dies gilt insbesondere für die meist asymptomatische Ulnarisluxation. Neben belastungs- bzw. beschäftigungsbedingten Faktoren trägt vor allem ein straffes Kubitaltunnelretinakulum (Lig. arcuatum) zur klinischen Manifestation der Läsion bei. Umstritten ist, ob die Struthers-Arkade als natürlicher Engpass zu einer (seltenen) Kompression des N. ulnaris im distalen Oberarmdrittel, d. h. proximal vom Kubitaltunnel, führen kann. Das sekundäre KUTS tritt häufig als »Ulnarisspätparese« nach alter Ellenbogengelenkverletzung auf. Fehlstellungen wie Cubitus valgus und Cubitus varus, osteoarthrotische Veränderungen des Ellenbogengelenks mit Exostosen, ein instabiles Ellenbogengelenk oder eine Volumenzunahme der Synovialmembran (Synovitis) im Rahmen der rheumatoiden Arthritis, eine knöcherne Hyperplasie, die Periarthropathia calcarea, eine Osteochondromatose, aneurysmatische Knochenzysten oder knöcherne Veränderungen bei M. Paget können zu einem KUTS führen. Seltenere Ursachen sind extraneurale Raumforderungen wie Lipome, Ganglien, verdickte Venen bzw. venöse Plexus, Zysten und entzündliche Prozesse im Kubitaltunnel oder in unmittelbarer Umgebung. Sehr selten sind endoneurale Raumforderungen wie Neurinome oder Neurofibrome innerhalb des Kubitaltunnels. Sonderformen sind lagerungsbedingte Schäden nach Narkosen oder bei chronisch Bettlägerigen. Gehäuft treten Ulnarisparesen nach kardiochirurgischen Eingriffen auf. Für die chronisch progrediente Ulnarisläsion wurden verschiedene Pathomechanismen diskutiert: Kompression, Traktion und Friktion. Unter der humeroulnaren Arkade (Kubitaltunnelretinakulum, KTR) und dem teilweise von dieser überdeckten retrokondylären Sulkus ist die Kompression am häufigsten lokalisiert. Bei Beugung des Ellenbogengelenks spannt sich das KTR an und führt
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zu einer Verminderung des Kanalvolumens und einer Druckerhöhung im Tunnel. Gleichzeitig kommt es zu einer Lageänderungen und Dehnung des N. ulnaris bis zu einem Zentimeter. Neben den dynamischen Faktoren spielt bei der klinischen Manifestation des KUTS die externe Druckschädigung eine Rolle. Der häufige akute Symptombeginn kann als Triggermechanismus auf dem Boden einer latenten Vorschädigung (»acute on chronic compression«) interpretiert werden. Eine ähnliche Schädigung ist bei Langzeit-Bettlägerigen, Rollstuhlfahren, Telefonisten und bei Autofahrern, die den linken Arm auf dem Fensterrahmen oder einer Armlehne in angebeugter Stellung lagern, anzunehmen.
Diagnostik Sensible Reizsymptome sind seltener als z. B. beim KTS. Das Taubheitsgefühl der ulnaren Handkante und des Klein- und halben Ringfingers beginnt häufig akut »über Nacht«. Verläufe mit rezidivierenden Parästhesien sind auch möglich. Diese treten besonders dann auf, wenn der Pat. mit angewinkeltem Arm unter dem Kopf schläft oder eine entsprechende Tätigkeit ausübt. Ziehende oder brennende Schmerzen an Ellenbogen und Unterarm, an der ulnaren Handkante und im Kleinfinger sind nicht ungewöhnlich. Bei weiterem Fortschreiten der Läsion treten eine Kraftlosigkeit bzw. Ungeschicklichkeit der Hand, z. B. beim Schreiben oder Umdrehen eines Schlüssels, hinzu. Im Spätstadium kommt es schließlich zur Ausbildung von Atrophien der Mm. interossei und des M. adductor pollicis und zu einer Krallenstellung der Finger 4 und 5. Schließlich kann auch eine Parese der langen Finger- und Handgelenkbeuger hinzutreten. Die klinische Untersuchung umfasst die ▬ Inspektion, wobei auf Atrophien der Mm. interossei, insbesondere des M. interosseus dorsalis I, sowie des Hypothenar, eine Abspreizhaltung des Kleinfingers und die Krallenstellung der Finger 4 und 5 sowie eine eventuelle Deformierung und Fehlstellung des Ellenbogengelenks zu achten ist. ▬ Palpatorische Exploration der Ulnarisrinne bei gestrecktem und gebeugtem Unterarm, wobei es zu einer (Sub-)Luxation des N. ulnaris und/oder einer Dislokation des medialen Trizepskopfs kommen kann. Anatomische Besonderheiten im Verlauf des Sulkus (z. B. Pseudoneurombildung) und eine abnorme Druckempfindlichkeit lassen sich leicht ertasten. Bei Palpation des Nervs geben die Patienten elektrisierenden Missempfindungen in der ulnaren Handkante und im Kleinund Ringfinger an, wobei ein Seitenvergleich nützlich ist. Eine Druckdolenz des medialen Epikondylus darf nicht auf den
▬ ▬
▬
▬ ▬ ▬
hier in unmittelbarer Nähe verlaufenden N. ulnaris bezogen werden, sondern ist vielmehr Ausdruck einer Epikondylopathie bzw. Insertionstendopathie. Prüfung der Beweglichkeit des Ellenbogengelenks, um Hinweise auf eine evtl. vorliegende Arthrose zu bekommen. Prüfung der Motorik. Hier spielt das Froment-Zeichen (⊡ Abb. 56.64) eine wichtige Rolle: Wird der Patient zum Halten eines Papiers zwischen Daumen und Zeigefinger aufgefordert, kommt es wegen der Schwäche des M. interosseus dorsalis I bzw. des M. adductor pollicis kompensatorisch zu einer Beugung des Daumenendglieds (positives Froment-Zeichen). Die unvollständige Adduktion des Kleinfingers und Schwäche der Fingerspreizer und tiefen Beuger des Ring- und Kleinfingers sowie das Unvermögen, die Finger zu überkreuzen, werden in fortgeschrittenen Fällen regelmäßig beobachtet. Der Grobgriff der Hand (wobei hier auch die N.-medianus-Funktion mitbeurteilt wird) und der Daumen-Zeigefinger-Spitzgriff werden mit dem Vigorimeter geprüft. Sensibilität: Schmerzempfindung und Berührungsempfinden des ulnarseitigen 4. und des 5. Fingers einschließlich des ulnaren Handrückens (Ramus dorsalis ni. ulnaris) werden geprüft. Eine Störung der vegetativen Funktion wird nur bei hochgradigen Läsionen gefunden und zeigt sich in einer Hypo- bis Anhidrose des autonomen Hautareals. Provokationstests wie das Hoffmann-Tinel-Zeichen oder Flexions- und Drucktests sind wenig aussagekräftig und allenfalls im Frühstadium hilfreich.
Elektrophysiologische Untersuchung > Auch wenn die Diagnose einer Ulnariskompression am Ellenbogen häufig klinisch gestellt werden kann, sollte auf eine präoperative elektroneurografische Diagnostik nicht verzichtet werden, 1. zur Bestätigung der Diagnose bzw. differenzialdiagnostischen Einordnung, 2. zur Verlaufsbeobachtung bzw. zur Kontrolle des Therapieerfolgs.
Hierbei ist die fraktionierte Messung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit mit Oberflächenelektroden erforderlich. Bei intraindividuellen Verlaufskontrollen ist auch eine Bestimmung der (proximalen) Latenz (Stimulation proximal des Sulkus, Ableitung vom Hypothenar) nützlich (⊡ Abb. 56.65).
⊡ Abb. 56.64 Positives Froment-Zeichen. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
finden bzw. nicht exakt zu lokalisieren. Bei »kaltem Ellenbogen« oder durch Verschiebung des N. ulnaris bei Beugung im Ellenbogengelenk kann es leicht zu Fehlmessungen kommen.
Eine elektromyografische Untersuchung ist bei nicht eindeutigen klinischen und neurografischen Befunden hilfreich. Unabdingbar ist sie jedoch zum Ausschluss einer über das Innervationsgebiet des N. ulnaris hinausgehenden Störung, wie z. B. einer unteren Armplexusläsion und bei neurologischen Krankheitsbildern mit rein motorischen Ausfällen.
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⊡ Abb. 56.65 Bestimmung der motorischen Nervenleitgeschwindigkeit des N. ulnaris für mehrere Segmente. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
Für die Diagnose einer chronischen Ulnariskompression am Ellenbogen sind folgende Befunde bedeutsam: ▬ Eine Herabsetzung der motorische NLG im Ellenbogensegment im Vergleich zum Unterarmsegment um mehr als 16 m/s. ▬ Eine signifikante Amplitudenminderung des motorischen Antwortpotenzials nach Nervenstimulation proximal – im Vergleich zur Stimulation distal der Ulnarisrinne – um mindestens 20%. Eine Amplitude, die bei proximaler Stimulation niedriger ist als bei distaler Stimulation, legt immer eine Martin-Gruber-Anastomose zwischen N. medianus und N. ulnaris nahe, die durch eine zusätzliche Stimulation des N. medianus am Ellenbogen mit Ableitung von der vom N. ulnaris versorgten Handmuskulatur ausgeschlossen werden kann. ▬ Eine Aufsplitterung und Verlängerung des motorischen Antwortpotenzials nach Stimulation proximal, nicht aber distal des Sulkus als Ausdruck einer zeitlichen Streuung mehr oder weniger geschädigter Nervenfasern bei chronischer Läsion. ▬ Eine signifikante Amplitudenreduktion des sensiblen NAP auch im Seitenvergleich beweist einen Verlust sensibler Nervenfasern, erlaubt jedoch keinen Hinweis auf den Schädigungsort. Ein erhaltenes sensibles NAP trotz manifester Sensibilitätsstörung deutet auf eine radikuläre Läsion hin. > Zu beachten ist, dass die Genauigkeit der Untersuchung (wie bei jeder NLG-Bestimmung) in hohem Grad von Untersucher und Untersuchungstechnik abhängig ist. Besonders bei kräftig entwickelter Unterarmmuskulatur oder bei adipösen Patienten ist der Stimulationspunkt distal des Sulkus schwer zu
Bildgebende Untersuchungen Bildgebende Verfahren wie die Neurosonografie und die MRT gewinnen in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung als relevante ergänzende Untersuchungen. Sie erlauben im Gegensatz zur Neurografie den direkten Nachweis morphologischer Veränderungen und deren exakte Lokalisation. Mit hoch auflösender Sonografie (13 Megahertz-Sonde) können Größen- und Lageveränderungen des N. ulnaris am Ellenbogen dargestellt und Ganglien und andere Raumforderungen wie z. B. ein M. epitrochleoanconaeus nachgewiesen werden. Typischer Befund ist die fusiforme echoarme Schwellung des Nervs und der Verlust der Faszikelstruktur. Auch die Magnetresonanztomografie (MRT) gibt zuverlässige Hinweise auf Lokalisation und morphologische Veränderungen des N. ulnaris beim KUTS. Am häufigsten ist eine umschriebene Signalanhebung des Nervs in der T2-Wichtung. Das diffusionsgewichtete MRT erlaubte eine Frühdiagnose in einem Stadium, in dem die neurografischen Parameter noch wenig aussagekräftig waren. Mittels MRT war es auch möglich, die Stelle der maximalen Nervenkompression zu lokalisieren, am häufigsten retrokondylär und/oder im Kubitaltunnel. Eine Röntgenuntersuchung oder CT-Untersuchung kann bei stärkeren knöchernen, insbesondere posttraumatischen Veränderungen hilfreich sein. Differenzialdiagnosen Eine akute exogene Druckschädigung des N. ulnaris in der Ulnarisrinne nach längerem Aufstützen bzw. Auflegen des Ellenbogens auf einer harten Unterlage kann zur Manifestation eines latent vorhandenen KUTS (Hinweis hierauf ist eine stärkere Leitungsverzögerung des N. ulnaris) führen, jedoch auch isoliert vorkommen. Hier findet sich neurografisch je nach Schweregrad ein kompletter oder partieller Leitungsblock (meist ohne begleitende Latenzverzögerung), der meist innerhalb weniger Tage rückbildungsfähig ist. Wenn allerdings eine stärkere Schädigung mit Axonotmesis vorliegt, kann die Rückbildung der Lähmungen bis zu 1 Jahr dauern. Beim C8-Syndrom geht die Sensibilitätsstörung über das Innervationsgebiet des N. ulnaris hinaus und umfasst meist den gesamten 4. Finger und Teile des medialen Unterarms. Das am Kleinfinger abgeleitete sensible NAP ist in der Regel erhalten. Seltenere Differenzialdiagnosen sind Armplexusparese (z. B. infolge eines neurogenen Thoracic-Outlet-Syndroms (TOS), hereditäre Neuropathie, spinale Muskelatrophie und amyotrophische Lateralsklerose. Schließlich ist bei Fehlen sensibler Störungen eine distale Läsion (Ramus profundus ni. ulnaris) im Bereich oder distal der Loge de Guyon ( Abschn. 56.2.5) abzugrenzen.
Klassifikation Die Einteilung des Schweregrads der Läsion hat bei Ulnarisläsionen eine besondere Bedeutung, da die Prognose und der Behand-
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lungserfolg erheblich hiervon abhängt. Eine allgemein akzeptierte Klassifikation gibt es nicht. Für die klinische Bestimmung des Schweregrades der Ulnarisparese sind die Schemata von McGowan (1950) und Dellon (1989) gebräuchlich. Die Dellon-Klassifikation sieht folgendermaßen aus: Grad I
mild
Rezidivierende Parästhesien und subjektive Schwäche
Grad II
mäßig
Parästhesien, messbare Schwäche des Faustund Spitzgriffs
Grad III
schwer
Abnorme 2-Punkte-Diskrimination, messbare Schwäche plus Muskelatrophie
Gebräuchlich sind außerdem die Bishop-Skala, der DASH-Score und eine neurophysiologische Klassifikation sowie das aufwendigere Bewertungsschema des Lousiana State University Medical Centre.
Therapie Bei intermittierender Hypästhesie und/oder Reizsymptomatik mit Parästhesien und Schmerzen, die in den letzten 14 Tagen aufgetreten sind, ist eine abwartende Haltung sinnvoll. Eine Verlaufsbeobachtung ist bis zu 3 Monaten akzeptabel, wenn der Patient sich unter fortlaufender neurologischer und elektrophysiologischer Kontrolle befindet und in dieser Zeit keine Verschlechterung einritt. Der Patient sollte darauf hingewiesen werden, repetitive exogene Druck- und Zugeinwirkungen bzw. von Schmerz und Parästhesien provozierende Aktivitäten insbesondere auch das Aufstützen des Ellenbogens bei bestimmten Tätigkeiten (z. B. Telefonieren) zu vermeiden. Hierunter kommt es in vielen Fällen zu einer Besserung nicht nur der klinischen, sondern auch der elektrophysiologischen Befunde. Konservative Behandlung Bei intermittierender Hypästhesie und/oder Reizsymptomatik mit Parästhesien und Schmerzen, die länger als 2 Wochen besteht, können neben der oben erwähnten Anleitung zur Vermeidung exogener Noxen folgende konservative Maßnahmen eingesetzt werden. ▬ nächtliche Ruhigstellung mit einer Ellenbogengelenkschiene aus plastischem Material mit guter Polsterung von der Mitte des Oberarms bis zur Hand (30–35° Flexion am Ellenbogen, Unterarm in 10–20° Pronationsstellung und Handgelenk in Neutralstellung) für die Dauer von 6 Monaten, ▬ lokale Kortikoidinfiltration z. B. von 40 mg Triamcinolon und 2 ml 1%iges Lidocain in den Kubitaltunnel in Nähe des N. ulnaris. ▬ manuelle Therapie: der Effekt von Nervengleitübungen wird kontrovers beurteilt. Operative Behandlung Bei progredienten Beschwerden und bei Vorliegen sensomotorischer Ausfallerscheinungen, insbesondere von Muskelatrophien oder einer ausbleibenden Besserung des klinischen und elektrophysiologischen Befundes während einer mehrwöchigen Verlaufskontrolle ist eine operative Indikation gegeben. Die operative Behandlung wird in der Regel ambulant durchgeführt. Anästhesieoptionen sind neben der für die meisten Fälle ausreichende lokalen Infiltrationsanästhesie, die i.v. Regionalanästhesie, Plexusanästhesie oder Allgemeinnarkose. Blutsperre bzw. -leere ist ratsam. Ziel des operativen Eingriffs ist die Dekompression des N. ulnaris im gesamten Kubitaltunnel. Grundsätzlich gibt es drei, zum
Teil konkurrierende operative Verfahren, die wiederum in unterschiedlichen Techniken durchgeführt werden können: Operative Techniken zur Therapie eines Kubitaltunnelsyndroms 1. 2.
3.
In situ-Dekompression Dekompression mit Verlagerung in folgenden Varianten: – subkutane Vorverlagerung – intramuskuläre Verlagerung – submuskuläre Verlagerung Dekompression mit Epikondylektomie in verschiedenen Varianten
Die verschiedenen operativen Verfahren werden immer noch kontrovers beurteilt, obwohl sich die einfache Dekompression mittlerweise weitestgehend durchgesetzt hat. Diese Ansicht basiert auf mehreren prospektiven randomisierten Studien. In Fällen ohne knöcherne Veränderungen konnte gezeigt werden, dass es keinen Unterschied zwischen einfacher Dekompression und subkutaner Verlagerung bzw. submuskulärer Verlagerung gibt. Dies galt auch für schwerere Fälle. Die Verlagerung hatte jedoch bei allen Untersuchern eine höhere Komplikationsrate als die einfache und weniger aufwändige In-situ-Dekompression. Auch bei der Ulnarisluxation ist die einfache Dekompression wirksam und gleichwertig mit der subkutanen Vorverlagerung. Bei einem akzessorischen M. epitrochleoanconaeus sind die Spaltung bzw. Resektion des Muskels und die einfache Dekompression ausreichend. Eine Metastudie randomisierter kontrollierter Studien zeigte keinen Unterschied zwischen der einfachen Dekompression und der Verlagerung in Fällen ohne vorausgegangenes Trauma oder Operation. Die Ulnarisluxation wurde nur in die Studie von Bartels et al. (2005a), nicht in die übrigen randomisierten Studien mit einbezogen. Posttraumatische Fälle und solche mit arthrotischen Gelenkveränderungen und perineuralen Raumforderungen waren Auschlusskriterien bei allen randomisierten Studien. Nichtrandomisierte Studien mit z. T. größeren Fallzahlen zeigten jedoch auch bei diesen Fällen eines sekundären KUTS gute Ergebnisse. Somit ergeben sich folgende Empfehlungen zur operativen Behandlung: > Die technisch einfache In-situ-Dekompression des N. ulnaris (offen oder endoskopisch) stellt die Therapie der Wahl für den Ersteingriff und die primäre Form des Kubitaltunnelsyndroms dar. Dies gilt auch für schwerere Fälle und für Fälle mit Ulnarisluxation (ohne Schmerzensymptomatik), mit geringer Deformierung des Ellenbogengelenks bzw. anderweitigen posttraumatischen Veränderungen und M. epitrochleoanconaeus sowie prominentem medialem Trizepskopf.
Die Vorverlagerung des N. ulnaris ist eher zu empfehlen, wenn ▬ posttraumatische oder degenerative Deformierungen des Ellenbogengelenks (Cubitus valgus u. a.), ▬ ausgeprägte narbigen Veränderungen oder ▬ eine Ulnarisluxation mit (vordergründiger) Schmerzsymptomatik vorliegen. Da jedoch vergleichende prospektiv-randomisierte Studien (Dekompression versus Verlagerung bei posttraumatischen und Fällen mit anderweitigen Gelenkveränderungen) noch fehlen, kann im Einzelfall von der Empfehlung zur Verlagerung abgewichen und die In-situ-Dekompression für den Ersteingriff gewählt werden.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 56.66 Hautschnitt zur Dekompression des N. ulnaris (Cave: Die Äste des N. cutaneus antebrachii medialis müssen geschont werden). (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972) a
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Die Verlagerung mit ihren verschiedenen Varianten ist ein technisch anspruchsvollerer Eingriff und erfahreneren Operateuren vorbehalten. Da die Ergebnisse (bei korrekter Technik) zwischen den verschiedenen Verlagerungsprozeduren – insbesondere der (häufigeren) subkutanen und (seltener angewandten) submuskulären Technik ähnlich oder gleich sind, richtet sich das gewählte Operationsverfahren nach der Erfahrung und den persönlichen Präferenzen des Operateurs. Bei entsprechender Erfahrung des Operateurs ist auch eine (partielle) mediale Epikondylektomie (bei stärkerer Deformierung des medialen Epikondylus oder einer Valgusdeformität) möglich. Hier besteht jedoch das Risiko einer Gelenkinstabilität. Alternativ kommt eine partielle oder totale Epikondylektomie und Dekompression bzw. Vorverlagerung in Frage. Die Hautinzision sollte bei allen offenen Verfahren ausreichend groß sein, um die erforderliche Sicht über das Operationsgbiet und den Verlauf des N. ulnaris und seiner Äste zu haben. Der N. cutaneus antebrachii medialis ist zu schonen (⊡ Abb. 56.66). Die Dekompression des N. ulnaris wird vom retrokondylären Sulkus bis 5–7 cm distal des medialen Epikondylus vorgenommen. Eine Rundumdissektion ist nicht erforderlich und sollte wegen des Risikos einer postoperativen Luxation und der Beeinträchtigung der Blutversorgung des Nervs unterbleiben. Eine epineurale Neurolyse ist nur selten indiziert (z. B. bei starker Fibrosierung), eine interfaszikuläre Neurolyse ist kontraindiziert. Operatives Vorgehen Technik der einfachen (In-situ-)Dekompression Der Eingriff wird in Lokal-oder Regionalanästhesie und Oberarmblutsperre vorgenommen. Lokalanästhesie mit 8–12 ml einer 1%igen Lösung (Lidocain, Meaverin usw.). In Rückenlagerung wird der Arm seitlich abduziert auf einem Armtisch gelagert, wobei der Unterarm supiniert und im Ellenbogengelenk mehr (besomders bei eingeschränktem Schultergelenk) oder weniger stark angebeugt wird. Als zweckmäßig hat sich die Unterlegung des Ellenbogens mit einem Keilkissen erwiesen. Die Inzision ist 3–4 cm (bei adipösen Patienten bis zu 6 cm) lang und erfolgt leicht bogig dorsal vom medialen Epikondylus, welcher wichtigster Orientierungspunkt ist. Bei der Durchtrennung des Subkutangewebes ist auf den N. cutaneus antebrachii medialis zu achten. Der N. ulnaris wird proximal des Sulkus aufgesucht und das an seinen Querfasern erkennbare Ligamentum arcuatum und die Faszie zwischen den Köpfen des M. flexor carpi ulnaris bzw. medialem Epikondylus und Olekranon wird mit der Schere nach distal gespalten und 2–3 mm breit reseziert (⊡ Abb. 56.67). Die Flexoren werden hierbei immer etwas eingekerbt und anschließend unter Zuhilfenahme eines Langenbeck-Hakens oder eines beleuch-
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⊡ Abb. 56.67 »Einfache« Dekompression des N. ulnaris. a Darstellung des N. ulanris im Sulkus und Spaltung des Kubitaltunnelretinakulums und der Faszie zwischen den Flexorenköpfen bis 5 cm distal des medialen Epikondylus. b Man erkennt die Stenosierung des N. ulnaris in Höhe des Kubitaltunnels. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
teten Spekulum auch die tiefe Faszie bis mindestens 5 cm distal des medialen Epikondylus gespalten. Häufig findet man im Bereich des Kubitaltunnels ein den N. ulnaris kreuzendes Gefäßbündel, das koaguliert und durchtrennt werden kann. Neben dem bereits erwähnten M. epitrochleoanconaeus (⊡ Abb. 56.68a) können seltener auch Lipome oder Ganglien vorkommen. In den posttraumatischen Fällen ist der intraoperative Befund am ausgeprägtesten. Es besteht hier eine ganz erhebliche pseudoneuromartige Auftreibung im Bereich des Sulkus und eine taillenförmige Abflachung mit vermehrter Gefäßinjektion (⊡ Abb. 56.68b). Anschließend wird noch nach proximal mit der Schere unter Zuhilfenahme eines Langenbeck-Hakens ausreichend sondiert und ggf. weiteres strangulierendes Gewebe gespalten oder reseziert. Auf eine Spaltung des Perineuriums sollte verzichtet werden, eine intraneurale oder interfaszikuläre Neurolyse ist nicht nur überflüssig, sondern wegen einer möglichen Läsion sich verflechtender Faszikel kontraindiziert. Nach Einlegen eines Mini-Redovac erfolgt der Wundverschluss durch Rückstichnähte. Der leicht komprimierende Verband wird am Folgetag zusammen mit der Drainage entfernt, die Hautfäden nach 10 Tagen. Das Anlegen einer Schiene ist überflüssig. Technik der langstreckigen, endoskopisch assistierten In-situ-Dekompression Es gibt für dieses Verfahren mehrere handelsübliche Instrumente, u. a. das von Hoffmann entwickelte Instrumentarium (Fa. Storz, Tutt-
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⊡ Abb. 56.68 Anatomische Besonderheiten im Rahmen der Dekompression des Kubitaltunnels. a Zwischen der Schnittfläche des M. epitrochleoanconaeus und dem medialen Epikondylus ist der N. ulnaris zu sehen. b Posttraumatisch bei Ellenbogengelenkluxation: Man erkennt die mehr oder weniger ausgeprägte taillienförmige Abflachung mit verstärkter Vaskularisierung und Pseudoneurombildung proximal der Kompressionsstelle. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
lingen). Der Eingriff ist möglich in Lokalanästhesie, subaxillärer Plexusanästhesie oder Allgemeinnarkose. Wie bei allen endoskopischen Methoden hat die Lokalanästhesie das geringste Risiko einer Ulnarischädigung, da die Berührung des Nervs mit Haken oder Schere zu einer unmittelbaren Rückmeldung seitens des Patienten führt. Die Lagerung ist ähnlich wie bei den anderen operativen Verfahren (⊡ Abb. 56.69). Die Hautinzision erfolgt 1,5–2 cm direkt über dem Sulkus im Verlauf des N. ulnaris, der hier leicht darstellbar ist. Dann wird die epifasziale Schicht identifiziert, damit die erforderliche Tunnelung nicht versehentlich im Nervenkanal vorgenommen wird. Durch Spreizen und Vorschieben der Tunnelzange schafft man epifaszial einen Raum nach distal und proximal in einer Länge von jeweils 12–15 cm, in den das beleuchtete Spekulum zunächst nach distal eingeführt wird. Nach Spaltung der Faszie des M. flexor carpi ulnaris wird die submuskuläre Membran mithilfe des Endoskops identifiziert. Die Dissektor-Optikeinheit wird während der Operation mit Kraft nach oben gehalten, um eine gute Übersicht zu bekommen. Anschließend wird der Dissektor zügig auf der Un-
⊡ Abb. 56.69 Lagerung, Abdeckung und endoskopische Technik (Endoskop mit Lichtquelle befindet sich bereits in Unterarmmitte). (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
terarmfaszie vorgeschoben, wobei gleichzeitig die Faszie mit der Schere bis zu einer Länge von 15 cm ab Mitte der retrokondylären Fossa gespalten wird. Der Dissektor wird dann wieder bis knapp in Höhe der Hautinzision zurückgezogen und anschließend die Muskelraphe inklusive des scharfrandigen Sehnenbogens (FCUBogen) zwischen den beiden Köpfen des M. flexor carpi ulnaris durchtrennt. Hierei ist auf abgehende Muskeläste des N. ulnaris zu achten. Die submuskuläre Membran oder tiefe Flexorenfaszie, die fibröse Verstärkungen – ähnlich den Ringbändern der Beugesehnenscheiden – enthält, wird bis ca. 12 cm distal der Mitte der retrokondylären Fossa verfolgt und mit der Schere gespalten. Am Ende der distalen Präparation liegt der Nerv frei von allen komprimierenden Strukturen (⊡ Abb. 56.70). Nach proximal ist das operative Vorgehen identisch. Die Spaltung kann bis zum Rand der Oberarmblutleere erfolgen. Findet man einen aponeurotischen Rand des Trizepsmuskels, so wird dieser ebenfalls gespalten. Das Septum intermuskulare stellt keine Kompressionsursache dar und bleibt unversehrt. Eine StruthersArkade, eine fibröse Struktur vom Muskulus trizeps zum Septum verlaufend, ist sehr selten zu finden und kann ebenfalls mit dem Instrumentarium gespalten werden. Technik der subkutanen Verlagerung Wegen der gelegentlich schwierigeren Präparation, besonders bei den posttraumatischen Fällen, ist (neben einer ebenfalls möglichen Lokalanästhesie) eine i. v. Regionalanästhesie oder Plexusanästhesie zu empfehlen. Die relativ weit nach proximal reichende Inzision erlaubt in vielen Fällen nicht das Anlegen einer Staumanschette, sodass der Eingriff (im Gegensatz zur einfachen Dekompression) ohne Blutsperre durchgeführt werden muss. Die Inzision ist mit mindestens 12 cm deutlich länger als bei der Dekompression und verläuft leicht bogig vom distalen Oberarmviertel etwas dorsal vom medialen Epikondylus bis zum proximalen Unterarmdrittel. Bei der Durchtrennung der Subkutis ist auf den N. cutaneus antebrachii zu achten, der bei der längeren Inzision hier häufiger angetroffen wird und erhalten werden sollte (⊡ Abb. 56.66). Der N. ulnaris wird angeschlungen und nach ventral mobilisiert, wobei gelegentlich sensible Gelenkäste geopfert werden müssen. Proximal des Sulcus ist auf eine ausreichende Resektion des Septum intermusculare bis zur Struthers-Arkade, distal
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
⊡ Abb. 56.70 Endoskopischer Befund bei der langstreckigen In-situ-Dekompression. a Präparation des scharfrandigen Sehnenbogens (FCU-Bogen) zwischen den beiden Köpfen des M. flexor carpi ulnaris vor der Durchtrennung. b Endoskopische Spaltung der Unterarmfaszie (Beachte Schaffung des Raumes durch Dissektor). c Der Nerv ist bis 12 cm distal der retrokondylären Fossa dekomprimiert (Beachte letzte Anteile der submuskulären Membran über dem Nerven und feine Muskeläste nahe der Scherenspitze). d Der völlig dekomprimierte und in situ belassene N. ulnaris. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
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auf die Schonung und notfalls Mobilisierung der motorischen Äste zum M. flexor carpi ulnaris zu achten (⊡ Abb. 56.71) Wenn möglich sollten auch nutritive Gefäße entlang des Nervs, die aus der oberen oder unteren Kollateralarterie kommen, erhalten werden. Der subkutan ausreichend nach medial verlagerte und hier leicht geschlängelt verlaufende Nerv, der keinesfalls über dem medialen Epikondylus verlaufen sollte, ist breitflächig durch einen Subkutan- oder Faszienlappen zu fixieren. ! Cave In jedem Fall muss vermieden werden, dass der Nerv postoperativ wieder nach lateral abgleitet und unmittelbar über dem medialen Epikondylus zu liegen kommt, wo er einer verstärkten Druckbelastung ausgesetzt ist oder durch einen Faszienstrang neuerlich komprimiert wird.
Technik der submuskulären Verlagerung Neben der technisch relativ einfachen und deswegen von den meisten Operateuren bevorzugten subkutanen Verlagerung gilt die tiefe submuskuläre Verlagerung als die anspruchsvollste Methode (⊡ Abb. 56.72). Das operative Vorgehen ist zunächst identisch mit dem bei der subkutanen Verlagerung. Nach der Mobilisierung des Nervs werden der M. pronator und der mediale Kopf des M. flexor carpi radialis von ihrem Ansatz am medialen Epikondylus scharf abgetrennt, von den tiefen Flexoren separiert und angehoben. Hierbei sind motorische Äste des N. medianus, die zum Pronator ziehen, zu schonen. Der N. medianus und die A. brachialis werden in der Regel in dieser Phase sichtbar. Der N. ulnaris wird dann in sein neues Bett in unmittelbarer Nähe zum N. medianus verlegt, in dem er spannungsfrei und leicht geschlängelt liegt. Nach Beugung des Gelenks durch Unterlegen von gefalteten Tüchern unter den Unterarm werden die Muskeln mit kräftigen Nähten reinseriert. Als Variante des Eingriffs kann anstelle der Abtrennung der Muskulatur vom medialen Epikondylus eine Osteotomie des medialen Epikondylus erfolgen. Nach Verlagerung des Nervs wird der Epikondylus mit den Muskelansätzen durch Kirschner-Drähte oder Schrauben wieder am Humerus reinseriert.
⊡ Abb. 56.71 Operationssitus nach subkutaner Ulnarisverlagerung bei ausgeprägtem Pseudoneurom und Kompression in Höhe des Kubitaltunnels. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
Postoperativ kann eine Gipsschiene bis maximal 14 Tage angelegt werden, dies ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Mediale Epikondylektomie Die mediale Epikondylektomie kommt als weitere Methode infrage. Sie hat vor allem im angloamerikanischen Raum ihre Befürworter. Die Technik ist ähnlich wie bei der submuskulären Verlagerung, nur wird hier zusätzlich der mediale Epikondylus entfernt, sodass der N. ulnaris nach medial bzw. palmar rollt. Die abgetrennten Muskeln werden am Humerus reinseriert (⊡ Abb. 56.73). ! Cave Bei der medialen Epikondylektomie sollte zur Vermeidung einer Gelenkinstabilität das mediale Kollateralband erhalten werden.
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⊡ Abb. 56.72 Schema der submuskulären Verlagerung des N. ulnaris nach palmar. Der N. ulnaris verläuft spannungsfrei unter den durchtrennten Mm. pronator und flexor carpi ulnaris, die anschließend reinseriert werden (Cave: Die Äste des N. cutaneus antebrachii medialis müssen geschont werden). (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
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⊡ Abb. 56.73 Technik der medialen Epikondylektomie. a Der Epikondylus wird mit der anhaftenden Muskulatur abgetrennt und nach Verlagerung des N. ulnaris (b) wieder reinseriert. c Das mediale Kollateralband muss erhalten bleiben, sonst droht eine Gelenkinstabilität. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Postoperative Weiterbehandlung Bei der einfachen Dekompression und der subkutanen Verlagerung ist eine postoperative Ruhigstellung nicht erforderlich. Die sofortige Bewegung hat gegenüber einer 2- bis 3-wöchigen Ruhigstellung den Vorteil einer kürzeren Arbeitsunfähigkeit. Nach submuskulären Verlagerungen wird i. Allg. das Ellenbogengelenk auf einer Schiene für 2–3 Tage (bis maximal 2 Wochen) ruhiggestellt. Postoperativ ist, unabhängig von der angewandten Methode, möglichst frühzeitig ein weitestgehender Bewegungsumfang ohne Belastung anzustreben. Ein voller Krafteinsatz ist nach der einfachen Dekompression früher möglich als nach Vorverlagerung. Die Arbeitsunfähigkeit beträgt je nach Tätigkeit nach der einfachen Dekompression durchschnittlich 2–3 Wochen, nach submuskulärer Verlagerung bis zu 6 Wochen und mehr. Bei Vorliegen motorischer Paresen ist eine krankengymnastische Übungsbehandlung zur Kräftigung der paretischen Muskeln angezeigt.
Fehler, Gefahren und Komplikationen
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Die Verlagerungsprozedur mit langstreckiger Transposition des N. ulnaris birgt das Risiko einer lokalen Ischämie des Nervs infolge Schädigung der Vasa nervorum. Daher sind bei der Verlagerung die zuführenden Gefäße möglichst zu erhalten (gefäßgestielte Verlagerung des N. ulnaris). Bei der langstreckigen endoskopischen Dekompression wird i. Allg. die Gefäßversorgung nicht beeinträchtigt. Raumfordernde Hämatome sollten wegen der Gefahr einer Infektion und Nahtdehiszens mit langwieriger Sekundärheilung ausgeräumt werden. Eine häufige Komplikation bei allen Techniken ist die Läsion des N. cutaneus antebrachii medialis, die zu anhaltenden neurombedingten Beschwerden führen kann. Verletzungen muskulärer Äste sind bei allen Dekompressions- und Verlagerungsverfahren möglich. Verletzungen des N. ulnaris selbst können bei schwierigen Präparationen im Rahmen von posttraumatischen, insbesondere knöchernen Veränderungen, aber auch nach unsachgemäßer Epikondylektomie vorkommen. > Eine postoperative Zunahme der sensomotorischen Ausfälle und/oder Schmerzsymptomatik nach Ventralverlagerung ist meist auf eine ungenügende proximale und distale Mobilisierung des N. ulnaris zurückzuführen.
Es kann hierdurch zu einer Abknickung (sog. Kinking) des Nervs kommen. Ursache eines proximalen Kinking ist häufig eine ungenügende Resektion des Septum intermusculare mediale, eines distalen Abknickens, wenn beim Eintritt in die Flexoren die tiefen Flexorenfaszie nicht ausreichend gespalten wurde. Ein Kinking des Nervs sowie perineurale Vernarbungen und unzureichende Resektionen des Septum intermusculare mediale und der tiefen Flexorenfaszie erfordern einen Revisionseingriff. Auch eine unzureichende Verlagerung unmittelbar auf den Epicondylus medialis kann zu verstärkten Schmerzen oder zu einem Rezidiv führen. Letztere sind bei allen Prozeduren möglich. Eine längere Ruhigstellung und unterlassene Physiotherapie kann eine Gelenkkontraktur nach sich ziehen. Eine Gelenkinstabilität stellt eine gefürchtete Komplikation nach der unsachgemäßen Epikondylektomie dar.
Prognose und Verlauf Das Ausmaß der Vorschädigung ist ein wichtiger prognostischer Faktor. Wenn Atrophien der kleinen Handmuskeln bereits länger als 1 Jahr bestanden haben, bilden sich diese postoperativ meist
nicht mehr oder nur unvollständig zurück. Beidseitiges Vorkommen, eine begleitende radikuläre Symptomatik, hohes Alter und lange Symptomdauer sind ebenfalls prognostisch ungünstig. Echte Rezidive, d. h. ein erneutes Auftreten einer sensomotorischen Ulnarissymptomatik nach initialer, mindestens 6- bis 12-monatiger Besserung der Symptomatik bzw. völliger Beschwerdefreiheit sind nicht ungewöhnlich und können sogar noch nach vielen Jahren vorkommen. Hier ist zunächst eine anderweitige Ursache (s. Differenzialdiagnose) auszuschließen. Revisionseingriffe Bei persistierenden Beschwerden nach Dekompression ist nach Ausschluss anderweitiger Ursachen die vollständige Dekompression Ziel des Revisionseingriffs. Bei Rezidiven nach Dekompression und längerem beschwerdefreiem Intervall kann die Dekompression ebenfalls wiederholt werden. Wenn allerdings erhebliche knöcherne Gelenkveränderungen vorliegen, ist die Verlagerung zu bevorzugen. Dies kann auch für Fälle einer (schmerzhaften) Ulnarisluxation gelten. Bei Revisionseingriffen kommen sowohl eine submuskuläre als auch eine subkutane Verlagerung in Frage. Wenn nach einer (insuffizienten) Verlagerung starke Schmerzen auftreten, ist eine Rückverlagerung in Erwägung zu ziehen. > Revisionseingriffe sollten nur nach eingehender Diagnostik zum Ausschluss einer anderweitigen neurologischen Ursache durch einen besonders erfahrenen Operateur durchgeführt werden; die Ergebnisse sind i. Allg. schlechter als bei Primäreingriffen.
Distale N.-ulnaris-Kompression Bei der distalen N.-ulnaris-Kompression unterscheidet man zwei Läsionstypen: ▬ die erstmals von Guyon 1861 beschriebene Form in der nach ihm benannten Loge. Diese ist zwar allgemein bekannter, jedoch seltener als die ▬ weiter distal gelegene Läsion, die ausschließlich den Ramus profundus betrifft. Neben sog. Beschäftigungslähmungen finden sich ursächlich gutartige Tumoren (Ganglien und Lipome, seltener Riesenzelltumoren, Desmoide und Fremdkörpergranulome), während die idiopathischen Formen seltener sind. Auch Aneurysmen können Ursache einer Kompression des distalen N. ulnaris sein.
Epidemiologie Die erstmals von Guyon 1861 beschriebene Form in der nach ihm benannten Loge ist zwar allgemein bekannter, jedoch seltener als die weiter distal gelegene Läsion, die ausschließlich den Ramus profundus betrifft.
Ätiologie Ursächlich kommen Druck- oder Beschäftigungslähmungen, wie z. B. die Radfahrerlähmung in Frage, öfters finden sich als Ursache gutartige Tumoren (Ganglien und Lipome, seltener Riesenzelltumoren, Desmoide und Fremdkörpergranulome). Hier am häufigsten sind kleine Ganglienzysten (⊡ Abb. 56.74), die von den Karpalgelenken ausgehen und unter das Ligamentum pisohamatum reichen, wobei sie den Ramus profundus gegen das straffe und scharfkantige Ligament pressen. Neben Gefäßanomalien können auch abnormale Muskeln und knöcherne Veränderungen, z. B. eine Zweiteilung des Hamulus
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ossis hamati, vorkommen, des Weiteren eine Hypertrophie der Palmarfaszie, fibröse Bänder oder Narbengewebe, z. B. nach Verbrennungen und Verletzungen.
Diagnostik Für die Ganglien ist eine rezidivierende Symptomatik typisch, die Symptomatik kann aber auch akut beginnen. Oft finden sich Traumen in der Anamnese. Bei der Untersuchung zeigt sich ein relativ umschriebener Druckschmerz medial vom Os pisiforme. Die Patienten klagen auch über belastungsabhängige, meist bei manuellen Tätigkeiten auftretende Schmerzen. Beim Syndrom der Loge de Guyon werden der sensible Ramus superficialis – nicht jedoch der ebenfalls sensible Ramus dorsalis, der weiter proximal im Unterarmbereich vom Ulnarisstamm abgeht –, der Hypothenarast und der motorische Ramus profundus betroffen. Neben einer mehr oder weniger ausgeprägten Krallenstellung des 5., geringer auch des 4. Fingers findet man klinisch eine Verschmächtigung des Adductor pollicis sowie der ulnaren Interossei, geringer auch des Hypothenar sowie eine meist nur diskrete Hypästhesie der ulnaren Handkante und der Palmarseite des 5. und halben 4. Fingers. Bei der motorischen, weiter distal gelegene Läsion, die ausschließlich den Ramus profundus betrifft, besteht nur die motorische Symtomatik, d. h. eine unterschiedlich ausgeprägte Parese der Mm. interossei und den M. adductor pollicis versorgt, betroffen. Typischer Befund ist die Schwäche der Daumenadduktion, die den Daumen-Zeigefinger-Spitzgriff beeinträchtigt und sich besonders beim Schreiben bemerkbar macht. Das Froment-Zeichen ist positiv. Auch die Adduktion des Kleinfingers ist beeinträchtigt, was jedoch funktionell weniger störend ins Gewicht fällt. Sensible Störungen fehlen vollständig.
⊡ Abb. 56.74 Operationsbefund einer isolierten Kompression des Ramus profundus ni. ulnaris durch ein großes Ganglion (nach Resektion des Lig. pisohamatum). (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
> Isolierte Atrophien der kleinen Handmuskeln ohne sensible Störung sind immer verdächtig auf eine Kompression bzw. Läsion des Ramus profundus N. ulnaris!
Bei der rein sensiblen distalen Läsion finden sich nur die oben genannten sensiblen Symptome. Elektrophysiologische Befunde Die elektromyografische und vor allem die elektroneurografische Untersuchung sind unentbehrlich für eine exakte topische Diagnostik. Je nach Läsionsstelle finden sich ▬ eine Reduktion oder ein Verlust des sensiblen NAP, ▬ verlängerte Latenzwerte zum Hypothenar mit oder ohne Leitungsblock, auch im Seitenvergleich sowie ▬ verlängerte Latenzwerte zum Adductor pollicis (und den Interossei) mit Leitungsblock. Durch die elektrophysiologische Untersuchung lässt sich eine genaue Differenzierung des Lähmungstyps vornehmen: Beim Loge-de-Guyon-Syndrom sind die distalen motorischen Latenzwerte sowohl zum Hypothenar als auch zum M. interosseus dorsalis I pathologisch. Das antidrome sensible NAP ist amplitudenreduziert und verzögert (auch im Vergleich zum NAP des intakten N. medianus) oder meist ohne Averager nicht mehr nachweisbar. Bei der isolierten Kompression des Ramus profundus ohne Sensibilitätsstörungen findet sich entsprechend ein regelrechtes sensibles NAP sowie eine normale Latenz zum Hypothenar, während die Latenz zum M. adductor pollicis hochgradig (bis auf Werte von >20 ms) verzögert. Ein noch empfindlicherer Indikator ist die Bestimmung der motorischen NLG mit zusätzlichem Stimulationspunkt palmar sowie der Nachweis eines Leitungsblocks.
⊡ Abb. 56.75 Einteilung der Läsionstypen des N. ulnaris am Handgelenk nach Shea u. McClain (1969)
Differenzialdiagnose Differenzialdiagnostisch ist ebenso wie bei der weiter proximal gelegenen Kompression des Nervs am Ellenbogen an eine C8Läsion zu denken. Bei der rein motorischen Läsion sind spinale Läsionen im Bereich des Vorderhorns (z. B. Syringomyelie) oder auch generalisierte degenerative Erkrankungen wie myatrophische Lateralsklerose und die spinalen Muskelatrophien vom Typ Aran-Duchenne abzugrenzen. Hierzu ist in der Regel eine elektromyografische Untersuchung erforderlich, die in diesen Fällen den Nachweis einer generalisierten, d. h. über das Innervationsgebiet des N. ulnaris hinausgehenden Schädigung erbringt.
Klassifikation Bei der distalen N.-ulnaris-Kompression unterscheidet man nach Shea (1969) drei Läsionstypen (⊡ Abb. 56.75): ▬ die sensomotorische gemischte Form, erstmals von Guyon 1861 als Syndrom der Loge de Gyon beschrieben, ▬ die motorische weiter distal gelegene Läsion, die ausschließlich den Ramus profundus betrifft, und ▬ die sensible weiter distal gelegene Läsion, die ausschließlich die sensiblen Endäste zu D V und D IV betreffen.
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
Therapie Operative Behandlung Druck- und Beschäftigungslähmungen, wie z. B. die nicht ganz seltene Radfahrerlähmung, bilden sich in der Regel spontan zurück. Bei Ganglien kommen ebenfalls Spontanheilungen vor. Bei progredienter Symptomatik oder auch rezidivierenden Symptomen ist in der Regel nach 4–6 Wochen ausbleibender Besserungstendenz die operative Exploration indiziert.
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Operative Technik Der Eingriff kann in Lokal-, i. v. Regional- oder Armplexusanästhesie durchgeführt werden. Oberarmblutsperre ist zu empfehlen. Über eine in der Raszetta abgewinkelte Inzision, die etwa parallel zur Inzision beim KTS, jedoch weiter ulnarseitig, erfolgt (⊡ Abb. 56.76), wird zunächst das subkutane Fettgewebe durchtrennt und die Sehne de M. flexor carpi ulnaris aufgesucht. Radial von der Sehne trifft man auf den N. ulnaris, der hier in unmittelbarer Nähe zu dem Gefäßbündel verläuft. Nach Identifikation der Teilungsstelle in die beiden oberflächlichen und den in Höhe der Ansätze der Mm. flexor und opponens digitorum V ulnarseitig abgehenden tiefen Ast ist sorgfältig nach Ganglien, die aus den Interkarpalgelenken oder dem 5. Metakarpophalangealgelenk hervorgehen, zu suchen. Zur Inspektion und Entlastung des Ramus profundus ist immer die Durchtrennung des Ligamentum pisohamatum erforderlich. Schließlich können noch weiter distal gelegene Ganglien oder eine bindegewebige Arkade unter den Mm. opponens und digitorum V eine Kompression des Ramus profundus verursachen.
Fehler, Gefahren und Komplikationen Die Präparation des distalen N. ulnaris und insbesondere die Darstellung des tiefen motorischen Astes ist ein technisch anspruchsvoller Eingriff, bei dem es sowohl zur Verletzung der kleinen Nerven als auch des Gefäßbündels kommen kann. Es sollten daher stets ein mikrochirurgisches Instrumentarium und Vergrößerungs-
⊡ Abb. 56.76 Hautinzision zur Freilegung des N. unaris in der Loge de Guyon bzw. des Ramus profundus ni. ulnaris. (Aus Assmus u. Antoniadis 2008)
hilfen zur Verfügung stehen. Außerdem können kleine tiefliegende Ganglien, die isoliert den Ramus profundus komprimieren, bei mangelnder Übersicht leicht übersehen werden und Anlass für einen Revisionseingriff geben.
Prognose und Verlauf Die Prognose bezüglich der Rückbildung der motorischen Ausfälle ist i. Allg. gut. Die Läsionen bilden sich vollständig zurück, vorausgesetzt, die Atrophie hat nicht wesentlich länger als 1 Jahr bestanden.
Kompression des R. dorsalis ni. ulnaris Wegen seines teilweise subfaszialen Verlaufs (überwiegend außerhalb des Retinaculum extensorum) kann der sensible Nerv durch Aneurysmen oder dorsale, ulnar gelegene Handgelenkganglien komprimiert werden. 56.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Fehler und Gefahren werden jeweils für die einzelnen Kompressionssyndrome dargestellt. Grundsätzlich sollte bei der Entscheidung für eine operative Therapie die Diagnose- und Indikationsstellung überlegt und korrekt sein. Die korrekte Durchführung des Eingriffs beinhaltet vor allem die entsprechende Erfahrung des Operateurs mit den zur Verfügung stehenden Operationsverfahren. Hier ist darauf zu achten, dass die operative Therapie nicht aggressiv, sondern schonend erfolgt. Mikrochirurgisches Vorgehen bedarf eines besonderen Trainings und wird bei vielen Techniken der Dekompression gefordert genauso wie der Einsatz von mikrochirurgischem Instrumentarium. Revisionseingriffe zeigen, dass besonders unerfahrene Operateure u. a. durch zu kleine Inzisionen oder durch mangelnde Erfahrung bei der Endoskopie das Risiko einer Operation deutlich erhöhen.
1617 Weiterführende Literatur
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Kapitel 56 · Nervenkompressionssyndrome im Bereich der oberen Extremität
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56
1621 56.3 · Weiterführende Literatur
Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand Jürgen Rudigier
57.1
Allgemeines
– 1622
57.1.1 57.1.2 57.1.3 57.1.4 57.1.5 57.1.6 57.1.7 57.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1622 Epidemiologie – 1624 Ätiologie – 1624 Diagnostik – 1624 Klassifikation – 1624 Indikationen und Differenzialtherapie – 1625 Therapie – 1626 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1630
57.2
Spezielle Techniken
57.2.1 57.2.2 57.2.3 57.2.4 57.2.5
Ersatzoperationen bei Ausfall des N. radialis – 1630 Ersatzoperationen bei Ausfall des N. medianus – 1634 Ersatzoperationen bei Ausfall des N. ulnaris – 1642 Ersatzoperationen bei kombiniertem Ausfall des N. medianus und N. ulnaris (mediokubitale Läsion) – 1647 Ergänzende motorische Ersatzoperationen an der oberen Extremität – 1649
– 1630
57.3
Fehler und Gefahren – 1649 Weiterführende Literatur
– 1649
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
57
1622
57.1
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
Allgemeines
Motorische Ersatzoperationen ermöglichen eine teilweise, bisweilen auch fast vollständige, Wiederherstellung ausgefallener Muskelfunktionen, die durch direkte Verletzungen von Muskeln, Nerven oder infolge von Krankheiten (Apoplex, Polio, Lepra usw.) verloren gegangen sind. Mit ihrer Hilfe können auch Funktionen von Muskeln, die durch Wiederherstellung der Nerven nur teilweise oder abgeschwächt wieder gekommen sind, ersetzt oder verstärkt werden. Ersatzoperationen sind daher auch in einer Zeit fortgeschrittener mikrochirurgischer Nervennahttechniken wesentlicher Bestandteil einer Rehabilitation nach peripheren (Plexus brachialis) und zentralen Nervenverletzungen, sofern die notwendigen Voraussetzungen vorliegen.
57
Unter dem Begriff motorische Ersatzoperationen werden mehrere Techniken zusammengefasst: ▬ Veränderung des Ansatzes einer Muskel-Sehnen-Einheit im Sinne einer unipolaren Sehnentransposition (z. B. Sehnenumsetztplastiken): Diese Techniken sollen in diesem Kapitel beschrieben werden. ▬ Veränderung von Ursprung und Ansatz einer Muskel-SehnenEinheit im Sinne einer bipolaren neurovaskulär gestielten funktionellen Muskeltransposition (z. B. neurovaskulär gestielter funktioneller myokutaner Latissimus dorsi Muskeltransposition nach Zancolli/Mitre Kap. 53) ▬ Veränderung von Ursprung und Ansatz einer Muskel-SehnenEinheit im Sinne einer freien funktionellen Muskeltransplantation (z. B. freier mikrovaskulärer M.-gracilis-Transplantation zur Wiederherstellung der Unterarmbeugefunktion Kap. 58)
57.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Vor der Durchführung einer motorischen Ersatzoperation müssen die im Einzelfall unterschiedlichen anatomischen Gegebenheiten geklärt werden. Dazu gehören: 1. eine genaue Untersuchung und Analyse des vorliegenden Ausfallmusters: Sind einzelne Muskeln oder Muskelgruppen, die dem Innervationsgebiet eines peripheren Nerven entsprechen, betroffen oder mehrere Muskeln in verschiedenen Gliedmaßenabschnitten (wie z. B. bei kompletten oder inkompletten Armplexusläsionen)? 2. eine Abklärung, welche Muskeln als Ersatz zu Verfügung stehen und in welchem funktionellen Zustand diese sind: Hierzu gehören die Bestimmung des Kraftgrades, eventuell elektromyografische Abklärung des Innervationszustandes, Überlegungen hinsichtlich der Gleitfähigkeit des möglichen Ersatzmuskels und seines zu erwartenden Gleitweges (Amplitude). Stehen mehrere Muskeln zur Verfügung, ist zu klären, welcher am besten geeignet ist bei dem geringsten Ausfall nach seiner Umsetzung. Zusätzlich ist die genaue Kenntnis des anatomischen Zustandes der von der Ersatzmuskulatur zu bewegenden Gelenke wichtig. Berechnungen der Muskelkraft und der Muskelamplitude aufgrund physiologischer Bestimmungen wie der mittleren Faserlänge und der Querschnittfläche von Muskelfasern sind im klinischen
Alltag meist nicht möglich und auch nicht sinnvoll, da derartige Werte von Person zu Person wechseln und sich auch bei demselben Menschen zu verschiedenen Zeiten ändern (z. B. Zunahme bei entsprechendem Training, Abnahme bei Krankheit, Alter oder Nichtgebrauchen des möglichen Ersatzmuskels).
Muskelkraft Nach Brandt ist die Masse oder das Volumen der Muskelfaser proportional zur Arbeitsleistung, die mittlere Faserlänge proportional zur Exkursion und die physiologische Querschnitsfläche aller Fasern proportional zur Spannung. Für die tabellarischen Übersichten werden die Begriffe der »mean resting fiber length«, der »mass fraction« (prozentualer Anteil des Gewichtes des Einzelmuskels am Gewicht sämtlicher Unterarm- und Handmuskeln) und der »tension fraction« (prozentualer Anteil des Eigenmuskels an der Summe der physiologischen Querschnittflächen aller Unterarmund Handmuskeln) verwendet. Der physiologische Querschnitt errechnet sich durch Division des Muskelvolumens durch die mittlere Faserlänge. Die Werte für die einzelnen Muskeln lassen eine korrekte Beurteilung der einzelnen Muskeln im Hinblick auf eine Transposition zu. Wenn man diese Werte richtig anwendet, können Verlust und Gewinn durch die Muskelumlagerung ausreichend berechnet werden (⊡ Tab. 57.1). > Es muss dabei beachtet werden, dass derartige Werte nicht nur von Person zu Person wechseln, sondern auch an einem Menschen zu verschiedenen Zeiten (z. B. Zunahme bei sportlichem Training, Abnahme bei Krankheit und im Alter)
Muskelamplitude Der Gleitweg einer zu verlagernden Muskel-Sehnen-Einheit sollte für die gewünschte Bewegung ausreichen. Unter der Amplitude eines Muskels versteht man die Distanz, die eine Sehne bei vollständig entspanntem Muskel in den Zustand der vollständigen Muskelkontraktur gleiten kann. Wünschenswert ist ein Gleitweg, bei dem die Sehne das volle Bewegungsausmaßes des Gelenks zulässt. Beeinflusst wird die Muskelamplitude von: 1. der Anzahl der Gelenke, über die die Sehne hinwegzieht, und ihrer Stellung (die erforderliche Amplitude kann sich bei der Umwandlung eines monoartikulären in einen polyartikulären Muskel erhöhen), 2. dem Abstand der Sehne von der Gelenkachse in verschiedenen Positionen (durch Herauslösen des Muskels aus seiner bindegewebigen Umgebung – z. B. Spaltung der umliegenden Faszien – kann der Bewegungsumfang vermehrt werden). Die Bewegungsamplitude des Ersatzmuskels sollte idealerweise der des zu ersetzenden Muskels entsprechen. Ist die Amplitude kleiner, bedeutet dies einen kleineren Bewegungsausschlag. Ist sie größer, kann eine negative Finger- oder Handgelenkhaltung entstehen (z. B. Schwanenhalsdeformitäten bei Lumbricalis-Ersatzoperationen).
Verlaufsrichtung Je abgewinkelter der Verlauf um ein Widerlager gewählt wird, umso mehr ist die Gleitfähigkeit der umgelagerten Sehne beeinträchtigt. Ein entsprechender Verlust ist dann einzukalkulieren. Bisweilen ist eine größere Abwinkelung durch eine ausreichende Mobilisierung (z. B. Ablösen von Ursprungsteilen des Muskels von Faszien oder Knochen) vermeidbar. Ein möglichst geradliniger Verlauf des transponierten Muskels gewährleistet am besten eine gute Kraftübertragung und Amplitude und ist daher zu bevorzugen.
1623 57.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 57.1 Funktionell wichtige Muskelkraftwerte (mod. nach Brandt) Muskeln im Unterarm- und Handbereich
Mittlere Faserlänge in Ruhe (»mean resting fiber length«) (cm)
Prozentualer Anteil des Gewichtes des Einzelmuskels am Gewicht sämtlicher Unterarm- und Handmuskeln (»mass factor«) (%)
Prozentualer Anteil des Einzelmuskels an der Summe der physiologischen Querschnitsflächen aller Unteram- und Handmuskeln (»tension fraction«) (%)
M. brachioradialis
16,1
7,7
2,4
ECRL
9,3
6,5
3,5
ECRB
6,1
5,1
4,2
M. supinator
2,7
3,8
7,1
EDC II
5,5
1,1
1,0
EDC III
6,0
2,2
1,9
EDC IV
5,8
2,0
1,7
EDC V
5,9
1,0
0,9
EDM
5,9
1,2
1,0
ECU
4,5
4,0
4,5
APL
4,6
2,8
3,1
EPB
4,3
0,7
0,8
EPL
5,7
1,5
1,3
EIP
5,5
1,1
1,0
PT
5,1
5,6
5,5
FDS II
7,3
2,9
2,0
PL
5,0
1,2
1,2
FCR
5,2
4,2
6,7
FDS III
7,0
4,7
3,4
FDS IV
7,3
3,0
2,0
FDS V
7,0
1,3
0,9
FDP II
6,6
3,5
2,7
FDP III
6,8
4,4
3,4
FPL
5,9
3,2
2,7
PQ
3,0
1,8
3,0
APB
3,7
0,9
1,1
M. opponens pollicis
2,4
0,9
1,9
FPB (Caput superficiale)
3,6
0,9
1,3
M. lumbricalis I
5,5
0,2
0,2
M. lumbricalis II
6,6
0,2
0,2
FCU
4,2
5,6
6,7
FDP IV
6,8
4,1
3,0
FDP V
7,0
3,4
2,8
ADM
4,0
1,1
1,4
M. flexor digiti minimi
3,4
0,3
0,4
M. lumbricalis III
6,0
0,1
0,1
M. lumbricalis IV
4,9
0,1
0,1
M. interosseus palmares I
1,5
0,4
1,3
N. radialis
N. medianus
N. ulnaris
M. interosseus palmaris II
1,7
0,4
1,2
M. interosseus palmaris III
1,5
0,3
1,0
M. interosseus dorsalis I
2,5
1,4
3,2
M. interosseus dorsalis II
1,4
0,7
2,5
M. interosseus dorsalis III
1,5
0,6
2,0
M. interosseus dorsalis IV
1,5
0,5
1,7
M. adductor pollicis
3,6
2,1
3,0
M . opponens digiti quinti
1,5
0,6
1,0
57
1624
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
Funktionelle Beziehung zwischen Kraftspender und zu ersetzendem Muskel Die Frage, ob ein Antagonismus oder Synergismus zwischen der alten und der neuen Funktion besteht, ist bei der Auswahl des richtigen Spendermuskels besonderer wichtig. Dabei ist zwischen anatomischem und funktionellem Synergismus zu unterschieden. Anatomisch sind alle Strecksehnen der Hand untereinander Synergisten und zu den Beugesehnen Antagonisten. Funktionell gesehen sind Muskeln dann Synergisten, wenn sie bei bestimmten Bewegungsabläufen gleichzeitig in Funktion treten. Die Extensoren des Handgelenks sind z. B. Synergisten zu den langen Beugesehnen der Finger, da sie sich beim Faustschluss zusammen mit den langen Fingerbeugern anspannen, um das Handgelenk dorsal zu stabilisieren und damit eine Abweichung in die Beugung verhindern. Entsprechend verhalten sich die Handgelenkbeuger als Synergisten gegenüber den Fingerstreckern, indem sie sich bei der Fingerstreckung anspannen. Sie verhindern dadurch, dass das Handgelenk durch die Fingerstreckung nach dorsal abweicht. > Der funktionelle Synergismus eines Spendermuskels ist für
57
eine Sehnentransposition am günstigsten, da der Funktionsablauf zentral im Gehirn als Bewegung, und nicht als einzelne Muskelaktion gespeichert ist, weshalb ein transponierter Muskel ohne größere Probleme an einer funktionell synergistischen, aber anatomisch antagonistischen Bewegung teilnehmen kann.
Je besser die Innervationsmuster des transponierten mit dem ersetzten Muskel hinsichtlich Amplitude, zeitlichem Ablauf übereinstimmen, umso schneller und wirkungsvoller wird der Muskel in den neuen Bewegungsablauf integriert. Bei Verwendung eines funktionellen Antagonisten als Kraftspender sind die Erfolgsaussichten schlechter, selbst bei einem anatomischen Synergisten. Für den Erfolg kommt es in diesen Fällen neben der Mitarbeit des Patienten ganz besonders auf eine optimale Physiotherapie an (z. B. präoperatives Training des Muskels vor seiner Transposition, postoperatives Biofeedback-Training mithilfe eines über Oberflächenelektroden abgeleiteten Elektromyogramms). 57.1.2 Epidemiologie Kap. 8 57.1.3 Ätiologie Kap. 8 57.1.4 Diagnostik Die erste Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie sind eine exakte präoperative Diagnostik und Planung. Beim Erheben der Anamnese werden vor allem die beruflichen und individuellen Bedürfnisse des Patienten festgestellt und nach der Dominanz der betroffenen oberen Extremität sowie nach chronischen Erkrankungen (Diabetes mellitus u. a.) und Nikotinkonsum gefragt. Bei der klinischen Untersuchung werden die notwendigen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wiederherstellung einer inadäquaten oder fehlenden Muskelfunktion eruiert. Die klinische Untersuchung umfasst: 1. die subjektive Bewertung von Beschwerden wie Schmerzen (Schmerzskala 0–10), Wetterfühligkeit und Kälteempfindlichkeit, 2. die Untersuchung der Sensibilität an Unterarm und Hand entsprechend der Versorgungsgebiete der Armnerven, 3. die Untersuchung der aktiven und passiven Gelenkbeweglichkeit (Neutral-Null-Methode),
4. die Beurteilung des Kraftgrades der einzelnen Muskeln der oberen Extremität entsprechend der Klassifikation des MRC ( Kap. 8) Zur apparativen Diagnostik gehört eine Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen ergänzend zur klinischen Untersuchung der angrenzenden Gelenke, um irreversible Gelenkschädigungen von physiotherapeutisch angehbaren Versteifungen abgrenzen zu können (gelegentlich kann eine Arthrodese funktionell günstiger sein als das Umsetzen von Muskulatur), und die Elektroneurodiagnostik. Der klinische Befund der Muskelfunktionen sollte elektroneurografisch durch differenzierte EMG-Untersuchungen objektiviert werden. Damit sind Reinnervationsvorgänge feststellbar und eine Entscheidung über ein baldiges chirurgisches oder zunächst konservatives Vorgehen möglich. Die Elektromyografie (EMG) hat zusammen mit der Nervenleitgeschwindigkeit ihren Stellenwert zur: 1. Bestimmung der Läsionshöhe, 2. Unterscheidung nervaler und muskulärer Schädigungen, 3. Einschätzung der Schwere der Nervenläsion, 4. Einschätzung der Nervenregeneration, 5. Ausschluss einer zusätzlicher zentraler Läsionen, 6. Objektivierung des Zustandes der für eine Umsetzung infrage kommenden Muskeln. Die Elektromyografie ist vor allem dann wichtig, wenn zu einem frühen Zeitpunkt nach einer Nervenläsion operiert werden soll. Liegt diese schon Jahre zurück, reichen oft die anderen klinischen Parameter aus. 57.1.5 Klassifikation Der Wert einer Klassifikation motorischer Ersatzoperationen ist im praktischen Alltag von untergeordneter Bedeutung. Klassifiziert werden kann nach der Art der Verlagerung, der Anzahl der zu bewegenden Gelenke, nach dem zeitlichen Einsatz und dem Ausmaß erhalten gebliebener motorischer Funktionen. Sonderfälle kommen hinzu. Klassifikation der motorischen Ersatzoperationen
▬ Art der Verlagerung ▬ ▬ ▬ ▬
– monopolar – bipolar Anzahl der überspannten Gelenke – monoartikulär – polyartikulär Zeitlicher Einsatz – primär – sekundär Grad des Funktionsausfalls – partieller Ausfall (M1–3) – kompletter Ausfall (M0) Sonderfälle – primär zum Zeitpunkt er Nervenrekonstruktion bereits geplante Ersatzoperation – ein- oder mehrzeitige freie funktionelle Muskeltransplantation
Nach der Art der Verlagerung unterscheidet man monopolar, d. h. nur der Ansatz wird verändert, und bipolar, d. h. Ursprung und Ansatz werden beide abgelöst und neu befestigt.
1625 57.1 · Allgemeines
Abhängig davon, wie viele Gelenke bewegt werden, kann man in monoartikuläre und polyartikuläre motorische Ersatzoperationen einteilen. Zeitlich kann man primäre von sekundären Ersatzoperationen unterscheiden: Primäre Ersatzoperationen werden besonders bei hohen Nervenschädigungen empfohlen. Kommt es nach einer gleichzeitigen Nervenrekonstruktion zu einer motorischen Regeneration, können umgesetzte Sehnen rückverlagert werden. Dieses Vorgehen kann sinnvoll sein bei Ausfällen von Nerven mit bekannt eingeschränkter Regenerationsfähigkeit oder bei älteren Patienten, bei denen ebenfalls mit eingeschränkter Regenerationsfähigkeit zu rechnen ist. Allerdings kann durch eine Nervenregeneration eine Beeinträchtigung der Funktion bei gleichzeitig bestehender Ersatzoperation eintreten. Sekundäre Ersatzoperationen werden i. Allg. 2–3 Jahre nach erfolgloser Nervenrekonstruktion durchgeführt. Der Grad des Funktionsausfalls ist im Hinblick auf das zu erzielende Ergebnis bedeutsam. Es ist zu unterscheiden zwischen Ersatzoperationen bei komplett ausgefallener Funktion und solchen bei teilweise fehlender Funktion. Bei partiell fehlender Funktion bestehen noch normale Reflex- und Regelkreise, weshalb bei adäquatem Sehnentransfers ein besseres Ergebnis bezüglich Funktion und Dauer der Rehabilitation erreicht wird als nach komplettem Ausfall. Sonderfälle liegen z. B. vor, wenn geplant ist, zunächst einen möglichen Ersatzmuskel mit einer Nervenrekonstruktion zu reinnervieren, um ihn dann später bei guter Reinnervierung als Ersatzmuskel zu verwenden (z. B. M. latissims dorsi oder M. triceps zur geplanten sekundären Transposition nach Reinnervation zur Verbesserung der Außenrotation im Schulterbereich oder Ellenbogenbeugung), sowie bei ein- oder mehrzeitigen freien funktionellen Muskeltransplantationen. Diese kommen in Frage, wenn keine Muskel-Sehnen-Gruppen für die Transposition zur Verfügung stehen (direkte Muskelschädigung, Muskeldegeneration bei Denervierungszeiten von >3 Jahren). Dann kann eine freie mikrovaskuläre funktionelle Muskeltransplantation durchgeführt werden.
– Sehnenverletzungen – Angeborene Fehlbildungen – Aplasie ▬ Verbesserung (Augmentation) – Inadäquat regenerierte Nervenschädigung – Partielle Muskelschädigung – direkt (Trauma) – indirekt (Gefäßschädigung) – Angeborene Fehlbildungen – Hypoplasie
▬ Balancierung – Muskuläre Kokontraktionen
Ursachen für Funktionsstörungen, die eine Indikation darstellen, sind im Folgenden zusammengefasst. Indikationen für motorische Ersatzoperationen (1.–5. häufiger, 6.–8. seltener) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Irreparable Nervenschädigungen (Trauma, Poliomyelitis, Lepra) Unvollständig regenerierte Nervenschädigungen (Z. n. Nervennaht oder Nerventransplantation) Direkte Muskelzerstörung (Trauma) Indirekte Muskelzerstörung durch Gefäßschädigung (z. B. ischämische Kontraktur), Sehnenverletzungen (z. B. Ersatz des Extensor policis longus durch Extensor indicis proprius) Fehlinnervationen nach nervaler Regeneration (muskuläre Kokontraktionen). Angeborene Fehlbildungen (Aplasie) Spastische Kontrakturen (besondere Indikation)
Auswahl der Spendermuskel 57.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie Für Diagnostik und Therapie von Läsionen im Bereich der Hirnnerven und der peripheren Nerven (Plexus brachialis und dessen terminale Endäste) verwenden wir ein sog. »integratives Therapiekonzept«, welches neben der primär anzustrebenden Nervenrekonstruktion, sekundäre Muskelersatzoperationen und (tertiäre) adjuvante Eingriffe umfasst. Die Therapiedauer kann unabhängig von der gewählten Primärtherapie (konservativ versus operativ) etwa 3–5 Jahre betragen. Während dieser Zeit ist eine physiotherapeutische Basistherapie – in unterschiedlicher Form und Intensität – fortzuführen ( Kap. 53). Motorische Ersatzoperationen dienen grundsätzlich der Wiederherstellung oder Verbesserung (Augmentation und Balancierung) ausgefallener muskulärer Funktionen. Indikationen für motorische Ersatzoperationen
▬ Wiederherstellung (Rekonstruktion) – Irreparable Nervenschädigungen (Trauma, Poliomyelitis, Lepra) – Komplette Muskelzerstörung (»Endorganinsuffizienz«) – direkt (Trauma) – indirekt (Gefäßschädigung) ▼
Bei der Neuverteilung der funktionierenden Muskulatur werden gleichsam die Karten neu gemischt und man muss eine Funktion aufgeben, um eine wichtigere wiederherzustellen (man bekommt nichts geschenkt!). Der durch das Umsetzen des Spendermuskels zu erwartende Funktionsgewinn muss größer sein als der Funktionsverlust an der Entnahmestelle (Spenderdefekt). Häufig hat man für die Neuverteilung mehrere Möglichkeiten. Bekannte und bewährte Methoden sind i Allg. vorzuziehen und nur in Ausnahmefällen und bei entsprechender Erfahrung sollte man individuelle Lösungen suchen. Gelegentlich kann eine gut gewählte und gut ausgeführte Neuverteilung (Balancierung) der funktionierenden Elemente kombiniert mit einer konsequenten Physiotherapie und der natürlichen Anpassungsfähigkeit des Patienten durchaus eine fast vollständige Wiederherstellung der Funktion erreichen. Dies sollte man jedoch dem Patienten nicht versprechen! In der Regel ist jedoch nur eine Funktionsverbesserung, die durchaus sehr wertvoll ist, zu erwarten. Im Einzelfall muss mit dem Patienten abgeklärt werden, welche Ausfälle und Mängel durch das Verlagern des Spendermuskels entstehen und in Kauf genommen werden können. Folgende Auswahlkriterien sind für das Funktionieren eines Transfers wichtig:
57
1626
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
> Bei der Auswahl der Spendermuskel zu berücksichtigende Faktoren 1. Funktionelle Beziehung des Kraftspenders zum zu ersetzenden Muskel (Synergismus oder Antagonismus) 2. Verhältnis der Kraft des Spendermuskels zum gelähmten Muskel 3. Bewegungsausschlag, vergleichend zwischen Kraftspender und ausgefallenem Muskel 4. Lagebeziehung der beiden Muskeln zueinander 5. Spenderdefekt im Verhältnis zum Benefit 6. Funktion der Weichteile und Gelenke 7. Folgen von Nebenverletzungen 8. Atypische Innervation und Mischinnervation nach Reinnervation 9. Falsch zusammengenähte Sehnen 10. Einstellung des Patienten 11. Motorische Lernfähigkeit des Patienten 12. Sensibilität im Empfängergebiet
57
Günstig ist eine ähnliche Funktion des Spendermuskels, wie sie der ausgefallene Muskel hatte, und eine Aktivierung in der gleichen Bewegungsphase. Der Muskel muss als eine einheitliche motorische Einheit transponiert werden. Er ist nicht gleichzeitig als Agonist und Antagonist einsetzbar. Der Spendermuskel sollte im Verhältnis zum zu ersetzenden Muskel eine ähnliche und ausreichende Bewegungsamplitude aufweisen. Ist die Amplitude des Kraftspenders wesentlich kleiner als die des ausgefallenen Muskels, so ist im entsprechenden Gelenk ein verminderter Bewegungsausschlag zu erwarten. Es muss im Einzelfall beurteilt werden, ob dieser Ausschlag für die Funktion ausreicht oder nicht. Eine größere Amplitude des Kraftspenders kann bei hypermobilen Gelenken von Nachteil sein. Der Spendermuskel soll annähernd die gleiche Kraft entfalten können (Muskelquerschnitt). Allerdings ist bei lockeren, hypermobilen Gelenkverhältnissen eher ein etwas schwächerer Kraftspender vorzuziehen. Bei stabilen oder z. T. in der passiven Beweglichkeit eingeschränkten Gelenken ist ein etwas kräftiger Spender günstiger. Kompromisse sind in der Realität jedoch nicht vermeidbar. Da bei jeder Transposition Kraft verloren geht, sind geschädigte oder reinnervierte Muskeln 2. Wahl. Eine möglichst gerade Zugrichtung vermeidet weitgehend einen Kraftverlust. Ist eine Richtungsänderung nicht zu vermeiden, müssen Umlenkvorrichtungen (»pulley«) vorhanden sein. Beim Ersatz kleiner Handmuskeln durch Muskeln vom Unterarm ist zu bedenken, dass der Kraftspender auf ein zusätzliches Gelenk wirkt. Je nach Stellung des Handgelenks resultiert eine stärkere oder schwächere Wirkung des Ersatzmuskels. Der Patient kann allerdings auch aufgrund eines gewissen zusätzlichen Tenodeseeffektes durch entsprechende Bewegung des Handgelenks das Anspannen oder das Erschlaffen des Muskels verstärken.
Allgemeine Voraussetzungen und Prognose Der Hautmantel sollt ohne Probleme Muskel- und Sehnenverlagerungen zulassen, ansonsten muss er vor oder gleichzeitig mit der Ersatzoperation saniert werden (z. B. myokutaner M.-latissimusdorsi-Transfer). Vor einer Transposition sollte die passive Beweglichkeit der beteiligten Gelenke durch Physiotherapie oder wenn nötig durch vorangehende operative Maßnahmen verbessert werden. Bei Restbehinderungen, ist ein starker Kraftspender, wenn möglich, vor zu ziehen.
Auf mögliche atypische Innervationen ist besonders bei Medianus- und Ulnarisausfällen (Martin-Gruber-Anastomosen, RichCannieu-Anastomosen) zu achten. Dies gilt insbesondere für die Thenarmuskulatur, die oberflächlichen und tiefen Fingerbeuger und den M. flexor carpi ulnaris. Je wichtiger eine ausgefallene Funktion für den Patienten ist, desto leichter erlernt er die neue Funktion des transferierten Muskels. So wird z. B. die Daumenopposition nach Ersatzoperation i. Allg. besser erlernt als die Daumenadduktion. Daher gilt bei weniger wichtigen Ausfällen noch mehr als sonst, dass ein funktioneller Synergist als Kraftspender gewählt werden soll. Neben den defektbedingten Faktoren lassen sich auch patientenbezogene Faktoren nennen, welche die Auswahl des Verfahrens signifikant beeinflussen können, da sie auch prognostische von Bedeutung sind. Patientenbedingten Faktoren 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Alter Geschlecht Allgemeiner Gesundheitszustand Beruf und Freizeitverhalten Intelligenz Wünsche des Patienten Compliance Soziales Umfeld Motivation
Im ungünstigen Fall, wenn ein Antagonist als Kraftspender genommen werden muss, sind eine gute motorische Lernfähigkeit und eine positive Einstellung des Patienten unabdingbar. Sensibilität im Empfängergebiet sollte vorhanden sein oder wenn möglich wiederhergestellt werden, um auch ohne Augenkontrolle die Hand einsetzen zu können; sie ist aber keine zwingende Voraussetzung. Stehen bei komplexen Ausfällen nicht genügend Spendermuskel zu Verfügung, ist die Kombination motorischer Ersatzoperationen mit Arthodesen für eine verbesserte Gebrauchsfähigkeit sinnvoll! 57.1.7 Therapie
Prinzipien der Operationstechnik Die Hautinzisionen sollen einen guten Zugang zu den Muskeln und Sehnen ermöglichen, um diese problemlos darstellen, mobilisieren und verlagern zu können. Dabei darf das Gleitvermögen der Sehnen nach der Verlagerung nicht durch Narben behindert werden. Deswegen sollten auch Sehnennahtstellen z. B. möglichst nicht unmittelbar unter einer Hautinzision liegen. S- oder L- förmige Inzisionen sind daher günstiger. Kurze quergerichtete Inzisionen reichen meist für das Aufsuchen, Mobilisieren und Verlagern der Muskeln bzw. Sehnen aus. Die Eröffnung der Haut sollte grundsätzlich auf das Nötigste beschränkt bleiben. Zur Reduzierung oder Vermeidung operationsbedingter Adhäsionen sind Instrumente zur subkutanen Tunnelierung geeignet. Sie erlauben, ohne wesentliche Freilegung Sehnen umzulagern. Der subkutane Bereich ist die beste Schicht zur Verlagerung der Muskel-Sehnen-Einheit. Die tiefe Faszie muss zur Darstellung und Mobilisierung des Kraftspenders und häufig auch an den Vereinigungsstellen gespalten oder partiell reseziert werden.
1627 57.1 · Allgemeines
Das Erhalten des Paratendineums ist wichtig für die Gleitfähigkeit. Verletzungen können zu Adhäsionen mit entsprechenden Funktionseinschränkungen führen. Die Fixierung der transponierten Muskel-Sehnen-Einheit erfolgt meist am Ansatz der Sehnen des zu ersetzenden Muskels ausnahmsweise auch am Knochen (Periostnaht, Mitek-Anker, Bohrkanal usw.). Bei der Vereinigung mit einem Sehnenstumpf gibt es die Möglichkeiten der End- zu -End- oder der End-zu-SeitVereinigung. Letzteres ist dann zu bevorzugen, wenn die Transposition reversibel bleiben soll. Bei irreversiblen Lähmungen ist die
End-zu-End-Verbindung besser, da sie geradlinig ohne die sonst verbleibende leichte Abwinkelung verläuft. Als Nahttechnik hat sich vor allem die Pulvertaft-Naht (⊡ Abb. 57.1) bewährt. Für das Ergebnis ist bei jedem Muskelersatz die optimale Vorspannung entscheidend. Allerdings muss die Haltung der Gelenke mitberücksichtigt werden, da die Spannung eines Muskels hierdurch mit beeinflusst wird. Definition der Spannung bei motorischer Ersatzoperation
▬ Maximale Spannung: Muskel ist bis zur Dehnungsgrenze gespannt
▬ Neutrale Spannung: Durch Zug an der Sehne wird diese zuerst gespannt; dann wird sie losgelassen und ohne Zug spannungsfrei verankert ▬ Definierte positive Spannung: Sehne wird um einen definierten Wert (z. B. 3 mm) gegenüber der neutralen Spannung nach distal gezogen ▬ Mittlere Spannung: Spannung bei Halbierung der Dehnungsstrecke von neutraler bis maximaler Spannung
In der operativen Praxis werden die Finger oder die Hand in die zu ersetzende Position gebracht (z. B. Daumen in Opposition bei der Opponensplastik) und dann unter der gewünschten Vorspannung der transponierte Muskels fixiert. Die Kontrolle, ob die Spannung korrekt ist, erfolgt durch passives Beugen und Strecken des proximalen Gelenks, wobei es durch den Tenodeseeffekt zu gegenläufigen Bewegungen in den distalen Gelenken kommt: Handgelenkbeugung muss zur Fingerstreckung, Handgelenkstreckung zur Fingerbeugung führen. Diese Bewegungsabläufe sollten den normalen Verhältnissen möglichst nahe kommen.
Ergänzende operative (adjuvante) Maßnahmen
a
b
⊡ Abb. 57.1 Technik der Sehnennaht. a End-zu-Seit (nach Pulvertaft), b End-zu-End (nach Zechner). (Aus Berger u. Hierner 2009)
Kapsulodese, Tenodese und Arthrodese sind Eingriffe, die vor, gleichzeitig mit oder nach einer motorischen Ersatzoperation sinnvoll durchgeführt und in einen Gesamtbehandlungsplan eingefügt werden können ( Kap. 53). Die Kapsulodese führt zur Einschränkung der passiven Gelenkbeweglichkeit in eine Richtung. Als Weichteileingriff ist sie weniger definitiv als eine Arthrodese und die nicht blockierte Bewegungsrichtung bleibt wie bei der Tenodese frei. Bei den Tenodesen kann man dynamische und statische Tenodesen unterscheiden, je nachdem ob die benutzte Sehne ein weiteres, aktiv bewegliches Gelenk überspannt oder nicht. Die Tenodese über ein Gelenk hinweg blockiert dieses in einer Richtung. Tenodesen über mehrere Gelenke koppeln die Bewegung dieser Gelenke, was zur Funktionsverbesserung bei noch funktionierenden Muskeln oder nach Sehnentranspositionen führen kann. Die Arthrodese hat mehrere Gesichtspunkte. Das Gelenk wird in einer funktionell günstigen Stellung, welche durch die vorhandenen Muskelausfälle nicht mehr erreicht werden kann, fixiert und es werden in vielen Fällen am versteiften Gelenk ansetzende und funktionstüchtige Muskeln für eine Sehnentransposition frei. Auch kann durch die Arthrodese ein eventuell störender Tenodeseeffekt verhindert oder in nicht versteiften Nachbargelenken verstärkt werden. Auch an den ergänzenden Einsatz orthetischer Hilfsmittel zur Verbesserung der Funktion an der oberen Extremität ist zu denken.
57
1628
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
Postoperative Nachbehandlung Ruhigstellung Postoperativ erfolgt eine Ruhigstellung mit einer Gipsschiene, bis die Sehnennaht der umgesetzten Sehnen-Muskel-Einheit eine ausreichende Festigkeit erlangt hat, in einer entlastenden Stellung für ca. 4 Wochen. Diese oder eine leichtere Schiene wird etwa 2 Wochen außerhalb der Übungen weiterhin getragen, um eine zu starke Dehnung des verlagerten Muskels oder seiner Anschlussstellen zu vermeiden und die einzuübenden Bewegungen zu unterstützen. Dieser 6-wöchigen Ruhigstellungsphase folgt eine Phase des zunehmenden Belastungsaufbaus von ebenfalls 6 Wochen. Meist muss die Übungsbehandlung allerdings auch danach weitergeführt werden bis eine ausreichende Geschicklichkeit erlangt ist!
Physiotherapie und Ergotherapie Die konsequente physiotherapeutische Nachbehandlung ist für ein gutes funktionelles Endergebnis bei motorischen Ersatzoperationen im Handbereich ebenso wichtig wie eine optimale Operationstechnik. > Nur durch ausreichend oft und genügend lange und kon-
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sequent durchgeführte Physiotherapie kann ein optimales Ergebnis erzielt und auf lange Sicht gehalten werden. Die notwendigen Pausen zur Erholung der Muskulatur müssen dabei jedoch beachtet werden. Eine zeitliche Begrenzung der Physiotherapie aus Kostengründen ist nicht vertretbar.
Vor allem die aktiven und passiven Bewegungsübungen unter handtherapeutisch-krankengymnastischer Anleitung evtl. kombiniert mit Hilfsmitteln wie Bewegungs- und/oder Lagerungsschienen sind besonders wichtig. Weitere ergotherapeutische Maßnahmen (Versorgung mit Schienen, Hilfsmittel, Sensibilitätstraining) sind bei komplexen Krankheitsbildern ergänzend notwendig. Die Therapeuten müssen dazu genau über die durchgeführten Maßnahmen und das erreichbare Ziel informiert sein (Operationsbericht, persönliches Gespräch usw.). Die postoperative Physiotherapie sollte an die präoperative Übungsbehandlung anknüpfen. Die präoperative Physiotherapie soll eventuelle Gelenkeinsteifungen beheben, welche den geplanten Transfer behindern würden, geeignete Spendermuskeln, die durch fehlenden Gebrauch atrophiert sind, auftrainieren oder in Fällen, bei denen Schwierigkeiten beim Umlernen zur erwarten sind, vorbereitende Übungen durchführen. Die postoperative Physiotherapie hat vor allem die Absicht, den transferierten Muskel auf seine neue Funktion umzuschulen. Bei idealen, funktionell synergistischen Transfers kann dieses Umlernen problemlos sein und fast automatisch stattfinden. Die Schwierigkeiten umzulernen nehmen zu, je eindeutiger der Kraftspender Antagonist ist (vom Synergismus bis zum vollständigen funktionellen Antagonismus gibt es einen gleitenden Übergang). Aus tierexperimentellen und klinischen Studien ist zu schließen, dass der Mensch grundsätzlich den richtigen reflexartigen Gebrauch transponierter Muskeln auch in antagonistischer Funktion erlernen kann. Was sind die Gründe warum dies nicht bei jedem ohne weiteres gelingt? Sicher besteht eine individuell unterschiedliche Lernfähigkeit (»kortikale Plastizität«). Auch der Lernwille ist unterschiedlich (gering z. B. bei Rentenbegehren). Bestimmte Lerntechniken und besondere physiotherapeutische Nachbehandlungen können jedoch das Umlernen bei vorhandener Motivation erfolgreich fördern.
Um die Vorgänge beim Umlernen gut zu verstehen, muss man die Empfindungen eines Patienten nach einem Transfer betrachten (⊡ Tab. 57.2, ⊡ Abb. 57.2): In dem Moment, in dem nach einer Ersatzoperation der Gips entfernt wird und der Patient zu bewegen beginnt, erlebt er eine Überraschung: Jedes Mal, wenn der transferierte Muskel betätigt wird, resultiert eine andere Bewegung als der Patient erwartet. Dies führt zu einem sog. Aha-Erlebnis. Mit seinem propriozeptiven Sinn fühlt er die unerwartete Bewegung; es werden andere Muskeln gedehnt und Gelenke in eine unerwartete Richtung bewegt. Auch der transferierte Muskel wird in Bewegungsphasen gedehnt, in denen dies früher nicht der Fall war. Es tritt also nicht nur ein unerwarteter Bewegungsablauf, sondern auch ein unerwarteter Gefühlsablauf ein. Da jeder automatisierte Bewegungsablauf durch den propriozeptiven Sinn gesteuert wird, ist gerade diese Änderung des Ablaufs der Bewegungsempfindungen entscheidend für das Umlernen. Das gestörte Zusammenspiel zwischen Empfindung und Bewegung weckt beim höher entwickelten Tier und besonders beim Menschen den Drang diese Störung unter Kontrolle zu bringen. Es bewirkt ein spontanes Bedürfnis umzulernen. Drei Entwicklungen sind möglich: 1. Der Patient ist unfähig, den alten Bewegungsrhythmus des transferierten Muskels aufzugeben. Die Kontraktionen erfolgen wie zuvor. 2. Der Patient kann den alten Rhythmus abstellen, erlernt aber den neuen Rhythmus nicht. Der Muskel beteiligt sich an der Bewegung nicht mehr. 3. Die alte Funktion wird aufgegeben und die gewünschte neue Funktion erlernt. Die Physiotherapie versucht dieses letztere Ziel mit gezielten Bewegungsexperimenten, den sog. Standardübungen, zu erreichen. > Standardübungen sind zentraler Bestandteil der Therapie. Das Wesentliche an diesen Übungen ist, das Anspannen des umgesetzten Muskels aus einer Ruhelage heraus bei gleichzeitiger Entspannung seines neuen Anatagonisten. Der erste Teil, den umgesetzten Muskel anzuspannen, geschieht indem die alte Bewegung dieses Muskels befohlen wird. Die Überraschung, dass durch Betätigung dieses Muskels eine unerwartete Bewegung entsteht, bewirkt allerdings oft zuerst eine Hemmung dieser Bewegung. Muskeln bewusst zu entspannen, ist für viele Patienten oftmals schwierig. Man kann die Patienten 3 Gruppen mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden zuordnen: ▬ Gruppe 1: Weitgehender Synergismus alter und neuer Funktion des transferierten Muskels. Dabei bleiben die Antagonisten vor und nach der Operation dieselben und ihre Entspannung geschieht automatisch zur richtigen Zeit. ▬ Gruppe 2: Bei Verwendung eines Muskels für eine andersartige, nicht vollständig antagonistische Funktion, wenn alte und neue Bewegung gleichzeitig durchgeführt werden können. ▬ Gruppe 3: Antagonistentransfers, bei dem alte und neue Bewegung nicht gleichzeitig durchgeführt werden können. Das Umlernen ist nur in den Gruppen 2 und 3 schwierig. Therapeutische Ansätze sind: ▬ Überraschungserlebnis, ▬ Studium der neuen Situation durch Bewegungsexperimente, ▬ Begreifen der gewünschten neuen Bewegung, ▬ Einüben der gewünschten neuen Bewegung bis zur Automation.
1629 57.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 57.2 Phasen des Umlernens , ihre möglichen Störungen und therapeutische Ansätze nach motorischer Ersatzoperation nach Wintsch Phasen des Umlernens
Therapeutische Beeinflussung
Überraschungserlebnis
Präoperative Physiotherapie
Studium der neuen Situation durch Bewegungsexperimente – Gruppe 1: Weitgehender Synergismus alter und neuer Funktion des transferierten Muskels. Dabei bleiben die Antagonisten vor und nach der Operation dieselben und ihre Entspannung geschieht automatisch zur richtigen Zeit – Gruppe 2: Bei Verwendung eines Muskels für eine andersartige, nicht vollständig antagonistische Funktion, wenn alte und neue Bewegung gleichzeitig durchgeführt werden können – Gruppe 3: Antagonistentransfers, wo alte und neue Bewegung nichtgleichzeitig durchgeführt werden können
Auswahl des operativen Verfahrens Physiotherapeutische Standardübungen Botulinumtoxin
Begreifen der gewünschten neuen Bewegung
Physiotherapeutische Standardübungen (Botolinumtoxin) Orthetische Hilfsmittel
Einüben der gewünschten neuen Bewegung bis zur Automation – Der Patient ist nicht fähig, den ursprünglichen Bewegungsrhythmus für den transferierten Muskel abzustellen. Die Kontraktionen erfolgen im alten Rhythmus – Der Patient kann zwar den alten Rhythmus abstellen, erlernt aber den neuen Rhythmus nicht. Der Muskel nimmt an der Bewegung nicht mehr teil – Die alte Funktion wird aufgegeben, um die gewünschte neue Funktion zu erlernen
Orthetische Hilfsmittel (Physiotherapeutische Standardübungen)
a
c
b
d
Bei Patienten der Gruppe 2 erreicht man das Anspannen des verlagerten Muskels dadurch, dass die alte Bewegung des Muskels befohlen wird. Die Entspannung der neuen Antagonisten erzielt man in dieser Gruppe dadurch, dass gleichzeitig die neue Bewegung befohlen wird. Man kann sich die allgemein bekannte Tatsache zunutze machen, dass der Befehl zu einer Bewegung neben der Aktivität auf der einen Seite, auch Entspannung auf der Gegenseite auslöst.
⊡ Abb. 57.2 Phasen des Umlernens nach motorischer Ersatzoperation nach Wintsch. a Wenn nach dem Sehnentransfer die Hand aus der Schiene kommt, erlebt der Patient eine Überraschung: Wenn er die transferierte Sehne betätigt, entsteht eine andere Bewegung als erwartet. b Die normale Reaktion ist die, dass er die neue Funktion durch Bewegungsexperimente studiert. c Im ungünstigen Fall gibt der Patient schließlich auf. d Es kann ihm aber auch gelingen, die Bewegung unter seine willkürliche Kontrolle zu bringen und nutzbringend zu verwenden. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Die indirekte Entspannung bei einer befohlenen Kontraktion ihrer Antagonisten ist leichter als das willkürliche Entspannen bestimmter Muskeln. Wurden z. B. für den Ausfall der kleinen Handmuskeln Kraftspender vom Unterarm eingesetzt, so kann durch entsprechende Bewegungen im Handgelenk ihre Wirkung verstärkt werden. Solche Möglichkeiten sollten bei der Standardübung mitberücksichtigt
57
1630
57
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
werden, indem in der befohlenen Ruhelage die Handgelenkstellung so gewählt wird, dass eine zusätzliche Entspannung der transferierten Sehne erfolgt. Bei der nun befohlenen Bewegung wird zusätzlich auch die Handgelenkstellung befohlen, welche die Wirkung des Kraftspenders verstärkt. Die Patienten der Gruppe 2 haben bei gut durchgeführter Physiotherapie durchaus gute Erfolgsaussichten. Misserfolge kommen nur bei besonders bewegungsunbegabten Patienten vor. Werden die Umlernübungen nicht fachgerecht durchgeführt, muss ebenfalls mit Misserfolgen gerechnet werden. In Gruppe 3, mit dem eigentlichen Antagonistentransfer, muss die Physiotherapie besonders sorgfältig erfolgen. und lange Zeit überwacht werden, sonst kann der Patient vom richtigen Muskelgebrauch zurückfallen, indem er den Muskel ausschaltet oder im alten Bewegungsrhythmus betätigt. Auch bei dieser 3. Gruppe zeigt sich, dass die willkürliche Entspannung eines Antagonisten für den Patienten schwieriger ist als das willkürliche Anspannen des Muskels. Für Antagonistentransfers sollte bereits vor der Operation eine intensive Physiotherapie erfolgen. Der Patient lernt dabei den zu transferierenden Muskel isoliert zu kontrahieren und gleichzeitig alle übrigen Muskeln völlig zu entspannen. Wenn der zu verlagernde Muskel isoliert kontrahiert werden kann, ist vonseiten der vorbereitenden Physiotherapie der richtige Zeitpunkt für die Verlagerung gekommen. > Als Hilfe bei der Problematik der inadäquaten Entspannung der Antagonisten kommt auch eine ergänzende Botulinumtoxintherapie in Frage.
Zur Optimierung der Nervenregeneration und zur Therapie von Kokontraktionen kann die intramuskuläre Injektion von Botulinumtoxin in den Antagonisten während der frühen Trainingsphase erfolgreich eingesetzt werden. Hierdurch kann die neue Bewegung ohne Beeinflussung durch den Antagonisten im Sinne eines »modulierenden Zügel« erlernt und verinnerlicht werden. Ist eine ausreichende Bewegungsamplitude und Kraft (peripherer Effekt des Botulinumtoxins auf den Bewegungsapparat) und Bewegungskontrolle (zentraler Effekt des Botulinumtoxins) erreicht, kann auch bei nachlassender Lähmung des Antagonisten die neue Bewegung erhalten und nun auch unter physiologischen Agonisten-Antagonisten-Bedingungen erlernt und durchgeführt werden (Effekt des Botulinumtoxins auf Rückenmarksebene und ZNS). Eine Qualitätskontrolle des postoperativen Fortschritts und damit auch der Physiotherapie erfolgt durch wöchentlich vorgenommene Messungen. Gemessen werden die entscheidenden Bewegungsausschläge an den wichtigsten Gelenken. Neben der aktiven und passiven Gelenkbeweglichkeit werden auch assistierte aktive Ausschläge gemessen. Darunter versteht man die aktiven Ausschläge in einem Gelenk, welche zustande kommen, wenn vorgelagerte und von denselben Sehnen bewegte Gelenke durch den Untersucher in eine Stellung gebracht werden, welche die größte Kraftentwicklung der entsprechenden Sehnen auf das zu untersuchende Gelenk ermöglicht. So ist frühzeitig die Funktion einer tiefen Beugesehne nach abgeheilter Naht nachzuweisen, wenn das Grundgelenk gestreckt wird und der Patient zur aktiven Bewegung aufgefordert wird. 57.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die motorischen Ersatzplastiken im Kindesalter gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende Besonderheiten sind zu beachten: Umgesetzte Muskeln integrieren sich bei guter
Indikationsstellung hier sehr gut in den Bewegungsablauf und wachsen im Handbereich problemlos mit. Negative Auswirkungen auf das Knochenwachstum sind bei Ersatzoperationen mit einem guten funktionellen Ergebnis nicht zu erwarten. Durch die verbesserte Einsatzfähigkeit kann es sogar eher zu einer Verbesserung der Knochenstrukturen und des Längenwachstums kommen. Auch bei angeborenen Fehlbildungen können sie einen wertvollen Beitrag zur Schaffung von Greiffunktionen darstellen (⊡ Abb. 57.12). Auf der anderen Seite sollte man zusätzliche (adjuvante) Eingriffe an Knochen und Gelenken im Sinne von Korrekturosteotomien, Kapsulodesen und Arthrodesen so weit wie möglich am wachsenden Skelett vermeiden und, wenn notwendig, dann so spät wie möglich durchführen. 57.2
Spezielle Techniken
57.2.1 Ersatzoperationen bei Ausfall des N. radialis Diese Ersatzoperationen kommen vor allem nach Verletzung des N. radialis bei Humerusschaftfrakturen und bei der operativen Versorgung proximaler Radiusfrakturen oder auch bei inkompletten Armplexusparesen in Betracht. Man unterscheidet die tiefe Läsion des überwiegend motorischen Ramus profundus am proximalen Unterarm mit Ausfall der Fingerstrecker und die hohe, proximale N.-radialis-Läsion im Oberarm- und Ellenbogenbereich mit zusätzlichem Ausfall der Handgelenkstreckmuskulatur. Es geht dabei um die Wiederherstellung der Extension des Handgelenks und der Extension der Finger und des Daumens ( Kap. 55). Je nach Vollständigkeit der Parese können auch nur Teile einer Radialisersatzoperation notwendig sein. Zahlreiche, häufig gleichwertige und prinzipiell ähnliche Verfahren werden angegeben. Für die Streckung des Handgelenks wird am häufigsten der M. pronator teres verwendet (⊡ Abb. 57.4). Für die übrigen Funktionen stehen die Handgelenkbeuger als funktionelle Synergisten zur Verfügung, wozu auch der M. Palmaris longus gehört. Mindestens einer dieser 3 Muskeln sollte seine alte Funktion behalten. Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob die Flexorcarpi-radialis- oder die Flexor-carpi-ulnaris-Sehne zu bevorzugen ist. Die Operationstechnik ist leichter, wenn die Flexor-carpi-ulnaris-Sehne verwendet wird (⊡ Abb. 57.5). Ist eine Palmaris-longusSehne vorhanden, so kann diese zusätzlich zur Wiederherstellung der Daumenextension herangezogen werden (⊡ Abb. 57.6). Eine Gesamtübersicht einer kompletten Radialisersatzoperation zeigt ⊡ Abb. 57.7.
Nach ca. 5-wöchiger Gipsruhigstellung in Dorsalextension des Handgelenks und bei Abduktion des Daumens schließen sich physiotherapeutische Übungen an. Dabei werden zunächst die alten und neuen Bewegungen gleichzeitig ausgeführt. So trainieren Pronation und gleichzeitige Dorsalextension des Handgelenks den nun als Extensor wirkenden M. pronator teres. Zum Umlernen wird eine Ruhestellung eingenommen und die erschlaffte Hand mit dem Handrücken nach außen gehalten. Dann werden gleichzeitig eine kräftige Pronation und eine Extension befohlen. Zwischen den Übungen kann weitere 2 Wochen fallweise eine Schiene angelegt werden, welche das Handgelenk weiter in Extension hält (Freigabe nach ca. 6–8 Wochen). Das gleichzeitige Strecken der Finger, kombiniert mit dem Beugeversuch des Handgelenks gegen einen Widerstand, trainiert den umgesetzten M. flexor carpi ulnaris.
1631 57.2 · Spezielle Techniken
sehr gut
gut
mäßig
mit der Hand auf einer flachen Unterlage abstützen will. Zur Wiedererlangung der Streckfähigkeit im Handgelenk (hohe Läsion) wird der (vom N. medianus innervierte) M. pronator teres (PT) auf die Sehnen der Mm. extensor carpi radialis longus (ECRL) et brevis (ECRB) umgesetzt. Durch einen ca. 4–6 cm langen Längsschnitt radiodorsal über den beiden Handgelenkstreckern, etwa am Übergang vom mittleren zum distalen Drittel, werden die beiden Sehnen aufgesucht. Durch Zug an der Sehne wird diese jeweils identifiziert. Die Sehnen werden nach ulnar weggehalten. Darunter kommt der in das Periost des Radius einstrahlende Ansatz des M. pronator teres zum Vorschein. In der Fortsetzung dieser Sehne wird ein Perioststreifen mit abgelöst, um eine ausreichende Länge zu erhalten. Die dorsalen, neben dem M. pronator teres liegenden Sehnen des M. extensor carpi radialis longus (ECRL) und brevis (ECRB) werden längs geschlitzt, der Ansatz des M. pronator teres (PT) wird in diese Schlitze eingezogen und bei dorsal flektierter Hand unter Spannung des Muskels mit den beiden Extensorsehnen vernäht. Hier kann auch eine Sehnendurchflechtungszange verwendet werden. Die Verankerung erfolgt unter maximaler Spannung bei extendiertem Handgelenk. Wird die Hand losgelassen, so sollte sie vom transferierten Muskel in mittlerer bis deutlicher Dorsalextension gehalten werden. Die Ruhigstellung wird für ca. 5–6 Wochen in extendierter Handgelenkposition eingehalten (⊡ Abb. 57.4).
Flexor-carpi-ulnaris-Verlagerung zur Fingerstreckung schlecht
⊡ Abb. 57.3 Beurteilung des Endergebnisses nach Radialisersatzoperationen.
Zum Üben des M. palmaris longus in seiner neuen Funktion ist es günstig, wenn präoperativ die isolierte Anspannung des Muskels erlernt wurde und nun aus diesem bereits bekannten Vorgang heraus der neue Bewegungsablauf abgeleitet wird. Hilfreich kann es sein, gleichzeitig an der gesunden Gegenhand die entsprechenden Muskeln die ursprünglichen Bewegungen mit ausführen zu lassen. Die Ergebnisse sind bezüglich der Fingerstreckung i. Allg. gut (⊡ Abb. 57.3), zumal es sich um den Transfer eines funktionellen Synergisten handelt, bezüglich der Handgelenkstreckung nur dann zufriedenstellend, wenn auf eine gute muskuläre Vorspannung des M. pronator teres beim Einnähen in die Handgelenkextensoren (das Handgelenk soll hierbei maximal dorsal extendiert sein) geachtet wurde.
Pronator-teres-Verlagerung zur Handgelenkstreckung Der technisch relativ einfache Eingriff bringt auch in Fällen, in denen der Patient nicht richtig umlernt, durch einen gleichzeitigen Tenodeseeffekt einen Funktionsgewinn. Steht der M. pronator teres nicht zur Verfügung, so ist eine Tenodese durch Verankerung der radialen Handgelenkstrecker am Radius einer Arthrodese des Handgelenks vorzuziehen, weil hier eine restliche passive Handgelenkextension erhalten bleibt. Dies ist vorteilhaft, wenn man sich
Da funktionell gesehen ein Synergismus zwischen der Flexor-carpi-ulnaris-Sehne und den Fingerextensoren besteht, erübrigt sich ein eigentliches Umlernen. In der Regel erhält man ein Resultat, welches bei gestrecktem Handgelenk eine vollständige Fingerextension ermöglicht, während bei Dorsalextension des Handgelenks die Fingerstreckung unvollständig ist. Den Ersatz der Fingerstreckfunktion übernimmt der (vom N. ulnaris innervierte) M. flexor carpi ulnaris (FCU), der von einer kleinen Inzision an der Beugeseite des Handgelenks unmittelbar vor dem Os pisiforme abgetrennt und nach Lösen peritendinöser Verwachsungen zu einer 2. Inzision ca. 10 cm proximal der ersten durchgezogen wird. Da der Muskelbauch weit nach distal reicht, empfiehlt es sich, distale Einstrahlungen des Muskels von der Sehne abzulösen und eventuell auch vom Periost der Ulna, damit sich diese leichter mobilisieren und tunnelieren lässt. Von hier aus erfolgt die subkutane Umleitung auf die Extensorsehnen (EDC II–V) um die Ulna herum in eine dorsale winklig oder schräg angelegte Inzision; auch hier werden die Originalstrecksehnen längs gespalten und die Spendersehne durchgezogen; diese werden dabei proximal gefasst und kräftig angespannt. Das Ende der Spendersehne wird anschließend mit der Sehne des M. extensor pollicis longus (EPL) vereinigt. Beim Durchflechten des Sehnenendes durch die Fingerextensoren sowie durch die Extensor-pollicis-longus-Sehne werden diese zuerst proximal gefasst und kräftig angespannt. Die Durchführung beginnt ulnar proximal an der Kleinfingerstrecksehne und geht dann in diagonaler Richtung nach radial-distal durch die übrigen Sehnen. Die Fixierung erfolgt jeweils mit Einzelknopfnähten (⊡ Abb. 57.5).
Ergänzende Palmaris-longus-Verlagerung zur Daumenstreckung Um zusätzlich eine isolierte Abduktion und in gewissem Umfang auch eine unabhängige Streckfunktion des Daumens zu gewährleisten, wird von einem queren Hautschnitt in der Beugefalte des Handgelenks die Sehne des M. palmaris longus (PL) unmittelbar vor dem Karpaltunnel abgetrennt und nach entsprechender
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Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
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⊡ Abb. 57.4 Pronator-teres-Transfer zur Handgelenkstreckung. a Schema: Ausgangssituation, b Schema: Planung der Hautinzision, c, d Schema: Aufsuchen des Muskels, e klinischer Aspekt intraoperativ: Aufsuchen des Muskels, f klinischer Aspekt intraoperativ: durch Präparation eines Perioststreifens vom Radius kann die kurze Ansatzsehne des M. pronator teres verlängert werden, g klinischer Aspekt intraoperativ: Heben des Muskels, h Schema: Einflechten der distalen Sehne des M. pronator teres in die Sehnen des ECRL und ECRB, i Schema: Einnähen des Muskels in den gespaltenen Sehnenspiegel des Extensor carpi radialis longus und brevis, j klinischer Aspekt intraoperativ: Situation nach Einnähen in die genannten Handgelenkextensoren, deren Muskelbäuche hier sehr weit nach distal ausgebildet sind. (Aus Berger u. Hierner [a–d, h, i])
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1633 57.2 · Spezielle Techniken
d
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⊡ Abb. 57.5 Flexor-carpi-ulnaris-(FCU-)Transfer zur Fingerstreckung. a Schema: dorsale Hautinzision, b Schema: palmare Inzision, c Schema: Auslösen des FCU, d Schema: Verlagerung des FCU nach dorsal, e Schema: Einnähen in die Strecksehnen, f klinischer Aspekt intraoperativ: Einnähen in die Strecksehnen. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–e])
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Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
⊡ Abb. 57.6 Palmaris-longus-(PL-)Transfer zur Daumenstreckung. a Schema: Hautinzisionen, b Schema: Mobilisierung der Palmaris-longus-Sehne und der Sehne des Extensor pollicis brevis, c Schema: Befestigung der Sehne des M. palmaris longus an den Sehnen des M. extensor pollicis brevis (EPB) und des M. abductor pollicis longus (APL) mit einer Durchflechtungsnaht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
a
Mobilisierung in die geschlitzten Sehnen des M. extensor pollicis brevis (EPB) und des M. abductor pollicis longus (APL) am palmaren Rand der Tabatière unter kräftiger Spannung eingenäht bzw. eingeflochten (⊡ Abb. 57.6, ⊡ Abb. 57.7). Fehlt eine Palmaris longus-Sehne, so kann alternativ die oberflächliche Beugesehne des 4. Fingers nach ihrer Durchtrennung über dem beugeseitigen Grundgelenk zum Handgelenk hin durchgezogen und in gleicher Weise verwendet werden. Der ebenfalls vorgeschlagene M. flexor carpi radialis sollte hingegen in seiner normalen Funktion belassen werden, damit beim Öffnen der Faust die notwendige beugeseitige Stabilisierung im Handgelenk erhalten bleibt. Bei der alleinigen Läsion des tiefen N.-radialis-Astes am Unterarm ist lediglich die Streckfunktion der Finger zu ersetzen. Dies kann in der zuvor beschriebenen Weise durch den M. flexor carpi ulnaris und den M. palmaris longus oder auch unter Verwendung des von einer peripheren Radialisläsion nicht betroffenen M. extensor carpi radialis longus anstelle des M. flexor carpi ulnaris geschehen. Der M. extensor carpi radialis brevis wird in alter Funktion belassen. 57.2.2 Ersatzoperationen bei Ausfall des
N. medianus Auch hier wird zwischen peripheren und den eher seltenen proximalen Ausfällen unterschieden ( Kap. 55). Bei proximaler Läsion sind zusätzlich zur Daumenballenmuskulatur die Funktionen des langen Daumenbeugers und der tiefen Beugesehnen des 2. und 3. Fingers zu ersetzen. Nach einer 4- 5-wöchigen Gipsfixierung in Oppositionsstellung des Daumens und Beugung des Handgelenks schließt sich wie bei den Radialis-Ersatzoperationen eine entsprechende Übungsbehandlung an. Hat man den M. abductor digiti minimi umgesetzt,
b
c
werden zunächst die gleichzeitige Abspreizung des Kleinfingers und die Opposition des Daumens geübt. Bei Verwendung der oberflächlichen Beugesehne des 4. Fingers sollen die Opposition des Daumens und die Beugung des 4. Fingers gleichzeitig ausgeführt werden. Beim Ersatz der Beugefähigkeit von Zeige- und Mittelfinger durch eine Vereinigung der tiefen Beugesehnen 2 und 3 mit den Sehnen 4 und 5 bei gleichzeitiger Verstärkung durch die Brachioradialis-Sehne ist ein spezielles Umlernen nicht erforderlich. Wird die Beugesehne des Daumens durch die Sehne des M. extensor carpi radialis longus ersetzt, empfiehlt es sich, die Daumenbeugung gemeinsam mit der Dorsalextension des Handgelenks ausführen zu lassen. Nach ca. 2 Wochen sind die gewünschten neuen Bewegungen zunehmend isoliert zu üben. Eine gute intraoperative Vorspannung des umgesetzten Muskels ist auch hier eine wesentliche Voraussetzung für ein gutes funktionelles Endergebnis.
Operationen bei proximalem Ausfall des N. medianus Ein Beispiel unter zahlreichen beschriebenen Möglichkeiten für den motorischen Ersatz bei proximaler N.-medianus-Läsion ist in ⊡ Abb. 57.8 dargestellt. Vorausgesetzt werden u. a. eine intakte Innervation im Versorgungsgebiet des N. ulnaris und des N. radialis. Die tiefen Beugesehnen von Zeige- und Mittelfinger (FDP II und III) werden mit den vom N. ulnaris innervierten tiefen Beugern des 4. und 5. Fingers (FDP IV und V) vereinigt. Zusätzlich wird das Paket der tiefen Fingerbeugesehnen mit der Sehne des (vom N. radialis innervierten) M. brachioradialis (BR) verstärkt. Die Verbindung der Sehnen des M. flexor pollicis longus (FPL) mit der Sehne des M. extensor carpi radialis longus (ECRL) stellt am Daumen die Beugefunktion wieder her. Alternativ können hier der EIP (⊡ Abb. 57.9) und der EDM (⊡ Abb. 57.10) eingesetzt werden
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b
a
M. flexor carpi ulnaris
Mm abductor pollicis longus
M. extensor pollicis longus
A. radialis
d
N. ulnaris M. flexor carpi ulnaris
M. palmaris longus e
f
Mm. extensores digitorum communes 2, 3, 4, 5
M. extensor carpi radialis longus M. brachioradialis
M. extensor carpi radialis lbrevis
M. pronator teres
g
⊡ Abb. 57.7 Übersicht über eine (komplette) Mehrsehnenersatzplastik nach Merle d‘Aubigne bei hoher Radialisparese. a Schema: Hautinzision palmar, b Schema: Hautinzision dorsal, c Schema: Hautinzision radialseitiger Unterarm, d Schema: Hebung der Sehne des FCU und Transposition der Sehne des M. palmaris longus nach radial mit Einflechtung in die Sehne des APL, e klinischer Aspekt intraoperativ: Darstellung der Sehnen des M. pronator teres (links unten), Extensor carpi ulnaris (links oben) und palmaris longuis (rechts oben), f Schema: Transposition der Sehne des M. pronator teres und Einflechtung in die Sehnen des ECRL und ECRB, g Schema: Transposition der Sehne des FCU und End-zu-Seit-Einflechtung in die Sehnen des EDC, EIP, EDM. Wenn immer möglich sollte die Sehne des EPL nicht mit eingeflochten werden, um eine Adduktion bei Handgelenkstreckung zu vermeiden. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–d, f, g])
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Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
Um eine ausreichende Oppositionsfähigkeit zu erzielen, kann der M. extensor carpi ulnaris (ECU) nach einer Verlängerung durch ein Sehnentransplantat auf das Daumengrundgelenk hin umgeleitet werden. Dabei ist im Bereich des Os pisiforme auf die Gefahr einer Irritation des N. ulnaris durch die umgeleitete Sehne zu achten. Das Ende der Transplantatsehne wird aufgespalten. Der periphere Teil wird an der Basis des Grundgliedes oder an der Streckaponeurose, der proximale Zügel am radialen Kollateralband oder transossär im köpfchennahen Bereich des 1. Mittelhandknochens befestigt. Ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen diesen beiden aufgespaltenen Zügeln ist wichtig, damit nicht einerseits eine unerwünschte Beugehaltung bei Überwiegen des am Grundglied ansetzenden Zügels und andererseits eine radiale Subluxation des Grundgelenks bei Überwiegen des am Metakarpale I ansetzenden Zügels auftreten (⊡ Abb. 57.11). Eine gute Oppositionsfähigkeit ohne größere Probleme beim Umlernen ergibt i. Allg. auch das alternative Umsetzen des M. ab-
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ECU FPL
ductor digiti minimi (ADM), welches funktionell günstiger ist als die Verwendung des M. extensor carpi ulnaris (⊡ Abb. 57.12).
Operationen bei peripherem Ausfall des N. medianus (Wiederherstellung der Daumenopposition ) Wird der Daumen von der Handebene in Opposition bewegt, so führt das Metakarpale I im Sattelgelenk eine Rotationsbewegung in der Fingerachse aus, wobei die Beugeseite des Daumens stets gegen die Beugeseiten der Finger blickt. Der Daumen lässt sich dabei gegenüber Mittel-, Ring- und Kleinfinger voll opponieren, gegenüber dem Zeigefinger bleibt die Opposition etwa um 30° unvollständig. Die optimale Zugrichtung für die opponierende Muskulatur verläuft vom Daumengrundgelenk zum Os pisiforme. Die optimale Adduktion – ausgefallen bei der Ulnarisparese – erhalten wir bei einer Zugrichtung vom Daumengrundgelenk zur Handflächenmitte. Die Opposition ist die wichtigere Funktion gegenüber der Adduktion. Daher wird in der Regel die Motivation des Patienten die Opposition zu erlernen größer sein als bei der Adduktion ( Abschn. 57.2.3). Voraussetzung für eine sinnvolle Ersatzoperation zur Wiederherstellung der Opponierbarkeit des Daumens ist eine mindestens 45° betragende passive Anteposition. Gelingt es in der präoperativen Physiotherapie nicht, eine genügende Anteposition zu erzielen, dann sollte man diese operativ verbessern (z. B. durch Lösen von Narbensträngen, Sattelgelenkarthroplastik usw.). Gelegentlich kann dies gleichzeitig mit der Opponensersatzoperation erfolgen. Die umgesetzte Sehne sollte sowohl an der Daumengrundphalanx wie auch im Bereich des Metakarpale wirksam werden (⊡ Abb. 57.11). Setzt der Zug nur am Metakarpale an, so kann es besonders bei hypermobilen Gelenken im MP-Gelenk durch die Extensor-pollicis-longus-Sehne zur Ulnarduktion des Daumens kommen. Wird die Sehne nur im Bereich der Grundphalanx befestigt, kann eine Radialabweichung des Daumens im Grundgelenk entstehen, die sich mit der Zeit verstärken kann. Zum Opponensersatz stehen bei reiner Medianusparese der Abductor digiti minimi (⊡ Abb. 57.12; 1. Wahl bei Kindern) oder eine Superficialissehne (meistens die des Ringfingers) zur Verfügung (⊡ Abb. 57.13; 1. Wahl bei Erwachsenen). Auch die Palmaris-longus-Sehne, an der dann ein Aponeurosestreifen belassen wird, kommt vor allem bei partieller Oppositionsinsuffizienz (Z. n. Karpaltunnelsyndrom mit hochgradiger Thenaratrophie) infrage (⊡ Abb. 57.14). Bei Zuständen wie z. B. einer ischämischen Kontraktur, kann die intermetakarpale Verspanung, welche einer Arthrodese des Sattelgelenks in Oppositionhaltung entspricht, die bessere Lösung sein (⊡ Abb. 57.15).
Opponensersatz durch den M. abductor digiti minimi ECRL FDP II–V
BR
⊡ Abb. 57.8 Beispiel für eine mögliche motorische Ersatzoperation nach Nervus-medianus-Ausfall bei hoher proximaler Medianusläsion. Ersatz des FPL durch den ECRL, Rekonstruktion der Opposition und Adduktion durch die verlängerte Sehne des FCU, Wiederherstellung der Funktion des FDP II und III durch Einflechtung der distalen Sehnenstümpfe in die Sehnen des FDP IV und V. ECU Extensor carpi ulnaris; FPL Flexor pollicis longus; ECRL Extensor carpi radialis longus; FDP Flexor digitorum profundus; BR M. brachioradialis)
Dazu wird dieser Muskel nach einem Hautschnitt, welcher ulnar palmar am Kleinfingergrundglied beginnt, radial um den Hypothenar herumführt und über dem Ansatz der Flexor-carpi-ulnarisSehne endet, in voller Länge freigelegt und das von radial aus der A. ulnaris und dem N. ulnaris kommende Nerven-Gefäß-Bündel dargestellt und freipräpariert. Nach möglichst weit distalem Abtrennen der Aponeurose des M. abductor digiti minimi in seinem sehnigen Anteil über dem proximalen Grundglied erfolgt das vorsichtige Heben des Muskels unter sorgfältiger Schonung des zuvor dargestellten Nerven-Gefäß-Stiels. Die Präparation wird um das Os pisiforme herum bis in die Sehne des M. flexor carpi ulnaris
1637 57.2 · Spezielle Techniken
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⊡ Abb. 57.9 Extensor-indicis-proprius-Transfer (EIP) für die Wiederherstellung der Daumenbeugung. a Schema: Hautschnitt und Markierung der Sehne des EIP, b Heben der Sehne des EIP und Versorgung des Spenderdefektes im Bereich der Strecksehnenhaube des Zeigefingers, c transmembranöse Verlagerung der Sehne nach palmar und Vernähung der beiden Sehnenstümpfe unter adäquater Spannung. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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⊡ Abb. 57.10 Extensor-digiti-minimi-Transfer (EDM) für die Wiederherstellung der Daumenbeugung. a Schema: Hautschnitt und Markierung der Sehne des EDM, b Präparation der Sehne des EDM; der Spenderdefektes im Bereich der Strecksehnenhaube des Kleinfingers muss sorgfältig rekonstruiert werden, c Heben der Sehne des EDM über eine dorsale Inzision im Unterarmbereich. Anschließend wird die Sehne des EDM transmembranös nach palmar verlagert und mit der Sehne des FPL unter adäquater Spannung vernäht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
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⊡ Abb. 57.11 Korrekte Fixierung der Opponensersatzsehnen am Daumen. a Fehlerhafte Befestigung nur am Mittelhandköpfchen mit der Folge einer Ulnarabduktion des Daumengrundgliedes oder einer Z-Stellung, b Ulnarabduktion des Daumens, c Z-Stellung des Daumens, d fehlerhafte Befestigung nur am Grundglied mit der Folge einer zförmigen schwanenhalsähnlichen Fehlstellung des Daumens, e korrekte gut ausbalancierte Fixierung sowohl an der Strecksehne distal des Geundgelenks als auch am Mittelhandköpfchen, f Detailansicht. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–e], Wachsmuth u. Wilhelm [f ])
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hinein weitergeführt. Um etwas Länge zu gewinnen, empfiehlt es sich nach Absetzen des Muskels vom Pisiforme die Sehneneinstrahlung bis etwa 5 mm proximal des Pisiforme von der Flexor-carpi-ulnarisSehne abzuspalten. Der Muskel haftet jetzt nur noch über diesen Sehnenstreifen an der Flexor-carpi-ulnaris-Sehne und am GefäßNerven-Stiel. Dieser Längengewinn ermöglicht es, das distale Ende sowohl am Grundglied als auch an der Strecksehne über dem distalen Metakarpale zu befestigen. Danach wird der Muskel wie die Seite eines Buches nach radial umgeklappt und in einen breiten, entsprechend präparierten subkutanen Tunnel im Thenarbereich bis zu einer kleinen Inzision am ulnaren Grundgelenk in die neue Position subkutan durchgezogen. Ein Teil des sehnigen peripheren Muskelendes wird auf dem gemeinsamen Ansatz der ausgefallenen Mm. opponens und abductor pollicis brevis, der 2. Teil am radialen Kollateralband mit feinen Einzelknopfnähten befestigt. Der Daumen wird dabei gestreckt und in Opposition gehalten (⊡ Abb. 57.12).
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Opponensersatz durch den M. flexor digitorum superficialis IV Da bei peripherem Medianusausfall die oberflächlichen und tiefen Fingerbeuger intakt bleiben, kann auch die oberflächliche Beugesehne des 4. Fingers (FDS IV) zur Daumenopposition umgeleitet werden (⊡ Abb. 57.13). Dieses Verfahren ist einfacher als das Umsetzen des M. abductor digiti minimi. Als Hypomochlion für die Umleitung kommen eine Schlaufenbildung aus dem radialen Teil der Sehne des M. flexor carpi ulnaris im Bereich des Os pisiforme (OP), das Os pisiforme selbst (beides kann hier zu Verwachsungen führen) oder ein Fenster im Retinaculum flexorum (HRF) in Frage; wobei die letzte Möglichkeit den Vorzug aufweist, gut praktikabel zu sein bei ausgezeichneten Resultaten. Von der radialen Inzision am Ringfingermittelgelenk wird der radiale Zügel der Superficialissehne aufgesucht und mit einer feinen Klemme gefasst. Sie wird möglichst weit distal durchtrennt. Durch Zug an diesem Sehnenzügel wird auch der ulnare Zügel sichtbar, sodass
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⊡ Abb. 57.12 Opponensersatz mit dem M. abductor digiti minimi. a Schema: Hautschnitt, b Schema: Situs nach Präparation des M. abductor digiti minimi, c klinischer Aspekt intraoperativ: Situs nach Präparation des M. abductor digiti minimi, d Schema: Muskelverlagerung zum Daumengrundgelenk, e Klinischer Aspekt intraoperativ: Detailaufnahme des Gefäß-Nerven-Bündels, f klinischer Aspekt: Muskelverlagerung zum Daumengrundgelenk, g Schema: postoperativer Aspekt, h klinischer Aspekt: postoperativ, i röntgenologischer Aspekt präoperativ, j röntgenologischer Aspekt postoperativ: Dokumentation der gleichzeitig durchgeführten Knochenspanverlängerung des MC I, k röntgenologischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: gute knöcherne Konsolidierung im Bereich des hypoplastischen MC I. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, b, d, g])
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Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
auch dieser relativ weit distal durchtrennt werden kann. Bei maximaler Flexion des Handgelenks und des Fingergrundgelenks und kräftigem Zug an den durchtrennten Sehnenenden erscheint die Profundussehne mit ihrer Durchtrittstelle durch die Superficialissehne, die bis zu dieser Durchtrittsstelle gespalten wird. Alternativ kann man die beiden Seitenzügel der Superficialissehne auch über
eine schräge Inzision über dem distalen Grundglied freilegen und abtrennen. Nach Spaltung der Palmaraponeurose wird auf das Retinaculum flexorum eingegangen und seine distale Hälfte vertikal inzidiert. Am proximalen Ende des Schnittes wird ein Fenster von etwa 6–8 mm Durchmesser in das Retinakulum geschnitten. Anschlie-
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⊡ Abb. 57.13 Opponensersatz mit der Flexor-digitalis-superficialis-IV-Sehne. a Schema: Prinzip der Operation, b klinischer Aspekt intraoperativ: Ausgangsbefund mit komplett fehlender Opposition des Daumens, c klinischer Aspekt intraoperativ: distale Durchtrennung der FDS-IV-Sehne und Hebung der Sehnen über eine palmare Inzision im Handgelenkbereich, d Schema: Einkerbung des Retinaculum flexorum; die Sehne des FDS IV darf den N. medianus nicht komprimieren, e klinischer Aspekt intraoperativ: Transposition der FDS-IV-Sehne in den Daumenbereich; die beiden Sehnenenden werden an ihre neuen Ansatzorte, das Metakarpale I und das Grundglied des Daumens, gelegt, f Schema: subkutane Tunnelung der Sehne des FDS, g klinischer Aspekt intraoperativ: Fixierung beider Sehnenenden im Daumenbereich, h klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ. (Aus Berger u. Hierner 2009 [d, f ])
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ßend wird die Superficialissehne durch Zug am freien Sehnenende identifiziert. Diese wird nun hier herausgeführt und begleitendes Gleitgewebe über den Rand des Fensters gelegt und dort mit feinen Nähten fixiert. Hiermit soll die Verwachsungsgefahr reduziert werden. Die Sehne wird bis zu einer weiteren kleinen Inzision über dem Grundgelenk subkutan tunneliert. Die Neufixierung erfolgt nach Aufspaltung der Sehne sowohl an der Grundgliedbasis am distalen Ende der Extensorsehne des Daumens als auch am distalen Metakarpale I am ulnaren Kollateralband des Grundgelenks. Dabei wird das Handgelenk 30° gebeugt und der Daumen in maximaler Opposition gehalten. Neutrale Spannung erhält man, indem man zuerst durch Zug die Sehne anspannt und den Muskel etwas dehnt. Dann wird dem Muskel erlaubt, sich wieder zu kontrahieren, und die Sehne wird gerade ohne Zugspannung bei maximaler Daumenopposition befestigt.
Opponensersatz durch den M. palmaris longus nach Camitz Diese Operation entspricht weitgehend dem Ersatz durch die Superficialissehne und kommt beispielweise infrage, wenn bei einem fortgeschrittenen Karpaltunnelsyndrom zusammen mit der Spal-
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tung des Retinaculum flexorum eine primäre Opponensersatzplastik wünschenswert ist. Dabei wird die Inzision zum Spalten des Retinaculum flexorum etwas nach distal verlängert. In der Fortsetzung des Palmaris longus wird ein ausreichend breiter Streifen aus der Palmaraponeurose geschnitten. Das freie Ende wird ohne Hypomochlion direkt zum Daumen tunneliert und auf eine Strecke von etwa 10 mm gespalten. Ein Ende wird an der Einstrahlung des Abductor pollicis brevis und das andere Ende an der Insertion der Extensor-pollicisbrevis-Sehne befestigt. Dabei wird der Daumen in Opposition und das Handgelenk in 30° Flexion gehalten (⊡ Abb. 57.14). Erfahrungsgemäß verbleibt bei diesem Vorgehen ein gewisses Oppositionsdefizit.
Intermetakarpale Spanplastik Eine Fixierung des Daumens in Oppositionsstellung durch Implantation eines Knochenspans zwischen den Metakarpalia I und II (⊡ Abb. 57.15) ist dann empfehlenswert, wenn bei kombinierten Läsionen nicht genügend Kraftspender zur Verfügung stehen oder es sich um Patienten handelt, bei denen nicht mit einer guten Lernfähigkeit gerechnet werden kann. Dabei ist in jedem Einzelfall zu
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⊡ Abb. 57.14 Opponensersatz mit der Palmaris-longus-Sehne nach Camitz. a Schema. Hautschnitt, b Schema: Schneiden des Faszienstreifens, c Schema: Verlagerung des die Palmarislongus-Sehne verlängernden Streifens zum Daumengrundgelenk, d Schema: Spaltung des distalen Anteils und Fixierung im Bereich des Metakarpale I sowie der Grundphalanx des Daumens. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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⊡ Abb. 57.15 Intermetakarpale Knochenspanplastik. a Klinischer Aspekt präoperativ: Planung der 2-Lappen-Z-Plastik: Ansicht von dorsal, b klinischer Aspekt präoperativ: Planung der 2-Lappen-Z-Plastik: ansiCht von palmar, c klinischer Aspekt nach Interposition eines kortikospongiösen Knochenspans vom vorderen Beckenkamm, d Schema nach Interposition eines kortikospongiösen Knochenspans vom vorderen Beckenkamm. (Aus Berger u. Hierner 2009 [d])
57 prüfen, ob der Nachteil, dass der Daumen nicht mehr in die Handebene geschwenkt werden kann, für den betreffenden Patienten wesentlich ist. Oft besteht eine Weichteilkontraktur im Bereich der 1. Kommissur. Diese muss vor oder gleichzeitig mit der intermetakarpalen Spanplastik behandelt werden ( Kap. 35). 57.2.3 Ersatzoperationen bei Ausfall des N. ulnaris Der Wunsch nach einer Ersatzoperation ist nach einem alleinigen Ulnarisausfall eher geringer als bei Ausfällen der Nn. medianus und radialis, da die Betroffenen sich teilweise relativ gut an den Ausfall gewöhnen und ihn oft auch ausreichend kompensieren. Vorrangiges Ziel ist hier die Korrektur der Krallenhand, die dadurch entsteht, dass die Funktionen der Handbinnenmuskulatur – Mm. lumbricales und interossei (Beugung in den Grundgelenken und Streckung in Mittel- und Endgelenken) – weitgehend ausfällt. Gleichzeitig werden die Grundgelenke durch die intakte Unterarmfingerstreckmuskulatur in Streckstellung und die Mittel- und Endgelenke durch die intakt gebliebenen Beugemuskeln in Beugung gehalten. Fallen bei einer hohen proximalen Ulnarisläsion auch die tiefen Beuger des 4. und 5. Fingers aus, dann ist aus den vorgenannten Gründen die Krallenhandstellung des 4. und 5. Fingers weniger ausgeprägt. 2. und 3. Finger sind bei reiner N.-ulnaris-Parese weniger betroffen, da hier die Mm. lumbricales meist vom N. medianus innerviert werden. Das Problem der Krallenhand liegt vor allem im gestörten Ablauf des Greifaktes (⊡ Abb. 57.20b). Beim Faustschluss krallen sich die Finger zuerst in den End- und Mittelgelenken ein. Erst am Schluss wird das Grundgelenk flektiert. Das Resultat ist, dass die Finger sich vor einem zu ergreifenden Objekt einrollen, anstatt dieses zu umfassen. Zusammen mit den Mm. interossei beteiligen sich die Lumbricales auch an Abduktion und Adduktion der Finger. Diese Funktion ist weniger wichtig und wird deshalb bei der Ersatzoperation nicht berücksichtigt. Die Wiederherstellung der Daumenadduktion und der Radialabduktion des Zeigefingers kann allerdings in speziellen Fällen ebenfalls sinnvoll sein (⊡ Abb. 57.21 und ⊡ Abb. 57.22).
Lumbricalis-Ersatzoperationen Dynamische Ersatzoperationen können mit Sehnen der Unterarmmuskulatur (sog. Many-tailed-Operationen) durchgeführt werden. Die Sehnen folgender Muskeln werden verwendet: 1. M. extensor carpi radialis longus, 2. M. extensor carpi radialis brevis, 3. M. palmaris longus, 4. M. extensor digiti minimi, 5. M. extensor indicis, 6. M. flexor digitorum superficialis III oder IV. Bei Verwendung der 3 erstgenannten Sehnen sind Verlängerungen mit kleinen Sehnentransplantaten notwendig. Diese Many-tailed-Operationen haben den Nachteil, dass die Lumbricales-Wirkung für alle 4 Finger gleichzeitig erfolgt, was sich aber beim einfachen Greifakt nicht nachteilig auswirkt. Bei den dynamischen Many-tailed- Ersatzoperation wird postoperativ eine ca. 5-wöchige Ruhigstellung mit einer palmaren Gipsschiene durchgeführt. Dabei bleiben das Handgelenk gestreckt, die Fingergrundgelenke in 80–90° gebeugt, die Mittel- und Endgelenke gestreckt. Nach der Gipsbehandlung schließt sich eine vorwiegend aktiv durchzuführende Nachbehandlung mit Training der Handöffnung und des Faustschlusses an.
Extensor-carpi-radialis-longus-Transfer zum Lumbricalisersatz (»Extensor-to-flexor-many-tailedTransfer« nach Brand) Der Extensor-carpi-radialis-longus-Transfer zum LumbricalesErsatz ist eine anspruchsvolle Operation, bei der es wichtig ist, dass die Spannung der einzelnen Fingerzügel gut aufeinander abgestimmt ist (⊡ Abb. 57.16). Als Transplantat zur Verlängerung werden die Palmaris-longus- oder die Plantaris-longus-Sehne verwendet. Das freie Ende des Transplantats wird in die Mitte der Hohlhand durchgezogen und hier in 4 Streifen aufgespalten. Jeder Streifen wird entlang dem Lumbricalis zu einem der Finger geführt, am Zeigefinger ulnar zu einer ulnodorsalen Längsinzision am Grundglied und an den Fingern III, IV und V radial zu dorsoradialen Inzisionen. Diese Zügel müssen palmar der Ligg. in-
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termetacapalia verlaufen ( Kap. 23). Bei der Verankerung ist die Verwendung einer Lagerungsschiene vorteilhaft mit einer Flexion des Handgelenks von 30° und der MP-Gelenke von 60°. Beim Einnähen der Zügel wird mit der Nadel zuerst die Aponeurose gefasst und nach proximal straff gezogen. Durch Druck werden Mittelund Endgelenk auf der Schiene gestreckt gehalten. Die Zügel werden an der Nadel vorbei maximal gespannt und dann bis zur gewünschten Spannung losgelassen: am Zeigefinger halbe Spannung, am Kleinfingerzügel 3 mm positive Spannung. Dies bedeutet, dass der Zügel aus neutraler Spannung nochmals um 3 mm nach distal gezogen wird. Jeder Zügel wird mit 3 Einzelknopfnähten verankert. Nach erfolgter Verankerung wird das Resultat durch Bewegung des Handgelenks geprüft. Bei Dorsalextension des Handgelenks sollte eine gleichmäßige balancierte mittlere Binnenmuskelstellung der Finger auftreten. Eine eventuell notwendige Opponensersatzplastik kann gleichzeitig erfolgen. Die Ruhigstellung in einer Gipsschiene für ca. 5 Wochen hält das Handgelenk in Streckstellung, die Fingergrundgelenke in Flexion von 90°, die Mittel- und Endgelenke in Streckstellung. Nach der Gipsabnahme hängt die Hand mit der Handfläche in Ruhigstellung nach unten. Aus dieser Stellung wird bei der postoperativen Nachbehandlung die Dorsalextension der Hand und die Binnenmuskelstellung für die Finger befohlen. Zwischen den Übungen werden während 2–3 Wochen kurze
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⊡ Abb. 57.16 Extensor-carpi-radialis-longusTransfer zum Lumbricalisersatz (»Extensorto-flexor-many-tailed«-Transfer nach Brand). a Schema: Hautinzisionen palmar, b Schema: Hautinzisionen dorsal, c Schema: Aufsuchen der ECRL-Sehne über eine kleine Inzision im dorsoradialen Handgelenkbereich; die Sehne des ECRL liegt radial zur Sehne des ECRB, d Heben der Sehne des ECRL im dorsalen Unterarmbereich über eine zweite dorsoradiale Inzision, e transmembranöse Verlagerung der Sehne nach palmar, f Verlängerung der Sehne des ECRL mithilfe der Sehne des PL, die distal in 4 Anteile geteilt wird; anschließend wird die Sehne unterhalb der Ligg. intermetacarpalia durchgeführt und mit der Strecksehenaponeurose (D II: ulnarseitig, D II–V: radialseitig) vernäht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Fingerschienen angelegt, welche die Mittellgelenke der Finger in Streckstellung halten.
Palmaris-longus-many-tailed-Transfer zum Lumbricalisersatz Beim Palmaris-longus-Many-tailed-Transfer ist das Umlernen leichter als beim Extensor-carpi-radialis-longus-Transfer. Voraussetzung ist das Vorhandensein eines kräftigen M. palmaris longus. Der Verlauf der Operation entspricht weitgehend dem beim Extensor-carpi-radialis-longus-Transfer, indem hier ein Sehnentransplantat angeschlossen wird. Anschließend wird bis zur Hohlhandmitte tunneliert und von hier 4 Streifen zu den jeweiligen Fingern gelegt. Auch die Spannungswahl ist gleich. Da auch im Normalfall bei Einnahme der Binnenmuskelstellung in der Regel die Palmaris-longus-Sehne angespannt wird, handelt es sich hier um einen Synergistentransfer. Ansonsten entspricht auch die Nachbehandlung der nach einem Extensor-carpi-radialis-longusTransfer (⊡ Abb. 57.17).
Ersatz der Lumbricales durch die oberflächliche Beugesehne des 3. oder 4. Fingers Als weiteres gut praktikables Verfahren zur Korrektur der Krallenhand zeigt ⊡ Abb. 57.18 den Ersatz der Lumbricales durch die ober-
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⊡ Abb. 57.17 Palmaris-longus-many-tailed-Transfer zum Lumbricalisersatz. a Schema: Hautinzisionen palmar, b Schema: Aufsuchen der PL-Sehne über eine distale palmare Inzision und Heben der Sehne des PL über eine zweite proximale palmare Inzision, c Verlängerung der Sehne des PL mithilfe der kontralateralen Sehne des PL, die distal in 4 Anteile geteilt wird; anschliessend wird die Sehne unterhalb der Ligg. intermetacarpalia durchgeführt und mit der Strecksehenaponeurose (D II: ulnarseitig, D III–V: radialseitig) vernäht. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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⊡ Abb. 57.18 M.-flexor-digitorum-superficialis III oder -IV-many-tailed-Transfer zum Lumbricalisersatz. a Schema: Prinzip der Operation. Aufspalten und Umsetzen der Sehne auf die von der Funktionsstörung betroffenen Finger, b distale Fixierung der Sehenstreifen; die Sehnenzügel werden am Tractus lateralis der Strecksehnenaponeurose fixiert. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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flächliche Beugesehne des 3. Fingers. Hier darf allerdings keine hohe (proximale) Medianusläsion vorliegen. Als Erstes wird die ausgewählte oberflächliche Beugesehne von einer schrägen palmaren Hautinzision aus an ihrem Ansatz am Mittelgelenk abgetrennt, bis zur Durchtrittsstelle der tiefen Beugesehne über dem Grundglied gespalten und zu einer queren Inzision in der Mitte der Hohlhand hindurchgezogen. Dort wird die Sehne mit dem Skalpell weiter längs gespalten. Sind nur Ring- und Kleinfinger betroffen, reicht die Spaltung in 2 Längssehnen. Bestehen Störungen auch des Mittel- und Zeigefingers, kann die Aufspaltung je nach Bedarf in 3 oder in 4 Sehnenstreifen erfolgen oder man verwendet außer der oberflächlichen Mittelfingerbeugesehne noch zusätzlich die des Ringfingers. Mit einer feinen Klemme werden nacheinander die präparierten Sehnenzügel zu dorsoradialen Längsinzisionen über den Fingergrundgliedern hin durchgezogen. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die Lumbricalis-Ersatzsehnen im Bereich der Mittelhandköpfchen palmar der intermetakarpalen Bandverbindungen verlaufen, um die funktionell wichtige Zugrichtung einzuhalten und die NervenGefäß-Bündel nicht zu überkreuzen. Anschließend werden sie an der Streckaponeurose im Bereich der Lumbricaliseinstrahlung mit feinen Einzelknopfnähten fixiert. Dabei sollen die Grundgelenke ca. 60° gebeugt, Mittel- und Endgelenke gestreckt sein. Eine gute Spannungsverteilung auf die einzelnen Finger (ulnar etwas mehr als radial) ist wichtig für einen koordinierten Bewegungsablauf im Zusammenspiel der korrigierten Finger.
Kapsulodese nach Zancolli Eine weitere Korrekturmöglichkeit der Krallenhand stellt die Kapsulodese nach Zancolli dar, bei der die Beseitigung der Grundgelenküberstreckung dadurch erfolgt, dass das straffe Gewebe der beugeseitigen Gelenkkapsel (Fibrocartilago) U-förmig inzidiert, nach zentral verschoben und gedoppelt wird (⊡ Abb. 57.19a). Hierdurch sollte ein Streckdefizit von mindestens 10° entstehen. Durch eine quere Inzision im Bereich der distalen Hohlhandfalte werden die betroffenen Beugesehnenscheiden freigelegt. Das vor der Verkürzung der beugeseitigen Gelenkkapsel beidseits von proximal her bis über das Grundgelenk gespaltene Ringband wird nicht wieder vernäht, sodass sich die Beugesehnen von der Unterlage etwas abheben und ein normalerweise kaum vorhandenes Drehmoment auf das Grundgelenk ausüben können (⊡ Abb. 57.19b). Bei der beugeseitigen Grundgelenkkapselraffung nach Zancolli erfolgt ebenfalls eine 5-wöchige Ruhigstellung, allerdings mit ei-
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ner dorsalen Unterarmgipsschiene, die die Grundgelenke in einer Beugehaltung von ca. 80° fixiert und die übrigen Fingergelenke frei lässt. Diese werden von Anfang an aktiv beübt, die Grundgelenke erst nach der Gipsabnahme. Diese Operation nach Zancolli kann bei kombinierter N.-ulnaris- und N.-medianus-Läsion für alle 4 Finger sinnvoll sein. Vorteilhaft ist bei dieser Methode, dass ein Umlernen nicht erforderlich ist, und dass keine Spendersehnen zu verlagern sind. Andererseits sind besonders bei Kindern Rezidive häufig.
Lasso-Operation nach Zancolli Von Zancolli kommt auch die sog. Lasso-Operation, bei der die oberflächliche Beugesehne über dem distalen Grundgliedbereich abgetrennt und zwischen A1- und A2-Ringband aus der Beugesehnenscheide herausgezogen, umgeschlagen und proximal des 1. Ringbandes mit sich selbst vernäht wird (⊡ Abb. 57.20). Dabei befindet sich der betroffene Finger in einer Beugestellung des Grundgelenks von ca. 15–20° und die Sehne wird vor ihrem Festnähen maximal gespannt, damit auf Dauer die zur Vermeidung einer erneuten Hyperextension notwendige Beugung des Grundgelenks erhalten bleibt. Nach einer Lasso-Operation (Abb. 30.18) nach Zancolli wird ebenfalls für ca. 5 Wochen eine dorsale Unterarmgipsschiene angelegt, die das Handgelenk in Neutralstellung fixiert und in den Fingergrundgelenken eine Streckung über ca. 30° Beugehaltung verhindert; die übrigen Fingergelenke sollen dabei voll streckbar bleiben. Nach 1 Woche wird dann aus der angelegt bleibenden Schiene heraus vorsichtig mit aktiven Übungen in die Fingerbeugung begonnen. Ein spezielles Umlerntraining ist hiernach ebenso wenig notwendig wie nach der Gelenkkapselraffung nach Zancolli. In Problemfällen kommt bei den Zankolli-Operationen auch eine zusätzliche 5-wöchige transartikuläre Kirschner-Draht-Fixierung der von der Operation betroffenen Grundgelenke in den oben angegebenen Winkeln in Frage. Im eigenen Krankengut konnten mit dieser Methode die besten Langzeitergebnisse erzielt werden.
Wiederherstellung der Daumenadduktion mit Hilfe des M.flexor digitorum superficialis (FDS IV) nach Thompson Ergänzend lassen sich dynamische Ersatzoperationen unter Verwendung von Extensorsehnen auch zur Rekonstruktion der Daumenadduktion und zur Abspreizung des Zeigefingers durchführen mit dem Ziel, einen kräftigen Spitzgriff zwischen Daumen und Zeigefinger wiederherzustellen.
⊡ Abb. 57.19 Korrektur der Überstreckhaltung bei Krallenhand durch eine Kapsulodese nach Zancolli mit rechteckiger Resektion und H-förmigem Hilfsschnitt. a Schema: Schnittführung im Bereich der palmaren Platte des Metacarpophalangeal (MP)-Gelenks, b Schema: Z. n. Resektion, c Schema: Readaptation der palmaren Platte: Beugehaltung von ca. 15° und leichte Vorverlagerung der Beugesehnen dadurch, dass die seitlichen Inzisionen der Beugesehnenscheide nicht wieder vernäht werden. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
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⊡ Abb. 57.20 Lasso-Operation nach Zancolli. a Prinzip der Lasso-Operation: Umleiten der distal resezierten Sehne des M. flexor digitorum superficialis (FDS) zwischen den Ringbändern A1 und A2 der Beugesehnenscheide und Vernähen mit sich selbst im Mittelhandbereich proximal des 1. Ringbandes (A1); FDP:Flexor digitorum profundus, b Krallenhandsituation vor der Operation, c über das A1-Ringband umgeschlagene und mit sich selbst vernähte Superficialis-Sehnen an D IV und V, d Situation am Ende der Operation (mitoperiert wurde ein Karpaltunnelsyndrom), e postoperative Ruhigstellung mit dorsaler Gipsschiene, f Endergebnis nach 6 Monaten
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Da jedoch der Verlust dieser Handfunktionen i. Allg. als weniger gravierend empfunden wird, sind hier die Erfolgsaussichten wegen mangelnder Motivation des Patienten relativ dürftig und damit auch die Indikation hierfür nur in speziellen Fällen gegeben. Zur Wiederherstellung der Daumenadduktion kann z. B. die Sehne des M. flexor superficialis des Ringfingers am peripheren Ende des Karpaltunnels (distal des Retinaculum flexorum) um kräftige Faserzüge der Palmaraponeurose herumgeleitet und von dort entweder subkutan zum radialen Sesambein am Daumengrundgelenk oder zur Sehne des M. adductor pollicis umgeleitet werden (⊡ Abb. 57.21). Empfohlen wird auch ein Ende, wie bei der Opponensersatzplastik, knapp palmar der Gelenkachse des Daumengrundgelenks auf der Radialseite über dem distalen Ende der Extensorsehne am Endgelenk und das andere Ende zum ulnaren Seitenband zu verlagern. Das Handgelenk wird dabei in 30° Flexionsstellung gehalten, der Daumen in Adduktion und leichter Opposition. Die Ruhigstellung im Gips erfolgt für ca. 5 Wochen. In der anschließenden Physiotherapie wird von einer Ruhestellung ausgegangen, bei der die entspannte Hand mit der Handfläche nach unten hängt. Von hier aus wird die Daumenadduktion, die Beugung des Ringfingers und die Dorsalextension des Handgelenks gleichzeitig geübt.
Wiederherstellung der Radialabduktion des Zeigefingers mithilfe des M. extensor indicis proprius Die Wiederherstellung der Radialabduktion des Zeigefingers erfolgt am einfachsten durch die Transposition der Sehne des M. ex-
⊡ Abb. 57.21 Wiederherstellung der Daumenadduktion mithilfe des M. flexor digitorum superficialis (FDS IV) nach Thompson; PA Palmaraponeurose; RF Retinaculum flexorum; RS radiales Sesambein; AP Adductor pollicis. (Aus Berger u. Hierner 2009)
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Therapie der Krallenstellung der Finger Zur Beseitigung der Krallenstellung der Finger kommen alle in Abschn. 57.2.3 dargelegten Maßnahmen in Frage (z. B. Lumbricalisersatz durch oberflächliche Beugesehnen, Kapsulodese nach Zancolli, Lasso-Operation nach Zancolli u. a.), wobei die Kapsulodese den Vorteil hat, oberflächliche Beugesehnen für die Wiederherstellung der Daumenfunktion übrig zu lassen. Auch die Wiederherstellung der Zeigefingerabduktion kann mithilfe der Sehne des M. extensor indicis proprius erfolgen (⊡ Abb. 57.22).
Rekonstruktion der Daumenopposition Bezüglich der ausgefallenen Daumenopposition steht die vom N. ulnaris innervierte Hypothenarmuskulatur nicht zur Verfügung. Es verbleiben u. a. die in ⊡ Abb. 57.8 dargestellten Möglichkeiten, mithilfe einer verlängerten Extensor-carpi-ulnaris-Sehne oder einer beim Ulnarisersatz ausgesparten oberflächlichen Beugesehne die Oppositionsfähigkeit wiederherzustellen
Rekonstruktion der Daumenadduktion ⊡ Abb. 57.22 Wiederherstellung der Radialabduktion des Zeigefingers mithilfe des M. extensor indicis proprius: Umleitung der ulnaren Extensorindicis-Sehne auf die Sehne des M. interosseus dorsalis I zur Wiederherstellung der radialen Zeigefingerstabilität bzw. Abduktion. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
Eine gewisse Adduktionsfähigkeit des Daumens wird hiermit ebenfalls erreicht, sodass meist auf eine zusätzliche Wiederherstellung dieser Fähigkeit verzichtet werden kann und ein ausreichender Spitzgriff zwischen Daumen und Zeigefinger bereits hierdurch möglich wird.
Rekonstruktion der Beugefunktion im Daumen- und Fingerbereich tensor indicis proprius auf die distalen Anteile bzw. die Sehne des M. interosseus dorsalis I (⊡ Abb. 57.22). Die Nachbehandlung erfordert eine ca. 4-wöchige Ruhigstellung mit einer Unterarmgipsschiene, durch die der Daumen in Adduktion und der Zeigefinger in Streckung fixiert werden. Zum Erlernen der Funktion und Kräftigung der umgesetzten Muskeln schließen sich ergotherapeutische und krankengymnastische Übungen bis zu 3 Monate entsprechend den in Abschn. 57.1.7 formulierten Grundsätzen an. 57.2.4 Ersatzoperationen bei kombiniertem
Ausfall des N. medianus und N. ulnaris (mediokubitale Läsion) Die nicht selten kombinierte Verletzung dieser beiden Unterarmnerven führt zum Ausfall sämtlicher Handbinnenmuskeln bei Verletzungen in einem Bereich bis zum Handgelenk (Mm. interossei, lumbricales, Thenar- u. Hypothenarmuskulatur). Das bedeutet, dass der bei einer isolierten Verletzung eines der beiden Nerven vorliegende Funktionsausfall addiert wird. Hierdurch vermindern sich die spontanen Kompensationsmöglichkeiten ebenso wie die Zahl der möglichen motorischen Ersatzoperationen. Diese werden i. Allg. auf die vom Unterarm kommenden Beuger und Strecker begrenzt. Ziel einer Ersatzoperation bei kombiniertem N.-medianusund N.-ulnaris Ausfall muss daher sein: 1. Korrektur der Krallenstellung der Finger (Ulnarisausfall), 2. Wiederherstellung der Daumenopposition (Medianusausfall), 3. Wiederherstellung des Spitzgriffes zwischen Daumen und Zeigefinger (Ulnarisausfall), 4. Wiederherstellung einer primitiven Beugefunktion der Finger (bei hohem Ausfall des N. medianus und des N. ulnaris). Vorrangig sind vor allem die Punkte 1 und 2.
Für die Wiederherstellung der Beugefunktion im Daumen- und Fingerbereich stehen mehrere Techniken zur Verfügung: Bei der Koppelung werden zwei benachbarte Sehnen miteinander so vereinigt, dass der Muskel der intakten Sehne beide Finger gleichmäßig streckt. Eine begrenzt unabhängige Extension ist dadurch noch möglich, dass ein Teil der Streckung ja über die Lumbricales erfolgt. Das lockere Bindegewebe, das distal der Vereinigungsstelle zwischen den beiden Sehnen liegt, kann die Verlagerung der Vereinigungsstelle nach distal und insbesondere auch den Faustschluss etwas behindern. Dies lässt sich dadurch vermindern, dass eine Koppelungsnaht durchgeführt wird bei Faustschluss der Finger. Gleichzeitig soll auch das Handgelenk flektiert werden, um die intakte Sehne anzuspannen. Wird nun die rupturierte Sehne nach proximal gespannt und die Kontaktfläche mit der Motorsehne etwas aufgeraut, dann können die beiden Sehnen mit drei U-Nähten aneinandergenäht werden. Wird jetzt das Handgelenk bewegt, sollten alle Finger untereinander eine ähnliche Stellung aufweisen. Wir können auch von einer intakten Sehne die Hälfte abspalten und distal durchtrennen und diese dann in den distalen Stumpf der rupturierten Sehne einflechten. Dies werden wir insbesondere dann tun, wenn mehr als eine Sehne rupturiert ist und gekoppelt werden soll. Auch hier wird bei der Befestigung die Hand in Fauststellung gehalten. Im Prinzip können, wenn nötig, alle Finger durch eine Strecksehne allein gestreckt werden. Nach einer Ruhigstellung von 3 Wochen mit dem Handgelenk in mittlerer Dorsalextension und der Finger in unvollständiger Streckung ist zur Mobilisation konventionelle Physiotherapie ausreichend. Stehen nach komplexen, auch die Beugesehnen am Unterarm betreffenden Verletzungen oder hohen proximalen Verletzungen am Oberarm nicht genügend Sehnen zur Verfügung, kommen auch dynamische Tenodesen der Finger oder eine Arthrodese des Daumengrundgelenks, wodurch der Extensor pollicis brevis frei wird, in Frage. Näheres hierzu in der weiterführenden Literatur.
57
1648
Kapitel 57 · Motorische Ersatzoperationen im Bereich der Hand
ECRL-Transfer bei Ausfall der langen Beugesehnen
57
An sich ist die Amplitude dieses Muskels für die Beugung der Finger ungenügend. Durch Dorsalextension des Handgelenks kann aber die Wirkung verstärkt werden. Da zwischen den langen Fingerbeugern und den Handgelenkstreckern funktionell Synergismus besteht, ist ein Umlernen nicht erforderlich. Von einer kleinen Inzision in Hautspaltrichtung wird das distale Ende der Extensor-carpi-radialis-longus-Sehne proximal der Basis des Metakarpale II aufgesucht. Durch Zug an dieser Stelle lässt sie sich von der hier kreuzenden Extensor-pollicis-longus-Sehne in der Wirkung unterscheiden. Sie wird mit der Klemme gefasst und distal durchtrennt. Handbreit proximal wird dieselbe Sehne aufgesucht und das freie Ende hier hervorgezogen. Mit dem gebogenen Tunneler (oder einer gebogenen Klemme) wird das freie Sehnenende um den Radius herum zur Inzision palmar durchgezogen. Die langen Beugesehnen werden proximal mit einer Klemme gefasst und angespannt. Von radial proximal nach ulnar distal wird die Extensorcarpi-radialis-longus-Sehne durch jede Sehne durchgezogen. Unter kräftigem Zug an den langen Beugesehnen nach proximal und der Extensor-carpi-radialis-Sehne nach distal wird nun jede Sehne von radial nach ulnar mit 2–3 Einzelknopfnähten verankert. Nach der Verankerung prüfen wir die Spannung, indem wir das Handgelenk bewegen. Bei dorsalextendiertem Handgelenk sollten die Fingerkuppen 1–2 cm von der Handfläche entfernt sein. Eine 6-wöchige Ruhigstellung mit einer Gipsschiene schließt sich an, wobei das Handgelenk in Streckstellung, die Grundgelenke in etwa 90° Flexion und die IP-Gelenke leicht flektiert gehalten werden. Wenn auch ein eigentliches Umlernen in der postoperativen Physiotherapie nicht notwendig ist, sollte beim Üben der unterstützenden Effekte der Handgelenk-Dorsiflektion für die Fingerbeugung erlernt werden. Dies bereitet in der Regel keine besonderen Schwierigkeiten. Die Fingerbeugung wird deshalb immer
a
b
zusammen mit einer Dorsalextension im Handgelenk befohlen. Da meistens bei Ausfall der langen Beugesehnen auch die Lumbricales und Interossei gelähmt sind, besteht nach dieser Operation häufig eine Krallenstellung der Finger, welche wenn nötig durch statische Operationen wie die Kapselstraffung nach Zancolli behoben werden können. Sind die Ausfälle der langen Beugesehnen Teil einer hohen Medianus- und Ulnarisparese, so wird man sich in vielen Fällen mit dieser Operation begnügen, da es illusorisch ist, eine gute Daumenfunktion durch weitere Transfers erzielen zu wollen. In Frage kommt dann am ehesten noch die Aktivierung der Daumenbeugesehne, weil damit, mit der Extensor-pollicis-longusSehne, eine gewisse Adduktion mit einem Seitengriff möglich ist. Hierfür steht am ehesten die Extensor-digiti-quinti-proprius-Sehne (EDM) zur Verfügung (⊡ Abb. 57.23).
EDM-Transfer für die Daumenbeugung Sie wird zusammen mit der Ersatzoperation für die langen Beugesehnen durchgeführt. Von einer Inzision ulnar dorsal des Kleinfinger-Grundgelenks aus wird die ulnar gelegene Extensor-digiti-quinti-proprius-Sehne aufgesucht und durchtrennt. 3 Querfinger proximal des Handgelenks wird dieselbe Sehne aufgesucht und hier hervorgezogen. Mit dem geraden Tunneler wird das freie Sehnenende in dieselbe gebogene Inzision geführt, welche zum Aufsuchen der langen Beugesehne distal am Vorderarm gelegt wurde. Die Daumenbeugesehne wird hier durch Zug an dieser Sehne aufgesucht und identifiziert. Sie wird proximal durchtrennt. Das freie Ende der Digiti-quintiproprius-Sehne wird nun durch den distalen Strumpf der langen Daumenbeugesehne mehrfach durchflochten. In Flexion des Handgelenks um 30° und bei opponiertem gestrecktem Daumen wird neutrale Spannung gewählt. Die Wirkung wird durch Dorsalextension des Handgelenks verstärkt. Die Ruhigstellung erfolgt mit dem
c
⊡ Abb. 57.23 ECRL-Transfer bei Ausfall der langen Beugesehnen. a Schema: Hautinzision dorsoradial, b Schema: Hautinzision palmar, c Schema: postoperativer Aspekt. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1649 Weiterführende Literatur
Handgelenk in Streckstellung und dem opponierten, leicht gebeugten Daumen für 3 Wochen. Bei den Übungen zum Umlernen wird aus einer Ruhestellung der mit der Handfläche nach unten hängenden Hand die Beugung des Daumens, die Streckung des Kleinfingers und die Dorsalextension des Handgelenks befohlen. Eine zur Ergänzung noch mögliche fixierte Opposition des Daumens durch intermetakarpale Verspannung bringt in vielen Fällen mehr Nachteile als Vorteile. Ein eigentlicher Spitzgriff wird damit kaum erreicht. Zum Ergreifen von Gegenständen kann der in Opposition fixierte Daumen eher im Wege als nützlich sein. Besonders störend ist auch, dass bei in Opposition fixiertem Daumen die Hand nicht mehr in die Hosentasche geführt werden kann (⊡ Abb. 57.10). 57.2.5 Ergänzende motorische Ersatzoperationen
an der oberen Extremität Weitere motorische Ersatzoperationen am Arm betreffen ausgefallene Funktionen im Bereich des Ellenbogengelenks, des Schultergelenks und des Schultergürtels ( Kap. 53 und 54). Sie stellen vor allem eine wertvolle Ergänzung nach partiellen Plexusparesen dar und können in einem mehrere Sitzungen umfassenden Behandlungsplan motorische Ersatzoperationen im Handbereich überhaupt erst sinnvoll werden lassen. 57.3
Fehler und Gefahren
Misserfolge sind meist entweder auf eine falsche Indikationsstellung oder technische Fehler zurückzuführen. Aber auch die Eignung des Patienten bezüglich seiner Motivation oder Lernfähigkeit kann falsch eingeschätzt werden. Eine falsche Auswahl des umzusetzenden Muskels ( Abschn. 57.1.6) oder eine Fehleinschätzung seiner Funktionstüchtigkeit können ebenfalls für ein enttäuschendes Ergebnis verantwortlich sein. Probleme können entstehen, wenn der umgesetzte Muskel in seiner ursprünglichen Funktion vermisst wird, z. B. wenn nicht erkannt wurde, dass die ihn normalerweise kompensierenden Nachbarmuskeln geschädigt und in ihrer Funktion beeinträchtigt sind. Sehnennähte können im Rahmen der postoperativen Übungsbehandlungen insuffizient werden oder Verwachsungen in diesem Bereich können die Gleitfähigkeit blockieren. Gleiches gilt wenn das Gleitlager durch vorbestehende narbige Veränderungen mit der umgesetzten Muskelsehneneinheit verwächst. Achtzugeben ist auch darauf, dass umgeleitete Sehnen in ihrer Funktion keine intakten Nerven einengen (z. B. beim Überkreuzen), wodurch Schmerzen und neue Funktionsausfälle entstehen können.
Weiterführende Literatur Adamson JE, Horton CE, Crawford HH (1967) Sensory rehabilitation of injured thumb. Plast Reconstr Surg 40: 53–57 Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten. Springer, Heidelberg Berger A, Schaller E, Becker H-J (1995) Pully zur Verstärkung einer Muskelersatzoperation über zwei Gelenke bei Plexus brachialis Läsionen: Beschreibung einer Operationstechnik. Handchir Mikrochir Plast Chir 26: 51–54 Blodgett WH, Houtz SJ (1960) Clinical and electromyographic evaluation of patients with anterior transposition of peroneal tendons. J Bone Joint Surg Am 42: 59–76
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57
1651 57.3 · Weiterführende Literatur
Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität Robert Hierner, Alfred Berger
58.1
Allgemeines – 1652
58.1.1 58.1.2 58.1.3 58.1.4 58.1.5 58.1.6 58.1.7 58.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1652 Epidemiologie – 1655 Ätiologie – 1655 Diagnostik – 1655 Klassifikation – 1655 Indikationen und Differenzialtherapie – 1656 Therapie – 1658 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1660
58.2
Spezielle Techniken
58.2.1 58.2.2 58.2.3
Freie funktionelle Muskeltransplantation zum Ersatz des M. deltoideus – 1661 Freie funktionelle Muskeltransplantation zur Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung Freie funktionelle Muskeltransplantation zur Wiederherstellung der Handgelenkund Fingerbeuger – 1663 Freie funktionelle Muskeltransplantation zur Wiederherstellung der Handgelenkund Fingerstrecker – 1666 Freie funktionelle Muskeltransplantation zum Ersatz des M. opponens – 1667 Freie funktionelle Muskeltransplantation zur gleichzeitigen Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung, Handgelenk- und Fingerbeugung – 1667 Kombinierte freie funktionelle Muskeltransplantation zur Rekonstruktion einer Basisfunktion bei kompletter Läsion des Plexus brachialis nach DOI – 1668
58.2.4 58.2.5 58.2.6 58.2.7
– 1661
58.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1669
58.3.1
Funktionell ungenügendes Ergebnis trotz großem therapeutischen Aufwand
Weiterführende Literatur
– 1671
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1669
– 1661
58
1652
58.1
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
Allgemeines
Unter dem Begriff »funktionelle Muskeltransplantation« versteht man die Verpflanzung eines Muskels zur Wiederherstellung einer fehlenden Bewegung im Sinne einer: ▬ lokalen neurovaskulär gestielten Insellappenplastik (funktionelle Muskeltransposition) oder ▬ freien funktionellen Muskeltransplantation mit mikrochirurgischer Gefäßnaht und ▬ muskelnaher Nervenkoaptation im Empfängergebiet. In diesem Kapitel soll nur die freie funktionelle Muskeltransplantation mit mikrochirurgischer Gefäßnaht und muskelnaher Nervenkoaptation beschrieben werden. 58.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
und Physiologie Anatomie des Muskels
58
Hauptaufgabe der quergestreiften Skelettmuskulatur ist die Bewegung. Sie unterliegt der willkürlichen Steuerung und besteht aus länglichen, mehrkernigen Zellen, den Muskelfasern, die während der embryonalen Entwicklung durch in Längsrichtung erfolgende Verschmelzung embryonaler Zellen, der Myoblasten, zu Myotuben entstehen. Mit ihren Enden inserieren sie an Sehnen. Der Muskel als Ganzes wird von einer bindegewebigen Scheide, dem Epimysium, umgeben, das sich in die Muskelsubstanz am Perimysium fortsetzt und den Muskel in eine Reihe von Faserbündel gliedert, wovon jedes mehrere Muskelfasern enthält. Innerhalb der Faserbündel werden die Muskelfasern durch das Endomysium voneinander getrennt. Jede Muskelfaser wird von einer dünnen Basallamina umgeben. Der kontraktile Apparat der Muskelfasern besteht aus
Myofibrillen. Die Myofibrillen bestehen aus kontraktilen Proteinen (Aktin, Myosin), Regulationsproteinen (Tropponin, Tropomyosin, Calponin, Caldesmon) und Stützproteinen (Tintinfilamente). Der kontraktile Apparat der Muskelfasern besteht aus Myofibrillen, also längs angeordneten Bündeln dicker und dünner Filamente. Sie haben einen Durchmesser von ca. 1 μm und durchziehen die Muskelfaser in ihrer gesamten Länge. Die dünnen Filamente der Myofibrillen sind an einem Ende an einem rechtwinklig zu ihnen angeordneten, größtenteils aus Proteinen bestehenden Maschenwerk befestigt, das sich, von der Seite her betrachtet, als engmaschiges, dichtes Gitter darstellt. Unter dem Lichtmikroskop entspricht dieses Gitter im Längsschnitt dem Z-Streifen. Derartige Z-Streifen finden sich in regelmäßigen Abständen entlang der gesamten Länger der Myofibrillen. Die zwischen zwei benachbarten Z-Streifen liegende Zone einer Myofibrille wird als Sarkomer bezeichnet und gilt als kontraktile Einheit. Myofibrillen bestehen somit aus unzähligen, »in Serie« geschalteten Sarkomeren. In der Mitte der Sarkomere liegen die dicken Filamente, die polarisierendes Licht stark brechen und daher auf Längsschnitten als doppelbrechende, also anisotrope AStreifen erscheinen. Die dicken Filamente sind an ihrer Mittelzone etwas breiter. Diese breiteren Mittelzonen sind in benachbarten dicken Filamenten parallelgeschaltet und erscheinen elektronenmikroskopisch als M-Streifen. Da die Sarkomere länger sind als die dicken Filamente, enthalten sie an ihren beiden Enden nur dünne Filamente. Diese sind im polarisierenden Licht schwach brechend, sodass sich der zu beiden Seiten eines Z-Streifens liegende Anteil der Sarkomere, in dem die dünnen Filamente nicht von dicken überlappt werden, als isotroper bzw. I-Streifen darstellt. Im erschlafften Zustand sind die an benachbarten Z-Streifen befestigten dünnen Filamente eines Sarkomers zwar gegeneinander gerichtet, berühren sich jedoch nicht. Dadurch entsteht in der Mitte des Sarkomers, also dort, wo die dicken Filamente nicht von dünnen überlappt werden, die sog. H-Zone bzw. Hensen-Scheibe (⊡ Abb. 58.1).
⊡ Abb. 58.1 Aufbau der quergestreiften Skelettmuskulatur. (Aus Berger u. Hierner 2009)
1653 58.1 · Allgemeines
Physiologie des Muskels Muskelfasern entwickeln Kraft, indem sie sich verkürzen bzw. kontrahieren. Bei den mechanischen Eigenschaften des Muskels unterscheidet man aktive und passive Kräfte. Die aktive Kraft (Kontraktionskraft) eines Muskels wird durch die Anzahl der Myosinköpfe bestimmt, die am Aktinfilament angelagert und abgeknickt sind. Der Grundprozess der Kontraktion besteht aus einem Anlagern von Querbrücken zwischen Aktin- und Myosinfilamenten, einer darauf folgenden Konformationsänderung der Querbrücken, durch die die Aktinfilamente teleskopartig zwischen die Myosinfilamente hereingezogen werden, und im schließlichen Lösen dieser Querbrücken (Gleitfilamenttheorie). Dieser Vorgang wiederholt sich zyklisch. Unter ATPVerbrauch werden dadurch Verkürzungen bewirkt bzw. Kräfte entwickelt Die Dehnung des Muskels verschiebt die Stellung der der Myofilamente zueinander und ändert dadurch den Bereich der Aktin-Myosin-Überlappung. Dies beeinflusst die Kraftentwicklung (⊡ Abb. 58.2). Passive Kräfte und Elastizität werden teils durch die Stützproteine (Tintinfilamente), teils durch andere paralellelastische Elemente wie bindegewebige Strukturen zwischen den Muskelfasern
a
Spannung
b Länge
⊡ Abb. 58.2 Muskeldehnung und Kraftentwicklung. a Beziehung zwischen isotonischer Kontraktionskraft, Sarkomerlänge und Filamentüberlappung, b Ruhedehnungskurve des Muskels, c Kraft-Längen-Diagramm des Muskels (Blix-Kurve). (Aus Berger u. Hierner 2009)
c
bestimmt. Die Beziehung zwischen Länge und passiver Kraft wird durch die Ruhedehnungskurve beschrieben (⊡ Abb. 58.3). Die Beziehung zwischen aktiver und passiver Kraft und Muskellänge können in einem Arbeitsdiagramm des Muskels (nach Blix) beschrieben werden (⊡ Abb. 58.3). Durch die vorgegebenen Ansatzpunkte der Muskulatur am Skelett wird eine bestimmte Ruhelänge (Sarkomerlänge 2,0–2,2μm) erzwungen, die nur durch passive Muskeldehnung erreicht werden kann. Darüber hinaus wird die Skelettmuskellänge über Muskelspindeln (⊡ Abb. 58.4) reflektorisch nachreguliert, sodass der Arbeitsbereich hier nur über etwa 10% der In-situ-Länge passiv verändert werden kann. > Im Hinblick auf eine erfolgreiche freie funktionelle Muskeltransplantation ist die Wiederherstellung der physiologischen Ruhespannung eines Muskels von größter Bedeutung. Ein transplantierter reinnervierter Muskel verfügt nicht mehr über sein eigenes Muskelspindelsystem mit der Möglichkeit der kontinuierlichen reflektorischen Nachregulation. Darüber hinaus führt eine länger andauernde Ischämie zu strukturellen Schädigungen der Myofibrille mit Zunahme der Fibrose (passive Kräfte) und Verlust an Funktionsproteinen (aktive Kräfte; ⊡ Abb. 58.4b)
58
1654
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
Biochemie des Muskels Im Hinblick auf den unterschiedlichen Energiestoffwechsels eines Muskels, können verschiedene Muskelfasertypen unterschieden werden. Klassischerweise unterscheidet man weiße (myoglobinarme) und rote (myoglobinreiche) Muskulatur, wobei viele
Spannung passive Dehnung
totale Spannung
kontraktile Kraft
a I0=Ruhelänge
Länge
a
> Muskeln können sich Belastungen durch entsprechende
Spannung
totale Spannung
b
Verschiebungen in ihrem Stoffwechselverhalten anpassen. Dies kann bei erhaltener Innervation durch Training erreicht werden. Für die freie funktionelle Muskeltransplantation ist von Bedeutung, dass die Wahl des Spendernervs ebenfalls Bedeutung für die Muskelfunktion hat, da der Spendernerv die Funktion des Muskeltransplantats bestimmt.
passive Dehnung kontraktile Kraft I0=Ruhelänge
58
Mischformen existieren. Rote Muskeln sind langsam und enthalten hauptsächlich Typ-I-Fasern mit einer niedrigen Myosin-ATPaseAktivität. Sie sind aus diesem Grund besonders für energiesparende unermüdliche Halteleistungen geeignet. Die schnellen weißen Muskeln, die die ballistischen Bewegungen unserer Gliedmaßen bewerkstelligen, bestehen hauptsächlich aus Typ-IIA- und Typ-IIB-Fasern, deren Myosin eine hohe ATPase-Aktivität aufweist. Da diese Fasern bei der Kontraktion sehr viel ATP spalten und damit viel Energie umsetzen, ermüden sie schneller als Typ-I-Fasern. In neuerer Zeit hat sich gezeigt, dass gewisse Fasern aufgrund ihrer mechanischen Eigenschaften zwischen den langsamen und den schnellen Fasern anzusiedeln sind. Sie sind zwar zu schnellen Zuckungen fähig, aber dennoch ermüdungsresistent und werden deshalb ermüdungsresistente intermediäre Fasern genannt (⊡ Tab. 58.1).
Länge
⊡ Abb. 58.3 Länge-Spannungs-Diagramme (Blix-Kurven) zeigen die Relation zwischen der kontraktilen Kraft, dem Widerstand gegen passive Dehnung, der Gesamtspannung und der Länge einer Muskeleinheit vor und während der Kontraktion. a Muskeleinheit unter physiologischen Bedingungen, b dieselbe Einheit nach ischämischer Schädigung >3 h (die Einheit ist verkürzt, reagiert rigide auf passive Dehnung und zeigt sich geschwächt). (Aus Berger u. Hierner 2009)
Konzept der peripheren neurosensomuskulären Funktionseinheit Periphere Nerven und periphere Funktionsorgane (Muskeln, sensorische Endogane) können als eine Funktionseinheit angesehen werden, da proximale (nervale) oder distale Veränderungen zu Beeinflussungen des vor- bzw. nachgeschalteten Segments führen (⊡ Abb. 58.4).
ZNS
peripheres Nervensystem
Rückenmark peripherer Nerv
Haut
Muskel
⊡ Abb. 58.4 Neurosensomuskluäre Funktionseinheit. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Rezeptoren
1655 58.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 58.1 Einteilung der Skelettmuskelfasern. (Aus Berger u. Hierner 2009) Fasertyp
I
IIA
IIB
Farbe
Rot
Rosa
Weiß
Kontraktionsform
Langsame Zuckung
Schnelle Zuckung
Schnelle Zuckung
Ermüdbarkeit
Gering
Mittel
Rasch
Stoffwechsel
Oxdativ
Glykolytisch und oxidativ
Glykolytisch
Myosin-ATPaseAktivität
Niedrig
Hoch
Hoch
Laktatdehydrogenaseantivität
Niedrig
Mittel oder hoch
Hoch
⊡ Abb. 58.5 Histologischer Aspekt eines reinnervierten quergestreiften Muskels
58.1.2 Epidemiologie Kap. 8
58.1.4 Diagnostik
58.1.3 Ätiologie
Die exakte präoperative Diagnostik und Planung ist eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie. Die verloren gegangenen Muskelfunktionen müssen in ihrem Ausmaß bestimmt werden, die Möglichkeiten der Muskelersatzoperationen müssen im konkreten Fall geprüft werden.Sollten Restfunktionen festzustellen sein, so sind die Chancen einer Spontanbesserung zu diskutieren; z. B. ist eine gerade stattfindende Reinnervation der geschädigten Muskulatur durch mehrfache EMG-Untersuchung auszuschließen. Anamnestisch werden neben Händigkeit im Bereich der oberen Extremität, chronischen Erkrankungen (Diabestes etc.) und Nikotinkonsum vor allem die beruflichen und individuellen Notwendigkeiten des Patienten eruiert. Die klinische Untersuchung verifiziert, ob die notwendige Voraussetzungen für die erfolgreiche Wiederherstellung einer inadäquaten oder fehlenden Muskelfunktion erfüllt sein (s. unten). Die apparative Diagnostik umfasst in der Regel die konventionelle Röntgendiagnostik und die Elektroneurodiagnostik. Die Röntgenuntersuchung in 2 Ebenen der angrenzenden Gelenke des betroffenen Abschnitts dokumentiert in Ergänzung zur klinischen Untersuchung den Zustand der Gelenke und differenziert insbesondere irreversible Gelenkschädigungen von physiotherapeutisch zugänglichen Versteifungen. Der klinische Befund der Muskelfunktionen kann elektroneurografisch, besonders durch differenzierte Elektromyogrammuntersuchungen, objektiviert werden. In manchen Fällen ist es damit möglich, Reinnervationsvorgänge festzustellen und die Entscheidung über ein chirurgisches oder zunächst konservatives Vorgehen zu treffen. Die Kernspintomografie ist zur Bestimmung des Ausmaßes von Muskelschädigungen hilfreich. Eine Angiografie ist erforderlich bei pathologischen Befunden funktioneller klinischer Untersuchungen
Eine ungenügende oder fehlende Muskelfunktion kann bedingt sein durch isolierte muskuläre Insuffizienz, isolierte nervale Insuffizienz oder kombinierte neuromuskuläre Insuffizienz. Ätiologie der »inadäquaten Muskelfunktion« 1.
2.
3.
Isolierte muskuläre Insuffizienz – kongenital – erworben Isolierte nervale Insuffizienz – radukulär – trunkulär Kombinierte neuromuskuläre Insuffizienz
Die isolierte muskuläre (myogene) Insuffizienz kann bedingt sein durch kongenitale Hypo- oder Aplasie des Muskels oder einen erworbenen Muskeldefekt (Trauma, Tumor). Die Schädigung eines peripheren Nervens (neurogene Insuffizienz) im Sinne einer Axonotmesis nach Seddon bzw. Grad-III- bis -IV-Läsion nach Sunderland und einer Neurotmesis respektive Grad-V-Schädigung führt zu charakteristischen Veränderungen im »Effektororgan« Muskel. Neben der klinisch sichtbaren Muskelatrophie kommt es zu einer Abnahme der Anzahl an motorischen Endplatten. Bei länger bestehender Denervierung zeigen sich irreversible Umbauvorgänge (z. B. Fibrose), welche eine Reinnervation nach mehr als 12–18 Monaten nicht mehr erfolgreich erscheinen lassen (⊡ Abb. 58.5). Nach Lokalisation der nervalen Schädigung unterscheidet man periphere Nervenläsionen (trunkuläre Läsion mit kompletter Muskelatrophie) und Nervenläsionen im Bereich des Plexus brachialis bzw. lumbosacralis (radikuläre Läsion mit partieller Muiskelatrophie). Bei der kombinierten neuromuskulären liegt neben einer peripheren Nervenläsion auch eine direkte oder indiekte Muskelschädigung vor. Als Hauptvertreter dieser Gruppe können Folgezustände nach Volkmann-Kontraktur (⊡ Abb. 58.6), Starkstromverletzungen oder Amputationsverletzungen genannt werden.
58.1.5 Klassifikation Mit Hinblick auf das operative Vorgehen und das zu erwartende funktionelle Ergebnis lassen sich die freien funktionellen Muskeltransplantate nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen:
58
1656
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
Klassifikation der fehlenden Muskelfunktion
▬ Ausmaß der Muskelinsuffizienz
▬
▬
▬ ▬
58
– Ausfall einer Muskelgruppe (z. B. Ellenbogenbeuger, Finger-/Handgelenkbeuger, Finger/Handgelenkstrecker) – Ausfall der gesamten Extremität (z. B. Läsion des Plexus brachialis) Ätiologie – Isolierte muskuläre (myogene) Insuffizienz – Isolierte nervale (neurogene) Insuffizienz – Kombinierte neuromuskuläre Insuffizienz Ausmaß der verbleibenden Muskelkraft – »Endorganinsuffizienz«, d. h. eine verbleibende Muskelfunktion zeigt nur einen Kraftgrad <M3 – »Endorganausfall«, d. h. die Muskelfunktion fehlt komplett (M0) Anzahl der überschrittenen Gelenke – Monoartikuläre (Transfer überschreitet nur ein Gelenk) – Polyartikuläre (Transfer überschreitet mehrere Gelenke) In Abhängigkeit vom Spendernerv und/oder der Gefäßsituation – Einzeitige freie funktionelle Muskeltransplantation – Mehrzeitigen freie funktionelle Muskeltransplantation
Bei der Bewertung der funktionellen Bedeutung der fehlenden Muskelfunktion ist es von großer Bedeutung, ob es sich um eine oder merhrere Muskelgruppe(n) (z. B. Kompartmentsyndrom) oder die gesamte Extremität (komplette Läsion des Plexus brachialis) handelt. Nach der Indikation für die freie funktionelle Muskeltransplantation unterscheidet man isolierte muskuläre (myogene) Insuffizienz, isolierte nervale (neurogene) Insuffizienz oder kombinierte neuromuskuläre Insuffizienz ( Abschn. 58.1.3). Nach Ausmaß der verbleibenden Muskelkraft unterscheidet man in »Endorganinsuffizienz«, d. h. eine verbleibende Muskelfunktion zeigt nur einen Kraftgrad <M3 und eine »Endorganausfall«, d. h. die Muskelfunktion fehlt komplett (M0). Bei noch bestehender Restfunktion im Sinne einer »Endorganinsuffizienz« kann mithilfe eines freien funktionellen Muskeltransfers (im Sinne eines »Augmentationstransfers«) ein deutlich besseres funktionelles Ergebnis erzielt werden als bei komplett fehlender Funktion. Dies ist möglicherweise auf eine bessere sensomotorische Steuerung der Gelenkfunktion durch die regenerierte autochtone Muskulatur ( Abschn. 58.1.1) zurückzuführen. Im Hinblick auf die Anzahl der überschrittenen Gelenke können monoartikuläre (Transfer überschreitet nur ein Gelenk) oder polyartikuläre (Transfer überschreitet mehrere Gelenke) Transplantate unterschieden werden. Prinzipiell gilt, dass je mehr Gelenke überschritten werden, umso kleiner die Wirkung des Transfers auf das individuelle Gelenk und umso größer die Abhängigkeit der Funktion eines Gelenks von der Gelenkstellung der vor- und nachgeschalteten Gelenke. In Abhängigkeit vom Spendernerv und/oder der Gefäßsituation kann eine einzeitige oder mehrzeitige freie funktionelle Muskeltransplantation unterschieden werden: Bei der einzeitigen freien funktionellen Muskeltransplantation liegen adäquater Spendernerv und eine für den mikrochirurgischen Anschluss adäquate Gefäßsituation vor. Beim mehrzeitigen Vorgehen müssen der freien Muskeltransplantation eine oder mehrere Operationen vorausgehen, um eine adäquate neurovaskuläre Ausgangssituation zu schaffen. Zur Verbesserung der Gefäßsituation kann ein N.-saphenus-Interponat als zentrale arteriovenöse Fistel angelegt werden. Die freie funktionelle
Muskeltransplantation sollte frühestens nach 3 Wochen erfolgen. Bei einem fehlenden Spendernerv bestehen mehrere Möglichkeiten. Ist der eigentliche Spendernerv vorhanden, der distale Nervenstumpf jedoch inadäquat (z. B. Kompartmentsyndrom), empfiehlt sich eine Präparation und Resektion des Spendernervs bis ins Gesunde. Zur Überbrückung eines Substanzdefekts kann eventuell ein Nerventransplantat (s. mehrzeitiges Vorgehen) erforderlich werden. Fehlt ein adäquater Spendernerv (z. B. Läsion des Plexus brachialis) besteht die Indikation zur extraanatomischen Neurotisation, d. h. zum Gebrauch von Spendernerven, die primär eine andere Funktion haben. Wenn immer möglich sollte versucht werden eine direkte Koaptation zu erzielen (einzeitiges Verfahren). Als Axonspender dienen N. XI im Schulterbereich, Nn. intercostales 3–6 im Oberarmbeugeund streckbereich, N. ulnaris im Oberarmbeuge- (Oberlin-Transfer) und Unterarmbereich. Bei Vorliegen eines Substanzdefekts wird ein mehrzeitiges Vorgehen erforderlich. Zur Verbesserung der nervalen Ausgangssituation werden in der 1. Operation Nerventransplantate vorgelegt. Als Axonspender dienen entweder extraplexuelle Quellen (N. accessorius, N. hypoglossus, Nn. intercostales) oder Teile (dorsaler Anteil mit Faszikeln für Mm. pectorales und M. latissimus dorsi) der kontralateralen C7-Wurzel; 12–18 Monate nach der 1. Operation erfolgt die Biopsie des distalen Nerventransplantatendes zur histologischen Überprüfung der Qualität der Nervenregeneration . Neben der Qualität der Axone (motorisch/sensibel: Acethylcholinesterasereaktion) wird die Quantität (Anzahl) der Axone >6 Als oberste Grenze für eine (klinisch) schadlose Unterbrechung der Blutzufuhr werden 3 Stunden kalte Anoxiedauer angegeben.
Das Einnähen des freien Muskeltransplantats beginnt mit der Kontrolle der adäquaten Lage des neurovaskulären Stiels zu den Empfängergefäßen bzw. -nerven. Danach erfolgt das Einnähen. Bei der Transplantation ist vor allem auf die Schonung des Paratendineums zu achten, um die Gleitfähigkeit zu erhalten. Verletzungen führen zu Adhäsionen mit Funktionseinschränkungen. Um einen unnötigen Kraftverlust zu vermeiden, sollte ein möglichst gerader Verlauf gewählt werden. Ist eine Richtungsänderung notwendig, müssen Umlenkvorrichtungen (»pulley«) vorhanden sein. Die richtige Spannung des Muskel-Sehnen-Transfers spielt eine entscheidende Rolle für dessen Funktion ( Abschn. 58.1.1). Als einfachen technischen Behelf, die ursprüngliche Grundspannung des Muskels im Empfängergebiet wieder zu erreichen, haben Frey und Freilinger das Anbringen eines gespannten Fadens an der Muskeloberfläche vor Durchtrennung von Ansatz und Ursprung des Muskels empfohlen. Nach Einbringen des Muskeltransplantats in die Empfängerregion wird der Muskel so lange gespannt, bis
⊡ Tab. 58.3 Spendermuskeln für die freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität Muskel
Kraft
Bewegungsamplitude
Spenderdefekt
Indikation
M. pectoralis major
+++
10 cm
+++
Ellenbogenbeugung
M. pectoralis minor
+
+
+++
Gesicht
M. latissimus dorsi
+++
+++
++ (endoskopisch assistiert)
Ellenbogenbeugung (Gesicht)
M. gracilis
++
12 cm
+ (endoskopisch assistiert)
Gesicht Finger/Handgelenkbeugung Finger/Handgelenkstreckung Ellenbogenbeugung (Kinder)
M. recuts femoris
++
+++
+++
Ellenbogenbeugung
M. serratus anterior
+
+
++
Thenar
M. extensor digitorum brevis
+
+
+
Gesicht Thenar
58
1660
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
5cm
a
b
⊡ Abb. 58.8 Prinzip der freien funktionellen Muskeltransplantation durch Mikrogefäßanastomosen und muskelnahe Nervenkoaptation. Durch direkte neuromuskläre Implantation zusätzlicher Nervenfaszikel kann nach Freilinger u. Frey (1993) das Ergebnis der Reinnervation weiter verbessert werden. (Aus Berger u. Hierner 2009)
58
c
⊡ Abb. 58.7 Technik der Bestimmung der physiologischen Muskelspannung im Empfängergebiet (mod. nach Freilinger u. Frey), a Fixierung eines Fadens in fortlaufender Nahttechnik im Muskel mit einem Abstand zwischen zwei Einstichen von 5 cm, b Entnahme des Muskels (durch die Entspannung kommt es auch zu einer Entspannung des Markierungsfadens), c das freie funktionelle Muskeltransplantat wird im Empfängergebiet mit der Spannung eingenäht, bei der die Einstiche des Markierungsfaden wieder 5 cm voneinander entfernt sind. (Aus Berger u. Hierner 2009)
auch der Faden wieder gespannt ist. Schließlich kann der Faden wieder entfernt werden. Dabei ist wichtig zu berücksichtigen, dass die Stellung der Gelenke in Spender- und Empfängergebiet vergleichbar ist (⊡ Abb. 58.7). Durch eine muskelnahe Koaptation kann zudem die Reinnervationsdauer deutlich gesenkt werden (⊡ Abb. 58.8). Stehen nach der Nervenkoaptation noch zusätzliche Faszikel zur Reinnveration zur Verfügung, so können diese durch Implantation in den Muskel im Sinne einer direkten neuromuskulären Reinnveration im Bereich des motorischen Feldes des Muskels für ein noch günstigeres Reinnverationsergebnis genutzt werden (Technik nach Freilinger u. Frey).
Postoperative Nachbehandlung > Die prä- und postoperative Physiotherapie hat für den Erfolg der freien funktionellen Muskeltransplantation eine zentrale Bedeutung und ist deshalb integraler Bestandteil der Therapie.
Postoperativ wird die Extremität auf einer Schiene ruhiggestellt. Diese Schiene muss bis zum Einsetzen der Muskelkontraktion zum Schutz vor Überdehnung getragen werden. Eine krankengymnastische Beübung sollte frühestens nach 10 Tagen (Cave: mikrovaskuläre Gefäßanastomosen und Nervenkoaptation) beginnen. Ziel ist die Erhaltung der passiven Gelenkbeweglichkeit sowie der Gleitspalten. Durch die frühzeitige passive Physiotherapie kann die Inzidenz der Sehnenverklebungen mit subsequenter Tendolyse deutlich vermindert werden. Nach Einsetzen der aktiven Muskelfunktion nach etwa 3–6 Monaten sollte die passive Übung in eine »geführte aktive Übung« übergehen. Nach Einsetzen einer ausreichenden aktiven Bewegung, sollte das Augenmerk auf die Kräftigung der Bewegung sowie die Kontrolle der neuen Muskelfunktion gelegt werden. In diesem Stadium hat sich eine ergotherapeutische Zusatztherapie bewährt. Der Wert der funktionellen Elektrostimulation (FES) wird kontrovers diskutiert. 58.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Für die motorischen Ersatzplastiken im Kindesalter gelten die gleichen Prinzipien wie beim Erwachsenen. Folgende Besonderheiten sind zu beachten: Umgesetzte Muskeln integrieren sich bei guter Indikationsstellung hier sehr gut in den Bewegungsablauf und wachsen im Handbereich problemlos mit. Negative Auswirkungen auf das Knochenwachstum sind bei Ersatzoperationen mit einem guten funktionellen Ergebnis nicht zu erwarten. Durch die verbesserte Einsatzfähigkeit kann es sogar eher zu einer Verbesserung der Knochenstrukturen und des Längenwachstums kommen.
1661 58.2 · Spezielle Techniken
58.2
Spezielle Techniken
58.2.1 Freie funktionelle Muskeltransplantation
zum Ersatz des M. deltoideus Der Ersatz des M. deltoideus kann entweder mit einem M. gracilis (Ersatz des anterolateralen Anteils) oder mit einem M. latissimus dorsi (kompletter Ersatz) erfolgen.
resorbierbaren Nähten im Bereich des Deltoideusursprungs und des Periosts. Die proximale Sehne des M. latissimus dorsi wird unter Beachtung der Ruhespannung auf oder knapp distal des Deltoideusansatzes am Humerus in fixiert. Hier haben sich zwei kräftige Mitek-Anker bewährt. Nach Einlegen einer Redon-Drainage wird die Wunde schichtweise verschlossen. Die postoperative Nachbehandlung entsprich jener nach freiem Gracilis-Transfer (s. oben; ⊡ Abb. 58.9).
Freier funktioneller Gracilis-Transfer Die Operation erfolgt in Rückenlage. Spender- und Empfängergebiet können gleichzeitig präpariert werden. Besteht kein zusätzlicher Hautdefekt, wird ein einfaches Muskeltransplantat gehoben. Im Empfängergebiet erfolgt die Präparation der Gefäße entweder im Bereich des Sulcus deltopectoralis (A./V. thoracoacromialis) oder im infraklavikulären Bereich. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der distale Anteil des N. XI oder der N. phrenicus zur Verfügung. Wenn immer möglich, sollte eine primäre Nervenkoaptation angestrebt werden. Deshalb sollte bei der Präparation des M. gracilis sein Nerv möglichst weit nach proximal präpariert werden (Nervenlänge 10–14 cm). Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. gracilis in seinem sehnigen Anteil mit kräftigen nicht resorbierbaren Nähten im Bereich des anterolateralen Deltoideusursprungs und des Periosts. Die distale Sehne des M. gracilis wird unter Beachtung der Ruhespannung auf oder knapp distal des Deltoideusansatzes am Humerus in fixiert. Eine transossäre Verankerung der dünnen distalen Sehne hat sich bewährt. Nach Einlegen einer Redon-Drainage wird die Wunde schichtweise verschlossen. Postoperativ wird der Arm in 60° Abduktionsstellung und etwa 30° Flexion auf einer Thoraxabduktionsschiene für 6 Wochen gelagert. Anschließend kann mit passiver Physiotherapie begonnen werden. Mit Einsetzen der ersten Reinnervationszeichen nach 3–6 Monaten kann das Thoraxabduktionskissen sukzessive verkleinert werden und es erfolgt eine aktiv unterstützende Physiotherapie, welche über einen Zeitraum von 12–18 Monaten fortgesetzt werden muss.
Freier funktioneller Latissimus-dorsi-Transfer Für diese Operation ist es notwendig, den gesamten Oberkörper und die beiden oberen Extremitäten zirkulär zu desinfizieren. Für die Anästhesie bedeutet dies, dass alle Zugänge im Bereich der unteren Extremität gelegt werden müssen. Die Desinfektion geschieht am besten beim sitzenden Patienten. Nach Unterlage von sterilen Tüchern wird der Patient für den ersten Teil der Operation in Seitlage gelagert. Im 1. Schritt wird eine myokutane Latissimusdorsi-Lappenplastik von der nicht gelähmten Seite gehoben. Der Lappen bleibt im Spendergebiet gestielt und der Hebedefekt wird nach Einlage von 2 Redon-Drainagen bis auf die Axilla geschlossen. Der Patient wird nun auf seinen Rücken zurückgedreht, beide Arme werden auf einer Handtafel ausgelagert. Der M. deltoideus wird über eine bogenförmige Inzision von Spina scapulae bis Acromion dargestellt. Im Empfängergebiet erfolgt die Präparation der Gefäße entweder im Bereich des Sulcus deltopectoralis (A./V. thoracoacromialis) oder im infraklavikulären Bereich. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der distale Anteil des N. XI oder der N. phrenicus zur Verfügung. Wenn immer möglich, sollte eine primäre Nervenkoaptation angestrebt werden. Deshalb sollte bei der Präparation des M. latissimus dorsi sein Nerv möglichst weit nach proximal präpariert werden (Nervenlänge 10–14 cm). Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. latissimus – um 180° gedreht – in seinem distalen Anteil mit kräftigen nicht
58.2.2 Freie funktionelle Muskeltransplantation zur
Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung Für den Ersatz der Ellenbogenbeuger (M. biceps brachii et brachialis) sind neben dem M. gracilis, der M. latissimus dorsi und der M. rectus femoris am häufigsten beschrieben. Wegen seiner fast identischen Form im Vergleich zum M. biceps (Caput longum) wird der M. gracilis vor allem bei Kindern als Therapie der 1. Wahl eingesetzt. Aufgrund des größeren Muskelquerschnitts und somit der größeren Muskelkraft bevorzugen einige Autoren den M. latissimus dorsi bei Erwachsenen.
Freier funktioneller Gracilis-Transfer Die Operation erfolgt in Rückenlage. Spender- und Empfängergebiet können gleichzeitig präpariert werden. Bei lang bestehender Muskelatrophie besteht meist ein (relativer) Hautdefekt, weshalb oft ein myokutaner Gracilis-Lappen indiziert ist. Bei der Präparation des myokutanen Lappens ist darauf zu achten, dass die Hautinsel über den zwei proximalen Perforatoren gehoben wird, um postoperative Teilnekrosen zu vermeiden. Im Empfängergebiet erfolgt die Präparation der Gefäße entweder im Bereich des Sulcus deltopectoralis (A./V. thoracoacromialis) oder im infraklavikulären Bereich. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der distale Anteil des N. XI, der N. phrenicus oder die Nn. Intercostales 3–6 zur Verfügung. Wenn immer möglich, sollte eine primäre Nervenkoaptation angestrebt werden. Deshalb sollte bei der Präparation des M. gracilis sein Nerv möglichst weit nach proximal präpariert werden (Nervenlänge 10–14 cm). Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. gracilis in seinem proximalen sehnigen Anteil mit kräftigen nicht resorbierbaren Nähten (0 oder 1) des Processus coracoideus und der lateralen Klavikula. Die distale Sehne des M. gracilis wird unter Beachtung der Ruhespannung in PulvertaftTechnik mit der distalen Bizepssehne verbunden (⊡ Abb. 58.10). Nach Einlegen einer Redon-Drainage wird die Wunde schichtweise verschlossen. Postoperativ wird der Arm in 90° Flexionsstellung im Ellenbogen für 6 Wochen gelagert. Anschließend kann mit passiver Physiotherapie begonnen werden. Mit Einsetzen der ersten Reinnervationszeichen nach 3–6 Monaten kann die Beugung im Ellenbogengelenk sukzessive verkleinert werden und es erfolgt eine aktiv unterstützende Physiotherapie, welche über einen Zeitraum von 12–18 Monaten fortgesetzt werden muss.
Freier funktioneller Latissimus-dorsi-Transfer Für diese Operation ist es notwendig den gesamten Oberkörper und die beiden oberen Extremitäten zirkulär zu desinfizieren. Für die Anästhesie bedeutet dies, dass alle Zugänge im Bereich der unteren Extremität gelegt werden müssen. Die Desinfektion geschieht am besten beim sitzenden Patienten. Nach Unterlage von sterilen Tüchern wird der Patient für den ersten Teil der Operation in Seitlage gelagert. Im 1. Schritt wird eine myokutane Latissimusdorsi-Lappenplastik von der nicht gelähmten Seite gehoben. Nach Markierung des Muskelvorderrandes erfolgt die Anzeichnung der
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Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
a
c
58 d
b
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⊡ Abb. 58.9 Freie funktionelle M.-latissimus-dorsi-Transplantation zur Verbesserung der Abduktion im Schulterbereich bei Gewebedefekt und Verlust der Funktion des M. deltoideus. a Klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von dorsal, b schematische Darstellung der Operation, c klinischer Aspekt intraoperativ nach Einnähen des Latissimus-dorsi-Muskels, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Schulterabduktion/-flexion Ansicht von dorsal, e klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Schulterabduktion/-flexion Ansicht von lateral. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Hautinsel. Primär sollte immer eine Hautinsel mitgenommen werden, da durch die Muskelatrophie eine Schrumpfung der Haut auftritt und durch die Hautinsel ein zuverlässiges Lappenmonitoring möglich ist. Oft kann die Hautinsel teilweise oder vollständig nach 1 Jahr entfernt werden und durch die zusätzliche Spannung ein Kraftzuwachs erzielt werden. Nach Umschneiden der Hautsinsel wird diese temporär mit Nähten an dem darunter liegenden Muskel fixiert, um ein Abscheren zu verhindern. Zur Kontrolle der Muskelspannung wird ein nicht resorbierbarer Faden auf den Muskel in fortlaufender überwendlicher Technik mit einem Stichabstand von 5 cm fixiert. Für eine bessere distale Veranke-
rung sollte distal die Fascia thoracolumbalis mitgehoben werden. Dorsal erfolgt die Abtrennung im sehnigen Bereich, um eine Blutungsneigung gering zu halten. Nach Präparation des Gefäß-Nerven-Stiels wird der Sehnenansatz im Humerusbereich dargestellt und mit einer Naht angeschlungen. Das Spendergebiet wird nach sorgfältiger Blutstillung und Einlage zweier Redon-Drainagen bis auf die Axilla verschlossen. Nach Umlagerung des Patienten auf den Rücken erfolgt nun die Präparation im Empfängergebiet mit Darstellung der A. und V. brachialis bzw. distale A. et V. axillaris und dem geeigneten Spendernerv. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der distale Anteil des N. XI, der N. phrenicus oder
1663 58.2 · Spezielle Techniken
elle Anschluss erfolgt entweder End-zu-End mit einem Ast oder (bevorzugt) End-zu-Seit an die V. bzw. A. brachialis respektive V. bzw. A. axillaris. Die Nervenkoaptation erfolgt zum Schluss. Nach Einlage von zwei Drainagen unterhalb des Lappens erfolgt der Hautschluss. Postoperativ wird eine dorsale Oberarmgipsschiene mit Handgelenkeinschluss und Schulterkappe (bipolare Verlagerung) angelegt (⊡ Abb. 58.11). 58.2.3 Freie funktionelle Muskeltransplantation
zur Wiederherstellung der Handgelenk- und Fingerbeuger Der Ersatz der Handgelenk- und Fingerbeuger kann entweder mit einem M. gracilis (Therapie der 1. Wahl) oder mit einem M.latissimus-dorsi (Therapie der 2. Wahl) erfolgen.
Freier funktioneller Gracilis-Transfer
⊡ Abb. 58.10 Schematische Darstellung der freien funktionellen Transplantation einer myokutanen Gracilis-Lappenplastik zur Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung. (Aus Berger u. Hierner 2009)
die Nn. Intercostales 3–6 zur Verfügung. Wenn immer möglich, sollte eine primäre Nervenkoaptation angestrebt werden. Zusätzlich müssen der Proc. coracoideus und die distale Bizepssehne präpariert und eventuell bereits mit nicht resorbierbaren Nähten angeschlungen werden. Nach Beendigung der Präparation im Empfängergebiet werden Sehnenansatz und Gefäß-NervenStiel durchtrennt. Gleichzeitig mit dem Einnähen des Lappens im Empfängergebiet erfolgt der Verschluss der Axilla durch ein zweites Operationsteam. Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. latissimus dorsi mit seinem proximalen sehnigen Anteil mit kräftigen nicht resorbierbaren Nähten (0 oder 1) des Processus coracoideus und der lateralen Klavikula. Die distale Sehne des M. latissimus wird unter Beachtung der Ruhespannung mit der distalen Bizepssehne verbunden. Meist ist der Muskel zu lang und der distale Anteil mit der Fascia thoracolumbalis kann als Arcus fibrosus mit der Unterarmfaszie am medialen proximalen Unterarm zusätzlich vernäht werden. Der venöse und arteri-
Die Operation erfolgt in Rückenlage. Spender- und Empfängergebiet können gleichzeitig präpariert werden. Im Unterarmbereich hat es sich bewährt, primär eine myokutane Gracilis-Lappenplastik zu verwenden, da durch die Muskelatrophie eine Schrumpfung der Haut auftritt und durch die Hautinsel ein zuverlässiges Lappenmonitoring möglich ist. Oft kann die Hautinsel teilweise oder vollständig nach 1 Jahr entfernt wrden und durch die zusätzliche Spannung ein Kraftzuwachs erzielt werden. Bei der Präparation des myokutanen Lappens ist darauf zu achten, dass die Hautinsel über den zwei proximalen Perforatoren gehoben wird, um postoperative Teilnekrosen zu vermeiden. Bevor der Muskel proximal und distal im sehnigen Anteil durchtrennt wird, ist ein Faden in Längsrichtung der Muskelfasern von einem Ende zum anderen zu fixieren. Auf diese Weise wird die Muskelgrundspannung festgehalten, die nach der Transplantation in sein neues Lager sorgfältig zu beachten ist. Im Empfängergebiet erfolgt die Präparation der A. und V. brachialis, sowie des Spendernervs. Im Falle eines Folgezustandes nach Volkmann-Kontraktur sollte der motorische Ast des N. medianus bis in gesundes Gewebe freipräpariert werden. Im Falle einer Plexusläsion muss der distale Stumpf des vorgelegten Nerventransplantats dargestellt werden. Wenn immer möglich, sollte eine primäre Nervenkoaptation angestrebt werden. Die Koaptation sollte so nah wie möglich am Muskel erfolgen, um die Reinnervationsdauer zu verkürzen. Im Handgelenkbereich müssen die Beugesehen der Finger und des Daumens dargestellt werden. Die Sehne des M. flexor pollicis longus sollte aus seinem Verlauf im Thenarbereich luxiert und subkutan über der (atrophischen) Thenarmuskulatur verlaufen, um auch eine gewisse Oppositionsbewegung erzielen zu können. Die Sehnen der Finger sollten im distalen Unterarmbereich derart vereint werden, dass eine natürliche Fingerhaltung in Mittelstellung entsteht. Einige Autoren verwenden nur die tiefen Fingerbeuger, andere sowohl die tiefen als auch die oberflächlichen. Nach Beendigung der Präparation im Empfängergebiet werden Sehnenansatz und Gefäß-Nerven-Stiel der M.-gracilis-Lappenplastik durchtrennt. Gleichzeitig mit dem Einnähen des Lappens im Empfängergebiet erfolgt der Verschluss im Oberschenkelbereich durch ein zweites Operationsteam. Eine leicht kompressive Wickelung der operierten Extremität bis zum Oberschenkel für 7–10 Tage hat sich bewährt. Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. gracilis mit seinem proximalen sehnigen Anteil mit kräftigen nicht resorbierbaren Nähten im Bereich des Septum intermusculare mediale am distalen Oberarm. Die distale Sehne des M. gracilis wird in zwei Anteile geteilt und unter Beachtung der Ruhespannung mit der Sehne des Flexor pollicis longus und
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a
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A., V. und N. thoracodorsalis
c
b
⊡ Abb. 58.11 Wiederherstellung der Ellenbogenbeugefunktion durch mehrzeitige mikrochirurgische Rekonstruktion mithilfe eines freien funktionellen myokutanen Latissimus-dorsi-Transplantats (Fundus PHW Hannover). a Schema: Patientenlagerung zur Entnahme des myokutanen freien Latissimus-dorsiLappens, b Fixierung des nicht resorbierbaren Fadens zu Bestimmung der physiologischen Muskelspannung im Empfängergebiet, c schematische Darstellung der Operation, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ellenbogenstreckung, e klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ellenbogenbeugung. (Aus Berger u. Hierner 2009 [a–c])
d
e
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a
b
c
d
N. medianus M. brachioradialis N. interosseus anterior
e
M. pronator teres FDS- und FDP-Sehnen
N. ulnaris FCU A. ulnaris
f
g
⊡ Abb. 58.12a–g Sekundäre Funktionsverbesserung der Handfunktion mithilfe eines freien funktionellen myokutanen Gracilis-Transfers zum palmaren Unterrarm nach Mehretagen-Amputationsverletzung mit proximaler subtotaler Amputation im Oberarm und distaler zusätzlicher Amputation im mittleren Unterarmdrittelbereich bei einem 24-jährigen Handarbeiter. a Röntgenbefund am Unfalltag postoperativ (d. p.), b klinischer Aspekt 1 Jahr nach MehretagenReplantation (Oberarm und mittleres Unterarmdrittel), c klinischer Aspekt intraoperativ: Lappenplanung im Oberschenkelbereich, d Schema: Anatomie und Lappenplanung, e schematische Darstellung des intraoperativen Aspektes nach Abschluss der Präparation, f Rerouting der FLP-Sehne zur Erzielung einer zusätzlichen Oppositionsbewegung bei Daumenflexion, g Schema: Lappeneinnähung distal: Finger und Daumen sollten wenn immer möglich unabhängig voneinander fixiert werden
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Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
h
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⊡ Abb. 58.12h–k h Schema: Ende der Lappeneinnähung mit Kontrolle der Muskelruhespannung mithilfe von Markierungsnähten, i klinischer Aspekt postopertiv, j Funktion 2 Jahre nach freiem funktionellem Gracilis-Transfer und Resektion der Hautinsel des Gracilis-Lappens: Faustschluss, k Funktion 2 Jahre nach freiem funktionellem Gracilis-Transfer und Resektion der Hautinsel des Gracilis-Lappens: Fingerstreckung. (Aus Berger u. Hierner 2009 [d–h])
dem Beugesehnenpaket der Fingerbeuger in Pulvertaft-Technik verbunden. Der venöse und arterielle Anschluss erfolgt entweder End-zu-End mit einem Ast oder (bevorzugt) End-zu-Seit an die V. bzw. A. brachialis. Die Nervenkoaptation erfolgt zum Schluss. Nach Einlegen einer Redon-Drainage wird die Wunde schichtweise verschlossen. Postoperativ erfolgt die Lagerung auf einer Oberarmschiene mit Hand in Intrinsic-plus-Stellung und Ellenbogen in 90° Flexionsstellung für 6 Wochen. Anschließend kann mit passiver Physiotherapie begonnen werden. Mit Einsetzen der ersten Reinnervationszeichen nach 3–6 Monaten kann die Beugung im Ellenbogengelenk sukzessive verkleinert werden und es erfolgt eine aktiv unterstützende Physiotherapie, welche über einen Zeitraum von 12–18 Monaten fortgesetzt werden muss (⊡ Abb. 58.12).
Freier funktioneller Latissimus dorsi-Transfer Vorbereitung des Patienten und Präparation des myokutanen Latissimus-dorsi-Lappens entsprechen dem in Abschn. 58.2.2 dargestellten Vorgehen. Die Präparation des Empfängergebietes erfolgt analog dem Vorgehen bei Gracilis-Transplantation. Da der M. latissimus dorsi länger ist als der Unterarm, muss er entweder höher im Oberarmbereich fixiert oder in seinem distalen muskulären Bereich gekürzt werden. Für eine zuverlässige Blutstillung und eine bessere Fixierung der Beugesehnenstümpfe hat sich eine fortlaufende Steppnaht im Bereich des distalen Muskelrandes bewährt.
k
Im Gegensatz zum M. gracilis müssen Daumen- und Fingerbeuger gemeinsam eingenäht werden. Die distale Fixierung erfolgt – unter Beachtung der adäquaten Muskelgrundspannung – im Sinne eines Umwickelns der Beugesehnen und Durchsteppens mit (nicht resorbierbarem) Nahtmaterial. Der venöse und arterielle Anschluss erfolgt entweder End-zu-End mit einem Ast oder (bevorzugt) End-zu-Seit an die V. bzw. A. brachialis. Die Nervenkoaptation erfolgt zum Schluss. Nach Einlegen einer Redon-Drainage wird die Wunde schichtweise verschlossen. Im distalen Unterarmbereich kann eine zusätzliche Hauttransplantation notwendig werden. Um postoperative Verklebungen zu vermeiden, ist darauf zu achten, dass die distale Sehnenverankerung von der Hautinsel bedeckt ist und nicht unter dem Hauttransplantat liegt. Die postoperative Nachbehandlung entspricht jener nach M.-gracilis-Transplantation (⊡ Abb. 58.13). 58.2.4 Freie funktionelle Muskeltransplantation
zur Wiederherstellung der Handgelenk- und Fingerstrecker Für die Wiederherstellung der aktiven Handgelenk- und Fingerstreckung haben sich ebenfalls der M. gracilis (1. Wahl) und M. latissimus dorsi (2. Wahl) bewährt.
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⊡ Abb. 58.13 Freie funktionelle myokutane Latissimus-dorsi-Transplantation zum Ersatz der Handgelenk- und Fingerbeugung nach posttraumatischer Läsion des Plexus brachialis. Klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Das freie funktionelle Muskeltransplantat wird proximal im Bereich des Septum intermusculare laterale oder am Epicondylus lateralis befestigt. Distal erfolgt die Vereinigung der Endsehne mit den Sehnen des M. extensor digitorum communis und der Sehne des M. extensor digitorum longus. Durch funktionelle Teilung der Muskeltransplantate kann oft eine weitgehend unabhängige Funktion beider Sehnen erreicht werden. Postoperativ erfolgt die Ruhigstellung auf einer dorsalen Oberarmgipsschiene mit Fingereinschluss in Intrinsic-plus-Stellung. 58.2.5 Freie funktionelle Muskeltransplantation
zum Ersatz des M. opponens Für die Wiederherstellung der aktiven Oppositionsfunktion bei fehlender Möglichkeit eines Sehnentransfers oder im Sinne eines Augmentationstransfers wurden der M. serratus anterior und der M. flexor hallucis brevis (FHB) beschrieben. Wegen des großen Spenderdefektes führen wir den FHB-Transfer nicht durch. Der M. seratur anterior eignet sich vor allem im Sinne eines Augmentationstransfers bei ausgedehnten Thenardefekten mit gewisser Restfunktion gut für die Defektdeckung. Durch die zusätzliche Nervenkoaptation kann auch eine gewisse aktive Beweglichkeit zusätzlich gewonnen werden. Vorbereitung des Patienten und Präparation des myokutanen Latissimus-dorsi-Lappens entsprechen dem in Abschn. 58.2.2 dargestellten Vorgehen. Zur Verminderung der Ischämiedauer verbleibt der Muskellappen an seinem neurovaskulären Stiel so lange in situ, bis das Empfängergebiet im Handbereich dargestellt ist. Zur Prävention einer Kontraktur der 1. Kommissur werden zwei Kirschner-Drähte zwischen Metakarpale I und II eingebracht. Nach vorsichtiger Ligatur und Sektion des Gefäß-Nerven-Stieles wird der Muskellappen in den Handbereich transferiert. Gleichzeitig mit dem Einnähen des Lappens im Empfängergebiet erfolgt der Verschluss der Axilla durch ein zweites Operationsteam. Der Muskellappen wird parallel zum Faserverlauf der Thenarmuskulatur in physiologischer Muskelspannung eingenäht. Die Anastomose der Lappenarterie erfolgt in End-zu-Seit-Technik an die A. radialis
oder A. ulnaris, die der Lappenvene(n) in End-zu-End-Technik an oberflächliche oder tiefe Venen im Unterarmbereich. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der motorische Thenarast oder der Endast des N. interosseus anterior vor Eingang in den M. pronator quadratus zur Verfügung. Eine zusätzlich erforderliche Hauttransplantation (mitteldicke Spalthaut oder Vollhaut) kann entweder einzeitig während derselben Operation oder zweizeitig 3 – 5 Tage später erfolgen (⊡ Abb. 35.17). Postoperativ wird die Hand für 10–14 Tage auf einer Unterarmschiene mit etwa 30° Streckung im Handgelenkbereich ruhiggestellt. Die Kirschner-Drähte im Bereich der 1. Kommissur werden nach 6 Wochen entfernt. 58.2.6 Freie funktionelle Muskeltransplantation
zur gleichzeitigen Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung, Handgelenkund Fingerbeugung Bei kompletter Läsion des Plexus brachialis (C5–T1) kann versucht werden mithilfe eines einzigen Muskeltransplantates in Kombination mit einer gegenseitigen Tenodese eine gewisse Basisfunktion der Extremität wiederherzustellen. Die Wiederherstellung dieser Globalfunktion erfolgt mithilfe des M. latissimus dorsi. Vorbereitung des entspricht dem Abschn. 58.2.3 beschriebenen Vorgehen. Nach Beendigung der Präparation im Empfängergebiet werden Sehnenansatz und Gefäß-Nerven-Stiel durchtrennt. Gleichzeitig mit dem Einnähen des Lappens im Empfängergebiet erfolgt der Verschluss der Axilla durch ein zweites Operationsteam. Nach Kontrolle der Stiellage erfolgt die Fixation des M. latissimus dorsi mit seinem proximalen sehnigen Anteil mit kräftigen nicht resorbierbaren Nähten (0 oder 1) des Processus coracoideus und der lateralen Klavikula. Zur Vermeidung eines Bogenschnurphänomens muss der Muskel im Bereich der Ellenbogenbeuge unterhalb einer Umlenkvorrichtung durchgezogen werden. Hierfür hat sich der M. flexor carpi ulnaris bewährt. Das Muskeltransplantat wird im mittleren Unterarmbereich unter Beachtung der Ruhespannung mit den Beugesehnen der Finger und
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1668
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
a
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c
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⊡ Abb. 58.14 Schematische Darstellung der freien funktionellen M.-latissimus-dorsi-Transplantation zur Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung, Handgelenk- und Fingerbeugung in Kombination mit einer streckseitigen Tenodese (Fundus PHW Hannover) a Schematische Darstellung der Operation, b Tenodese der Handgelenk- und Fingerstrecksehnen im distalen Unterarmbereich als zusätzlicher Eingriff für einen freien funktionellen Muskeltransfer zum Ersatz der Handgelenkstrecker und extrinsischen Fingerstrecker, c klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Ellenbogenbeugung, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Handgelenk und-Fingerstreckung (Tenodeseeffekt nach Anspannung des freien Muskeltransplantats). (Aus Berger u. Hierner 2009 [a, b])
des Daumens analog der in Abschn. 58.2.3 beschriebenen Technik befestigt. Da nur auf einer Seite eine aktive Bewegung ausgeführt wird, müssen die Öffnung der Finger und die Streckung des Handgelenks mithilfe eines Tenodeseeffektes erfolgen. Hierzu wird auf der Dorsalseite eine Tenodese der Handgelenk- und Fingerstrecker durchgeführt. Die Öffnung der Hand erfolgt durch Anspannen des Muskeltransplantats, die primitive Greiffunktion durch Relaxation. Der venöse und arterielle Anschluss erfolgt entweder End-zu-End mit einem Ast oder (bevorzugt) End-zuSeit an die V. bzw. A. brachialis respektive V. bzw. A. axillaris. Die Nervenkoaptation erfolgt zum Schluss. Für die Nervenkoaptation stehen entweder der distale Anteil des N. XI oder die Nn. Intercostales 3–6 zur Verfügung. Nach Einlage von zwei Drainagen unterhalb des Lappens erfolgt der Hautschluss. Postoperativ wird eine dorsale Oberarmgipsschiene mit Handgelenk und Finger in Intrinsic-plus-Stellung, Ellenbogen in 90° Flexion und Schulterkappe (bipolare Verlagerung) für 6 Wochen angelegt. Anschlie-
ßend kann mit passiver Physiotherapie begonnen werden. Mit Einsetzen der ersten Reinnervationszeichen nach 3–6 Monaten kann die Beugung im Ellenbogengelenk sukzessive verkleinert werden und es erfolgt eine aktiv unterstützende Physiotherapie, welche über einen Zeitraum von 12–18 Monaten fortgesetzt werden muss (⊡ Abb. 58.14). 58.2.7 Kombinierte freie funktionelle
Muskeltransplantation zur Rekonstruktion einer Basisfunktion bei kompletter Läsion des Plexus brachialis nach DOI Durch die sequenzielle freie funktionelle Muskeltransplantation ist es möglich, bei einem Teil der Patienten eine aktive Ellenbogenbeugung und primitive Greiffunktion zu erzielen. In der ersten Operation erfolgt ein freier funktioneller Gracilis-Transfer zur
1669 58.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
a
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⊡ Abb. 58.15 Schematische Darstellung der kombinierten freien funktionellen Muskeltransplantation zur Rekonstruktion einer Basisfunktion bei kompletter Läsion des Plexus brachialis nach DOI. a 1. Schritt: Wiederherstellung der aktiven Ellenbogenbeugung und Handgelenk- und Fingerstreckung, b 2. Schritt: Wiederherstellung der aktiven Handgelenk- und Fingerbeugung, c Möglichkeiten der Nervenkoaptation. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Wiederherstellung der aktiven Ellenbogenbeugung und gleichzeitig der Handgelenk- und/oder Fingerstreckung (Modifikation nach Bishop). Als Axonspender für die Nervenkoaptation stehen der N. XI, der N. phrenicus und die Nn. intercostales 3–6 zur Verfügung. In einer zweiten Operation nach 3–6 Monaten erfolgt eine weitere freie Gracilis-Transplantation zur Wiederherstellung der aktiven Handgelenk- und Fingerbeugung. Hierfür stehen als Axonspender die Nn. intercostales zur Verfügung (⊡ Abb. 58.15). 58.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
Neben Blutung, Wundheilungsstörung und Infektion stellt der Gefäßverschluss die gravierendste Komplikation dar. Bei einer Thrombose muss die operative Revision so schnell wie möglich erfolgen. Eine warme Ischämie von mehr als 3 Stunden führt zu signifikanten strukturellen Veränderungen im Muskel mit deutlicher Funktionsminderung. Im Falle einer postoperativen Thrombose hat es sich gezeigt, dass die revidierten Transplantate in allen Serien die schlechtesten Ergebnisse erbracht haben. Deshalb befürworten einige Autoren die primäre Explantation und Durchführung einer neuen freien funktionellen Muskellappenplastik. 58.3.1 Funktionell ungenügendes Ergebnis trotz
großem therapeutischen Aufwand Bei der Bewertung der Ergebnisse ist es wichtig die Ausgangssituation vor freier funktioneller Muskeltransplantation zu berücksichtigen. Nach Ausmaß der verbleibenden Muskelkraft unterscheidet man in »Endorganinsuffizienz«, d. h. eine verbleibende Muskelfunktion zeigt nur einen Kraftgrad <M3, und »Endorganausfall«,
d. h. die Muskelfunktion fehlt komplett (M0). Bei noch bestehender Restfunktion im Sinne einer »Endorganinsuffizienz« kann mithilfe eines freien funktionellen Muskeltransfers (im Sinne eines Augmentationstransfers) ein deutlich besseres funktionelles Ergebnis erzielt werden als bei komplett fehlender Funktion. Dies ist möglicherweise auf eine bessere sensomotorische Steuerung der Gelenkfunktion durch die regenerierte autochtone Muskulatur ( Abschn. 58.1.1) zurückzuführen. Die frühzeitige freie funktionelle Muskeltransplantation bei isolierter muskulärer (myogener) Insuffizienz zeigt i. Allg. die besten Resultate, da eine adäquate autochtonen Gefäß-Nerven-Versorgung vorliegt und meist keine sekundären Veränderungen (Gelenksteifen, Fibrose etc.) vorliegen. Die funktionellen Ergebnisse nach freier funktioneller Muskeltransplantation bei kompletter Läsion des Plexus brachialis (neurgogene Insuffizienz) und Folgezustand nach Kompartmentsyndrom (gemischte neuromuskuläre Insuffizienz) zeigen eine große Streubreite. Zur Bewertung der Ergebnisse ist die Erfassung der Bewegungsamplitude, Kraft (Klassifikation des MRC) und der Ausdauer sowie die Steuerbarkeit der zurückgewonnenen Bewegung wichtig. Für die Bewertung der Ellenbogenbeugung und Handgelenk- und Fingerbeugung wird international oft die Klassifikation nach DOI (⊡ Tab. 58.4) angewendet. Für die Rekonstruktion der Funktion des M. deltoideus besteht keine größere Serie in der Literatur. Interessanterweise können außergewöhnliche Ergebnisse für die Abduktions-Flexions-Bewegung sporadisch erzielt werden, die nicht durch die intensive postoperative physiotherapeutische Begleittherapie erklärbar sind. Die funktionelle Wiederherstellung der Ellenbogenbeugefunktion (M4 und mehr) sollte bei isolierter myogener Insuffizienz bei allen Patienten möglich sein. Meist sind hier noch Rest-Beugefunktionen erhalten. Darüber hinaus bestehen eine Anzahl von Muskel-Sehnen-Transpositionen aus dem Stammbereich. Die Er-
58
1670
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
⊡ Tab. 58.4 Klassifikation der Funktion nach freier funktioneller Muskeltransplantation zur Rekonstruktion der Ellenbogenbeugung und Handgelenkund Fingerbeugung nach Medical Research Council und DOI. (Aus Berger u. Hierner 2009) Medical Research Council (MRC)
DOI
M0
Keine Muskelaktivität
Keine Muskelaktivität
M1
Sichtbare Kontraktion ohne Bewegungseffekt
Reinnervation im EMG, keine Gelenkbewegung
M2
Bewegung unter Ausschaltung der Schwerkraft des abhängigen Gliedabschnittes
Sichtbare Gelenkbewegung – Keine Ellenbogenbeugung gegen Schwerkraft: AROM 90; hebt 2 kg Gewicht >30-mal – Fingerbeugung/-streckung: TAM >90° aus vollständiger Streckung oder Beugung; hebt 5 kg Gewicht mit einer Hand
S0
Keine Sensibilität
Keine Wiederkehr der Sensibilität in der autonomen Zone
S1
Tiefe kutane Sensibilität (Schmerzempfindung) in der autonomen Zone
Tiefensensibilität Schmerz (Nr. 20: rot Semmes-Weinstein-Test)
S2
Gewisse oberflächliche kutane Schmerzempfindung und taktile Sensibilität in der autonomen Zone
Oberflächensensibilität: Schmerz und taktile Sensibilität in der autonomen Zone
Motor
58 Sensibilität
S2+
S3
S3*
S4
Gewisse Wiederkehr der statischen 2PD (15 mm), Rückgang der Überempfindlichkeit
Wie S3, dazu auch ein gewisse 2PD in der autonomen Zone
Statische 2PD (7–15 mm) (Nr. 6: blau Semmes-Weinstein-Test)
Normale Sensibilität
Vollständige Wiederkehr der statischen 2PD (2–6 mm) (Nr. 4: grün Semmes-Weinstein-Test)
AROM »avtive range of motion«, TAM »total active motion«; 2PD 2-Punkte-Diskrimination
folgsrate der freien funktionellen Transplantation sollte >75% sein. Eine Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung nach kompletter Läsion des Plexus brachialis kann in 50–75% erwartet werden. Für die Wiederherstellung der Ellenbogenbeugung im Rahmen eines doppelten freien funktionellen Muskeltransfers nach DOI wird mit etwa 60% ein niedrigerer Wert angegeben. Eine funktionale Handgelenk- und Fingerbeugung kann nach freier funktioneller Muskeltransplantation bei Folgezustand nach Volkmann-Kontraktur in etwa 75% erzielt werden. Mithilfe einer doppelten freien funktionellen Muskeltransplantation nach DOI kann bei kompletter Plexusläsion in weniger als 50% eine pri-
mitive Greiffunktion erzielt werden. Für die Rekonstruktion der Handgelenk- und Fingerbeugung nach Nervenregeneration bestehen keine größeren Serien. Die eigene Erfahrung zeigt, dass eine primitive Greiffunktion meist nicht erreicht werden kann. Sollte nach freier funktioneller Muskeltransplantation der Kraftgrad M3 nicht erreicht werden, ist es heute jedoch bereits möglich durch myoelektrische Orthesen die gewünschte Bewegung zu unterstützen. Die Muskelzuckung bzw. die rudimentäre Bewegung löst einen Impuls aus, wodurch die Orthese die gesamte Bewegungsampliutude nach dem »Alles-oder-Nichts-Prinzip« vervollständigt (⊡ Abb. 58.16).
1671 Weiterführende Literatur
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Weiterführende Literatur Akasaka Y, Hara T, Takahashi M (1991) Free muscle transplantation combined with intercostal nerve crossing for reconstruction of elbow flexion and wrist extension in brachial plexus injuries. Microsurgery 12: 346–351 Aryian S (1979) The pectoralis major myocutaneous flap. A versatile flap for reconstruction in the head and neck. Plast Reconstr Surg 63:73–81 Barrie KA, Steinmann SP, Shin AY, Spinner RJ, Bishop AT (2004) Gracilis free muscle transfer for restoration of function after complete brachial plexus avulsion. Neurosurg Focus 16: 1– 9
d
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⊡ Abb. 58.16 Augmentation einer rudimentären Bewegung nach freiem funktionellem Gracilis-Transfer zur Wiederherstellung der aktiven Handgelenk- und Fingerbeugung bei einem Patienten mit posttraumatischer Läsion des Plexus brachialis mithilfe einer myoelektrischen Orthese. a Klinischer Aspekt präoperativ, b klinischer Aspekt intraoperativ, c klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Faustschluss, d klinischer Aspekt 1 Jahr postoperativ: Fingerstreckung, e klinischer Aspekt der Orthese, f Funktionsbild mit Orthese: Fingerstreckung, g Funktionsbild mit Orthese: Faustschluss
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58
1672
58
Kapitel 58 · Freie funktionelle Muskeltransplantation im Bereich der oberen Extremität
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1673 58.3 · Weiterführende Literatur
Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie) Andreas Gohritz, István Turcsányi, Jan Fridén
59.1
Allgemeines – 1674
59.1.1 59.1.2 59.1.3 59.1.4 59.1.5 59.1.6 59.1.7 59.1.8 59.1.9
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1674 Epidemiologie – 1675 Ätiologie – 1676 Diagnostik – 1676 Klassifikation – 1679 Indikationen und Differenzialtherapie – 1680 Therapie – 1680 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1683 Ergebnisse – 1684
59.2
Spezielle Techniken
59.2.1 59.2.2 59.2.3 59.2.4 59.2.5
Wiederherstellung der Ellbogenstreckung (Trizepsfunktion) Wiederherstellung der Unterarmpronation – 1687 Wiederherstellung der Greiffunktion – 1688 Zusatzeingriffe bei Spastik – 1691 Zusatzperspektiven – 1692
– 1685
59.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1693
59.3.1 59.3.2 59.3.3 59.3.4 59.3.5
Wahl eines zu schwachen Spenders – 1693 Falsche Spannung des Spendermuskels – 1693 Verklebungen von Sehnen und Muskeln – 1693 Fehler in der Nachbehandlung – 1693 Postoperative Deformitäten – 1693
Weiterführende Literatur
– 1694
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 1685
59
1674
59.1
59
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
Allgemeines
Kaum eine andere Verletzung verändert das Leben so schlagartig und umfassend wie eine hohe Querschnittslähmung. Oft innerhalb eines Augenblicks verlieren vorwiegend junge und aktive Menschen teilweise oder vollständig die Kontrolle über Motorik und Sensibilität aller vier Extremitäten und wichtige Funktionen ihres autonomen Nervensystems. Liegt die Rückenmarkverletzung im Halsmarkbereich, also zwischen dem 1. Zervikal- und dem 1. Thorakalsegment, spricht man von einer Tetraplegie (griechisch: tetra = vier und plege = Schlag), weil die motorische Lähmung nicht nur die Beine, sondern zumindest teilweise auch Arme und Hände betrifft. Eine Heilung ist bei Querschnittslähmung derzeit und in absehbarer Zeit nicht in Sicht. Die Restfunktion an Arm und Hand ist neben dem Gehirn für die Betroffenen die entscheidende Ressource. Sie bestimmt den Grad der Unabhängigkeit von fremder Hilfe, ihre Wiedererlangung wird von den meisten Tetraplegikern als wesentlich wichtiger eingestuft als die Kontrolle über Darm und Blase, die Sexualfunktion und die Lähmung der unteren Gliedmaßen. Die Wiederherstellung von Grundfunktionen der oberen Extremität ermöglicht eine wesentliche Steigerung der Gebrauchsfähigkeit und damit mehr Selbstständigkeit, Mobilität sowie eine Reduktion des Pflege- und Kostenaufwandes. Das Bewusstsein um die Wichtigkeit dieser Rehabilitationsziele hat in den letzten 30 Jahren, vor allem durch die Pionierleistungen von Erik Moberg aus Schweden, zur Etablierung von zuverlässigen chirurgischen Strategien geführt.
» Their hands are their life! (Erik Moberg) « Die Tetraplegiechirurgie ist in einigen Ländern, z. B. Schweden und Frankreich, fester Bestandteil der Versorgung tetraplegischer Patienten, die in etwa 70% von diesen Operationen profitieren können. In anderen Ländern sind die Möglichkeiten, das verbliebene motorische Potenzial an Schulter, Arm und Hand durch chirurgische Eingriffe optimal einzusetzen, kaum bekannt und nur eine Minderheit der Patienten wird adäquat informiert und operiert. In den USA geht man von etwa 14% aller möglichen Kandidaten aus, in vielen europäischen Ländern, auch Deutschland, dürfte der Anteil noch geringer sein. Auf der anderen Seite hat die verbesserte Akut- und Sekundärversorgung die Überlebensrate nach Rückenmarkverletzungen erheblich erhöht und zu einer Steigerung der Lebenserwartung der Betroffenen geführt und viele Patienten können sich, z. B. über das Internet, selbstständig umfassender über mögliche Therapien informieren. Dies wird die Nachfrage nach einer chirurgischen Funktionsverbesserung der oberen Extremität bei Tetraplegikern in Zukunft noch steigern. 59.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Die Art eines möglichen Eingriffs und das zu erwartende Ergebnis sind stark von der Höhe der Querschnittlähmung abhängig. Beim hohen Halsmarkquerschnitt besteht eine Tetraplegie und, falls über C4, auch eine vollständige Atemlähmung, die, wenn der Patient nicht sofort intubiert und beatmet wird, zum Tode führt. Oft ergibt sich nach einer primär angenommenen C3-Verletzung eine spätere Erholung von C4 mit Rückkehr der Zwerchfellfunktion.
Durch eine Thrombose der A. spinalis anterior kann beim traumatischen Halsmarkquerschnitt das neurologische Niveau sekundär ansteigen und zu bulbären Symptomen und zu Störungen der Temperaturregulierung mit Temperaturanstieg bis zu 40°C führen. Bei einem Läsionsniveau in Höhe von C4 und oberhalb kann derzeit keine Funktionsverbesserung durch chirurgische Maßnahmen erreicht werden (⊡ Abb. 59.1). Da mit C5 die oberste Wurzel des Plexus brachialis intakt bleibt, besteht eine Minimalfunktion der oberen Extremität. Der M. deltoideus und Teile des M. biceps brachii bleiben in ihrer Funktion erhalten. Deshalb sind im Schulterbereich Abduktion, Flexion und Extension und im Ellbogenbereich die Flexion erhalten. Diese Bewegungen sind aber meist zu schwach, um funktionell einsetzbar zu sein, weshalb die Patienten nur selten in der Lage sind, eigenständig mit dem Rollstuhl zu fahren. Bei einer Läsion in Höhe von C5 bleibt die Fähigkeit der Armbeugung – und damit die Hand zum Mund zu führen – erhalten. Zum Greifen muss der Oberkörper jedoch mit einem Arm festgehalten oder am Rollstuhl eingehakt werden, sodass der Geschädigte meist nur eine Hand zum Greifen benutzen kann. Darüber hinaus ist auch die respiratorische Reserve sehr gering (⊡ Tab. 59.1). Bei intakten Wurzeln C5 und C6 sind die Muskeln im Schulterbereich, die Ellbogenbeugung und die Handgelenkstreckung (M. extensor carpi radialis longus et brevis) vorhanden und kräftig. Der Patient kann sich eigenständig im Rollstuhl fortbewegen. Unterbrechungen in Höhe C6 erlauben den Einsatz beider Arme, da der M. latissimus dorsi den Oberkörper im Rollstuhl ausreichend stabilisiert. Die Handgelenkstreckung ist möglich, ebenso die Unterarmdrehung, der M. triceps (C7) ist jedoch meist ausgefallen. Daher müssen die Unterarmbeuger der Oberarme eingesetzt werden, um den Rollstuhl anzutreiben. Die respiratorische Reserve ist immer noch reduziert (⊡ Tab. 59.1). Bei intakten Wurzeln C5, C6 und C7 sind die Muskeln im Schulterbereich, im Ellbogenbereich (Flexion und Extension) die Handgelenkstreckung und die Fingerbeugung möglich. Der Patient ist in der Lage, Gegenstände festzuhalten, der Grobgriff ist aber noch sehr schwach. Da Teile der Atemhilfsmuskulatur reinnerviert sind, besteht eine ausreichende respiratorische Reserve. Der Patient kann sich selbstständig im Rollstuhl fortbewegen. Durch die aktive Ellbogenstreckung und die schwache Grobgrifffunktion kann der Versuch unternommen werden, ihn an einem Barren zu trainieren und ihn mit Gehhilfen üben zu lassen. Bei einer Unterbrechung in Höhe C7 ist der N. radialis oft erhalten, der N. medianus und der N. ulnaris sind zumindest teilweise gelähmt. Die Finger können meist gestreckt werden, die intrinsischen Muskeln sind jedoch gelähmt, der Spitzund Feingriff zwischen Daumen und Fingern können oft nur ungeschickt und kraftlos ausgeführt werden (⊡ Tab. 59.1). Bei intakten Wurzeln C5, C6, C7 und C8 sind die Muskeln der oberen Extremität mit Ausnahme der intrinsischen Handmuskulatur funktionsfähig. Bis auf die Abduktion und Adduktion im Fingerbereich und dem 3-Finger-Präzisionsspitzgriff (Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger) sind alle weiteren Bewegungen möglich. Der Grobgriff stößt deshalb auf Schwierigkeiten, da die eigentliche Handmuskulatur entweder geschwächt oder aber kontrakt ist (⊡ Tab. 59.1). Bei einer Schädigung im Bewegungssegment T2/T3 bleibt die Wurzel T1 intakt. Die obere Extremität ist voll funktionsfähig. Klinisch zeigt sich das Bild einer Paraplegie. Durch die Instabilität des Rumpfes besteht immer noch erhebliche Erschwernis beim aktiven Aufrichten des Oberkörpers. Obwohl der Patient immer noch auf den Rollstuhl angewiesen ist, vermag er doch einige Schritte mit entsprechenden Gehschienen zu laufen (⊡ Tab. 59.1).
59
1675 59.1 · Allgemeines
Motorik
Neurologische Etage C2 Bewegungssegment C2/3
Deltoideus C5
Bizeps C5, C6
Handstrecker C6
Handbeuger C7
C2 C3
Fingerstrecker C7
Fingerbeuger C8
Interossei Th1
Reflexe
Bizeps C5
Trizeps C7
Brachioradialis C6
Atmung Sensibilität C4
Th2
Th1
C6 C7
C6
C5 permanente Atemhilfe
⊡ Abb. 59.1 Tetraplegie: neurologische Etage C2. Ein Befall der Etage C2 bedeutet dass die Nervenwurzel C2 zwar intakt ist, C3 jedoch geschädigt ist. Die mit der Wurzel C2 korrespondierende Wirbelsäulenetage ist C2/C3
⊡ Tab. 59.1 Neurologische Etagen Neurologische Etage
Motorik
Reflexe
Diaphragma C4
Deltoideus C5
Bizeps C5/C6
Handgelenkextension C6
Handgelenkflexion C7
Trizeps C7
Fingerextension C7
Fingerflexion C8
Interossei T1
Bizeps C5
Brachioradialis C6
Trizeps C7
C2
-
-
-
-
-
-
-
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-
-
-
-
C3
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
-
C4
+
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T1
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59.1.2 Epidemiologie Jedes Jahr erleiden allein in Deutschland etwa 1.800 Patienten eine Querschnittslähmung – meist junge Männer nach Verkehrs-, Sport oder Badeunfall. Etwa 40–50% der Patienten mit Rückenmarktraumen entwickeln eine Halsmarkschädigung mit Lähmung der
unteren und Teilverlust der oberen Extremitätenfunktion, in etwa 50% ist diese Lähmung inkomplett. Diese Zahlen sind vergleichbar mit der Inzidenz traumatischer Rückenmarkläsionen in anderen industrialisierten Staaten, die mit 10–30 Fällen pro Jahr und 1 Mio. Einwohner angegeben wird. Männer sind mit ca. 70% häufiger betroffen, das durchschnittliche Lebensalter bei Unfall liegt bei
1676
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
40 Jahren. Die Inzidenz nicht traumatischer Querschnittslähmungen (z. B. durch Tumoren, spinale Durchblutungsstörungen, Myelitiden) ist unbekannt, ihre Häufigkeit ist jedoch erheblich und steigt mit der Alterung der Bevölkerung deutlich an. In Europa und den USA nähert sich die Lebenserwartung von querschnittsgelähmten Patienten immer mehr der Normalbevölkerung an, bei Paraplegie ist sie durchschnittlich um 2 Jahre, bei Tetraplegie um etwa 8 Jahre verkürzt. 59.1.3 Ätiologie Häufigste Ursachen einer Halsmarkverletzung sind in ca. 70% Unfälle (traumatische Querschnittslähmung) mit Frakturen der Wirbelsäule, man unterscheidet: ▬ lineare Frakturen mit Scherung und Quetschung des Rückenmarks durch Längsverschiebung (Stufenbildung) von Wirbelkörpern, ▬ Kompressions-, Stauchungsfrakturen (vor allem durch Hyperflexionstrauma, z. B. durch Aufschlagen des Schädels beim Kopfsprung in zu flaches Wasser), ▬ Berstungs- und Trümmerfrakturen mit Verletzungen durch Frakturfragmente in den Spinalkanal.
59
Die häufigsten traumatischen Ursachen sind Auto- und Motorradunfälle, Stürze (vorwiegend bei älteren Menschen mit erhöhter Rigidität der Halswirbelsäule), Verletzungen in Freizeit und Sport (vor allem Badeunfälle bei jungen Patienten) und Gewaltakte. Nichttraumatische Halsmarkschädigungen können auf Tumoren, Operationen, virale oder bakterielle Infektionen (GuillainBarré-Syndom, transverse Myelitis), spinale Stenose (Sondylosis) oder Blutungen oder Ischämien beruhen. 59.1.4 Diagnostik Bei der Analyse von Tetraplegien kommt es zuerst darauf an, die Höhe und das Ausmaß der Rückenmarkverletzung, d. h., ob sie komplett oder inkomplett ist, zuerst zu bestimmen. Generell kann man davon ausgehen, dass das Ausmaß der Rückbildungsfähigkeit spinaler Verletzungen abhängig ist von der Dauer der Rückbildungszeit, d. h. eine schnelle Rückbildungszeit deutet auf eine gute Prognose hin, eine nur langsame Rückbildungszeit deutet auf eine schlechte hin. Da sich das Rückenmark in der Anfangsphase im Zustand des spinalen Schocks befindet, sind 2bis 4-stündige Verlaufsuntersuchungen in den ersten 48 Stunden notwendig, um irgendetwas über den weiteren Verlauf, d. h. über die Erholungsfähigkeit des Rückenmarks aussagen zu können. Der spinale Schock und die damit verbundene schlaffe Lähmung der Muskulatur halten meist zwischen 24 Stunden und 3 Monaten nach der Verletzung an. Spastik und Kloni setzen danach ein und werden im Verlauf der Zeit stärker. Die tiefen Sehnenreflexe steigern sich und es treten darüber hinaus pathologische Reflexe hinzu. Im Bereich der oberen Extremität findet man das Hoffmann-Zeichen (⊡ Abb. 59.2), welches – falls es auslösbar ist – für eine Schädigung des 1. motorischen Neurons spricht. Anlässlich jeder Untersuchung sollte sowohl Beweglichkeit, Motorik als auch Sensibilität und Reflexverhalten im Hinblick auf eventuell zu erwartende Rückbildungserscheinungen untersucht werden ( Abschn. 59.1.1).
⊡ Abb. 59.2 Hoffmann-Zeichen
> Hier sind mehrere Untersuchungen sinnvoll, weil die Ergebnisse teilweise vom momentanen Zustand des Patienten abhängig sein können.
Von psychologischer Seite entscheidend ist es, die Motivation, Verständigkeit und die psychische Stabilität des Patienten zu klären, weil mangelnde Einsatzbereitschaft, unrealistische Vorstellungen und fehlende Einsichtsfähigkeit relative Kontraindikationen für eine komplexe Funktionswiederherstellung darstellen. Beweglichkeit Wichtige Parameter sind hier die passive und aktive Gelenkbeweglichkeit (vor allem Prüfung der Ellenbogenbeweglichkeit mit aktivem und passivem Streckdefizit und des Tenodeseeffekts bei der Handgelenkextension und -flexion) und die Gelenkstabilität (vor allem Daumensattel- und Grundgelenk sowie Fingergrundgelenke). Sensibilität Die Untersuchung der Sensibilität beruht auf der Kenntnis der segmentalen Dermatome (⊡ Abb. 59.3). Die zervikalen Rückenmarksegmente sind durch folgende sensible Autonomiegebiete gekennzeichnet: ▬ C4 – kranialer Anteil des Akromioklavikulargelenks ▬ C5 – Außenseite der Fossa antecubitalis ▬ C6 – Daumen ▬ C7 – Mittelfinger ▬ C8 – Kleinfinger ▬ (Th1 – Innenseite der Fossa antecubitalis) > Eine völlige Asensibilität der Hand kann den Nutzen funktioneller Rekonstruktionen in Frage stellen, meist ist aber ab der Gruppe IC 1 eine funktionell ausreichende diskriminative Sensibilität (2PD 12–15 mm) am Daumen und oft auch an der Radialseite des Zeigefingers gegeben.
Reflexverhalten ( Abschn. 59.1.1) Die Höhe der Rückenmarkschädigung kann durch eine kurze Untersuchung anhand von Kennmuskeln und Dermatomen eingeschätzt werden (⊡ Tab. 59.2). Grundlage der Feststellung des motorischen Läsionsniveaus sind die noch willentlich ansteuerbaren Muskeln mit einem Kraftgrad von M4 nach dem Schema des British Medical Research Council (BMRC; Kap. 8). Zancolli (1979) hat die für eine chirurgische Transposition interessanten Muskeln in seinem Schema zur segmentalen Innervation der oberen Extremität zusammengefasst (⊡ Abb. 59.4).
1677 59.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 59.2 Kennmuskeln zur klinischen Diagnose der Läsionshöhe bei Halsmarkschädigung Rückenmarksegment
Kennmuskel (Innveration)
Muskelfunktion
C5
M. biceps brachi (N. musculocutaneus)
Ellenbogenbeugung
C6 oberer Anteil C6 mittlerer Anteil C6 unterer Anteil
M. brachioradialis ECRL/ECRB (N. radialis) Pronator teres, Flexor carpi radialis (N. medianus)
Handgelenkstreckung Unterarmpronation, Handgelenkbeugung
C7 oberer Anteil C7 unterer Anteil
M. triceps brachii (N. radialis) M. extensor digitorum communis (N. radialis)
Ellenbogenstreckung
C8 oberer Anteil C8 unterer Anteil
M. extensor pollicis longus (N. radialis) FDS/FDP (N. medianus/N. ulnaris)
Daumenstreckung Fingerbeugung
Th1
Handbinnenmuskeln (N. ulnaris/N. medianus)
Fingerspreizen
⊡ Abb. 59.3 Segmentale Innervation der Haut klinisch-dermatologisch nach Hansen u. Schliack (1962). (Aus Rickenbacher, Landolt u. Theiler 1982)
59
1678
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
Funktionen Schulteradduktion/-abduktion Schulteraußenrotation Schulterflexion/-extension Schulteradduktion/-abduktion Diaphragma Ellenbogenflexion Pronation, Supination radiale Beugung/-streckung Nerven
Wurzeln
C4
C5
N. phrenicus Diaphragma N. accessorius Trapezius Rhomboidei N. dors. scapulae N. thorac. longus N. subclavius Pars supraclavicularis
N. suprascapularis Ansa pectoralis Nn. pectoralis lat. et med. Nn. subscapulares
N. axillaris
Fingerflexion Daumenflexion radiale intrinsische Funktion ulnare HG-Flexion
Thenarfunktion
C7
C8
Th1
C6
Serratus anterior Subclavius Supraspinatus Infraspinatus Pectoralis minor Pectoralis major (Pars claviculares) Pectoralis major (Pars sternales) Teres major Subscapularis
N. thoracodors.
59
Pronation Daumenopposition Ellenbogenstreckung radiale HG-Streckung
Latissimus dorsi Deltoideus Teres major Triceps brachii Brachioradialis Supinator Entensor carpi radialis longus et brevis
Fasciculus posterior N. radialis
Fasciculus lateralis
N. musculocutaneus
Entensor indicis Extensor digiti minimi Extensor carpi ulnaris Abductor pollicis longus Extensor carpi radialis longus Extensor carpi radialis brevis Coracobrachialis Biceps brachii Brachialis Pronator teres Palmaris longus Palmaris brevis Flexor digitorum superficialis
N. medianus
Flexor digitorum profundus Flexor pollicis longus Pronator quadratus Abductor pollicis brevis Opponens pollicis Flexor pollicis brevis Lumbricales II, III
Fasciculus medialis
Flexor carpi ulnaris Flexor digitorum profundus IV, V N. ulnaris
Adductor pollicis Flexor pollicis brevis Abductor digiti minimi Opponens digiti minimi Flexor pollicis brevis (Caput profundum) Interossei Lumbricales
⊡ Abb. 59.4 Segmentale Muskelinnervation an der oberen Extremität nach Zancolli (1979). (Aus Berger u. Hierner 2009)
1679 59.1 · Allgemeines
59.1.5 Klassifikation
Neurologische Einteilung ASIA-Schema Die Einschätzung des neurologischen Schadens nach Rückenmarkverletzung wird nach der Klassifikation der American Spinal Injury Association (ASIA) eingeteilt (⊡ Tab. 59.3). Einteilung bei inkompletten Lähmungen Nach ihrem klinischen Ausfallbild werden bei inkompletter Querschnittslähmung folgende Rückenmarksyndrome unterschieden (⊡ Abb. 59.5): ▬ Anterior-Cord-Syndrom durch Verletzung der vorderen zwei Drittel des Rückenmarks mit Ausfällen vor allem von Motorik und Schmerz-/Temperaturwahrnehmung (Hinterstrangbahnen weniger betroffen); ▬ Spinalis-anterior-Syndrom durch Minderdurchblutung (A. spinalis anterior) der vorderen zwei Drittel des Rückenmarks (klinisch ähnliche Ausfälle wie Anterior-Cord-Syndrom); ▬ Brown-Sequard-Syndrom mit spinaler Halbseitenlähmung; ▬ Central-Cord-Syndrom (Verletzungen zentraler Rückenmarkanteile, meist der HWS) mit Ausfällen vorwiegend im Bereich der Arme, oft aber gute Erholung der Steh- und Gehfunktion.
Internationale handchirurgische Einteilung Die Indikationen zu einem möglichen chirurgischen Eingriff können nach Höhe und Ausmaß der Rückenmarkläsion und nach der Anzahl der zur Transposition geeigneten Muskeln anhand einer
a
b
c
internationalen Klassifikation festgelegt werden. Diese Einteilung richtet sich nach der Anzahl der für eine motorische Ersatzoperation zur Verfügung stehenden Muskeln. Entscheidend für die Eingruppierung ist die Anzahl der gegen Widerstand beweglichen und damit transponierbaren Muskeln (Kraftgrad >4), die Sensibilität wird zudem mit dem Zusatz Cu (kutane Kontrolle mit 2PD unter 10 mm) oder O (okulare, d. h. nur Augenkontrolle) angegeben (⊡ Tab. 59.3). Zudem kann angegeben werden, ob die Funktion des M. triceps vorhanden ist oder nicht (Tr+ oder Tr-).
⊡ Tab. 59.3 Klassifikation der Querschnittslähmung nach der American Spinal Injury Association (ASIA) Grad
Charakteristik
A
Komplette Verletzung: keine motorische oder sensible Funktion unterhalb der Verletzungshöhe
B
Erhaltene Sensibilität: Restsensibilität bis in sakrale Segmente
C
Keine Gebrauchsmotorik: Restmotorik unterhalb der Verletzung, die aber nicht den Gebrauch der Extremitäten erlaubt
D
Gebrauchsmotorik: Restmotorik erlaubt den Gebrauch der Extremitäten mit oder ohne Unterstützung
E
Erholung: normale Motorik und Sensibilität; pathologische Reflexe können weiter bestehen
d
e
f
⊡ Abb. 59.5 Klinische Symptome bei Rückenmarkläsionen. a Läsion im Rückcnmarkszentrum auf Höhe des Halsmarks (Typus Syringomyelie). Segmentär angeordnete Analgesic und Thermanästhesie mit erhaltener Bewegungs-, Berührungs- und Vibrationsempfindung (dissoziierte Empfindungsstörung), schlaffe Parese der oberen Extremitäiten mit starker Muskelatrophie und fehlenden Sehnenreflexen und spastische Parcse der unteren Extremität mit gesteigerten Sehnenreflexen, fehlenden Fremdreflexen und positivem Babinskischem Zeichen. b Läsion im Lissauerschen Trakt thorakal. Segmentäre Analgesie und Thermanästhesie in einem Areal von 3–5 Segmenten homolateral. c Läsion im Thorakalbereich des vorderen Seitenstrangs (Typus Chordotomie). Analgesie und Thermhypästhesie kontralateral und distal von der Läsion. d Läsion im Thorakalbereich des hinteren Seitenstrangs. Homolaterale, spastische Lähmung des Beines mit gesteigerten Sehnenreflexen, fehlenden Fremdreflexen (Bauchdecken, Cremaster) und positivem Babinskischem Zeichen. Mäßige Muskelatrophie durch Inaktivität. e Läsion im Thorakalbereich des Hinterstrangs. Homelateral-distale Störung der diskriminierenden Taktilität, der Vibrations- und der Bewegungsempfindung. f Halbseitenläsion im Thorakalbereich (Typus BROWN-SEQUARD). Spastische Halbseitenlähmung mit mäßiger Muskelatrophie, gesteigerten Sehnenreflexen, fehlenden Fremdreflexen und positivem Babinskischem Zeichen sowie Aufhebung der taktilen Diskrimination, Bewegungs- und Vibrationsempfindung homolateral mit kontralateraler Analgesie und Thermanästhesie. Rot: spastische Lähmung; weinrot: schlaffe Lähmung; gelb: Analgesie und Thermanästhesie; blau: Kinanästhesie, Pallanästhesie und taktile Anästhesie
59
1680
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
Gruppe 0 also bezeichnet die Patienten, bei denen kein Muskel unterhalb des Ellenbogens zur Verfügung steht, in Gruppe 1 ist es nur der M. brachioradialis. In Gruppe X (»exceptional«) werden Patienten eingeordnet, deren Lähmungsmuster, z. B. bei inkompletter Läsion, nicht dem vorgegebenen Schema entspricht.
▬
> Schwierig, aber wichtig für die Therapiewahl ist die Unter-
▬
scheidung zwischen Gruppe 2 und 3, d. h. zu erkennen, ob nur der ECRL oder beide radialen Handgelenkstrecker mit einem Kraftgrad von M4 vorhanden sind, sodass der ECRL funktionell verlagert werden könnte. Eine kräftige Unterarmpronation (M. pronator teres M4) gilt hier als sicheres Zeichen, weniger zuverlässig eine tastbare Grube zwischen beiden Muskelursprüngen am lateralen Ellenbogen. Eine neuartige Methode ist die selektive Probeblockade des ECRLMuskelastes des N. radialis mit Lokalanästhetikum.
59.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
59
▬
▬
rung, Schienung, Lymphdrainage, Kompressionsbehandlung und Krankengymnastik), Erhalt der Gelenkbeweglichkeit (passive und aktive Ausschöpfung des gesamten Bewegungsumfanges der Gelenke durch Physiotherapie und Eigenbeübung, Vermeiden und Behandlung von spastisch bedingten Fehlhaltungen), Schmerztherapie (um eine effektive Schienenbehandlung und Bewegungstherapie zu ermöglichen), Kontrolle von Spastiken und Behebung von Kontrakturen (durch Medikamente, z. B. Botulinumtoxin, Schienung oder operative Eingriffe, wie Ellenbogenarthrolyse oder Korrektur einer Supinationskontraktur), Rehabilitation (Erlernen der Fortbewegung im Rollstuhl und Transfer, ohne schädliche Belastung wichtiger Gelenke, vor allem des CMC-Gelenk des Daumens und der Fingergrundgelenke, funktionelle Schienen zur Gelenkstabilisierung, Vermeidung von Gelenkfehlstellungen und Verstärkung erhaltener Funktionen, z. B. des Tenodeseeffekts bei Handgelenkbewegung oder dynamische Orthosen).
Indikationsstellung und Patientenauswahl Es gelten die allgemeinen Regeln motorischer Ersatzoperationen, vor allem müssen die betroffenen Gelenke passiv frei beweglich sein und die Patienten zur aktiven Nachbeübung motiviert und fähig sein. Die häufig bei Tetraplegikern vorliegende Spastik muss sich nicht negativ auswirken, da sie von den Patienten stabilisierend eingesetzt werden kann, sie ist außer bei inkompletten Lähmungen an Armen und Händen meist milder ausgeprägt als an der unteren Extremität.
Eine adäquate physiotherapeutische Basistherapie ist die Grundlage jeglicher Behandlung bei Spastik. Eine temporäre Muskellähmung mit Botulinumtoxin kann diagnostisch (z. B. zur Operationssimulation) und therapeutisch eingesetzt werden (z. B. bei starker Muskelkontraktur, etwa des M. pectoralis major). Als Dauertherapie scheint die Botoxinjektion im Vergleich zur Operation jedoch weniger günstig, vor allem wegen der notwendigen Wiederholung, den hohen Kosten und den unklaren Langzeitauswirkungen (z. B. hinsichtlich von Antikörperbildung oder Myogenese).
Vorgehen bei Patienten der Gruppe 10 Die Gruppe 10 (X, exceptional) umfasst alle Patienten, deren Lähmungsmuster sich nicht in die Internationale Klassifikation einteilen lässt, z. B. inkomplette Lähmungen oder Patienten mit kombinierten zentralen und peripheren Ausfällen. Der Anteil dieser Patienten nimmt zu. Ihre Arm- und Handfunktion lässt sich, z. B. aufgrund von Spastiken, oft nicht mit den gleichen algorithmischen Konzepten rekonstruieren, wie die klar klassifizierbaren Lähmungsmustern der Gruppen 1–9.
Operative Therapie
59.1.7 Therapie Teamkonzept Zentrale Bedeutung hat die Zusammenarbeit von Rehabilitationsmedizinern, Chirurgen, Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Psychologen und Sozialarbeitern, die mit querschnittsgelähmten Patienten und motorischen Ersatzoperationen vertraut sind. Am besten geeignet erscheinen die Voraussetzungen an Querschnittsgelähmtenzentren mit Handchirurgie im gleichen Hause oder in Kooperation mit einem speziell interessierten und ausgebildeten Handchirurgen.
Konservative Therapie Frühbehandlung und Patientenschulung Die Vorbereitung einer späteren chirurgischen Funktionsverbesserung beginnt bereits unmittelbar nach der Rückenmarkverletzung und in der frühen Rehabilitationsphase. Der Patient und seine Familie werden dazu angeleitet, die erhaltene Funktionalität der oberen Extremität mit ärztlicher und therapeutischer Hilfe so weit wie möglich zu erhalten, wobei folgende Punkte beachtet werden müssen: ▬ Prävention und Behandlung von Ödemen (durch Hochlage-
Die chirurgische Funktionsverbesserung der oberen Extremität tetraplegischer Patienten ist seit Jahren in einigen Ländern fester Bestandteil der Versorgung dieser Patienten. In kaum einem anderen Gebiet scheint es möglich, Patienten schon durch kleine Fortschritte einen so großen Gewinn zu schenken: »If you have nothing, a little gained is a lot« (Sterling Bunnell). > Handchirurgische Eingriffe bei neurologisch stabilen Halsmarkverletzten mit der Motivation zur intensiven Nachbehandlung bieten gute Chancen, die Arm- und Handfunktion so zu bessern, dass sich der Patient mit eigener Kraft fortbewegen und unabhängiger von Hilfe aus der Umgebung sein kann.
Es handelt sich um eine hoch spezialisierte Form der Chirurgie, die eine exzellente Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen im Behandlungsteam erfordert und optimal in Zentren stattfindet, die auf die Versorgung dieser empfindlichen Patienten spezialisiert sind. Dann führt sie im Regelfall zu einer erheblichen Verbesserung der funktionellen Möglichkeiten der Patienten, auch wenn es nicht möglich ist, eine normale Hand zu schaffen. Durch motorische Ersatzoperationen kann der vollständig hilflose tetraplegische Patient (Läsionsniveau C5) zu einer nur mehr teilweisen Hilfebedürftigkeit (Höhe C6) gelangen und von einer teilweisen Hilfebedürftigkeit zu einer weitgehenden Unabhängigkeit in angepasster Umgebung (Höhe C7). Tetraplegiker mit einem Querschnitt in Höhe C6–C7, die vorher mehrmals täglich katheterisiert werden mussten, konnten durch handchirurgische Eingriffe zur Selbstkatheterisierung und in Höhe C7–C8 sogar zur Pflege eines Blasenersatzes aus einem Darmstück befähigt werden. Diese Ergebnisse bedeuten einen enormen Gewinn an Gestaltungsmög-
1681 59.1 · Allgemeines
lichkeit und Eigenständigkeit für den Betroffenen und eine erhebliche Abnahme an Pflegebedarf und -kosten. > Jeder Halsmarkgeschädigte sollte daher nach einer eingehenden Untersuchung durch einen Handchirurgen über die Chancen einer chirurgischen Funktionsbesserung informiert werden.
Zeitpunkt der Operation Die Operationen werden erst nach neurologischen Stabilisierung und Rückkehr der verbliebenen motorischen Fähigkeiten durchgeführt. Der Patient muss motiviert sein und sich in einem guten Allgemeinzustand befinden mit stabiler Atmung, Blasenfunktion und neurovegetativer Funktion. Infekte, z. B. der Haut oder Harnwege, dürfen nicht vorliegen. Der Patient muss seine Behinderung akzeptiert haben und über die Möglichkeiten und Grenzen einer Funktionsbesserung realistisch informiert sein. Der Kontakt und Austausch mit bereits operierten Patienten kann hier sehr wertvoll sein. In der Praxis sind diese Bedingungen selten vor 1 Jahr nach dem Unfall erfüllt, manchmal erst später. > Grundsätzlich können motorische Ersatzoperationen auch Jahrzehnte nach peripherer Nerven- oder Rückenmarkschädigung durchgeführt werden – anders als Nervenrekonstruktionen –, da die Muskeltransposition auf voll funktionstüchtigen Muskeln beruht, deren Ansatz lediglich in eine neue Funktionsposition versetzt wird.
Zielsetzung Hierbei ist unabdingbar, dass die chirurgische Rehabilitation mit größter Sicherheit zu einer Verbesserung der Gebrauchsfähigkeit der oberen Extremität für den Patienten führt. Dies setzt auch eine sorgfältige Untersuchung und Beratung des Patienten voraus, um gemeinsam einen Behandlungsplan aufzustellen, der das zu
erwartende Ergebnis und den individuellen Gewinn detailliert vorhersagt. Rekonstruktionsverfahren In Abhängigkeit von der Anzahl der transferablen Muskeln wird in der Regel zuerst die Ellbogenstreckung und Handgelenkstreckung wiederhergestellt oder gebessert, dann ein passiver oder aktiver Kneifgriff zwischen Zeigefinger und Daumen (Schlüsselgriff) geschaffen, bei genügend Spendermuskeln ergänzt durch eine aktive Fingerbeugung und eine Wiederherstellung der intrinsischen Handfunktion. Zentrale Bedeutung hat die Handgelenkstreckung, da durch den bei der Funktionshand gebildeten Tenodeseeffekt das Öffnen oder Schließen der Finger und des Daumens möglich wird. Zudem werden Umstellungsosteotomien, Arthrodesen und Tenodesen (vor allem zur Stabilisierung am Daumen) genutzt (⊡ Tab. 59.4, ⊡ Tab. 59.5, ⊡ Tab. 59.6). > Insgesamt ist davon auszugehen, dass mindestens 70–80% aller Tetraplegiker von funktionellen Operationen profitieren können.
Handtherapie Krankengymnasten und Ergotherapeuten sind für die »andere Hälfte« der Operation, die funktionelle Rehabilitation, verantwortlich. Ihre Arbeit schließt die gezielte Aktivierung, Beübung und Kräftigung der verlagerten Muskeln, die Ödemprophylaxe, Vorbeugung von Kontrakturen, spezielle Gebrauchsübungen und Schienenversorgung ein. Besonders in der frühen Rehabilitationsphase kommt der Handtherapie besondere Bedeutung zu, weil sie dem Patienten verständliche Anweisungen gibt, ihn führt, motiviert und ihm beibringt mit seiner neuen Funktion umzugehen. Das Vertrauen zwischen Therapeut und Patient ist besonders wichtig, damit der Patient ohne Angst (z. B. vor Schmerzen oder Versagen) lernt, mit der Rekonstruktion umzugehen.
⊡ Tab. 59.4 Internationale Einteilung der Voraussetzungen einer beabsichtigten Rekonstruktion der Arm- und Handfunktion bei Tetraplegie (nach McDowell et al. 1986, mod. nach Nigst 1991) Gruppe
Rückenmarksegment
Charakteristika entsprechend der transponierbaren Muskeln
Beschreibung der Funktion
0
≥ C5
Kein transponierbarer Muskel unterhalb des Ellenbogens
Flexion und Supination des Ellenbogens
1
C5
Brachioradialis (BR)
Flexion des Ellenbogens in Pronation
2
C6
+ Extensor carpi radialis longus (ECRL)
Handgelenkstreckung (schwach oder kräftig)
3
C6
+ Extensor carpi radialis brevis (ECRB)
Handgelenkstreckung
4
C6
+ Pronator teres (PT)
Streckung und Pronation des Handgelenks
5
C7
+ Flexor carpi radialis (FCR)
Handgelenkbeugung
6
C7
+ Extensor digitorum
Extrinsische Fingerstreckung (teilweise oder alle Finger)
7
C7
+ Extensor pollicis longus
Extrinsische Daumenstreckung
8
C8
+ Flexor digitorum
Schwache Fingerbeugung
9
C8
Keine intrinsische Handfunktion
Extrinsische Fingerbeugung
10 (X)
Ausnahmen
O Okular: adäquates Sehvermögen, Augenkontrolle (2-Punkte-Diskrimination am Daumen über 10 mm); Cu Cutaneous: Nützliche sensorische Afferenzen von den Händen vorhanden = kutane Sensibilität (2-Punkte-Diskriminierung an der Daumenkuppe 10 mm oder besser)
59
1682
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
⊡ Tab. 59.5 Chirurgische Verfahrenswahl abhängig von der IC-Gruppen-Einteilung IC-Gruppe
Operative Möglichkeiten
0
– Abduktionskontraktur der Schulter → Transposition der Pars anterior des M. deltoideus – Flexionskontraktur des Ellbogens → Verlängerung der Bizepssehne (Z-Tenotomie) – Supinationsstellung des Unterarms (passiv korrigierbar) → Rerouting der Bizepssehne (Cave: M. supinator vorhanden?) – Fixierte Supinationskontraktur → Derotationsosteotomie des Radius – Handgelenkinstabilität/-kontraktur → Arthrodese
1
– BR-pro-ECRB – Split-FPL-Tenodese – FPL-Tenodese am Radius (OP nach Moberg)
2
– – – –
BR-pro-FPL Split-FPL-Tenodese Arthrodese CMC 1 EPL-Tenodese auf Retinaculum extensorum
– BR-pro-FDP 2-4 – FPL-Tenodese am Radius – Zancolli-Lasso-Plastik
3
– – – – – –
BR-pro-FPL ECRL-pro-FDP 2-4 Split-FPL-Tenodese Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli/House) Arthrodese CMC 1 EPL-Tenodese
– BR-to-FDP 2-4 – FPL-Tenodese am Radius (OP nach Moberg)
4
– – – – – – –
BR-pro-FPL ECRL-pro-FDP 2-4 Split FPL-Tenodese Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli/House) Arthrodese CMC 1 EPL-Tenodese PT-pro-FDS 2-4 (aktivierte Zancolli-Lasso-Plastik)
PT-pro-Extensoren, z. B. EDC
5
– – – – – – –
BR-pro-FPL ECRL-pro-FDP 2-4 Split-FPL-Tenodese Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli/House) Arthrodese CMC 1 EPL-Tenodese PT-pro-FDS 2-4 (aktivierte Zancolli-Lasso-Plastik)
PT-pro-Extensoren, z. B. EDC oder – PT-pro-FPL – BR-pro-APB
6
– – – – – – – –
BR-pro-FPL ECRL-pro-FDP 2-4 Split-FPL-Tenodese Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli-Lasso / House) Arthrodese CMC 1 EPL-Tenodese EDM-to-APB-Transfer PT-/ECU-/FCU-pro-FDS 2-4 (aktive Zancolli-Lasso-Plastik)
– – – –
7
– – – – – –
BR-pro-FPL ECRL-pro-FDP 2-4 Split-FPL-Tenodese Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli / House) EDM-/EIP-/FCU-pro-APB PT-pro-FDS 2-4 (aktive Zancolli-Lasso-Plastik)
– PT-pro-FPL – BR-pro-FDS 2-4
8
– – – – –
BR-pro-FPL ECRB-pro-ADPB Opponensplastik (EIP, EDM, FCU) Aktive Zancolli-Lasso-Plastik (ECU) Intrinsische Rekonstruktion (House)
– PT-pro-FPL – ECRB-pro-ADPB – Opponens-Plastik (EIP, EDM, FCU) – Aktive Zancolli Lasso-Plastik (BR)
9
– Intrinsische Rekonstruktion (Zancolli/House)
10
Korrektur von Gelenkfehlstellung (MP in fixierter Hyperextension, keine intrinsische Handfunktion, Handgelenkkontraktur) → Release/Verlängerung von Sehnen/Muskeln und Kapselgewebe
59
Alternativen
PT-pro-FPL BR-pro-APB EDC-pro-EPL ECU / FCU-pro-FDS 2-4 (aktive Zancolli-Lasso-Plastik)
1683 59.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 59.6 Zusammenfassung der chirurgischen Möglichkeiten zur Funktionsverbesserung von Arm und Hand Praktisches Ziel
Funktionsziel
Operation
Rehabilitation
Ellenbogenstreckung
Stabilisierung des Ellenbogens im Raum und des Oberkörpers, Erreichen von Gegenständen über Kopfhöhe, Antreiben des Rollstuhls (Steigung, Hindernis)
Rekonstruktion der M.-triceps-brachii-Funktion – Posteriorer Deltoideus-pro-Trizeps – Bizeps-pro-Trizeps
4 Wochen Schiene in Ellenbogenstreckung, 4 Wochen verstellbare Orthese
Gebrauch von Gegenständen, Schreiben, Antreiben des Rollstuhls
Greiffunktion
Rekonstruktion der Greiffunktion
Umfassen von Objekten (z. B. Glas, Becher), bessere Kontrolle durch Streckung von Daumen und Fingern
Öffnung der Hand
Passiver Tenodesegriff – BR-pro-ECRB – FPL-Tenodese am Radius – Arthrodese CMC 1
4 Wochen in Oberarmschiene mit Daumen und Handgelenk in Beugung, 4-10 Wochen aktive Beübung
Aktiver Schlüssel-/ Klemmgriff – BR-pro-FPL – Arthrodese CMC 1 – Split FPL-Tenodese – EPL-Tenodese
4 Wochen Orthese mit aktiven Greifübungen, aber Blockade der Handgelenkstreckung
Rekonstruktion der Daumen- und Fingerstrecker Passive Handöffnung – Arthrodese CMC 1 – EPL-Tenodese am Retinaculum extensorum
4 Wochen Schiene für Handgelenk und Daumen
Aktive Handöffnung PT-pro-EDC und EPL/APL
4 Wochen Schiene für Handgelenk, Finger und Daumen
Intrinsische Rekonstruktion Zancolli-Lasso-Plastik House-Tenodese EDM-APB
4 Wochen Schiene in Intrinsic plusPosition, aktive Daumen-Beübung ab 1. postoperativen Tag
Zur zielorientierten Nachbehandlung hat es sich bewährt, dass der Patient auch schriftliche Anweisungen mit Bildern erhält, mit deren Hilfe er die Übungen auch zu Hause rekapitulieren und selbstständig durchführen kann. Der Patient selbst ist das wichtigste Teammitglied. Seine Wünsche und Anforderungen bestimmen die Therapiewahl. Er muss die präoperative Planung, die operativen Möglichkeiten und Alternativen und damit das Konzept der Behandlung verstehen, damit er durch aktive und motivierte Mitarbeit bei der intensiven Nachbehandlung ein erfolgreiches Endergebnis erreichen kann. 59.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Verletzungen des Halsrückenmarks betreffen vor allem junge Erwachsene zwischen 16 und 40 Jahren. Im Wachstumsalter treten sie glücklicherweise nur selten auf, in dieser Patientengruppe sind jedoch einige Besonderheiten zu beachten, die hier kurz zusammengefasst werden sollen.
Auftreten und Ätiologie Bei Kindern im Alter von unter 5 Jahren sind beide Geschlechter gleich häufig betroffen, danach Jungen etwa 4-mal häufiger. Besondere Ursachen im Kindesalter sind geburtstraumatische Verletzungen, Misshandlung, Infektionen (z. B. transverse Myelitis) und Tumoren.
Bei Kindern unter 10 Jahren liegen in ca. 60% und damit im Vergleich zu älteren Kindern und jungen Erwachsenen etwa 3-mal häufiger Rückenmarkverletzungen ohne radiologische Auffälligkeit (SCIWORA; »spinal cord injury without radiological abnormality«) vor.
Untersuchung und Indikationsstellung Die körperliche Untersuchung als Basis der späteren Therapiewahl erfordert bei Kindern oft noch mehr Geduld, Sorgfalt und Mitgefühl als bei erwachsenen Patienten. Von größter Wichtigkeit ist auch die Kommunikation mit den Eltern, die in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden müssen. Nicht selten bestehen hier Wunschvorstellungen einer möglichen »Heilung«, die einfühlsam und behutsam, aber klar verständlich korrigiert werden müssen. In der gesamten Gesprächsführung sollten medizinische Fachausdrücke vermieden werden und stattdessen allgemein verständliche Begriffe verwendet werden.
Alter bei Operation In welchem Alter eine chirurgische Funktionsverbesserung am besten durchgeführt werden sollte, lässt sich nicht an allgemeinen Richtlinien ableiten, sondern ist vor allem abhängig von 1. der Zeitdauer seit der Rückenmarkverletzung (bei kompletter Läsion meist keine weitere Rückkehr von Muskelfunktionen nach mehr als 3–6 Monaten, daher evtl. Frührekonstruktion mit schnellerer Funktionswiederkehr und Reintegration),
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Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
2. der Reife des Kindes und damit verbunden seiner Kooperationsfähigkeit bei der Nachbehandlung (evtl. Abwarten, bis das Kind voraussichtlich besser mit Schienen und Übungsbehandlung zurecht kommt), 3. der Unterstützung durch die Familie oder Vertrauenspersonen des Kindes, 4. der Größe der anatomischen Strukturen (auf die weiter unten noch speziell eingegangen werden soll). Eine Rekonstruktion erscheint folglich im Grundschulalter am sinnvollsten.
Intraoperative Besonderheiten Technische Schwierigkeiten als Folge der kindlichen Rückenmarkschädigung sind vor allem durch zwei Faktoren bedingt:
Winzigkeit bzw. pathologische Anatomie der anatomischen Strukturen
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Das größte Problem bei der Durchführung von Muskeltranspositionen vor dem Erwachsenenalter ist die geringe Größe speziell der Sehnen, die bei frühkindlicher Querschnittlähmung und Muskelatrophie winzig sein können. Eine stabile Sehnennaht ist oft schwierig. Ausgenommen sind die Sehnen von spastisch gelähmten Muskeln mit Hypertrophie der Muskel-Sehnen-Einheit, die jedoch nur selten willentlich steuerbar und zur Verlagerung geeignet sind. Um dennoch eine belastbare Sehnennaht zu erreichen, eignen sich ▬ eine reverse Einflechtung (der Empfänger- in die Spendersehne, z. B. der proximalen FPL-Sehne in den M. brachioradialis), ▬ eine Augmentation mit einem Sehnentransplantat (z. B. FCRSehne als Onlay) ▬ die Verwendung von besonders stabilem Fadenmaterial, das meist in fortlaufender Nahttechnik eingebracht wird.
Fixierte Gelenkfehlstellungen Ein weiteres Hindernis sind ausgeprägte Kontrakturen der oberen Extremität aufgrund des frühen Beginns des lähmungsbedingten Muskelungleichgewichts, hauptsächlich an Ellenbogen, Unterarm und Fingergrundgelenken. Primär bei C5/C6-Läsionen treten eine Flexionskontraktur des Ellenbogens und eine Supinationsfehlstellung des Unterarms auf. Zunächst ist konservatives Vorgehen indiziert, mit ▬ krankengymnastischer Muskeldehnung und ▬ serieller statischer oder dynamische Schienung. Bei längerem Bestehen reichen diese Maßnahmen oft nicht aus, sodass operativ vorgegangen werden muss. Flexionskontraktur des Ellenbogens In manchen Fällen kann die fixierte Armbeugung durch eine Bizeps-pro-Trizeps-Operation ausgeglichen werden, wenn die Verkürzung der Muskel-Sehnen-Einheit nicht bereits zu stark ausgeprägt ist, um die Trizepssehne zu erreichen. Wird so keine ausreichende Korrektur der Armbeugung auf maximal ca. 30° erreicht, ist eine Sehnenverlängerung des M. biceps und M. brachialis möglich, wobei jedoch als unerwünschte Nebenwirkung eine geschwächte Armbeugung auftreten kann. Supinationskontraktur des Unterarmes Diese Fehlstellung behindert die Handfunktion meist stark, außer bei Kindern ohne Handsensibilität und Handgelenkstreckung, bei der sie zumindest eine Sichtkontrolle von Gegenständen ermöglicht und verhindert, dass das Handgelenk in Flexion fällt. Bei
ausreichender Sensibilität und Handgelenkstreckung besteht meist die Indikation zur Korrektur, um die Vorteile eines Tenodesegriffs zu fördern. Bei passiv korrigierbarer Kontraktur wird durch Umsetzung der Sehne des M. biceps (»rerouting«) erreicht, dass dieser als Pronator wirkt. Fixierte Fehlstellungen sind durch Kontrakturen im Bereich der Membrana interossea oder knöcherne Deformität von Ulna und Radius bedingt, hier empfiehlt Kozin (2008) je nach Schweregrad folgende Eingriffe: ▬ bis 45°: Osteotomie eines Unterarmknochens, ▬ bis 90°: Osteotomie beider Unterarmknochen, ▬ mehr als 90°: Bildung eines »Ein-Knochen-Unterarmes« durch Transposition des Radius auf die Ulna. Kontrakturen der Fingergrundgelenke Bei Kindern mit teilweise funktionierender Streckung (C7), aber fehlender Beugung (C8) der Finger besteht die Neigung zur Ausbildung von Extensionskontrakturen, die unbedingt durch nächtliche Schienung (in Intrinsic-minus-Stellung) verhindert werden sollte. Die operative Einstellung eines Muskelgleichgewichts am Grundgelenk (z. B. durch FDS-Verlagerung auf die Grundphalanx) ist schwierig und die Rezidivneigung hoch.
Besonderheiten bei der Nachbehandlung Die krankengymnastische Nachbehandlung ist bei Kindern von gleich großer Bedeutung wie bei älteren Patienten, aufgrund der Feinheit der Sehnen und der Schwierigkeit und schlechten Ergebnisse nach einer Folgeoperation bei Ruptur muss ein Kompromiss zwischen aktiver Bewegung und Schutz der Sehnennaht gefunden werden. Kozin (2008) unterscheidet je nach Sehnendurchmesser in Anlehnung an Nudelsorten zwischen ▬ Linguine: geringe Rupturgefahr, frühe Mobilisation mit aktiver Beübung möglich, ▬ Spaghetti: intermediäre Rehabilitation, ▬ Vermicelli (Engelshaar): hohe Rupturgefahr, verzögerte Beübung, lange Schienung zum Schutz der Sehnennaht.
Ergebnisse Auch bei Kindern lässt sich durch eine funktionelle Rekonstruktion der Arm- und Handfunktion ein Gewinn an Eigenständigkeit, Mobilität und Unabhängigkeit von der Hilfe anderer erzielen. Bei einem Läsionsniveau von C5 sind in der Regel nur beidhändige Tätigkeiten möglich, während Kinder mit C6-Querschnitt oft einhändig greifen können und viele Alltagsaktivitäten zu Hause, beim Spielen und in der Schule wesentlich geschickter und schneller ausführen können. Diese positiven Auswirkungen rechtfertigen eine Wiederherstellung der Arm- und Handfunktion bei Kindern, sobald sie nach den oben genannten Kriterien für eine solche Operation in Frage kommen. 59.1.9 Ergebnisse Die funktionellen Resultate nach einer Rekonstruktion der tetraplegischen Hand lassen sich teilweise durch Messungen der Gelenkbeweglichkeit (z. B. Extensionsdefizit am Ellenbogen) und Parameter wie Greifkraft überprüfen. Moderne Ergebnisbewertungen beziehen die individuellen Wünsche des Patienten und deren postopertive Verwirklichung ein, z. B. der Canadian Occupational Performance Measure (COPM).
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> Schlechte subjektive Bewertungen spiegeln oft weniger die funktionellen Ergebnisse, sondern eher wirklichkeitsferne Erwartungen mancher Patienten wider, wodurch die Wichtigkeit einer klaren und realistischen Information über die Möglichkeiten und Grenzen dieser Konzepte erkennbar wird.
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Spezielle Techniken
59.2.1 Wiederherstellung der Ellbogenstreckung
(Trizepsfunktion) Der M. triceps brachii wird aus dem Segment C7 versorgt und ist daher nach einer Schädigung des Rückenmarks im Halsbereich (Tetraplegie) meist gelähmt. Bei Tetraplegikern mit hohem und mittlerem Läsionsniveau und fehlender Ellbogenextension ist der Aktionsradius der Hand minimal, sie kann nur durch eine schleudernde Trickbewegung gegen die Schwerkraft vom Körper wegbewegt und im Raum platziert werden kann. > Die Wiederherstellung der aktiven Ellenbogenstreckung ist integraler Bestandteil der chirurgischen Rehabilitation der oberen Extremität von Tetraplegikern, weil diese unbedingt notwendig ist, um die Hand im Raum einzusetzen und Manöver zur Druckentlastung (der Sitz- oder Liegefläche).
Zudem beruhen viele Techniken zur Wiederherstellung der Greiffunktion der Hand auf einer Transposition des M. brachioradialis, dessen beugende Wirkung am Ellenbogen nach einer Transposition neutralisiert oder antagonisiert werden muss, um eine gute Steuerbarkeit der Hand zu erreichen. Zur Wiederherstellung der Ellenbogenstreckung gibt es zwei klassische Möglichkeiten: 1. die Transposition des hinteren Deltoideusanteils und 2. die Umlagerung des M. bizeps brachii. Die Verfahrensauswahl beruht primär auf einer genauen körperlichen Untersuchung mit manueller Prüfung der Muskelkraft, weiterhin in Absprache mit dem Patienten auf den unterschiedlichen Nachbehandlungen (⊡ Tab. 59.4; ⊡ Tab. 59.5). Beide Methoden führen in erfahrenen Händen zuverlässig zu einer Ellenbogenstreckung gegen die Schwerkraft oder sogar gegen Widerstand, im Durchschnitt wird der Kraftgrad von 0 auf 3,3 gesteigert, die neu gewonnene Funktion ist für Tetraplegiker im Alltag von größtem Nutzen (⊡ Abb. 59.6).
Trizepsersatz durch Transposition Pars posterior des M. deltoideus Diese von Moberg (1979) bekannt gemachte Methode gilt als zuverlässige Standardtechnik bei Tetraplegikern, außer wenn, z. B. durch Lähmung des M. pectoralis major, bereits eine vordere Instabilität der Schulter besteht und daher der hintere Deltoideusanteil erhalten werden sollte. Die Operation erfolgt in Rückenlage mit frei beweglicher, steriler Auslagerung des Armes in leichter Abduktion auf dem Handtisch, in Blutleere und Intubationsnarkose oder Plexusanästhesie mit Blockade des N. axillaris. Der Zugang beginnt über eine s-förmige Inzision etwa 2 cm unterhalb der Spina scapulae über dem hinteren Anteil des M. deltoideus und reicht etwa 5 cm nach distal, sodass die Tuberositas des M. deltoideus dargestellt wird. Der M. deltoideus wird mobilisiert und die Grenze zwischen dem mittleren und dem hinteren Anteil bestimmt. Der hintere Muskelanteil wird identifiziert und mit dem Periost abgelöst (⊡ Abb. 59.6a).
! Cave Die dorsale Aponeurose des Spendermuskels muss unbedingt bei der Ablösung des Muskels eingeschlossen werden, da nur diese Struktur genug Stabilität zur Befestigung des Sehnentransplantates bietet.
Die dorsale Aponeurose reicht mit ihrem distalen Anteil durchschnittlich bis 16 mm proximal des Apex der Insertion. Die Sehne des M. tibialis anterior wird durch eine anteriore Inzision an ihrer Insertion und am muskulotendinösen Übergang durchtrennt und herausgezogen (⊡ Abb. 59.6b). Der hintere Anteil des M. deltoideus wird nach proximal mobilisiert und es wird ein subkutaner Tunnel von der Insertion des M. deltoideus zur distalen Trizepssehne durch eine dorsale Inzision auf Höhe des Olekranons geschaffen. Die Sehne des M. deltoideus und das Sehnentransplantat des M. tibialis anterior werden proximal etwa 5 cm überlappend mit 2/0-Nähten in fortlaufender Technik vernäht (⊡ Abb. 59.6c). Das Sehnentransplantat wird an der distalen Sehnenverbindung durch einen Schlitz in der flachen Trizepssehne gezogen und in Seit-zu-Seit-Technik mindestens 5 cm überlappend vernäht (⊡ Abb. 59.6d). Die Muskel-Sehnen-Einheit wird in eine mittlere passive Spannung gebracht, indem der Arm mit extendiertem Ellbogen an den Körper gelegt wird. Zur Markierung werden an 4 verschiedenen Positionen rostfreie Stahlnähte der Stärke 3/0 eingebracht: 1. an der Deltoideussehne, 2. am proximalen Ende des Sehnentransplantats, 3. am distalen Ende des Sehnentransplantats, 4. an der Trizepssehne im Abstand von 3 cm (⊡ Abb. 59.6f). Anhand dieser Markierungen kann später radiologisch eine eventuelle mechanische Überbelastung der Sehnennaht erkannt werden (s. unten).
Trizepsersatz durch Transposition des M. biceps brachii Die dorsale Transposition des M. biceps hat in den letzten Jahren wegen ihrer einfacheren Handhabung an Popularität gewonnen. Ursprünglich wurden hierzu vor allem Patienten ausgewählt, bei denen eine intakte Funktion der Mm. biceps, brachialis und supinator und eine Spastizität des M. biceps oder eine Flexionskontraktur des Ellenbogens von mehr als 20° vorlag. Der Zugang erfolgt über eine s-förmige Inzision entlang des medialen Oberarmes, horizontal über die Ellenbeuge und über dem M. brachioradialis auslaufend. Der früher verwendete Zugang von lateral sollte aufgrund der Gefahr einer Schädigung des N. radialis vermieden werden. Die Bizepssehne wird bis zu ihrer Insertion am Radius freigelegt und so nahe wie möglich am Knochen abgesetzt, bevor der Muskel unter Schonung des versorgenden Gefäß-Nerven-Bündels nach proximal mobilisiert wird. Nach Freilegung des M. triceps und seiner Aponeurose über einen dorsalen s-förmigen Schnitt werden die Spender- und Entnahmestelle medial durch einen Tunnel unterhalb der tiefen Muskelfaszie miteinander verbunden. Die hindurchgezogene Bizepssehne wird mit der Trizepssehne auf einer Strecke von mindestens 5 cm durch fortlaufende nicht resorbierende Nähte der Stärke 2/0 miteinander vereinigt. Die Spannung der Sehnennaht wird in voller Ellenbogenextension eingestellt, sodass der Ellenbogen passiv nicht über 30° gebeugt werden kann, wenn der Arm in 30°Abduktion steht (⊡ Abb. 59.7). Die postoperativ angelegte Gipsschiene hält den Arm in 10° Flexion und das Handgelenk in 30° Extension. Nach beiden Eingriffen erfolgt zunächst die Immobilisation über 4 Wochen. Danach wird eine verstellbare Orthese angelegt, mit der über die folgenden 8 Wochen bei 30° beginnend die Ellen-
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⊡ Abb. 59.6 Technik des Trizepsersatzes durch Transposition Pars posterior des M. deltoideus, a Trennung des hinteren vom vorderen Anteil des M. deltoideus, der mit dem Periost und der dorsal gelegenen Aponeurose abgelöst wird, b Entnahme der Sehne des M. tibialis anterior durch anteriore Inzision, c proximale Mobilisierung des hinteren Anteils des M. deltoideus und subkutane Tunnelierung bis zum Olekranon für das Sehnentransplantat. d Die Sehne des M. deltoideus und das Sehnentransplantat des M. tibialis anterior werden proximal etwa 5 cm überlappend mit nicht resorbierbaren 2/0-Nähten in fortlaufender Technik miteinander verbunden, e distale Fixierung zwischen Sehnentransplantat und Trizepssehne, f Stahlmarkierungen zur postoperativen Abstandskontrolle zwischen Spendermuskel (M. deltoideus), Sehneninterponat und Empfängermuskel (M. triceps brachii), z. B. um eine Überdehnung frühzeitig erkennen zu können, g spezielle Armstütze zur Vermeidung der Adduktion der Schulter und verstellbare Orthese zur schrittweisen Mobilisierung, um Zugbelastung und eine Überdehnung der Sehnennaht zu vermeiden, h präoperatives Bild bei einem 60jährigen Patienten, der sich mit seinem Enkel an seinem Geburtstag sichtlich über wiederhergestellte Ellenbogenstreckung und die damit verbundene erhebliche Erweiterung des Aktionsradius der Hand und auch der Gestik freut, i postoperatives Ergebnis. j Die Wiederherstellung der Ellenbogenstreckung ist für tetraplegische Patienten im Alltag vor allem zum gezielten Erreichen von Gegenständen auf oder über Schulterhöhe von größtem praktischem Nutzen
bogenflexion jede Woche um 10° gesteigert. Auch die Schulterabduktion ist zu vermeiden, um einer Überdehnung der Sehnennaht vorzubeugen. Ab einer Flexion von 90° kann die Schiene abgenommen und die Arbeit gegen Widerstand erlaubt werden. Bei der standardmäßigen Nachuntersuchung der Patienten 4 und 6 Wochen sowie 3 und 6 Monate nach der Operation werden
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Röntgenbilder angefertigt, auf denen sich der Abstand zwischen den Markierungen 1 und 2 (definiert als das proximale Intervall) und zwischen 3 und 4 (distales Intervall) unter Verwendung eines Kalibrierungslineals messen lässt. So kann eine Überdehnung frühzeitig erkannt und z. B. das Beübungsprogramm angepasst werden.
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M. biceps brachii Radius
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⊡ Abb. 59.7 Technik des Trizepsersatzes durch Transposition des M. biceps brachii. a Freilegen der Bizepssehne über s-förmigen medialen Zugang über dem Ellenbogen bis zur Insertion am Radius, bevor der Muskel schonend nach proximal mobilisiert wird. b Nach Freilegung des M. triceps und seiner Aponeurose über einen dorsalen s-förmigen Schnitt werden die Spender- und Entnahmestelle medial durch einen Tunnel und die durchgezogene Bizeps- mit der TrizepsSehne auf einer Strecke von mindestens 5 cm miteinander vereinigt
59.2.2 Wiederherstellung der Unterarmpronation Bei einigen Patienten, besonders bei hoher Halsmarkschädigung (Gruppe 0 und 1), kann es durch Ungleichgewicht zwischen noch funktionierende Supinatoren und schwachen oder gelähmten Pronatoren infolge der prolongierten Supination des Unterarms zu einer irreversible Retraktion der relaxierten Fasern der Membrana interossea kommen. Die fixierte Supinationskontraktur mit nach oben gewandter Handfläche ist für eine Greiffunktion sehr ungünstig.
Distale Transposition der Bizepssehne (»rerouting«) Zur Korrektur dieser Deformität ist die Versetzung des Ansatzes der Bizepssehne nach Zancolli oft ausreichend, je nach Bedarf mit oder ohne Durchtrennung der Membrana interossea. Voraussetzung ist die passive Korrigierbarkeit der noch nicht fixierten Supinationsstellung. Die Umlagerung der distalen Bizepssehne kann über einen palmaren Zugang durchgeführt werden. Nach der treppenförmigen Absetzung der Bizepssehne wird das proximale Ende nach lateral um den Radius herum geleitet und am proximalen Radius neu fixiert. Auf diese Weise wirkt der Zug an der Bizepssehne nicht mehr supinierend, sondern bringt den Unterarm in Pronation. Wenn nötig kann simultan die Desinsertion der Membrana interossea vorgenommen werden (⊡ Abb. 59.12). Anschließend erfolgt eine Immobilisierung für 6 Wochen.
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Dorsale Transposition des M. brachioradialis Alternativ ist auch eine dorsale Verlagerung des M. brachioradialis möglich, sodass dieser nicht nur eine Ersatzfunktion an der Hand (z. B. Daumenbeugung), sondern auch eine pronierende Wirkung übernimmt. Der M. brachioradialis wird durch die Membrana interossea hindurch auf die Beugerseite umgeleitet und hier mit der FPLSehne verbunden. Durch dieses Moment kann nicht nur die Daumenflexion, sondern auch die Unterarmpronation verbessert werden (⊡ Abb. 59.8).
Derotationsosteotomie des Radius Bei nicht korrigierbarer Fehlstellung oder Dislokation des Radiusköpfchens ist eine Derotationsosteotomie des Radius indiziert.
b ⊡ Abb. 59.8 Technik der dorsalen Transposition des M. brachioradialis. a Durch die dorsale Verlagerung des M. brachioradialis bei der Transposition auf die lange Daumenbeugersehne (FPL) kann ein simultaner Pronationseffekt beim Kneifgriff zwischen Daumen und Zeigefinger erreicht werden. b Bei der Transposition des M. brachioradialis muss dieser weit nach proximal mobilisiert und von Verwachsungen mit der Umgebung gelöst werden, um eine optimale Exkursion von mindestens 4-5 cm entfalten zu können
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Die Operation erfolgt in Rückenlagerung, der Arm ist abduziert gelagert. Der Zugang erfolgt von lateral zur proximalen Radiusmetaphyse, die subperiostal dargestellt wird. Im Anschluss an die an dieser Stelle durchgeführte schräge Osteotomie kann, falls notwendig, zusätzlich eine Desinsertion der Membrana interossea entlang der Ulna erfolgen. Der Unterarm sollte sich nun leicht in Pronationsstellung bringen lassen, die Osteosynthese wird in dieser Stellung mittels einer Kompressionsplatte gesichert. Die Extremität sollte durch einen Oberarmgips für 4 Wochen immobilisiert werden. 59.2.3 Wiederherstellung der Greiffunktion Bei der Rekonstruktion der Greiffunktion hängt die Wahl des Eingriffs eng mit der Anzahl transferabler Muskeln zusammen, die die Gruppeneinteilung bestimmt (⊡ Tab. 59.4, ⊡ Tab. 59.5). Bei fast allen Operationen verwenden wir die Seit-zu-Seit-Technik mit einer Überlappung von Spender- und Empfängersehnen um ca. 5 cm und zwei gekreuzten Nahtreihen, die neben besonders hoher Reißfestigkeit und Stabilität eine mechanisch günstige Steifigkeit bietet, die sie der konventionellen Pulvertaft-Flechtnaht überlegen macht (⊡ Abb. 59.9).
Funktionelle Elektrostimulation (FES)
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Patienten der Gruppe 0 verfügen über keinen zur motorischen Ersatzplastik nutzbaren Muskel unterhalb des Ellenbogens, Muskeltranspositionen versprechen keine Funktionsverbesserungen an der Hand. Durch die Implantation von Elektroden zur Aktivierung von Muskeln unterhalb des Läsionsniveaus (funktionelle Elektrostimulation, FES) lässt sich jedoch z. B. eine nützliche Greiffunktion zwischen Daumen und Zeigefinger wiederherstellen. Nachteilig ist, dass die äußeren Impulsgeber täglich neu angebracht werden müssen. Leider hat der technische Aufwand mit hohen Primär- und Folgekosten dazu geführt, dass entsprechende Systeme seit einigen Jahren aus wirtschaftlichen Gründen kaum mehr für Neuimplantationen zur Verfügung stehen.
Wiederherstellung der Handgelenkstreckung durch den M. brachioradialis > Zentrale Bedeutung hat die Handgelenkstreckung, da durch den bei der Funktionshand gebildeten Tenodeseeffekt das Öffnen oder Schließen der Finger und des Daumens möglich wird.
Durch Verlagerung des M. brachioradialis auf die Sehne des M. extensor carpi radialis brevis wird aus der sog. passiven Funktionshand eine aktive Funktionshand mit gut steuerbarem Tenodeseeffekt: Die Streckung des Handgelenks führt zur Beugung von Fingern und Daumen und zur Daumenadduktion, durch Fallenlassen der Hand kann die Hand geöffnet werden. Es wird ein passiver la-
teraler Kneifgriff zwischen Daumen und Zeigefinger (»key pinch« oder Schlüsselgriff) geschaffen (⊡ Abb. 59.10). > Bei jeder Verlagerung des M. brachioradialis ist eine weite proximale Lösung von Adhäsionen unter Schonung der versorgenden Gefäße und des Nervenastes notwendig, um eine optimale Muskelexkursion mit entsprechender Kraftentfaltung zu erzielen.
Die Spannung bei der Sehnennaht sollte ausreichend sein, um das Handgelenk in Neutralstellung zu halten, wobei passiv eine komplette Flexion möglich bleibt. ! Cave Der M. brachioradialis wird zur Rekonstruktion der Handgelenkstreckung im mittleren Unterarmbereich mit dem ECRB vernäht, der eine reine Extension bewirkt – ohne Radialdeviation, die entsteht, wenn aus Versehen der ECRL als Empfänger gewählt wird.
Postoperativ wird ein Oberarmgips bis zu den Fingergrundgelenken angelegt, der 4 Wochen verbleibt. Danach wird mit aktivem Training ohne Belastung begonnen und nachts eine unwillkürliche Handgelenkflexion durch Lagerungsschiene verhindert. Nach 2 Monaten ist eine schrittweise Belastungssteigerung und Alltagseinsatz erlaubt.
Wiederherstellung eines Lateral- oder Schlüsselgriffs Nach Wiederherstellung einer Handgelenkstreckung folgt die Rekonstruktion eines lateralen Kneifgriffes, idealerweise sollte die Daumenkuppe den Zeigefinger im Bereich des Mittelgelenks berühren.
Passiver Schlüsselgriff (Tenodese der FPL-Sehne am Radius, Operation nach Moberg) Ein passiver Kneifgriff zwischen Daumen und Zeigefinger (»key pinch« oder Schlüsselgriff) kann durch zusätzliche Tenodese des M. flexor pollicis longus am Radius verstärkt werden. Die erreichte Greifform hängt vollkommen von der Position des Handgelenks ab, bedeutet aber einen erheblichen Funktionsgewinn, weil sie einseitiges Halten und Handhaben von leichten Gegenständen ermöglicht, z. B. von Papieren, einer Zahnbürste oder Gabel.
Aktiver Schlüsselgriff – Motorisierung der Daumenbeugung durch den M. brachioradialis Motorisiert man mit dem M. brachioradialis den M. flexor pollicis longus (FPL), entsteht ein aktiver, kräftiger und steuerbarer Schlüsselgriff. Dieser Eingriff erlaubt es in der Regel zu schreiben, größere Gegenstände zu halten und auch gegen Widerstand zu bewegen. Dies erleichtert z. B. das An- und Auskleiden und macht in manchen Fällen das Katheterisieren der Blase ohne fremde Hilfe erst möglich.
Globales Einrollen der Finger zum Faustschluss (ECRL-pro-FDP 2–4) Funktionieren ab der Gruppe 3 neben dem M. brachioradialis beide radialen Handgelenkstrecker, kann bei erhaltener Handgelenkstreckung durch den ECRB der motorische Ersatz der tiefen Fingerbeuger durch den ECRL zusätzlich einen globalen Faustschluss (gleichzeitige Greifbewegung aller Finger) schaffen. > Beim Absetzen des Ansatzes der radialer gelegenen ECRL-
⊡ Abb. 59.9 Seit-zu-Seit-Technik zur Sehnenkoaptation. Bei der Sehnennaht bietet die Seit-zu-Seit-Technik mit einer Überlappung von ca. 5 cm und beidseitigen gekreuzten Nahtreihen eine hohe Stabilität, die der konventionellen Pulvertaft-Flechtnaht hinsichtlich Stabilität und überlegen ist eine sofortige Beübung der Sehnentransposition erlaubt
Sehne muss unbedingt auch der benachbarte ECRB dargestellt werden, da bei Verwechslung der beiden Muskeln statt einem Gewinn eine Funktionsverschlechterung eintreten kann, was angesichts der äußerst geringen Restfunktionen einen katastrophalen Fehler darstellt.
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Postoperativ kann der Handtherapeut durch gezielte Berührung für den Patienten die neue Funktion nach der Muskelumlagerung »spürbar« machen und ihm so ein motorisches Umlernen erleichtern (⊡ Abb. 59.17) Diese Operationen geben dem Patienten einen Lateralgriff und eine Greifmöglichkeit der gesamten Hand mit Kraft (»grasp«), mit der er größere Gegenstände, wie z. B. Flaschen, Mobiltelefone oder Gegenstände mit Griff oder Henkel handhaben kann. Dies ermöglicht ihm oft eine fast vollkommene Unabhängigkeit beim Anziehen, bei der Pflege der oberen Körperhälfte, beim Essen und bei der Zubereitung von Mahlzeiten sowie beim Bewegen des Rollstuhlrades (⊡ Abb. 59.11).
Positionierung und Stabilisierung des Daumens Die Instabilität des Daumens stellt ein wesentliches Greifhindernis dar, die durch folgende Eingriffe korrigiert werden kann.
Zügelung des Daumenendgelenks mit der geteilten FPL-Sehne Aufgrund der fehlenden aktiven Daumenstreckung kann leicht eine funktionell ungünstige Hyperflexion des Daumenendgliedes (Froment-Zeichen) entstehen. Diese kann durch Transposition eines distal gestielten Streifens der Flexor-pollicis-longus-Sehne auf die Daumenstreckerhaube verhindert werden (⊡ Abb. 59.12).
⊡ Abb. 59.10 Technik der Wiederherstellung der Handgelenkstreckung durch den M. brachioradialis. a Vereinigung der Brachioradialis- und der Flexor-pollicis-longus-Sehne mit einer Überlappung von 4–5 cm, b Einstellung der Sehnenspannung so, dass bei mittelgradiger Handgelenkextension die Daumenkuppe den radialen Zeigefinger in Höhe des Mittelgelenks berührt , c präoperative Greifform mit schwacher Berührung zwischen Daumen und Zeigefinger durch Tenodese bei Handgelenkstreckung, d kräftiger Kneifgriff, unabhängig von der Handgelenkposition nach Motorisierung des M. flexor pollicis longus durch Brachioradialistransposition, e präoperativ ist dem Patienten (Gruppe IC 3) das Halten eines Stiftes nur mit beiden Händen und Einsteckhülse möglich, f nach der Wiederherstellung der Daumenbeugung gelingt das einhändige Schreiben ohne Probleme
Sattelgelenkarthodese des Daumens Zur knöchernen Stabilisierung und besseren Positionierung kann der Daumenstrahl durch Versteifung des Sattelgelenks dem Zeigefinger beim Schlüsselgriff gegenübergestellt werden. Die Arthrodese sollte mittels Kirschner-Drähten oder Miniplattenostesynthese in einer Idealposition von 30° Abduktion, 30° Supination und 30° Rotation (»30-30-30-Regel«) erfolgen. ! Cave Es ist zu beachten, dass die CMC-Gelenk-Arthrodese zu einer Verkürzung des Daumens um 1–2 cm führt; die Einstellung der Spannung von Sehnentranspositionen zur Motorisierung des Daumens ist erst im Anschluss an diesen Eingriff sinnvoll.
Wiederherstellung der Handöffnung (Streckerphase) Die Rekonstruktion der Handöffnung erleichtert das Ergreifen größerer Gegenstände (z. B. Flaschen), der gleichmäßigere Muskeltonus wirkt sich positiv auf die Ästhetik der Hand und den zwischenmenschlichen Kontakt (Handgeben oder Streicheln) aus. Eine Verbesserung der Handöffnung ist vor allem wichtig, wenn z. B. bei Spastik der Fingerflexoren die Schwerkraft oder der Tenodeseeffekt bei der Handgelenkflexion nicht ausreicht, um die Finger in Streckung zu bringen.
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⊡ Abb. 59.11 Technik des ECRL-pro-FDP 2–4 zur Wiederherstellung des globalen Einrollens der Finger zum Faustschluss. a Vergleich der Greifmöglichkeit eines 21-jährigen Tetraplegikers der Gruppe 6 zum Antrieb des Rollstuhlrades vor (bloßes Abstoßen, kein Überwinden von Steigung oder Hindernis möglich) und b nach Rekonstruktion eines Schlüsselgriffs zwischen Daumen und Zeigefinger mittels BR-pro-FPL-Transposition (kräftiges Ergreifen des Rades und sicheres Manövrieren auch bergauf) und c eines Globalgriffs mit Beugung der Finger durch ECRL-pro-FDP-Transposition zum Halten und Öffnen einer Schnupftabakdose
Rekonstruktion der intrinischen Handfunktion Durch Rekonstruktion der Funktion der Handbinnenmuskeln kann die Greifform sowie die Kraft und Feinmotorik der Hand verbessert werden.
Rekonstruktion der Palmarabduktion des Daumens (EDM-pro-APB) Die Transposition des M. digiti minimi auf den gelähmten M. abductor pollicis brevis ermöglicht eine exakte Positionierung der Daumenkuppe auf der Radialseite des Zeigefingers und einen in Kraft und Richtung dosierbaren subterminalen Griff, mit dem selbst kleine und runde Gegenstände, wie z. B. Tabletten, beherrscht und feinmotorische Tätigkeiten bewältigt werden können (⊡ Abb. 59.13).
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b ⊡ Abb. 59.12 Technik der Zügelung des Daumenendgelenks mit der geteilten FPL-Sehne. a intraoperativer Aspekt: stabilisierende Tenodese des Daumenendgelenks zur Vermeidung einer Hyperflexion (Froment-Zeichen) durch die distal geteilte FPL-Sehne, b postoperativer Aspekt
Passive Öffnung (Tenodese) der 1. Kommissur Durch Tenodese der EPL- und EPB-Sehne am Retinaculum extensorum kann die Hand durch Handgelenkbeugung passiv geöffnet werden.
Aktive Handöffung (Muskeltransposition) Eine aktive Handöffnung kann mittels Motorisierung der EPL-, APL- oder EDC-Sehne, z. B. durch den M. pronator teres erreicht werden. Auch die Rekonstruktion der intrinsischen Handfunktion verbessert die PIP-Extension und so die Öffnung der Finger.
Lasso-Plastik nach Zancolli Die intrinsische Funktion der Mm. interossei wird mit der »LassoTechnik« nach Zancolli wiederhergestellt. Mit dieser Technik wird verhindert, dass sich bei Lähmung der intrinsischen Muskulatur beim Faustschluss wie beim Einrollen eines Teppichs zunächst die End- und Mittelgelenke, dann erst die Grundgelenke beugen und Gegenstände z. T. unwillentlich wieder aus der Hand befördert werden. Die Lasso-Plastik normalisiert den Bewegungsablauf bei der Fingerbeugung, verstärkt den Grobgriff verhindert die Bildung einer »Kralle«, durch die alle kleineren Gegenstände hindurchfallen können. Das Prinzip dieser Operation ist die Vernähung der oberflächlichen Beugesehnen als Schlaufe mit sich selbst um das A1Ringband herum zur Synchronisation der Fingerbeugung und Besserung des Faustschlusses (⊡ Abb. 59.14).
Interosseustenodese nach House Zur intrinsischen Rekonstruktion nach James House werden Sehnentransplantate (meist die geteilte FDS-IV-Sehne) von der radialen Seite der Streckerhaube am proximalen Grundglied des Zeigefingers palmar durch den Lumbricaliskanal nach proximal gebracht, unter dem Lig. intermetacarpale durchgezogen und distal an der radialen Streckerhaube des Mittelfingers fixiert. Das gleiche Vorgehen kann an Ring- und Kleinfinger wiederholt werden, um auch hier durch Vorspannung eine funktionell günstigere Fingerflexion (durch Grundgelenkbeugung) und Öffnung der Hand (durch verstärkte Extension der PIP-Gelenke) zu gewährleisten (⊡ Abb. 59.15). Die radiale Insertion hat hierbei den Vorteil, dass die Fingerbewegung bei Tenodese oder nach aktiver Motorisierung (z. B. durch den ECRL) nach radial gerichtet ist.
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b
c
⊡ Abb. 59.13 Technik der Rekonstruktion der Palmarabduktion des Daumens (EDM-pro-APB). a Mobilisierung, distale Absetzung, b Durchzug des M. digiti minimi durch die Membrana interossea zur Motorisierung des gelähmten M. abductor pollicis brevis. c Nach Neuinsertion gewinnt der Patient die Palmarabduktion des Daumens wieder und kann so den 1. Zwischenfingerraum aktiv öffnen und die Daumenkuppe auf der Radialseite des Zeigefingers positionieren und Kraft sowie Richtung des subterminalen Griffs abstimmen
Kombinierte Rekonstruktion von Beuger- und Streckerphase
⊡ Abb. 59.14 Technik der Lasso-Plastik nach Zancolli (Zancolli II): Vernähung der oberflächlichen Beugesehnen mit sich selbst um das A1-Ringband herum zur Synchronisation der Fingerbeugung und Besserung des Faustschlusses
Aufgrund der gegensätzlichen Nachbehandlung wurden Operationen zu Handschluss und -öffnung traditionell meist zweizeitig im Abstand von mindestens 3–6 Monaten durchgeführt. Die Reihenfolge hängt von der Philosophie der Chirurgen ab, manche rekonstruieren erst die funktionell wertvollere Beugephase, andere, wie beim natürlichen Greifvorgang, zunächst die Handöffnung. Problem ist hierbei das größere Operationsrisiko, insbesondere für Adhäsionen und die Scheu vieler Patienten vor einer zweimaligen Operation und Nachbehandlung. Als Alternative kann daher auch die Beugerphase mit zusätzlichen Eingriffen zur Verbesserung der intrinsischen Handfunktion (Operation nach House ) und Eingriffen zur passiven Handöffnung (z. B. EPL-Tenodese, CMC-Arthrodese) und Verhinderung der Radialdeviation des Handgelenks bei Extension (ECU-Tenodese) kombiniert werden. Die simultane Rekonstruktion von Flexor- und Extensorphase mit intrinsicher Wiederherstellung in einem Schritt wird als »advanced balancing combined digital extension flexion grip reconstruction« (ABCDEFG-Rekonstruktion oder »alphabet procedure«) bezeichnet (⊡ Tab. 59.7). So kann in einem Schritt die Rückkehr einer vielseitigen Handfunktion ermöglicht werden (⊡ Abb. 59.16) 59.2.4 Zusatzeingriffe bei Spastik Spastische Fehlstellungen im Bereich der Hand können durch Ödem, Hämatom, ischämische Muskelschädigungen oder zusätzliche zentrale Läsionen verstärkt werden. Bei milder Ausprägung sind vor allem die Mittel- und Endgelenke betroffen, die Grundgelenke nur wenig beeinträchtigt. Schwere Ausprägungen betreffen alle Fingergelenke. > In den letzten Jahren sind bei der stetig ansteigenden Anzahl von inkompletten Rückenmarklähmungen immer häufiger Korrekturoperation bei spastisch gelähmten und verkürzten Muskeln an der Hand notwendig.
Folgende Techniken sind in diesem Zusammenhang nützlich: ⊡ Abb. 59.15 Technik der Interosseustenodese nach House. Strecksehnentenodese zur Verstärkung der Grundgelenkbeugung beim Schließen der Hand und Mittelgelenkstreckung der Finger zur Handöffnung
Littler Release In vielen Fällen genügt die partielle Resektion (Fensterung) der Seitenzügel der Streckaponeurose, die Insertion der Mm. inter-
59
1692
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
a
b
c
⊡ Abb. 59.16 Funktionswiederkehr einer vorher nur als Gegenhalt brauchbaren Hand nach simultaner Wiederherstellung von Flexor- und Extensorphase mit intrinsicher Wiederherstellung und Daumen- und Handgelenkstabilisation als »Advanced Balancing Combined Digital Extension Flexion Grip reconstruction« (ABCDEFG-Rekonstruktion) nach Fridén
⊡ Tab. 59.7 Kombinierte Wiederherstellung der Handfunktion mit simultaner Beuger- und Streckerphase, abgekürzt A-B-C-D-E-F-G (»advanced balancing combined digital extension-flexion grip«)
59
Operationsschritt
Funktionsziel
1
FPL-Tenodese des IP-Gelenks
Verhinderung der Daumenendgelenkhyperflexion
2
CMC-Arthrodese
Stabilisierung des Daumens, bessere Positionierung in 30° Radialabduktion, Rotation und Pronation
3
BR-pro-FPL-Transposition
Aktive Daumenbeugung, Kneif-/Schlüsselgriff
4
ECRL-pro-FDS-2–4-Transposition
Aktives Einrollen/Beugen der Finger
5
ECU-Tenodese auf Caput ulnae
Minimierung der Radialabweichung des Handgelenks
6
EPL-Tenodese auf Unterarmfaszie
Passive Öffnung der 1. Kommissur bei Handgelenkflexion
7
Intrinsische Rekonstruktion a) Tenodese mit Sehnentransplantaten (House)
Korrektur von Dysbalance, Verbesserung der Fingerbeugung und -streckung
b) FDS-auf-A1-Ringband (Zancolli) c)
EDM-pro-APB-Transposition
Reaktvierung der Palmarabduktion
ossei am Grundglied bleibt erhalten. Über einen mediodorsalen Längsschnitt kann die Teilentfernung auf beiden Seiten des Fingers vorgenommen werden, meist reicht jedoch die Entfernung der ulnaren Schrägfasern (»ulnar wing resection«) aus, um den Bewegungsumfang um ca. 30–40° zu verbessern. Bei Belassen der radialen Anteile verbleibt eine bessere Stabilität beim Lateralgriff zwischen Daumen und Zeigefinger (⊡ Abb. 48.17). Dieser Eingriff ist einfach und führt zu einem sofortigen Ergebnis ( Kap. 48). Verlängerungen der extrinsischen Fingerbeuger (FDS/FDP) Bei der Tenotomie der Beugesehnen etwa 1–2 cm proximal des Karpalkanals wird diese auf einer Strecke von 6–8 cm in Längsrichtung z-förmig inzidiert, wodurch nach Verschiebung der Sehnenstümpfe eine Verlängerung um 2–3 cm erzielt werden kann ( Kap. 48). Sonstige operative Eingriffe Weitere funktionsverbessernde Eingriffe bei spastischen Muskelverkürzungen sind Myotomien, z. B. des M. adductor pollicis oder M. pronator teres oder eine Tenomyotomie der Handgelenkbeuger.
59.2.5 Zusatzperspektiven
Neue Muskeltranspositionen Anatomische und klinische Studien nach Plexus-brachialis-Verletzungen haben gezeigt, dass der M. brachialis und der M. supinator, jeweils verlängert durch Sehnentransplantate, zur Rekonstruktion der Handgelenk- und Fingerstreckung oder der Daumenbeugung verlagert werden können, was insbesondere bei Patienten der Gruppe IC 0 und 1 wertvoll wäre.
Nerventranspositionen Zusätzliche Rekonstruktionsmöglichkeiten könnten in Zukunft durch Nerventranspostionen erreicht werden, also durch extraanatomischen Kurzschluss zwischen verzichtbaren Nervenfaszikeln eines Spendernervs oberhalb der Rückenmarkläsion und dem motorischen Ast eines gelähmten Muskels darunter. Nerventranspositionen haben sich in den letzten Jahren vor allem bei Plexusbrachialis-Läsionen etabliert, wurden aber bisher nur selten bei Querschnittslähmungen angewandt. In einer Arbeit von 1991 wurde über 42 Fälle einer Transposition des motorischen M.-brachialis-Astes des N. musculocutaneus auf den N. medianus berichtet,
1693 59.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
wobei in über 30 Fällen eine funktionell wertvolle Greiffunktion rekonstruiert wurde, vorwiegend bei jungen und innerhalb von 3–6 Monaten operierten Patienten. Bei dieser Operationstechnik muss jedoch mit einem hohen Verlust motorischer Fasern durch Reinnervation des teilweise sensiblen N. medianus gerechnet werden. Ideal wäre eine Koaptation von verzichtbaren rein motorischen Spenderaxonen mit rein motorischen Empfängerfasern über eine möglichst kurze Regenerationsdistanz. Theoretisch scheinen hierzu einige Spendernerven geeignet, z. B. ▬ N.-axillaris-Äste zum hinteren M. deltoideus oder M. teres minor, ▬ N.-radialis-Äste zum M. supinator oder ▬ Abgänge des N. musculocutanus zum M. coracobrachialis oder M. brachialis. Vorteil bei Rückenmarkläsion gegenüber peripheren Nervenläsionen wäre, dass sowohl der Spender- als auch der Empfängernerv intakt ist und sich die am besten geeigneten Faszikel durch intraoperative Nervenstimulation exakt bestimmen ließen. Da bei Erhalt des unteren Motoneurons die spinalen Reflexe erhalten bleiben, tritt bei einem zentral gelähmten Muskel nicht wie nach peripherer Lähmung nach 2 Jahren eine Degeneration der motorischen Endplatten ein, sondern er bleibt theoretisch jahrelang sowohl extern (FES) als auch intern (Nerventransposition) stimulierbar. Unklar ist, ob eine solche nervale Rekonstruktion auch noch Jahre später möglich ist oder schon möglichst früh, also 3–6 Monate nach der Rückenmarkverletzungen durchgeführt werden sollte und damit wesentlich eher als konventionelle Methoden eingesetzt werden. 59.3
wicklung eines Muskels hängt direkt von der Länge des Sarkomers ab, der kleinsten kontraktilen Einheit des Muskels. Ist der Muskel entweder stark gestreckt oder verkürzt, entfaltet sich durch die ungünstigen Interaktionen zwischen den Myofilamenten sehr viel weniger Zugkraft. Die bei der Transposition »gefühlte« passive Muskelspannung ist kein Maß für die optimale Muskellänge, weil ein Muskel oft erst eine taktil wahrnehmbar höhere Spannung entwickelt, wenn er bereits so überdehnt ist, dass er nur mehr einen Bruchteil der größtmöglichen Kraft entwickeln kann. Im konkreten Beispiel einer simulierten M.-brachioradialis-Transposition zum Ersatz der Daumenbeugung erbrachte die »gefühlte« Muskelspannung nur durchschnittlich 23% der theoretisch möglichen Kraftentwicklung, unabhängig von der Erfahrung des Chirurgen. Dies ist klinisch von größter Relevanz, weil bei den meisten Patienten nach ausgedehnter Lähmung der oberen Extremität nur wenige Spendermuskeln zur Verfügung stehen, deren höchst wertvolle aktive Ersatzfunktion mehr oder weniger in einer passiven Tenodese verloren gehen kann. Da zudem die Architektur auch von benachbarten Muskeln (wie ECRL und ECRB) vollkommen unterschiedlich sein kann, ist eine Korrelation der jeweiligen Muskellänge mit der optimalen passiven Muskelspannung und der gewünschten Sarkomerlänge unmöglich. 59.3.3 Verklebungen von Sehnen und Muskeln Dieses Risiko lässt sich durch ein narbenfreies Gleitlager, die Vermeidung von Hautinzisionen genau über dem Verlauf der transponierten Sehne und eine frühzeitige krankengymnastische Mobilisation vermindern.
Fehler, Gefahren und Komplikationen 59.3.4 Fehler in der Nachbehandlung
Die oben beschriebenen Operationen sind zuverlässig und risikoarm, die meisten über Jahrzehnte bewährt. Komplikationen sind selten, sie können in der Planung, operativen Umsetzung oder Nachbehandlung passieren und den Operationserfolg schmälern oder verhindern. 59.3.1 Wahl eines zu schwachen Spenders Wird der Kraftgrad eines Motormuskels präoperativ überschätzt, z. B. als Kraftgrad M4, tatsächlich ist aber nur M3 vorhanden, so kann sich nach der Transposition eine Bewegungsmöglichkeit nur unter Ausschaltung der Schwerkraft (M2) resultieren, die funktionell wertlos ist. Hier ist eine besonders sorgfältige klinische Testung notwendig, z. B. beim hinteren Anteil M. deltoideus vor einem geplanten Trizepsersatz. Schwierig ist auch oft die Einschätzung der Kraft der radialen Handgelenkstrecker: Bei zu schwachem ECRB besteht nach Transposition des ECRL auf die tiefen Fingerflexoren die Gefahr eines Verlusts der Handgelenkstreckung. Diese schwierige Situation konnte durch Verlagerung des halben ECRL auf den ECRB aufgrund des Synergismus von Handgelenkextension und Fingerflexion gerettet werden. 59.3.2 Falsche Spannung des Spendermuskels Die ungenügende oder übermäßige Spannung eines verlagerten Muskels ist ein erheblich unterschätztes Problem: Die Kraftent-
Gefahren bestehen hier durch Ausreißen oder Überdehnung der Sehnennaht infolge einer unkontrollierten Überlastung bei der Beübung. ! Cave Durch chronisch falsche Belastung kann es auch im Langzeitverlauf durch mechanisches Nachgeben zum Funktionsverlust kommen, hier ist eine genaue Schulung des Patienten wichtig.
Dies gilt vor allem für statische Rekonstruktionen, wie z. B. Zancolli-Lasso-Plastik oder die Tenodeseoperation nach House. Der Patient muss von Anfang an lernen, seine Rekonstruktion zu schützen und z. B. passive Extension der MCP-Gelenke oder Belastung der flachen Hand beim Transfer des Körpergewichts unbedingt zu vermeiden. Die Finger sollten am besten eingerollt und das Gewicht auf den Grundgliedern abgestützt werden (⊡ Abb. 59.17). 59.3.5 Postoperative Deformitäten Eine Deformität des eingeschlagenen Daumens (»thumb in palm«) kann durch eine Daumen-Sattelgelenk-Arthrodese, Verlängerung der FPL-Sehne oder Ablösung des M. adductor pollicis korrigiert werden. Bei Ausbildung einer faustartig fixierten Fingerbeugestellung (»clenched fist«), z. B. nach isolierter Flexorphase, kann eine Beugesehnenverlängerung, Verlagerung der FDS 3/4 auf die M. interosseii 1–4 oder eine Ablösung des M. adductor pollicis hilfreich sein.
59
1694
Kapitel 59 · Handchirurgie bei Rückenmarkverletzungen (Tetraplegie)
⊡ Abb. 59.17 Handtherapeutische Aktivierung der Empfängersehnen nach ECRL-pro-FDPund BR-pro-FPL-Verlagerung, um die neuen Handfunktionen für den Patienten »spürbar« zu machen und ein motorisches Umlernen zu erleichtern
59
Weiterführende Literatur Anderson K, Fridén J, Lieber R (2009) Acceptable risks and benefits associated with surgically improving arm function in individuals living with cervical spinal cord injury. Spinal Cord 47: 334–338 Berger A, Hierner R (Hrsg) (2009) Plastische Chirurgie, Band IV: Extremitäten. Springer, Heidelberg Betz RR, Mulcahey MJ (Hrsg) (1996) The child with a spinal cord injury. American Academy of Orthopaedic Surgeons, Rosemont Brown SH, Hentzen ER, Kwan A, Ward SR, Fridén J, Lieber RL (2010) Mechanical strength of the side-to-side versus Pulvertaft weave tendon repair. J Hand Surg 35A: 540–545 Fridén J (Hrsg) (2005) Tendon Transfers in Reconstructive Hand Surgery. Taylor & Francis, London Fridén J, Reinholdt C (2008). Current Concepts in Reconstruction of Hand Function in Tetraplegia. Scand J Surg 97: 341–346 Gohritz A, Fridén J, Herold C et al. (2007) Ersatzoperationen bei Ausfall motorischer Funktionen an der Hand. Unfallchirurg 110: 759–776 Gohritz A, Fridén J, Spies M, Herold C, Guggenheim M, Knobloch K, Vogt PM (2008) Nervale und muskuläre Ersatzoperationen zur Wiederherstellung der gelähmten Ellenbogenfunktion. Unfallchir 111: 85–101 Hamou C, Shah NR, DiPonio L, Curtin CM (2009) Pinch and elbow extension restoration in people with tetraplegia: a systematic review of the literature. J Hand Surg 34A: 692–699 Hentz VR, Leclercq C (2002) Surgical rehabilitation of the upper limb in tetraplegia. Saunders, London Kozin SH (2008) Pediatric onset of spinal cord injury: Implications on management of the upper extremity in tetraplegia. Hand Clin 24: 203–213 Krasuski M, Kiwerski J (1991). An analysis of the results of transferring the musculocutaneous nerve onto the median nerve in tetraplegics. Arch Orthop Trauma Surg 111: 32–33 Leclercq C, Hentz VR, Kozin SH, Mulcahey MJ (2008) Reconstruction of elbow extension. Hand Clin 24: 185–201 McDowell CL, Moberg E, House JH (1986) The second international conference on surgical rehabilitation of the upper limb in tetraplegia. J Hand Surg 11A: 604–608 Moberg E (1979) The upper limb in tetraplegia. A new approach in surgical rehabilitation. Thieme Stuttgart
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1695 59.3 · Weiterführende Literatur
Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons Andreas Gohritz, Jan Fridén, Peter M. Vogt
60.1
Allgemeines – 1696
60.1.1 60.1.2 60.1.3 60.1.4 60.1.5 60.1.6 60.1.7 60.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie – 1696 Epidemiologie – 1697 Ätiologie – 1697 Diagnostik – 1698 Klassifikation – 1700 Indikationen und Differenzialtherapie – 1701 Therapie – 1704 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1708
60.2
Spezielle Techniken
60.2.1 60.2.2 60.2.3 60.2.4 60.2.5
Eingriffe an der Schulter – 1710 Eingriffe am Oberarm und Ellbogen Eingriffe am Unterarm – 1711 Eingriffe am Handgelenk – 1712 Eingriffe an der Hand – 1713
– 1710 – 1711
60.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen – 1717
60.3.1 60.3.2
Lähmungsbedingte Komplikationen – 1717 Therapiebedingte Komplikationen – 1718
Weiterführende Literatur
– 1718
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
60
1696
60.1
60
Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
Allgemeines
Jeder von uns kann jeden Tag durch eine Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) aus seinem gewohnten Leben gerissen werden – sei es durch traumatische Hirn- oder Rückenmarkverletzung, Schlaganfall, Hypoxie oder Infektion. Aufgrund der Fortschritte in der Akutversorgung und Langzeitrehabilitation nimmt die Anzahl der Überlebenden mit zerebralen Erkrankungen stetig zu, allein in Deutschland gibt es z. B. geschätzt 140.000 Menschen mit Halbseitenlähmung nach Hirninfarkt und 70.000 Menschen mit einer angeborenen schweren Form der Zerebralparese, der häufigsten Form einer körperlichen Behinderung. Gemeinsam ist eine Dysfunktion des oberen Motoneurons (DOM) oder seiner absteigenden Pyramidenbahn in Höhe von Kortex, Capsula interna, Hirnstamm oder Rückenmark. Markantestes Merkmal ist die spastische Lähmung, deren Benennung sich vom griechischen Wort »spasmos« für »Krampf« (lat. »spasmus«) ableitet und die typischerweise erhöhte Eigenspannung von Skelettmuskeln nach Schädigung des zentralen Nervensystems bezeichnet. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Pionier der Körperbehindertenfürsorge Konrad Biesalski in Berlin und andere deutsche Chirurgen und Orthopäden wie Vulpius, Stoffel oder Lange den hohen Wert einer orthopädischen und chirurgischen Therapie bei spinaler, zerebraler und neuromuskulärer Schädigung erkannt. Durch Besserung der Haltungs-, Gang-, Greif- und Bewegungsstörungen sollte die Eigenständigkeit, Erwerbsfähigkeit und gesellschaftliche Integration der Betroffenen gesteigert werden. Trotz dieses historischen Erbes und hohen Niveaus der modernen Akutversorgung und modernen konservativen Rehabilitationsmedizin ist die Bekanntheit und Berücksichtigung der handchirurgischen Funktionsverbesserung bei zerebralen Bewegungsstörungen auch im deutschsprachigen Raum sehr gering. Mögliche Gründe für diese verbesserungswürdige Situation sind nach Facca et al. (2010): ▬ weitverbreitete Unkenntnis um diese Optionen, ▬ Fehleinschätzungen ihrer Risiken und Vorteile, ▬ fehlende interdisziplinäre Zusammenarbeit und ▬ Isolation vieler Patienten in nichtmedizinischen Einrichtungen. Angesichts der relativ spärlichen Literatur muss bei der enormen Anzahl möglicher Kandidaten auch ein mangelndes Interesse von chirurgischer Seite angenommen werden. Die meisten Arbeiten beschäftigen sich mit kindlicher Zerebralparese, seltener mit der Funktionsverbesserung nach traumatischer Hirnschädigung oder vaskulärem Infarkt. Gerade bei diesen Patienten wird die Indikation zu Operationen selten gestellt, wobei schon allein eine verbesserte Hygiene und Ästhetik einen enormen Gewinn für die Gesamtfunktion der betroffenen oberen Extremität dieser oft auch jungen Patienten bringen kann. > Obwohl die primäre neurogene Schädigung nicht heilbar ist, kann durch Förderung und Rehabilitation der neurobiologisch formbaren Sensomotorik und Vorbeugung und Behandlung von Bewegungseinschränkungen die Gebrauchsfähigkeit der oberen Extremität und damit auch das Selbstvertrauen des Patienten positiv beeinflusst werden.
Ziel der chirurgischen Therapie ist die Korrektur von muskulären Dysbalancen zwischen Agonisten und Antagonisten und der sich hieraus ergebenden osteoartikulären Fehlstellungen. Hier stehen dem Handchirurgen Operationen am peripheren Nerven (Hyponeurotisation, Neurektomie) oder Eingriffe am Muskel zur Verfügung, die entweder den agonistischen Muskel schwächen
(Muskeldesinsertion, Sehnenverlängerungen) oder die Wirkung des Antagonisten stärken (Muskeltransposition). Eine Stabilisierung des Handgelenks, der Finger oder des Daumens in funktionell günstiger Stellung kann mittels Arthrodese, Tenodese oder Kapsulodese erreicht werden. Es handelt sich um eine anspruchsvolle, aber für die Patienten – und auch die Operateure – sehr gewinnbringende Form der Handchirurgie. 60.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie
Neuroanatomische Grundlagen Spastische Lähmungen entstehen durch Läsionen motorischer Zentren von Gehirn und Rückenmark, insbesondere durch Läsionen der Pyramidenbahn des 1. Motoneurons. Bei diesen efferenten (ausführenden) Nervenbahnen wird zwischen dem 1. (oberen) und 2. (unteren) Motoneuron unterschieden. Während das 1. Motoneuron, dessen Zellkörper (Pyramidenzellen) im Gehirn liegen, Steuersignale für willkürliche Bewegungen über seine Axone (Pyramidenbahnen) an das untere Motoneuron weiterleitet, fungiert Letzteres als eigentlicher Muskelimpulsgeber. Die Motoneurone des Rückenmarks erhalten zudem über extrapyramidale Bahnen vorwiegend hemmende Signale, die eine übermäßige Muskelreaktion verhindern sollen. Über diese Bahnen werden auch unwillkürlichen Reflexe gesteuert. Die Summe der Informationen in den muskelansteuernden Motoneuronen des Rückenmarks entscheidet, in welchem Ausmaß ein Muskel sich kontrahiert, wobei ständig eine Feinabstimmung zwischen den Agonisten und Antagonisten einer Bewegung stattfindet. Auch die Grundspannung (Muskeltonus) eines nicht willkürlich innervierten Muskels wird über die absteigenden extrapyramidalen Bahnen geregelt. Ebenso möglich ist eine Schädigung des extrapyramidalen Systems, das durch hemmende Impulse den Tonus und die Eigenreflexe der Skelettmuskeln reguliert. Entfällt diese Kontrolle, kommt es zur Verkrampfung (Spasmus), wobei bei isolierter Schädigung des 1. Motoneurons – ohne Läsion des extrapyramidalen Systems – eine schlaffe Lähmung entsteht. Welche Vorgänge auf neuronaler Ebene die Spastik auslösen, ist teils noch unklar, diskutiert wird in diesem Zusammenhang eine Reorganisation durch Neubildung von synaptischen Kontakten (»collateral sprouting«) und die Umwandlung von inhibitorischen in exzitatorische Synapsen sowie eine sich ausbildende Rezeptorhypersensibilität. Diese neurophysiologischen Umbauprozesse werden als Plastizität des ZNS zusammengefasst.
Muskelanatomische Veränderungen Bei spastisch erhöhter Muskelspannung findet sich ein geschwindigkeitsabhängiger Dehnungswiderstand, d. h., der spastische Hypertonus ist umso stärker, je schneller ein Muskel passiv gedehnt wird (– im Gegensatz zum geschwindigkeitsunabhängigen Rigor). Mikroskopische Vergleiche zwischen normalem und spastischem Muskelgewebe zeigten veränderte mechanische Eigenschaften der spastischen Fasern, die etwa doppelt so steif waren und – verglichen mit einer normalen Muskelfaser – eine extrem kurze Sarkomerlänge aufwiesen. Spastische Muskulatur enthält wesentlich mehr extrazelluläre Matrix (60% des Muskelvolumens) als normale Muskulatur (5%), was zudem für ihre wesentlich schlechtere mechanische Qualität verantwortlich ist (Fridén u. Lieber 2003; Lieber et al. 2003). Dies beeinflusst die komplexe Interaktion zwischen Muskel und Gelenk, die Anpassung von spastischer Muskulatur und damit die rekonstruktive Chirurgie bei Spastik und Kontrakturen.
1697 60.1 · Allgemeines
60.1.2 Epidemiologie Lähmungen bei Dysfunktion des oberen Motoneurons treten bei vielen neurologischen Erkrankungen auf, die zur Schädigungen motorischer Bahnen führen. Zahlen zur Epidemiologie dieser Syndrome in Deutschland lassen sich nur aus den Inzidenzen der häufigsten Ursachen erschließen, die im nächsten Abschnitt genauer angegeben sind. Es können Menschen aller Altersgruppen betroffen sein. Die Zerebralparese ist angeboren, die erworbenen Formen treten vor allem Menschen im jungen Erwachsenenalter (Schädel-HirnTrauma) oder Menschen in der 2. Lebenshälfte (Apoplex) auf. Die genaue Anzahl der Patienten mit DOM lässt sich anhand der im nächsten Abschnitt angegebenen Inzidenzen der häufigsten Ätiologien nur mutmaßen. So leben im deutschen Sprachraum heute ca. 70.000 Betroffene mit schwerer Zerebralparese und 140.000 Menschen mit Halbseitenlähmung nach einem zerebralen Insult. Die Fortschritte in der Notfall- und Langzeitbehandlung von zerebralen Erkrankungen und traumatischen ZNS-Schädigungen haben zu einem stetigen Anstieg der überlebenden Patienten geführt und lassen auch in Zukunft, vor allem in den medizinisch hoch entwickelten Staaten, einen weiteren Zuwachs erwarten.
Allein in den USA wird die Anzahl der Schlaganfallpatienten mit erheblich eingeschränkter Arm- und Handfunktion auf mindestens 500.000, in Deutschland auf über 100.000 geschätzt. Etwa 50% davon bleiben schwer behindert, nur 15% erreichen wieder eine annähernd normale Handfunktion. Die Aussicht auf eine gute Wiederkehr der Handfunktion ist aufgrund der eingeschränkten Propriozeption und Sensibilität oft gemindert. Andererseits haben Patienten, die einen Schlaganfall mehr als 5 Monate überleben, eine durchschnittliche Lebenserwartung von über 5 Jahren, sodass eine konsequente Rehabilitation angestrebt werden sollte.
Schädel-Hirn-Trauma (SHT)
Die Ursachen eines DOM-Syndroms sind äußerst vielfältig, grundsätzlich kann jeder Mensch plötzlich selbst Betroffener werden. Die Hauptursachen sollen kurz zusammengefasst werden:
Auch das Schädel-Hirn-Trauma (SHT) kann zur Schädigung der extrapyramidalen Bahnen führen. Es stellt in Deutschland wie in vielen anderen Industriestaaten eine der häufigsten Todesursachen dar, insbesondere bei Männern unter 30 Jahren, bedingt in über 70% durch Auto- und Motorradunfälle. Bei der Altersverteilung ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen besonders hoch. Etwa 10.000 Patienten versterben in Deutschland jährlich an den Folgen eines SHT, fast 5.000 werden zu Pflegefällen. Männer sind 3-mal häufiger betroffen als Frauen. Nach Keenan (1992) treten in den USA jährlich mehr als 400.000 neue SHT-Fälle auf, von denen 80% eine längere Lebenserwartung haben. Die Prognose nach SHT ist stark altersabhängig, Kinder erholen sich am besten (in etwa 90%), Heranwachsende unter 20 Jahren erreichen in ca. 60% eine gute oder mittlere Besserung, Patienten zwischen 20 und 30 Jahren in etwa 40–50%. Ein weiterer wichtiger Prognosefaktor ist die Komadauer: Kommt es innerhalb von 2 Wochen zum Erwachen, ist die Prognose in etwa 70% gut, dauert die Bewusstlosigkeit länger als 4 Wochen, sind die Heilungsaussichten wesentlich schlechter. Bei Beteiligung des Stammhirns und prolongierter Verwirrtheit nach dem Erwachen ist die Prognose auf eine gute Besserung ebenso ungünstig, wobei es sich hierbei um Richtlinien handelt, die im Einzelfall nicht zutreffen müssen.
Schlaganfall (apoplektischer Insult)
Rückenmarkverletzungen
Die häufigste Ursache einer Hemiplegie bei Erwachsenen in den westlichen Industrienationen besteht in einem Hirninfarkt mit hypoxischer Schädigung motorischer Hirnregionen (Apoplex, Hirninfarkt). Das typische Muster und Ausmaß der Lähmung hängt vom jeweils ischämischen Kortexareal ab: ▬ A. cerebri media (am häufigsten betroffen, versorgt das größte Kortexareal zur Steuerung von sensorischen und motorischen Funktionen von oberer Extremität, Rumpf und Gesicht, einschließlich des Sprachzentrums): Im Vordergrund steht eine Hemiplegie vorwiegend von Arm und Hand, Lähmungen im Gesicht und Sprachstörungen, weniger der unteren Gliedmaßen. ▬ A. cerebri anterior (versorgt mittleren Kortex in der Sagittalebene, zuständig vorwiegend sensorische und motorische Funktionen der unteren Extremität): Es resultiert eine Hemiplegie vor allem der Beine. ▬ A. cerebri posterior (versorgt den visuellen Kortex in der Okzipitalregion): Es kommt primär meist zu Sehstörungen, bei ausgedehntem oder beidseitigem Infarkt können schwere geistige Einschränkungen auftreten (Verlust des Kurzzeitgedächtnisses oder der Lernfähigkeit). ▬ A.-vertebralis-/basilaris-System (führt zur Unterbrechung von afferenten und efferenten Leitungsbahnen zwischen Gehirn und Rückenmark): Es treten Störungen von Balance, Bewegungskontrolle und Propriozeption auf.
Spastische Lähmungen nach Rückenmarkverletzungen treten gehäuft nach inkompletten Läsionen auf, deren Anteil in den vergangenen Jahren stark zugenommen hat. Genaueres zur Inzidenz, Pathologie, Indikationsstellung und handchirurgischen Therapie ist in Kap. 59 wiedergegeben.
> Es ist davon auszugehen – auch wenn nur ein Bruchteil für eine chirurgische Funktionsverbesserung in Frage kommt –, dass allein in Deutschland bei vielen Tausenden von Patienten die Arm- und Handfunktion chirurgisch verbessert werden könnte.
60.1.3 Ätiologie
Kindliche Zerebralparese Die infantile Zerebralparese oder »Little-Erkrankung« ist als nicht progressive Entwicklungsstörung des unreifen Gehirns definiert. Sie wird bei etwa 2–3 von 1.000 lebend geborenen Kindern diagnostiziert und stellt die häufigste Form einer »Körperbehinderung« dar. Ein solcher Schaden ereignet sich in den meisten Fällen präoder perinatal und nur in ca. 10% der Fälle postnatal. Eine genaue Ursache, wie z. B. Infektionserkrankung, Drogen- oder Medikamenteneinnahme oder Stoffwechselstörungen der Mutter, ischämische Insulte oder traumatische Hirnverletzungen, lässt sich jedoch nur in etwa 50% der Fälle finden. Sehr kleine frühgeborene Kinder sind mindestens 100-mal häufiger betroffen als reif geborene. Bei Neugeborenen sind vor allem die Frühgeburt, ein zu niedriges Geburtsgewicht und eine mögliche perinatale Hypoxie ursächlich für eine Zerebralparese. In den USA wird die Anzahl der Betroffenen auf 150.000 Kinder und 40.000 Erwachsene geschätzt. Da immer mehr frühgeborene Babys überleben, ist mit einer zunehmenden Rate an Kindern mit Zerebralparese zu rechnen.
60
1698
Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
Seltenere Ursachen zerebraler Schäden Seltenere Auslöser spastischer Lähmungen, in ca. 20%, sind Hypoxien des Gehirns, Intoxikationen, Gehirnoperationen, Hirntumoren, Erkrankungen wie spastische Spinalparalyse, Multiple Sklerose oder amyotrophe Lateralsklerose oder Entzündungen im Bereich des Zentralnervensystems, wie z. B. Meningitis, Myelitis oder Enzephalitis 60.1.4 Diagnostik
▬ Art, Ausprägung, Lokalisation und Muster der Lähmung, ▬ Sensibilitätsprüfung (Stereognosie = räumliche Wahrnehmung, z. B. Ertasten von unter einem Tuch verdeckten Objekten, Lagesinn, 2-Punkte-Diskrimination und Schmerz-, Temperatur-, Berührungssinn), ▬ verbliebene Willkürkontrolle (z. B. Greifen und Loslassen verschiedener Gegenstände mit und ohne Augen-HandKontrolle), ▬ Muskeltonus (Reflexprüfung und Dehnungsmanöver). > Neben dem Ausmaß und Art der Lähmung muss bei der
Der präoperativen, detaillierten Diagnostik kommt eine Schlüsselrolle im Behandlungskonzept zu. Das spätere therapeutische Vorgehen beruht auf einer genauen klinischen Befunderhebung, die durch Probeblockaden mit Lokalanästhetika, elektrophysiologische Untersuchungen und Botox-Injektionen vervollständigt wird. Neben dem Ausmaß der Bewegungsstörungen und Kontrakturen muss bei der Indikationsstellung auch der kognitive Gesundheitszustand berücksichtigt werden.
Faktoren der klinisch-neurologischen Untersuchung Die präoperative Untersuchung sollte in Anlehnung an Zancolli (1987) und Tonkin (1995) folgende Komponenten beinhalten: ▬ allgemeiner neurologischer Status (evtl. zusätzliche neurologische Ausfälle, z. B. Apraxie, Aphasie etc.),
Indikationsstellung auch der allgemeine und der kognitive Gesundheitszustand berücksichtigt werden.
Trotz unterschiedlicher Ursachen zeigen Erkrankungen mit DOM gemeinsame Charakteristika: ▬ eingeschränkte Willküraktivität bzw. primitive motorische Reflexmuster, ▬ Muskelschwäche bzw. Kraftminderung, ▬ gleichzeitige Aktivierung von Agonisten und Antagonisten (Kokontraktion), ▬ unwillkürliche Mitbewegung anderer Muskeln (Synkinesie), ▬ Kontrakturentwicklung, ▬ eingeschränkte Sensibilität bzw. Propriozeption, geistige Behinderung.
ZNS-Schädigung
60 Verlust der Verbindung zum oberen Motoneuron (und anderer Verbindungen)
Verlust der Hemmung des oberen Motoneurons (MN)
positive Zeichen einer Schädigung des oberen MN
negative Zeichen einer Schädigung des oberen MN
Muskelschwäche erhöhte Ermüdbarkeit gestörte Balance sensorische Defizite
Spastik Hyperreflexie Klonus-Bildung Kokontrantraktion
muskulo-skeletale Pathologien Muskelverkürzung Knochen-Torsion Gelenkinstabilität degenerative Arthrose
⊡ Abb. 60.1 Syndrom bei Dysfunktion des oberen Motoneurons
1699 60.1 · Allgemeines
Unterscheidung von stationären und progredienten Erkrankungen Operative Therapiepläne sind in der Regel nur sinnvoll, wenn zerebrale Erkrankungen nicht mehr weiter fortschreiten (Zerebralparese, SHT, Apoplex). Bei fortschreitenden bzw. systemischen Erkrankungen besteht die Gefahr des Verlusts der wiederhergestellten Funktion bei Übergreifen der Krankheit (z. B. multiple Sklerose, Stoffwechselstörungen).
Art der Bewegungsstörung Bei der Inspektion und klinischen Untersuchung der oberen Extremität unterscheidet man zwischen Störungen mit eingeschränkter oder exzessiver Bewegung (⊡ Tab. 60.1).
Symptome der Dysfunktion des oberen Motoneurons Das Syndrom bei Dysfunktion des oberen Motoneurons (zeichnet sich durch charakteristische klinische Zeichen aus, die in negative und positive Symptome unterteilt werden (⊡ Abb. 60.1).
Art der neuromuskulären Störung Bei der Typisierung werden folgende der Lähmungsformen unterschieden: Pyramidale Form (mit Mischformen ca. 60%) Die pyramidale Spastik der oberen Extremität beinhaltet typischerweise die in ⊡ Tab. 60.2 genannten spastische Fehlstellungen. Die Ausprägung der Deformität ist vor allem abhängig von der Spastizität der extrinsischen Muskulatur an Unterarm und Hand, die intrinsischen Handmuskeln sind primär selten betroffen. Kokontraktionen sind häufig, z. B. führt der Versuch der Streckung von Handgelenk und Fingern oft zu einer Zunahme der persitierenden Aktivität der Handgelenkbeuger, vor allem des Flexor carpi ulnaris (FCU). > Spastische Lähmungen als Folge einer pyramidalen Schädigung stellen in der Regel eine gute Indikation für operative Verfahren dar.
Extrapyramidale Störung (= dystone, athetotische, ataktische, rigide Formen, ca. 25%) Die extrapyramidale Spastik äußert sich in athetotischen Bewegungsmustern und weist häufig eine Ataxie, einen Ruhetremor und eine verstärkte Rigidität einzelner Muskelgruppen auf. Bei athetotischen Bewegungen werden unwillkürliche, wenig koordinierte, teilweise schraubende Bewegungsmuster mit wechselnder Muskelspannung beobachtet. Diese Bewegungsmuster nehmen in Ruhe ab und verschwinden während des Schlafs, während schon bei Bewegungsabsichten noch vor dem Bewegungsbeginn und durch emotionale Stimuli eine deutliche Zunahme des athetotischen Bewegungsverhaltens beobachtet werden kann. Die Ataxie zeigt sich vor allem in einem gestörten Balance- und Gleichgewichtsgefühl mit eingeschränkter Muskelkoordination und muskulärer Hypotonie. Die muskuläre Rigidität behindert koordinierte Bewegungen zusätzlich. > Bei athetotischen und ataktischen Bewegungsstörungen sind operative Eingriffe in der Regel wenig erfolgversprechend.
Gemischte Störungen Sie ist die häufigste Form und durch einen erhöhten Muskeltonus und abnorme Bewegungsmuster charakterisiert.
> Grundsätzlich gilt: Je schwerer die zentrale Schädigung, desto ausgeprägter ist auch die Deformität.
Motorische Funktion Aktive Bewegungsabläufe müssen klinisch genau beobachtet werden, vor allem hinsichtlich von ▬ Bewegungsausmaß, ▬ muskulären Imbalancen, ▬ verbleibenden Deformitäten, Ausmaß und Schweregrad von Kontrakturen, ▬ Schnelligkeit von bewussten Bewegungen. Die Willkürkontrolle kann mittels gezielter Aufgaben in gut, befriedigend oder schlecht eingeteilt werden. Geprüft wird das Greifen und Loslassen von Gegenständen mit und ohne Augenkontrolle. > Von großer Wichtigkeit ist die Abhängigkeit der Finger- und Daumenöffnung von der Handgelenkbeugung und des Faustschlusses von der Handgelenkstreckung (Tenodeseeffekt).
Ist etwa bei Neutralstellung des Handgelenks keine Finger- oder Daumenstreckung mehr möglich, so muss dies therapeutisch berücksichtigt werden (z. B. Verlängerung der Flexoren bzw. Augmentation der Extensoren).
⊡ Tab. 60.1 Kennzeichen von eingeschränkter oder exzessiver Bewegung bei zerebraler Schädigung. (Mod. nach Keenan 2005) Eingeschränkte Bewegung
Exzessive Bewegung
Spastizität, Gelenksteife und Kontraktur
Zerebelläre Ataxie
Dysfunktion des oberen Motoneurons
Stammhirnsyndrom
Heterotopische Ossifikation
Klonus
Knochenfehlstellung bzw. gestörte Knochenheilung
Ballismus
Schmerzsyndome
Choreatische Bewegungen
Pseudobulbär-athetoides Syndrom
Tremor
Stammhirnsyndrom
Myoklonus
Rigidität und Bradykinesie
Tics
Dystonie, Torticollis, Bruxismus, Kiefersperre
Ligamentäre bzw. kapsuläre Instabilitäten
⊡ Tab. 60.2 Lähmungsmuster bei Spastizität an der oberen Extremität Betroffenes Gelenk
Typische Fehlstellung bzw. Deformität
Schulter
Meist Innenrotation und Adduktionskontraktur, selten Abduktionskontraktur
Ellenbogen
Flexionskontraktur
Unterarm
Pronationskontraktur
Handgelenk
Flexion, Ulnardeviation
Finger
Variabel, meist Extension der Interphalangealgelenke, Flexion der MCP-Gelenke (= Schwanenhalsdeformität)
Daumen
Adduktion, Flexion (Deformität des eingeschlagenen Daumens = Thumb-in-Palm-Deformität)
60
1700
Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
Prüfung des Muskeltonus
Teamkonzept
Der Muskeltonus lässt sich durch Reflexprüfung und rasche Dehnungsmanöver bestimmen. In jedem Skelettmuskel mit intakter Nervenversorgung verbleibt bei willentlicher Entspannung eine leichte Restspannung (physiologische Muskeltonus), die spürbar ist, wenn der Untersucher Gelenke eines Patienten durchbewegt, ohne dass der Untersuchte aktiv mitarbeitet. Ist hierzu mehr Kraft als gewohnt nötig und wird die Steifigkeit, gegen die er anarbeitet, zum Ende einer jeweiligen Bewegungsrichtung und je schneller er versucht, die Bewegung durchzuführen, noch größer, bezeichnet man dies als Spastizität. Beim Beugeversuch kann man beobachten, dass der durch die spastische Tonusvermehrung erhöhte Widerstand plötzlich nachlässt und der betroffene Muskel weiter gedehnt werden kann (Taschenmesserphänomen). Im Zusammenhang mit spastischen Tonuserhöhungen treten häufig auch pathologische Reflexe sowie Pyramidenbahnzeichen auf (s. oben).
Die klinische Untersuchung findet am besten in einem multidisziplinären Team statt, also Krankengymnasten, Ergotherapeuten und Chirurgen zusammen mit dem Patient und seinen Angehörigen.
Evaluation der Muskelfunktion
60
Die Muskelkraft wird nach den bekannten Graden 0–5 des British Medical Research Councils eingeteilt (⊡ Tab. 60.3). Ein zur Verlagerung vorgesehener Muskel sollte einen Kraftgrad von mindestens M4 (Kraft gegen Widerstand) erreichen, da in der Regel ein Kraftgrad verloren geht. Muskeln mit einem Kraftgrad M3 kommen in der Regel nur für augmentierende Ersatzoperationen bei erhaltener Restfunktion infrage. Die wichtigsten klinischen Fragen bezüglich einer geplanten Intervention an einem bestimmten Muskel sind nach Keenan (2005): 1. Kann der Patient diesen Muskel willentlich kontrollieren? 2. Wird der Muskel dyssynergistisch aktiviert (antagonistisch zur Bewegung), wenn der Patient ein bestimmtes Gelenk bewegen möchte? 3. Zeigt der Muskel Widerstand gegenüber passiver Dehnung? 4. Liegt bei dem Muskel eine fixierte Verkürzung vor?
Prüfung der Sensibilität Die Sensibilitätsprüfung schließt die Prüfung der Propriozeption ein, bei der die Fähigkeit getestet wird, ohne Augenkontrolle verschiedene verdeckte Gegenstände zu tasten. Daneben soll die räumliche Wahrnehmung, der Lagesinn, die 2-Punkte-Diskrimination und Schmerz-, Temperatur-, Berührungssinn geprüft werden. Liegt eine gute Sensibilität vor, ist die Aussicht einer Operation günstig. Bei schwacher oder fehlender Propriozeption sind die Ergebnisse jedoch reziprok zum Grad der noch vorhandenen Sensibilität. Wenn Sensibilität und zentralnervöse Repräsentanz des Arms nicht gegeben sind, hilft auch ein funktioneller motorischer Gewinn dem Patienten im Alltag kaum.
⊡ Tab. 60.3 Muskelkraftgrade nach dem British Medical Research Council (BMRC)
> Unangenehme oder schmerzhafte Prozeduren, wie z. B. Probeinjektionen, sollten vor allem bei Kindern erst ganz am Ende der Untersuchung durchgeführt werden.
Zusatzdiagnostik Zur Ergänzung der klinischen Untersuchung sind in manchen Fällen weitere Untersuchungen notwendig: 1. Neurophysiologische Untersuchungen (NLG, EMG, sensibel und motorisch evozierte Potenziale) Vor allem vor geplanten Muskelumlagerungen sollte eine dynamischen EMG-Untersuchung durchgeführt werden, die zwischen – phasischer (willkürlich kontrollierter), – spastischer (überaktiver) und – paretischer (nicht aktiver) Muskulatur unterscheiden kann. > Eine rein klinische Untersuchung ist gerade bei erworbener Spastik oft nicht ausreichend, um diese für die Therapieplanung entscheidende Differenzierung zwischen phasischer und spastischer Muskulatur zu treffen. Ein Umlernen spastischer Muskeln gelingt jedoch nur schwer, weshalb nach einer Verlagerung meist nur ein Tenodeseeffekt erwartet werden kann.
2. Bildgebung (Computertomografie, Kernspintomografie, z. B. MRT von Rückenmark und Schädel bei progredienten spastischen Para- oder Tetraparesen unklarer Genese). 3. Laboruntersuchungen (inklusive Lumbalpunktion). 4. Molekulargenetische Verfahren (z. B. bei hereditärer spastischer Spinalparalyse). 60.1.5 Klassifikation Die Klassifikation der spastischen oberen Extremität richtet sich nach klinischen Parametern und der Einschätzung ihrer Funktionalität. Eine globale Einordnung ihrer Einsetzbarkeit sowie einen Vergleich der prä- und postoperativen Befunde ermöglichen die Klassifikationen nach Zancolli u. Zancolli (1987; ⊡ Tab. 60.4) und van Heest u. House (1999; ⊡ Tab. 60.5).
⊡ Tab. 60.4 Klassifikation der Handfunktion nach Zancolli u. Zancolli (1987) Gruppe
Merkmale
I
Minimale Beugespastik, aktive Fingerstreckung unter unvollständiger Handgelenkstreckung (neutral bis minus 20° möglich)
II
Aktive Fingerstreckung nur zusammen mit ausgeprägter Handgelenkbeugung
Kraftgrad
Charakteristikum der Muskelfunktion
0
Völlige Lähmung, keine palpable Kontraktion
1
Spur einer Kontraktion
2
Aktive Bewegung bei Ausschaltung der Schwerkraft
3
Aktive Bewegung gegen die Schwerkraft
II A
Handgelenkstrecker beim Faustschluss aktivierbar
4
Aktive Bewegung gegen die Schwerkraft und Widerstand
II B
Keine aktive Handgelenkstreckung möglich
5
Normale Muskelkraft
III
Starke Flexions- und Unterarmpronationsdeformität ohne aktive Fingerstreckung
1701 60.1 · Allgemeines
Tonkin (1995) nimmt folgende Einteilung vor: Klassifikation der Handfunktion nach Tonkin (1995)
▬ Gute willkürliche Funktion, gute Handöffnung und Faustschluss ▬ Eingeschränkte Willkürkontrolle, Handöffnung und Faustschluss
⊡ Tab. 60.7 Funktionseinteilung der spastischen Hand nach Goldner (1993) Muster
Funktion
1
Fingeröffnung und -schluss gut, eingeschlagener Daumen, schlechte räumliche Wahrnehmung, Schmerz- und Temperatursinn gut – Hand wird kaum gebraucht
2
Leichte bis mäßige Beugestellung der Finger, eingeschlagener Daumen, Handfunktion über Tenodeseeffekt – Hand wird als Hilfshand eingesetzt
3
Starke Beugestellung des Handgelenks und Überstreckung der Finger (EDC), eingeschlagener Daumen
4
Handgelenkstreckung, Beugestellung der Finger, eingeschlagener Daumen – kaum Einsatz der Hand, typische Stellung nach erworbener Hemiparese (z. B. Apoplex)
5
Schwere Handgelenk- und Fingerbeugung, eingeschlagener Daumen, keine Funktion der Extensoren, schlechte Sensibilität, zusätzlich Ellenbogenflexion
nur durch Aufforderung
▬ Funktion der Hand als Hilfshand, kein aktives Öffnen oder Schließen
▬ Keinerlei Funktion
⊡ Tab. 60.5 Klassifikation der Handfunktion bei Hemiparese nach van Heest u. House (1999) Stufe
Funktion
Aktivitätsgrad
0
Kein Einsatz
Kein Gebrauch
1
Schlechte passive Hilfshand
Nur als Gegenhalt
2
Mäßige passive Hilfshand
Passives Halten eines Gegenstandes
3
Gute passive Hilfshand
Passives Festhalten und Stabilisieren
4
Schlechte aktive Hilfshand
Aktives Greifen und schwaches Festhalten
5
Mäßige aktive Hilfshand
Aktives Greifen und Stabilisieren
6
Gute aktive Hilfshand
Aktives Greifen und bimanuelles Arbeiten
7
Teilweiser Spontaneinsatz
Gutes bimanuelles Arbeiten
8
voller Spontaneinsatz
Unabhängiger Gebrauch der Hand
⊡ Tab. 60.6 Einteilung der Greif- und Loslassmuster an der oberen Extremität nach Zancolli Gruppe
Merkmale
1
Beugespastik minimal. Der Patient kann bei 20° aktiv strecken. Die Spastik ist auf die Handgelenk- und Fingerflexoren lokalisiert. In schwereren Fällen können die Finger nur bei komplett gebeugtem Handgelenk aktiv gestreckt werden 2a
2b 3
Das Handgelenk kann partiell oder komplett nur bei gebeugten Fingern aktiv gestreckt werden. Die Handgelenkextensoren sind aktiv und können willkürlich kontrolliert werden Der Patient kann auch bei gebeugten Fingern das Handgelenk aktiv nicht strecken Die Finger können auch bei maximal gebeugtem Handgelenk aktiv nicht gestreckt werden. Es ist nur die passive Streckung der Finger bei vollständig gebeugtem Handgelenk möglich. Es handelt sich um die schwerste Form der Handdeformität. Die Hand hat keinerlei Funktion. Operative Maßnahmen können nur das Erscheinungsbild verbessern, eine Verbesserung der Funktion ist nicht möglich
Die Einteilung der Greif- und Loslassmuster an der oberen Extremität nach Zancolli ist in ⊡ Tab. 60.6 aufgeführt. Goldner (1993) klassifiziert die spastische Handfunktion nach Kraft, Deformitäten, Sensibilität und Alltagseinsatz nach 5 Mustern (⊡ Tab. 60.7). Nach Goldner profitieren vor allem die Mustergruppen 1–3 von einer Operation, je besser die Propriozeption, desto besser die Aussichten. Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Funktion Keenan (2005) empfiehlt zwischen aktiver Funktion an einer funktionellen Extremität und der passiven Funktion einer nichtfunktionellen Extremität zu unterscheiden (⊡ Tab. 60.8). Aktive Funktion erfordert eine willentlich steuerbare Einleitung und Muskelkontrolle. Passive Funktion impliziert, dass die Extremität nicht willentlich bewegt werden kann. Eine gute passive Funktion liegt vor, wenn die Extremität flexibel und schmerzfrei ist und keine Probleme bei Positionierung, Körperpflege und anderen Alltagstätigkeiten vorliegen. Ein gelähmter und kontrakter Arm kann z. B. erhebliche Schmerzen und Probleme beim Liegen, Sitzen, Gehen, Anziehen oder der Körperhygiene bereiten. Gleiches gilt für einen Arm mit unkontrollierbaren athetotischen Bewegungen, sodass eine eingeschränkte passive Funktion einer oberen Gliedmaße ein erhebliches Hindernis für die Gesamtfunktion des Patienten darstellen kann. 60.1.6 Indikationen und Differenzialtherapie
Grundlagen der Indikationsstellung Die Indikationsstellung und chirurgische Planung beruht auf ▬ einer genauen Anamnese und klinisch-neurologischen Befunderhebung, ▬ elektrophysiologischen Untersuchungen sowie ▬ Probeblockaden mit Lokalanästhetika und Botulinumtoxin zur diagnostischen Muskellähmung. Neben einer wiederholten standardisierten klinischen Untersuchung tragen Gespräche mit Eltern, Betreuern, Lehrern und Physiotherapeuten wesentlich zu einer umfassenden präoperativen
60
1702
Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
⊡ Tab. 60.8 Entscheidungskriterien zur Wiederherstellung einer aktiven versus passiven Funktion. (Mod. nach Keenan 2005) Aktive Funktion
Passive Funktion
Kann einfache Anweisungen befolgen
Kann nicht befolgen
Kooperativ bei postoperativer Handtherapie
Unkooperativ
Kann Erlerntes bis zur nächsten Sitzung behalten
Kein Behalten von Informationen der vorangegangenen Sitzung
Kann neu Erlerntes in Alltagstätigkeiten einbauen
Kann Erlerntes nicht im Alltag einsetzen
Empfindung von Schmerz, leichter Berührung und Temperatur intakt
Keine Empfindung von Schmerz, leichter Berührung und Temperatur
2-Punkte-Diskrimination ≤10 mm
2-Punkte-Diskrimination >10 mm
Kinesthetisches Bewusstsein
Unfähig Körperhaltungen zu reproduzieren
Spontaner Gebrauch der Extremität
Ja
Nein
Motorische Kontrolle
Willentliche Bewegung der Extremität
Keine willentliche Bewegung
Tastbare Bewegung der betroffenen Extremität
Keine Bewegung
Elektromyogramm zeigt willentliche Kontrolle während Muskeltests (Klasse I, II, oder III)
Kontinuierliche oder Streckreflexantwort oder fehlende elektromyografische Aktivität während manueller Muskeltestung (Klasse IV, V, oder VI)
Kognitive Fähigkeiten
Sensibilität
60
Gesamtbeurteilung bei und sind für die Planung eines individuellen Therapiemanagements daher unerlässlich Neben dem Ausmaß der spastischen Lähmung muss bei der Indikationsstellung auch der allgemeine und der kognitive Gesundheitszustand berücksichtigt werden. Die Entscheidungsfindung vor Beginn einer Therapie richtet sich nach folgenden Faktoren: ▬ lokaler Befund (Funktionseinschränkung, Entwicklung, Progredienz) ( Abschn. 60.1.4), ▬ Allgemeinbefund (Alter, körperlicher Zustand, Mitarbeit), ▬ Bedürfnisse bzw. Erwartungshaltung des Patienten und seiner Angehörigen, ▬ Unterstützung durch Familie und Betreuer, ▬ Erfahrung des Operateurs, ▬ Möglichkeiten der Nachbehandlung (Krankengymnastik, Ergotherapie, Orthopädietechnik, Rehabilitationstechnik), ▬ Kontrollintervalle (kann sich der Patient regelmäßig untersuchen lassen?), ▬ Fragen der Kostenübernahme.
Prinzipien der Indikationsstellung
Da die Ausgangssituation durch die unterschiedlichen Schädigungsmuster, klinische Manifestation, Alter und intellektuelle Entwicklung bestimmt wird, ist immer ein individueller Behandlungsplan erforderlich.
1. Operation nicht als Ultima ratio, sondern frühzeitig – bevor Kontrakturen entstehen Bis heute ist oft zu lesen, Operationen seien erst gerechtfertigt, wenn alle konservativen und nichtoperativen Maßnahmen erfolglos geblieben seien. Allerdings bewirken Krankengymnastik und Ergotherapie allein in der Regel keine wesentliche Verbesserung der motorischen Kontrolle. Systemische Medikamente haben unerwünschte Nebenwirkungen und können nicht gezielt auf ausgesuchte Muskelgruppen gerichtet werden, Chemodenervationen haben nur einen vorübergehenden Effekt. Im Gegensatz hierzu können nur chirurgische Maßnahmen den Tonus selektionierter Muskeln dauerhaft reduzieren, deren Kraft sinnvoll umlenken und so eine permanente Funktionsverbesserung erzielen. Die Zurückhaltung gegenüber Operationen liegt wahrscheinlich daran, dass diese Patienten vorwiegend von nicht chirurgisch tätigen Fachkollegen betreut werden. Erfahrungsgemäß sind diese sehr gut über die kognitiven und verhaltensbezogenen Folgen einer traumatischen oder ischämischen Hirnschädigung informiert, messen aber den muskuloskeletalen Auswirkungen weniger Bedeutung zu, möglicherweise, weil sie auch wenig über mögliche chirurgische Interventionsmöglichkeiten wissen.
Einflussfaktoren der Indikationsstellung
> Die Funktionseinschränkungen infolge dieser muskuloskel-
Als günstige Voraussetzungen für eine Operation bei spastischer Lähmung gelten: ▬ vorherrschend pyramidale Symptomatik, ▬ gute willkürliche Kontrolle und geringer emotionaler Einfluss über die spastischen Muskeln, ▬ ausreichende Willenskraft für Konzentration und Kooperation und Verständnis für Ziele der Operation und Nachbehandlung, ▬ nur geringe oder keine sensiblen Defizite.
Die Ergebnisse operativer Eingriffe sind in der Regel besser, wenn Deformitäten frühzeitig korrigiert werden, die Muskelstärke, Flexibilität von Bändern und Kapselapparat und die Gelenkintegrität weitgehend unverändert sind und der Patient nicht über längere Zeit immobilisiert war.
etalen Veränderungen sind für die Betroffenen oft katastrophal, eine operative Funktionsverbesserung kann die kognitiven, verhaltensbezogenen und emotionalen Fähigkeiten entscheidend positiv beeinflussen.
1703 60.1 · Allgemeines
2. Realistische Indikationsstellung und Aufklärung Speziell bei Lähmungen an der oberen Extremität besteht nicht selten eine übertriebene und wirklichkeitsferne Erwartungshaltung von Patienten oder ihren Angehörigen an die Aussichten einer operativen Therapie. Um Enttäuschungen, Unzufriedenheit mit dem Operationsergebnis oder sogar juristische Konflikte zu vermeiden gilt es diese Ansprüche verständnisvoll, aber klar auf ein realistisches Maß zu reduzieren. Es muss für den Patienten und Chirurgen klar sein, dass das eigentliche Problem nicht im Arm oder der Hand, sondern zerebral liegt und damit nur eine beschränkte Einflussmöglichkeit besteht. 3. Wahl des Zeitpunkts Eine spontane Funktionswiederkehr ist allgemein bis zu 12 Monate nach einer Schädigung des oberen Motoneurons zu erwarten, nach Schädel-Hirn-Trauma, vor allem bei jungen Patienten, bis nach 18 Monaten, wobei bedeutsame Verbesserungen kaum später als nach 6 Monaten auftreten. Wenn noch eine spontane Besserung zu erwarten ist, kommen temporäre oder reversible Therapien (Chemodenervation mit Phenol oder Botulinumtoxin A, funktionelle Schienen) zum Einsatz. Operative Therapien wie Sehnenverlängerungen oder Muskeltranspositionen sind in der Regel erst durchzuführen, wenn nach der zerebralen Erkrankung ein Funktionsplateau erreicht ist. 4. Temporäre Kontrolle der Spastik Während der Phase einer möglichen Funktionserholung kann durch temporär wirksame Maßnahmen (s. oben) ein permanenter Funktionsverlust durch Atrophie nicht gebrauchter Muskeln, Gelenkkontrakturen, heterotope Ossifikationen oder periphere Neuropathien verhindert werden. 5. Probatorische Simulation von Operationen In geeigneten Fällen lässt sich die Wirkung einer Operation durch Gipsruhigstellung, spezielle Schienen (Arthrododese) oder Injektion von lang wirksamen Lokalanästhetika oder Botulinumtoxin A (Myotomie, Nerveneingriffe) simulieren und der Patient kann entscheiden, ob ihm dieser bestimmte Eingriff nutzbringend erscheint. 6. Beachtung von statischen und dynamischen Deformitäten Einschränkungen der Beweglichkeit sind einerseits durch mechanische Faktoren bedingt, wie z. B. nicht verheilte Frakturen, Gelenkfehlstellungen, heterotope Ossifikationen oder Weichteilkontrakturen, die als statische Komponente zusammengefasst werden. Die dynamische Komponente der Deformität ist das Ergebnis neurogener Faktoren wie Muskelschwäche, Spastizität, Rigor, gestörte Muskelkontrolle oder spastische Reflexe. Die Therapiewahl hängt von der Berücksichtigung beider dieser Komponenten ab. 7. Kleiner Fortschritt – große Wirkung Wie bei sportlichen Athleten letztlich ein geringer Vorsprung den Gewinn eines Rennens sichern kann, ist auch bei einem Körperbehinderten nicht selten ein kleiner Fortschritt ausschlaggebend für eine große Wirkung. Dies gilt insbesondere für Patienten mit sehr niedrigem Funktionsniveau als auch für mildere Ausprägungen, die nicht selten durch relativ einfache Eingriffe profitieren (z. B. »intrinsic release« bei Kontraktur der Handbinnenmuskeln). Ent-
scheidend ist hierbei nicht der Schweregrad des Funktionsdefizits, sondern die verbliebene motorische Kontrolle. 8. Kostenüberlegungen Bei den Therapiekosten muss stets auch der finanzielle Folgeaufwand einberechnet werden. So ist eine dynamische EMG-Untersuchung relativ günstig, wenn man die möglichen Ausgaben zur Behebung einer falsch geplanten und funktionsverschlechternden Muskelumlagerung bedenkt. Die Kosten für operative Eingriffe schneiden allgemein günstig ab, wenn man die Langzeitausgaben für temporäre Behandlungen (Injektionen, Schiene) oder durch Komplikationen wie Hautulzerationen, Wundinfektionen sowie den Produktivitätsverlust der Patienten oder Pflegepersonen einkalkuliert. 9. Funktionelle und ästhetische Verbesserung Hinsichtlich der operativen Indikationsstellung unterscheidet man: ▬ funktionelle Verbesserung, ▬ geringe funktionelle und überwiegend ästhetische Verbesserung, ▬ rein ästhetische oder pflegerische Zielsetzung. > Jede funktionell störende spastische Handdeformität ist eine Indikation zur Operation, wenn konservativ keine Verbesserung möglich ist.
Die operative Korrektur von Hand- und Armfehlstellungen kann durch Verbesserung auch eine spastische Gangstörung positiv beeinflussen, zum einen durch Verbesserung der Stützfunktion, zum anderen durch Ausgleich der Gleichgewichtsprobleme. Eine rein kosmetische oder pflegerische Operationsindikation liegt bei Patienten vor, die trotz ihrer Lähmung gut im öffentlichen Leben integriert sind, in dem jede auffällige spastische Handdeformität einen erheblichen Störfaktor darstellt. Wünscht der Patient eine ästhetische Verbesserung seiner Arm- und Handfehlstellung, ist die Indikation zur Operation meist auch nachvollziehbar, auch wenn sich oft aber nur eine Formkorrektur ohne einen wesentlichen Funktionsgewinn ergibt. Korrekturen zur Pflegeverbesserung können bei kombinierten Kontrakturen der Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenke ebenfalls angezeigt sein. Durch den andauernden Kontakt der Hautareale im Schulter- und Ellenbogenbereich entstehen chronisch juckende Ekzeme und schmerzhafte Wunden. Hochgradige Kontrakturen beeinträchtigen außerdem das Anziehen der Kleidung und erhöhen die Verletzungsgefahr. 10. Verlängerung von spastischen und kontrakten Muskeln – Muskeltransposition bei schlaff gelähmten Muskeln Das Ziel jeder Behandlung an Gelenken der oberen Extremität (Schulter, Ellenbogen, Unterarm, Handgelenk, Finger oder Daumen) richtet sich auf eine verbesserte Muskelbalance und -funktion. Bei spastischen Muskeln, die schwerwiegende Gelenkdysbalancen und Kontrakturen bewirken können, sollte zunächst eine Verlängerung durchgeführt werden. Verlagerungen sind bei spastischen Muskeln schwer kalkulierbar, weil das Umlernen und die Muskelkontrolle oft schwierig ist. 11. Absprache im Team Die Therapiewahl wird am besten in Abstimmung mit den mitbehandelnden Handtherapeuten, dem Patienten und seinen Angehörigen getroffen, wobei alle konservativen und operativen Mittel in die Überlegungen einbezogen werden sollten.
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Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
60.1.7 Therapie Zur Behandlung an der oberen Extremität bei Dysfunktion des oberen Motoneurons stehen medikamentöse, konservative und operative Interventionen zur Verfügung (⊡ Abb. 60.2).
Konservative Therapie Krankengymnastik und Ergotherapie Die physikalische Therapie gilt als Basis jeder Spastiktherapie. Sie unterteilt sich in: 1. Krankengymnastik und Übungsbehandlung (jedes Gelenk sollte täglich in seinem gesamten Bewegungsumfang mobilisiert werden), 2. Ergotherapie (Bewegungs-, Kräftigungstraining und gezielte Übungen zur Verbesserung des Handgebrauchs und der Wahrnehmung). Gemeinsame Zielsetzung jeder Physiotherapie ist die Beübung der verbliebenen motorischen Funktionen, bei mobilen Patienten auch eine Funktionsverbesserung, bei immobilen Patienten steht die Prophylaxe von Muskel-, Sehnen- und Gelenkkontrakturen im Vordergrund. Die gängigsten Behandlungsverfahren sind die Behandlungstechniken von Bobath und Vojta, die für Kinder mit Zerebralparese entwickelt wurden. Die Methode nach Bobath hat sich auch für die
Behandlung der spastischen Parese des Erwachsenen durchgesetzt. Hintergrund dieser Therapie ist die Hemmung pathologischer Bewegungsmuster, die sich mit der Entwicklung der Spastik einstellen. Ziel ist es an der oberen Extremität, die Beugespastik zu vermindern. Die Vojta-Technik soll noch vorhandene zentrale Bewegungsmuster aktivieren. Bei der propriozeptiven neuromuskulären Bahnung (PNF) und der Myofeedbackmethode sollen Motoneurone reflektorisch aktiviert werden, wodurch indirekt der spastische Muskeltonus reduziert wird. > Da das spastische Syndrom meist irreversibel ist, ist Physiotherapie lebenslang sinnvoll.
Bei schwerer Spastik sollte Physiotherapie mindestens 2-mal pro Woche über jeweils mindestens 30 Minuten durchgeführt werden. Diese Behandlungen können nach bestimmten Perioden, z. B. alle 3–4 Monate für einige Wochen unterbrochen werden, um in dieser Zeit selbstständige Übungsbehandlungen zu intensivieren und langfristig die Anzahl der physiotherapeutischen Behandlungen zu reduzieren. Spezielle Aufgaben der Ergotherapie sind: ▬ Erhalt oder Optimierung von Gelenkbeweglichkeit, Kraft und spontanem Handgebrauch, ▬ Verbesserung der Wahrnehmung, ▬ Anfertigung bzw. Unterweisung im Gebrauch von Hilfsmitteln und Orthesen, ▬ Mitarbeit bei Dokumentation und Indikationsstellung.
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Gehirn motorisches Umlernen Diazepam
Rückenmark mit Spinalganglion selektive dorsale Rhizotomie DREZ-otomie Baclofen
⊡ Abb. 60.2 Interventionsmöglichkeiten bei DOM-Syndrom
Nerv Nervenblockade (Phenol, Lokalanästhesie) partielle Neurotomie Neurektomie
Muskel Muskel-Dehnung statische Schienung Botulinum-Toxin A
Gelenk Arthrolyse Arthrodese
Sehne Tenolyse Sehnenverlängerung
1705 60.1 · Allgemeines
Schienenbehandlung Die Schienenversorgung hat folgende Ziele: 1. Aufdehnung bei Muskelkontrakturen, 2. Korrektur von Gelenkfehlstellungen bzw. Stabilisierung von Gelenken 3. präoperative Testschienung, z. B. vor geplanter Arthrodese bzw. Simulation der geplanten postoperativen Gelenkstellung, 4. postoperative Schutzschienen, z. B. nach Muskelverlagerungen. Die Schienung beugt auch einer Verkürzung der Muskelfasern vor und reduziert den sensorischen Input und damit den Muskeltonus. Vor der Schienenanlage sind Nervenblockaden teilweise sehr hilfreich, um die Spastik zu vermindern und die gewünschte Stellung einzustellen. Durch serielle Schienung mit wöchentlicher Anpassung können Gelenkfehlstellungen korrigiert werden, am erfolgreichsten, wenn die Kontraktur erst weniger als ein halbes Jahr besteht. Dynamische Schienen finden nur vorsichtige Anwendung, weil sie Spastiken triggern können, sind aber manchmal vor allem nach Muskelablösungen geeignet die noch bestehende Restkontraktur auszugleichen.
Medikamentöse Therapie Orale krampflösende Medikamente (Spasmolytika) Die medikamentöse Therapie besteht in erster Linie in der oralen Gabe von Medikamenten, die antispastisch wirken. Dies geschieht entweder durch Herabsetzung des Muskeltonus oder durch Blockierung der neuromuskulären Reizübertragung an den motorischen Endplatten. Hierdurch werden die betroffenen Muskeln, jedoch auch alle übrigen Muskeln des Körpers, entspannt und schmerzhafte Spasmen reduziert. > Bei einer Überdosierung kann es dabei wegen der atemdepressiven Nebenwirkung mancher Spasmolytika zum Atemstillstand kommen.
Auch die sedierende Wirkung der Präparate, wie z. B. Baclofen (Lioresal), Diazepam (Valium) oder Clonidin, ist nicht immer erwünscht. > Je nach Ursache der Spastik und ihrer Ausprägung ist die Gabe von antispastischen Medikamenten nicht immer sinnvoll, da unerwünschte Wirkungen größer als der Nutzen (= Funktionsverbesserung der betroffenen Muskulatur) sein können
Dantrolen (Dantrium) ist anderer Wirkstoff zur Spastikkontolle, am besten geeignet bei Kloni, es hemmt die Freisetzung von Kalzium aus dem endoplasmatischen Retikulum. Obwohl es keine direkte zentrale Wirkung entfaltet, kann es zu Schwindel, Übelkeit und Schwächegefühl führen. Das größte Problem ist jedoch seine hepatotoxische Wirkung, vor allem bei Frauen über 35 Jahren, sodass nur die niedrigste effektive Dosis unter Kontrolle der Leberenzyme verwendet werden sollte. Bei ausbleibender Wirkung sollte das Medikament abgesetzt werden. Intrathekale Baclofen-Gabe Bei einigen schweren Formen von Spastizität kann die konservative Behandlung mit Physiotherapie und oraler Medikamentengabe nicht ausreichend und aufgrund der Vielzahl betroffener Muskeln eine Botulinumtoxingabe nicht sinnvoll sein. In solchen Fällen besteht die Möglichkeit der sog. intrathekale Baclofen-Therapie, bei der ein Medikament mit spasmolytischer Wirkung über eine
implantierte Pumpe kontinuierlich in den Wirbelkanal abgegeben wird. Dieses Verfahren ist sehr aufwändig, kostenintensiv und mit möglichen Komplikationen verbunden. Vorteil ist, dass durch die intrathekale Applikation nur geringe Mengen notwendig sind und so zentrale Nebenwirkungen meist ausbleiben. Die Wiederbefüllung der Pumpe geschieht durch Injektion in ein Reservoir, Dosis und Applikationsrate sind mittels Funksignal regulierbar. Temporäre Chemodenervation Fokale Bewegungsstörungen eigenen sich zur Behandlung mit neurolytischen oder denervierenden Substanzen, am häufigsten werden Alkoholderivate (z. B. Phenol) und Botulinumtoxin A verwendet, die jeweils über einen Zeitraum von 3–5 Monaten wirksam sind. Lässt der Effekt nach, muss nach erneuter Untersuchung entschieden werden, ob eine wiederholte Anwendung notwendig ist. Am besten wirkt eine Chemodenervation, wenn sich das funktionelle Problem möglichst spezifisch einem oder mehreren spastischen Muskeln zuordnen lassen, dies geschieht mit Unterstützung einer dynamischen EMG-Untersuchung. Sind mehrere Muskeln verantwortlich, kann durch mehrfache gezielte Injektionen ein guter Effekt bei minimalen Nebenwirkungen erzielt werden. Bei Patienten mit athetotischen Bewegungsstörungen sind Lokalinjektionen weniger wirksam, hier haben eher andere Modalitäten wie Umgebungsveränderungen, Behandlung mit Gewichten, Stützverbände und orale Medikamente einen positiven Einfluss. Phenol Phenol denaturiert als Alkohol ab einer Konzentration von ca. 5% die Proteinmembran peripherer Nerven. Wird es in die Nähe eines Nervs gespritzt, reduziert es temporär die Erregungsübertragung entlang des Nervs und so auch die vorliegende Spastik des Muskels. Ein lokalanästhetischer Effekt erlaubt es bereits kurze Zeit nach der Injektion ein Teilergebnis zu beobachten, der eigentliche Effekt infolge der Gewebedestruktion setzt aber erst nach einigen Tagen ein und hält für einige Wochen an, ehe nach 3–5 Monaten eine Regeneration eintritt. Bei perkutaner Phenol-Injektion kommt es meist nur zu einer inkompletten Blockade, sodass im Idealfall zwar die Spastik deutlich abnimmt, aber noch eine willentliche Kontrolle des Muskels erhalten bleibt. Die genaue Injektionsstelle, möglichst nahe am motorischen Ast des spastischen Muskels, wird mithilfe von Elektrostimulation eruiert. Je näher man dem Muskelast kommt, desto geringer ist die Stromstärke, um eine sichtbare oder palpable Kontraktion auszulösen. Am Punkt der niedrigsten Reizstärke werden dann etwa 5–7 ml 5- bis 7%ige Phenol-Lösung gespritzt, wobei eine intravasale Injektion durch Aspiration ausgeschlossen werden muss. > Aufgrund der toxischen Wirkung von Phenol besteht das Risiko lokaler Gewebenekrosen, bei starker Überdosierung oder intravaskulärer Gabe Vergiftungsgefahr.
Botulinumtoxin Typ A Neben oraler Medikation ist in den letzten Jahren die intramuskuläre Injektionen von Botulinumtoxin zur Standardtherapie geworden, wenn die Spastik bestimmter Muskeln im Vordergrund steht. Diese Substanz wird in den betreffenden Muskel gespritzt und verhindert dort die die synaptische Freisetzung des Neurotransmitters Azetylcholin. Die Folge ist eine – innerhalb von 3–5 Monaten reversible – schlaffe Lähmung des Skelettmuskels.
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Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
⊡ Tab. 60.9 Indikation zur temporären Chemodenervation Spastische Deformität bzw. Kontraktur
Therapie durch Chemodenervation bzw. Nervenblockade
Schulteradduktion
Perkutane Blockade des M. pectoralis major, N. thoracodorsalis
Ellenbogenflexion
Perkutane Blockade des M. brachioradialis, N. musculocutaneous
Flexion von Handgelenk- und Fingerbeugern, Spastik der Handbinnenmuskeln
Perkutane Blockade der spastischen Unterarmmuskeln, offene Blockade des motorischen Anteils des N. ulnaris in der Loge de Guyon
Eingeschlagener Daumen (»thumb in palm«)
Perkutane Blockade des R. recurrens des N. medianus, offene Blockade des motorischen Anteils des N. ulnaris, perkutane Blockade des M. flexor pollicis longus
> Mittels Botox-Injektionen können die Funktionen spastischer Muskeln gezielt geschwächt oder ausgeschaltet werden, sodass der Effekt geplanter Operationen getestet werden kann. Nachteil sind die hohen Kosten, die nur vorübergehende Wirkung und die unklaren Langzeitfolgen, z. B. hinsichtlich der Bildung von Antikörpern.
Mögliche Anwendungsgebiete für Chemodenervationen sind in ⊡ Tab. 60.9 zusammengefasst.
Operative Therapie Perioperatives Vorgehen
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Anästhesieverfahren Aufgrund der ähnlichen Lähmungsmuster kommen bei Patienten mit spastischen Lähmungen infolge DOM grundsätzlich die gleichen Eingriffe in Frage. Das Opertionsmanagement ist jedoch teilweise von der jeweiligen Grunderkrankung abhängig. Bei Patienten nach SHT oder Apoplex können Verhaltensstörungen und kognitive Behinderungen vorliegen, die eine Operation in Regionalanästhesie oder Sedation erschweren oder unmöglich machen, es empfiehlt sich daher oft eine Vollnarkose. SHTPatienten, vor allem nach Langzeitbeatmung, haben nicht selten vorher eine Tracheotomie erhalten, sodass mit entsprechenden Intubationsproblemen gerechnet werden muss. Lagerung Für die präoperative Lagerung des Patienten ist allgemein der Chirurg zuständig. > Bei der Lagerung dieser speziellen Patienten muss besondere Vorsicht walten, da durch die Kontrakturen und evtl. Sensibilitätsstörungen das Risiko für Druckulzera stark erhöht ist.
Ein- oder Mehrzeitigkeit der Eingriffe Häufig bestehen multiple Kontrakturen oder Spastiken an einer oder beiden oberen Extremitäten, die früher in mehreren Schritten angegangen wurden. Um das Narkoserisiko zu minimieren, geht der Trend bei entsprechender Erfahrung des Operateurs hin zu einzeitigen uni- oder sogar bilateralen Kombinationseingriffen. Keenan (2005) unternimmt beispielsweise bei einer typischen spastischen Lähmung mit Beugekontrakturen an Ellenbogen, Handgelenk und Fingern in einer Sitzung ▬ Release des M. biceps brachii und brachioradialis, ▬ Superficialis-auf-Profundus-Transposition, ▬ Ablösung des M. flexor carpi ulnaris und flexor carpi radialis, ▬ Entfernung der proximalen Handwurzelreihe und ▬ Handgelenkarthrodese.
Antibiotikagabe bzw. Drainage Zur Vorbeugung von Wundheilungsstörungen bei diesen empfindlichen Patienten wird speziell bei Knocheneingriffen eine Antibiotikagabe vor dem Hautschnitt und dem Aufblasen der Blutsperre empfohlen (z. B. Cephalosporin) und für mindestens 24 Stunden fortgesetzt. Wundhöhlen, die z. B. bei Muskelablösungen an Schulter und Ellbogen entstehen, sollten mit einer Saugdrainage versorgt werden. Regelmäßige Wundkontrollen Da bei Patienten mit kontrakten Lähmungen nicht selten chronische Hautmazerationen und -infekte vorliegen, ist das postoperative Wundinfektrisiko erhöht und es empfehlen sich regelmäßige Verbandswechsel und Wundkontrollen durchzuführen. Schmerztherapie Bei den postoperativen Problemen stehen an erster Stelle die Schmerzen. Die angepasste postoperative Schmerzbekämpfung hat eine Schlüsselrolle in der erfolgreichen Nachbehandlung. Nachsorge Die regelmäßig notwendige Nachsorge muss vorab mit dem Patienten und seinen Angehörigen abgeklärt werden. > Da manche Patienten, vor allem bei geistiger Behinderung, große Angst vor der Fadenentfernung haben, ist es sinnvoll resorbierbares Nahtmaterial zu verwenden.
Perioperatives Vorgehen Neurochirurgische Techniken Von neurochirurgischer Seite ist eine Operation an der hinteren Spinalwurzel als dorsale Rhizotomie möglich, bei der selektiv die afferenten Fasern der Schmerzweiterleitung und der Muskeleigenwahrnehmung durchtrennt, ihr Einfluss auf die spinalen Reflexe abgeschwächt und deren Überaktivität reduziert werden. Bei modernen Techniken wird eine noch höhere Genauigkeit bei der Durchtrennung einzelner Nervenfasern an der hinteren Spinalwurzel angestrebt, man spricht von einer DREZotomie (= »dorsal route entry zone-otomy«). Der Zugang zum Rückenmark erfolgt bei Eingriffen an der oberen Extremität über eine Laminektomie zwischen C4 und C7, diese erlaubt eine Darstellung der relevanten Fasern, die nach systematischer Stimulation höchst präzise durchtrennt werden können. Handchirurgische Techniken Das Ziel chirurgischer Maßnahmen ist es, muskuläre Imbalancen auszugleichen, Gelenk-Fehlstellungen zu vermeiden und eine Stabilisation in funktionell günstiger Position zu erreichen.
1707 60.1 · Allgemeines
⊡ Tab. 60.10 Häufigste Eingriffe zur Kontrakturlösung an der nicht funktionellen und funktionellen oberen Extremität bei zerebraler Schädigung nach Keenan (2005) Kontraktur bzw. Deformität
Eingriffe an der nicht funktionellen oberen Extremität
Schulteradduktion und -innenrotation
Release von M. pectoralis major, latissimus dorsi, teres major und subscapularis
Schwere Ellenbogenflexion
Durchtrennung von M. brachioradialis, biceps brachii und brachialis
Proximale Myotomie des M. brachioradialis, Z-förmige Verlängerung der Bizepssehne, myotendinöse Verlängerung des M. brachialis
Handgelenk- und Fingerflexion
Release der Handgelenkflexoren, Superficialis-auf-Profundus-Transposition
Sehnenverlängerung an Handgelenk und Fingern
Operative Eingriffe sind an Nerven, Weichteilen und Knochen möglich: Eingriffe am peripheren Nerven z Partielle Neurotomie bzw. selektive Hyponeurotisation Die selektive Teildurchtrennung motorischer Nervenfasern wurde ursprünglich 1912 von Stoffel zur Therapie von Spastiken beschrieben, ehe sie später von anderen Autoren, z. B. Brunelli, neu entdeckt und verfeinert wurde. Die Operation bewirkt eine Verminderung der Spastik im Sinne einer permanenten partiellen motorischen Muskelparese. Sie wird vor allem bei starken Spasmen bei erworbener Tetraparese (z. B. nach Ertrinkungsunfällen oder Schädel-Hirn-Traumata) am N. musculocutaneus bei Ellbogenbeugerspastik oder am motorischen Ast der N. ulnaris bei intrinsischer Spastik durchgeführt. Ziele sind Kontrakturauflösung, Funktionsverbesserung und Pflegeerleichterung. Die Nervenäste werden durch intraoperative Nervenstimulation identifiziert und dann teilweise durchtrennt. Hauptnachteil dieses Verfahrens ist die schlechte Dosierbarkeit mit möglicher postoperativer Überkorrektur. z Komplette Neurektomie Bei Spastik der intrinsischen Handmuskeln erfolgt oft eine komplette Nervendurchtrennung: ▬ des motorischen Astes zum M. adductor pollicis, ▬ des tiefen motorischen Astes des N. ulnaris, ▬ der motorischen Thenaräste des N. medianus, Die Nervenäste werden durch Stimulationselektroden aufgesucht und dann reseziert. Es resultiert in der Regel eine komplette und irreversible schlaffe Lähmung der betreffenden Muskeln. Eingriffe an Muskeln und Sehnen z Ursprungsablösung von Muskeln (= Release, Myotomie) Als Myotomie bezeichnet man die partielle oder vollständige ursprungsnahe Ablösung eines Muskels, dessen Muskelbauch durch die Korrektur der angrenzenden Gelenkstellung nach distal »rutscht« (= »muscle slide«). Indikationen sind am proximalen Unterarm die proximale Ablösung des gemeinsamen Flexoren-Pronatoren-Muskelursprungs am Epicondylus medialis humeri (nach Erlacher-Page-Scaglietti) ( Abschn. 48.2.2), an der Hand die Ablösung des M. flexor pollicis longus oder des M. adductor pollicis (nach Matev). Myotomien werden eingesetzt, wo eine breite muskuläre Ursprungszone besteht und sehnige oder intramuskuläre Verlängerung nicht möglich ist. Der Vorteil dieser Methode besteht im
Eingriffe an der funktionellen oberen Extremität
Erhalt der Muskel-Sehnen-Einheit, nachteilig sind die durch die Dehnbarkeit des Gefäß-Nerven-Bündels begrenzte Korrekturwirkung, die Blutungsgefahr und die kosmetisch störende Dellenbildung. An der nicht funktionellen und funktionellen oberen Extremität werden vorwiegend die in ⊡ Tab. 60.10 aufgeführten Operationen zur Kontrakturlösung angewandt. z Sehnenverlängerung Eine Verlängerung von Sehnen zur Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit erfolgt als Standardtechnik am Arm an den Ellenbogenbeugern sowie den Handgelenk- und Fingerbeuger. Bei der Sehnenverlängerung unterscheidet man folgende Techniken: ▬ Intramuskuläre Technik, bei der die Sehne auf einer oder auf mehreren Etagen schräg eingekerbt wird. Durch die Korrektur der Gelenkstellung weichen die Sehnenenden auseinander, ohne ihre muskuläre Kontinuität zu verlieren. Durch Ruhigstellung oder vorübergehende dosierte manuelle Behandlung unter Dehnung werden die Sehnenlücken narbig überbrückt, die gewünschte Verlängerung der Muskel-Sehnen-Einheit bleibt aber bestehen. ▬ Z-förmige Sehnenverlängerung, hier wird die Sehne treppenförmig durchtrennt und anschließend unter Korrekturstellung des Gelenks und leichter Vorspannung wieder vernäht, wobei das Z der Verlängerungsstrecke 2-mal so lang sein sollte wie die gewünschte Verlängerung. Beide Techniken gestatten eine exakte Dosierung der gewünschten Verlängerungsstrecke bei weitgehendem Erhalt der Muskeleigenschaften. Nachteilig ist die unvermeidliche Kraftminderung, die bei der intramuskulären Technik aber geringer oder sogar nur vorübergehend ist. z Tenotomie (Sehnendurchtrennung) Bei der Tenotomie wird die Sehne eines Muskels im Ursprungsoder Ansatzbereich komplett durchschnitten. Sie stellt die klassische Methode zur Behandlung schwerer Spastik dar, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei subkutan gut palpablen Sehnen angewandt wurde (z. B. von Stromeyer u. Dieffenbach). Heutige Indikationsbereiche sind schwerste Spastiken der Ellenbogenbeuger und Handgelenkbeuger. Vorteil der Tenotomie ist die relativ einfache Technik bei geringem Komplikationsrisiko (Nachblutung, Nervenverletzung) bei halboffenem oder geschlossenem Verfahren sowie in der Durchführbarkeit in Lokalanästhesie. Die Nachteile sind die dauerhafte Kraftminderung durch die Retraktion der Muskulatur und der da-
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Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
her schwierigen Dosierung sowie in der Verletzungsgefahr tieferer Gefäß- und Nervenstrukturen. > Um eine Neubildung der Sehne zu verhindern, muss eine Sehnenstrecke von mehreren Zentimetern entfernt werden.
z Muskel- bzw. Sehnentransposition (Versetzung des Muskelansatzes) Durch teilweise oder vollständige Verlagerung des Ansatzes eines willentlich ansteuerbaren Muskels an einen neuen Insertionspunkt kann seine Wirkung verändert und die Funktion eines gelähmten Muskels ersetzt werden. > Idealerweise werden keine spastischen Muskeln verlagert, da sonst das Risiko einer Überkorrektur besteht, vor allem bei zusätzlicher therapeutischer Schwächung der Antagonisten und ein Umlernen spastischer Muskeln nur selten gelingt.
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Ein Spendermuskel sollte proximal nicht geschwächt werden. Bei erworbenen Spastiken sind Muskelumlagerungen seltener. Sehnentransfers wurden bereits in der Polio-Ära bei spastischen Lähmungen eingesetzt, oft jedoch nur mit geringem Erfolg. Der Hauptgrund wurde darin vermutet, dass ein Umlernen beim spastischen Muskel nicht möglich sei. Dennoch hat sich eine Reihe von um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelten Muskeltranspositionen an der oberen wie auch an der unteren Extremität bewährt. Die Vorteile dieser Techniken bestehen in einer teilweise möglichen Wiederherstellung des Muskelgleichgewichtes, die Nachteile in der schwierigen Indikationsstellung und Nachbehandlung sowie in der Gefahr der Überkorrektur. Zahlreiche Verfahren wurden entwickelt, um die überwertigen Agonisten zu schwächen und paretische Antagonisten zu augmentieren, hauptsächlich werden sie am Handgelenk und den Fingerund Daumenstreckern eingesetzt. > Eine präoperative Botulinumtoxin-A-Injektion schließt eine funktionelle Verschlechterung durch einen Kraftverlust des verlagerten Muskels aus.
z Kapsulotomie Die Indikation zur Kapsulotomie wird gestellt bei schwerer langzeitig bestehender Kontraktur, die nicht allein durch eine Muskeloder Sehnenverlängerung ausgeglichen werden kann (Arthrolyse am Ellenbogengelenk, Ablösung der Membrana interossea am Unterarm, palmare Kapsulotomie) z Tenodese (= Sehnenfesselung) Eine Sehnenfesselung führt zur Bewegungsbegrenzung eines Gelenks bei nicht ausreichender Anzahl aktiver Motoren. Beispiele für Sehnenfesselungen sind die Tenodese der Handgelenkstrecker am distalen Radius, die Tenodese zur passive Daumenstreckung und -abduktion und die Lasso-Operation nach Zancolli bei Krallenfehlstellung. Vorteil ist die relativ einfache und zuverlässige Technik, nachteilig die sehnig begrenzte Bewegungseinschränkung und mögliche sekundäre Elongationen mit nachfolgendem Korrekturverlust. z Kapsulodesen (= Kapselraffungen) Eine Kapsulodese ist die Ablösung und anschließende Neufixierung eines Gelenkkapselansatzes unter Korrekturstellung. Ziel ist die Begrenzung der Gelenkbeweglichkeit bei Instabilität, z. B. an Daumengrundgelenk oder Fingermittelgelenk.
Bei der Kapseldoppelung wird die Gelenkkapsel quer oder Z-förmig eröffnet, die Kapselränder werden angeschlungen und unter Doppelung in Korrekturstellung des zugehörigen Gelenks wieder vernäht. Der Vorteil dieser Technik besteht in der guten Primärstabilität unter Erhaltung einer funktionell wichtigen Restbeweglichkeit (im Gegensatz zur Arthrodese). Die Nachteile liegen in der Gefahr von Verwachsungen und Bewegungseinschränkungen (besonders bei zu starker Raffung oder zu langer Ruhigstellung) sowie in der Rezidivgefahr. Knöcherne Eingriffe z Korrekturosteotomie Unter einer Osteotomie versteht man die Durchtrennung und Drehung eines oder mehrerer Knochen mit anschließender Fixierung in der gewünschten Korrekturstellung. Ein solcher Ausgleich von Fehlstellungen ist beispielsweise suprakondylär am Ellbogen oder am Unterarm bei fixierter Pro- oder Supinationsdeformität möglich. z Arthrodese (= Gelenkversteifung) Unter einer Arthrodese versteht man die die knöcherne Vereinigung der Gelenkflächen zur Stabilisierung bei Gelenkinstabilität oder Fehlstellung, meist am Handgelenk oder Daumengrundgelenk, eventuell mit zusätzlicher Verkürzung (z. B. am Handgelenk mit Entfernen der proximalen Handwurzelknochen = »proximal row carpectomy«) Die korrespondierenden Gelenkflächen werden entknorpelt, knöchern angefrischt und in der gewünschten Korrekturstellung bis zum knöchernen Durchbau fixiert. Die Arthrodese kann analog zur Osteotomie konturerhaltend (bei vollständiger passiver Korrigierbarkeit) oder als Resektionsarthrodese (subtraktiv) oder unter Einfügung (additiv) von Knochenscheiben oder -keilen (z. B. Radius- oder Beckenkammspongiosa) vorgenommen werden. Die Vorteile liegen im hohen Korrekturpotenzial und im dauerhaften Ergebnis, nachteilig sind die aufwendige Technik, lange Heilungsdauer (mindestens 6 Wochen) und die vermehrte Belastung von Nachbargelenken mit dem Risiko degenerativer Veränderungen (Anschlussarthrosen). Allgemeine Grundsätze der Nachbehandlung Die postoperative Übungsbehandlung kann bei stabilen Sehnennähten und Kooperation des Patienten frühfunktionell aus speziellen Schienen heraus erfolgen. Zusätzlich werden tagsüber Funktionsund nachts Lagerungsschienen über etwa ein halbes Jahr empfohlen. Bei reduzierter Kooperationsfähigkeit sollte das Handgelenk für 4–6 Wochen in Gips immobilisiert werden, wobei die Finger jedoch frühzeitig freigegeben werden sollten. Die Immobilisation des Daumens erfolgt am besten in Abduktion. Bei Gelenkversteifungen erfolgt eine Immobilisation über 6–8 Wochen, wobei angrenzende Gelenke möglichst frei gelassen werden sollten. Nach Abnahme der Schienen sollte für mindestens 3 Monate mehrfach wöchentlich eine spezielle ergotherapeutische Behandlung erfolgen. 60.1.8 Besonderheiten im Wachstumsalter Spezielle Gesichtspunkte der Therapie bei Schädigungen des oberen Motoneurons im Kindesalter sollen kurz zusammengefasst werden.
1709 60.1 · Allgemeines
Epidemiologie und Ätiologie Die genaue Häufigkeit zerebraler Schädigungen im Wachstumsalter ist unbekannt. Es ist jedoch allein in Deutschland von ca. 70.000 Kindern mit schwerer Zerebralparese auszugehen, die häufigste Ursache einer Dysfunktion des oberen Motoneurons vor dem Erwachsenenalter ist. Seltenere Ätiologien sind z. B. SchädelHirn-Trauma oder Hypoxie (z. B. Beinahe-Ertrinken).
Untersuchung und Indikationsstellung Die körperliche Untersuchung als Basis der späteren Therapiewahl erfordert bei Kindern oft noch mehr Geduld, Sorgfalt und Mitgefühl als bei erwachsenen Patienten. Die Eltern oder Sorgeberechtigten müssen in die Indikationsstellung und Therapieauswahl einbezogen werden. > Nicht selten bestehen hier Wunschvorstellungen einer möglichen »Heilung«, die einfühlsam und behutsam, aber klar verständlich korrigiert werden müssen. In der gesamten Gesprächsführung sollten medizinische Fachausdrücke vermieden werden und stattdessen allgemein verständliche Begriffe verwendet werden.
Alter bei Operation In welchem Alter eine chirurgische Funktionsverbesserung am besten durchgeführt werden sollte, ist vor allem abhängig von ▬ der Reife des Kindes und damit verbunden mit kognitiven Fähigkeiten bzw. Intelligenz und Kooperationsfähigkeit bei der Nachbehandlung, ▬ der Unterstützung durch die Familie oder Vertrauenspersonen des Kindes, ▬ der Größe der anatomischen Strukturen (auf die weiter unten noch speziell eingegangen werden soll). Der Einfluss des Alters zum Zeitpunkt der Operation wird unterschiedlich beurteilt. Manche Autoren empfehlen operative Eingriffe ab dem 3.–4. Lebensjahr, da Muskelverkürzungen noch geringer ausgeprägt sind und das therapeutische Entwicklungspotenzial höher ist. Andere verweisen darauf, dass Kleinkinder oft noch nicht den Sinn einer Operation erfassen könnten, halten die bessere Mitarbeit bei älteren Kindern für entscheidend und empfehlen evtl. abzuwarten, bis das Kind voraussichtlich besser mit Schienen und Übungsbehandlung zurechtkommt. Aus unserer Sicht ist eine Rekonstruktion im Grundschulalter am sinnvollsten. Am besten geeignet für eine Operation erscheint ein etwa 6-jähriges kooperatives Kind mit vorwiegend spastischer Lähmung der oberen Extremität, bei hemi- oder monoplegischem Lähmungsmuster, guter Sensibilität und ohne wesentliche sonstige neurologische Defizite.
Intraoperative Besonderheiten Technische Schwierigkeiten bei kindlichen Patienten, vor allem bezogen auf Sehnentranspositionen, sind vor allem bedingt durch: 1. Feinheit bzw. Anomalien der anatomischen Strukturen, vor allem der Sehnen, mit Problemen bei der Naht bzw. Einflechtung (Auf den technischen Umgang mit diesen Problemen wird in Kap. 59 eingegangen.) 2. Fixierte Kontrakturen Ein weiteres Hindernis sind ausgeprägte Kontrakturen der oberen Extremität aufgrund des frühen Beginns des lähmungsbedingten Muskelungleichgewichts, hauptsächlich an Ellenbogen, Unterarm
und Fingergrundgelenken. Zunächst ist konservatives Vorgehen indiziert, mit ▬ krankengymnastischer Muskeldehnung und ▬ serieller statischer oder dynamische Schienung. Bei längerem Bestehen reichen diese Maßnahmen oft nicht aus, sodass operativ vorgegangen werden muss. Je älter die kleinen Patienten und je ausgeprägter die Deformitäten in Abhängigkeit vom Schweregrad der Behinderung sind, umso vielfältiger und teilweise aufwendiger müssen die Operationen zu ihrer Korrektur sein. Bei frühzeitigem operativem Eingreifen bei Kleinkindern mit Zerebralparese wird von de Roode et al. (2010) beispielsweise folgendes Schema vorgeschlagen: 1. Korrektur der Pronationsspastik durch Ablösung der Pronator-teres-Sehne, 2. Korrektur der Handgelenkbeugeflexion durch FCU-proECRB-Transposition, 3. Adductor-pollicis-Release und EPL-Umlagerung bei eingeschlagenen Daumen.
Besonderheiten bei der Indikationsstellung im Wachstum 1. Vorsicht vor Überkorrektur von Deformitäten Im Wachstum sollte speziell darauf geachtet werden, dass keine Überkorrektur erfolgt, da sich bei Kindern leichter die umgekehrte Deformität durch Spastik in anderen Muskelgruppen ergeben kann. Wird z. B. statt einer vorsichtigeren Sehnenverlängerung der Release aller Handgelenkflexoren durchgeführt, um eine Beugekontraktur zu beheben, kann leicht eine Hyperextensionskontraktur entstehen, wenn eine zusätzliche Spastik der Handgelenkstrecker vorliegt. Die nachfolgende iatrogene Deformität ist möglicherweise noch hinderlicher als die initale. 2. Reversible Operationen – Vermeidung von Arthrodesen Die End-zu-Seit-Naht bei der Sehnentransposition erlaubt es, die Wirkung der Operation bei Überkorrektur rückgängig gemacht werden. Die Versteifung von Gelenken verhindert den Vorteil eines Tenodeseeffekts und die Relaxation gespannter Muskeln. Zudem besteht bei Arthrodesen das Risiko von Wachstumsstörungen des unreifen Skeletts, sie sind daher nur selten indiziert. 3. Beachtung von Greif- und Loslassmustern Bei funktionellen Korrektureingriffen muss besonders bei Kindern auf die willentliche Kontrolle der Fingerflexion und -extension geachtet werden, die ein Ergreifen und Loslassen von Gegenständen ermöglicht. Das Ausmaß der Behandlung hängt vom Schweregrad der Spastik und Kontraktur ab und reicht von einer Verlängerung des M. flexor carpi ulnaris bei einem Kind mit milder Beugespastik des Handgelenks bis hin zur kompletten Ablösung aller Handgelenk- und Fingerflexoren bei schwerer Deformität aller Extremitäten (⊡ Tab. 60.6).
Nachbehandlung Die krankengymnastische Nachbehandlung ist bei Kindern von gleicher Bedeutung wie bei älteren Patienten. Aufgrund der Feinheit der Sehnen und der Schwierigkeit und schlechten Ergebnisse nach einer Folgeoperation bei Ruptur muss ein Kompromiss zwischen aktiver Bewegung und Schutz der Sehnennaht gefunden werden.
Ergebnisse Auch bei Kindern lässt sich durch eine funktionelle Rekonstruktion der Arm- und Handfunktion ein Gewinn an Eigenständigkeit,
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Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
Mobilität und Unabhängigkeit von anderer Hilfe erreichen. Viele Alltagsaktivitäten zu Hause, beim Spielen und in der Schule lassen sich wesentlich geschickter und schneller ausführen. Diese positiven Auswirkungen rechtfertigen eine Wiederherstellung der Arm- und Handfunktion bei Kindern, sobald sie nach den oben genannten Kriterien für eine solche Operation in Frage kommen. 60.2
Spezielle Techniken
60.2.1 Eingriffe an der Schulter An der Schulter stehen bei zerebral bedingten Lähmungen folgende Probleme im Vordergrund: ▬ lähmungsbedingtes Absinken (inferiore Subluxation) des Humeruskopfes, ▬ Adduktions-Innenrotations-Kontraktur (häufig), ▬ Abduktions-Innenrotations-Kontraktur (seltener).
Korrektur der inferioren Subluxation des Humeruskopfes
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Bei schlaffen Lähmungen im Bereich des Schultergürtels kommt es häufig zu einem Absinken des Humeruskopfes, wodurch ein chronischer Zug an der Schulterkapsel mit Traktion des M. trapezius und Plexus brachialis entstehen kann. Die Patienten beklagen Schmerzen, die oft zunehmen, wenn sie sitzen oder der Arm nicht unterstützt wird und kaum durch subacromiale oder intraartikuläre Injektion von Lokalanästhetika zu beeinflussen sind. Wenn eine Beschwerdebesserung durch manuelle Reduktion der Subluxation zu beobachten ist, besteht die Indikation zur Operation. Hierzu wurden verschiedene Verfahren angegeben, von denen sich eine coracoacromiale Ligamentfixation und eine Aufhängung durch die die proximale Bizepssehne Vorteile bieten gegenüber der Schulterarthrodese, bei der die rigide Gelenkstellung oft mit der Positionierung der Schulter, Körperhygiene und Pflegemaßnahmen kollidiert. Ligamentum-coracoacromiale-Suspension (nach Braun) In Rückenlage und kleinem Kissen unter der Schulter wird eine etwa 7 cm lange Inzision entlang des deltopektoralen Übergangs gelegt, die V. cephalica dargestellt und geschont und zwischen den beiden Muskeln eingegangen und der M. pectoralis major bei Spastik mit dem Elektrokauter eingekerbt. Die Fascia clavipectoralis und die gemeinsame Sehne werden nach medial, der M. deltoideus nach lateral gehalten. Bei Kontraktur des M. subscapularis wird dieser oberhalb der Kapsel abgelöst. Der laterale Anteil des Processus coracoideus wird dann mit dem Ligamentum coracoacromiale mit Bohrlöchern versehen und als stabile Knochenschuppe abgetrennt, wobei die gemeinsame Sehne erhalten bleiben muss. Der Knochenspan mit dem coracoacromialen Band wird dann nach unten zum Humeruskopf verlagert und an diesem mit Spongiosaschrauben befestigt. Nach der Fixation wird der Bereich des maximalen Bewegungsausmaßes ausprobiert, innerhalb dessen es nicht zu einer Zugbelastung der transponierten Bandstrukturen kommt. Postoperativ bleibt die Bewegung der Schulter zunächst auf dieses Bewegungsausmaß beschränkt, es sind aber Krankengymnastik und normale Alltagstätigkeiten erlaubt. Bizepssuspensionsoperation Die von Keenan (2010) bevorzugte Methode ist eine Aufhängung des Humeruskopfes an der proximalen Bizepssehne, die zu einer
proximal basierten Schlinge umfunktioniert wird. Auf diese Weise wird zwar die Subluxation korrigiert, aber die passive Schulterbeweglichkeit erhalten. Da nur Sehne verwendet wird, besteht keine Gefahr, dass durch ein Nachgeben des paretischen Muskels ein Rezidiv der Gelenkinstabilität eintritt. In Beach-Chair-Lagerung mit unterpolsterter Schulter erfolgt eine deltopektorale Inzision. Wenn der M. pectoralis major eine Adduktions- oder Innenrotationskontraktur bedingt, wird er von seinem humeralen Ursprung abgelöst. In der Region des muskulotendinösen Übergangs des Caput longums wird dieser – unter Schonung des medial liegenden N. musculocutaneus – am Übergang zwischen Sehne und Muskel abgelöst, um eine möglichst lange Sehne zu erhalten. Der verbliebene Anteil des langen Bizepskopfes wird in Seitzu-Seit-Technik medial an die gemeinsame Sehne fixiert, um eine kraftvolle Ellenbogenbeugung und Supination zu erhalten. Der proximale Anteil der Caput-longum-Sehne wird anschließend zwischen dem Sulcus bicipitis und der Rotatoren präpariert, wenn nötig kann zusätzlich die Insertion des M. subscapularis abgelöst werden. Zwei Bohrlöcher im Humerus, jeweils eines auf jeder Seite der Knochenrinne des M. biceps, werden durch einen Tunnel verbunden. Es ist zu beachten, dass dieser Tunnel posterior des Sulcus gelegen ist, damit die Bizepssehne in gleicher Richtung den Humeruskopf nach proximal und medial zieht, wenn die Sehne zum Schluss festgezogen und das Gelenk reponiert wird. Ein geflochtener und nicht resorbierbarer Faden wird dann in den distalen Teil der Bizepssehne eingezogen und diese mittels einer Drahtschlinge von proximal nach distal durch den Knochenkanal gezogen. Der Arm wird dann in reponierter Stellung des Humeruskopfes in der Glenoidpfanne und 30° Innenrotation der Schulter gelagert. Mit der eingezogenen Naht wird die distale wieder an die proximale Sehne fixiert, wodurch sich eine Aufhängeschlinge bildet, die eine Subluxation des Caput humeri verhindert.
Korrektur der Adduktions-Innenrotations-Kontraktur der Schulter Bei dieser Fehlstellung ist der Arm ist eng an die Thoraxwand angelegt, der Unterarm und die Hand kommen über dem Brustbein zu liegen. Nichtoperativ sind Injektionen von Botulinumtoxin A möglich. In Ausnahmefällen können bei fixierten Deformitäten Osteotomien und Arthrodesen notwendig sein, meist reicht jedoch ein eine Verlängerung der Schultermuskeln aus. Ablösung bzw. Verlängerung der Schulteradduktoren Der Eingriff erfolgt in Rückenlage, möglichst in sitzender Position (Beach-Chair-Lagerung). Nach Zugang im Sulcus deltoideopectoralis erfolgt die ansatznahe Ablösung des M. pectoralis major und Verlängerung (möglichst Z-förmig) am Übergang der Sehne in den Muskelbauch. Das Ausmaß der Verlängerung der Muskel-SehnenEinheit wird durch die Schwere der Spastik bestimmt. Eine neue Sehne bildet sich meist innerhalb von 3 Wochen. Der M. latissimus dorsi und der M. subscapularis werden dargestellt und ebenso am muskulotendinösen Übergang verlängert, bei Bedarf ebenso über die gleiche Inzision der M. triceps brachii (Caput longum). Der M. teres major wird meist belassen, um eine Überkorrektur mit Abduktionskontraktur zu vermeiden. Ziel ist durch die Verlängerung der Schultermuskeln eine Abduktionsfähigkeit von etwa 100° zu erreichen. Oft wird eine Ruhigstellung über 3 Wochen im Gips- oder durch Schaumstoffkissen in Abduktion und Außenrotationerfolgen empfohlen. Nach Keenan (2010) kann jedoch auch ab dem
1711 60.2 · Spezielle Techniken
1. postoperativen Tag mit Krankengymnastik und geführten aktiven Bewegungen begonnen werden, wenn für 3 Wochen passive Dehnung oder Beübung gegen Widerstand vermieden wird, die zur Ruptur der verlängerten Muskeln führen könnten.
Korrektur der Abduktionskontraktur der Schulter Durch Überaktivität des M. supraspinatus kann sich eine spastische Abduktionsfehlstellung ausbilden. Es handelt sich in manchen Fällen um eine fixierte Kontraktur, meist aber um eine dynamische Problematik, die beim Gehen, Transfers (z. B. aus dem Rollstuhl ins Bett) oder durch andere Alltagsaktivitäten zunimmt. Die Patienten leiden darunter, dass sie Schwierigkeiten haben das Gleichgewicht zu halten, versehentlich andere Menschen anrempeln oder gegen Möbel oder Wände stoßen. Bei der Diagnosestellung wird der Patient in Ruhe und während bestimmter Tätigkeiten untersucht, durch die erfahrungsgemäß die Schulterabduktion getriggert wird. Mittels dynamischer Elektromyografie kann die spastische Überaktivität des M. supraspinatus bestätigt werden. Supraspinatus-Slide-Operation Am M. supraspinatus kann keine echte Verlängerung durchgeführt werden, er kann aber teilweise abgelöst und zum Gleiten (»slide«) nach lateral gebracht werden. Der Zugang erfolgt parallel zur Spina scapulae, von der die Insertion des M. trapezius abgetrennt, aber eine Faszienmanschette zur späteren Refixation erhalten wird. Der Supraspinatusursprung wird subperiosteal vom medialen Rand der Skapula abgetrennt. Die Dissektion wird nach lateral erweitert, wobei die supraskapularen Gefäß-Nerven-Bündel geschont bleiben. So kann der Muskel nach lateral abgleiten. Anschließend wird der M. trapezius wieder an die Spina scapulae geheftet. Postoperativ wird dem Patienten volle Bewegung erlaubt.
Hier ist nach Keenan (2010) keine Immobilisation notwendig, sondern ab dem 1. postoperativen Tag eine Beübung ohne Widerstand und passive Dehnung über 3 Wochen erlaubt.
Tenotomie am Ellenbogen der nicht funktionellen Extremität Massiv störende Flexionskontrakturen treten vorwiegend bei schwer tetraspastischen Patienten auf. Ellbogenstreckorthesen sind nur schwer einsetzbar, besonders bei spastischem Gegenspannen des Patienten. In diesen Fällen kann die Injektion von Botulinumtoxin A die Gegenspannung lösen. Bei schweren fixierten Kontrakturen ist ein operativer Eingriff notwendig. 60.2.3 Eingriffe am Unterarm Die Funktion am Unterarm wird mehrheitlich durch eine Pronations- und Beugekontraktur beeinträchtigt.
Korrektur der Pronations- und Flexionskontraktur am Unterarm Läsionen des oberen Motoneurons bewirken häufiger eine Pronationskontraktur als eine Supinationsfehlstellung. Viele Alltagsaktivitäten hängen jedoch von einer funktionierenden Supination ab, z. B. beim Essen oder bei der Körperpflege. Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich eine vollständige Einwärtsdrehung des Unterarms. Hauptverantwortliche Muskeln sind die Mm. pronator teres und quadratus. Eine dynamische EMG-Untersuchung erlaubt es, zwischen dem Anteil dieser beiden Muskeln und dem des M. biceps brachii zu differenzieren. Die Indikation zur operativen Korrektur ist in der Regel gegeben, wenn die Patienten durch die eingeschränkte Greiffunktion Probleme im Alltag haben. Alltagsverrichtungen werden durch eine nicht kontrakte Pronationsstellung des Unterarms erleichtert.
60.2.2 Eingriffe am Oberarm und Ellbogen
> Bei Operationen muss unbedingt eine funktionell oft noch
Korrektur der Flexionskontraktur des Ellenbogens
Bei leichten Formen reicht die ursprungsnahe Ablösung des M. pronator teres und des M. flexor carpi ulnaris (FCU; Operation nach Erlacher/Page/Scaglietti). Bei geplanter distaler Versetzung des FCU sollte sein Ursprung geschont werden. Nach erreichter Korrektur werden die distalisierten Ursprünge mit Nähten an der Ulna fixiert. Bei stärkeren Pronationskontrakturen wird der M. pronator quadratus an der Ulna abgelöst. Bei geplantem Transfer des FCU auf den M. extensor carpi radialis brevis (ECRB) erfolgt die ulnare Tenotomie des M. pronator quadratus über die gemeinsame Inzision. Bei sehr schweren Fällen mit Subluxation des distalen Ulnaendes nach dorsal ist der distale Transfer des M. pronator teres auf den M. extensor carpi radialis longus (ECRL) und ECRB zu empfehlen.
Am Ellbogen sind Flexionskontrakturen häufig, die aber oft nur mäßig ausgeprägt sind. Wenn sie den Patienten nur leicht behindern, ist keine operative Therapie erforderlich. In Fällen mit Progredienz der Kontrakturen können Nachtlagerungsschienen verwendet werden. Eine dynamische EMG-Untersuchung zeigt meist ein phasisches Muster aller drei Trizepsköpfe. Der M. brachioradialis gibt kontinuierlich ein spastisches Muster wider, ebenso sind meist einer oder beide Bizepsmuskelbäuche spastisch. Hier sind Verlängerungen der Oberarmmuskulatur hilfreich, um den Bewegungsfluss und die Ellenbogenkontrolle zu verbessern und die Positionierung der Hand zu erleichtern. Palliativ kann, z. B. um die Pflege zu erleichtern, eine einfache Tenotomie erfolgen.
Verlängerung der Ellenbogenbeuger Nach S-förmiger Inzision über dem vorderen Oberarm werden beide Sehnen des langen und kurzen Bizepskopfes dargestellt und scharf direkt über dem Muskelbauch durchtrennt, wodurch es zu einer Verlängerung der Muskel-Sehnen-Einheit kommt. Dann erfolgt eine zweite Inzision über dem lateralen Ellenbogen zur Darstellung des M. brachialis, der ebenso im Bereich seines breiten Muskel-Sehnen-Übergangs verlängert wird, in gleicher Weise wie der M. brachioradialis über einen kleinen dritten Zugang am proximalen Unterarm.
ungünstigere Supinationsfehlstellung vermieden werden.
1. Flexoren- und Pronatorenablösung am Epicondylus humeri medialis (OP nach Erlacher/Page/Scaglietti) Es erfolgt ein semizirkuläres Ablösen des gemeinsamen FlexorenPronatoren-Ursprungs vom Epicondylus medialis und der proximalen Ulna über mehrere Zentimeter nach distal unter Schonung der benachbarten Gefäß-Nerven-Bündel, vor allem des N. ulnaris, der nach ventral verlagert werden kann. Bei geplanter distaler Versetzung der Sehne des M. flexor carpi ulnaris (FCU) muss auf die Schonung seines Muskelursprungs geachtet werden. Die Refixierung der gemeinsamen Ursprünge wird nach erreichter Kor-
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Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
rektur mit einigen Nähten an der Ulna bewerkstelligt, bei stärkerer Pronationskontraktur ist ein zusätzliches Ablösen des M. pronator quadratus distal an der Ulna möglich. Ein Oberarmgips in ca. 70° Ellenbogenbeugung und Supination, leichter Handgelenkextension und Freigabe der Finger verbleibt über 3 Wochen, danach ca. 6 Monate Oberarm-HandNachtschiene in mittlerer Pronationsstellung und leichter Handgelenkstreckstellung.
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2. Transposition der Sehne des M. pronator teres auf die Handgelenkstrecker (nach Tubby) Es erfolgt eine ca. 5 cm lange Längsinzision am palmaren Unterarm auf Höhe des Übergangs zwischen proximalem bzw. mittlerem Radiusdrittel, dann die Darstellung des M. brachioradialis (unter Schonung des gesichterten R. superficialis des N. radialis). Die Ansatzsehne des M. pronator teres wird aufgesucht, angeschlungen, einschließlich einstrahlender Muskelfasern vollständig abgelöst und mobilisiert. Nun werden die Sehnen von M. extensor carpi radialis longus (ECRL) und M. extensor carpi radialis brevis (ECRB) freigelegt und angeschlungen. Die Sehnentransposition erfolgt erst, wenn die Handgelenkbeugestellung durch die Verlängerung der proximalen bzw. distalen Handbeuger korrigiert ist. Die beiden Sehnenenden des M. pronator teres werden mit kräftigen nicht resorbierbaren Fäden (Stärke 0 oder 1) durchflochten. Das am Radius verbliebene distale Ansatzende wird mit einer gebogenen Klemme durch die Membrana interossea um den Radius herum nach ventral geführt. Anschließend werden beide Sehnen unter supinierender Korrekturstellung (ggf. vorab zusätzlich Ablösung des M. pronator quadratus) miteinander vernäht. Zur Protektion der Sehnennähte wird ein Oberarmgips in leichter Beugestellung des Ellenbogengelenks und Unterarmsupination für insgesamt 3 Wochen angelegt, anschließend Unterarmgips für weitere 3 Wochen, dann für 6 Monate zur Nacht Oberarmschiene in Supination und Unterarmhandgelenkfunktionsschiene. 3. Transposition der Handgelenkbeuger auf die Handgelenkund Fingerstrecker Die Operation beginnt mit einer ca. 10 cm langen L-förmigen Inzision über der distalen und palmaren Ulna, die ansatznah abgelöste Endsehne des M. flexor carpi ulnaris (FCU) wird angeschlungen und mobilisiert, wobei der benachbarte R. superficialis des N. ulnaris geschont wird, bei Bedarf erfolgt eine Z-förmige Verlängerung der Sehne des M. flexor carpi radialis (FCR). Anschließend erfolgt dorsal über dem distalen Radius ein ca. 5 cm langer Längsschnitt zur Darstellung der Endsehnen des M. extensor carpi radialis brevis (ECRB) und des M. extensor digiterum communis (EDC), ggf. zudem ein komplettes Ablösen des M. pronator quadratus an der distalen Ulna und Tunnellieren der Membrana interossea mit einer stumpfen Kornzange von dorsal nach palmar. Die angeschlungene Sehne des FCU wird nach dorsal gezogen und in die Sehne des ECRB oder des EDC unter Korrekturstellung eingeflochten. Alternativ kann in der modifizierten Technik nach Green die Sehne des FCU auch um die Ulna herum in die Handrückenwunde gezogen werden. Bei zusätzlich bestehender Ulnarabduktion ist zusätzlich ein Verlängern oder Transponieren des M. extensor carpi ulnaris (ECU) in Handrückenmitte auf den ECRB sinnvoll. Je nach begleitenden Operationen erfolgt eine Oberarm- oder Unterarmgips in leichter Dorsalflexion des Handgelenks, die Finger bleiben frei zum Beüben, insgesamt für 5 Wochen, dann für 6–9 Monate Funktions- und Lagerungsorthesen.
4. Fraktionierte Verlängerung der Fingerbeuger zur Korrektur der Flexionskontraktur Diese Operation findet primär aus pflegerischen bzw. ästhetischen Gründen statt, sie ist indiziert bei ausgeprägter Spastizität bzw. Kontraktur der Fingerbeuger. Wegen der erheblichen Schwächung der Greifkraft und dem Risiko der Entwicklung von Intrinsic-plus-Deformitäten (= Schwanenhalsfehlstellung) verzichtet man bei funktionellen Operationen meist auf eine Verlängerung der Fingerbeuger. Eine Längsinzision reicht vom mittleren zum distalen Unterarmdrittel ulnar, hier werden die Fingerbeuger identifiziert (zuerst Mm. flexores digitorum superficiales, dann Mm. flexores digitorum profundi). Die jeweilige Sehne wird intramuskulär schräg gekerbt, wobei ihre muskuläre Kontinuität noch erhalten bleibt; durch Strecken der gebeugten Langfinger gibt die Kontraktur nach. 5. Superficialis-auf-Profundus-Transposition (nach Braun) Bei starken strukturellen Kontrakturen wird eine Superficialis-aufProfundus-Transfer eingesetzt werden. Dabei werden die Sehnen des M. flexor digitorum superficialis (FDS) distal und die des M. flexor digitorum profundus (FDP) proximal am Muskel-Sehnen-Übergang en bloc zusammengenäht und dazwischen durchtrennt. Beide gemeinsamen Sehnenstümpfe (des FDS distal und des FDP proximal) werden dann unter Korrekturstellung der Finger mit PDS-Fäden so vernäht, dass sich noch eine leichte Fingerbeugestellung von etwa jeweils 30° in den Mittel- und Endgelenken ergibt. Der proximale Stumpf des FDP wird zur Verstärkung auf die Sehnen gesteppt. Bei beiden Operationen wird für 4–5 Wochen ein Unterarmfingergips (in leichter Beugestellung der Finger) angelegt, dann Lagerungsorthesen. 60.2.4 Eingriffe am Handgelenk Typische Handgelenkfehlstellung bei spastischen Lähmungen ist die Hyperflexion, selten liegt eine Hyperextension vor. Die Patienten leiden darunter, dass sie die Hand nicht ohne hängenzubleiben in Ärmel, Taschen oder enge Öffnungen stecken können, viele haben bei passiver Bewegung Schmerzen. Manche haben typische Beschwerden eines Karpaltunnelsyndroms, in schweren Fällen liegt sogar eine Subluxation des Handgelenks oder eine radiale bzw. ulnare Deviation vor, nicht selten auch eine nicht mehr zu öffnende Faust (»clenched fist«). Die Stellung des Handgelenks lässt sich funktionell durch eine palmare Orthese verbessern, diese umfasst den Unterarm bis zur Mittelhand und reicht nur bis zur distalen Beugefurche, um die Fingerbeweglichkeit frei zu lassen. > Bei schweren Beugekontrakturen, besonders bei Tetraparese oder bei dystoner Lähmung, seltener bei Streck- oder Ulnarabduktionskontrakturen nach überdosierter Voroperation oder gleichzeitig bestehender Instabilität, führt die Arthrodese des Handgelenks zu guten Ergebnissen.
Hier sind drei verschiedene Vorgehensweisen gebräuchlich.
Entfernung der proximalen Handwurzelreihe (»proximal row carpectomy«) ( Kap. 29.2.13) Indikation zur Resektion der proximalen Handwurzelreihe ist die fixierte Beugekontraktur, die nicht durch eine Verlängerung der Beuger korrigierbar ist. Voraussetzung ist ein intaktes Radiokarpalgelenk ohne Knochendeformation (vor allem des Os capitatums), wie sie bei Erwachsenen mit Zerebralparese nicht selten aufgrund von Wachstumsstörungen der Karpalia vorliegen können.
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Handgelenkarthrodese ( Kap. 29.2.15) Vorteil der Handgelenkarthrodese ist, dass sie eine definitive Korrektur ohne Rezidivgefahr anbietet. Bei ausgeprägter Kontraktur ist sie jedoch nur nach einer Verlängerung der Agonisten möglich.
Entfernung der proximalen Handwurzelreihe und radiokapitale Verkürzungsarthrodese bei schwerer struktureller Handgelenkbeugedeformität Vorbereitend sollte eine Verlängerung der Handgelenkbeugesehnen (FCU und FCR, FPL), ggf. auch der Fingerbeuger (nur bei pflegerischer Indikation), durchgeführt werden. Ein flacher kortikospongiöser Beckenkammspan und Spongiosa sollten vorab entnommen werden. Zunächst erfolgt eine dorsale Längsinzision über 8–10 cm vom distalen Radius bis zur Mitte des Metakarpale-III-Schaftes, wobei in Längsrichtung ulnar des Lister-Tuberkels am distalen Radius zwischen dem Sehnenfach des EPL und des EDC eingegangen wird. Nach dem Anschlingen der Ränder des Retinaculum extensorums unter Schonung des langen Daumenstreckers erfolgt die Verlängerung der Inzision bis zum Knochen nach proximal und nach distal und es folgt die subperiostale Darstellung des Metakarpale-III-Schaftes und des distalen Radius. Durch eine weitere Längsinzision der Handgelenkkapsel unter maximaler Palmarflexion des Handgelenks gelingt die Entfernen des Os scaphoideums und des Os lunatum sowie das Entknorpeln des Os capitatum und der benachbarten Anteile des Os trapezoideum. Beim Entknorpeln des distalen Radiusendes muss auf eine Schonung des distalen Radioulnargelenks geachtet werden. Nach Anfrischen des distalen Radiusendes und Schaffung einer Vertiefung zur Aufname des Os capitatum kann die Position der Arthrodese durch einen Kirschner-Draht provisorisch eingestellt werden. Die endgültige Stellung (neutrale Handstellung bzw. leichte Dorsalflexion) wird durch Vorbereiten eines längs ca. 1 cm breit verlaufenden Knochenbettes von der Basis des Metakarpale III bis zum distale Radiusende festgelegt, hier wird der Span eingepasst und die Platte (Kleinfragment-8- bis -10-Loch-DC-Platte oder Arthrodesenplatte) anmodelliert. Beim Aufschrauben werden zuerst die distalen Schrauben besetzt, dann die Platte ausgerichtet und proximal fixiert, die Spongiosa eingebracht, Bänder und Kapsel rekonstruiert und die Wunde schichtweise verschlossen. Allgemein wird für 8 Wochen ein Unterarmhandgips getragen, die Finger dürfen nach Fädenentfernung frei bleiben, evtl. noch weitere Ruhigstellung zur Nacht in Orthese. > Wird die Handgelenkbeweglichkeit zur Öffnung der Finger oder zum Faustschluss gebraucht (Tenodeseeffekt), ist eine Arthrodese kontraindiziert.
60.2.5 Eingriffe an der Hand Die typische spastisch bedingte Fehlstellung an der Hand besteht aus ▬ Palmarflexion bzw. Ulnardeviation und Pronation im Handgelenk, ▬ Flexionsstellung oder ▬ Schwanenhalsdeformität der Finger und ▬ Adduktions-Pronations-Deformität des Daumens.
Korrektur der Palmarflexion bzw. Ulnardeviation und Pronation im Handgelenk Die Palmarflexion im Handgelenk schwächt die Kraft der Fingerbeuger, zudem besteht die Gefahr von Kontrakturen der Fingerbeuger,
wenn diese nie in der vollen Länge eingesetzt werden. Durch die Ulnardeviation und Pronation dreht sich die Hand aus dem Gesichtsfeld heraus. Die Handfunktion kann optisch nur schwer kontrolliert und die gestörte Störung der Sensorik kaum kompensiert werden. Korrigierende Eingriffe am M. pronator quadratus können indiziert sein, wenn eher die Verbesserung der Rotation von Vorderarm und Hand im Vordergrund steht. Ist eine aktive Supination nur bis zur Neutralstellung möglich, kann der M. pronator quadratus oder der M. pronator teres verlängert werden. Wenn aktiv die Supination bei passiv freier Beweglichkeit fehlt, ist eine Transposition der pronierenden Muskeln indiziert. Ist eine Bewegungseinschränkung ohne pronatorische Aktivität vorhanden, wird der M. pronator quadratus verlängert und kann später verlagert werden. Die Resultate nach Verlagerung sind oft günstiger als nach Verlängerung, alternativ kann zur Muskelschwächung auch Botulinumtoxin A injiziert werden.
Korrektur der Fingerflexion Neben der Pronations-Flexions-Stellung im Handgelenk ist oft ist die gesamte Hand spastisch kontrakt und deformiert, die Finger sind stark gebeugt und z. T. kann die Hand weder aktiv noch passiv geöffnet werden. Man spricht von einer Clenched-Fist-Deformität (⊡ Abb. 60.3). Mit Lagerungsorthesen können mildere Flexionskontrakturen ausgeglichen werden. Bei schweren Fingerdeformitäten müssen Operationen zur Korrektur der Fingerstellung in Betracht gezogen werden. Die häufigsten Eingriffe sind: Neurektomie des distalen motorischen N. ulnaris Der Zugang erfolgt über einen Schnitt in der proximalen Hohlhand radial des Os pisiforme und etwa 4 cm weiter nach distal, die A. ulnaris wird geschützt. Der N. ulnaris wird dargestellt und die motorische Äste durch intraoperative Nervenstimulation eruiert, meist liegen 2 motorische Hauptäste auf. Der Hauptast liegt meist unter dem sensiblen Anteil, ein kleinerer motorischer Ast innerviert die Hypothenarmuskeln. Beide sicher identifizierte motorische Äste werden durchtrennt, der sensible Anteil belassen. Wenn keine weiteren Eingriffe stattfinden, ist keine Schiene nötig. Resektion der Seitenzügel der Streckaponeurose (»intrinsic release«) Bei einer Kontraktur der intrinsischen Handmuskeln ohne willentliche Aktivität im dynamischen EMG besteht die Indikation zur Resektion der Seitenzügel der Streckaponeurose (»intrinsic release« nach Littler) , wobei die Grundphalanxinsertion der Interosseimuskulatur intakt bleibt. Über einen mediolateralen Zugang kann die Resektion auf beiden Seiten der Finger vorgenommen werden. > Rezidivierende Intrinsic-plus-Deformitäten sind häufig, am ehesten wegen der verbleibenden Verbindung der Mm. interossei an der Basis der Grundglieder. Vorbeugend sollte daher eine Neurektomie des motorischen Anteils des N. ulnaris in der Loge de Guyon durchgeführt werden.
Palmare intrinsische Verlängerung Bei erhaltener Kontrolle der intrinsischen Handmuskeln ist eine palmare Verlängerung möglich. Hierzu werden palmare Inzisionen angelegt, eine zwischen dem 2. und 3., eine zweite zwischen dem 4. und 5. Metakarpale. Die Beugesehnen werden retrahiert, die Mm. lumbricales sind zu klein, um verlängert zu werden. Die Präparation wird auf die palmaren Interossei fortgesetzt, bei denen ein
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⊡ Abb. 60.3 Clenched Fist: Fixierte Fingerbeugerkontraktur mit sowohl aktiver als auch passiver Unmöglichkeit der Handöffnung, die zu erheblichen funktionellen, ästhetischen und hygienischen Problemen führt. a Klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von dorsal, b klinischer Aspekt präoperativ: Ansicht von palmar, c klinischer Aspekt postoperativ; nach zweistufiger Korrektur der spastischen Deformitäten (durch Sehnenumlagerung und Arthrodesen) kann der Patient die Hand als Beihand mit Klemm- und Greiffunktion sowie ästhetisch verbessertem Aspekt einsetzen, d klinischer Aspekt postoperativ: Daumenopposition (Kapandji 7/10), e klinischer Aspekt postoperativ: Daumenretropulsion
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deutlicher Muskel-Sehnen-Übergang vorliegt. Die Sehnen werden hier scharf über den Muskelbäuchen durchtrennt. Postoperativ sollte die Hand für 2 Wochen mit extendierten Grundgelenken geschient werden, dann kann mit aktiver Bewegung begonnen werden. Korrektur bei Intrinsic-minus-Deformität Die Intrinsic-minus-Fehlstellung der Finger ist durch eine Spastik der extrinsischen Flexoren bedingt, während die intrinsischen Handmuskeln einen normalen oder abgeschwächten Tonus haben. Zusätzlich kann eine Spastik der extrinsischen Extensoren vorliegen. Dieses Lähmungsmuster führt zu einer Krallenhanddeformität, wobei die MCP-Gelenke in Hyperextension stehen, während die PIP- und DIP-Gelenke flektiert sind. > Differenzialdiagnostisch muss an eine N.-ulnaris-Läsion gedacht werden.
Liegt eine Kontraktur der MCP-Gelenkkapsel vor, ist ein Release indiziert. Zudem kann eine Verlängerung der extrinsischen Fingerbeuger, eine FDS-pro-FDP-Transposition oder eine Kapsulodese sinnvoll sein, um der Hand eine funktionell und ästhetisch günstigere Haltung zu geben.
Korrektur der Schwanenhalsdeformität der Finger Die häufigste Fingerdeformität bei spastischen Lähmungen ist die Schwanenhalsdeformität mit ▬ Hyperextension des proximalen Interphalangelagelenks (PIP) und ▬ Flexionskontraktur des Endgelenks.
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Die häufig vorliegende Unfähigkeit zur Fingerstreckung beruht entweder auf fixierten muskulären Kontrakturen des M. flexor digitorum superficialis und M. flexor digitorum profundus oder arthrogenen Kontrakturen der betroffenen Fingergelenke. Auch eine abgeschwächte Funktion der Fingerstrecker oder eine Fehlstellung im Handgelenk können eine abgeschwächte oder aufgehobene Streckfunktion der Finger bedingen. Eine spontane Korrektur bei passiver Extension des Handgelenks und des Grundgelenks verweist auf eine überwiegend funktionelle Deformität. Bei der Schwanenhalsdeformität der Finger genügt es oft, die Handgelenkkontraktur zu korrigieren (⊡ Abb. 60.4). Bei fixierter Schwanenhalsdeformität ohne spontane Stellungskorrektur ist die Stabilisierung des Interpalangealgelenks mittels Tenodese durch den M. flexor digitorum superficialis in der Technik nach Swanson indiziert. Bei abgeschwächter Muskelkraft der Dorsalextensoren kann zusätzlich eine Muskelkräftigung durch einen Transfer des Flexor carpi ulnaris oder Pronator teres auf die kurzen oder langen Fingerstrecker erfolgen. Vorbereitend ist auch eine Einkerbung der radial- und ulnarseitigen Einstrahlungen der intrinsischen Lumbrikalis- und Interosseussehnen empfehlenswert (Littler-Release-Operation). Das operative Vorgehen an der Hand erfolgt meist in zwei Techniken. a. Technik nach Zancolli Bei der Technik nach Zancolli (1983) wird ein proximal und distal gestielter radialer Sehnenstreifen aus der gemeinsamen Strecksehne über dem PIP-Gelenk präpariert, nach palmar verlagert und in die längs geschlitzte Sehnenscheide der Fingerbeuger mit nicht
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⊡ Abb. 60.4 Korrektur der Schwanenhalsdeformität durch proximale Ursprungsablösung. a Präoperativer Aspekt: Ansicht von dorsal, b Präoperativer Aspekt: Ansicht von palmar c Ergebnis in Ruhestellung beider Hände nach Korrektur der Schwanenhalsdeformität durch proximale Ursprungsablösung der Pronatoren und Flexoren des Handgelenks (Operation nach Erlacher/Page/Scaglietti), d freie Fingerstreckung links, e Spitzgriff mit dem vorher kontrakten Zeige- und Mittelfinger links
⊡ Tab. 60.11 Korrekturoperationen bei eingeschlagenem Daumen Lokale Maßnahmen
Sehnentranspositionen
1. FPL-Verlängerungsplastik (stufenförmige Durchtrennung am muskulotendinösen Übergang)
1. EPL-Sehnentansposition auf den M. brachioradialis (radial des Tuberculum Listeri), um Extension und Abduktion wiederherzustellen
2. Ursprungsverlagerung der Thenarmuskeln (unter Schonung des R. thenaris des N. medianus)
2. Tenodese des M. abductor pollicis longus im 1. Strecksehnenfach (nach Abtrennung im muskulotendinösen Übergang) in Abduktion
3. Ursprungsverlagerung des M. adductor pollicis oder Ansatzeinkerbung, evtl. mit Ablösung des M. interosseus dorsalis 1
3. FCR-Transposition (nach ansatznaher Durchtrennung) auf M. extensor pollicis brevis
resorbierbaren Nähten eingenäht. Auf diese Weise kommt es zu einer mechanischen Zügelung der Überstreckstellung, die Beugung bleibt frei (⊡ Abb. 57.19).
Korrekturoperation des eingeschlagenen Daumens (Daumen-Adduktions-Flexions-Kontraktur, Thumb-inPalm-Deformität)
b. Technik nach Swanson Bei der Technik nach Swanson wird eine distal gestielte Sehnenhälfte des FDS radialseitig über dem PIP-Gelenk aufgesucht, proximal durchtrennt und durch einen senkrechten Knochenkanal in der Grundphalanx nach dorsal ausgeleitet. Unter Korrekturstellung des PIP-Gelenks wird die Sehne entweder über einem Ausziehfaden oder über der Streckaponeurose mit nicht resorbierbaren Fäden genäht. Temporäre Kirschner-Draht-Transfixation der PIPGelenke in leichter Beugestellung (4 Wochen). Es erfolgt eine Ruhigstellung im Unterarmfingergips mit dorsalem Anschlag und palmarer Freigabe für 5 Wochen, dann Funktions- und Lagerungsschienen für 9 Monate.
Die Daumen-Adduktions-Flexions-Kontraktur ist eine sekundäre komplexe Deformität, die aus einem Zusammenwirken schwerer Muskeldysbalancen, Muskelkontrakturen, Muskelelongationen sowie Bänder- und Kapselinstabilitäten resultiert. Die Entstehung der charakteristischen Deformität wird durch folgende Sequenz von selektiven Einzelfaktoren bestimmt: ▬ Kontraktur des M. adductor pollicis und des 1. M. interosseous, ▬ Instabilität des Daumengrundgelenks in Hyperextension und/ oder Hyperflexion, ▬ Kontraktur des M. flexor pollicis longus, ▬ Elongation und/oder Schwäche des M. extensor pollicis longus, M. extensor pollicis brevis und M. abductor pollicis longus.
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⊡ Abb. 60.5 Schwere Spastik mit Unterarmpronation. a Handgelenk- und Fingerflexion und Daumendeformität, eine Bedienung der Computertastatur ist kaum möglich, b postoperatives Ergebnis mit verändertem Bewegungsund Aktivitätsmuster an der Computertastatur nach Pronator-Release, FCRVerlängerung, Verlängerung von FDS 2–5-und Ablösung des M. adductor pollicis
⊡ Abb. 60.6 Handfehlstellung mit Handgelenkflexion. a Handfehlstellung mit Handgelenkflexion, Fingerbeugerspastik, eingeschlagenem Daumen und intrinsischer Kontraktur nach Halsrückenmarkverletzung, b postoperatives Resultat ca. 4 Wochen nach FCR-Verlängerung, Verlängerung von FDS 2–5, Adductor-pollicis-Relase und Resektion der ulnaren Seitenzügel der Streckaponeurose (Intrinsic Relase). Es zeigt sich eine wesentlich verbesserte Feinmotorik, hier z. B. beim Hantieren mit einer Papierklammer
Hauptverantwortlich sind der M. adductor pollicis und der M. flexor pollicis longus. Therapeutisch wurde viele Techniken beschrieben, die sich in lokale Maßnahmen und Sehnentransposition einteilen lassen (⊡ Tab. 60.11, ⊡ Abb. 60.5, ⊡ Abb. 60.6). Bei der reinen Adduktionskontraktur, bei der das Metakarpale I kontrakt ist und das MCP- und Interphalangealgelenk in Extension stehen, ist ein isoliertes Release des M. adductor pollicis vom 3. Metakarpale durch eine Inzision parallel zur Palmarfalte in der Regel oft ausreichend. Diese Ablösung kann durch die intramuskuläre Verlängerung des M. flexor pollicis longus ohne Unterbrechung der Muskelkontinuität und eine Ablösung mit Reinsertion des M. extensor pollicis longus erweitert werden. Zusätzlich kann eine Verstärkung der Abduktion und Extension des M. abductor pollicis longus und M. extensor pollicis brevis durch einen Transfer des M. brachioradialis oder durch Sehnenraffung oder Tenodese des M. abductor pollicis longus erreicht werden.
Bei geringer Spastizität des M. flexor pollicis longus ist eine Verlängerung nicht unbedingt notwendig, wenn gleichzeitig der M. extensor pollicis longus durch Transfer oder Raffung verstärkt wird. Über eine dorsale Inzision kann der M. interosseous vom Metakarpale I und II gelöst werden. Bei instabilem MCP-Gelenk oder fixierter Stellung in ausgeprägter Hyperextension oder Hyperflexion ist eine Stellungskorrektur mittels Arthrodese, Kapsuloplastik oder Kapsulodese notwendig, die durch vorübergehende Transfixation mit KirschnerDrähten gesichert wird. > Eine alleinige Arthrodese ohne Release der kontrakten Weichteilstrukturen und Verstärkung der abduzierenden und extendierenden Muskeln kann die Adduktions-FlexionsKontraktur oft nicht dauerhaft beseitigen und sollte immer mit weichteilkorrigierenden Eingriffen kombiniert werden.
Es erfolgt ein bogenförmiger Schnitt an der Basis der Thenarfalte, dann stumpfes Präparieren in die Tiefe bis zum Metakarpale III,
1717 60.3 · Fehler, Gefahren und Komplikationen
Identifikation der Ursprünge des M. adductor pollicis (Caput obliquum und Caput transversum) und komplette Ablösung vom Metakarpale III unter Schonung des tiefen Ulnarisastes zum Thenar. Nach Überprüfung der erreichten Abduktion kann bei Bedarf zusätzliche eine intramuskuläre Verlängerung des M. flexor pollicis longus (FPL) durch Inzision am distalen Unterarmdrittel palmar und radial oder seltener eine Z-Plastik der ersten Interdigitalfalte angeschlossen werden, zusätzlich ist eine Augmentation der Mm. extensor pollicis brevis (EPB) und extensor pollicis longus (EPL) mit dem weit nach proximal mobilisierten M. brachioradialis oder dem M. flexor carpi radialis (FCR) ratsam. In manchen Fällen kann auch eine Verkürzung bzw. Raffung der beiden Sehnen des M. abductor pollicis longus (APL), M. extensor pollicis brevis (EPB) oder M. extensor pollicis longus (EPL) unter Herumführen um die beiden anderen Sehnen erfolgreich sein. Es wird ein Unterarmgips mit Daumeneinschluss in Abduktion für 5 Wochen angelegt, dann Lagerungs- und Funktionsschiene (in Daumenabduktion) für mindestens 6 Monate.
Arthrodese des Daumengrundgelenks Dauerhafte Stabilisierung einer Instabilität des Daumengrundgelenks (MCP-Gelenk I). Instabilität des Daumengrundgelenks in Hyperextension, meist mit anderen Korrektureingriffen kombiniert ( Kap. 23.2.28). 60.3
Fehler, Gefahren und Komplikationen
60.3.1 Lähmungsbedingte Komplikationen Die häufigsten Risiken, welche die Behandlung von spastischen Patienten erschweren und bei der Planung und Durchführung bedacht werden müssen, sind in im der folgenden Übersicht zusammengestellt. Komplikationen bei Spastik
▬ Gelenkkontrakturen ▬ Druckulzera (Dekubitus) ▬ Hygienische Probleme (Hautmazeration, Infekte, Geruchsbildung, soziale Isolation)
▬ Gestörte Knochenheilung bzw. Pseudarthrosen ▬ Subluxation und Luxationen von Gelenken bzw. Arthrose ▬ Periphere Nervenschädigungen (Kompressionssyndrome, z. B. Karpaltunnel- oder Sulcus-ulnaris-Syndrom)
▬ Heterotopische Ossifikationen, Gelenkeinsteifung ▬ Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS; »complex regional pain syndrome«)
Die drei letzten Punkte sollen noch näher erläutert werden.
Periphere Nervenschädigungen (Kompressionssyndrome) Die beiden häufigsten spastisch getriggerten Nervenengpasssyndrome sind das Karpaltunnelsyndrom und das Sulcus-ulnarisSyndrom. Karpaltunnelsyndrom Das Kompressionssyndrom des distalen N. medianus wird vorwiegend durch den pathologisch erhöhten Druck im Karpalkanal ausgelöst, der durch die chronische Beugekontraktur des Handgelenks
verursacht wird. Es empfiehlt sich eine offen chirurgische Spaltung des Retinaculum flexorum, oft bei Handgelenkeingriffen zur Behebung der Flexionskontraktur (z. B. Arthrodese). Sulcus-ulnaris-Syndrom Neuropathien des N. ulnaris treten gehäuft bei Patienten mit DOM auf, weil die dauerhafte Ellenbogenflexion zur Traktion des Nerven und Volumenvermehrung im Sulcus ulnaris und konsekutiven Nerveneinengung führen kann. Dies kann durch Aufstützen auf dem gebeugten Ellenbogen und heterotopische Ossifikationen (s. unten) weiter verstärkt werden. Nicht selten können die Patienten aufgrund von eingeschränkten kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten ihre Beschwerden nicht adäquat äußern. Die Verdachtsdiagnose wird daher oft aufgrund einer sichtbaren Verschmächtigung der intrinsischen Handmuskeln gestellt und elektrophysiologisch bestätigt. Als operativer Eingriff, oft gemeinsam mit anderen Eingriffen am Ellenbogen (z. B. Sehnenverlängerung oder Resektion von Verknöcherungen), wird eine Dekompression und Transposition des N. ulnaris durchgeführt, wobei bei subkutaner Verlagerung weniger Gefahr für eine heterotope Ossifikation bestehen soll, als bei submuskulärer Technik.
Heterotope Ossifikation Heterotope Ossifikationen (HO) sind ein häufiges Problem bei Patienten mit DOM, vor allem bei Querschnittslähmung oder nach Schädel-Hirn-Trauma. Da sie in den ersten Monaten meist als gelenknahe Verknöcherungen auftreten, werden sie als Periosteoarthropathien (POA) bezeichnet. Nach den Hüftgelenken sind vor allem Schulter-, Knie- und Ellenbogengelenke betroffen. Die fortschreitende Gelenkeinsteifung und die damit verbundenen funktionellen Verschlechterung des Patienten behindert die Rehabilitation. Erstes Symptom neben der raschen Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit ist eine periartikuläre Reaktion mit Schwellung, Rötung und Überwärmung des betroffenen Gelenks, die als Gelenkinfekt oder Thrombose fehldiagnostiziert werden kann, häufig ist auch eine Zunahme von Spastik zu beobachtet. Als Risikofaktoren für die Ausbildung einer HO gelten: ▬ männliches Geschlecht, Alter zwischen 20–40 Jahren, ▬ spastische, meist komplette Lähmung, ▬ muskuloskeletale Begleitverletzungen (Risikoanstieg auf bis zu 85%), nicht selten polytraumatisiert, ▬ Lungenbeteiligung (Langzeitbeatmung). Zur Prophylaxe der POA wurden mit unterschiedlichem Erfolg hochdosierte Diphosphonat-Gabe oder nonsteroidale Antiphlogistika (z. B. Indomethacin) angewandt, in manchen Fällen auch eine postoperative Radiatio (800 cGy in begrenztem Feld) innerhalb der ersten Tage nach dem Unfall. Die Formation von HO lässt sich radiologisch verfolgen. Zunächst treten in den ersten Monaten periartikuläre Kalzifikationen auf. Die HO ist vollständig ausgebildet, wenn sich im Röntgenbild eine definierte knöcherne Masse mit Kortikalis zeigt. > In der Regel sind konservative Maßnahmen nur im Frühstadium erfolgversprechend, bei verspäteter Diagnose ist meist die operative Entfernung der Verknöcherung notwendig. Die chirurgische Exzision sollte erst nach Ausreifung der HO erfolgen, da sonst ein erhöhtes Rezidivrisiko zu bestehen scheint, frühzeitige Entfernungen sind allerdings gerechtfertigt, wenn ein Gefäß- oder Nervenschaden oder eine Ankylose droht.
60
1718
Kapitel 60 · Handchirurgie bei zerebraler Schädigung und Dysfunktion des oberen Motoneurons
Komplexes regionäres Schmerzsyndrom (CRPS) Charakteristisch für das CRPS (früher meist als Kausalgie oder Reflexdystrophie bezeichnet) ist ein konstanter, spontaner, starker, brennender Schmerz, der meist verbunden ist mit Hypo-, Hypererästhesie, Hyperpathie und Allodynie sowie Störungen der Durchblutung und Schweissneigung, die bei längerem Bestehen zu trophischen Veränderungen führen. Es existieren 3 CRPS-Stadien: 1. Akutstadium: Es besteht ein konstanter Brennschmerz, meist um verletzte Körperregion herum, Schmerzzunahme durch Bewegung oder wiederholte Reizung, evtl. Ödem und Muskelspasmen. 2. Dystrophie: Die ödematöse Schwellung nimmt zu, naheliegende Gelenke steifen ein und die Muskulatur beginnt schmächtiger zu werden. Es kommt zu Veränderungen der Nägel, Haut und Haare, der Schmerz steht aber immer noch im Vordergrund. 3. Atrophie: Die trophischen Veränderungen werden irreversibel, die betroffenen Gelenke werden immer unbeweglicher, Endzustand ist die Ankylose. ! Cave Normalerweise tritt das CRPS innerhalb weniger Wochen auf – nach Schlaganfall oder Hirnschädigung aber oft verspätet – und es kann lange unerkannt bleiben, so dass es unumkehrbar wird.
60
Es tritt meist nach zerebrovaskulärem Insult (als posthemiplegische Dystrophie), Schädel-Hirn-Trauma oder Operationen auf und kann auch nach muskuloskeletalem Trauma auftreten, wobei kein Zusammenhang zwischen der Schwere des Traumas und des Schmerzsyndroms besteht. 60.3.2 Therapiebedingte Komplikationen Misserfolge bei der Behandlung ergeben sich meist aus folgenden Fehlern: Fehler bei der Indikationsstellung Bei falscher Einschätzung der Voraussetzung für eine funktionsverbessernde Operation lässt sich auch bei optimaler technischer Durchführung und Nachbehandlung kein Erfolg erzielen, da der Patient die Hand postoperativ nicht oder nur kaum einsetzen kann. Unzureichende präoperative Untersuchungen, mangelhafte Bewertung der Untersuchungsergebnisse sowie eine falsche Indikationsstellung und Auswahl des operativen Behandlungsverfahrens führen oftmals zu unbefriedigenden, häufig nicht korrigierbaren Behandlungsresultaten. > Bei athetotisch oder ataktisch-dystonen Krankheitsbildern wird von Muskeloperationen generell abgeraten, da das Risiko von überschießenden Deformitäten in umgekehrter Richtung gegeben ist.
Diese Verformungen sind nicht selten störender als die primären Deformitäten (z. B. wenn nach einer Flexionskontraktur im Ellbogen eine Hyperextension entsteht). Konservative Maßnahmen sind operativen Eingriffen vorzuziehen. Trotzdem können stabilisierende Operationen (meist Arthrodesen) notwendig werden. Es ist aber technisch schwierig, ausreichend Stabilität bis zum knöchernen Durchbau der Arthrodese sicherzustellen.
Fehler in der Operationstechnik Die genaue Analyse der jeweiligen Deformitäten, korrekte Therapieplanung und Dosierung der Operation sowie korrekte Nachbehandlung und -kontrollen sind unbedingt notwendig. Überkorrektur Bei übermäßiger Korrektur kann das ursprüngliche tonische Muster in die operierte Gelenkfehlstellung umschlagen (z. B. Handgelenkbeuge- zu –streckkontraktur; s. oben). Unterkorrektur Bei unzureichendem Resultat mit persistierendem pathologischem Muster bildet sich wieder die ursprüngliche Deformität aus und sollte in vielen Fällen der rechtzeitigen Reoperation zugeführt werden. Fehlkorrektur Ungünstig Verläufe können durch fehlerhafte Operationstechnik, inadäquate Nachbehandlung oder auch patientenbezogenen Faktoren (z. B. schlechte Knochenqualität) begründet sein und sich in neuen Deformitäten, Bewegungsdefiziten oder Muskelschwäche äußern. Rezidive Trotz kunstgerechter Operation kann eine erneute Deformität entstehen, hauptverantwortlich sind: ▬ pathologisch erhöhter Muskeltonus (Spastik) bzw. Muskelungleichgewicht, ▬ schlecht dosierte operative Therapien, ▬ Veränderungen durch Wachstumsvorgänge. > Bei der simultanen Korrektur mehrerer Deformitäten gilt:
▬ Immer Agonisten und Antagonisten berücksichtigen! ▬ Die Wiederherstellung der Gelenkachsen und der
Gelenkbeweglichkeit kommt vor dem Erlernen neuer Bewegungsmuster. ▬ Vorsicht bei kompletten Muskeltransfers, da die pathologischen Aktivitätsmuster erhalten bleiben.
Fehler in der Nachbehandlung Postoperative Probleme können auch durch ungenügende Nachsorge des Operateurs (Auswahl, Zeitpunkt, Umfang, Frequenz) und fehlende Kooperation des Patienten bedingt sein.
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60
1721 60.3 · Weiterführende Literatur
XV Onkologie
61
Tumore im Bereich der Hand – 1723 Jörn Redeker, Peter M. Vogt
XV 60
1723 60.3 · Weiterführende Literatur
Tumore im Bereich der Hand Jörn Redeker, Peter M. Vogt
61.1
Allgemeines
61.1.1 61.1.2 61.1.3 61.1.4 61.1.5 61.1.6 61.1.7 61.1.8
Chirurgisch relevante Anatomie und Physiologie – 1724 Epidemiologie – 1724 Ätiologie – 1724 Diagnostik – 1724 Klassifikation – 1727 Indikationen und Differenzialtherapie – 1727 Therapie – 1728 Besonderheiten im Wachstumsalter – 1731
– 1724
61.2
Spezielle Techniken
61.2.1 61.2.2 61.2.3
Tumore der Haut – 1731 Weichteiltumore – 1738 Bösartige Weichteiltumore
– 1731 – 1744
Weiterführende Literatur
– 1751
H. Towfigh et al (Hrsg.), Handchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-11758-9_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
61
1724
61.1
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Allgemeines
61.1.1 Chirurgisch relevante Anatomie und
Physiologie Möglichkeiten der Tumorausbreitung Im Allgemeinen kann sich ein bösartiger Tumor ausbreiten durch: ▬ Infiltration in das umgebende Gewebe (per contiguitatem), ▬ entlang anatomischer Strukturen (per continuitatem) wie z. B. Ducti oder Gewebeschichten (Strecksehnen; Beugesehnenscheide etc.) und ▬ über die Lymph- und Blutgefäße.
61
Viele Tumorarten breiten sich aber über mehr als eine Route aus und der Weg der Metastasierung ist oft nicht voraussehbar. So können Patienten mit Brustkrebs oder Melanom Metastasen in Lunge, Leber oder Skelett entwickeln, ohne je Lymphknotenmetastasen vorgewiesen zu haben (⊡ Abb. 61.1). Einige Neoplasmen wie z. B. Weichteilsarkome weisen eine Ausbreitung auf, die den Palpationsbefund bis auf eine Distanz von 10–15 cm überschreitet. Andere Neoplasmen wie z. B. das Basalzellkarzinom der Haut weiten sich selten über mehr als einige Millimeter außerhalb der sichtbaren Grenzen aus. Die Tumorzellen gelangen relativ leicht in die Lymphbahnen, über welche sie dann, meist in Form einer Zellkolonie als Embolus zum nächsten Lymphknoten transportiert werden. Ein typisches Beispiel hierfür ist die lymphatische Ausbreitung beim Brustkrebs. Die lymphatische Ausbreitung ist auch häufig bei den epithelialen Neoplasmen – ausgenommen beim Basalzellkarzinom, bei welchem regionale Lymphknotenmetastase in weniger als 0,1% auftreten oder bei mesenchymalen Neoplasmen wie z. B. Sarkomen, die nur in 2–5% in die Lymphknoten metastasieren. Der Befall von Lymphknoten ist von großer klinischer Bedeutung. Die Metastasen setzen sich erst im subkapsulären Raum fest und können in diesem Stadium klinisch nicht erfasst werden. Im weiteren Verlauf durchwachsen die Tumorzellen die Sinusoide, um dann das Parenchym zu verdrängen und zu ersetzen. Die Kapsel stellt ein natürliches Hindernis dar, das erst in einem späten Stadium durchbrochen
wird, das durch ein extranodales Tumorwachstum oder eine Infiltration von Lymphknoten zu Lymphknoten angezeigt wird. > Ein Lymphknoten von mehr als 3 cm Durchmesser ist pathognomonisch für ein extranodales Wachstum und stellt somit eine schlechte Prognose dar.
Die Blutbahn erreichen die Tumorzellen durch direkte Invasion der Blutgefäße. Kapillaren bieten kaum Widerstand gegen vordingende Tumorzellen, ebenso wie Venolen. Wenn das Gefäßendothel zerstört ist, kann sich ein von Tumorzellen befallener Thrombus bilden. Diese Kombination von Thrombus und Tumor kann sich ablösen und als großer Tumorembolus fortgeschwemmt werden. Die Invasion von Blutgefäßen ist bei Karzinomen und Sarkomen gleich häufig und mit einer schlechten Prognose verbunden. 61.1.2
Epidemiologie
Die Epidemiologie der unterschiedlichen gutartigen und bösartigen Tumoren im Handbereich wird in den speziellen Abschnitten ( Abschn. 61.2) beschrieben. 61.1.3
Ätiologie
Die Ätiologie der unterschiedlichen gutartigen und bösartigen Tumoren im Handbereich wird in den speziellen Abschnitten ( Abschn. 61.2) beschrieben. 61.1.4
Diagnostik
Klinische Befunde Hauttumore sind der Diagnose leicht zugängig ( Abschn. 61.2.1–3). Leider werden Weichteiltumore meistens erst entdeckt, wenn sie durch Kompression auf umgebende Strukturen Beschwerden, Schmerzen oder einen Funktionsausfall hervorrufen, oder durch Blutungen. Die Gegenwart eines Knotens wird meistens erst dann bemerkt, wenn der Tumor eine gewisse Größe erreicht hat. Tumore ohne Symptome werden oft vom Patienten ignoriert. Einige Läsionen werden zufällig bei klinischen oder radiologischen Routineuntersuchungen entdeckt. Bei primärem Befall oder Metastasierung des Knochens kann eine pathologische Fraktur zur Entdeckung der Malignität führen (⊡ Abb. 61.2). Eine detaillierte Anamnese sollte jeder Untersuchung vorausgehen. Fragen an den Patienten, seine Familie oder seinen behandelnden Arzt können helfen herauszufinden, ob der Prozess eher benigne oder maligne ist. Von großer Bedeutung ist die Art und Weise, wie der Tumor begann, wie lange er besteht und welches Wachstumsverhalten er zeigt: Ein plötzliches Erscheinen des Tumors kann eine Zyste oder einen Abszess bedeuten, ein schnelles Wachstum deutet auf einen malignen Prozess, während ein langsames Wachstum auf einen benignen Tumor hinweist. Liegen Rötung und Schmerzen als Begleiterscheinungen vor sowie eine sich ändernde Konsistenz, so spricht das für ein entzündliches Geschehen (⊡ Abb. 61.3).
Bildgebende Verfahren > Es ist wichtig daran zu denken, dass der Radiologe auf eine eingehende klinische Information angewiesen ist. ⊡ Abb. 61.1 Schematische Darstellung der Möglichkeiten der Tumorausbreitung. (Aus Berger u. Hierner 2009)
Bei den bildgebenden Verfahren sind Nativ-Röntgenuntersuchung (⊡ Abb. 61.5), Magnetresonanz (NMR oder MRT), Computertomo-
1725 61.1 · Allgemeines
⊡ Abb. 61.2 Lokalisation von Weichteiltumoren der Hand (übliche Schnittführung rot markiert). (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
⊡ Abb. 61.3 Algorithmus zur Diagnostik bei Weichteiltumoren
61
1726
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
grafie (CT), Positronenemissionstomografie (PET), Knochenszintigrafie und Sonografie zu nennen. Nativ-Röntgen, CT, MRT und PET sind die Verfahren, die bei Tumoren am häufigsten herangezogen werden. Für die Weichteile ist die Auflösung des MR besser als diejenige des CT, womit die Abgrenzung z. B. eines Tumors von einem umgebenden Muskel genauer erkennbar ist. Ein Nachteil des MRT gegenüber dem CT besteht allerdings darin, dass geringe Mengen von Kalzium vom CT besser erfasst werden. Daher eignet sich das MRT eher für die Weichteile und das CT für ossäre Strukturen. Neben dessen Architektur kann mit dem MRT sehr genau die Abgrenzung eines Tumors und seine Einwirkung auf das umgebende Gewebe ausgemacht werden. Die Darstellung des Tumors kann sowohl beim CT wie auch beim MRT mit der Gabe von Kontrastmitteln weiter verbessert werden, oder durch Verwendung verschiedener Magnetresonanzsequenzen. Alle diese Entwicklungen trugen fundamental zu den Fortschritten in der Krebsbehandlung bei. Die PET, wie auch das MRT, erfasst den Metabolismus von Tumoren und wie sich dieser z. B. im Anschluss an eine radiologische oder systemische Behandlung verändern kann. Die kurzlebigen, Positronen entsendenden Radionukleotide, die beim PET eingesetzt werden, dienen zur Markierung von bestimmten Metaboliten (z. B. radioaktive fluormarkierte Glukoseanaloga). Die Metaboliten werden intravenös injiziert und je nach dessen metabolischer Lage vom Tumor aufgenommen. Dort bildet sich eine Ansammlung der Radionukleotide, die im PET zur Darstellung gebracht wird. Somit können mit der PET auch kleine Tumormassen im ganzen Körper aufgespürt und deren Reaktion auf eine allfällige Therapie monitorisiert werden, wodurch der PET eine große Bedeutung in der Erfassung und Nachkontrolle von Tumoren zukommt. > CT, MRT und PET sollen die standardisierten nativen Rönt-
61
genuntersuchungen nicht ersetzen. Vielmehr stellen die neuen bildgebenden Verfahren eine gute Ergänzung zu den Routineverfahren dar.
Die Schnittbildtechniken (CT, MRT) haben Diagnostik, Staging und Nachkontrollen des Tumors wesentlich akkurater, sensitiver und weniger invasiv werden lassen. In Bezug auf das Screening hat sich lediglich ein bildgebendes Verfahren durchsetzen können, nämlich die Low-Dose-Mammografie, welche, unter kontrollierten Bedingungen angewendet, die Mortalität um ein Drittel zu reduzieren vermochte. Wenn auch die Sensitivität der bildgebenden Verfahren im Hinblick auf die Entdeckung von Tumoren und die Erfassung ihrer Abgrenzung durch die modernen Schnittbildtechniken deutlich erhöht wurde, so konnte ihre Spezifität nicht in gleichem Maße verbessert werden. Daher ist seitens des Klinikers wie auch des Radiologen Zurückhaltung angebracht in der Interpretation von verdächtigen CT- und MRT-Befunden, insbesondere bei neuen Befunden. Oft gelangt man erst mit dem Vergleich mit früheren Untersuchungen zur korrekten Diagnose. Bösartige Tumoren verändern sehr oft die topografischen Verhältnisse anatomischer Strukturen. Im Anschluss an eine Tumorbehandlung, insbesondere natürlich nach chirurgischen Eingriffen, können diese zusätzlich komplett verändert sein. Aus diesem Grund ist es absolut unerlässlich, die bildgebende Untersuchung vor der invasiven durchzuführen.
Tumorbiopsie Möglichkeiten der Gewebegewinnung für diagnostische Zwecke Die Biopsie von verdächtigem Gewebe gibt uns die wesentlichen Informationen über den Typ und den Grad des vermuteten Tumors, welche für die Planung der definitiven Therapie nötig sind. Zu den üblichen Techniken zählen die Feinnadelpunktion, die
Nadelbiopsie, die Inzisionsbiopsie und die Exzisionsbiopsie. Unabhängig von der verwendeten Technik ist es für eine adäquate pathologische Interpretation des Tumors wichtig, dass ein repräsentativer Anteil des Tumors gewonnen wird. Die richtige Diagnosestellung ist daher von der Qualität der Biopsie abhängig. Dazu gehört auch die Markierung des Exzisates zu dessen Orientierung in Bezug zu seiner Umgebung. > Wenn immer möglich, sollte man bei Hauttumoren eine Exzisionsbiopsie durchführen.
Die Inzisionsbiopsie sollte beschränkt bleiben auf die Fälle, bei welchen eine Exzisionsbiopsie einen Defekt hinterlassen würde, der nicht in der geleichen Sitzung verschlossen werden kann. Bei pigmentierten Läsionen mit Verdacht auf ein malignes Melanom soll eine Inzisionsbiopsie auf jeden Fall vermieden werden, um den Patienten nicht dem Risiko einer hämatogenen Streuung auszusetzen. Tiefer sitzende Tumore können eine längere Zeit wachsen, bevor sie Symptome verursachen. Ultraschall, CT und MRT sind wiederum gute Techniken zur Lokalisierung solcher Läsionen, bevor man eine invasive Biopsie durchführen will. Wenn auch die durch bildgebende Verfahren gesteuerte Nadelbiopsie verlässliche Ergebnisse erbringen kann, ist doch oft ein explorativer Eingriff mit Biopsie des Tumors notwendig, um zu einer sicheren und exakten histologischen Diagnose zu gelangen.
Feinnadelpunktion Bei der Feinnadelpunktion (FNP) werden mithilfe von Nadel und Injektionsspritze Zellen aspiriert, die einer zytologischen Untersuchung zugänglich gemacht werden. Diese Technik kann auch unter Röntgenkontrolle angewandt werden und ist besonders hilfreich bei der Diagnose von schwer zugänglichen Läsionen. Das aspirierte Gewebe besteht eher aus Zellansammlungen als aus Gewebe. Der Malignitätsnachweis stützt sich dabei lediglich auf das Vorliegen abnormer intrazellulärer Veränderungen wie z. B. Kernpleomorphie. Die übrigen Charakteristika eines Tumors werden durch die FNP nicht erfasst, wodurch die Sensitivität dieser Methode (je nach Tumor nicht mehr als 50%) deutlich beeinträchtigt ist. Zudem gibt die FNP keine Angaben zum Wachstumsverhalten des Tumors (invasiv vs. nichtinvasiv), da die intakte Tumorarchitektur fehlt. Daher ist eine Gewebebiopsie immer aussagekräftiger, vor allem wenn es darum geht, ein Carcinoma in situ von einem infiltrativ wachsenden Prozess abzugrenzen.
Nadelbiopsie (oder Stanzbiopsie) Die Nadelbiopsie wird mit einer großen Kanüle (»true cut-type«) durchgeführt, die es erlaubt, ein kleines Stück intakten Tumorgewebes zu gewinnen, aus dem der Pathologe das Wachstumsverhalten des Tumors erkennen kann. Die Nadelbiopsie ist die am wenigsten invasive Methode zur Erlangung einer histologischen Diagnose. Sie ist besonders brauchbar für Biopsien von subkutanen und muskulären Knoten wie auch von einigen inneren Organen. > Die Gefahr von Tumorzellimplantationen im Nadelkanal während der Biopsie kann vermieden werden, wenn man den Nadelkanal so setzt, dass er dann en bloc bei der definitiven chirurgischen Entfernung des Tumors mitentfernt wird.
Nadelbiopsien mögen nicht so zuverlässig sein, wenn der Tumor klein ist, denn dann ist es leichter möglich, dass man mit der Nadel den Tumor verpasst und somit zu einem falsch negativen histologischen Befund gelangt. Daher sollte prinzipiell bei negativ befundeten Nadelbiospien die Diagnose durch eine Inzisions- oder Exzisionbiospie gesichert werden.
1727 61.1 · Allgemeines
Inzisionsbiopsie Bei der Inzisionsbiopsie wird nur ein kleiner Anteil des gesamten Tumors zur histologischen Untersuchung gewonnen. Die Schnittführung sollte so angelegt werden, dass die sich daraus ergebende Wunde mit der definitiven chirurgischen Resektion komplett entfernt werden kann, inklusive allfällige Drainagekanäle. Die Inzisionsbiopsie ist vor allem bei tieferen subkutanen oder intramuskulären Tumoren indiziert oder wenn der Tumor so groß ist, dass eine totale Exzision entweder einen ästhetisch nicht zu rechtfertigenden Defekt hinterlassen würde (bei nicht neoplastischem Prozess) oder zu einer Vernarbung führt, welche die anschließende radikale Resektion behindern würde (bei malignem Prozess). Wenn möglich sollte die Inzisionsbiopsie sowohl einen zentralen wie auch einen oberflächlichen Teil des Tumors beinhalten. Auch die Inzisionbiospie kann zu einem falsch negativen histologisch Befund führen, falls nichtrepräsentative Anteile des Tumors gewonnen wurden.
Exzisionsbiopsie Bei der Exzisionsbiopsie wird die gesamte Tumormasse entfernt. Die Exzisionsbiopsie empfiehlt sich dann, wenn der Tumor ohne relevante Folgen ästhetischer Art oder im Hinblick auf weitere Operationen komplett entfernt werden kann. Nur bei der Exzisionsbiopsie kann die gesamte Tumormasse einer pathologischen Untersuchung zugeführt werden. Die Exzisionsbiopsie ist besonders für oberflächlichen Karzinome, Basalzellkarzinome, malignen Melanomen und auch Knoten in der Brust angebracht. Zudem ist sie dann erforderlich, wenn das per Inzisionsbiopsie gewonnene Präparat keine definitive Diagnose erlaubt. Sie ist aber kontraindiziert bei großen, tief liegenden Tumoren, da dann Tumorzellen großvolumig verstreut werden könnten. Daher ist die Exzisionsbiopsie normalerweise auch bei Skelett- und Weichteilsarkomen kontraindiziert. > Die Ränder des Exzisionsbiopsiepräparats sollten immer mit Metallclips markiert werden, sodass im Fall einer inkompletten Exzision der befallene Schnittrand genau lokalisiert werden kann.
Die Schnittführung ist ebenfalls von großer Bedeutung. Falsch angelegte Inzisionen können unnötigerweise zusätzliche Gewebeschichten eröffnen, die nachfolgend zusätzlich ins Bestrahlungsfeld oder die radikale Resektion einbezogen werden müssen. An den Extremitäten erfolgt die Schnittführung am besten in der Längsrichtung. Dies ermöglicht später eine definitive En-bloc-Resektion, die die Exzsisionsbiopsiewunde mit enthält. Die Wunden sollten unter sorgfältiger Blutstillung verschlossen werden, da ein Hämatom zu einer Verbreitung der Tumorzellen in mehrere Gewebeschichten führen kann. Instrumente, Handschuhe, Operationsmäntel und Abdeckungstücher sollten ausgewechselt werden, wenn die definitive, radikale Resektion unmittelbar der Biopsie folgt.
Möglichkeiten der Gewebeaufbereitung zur histopathologischen Untersuchung Die biopsierten Tumoranteile können als Gefrierschnitt oder durch normale histologische Methoden aufgearbeitet werden.
operativen Untersuchung von Randschnitten in gleicher Weise die Resektionsränder während der Operation festgelegt werden. Dies kann dazu führen, dass eine Operation in kurativer Absicht begonnen und in palliativer beendet wird. Insbesondere beim malignen Melanom und beim (sklerodermiformen) Basaliom ist die Rate falsch negativer Resultate bei dieser Methode relativ hoch, weshalb sie bei diesen Tumoren nicht zu empfehlen ist. 61.1.5
Klassifikation
Mit dem Tumorstaging wird die Ausbreitung eines malignen neoplastischen Prozesses erfasst, die durch Größe, Grad und Invasion des Tumors ins benachbarte Gewebe wie auch den Befall von regionalen Lymphknoten und das Vorhandensein von Fernmetastasen definiert wird. Ein vollständiges Staging ist die absolut notwendige Grundlage von Therapie und Prognose. Zudem ist es ohne genaues Staging nicht möglich, den Erfolg verschiedener Therapiemodalitäten miteinander zu vergleichen. Wenn immer möglich, sollte das Staging vor der chirurgischen Intervention erfolgen. Trotz der übergreifenden Bedeutung des Stagings werden immer noch verschiedene Klassifikationen angewandt. Die meisten Länder verwenden das TNM-System, welches sich auf die Charakteristika des Primärtumors (T) sowie das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Lymphknoten- (N) oder Fernmetastasen (M) abstützt. Die TNM-Klassifikation ist von Tumor zu Tumor verschieden. Die nach dem T angefügten Zahlen, wie z. B. bei T1, T2, T3 oder T4, beziehen sich auf Größe und Infiltration des Primärtumors. In gleicher Weise wird zur Beschreibung des Lymphknotenbefalls (N0 = kein Lymphknotenbefall, N1 = begrenzter Lymphknotenbefall, N2 = ausgedehnter Lymphknotenbefall) oder des Vorhandenseins (M1) bzw. Nichtvorhandenseins (M0) von Fernmetastasen vorgegangen. Für einige Tumortypen wie z. B. Weichteilsarkome wird ein G (1–3) vor dem Grad der Malignität eingefügt. Je höher das Grad, umso geringer ist die Differenzierung. Die Höhe der Zahlen ist in jedem Fall umgekehrt proportional zur Prognose.
Gemäß dem Zeitpunkt und Methode des Stagings werden 4 Klassifikationen unterschieden: ▬ Die klinische Klassifikation (cTNM) bezieht sich auf die Befunde aus den vor Inangriffnahme einer Behandlung durchgeführten Untersuchung, wie die klinische Untersuchung, bildgebende Verfahren, Endoskopie, Biopsie, chirurgische Exploration. ▬ Die pathologische Klassifikation (pTNM) beinhaltet die Befunde aus den Biopsie- oder Resektionspräparaten und bildet die Grundlage zur Planung jeder adjuvanten Therapie. ▬ Die Rezidivklassifikation (rTNM) kommt zur Beschreibung von Rezidiven zur Anwendung. Sie beinhaltet klinische und/ oder pathologische Befunde. ▬ Die Autopsieklassifikation (aTNM) basiert auf dem Postmortem-Befund.
(Intraoperative) Gefrierschnittdiagnostik Die histopathologische Aufarbeitung der Gefrierschnitte kann in 10–20 Minuten erfolgen, weshalb sie im Sinne einer Schnelldiagnostik während einer laufenden Operation vorgenommen werden kann. Dadurch können Biopsie und definitive Resektion auf einen einzigen Eingriff reduziert werden. Zudem können mit der intra-
61.1.6
Indikationen und Differenzialtherapie
Indikationen und Differenzialtherapie der unterschiedlichen gutartigen und bösartigen Tumoren im Handbereich werden in den speziellen Abschnitten ( Abschn. 61.2) beschrieben.
61
1728
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Diagnostik- und Therapieteam Onkologie (»Tumor-Board«) Bei der modernen Behandlung der Krebspatienten sind heute im Sinne eines multimodalen Vorgehens meistens die verschiedensten Fachrichtungen involviert. Um möglichst effektiv zu sein, muss der onkologisch tätige Chirurg in einem interdisziplinären onkologischen Behandlungsteam arbeiten (⊡ Abb. 61.4). In diesem Team ist er häufig der erste Spezialist, der vom Patienten konsultiert wird. Dadurch obliegt es dem Chirurgen, die Diagnostik von verdächtigen Veränderungen zu veranlassen. Er muss entscheiden, ob für die Diagnostik ein operativer Eingriff oder ein bildgebendes Verfahren notwendig ist. Im Falle einer diagnostischen Gewebeentnahme ist er es, der diesen Eingriff durchführt und den Patienten über dessen Ergebnis aufklärt. Er muss auch das weitere Staging in die Wege leiten und den Patienten dem interdisziplinären Onkologieteam vorführen. Es ist auch oft der Chirurg, der dem Patienten die Abfolge und den Hintergrund der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten erklärt. Er muss Eigenschaften und Verhalten des Tumors sowie die verschiedenen therapeutischen Möglichkeiten und deren Zusammenspiel kennen. Schließlich liegt es üblicherweise auch in der Verantwortung des Chirurgen, den Patienten und seine Angehörigen über die Prognose zu informieren und die Tumornachsorge zu übernehmen. 61.1.7
61
Chirurgische Tumorresektion Die Chirurgie ist am effektivsten in der Behandlung des Primärtumors und der regionären Lymphknotenstationen, insbesondere wenn der Primärtumor und die Lymphknoten en bloc miteinander entfernt werden können
Therapie
Die pädiatrischen Onkologen waren die Ersten, die von den kombinierten Behandlungsmöglichkeiten Gebrauch machten, indem sie der chirurgischen Resektion eine Chemotherapie folgen ließen. Bis kürzlich war der Nutzen der kombinierten Behandlung für Neoplasmen im Erwachsenenalter nur gelegentlich nachgewiesen. Ein wichtiges Beispiel ist die Behandlung der Skelett- und Weichteilsarkome. Hier weist die chirurgische Therapie viele Unzulänglichkeiten auf, wenn sie alleine angewendet wird. Ungefähr
Radiologie
Onkologie
(Strahlentherapie)
(Chemotherapie)
(Hand) Chirurgie
Physiotherapie
50% der Patienten mit Weichteilsarkomen und 80% derer mit Knochensarkomen starben an Fernmetastasen selbst nach Amputation und schwer verunstaltenden Resektionen. Die kombinierte Behandlung wurde daher entwickelt, um die Überlebensrate zu verbessern. Die präoperative Therapie mit intraarterieller Chemotherapie, gefolgt von Bestrahlung, resultierte in einer ausgedehnten Tumorzellnekrose in bis zu 75% der Patienten. Die Effektivität dieser präoperativen Therapie erlaubte es, Sarkome lediglich lokal zu resezieren, um so wichtige Funktionen der Extremität zu erhalten. Die Lokalrezidivrate war genauso niedrig wie nach einer Amputation, und die Langzeitergebnisse waren in funktioneller wie auch in ästhetischer und psychologischer Hinsicht überlegen, ohne dass dabei eine Verschlechterung der Überlebensrate eingehandelt wurde. Die Vorteile der Kombinationstherapie können auch für die Behandlung von Brusttumoren genutzt werden. Es konnte belegt werden, dass unter gewissen Bedingungen die brusterhaltende Chirurgie, gefolgt von einer Bestrahlung, die gleichen Raten für lokoregionäre Rezidive wie für die Mortalität ergab wie die Mastektomie. So können gewisse Patienten vor der körperlichen Beeinträchtigung und der psychologischen Belastung nach einer Mastektomie bewahrt werden.
Pathologie
HAUSARZT/ PATIENT
Orthopädie-Techniker/ Prothetiker
Sozialdienste/Arbeitsamt
Schmerzambulanz (Anästhesie)
Psychotherapeut
Selbsthilfegruppe
weitere fakultative Mitglieder
⊡ Abb. 61.4 Diagnostik- und Therapieteam »Onkologie«
Primärtumor Ursprünglich beschränkten sich die Chirurgen auf die Resektion der klinisch erkennbaren Tumormasse. Unglücklicherweise führte dies zu hohen Raten von Lokalrezidiven und Mortalität. Mit dem zunehmend besseren Verständnis der Tumorpathologie wechselte die chirurgische Strategie dann zu immer radikaleren Resektionen und Amputationen, wobei große Verunstaltungen in Kauf genommen wurden in der Absicht, die Patienten dadurch zu heilen. Die Chirurgen mussten aber zur Kenntnis nehmen, dass eine radikalere Resektion nicht unbedingt zu einer besseren Rezidiv- oder Überlebensrate führte, worauf man sich auf die Suche nach dem Resektionsausmaß mit minimaler Morbidität und maximaler Prognose begab. Nach Ennekin unterscheidet man 4 unterschiedlich ausgedehnte Resektionsformen (⊡ Abb. 61.5): ▬ intraläsionale Resektion, ▬ marginale Resektion, ▬ weite Resektion und ▬ radikale oder Kompartmentresektion Mit der Entwicklung von zusätzlichen Behandlungsmöglichkeiten (der Strahlentherapie in den 1920er Jahren und der Chemotherapie in den 1940er Jahre) wurde die Chirurgie wieder zunehmend konservativ. Dank wichtiger Fortschritte in der chirurgischen Operationstechnik und im Gebrauch kombinierter Therapieverfahren konnte die Morbidität und Mortalität signifikant herabgesetzt werden, vor allem bei der Behandlung von soliden Neoplasmen. So wurde z. B. die brusterhaltende Chirurgie als Alternative zur Mastektomie eingeführt und die extremitätenerhaltende Chirurgie bei Knochen- und Weichteilsarkomen. Dazu ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen als Team unerlässlich.
Lymphknoten Die pathologische Untersuchung erfolgt mittels Hämotoxylin-Eosin-Färbung und Immunomarkern für Melanome (S-100, HMB-
1729 61.1 · Allgemeines
45). Gefrierschnitte sind aufgrund einer zu hohen Rate falsch-negativer Resultate nicht gerechtfertigt. In jüngster Zeit versucht man Assays zu entwickeln, die auch submikroskopische Erkrankungen nachweisen können. Diese Methoden beruhen auf der »reverse transcriptase polymerase chain reaction« für t-(Tyrosinase-)messenger-RNA als Marker für die Gegenwart von Melanomzellen. Sentinel-Lymphknoten-Biopsie Der Eckpfeiler zu diesem Konzept liegt im sog. Sentinel-Lymphknoten, der dadurch definiert ist, dass er im Falle einer regionären Metastasierung als erster befallen wird. Davon ausgehend, dass bei nicht befallenem Sentinel-Lymphknoten auch die anderen Lymphknoten frei sind, kann dann auf eine Lymphadenektomie verzichtet werden. Die Biopsie des Sentinel-Lymphknotens stellt also eine Methode des Stagings dar, von dessen Resultat die Indikation zur Lymphadenektomie abhängig gemacht werden kann. Nebst den malignen Melanomen hat die Sentinel-Lymphknoten-Biopsie auch Einzug gefunden ins Behandlungskonzept des Mammakarzinoms oder des Plattenepithelkarzinoms. Trotzdem stehen noch relevante Fragen aus, die in laufenden, großen prospektiven Studien geklärt werden sollen. Eine wichtige Hilfsmaßnahme zur Auffindung des Sentinel-Lymphknotens ist die Lymphszintigrafie, die unmittelbar vor der Operation durchgeführt wird. Dabei wird anstelle des Farbstoffs Technetium-99m injiziert, das sich anschließend im Sentinel-Lymphknoten anreichert, was im Lymphszintigramm erfasst werden kann. Die exakte Lokalisation des Sentinel-Lymphknotens wird durch 2 Markierungen auf der Haut angezeigt, wel-
che die Projektion des Sentinel-Lymphknotens in der horizontalen und vertikalen Ebene darstellen. Der angereicherte Lymphknoten kann zudem intraoperativ mittels Verwendung einer sterilen Gammasonde aufgesucht werden. Der zweite Weg zur Markierung des Sentinel-Lymphknotens besteht in einer Farbmarkierung. Dazu wird ein Farbstoff (Patentblau) am Ort des primären Melanoms intradermal injiziert. Dieser Farbstoff wird dann über die Lymphgefäße zum Sentinel-Lymphknoten transportiert. Gemäß Morton kann so in 82% der Patienten mit Stadium I der SentinelLymphknoten identifiziert werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass der falsche Lymphknoten identifiziert wurde, lag bei weniger als 1% (Spezifität über 99%). Die Biopsie des angefärbten und angereicherten Sentinel-Lymphknotens erfolgt über eine kleine Inzision. Oft findet man mehr als einen angefärbten oder angereicherten Lymphknoten. Durch die Kombination der beiden Markierungsmethoden können 98% (Sensitivität) der Sentinel-Lymphknoten erfolgreich biopsiert werden. Axilläre Lymphadenektomie Bei Befall eines regionären Lymphknotens ist die Resektion der gesamten Lymphknotenstation en bloc indiziert. Dies kann in palliativer wie auch in kurativer Absicht erfolgen. Eine regionäre Lymphknotenmetastase ist nicht als Kontraindikation zur chirurgischen Resektion zu betrachten, sondern als eine mögliche Indikation für eine adjuvante Strahlen- oder Chemotherapie. Bei der Lymphadenektomie ist es wünschenswert, das Lymphknotenpaket und den Primärtumor in einem Stück zu resezieren, um dadurch auch die dazwischen liegenden Lymphgefäße zu entfernen, ohne sie zu verletzen, denn es gibt Hinweise dafür, dass in den Lymphgefäßen befindliche Tumorzellen durch Eröffnung der Lymphgefäße ins Gewebe verstreut werden und dort zu einem Lokalrezidiv heranwachsen können (typisches Beispiel: Karzinom der Brust). Dieses chirurgische Vorgehen bedingt eine nachbarschaftliche Beziehung von Primärtumor und befallener Lymphknotenstation und wird dann von einigen Chirurgen auch empfohlen, wenn kein Lymphknotenbefall erkennbar ist. Im Falle von malignen Melanomen und Karzinomen kann dabei in etwa 10–40% ein Lymphknotenbefall mikroskopisch nachgewiesen werden (⊡ Abb. 61.6). > Der Wert sowohl der elektiven wie auch der prophylaktischen Lymphknotendissektion wird immer noch diskutiert, da unter gewissen Bedingungen der Beweis aussteht, dass die Heilungsrate besser ist, wenn ein befallener Lymphknoten entfernt wird, bevor er klinisch manifest ist.
Strahlentherapie Chirurgie und Bestrahlung ist immer noch die erfolgreichste Behandlungsmodalität zur Behandlung des Primärtumors und der regionären Lymphknoten. Wenn sich die Erkrankung weiter als über das lokoregionäre Stadium ausgebreitet hat, so eignen sich die beiden Methoden zur palliativen Behandlung. Gegebenenfalls können auch einzelne Organmetastasen chirurgisch entfernt werden.
a b c d
Chemotherapie
⊡ Abb. 61.5 Chirurgisches Vorgehen für einen Tumor im Hypothenarkompartment. a Intraläsionale Resektion, b marginale Resektion, c weite Resektion, d radikale oder Kompartmentresektion
Die adjuvante Chemotherapie, alleine oder in Kombination mit der Strahlenbehandlung, führt zu einer Verlängerung des krankheitsfreien Intervalls und zu einer verbesserten Lebenserwartung bei Patienten mit Tumoren, die radikal operiert werden konnten, aber wegen makroskopisch nicht erkennbaren Metastasen ein hohes Rezidivrisiko aufweisen. Der Erfolg der adjuvanten Chemotherapie konnte in randomisierten klinischen Studien für verschiedene Tumoren nachgewiesen werden, z. B. Brustkrebs, osteogene Sarkome,
61
1730
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
a
61
⊡ Abb. 61.6 Technik der axillären Lymphadenektomie. a Hautschnitt entlang den Hautlinien im Axillabereich, b M. pectoralis major wird nach medial oben gehalten, zur besseren Übersicht ist das Fettgewebe im Bild nicht dargestellt. (Aus Wachsmuth u. Wilhelm 1972)
b
Hodenkrebs, Ovarialkarzinom und bestimmte Lungenkarzinome. Der Effekt der Chemotherapie ist unterschiedlich. Einige Sarkome reagieren kaum, während z. B. bei osteogenen Sarkomen die Überlebensrate um das Dreifache erhöht werden konnte, oder beim Hodenkrebs, der mit adjuvanter Chemotherapie geheilt werden kann.
Immuntherapie Ein neuer Ansatz der Krebsbehandlung besteht in der Immuntherapie. Das Prinzip beruht auf einer Stimulation des Abwehrsystems
mit biologischen »response modifiers« oder unspezifischen Immunmodulatoren. Gesamtzell- oder Zellfragment-Tumorvakzine wurden eingeführt zur aktiven Immunisierung bei neoplastischen Erkrankungen. Am meisten fortgeschritten ist diese Behandlungsoption beim malignen Melanom, bei welchem die Immuntherapie nun ein integraler Bestandteil geworden ist, sowohl als adjuvante Therapie bei lokoregionärem Befall wie auch bei Fernmetastasen. Des Weiteren werden Zytokine wie z. B. Interferon eingesetzt mit dem Ziel, die Immunantwort zu modulieren.
1731 61.2 · Spezielle Techniken
Extremitätenperfusion (ILP) Die Extremitätenperfusion stellt eine sehr moderne Form der lokalen »minimalinvasiven« Tumortherapie dar. Nach Darstellung der A. und Vv. brachiales erfolgt eine Kanülierung und eine intraoperative Perfusion der betroffenen Extremität mit einem Chemotherapeutikum, wobei die systemische Belastung durch einen Shuntfluss auf ein Minimum reduziert sein soll. Durch die lokal höheren Chemotherapeutikakonzentrationen im Bereich der gesamten Extremität kommt es in vielen Fällen zu einer Tumorremission und in einigen Fällen sogar zu einer fast vollständigen Tumornekrose. Dies bedeutet für die chirurgische Resektion, dass die Resektionsränder einfacher zu definieren sind. Neben vaskulären Komplikationen (aktuer Gefäßverschluss) muss vor allem postoperativ auf ein Kompartmentsyndrom ( Kap. 48) geachtet werden.
Multimodale Therapie Im Gegensatz zu Chirurgie und Strahlentherapie können die Chemotherapie und andere systemische Behandlungsprogramme wie z. B. die Immuntherapie, die Hormontherapie und die Zytokinbehandlung auch Tumorzellen beseitigen, die schon weit verstreut sind. Der Erfolg einer systemischen Behandlung ist umso größer, je kleiner die gesamte Tumormasse ist. Chirurgie und Strahlentherapie werden also in erster Linie eingesetzt, um die Tumormasse zu verkleinern, und helfen so, die Wirkung der folgenden systemischen Therapie zu verbessern. In einigen Fällen kann ein gemäß Staging als lokoregionäre Krankheit eingestuftes Tumorleiden durch Chirurgie und adjuvante Strahlentherapie geheilt werden. In ca. 60% aller als lokaler Befall beurteilter Karzinome erfolgt hingegen auf die Dauer eine Fernmetsastasierung, was darauf hinweist, dass zum Zeitpunkt des Stagings bereits verstreute Mikrometastasen vorliegen. Dies verdeutlicht die Bedeutung, welche der systemisch adjuvanten Therapie zukommt. Die Möglichkeit der Heilung könnte demnach verbessert werden, wenn die lokale Behandlung mit der systemischen Behandlung kombiniert wird. Chemotherapeutische Medikamente müssen gegeben werden, wenn die Anzahl der Tumorzellen niedrig genug ist, um deren Zerstörung zu erreichen, ohne dabei den Patienten zu gefährden. Dies ist der Fall im Frühstadium der Krebskrankheit oder unmittelbar nach chirurgischer Entfernung der Haupttumormasse. Bei einer niedrigen Anzahl von Krebszellen wirkt die systemische Therapie zelltötend. Die neoadjuvante Chemotherapie oder Radiotherapie wird vor der Chirurgie eingesetzt mit dem Ziel, den primären Tumor zu schädigen oder ihn zu verkleinern, damit er anschließend besser reseziert werden kann. Aufgrund des Stagings wird bestimmt, ob ein Tumor in kurativer oder palliativer Absicht behandelt werden soll. Beim lokalisierten, nicht invasiven Tumor ist es immer das erste Ziel, diesen vollständig zu entfernen, um den Patienten so heilen zu können. Wenn der Tumor sich über die Möglichkeit der lokalen Behandlung ausgebreitet hat, ist es das Ziel, die Symptome einzuschränken und so lang als möglich ein Maximum an Lebensqualität zu erhalten. Patienten werden i. Allg. als unheilbar bezeichnet, wenn sie Fernmetastasen haben oder eine ausgedehnte lokale Infiltration von lebenswichtigen Strukturen vorliegt. Einige Patienten können aber auch geheilt werden bei Vorhandensein von Fernmetastasen, wie z. B. bei einer solitären Lungen-, Leber- oder Hirnmetastase, die chirurgisch entfernt werden können. Solange ein sicherer Nachweis einer Fernmetastasierung fehlt, sollte auf jeden Fall ein kuratives Vorgehen eingeschlagen werden. Die Bestimmung des therapeutischen Vorgehens hängt selbstverständlich nicht nur vom Tumor ab, sondern auch vom Allgemeinzustand des Patienten. Die erwünschte Operation kann z. B.
nicht durchgeführt werden bei einem Patienten mit einem frischen Myokardinfarkt oder es gilt, den toxischen Effekt einer Hormontherapie mit Kortikosteroiden zu bedenken bei einem Patienten mit Diabetes mellitus. Nierenerkrankungen können die Toxizität einiger Chemotherapeutika erhöhen und jegliche Art von Krebsbehandlung kann kompliziert werden durch akute oder chronische Infektionen oder eine erhöhte Blutungsneigung.
Bedeutung der rekonstruktiven Handchirurgie in der Onkochirurgie Sofortrekonstruktion versus sekundäre Rekonstruktion Insbesondere bei Knochen- oder Weichteiltumoren sollte der rekonstruktive Chirurg in das interdisziplinäre onkologische Team integriert sein. Er muss mitbeteiligt sein an der Planung von großen Tumorresektionen, bei denen zu erwarten ist, dass sie zu schweren funktionellen oder ästhetischen Veränderungen führen. Die richtige Planung der Schnittführung kann eine sekundäre Rekonstruktion vereinfachen oder erst ermöglichen und verhilft zu einem optimalen Endresultat. Zum Beispiel kann eine hautsparende Mastektomie mit Sofortrekonstruktion wesentlich bessere Resultate erbringen als eine konventionelle Mastektomie mit späterer Wiederherstellung. In speziellen Fällen ist eine sofortige Deckung »edler« Strukturen erforderlich, wie z. B. Nerven, Gefäße, Lunge, Herz oder Gehirn. Die Mitarbeit des rekonstruktiven Chirurgen kann es dem Strahlentherapeuten zudem erlauben, seine Strahlendosis maximal zu erhöhen im Wissen, dass eine allenfalls auftretende lokale Gewebeschädigung korrigiert werden kann. Die rekonstruktive Chirurgie nach Tumorresektion hat die Lebensqualität vieler Krebspatienten wesentlich verbessert. Dank der Anwendung des freien mikrochirurgischen Gewebetransfers ist es möglich, zusammengesetzte Transplantate und Lappen aus Haut, Muskel und/oder Knochen zu jedem Teil des Körpers zu verpflanzen. Die Brustrekonstruktion nach Mastektomie, der Gewebetransfer nach Resektion eines Sarkoms an der Extremität sowie die Wiederherstellung der Atemwege und des Verdauungstrakts mit dem freien Jejunumtransplantat stellen sowohl funktionell als auch ästhetisch Fortschritte in der kombinierten chirurgischen Behandlung komplexer Karzinome dar. Wie auch immer die Wiederherstellung des Defekts vor Augen gehalten werden soll, so darf zu keiner Zeit die Radikalität der primären Tumorresektion beeinträchtigt werden, um ein besseres ästhetisches Resultat zu erreichen. Dies ist besonders wichtig in den Fällen, in denen der rekonstruktive Chirurg die primäre Resektion des Tumors selbst durchführt. 61.1.8
Besonderheiten im Wachstumsalter
Neben den altersspezifischen Verteilungen der verschiedenen gutartigen und bösartigen Tumoren muss vor allem die Beeinträchtigung des Wachstums durch die multimodale Tumortherapie beachtet werden. 61.2
Spezielle Techniken
61.2.1 Tumore der Haut
Gutartige Hauttumore Warzen Epidemiologie. Die vulgäre Warze ist die häufigste Warzenform. Eine Durchseuchung mit HP-Viren in der Bevölkerung der westlichen Industrieländer wird mit 70–80% angenommen. Sie treten vornehmlich im Kindes- und Jugendalter auf.
61
1732
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Ätiologie. Warzen sind virusbedingte Epidermishyperplasien durch Virusvermehrung in den Zellkernen der Keratinozyten. Die Infektion erfolgt über Kontakt und Schmierinfektionen. Verantwortlich sind humane Papillomviren die unterschiedliche Typen an Warzen hervorrufen können. Diagnostik. Warzen als virusbedingte gutartige Epithelvermehrungen der obersten Epidermisschichten treten vereinzelt oder in Gruppen auf, sind scharf zur gesunden Haut begrenzt und knotig hart. Sie können stecknadelkopf- bis erbsgroß sein, flach oder erhaben imponieren und können an der gesamten Hand auftreten. Sie weisen häufig eine deutliche Verhornungsschicht auf, die stark zerklüftet sein kann. In der Regel sind Warzen nicht schmerzhaft, können aber je nach Lokalisation sowohl kosmetisch, als auch funktionell stark störend sein (⊡ Abb. 61.7).
Klassifikation. Einige häufiger auftretende Arten sind ▬ Verrucae vulgaris: mit etwa 70% die häufigste Warzenform an
▬ Verrucae seborrhoicae (seniles): flache, bisweilen bohnengroße, talgige braune bis schwarzbraune Hautneubildungen meist in größerer Anzahl auf dem Handrücken älterer Menschen (>50 Jahre) zu finden. Der genaue Virus ist unklar.
Indikationen und Differenzialtherapie. In der Regel lässt sich die Diagnose eindeutig stellen. Bei unklarer Situation sollte die Abklärung zum Plattenepithelkarzinom oder Keratoakanthom mittels Biopsie erfolgen. Verschiedenste Therapieansätze werden beschrieben. Sie reichen von der psychologischen Behandlung bis zur chirurgischen Exzision. Prinzipiell kann es zu einer spontanen Regression kommen, sodass eine abwartende konservative Therapie zunächst gerechtfertigt scheint. Die Evidenz für die Wirksamkeit der ansonsten gebräuchlichen Therapien für die Behandlung der Warzen ist schwach. Grundsätzlich lässt sich die Überlegenheit der topischen Behandlung mit Salicylsäurepflastern gegenüber einer Placebogruppe zeigen.
der Hand,
▬ Verrucae planea juveniles: flache, runde Knötchen bis 5 mm Durchmesser meist den Handrücken betreffend und im Kindes- und Jugendalter vorkommend,
Therapieoptionen zur Warzenbehandlung
▬ Exzision ▬ Mit dem scharfen Löffel oder Skalpell erfolgt die Ausschneidung in Lokalanästhesie; ist sehr umstritten
⊡ Tab. 61.1 Bewertung der Evidenz der Verrucae-vulgaris-Therapieformen
61
▬ Lasertherapie ▬ Mit einem ablativen CO2 Laser oder einem Farblaser zur Koagulation (mehrere Anwendungen notwendig
▬ Photodynamische Therapie (PDT) ▬ Immunaktivatoren ▬ Einsatz von 0,05–0,5%tigem Diphenylcyclopropenon (DPC)
Salicylsäure
++++
Kryotherapie
+++
Bleomycin
+++
Retinoide
+++
PDT
+++
DCP-Sensibilisierung
++
CO2-Laserablation
++
Imiquimod
+
▬
Komplementärmedizin
+
▬ ▬
++++ = gut; +++ = ordentlich, ziemlich genügend; ++ = dürftig, schlecht; + = ungenügend
▬ ▬ ▬ ▬
führt zu geringen Rezidivraten bei therapierefraktärer Warzenbehandlung Elektrokauterisierung in Lokalanästhesie Vereisung – mit flüssigem Stickstoff – mit Kältespray Salicylsäurepflaster 5-Fluoruracil in topischer Applikation mit Creme zeigte bei Kinder 87% Erfolg ohne Narbenbildung) Bleomycin mittels intraläsionaler Dermatografie für therapieresistente Warzen Phytotherapie mit Grünteeextrakt (Polyphenon E) als Pflaster Homöopathie
Epidermale Zyste Epidemiologie. Betroffen sind häufiger Männer typischerweise an den beugeseitigen Fingern und in der Hohlhand.
Ätiologie. Angenommen wird, dass die epidermalen Zysten aus versprengten Epithelinseln entstehen, sodass häufiger eine Stichoder Schnittverletzung vorgelegen hat.
Diagnostik. Die Diagnose erfolgt klinisch und mithilfe des Ultraschalls. Es findet sich zumeist eine kugelig prall elastische Zyste, die unter dem Korium liegt. Im Ultraschall weist sie eine klare Begrenzung auf. Der Inhalt der Zysten ist talgig weiß und besteht aus abgeschilferten Epithelresten. Epidermiszysten wachsen langsam und können auch verdrängend am Knochen zu Deformierungen oder intraossären Zysten führen, die im Röntgenbild auffällig werden.
⊡ Abb. 61.7 Klinischer Aspekt einer Verrucae vulgaris
Klassifikation. Es wird unterschiede zwischen ▬ subdermalen Epidermalzysten und ▬ intraossären Epidermalzysten.
1733 61.2 · Spezielle Techniken
Indikationen und Differenzialtherapie. Die für sich nicht schmerzhaften Zysten können unversorgt zu einem steten Wachstum mit Verdrängung der umliegenden Strukturen führen. Knochenimpressionen erheblichen Ausmaßes können entstehen. An den Fingerbeeren und Greifflächen der Hohlhand werden die Zysten bei zunehmender Größe druckschmerzhaft. Aus diesen Gründen ist die frühzeitige operative Therapie zu rechtfertigen. Bei intraossärer Lage kommen differenzialdiagnostisch folgende Entitäten in Frage: Enchondrom, Osteidosteom, Glomustumor, intraossäres Ganglion. Therapie. Die radikale Exzision stellt die Therapie der Wahl da. Dabei muss auf eine vollständige Entfernung der Zystenwand geachtet werden. Rezidivraten werden bis 11% beschrieben.
Semimaligne Hauttumore Morbus Bowen Epidemiologie. Das typische Erkrankungsalter liegt bei 30– 60 Jahren.
Ätiologie. Als mögliche auslösenden Faktoren des Morbus Bowen wird zum einem die Sonnenexposition angeschuldigt, zum anderen der Kontakt mit Arsen. Weiter finden sich positive Nachweise verschiedener humaner Papillomviren. Das vermehrte Auftreten innerer Malignome bei Vorliegen eines Morbus Bowen wurde immer wieder diskutiert, konnte aber in mehreren Studien nicht bestätigt werden.
Diagnostik. Das Keratoakanthom wächst von den Haarfollikeln ausgehend. Es kann wallartig erhaben sein und weist einen zentralen Hornkegel auf. Es kommt an lichtexponierten Stellen des Körpers vor und am häufigsten am Handrücken und subungual.
Diagnostik. Die Hautveränderung manifestiert sich mit scharf begrenzten rötlich schuppigen unregelmäßigen erythrosqaumösen Plaques. Meist ist ein über Jahre langsames Wachstum zu verzeichnen. Hauptbetroffene Region ist typischer Weise der Handrücken, selten auch die palmaren Finger oder Hohlhandareale. Die Läsionen können bis zu mehrere Zentimeter Ausdehnung haben. Die initiale Diagnose wird als Blickdiagnose gestellt und in der Exzisions- oder Inzisionsbiopsie histologisch bestätigt. Differenzialdiagnostisch kommen die Psoriasis und verschiedene Formen der Keratitis in Betracht (⊡ Abb. 61.8).
Indikationen und Differenzialtherapie. Vom äußeren Aspekt
Klassifikation. Der Morbus Bowen ist ein Carcinoma in situ.
Keratoakanthom Epidemiologie. Die meisten Patienten sind über 60 Jahre alt. Ätiologie. Die genaue Ätiologie ist bis heute unbekannt.
ist es das Keratoakanthom nicht von einem Plattenepithelkarzinom zu unterscheiden. In der Anamnese kann das schnelle Wachstum als Hinweis für ein Keratoakanthom gewertet werden. Letztlich bringt jedoch nur die Exzisionsbiopsie in der histologischen Aufarbeitung Klarheit.
Therapie. Als Therapie wird häufig die Exzision aufgeführt. Prinzipiell kommt es über mehrere Wochen zu einer spontanen Remission, sodass auch eine konservative Therapie mit kontinuierlicher Überwachung möglich ist. Als weitere Therapieoptionen werden intraläsionale Applikationen von 5-Fluoruracil oder Methrotrexat beschrieben.
Aktinische (solare) Keratose
Indikationen und Differenzialtherapie. Die Therapie der Wahl ist die chirurgische Exzision. Da makroskopisch die Ränder nicht sicher abgegrenzt werden können, empfiehlt sich bei der Notwendigkeit einer Defektdeckung durch Spalthaut oder einer Lappenplastiken, das zweizeitige Vorgehen mit temporärem Weichteilverschluss und einer Schnittranddiagnostik. Als weitere Therapieoption wird die photodynamische Therapie und der ablative CO2-Laser eingesetzt.
Basaliom Epidemiologie. Der Basalzellenkrebs tritt gehäuft zwischen dem 60 und 70. Lebensjahr auf.
Epidemiologie. Betroffen sind ältere Menschen ab dem 60. Le-
Ätiologie. Als verursachend gelten die UV-Strahlung und Arsen-
bensjahr und jüngere Menschen mit exorbitanter Lichtexposition (Seefahrer).
exposition.
Ätiologie. Licht ist der auslösende Faktor für die Hautveränderung. Die aktinische Keratose gilt als fakultative Präkanzerose. Mit einem Risiko von etwa 10–50% kann sich nach Jahren die solare Keratose in ein Plattenepithelkarzinom umwandeln. Diagnostik. Die aktinische Keratose zeigt sich als Hautveränderung der oberen Hautschichten vor allem auf den lichtexponierten Stellen der Hand. Die Veränderungen stellen sich als flächige unscharf begrenzte Areale mit Zeichen der Hyperkreatose dar. Indikationen und Differenzialtherapie. Neben der Exzision ist die Kryotherapie eine häufig eingesetzte Therapieform. Weiter ist die Anwendung der photodynamischen Therapie mit 5-Aminolävulinsäure beschrieben und die Anwendung von 5-FluorouracilCreme oder die Verwendung von Imiquimod-Creme. Prophylaktisch sollte eine weitere Schädigung der Haut durch Sonnenschutz und Auftragen von Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor >30 eingeschränkt werden. Wichtige Differenzialdiagnosen stellen das Plattenepithelkarzinom und der Morbus Bowen dar.
⊡ Abb. 61.8 Morbus Bowen des radialen Zeigefingergrundgelenks
61
1734
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Diagnostik. Der Basalzellenkrebs findet sich als Erkrankung der
Indikationen und Differenzialtherapie. Die geringste Rezi-
Epithelzellen an den sonnenexponierten Stellen der Hand. Die Diagnostik wird durch Auflichtmikroskopie und Exzisionsbiopsie mit histologischer Aufarbeitung und lückenloser Schnittranddiagnostik betrieben. Das Keratoakanthom, Plattenepithelkarzinom und die Psoriasis stellen möglicher Differenzialdiagnosen dar (⊡ Abb. 61.9).
divquote erlangt man über eine Exzision mit Sicherheitsabstand und histologischer Schnittrandkontrolle. Der Sicherheitsabstand beträgt bei gut abgrenzbaren Basaliomen wenige MIllimeter, bei unscharf begrenzten sklerodermiformen Basaliomen 5–10 mm. Bei fehlender Sicherheit in der Schnellschnittdiagnostik ergibt sich hieraus ein zweizeitiges Vorgehen immer dann, wenn kein primärer Wundverschluss zu erzielen ist. Die Haut des Handrückens lässt nur in geringem Maße einen primären Wundverschluss zu. Häufiger kommen hier Spalthauttransplantationen zum Einsatz. Bei der Überprüfung, ob ein primärer Verschluss erzielt werden kann, muss eine intraoperative Funktionsprüfung des Faustschlusses und der kompletten Fingerspreizung erfolgen. Zur Anwendungen kommen auch die Kryochirurgie, Lasertherapie, Strahlentherapie und Kürettage mit anschließender 5-Fluorouracil-Creme-Applikation. Der Nachteil dieser Verfahren ist die fehlende Sicherheit über Tumorfreiheit der Randbezirke.
Klassifikation. Das Basalzellkarzinom gilt als semimaligner Tu-
61
mor, da es eine lokal destruierende Eigenschaft mit einer abhängig von der Therapieform hohen Rezidivrate besitzt (1–15%). Es metastasiert nahezu nie (0,1%) und kann in verschiedene Subklassifizierungen unterteilt werden, die sich in ihrer klinischen Manifestation unterscheiden. Die phänotypischen Merkmale sind sehr variable, sodass die folgenden Beschreibungen der klinischen wie histologischen Subtypen nur richtungsweisend sind: ▬ Solides (noduläre) Basaliom: – Zeigt ein knötchenförmiges Wachstum, glasig blassrot, mit umgebenden Teleangiektasien und Tendenz zur zentralen Ulzerationen (Ulcus rodens). Es ist mit etwa 60% die häufigste Form des Basalzellkarzinoms. Prädilektionsstelle ist das Gesicht, die Hand ist deutlich weniger häufig betroffen. ▬ Superfizielles Basalzellkarzinom: – Synonym: Rumpfhautbasalzellkarzinom, oberflächliches Basalzellkarzinom, erythematoides Basalzellkarzinom, bowenoides Basalzellkarzinom, psoriasiformes Basalzellkarzinom, ekzematoides Basalzellkarzinom. Rötlich brauner flächig langsam wachsender Tumor mit scharfer Umgebungsabgrenzung. ▬ Sklerodermiformes Basalzellkarzinom: – Synonym: fibrosierendes Basalzellkarzinom, keloidiges Basalzellkarzinom, sklerosierendes Basalzellkarzinom. Fibröse strangartige Tumorausbreitung im Hautniveau mit unscharfer Randbildung. Häufig ist das sklerodermiforme Basaliom von der umgebenden Haut nicht zu unterscheiden. ▬ Metatypisches Basalzellkarzinom: – Synonym: basosquamöses Basalzellkarzinom, intermediäres Epitheliom. Das metatypische Basalzellkarzinom weist Anteile eines Basalioms und eines Plattenepithelkarzinoms auf. Es zeichnet sich durch sein aggressives Wachstum aus und neigt eher zur Metastasierung (Lymphknoten/Lunge). ▬ Ulcus terebrans: – Primär destruierend wachsendes Basaliom.
Bösartige (maligne) Hauttumore Plattenepithelkarzinom Synonym. Carcinoma spinocellulare, verhornendes Plattenepithelkarzinom der Haut, Spinaliom, Epithelioma spinocellulare, Stachelzellkrebs, Stachelzellkarzinom, Spinalzellkarzinom, Spindelzellkarzinom, verhornender Plattenepithelkrebs, squamous cell carcinoma.
Epidemiologie. Nur 10% aller Plattenepithelkarzinome der Haut finden sich an der Hand, aber hier ist es für 75–90% aller Handtumoren verantwortlich. Es tritt selten vor dem 60. Lebensjahr auf und findet sich meist dorsal und interdigital, selten sub- oder paraungual.
Ätiologie. UV-Strahlung, Röntgenstrahlenexposition, chronische Entzündung, Immunsuppression, Xeroderma pigmentosa, BowenErkrankung, Leukoplagie, HPV und Rauchen.
Diagnostik. Knotig derber Tumor, exophytisch wachsend, häufiger mit Ulzerationen, krustig belegt. Mitunter findet sich ein Randwall mit zentraler Verhornung oder Ulzeration. Das MarjolinUlkus, stellt die maligne Entartung einer jahrzehntelangen Entzündung auf der Grundlage einer instabilen Verbrennungsnarbe oder einer chronischen Wunde dar und zeigt ein aggressives Wachstum mit deutlich erhöhter Metastasierungstendenz. Die Diagnose wird in einer Exzisionsbiopsie bestätigt. Die häufigsten Differenzialdiagnosen umfassen das Basaliom und das Keratoakanthom. Ab einer Tumordicke von >2 mm sollte neben der klinischen Untersuchung auch eine Lymphknotensonografie zur Abklärung einer Lymphknotenmetastasierung erfolgen. Bei infiltrierend und destruierend wachsenden Karzinomen wird die weitere Diagnostik mittels CT bzw. MRT empfohlen. Bei klinischem Verdacht auf eine Fernmetastasierung werden organspezifischen Untersuchungen wie z. B. Thoraxröntgen, Computertomografie sowie MRT etc. zur weiterführenden Diagnostik durchgeführt.
Klassifikation. In ⊡ Tab. 61.2 findet sich die TNM-Klassifikation des Plattenepithelkarzinoms, ⊡ Tab. 61.3 zeigt die Stadieneinteilung gemäß UICC (2002).
⊡ Abb. 61.9 Basaliom des Handrückens auf Grundlage einer ausgeprägten solaren Keratose
Indikationen und Differenzialtherapie. Durch eine mikrografisch kontrollierte Chirurgie kann eine kurative Therapie in 88– 96% erzielt werden. Die Exzision erfolgt mit einem minimalen Sicherheitsabstand von etwa 3 mm. Da das Paraffinschnittverfahren
1735 61.2 · Spezielle Techniken
⊡ Tab. 61.2 TNM Klassifikation des Plattenepithelkarzinom T-Klassifikation
Tumorausdehnung
Tis
Carcinoma in situ
T1
Tumor ≤2 cm in größter Ausdehnung
T1a*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke ≤2 mm
T1b*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke >2 mm, aber ≤6 mm
T1c*
Ausdehnung auf Subkutis und/oder Tumordicke >6 mm
T2
Tumor >2 cm, aber ≤5 cm in größter Ausdehnung
T2a*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke ≤2 mm
T2b*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke >2 mm, aber ≤6 mm
T2c*
Ausdehnung auf Subkutis und/oder Tumordicke >6 mm
T3
Tumor >5 cm in größter Ausdehnung
T3a*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke ≤2 mm
T3b*
Auf Dermis beschränkt, Tumordicke >2 mm, aber ≤6 mm
T3c*
Ausdehnung auf Subkutis und/oder Tumordicke >6 mm
T4a
Tumor infiltriert tiefe extradermale Strukturen
T4a*
Tumordicke ≤6 mm
T4b*
Tumordicke >6 mm
N-Klassifikation
Lymphknotenbefall
NX
Regionäre Lymphknoten können nicht beurteilt werden
N1
Keine regionären Lymphknotenmetastasen
N2
Regionäre Lymphknotenmetastasen
M-Klassifikation
Fernmetastasen
MX
Das Vorliegen von Fernmetastasen kann nicht beurteilt werden
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen
⊡ Tab. 61.3 Stadieneinteilung (UICC 2002) Stadium
Primärtumor
Lymphknoten
Fernmetastasen
Stadium 0
Tis
N0
M0
Stadium I
T1
N0
M0
Stadium II
T2 T3
N0 N0
M0 M0
Stadium III
T4 Jedes T
N0 N1
M0 M0
Stadium IV
Jedes T
Jedes N
M1
dem Kryostatschnittverfahren der Schnellschnittdiagnostik überlegen ist, empfiehlt sich die zweizeitige Defektdeckung insbesondere bei Rezidivtumoren, bei infiltrativen Tumoren und bei Tumoren in schwierigen Lokalisationen. Die Sentinel-Lymphknoten-Biopsie wird bei High-Risk-Patienten empfohlen. Eine prophylaktische elektive Lymphknotendissektion ist nicht indiziert. Die Erfolgsquote der Strahlentherapie ist der der operativen Therapie annähernd gleich, sodass sie als Reservetherapie für inoperable Tumoren oder bei Operationsverweigerung zur Anwendung kommen kann. Auch kann durch die Strahlentherapie bei R1- oder R2-Resektion die lokale Rezidivfreiheit erhöht werden (⊡ Abb. 61.10). In den Stadien III und IV kann im Rahmen von Studien im Einzelfall auch eine Chemotherapie indiziert sein. Die Behandlung ist nicht kurativ und aber die Ansprechraten auf chemotherapeutische Behandlungen sind hoch und liegen bei bis zu 80%.
Prognose. Bei adäquatem operativem Vorgehen ist die Prognose gut. Die Metastasierungsrate liegt beim Plattenepithelkarzinom etwa um 3–6% und steigt auf 25–40% bei T4-Tumoren. Die Prognose des metastasierten Plattenepithelkarzinoms ist infaust. Als prognostisch ungünstige Faktoren gelten: ▬ rasches Wachstum, ▬ Rezidiv, ▬ Ulzeration, ▬ Lokalisation im Fingerbereich und ▬ Immunsuppression.
Melanom Epidemiologie. Die Hand ist selten von einem Melanom betroffen, je nach Autor in 0,4–3% aller Melanome am Körper. Dabei werden die in ⊡ Tab. 61.4 aufgeführten Subtypen unterschieden.
Ätiologie. Das Melanom entsteht in etwa 20% aus melanozytären Nävi ansonsten de novo. Hauptursache ist die UV-Lichtexposition. Während die Inzidenz bei Schwarzafrikanern gleichbleibend ist (0,2/10.000/Jahr) und das Melanom an den nicht sonnenexponierten Stellen zu finden ist (Handinnfläche, Fußsohle, Mundschleimhaut), ist in Australien ein steter Anstieg der Inzidenz zu finden (>40/10.000/Jahr). Diagnostik. Alle Subtypen sind an der Hand zu finden. Verdächtig sind vor allem Läsionen von wachsender Größe, die sich in Farbe und Form schnell verändern, irregulär begrenzt sind und größer als 0,5 cm sind. Bei der Früherkennung hilft die sogenannte ABCDE-Regel. ▬ A = Asymmetrie (Form unregelmäßig) ▬ B = Begrenzung (unregelmäßige oder unscharfe Begrenzung) ▬ C = Colour (Farbe ist uneinheitlich, sehr dunkel, fast schwarz) ▬ D = Durchmesser (>5 mm) ▬ E = erhaben (mehr als 1 mm über das übrige Hautniveau erhaben) Das oberflächlich spreitende Melanom zeigt eine sehr unregelmäßige Form mit gezacktem Rand und wächst flach in die Tiefe. Es entsteht über Monate bis Jahre. Das noduläre Melanom ist knotig, wächst vertikal in die Tiefe und neigt zur Ulzeration. Es findet sich an der ganzen Hand auch periungual. Das akral-lentiginöse Melanom ist maßgeblich in der Hohlhand und den Fingerbeeren lokalisiert. Ferner findet es sich häufiger subungual. Das subunguale Melanom stellt etwa die Hälfte aller Melanome an der Hand da.
61
1736
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
a
c
b ⊡ Abb. 61.10 86-jähriger Patient mit ulzeriertem Plattenepithelkarzinom am Handrücken, unter Bestrahlung an Größe zunehmend. a Klinischer Aspekt, b palliative Strahlresektion III/IV mit 1–2 cm Sicherheitsabstand, c Cheiroplastik (»fillet finger flap«) aus den Fingern D III und IV, d postoperativer Aspekt
61
d
⊡ Tab. 61.4 Subtypen des Melanoms (aus der Leitlinie der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft Subtyp
Abkürzung
Prozentualer Anteil
Medianes Erkrankungsalter
Superfiziell spreitendes Melanom
SSM
57,4%
51 Jahre
Noduläres malignes Melanom
NMM
21,4%
56 Jahre
Lentigo-maligna-Melanom
LMM
8,8%
68 Jahre
Akral-lentiginöses Melanom
ALM
4,0%
63 Jahre
Nicht klassifizierbares Melanom
UCM
3,5%
54 Jahre
4,9%
54 Jahre
Sonstige
Die Auflichtmikroskopie stellt die erste Diagnostik zur Differenzialdiagnose des Pigmenttumors dar. In der Regel erfolgt bei Verdacht die stadiengerechte Diagnosesicherung im Rahmen einer Exzisionsbiopsie. Zuvor erfolgt immer die klinische Untersuchung der ableitenden Lymphwege. Eine Lymphknotensonografie erfolgt bei Melanomen mit einer Dicke von >1 mm. Bei einer Tumordicke von ≥1 mm wird gefordert: ▬ Sentinel-Lymphknoten-Biopsie, ▬ Labor (BSG, Blutbild, LDH, alkalische Phosphatase, und Protein S100), ▬ Thoraxröntgenaufnahme (2 Ebenen); fakultativ: ▬ hochauflösender Ultraschall zur Dickenabschätzung, ▬ CT, MRT oder PET-Diagnostik
Bei ungünstigen Prognosefaktoren kann die Sentinel-Lymphknoten-Biopsie auch bei geringeren Tumordicken erwogen werden Beim primären malignen Melanomen der Haut, unter Einbezug aller Stadien, beträgt gemäß Morton der Befall von regionären Lymphknoten 20%, womit nur jeder 5. Patient von einer routinemäßig durchgeführten elektiven Lymphadenektomie profitiert, die andern aber nur unter der daraus sich ergebenden Morbidität leiden würden. Dies betrifft vor allem die Patienten mit Melanomen mit einer Eindringtiefe von weniger als 1,0 mm, denn diese haben eine ausgesprochen gute Überlebensrate und die Chance von positiven Lymphknoten zur Zeit der Operation liegt unter 10%. Dagegen weisen Patienten mit Melanomen mit einer Eindringtiefe von mehr als 1,0 mm in 25% positive Lymphknoten vor. Dieses Patientengut hat eine bessere 5-Jahres-Überlebensrate, wenn eine elektive Lymphadenektomie gemacht wurde, bevor klinisch nachweisbare Lymphknotenmetastasen auftraten.
1737 61.2 · Spezielle Techniken
⊡ Tab. 61.5 TNM-Klassifikation nach UICC (International Union against Cancer) T-Klassifikation
Tumordicke
Weitere prognostische Parameter
Tis Tx
Keine Angabe
Melanoma in situ, keine Tumorinvasion Stadium nicht bestimmbar*
T1
≤1,0 mm
a: ohne Ulzeration, Level II–III b: mit Ulzeration oder Level IV oder V
T2
1,01–2,0 mm
a: ohne Ulzeration b: mit Ulzeration
T3
2,01–4,0 mm
a: ohne Ulzeration b: mit Ulzeration
T4
>4,0 mm
a: ohne Ulzeration b: mit Ulzeration
N-Klassifikation
Befallene Lymphknoten (LK)
Ausmaß der Lymphknotenmetastasierung
N1
1 LK
a: Mikrometastasierung b: Makrometastasierung
N2
2–3 LK
a: Mikrometastasierung b: Makrometastasierung c: Satelliten oder in-transit Metastasen
N3
>4 LK, Satelliten oder In-Transit-Metastasen plus Lymphknotenbeteiligung
–
M-Klassifikation
Art der Fernmetastasierung
LDH
M1a
Haut, subkutan oder Lymphknoten
Normal
M1b
Lunge
Normal
M1c
Alle anderen Organmetastasen Jede Art von Fernmetastasierung
Normal Erhöht
Klassifikation. Es lassen sich folgende Subtypen klassifizieren: ▬ superfiziell spreitendes Melanom, ▬ Lentigo-maligna-Melanom, ▬ akral-lentiginöses Melanom und ▬ nicht klassifizierbares Melanom.
⊡ Tab. 61.6 Clark-Level Clark-Level
Invasionstiefe
I
Tumorzellen befinden sich oberhalb der Basalmebran (entspricht einem Carcinoma in situ)
Die Einstufung der Melanome erfolgt anhand der TNM-Klassifikation (⊡ Tab. 61.3).
II
Invasion des Stratum papillare
III
Invasion bis an die Grenze
Prognose. Die wichtigsten prognostischen Faktoren sind: ▬ die vertikale Tumordicke nach Breslow am histologischen Prä-
IV
Invasion des Stratum reticulare
V
Invasion in die Subkutis
parat, die ursprünglich in 4 verschiedene Bereiche eingeteilt wurde, ▬ das Vorhandensein einer histologisch erkennbaren Ulzeration und ▬ das Invasionslevel nach Clark (⊡ Tab. 61.6). Zwei Drittel aller Metastasierungen erfolgen lymphogen, ein Drittel hämatogen.
Indikationen und Differenzialtherapie. Im Stadium I ist die Therapie der Wahl bei kurativem Ansatz operativ. Der einzuhaltende Sicherheitsabstand ist abhängig von der Tumordicke zu wählen (⊡ Tab. 61.7). Aus den genannten Sicherheitsabständen ergibt sich je nach Lokalisation des Tumors, dass eine Fingerteilamputation oder Strahlamputation notwendig ist, um eine kurative Operation durchzuführen. Dies führt insbesondere beim funktionell wich-
⊡ Tab. 61.7 Sicherheitsabstände entsprechend der Tumordicke Tumordicke nach Breslow
Sicherheitsabstand
In situ
0,5 cm
bis 2 mm
1 cm
>2 mm
2 cm
tigen Daumen zu Überlegungen inwieweit eine strahlerhaltene Operation vertretbar ist (Do et al. 2006, Rayatt, et al. 2007). Eine gesicherte Datenlage für ein solches Vorgehen liegt derzeit nicht vor. Insbesondere die Tatsache, dass beim subungualen Mela-
61
1738
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Diagnostik. Dermatofibrome der Hand sind äußerst seltene kleine kugelig harte Tumore, die nicht schmerzhaft sind und eine unscharfe Abgrenzung zum umgebenden Bindegewebe haben. Differenzialdiagnostisch muss an ein Dermatofibrosarkoma protuberans gedacht werden.
Klassifikation. Histologisch werden eine Reihe von Dermatofib-
⊡ Abb. 61.11 Subunguales Melanom am Daumen
61
nom oft die eigentliche Tumordicke primär nicht mehr zu ermitteln ist und die Breslow-Klassifizierung so nicht zur Anwendung kommt, erschwert die Therapieentscheidung. Die Autoren ziehen das onkologisch vermeintlich sichere Verfahren der Amputation mit möglicher sekundärer Rekonstruktion einer derzeit nicht gesicherten Phalanx-erhaltenden Therapie mit marginalen Sicherheitsabständen vor. Beim älteren Patienten kann das Therapiekonzept jedoch individuell angepasst werden (⊡ Abb. 61.11). Für die Rekonstruktion des Daumens stehen je nach Ampuationshöhe oder Defekt die Pollizisation, der freie Zehentransfer, »wrap-around flap«, gestielte oder lokale Fernlappenplastiken sowie Hauttransplantationen zur Verfügung. Am 2. und 5. Finger bietet sich die Handverschmälerung für kosmetisch günstige Ergebnisse an. Die Methoden der Strahlresektion für die mittleren Finger sind in Kap. 40 beschrieben. Im metastasierten Stadium erfolgt die operative Entfernung aller In-Transit- oder Satellitenmetastasen zum Erreichen lokaler Tumorfreiheit. Bei Nachweis einer Lymphknotenmetastasierung erfolgt eine elektive Lymphknotendissektion mit kurativer Intention. Ein prognostischer Überlebensvorteil ist hierdurch allerdings nicht nachgewiesen. Die Resektion einzelner Organmetastasen ist anzustreben. Die adjuvante Therapie umfasst die Interferon-α- und Chemotherapie sowie die Strahlentherapie der Lymphabflussbahnen bei Inoperabilität oder einzelnen Knochenmetastasen. 61.2.2
Weichteiltumore
romen unterschieden: Granularzelldermatofibrom, Klarzelldermatofibrom, Epitheloidzellhistiozytom, zelluläres Neurothekeom, Dermatofibrom mit Monsterzellen, myofibroblastisches Dermatofibrom, sklerosierendes Hämangiom, atypisches (pseudosarkomatöses) fibröses Histiozytom, hämosiderotisches (eisenspeicherndes) Dermatofibrom, tief penetrierendes Dermatofibrom, Hämangioperizytom-ähnliches fibröses Histiozytom, ossifizierendes Dermatofibrom, myxoides Dermatofibrom, zelluläres benignes fibröses Histiozytom.
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Therapie. Störende Dermatofibrome können mit einem marginalen Sicherheitsabstand exzidiert werden. Die Rezidivquote liegt bei etwa 5% Fibromatosen
Allgemeines. Heterogene Gruppe von Neubildungen des Bindegewebes mit lokal destruierendem und infiltrativem Wachstum ohne Metastasierungstendenz. Für die Hand relevant ist vornehmliche die Palmarfibromatose und weitaus seltener die digitale infantile Fibromatose.
Epidemiologie der Palmarfibromatose. Diese gutartige Bindegewebswucherung der Palmaraponeurose tritt in der mittleren Lebensdekade auf und betrifft zu über 80% Männer. Die Erkrankung findet sich weitaus häufiger in Mittel und Nordeuropa. Epidemiologie der infantilen digitalen Fibromatose. Im Säuglingsalter auftretende fibromatöse Veränderung an den Fingern und Zehen.
Ätiologie der Palmarfibromatose. Die genaue Ätiologie ist bis heute nicht geklärt. Bekannt ist neben einer familiären Belastung eine Assoziation der Dupuytren-Kontraktur mit Diabetes mellitus, Alkohol- und Nikotinkonsum, Epilepsie und HIV-Infektion.
Dermatofibrom Synonym. Kutanes fibröses Histiozytom, Fibroma simplex, Fibroma durum, hartes Fibrom.
Diagnostik der Palmarfibromatose. Die Diagnose ergibt sich aus der Anamnese und der klinischen Untersuchung. Typischerweise zeigen sich an den ulnaren Fingerstrahlen beginnende Knoten und Strangbildungen, die über Jahre langsam zunehmen können und zu einer Beugekontraktur führen. Auf der Streckseite finden sich polsterartige Verhärtungen über den Mittelgelenken, die sog. »knuckle pads«.
Epidemiologie. Das Dermatofibrom ist einer der häufigsten bindegewebigen Tumoren ohne spezifischen Altesrgipfel.
Klassifikation ▬ Oberflächliche Fibromatosen
Gutartige Weichteiltumore Bindegewebe
Ätiologie. Vermutlich sind dermale dendritische Zellen die Ursprungspopulation des Tumors. Dermatofibrome treten jedoch auch reaktiv postinflammatorisch auf, z. B. nach Insektenstichen.
– – – –
Palmarfibromatose (Morbus Dupuytren) Plantarfibromatose (Morbus Ledderhose) Fingerknöchelpolster (Knuckle-Pads) Induratio penis plastica (Morbus Peyronie)
1739 61.2 · Spezielle Techniken
▬ Tiefe Fibromatose – Retroperitoneal Fibromatose (Morbus Ormund) – Desmoidtumor ▬ Infantile Fibromatose – Infantile digitale Fibromatose – Fibromatosis colli
Indikationen und Differenzialtherapie Kap. 34 Noduläre Fasziitis Synonym. Fasciitis nodularis, noduläre pseudosarkomatöse Fasciitis, subkutane pseudosarkomatöse Fibromatose.
Chirurgisch relevante Anatomie. Typischerweise manifestiert sich die noduläre Fasziitis als schnell, innerhalb weniger Wochen, wachsender runder oder ovaler Knoten, der mit oder ohne Kapsel auftreten kann. Hand und Unterarm sind Prädilektionsstellen.
a
Epidemiologie. Die Veränderung findet sich vor allem bei jüngeren Menschen an der oberen Extremität. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen.
Ätiologie. Eine mögliche Erklärung für das Auftreten wird in einer posttraumatischen Genese gesehen. Feingeweblich bestehen diese Knoten aus unreifen Fibroblasten mit kurzen, unregelmäßig angeordneten Bündeln. Diagnostik. Die Diagnose erfolgt klinisch mit nachfolgender Bestätigung in der Histologie. Anamnestisch bilden sich in kurzer Zeit kleine knotige Veränderung unter der Haut mit infiltrativem Wachstum. In der Hälfte der Fälle liegt ein unangenehmes Druckgefühl oder Schmerzen vor. Differenzialdiagnostisch ist vor allem ein Fibrosarkom abzugrenzen.
b ⊡ Abb. 61.12 Riesenzelltumor am palmaren Mittelfingergrundglied. a Klinischer Aspekt, b resezierter Riesenzelltumor
Therapie. Die Exzision der tumorösen Veränderung ist die Therapie der Wahl. Chondrom
Epidemiologie. Extraossäre Chondrome sind selten beschriebene Veränderungen an der Hand.
Ätiologie. Gutartige Neubildung aus Knorpelgewebe. Als mögliche Ursache wird eine traumatische Genese diskutiert.
Diagnostik. Der Tumor zeigt ein langsames Wachstum. Klinisch auffällig wird er durch die Schwellung an sich und gelegentlich durch die Nervenkompressionen.
Diagnostik. Derber knotiger Tumor unklarer Herkunft im Subkutangewebe gelegen und teils bindegewebig fixiert. Hauptbetroffen sind die palmaren Finger und hier im Besonderen der Zeigefinger. Typisch ist die bräunlich gelb gesprenkelte Farbe des Tumors. Der Tumor wächst gelegentlich infiltrativ und zeigt ein hohes Rezidivpotenzial. Die stammnahen Riesenzelltumore können metastasieren. Die Diagnose ergibt sich aus der klinischen Untersuchung, dem intraoperativen Befund und der histologischen Aufarbeitung. Differenzialdiagnostische muss an ein Neurofibrom oder an Rheumaknoten gedacht werden. In der radiologischen Untersuchungen lassen sich assoziierte Arthrosen der Fingergelenke und ggf. Druckerosionen der Knochen nachweisen (⊡ Abb. 61.12).
Therapie. Empfohlen wird die Exzision des Tumors mit marginalem Sicherheitsabstand. Riesenzelltumor der Sehnenscheide
Synonym. Synovialiome, tenosynoviale Riesenzelltumore. Epidemiologie. Der Riesenzelltumor ist nach dem Ganglion der zweithäufigste gutartige Tumor an der Hand. Er tritt in der 3.–4. Lebensdekade auf und findet sich sehr selten bei Kindern unter 10 Jahren oder Erwachsenen über 60 Jahre. Das Vorkommen ist bei Frauen zu Männern etwa 3:2.
Klassifikation. Unterschieden werden kann eine lokalisierte typische Form und eine seltenen diffuse Form, die eher an der unteren Extremität zu finden ist und histologische Ähnlichkeiten zur pigmentierten villonodulären Synovialitis aufweist. Therapie. Bei der kompromisslosen Exzision kann es notwendig sein, Teile der Sehnenscheide, palmaren Platte, des Periosts und der Gelenkkapsel mit zu entfernen.
Fettgewebe Lipom
Ätiologie. Ausgehend von unreifen Bindegewebszellen der Seh-
Epidemiologie. Lipome sind die häufigsten Tumoren des Kör-
nenscheide oder Gelenkkapsel ist die genaue Ätiologie unbekannt.
pers. Dabei ist die Hand in nur etwa 2% betroffen.
61
1740
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Ätiologie. Die genaue Ätiologie ist unklar. Angenommen wird allgemein, dass sie von Fettzellen oder mesenchymalen Stammzellen ausgehen. Diagnostik. Die an sich schmerzlosen Lipome wachsen langsam und können dabei enorme Ausmaße annehmen. Symptomatisch werden die Lipome meist erst spät durch Druck auf die Umgebung. In einigen Fällen kommt es zu neurologischen Störungen durch Druck auf die umliegenden Nerven. Die präoperative Diagnostik erfolgt mittels Ultraschall, indem das Lipom als glatt begrenzter Tumor mit typischer echoreicher Querstreifung imponiert. Das MRT kann hilfreiche sein, um die Ausdehnung und Genese des Lipoms einzuschätzen (⊡ Abb. 61.13).
Indikationen und Differenzialtherapie. Die Indikation zur operativen Therapie ergibt sich zum einen aus der funktionellen Beeinträchtigung, die sich in Druckschmerzhaftigkeit der betroffenen Region oder in leichten Parästhesien äußern kann, zum anderen aus der Tatsache, dass die bildgebende Diagnostik eine genaue Diagnose nicht sicher zulässt.
Klassifikation. Unterschieden werden verschiedene Subtypen von
Therapie. Da der Tumor langsam verdrängend wächst, ist die
Lipomen, die teilweise erst in der histologischen Aufarbeitung bestimmt werden können (Fibrolipom, Angiolipom, Angiomyolipom).
Therapie der Wahl die chirurgische Exzision mittels interfaszikulärer kontinuitätserhaltender Dissektion. In den kleinen Digitalnerven gelingt die Entfernung in der Regel nur mittels Resektion und Rekonstruktion durch ein Nerveninterponat.
Therapie. Die Therapie besteht in der kompletten Exzision möglichst ohne Verletzung des Lipoms mit seiner Kapsel. Eine Absaugung, wie sie an anderen Stellen des Körpers durchgeführt werden kann, empfiehlt sich an der Hand nicht. Zum einen, da die Nähe funktionell bedeutsamer Strukturen und somit deren potenzielle Verletzungsgefahr gegeben ist, zum anderen ist bei Belassen von Lipomresten mit einem Rezidiv zu rechnen.
Fehler, Gefahren und Komplikationen. Die größte Gefahr besteht bei der Operation in der Verletzung der Nervenfaszikel beim Versuch der erhaltenden Resektion oder beim Rezidiv.
Nerven
Chirurgisch relevante Anatomie. Das Neurofibrom ähnelt dem Schwannom mit dem Unterschied, dass es keine Kapsel ausbildet und weniger verdrängend als infiltrativ wächst.
Schwannom
61
Diagnostik des Schwannoms häufig zu Fehldiagnosen. Als klinischen Hinweis für das Vorliegen eines Schwannoms wird für die Lokalisation des Handgelenks und der Hand der schmerzhaft tastbare Tumor entlang der Nerven gewertet. Das entspricht nicht der Klinik, die ansonsten für andere Regionen, in denen das Schwannom weit häufiger auftritt, bekannt ist (⊡ Abb. 61.14).
Neurofibrom
Chirurgisch relevante Anatomie. Das Schwannom ist ein langsam wachsender fester eingekapselter Tumor, der meist exzentrisch in der peripheren Nervenscheide liegt. Es wächst verdrängend und zeigt in der Regel keine Anzeichen eines infiltrativen Wachstums. Epidemiologie. Das Schwannom ist der häufigste benigne Nerventumor, ist aber sehr selten an der Hand zu finden. Es tritt bei Männern und Frauen gleich häufig in der mittleren Dekade auf. Ätiologie. Der Tumor entsteht aus den Schwann-Zellen, die den Nerven mit der Myelinscheide ummanteln. Die Genese des tumorösen Wachstums ist unbekannt.
Diagnostik. Selbst mit den modernen bildgebenden Verfahren des hochauflösenden Ultraschalls, MRT und CT kommt es bei der
a
b ⊡ Abb. 61.13 Lipom in der Hohlhand/Thenarbereich
⊡ Abb. 61.14 Schwannom des N. medianus am proximalen Unterarm. a Klinischer Aspekt vor Exstirpation, b klinischer Aspekt nach Exstirpation
1741 61.2 · Spezielle Techniken
Epidemiologie. Dermale Neurofibrome treten oft zur Pubertät auf und bilden sich bis in die frühen Erwachsenenjahre aus. Ätiologie. Neurofibrome entstehen aus den nicht myelinisierenden Schwann-Zellen des peripheren Nervensystems. Sie entstehen bei der Neurofibromatose Typ 1 aufgrund eines autosomal dominant vererbten Gendefekts. Diagnostik. Dermale Neurofibrome bilden kutane rötliche, blauviolette oder hautfarbene Knoten von wenigen Millimetern bis zu einigen Zentimetern Größe aus. Subkutane Knoten unterschiedlicher Größe mit derbem Tastbefund sind Neurofibrome der peripheren Nerven. Für die Diagnose einer Neurofibromatose kommen neben den eigentlichen Neurofibromen der Haut (bis zu einigen Tausenden) und der Nerven noch die Pigmentstörungen der Haut hinzu. Es finden sich sog. Café-au-lait-Flecken (mehr als 4) und Lisch-Knötchen (Harmatome der Iris) und das Freckling, was einer sommersprossenähnlichen Tüpfelung von Arealen (Axelhöhle und Leiste) entspricht, die nicht sonnexponiert sind (⊡ Abb. 61.15). Klassifikation. Unterschieden werden dermale und plexiforme Neurofibrome. Es gibt singuläre Neurofibrome des peripheren Nervensystems und die Neurofibromatose Typ 1 (Morbus Recklinghausen).
Prognose. Dermale Neurofibrome neigen nicht zur Entartung. Während plexiforme Neurofibrome in etwa 10% zu einem malignen peripheren Nervenscheidentumor (MPNST) entarten können. Therapie. Aufgrund des Gendefektes ist eine kurative Therapie nicht möglich. Einzelne Neurofibrome der peripheren Nerven zu entfernen, birgt die Gefahr des Funktionsausfalls des operierten Nerven in sich und sollte daher gut überlegt werden.
Intraneurales Lipom Epidemiologie. Im Gegensatz zum weiter unten beschriebenen intraneuralen Fibrolipom, tritt das intraneurale Lipom erst in der 4.–5. Lebensdekade in Erscheinung.
Ätiologie. Die Lipome gehen von Fettzellen des Nervenhüllgewebes aus und sind somit keine orignären Nerventumoren. Ihr Entstehen ist unklar. Diagnostik. Intraneurale Lipome sind langsam verdrängend wachsende Tumore, die hauptsächlich in Nerven der oberen Extremität vorkommen. Symptomatisch werden sie durch eine tastbare Schwellung oder durch neurophysiologische Affektionen des Nervs (Assmus 2002). Sie sind selten, finden sich vornehmlich am N. medianus, aber auch andere Nerven des Unterarmes und Handgelenkbereiches können betroffen sein (Rusko u. Larsen 1981, Balakrishnan et al. 2006). Hochauflösende Ultraschallsonden und das MRT sind in der präoperativen Bildgebung zielführend. Differenzialdiagnose: Intraneurales Fibrolipom, Neurofibrom
Therapie. Der Tumor lässt sich in den meisten Fällen gut enukleieren, sodass keine bleibenden Nervenschäden verursacht werden. Intraneurales Fibrolipom Epidemiologie. Der Tumor findet sich zu etwa 85% im Verlauf des N. medianus, seltener ist auch der N. ulnaris betroffen. Meist tritt das Fibrolipom vor dem 30. Lebensjahr in Erscheinung.
Ätiologie. Unbekannt. Diagnostik. Symptome äußern sich in Schmerzen, Sensibilitätsstörungen sowie zunehmender Weichteilschwellung. Im MRT zeigt sich ein nicht abgekapselter fetthaltiger Tumor im Verlauf des Nervs. Therapie. Eine intraneurale Resektion des Tumors birgt die Gefahr, dass Sensibilitäts- und Funktionsstörungen auftreten. Daher empfiehlt sich zunächst das konservative Vorgehen oder die einfache Dekompression des Nervs.
Synovialzysten Ganglion
⊡ Abb. 61.15 Neurofibromatose mit Café-au-lait-Flecken und zahlreichen kutanen Neurofibromen
Chirurgisch relevante Anatomie. Ganglien sind an der Hand prinzipiell über allen Gelenken und Sehnen zu finden. Das dorsale Handgelenkganglion ist mit 70% aller Ganglien mit Abstand die häufigste Form. Es imponiert meist zwischen dem 3. und 4. Strecksehnenfach oder direkt distal des 4. Strecksehnenfaches und geht häufig von der Handgelenkkapsel in Höhe des SL-Bandes oder STGelenks aus. Etwa 10–25% aller Ganglien im Erwachsenenalter sind beugeseitig lokalisiert, hier findet sich bei Kindern unter 10 Jahren am häufigsten ein Ganglion. Die beugeseitigen Ganglien gehen von der FCR-Sehne, dem Radiokarpalgelenk oder dem STT-Gelenk aus. Beugeseitig an den Fingern finden sich über den A1-Ringbändern oder den A2-Ringbändern sog. Ringbandganglien (⊡ Abb. 61.16, ⊡ Abb. 61.17). Diese sind oft nur stecknadelkopfgroß, für die Patienten aber beim Faustschluss sehr störend. Ganglien an den Streckseiten der Finger resultieren meist aus Arthrosen des Endgelenks. Diese Ganglien, auch Mukoidzysten genannt, liegen nicht selten der germinativen Nagelmatrix auf und führen zu Nagelwachstumsstörungen. Es besteht die Gefahr, dass bei ausgedünnter Haut durch eine akzidentelle oder auch häufig von den Patienten selbst herbeigeführte Perforation eine direkte Verbindung zum Endgelenk entsteht, die bei einer Infektion rasch zu einem Gelenkinfekt werden kann.
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1742
Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Epidemiologie. Diese Veränderungen sind die mit Abstand am häufigsten vorkommenden Tumoren an der Hand. Sie machen zwischen der Hälfte und zwei Dritteln aller Geschwulstbildungen aus. Bei Frauen sind sie etwa doppelt so häufig wie bei Männern und werden meist zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr auffällig. Dabei sind sie prinzipiell in allen Altersstufen nachzuweisen. Ätiologie. Die gängigste Theorie zur Genese der Ganglien ist die der Gelenkschleimhautaussackung bei erhöhter Produktion
von mukoidaler Gelenkflüssigkeit durch die Synovialozyten. Die Schwachstellen in Gelenkkapseln oder Hüllgeweben von Sehnen lassen dann ein Aussacken der Gelenkschleimhaut oder der Sehnenscheide zu.
Diagnostik. Ein Ganglion kann sich durch schmerzhafte Bewegungseinschränkungen und Druckschmerzen bemerkbar machen, ohne dass es bereits äußerlich sichtbar oder tastbar ist. Diese sog. okkulten Ganglien sind einer hochauflösenden Ultraschalluntersuchung gut zugänglich (Linearschallkopf 8-16.000 MHz). Es zeigt sich genau wie bei den größeren Ganglien eine glatt begrenzte Raumforderung mit einer posterioren Schallverstärkung. Weitaus häufiger wird allerdings das MRT, welches immer regelmäßiger bei unklarem Handgelenkschmerz ungezielt angefordert wird, zu der Diagnose führen. Als Ursache der Schmerzen auch bei noch kleinen Ganglien wird der intrakapsuläre Druck angeführt. Dies deckt sich mit der Erfahrung, dass ein durch die Kapsel nach außen durchgebrochenes Ganglion auch von erheblicher Größe häufig nicht schmerzhaft ist. Ab einer gewissen Größe treten eher die Bewegungseinschränkungen in den Vordergrund. > Eine Nativ-Röntgenuntersuchung sollte erfolgen, um mögliche Ursachen wie z. B. Gefügestörungen oder Arthrosen der Handwurzel zu erkennen.
Indikationen und Differenzialtherapie. Da die klinische Diag-
61
⊡ Abb. 61.16 Radiopalmares Ganglion
nose eins Ganglion sehr sicher gestellt werden kann und von ihm kein Entartung zu erwarten ist, stellt sich die Frage nach einer operativen Behandlung nur dann, wenn das Ganglion vom Patienten als störend empfunden wird. Eine abwartende Haltung empfiehlt sich auch, da 40–50% aller Ganglien bei Erwachsenen sich spontan teilweise oder ganz zurückbilden. Ein Indikation für die operative Therapie kann aufgrund von Schmerzen, Funktionseinschränkungen oder auch aus ästhetischen Gründen der Fall sein. Ist das Ganglion nur Symptom einer zugrunde liegenden karpalen Instabilität oder einer Arthrose, so muss mit dem Patienten über bleibende Beschwerden und ein erhöhtes Rezidivpotenzial gesprochen werden und/oder die vermeintliche Ursache der Ganglionausbildung angegangen werden. So kann z. B. bei einem radiodorsalen Ganglion über dem arthrotischen STT-Gelenk eine STT-Arthrodese durchgeführt werden. > Die Rezidivrate bei operativer Entfernung liegt bei nur etwa 10–25 %. Für die arthroskopische Entfernung von dorsalen Handgelenkganglien ist eine vergleichbare Komplikations- und Rezidivrate wie bei konventioneller Resektion beschrieben. Das klassische Zerquetschen des Ganglions, z. B. durch Schlag mit einem Hammer oder schweren Buch, wie der Bibel (im Englischen daher auch »preacher’s cyst« genannt), hat eine hohe Rezidivrate von etwa 50%. Auch die Punktion führt in 30–50% zur Wiederkehr der Zyste, trotz zusätzlicher Injektion von Steroiden oder chemischer Sklerosierung.
Therapie. Nach heutigem Kenntnisstand bietet die operative The-
⊡ Abb. 61.17 Radiodorsales Ganglion
rapie den größtmöglichen Schutz vor einem Rezidiv (⊡ Abb. 61.18). Die Operation sollte in ausreichender Analgesie und Blutleere erfolgen. Dies kann von einem erfahrenen Handchirurg bei einfachen Ganglien durchaus in einem Handblock mit Unterarmblutleere durchgeführt werden. Ist jedoch ein komplexere anatomische Region betroffen, z. B. beim radiopalmaren Ganglion die Arteria radialis ausgespannt und der R. palmaris des N. medianus ver-
1743 61.2 · Spezielle Techniken
a
a
b
⊡ Abb. 61.19 Mukoidzyste. a Intraoperativer Aspekt mit Planung der Resektion und Deckung durch einen lateralen Verschiebeschwenklappen aus dem Nagelfalzbereich, b postoperativer Aspekt
b ⊡ Abb. 61.18 Ulnodorsales Ganglion am Handgelenk. a Präoperativer Aspekt, b intraoperativer Aspekt: bis auf den Stiel präpariertes Ganglion
drängt, so empfiehlt sich die Plexusanästhesie oder Vollnarkose. Unter Lupenbrillenvergrößerung sollte das Ganglion bis auf seine eigentliche Zystenwand freigelegt werden und dann der Zystenstiel aufgesucht und verfolgt werden. Teilweise ist zum radikalen Entfernen des Ganglionstiels auch eine Arthrotomie sinnvoll. Bei notwendiger Eröffnung der Strecksehnenfächer ist die typische treppenförmige Inzision zu wählen, um ein spannungsfreies Verschließen zu ermöglichen.
Spezielle Techniken. Bei der Resektion einer Mukoidzyste (⊡ Abb. 61.19) kann die ausgedünnte Haut über dem Ganglion nicht geeignet sein, einen suffizienten Weichteilverschluss zu erzielen. Hier bieten sich zwei Operationsmethoden an, um das Problem zu lösen. Zum einen kann die unbrauchbare Haut durch eine Hauttransplantation ersetzt werden. Zum anderen kann ein distal gestielter Verschiebeschwenklappen gewählt werden, um den Defekt zu verschließen.
⊡ Abb. 61.20 Gestörtes Nagelwachstum durch einen Glomustumor
Vaskuläre Tumore Hämangiom und vaskuläre Malformationen Kap. 47 Glomustumor Chirurgisch relevante Anatomie. Glomustumore sind Gefäßerweiterungen und Aneurysmen des Glomussystems, also des distalen arteriovenösen Systems an den Fingerkuppen, welches dort die Zirkulation regelt.
Epidemiologie. Der einzelne Glomustumor tritt im jungen Erwachsenenalter um das 20.–30. Lebensjahr auf. Frauen sind etwas häufiger als Männer betroffen. In 25% der Fälle sind Tumore an mehreren Lokalisationen vorhanden. Dies ist bei Männern häufiger als bei Frauen zu beobachten.
Fehler, Gefahren und Komplikationen. Die Gefahr bei einer operativen Ganglionresektion liegt vor allem in der Verletzung von sensiblen Nervenästen. Gefährdet sind hier vor allem die Endäste des N. radialis und N. cutaneus antebrachii medialis. Weiter gefährdet ist die A. radialis. Als potenzieller Fehler kann gewertet werden, wenn man den Stiel des Ganglions nicht ausreichend weit präpariert und so das Entstehen eines Rezidivs erhöht. Dabei bietet aber auch die fachgerechte Durchführung des Eingriffes keine Garantie für eine dauerhafte Rezidivfreiheit.
Diagnostik. Die Diagnose ist aufgrund der klassischen Symptomatik klinisch problemlos möglich. Es finden sich kleine stecknadelkopfgroße, aber äußerst schmerzhafte Weichteilveränderungen, meist subungual an den Fingerendgliedern (⊡ Abb. 61.20). Neben der Druckschmerzhaftigkeit findet sich auch eine ausgesprochene Kälteempfindlichkeit. In 25% der Fälle sind Tumore an mehreren Lokalisationen vorhanden. Mit den Hochfrequenzultraschallköpfen, wie sie für die Hand genutzt werden (8.000–20.000 MHz),
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Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
kann man die Läsionen darstellen. In Problemfällen sind T2gewichtete MRT-Untersuchungen sinnvoll.
⊡ Tab. 61.8 Einteilung von Weichteilsarkomen nach dem Ursprungsgewebe
Therapie. Die Therapie besteht in der Exzision des Tumors unter
Ursprungsgewebe
Tumorart
Bindegewebe
Fibrosarkom
der Mitnahme einer Spindel des Nagelbetts. Der Fingernagel muss hierfür entfernt werden und wird postoperativ zur Schienung wieder aufgelegt. Die Rezidivrate ist bei vollständiger Entfernung gering. 61.2.3
Bösartige Weichteiltumore
Synonym. Weichteilsarkom, Weichgewebesarkom, maligner Weichteiltumor, maligner Weichteilgewebetumor. Sie zeichnen sich durch ein heterogenes biologisches Verhalten, histologische Erscheinungsvielfalt, Unterschiede in Aggressivitätsgrad, zytogenetische Merkmale, Ansprechraten auf Chemotherapeutika, Strahlensensibilität, Metastasierungsmuster und Lokalrezidivraten aus.
Epidemiologie. Die Weichgewebssarkome definieren eine inhomogene Gruppe von Tumoren, die weniger als 1% aller bösartigen Neubildungen beim Erwachsenen und etwa 6% im Jugendalter ausmachen. Sie können in jedem Teil des Körpers auftreten, haben aber ein topografisches Verteilungsmuster mit einer dominanten Lokalisation in der unteren Extremität mit etwa 35% und einer weiteren prozentualen Verteilung wie folgt: obere Extremität (15%), Eingeweide (15%), retroperitonial (14%), und Stamm (10%). Die meisten Tumore sitzen proximal.
Diagnostik. Die schlussendliche Diagnostik erfolgt an der Histo-
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logie. Bei unklaren Weichteiltumoren ist somit die Indikation zur Biopsie großzügig zu stellen. Bei gut abgrenzbaren Tumoren mit einer Pseudokapsel und einer Größe >3,5 cm kann an eine Exzisionsbiopsie gedacht werden. Bei unzugänglichen oder größeren Tumoren erfolgt die Biopsie mittels Inzsionsbiopsie. Das Staging der Tumore erfolgt maßgeblich durch das MRT für die differenzierte Darstellung des Primärtumors. Die Sonografie und das CT haben hier ergänzende Aussagekraft, reichen aber alleine nicht aus. Das weitere Staging umfasst neben der körperlichen Untersuchung, eine Thoraxröntgenaufnahme in 2 Ebenen bzw. ein CT der Lunge, die Hauptsitz der Metastasen ist. Eine Sonografie des Abdomens und ggf. der regionalen LK-Stationen sollte ebenfalls erfolgen.
Juveniles Fibrosarkom Fibrohistiozytäre Tumore
Malignes fibröses Histiozytom (MFH)
Fettgewebe
Liposarkom
Vaskuläre Tumore
Angiosarkom
Atypisches Fibroxanthom
Karposisarkom Muskelgewebe
Rhabdomyosarkom Leiomyosarkom
Synoviale Tumore
Synovialsarkom
Nervengewebe
Maligner peripherer Nervenscheidentumor
Unklares Ursprungsgewebe
Epitheloidzelliges Sarkom Klarzellsarkom
⊡ Tab. 61.9 TNM-Klassifikation der Weichteilsarkome nach UICC (1987) T-Klassifikation
Tumorausdehnung
T0
Kein Anhalt für Primärtumor
T1
Tumor 5 cm oder kleiner
T2
Tumor größer 5 cm
T3
Jede Tumorgröße, klinisch oder radiologisch Befall von Knochen, größeren Gefäßen oder Nerven
N-Klassifikation
Lymphknotenbefall
N0
Keine regionären Lymphknoten
N1
Befall regionärer Lymphknoten
M-Klassifikation
Fernmetastasen
M0
Keine Fernmetastasen
M1
Fernmetastasen
Klassifikation. Weichteiltumore werden nach der Histologie ihres Ursprungsgewebes unterschieden. Durch die immer differenziertere immunhistochemische und jetzt auch genetische Aufarbeitung der histologischen Präparate werden mittlerweile über 140 verschiedene Entitäten der Weichteiltumore unterschieden (⊡ Tab. 61.8; ⊡ Tab. 61.9). Mitentscheidend für die Prognose eines Weichteilsarkoms ist das histologische Bild bezüglich der Mitoserate, Nekrosen und der zellulären Differenzierung. Es gibt unterschiedliche Systeme zur Einteilung der Malignitätsgraduierung. In der aktuellen TNM-Klassifikation wird nur noch zwischen Low- und High-Grade-Tumoren unterschieden. Ein in Europa zunehmend angewandtes System stammt von der French Federation of Cancer Centres (FNCLCC; ⊡ Tab. 61.10) Ein weiteres Malignitätsgrading nach der UICC kennt 4 Malignitätsgrade, die für eine Stadieneinteilung herangezogen wird:
Grading von Weichteilsarkomen nach UICC (1997)
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
GX: Differenzierungsgrad kann nicht bestimmt werden G1: gut differenziert, geringer Malignitätsgrad G2: mässig differenziert, mittlerer Malignitätsgrad G3: schlecht differenziert, hoher Malignitätsgrad G4: undifferenziert, hoher Malignitätsgrad
Spezielle Techniken Probeexzision. Die korrekte Durchführung der Probeexzision ist entscheidend für die weitere Prognose des Patienten. Eine aussagefähige histopathologische Untersuchung erfordert eine repräsentative Gewebemenge von mindestens 2 cm3 aus randständigen Tumorarealen, da zentrale Anteile oft Nekrosen aufweisen. Stanzbiopsien können vergleichbare diagnostische Ergebnisse erbringen, sind
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1745 61.2 · Spezielle Techniken
⊡ Tab. 61.10 Score für die Tumordifferenzierung im FNCLCC-System Histologischer Typ Score 1
Gut differenziertes Liposarkom Gut differenziertes Fibrosarkom
Gut differenziertes Leiomyosarkom
Score 2
Myxoides Liposarkom Konventinelles Fibrosarkom Myxofibrosarkom
Konventionelles Leiomyosarkom Malignes fibröses Histiozytom mit storiformem Muster
Score 3
Rundzelliges Liposarkom Pleomorphes Liposarkom Entdifferenziertes Liposarkom Schlecht differenziertes Fibrosarkom Mesenchymales Chondrosarkom Osteosarkom Ewing-Sarkom/PNET Synoviales Sarkom
MFH ohne Wachstumsmuster Riesenzellhaltiges MFH Inflammatorisches MFH Schlecht differenziertes Leiomyosarkom Pleomorphes Leiomyosarkom Epitheloides Leiomyosarkom Rhabdomyosarkom (embryonal oder alveolär)
Einzelscores Score
Tumordifferenzierung (s. auch oben)
Tumornekrosen
Mitosen SFZ 18
SFZ 20
SFZ 25
0
-
keine
-
-
-
1
Ausgeprägte Ähnlichkeit mit adultem Gewebe
50%
10–19
11–22
14–27
3
Schlechte Differenzierung oder unsicherer histologischer Typ
-
≥20
≥22
≥27
Summenscores
Summenscore
Grad 1
Grad 2
Grad 3
2–3
4–5
6–8
die Tumorhöhle mit Klipps zu markieren, um für eine im Verlauf notwendige Nachresektion Referenzpunkte zu haben
⊡ Tab. 61.11 Stadieneinteilung der Weichteilsarkome Stadium
Grading
T-Klassifikation
N-Klassifikation
M-Klassifikation
IA
G1,2
T1a/b
N0
M0
IB
G1,2
T2a/b
IIA
G3,4
T1a/b
IIB
G3,4
T2a
III
G3,4
T2b
IV
jedes G
jedes T
N1
M0
jedes G
jedes T
jedes N
M1
aber spezialisierten onkologischen Zentren vorbehalten. Schon bei der Probeexzision muss Rücksicht auf mögliche plastische Weichteildeckungen genommen werden. Auch sollte die Schnittführung den Lymphabfluss beachten. Die Mitnahme der Hautspindel erfolgt direkt über dem Tumor. Bei liquiden Anteilen im Biopsiegebiet sollten diese über Stichinzisionen zuvor abgesaugt werden, damit es zu keiner Tumorzellenaussaat durch versehentliches Eröffnen und Ergießen in die umliegenden Weichteile kommt. Es ist auf eine peinlich genaue Blutstillung zu achten, um eine Hämatombildung zu vermeiden. Auch das Ausstechen der Redon-Drainage sollte unmittelbar am Wundrand erfolgen, um eine weiter Tumorverschleppung zu vermeiden. Bei einer Inzisionsbiopsie empfiehlt es sich
Tumorresektion. Ist in der histologischen Aufbereitung das Sarkom bestätigt und in Referenzpathologie der Befund überprüft, besteht die Therapie der Wahl in der Exzision des Tumors mit ausreichendem Sicherheitsabstand. Eine weite Exzision mit einem Sicherheitsabstand von 4–5 cm zur Seite und 2 cm in der Tiefe wird heute als ausreichend angesehen, stößt aber an der Hand an funktionserhaltende Grenzen. Die radikale Resektion sollte kompartmentorientiert mit mindestens einer gesunden Faszienhüllschicht um den Tumor angestrebt werden, wobei auch Epineurektomie, Adventitiadissektion und Perioststripping als Hüllschichten akzeptiert werden können. Das Konzept der Kompartmentresektion, von Enneking in Anlehnung an die Osteosarkomchirurgie etabliert, lässt sich für Weichteilsarkome nicht sinnhaft umsetzen und bringt auch keinen nachgewiesenen Vorteil bei deutlich höherer Komorbidität. An der Hand lassen sich die genannten Sicherheitsabstände ebenfalls nicht einhalten. Hier empfiehlt sich die Resektion zur nächsten anatomischen Grenzzone. Additive Therapieoptionen beinhalten die Radiatio, Extremitätenperfusion und systemische Chemotherapie. Amputationen können indiziert sein, wenn eine R0-Resektion nicht zu erreichen ist. Ursächlich können Tumorinfiltrationen von Gelenken, mehrerer Kompartmente und Nerven sein, die nach einer R0-Resektion eine funktionslose Extremität hinterlassen würden. Ferner können Amputationen unter palliativer Intention bei Tumorexulzeration, nicht beherrschbarer Tumorblutung, drohender Sepsis oder zur Verbesserung der Pflege bzw. Lebensqualität gerechtfertigt sein.
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Kapitel 61 · Tumore im Bereich der Hand
Bindegewebe Dermatofibrosarkoma protuberans Allgemeines. Der Tumor zeichnet sich durch sein lokal aggressives Wachstum mit hoher Rezidivneigung aus. Metastasen sind selten. Epidemiologie. Er betrifft meist Patienten um das 40. Lebensjahr, wobei Männer und Frauen gleich häufig betroffen sind. Ätiologie. Unklar. Diagnostik. Die sichere Diagnostik des Tumors ist nur histologisch möglich. Die äußere Erscheinung zeigt einen derben Tumor der Haut und Unterhaut, der meist hautfarben ist. Hauptlokalisation sind die stammnahen Extremitäten und der Körperstamm. Das Auftreten an der Hand ist eine Rarität.
Während das embryonale Rhabdomyosarkom je nach histologischem Subtyp eine gute Prognose hat (5-Jahres-Überlebensrate 66–90%), sind die Prognosen für das alveoläre und das pleomorphe Sarkom deutlich schlechter (5-Jahres-Überlebensrate >55%). Bei den Rhabdomyosarkomen der Hand ist der alvoeläre Typ sehr viel häufiger vertreten.
Indikationen und Differenzialtherapie. Ziel der Therapie ist extremitätenerhaltende R0-Resektion. Obwohl die Tumoren an der Hand deutlich unter 5 cm sind, finden sich oftmals schon Metastasen, was die Prognose deutlich verschlechtert. Therapie. Die besten Heilungsaussichten hat die weite En-blocResektion. Die Wertigkeit einer zusätzlichen Chemotherapie oder Nachbestrahlung ist nicht gesichert.
Therapie. Radikale Exzision des Tumors mit mikrografischer Kon-
Fehler, Gefahren und Komplikationen. Der Tumor kann initi-
trolle der Schnittränder mit einem Sicherheitsabstand von 3–5 cm.
al mit einem Hämatom oder Abszess verwechselt werden.
Fibrosarkom
Fettgewebe Liposarkom
Epidemiologie. Nur etwa 1–3% aller Fibrosarkome manifestieren sich an der Hand. Der Altersgipfel ist um das 30.–60. Lebensjahr.
Ätiologie. Der Tumor entsteht aus dem Bindegewebe und kann als primärer kutanes Fibrosarkom aus atrophischen Narben hervorgehen.
Epidemiologie. Nach dem malignen Fibrohistiozytom ist das Liposarkom das zweithäufigste Weichteilsarkom. An der oberen Extremität ist es eher selten zu finden (11%). An der Hand ist es selbst eine Rarität, sodass nur Einzellfallberichte vorliegen. Diagnostik. Hinweise für ein Liposarkom finden sich im MRT. Hier
Diagnostik. Klinisch fällt der Tumor durch sein rasches Wachs-
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tum als derber auf dem Untergrund verbackener schmerzloser Knoten auf. Es kann zu Ulzeration der Haut kommen. Im MRT stellt sich der kollagenfaserreiche Tumor auf allen Sequenzen signalarm da.
Klassifikation. Unterscheiden wird das Fibrosarkom und das juvenile Fibrosarkom, welches beim Neugeborenen auftreten kann und Ähnlichkeiten zur aggressiven Fibromatose aufweist.
Therapie. Die kurative Therapie des wenig strahlensensiblen Tumors liegt in der operativen Behandlung. Der Sicherheitsabstand sollt im Sinne einer »wide excision« mit 2–3 cm erfolgen. An der Hand kann dies auch durch eine Strahlamputation erfolgen.
kann man neben den Adipozyten eine Zunahme dicker Septen mit kleineren Knötchen sehen, die Kontrastmittel anreichern. Der Malignitätsgrad ist umgekehrt proportional zum Fettgehalt des Tumors.
Klassifikation. ▬ Hochdifferenziertes Liposarkom (Fettgehalt >75%), ▬ myxoides Liposarkom (Fettgehalt