H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 2 Psychopathologisc...
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H.-L. Kröber z D. Dölling z N. Leygraf z H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 2 Psychopathologische Grundlagen und Praxis der Forensischen Psychiatrie im Strafrecht
H.-L. Kröber D. Dölling N. Leygraf H. Saß (Hrsg.)
Handbuch der Forensischen Psychiatrie Band 2 Psychopathologische Grundlagen und Praxis der Forensischen Psychiatrie im Strafrecht
12
Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 12203 Berlin
Prof. Dr. med. Norbert Leygraf Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen LVR-Klinikum Essen Virchowstraße 174 45147 Essen
Prof. Dr. jur. Dieter Dölling Institut für Kriminologie Juristische Fakultät Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Friedrich-Ebert-Anlage 6–10 69117 Heidelberg
Prof. Dr. med. Henning Saß Universitätsklinikum Aachen Ärztlicher Direktor Pauwelsstraße 30 52074 Aachen
ISBN 978-3-7985-1447-8 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH, ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Redaktion: Dr. Maria Magdalene Nabbe, Ines Marberg, Heidrun Schoeler Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Satz: K + V Fotosatz GmbH, Beerfelden Druck und Bindung: Stürtz GmbH, Würzburg SPIN 10931998
80/7231-5 4 3 2 1 0 – Gedruckt auf säurefreiem Papier
Vorwort
Forensische Psychiatrie wird, bei zunehmend weiteren Anforderungen, bis in die Gegenwart bestimmt durch die grundlegende Aufgabe, das psychisch Abnorme, das charakteristisch Psychopathologische am Gegenstand des rechtlich zu ahndenden sozialen Verhaltens dem Juristen, aber auch der Öffentlichkeit zu verdeutlichen und in seinen Auswirkungen auf Einstellungen, Denkmuster und Handlungen zu beschreiben. Der psychisch gestörte, zumindest psychisch auffällige Straftäter steht also im Zentrum der Forensischen Psychiatrie, die sich gleichwohl in vielen Einzelfällen davon zu überzeugen hat, dass der aktuell Beschuldigte ein ganz normaler Straftäter ist oder aber, trotz der Ungewöhnlichkeit seines Delikts, seelisch gesund und in seiner sozialen Verantwortlichkeit nicht beeinträchtigt. Dieser Band 2 des Handbuchs behandelt das klassische Themengebiet der Forensischen Psychiatrie, nämlich die Schuldfähigkeitsbeurteilung, ausgehend von den psychopathologischen Grundlagen des Faches. Dabei gehen wir in traditioneller Weise von den klassischen psychiatrischen Krankheitsbildern, Persönlichkeitsstörungen, Paraphilien und Anpassungsstörungen aus. Da gerade auch im psychiatrischen Alltagsgeschäft eine nicht geringe Tendenz besteht, Psychopathologie massiv zu verkürzen auf die Kriterienlisten der diagnostischen Manuale, haben sich Paul Hoff und Henning Saß der Aufgabe unterzogen, im ausführlichen Einleitungskapitel dem Band eine psychopathologische Grundlage zu verschaffen, auf die man beim Studium der weiteren einzelnen Kapitel zurückgreifen kann, die aber auch der Vertiefung und Auffrischung entsprechenden Wissens dienen kann. Die einzelnen psychiatrischen Störungsbilder werden dann gruppiert verhandelt in Zuordnung zu den vier in § 20 StGB genannten Eingangskriterien verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit, also „krankhafte seelische Störung“, „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“, „Schwachsinn“, „schwere andere seelische Abartigkeit“. Bei diesen Bezeichnungen handelt es sich nicht um psychiatrische Diagnosen, sondern um Rechtsbegriffe, denen dann psychiatrisch erfasste und beschriebene Sachverhalte zuzuordnen sind. Da Sucht und Abhängigkeit in Bezug
VI
z
Vorwort
auf mehrere dieser Kategorien bedeutsam sind, werden sie in einem eigenen Kapitel erörtert. Es folgen darauf grundlegende Beiträge zu den weiteren zentralen Aufgaben in foro, nämlich die Begutachtungen zum Entwicklungsstand von Jugendlichen und Heranwachsenden sowie das Feld der Begutachtungen zur Verhandlungs-, Vernehmungsund Haftfähigkeit. Mit Renate Volbert, Max Steller und Anett Galow konnten renommierte Autoren für das Kapitel über die aussagepsychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung gewonnen werden. Der Band wird beschlossen mit einem Blick auf die Forensische Psychiatrie in den deutschsprachigen Nachbarländern: Thomas Stompe und Hans Schanda beschreiben die Vorgaben für die Forensische Psychiatrie in Österreich, Volker Dittmann und Kollegen erläutern die Schweizer Situation. Mit diesem Band liegt nunmehr das Handbuch der Forensischen Psychiatrie vollständig vor, von dem zuerst 2006 der Band 3 über Kriminalprognose und Kriminaltherapie und anschließend die Bände 1 (juristische Grundlagen), 4 (klinische Kriminologie) und 5 (Zivil- und Öffentliches Recht) erschienen sind. Es war unser Bestreben, die große Tradition der deutschsprachigen Handbücher auf diesem Gebiet fortzuschreiben, die mit dem ersten Handbuch der Gerichtlichen Psychiatrie 1901 (herausgegeben von Hoche, bearbeitet u. a. von G. Aschaffenburg und H. W. Gruhle) begründet wurde und zuletzt 1972 mit dem zweibändigen, von Göppinger und Witter herausgegebenen Werk ihren vorläufigen Höhepunkt hatte. Die Leserschaft möge beurteilen, inwieweit dieses ehrgeizige Ziel erreicht worden ist. Im Oktober 2010
H.-L. Kröber, Berlin D. Dölling, Heidelberg N. Leygraf, Essen H. Sass, Aachen
Inhaltsverzeichnis
1
Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . .
1
P. Hoff, H. Saß 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 1.4.7 1.4.7.1 1.4.7.2 1.4.7.3 1.4.7.4 1.4.7.5 1.4.7.6 1.4.7.7
Einführung: Warum überhaupt psychopathologische Grundlagen? . . . . . . . . . . . . . . . .
1
Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff sowie deren Bedeutung für die forensische Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychiatrischer Krankheitsbegriff . . . . . . . . . . . Psychiatrische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur forensischen Relevanz seelischer Störungen
3 3 4 14 30
Spezielle Psychopathologie: Symptome und Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Psychiatrische Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . Organisch begründbare psychische Störungen . . Abhängigkeitserkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . Schizophrenie und verwandte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essstörungen, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Ideengeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historische Entwicklung des Borderline-Bereichs Persönlichkeitsstörungen in den modernen Diagnosesystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu den einzelnen Persönlichkeitsstörungen . . . .
52 52 60 71 85 97 106 111 111 112 114 117 118 119 122
VIII
z
Inhaltsverzeichnis
1.4.7.8 1.4.8 1.4.9 1.4.10
Schlussbemerkung . . . . Entwicklungsstörungen Intelligenzminderung . Sonstige Störungsbilder
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
141 142 143 144
1.5 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147 147
2
Praxis der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
2.1
Die psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H.-L. Kröber
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4
Gegenstandsgebiet der forensischen Psychiatrie . Zweischrittige Beurteilung von „Fähigkeiten“ . . Zweischrittige Prüfung der Schuldfähigkeit . . . . Mindeststandards in der Schuldfähigkeitsund Prognosebegutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5 Praktisch-handwerkliche Mindestanforderungen 2.1.6 Mindestanforderungen der Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Persönlichkeitsstörungen oder sexueller Devianz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.7 Begutachtung nicht deutschsprachiger Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2
Gegenstandsbereiche und Methodik der psychologischen Begutachtung . . . . . . . . . . M. Steller
2.2.1 2.2.2
157 157 158 160 164 165 173 177 184 185
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegenstandsbereiche forensisch-psychologischer Begutachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Methodik: hypothesengeleitete Begutachtung . . . 2.2.4 Qualitätssicherung in der forensisch-psychologischen Begutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202 209
3
Das Schuldfähigkeitsgutachten . . . . . . . . . . . .
213
3.1
Schuldfähigkeit bei krankhaften seelischen Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Lau, H.-L. Kröber
213
3.1.1
Überdauernde organisch bedingte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185 187 193
214
Inhaltsverzeichnis
Basale Symptomatik organisch bedingter Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.2 Psychopathologische Vieldeutigkeit . . . . . . . 3.1.1.3 Infektionskrankheiten und Folgekrankheiten 3.1.1.4 Demenzerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.5 Wesensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1.6 Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
z
3.1.1.1
3.1.2
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . . . . .
214 215 216 217 220 222 225
Passagere organisch bedingte psychische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Wendt
227
3.1.2.1 Unspezifische hirnorganische Syndrome . . . . . . 3.1.2.1.1 Akute organische Psychosyndrome mit Bewusstseinsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1.2 Akute organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1.3 Vorübergehende psychopathologische Syndrome der Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.2 Metabolische Erkrankungen und Medikamentenwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Alkoholrausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Wendt, H.-L. Kröber
227
3.1.2.3.1 Charakteristika des Alkohols . . . . . . 3.1.2.3.2 Bewertung der Alkoholisierung und diagnostische Einordnung . . . . . . . . 3.1.2.3.3 Psychodiagnostische Beurteilung des Alkoholisierungsgrades . . . . . . . 3.1.2.4 Drogenrausch . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Wendt
.........
241
.........
245
......... .........
250 258
3.1.2.4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4.2 Forensische Aspekte des Drogengebrauchs 3.1.2.4.3 Drogenassoziierte Phänomene und ihre Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.4.4 Charakteristika psychotroper Substanzen . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232 234 237 240
.... ....
258 259
.... .... ....
260 271 306
3.1.3
Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis H.-L. Kröber, S. Lau
3.1.3.1 3.1.3.2 3.1.3.3
Krankheitsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter Theorien zur Verursachung der Straffälligkeit Schizophrener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beurteilung der Schuldfähigkeit Schizophrener
3.1.3.4
228
312 . .
312 313
. .
321 327
IX
X
z
Inhaltsverzeichnis
3.1.4
Affektive Störungen: Depression, Manie . . . . . . H.-L. Kröber, S. Lau
333
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
3.2
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung . . . . . . . . . . H. Saß
343
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsbegriff und Krankheitsbegriff . . . . . . . . . Die psychopathologische Beurteilungsnorm für die Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1.3 Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung im psychopathologischen Referenzsystem . . . . . 3.2.2 Zur forensischen Beurteilung der Affektdelikte . 3.2.2.1 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Deskriptive und strukturelle Merkmale von Affektdelikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.3 Dialogisches Vorgehen bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Zur Diskussion des psychopathologischen Lösungsvorschlages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Grundsätzliche Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Empirisch-statistische Überprüfungen . . . . . . . . 3.2.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343 344
3.2.1 3.2.1.1 3.2.1.2
3.3
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5
Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M. Lammel
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Graduierung der Intelligenzminderung . . . . . . . Intelligenzminderung und andere Störungen . . . Phänomenologie der leichten Intelligenzminderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.6 Intelligenzminderung als „Schwachsinn“ im Sinne des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.7 Kriminologische Bedeutung des Schwachsinns . 3.3.8 Auswirkung des Schwachsinns auf Einsichtsfähigkeit und Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.9 Auswirkung des Schwachsinns auf Steuerungsfähigkeit und Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347 348 349 349 350 362 364 364 365 367 369 372 372 375 385 388 393 396 398 413 426 437
Inhaltsverzeichnis
3.4 3.4.1
Schuldfähigkeit bei „schwerer anderer seelischer Abartigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. C. Herpertz, H. Saß
3.4.1.1 3.4.1.2
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ideengeschichte des Konzeptes Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.3 Aktuelles diagnostisches Konzept der Persönlichkeitsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.4 Allgemeine Richtlinien für die Begutachtung von Straftätern mit Persönlichkeitsstörungen . . 3.4.1.5 Forensisch relevante Typen von Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1.6 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die forensische Anwendung . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2
Schuldfähigkeitsbegutachtung bei sexuellen Deviationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Elsner, N. Leygraf
3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3
Einleitung und Terminologie . . . . . . . . . . . . . Heterogenität der Gruppe der Sexualstraftäter Die strafrechtlich relevanten sexuellen Deviationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.4 Deliktorientierte Typologien . . . . . . . . . . . . . 3.4.2.5 Die Quantifizierung der Störung . . . . . . . . . . 3.4.2.6 Tatrelevante Auswirkungen der Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit . . 3.4.2.7 Praktische Aspekte der Schuldfähigkeitsbegutachtung von Sexualstraftätern . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3
3.4.4.1 3.4.4.2
443 443 443 444 445 446 451 466 467 472
.. ..
472 475
.. .. ..
480 490 497
..
501
.. ..
502 504
Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen N. Leygraf
507
3.4.3.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3.2 Akute Belastungsreaktion . . . . . . . . 3.4.3.3 Posttraumatische Belastungsstörung 3.4.3.4 Anpassungsstörungen . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4
z
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
507 507 508 510 513
Störungen der Impulskontrolle und süchtiges Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . N. Leygraf
514
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathologisches Stehlen (Kleptmonanie) . . . . . . .
514 517
XI
XII
z
Inhaltsverzeichnis
3.4.4.3 3.4.4.4 3.4.4.5 3.4.4.6
Pathologisches Spielen . . . . . . . . . . . . . . . Pathologische Brandstiftung (Pyromanie) Intermittierende Explosible Störung . . . . Nicht stoffgebundende Abhängigkeiten (Verhaltenssüchte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5
..... ..... .....
522 527 530
..... .....
531 534
Die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei substanzgebundener Abhängigkeit . . . . . . . N. Schalast, N. Leygraf
536
3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akuter Rausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charakteristika einer Substanzabhängigkeit . . . Persönlichkeitsveränderungen – Sucht als psychopathologische Entwicklung . . . . . . . . 3.5.5 Psychiatrische Folgekrankheiten eines chronischen Suchtmittelgebrauchs . . . . . . 3.5.6 Verschiedene Substanzgruppen . . . . . . . . . . . . . 3.5.7 Gesichtspunkte der Schuldfähigkeitsbegutachtung bei Substanzabhängigkeit und Folgestörungen . 3.5.8 Dimensionen der Begutachtung substanzabhängiger Beschuldigter . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.9 Verantwortlichkeit für einen Vollrausch gemäß §323a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.10 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4
Das Gutachten zu Strafmündigkeit und Entwicklungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . .
536 537 538 541 542 544 553 554 556 557 558
561
M. Günter, M. Karle 4.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
561
4.2 4.2.1 4.2.2
Strafrechtliche Verantwortlichkeit (§3 JGG) . . . Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . Probleme und Vorgehen bei der Begutachtung .
567 567 574
4.3
Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende (§105 JGG) . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologische Grundlagen . . . . . . Probleme und Vorgehen bei der Begutachtung .
581 581 584
Begutachtung des Entwicklungsstandes nach §43 Abs. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
592 594
4.3.1 4.3.2 4.4
Inhaltsverzeichnis
5 5.1
Das Gutachten zur Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeit . . . . . . . . . . Verhandlungsfähigkeit, Vernehmungsfähigkeit, Haftfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Schöch
5.1.1 Verhandlungsfähigkeit 5.1.1.1 Voraussetzungen . . . . 5.1.1.2 Rechtsfolgen . . . . . . . 5.1.2 Vernehmungsfähigkeit 5.1.2.1 Voraussetzungen . . . . 5.1.2.2 Rechtsfolgen . . . . . . . 5.1.3 Haftfähigkeit . . . . . . . 5.1.3.1 Gewahrsamsfähigkeit . 5.1.3.2 Haftfähigkeit . . . . . . . 5.1.3.3 Vollzugstauglichkeit . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2
Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeit: Anmerkungen aus psychiatrischer Sicht . . N. Leygraf
615
6
. . . .
. . . . . . . . . . .
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601
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5.2.1 Verhandlungsfähigkeit 5.2.2 Vernehmungsfähigkeit 5.2.3 Haftfähigkeit . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . .
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615 618 619 621
Das Glaubhaftigkeitsgutachten . . . . . . . . . . . .
623
R. Volbert, M. Steller, A. Galow 6.1
Aussagepsychologische Fragestellungen . . . . . .
623
6.2 6.2.1
Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwicklungspsychologisch bedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit . . . . Psychopathologisch bedingte Beeinträchtigungen der Aussagetüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
624
6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.1.1 6.3.1.2 6.3.1.3
Glaubhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erlebnisentsprechende versus erfundene Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussagequalität: Unterschiede zwischen wahren und erfundenen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . Aussagekonstanz: Unterschiede zwischen wahren und erfundenen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . Fähigkeit zu täuschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
625 627 630 631 631 642 648
XIII
XIV
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Inhaltsverzeichnis
6.3.1.4 6.3.2 6.3.2.1 6.3.2.2 6.3.3 6.3.3.1
Motivationale Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . Erlebnisentsprechende versus suggerierte Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie kommt es zu subjektiv wahren, aber nicht erlebnisentsprechenden Aussagen? . . . . . . . . . . . Aussagequalität und Aussagekonstanz: Unterschiede zwischen erlebnisentsprechenden und suggerierten Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . Methodisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung
6.3.3.2 6.3.3.3 6.3.3.4 6.3.4
Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik . . . . . Exploration zur Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neue Entwicklungen: Zur Bedeutung neuropsychologischer Erkenntnisse für die Glaubhaftigkeitsbegutachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.1 Neuropsychologische Erkenntnisse zur Unterscheidung erlebnisbasierter von erfundenen Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4.2 Neuropsychologische Erkenntnisse zur Unterscheidung erlebnisbasierter von suggerierten Aussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 7.1
7.1.1 7.1.2 7.1.2.1 7.1.2.2
Forensische Psychiatrie im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strafrechtliche Aspekte der forensischen Psychiatrie in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . V. Dittmann, M. Graf
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begutachtung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . Schuldfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtspolitische Tendenzen bei strafrechtlichen Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.3 Therapeutische Maßnahmen und Verwahrung, Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.4 Maßnahmen für junge Erwachsene . . . . . . . . . . 7.1.2.5 Verwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.6 Fachkommissionen zur Beurteilung gefährlicher Straftäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2.7 Nachträgliche Änderung der Sanktion, Entlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
649 650 650 660 662 662 664 666 667 671 671 676 680
691 691 691 692 692 695 696 698 698 699 700 702
Inhaltsverzeichnis
7.2
7.2.1 7.2.2 7.2.3
Strafrechtliche Aspekte der forensischen Psychiatrie in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . T. Stompe, H. Schanda
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Unterbringung und Behandlung psychisch kranker und gestörter Rechtsbrecher 7.2.4 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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702
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702 704
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709 714 715
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
717
XV
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Volker Dittmann Forensisch-Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken UPK Wilhelm Klein-Strasse 27 CH-4012 Basel Schweiz
Prof. Dr. med. Michael Günter Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universitätsklinik Tübingen Osianderstraße 14 72076 Tübingen
Dipl.-Psych. Klaus Elsner Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen LVR-Klinikum Essen Virchowstraße 174 45147 Essen
Prof. Dr. med. Sabine C. Herpertz Klinik für Allgemeine Psychiatrie Zentrum für Psychosoziale Medizin Universität Heidelberg Voßstraße 2 69115 Heidelberg
Dipl.-Psych. Anett Galow Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 13437 Berlin Dr. med. Marc Graf Forensisch-Psychiatrische Klinik Universitäre Psychiatrische Kliniken UPK Wilhelm Klein-Strasse 27 CH-4012 Basel Schweiz
Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für Soziale Psychiatrie und Allgemeinpsychiatrie ZH West Lenggstrasse 31 CH-8032 Zürich Schweiz Dr. med. Dipl.-Psych. Michael Karle Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universitätsklinik Tübingen Osianderstraße 14 72076 Tübingen
XVIII
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Autorenverzeichnis
Prof. Dr. med. Hans-Ludwig Kröber Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 13437 Berlin Dr. med. habil. Matthias Lammel Sachverständigenbüro Geneststr. 5 10829 Berlin Dr. med. Steffen Lau Forensisch-Psychiatrischer Dienst Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Lenggstrasse 31 CH-8032 Zürich Schweiz Prof. Dr. med. Norbert Leygraf Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen LVR-Klinikum Essen Virchowstraße 174 45147 Essen Prof. Dr. med. Henning Saß Klinik für Psychiatrie u. Psychotherapie Klinikum der RWTH Aachen Pauwelsstraße 30 52074 Aachen Dr. rer. nat. Norbert Schalast Dipl.-Psychologe Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen LVR-Klinikum Essen Virchowstraße 174 45147 Essen
Prof. Dr. med. Hans Schanda Justizanstalt Göllersdorf Schlossgasse 17 A-2013 Göllersdorf Österreich Prof. Dr. Heinz Schöch Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften LMU München Prof.-Huber-Platz 2 80539 München Prof. Dr. phil. Max Steller Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 13437 Berlin Prof. Dr. med. Thomas Stompe Justizanstalt Göllersdorf Schlossgasse 17 A-2013 Göllersdorf Österreich Prof. Dr. phil. Renate Volbert Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 13437 Berlin Dr. med. Frank Wendt Institut für Forensische Psychiatrie der Charité – Universitätsmedizin Berlin Oranienburger Str. 285 (Haus 10) 13437 Berlin
1 Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie P. Hoff, H. Saß
1.1
Einführung: Warum überhaupt psychopathologische Grundlagen?
War es früher für systematische psychiatrische Darstellungen auch und gerade mit Blick auf forensische Fragen selbstverständlich, dass psychopathologische Aspekte einen zentralen Stellenwert erhalten, so ist dies heute nicht mehr der Fall. Die Psychopathologie ist in der psychiatrischen Forschung und Klinik des 21. Jahrhunderts keineswegs mehr unumstritten. Kritische Stimmen haben eingewandt, dass eine rein beschreibende Psychopathologie spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts mit dem Werk von Kurt Schneider, dem Heidelberger Psychiater, an einen Endpunkt gelangt sei. Durch replizierende Beschreibung sei in Zukunft nichts Neues mehr zu erwarten. Insofern könne die Psychopathologie nur schwerlich eine inhaltliche Richtschnur für die psychiatrische Forschung auch mit Blick auf forensische Fragestellungen abgeben. Des Weiteren hielt man psychopathologischen Befunden entgegen, sie seien nur schlecht objektivierbar, woran auch die zwischenzeitlich weit vorangeschrittene Standardisierung der Befunderhebung und die damit in unmittelbarem Zusammenhang stehende, deutlich verbesserte Reliabilität (Zuverlässigkeit) der Befunderhebung nichts geändert habe. Insoweit komme dem psychopathologischen Befund auch und gerade in foro, wo ja erhebliche Konsequenzen sowohl für den Angeschuldigten als auch für die Gesellschaft zur Diskussion stehen, nicht ein solcher Grad von Objektivität zu, wie dies bei naturwissenschaftlichen Messwerten der Fall sein könne. Aus diesem Grund wiederum müsse in der forensischen Forschung zunehmend solchen Befunden Beachtung geschenkt werden, die klar messbar und replizierbar seien und bei denen der subjektive Anteil besonders gering sei (Kröber 2007). Am radikalsten hat der sogenannte eliminative Materialismus diese Kritik vertreten. Autoren dieser Richtung gehen davon aus, dass wir es bei den gebräuchlichen psychopathologischen Begriffen, aber auch bei denjenigen der psychologischen Umgangssprache letztlich mit Übergangslösungen zu tun haben, etwa in Gestalt von Begriffen wie Psyche, Persönlichkeit, Intention, Willensentscheidung, persönliche Verantwortlichkeit, um nur einige markante Beispiele zu nennen. In Zukunft sei damit zu rechnen, dass derartige Begriffe, die die Autoren spöttisch in den Bereich der „Volkspsychologie“ („folk psychology“) verweisen, in vollem Umfang durch neuro-
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1 Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie
biologische Sachverhalte ersetzt werden könnten. In absehbarer Zukunft könne die „volkspsychologische“ Sprache dann eben durch eine neurowissenschaftliche ersetzt und somit „eliminiert“ werden. Aus forensisch-psychiatrischer Warte wurde vor allem von Rasch (1986), aber auch von anderen kritisch eingewandt, dass der auf der klinischen Psychopathologie basierende psychiatrische Krankheitsbegriff für die forensische Anwendung viel zu eng sei, zu sehr auf klinische Sachverhalte abhebe. Er ignoriere die spezielle biographische und vor allem die soziale Dimension des Menschen, die wiederum gerade im Vorfeld von Delikten und bei der Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit die entscheidende Rolle spiele. Rasch forderte in Erweiterung der psychopathologischen Perspektive im engeren Sinne einen „strukturell-sozialen Krankheitsbegriff“, der diesem Defizit Rechnung tragen könne (Saß 1985; Saß 2008). In kritischer Auseinandersetzung mit dieser Position erfolgte der Vorschlag eines umfassenden psychopathologischen Referenzsystems, das als Prototyp für Schuldfähigkeit und Ausgangspunkt für Schweregradsabstufungen das klinische Wissen im Kernbereich der psychiatrischen Krankheiten und hier insbesondere der Psychosen nutzt (Saß 1985, 1995; vgl. Kap. 3.2). Dieses Kapitel wird sich mit Blick auf die Bedürfnisse forensisch-psychiatrischen Arbeitens ebenfalls um ein erweitertes Verständnis von Psychopathologie bemühen. Dies geschieht – in diesem Punkt ähnlich wie bei Rasch – aus der Sorge heraus, dass die Psychopathologie zu sehr der aktuellen Tendenz zu operationalisierter und standardisierter Erfassung vereinzelter psychischer Sachverhalte nachgibt und darüber schwer messbare, komplexe und sich allenfalls intuitivem Verständnis erschließende Aspekte verloren gehen. Auf diese kommt es aber im forensischen Zusammenhang nicht selten an. Allerdings ist dieser Ansatz keineswegs mit der Kritik Raschs gleichzusetzen, bei der es nämlich durch die Einforderung eines sozialwissenschaftlich ausgerichteten Krankheitsbegriffs umgekehrt zu einer relativen Geringschätzung des klinisch-psychopathologischen Bereiches kam. Der vorliegende Beitrag vertritt in Erweiterung früherer Argumente ein Psychopathologieverständnis, das neben der operationalen Deskription einzelner Phänomene auch eine offene Deskription ermöglicht. Dies soll sicherstellen, dass nicht nur in den von operationalen Manualen vorgegebenen Gleisen gedacht werden darf, sondern dass im psychopathologischen Kontext immer die Möglichkeit besteht, auch operational schwer abbildbare, gleichwohl aber im Einzelfall sehr bedeutsame psychische Phänomene zu erfassen (Saß 2008). Eine solcherart erweiterte Psychopathologie hat allerdings ein kritisches Methodenbewusstsein zum zentralen Gegenstand. Sie kann nicht nur Datenerhebung sein, sondern immer auch kritisches Hinterfragen des Zustandekommens und der Art der Daten. Dies wiederum ist nur möglich, wenn die Psychopathologie ihren eigenen historischen und wissenschaftstheoretischen Hintergrund kennt und praktisch anwendet. Freilich muss sie dann bestimmte, oft als sperrig, ja unwissenschaftlich empfundene theoretische Grundfragen, wie etwa die Leib-Seele-Frage oder das Problem der persön-
1.2 Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff
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lichen Verantwortung und willentlichen Entscheidung, akzeptieren und vor ebenso wohlfeilen wie oberflächlichen Antworten schützen. Dies wird am anschaulichsten exemplifiziert durch die kontroverse und oft verflachende aktuelle Debatte um die angeblich neurowissenschaftlich widerlegte personale Entscheidungsmöglichkeit des Menschen (Hoff 2006 a). Die hier vertretene Auffassung von Psychopathologie orientiert sich durchaus an sogenannten klassischen Vorbildern – Vorbildern, die sich immerhin auf die klinische Erfahrung im Umgang mit psychisch kranken Personen von über 200 Jahren stützen können, sofern man den Beginn einer systematischen und zu Recht als wissenschaftlich bezeichneten psychiatrischen Forschung im westeuropäischen Raum in die Zeit der Aufklärung, also in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, verlegt. Neben dieser Orientierung an klassischen Vorbildern wird aber gefordert, dass sich Psychopathologie wieder in einem viel weiteren Rahmen als Grundlagenwissenschaft psychiatrischen Forschens und Handelns versteht, welche in der Lage ist, sowohl objektivierende als auch individuelle sowie soziale Komponenten einzubeziehen (Janzarik 1979). Die Thematik wird in folgender Weise gegliedert: Nach dieser Einführung folgen im Abschnitt 1.2 eine Definition der allgemeinen Psychopathologie sowie Ausführungen zum psychiatrischen Krankheitsbegriff und die sich darauf beziehende psychiatrische Diagnostik, dies jeweils unter besonderer Berücksichtigung forensisch-psychiatrischer Aspekte. Die Darstellung wird sich dabei nicht ausschließlich an den aktuellen psychiatrischen Diagnosemanualen, also ICD-10 und DSM-IV-TR, orientieren, sondern auch weitere Perspektiven einfließen lassen. Abschnitt 1.3 entwickelt die spezielle Psychopathologie mit Blick auf die einzelnen Symptome und Syndrome. Abschnitt 1.4 erläutert die für die forensische Situation relevantesten psychiatrischen Krankheitsbilder, wobei sich diese Darstellung aus Praktikabilitätsgründen eng an die diagnostischen Kategorien der ICD-10 anlehnt, dabei aber ausdrücklich die weitere psychopathologische Perspektive, wie sie im Abschnitt 1.2 dargelegt wird, einbezieht. Abschnitt 1.5 schließlich gibt eine knappe Zusammenfassung und stellt die wesentlichen Forderungen an eine produktive Weiterentwicklung der Psychopathologie aus forensischer Perspektive dar.
1.2
Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff sowie deren Bedeutung für die forensische Psychiatrie
1.2.1 Definitionen Die Psychopathologie befasst sich mit der Erfassung, Beschreibung und Systematisierung psychischer Phänomene, wie sie bei den unterschiedlichen psychischen Erkrankungen vorkommen. Von der wissenschaftlichen Erfassung ungestörter psychischer Phänomene, der Psychologie, ist sie
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1 Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie
nicht scharf zu trennen, doch ist sie auch kein bloßer Teil derselben. Die Psychopathologie ist nicht auf eine bestimmte methodische Perspektive – etwa die neurowissenschaftliche oder die sozialwissenschaftliche – festgelegt. Vielmehr stellt sie ein grundlegendes methodisches wie inhaltliches Handwerkszeug für die praktische psychiatrische Arbeit dar, sei es in Diagnostik und Therapie oder in der Forschung. Diagnose (Diagnostik) meint die Verdichtung aller bei einem konkreten Patienten vorliegenden Informationen zu einer Krankheitsbezeichnung mit dem Ziel einer spezifischen Therapieplanung. Der psychiatrische Krankheitsbegriff schließlich abstrahiert vom Einzelfall und fasst charakteristische klinische Einheiten zu „nosologischen Entitäten“ im Sinne von „Krankheiten“ oder „Störungen“ zusammen.
1.2.2 Psychiatrischer Krankheitsbegriff Der Begriff der psychischen Krankheit ist in mehrfacher Hinsicht prinzipiell problematisch und bedarf daher einer besonders sorgfältigen und kontinuierlich nachgeführten wissenschaftstheoretischen Reflexion. Die Grenzziehung zwischen gesund und krank ist im psychiatrischen Umfeld noch schwieriger als in der übrigen Medizin. Dies hat zu tun mit der nur beschränkt möglichen zuverlässigen Quantifizierung psychischer Phänomene, aber auch mit großen kulturellen und individuellen Unterschieden in der Beurteilung, was zum Beispiel nur ein wenig exzentrisch und was schon psychisch krank zu nennen ist. Das unauflösliche Spannungsfeld zwischen Faktum und Bewertung spielt hier eine wesentliche und in jüngerer Zeit auch zunehmend ernst genommene Bedeutung (Fulford 1989; Fulford et al. 2006). Zusätzlich fungiert der für manche immer noch harmlos klingende Begriff „psychische Krankheit“ nicht nur als Epizentrum für das praktische psychiatrische Handeln, etwa in der Diagnostik, der Begutachtung und der Therapieplanung, sondern er ist auch untrennbar mit philosophischen Kernfragen – Leib-Seele-Problem, Subjektivität, Autonomie – verwoben. Die Psychiatrie allgemein und erst recht die forensische Psychiatrie sind als medizinische Fachdisziplinen mit wissenschaftstheoretischen, sozialwissenschaftlichen, aber auch im engeren Sinne mit politischen Fragen verknüpft. Daher gab und gibt es viele und heftige Auseinandersetzungen darüber, was denn nun der Gegenstand der psychiatrischen Wissenschaft sei, wie man eine psychische Krankheit – so es sie denn als „Krankheit“ überhaupt gebe – in Begriffe zu fassen habe und mit welchem Recht man in bestimmten Fällen Menschen sogar zwingen dürfe oder müsse, wegen einer solchen Krankheit gegen ihren ausdrücklichen Willen in eine Klinik verbracht und behandelt zu werden. Besonders markant ist das Beispiel der mehrheitlich aus den eigenen Reihen stammenden, radikalen Kritik am etablierten Krankheitsverständnis, wie sie die „Antipsychiater“ in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahr-
1.2 Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff
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hunderts formuliert haben (Glatzel 1975; Güse u. Schmacke 1976; Laing 1959; Szasz 1972). Diese „Fundamentalopposition“ ging bei einigen Autoren so weit, die Existenz der von der akademischen Psychiatrie als Krankheitsentitäten beschriebenen psychischen Störungen zu leugnen. Der Lehrmeinung warf sie vor, ihre wahren Ziele seien eben nicht die Erkennung und Behandlung von Krankheiten, sondern – formal legitimiert durch einen obskuren gesellschaftlichen Auftrag – die Disziplinierung, nötigenfalls sogar Internierung störender und auffälliger Personen mittels des pseudowissenschaftlichen Etiketts einer psychiatrischen Diagnose. Ein derart grundlegender Dissens ist in anderen Bereichen der Medizin die Ausnahme, allenfalls wären bestimmte Positionen der sogenannten Alternativmedizin zu nennen, etwa die Allopathie-Homöopathie-Debatte. Freilich fehlt hier bei aller Schärfe einzelner Argumente die gesellschaftspolitische Relevanz, ja Brisanz, die für die Psychiatrie gerade so charakteristisch ist. Die Frage, was denn eine psychische Krankheit sei, eröffnet neben dem psychopathologischen Horizont im engeren Sinne auch denjenigen der Methodenlehre und Wissenschaftstheorie (Faust u. Miner 1986; Glatzel 1990; Mathis 1992; Schwartz u. Wiggins 1986, 1988). Um aktuelle Argumente angemessen einordnen zu können, bedarf es an dieser Stelle eines historischen Rückblickes.
Psychiatrische Krankheitsmodelle von der Aufklärung bis heute Seit Beginn einer sich als Wissenschaft verstehenden Psychiatrie im 18. Jahrhundert gibt es eine Debatte um das Spannungsfeld von objektiven und subjektiven Zugangsweisen zu den Phänomenen „psychische Krankheit“ bzw. „psychisch kranke Person“. Autoren, die die Nähe, ja die unmittelbare Zugehörigkeit der Psychiatrie zu den empirischen Naturwissenschaften postulieren, akzeptieren als wissenschaftlich nur ein objektivierendes Herangehen an psychische Sachverhalte, seien sie gesund oder krank. Dieses Vorgehen sei eindeutig, die Phänomene seien messbar, also quantifizierbar, Studienergebnisse seien von weiteren Untersuchern reproduzierbar und deswegen weniger abhängig von persönlichen Meinungen und Vorurteilen, kurz, es gehe um nomothetisches Arbeiten mit dem Ziel des Entdeckens von Gesetzmäßigkeiten, für die der Einzelfall lediglich ein mehr oder minder aussagekräftiges Beispiel sei. Die Gegner kritisieren, derartig quantifizierende Wissenschaft sei im Falle von psychiatrischen Fragestellungen nicht genügend, sie führe zu einer viel zu großen Distanz zum „Forschungsgegenstand“, der eben gerade kein Gegenstand im engeren Sinne sei. Sie ignoriere die essentielle Individualität und sei zu sehr auf das von außen beobachtbare Verhalten ausgerichtet, vernachlässige so aber die subjektive Binnenperspektive. Denn diese sei nun einmal nicht messbar, zumindest nicht direkt und erst recht nicht vollständig. Die Kritik gipfelte immer wieder in dem Vorwurf, es handle sich um eine „Psychologie ohne Seele“.
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1 Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie
Überdies betonen die Verfechter von subjektiven Zugangsweisen die Individualität und personale Verantwortung, sie beziehen ausdrücklich die komplexe, in straffen Algorithmen kaum erfassbare Handlungsebene mit ein und betrachten einen subjektiven Zugang als eigentliche Grundlage auch der Erkenntnis des „Objektiven“. Dies ist der idiographische Zugang, steht bei ihm doch das verstehende Nachvollziehen der einzelnen Biographie und die Behandlung des einzelnen Patienten im Vordergrund und eben nicht die distanzierende Frage nach einer – als von der Person völlig unabhängig gedachten – „Krankheit“. Hier wiederum haken die Gegner ein und warnen vor dem Risiko der Beliebigkeit der idiographischen Hypothesenbildung. Deren Inhalte seien nämlich weder hinreichend quantifizierbar noch experimentell überprüfbar. Insoweit handele es sich dabei – so die exponierteste Kritik – gar nicht um wissenschaftliche Aussagen, sondern bestenfalls um plausible Narrative. Diese könnten sogar verschleiernd oder verfälschend auf die Erfassbarkeit der „eigentlichen“, der objektiven Daten wirken. Es sind, wie anderenorts unter verschiedenen Gesichtspunkten (Hoff 2005 a, b) herausgearbeitet wurde, im Wesentlichen drei Perspektiven, unter denen der psychiatrische Krankheitsbegriff theoretisch betrachtet und praktisch umgesetzt werden kann. Und diese haben für die forensische Psychiatrie eine gleich große Bedeutung wie für die klinische: die Realdefinition, die in psychischer Krankheit einen objektiven Gegenstand erkennt, die Nominaldefinition, die es mit begrifflichen Konstrukten zu tun hat, deren Validierung erst noch Aufgabe ist, und die biographische Definition, für die psychische Krankheit eine individuelle Reaktions- oder gar Lebensform ist. Einige Beispiele, die vor allem die historische Dimension einbeziehen, mögen dies erläutern. Zunächst zu den Realdefinitionen: Im späten 18. Jahrhundert festigte sich im Kontext des aufklärerischen Optimismus, für den das rational-systematische Erfassen der Wirklichkeit zu einer beliebigen Vermehrung des verfügbaren Wissens führen sollte, die Vorstellung, psychische Erkrankungen seien „in Wirklichkeit“ physikalische Störungen im Gehirn. Und deren Behandlung müsse natürlich der biologischen Verfasstheit dieses Organs Gehirn Rechnung tragen. Die resultierenden „Therapievorschläge“ hingegen waren in Anbetracht der nur rudimentären Kenntnisse über Bau und Funktion des Gehirns aus heutiger Sicht kurios bis barbarisch: So etwa versuchte man den vermeintlich gestörten Blutfluss zum Gehirn im Falle von psychischen Krankheiten durch die Verbringung des Patienten auf einen „Drehstuhl“ zu behandeln. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts prägten die beachtlichen Fortschritte der Naturwissenschaften zunehmend auch die akademische Psychiatrie mit ihrem immer stärker naturalistischen Selbstverständnis: Lehrbuchautoren wie der Wiener Psychiater Theodor Meynert (1833–1892) betrachteten psychotische Störungen als Erkrankungen „des Vorderhirns“, in heutiger Diktion also des frontoparietalen Kortex (Meynert 1884).
1.2 Allgemeine Psychopathologie, Diagnostik und Krankheitsbegriff
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Therapeutisch hieß das Ziel hier, die gestörten biologischen Abläufe selbst zu beeinflussen, wohingegen subjektive Aspekte gering, mitunter auch gar nicht gewichtet wurden. Viele prägende psychiatrische Leitfiguren wie der bereits genannte Theodor Meynert und Emil Kraepelin (1856–1926), aber auch Karl Wernicke (1848–1905), Karl Kleist (1879–1960) sowie der frühe Eugen Bleuler (1857–1939) gehören in diesen Kontext der Realdefinition. Ein uns zeitlich näher liegendes Beispiel ist die Hypothese, dass psychotische Störungen, möglicherweise sogar psychische Störungen schlechthin, ja, alles Psychische lediglich Ausdruck von effizienten oder eben krankhaft veränderten neuronalen Transmissionsvorgängen seien (Carlsson u. Lindqvist 1963; van Rossum 1966). Die „Dopaminhypothese der Schizophrenie“ entstand in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Auch hier liegt der therapeutische Vorschlag auf der Hand, nämlich die medikamentöse Beeinflussung derartiger Neurotransmittersysteme durch möglichst spezifische psychotrope Substanzen. Allen realdefinitorischen Ansätzen gemeinsam ist die Vorannahme, die jeweilige Krankheit sei ein objektives Faktum, eine selbständige Entität, in ihrer Existenz völlig unabhängig sowohl vom zufälligerweise betroffenen Individuum, dem Patienten, als auch vom zufälligerweise auf diesem Gebiet arbeitenden Forscher oder Arzt. Letzterer „entdeckt“ die Krankheiten, oder, wie Emil Kraepelin es ausdrückte, die „natürlichen Krankheitseinheiten“, die es in der Psychiatrie ebenso gebe wie etwa in der Inneren Medizin (Kraepelin 1918; Hoff 1994). Ganz anders verhält sich dies bei den beiden anderen Ansätzen, dem nominaldefinitorischen und dem biographischen. Doch zunächst ist noch auf eine weitere, gerade für die forensische Psychiatrie folgenreiche Implikation eines streng realistischen psychiatrischen Krankheitsverständnisses aufmerksam zu machen: Gemeint ist die von Neurowissenschaftlern aufgestellte, erkenntnistheoretisch „starke“ These, dass die empirische Datenlage dazu zwinge, das hergebrachte (westliche) Menschenbild, fußend auf der Idee des autonomen Subjektes, mehr oder weniger aufzugeben (Roth 2001; Singer 2004). Vor allem der „freie Wille“ und dessen mehr oder weniger radikale Leugnung ist es, was zu zahlreichen Debatten und öffentlichen Verlautbarungen geführt hat. Diese decken das ganze Spektrum ab zwischen dem Austausch wissenschaftlicher Argumente und aufgeregtem, eigentlich anderen Zielen dienendem Populismus. Besonders bekannt geworden ist ein – von den Autoren so betiteltes – „neurowissenschaftliches Manifest“ und der dadurch herausgeforderte psychologische Gegenentwurf (Elger et al. 2004; Fiedler et al. 2005; Maier et al. 2005; Saß 2007). Nun hat die neurobiologische Forschung in den letzten Jahrzehnten ohne Frage zu einem dramatischen Wissenszuwachs geführt, vor allem hinsichtlich der Funktion des menschlichen Gehirns. Das neue Selbstbewusstsein dieses Ansatzes führte aber mitunter zu einer Art Verwechslung von Forschungsmethode und Forschungsinhalt: Methode ist in diesem Fall die quantifizierend-objektive Erfassung von Hirnzuständen bzw. -funktionen und deren anschließende Korrelation mit mentalen Phänomenen, ein au-
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ßerordentlich erfolgreicher Ansatz. Daraus folgt aber keineswegs, dass die angewandte Methode zugleich ihren Inhalt, ihr Objekt vollständig erklärt. Anders formuliert: Eine korrelative Beziehung zwischen erhöhtem Blutfluss in definierbaren Hirnarealen – genau dies misst die funktionale Kernspintomographie als das aktuell wichtigste bildgebende Verfahren – und einem von der Versuchsperson berichteten emotionalen Zustand bedeutet nicht, dass eine einfache kausale Beziehung zwischen beiden Phänomenen oder gar deren Identität vorliegt. Keine wissenschaftliche Methode ist bei der Erforschung so komplexer Bereiche wie des Bewusstseins oder gar des Mentalen schlechthin gleichsam a priori als die überlegenere anzusehen (Saß 2007; Maier et al. 2005). Wenn aber neurobiologische Befunde als solche weder eine materialistische noch eine deterministische Position in der Leib-Seele-Frage implizieren, dann folgt daraus auch, dass allein aufgrund empirischer Ergebnisse der Hirnforschung die Annahme personaler Autonomie oder der Eigenständigkeit anderer komplexer mentaler Phänomene nicht widerlegt ist. Selbst Bernhard Libet (2005), dessen mittlerweile berühmtes Experiment schon fast als populärwissenschaftlicher „Beweis“ gegen die Existenz des „freien Willens“ gehandelt wird, warnt in der Rückschau vor übereifrigen Schlüssen aus seinen Befunden. In diese Richtung argumentiert auch Peter Bieri (2001), wenn er zwei Einwände gegen die „starke“ neurobiologische These vom Illusionscharakter der personalen Autonomie nennt: Zum einen werde nämlich die „höhere Tatsächlichkeit“ des neurobiologischen zuungunsten des subjektiven Phänomens bloß behauptet, aber weder inhaltlich plausibel gemacht noch gar bewiesen. Zum anderen führe die kategorische Verneinung der Existenz irgendeines nicht quantitativ neurowissenschaftlich erfassbaren psychischen Phänomens zu einem prinzipiellen Verlust des Gegenstandes bzw. Begriffes von „Freiheit“. Man könne in diesem Fall nicht nur in neurobiologischen Termini nicht sinnvoll von Freiheit sprechen, sondern überhaupt nicht mehr. Die enorme Relevanz dieser theoretischen Überlegungen für die forensisch-psychiatrische, aber auch für die strafrechtliche Praxis liegt auf der Hand, basieren doch beide Bereiche entscheidend auf der Annahme, dass Personen im Regelfall autonome Entscheidungen zu treffen und entsprechende Handlungen zu planen und umzusetzen in der Lage sind. Dies freilich impliziert die personale Verantwortung für eben diese Handlungen. Die aktuell häufig zu beobachtende Aufgeregtheit bei der Diskussion der forensischen Relevanz neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, gipfelnd in der Behauptung, die gesamte strafrechtliche Dogmatik sei nicht nur in Frage gestellt, sondern bereits quasi empirisch widerlegt, führt weder praktisch noch theoretisch weiter. Es bedarf, wie in der klinischen Psychiatrie auch, eines ausgewogenen Diskurses, der neuere wissenschaftliche Methoden und deren Befunde en detail zur Kenntnis nimmt, ohne voreilige und dogmatische Schlüsse zu ziehen. Nominaldefinitionen treten auch im Bereich der medizinischen Begrifflichkeit wissenschaftstheoretisch bescheidener auf. Aktuell sind sie in der
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Psychiatrie dessen ungeachtet von besonders großer Bedeutung, stellen sie doch das theoretische Rückgrat der beiden weltweit verwendeten psychiatrischen Diagnosemanuale dar, des ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1991) und des DSM-IV der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung (APA 2000). Es handelt sich hierbei um eine weitgehend formalisierte, kriteriengeleitete, „operationale“ Diagnostik, weil sie Regeln aufstellt für die sinnvolle und dem jeweiligen empirischen Wissensstand angemessene Verwendung von diagnostischen Begriffen wie schizophrene Psychose, bipolare Störung, Persönlichkeitsstörung oder Abhängigkeitserkrankung. Konkret bedeutet das die Auflistung von expliziten Kriterien, Kriterienverknüpfungen und Ausschlusskriterien, die erfüllt sein müssen (bzw. nicht erfüllt sein dürfen), damit die entsprechende Diagnose gestellt werden kann, ja gestellt werden muss. Eine unmittelbare therapeutische Konsequenz lässt sich aus einer derartigen, auf die sinnvolle Verwendung von Begriffen abzielenden Diagnostik nicht ableiten. Im Unterschied zur Realdefinition, bei der zumeist „die Natur“ – heute besser: das Gehirn – Bezugspunkt und Maß aller Dinge ist, liegt hier die definitorische Macht beim Experten, beim Forscher, beim Arzt: Er legt, meist in Expertengremien, fest, wann von Schizophrenie, Manie oder Abhängigkeit zu sprechen ist – und wann nicht. Es sollte freilich nicht übersehen werden, dass diese definitorische Macht nur auf der Kriterienebene liegt – Kernfrage hier: „Wann spreche ich überhaupt von Schizophrenie?“ – und nicht auf der Ebene der individuellen diagnostischen Aussage – Kernfrage hier: „Liegt bei Person X eine Schizophrenie vor?“. Denn im letzteren Fall wird der Spielraum des Untersuchers durch die operationalisierte Diagnostik sogar eher eingeschränkt. Ob nun eine durch kriteriologisch erfassbare Sprechakte adressierte Krankheit „in Wirklichkeit“ existiert, also etwa in biologischer Sicht als „natürliche Krankheitseinheit“, diese Frage wird in der operationalen Diagnostik bewusst offen gelassen. Insoweit ist sie bedeutend flexibler, wenn es darum geht, neue empirische Befunde in die psychiatrische Diagnostik und damit auch Krankheitslehre einfließen zu lassen. Wichtig – und von den operationalen Diagnosemanualen explizit erwähnt – ist der Umstand, dass jeder unmittelbare Schluss von einer kriteriengerecht gestellten psychiatrischen Diagnose auf das Vorliegen oder das Fehlen einer forensisch-psychiatrisch relevanten „Fähigkeit“ (z. B. Geschäftsfähigkeit, Schuldfähigkeit, Einwilligungsfähigkeit) unzulässig ist. Selbst im Falle schwerwiegender Erkrankungen wie einer schizophrenen Psychose stellt die Diagnose nur einen vergleichsweise kleinen Teil der Information dar, die benötigt wird, um etwa die Frage des Gerichtes nach dem Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB beantworten zu können. Dies wird unten näher ausgeführt werden. Biographisch-individuelle Definitionen finden sich im frühen 19. Jahrhundert in der sogenannten „romantischen Psychiatrie“. Hier vertraten wichtige Autoren wie Johann Christian August Heinroth (1773–1843) die Auffassung, geisteskrank werde, wer falsch, normverletzend und vor allem
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egoistisch, kurz „sündig“ lebe, wer also die Grundmomente des christlich geprägten westeuropäischen Menschenbildes nicht verwirkliche. Eine Therapie habe im wesentlichen Nachreifung zu sein (Heinroth 1818). Hier wurde Psychose, „Geisteskrankheit“, als nachvollziehbare und auf eine bestimmte Art moralisch berechtigte Konsequenz eines fehlerhaften Lebens verstanden (Benzenhöfer 1993; Marx 1990, 1991; Steinberg 2004). Dies führte in der forensischen Perspektive dazu, dass im psychotischen Zustand begangene Taten gleichwohl dem Täter zugerechnet wurden, weil ja das vorgängige Hineingeraten in die Psychose von ihm zumindest mitverantwortet werden müsse. Kerngedanke der von Sigmund Freud (1856–1939) zugleich als psychologische Theorie wie als diagnostische und Behandlungsmethode entwickelten Psychoanalyse ist die Annahme eines unbewussten psychischen Bereichs, der aber starken Einfluss auf das bewusste Erleben habe. Ungelöste Konflikte, zentraler Punkt der psychoanalytischen Neurosekonzeption, können übermächtig werden und durch ihr Drängen an die Oberfläche zu Leidensdruck, zu Symptomen führen. Durch den, wie Freud es nannte, „Königsweg“ der Traumdeutung könne man im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung Zugang zu den unbewussten Inhalten bekommen. Durch das Wiedererleben der konflikthaften Momente in der therapeutischen Beziehung zum Analytiker, in der „Übertragung“, durch einen kathartischen Prozess also, könne man den Konflikt bewusst machen und einer Lösung näher bringen bzw. im Idealfall ganz auflösen. Später ergänzte Freud dieses Modell durch die auch (und gerade) auf die ungestörte Psyche bezogene Vorstellung der Existenz unterschiedlicher psychischer Instanzen, des „Es“, das die Instinkte und Triebe beinhalte, des „Über-Ich“, das alle Arten von Normen repräsentiere, sowie des „Ich“, das die für das Individuum jeweils erlebens- und handlungsrelevante Schnittstelle darstelle. Die wissenschaftstheoretische Einordnung der Psychoanalyse ist nach wie vor kontrovers. Dazu trägt bei, dass zum einen Freuds naturwissenschaftlicher Impetus nicht erkannt oder anerkannt wurde, dass aber zum anderen tatsächlich Parallelen bestehen zwischen dem psychoanalytischen und dem Menschenbild der bereits erwähnten „romantischen Psychiatrie“. Dies gilt insbesondere für die Betonung der individuellen Lebensgeschichte sowie der affektiven Seite des Psychischen. Immer wieder wurde auf die geistige Verwandtschaft zwischen dem Denken Heinroths und Freuds verwiesen, ja, wurden Heinroth und der spätromantische Autor Carl Gustav Carus (1789–1869) gar als Vorläufer der Psychoanalyse bezeichnet. Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich die Vorläufer dessen, was heute gemeindenahe und soziale Psychiatrie genannt wird. Man lernte, insbesondere die Therapie von chronisch psychisch Kranken als einen ausgesprochen individualisierten Prozess aufzufassen, der eben nicht nur auf ein naturalistisches Krankheitsverständnis abzuheben habe, sondern auf die je individuelle Situation des Betroffenen und seiner Angehörigen. Bemerkenswerterweise spielt in dieser Tradition ein Autor eine entscheidende Rolle, Wilhelm Griesinger (1817–1868), der in der Psychiatriegeschichte regelhaft
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als der Exponent, ja, Begründer einer biologischen Forschungsrichtung betrachtet wird und dessen sehr differenzierte Betrachtungsweise völlig zu Unrecht immer nur auf den einen und zudem noch häufig verkürzt zitierten Satz zurechtgestutzt wird, wonach „Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten“ seien (Griesinger 1861; Hoff u. Hippius 2001; Rössler 1992; WahrigSchmidt 1985). Mitte des 20. Jahrhunderts findet sich eine ideengeschichtlich bedeutsame, heute weitgehend in Vergessenheit geratene Variante biographischindividuellen Krankheitsverständnisses. Die anthropologische Psychiatrie betrachtete Psychose, ja psychisches Kranksein allgemein als eine spezifisch menschliche und dabei nicht nur defizitäre Seinsform. Psychotisch zu werden an einem bestimmten Punkt im Leben eines Menschen und aus der Psychose wieder, wenn auch in mancherlei Hinsicht verändert, herauszufinden, sei auch ein Signal, habe eine Bedeutung, einen „Sinn“. Selbstverständlich hat der Begriff „Sinn“ an dieser Stelle nichts mit einer Beschönigung der gravierenden und mit sehr viel Leid verbundenen Krankheit Psychose zu tun, obwohl dies immer wieder einmal so missverstanden wurde. In Frage steht vielmehr der Stellenwert dieser spezifisch menschlichen Form des Leidens, wobei eben nicht nur das aktuelle psychische Befinden, auf das die operationale Diagnostik so stark abhebt, aktiv berücksichtigt wird, sondern auch die lebensgeschichtliche und anthropologische – hier eben gemeint als auf das spezifisch Humane abzielende – Dimension. Aufgabe der Therapie sei es insoweit, diese im Einzelfall schwierig zu ortenden, aber immer vorhandenen Zusammenhänge im Dialog mit dem Patienten zu erkennen und nutzbar zu machen, Therapie quasi als Sinnstiftung. Diese für einige Jahre nach dem 2. Weltkrieg im deutschsprachigen Raum sehr einflussreiche Strömung wurzelte in existentialontologischen und existenzphilosophischen Konzepten, vor allem in der Philosophie Martin Heideggers (Binswanger 1965; Blankenburg 1971; Gadamer 1993; von Gebsattel 1954; Tellenbach 1961). Die seit mehreren Jahrzehnten vor allem in der Psychotherapieforschung hervorgetretene systemische Betrachtungsweise steht zwar in einer ganz anderen Tradition als die anthropologische Psychiatrie, vor allem betrachtet sie sich auch als empirisch-sozialwissenschaftliche und nicht ausschließlich als hermeneutische Disziplin (Keller u. Greven 1996). Für sie ist die psychische Erkrankung des Einzelnen nur im Kontext seiner gesamten psychosozialen Beziehungen von der Familie bis zum beruflichen und Freizeitbereich, also „systemisch“, verständlich und behandelbar. Doch ist sie grundsätzlich von der geschilderten dritten Variante psychiatrischen Krankheitsverständnisses, der biographisch-individuellen, nicht so verschieden, dass es einer eigenen Kategorie bedürfte. Dieser biographische Ansatz erlaubt es, sofern man ihn zu Ende denkt, im Grunde nicht mehr, zwischen der Krankheit und dem betroffenen Patienten kategorial zu unterscheiden, wie dies etwa bei einer Infektionskrankheit – über viele Jahrzehnte das Beispiel für das medizinische Modell – nahegelegt wird: hier der von der Person völlig unabhängige Erreger, da die zufälliger-
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weise befallene Person. Bezogen auf die psychiatrische Situation gilt in der biographischen Perspektive also nicht: Der Patient hat eine Psychose, denn das wäre kategorial, wäre trennend, disjunktiv. Viel mehr gilt: Der Patient ist psychotisch, die Krankheit erwächst aus ihm, gehört zu ihm, macht einen biographischen „Sinn“. Dem Untersucher und Behandler stehen also nicht mehr Krankheit und Patient – in dieser Reihenfolge (!) – gleichsam getrennt gegenüber wie im klassischen medizinischen Modell, sondern die Verbindung beider Momente, die psychisch erkrankte Person in ihrer Zeitlichkeit. Auch hier gilt es, die Grenzen des Ansatzes im forensischen Kontext zu erkennen und nicht etwa aus dem Vorliegen bzw. dem Fehlen von Plausibilität und Verständlichkeit voreilige Schlüsse etwa auf die Schuldfähigkeit zu ziehen.
Risiken der einzelnen Ansätze Alle Zugangsweisen haben ihre spezifischen Risiken, die es auch im forensischen Kontext zu erkennen und zu reflektieren gilt: Schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert warnten nachdenkliche Autoren, etwa Karl Jaspers (1913), davor, dass die psychiatrisch orientierte Gehirnforschung, wenn sie auf ihrer Suche nach der Realdefinition von „Geisteskrankheit“ nicht mit der nötigen wissenschaftstheoretischen Skepsis ans Werk gehe, unversehens zur „Gehirnmythologie“ mutieren könne. Analoges aber gilt sehr wohl auch für die anderen Ansatzweisen: Eine allzu straffe Operationalisierung psychiatrischen Arbeitens durch Kriterienlisten und Entscheidungsbäume kann zu einer unproduktiven Formalisierung führen, die die reliable Erfassung von beobachtbaren Einzelsymptomen („Kriterien“) mit Psychopathologie schlechthin verwechselt. Und eine unkritisch operierende biographisch-psychogenetische Arbeitsweise schließlich läuft Gefahr, „psychologistisch“ zu werden, also ein plausibel wirkendes psychologisches Verstehensmuster für menschliches Verhalten als eindeutige wissenschaftliche Erklärung misszuverstehen (Hoff 2010). In diesem Sinne muss sich auch die sozialpsychiatrische Perspektive der Grenzen ihrer Aussagekraft bewusst sein, um nicht einer „Sozialmythologie“ das Wort zu reden. Als markante Beispiele für die letztgenannten Varianten psychiatrischer Dogmenanfälligkeit sollen hier die beiden Hypothesen von der aufgrund ihres „Double-bind-Kommunikationsstiles“ (Bateson et al. 1956) „schizophrenogenen Mutter“ (Fromm-Reichmann 1950) erwähnt werden. Diese orteten die wesentliche Ursache für schizophrene Psychosen in der Mutter des Patienten bzw. der Patientin, genauer gesagt, in deren unnahbarer Rigidität, verbunden mit pathogenen, da systematisch mehrdeutigen Kommunikations- und Beziehungsmustern. Immerhin konnte diese Annahme zwischenzeitlich empirisch weitgehend entkräftet werden, was man beileibe nicht für alle psychiatrischen Fehleinschätzungen oder gar Dogmen behaupten kann. Entscheidend ist die Einsicht, dass es zwar manch inhaltlichen Dissens zwischen den verschiedenen psychiatrischen Perspektiven gibt und geben
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soll, etwa zwischen der neurobiologischen und der sozialpsychiatrischen, dass aber keiner der aktuell diskutierten Ansätze die zentrale Frage nach dem Status des Subjektes definitiv beantwortet und damit obsolet macht. Empirische neurobiologische Befunde alleine – also ohne theoretische Vorannahmen, die man „anthropologisch“ nennen kann – können nicht sinnvoll gegen das prinzipielle Postulat personaler Autonomie ins Feld geführt werden, ist letztere doch wesentliche Voraussetzung empirischen Arbeitens. Graduelle Einschränkungen dieser Autonomie hingegen sind für den Psychiater Alltag: Sie können durch eine Unzahl von Faktoren, unter ihnen die psychischen Störungen, hervorgerufen werden. Das stellt aber die grundsätzliche Verfasstheit der Person als autonomes Wesen gerade nicht in Frage. Wie an anderer Stelle ausgeführt (Hoff 2006), hat ein Autor, der stets Wert darauf legte, dass Psychopathologie eben nicht nur bloßes Handwerkszeug für das Zählen von Symptomen sei, sondern eine Grundlagenwissenschaft, Werner Janzarik, bereits 1957 eine ganz ähnliche Diskussion geführt wie die jetzige, wenn auch gleichsam in einem anderen Koordinatensystem: Er sah sich seinerzeit vor das Problem gestellt, für die Psychopathologie zwischen der phänomenologisch-deskriptiven Richtung einerseits und der anthropologischen andererseits einen geeigneten Platz zu finden. Dabei wies er ihr die Rolle zu, die jeweiligen erkenntnistheoretischen Risiken der beiden Ansätze zu erkennen und, soweit möglich, zu vermeiden. In seinen Worten: Wissenschaftliche Psychopathologie sei „ein Weg . . . , der den Gefahren der phänomenologisch-deskriptiven 1 wie der anthropologischen Richtung psychopathologischer Forschung – der Vereinzelung im Symptom und der Auflösung im Spekulativen – auszuweichen sucht.“ (Janzarik 1957)
Die aktuelle Diskussion bewegt sich in einem sehr ähnlichen Spannungsfeld, wobei der Gegenpart der deskriptiven Richtung jetzt nicht mehr bei der kaum noch rezipierten anthropologischen, sondern, wie oben begründet, bei der neurobiologischen Perspektive liegt. Eine Psychopathologie im weiteren Sinne, die dem zweifellos sehr hohen Anspruch genügen könnte, Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie und damit auch der forensischen Psychiatrie zu sein (Janzarik 1979), müsste (mindestens) die folgenden Bereiche abdecken: z die operationale Deskription psychopathologischer Phänomene; z die „offene“ Deskription psychopathologischer Phänomene, die einzelfallorientiert psychopathologische Sachverhalte zwischen den bzw. jenseits der Kriterienkataloge erfasst, also ausdrücklich die subjektive und intersubjektive Ebene als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis akzeptiert; 1
Das Adjektiv „phänomenologisch“ wird in der psychiatrischen Literatur in verschiedenen, zum Teil recht schillernden Bedeutungen verwandt. Hier ist eine eher enge Bedeutung gemeint, die derjenigen von „deskriptiv“ nahe steht. Dies entspricht im Übrigen auch dem in der angelsächsischen Psychiatrie verbreiteten Verständnis von „phenomenological“.
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z ein kritisches Methodenbewusstsein, nicht als nützliches Addendum, sondern als integraler Bestandteil. Dies entspricht der Jaspersschen Forderung (1946), wonach Psychopathologie das schwierige interdisziplinäre Umfeld, in dem sie sich bewegt, stets zu reflektieren und dabei hartnäckig nach den Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten einer jeden wissenschaftlichen Methode zu fragen habe; z die inhaltliche und nicht bloß formale Verankerung in der psychiatrischen Ideengeschichte. Denn nur dann, wenn die konzeptuellen Voraussetzungen sowie die Fragen und Antworten früherer, für unser Fach entscheidender Autoren bekannt und verstanden sind, können sie kompetent mit der heutigen Situation verglichen und sinnvoll in diese integriert werden, was im Idealfall das mühsame Wiederholen und Korrigieren alter Fehler verhindern wird; z das bewusste Offenhalten der grundsätzlichen Fragen unseres Faches, also etwa des hier gegenständlichen Leib-Seele-Problems. Freilich ist dieses Offenhalten nicht etwa als Scheu vor einer Entscheidung misszuverstehen. Vielmehr ist es Ausdruck des Respekts vor den außerordentlich vielgestaltigen und in Anbetracht des aktuellen Wissensstandes sicherlich noch nicht definitiv entscheidbaren Problemfeldern, mit denen wir es zu tun haben.
1.2.3 Psychiatrische Diagnostik Dieser Abschnitt stellt die Grundzüge der psychiatrischen Diagnostik dar, insofern sie für die forensische Arbeit bedeutsam ist. Zu Beginn werden die klinisch-psychiatrische Diagnostik (unabhängig von der Frage der Operationalisierung) und der forensisch-psychiatrische Entscheidungsfindungsprozess miteinander verglichen. Dann folgt eine Darstellung der wichtigsten Grundlagen und Merkmale der aktuellen operationalen Diagnostik. Schließlich werden Nutzungsmöglichkeiten und Grenzen speziell der kriteriengeleiteten, „operationalen“ Diagnostik für forensische Abgrenzungsfragen erörtert und die Notwendigkeit der Differenzierung und Ergänzung der operationalen psychiatrischen Diagnostik begründet.
Psychiatrische Diagnostik und forensisch-psychiatrische Entscheidungsfindung Die Synopsis in Abb. 1.1 zeigt die Struktur der beiden zu vergleichenden Prozesse. Im Falle der psychiatrischen Diagnostik geht der Weg – und zwar zunächst unabhängig von ihrem Operationalisierungsgrad – von den nosologisch völlig unspezifischen Einzelsymptomen über die Zusammenfassung mehrerer, typischerweise gleichzeitig auftretender Einzelsymptome in Form von Syndromen hin zur psychiatrischen Diagnose, also der Feststellung einer psychischen Krankheit oder, wie es die aktuellen Diagnosesysteme bevorzugt ausdrücken, einer psychischen Störung. Dieser vermeintlich unscheinbare terminologische Wechsel von „Krankheit“ zu „Störung“, im Englischen
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Psychiatrische Diagnostik (allgemein)
Forensisch-psychiatrische Entscheidungsfindung
Symptom
Merkmale nach §§20, 21 StGB plus Quantifizierung
Syndrom
Diagnose
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Einsichtsfähigkeit plus Quantifizierung Steuerungsfähigkeit plus Quantifizierung
Abb. 1.1. Gegenüberstellung der Entscheidungsfindungsstrukturen der psychiatrischen Diagnostik und der forensisch-psychiatrischen Begutachtung
von „disease“ zu „disorder“, bringt die Absicht zum Ausdruck, möglichst wenige ätiologische oder pathogenetische Modellvorstellungen in die deskriptive Diagnostik einfließen zu lassen. Bei der nicht durch straffe Kriterien geleiteten Diagnostik, wie etwa noch in der ICD-9, treten quantifizierende Momente zugunsten qualifizierender Unterscheidungsmerkmale – wie demjenigen zwischen Psychose und Neurose – weitgehend in den Hintergrund. Umgekehrt kommt der quantifizierende Aspekt bei der operationalen Diagnostik sehr stark zum Tragen, zum Beispiel durch die Kopplung der Diagnosestellung an das Vorliegen einer ganz bestimmten Zahl von Kriterien oder an die Unterscheidung in leichte, mittelschwere und schwere depressive Episoden. Festzuhalten ist aber, dass von ihrer Entstehungsgeschichte her die klinisch-psychiatrische Diagnostik – insbesondere in der vor-operationalen Ära – nicht zwingend und nicht für jede Diagnose eine Schweregradeinschätzung erforderte – ganz im Unterschied zu der mit einem Quantifizierungsschritt zwingend verbundenen forensisch-psychiatrischen Vorgehensweise. Im Falle des forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindungsprozesses haben wir es nämlich ebenfalls mit insgesamt drei in unterschiedlicher Weise voneinander abhängigen Ebenen zu tun, doch ergeben sich eine Reihe von Unterschieden: Auf jeder dieser Ebenen ist in einem ersten Schritt festzustellen, ob ein bestimmter Sachverhalt vorliegt oder nicht, sowie in einem zweiten, eben nicht optionalen, sondern – wie schon angesprochen – zwingend erforderlichen Schritt, wie ausgeprägt der Sachverhalt vorhanden ist. Diese Notwendigkeit des zweiten Schrittes ergibt sich freilich nur, wenn im ersten Schritt das Vorliegen einer Störung bejaht wird. Zunächst ist also die Frage zu beantworten, ob eines der vier psychopathologischen Merkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen zum angenommenen Tatzeitpunkt vorgelegen hat oder nicht, also – in der Formulierung ohne das Quantifizierungsmerkmal – eine „seelische Störung“, eine „Bewusstseinsstörung“, „Schwachsinn“ oder eine „andere seelische Abartigkeit“. Beson-
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ders klar hat Kurt Schneider (1948) dieses zweischrittige Vorgehen mit dem „zweistöckigen Aufbau“ des damaligen § 51 StGB begründet. Mit Ausnahme des dritten Merkmals, des „Schwachsinns“, der im Begriff selbst bereits eine Quantifizierung enthält, ist eine zusätzliche Schweregradbewertung gefordert: Die seelische Störung muss als „krankhaft“, die Bewusstseinsstörung als „tiefgreifend“ und die andere seelische Abartigkeit als „schwer“ klassifiziert werden, damit sich die Frage der im „zweiten Stockwerk“ der Schuldfähigkeitsbeurteilung zu beurteilenden Einsichtsund Steuerungsfähigkeit überhaupt stellt. Und auch bei letzterer geht es um die Feststellung eines Sachverhaltes einerseits und um dessen Quantifizierung andererseits: Festzustellen ist nämlich, ob eine Beeinträchtigung der Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit aufgrund eines oder mehrerer Merkmale des „ersten Stockwerkes“ vorliegt; zu quantifizieren ist, ob eine solche Beeinträchtigung zum Tatzeitpunkt erheblich war (§ 21 StGB) oder zu einer Aufhebung einer oder beider genannter Fähigkeiten führte (§ 20 StGB). Ging es bislang um psychiatrische Diagnostik schlechthin, so sollen im Folgenden die Besonderheiten der operationalen Diagnostik mit Blick auf deren Bedeutung für die forensische Psychiatrie beleuchtet werden. Diese kriteriengeleitete Form der Diagnostik, die heute bereits in vielen Kliniken und Praxen angewandt wird, liegt in zwei konkurrierenden, insgesamt ähnlichen, im Detail aber differierenden Varianten vor, nämlich der eingangs erwähnten ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO und des DSM-IV der US-amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft APA. Ihre Entwicklung ist als Endpunkt eines langen Prozesses zu sehen, der sich, beginnend etwa in den sechziger Jahren, über mehrere Jahrzehnte erstreckte und dessen Initiierung und spätere beachtliche Schubkraft ganz wesentlich mit der Unzufriedenheit vor allem forschender Psychiater mit den zum Teil extrem heterogenen Sprachkonventionen im psychiatrischen und psychotherapeutischen Kontext zusammenhingen (Hoff 1996; Saß u. Hoff 2008; vgl. Saß 1987 b). Die Hauptmerkmale operationaler psychiatrischer Diagnostik sind: z deskriptives Vorgehen, z explizite Kriterien bzw. Kriterienverbindungen für jede Diagnose, z nominalistisches (und nicht: realistisches) Verständnis psychiatrischer Diagnosen, z Komorbiditätsprinzip, z Mehrachsigkeit, z schwerpunktmäßige Orientierung am Schweregrad („quantitativer Zugang“), z ätiologische Neutralität („Theoriefreiheit“). z Deskriptives Vorgehen. Im Kern operationalen Diagnostizierens steht der „deskriptive Zugang“ zum psychopathologischen Befund. Die Bezeichnung einer psychopathologischen Arbeitsweise als „deskriptiv“, also „beschreibend“, stellt den Anspruch in den Mittelpunkt, eine vorliegende Symptoma-
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tik möglichst einfach, überprüfbar und übersichtlich gegliedert zu erfassen und zu benennen; in diese Phase des diagnostischen Prozesses sollen noch keine ätiologischen oder pathogenetischen Hypothesen und auch keine deutenden Elemente über den – individuellen, bezugsgruppentypischen oder gesellschaftlichen – „Sinn“ bestimmter Symptome einfließen. Heute ist man deshalb vielerorts der Auffassung, dass Symptome, deren Vorhandensein nicht „festgestellt“, sondern nur erschlossen werden kann, aus Gründen der Messmethodik weniger (oder gar nicht) Berücksichtigung finden sollen (vgl. Möller 1976). Dies erinnert an die im englischsprachigen Raum etablierte, hierzulande hingegen weniger bekannte Unterscheidung zwischen Zeichen und Symptom (englisch: „sign and symptom“): So definiert das DSM-IV das Zeichen als „objektive Manifestation eines pathologischen Zustandes“, die „eher vom Untersucher beobachtet als vom Betroffenen mitgeteilt wird“, und das Symptom als „subjektive Manifestation eines pathologischen Zustandes“, die „eher vom Betroffenen berichtet als vom Untersucher beobachtet wird“. Eine solche Unterscheidung ist eine nützliche methodische Richtschnur, um eine Konfundierung objektiver und subjektiver Informationsquellen zu vermeiden. In der Praxis auch und gerade der deskriptiven psychopathologischen Befunderhebung kann sie freilich so eindeutig meist nicht durchgehalten werden. Dies belegen vor allem die psychomotorischen Symptome, bei denen es um den Ausdruckscharakter von Bewegungen und Körperhaltungen geht, also um die gerade nicht trennbare Verbindung subjektiver Momente, die etwa die Stimmung betreffen, mit objektivem, unmittelbar beobachtbarem motorischen Verhalten. Ohne Frage stellt die vorurteilsfreie Erfassung der psychischen Phänomene, also dessen, was der Patient schildert und erlebt, woran er sich erinnert, was er plant, und der Art, wie er handelt, eine entscheidende Voraussetzung jeder sorgfältigen psychiatrischen Praxis und Forschung dar. Allerdings wäre es voreilig, dieses Ziel bereits dadurch für erreichbar (oder gar für erreicht) zu halten, dass ein streng „beschreibender“ Zugang gewählt wird. Keiner der bislang eingeschlagenen methodischen Wege, auch nicht der deskriptive, hat die Eigenschaft, gleichsam von Haus aus arm oder gar frei von theoretischen Vorannahmen zu sein. „Deskription“ ruft die Assoziation des nüchtern-sachlichen Nachzeichnens von etwas „objektiv“ Vorhandenem hervor, vergleichbar der letztlich rein passiven Funktion eines vom Benutzer gut justierten Fotoapparates. Zu bedenken ist aber, dass es sich beim Beschreiben eines psychopathologischen Symptoms ungeachtet aller prinzipiellen Störbarkeit psychischer Abläufe und konkreten Gestörtheit einer bestimmten Person um eine Kommunikation zwischen Patient und Untersucher handelt. Freilich wird man ein Symptom wie „örtlich desorientiert“ eindeutiger und „objektiver“ feststellen können als Vorliegen und Ausprägungsgrad von „Gedankenausbreitung“. Dies ändert aber nichts an der grundsätzlichen Natur der psychopathologischen Deskription als eines Vorganges, der wesentlich durch den Beziehungsaspekt charakterisiert wird. Letzterer kann auch zu komplexeren
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zwischenmenschlichen Bedeutungszuschreibungen führen, etwa im Falle der – auch im forensisch-psychiatrischen Kontext – wichtigen, gemeinhin als „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ bezeichneten Beziehungsmomente. Allgemein ausgedrückt: Das Beschreiben hängt stark von der Art des Symptoms ab, denn beobachtbares Verhaltens kann einfacher beschrieben werden als inneres Erleben. Erinnert sei an Karl Jaspers’ Feststellung, dass sich „Seelisches“ gar nicht unmittelbar zeige (also auch nicht unmittelbar beobachtet werden könne), sondern nur mittelbar über Sprache, Schrift, Gestik, Mimik, künstlerische Äußerung, Verhalten. Um so wichtiger ist, sich stets darüber im Klaren zu sein, was eigentlich bei der deskriptiven Vorgehensweise „beschrieben“ wird, also etwa das äußerlich erkennbare Verhalten des Patienten, seine eigenen Angaben über das aktuelle Erleben, Annahmen über das aktuelle subjektive Erleben des Patienten, die der Untersucher aufgrund bestimmter Wahrnehmungen und Wertungen macht, obwohl der Patient selbst sich dazu vielleicht ganz anders oder gar nicht erklärt, oder schließlich Angaben Dritter über das Verhalten und Erleben des Patienten (Jaspers 1946). Diese wenigen Beispiele verdeutlichen, dass „Deskription“ auch in der Psychopathologie kein selbsterklärender, einfacher Begriff ist. Es geht nun aber nicht nur um die kritische Berücksichtigung der jeweiligen Quellen des zu Beschreibenden und eines bestimmten Beziehungskontextes. Die Sachlage wird vielmehr noch dadurch kompliziert, dass sich die beschreibende Erfassung des Befundes nicht völlig trennen lässt von einem psychopathologischen Grundverständnis und dem darin wirksamen Menschenbild (Hoff 1998). Freilich muss diese nicht dispensierbare Komplexität kein Nachteil sein, solange daraus im diagnostischen Prozess keine Vorurteile erwachsen. z Explizite Kriterien bzw. Kriterienverbindungen für jede Diagnose. Die Angabe von Kriterien und Kriterienverbindungen für die jeweiligen Diagnosen kann man zusammen mit dem deskriptiven Zugang als das Wesen der Operationalisierung bezeichnen; dieser Weg führt bis hin zu diagnostischen „Entscheidungsbäumen“. Kriteriengeleitete Diagnostik generiert hier aber auch Zwänge: Sind nämlich die Kriterien erfüllt, steht die Diagnose fest. Die immerhin nicht völlig abwegige Frage, ob nicht in manchen Fällen aufgrund besonderer, möglicherweise kaum oder gar nicht operational darstellbarer Merkmale dem Untersucher eine andere Diagnose angemessen erscheint und daher gestellt werden sollte, beantwortet das operationalisierte System klar mit „Nein“. z Nominalistisches (und nicht: realistisches) Verständnis psychiatrischer Diagnosen. Die operationale Diagnostik stellt dem traditionellen, etwa in der Kraepelinschen Psychiatrie beispielhaft vertretenen Streben nach Realdefinitionen (Hoff 1994) die Beschränkung auf Nominaldefinitionen gegenüber: Es wurde bereits dargestellt, dass es im operationalen diagnostischen
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Prozess gerade nicht darum geht, festzustellen, was Schizophrenie wirklich ist – das nämlich wäre eine Realdefinition –, sondern vielmehr darum, möglichst exakte Bedingungen festzulegen, bei deren zuverlässig festgestelltem Vorliegen sinnvollerweise von Schizophrenie gesprochen werden kann – eben der nominalistische Weg. In der Praxis ist allerdings zu beobachten, dass doch wieder eine Art „Reifizierung“ oder „Ontologisierung“ ins Spiel kommt: Im Bewusstsein des unkritischen Anwenders werden die operational definierten Störungsgruppen dann zu scheinbar feststehenden, gar biologischen oder, wie es Kraepelin genannt hätte, „natürlichen“ Einheiten, deren Konstruktcharakter übersehen wird. Operationale Systeme verhalten sich im Streit um Kategorizität oder Dimensionalität seelischer Störungen explizit unentschieden. Dies mag anachronistisch klingen, entspricht aber doch genau deren Zielsetzung: Ob es im Bereich psychischer Auffälligkeiten distinkte, von Natur aus klar unterschiedene Einheiten gibt oder „nur“ ein Kontinuum ohne feste Grenzen – diese Frage wird offen gelassen, schließlich soll ja eine für beide Richtungen akzeptable diagnostische „Sprache“ angeboten werden. z Komorbiditätsprinzip. Die operationalen Diagnosesysteme betonen das Prinzip der Komorbidität. Der Untersucher wird aufgefordert, bei einem Patienten mehrere Diagnosen zu stellen, sofern die jeweiligen Kriterien gleichzeitig erfüllt sind. In der früheren Praxis gab es hingegen die Tendenz, nur die schwerste Störung, etwa eine schizophrene Psychose, zu diagnostizieren und etwaige weitere psychische Auffälligkeiten, man denke an Persönlichkeitseigentümlichkeiten oder missbräuchliches Einsetzen von Psychopharmaka, nicht eigens diagnostisch hervorzuheben. Ein solcher Patient würde, um ein häufiges klinisches Beispiel herauszugreifen, in der aktuellen Diagnostik etwa die Diagnosen schizophrene Psychose vom paranoiden Typus, dependente Persönlichkeit, Benzodiazepinmissbrauch und akute Alkoholintoxikation erhalten. z Mehrachsigkeit. Ein weiteres wichtiges Prinzip der operationalen Diagnostik, welches bislang allerdings nur im DSM-IV und noch nicht in der ICD-10 konsequent verwirklicht ist, ist dasjenige der mehrachsigen Diagnostik (Mombour u. Sartorius 1992; Siebel et al. 1997): Jeder Patient wird auf verschiedenen, im Falle des DSM-IV auf fünf „Achsen“ beurteilt. Die erste Achse ist die dem Psychiater besonders geläufige Ebene der klinischen Symptomatologie; die zweite Achse enthält eine Beschreibung der Persönlichkeit des Patienten; auf der dritten Achse werden körperliche Erkrankungen benannt; auf der vierten und fünften Achse schließlich geht es um die Fragen, wie gut der Patient im letzten Jahr vor der Untersuchung psychosozial integriert gewesen ist bzw. ob und in welchem Umfang er psychischen Belastungen ausgesetzt war. z Schwerpunktmäßige Orientierung am Schweregrad („quantitativer Zugang“). Operationale Systeme orientieren sich eher an quantitativen als an qualita-
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tiven Aspekten der zu beobachtenden psychopathologischen Sachverhalte. Konkret bedeutet dies, dass Abstand genommen wird von herkömmlichen, jedoch für wissenschaftlich schlecht oder gar nicht abgesichert gehaltenen Unterscheidungen wie etwa derjenigen zwischen Neurose und Psychose oder, im Falle der depressiven Erkrankungen, zwischen den endogenen und reaktiven Depressionen. So wird im Sinne eigener diagnostischer Entitäten unterschieden zwischen leichter, mittelschwerer und schwerer depressiver Episode. Die qualitative Unterscheidung zwischen organisch begründbaren und nicht organisch begründbaren psychischen Störungen wird allerdings nolens volens beibehalten, obwohl dies einem Grundprinzip der operationalen Diagnostik, nämlich der im Folgenden genannten ätiologischen Neutralität, widerspricht. z Ätiologische Neutralität („Theoriefreiheit“). Ein weiterer, von den Autoren der operationalen Diagnosesysteme hervorgehobener Punkt ist deren – im Idealfall vollständige – Unabhängigkeit von ätiologischen Vorannahmen, was natürlich ganz eng mit dem Bemühen um „objektive Deskription“ und dem Vermeiden von „subjektiver Interpretation“ zusammenhängt. Oft wird hier der irreführende Terminus „Theoriefreiheit“ verwendet, mit dem zweifellos nicht gemeint ist, dass operationale Diagnosesysteme völlig frei von jedweder theoretischer Vorannahme wären. Vielmehr soll operationales Diagnostizieren mit möglichst gleichem Ergebnis, also in reliabler Weise, verschiedenen Untersuchern auch dann möglich gemacht werden, wenn sie in ihren Grundannahmen zur Entstehung psychischer Störungen sehr divergente Positionen vertreten. Man denke an die ätiopathogenetischen Hypothesen der Psychoanalyse im Vergleich zu denjenigen der biologischen Psychiatrie. Die operationale Diagnose soll den größten gemeinsamen Nenner für die zuverlässige Beschreibung des klinisch Wahrnehmbaren darstellen. Dies hat, wenn nicht zur Abschaffung, dann zumindest zur wissenschaftlichen Diskreditierung so vertrauter Begriffe wie Endogenität, Psychose und Neurose geführt sowie, vor allem bei den depressiven Störungen, zu der oben erörterten schwerpunktmäßigen Orientierung am klinischen Schweregrad.
Nutzen und Grenzen der psychiatrischen Diagnostik im forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindungsprozess Inwieweit können nun die nur teilweise überlappenden Strukturen der Entscheidungsfindung in der klinischen bzw. forensischen Situation sinnvoll aufeinander bezogen werden? Es soll zunächst ein weiterer Vergleich zwischen diesen beiden Situationen angestellt werden, der ausdrücklich auf die operationale Diagnostik und deren „Zielrichtung“ Bezug nimmt (Tabelle 1.1). Es ergeben sich einige markant unterschiedliche Akzentsetzungen: Geht es in der operationalen Diagnostik darum, festzustellen, ob eine bestimmte, durch Kriterien festgelegte Diagnose vorliegt oder nicht, verlangt das Ge-
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Tabelle 1.1. Vergleich der operationalen psychiatrischen Diagnostik mit dem forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindungsprozess Operationale psychiatrische Diagnostik
Forensisch-psychiatrischer Entscheidungsfindungsprozess
Diagnose Aktuelle Verhaltensbeobachtung Kriterien = Diagnose
„Fähigkeit“ Retrospektive Verhaltensbeschreibung Bewertender Rückschluss von psychopathologischen Sachverhalten auf die jeweilige „Fähigkeit“
setz vom psychiatrischen Sachverständigen eine Äußerung über das Vorhandensein oder Fehlen von „Fähigkeiten“, konkret der Fähigkeit, das Verbotene eines erwogenen Handelns zu erkennen sowie der Fähigkeit, das Handeln gemäß dieser Einsicht zu steuern. Nicht zu der Frage, ob sich ein Mensch in einer bestimmten (Tat-)Situation gesteuert hat oder nicht, hat der forensisch-psychiatrische Sachverständige dem Gericht wissenschaftlich fundierte Anhaltspunkte zu liefern, sondern vielmehr zu der – erkenntnistheoretisch viel heikleren – Frage, ob er zu dem gegebenen Zeitpunkt die Fähigkeit besessen hat, sich einsichtsgemäß zu steuern oder eben nicht. Um dieses Problem rankt sich der in früheren Jahren sehr kontrovers geführte „Agnostizismusstreit“ in der forensischen Psychiatrie (vgl. Schreiber 1994). Heute wird vorwiegend die (pragmatische) Auffassung vertreten, dass der psychiatrische Sachverständige aufgrund seiner klinischen Erfahrung dem Gericht sehr wohl wesentliche Hilfestellungen bei der Erörterung der angeschnittenen Problemkreise geben kann, ohne sich auf das (vermeintliche) Glatteis des Freiheitsproblems zu begeben und seine Erkenntnisgrenzen unbotmäßig – oder übereifrig – zu überschreiten (von Baeyer 1967; Saß 2008). Die operationale Diagnostik fußt wesentlich auf der aktuellen Verhaltensbeobachtung. Darauf stützt sich die Diagnose, soweit dies irgend möglich ist. In der forensischen Situation ist der Fall nun ganz anders, liegen hier doch stets mehr oder weniger lange zurückliegende, also retrospektive Verhaltensbeschreibungen vor, zum einen aus erster Hand, als Selbstschilderungen des Probanden, zum anderen von Dritten, also etwa dem Opfer, von Zeugen oder Bekannten. Die Möglichkeit der Verzerrung ergibt sich dabei vorwiegend aus der unvermeidlichen – und über die Zeit Veränderungsprozessen unterworfenen – subjektiven Einfärbung von Erinnerungen, von der absichtlichen Falschdarstellung einmal ganz abgesehen. Gerade die Skepsis gegenüber der subjektiven Komponente bei der psychopathologischen Befunderhebung und der auf ihr aufbauenden Diagnostik hatte ja die Autoren der operationalen Systeme dazu bewogen, wo immer möglich, sich auf klar zu beobachtende Verhaltensmerkmale zu stützen.
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Für die operationale Diagnostik ist das Vorliegen bestimmter Kriterien logisch gleichwertig mit der Feststellung der betreffenden Diagnose. Der Schritt von den Kriterien zur Diagnose ist insoweit ein einfacher Algorithmus, er bedarf seitens des Untersuchers keines weiteren Bewertungsvorgangs. Dessen ungeachtet bleibt freilich die Entscheidung, ob denn nun ein bestimmtes Kriterium vorliegt oder nicht, im Einzelfall schwierig. Der operationale Algorithmus ist selbstverständlich keine prinzipielle Lösung der SubjektObjekt-Problematik in der Psychopathologie (Hoff 1995; Scharfetter und Hoff 2010). In der forensischen Situation muss in markantem Unterschied zur operationalen klinischen Diagnostik häufig von retrospektiv erschlossenen psychopathologischen Sachverhalten auf Vorhandensein oder Fehlen einer – ihrerseits wiederum sehr komplexen, keineswegs bloß aus offenkundigem Verhalten ableitbaren – „Fähigkeit“ geschlossen werden. Aus dem Vorliegen bestimmter beobachtbarer Verhaltensaspekte folgt demnach mit Blick auf die Schuldfähigkeit noch nicht sehr viel. Unabdingbar sind hier psychopathologische, biographische, soziale und somatische Faktoren in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der kontroversen Diskussion um die Bedeutung von „Kriterienkatalogen“ bei der Beurteilung von affektiv akzentuierten Straftaten (Saß 1983 a, 1993, 2008; s. a. Kap. 3.2 in diesem Band). Sucht man auf dem Hintergrund der bislang erörterten Zusammenhänge nach den Vorteilen operationalen Diagnostizierens – und zwar zunächst einmal unabhängig von der forensischen Situation –, so ist an erster Stelle die Erhöhung der Reliabilität psychiatrischer Diagnosen zu nennen: Verschiedene Untersucher, vorausgesetzt, sie sind mit dem Untersuchungsinstrument hinreichend vertraut, gelangen mit einer deutlich höheren Wahrscheinlichkeit zu dem gleichen diagnostischen Ergebnis, als sie es ohne die Benutzung operationaler Kriterien täten. Insofern ist eine der wesentlichen Zielvorstellungen für die Entwicklung operationaler Kriterien überhaupt zumindest in Teilbereichen durchaus realisiert worden. Vor allem das Risiko, ungeprüfte ätiopathogenetische Hypothesen mit dem diagnostischen und auch mit dem therapeutischen Prozess zu verquicken, nimmt bei Anwendung operationaler Diagnostik ab. So etwa präjudiziert die Diagnose eines mittelschweren depressiven Syndroms mit somatischen Symptomen im Sinne des DSM-IV keine von verschiedenen Untersuchern durchaus gegenteilig zu bewertende Annahme zur Verursachung des Zustandsbildes. Das Vorgehen nach dem Prinzip der Komorbidität verringert das Risiko, relevante Begleiterkrankungen und deren therapeutische Implikationen zu unterschätzen oder gar zu übersehen. Operationale Systeme sind in der studentischen Ausbildung und der ärztlichen Weiterbildung wegen ihres hohen Strukturierungsgrades gut als inhaltliches „Gerüst“ zu verwenden. Der diagnostische Prozess und sein Ergebnis sind im Falle der operationalen Systeme besonders dokumentations- und datenverarbeitungsfreundlich. Freilich bedeutet allein dies keine qualitative Aufwertung des Prozesses der psychiatri-
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schen Diagnostik schlechthin, es ermöglicht aber doch eine einfachere Speicherbarkeit und spätere Plausibilitätsprüfung. Die Nachvollziehbarkeit durch einen anderen Untersucher kann dadurch erhöht werden. Das System zwingt den Untersucher schließlich, sofern er es im Sinne der Autoren anwendet, sich mit jedem einzelnen Kriterium auseinanderzusetzen. Dies kann zu einer Vervollständigung der Befunderhebung führen und so verhindern, dass eine vorgefasste diagnostische Meinung die gründliche Exploration all derjenigen psychopathologischen Phänomenbereiche verhindert, die im Rahmen der Vorannahme für wenig relevant gehalten werden. Doch wird man auch die Schwierigkeiten und Risiken operationalen Diagnostizierens sehen müssen: Wenn Deskription nämlich zu eng gefasst wird, etwa als eindeutiges Abbilden eines objektiven Tatbestandes beim Patienten durch ein ebenso objektives Medium, den Untersucher, dann kommt es zu einem Überwiegen der formalen zuungunsten der inhaltlichen Aspekte, zu einer Reduktion der klinischen Gesamtheit auf das vermeintlich „rein deskriptiv“ Erfassbare und qua Expertenkonsens Operationalisierbare und damit zu einer Vernachlässigung von komplexen subjektiven Erlebensweisen, die oft vor allem die Beziehungsebene betreffen. Sie sind insoweit von bloßen Verhaltensmerkmalen deutlich unterschieden, was der wesentliche Grund dafür ist, dass sie sich in den Kriterienkatalogen der gegenwärtigen Klassifikationsmanuale kaum wiederfinden (können). Erinnert sei an Anmutungsqualitäten im Kontakt mit psychotischen Menschen, an komplexe biographische Entwicklungen, an charakteristische Züge der Persönlichkeit oder, ganz allgemein, an die jeweilige Art der ArztPatient-Beziehung (Kraus 1991 a, b; Priebe 1989; Saß 1990; Schwartz u. Wiggins 1987; Schwartz 1988). In einer auf die Psychopathologie ganz allgemein abzielenden Sicht stellt sich für Janzarik seelische Struktur – also ein besonders komplexer Sachverhalt – als transphänomenale Gegebenheit dar, die sich gerade nicht ausschließlich deskriptiv abbilden, sondern nur vom ganzheitlich-biographischen Erlebnisfeld her erschließen lasse. Insoweit seien „die Ausgrenzung einzelner Gestalten und die abstrahierende Reduktion des gelebten Lebens zu schematischen Vergegenwärtigungen und Zeichen . . . das Spätere“ (Janzarik 1983, S. 103). In diesem Zusammenhang hat Zacher (1988) bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Life-event-Forschung den hohen anthropologischen und damit auch psychopathologischen Stellenwert des „ungelebten Lebens“ hervorgehoben, also nicht realisierter, aber in der Vergangenheit einmal erwogener Perspektiven der Lebensplanung. Dieses „ungelebte Leben“ sei nun zwar einerseits für jeden Menschen wirksam, vor allem als Quelle von Enttäuschungen, Hoffnungen, Träumen und Wünschen, auch wenn es „nicht zu historischer Faktizität“ gelange; andererseits aber sei es gerade nicht durch operationale Aufschlüsselung der Verhaltensebene erfassbar und insoweit auch metrisch-statistischer Auswertung nicht zugänglich. Auch die Melancholiekonzeption Tellenbachs (1961) gehört in diesen Kontext. Deren tragende Begriffe, etwa die Inkludenz und Remanenz des Melan-
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cholikers, stoßen zwar ohne Frage zum psychopathologischen Kern des Problems vor, finden aber, zumindest in vergleichbarer gedanklicher Verdichtung, keinen Eingang in operationale Diagnosesysteme. Demgegenüber hat es in den letzten Jahren durchaus intensive Bemühungen zur operationalen Erfassung psychodynamischer Befunde gegeben, vor allem hinsichtlich der Persönlichkeit und des „Abwehrniveaus“ (Freyberger et al. 1996). Praktikabilität und wissenschaftliche Fruchtbarkeit dieser operationalen psychodynamischen Diagnostik (OPD) werden gegenwärtig untersucht. Die Gefahr der „Ontologisierung“ oder der „Reifizierung“ seelischer Störungen äußert sich im Missverstehen der operational definierten diagnostischen Einheiten als (vielleicht sogar biologisch) vorgegebene, unveränderbare, „real existierende“ Krankheitseinheiten. Ihr tatsächlicher Konstruktcharakter wird so übersehen. Gleiches gilt freilich für die Symptomebene: Manche halten diagnostische Kriterien für „objektive“, in der Natur vorgegebene Realitäten: Depressiv zu sein, Stimmen zu hören oder Angst zu haben liegt dann scheinbar auf derselben Ebene wie Fieber zu haben oder eine erhöhte Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit. Vor allem, aber keineswegs nur von juristischer Seite (Blau 1989) ist kritisch darauf hingewiesen worden, dass die operationalen Diagnosesysteme eine starke Erweiterung des Kataloges psychischer Störungen hervorgerufen haben; so etwa enthält das DSM-IV ca. 1000 Einzelkriterien für 395 psychiatrische Diagnosen. Es wird eine „Psychiatrisierung des Alltags“ befürchtet, etwa dergestalt, dass auch leichte und noch dem normalpsychologischen Bereich zuzuordnende Stimmungsschwankungen bereits mit einer psychiatrischen Diagnose versehen werden. Aus der erwähnten Orientierung an quantitativen Aspekten folgt das Risiko, die Quantifizierbarkeit, so wichtig sie auch ist, in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung für die Psychiatrie zu überschätzen. Hier ist der oben erwähnte Vorteil, nicht implizit ungeprüfte Ätiologievorstellungen in die Diagnostik zu importieren, abzuwägen gegenüber dem Risiko der Einengung und Verflachung des psychopathologischen Befundes und des Horizontes, vor dem dieser erhoben wird. Ein klinisches Beispiel: Zwischen einer zweiwöchigen, verständlichen, wenn auch durchaus erheblichen depressiven Reaktion etwa im Rahmen eines Partnerkonfliktes und einer „Melancholie“ im Sinne einer tiefgreifenden psychotisch-depressiven Verzerrung des Persönlichkeitsgefüges und Weltbezuges bestehen aus psychopathologischer Perspektive sicherlich quantitative, aber eben auch qualitative Unterschiede. Beide klinischen Formen von „Depression“ könnten aber, sofern bei der Melancholie nicht eine klare Wahnsymptomatik vorliegt, als „Episode einer Major Depression“ gemäß DSM-IV-TR diagnostiziert werden. Ob die anhand von 9 Kriterien vorgeschlagene Subklassifizierung als „melancholischer Typus“ die psychopathologische Befunddichte erschöpfend und reliabel abbilden kann, bleibt die (hier nicht weiter zu untersuchende) Frage. Zu bedenken ist schließlich die Gefahr, dass der Anwender operationaler Diagnosesysteme einen dogmatischen Anspruch entwickeln kann gegenüber allen Arten des Diagnostizierens, die nicht streng operational sind
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und die er dann als nicht wissenschaftlich ansieht. Dies hätte notwendig einen mehr oder weniger radikalen Reduktionismus in zweierlei Hinsicht zur Folge: Auf der einen Seite würde nämlich irrigerweise unterstellt, Psychopathologie sei die Lehre vom Umgang mit genau diesen operational vernetzten Kriterien; auf der anderen Seite würde all das für diagnostisch und therapeutisch irrelevant gehalten, was nicht kriteriologisch erfassbar ist. Im Falle der unkritischen Überschätzung kriteriengeleiteter Diagnostik kann beim Untersucher schlimmstenfalls – und sei es noch so implizit – ein „operationales Menschenbild“ entstehen. Dies erinnert an die Assoziationspsychologie des frühen 19. Jahrhunderts, für die das Psychische eine bloße Summation von funktionierenden oder mehr oder weniger gestörten Einzelleistungen war. Viele der bislang erörterten, primär den klinisch-praktischen Kontext betreffenden Aspekte finden in sehr ähnlicher Weise auch auf die forensische Situation Anwendung. Zur Verdeutlichung seien die für den psychiatrischen Gutachter besonders relevanten Gesichtspunkte der operationalen Diagnostik pointiert herausgehoben: Kriteriengeleitete Diagnostik findet zunehmend Eingang in die forensische Praxis, ja ihre Anwendung wird von manchen Gerichten als „conditio sine qua non“ eines wissenschaftlich begründeten psychiatrischen Gutachtens betrachtet (s. a. Boetticher et al. 2005). Nun kann dadurch die Verständigung in foro zweifellos vereinfacht werden. Der Sachverständige hat die Möglichkeit, sich im Gespräch mit dem Juristen auf die Kriterienkataloge zu beziehen und diese am konkreten Fall zu erläutern. Dass sich auf diese Weise unterschiedliche Sachverständige auf den gleichen diagnostischen Text beziehen, mag vom Juristen als Erleichterung empfunden werden. Orientiert sich der Sachverständige bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens an den vorgeschlagenen Diagnoserichtlinien, so wird sein diagnostischer Entscheidungsprozess transparenter. Die Vergleichbarkeit psychiatrischer Diagnostik im gutachterlichen Zusammenhang wird durch die abgewogene Anwendung operationaler Kriterien erhöht. Dies hat eine bessere wissenschaftliche Auswertbarkeit von Gutachten zur Folge und gewinnt eine besondere Bedeutung bei der Beurteilung von Langzeitverläufen, zum Beispiel bei Prognosegutachten über psychotische Patienten, bei denen im Laufe der Zeit Untersucher und Behandler mehrfach gewechselt haben. Liegen in einem solchen Fall mehrere auf das gleiche operationale System bezogene diagnostische Einschätzungen vor, so kann die Einschätzung des Verlaufes und damit auch die der Prognose vereinfacht werden. Für die Frage des Umgangs mit dem Rechtsbegriff der verminderten Schuldfähigkeit ist die Möglichkeit der Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu juristischen Kategorien von großem Interesse. Ein operational strukturierter diagnostischer Prozess wird diese Zuordnung der gestellten Diagnose zu den vier psychopathologischen Merkmalen der Schuldfähigkeitsparagraphen einfacher und nachvollziehbarer gestalten können, wie dies in Abb. 1.2 veranschaulicht wird.
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Operationale psychiatrische Diagnostik
Forensisch-psychiatrische Entscheidungsfindung
Symptom (Kriterium)
Merkmale nach §§20, 21 StGB plus Quantifizierung
Algorithmus
Syndrom (Kriterienverbindung) Algorithmus
Operationale Diagnose
Einsichtsfähigkeit plus Quantifizierung Steuerungsfähigkeit plus Quantifizierung
Abb. 1.2. Beziehung zwischen operationaler Diagnose und juristischem Merkmal
Diese Vereinfachung bezieht sich freilich ausschließlich auf die durch den Pfeil symbolisierte Relation Diagnose – Merkmal, also auf einen Teil des „ersten Stockwerks“ der Schuldfähigkeitsbegutachtung. Keineswegs eo ipso ausreichend ist die diagnostische Kategorie (weder die nach operationalen Grundsätzen gefundene noch die klinisch-intuitive) hingegen bei allen Quantifizierungsfragen sowie beim gesamten „zweiten Stockwerk“. Während nämlich sowohl psychiatrische Diagnosen als auch die psychopathologisch fundierten, aber letztlich juristischen Merkmale der Schuldfähigkeitsparagraphen, wissenschaftstheoretisch betrachtet, kategoriale Entitäten darstellen, handelt es sich bei den psychopathologischen Symptomen bzw. Syndromen einerseits und bei den Quantifizierungsfragen der Schuldfähigkeitsbeurteilung einschließlich der beiden Konstrukte Einsichts- und Steuerungsfähigkeit andererseits um dimensionale Gebilde. Anders formuliert: Während die Diagnose, insbesondere die operationale, gute Dienste leistet bei der Zuordnung eines psychischen Zustandes zu den juristischen Merkmalen, nützt sie bei der zwingend erforderlichen Quantifizierung des ersten Stockwerkes („krankhaft“, „tiefgreifend“, „schwer“) und auch bei der Feststellung und Quantifizierung des zweiten Stockwerkes („erhebliche Beeinträchtigung oder Aufhebung der jeweiligen Fähigkeit“) wenig. Dabei ist es kein Widerspruch, dass auch die stärker am Quantifizierungsgedanken orientierte operationale Diagnostik nicht alle Schweregradeinschätzungen abdeckt und abdecken kann, die im Rahmen des forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindungsprozesses erforderlich werden. Hier kommen weitere dimensionale Faktoren ins Spiel, auf die noch einzugehen sein wird. Die Abb. 1.3 veranschaulicht die angesprochenen Zusammenhänge. Die Erkenntnis, dass aus der psychiatrischen Diagnose keine unmittelbaren Schlüsse auf die Schuldfähigkeit gezogen werden dürfen, ist jüngeren Datums. Noch vor wenigen Jahrzehnten pflegte man, genau umgekehrt, aus dem bloßen Vorliegen bestimmter Diagnosen, insbesondere solcher aus den psychotischen Formenkreisen, regelhaft direkt auf Schuldunfähigkeit zu schließen. Dies kritisierte Janzarik (1995, S. 70 ff.) als diagnostisches Vorurteil, wobei er freilich noch nicht die operationale Diagnostik im Auge
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Operationale psychiatrische Diagnostik
Forensisch-psychiatrische Entscheidungsfindung
Symptom (Kriterium)
Merkmale nach §§20, 21 StGB plus Quantifizierung
Algorithmus
Syndrom (Kriterienverbindung) Algorithmus
Operationale Diagnose
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Einsichtsfähigkeit plus Quantifizierung Steuerungsfähigkeit plus Quantifizierung
Abb. 1.3. Dimensionale Aspekte der Diagnostik und der forensisch-psychiatrischen Entscheidungsfindung
haben konnte. Aus heutiger Perspektive ist festzuhalten, dass jede psychiatrische Diagnose prinzipiell mit jeder Stufe von Schuldfähigkeit assoziiert sein kann. So etwa ist es durchaus denkbar, einem Patienten mit einer chronischen, zum Deliktzeitpunkt in weitgehender Remission befindlichen schizophrenen Erkrankung bei bestimmten Deliktarten volle Schuldfähigkeit zuzuerkennen. Auch können Persönlichkeitsstörungen – psychische Auffälligkeiten also, die nach der Auffassung Kurt Schneiders gerade nicht zu den „Krankheiten“ gerechnet worden wären – unter bestimmten Voraussetzungen zur Dekulpierung, in Ausnahmefällen sogar zur Exkulpierung führen (Kröber 1993). Auch durch operationales Vorgehen gewonnene Diagnosen werden mitunter in der forensischen Situation über den im klinischen Kontext bereits erwähnten Prozess der Reifizierung irrtümlich mit unverrückbar feststehenden, „natürlichen“ Krankheitseinheiten gleichgesetzt, die allein qua Diagnose die De- oder Exkulpierung nahelegen. Das umgekehrte Vorurteil ist freilich nicht weniger problematisch, wenn nämlich angenommen wird, dass ein Proband, der die Kriterien für keine der genannten Diagnosen erfüllt, psychisch nicht gestört sein könne und daher eine psychiatrisch zu begründende Schuldminderung auszuschließen sei. Die Kurzschlüssigkeit beider Vorurteile haben, dies sei betont, die Autoren der operationalen Diagnosesysteme sehr wohl erkannt. Das DSM-IV-TR enthält dafür in der Einführung einen expliziten Warnhinweis: „Es muss darauf hingewiesen werden, dass die Aufnahme einer diagnostischen Kategorie in das DSM-IV zu klinischen und Forschungszwecken, wie z. B. die Diagnosen pathologisches Spielen oder Pädophilie, nicht bedeutet, dass dieser Zustand bestimmte rechtliche oder andere nichtmedizinische Kriterien erfüllt, die das Bestehen einer psychischen Erkrankung, einer psychischen Störung oder einer geistigen Behinderung festlegen. Die klinischen und wissenschaftlichen Überlegungen bei der Klassifizierung dieser Zustände als psychische Störungen sind ferner möglicherweise weniger relevant in Zusammenhang mit z. B. forensischen Aspekten, bei denen Gesichtspunkte wie individuelle Verantwortlichkeit sowie Be-
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stimmung von Behinderungen oder Geschäftsfähigkeit eine Rolle spielen“ (APA 2000; Saß et al. 2003).
Der Jurist erhält bei verkürzter Rezeption der Problematik aller operationalisierten Diagnosesysteme einen verzerrten Eindruck vom Prozess der psychiatrischen Diagnostik. Er könnte diesen nämlich als bloße Abbildung von quasi objektiven Symptomen missverstehen, könnte – dasselbe Problem wie im klinischen Bereich – die Bedeutung und Komplexität der ausführlichen und biographisch orientierten psychopathologischen Exploration unterschätzen, die ja aus der psychiatrischen Perspektive stets eine conditio sine qua non bleibt, ganz unabhängig davon, ob im Anschluss an die Exploration eine operational definierte Diagnose gestellt wird oder nicht (Hoff 1992; Saß u. Wiegand 1990). Jedem erfahrenen Gutachter und Juristen ist bekannt, wie wichtig gerade die immer wieder auftretenden „Gestalten“ in einem Lebenslauf, wiederkehrende Konflikttypen, die Qualität von Partnerbeziehungen, bevorzugte Problemlösungsstrategien und ähnliche hochkomplexe Phänomene für das Verständnis eines individuellen Werdeganges und damit auch einer individuellen Tat sind. Man wird es freilich nicht den operationalen Symptombeschreibungen und diagnostischen Kriterienverbindungen selbst anlasten können, dass sie nicht in der Lage sind, diesen hochkomplexen Sachverhalten im Sinne einer einfachen 1:1-Abbildung Rechnung zu tragen, da sie ja zu diesem Zweck gar nicht entwickelt wurden. Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich, dass die operationale psychiatrische Diagnostik aus der Sicht des forensisch Tätigen einen klaren Fortschritt bedeutet, dass sie aber, für sich alleine genommen, keine hinreichenden Kriterien für die relevanten forensischen Abgrenzungen liefert. Da sich die operationale Diagnostik, wie oben erläutert, stark an quantifizierbaren Phänomenen orientiert, erscheint es auf den ersten Blick paradox, dass diese Überlegung insbesondere für solche Abgrenzungen gilt, die – im Sinne des Schemas der Tabelle 1.1 – quantifizierende Momente zur Handlungsplanung und -durchführung beinhalten und sich auf die Einsichtsund Steuerungsfähigkeit beziehen. Doch ist dies nur ein scheinbarer Widerspruch, denn die in der deskriptiven Diagnostik intendierte Quantifizierung untescheidet sich von derjenigen der Schuldfähigkeitsparagraphen: Im ersten Fall werden beobachtbare oder vom Patienten geschilderte Verhaltens- und Erlebensmerkmale möglichst scharf umrissen – Beispiel: die Angstintensität im Rahmen einer Panikattacke erreicht „innerhalb von 10 Minuten einen Höhepunkt“ (DSM-IV-TR-Diagnosen 300.01 und 300.21, APA 2000, S. 455 ff.) –, im zweiten Fall müssen zwar quantifizierende, aber eben nicht operationalisierte juristische Begriffe wie „krankhaft“, „tiefgreifend“, „schwer“, „erheblich“ mit einem psychopathologisch fundierten Inhalt gefüllt werden. Erforderlich ist somit aus forensischer, aber auch aus klinischer Sicht eine Erweiterung der Perspektive der operationalen Diagnostik durch die folgenden Punkte:
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differenzierte psychopathologische Befunderhebung, Biographie, Persönlichkeitsentwicklung, Bezugnahme auf das klinisch-psychopathologische Erfahrungswissen.
An erster Stelle ist hier die Erhebung eines differenzierten psychopathologischen Befundes zu nennen, der auch komplexe, in den Kriterienkatalogen nicht angeführte, da möglicherweise gar nicht operationalisierbare Sachverhalt erfasst und beschreibt. Eine solche differenzierte Befunderhebung soll sich im Übrigen keineswegs eilfertig den vorgegebenen juristischen Kategorien anpassen. Sie soll etwa wahrnehmen, dass Einsicht und Steuerung juristisch zwar getrennte, aus psychiatrischer Sicht aber sehr wohl und zwar eng miteinander verknüpfte Phänomene sind. Hier sei an den von Janzarik (1995) eingeführten, den Juristen eher irritierenden Begriff der „Einsichtssteuerung“ erinnert 2. Überdies erfordert die Biographie des Probanden eine umfassende forensische Würdigung, ebenso wie, darin eingebettet, seine spezielle Persönlichkeitsentwicklung in den verschiedenen Lebensphasen. Schließlich verlangt die Schuldfähigkeitsbeurteilung bei der Erörterung etwaiger Auffälligkeiten eines Probanden die stetige Bezugnahme auf das klinisch-psychopathologische Erfahrungswissen über psychische Störungen. In besonderem Maße gilt dies natürlich für Fragen der Einsicht, der Steuerung und der unterschiedlichen Quantifizierungsschritte. Saß (1985, 1995) hat hierzu die Konzeption des „psychopathologischen Referenzsystems“ vorgelegt. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass zwischen den vom Gutachter zu kommentierenden psychopathologischen Voraussetzungen bestimmter „Fähigkeiten“, etwa Schuldfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit, und der klinisch-diagnostischen Ebene ein großer Unterschied besteht: „Schuldfähigkeit“ ist erkenntnistheoretisch nicht vergleichbar mit den vorhandenen oder absenten Symptomen, sie ist auch keine Diagnose, ist keine Kategorie des Mentalen. Anders formuliert: Die beiden Aussagen „Herr X ist traurig bzw. an einer mittelschweren depressiven Episode erkrankt“ (Symptomebene und operational diagnostische Ebene) und „Herr X ist vermindert schuldfähig“ (forensische Ebene) befinden sich theoretisch an recht verschiedenen Orten. Das juristische Konstrukt der verminderten Schuldfähigkeit ist mit Blick auf die psychiatrische Diagnostik am ehesten – aber auch nur mit Abstrichen – zu vergleichen mit der Ebene des Syndroms, sie ist demnach ein komplexes und dimensionales Phänomen. 2
„Wenn aber in dem Bereich, der der Einsicht zugeschrieben wird, Steuerung ebenso gefordert ist wie für die Handlung und wenn für die Steuerung der überaus flüchtigen kognitiven Prozesse sogar weitaus differenziertere Leistungen einzusetzen sind als für die Alternativentscheidung zwischen Handeln und Nichthandeln, wird die Gegenüberstellung von Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit fragwürdig. Die in das Vorfeld einer strafrechtlich relevanten Handlung zurückverlegte Handlungssteuerung ist, als ein innenweltliches Geschehen, notwendigerweise auch Einsichtssteuerung“. (Janzarik 1995, S. 51)
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Ein Beispiel: Betrachten wir die Frage, ob für ein Betrugsdelikt im Rahmen einer beginnenden Manie die Schuldfähigkeit in forensisch relevanter Weise beeinträchtigt war oder nicht. Hier muss der psychiatrische Sachverständige eine Aussage über die Befindlichkeit und die Qualität der psychischen Funktionen des Probanden zum vorgeworfenen Tatzeitpunkt machen, eine Aussage, die sich notwendigerweise auf eine ganze Reihe von einzelnen Beobachtungen und Schilderungen stützen wird. Seine Einschätzung wird weitgehend unabhängig von einer ätiologischen Diagnose sein, es wird also keine entscheidende Rolle spielen, ob das manische Syndrom endogener, drogeninduzierter oder anderweitig exogener Natur ist, etwa als Folge eines hormonell aktiven Tumors. Schließlich wird er seine Einschätzung nur durch die Einbettung aller vorliegenden Informationen in die Lebensgeschichte und insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung und das Wertgefüge des Betreffenden plausibel begründen können. Er wird etwa dazu Stellung nehmen, ob es sich um eine Erst- oder Wiedererkrankung handelt, ob die prämorbide Persönlichkeit auffällige, insbesondere hyperthyme oder depressive Züge trägt und ob eine längere Erfahrung mit Drogenkonsum vorliegt.
1.2.4 Zur forensischen Relevanz psychischer Störungen In der einleitenden Darstellung der psychiatrischen Krankheitsmodelle von der Aufklärung bis heute war die Bedeutung der Psychopathologie als Grundlagenwissenschaft der Psychiatrie erörtert worden (vgl. Janzarik 1976). Im Folgenden soll es um die forensische Relevanz der verschiedenen Krankheitsmodelle und der daraus resultierenden Auffassungen über psychische Störungen gehen (vgl. Saß 1985). Immer noch von Bedeutung sind die Unterschiede zwischen dem juristischen und dem medizinischen Krankheitsbegriff (Lange 1963). Sie sollten bei der Strafrechtsreform von 1975 durch die Restaurierung eines engen psychiatrischen Krankheitsbegriffes für die „krankhaften seelischen Störungen“ bei gleichzeitiger Abkopplung der neugeschaffenen Kategorien der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ überwunden werden (Krümpelmann 1976). Bis dahin hatte die Position von Kurt Schneider (1948), die in seinem Heidelberger Vortrag über die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit besonders klar und didaktisch stringent dargelegt worden war, großen Einfluss auf die Strafrechtswissenschaft gehabt. Damit verbunden war die Betonung eines somatopathologisch orientierten Krankheitsbegriffes. Seit der Relativierung eines derartigen Krankheitskonzeptes als Basis der Schuldfähigkeitsregelung in der Reformdiskussion 1975 dauern die Auseinandersetzungen darüber an, ob die Untersuchung möglicher Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit weiterhin eine psychopathologische Aufgabe ist, bei der ein entscheidender Ausgangspunkt in den Kenntnissen über die psychischen Krankheiten liegt, oder ob vielmehr theoretische Modellvorstel-
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lungen über die idealen psychischen Abläufe beim normalen menschlichen Handelsmaßstab für eine ungestörte Fähigkeit zur Normorientierung dienen sollen (Saß 1985). Seither auch steht eine vorwiegend psychopathologisch argumentierende Auffassung in Konkurrenz zu anderen forensischen Richtungen, die psychodynamischen, identitätstheoretischen, motivationspsychologischen oder handlungstheoretischen Modellen Relevanz für die Schuldfähigkeitsuntersuchung zubilligen wollen. Nach dem von Schreiber (1977) dargelegten normativen bzw. sozialen Schuldbegriff wird Schuld lediglich als das Zurückbleiben hinter dem Maß an Verhalten angesehen, das vom durchschnittlichen Staatsbürger erwartet wird. Dieses Abheben auf eine durchschnittliche Motivationsfähigkeit nach der Norm (Krümpelmann 1983) beim sozialen Schuldbegriff fand eine Entsprechung in Vorschlägen, bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung einen normalpsychologischen Beurteilungsmaßstab mit besonderer Berücksichtigung sozialer Aspekte anzuwenden. So haben forensische Psychologen gefordert, die Schuldfähigkeit an einem psychologischen Modell der „normalen Handlung“ (Thomae u. Schmidt 1967) bzw. der ungestörten Entwicklung einer „sozialkulturellen Persönlichkeit“ (Undeutsch 1974) zu prüfen. Rasch (1982) hat dementsprechend für die forensische Psychiatrie einen „strukturell-sozialen Krankheitsbegriff“ vorgeschlagen und damit ein Konzept der Schuldfähigkeitsbeurteilung, das deutliche Verbindungslinien zum sozialen Schuldbegriff aufweist. Zutreffend hat allerdings Witter (1983) die terminologische Fragwürdigkeit kritisiert, mit der sozialpsychologische, charakterologische und pädagogische Probleme zur „Krankheit“ umfunktioniert werden. Auch ist Göppinger (1983) zuzustimmen, dass die Grenze zum „Normalen“ ausgesprochen fließend wird, wenn eine beliebige Anzahl sozialer und psychologischer Umstände herangezogen wird, die verhaltensdeterminierend und schuldfähigkeitsmindernd wirken können. Hierzu hat Bresser (1983) realistisch festgestellt, dass vor allem der Egoismus des Menschen nicht selten der am stärksten dominierende und determinierende Bestimmungsfaktor des Verhaltens ist, so dass es weniger um das Problem geht, welche Determinations- oder Motivationskraft stärker oder weniger stark erscheine, sondern welches Determinationsgefüge dem handelnden Menschen zuzurechnen sei und welches nicht. Unterschiedliche biographische, soziale und charakterologische Einflüsse, die eine Persönlichkeitsentwicklung und die Lebenssituation zur Tatzeit bestimmen, sind bei der Begutachtung in idiographischer Methodik zu beschreiben und besitzen zweifellos für das Gericht für die Persönlichkeitsbeurteilung und die Strafzumessung wesentliche Bedeutung. Insofern kommt der Darstellung derartiger Aspekte im forensisch-psychiatrischen Gutachten eine wichtige Funktion im Strafprozess zu. Etwas anderes aber ist in aller Regel die Untersuchung einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit durch eine psychische Störung. Hier geht es um eine Beschreibung von psychischen Funktionen bzw. ihrer Einschränkung durch psychische Störungen, deshalb erscheint eine Ausrichtung des gutachterlichen Vorgehens am psychiatri-
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schen Wissen über Krankheiten, am klinischen Erfahrungsgut und an einem psychopathologischen Gesamtzusammenhang unerlässlich. Derartigen Überlegungen folgend, wurde in Ergänzung der sozialpathologischen Vorschläge ein dezidiert psychopathologischer Lösungsvorschlag zur Einschätzung der Relevanz von psychischen Störungen in der Schuldfähigkeitsfrage entwickelt. Ausgehend von der Verunsicherung der Beurteilungsnorm bei der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ (Saß 1983 a, b) wurde mit der Entwicklung eines symptomatologisch-syndromatologischen Vergleichsrahmens begonnen, der schließlich zu einem umfassenden „psychopathologischen Referenzsystem“ für die relationale Schweregradbestimmung der verschiedenen psychischen Störungen mit Relevanz für die Schuldfähigkeitsfrage weiter entwickelt wurde (Saß 1983 b, 1993). Zu Grunde liegt die Überzeugung, dass die Untersuchung psychischer Störungen als mögliche Ursache von möglichen Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit eine psychopathologische Aufgabe ist. Beim Vorgehen nach dem Prinzip des psychopathologischen Referenzsystems wird der breite psycho(patho)logische Erfahrungshintergrund der schweren psychischen Krankheiten als Ausgangspunkt genommen, da sie mit hohem, allgemein anerkannten Evidenzcharakter die markantesten Formen psychischer Störung ausmachen und gleichzeitig den Prototypus derjenigen Verfassungen markieren, die den Inbegriff von krankheitsbedingt fehlender Verantwortlichkeit darstellen. Die bei psychischen Erkrankungen auftretenden psychopathologischen Phänomene mitsamt ihren psychosozialen Auswirkungen werden beim Vorgehen nach dem Prinzip des Referenzsystems mit den jeweiligen psychischen Störungen im vorliegenden Fall verglichen. Auf diese Weise erhält das Gebiet der „krankhaften seelischen Störungen“ die Bedeutung einer „Kernkategorie“ und „Höhenmarke“ bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung (Krümpelmann 1976). In anderer Formulierung hat Kröber (1995) hierzu ausgeführt, das „Urmeter“ der Schuldunfähigkeit bleibe die in einer akuten Psychose begangene und psychotisch motivierte Tat. Es ist nicht, um Missdeutungen vorzubeugen, Voraussetzung für eine seelische Störung mit forensischer Relevanz, dass eine psychische Erkrankung im engeren Sinne vorliegt, wohl aber müssen psychopathologische Störungen vorliegen, die qualitativ und quantitativ mit den psychopathologischen Auswirkungen von psychischen Erkrankungen vergleichbar sind. Es gibt ein breites Wissen über die in den klinischen Kerngebieten psychischer Störungen vorkommenden Symptome und Syndrome, die Verlaufsgestalten, die prodromalen und residualen Veränderungen einschließlich ihrer psychoreaktiven und psychosozialen Auswirkungen auf Verhalten und Erleben. Damit steht ein empirisch reichhaltiger, gut gesicherter Bezugsrahmen für alle Erscheinungsformen gestörten Seelenlebens zur Verfügung. Dabei bedeutet das psychopathologische Referenzsystem keine Beschränkung der Beurteilungsbasis auf pathologische Erscheinungen, da die Psychopathologie seit ihrer methodologischen Grundlegung durch Jaspers (1913) auf dem gesamten Erfahrungsbereich der pathologischen psychi-
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schen Phänomene und des damit kontrastierenden gesunden Seelenlebens beruht. Mit dieser Konzeption soll nicht die Bedeutung der soziologischen, sozialpsychologischen und psychodynamischen Betrachtungsweisen bei der Analyse forensisch-psychiatrischer und kriminologischer Fragestellungen geschmälert werden. Wenn es aber um die Beuteilung der Schuldfähigkeit bei psychischen Störungen geht, so sind weiterhin die empirisch nachweisbaren Beeinträchtigungen der psychischen Funktionen zur Tatzeit von zentraler Bedeutung. Für ihre umfassende Erfassung und gewichtende Schweregradeinschätzung kann der Gutachter im Gericht mit dem psychopathologischen Referenzsystem einen Bezugsrahmen (vgl. Saß 2008) liefern. Dies erlaubt die empirische Beschreibung und Bewertung der psychopathologischen Phänomene des Einzelfalles, die im Verein mit der gestalthaften Analyse von Biographie, Persönlichkeit und Tatsituation empirische Anknüpfungspunkte für die normative Beurteilung der Schuldfähigkeit liefern.
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Psychopathologische Symptome sind einzelne, wenn auch nicht kategorial voneinander getrennte psychische Phänomene im Zusammenhang mit einer psychischen Störung, beispielsweise Stimmenhören, Denkhemmung, Zwangsgedanken. Freilich ergibt sich das „Pathologische“ an einem solchen Phänomen, abgesehen von drastischen Symptomen wie Verwirrtheit oder Desorientierung, oft erst aus dem gesamten Kontext: Nicht jede traurige Verstimmung ist einer depressiven Erkrankung zuzuordnen, nicht jedes Angstgefühl einer Angsterkrankung. Charakteristische psychopathologische Symptomverbände werden zu Syndromen zusammengefasst, etwa dem depressiven Syndrom, zu dem Symptome wie depressive Stimmung, Durchschlafstörung, Denkhemmung und Grübeln gehören können. Syndrome dürfen nicht mit Diagnosen bzw. Krankheiten verwechselt werden. Sie sind nosologisch ebenso unspezifisch wie die Symptome: Ein depressives Syndrom beispielsweise kann im Rahmen einer depressiven Erkrankung auftreten, aber auch bei Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung, Abhängigkeitserkrankung, Enzephalitis oder Epilepsie. Die hier vorgestellte deskriptive Form der Erfassung des psychopathologischen Befundes lehnt sich eng an den von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP) vorgelegten und kürzlich in revidierter Fassung veröffentlichten Vorschlag an (AMDP 2007). Einige Erweiterungen wurden in den Bereichen vorgenommen, die im AMDP-System nur knapp erfasst werden. Beispiele sind Persönlichkeitsmerkmale, das spezielle Konzept der schizophrenen Basisstörungen sowie manche bei „neurotischen“ Störungen häufige Symptome.
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Der psychopathologische Befund bezieht sich nicht nur auf eindeutig „Gestörtes“ oder „Krankhaftes“, sondern auch auf normale psychische Abläufe und deren fließenden Übergang in die Störung. Er lässt sich in die folgenden Bereiche gliedern: z äußeres Erscheinungsbild, Art der Kontaktaufnahme, genereller „Tenor“ des Untersuchungsgespräches, z Psychomotorik, z Bewusstsein und Orientierung, z Aufmerksamkeit und Gedächtnis, z Denken und sprachliche Äußerung, z Befürchtungen und Zwänge, z Wahn, z Sinnestäuschungen, z Ich-Störungen, z Affektivität, z Antrieb, Intentionalität, Wille, z Persönlichkeitsmerkmale, z weitere Symptome.
Erscheinungsbild und Art der Kontaktaufnahme Durch Kriterien kaum zuverlässig zu erfassen, aber dennoch wichtig ist die Art der Kontaktaufnahme zwischen Patient und Untersucher zu Beginn der Untersuchungssituation. Dabei spielen sowohl das äußere Erscheinungsbild als auch das verbale und nonverbale Verhalten eine Rolle, geben sie doch einen ersten – und nicht selten nachhaltigen – Aufschluss über die psychosozialen Kompetenzen des Patienten, über seine Behandlungsmotivation, mitunter auch bereits über relevante Persönlichkeitsmerkmale. In der Psychotherapieforschung wurde die Bedeutung des ersten Gesprächskontaktes, der Beziehungsgestaltung und der so geschaffenen „Situation“ besonders hervorgehoben. Dieser Bereich umfasst auch die psychomotorischen Aspekte menschlichen Erlebens und Verhaltens. Aus diesem Grund und wegen ihrer herausgehobenen Bedeutung für den psychopathologischen Befund werden diese im Folgenden noch vor den üblicherweise an dieser Stelle erörterten Störungen des Bewusstseins und der Orientierung dargestellt.
Psychomotorik Der Begriff Psychomotorik zielt auf die Prägung von Bewegungsabläufen und Körperhaltungen durch psychische Vorgänge ab. Der Sachverhalt als solcher ist allen Individuen gemeinsam. Die konkrete Ausgestaltung hingegen ist oft derart charakteristisch für eine bestimmte Person – ganz unabhängig im Übrigen vom Vorliegen einer psychischen Störung –, dass sie als zeitlich stabiles Erkennungsmerkmal aufgefasst werden kann. Störungen der Psychomotorik sind insoweit Störungen des „In-Erscheinung-Tretens“
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der Person oder, moderner formuliert, Ausdrucksstörungen. Zustandsabhängige „State-Variablen“, z. B. Zittern, bebende Stimme und Angespanntheit im Rahmen einer Angstattacke, können von dauerhaften „Trait-Variablen“, etwa einer habituellen bedächtig-langsamen Psychomotorik, unterschieden werden. Für den Untersucher kommt es nun darauf an, sowohl diejenigen psychomotorischen Merkmale zu erkennen und zu beschreiben, die mit der aktuell vorliegenden psychischen Störung verknüpft sind, als auch diejenigen, die unabhängig davon bestehen. Wichtige Bereiche sind Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprechweise. Erregung und Hemmung, Hypo- und Hyperkinese sind Pole, zwischen denen sich zahlreiche psychomotorische Auffälligkeiten einordnen lassen, etwa die Agitiertheit, der Erregungszustand, der Stupor. Beim stuporösen Patienten liegt in der Regel keine Bewusstseins-, sondern eine Kommunikationsstörung vor: Es erfolgt keine Reaktion auf Versuche der Kontaktaufnahme, der Gesichtsausdruck ist starr, abwesend, Spontanbewegungen fehlen. Zu beachten ist, dass im englischsprachigen Raum „stupor“ mitunter in scharfem Kontrast zum kontinentaleuropäischen Verständnis im Sinne von „organisch begründete Bewusstlosigkeit“ gebraucht wird. Katatone Syndrome unterschiedlicher Ätiologie werden von Störungen der Psychomotorik dominiert. Der Oberbegriff Parakinesen zielt auf ganz unterschiedliche psychopathologische Symptome ab, nämlich qualitativ abnorme, meist komplexe Bewegungen, die häufig die Gestik, die Mimik und die Sprechweise betreffen. Unter Stereotypien versteht man Äußerungen auf sprachlichem und motorischem Gebiet, die die Tendenz aufweisen, oft längere Zeit hindurch in immer gleicher Form wiederholt zu werden; im Gegensatz zur Perseveration ist hier aber kein Zusammenhang zu früher im Gespräch gebrauchten Worten und Gesten erkennbar. Wichtig sind ferner die Verbigeration (Wortstereotypien), die in der Regel mit starker Muskeltonuserhöhung einhergehende Katalepsie (Haltungsstereotypien) und die Flexibilitas cerea (wächserne Biegsamkeit). Alltägliche Bewegungen und Handlungen – erkennbar an Gestik, Mimik und Sprache – des manierierten Patienten erscheinen dem Untersucher verstiegen, verschroben, unnatürlich, posenhaft und verschnörkelt. Dieses Symptom überlappt sich z. T. mit dem viel häufiger zu beobachtenden theatralischen Verhalten, bei dem die Patienten den Eindruck hinterlassen, sie stellten sich selber auf einer Bühne dar. Hier dominiert das Moment des Drastischen, des Überziehens, nicht aber – im Gegensatz zur Manieriertheit – das des Befremdlichen. Ausgeprägte Wortkargheit bis hin zu völligem Nichtsprechen wird als Mutismus bezeichnet, ein Symptom, das häufig, aber keineswegs immer in Verbindung mit einem Stupor beobachtet wird. Der logorrhöische Patient hingegen zeigt einen verstärkten Redefluss, wobei sein Denken weder inkohärent noch beschleunigt sein muss.
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Bewusstsein und Orientierung Eine allgemein anerkannte Definition des Bewusstseins (vgl. Kap. 3.2 in diesem Band) existiert nicht. Deshalb vermeidet man es in der klinischen Praxis vielfach, Bewusstsein positiv zu definieren, und nähert sich dem Begriff von der anderen Seite, nämlich der psychopathologischen Erfahrung mit Störungen des Bewusstseins bei psychischen Erkrankungen. „Bewusstseinsstörungen“ sind stets Störungen des gesamten Erlebens und Verhaltens. Als Ausdruck dafür gelten Störungen der Aktivität, der Klarheit und Zielgerichtetheit in der Zuwendung zur Umwelt, der Aufmerksamkeit, der Sinneswahrnehmung im engeren Sinne, der Ansprechbarkeit, der thematischen Fixierbarkeit, der Reagibilität auf Umweltreize, der Orientierung des Denkens, Wollens und Handelns auf personal verankerte und ausgerichtete Ziele. Zur Erfassung von Bewusstseinsstörungen kann man sich eines quantitativen Symptoms (Bewusstseinsverminderung) und dreier qualitativer Merkmale (Bewusstseinstrübung, Bewusstseinseinengung, Bewusstseinsverschiebung) bedienen. Im neurologischen Bereich wird diese Unterscheidung von quantitativen und qualitativen Störungen des Bewusstseins zumeist nicht praktiziert, sondern Bewusstsein weitgehend mit Vigilanz gleichgesetzt. Auf die noch einmal völlig andere Konnotation des Begriffs „Bewusstseinsstörung“ in der juristischen Fachsprache kann hier nur hingewiesen werden. Wichtig wird dies v. a. bei der psychiatrischen Begutachtung zur Frage der Schuldfähigkeit (gesetzliches Merkmal der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ in den §§ 20 und 21 StGB, vgl. Kap. 3.2 in diesem Band). Bei der Bewusstseinsverminderung besteht eine Störung der Wachheit oder Vigilanz, die von der Benommenheit über die Somnolenz und den Sopor bis hin zum Koma reichen kann. Die Patienten sind in unterschiedlichem Maße schläfrig, aspontan und verlangsamt. Es handelt sich um eine vorwiegend quantitative Veränderung. Die Bewusstseinstrübung stellt dagegen eine vor allem qualitative Beeinträchtigung der Bewusstseinsklarheit dar. Die Fähigkeit, verschiedene Aspekte der eigenen Person und der Umwelt zu verstehen, sinnvoll miteinander zu verbinden und sich entsprechend mitzuteilen und zu handeln, ist beeinträchtigt. Einzelne Erlebnisgruppen können scheinbar ohne Beziehung zueinander ablaufen bis hin zum Zerfall des Erlebens. Eine weitgehende Abkehr von der Außenwelt, stark gestörte Auffassungsgabe, Ablenkbarkeit und Schwerbesinnlichkeit begleiten den Zustand häufig. Bewusstseinstrübung wird bei deliranten Bildern, beim (seltenen) Oneiroid und bei manchen Dämmerzuständen beobachtet. Die Bewusstseinseinengung ist durch eine Fokussierung des aktuellen psychischen Feldes auf wenige Themen gekennzeichnet. Charakteristisch ist dabei die verminderte Ansprechbarkeit auf Außenreize. Die Metapher vom „Lichtkegel des Bewusstseins“ bietet sich zur Erläuterung an: Danach ist hier von einem engwinkligen und zugleich wenig beweglichen Lichtkegel zu sprechen. Der Patient wirkt fixiert auf innere Erlebnisse oder äu-
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ßere Gegebenheiten. Bewusstseinseinengung kann therapeutisch induziert werden, etwa beim autogenen Training und in der Hypnose; beim Gesunden tritt sie auch bei starker Konzentration auf ein bestimmtes Thema auf. Bei der Bewusstseinsverschiebung handelt es sich um eine fast völlig im Subjektiven bleibende Form der Bewusstseinsstörung, bei der über eine „Erweiterung“ des Erlebens berichtet wird, eine Steigerung der Wachheit, intensivierte Wahrnehmung von Raum, Zeit und verschiedenen Sinnesempfindungen. Die Betroffenen wirken meist sehr wach, lebendig, offen, lebhaft. Das emotionale Erleben, sei es positiv oder negativ, wird als besonders intensiv bezeichnet. Derartige Zustände kommen spontan vor oder auch intendiert, etwa bei Meditation und tiefer Hypnose, unter dem Einfluss von Halluzinogenen oder Entaktogenen (z. B. Ecstasy = 3,4-MethylenDioxy-N-Methylamphetamin (MDMA)) und schließlich bei schizophrenen und affektiven (meist manischen) Psychosen (Gouzoulis-Mayfrank et al. 2005; Vollenweider u. Geyer 2001).
Orientierung Zu unterscheiden sind die Orientierung zur Person, zum aktuellen Aufenthaltsort und Zeitpunkt sowie zur gegebenen Situation.
Aufmerksamkeit und Gedächtnis Eine Auffassungsstörung beeinträchtigt die Fähigkeit, Wahrnehmungen in ihrer Bedeutung zu begreifen, sinnvoll miteinander zu verbinden und in den gesamten individuellen und sozialen Erfahrungshorizont zu integrieren. Die Auffassung kann fehlerhaft sein oder verlangsamt – der Patient wirkt „schwerbesinnlich“ –, sie kann auch ganz fehlen. Eine klinische Graduierung des Ausprägungsgrades wird oft unter Zuhilfenahme von Sprichwörtern, Bildgeschichten oder kurzen Erzählungen versucht, die der Patient deuten soll. Damit werden auch eine Reihe anderer psychopathologischer Symptombereiche berührt, etwa Gedächtnis, formales Denken, Affektivität. Bei der Konzentrationsstörung ist die Fähigkeit vermindert, die Aufmerksamkeit ausdauernd einer Tätigkeit oder einem Thema zuzuwenden. Subtraktionsaufgaben (z. B. von 100 immer wieder 7 zu subtrahieren) oder das rasche Nennen der Wochentage oder Monatsnamen in umgekehrter Reihenfolge können zur Prüfung eingesetzt werden. Merkfähigkeitsstörungen äußern sich in dem reduzierten Vermögen, aktuelle Sachverhalte über kurze Zeiträume von einigen Minuten zu speichern. Die Prüfung ist unter den wenig standardisierten klinischen Untersuchungsbedingungen natürlich schwieriger und fehleranfälliger als eine ausführliche testpsychologische Diagnostik. Wegen der Bedeutung affektiver Komponenten für das Erinnerungsvermögen empfiehlt es sich, für die Untersuchung möglichst neutrales Material zu verwenden, etwa die Wortfolge „34, Oslo, Aschenbecher“. Der Patient wird gebeten, sich diese Begrif-
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fe zu merken und sollte sie zunächst einmal nachsprechen, um eine Auffassungsstörung auszuschließen; einige Minuten später im Gespräch wird er dann aufgefordert, die Begriffe zu reproduzieren. Mit Gedächtnisstörung ist die Herabsetzung bis Aufhebung der Fähigkeit gemeint, Inhalte längerfristig (länger als etwa 10 min) zu speichern und Erlerntes gezielt aus dem Gedächtnis abzurufen. In der klinischen Situation wird zumeist mit der groben Einteilung in Frisch- und Altgedächtnis gearbeitet; die neuropsychologische Forschung nimmt dagegen weit differenziertere Nuancierungen der Gedächtnisleistungen vor und stellt entsprechende Untersuchungsverfahren bereit. Zu den klinisch relevanten Gedächtnisstörungen zählen auch die Amnesien, also zeitlich wie inhaltlich begrenzte Gedächtnislücken, sowie die „Zeitgitterstörung“, womit die Unfähigkeit gemeint ist, in sachlich zutreffender und den biographischen Gesamtzusammenhang angemessen berücksichtigender Weise über frühere Erlebnisse zu berichten. Konfabulationen sind erfundene, aber nicht als Erfindung erkannte, sondern für echte Erinnerungen gehaltene Berichte des Patienten, mit denen er Erinnerungslücken ausfüllt. Charakteristisch ist, dass bei mehrmaligem Nachfragen immer wieder andere Inhalte angeboten werden. Entsteht in der Exploration der Eindruck einer Konfabulation, so sollte daher dieselbe Frage mehrfach gestellt werden. Mit dem Sammelbegriff Paramnesien erfasst man die folgenden Phänomene: z vermeintliches Wiedererkennen bzw. vermeintliche Vertrautheit, das Erleben also – oft mit dem Charakter der Gewissheit –, etwas Bestimmtes schon einmal gesehen, gehört, durchlebt zu haben, „déja-vu“, z vermeintliche Fremdheit, das Erleben, etwas objektiv Bekanntes noch nie wahrgenommen oder durchlebt zu haben, „jamais-vu“, z Ekmnesie als Störung des Zeiterlebens bzw. der zeitlichen Einordnung, bei der die Vergangenheit als Gegenwart erlebt wird (etwa bei der senilen Demenz, aber auch in affektiven Ausnahmezuständen), z Hypermnesie als ungewöhnliche, keineswegs immer positiv erlebte Steigerung der Erinnerungsfähigkeit (etwa bei exogenen, oft drogeninduzierten Psychosen, aber auch bei schwer psychotischen schizophrenen Patienten).
Denken und Sprechen Die in der deutschsprachigen psychiatrischen Tradition lange Zeit übliche, heute aber zunehmend in Frage gestellte kategoriale Unterscheidung von Form und Inhalt eines psychopathologischen Symptoms findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Trennung von formalen und inhaltlichen Störungen des Denkens und des Sprechens. Obwohl das Verhältnis zwischen Form und Inhalt weitaus komplexer ist, als die genannte einfache Zweiteilung vermuten lässt, ist diese doch für die Praxis der psychopathologischen Befunderhebung gut geeignet. Im Folgen-
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den wird zunächst der „formale“ Aspekt behandelt, der „inhaltliche“ folgt in den Abschnitten über Zwänge und Wahn. Bei der Denkhemmung wird das Denken und oft auch das Aussprechen der Gedanken vom Patienten als gebremst oder blockiert erlebt, als liefen diese Vorgänge gegen einen inneren Widerstand ab. Trotz offensichtlicher Bemühung kann der Patient diese Hemmung nicht überwinden. Im Extremfall äußert er, überhaupt nicht mehr denken zu können. Demgegenüber zeigt der Patient mit Denkverlangsamung zwar auch einen schleppenden, trägen Denkablauf sowie ein entsprechendes Gesprächsverhalten, doch fehlt hier der Eindruck des Ankämpfens gegen einen Widerstand. Umständliches, weitschweifiges Denken führt dazu, dass der Patient das Wesentliche nicht vom Unwesentlichen trennt und sich in Details verliert, dabei aber den inhaltlichen Gesamtzusammenhang weitgehend zu wahren in der Lage ist. Dieses Symptom ist insoweit sowohl von der Inkohärenz/ Zerfahrenheit als auch von der Ideenflucht verschieden. Ein eingeengtes Denken liegt vor, wenn der Umfang möglicher Denkinhalte eingeschränkt ist, wobei natürlich die Bezugsgröße, der „Normwert“, stark von der intellektuellen Ausgangsverfassung des Patienten abhängt. Auch das Haften an einem bestimmten Thema oder ganz wenigen Themen und die gedankliche Fixierung auf wenige Zielvorstellungen sind hier gemeint. Verwandt, aber nicht identisch ist die Perseveration, bei der der Patient weniger an komplexen Themen, sondern vielmehr an zuvor gebrauchten Worten oder Angaben haftet, die im aktuellen Zusammenhang nicht mehr sinnvoll sind und die Kommunikation wesentlich beeinträchtigen. Grübeln meint das nahezu unablässige Beschäftigtsein mit vorwiegend, aber nicht ausschließlich unangenehmen Themen. Die Gedanken kreisen immer wieder um die gleichen Inhalte, sind nur mit Mühe oder gar nicht für längere Zeit zu unterbrechen, führen daher zu Leidensdruck, werden aber nicht als fremd erlebt. Dies stellt ein diskriminierendes Merkmal zur Gruppe der Zwangsphänomene dar. Beim Gedankendrängen sieht sich der Patient dem Druck vieler verschiedener Einfälle oder Gedanken ausgesetzt und kann diese Fülle oft kaum noch kontrollieren. Die Gedanken können als sinnvoll oder sinnlos erlebt werden, sie können sich überstürzen oder wie automatisch ablaufen. Das Denken muss dabei nicht beschleunigt sein. Die Ideenflucht ist gekennzeichnet von einer Vermehrung von Einfällen, die aber nicht mehr von einer klaren Zielvorstellung geleitet werden. Das Ziel des Denkens kann durch ständig intervenierende Assoziationen oft wechseln oder ganz verloren gehen. Der Ideenflüchtige gerät vom Hundertsten ins Tausendste, führt einen Gedanken oder Satz oft nicht zu Ende. Die Sprache kann sich mitunter vorwiegend an Klangassoziationen orientieren und dabei die inhaltlichen Zusammenhänge völlig aus dem Auge verlieren. Auch das Denken des Ideenflüchtigen muss nicht beschleunigt sein.
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Beim Vorbeireden geht der Patient nicht auf die gestellte Frage ein, bringt etwas inhaltlich Unpassendes vor, obwohl aus seiner Antwort bzw. der Situation ersichtlich ist, dass er die Frage verstanden hat. Ein absichtliches Verweigern oder Verzerren der Antwort ist hier freilich nicht gemeint. Von Sperrung und Gedankenabreißen spricht man, wenn der Patient über den plötzlichen Abbruch eines sonst flüssigen Gedankengangs berichtet oder der Untersucher das abrupte Ende eines bereits begonnenen gesprochenen Satzes beobachtet, jeweils ohne dass ein erkennbarer Grund vorliegt. In diesem Fall ist klar zwischen Fremdbeurteilung (Sperrung) und Selbstbeurteilung (Gedankenabreißen) zu unterscheiden. Inkohärenz und Zerfahrenheit: Eine zuverlässige Unterscheidung zwischen diesen beiden Symptomen ist entgegen früheren Auffassungen nicht möglich. Problematischerweise wird der eine Terminus, nämlich „inkohärent“, in der Praxis meist mit den hirnorganisch begründbaren und der andere, nämlich „zerfahren“, mit den schizophrenen Psychosen in Verbindung gebracht. Diese unzulässige „automatische“ Verknüpfung der psychopathologischen mit der nosologischen Ebene widerspricht der Grundintention sowohl der deskriptiv orientierten Psychopathologie als auch der darauf aufbauenden operationalen Diagnosesysteme wie DSM-IV und ICD-10. Ohne damit weitergehende theoretische Annahmen zu verknüpfen, insbesondere ohne eine durch empirische Befunde validierte Trennung beider Begriffe für die Zukunft grundsätzlich auszuschließen, sollten sie beim jetzigen Wissensstand synonym gebraucht werden. Bei inkohärenten bzw. zerfahrenen Patienten verlieren Denken und Sprechen für den Untersucher ihren verständlichen Zusammenhang (Paralogik). Im Extremfall sind sie in einzelne, scheinbar zufällig durcheinander gewürfelte Sätze, Satzgruppen oder Worte fragmentiert (Paragrammatismus, Sprachzerfall). Assoziierte, untereinander überlappende und vorwiegend dem Bereich der Denkzerfahrenheit zugeordnete Phänomene sind (wobei bei einigen dieser Phänomene die Grenze zwischen formalem und inhaltlichem Denken verwischt wird): z die Kontamination (Verschmelzung heterogener Sachverhalte), z die Verdichtung (Zusammenziehen von mehreren, nicht unbedingt widersprüchlichen Ideen), z die Entgleisung des Denkens (Abgleiten von der Hauptgedankenreihe auf Nebengedanken, die sich ungeordnet in die Hauptreihe hineindrängen), z die Sprunghaftigkeit und z die „Verschrobenheit“ des Denkens. Neologismen, angesiedelt im Grenzgebiet von formalem und inhaltlichem Denken, bezeichnen Wortneubildungen, die der sprachlichen Konvention nicht entsprechen und oft nicht unmittelbar oder gar nicht verständlich sind. Im Extremfall benutzt der Patient eine „Privatsprache“. Begriffe, die in Subkulturen gebräuchlich, dem Untersucher aber unbekannt sind, sind hier freilich nicht gemeint.
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Befürchtungen und Zwänge Der misstrauische Mensch bezieht Wahrnehmungen in oft ängstlicher oder verunsicherter Weise auf die eigene Person und unterstellt anderen eine feindselige Haltung. Dabei ist das Misstrauen in erster Linie aus dem Verhalten des Patienten im Kontakt mit dem Untersucher zu erschließen, mitunter kann es aber auch vom Patienten als subjektives Erleben unmittelbar angegeben werden. Die ängstlich getönte Beziehung zum eigenen Körper, bei der etwa leichtere Missempfindungen intensiv wahrgenommen werden und zu der offensichtlich unbegründeten Befürchtung beitragen, körperlich krank zu sein oder zu werden, wird hypochondrisch genannt. Dies ist im jetzigen Zusammenhang aber als Bezeichnung eines psychopathologischen Symptoms und nicht einer Diagnose zu verstehen. Zwangssymptome zeichnen sich generell dadurch aus, dass der Betroffene ihren Ritualcharakter, ihre Unsinnigkeit und Schädlichkeit zwar erkennt, darunter auch leidet, sie aber dennoch nicht unterdrücken oder unterlassen kann, ohne in starke Unruhe und Angst zu geraten. Zwangsgedanken werden oft nicht handlungsrelevant und können abgegrenzt werden von den Zwangsimpulsen. Zwangsimpulse sind im Einzelfall mehr oder weniger steuerbar und äußern sich im Verhalten, etwa die Impulse, zu kontrollieren, sich oder andere zu schädigen, obszöne Worte auszustoßen (Koprolalie), zu zählen und zu rechnen. Zwangshandlungen beziehen stets die beobachtbare Handlungsebene mit ein. Zwangsimpulse und Zwangsgedanken sind oft Auslöser für Zwangshandlungen – etwa exzessiv häufiges ritualisiertes Händewaschen –, zumindest bei noch nicht chronifizierten Zwangsstörungen. Zwangslachen und Zwangsweinen: Dies sind seltene Symptome. Das gezeigte Verhalten steht typischerweise in krassem Gegensatz zur Situation, was dem Betroffenen bewusst ist und ihn erheblich beeinträchtigt. Diese Symptome können, müssen aber nicht in Verbindung mit Affektlabilität oder Affektinkontinenz (s. u.) auftreten.
Wahn Wahn entsteht auf dem Boden einer allgemeinen Veränderung des Erlebens (Definition von Jaspers) und imponiert oft – aber nicht notwendigerweise – als krasse Fehlbeurteilung der Realität, die mit weitgehend erfahrungsunabhängiger Gewissheit vertreten wird, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit der Mitmenschen steht. Der Begriff Wahnstimmung bezeichnet die erlebte Atmosphäre des Betroffenseins, der Erwartungsspannung in einer als verändert erlebten Welt oder auch durch ein als verändert erlebtes Ich-Bewusstsein. Häufig besteht eine Stimmung von Unheimlichkeit, Erschüttert- und Erschrecktsein, Bedrohung, Angst, Argwohn, Ratlosigkeit, seltener auch Gehobenheit, Euphorie und Zuversicht.
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Bei den Wahnwahrnehmungen erhalten korrekte Sinneswahrnehmungen (1. Schritt) eine abnorme Bedeutung (2. Schritt) („Zweigliedrigkeit“ nach Kurt Schneider 1967), und zwar meist im Sinne der Eigenbeziehung. Wahneinfall meint das oft unvermittelte, sich nicht in erster Linie auf Sinneswahrnehmungen berufende, im Sinne von Kurt Schneider „eingliedrige“ Auftreten von wahnhaften Vorstellungen und Überzeugungen. Wahngedanken und systematisierter Wahn: Im Laufe der zunehmenden Strukturierung kann es zu Wahngedanken und schließlich zu systematisiertem Wahn kommen. Entscheidend ist der Grad der Verknüpfung einzelner Wahnsymptome mit anderen Wahnphänomenen, Sinnestäuschungen, IchStörungen oder auch nicht krankhaft veränderten Beobachtungen und Erlebnissen. Zwischen einzelnen Elementen werden Verbindungen hergestellt, die oft einen kausalen oder finalen Charakter besitzen und vom Patienten als Beweise und Bestätigungen angesehen werden. Wahndynamik meint die stets vorhandene, aber in ihrer Intensität intraund interindividuell stark schwankende affektive Anteilnahme am Wahn. Es sind verschiedene Wahnthemen zu unterscheiden: z Beziehungswahn, bei dem in wahnhafter Eigenbeziehung selbst belanglose Ereignisse auf den paranoid Erlebenden bezogen werden. z Dies verbindet sich oft mit einem Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn. z Beim Eifersuchtswahn steht die wahnhafte Überzeugung, vom Lebenspartner betrogen und hintergangen zu werden, ganz im Vordergrund. z Im Falle des Schuldwahns erlebt der Betroffene in nicht nachvollziehbarer Weise persönliche Verantwortlichkeit. z Analoges gilt für den Verarmungswahn, den hypochondrischen und den Größenwahn. Kurt Schneider (1950) sprach im Zusammenhang mit den Wahnthemen, die charakteristischerweise bei der wahnhaften Depression auftreten, von den 3 Urängsten des Menschen, nämlich der Sorge um das Seelenheil, die Gesundheit und den Besitz. Freilich ist die Zahl möglicher Wahnthemen ebenso unbegrenzt wie die Themen des ungestörten Denkens und Urteilens. Wie alle anderen psychopathologischen Symptome sind auch Wahnsymptome nosologisch und ätiologisch unspezifisch, sie lassen also keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Diagnose und die Verursachung zu. Aus dem Vorliegen von Größenwahn unmittelbar auf eine manische Psychose zu schließen, ist daher ebenso unzulässig wie der Schluss von einem Verfolgungswahn auf die paranoide Schizophrenie. Das Adjektiv „paranoid“ wird allerdings leider recht uneinheitlich gebraucht. Während es in unserem Sprachraum überwiegend – und unabhängig vom Inhalt – synonym mit „wahnhaft“ benutzt wird, schränken andere, vorwiegend angloamerikanische Autoren seine Bedeutung ein auf den Aspekt des „Verfolgungswahns“.
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Der von Wernicke eingeführte Begriff der überwertigen Idee darf nicht mit Wahn gleichgesetzt werden, obwohl es natürlich Übergänge zwischen beiden Phänomenen gibt. Die überwertige Idee knüpft oft an ein besonders wichtiges, mit heftigen Affekten verbundenes Ereignis oder an eine entsprechende Vorstellung an und gewinnt einen immer dominierenderen Einfluss auf Erleben, Planen und Verhalten des Betroffenen.
Sinnestäuschungen Illusionen bezeichnen verfälschte wirkliche Wahrnehmungen. Die objektiv vorhandene Reizquelle wird verkannt – dies im Gegensatz zur Wahnwahrnehmung, bei der es um die Bedeutungszuweisung geht. Häufig liegt eine affektiv angespannte Situation, etwa starke ängstliche Erregung, vor, die die Richtung der Verfälschung bestimmt. Halluzinationen sind Wahrnehmungserlebnisse ohne physikalische Reizquelle, die auf jedem Sinnesgebiet auftreten können. Klinisch am bedeutsamsten sind die akustischen und optischen Halluzinationen. Das Stimmenhören, also die Wahrnehmung menschlicher Stimmen, ohne dass tatsächlich jemand spricht, kann sich auf eine einzelne Stimme beziehen, aber auch auf mehrere, die wiederum voneinander unabhängig sind oder miteinander sprechen (dialogisierende Stimmen). Besonderer Erwähnung bedürfen die kommentierenden und befehlenden (imperativen) Stimmen wegen ihres möglichen Einflusses auf das Verhalten des Patienten, etwa im Sinne einer Aufforderung zum Suizid. Akustische Halluzinationen, die nicht dem Stimmenhören entsprechen, werden als Akoasmen bezeichnet, etwa das Hören von Klopfen oder Hämmern. Aber auch Musik kann halluziniert werden. Im Falle optischer Halluzinationen werden Lichtblitze, Muster, Gegenstände, Personen oder ganze Szenen ohne entsprechende äußere Reizquelle wahrgenommen. Körperhalluzinationen kommen vor als taktile Halluzinationen, bei denen die Berührung nicht vorhandener Objekte empfunden wird, und als Zoenästhesien, worunter qualitativ abnorme, fremdartige sowie häufig negativ getönte Leibsensationen zu verstehen sind. Sie werden von den Betroffenen oft in Gestalt bizarrer Metaphern beschrieben. Sie können gleichförmig und streng umschrieben sein, aber auch oft wechselnd in Qualität und Ausdehnung. Schließlich sind noch die Geruchs- und Geschmackshalluzinationen zu erwähnen (olfaktorische und gustatorische Sinnesqualität).
Ich-Störungen Ich-Störungen sind Störungen in der subjektiven Wahrnehmung der eigenen Person, der Umwelt und der Beziehung dieser beiden Bereiche zueinander. Der Begriff „Ich“ ist dabei pragmatisch-empirisch zu verstehen und insoweit nicht Ausdruck eines spezifischen philosophischen Vorver-
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ständnisses, etwa eines existenzphilosophischen. Im Unterschied zur hier vertretenen Auffassung werden die Ich-Störungen, soweit sie im Kontext psychotischer Störungen auftreten und die Auflösung von Ich-Grenzen meinen, im angloamerikanischen Raum oft nicht als eigenständiger psychopathologischer Merkmalsbereich aufgefasst, sondern den psychotischen Störungen des inhaltlichen Denkens, also dem Wahn, zugeordnet. Bei der Derealisation erscheinen Personen, Gegenstände, oft die gesamte Umgebung unwirklich, fremdartig, räumlich verändert und damit unvertraut, sonderbar, gespenstisch. Im Falle der Depersonalisation liegt eine Störung des aktuellen Einheitserlebens der Person vor oder der subjektiven Identität in Bezug auf den ganzen Lebenslauf. Der Betroffene erlebt sich als fremd, unwirklich, verändert, uneinheitlich.
Gedankenausbreitung, -entzug und -eingebung Die im Folgenden beschriebenen Ich-Störungen wurden – neben einigen anderen – von Kurt Schneider als „Symptome ersten Ranges“ für die Schizophreniediagnose bezeichnet, sind aber, was auch Kurt Schneider betonte, nicht pathognomonisch für Schizophrenie, sondern kommen beispielsweise bei einer ganzen Reihe von exogenen Psychosen vor. z Gedankenausbreitung meint das konkrete subjektive Erleben, dass die Gedanken nicht mehr dem Patienten alleine gehören, dass andere daran Anteil haben und wissen, was er denkt (Gedankenlesen). z Beim Gedankenentzug wird über das Wegnehmen eigener Gedanken berichtet. z Bei der Gedankeneingebung schildert der Patient das Implantieren fremder Gedanken und Vorstellungen in das eigene Erleben im Sinne einer von außen gesteuerten Beeinflussung und Lenkung. Dieses wichtige Kriterium des „Von-außen-Gemachten“ findet sich ebenso bei anderen Beeinflussungserlebnissen, etwa in Bezug auf Bewegungen, Handlungen, Absichten und Gefühle.
Affektivität Der Oberbegriff Affektivität umfasst unterschiedliche psychische Phänomene. Gemeinhin wird mit „Stimmung“ auf das überdauernde, allenfalls in „langwelligen“ Schwankungen verlaufende Moment abgehoben und mit „Affekt“ auf das kurze, spontane, aus der jeweiligen Situation entstandene. Störungen der Affektivität unterliegen mitunter einer ausgeprägten Tagesrhythmik. Auf derartige zirkadiane Besonderheiten gilt es zu achten, etwa auf ein morgendliches Stimmungs- und Antriebstief. z Depressivität und Hoffnungslosigkeit. Die Bezeichnung depressiv umfasst ein breites Spektrum von negativ getönten Gefühlszuständen: Niedergeschlagenheit, Traurigkeit, Lustlosigkeit, Interessenverlust, Sorge, Gram, Hilflosigkeit, innere Qual, Verzweiflung, Anspannung, untergründige – seltener auch offene – Gereiztheit und Aggressivität. Die Hoffnungslosigkeit
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mit ihrer pessimistischen Grundstimmung und fehlenden Zukunftsorientierung gehört in diesen Zusammenhang. z Gefühl der Gefühllosigkeit. Der zunächst innerlich widersprüchlich erscheinende Begriff des Gefühls der Gefühllosigkeit zielt ab auf die Reduktion allen affektiven Erlebens, unabhängig von der thematischen Zuordnung des Affekts, und eine subjektiv wahrgenommene Gefühlsleere. Als besonders quälend wird dabei die Unfähigkeit geschildert, Trauer zu erleben oder in einer entsprechenden Situation weinen zu können. Bei der Anhedonie umfasst die Störung nicht alle Gefühlsqualitäten, sondern vorwiegend das Erleben von Freude und Wohlgefühl – ein typisches, wenn auch keineswegs spezifisches Merkmal des schizophrenen Residuums. Dabei handelt es sich ebenso wie beim Gefühl der Gefühllosigkeit um die subjektive Seite von Affektarmut und Affektstarre. z Affektarmut und Affektstarre. Sie werden vorwiegend vom Beurteiler wahrgenommen. Bei ersterer ist das Spektrum gezeigter Gefühle vermindert, nur wenige oder nur sehr dürftige Affekte sind beobachtbar. Letztere ist Ausdruck einer verminderten Auslenkbarkeit der durchaus vorhandenen einzelnen Affekte, bildlich gesprochen also eine Verminderung der Amplitude affektiver Äußerungen. z Störungen der Vitalgefühle. Mit diesem nur schwer zu operationalisierenden Merkmal ist eine allgemeine Herabsetzung des Gefühls von Kraft und Lebendigkeit gemeint. Die Betroffenen klagen darüber, dass sie sich beschwert und geradezu körperlich niedergedrückt fühlten, kraftlos und müde. Dieses Symptom steht häufig im Kontext von Depressivität und Antriebsstörung. z Ängstlichkeit. Sie ist ebenfalls ein recht globales psychopathologisches Symptom, das als solches weder hinsichtlich seiner Ätiologie noch seiner genauen diagnostischen Zuordnung eindeutige Schlüsse zulässt. Zu unterscheiden ist zwischen generalisierter und phobischer Ängstlichkeit und der Panikattacke: z Generalisierte Angst. Sie wird oft als „frei flottierend“ bezeichnet und hat kein konkretes Objekt. Die betroffenen Patienten sprechen etwa von „unbestimmter Angst“, der „Angst vor allem“ oder der „Angst vor dem Leben“. z Phobische Angst. Phobisch nennt man demgegenüber Ängste vor ganz bestimmten, von den Patienten klar zu bezeichnenden Situationen oder Objekten. Derartige Ängste haben meist Vermeidungsreaktionen zur Folge. Oft wird diese Angst als unbegründet und unangemessen erkannt, ohne dass dies zu einer Erleichterung führt. z Panikattacke. Die Bezeichnung Panikattacke geht zwar bereits über die Symptomebene hinaus, soll hier aber erwähnt werden, da sie das wesentliche Merkmal für die Diagnose einer Panikstörung darstellt. Es handelt
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sich um eine schwere Angstattacke, deren Auftreten nicht an besondere situative Umstände gekoppelt und die daher für den Betroffenen auch nicht vorhersehbar ist. Ihre Dauer beträgt in der Regel zwischen 5 und 15 Minuten. Ausgeprägte Angst geht charakteristischerweise mit vegetativer Begleitsymptomatik wie Schwitzen, Zittern, Herzklopfen oder Ohnmachtsgefühlen einher. z Ratlosigkeit. Der ratlose Patient wirkt stimmungsmäßig wie jemand, der sich nicht mehr zurechtfindet und seine Situation kaum oder gar nicht mehr begreift. Auf den Untersucher wirkt er verwundert und hilflos. Häufig kommt es zu der typischen Konstellation einer ratlosen Verwirrtheit. Diese Verwendung des Wortes „ratlos“ unterscheidet sich somit stark von der umgangssprachlichen. z Euphorie und Dysphorie. Euphorie meint in psychopathologischer Bedeutung einen Zustand des übersteigerten Wohlbefindens, Behagens, der Heiterkeit, Zuversicht, des gesteigerten Vitalgefühls, Dysphorie hingegen missmutige Verstimmtheit, Übellaunigkeit, Unzufriedenheit, Ärgerlichkeit. Letztere überlappt mit der Gereiztheit, die sich bis hin zu aggressiver Gespanntheit steigern kann. z Innere Unruhe und Klagsamkeit. Einen affektiven und psychomotorischen Anteil hat die oft als sehr quälend erlebte innere Unruhe, bei der der Betroffene sich aufgewühlt, getrieben, ja gehetzt fühlt. Der Bewegungsaspekt wird dabei vorwiegend durch die Begriffe „Agitiertheit“ und „motorische Unruhe“ ausgedrückt. Werden die erlebten negativen Affekte sprachlich, mimisch und gestisch ausdrucksstark vorgetragen, so spricht man von Klagsamkeit. z Störungen des Selbstwertgefühls. Insuffizienzgefühle drücken das verloren gegangene Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit oder gar den „Wert“ der eigenen Person aus. Ein extremes klinisches Beispiel ist der Patient mit einem nihilistischen Wahn, der bestreitet, als Person überhaupt noch zu existieren, geschweige denn einen Wert für sich oder andere darzustellen. Der umgekehrte Fall ist beim gesteigerten Selbstwertgefühl gegeben. z Schuldgefühle und Verarmungsgefühle. Der Schuldgefühle äußernde Patient macht sich Vorwürfe wegen aus seiner Sicht verfehlter Handlungen, Gedanken oder Wünsche. Dies kann, muss aber nicht in depressives Erleben eingebettet sein, kann, muss aber nicht wahnhaftes Ausmaß annehmen (Schuldwahn). Analoges gilt für die Verarmungsgefühle als Ausdruck der Befürchtung, die Mittel für den Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten zu können.
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z Ambivalenz und Parathymie. Ambivalenz wird, ähnlich wie Ratlosigkeit, im psychopathologischen Kontext sehr viel enger und qualitativ anders gefasst als umgangssprachlich. Sie berührt den Bereich der Affektivität ebenso wie denjenigen des Willens. Gemeint ist die gleichzeitige Existenz widersprüchlicher Gefühle, Vorstellungen, Wünsche, Intentionen, Impulse, was meist als außerordentlich unangenehm, ja quälend erlebt wird. Bei der Parathymie stimmen Gefühlsausdruck und berichteter Erlebnisinhalt nicht überein, es entsteht der Eindruck des Inadäquaten, mitunter auch Paradoxen. z Affektlabilität und Affektinkontinenz. Die Affektlabilität ist gekennzeichnet durch schnelle Stimmungswechsel, die sowohl als Reaktionen auf Außenreize im Sinne einer erhöhten affektiven Ansprechbarkeit als auch scheinbar spontan auftreten können. Stärkster Ausprägungsgrad dieses Symptoms ist die Affektinkontinenz, bei der die affektiven Reaktionen schon bei geringem Anlass massiv sind und vom Patienten nicht beherrscht werden können.
Antrieb, Intentionalität, Wille Diese drei Begriffe, die aus unterschiedlichem ideengeschichtlichen und konzeptuellen Kontext stammen, überlappen sich in ihrer Bedeutung. z Antrieb. Antrieb meint Initiative, Schwung, Lebendigkeit, Energie, Zuwendung, Tatkraft, Unternehmungsgeist. In erster Linie wird er erkennbar am Aktivitätsniveau und an der Psychomotorik. z Wille. Der Willensbegriff, der noch im 19. Jahrhundert zu den zentralen Elementen der Psychiatrie und Psychologie gehörte (die Bedeutung des Willensbegriffs war damals so groß, dass eine auf ihn gegründete philosophisch-psychologische Weltanschauung, der „Voluntarismus“, entstand), hat wegen seiner besonders schwierigen Operationalisierbarkeit und Quantifizierbarkeit sowie seiner Verankerung in einer heute nicht mehr akzeptierten Vermögens- oder Elementenpsychologie an Bedeutung verloren. z Intentionalität. Im Unterschied dazu ist es gelungen, das ebenfalls um die Jahrhundertwende entworfene Konzept der „Intentionalität“ in aktuelle psychopathologische Forschungsstrategien einzubinden und somit empirischer Überprüfung zugänglich zu machen. In der pragmatischen Fassung des Begriffes meint Intentionalität die Fähigkeit, Zielvorstellungen für die unmittelbare und fernere Zukunft entwickeln und entsprechende Handlungsstrategien entwerfen und durchhalten zu können (Mundt 1984).
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Antriebsstörungen z Antriebsarmut. Ein Mangel an Energie, Initiative und Anteilnahme an der Umgebung wird als Antriebsarmut bezeichnet. Sie wird subjektiv vom Patienten erlebt und kann dem Untersucher etwa an der spärlichen spontanen Motorik oder der mangelnden Initiative im Gespräch deutlich werden. Die Begriffe Apathie und, mehr auf den Aspekt der Willensbildung abzielend, Abulie gehören in diesen Kontext. z Antriebshemmung. Das Phänomen der Antriebshemmung bezieht sich demgegenüber – vergleichbar der Denkhemmung – ausschließlich auf die subjektive Perspektive des Patienten: Initiative- und Planungsfähigkeit sind vorhanden, werden aber als gebremst oder blockiert erlebt. Wünsche und Absichten können geäußert, aber nicht in entsprechende Handlungen umgesetzt werden. Die Intentionalität ist hier – im Unterschied zur Antriebsarmut – nicht oder zumindest nicht notwendigerweise eingeschränkt. z Antriebssteigerung. Es findet sich eine Zunahme an Energie, an Aktivität und Planung, wobei dies bei stärkerer Ausprägung mit zunehmend unorganisiertem Verhalten einhergehen kann. Häufig findet sich begleitend eine motorische Unruhe im Sinne einer gesteigerten und ungerichteten motorischen Aktivität. Hier besteht eine inhaltliche Nähe zum psychomotorischen Symptom der Agitiertheit.
Willensstörungen Im Kontext eines katatonen Syndroms kommt es häufig zu komplexen psychopathologischen Phänomenen, die auf eine Willensstörung hinweisen: Im Falle des Befehlsautomatismus führt der Patient Anweisungen auch dann gleichsam „automatenhaft“ aus, wenn dies den eigenen Absichten zuwiderläuft und ein willentlicher Entschluss zum Handeln subjektiv gar nicht vorliegt. Negativistische Kranke hingegen tun gerade das nicht, was man von ihnen erwartet oder verlangt (passiver Negativismus), oder sie tun genau das Gegenteil (aktiver Negativismus). Auch die bereits erwähnte Ambivalenz ist oft Ausdruck einer Willensstörung.
Persönlichkeitsmerkmale Die Einschätzung tragender Persönlichkeitsmerkmale geht auf eine lange, wechselvolle Ideengeschichte zurück und stellt einen wesentlichen, wenn auch besonders schwierigen Bereich bei der psychopathologischen Befunderhebung dar (Saß 1987 a, 2000). Der immer wieder anzutreffende Begriff der „Primärpersönlichkeit“ sollte dabei vermieden werden, da er zum einen eine sowohl temporale wie kategoriale Trennung von Persönlichkeitsentwicklung und späterer psychischer, insbesondere psychotischer Erkrankung suggeriert, was durch die
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vorliegenden Forschungsergebnisse gerade nicht nahegelegt wird, und zum anderen zur Vernachlässigung der Persönlichkeitsforschung bei bereits psychotisch Erkrankten führen kann. Wesentliche Felder, zu denen bei der Persönlichkeitsbeschreibung Stellung genommen werden sollte, sind dauerhafte Muster in der Art der Selbstwahrnehmung des Patienten und der Wahrnehmung anderer, sein Wertgefüge, der Umgang mit (Selbst-)Kontrolle und Impulsivität, dauerhafte Charakteristika von Antrieb und Stimmung („Temperament“), soziale Kompetenzen im Sinne von Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit und die besonderen Modi des Umgangs mit aversiven Affekten und Konflikten („Abwehrmechanismen“). Dabei kann man sich hinsichtlich der vorliegenden Persönlichkeitszüge an den ausgeprägteren Formen der Persönlichkeitsstörungen orientieren; so unterscheidet das DSM-IV-TR 3 Gruppen: z zum einen die paranoide, schizoide und schizotypische Persönlichkeitsstörung (sonderbar-exzentrische Züge), z zum anderen die antisoziale, Borderline-, histrionische und narzisstische Persönlichkeitsstörung (emotional instabile Züge) und schließlich z die selbstunsichere, dependente, zwanghafte und passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung (ängstlich-furchtsame Züge). z Intelligenz. In den Zusammenhang der Persönlichkeitsbeschreibung gehört auch die Einschätzung der Intelligenz. Eine allgemeinverbindliche Definition von Intelligenz gibt es nicht. Sicher ist aber, dass Intelligenz mehr ist als die Summe einzelner kognitiver Funktionen und insoweit nur vor dem Hintergrund eines umfassenden psychopathologischen Befundes beurteilt werden kann. Im Rahmen des deskriptiven Vorgehens gewinnt man über die bereits besprochenen Bereiche der Aufmerksamkeit, des Denkens und Gedächtnisses einen Eindruck vom Intelligenzniveau. Eine differenzierte Quantifizierung ermöglichen testpsychologische Verfahren, die methodisch aber jenseits der deskriptiven Ebene angesiedelt sind.
Weitere Symptome und Symptombereiche z Suizidalität. Ein besonders wichtiger Bestandteil jeder psychopathologischen Befunderhebung – ganz unabhängig von der vermuteten Diagnose – ist die aktive Exploration und Beurteilung der Suizidalität. Voneinander abzugrenzen sind dabei: z passive Todeswünsche, z suizidale Phantasien, z Suizidgedanken, z konkrete Pläne, sich das Leben zu nehmen, mit entsprechenden, möglicherweise mehrfach abgebrochenen Vorbereitungen und z ausgeführte Suizidversuche. z Parasuizidale Handlungen und selbstschädigendes Verhalten. Der Begriff der parasuizidalen Handlung verlässt die Ebene des deskriptiven psycho-
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pathologischen Befundes, da er bereits eine Befundinterpretation darstellt. Seine Verwendung sollte entsprechend vorsichtig erfolgen. Bei selbstschädigendem Verhalten kommt es oft zu Selbstverletzungen zunächst ohne Suizidabsichten. Freilich kommen alle Übergänge zu suizidalem Verhalten vor. z Sozialer Rückzug. Er ist ein bei psychischen Störungen häufig beobachtbares Symptom. In ausgeprägten Fällen hat der Betroffene kaum noch Kontakt zu Freunden und Bekannten, zieht sich bei stationärer Behandlung auf der Station häufig ins Zimmer zurück und spricht von sich aus kaum mit anderen Personen. Dieses Phänomen tritt oft im Kontext schizophrener Negativsymptomatik auf, ebenso wie Störungen von Antrieb und Intentionalität, des Denkens und seiner sprachlichen Äußerung sowie der affektiven Resonanz. Da bei der deskriptiven Befunderhebung ätiologische Konnotationen so weit wie möglich vermieden werden sollen, werden diese aus unterschiedlichen Symptombereichen stammenden „Negativsymptome“ im jeweiligen Abschnitt beschrieben. z Soziale Umtriebigkeit und Aggressivität. Im Falle sozialer Umtriebigkeit sind die Kontakte zu anderen Personen deutlich vermehrt. Der Patient wendet sich an viele Menschen, ist dabei häufig kritiklos, anklammernd und distanzlos. Dies kann vergesellschaftet sein mit Aggressivität, bei der das Spektrum von mühsam unterdrücktem Schimpfen über Schreien, Beschädigen und Zerstören von Gegenständen bis hin zu Gewalthandlungen gegen die eigene Person oder gegen andere reicht. z Krankheitsgefühl und Krankheitseinsicht. Hinsichtlich der Einstellung des Patienten zu seiner Störung sind zwei Aspekte zu berücksichtigen, die sich in mancherlei Hinsicht berühren, aber keineswegs identisch sind: das Krankheitsgefühl und die Krankheitseinsicht. Von mangelndem Krankheitsgefühl spricht man, wenn der Patient bei deutlicher psychopathologischer Symptomatik – etwa einem gereizt-manischen Syndrom oder einer schweren schizophrenen Negativsymptomatik – angibt, sich in keiner Weise krank oder gestört zu fühlen. Beim Mangel an Krankheitseinsicht räumt der Patient zwar ein, psychisch verändert zu sein, ja sogar unter dieser Veränderung zu leiden, weist aber die Einstufung seines Erlebens und Verhaltens als krankhaft weit von sich. Dies führt nicht selten zur Ablehnung der Behandlung oder zu deren Abbruch. z „Vegetative“ Symptome. Zu diesem wichtigen Zwischenbereich zwischen psychopathologischem und körperlichem Befund gehören: z Schlaf- und Vigilanzstörungen (Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen, Verkürzung der Schlafdauer, Früherwachen, verschiedene Formen der Hypersomnie), z Appetenzstörungen (sie beziehen sich auf den Appetit, den Durst und das sexuelle Erleben und Verhalten),
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z gastrointestinale Störungen (wie Hypersalivation, Mundtrockenheit, Übelkeit, Erbrechen, Magenbeschwerden, Obstipation, Diarrhö), z kardiorespiratorische Symptome (wie Atembeschwerden, Herzklopfen, Herzdruck) sowie z Akkommodationsstörungen. z Im Falle des Globusgefühls berichtet der Patient über einen „Kloß im Hals“, der vorwiegend in angespannten, ängstlich getönten Situationen auftritt. Hier besteht ein fließender Übergang zu den Konversionssymptomen. z Konversionssymptome. Sie sind auf psychischer Grundlage entstandene, die willkürlichen motorischen oder sensorischen Funktionen betreffende Symptome, die zunächst an ein mehr oder minder umschriebenes neurologisches Defizit denken lassen, etwa Aphonie, Blindheit, Lähmung und Sensibilitätsstörung, Gang- oder Standataxie (Abasie/Astasie) sowie psychogene Anfälle. Konversionssymptome sind als solche deskriptiv-psychopathologisch gar nicht abzubilden, da der Begriff stets eine pathogenetische Hypothese mit sich führt. Sie lassen sich nur im Zusammenhang mit dieser Hypothese sowie mit der unauffälligen organischen Befunderhebung erfassen. z Somatoforme Störungen. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich bei der Beschreibung der außerordentlich vielgestaltigen Symptombilder, die die somatoformen Störungen ganz allgemein kennzeichnen. Häufig sind die folgenden Bereiche betroffen: z Schmerzen in unterschiedlichen Körperregionen, z gastrointestinale Symptome, z sexuelle Störungen, z urologische Symptome, z Müdigkeit, Appetitlosigkeit, z übermäßige Beschäftigung mit einer nicht oder nur in sehr geringem Ausmaß vorhandenen körperlichen Auffälligkeit (etwa die Gesichtsform, die Haut oder die Haare betreffend). Da diese Symptome in das gesamte Erleben des Patienten eingebettet sind und aus dessen Sicht einen großen, wenn nicht sogar dominierenden Einfluss auf sein Leben haben, müssen sie im Befund sorgfältig erfasst werden. Sie überlappen sich allerdings mit einer ganzen Reihe von Symptombereichen, etwa den Störungen der Affektivität, der Psychomotorik und den Auffälligkeiten der Persönlichkeit. z Basissymptome schizophrener Störungen. Im Zusammenhang mit deskriptiver psychopathologischer Befunderhebung bedarf das von der Bonner Arbeitsgruppe um Huber und Gross auf empirischer Grundlage erarbeitete Basisstörungskonzept schizophrener Störungen besonderer Erwähnung (Huber et al. 1979). Es beinhaltet eine differenzierte Systematik von „Basis-
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symptomen“, die als uncharakteristische – und daher nosologisch unspezifische – psychopathologische wie körperliche Erscheinungen dem Auftreten der floriden Psychose um Jahre vorausgehen können (Klosterkötter 1992). Die Basissymptome bleiben allerdings überwiegend im Subjektiven und sind daher nur anhand der Selbstschilderungen der Patienten zu erkennen, was sie für einen sehr eng gefassten, die Verhaltensebene bevorzugenden deskriptiven Zugang problematisch macht. Ein eigens entwickeltes standardisiertes Erhebungsinstrument (Bonner Skala zur Dokumentation von Basissymptomen, BSABS, Gross et al. 1987) ermöglicht ihre Erfassung gemäß festgelegter Kriterien. Die Basissymptome überlappen sich natürlich in vielen Punkten mit den oben beschriebenen psychopathologischen Symptombereichen, werden im Rahmen des Basisstörungskonzeptes jedoch häufig in ihrer Bedeutung anders nuanciert als etwa im AMDP-System. Hauptkategorien von Basisstörungen sind: z dynamische Defizienzen mit direkten oder indirekten Minussymptomen (erhöhtes Schlafbedürfnis, Entschlussschwäche, Störung der Kontaktfähigkeit, erhöhte Beeindruckbarkeit und Erregbarkeit), z kognitive Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstörungen (Gedankendrängen, Konkretismus, Geräuschüberempfindlichkeit, sensorische Überwachheit, Mikro- und Makropsie), z Zoenästhesien (Taubheitsgefühle, wandernde Missempfindungen, Bewegungs-, Zug- und Druckempfindungen im Körperinnern, Erlebnisse der Verkleinerung und Schrumpfung), z zentralvegetative Störungen (paroxysmale Tachykardien, Übelkeit, Schlafstörungen).
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1.4.1 Organisch begründbare psychische Störungen Die Bezeichnung einer sehr heterogenen Gruppe psychischer Störungen als „organisch begründbar“ ist Ausdruck des eingangs erläuterten triadischen Systems der psychiatrischen Nosologie. Und genau wie diese Konzeption selbst wird auch der Terminus „organisch begründbar“ in den letzten Jahren zunehmend kritisch betrachtet. Das triadische System trennt ja drei Krankheitsgruppen voneinander ab: z psychische Erkrankungen, die klar einer körperlichen Ursache zugeordnet werden können – eben die exogenen oder organisch begründbaren Störungen –, z schizophrene und affektive Erkrankungen im engeren Sinne, bei denen zwar neurobiologische Veränderungen gezeigt wurden oder mit Grund vermutet werden, deren kausale Relevanz aber oft noch keineswegs eindeutig nachgewiesen ist – die früher „endogen“ genannten Psychosen –,
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z lebensgeschichtlich oder situativ bedingte und (zumindest teilweise) verstehend nachvollziehbare Störungen vom Typus der psychischen Reaktionen (in der ICD-10 als „Anpassungsstörungen“ bezeichnet), der langdauernden Persönlichkeitsfehlentwicklungen und der mit verschiedenen emotionalen Problemen einhergehenden, früher „Neurosen“ genannten Störungsbilder. Der Bereich der Suchterkrankungen ist im triadischen System nicht als eigene Gruppe aufgenommen worden, sondern wurde je nach der klinischen Situation entweder den organisch begründbaren Störungen zugeordnet (wie etwa beim Entzugsdelir) oder den Fehlentwicklungen (wie etwa eine Alkoholabhängigkeit ohne weitere Begleiterkrankungen). Dieses triadische System ist nun wegen des ständig steigenden Einflusses, den neurobiologische Argumente auch hinsichtlich der Verursachung psychischer Störungen beanspruchen oder schon haben, brüchig geworden. Denn neurobiologisch gesehen haben alle psychischen Störungen, also alle drei Bereiche des triadischen Systems, einen mehr oder weniger ausgeprägten „organischen“ Hintergrund. Ist es, so fragen Kritiker, heute überhaupt noch gerechtfertigt, klar organisch begründbare Störungen wie etwa eine schwere Demenz vom Alzheimer-Typ oder ein Alkoholentzugsdelir kategorial abzugrenzen von einer schizophrenen Psychose oder einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung, und zwar nur deswegen, weil im einen Fall die pathologische neurobiologische Veränderung bereits recht genau bekannt ist, in den beiden anderen Fällen hingegen noch nicht? Das triadische System mit Verweis auf diese jüngere Entwicklung nun einfach vom Tisch zu wischen, wäre freilich das sprichwörtliche Ausschütten des Kindes mit dem Bade. Immerhin geht es hier ja nicht nur um eine nosologische Kategorie, sondern auch um langjährige und differenzierte klinische wie wissenschaftliche Erfahrungen mit „hirnorganischen“ Störungen. Es gibt sehr wohl psychopathologisch charakteristische Symptomverbände, die vorwiegend – wenn auch nicht ausschließlich – bei den klar organisch begründbaren psychischen Störungen auftauchen. Würde man mit Rückgriff auf die Neurobiologie und ihren Erklärungsanspruch das triadische System nun einfach für obsolet erklären, so ginge möglicherweise zugleich psychopathologisches (und therapeutisches) Wissen verloren, was weder im klinischen noch im forensischen Kontext vertretbar wäre. Da sich der folgende Überblick im Wesentlichen an den psychopathologischen und klinischen Aspekten orientiert, sei eingangs wiederum auf die von der ICD-10 vorgeschlagene Einteilung des Gebietes verwiesen.
Organische einschließlich symptomatische psychische Störungen F00 F01 F02 F03
Demenz bei Alzheimer-Krankheit Vaskuläre Demenz Demenz bei sonstigen andernorts klassifizierten Krankheiten Nicht näher bezeichnete Demenz
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F04 Organisches, anamnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt F05 Delir, nicht durch Alkohol oder sonstige psychotrope Substanzen bedingt F06 Sonstige psychische Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Krankheit F07 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Krankheit, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns F09 Nicht näher bezeichnete organische oder symptomatische psychische Störung
Das ICD-10 behandelt die organisch begründbaren Störungen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den durch Abhängigkeit von psychotropen Substanzen entstandenen Störungen, und dies mit gutem Grund wegen mancher ätiologischen und symptomatologischen Überlappung. Das ICD-10 differenziert zwischen dem Bereich der Demenzen, den nicht-dementiellen psychischen Störungen, die aber klar einer Funktionsstörung des Gehirns zugeordnet werden können, sei sie primär im Gehirn selbst lokalisiert oder sekundär gehirnbezogen bei einer anderen körperlichen Erkrankung, und schließlich den dauerhaften Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen aufgrund einer körperlichen Erkrankung oder einer Funktionsstörung des Gehirns. Ein gemeinsamer psychopathologischer Merkmalsbereich vieler, vor allem gravierender organisch begründbarer psychischer Störungen sind Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit, im drastischen Falle beispielsweise Desorientiertheit, Verwirrtheit, markanter Gedächtnisverlust. Lauter (1988) hat diese Symptome in Anlehnung an Kurt Schneiders Begrifflichkeit bei den schizophrenen Erkrankungen als „psychoorganische Symptome 1. Ranges“ bezeichnet. Sie seien zwar für die „organische“ Verursachung nicht beweisend, wohl aber recht charakteristisch. Demgegenüber können praktisch alle psychopathologischen Auffälligkeiten, die wir von vorwiegend produktiv-psychotischen oder affektiven Störungen her kennen, auch im Kontext hirnorganischer Erkrankungen auftauchen, weswegen sie natürlich diagnostisch weit weniger trennscharf sind.
Demenzen Psychopathologisch steht bei den Demenzen die kontinuierliche Zunahme kognitiver Defizite im Vordergrund, begleitet allerdings von einer bunten Vielfalt weiterer psychopathologischer Auffälligkeiten. Praktisch immer (und oft sehr früh im Krankheitsverlauf) betroffen ist das Gedächtnis, hier insbesondere die Merkfähigkeit. In späteren Stadien kommt es zu Einbußen aller anderen kognitiven Funktionen, etwa Orientierung, Konzentrationsfähigkeit, Erkennung und Benutzung von Gegenständen und Werkzeugen („Praxie“), Rechnen, Abstraktionsfähigkeit. z Häufigkeit und Ursachen. Die steigende Lebenserwartung – Stichwort Alterspyramide – führt in jüngerer Zeit zu einer deutlichen Zunahme dementieller Erkrankungen im hohen bis sehr hohen Lebensalter. Während Stu-
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dien heute eine Prävalenz von etwa 7% für die Bevölkerung über 65 Jahre annehmen, wird für die nächsten Jahrzehnte eine markante Steigerung bis hin zur Verdoppelung prognostiziert. Das dementielle Syndrom ist nicht nur klinisch heterogen, sondern kann eine geradezu unübersehbare Zahl von ursächlichen Faktoren aufweisen. Diese reichen von genetisch mitbedingten Störungen des Proteinstoffwechsels im Gehirn (wie bei der Alzheimer-Demenz) über Störungen der Hirndurchblutung (wie bei der vaskulären Demenz) bis hin zu neurodegenerativen Prozessen im weitesten Sinne, Folgen chronischer Intoxikationen sowie gravierenden, aber lange nicht erkannten oder nicht behandelbaren allgemeinen Stoffwechselstörungen (etwa unerkannter chronischer Diabetes mellitus). Die diagnostische Einschätzung eines Patienten, der mit Verdacht auf eine beginnende Demenz in die Untersuchung kommt, stellt eine komplexe und aufwändige interdisziplinäre Herausforderung dar. Von besonderer Bedeutung ist diese Differentialdiagnose deswegen, weil es (wenn auch eher selten) prognostisch günstige, weil gut behandelbare dementielle Syndrome gibt, die natürlich möglichst früh erkannt werden müssen. z Klinisches Erscheinungsbild und Verlauf. Der Übersichtlichkeit halber wird im Folgenden nicht auf die verschiedenen Sonderformen der Demenz, insbesondere nicht auf die seltenen, unmittelbar kausal behandelbaren, eingegangen, sondern auf die ungleich häufigere und daher auch im forensischen Kontext wichtigere Demenz vom Alzheimer-Typ. Bei dieser schweren und chronischen Erkrankung stehen progrediente kognitive Leistungseinbußen im Vordergrund. Allerdings wäre es ein Missverständnis zu glauben, dass man die kognitiven Funktionen, etwa Gedächtnis und Aufmerksamkeit, von den sonstigen psychischen Bereichen, etwa Affektivität, Willensbildung, Kommunikationsfähigkeit, streng abgrenzen könne. Im Gegenteil ergeben sich bei Patienten mit Alzheimer-Demenz im Zusammenhang mit den anwachsenden kognitiven Defiziten in aller Regel auch Störungen der Affektivität und des Verhaltens im täglichen Leben, die mitunter für den Betroffenen selbst oder für die betreuenden Angehörigen das größere Problem im Vergleich zum kognitiven Defizit darstellen. Die Patienten beklagen Störungen des Kurzzeit-, später auch des Langzeitgedächtnisses. Im Denken zeigen sich zunehmende Schwierigkeiten, kontinuierlich an einem Thema zu bleiben, Zusammenhänge zu verstehen, abstrakt zu denken. Die Denkgeschwindigkeit nimmt in der Regel ab, die Ideenfülle lässt nach. Im Gefolge dieser kognitiven Störungen kommt es schließlich zu Einbußen bei der zeitlichen, örtlichen, situativen Orientierung, schließlich wird auch die Orientierung zur eigenen Person unsicher. Aufmerksamkeit und räumliches Vorstellungsvermögen lassen nach. Überhaupt leiden die sogenannten exekutiven Funktionen ganz generell, womit die Fähigkeit gemeint ist, in einer gegebenen Situation viele zeitgleiche Sinneseindrücke zu koordinieren und auf dem Hintergrund der eigenen Motivationslage sinnvolles Handeln zu initiieren. Bei schweren Krankheitsver-
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läufen findet sich eine massive Störung der Sprachproduktion bis hin zum Sprachzerfall. Nun kommen häufig weitere psychopathologische Auffälligkeiten vor: Immer wieder entwickeln Demenzpatienten psychotische Episoden mit massiver Angst, paranoiden Ideen und Sinnestäuschungen. Oft sind auch starke affektive Auslenkungen erkennbar, häufig in Richtung Depressivität und Dysphorie bis hin zu Reizbarkeit und sogar offener Aggressivität. Bemerkenswert ist die Verbindung von reduziertem Antrieb und verflachter Interessenslage einerseits und inadäquat enthemmtem Verhalten andererseits, was meist in markantem Gegensatz zu früheren Persönlichkeitseigenschaften steht und vom Umfeld mit entsprechender Bestürzung zur Kenntnis genommen wird. Nun können diese Veränderungen der Persönlichkeit im Vorfeld von Demenzen, aber auch im Bereich der noch zu besprechenden organischen Wesensänderung über lange Zeit wesentlich diskreter sein. Dennoch kann ihnen im Einzelfall forensische Relevanz zukommen. Diagnosekriterien für Alzheimer-Demenz F00 z Vorliegen einer Demenz z Schleichender Beginn mit langsamer Verschlechterung z Fehlen klinischer Hinweise oder spezieller Untersuchungsbefunde, die auf eine System- oder Hirnerkrankung hinweisen z Fehlen eines plötzlichen apoplektischen Beginns oder neurologischer Herdzeichen in der Frühphase der Krankheit Differentialdiagnose z z z z
Depressive Störung Delir Organisches, amnestisches Syndrom Sonstige primäre Demenzen wie bei Morbus Prick, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit oder Chorea Huntington z Sekundäre Demenzen bei einer Reihe körperlicher Krankheiten z Leichte, mittelgradige oder schwere Intelligenzminderung
Was den Verlauf der Alzheimer-Demenz anbetrifft, so gibt es auch hier erhebliche interindividuelle Diskrepanzen. Dennoch ist klar, dass die Alzheimer-Demenz selbst, aber auch die mit ihr im Zusammenhang stehenden sekundären Erkrankungen zu einer markanten Reduktion der Lebenserwartung führen. Mehrere Studien berichten über eine mittlere Überlebensdauer nach dem Zeitpunkt der Diagnosestellung zwischen 5 und 7 Jahren. Selbstverständlich ist dies stark abhängig vom individuellen Fall und allfälligen Zusatzerkrankungen. z Therapeutische Aspekte. Eine kausale Therapie der Alzheimer-Demenz ist aktuell nicht verfügbar. Sehr wohl haben sich aber medikamentöse und psychotherapeutische Strategien herausgebildet, um den Fortschritt der Erkrankung und die klinische Symptomzunahme herauszuzögern und damit
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eine Erhöhung der Lebensqualität auch bei diesen schwer kranken Personen zu erreichen. Dies hat natürlich erhebliche Rückwirkungen auch auf das unmittelbare Umfeld. Die medikamentöse Behandlung stützt sich hauptsächlich auf die Medikamentengruppe der Cholinesterase-Hemmer, was mit der empirisch abgestützten Annahme einer defizitären Neurotransmission cholinerger Neurone bei diesen Erkrankungen gut übereinstimmt. Die häufigen begleitenden Störungen der Affektivität oder das Auftreten von psychotischen Symptomen erfordert bei vielen Patienten eine zusätzliche Medikation etwa mit Antidepressiva oder Neuroleptika. Psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen bei Demenzpatienten können zwar nicht den zugrunde liegenden organischen Prozess direkt beeinflussen. Wohl aber kommt im täglichen Umgang mit den Patienten dem sorgfältigen Training noch ungestörter oder nur leicht beeinträchtigter Bereiche sowie der Einbeziehung von Angehörigen und sonstigem Umfeld eine entscheidende Bedeutung zu. Zur Anwendung spezifisch abgewandelter psychotherapeutischer Techniken bei hoch betagten Personen und speziell solchen mit Demenz gibt es in jüngerer Zeit zunehmend empirische Studien. Daher kann die frühere globale Behauptung, wonach Psychotherapie in diesem Lebensabschnitt und erst recht beim Vorliegen gravierender kognitiver Defiziten a priori nicht wirksam sein könne, als widerlegt gelten. Auf spezielle Unterschiede zwischen der Demenz vom Alzheimer-Typ und anderen Demenzformen, etwa der vaskulären Demenz, wird hier nicht eingegangen, da sich für die forensische Perspektive keine markanten Differenzierungen ergeben.
Delir Das Delir bzw. das delirante Syndrom ist ein in der Verursachung unspezifisches klinisches Bild, das allerdings wegen seiner Häufigkeit und seines Auftretens in ganz unterschiedlichen medizinischen Kontexten sowie nicht zuletzt wegen seiner potentiellen Gefährlichkeit von hoher praktischer Bedeutung ist. Psychopathologisch sind delirante Zustände im Kern gekennzeichnet durch eine häufig rasch einsetzende Bewusstseinsstörung, die sowohl quantitative wie qualitative Elemente beinhalten kann. Bezüglich der detaillierten Erläuterung einzelner Symptome sei auf das Kapitel über die organischen psychischen Störungen verwiesen. Die Patienten sind oft ausgesprochen ängstlich, verkennen die gegebene Situation, können sich nicht konzentrieren, sind ausgesprochen unruhig und zeigen eine starke vegetative Erregung. Delirante Zustände kommen besonders häufig bei Personen mit Abhängigkeitserkrankungen vor, häufen sich aber auch in höherem Lebensalter sowie nach gravierenden operativen Eingriffen oder vergleichbar schweren Unfallereignissen. Außerdem gibt es eine große Liste von Pharmaka, die im Sinne einer schweren Nebenwirkung zu deliranten Zuständen führen kön-
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nen. Hier sind beispielhaft zu nennen trizyklische Psychopharmaka, wozu zahlreiche Neuroleptika und Antidepressiva gehören, jedoch auch sonstige anticholinerge Medikamente sowie Hormonpräparate aus der Reihe der Kortikosteroide. Im Zusammenhang mit Pharmaka, aber auch mit vielen Arten von Suchtmitteln können delirante Zustände sowohl während der (in der Regel dann hochdosierten) Einnahme auftreten als auch nach dem (vor allem plötzlichen) Absetzen. Dies gilt in gleicher Weise für das häufigste Suchtmittel, den Alkohol. Früher sprach man hier von einem „Kontinuitätsdelir“, wenn der Betroffene massiv und kontinuierlich trank und während der Trinkphase delirant wurde, sowie von einem „Entzugsdelir“, wenn Patienten nach einer markanten Reduktion der Trinkmenge oder gar dem völligen Sistieren des Alkoholkonsums delirant wurden. Auch bei sonstigen sedierenden Substanzen, die sowohl therapeutisch als auch missbräuchlich eingesetzt werden, etwa die Benzodiazepine, sind zum Teil schwere und protrahierte delirante Zustände beschrieben, meist im Sinne eines Entzugssyndroms. Da viele Schlafmittel aus der pharmakologischen Gruppe der Benzodiazepine stammen, gilt dies entsprechend auch für diese große Medikamentengruppe. Delirante Zustände werden in ihrer Gefährlichkeit häufig unterschätzt. Insbesondere bei körperlich schwer kranken oder bei alten Menschen sind schwerwiegende Verläufe bis hin zu tödlichem Ausgang keine Seltenheit. Manche deliranten Zustände heilen nicht vollständig aus, sondern führen zu einem dauerhaften Zustand eingeschränkter kognitiver und affektiver Funktionen, gelegentlich kommen auch mehr oder weniger direkte Übergänge in ein dauerhaft dementielles Zustandsbild vor. Therapeutisch gilt es bei einem in der Regel akut aufgetretenen Delir, zunächst die Ursache zu ermitteln und alle nicht zwingend benötigten Medikamente abzusetzen. Schwer delirante Patienten bedürfen einer Intensivüberwachungseinheit. Oft sind bei unklaren Situationen umfangreiche diagnostische Maßnahmen erforderlich. Wird eine medikamentöse Behandlung nötig, was bei schweren Delirien fast immer der Fall ist, so stehen neuroleptische Substanzen sowohl aus der Reihe der klassischen Neuroleptika (z. B. Haloperidol) als auch der Neuroleptika der zweiten Generation („atypische Neuroleptika“, „second generation antipsychotics“ (SGA)) sowie weitere sedierende Substanzen zur Verfügung. Außerhalb der pharmakologischen Behandlung kommt es bei der Therapie des deliranten Zustandsbildes entscheidend darauf an, dem schwer verängstigten, oft völlig desorientierten Patienten so gut wie möglich Sicherheit und Orientierung zu vermitteln sowie die nötige Überwachung der Vitalfunktionen zu gewährleisten, um eine weitere Entgleisung sofort zu bemerken und behandeln zu können.
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Organische Persönlichkeitsstörung Während die Demenz und auch das Delir offenkundige und meist gravierende psychiatrische Erkrankungen sind, sollen im Folgenden noch „organisch begründete“ Störungsbilder besprochen werden, die mit einer vergleichsweise milden Symptomatik beginnen und einen oft langjährigen Verlauf haben. Dieser Verlauf kann freilich in einer Demenz oder einer sonstigen massiveren Erkrankung enden. Die Entwicklung dahin ist zum einen psychopathologisch interessant, zum anderen aber auch in der forensischen Einschätzung etwa der Schuldfähigkeit oder der Geschäftsfähigkeit ein wichtiger und nicht selten kontroverser Bereich. Eine eingeschränkte kognitive und sonstige Leistungsfähigkeit, die über das altersbedingte Normmaß hinaus geht, wird in der heutigen Diagnostik meist als leicht ausgeprägte kognitive Störung bezeichnet. Natürlich stellt sie, wie die eher vage diagnostische Rubrik schon andeutet, kein klar abgegrenztes Krankheitsbild dar. Es handelt sich um Patienten, die über leichtere Gedächtnisstörungen klagen, über eine affektive Labilität oder zumindest geringere psychische Belastbarkeit sowie über allgemeine, aber nicht gravierende Probleme im Alltag. Wenn solche Patienten sich überhaupt an einen Arzt wenden, so wird dieser nach einer gewissen Beobachtungszeit vermutlich eine umfassende Diagnostik in die Wege leiten, um das Vorliegen einer (beginnenden) Demenz auszuschließen bzw. nachzuweisen und dann nötigenfalls therapeutische Schritte zu initiieren. Forensisch stellt sich bei diesen Personen, die oft, formal betrachtet, noch gar keine Patienten sind, die Frage, ob die kognitiven und emotional-voluntativen Defizite bereits so ausgeprägt sind, dass sie die Geschäfts- oder Schuldfähigkeit tangieren. Bei der Beurteilung dieser Frage bilden, wie dies immer gilt, der psychopathologische Befund sowie die Einbettung desselben in den aktuellen sozialen Kontext und in die gesamte Lebensgeschichte der betreffenden Person das Kernstück. Schreiten die erwähnten leichteren Veränderungen fort und verfestigen sie sich über die Zeit, so kann es zu einem Zustand kommen, der früher als „organische Wesensänderung“ bezeichnet wurde. Die heutige Terminologie spricht von „organischer Persönlichkeitsstörung“. Gemeinsames Merkmal aller hierher gehörenden klinischen Bilder ist, dass sich eine Person aufgrund einer stattgehabten Schädigung oder einer Erkrankung, die entweder direkt das Zentralnervensystem betrifft oder selbiges sekundär in Mitleidenschaft zieht, in ihren zentralen persönlichen Eigenschaften, ihrem „Charakter“ oder „Wesen“, so markant verändert, dass dies den Angehörigen und der sonstigen Umgebung, dann aber auch der Person selbst auffällt. Dieses Auffallen muss freilich nicht bedeuten, dass ein großer Leidensdruck oder eine echte Veränderungsbereitschaft bestehen. Häufig gehen solche Zustandsbilder mit einer Entdifferenzierung der Persönlichkeit einher, mit einer allgemeinen Vergröberung im Verhalten, mit zunehmendem Mangel an Distanz und Taktgefühl bis hin zu einer „Wesensänderung“ im engeren Sinne, bei der Angehörige den (oft sehr schmerz-
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lichen) Eindruck haben, es handle sich beinahe um eine ganz andere Person. Auch hier finden sich sehr unterschiedliche Mischungen von kognitiven und affektiven Störungen. Klinisch und forensisch besonders bedeutsam sind die Affektlabilität mit leichter Reizbarkeit sowie geringer Frustrationstoleranz und, im kognitiven Bereich, die Einschränkung der Fähigkeit, Situationen und Fragestellungen differenziert wahrzunehmen und zu bewerten. Psychomotorisch können derartige Patienten unruhig-getrieben und dysphorisch-reizbar, jedoch auch antriebsarm, depressiv und stark zurückgezogen sein. Es ist klar, dass sich das klinische Bild extrem heterogen präsentieren kann, weil auch die ursächlichen Bedingungen dies sind. Häufig sieht man derartige organische Persönlichkeitsstörungen im Kontext von langdauernden Durchblutungsstörungen des Gehirns, bei Patienten mit schwerer Abhängigkeit und sekundärer Schädigung des Gehirns und natürlich im Vorfeld aller dementiellen Erkrankungen. Eine einheitliche Therapie dieser Zustände kann es naturgemäß nicht geben. Es kommt entscheidend darauf an festzustellen, inwieweit die der organischen Wesensänderung zugrunde liegende Ursache prinzipiell einer nachhaltigen therapeutischen Beeinflussung zugänglich ist, wie dies etwa bei einer noch nicht sehr fortgeschrittenen Abhängigkeitserkrankung der Fall ist. Hier können sich die beschriebenen Defizite zumindest teilweise zurückbilden. In anderen Fällen ohne zuverlässige Klärung der Ursache bzw. ohne therapeutische Beeinflussbarkeit muss man von einem progredienten Verlauf und insoweit von einer schlechten Prognose ausgehen. Auch hier stellen sich zahlreiche und schwierige forensische Fragen: Wann erreicht eine organische Persönlichkeitsstörung trotz noch vorhandener Kompensationsmechanismen „forensische Relevanz“? Welche Rolle spielt die subjektive Wahrnehmung allfälliger Veränderungen der Persönlichkeit durch die betroffene Person selbst? Hat das zeitgleiche Vorliegen von organischer Persönlichkeitsstörung, depressiver Verstimmung und alkoholbedingter Enthemmung einen additiven oder potenzierenden Effekt etwa hinsichtlich der Schuldfähigkeit?
1.4.2 Abhängigkeitserkrankungen Abhängigkeitserkrankungen oder Süchte, wie der früher meist verwendete Terminus heißt, stellen ein ausgesprochen heterogenes und klinisch wie gesellschaftlich wichtiges Teilgebiet der Psychiatrie dar, nicht zuletzt mit Blick auf Begutachtungsfragen. Nun ist es bei den verschiedenen Formen der stoffgebundenen und nichtstoffgebundenen Abhängigkeiten hinsichtlich der Verursachung sehr ähnlich wie bei den anderen psychiatrischen Störungsgruppen, etwa den Psychosen, affektiven Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen: Die Palette von wissenschaftlichen Hypothesen zur Verursachung abhängigen Verhaltens reicht von neurobiologischen Befunden über psychoanalytische und lerntheoretische Modelle bis hin zu Hypothesen,
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die den Einfluss des engeren oder weiteren gesellschaftlichen Umfeldes der süchtig erkrankten Person in den Vordergrund rücken. Dies wird bei der folgenden Besprechung einzelner besonders wichtiger Abhängigkeitsformen noch detaillierter zu erörtern sein. Im Kern bedeutet Abhängigkeit bzw. Sucht, dass eine Person im Laufe der Zeit immer stärker auf die kontinuierliche Zufuhr der Suchtsubstanz bzw. – im Falle der nichtstoffgebundenen Süchte – auf das Wiederholen der in süchtiger Form dekompensierten Verhaltensweise angewiesen ist. Gelingt ihr dies nicht, gerät sie in einen psychisch wie körperlich zunehmend unangenehmen Zustand, der üblicherweise mit dem Begriff „Entzugssyndrom“ umschrieben wird. Das Wesen der krankhaften Abhängigkeit besteht insoweit in der Reduktion der Freiheitsgrade im Verhalten einer Person, als die Beschaffung des Suchtmittels bzw. die Repetierung der Suchtsituation immer mehr zu einem dominierenden Element des Lebens wird bis hin zur völligen Depravierung in körperlicher, psychischer und sozialer Hinsicht. Abhängigkeitserkrankungen sind häufig schwerwiegende Erkrankungen mit markant negativen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Selbstverständlich wird dies oft forensische Konsequenzen haben, wobei die Art der an den Gutachter gerichteten Fragen vielseitig ist und nicht nur die psychiatrische Einschätzung bei Beschaffungsdelikten umfasst.
Störungen durch Alkohol Der missbräuchliche Konsum bzw. die Abhängigkeit von Alkohol ist eine ausgesprochen häufige psychische Störung. Epidemiologische Untersuchungen berichten über einen erhöhten Alkoholkonsum bei etwa 10–12% aller Personen zwischen dem 18. und 60. Lebensjahr. Mit gesundheitlich schädlichem Konsum muss bei 3–5% der Personen gerechnet werden. In einer großen US-amerikanischen epidemiologischen Untersuchung wurden 3% aller Probanden als alkoholabhängig eingestuft. Die ICD-10-Klassifikation der durch Alkohol verursachten Störungen unterscheidet zwischen den akuten Intoxikationen, dem schädlichen Gebrauch, dem Abhängigkeitssyndrom im engeren Sinne, dem Entzugssyndrom mit Delir, der alkoholbedingten psychotischen Störung sowie dem durch Alkoholzufuhr bedingten amnestischen Syndrom. Zusätzlich werden diverse seltenere psychopathologische Zustände genannt. In der folgenden Übersicht finden sich die diagnostischen Kriterien des ICD-10 für die beiden Gruppen des schädlichen Gebrauches und des Abhängigkeitssyndroms (im Falle des Alkohols F10).
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Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeitssyndrom F1x.1 Schädlicher Gebrauch z Tatsächliche Schädigung der psychischen/physischen Gesundheit des Konsumenten z Schädliches Konsumverhalten wird von anderen kritisiert und hat häufig auch negative soziale Folgen z Eine akute Intoxikation oder ein „Kater“ beweisen nicht den „Gesundheitsschaden“ z Bei einem Abhängigkeitssyndrom, einer psychischen Störung oder bei anderen substanzspezifischen Störungen nicht zu diagnostizieren F1x.2 Abhängigkeitssyndrom Diagnose nur zu stellen, wenn während des letzen Jahres drei oder mehr der folgenden Kriterien gleichzeitig vorhanden waren: z Verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Beendigung und Menge des Konsums z Körperliches Entzugssyndrom z Nachweis einer Toleranz z Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen/Interessen zugunsten des Substanzkonsums z Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen
z Ätiologie. Neurobiologische Befunde gehen in den letzten Jahren davon aus, dass für die Entstehung und vor allem Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens der Neurotransmitter Dopamin eine große Bedeutung hat. Die weitestgehende These nimmt sogar an, dass möglicherweise ganz verschiedene suchterregende Substanzen in direkter oder indirekter Art und Weise das mesolimbische Dopaminsystem beeinflussen und das süchtige Verhalten generieren. Auch für andere Transmitter, etwa Serotonin, sind auffällige Befunde bei alkoholabhängigen Personen beschrieben, allerdings ohne dass daraus eine konsistente Theorie entwickelt wurde. Es gibt auch eine Reihe von genetischen Befunden zum Alkoholismus. Ähnlich wie bei den psychotischen Erkrankungen fand man eine deutlich höhere Übereinstimmung hinsichtlich des Merkmals Alkoholabhängigkeit bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen. Allerdings erlaubt dies keine definitiven Schlüsse, denn die Frage stellt sich, was genau vererbt wird: Sicherlich ist es nicht die komplexe psychische Störung Alkoholabhängigkeit selbst, sondern allenfalls bestimmte Prädispositionen, die biologisch verfasst sein mögen, aber eben auch sozial insofern, als sie die Fähigkeit von Personen schwächen, süchtiges Verhalten nicht aufkommen zu lassen. Zahlreiche Untersuchungen beschäftigen sich mit Umweltfaktoren bei der Entstehung süchtigen Verhaltens. Die Literatur ist nahezu unübersehbar. Es ist nicht überraschend, dass Faktoren, die generell für die Identitätsentwicklung von Personen wichtig sind, auch eine Rolle spielen bei der Frage, ob süchtiges Verhalten entsteht oder nicht, also etwa die Einbindung in ein stabiles soziales Umfeld, die Fähigkeit zum Umgang mit Belastungssituationen, die Zugehörigkeit zu einer festen kulturellen Gruppierung oder auch zu einer Subkultur sowie schließlich – vor allem bezogen auf Kinder und Jugendliche – der Umgang des unmittelbaren familiären Umfeldes mit Alkohol und anderen Suchtsubstanzen.
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z Klinisches Bild und Behandlung. Ähnlich wie bei vielen anderen psychischen Erkrankungen ist die Zahl derjenigen Patienten mit Alkoholabhängigkeit, die angemessen behandelt werden, sehr viel niedriger als die Zahl der Erkrankten. Dies hat nicht nur mit der oft mangelnden Einsicht der Betroffenen in eigene Behandlungsbedürftigkeit zu tun, sondern auch mit Faktoren wie sozialer Stigmatisierung, Scham und aktiver Verleugnung sowohl seitens der Patienten als auch des Umfeldes. Im Idealfall lässt sich die Behandlung eines alkoholabhängigen Menschen in vier Phasen einteilen: die Motivation zur Behandlung, die Entgiftung, die Entwöhnung und schließlich die im Grunde lebenslange Nachsorgephase (Feuerlein 1989). Im Vordergrund der Behandlung von Alkoholabhängigen stehen sozialpsychiatrische Therapieformen, deren zentrales Element eine stabile therapeutische Beziehung ist. Elemente von Psychoedukation und verschiedenen psychotherapeutischen Techniken im engeren Sinne kommen hinzu. Eine wichtige Rolle spielen die verschiedensten Arten von Selbsthilfegruppen. Außerdem dürfen die bei alkoholabhängigen Menschen sehr oft bestehenden körperlichen oder psychischen komorbiden Störungen nicht vergessen werden, im psychiatrischen Bereich vor allem depressive und Angststörungen sowie Persönlichkeitsstörungen. Insoweit kann man, etwas pauschalisierend, festhalten, dass die Behandlung einer ausgeprägten Alkoholabhängigkeit ein schwieriges und langwieriges, jedoch durchaus erfolgversprechendes Unterfangen ist, sofern die Motivation des Patienten dauerhaft ist und er sich auf eine stabile therapeutische Beziehung stützen kann. Eine umfangreiche und kontroverse Literatur diskutiert die Frage, ob stationäre oder ambulante Behandlungen für den Alkoholentzug erfolgversprechender sind. Während früher meist der stationären Entgiftung, oft auch Entwöhnung der Vorzug gegeben wurde, tendieren viele Autoren heute zur Empfehlung eines ambulanten Alkoholentzuges. Erste wissenschaftliche Daten dazu zeigen ermutigende Ergebnisse, doch sind die Zahlen noch nicht robust genug, um tatsächlich einen verallgemeinerbaren Vergleich zur stationären Therapie zu gestatten. Von entscheidender Bedeutung ist in jedem Fall die Einbeziehung des sozialen Umfeldes. Vor allem meint dies die Familie, aber auch das weitere, gegebenenfalls sogar das berufliche Umfeld, sofern der Patient damit einverstanden ist. Es gibt die Möglichkeit, die Abstinenz von Alkohol pharmakologisch zu unterstützen. Hier bieten sich zum einen die Medikation mit Disulfiram an, das bei gleichzeitigem Konsum von Alkohol zu mehr oder weniger massiver Unverträglichkeitsreaktion führt, sowie verschiedene „Anticravingsubstanzen“, vor allen Acamprosat. Auch hier gilt, dass derartige medikamentöse Interventionen nur eingebettet in einen sozialpsychiatrischen und psychotherapeutischen Gesamtbehandlungsplan empfehlenswert und erfolgversprechend sind. Einige spezielle Krankheitsbilder seien wegen der nicht seltenen forensischen Relevanz herausgegriffen:
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Die akute Alkoholintoxikation, auch Rausch genannt, kann sich von leichten Zuständen mit Gangunsicherheit, verwaschener Sprache und Störung komplexerer Bewegungsmuster bis hin zu schweren Rauschzuständen über einem Blutalkoholgehalt von etwa 2–2,5‰ steigern. Hier kommt es dann zu Orientierungsstörungen, psychotischem Erleben und neurologischen Ausfällen. Bei Blutalkoholkonzentrationen von über 4 oder gar 5‰ ist mit einem tödlichen Ausgang zu rechnen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bei Personen, die dauerhaft an große Alkoholmengen gewöhnt sind, die äußerlich erkennbare Beeinträchtigung selbst bei hohem Blutalkoholspiegel verhältnismäßig gering sein kann. Eine Sonderform des Rausches ist der forensisch besonders relevante „pathologische Rausch“. Dieser ist vermutlich weit seltener, als es der Gebrauch des Begriffes nahe legt. Dennoch existiert dieses klinische Krankheitsbild ohne Zweifel. Charakterisiert ist es durch ungewöhnliche Rauschzustände, die bereits bei verhältnismäßig geringer Alkoholisierung auftreten, und massive aggressive Durchbrüche sowie psychotisches Erleben mit Sinnestäuschungen oder Wahnvorstellungen. Die Frage, wann und warum ein solches Zustandsbild auftritt, ist weitgehend ungeklärt. Entsprechend gibt es auch wenig zuverlässige epidemiologische Daten. Das Alkoholentzugssyndrom, speziell das Alkoholentzugsdelir, ist eine sehr häufige und oft unterschätzte medizinische Herausforderung. Während das einfache Alkoholentzugssyndrom mit Unruhe, vermehrtem Schwitzen, Tremor und Schlafstörungen einhergeht sowie im psychischen Bereich mit Angst, Reizbarkeit und Affektlabilität, ist das Alkoholentzugsdelir eine schwere, potentiell lebensbedrohliche Erkrankung. Es handelt sich, nosologisch betrachtet, um eine exogene psychotische Störung mit Bewusstseins- und Orientierungsstörungen, massiver Angst, halluzinatorischen Erlebnissen und starker Unruhe. Typischerweise sind Delirpatienten nachts in Zeiten verminderter sensorischer Beeinflussung besonders unruhig und psychotisch. Alkoholentzugsdelirien müssen nach international übereinstimmender Meinung stationär behandelt werden. Im Vordergrund stehen die klinische Überwachung der Vitalfunktionen sowie die Gabe sedierender Substanzen, in Europa vorwiegend Clomethiazol, aber auch Benzodiazepine. Schließlich ist auf die bei jahrelangem massivem Alkoholmissbrauch auftretenden dauerhaften Störungen im kognitiven und im Persönlichkeitsbereich hinzuweisen. Häufig finden sich Wesensänderungen, die zu einer Entdifferenzierung der Persönlichkeit führen. Das durch Alkohol bedingte amnestische Syndrom ist durch zunehmende Störungen der Gedächtnisfunktionen charakterisiert und kann sich bis zur alkoholbedingten Demenz entwickeln. Die früher nosologisch getrennten, heute in der Regel zusammengefassten Syndrome der Wernicke-Enzephalopathie und der KorsakowPsychose zeigen typischerweise eine Bewusstseinsstörung, schwere ataktische Gangstörung und recht charakteristische Beeinträchtigungen der Augenmotorik. Dabei handelt es sich um ein schweres, stationär behandlungsbedürftiges Zustandsbild.
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Das psychotische Erscheinungsbild der Alkoholhalluzinose kann im Einzelfall einer schizophrenen Erkrankung täuschend ähnlich sehen. Hier finden sich im Unterschied zum Delir weder Bewusstseins- noch Orientierungsstörungen, wohl aber, wie bei der paranoiden Schizophrenie, ausgeprägte akustische Halluzinationen, typischerweise in Form von Stimmenhören. Verschiedene Ängste und paranoide Inhalte begleiten diesen Zustand. Handelt es sich tatsächlich um eine reine Alkoholhalluzinose und nicht um das zufällige Zusammentreffen von Alkoholabhängigkeit und schizophrener Erkrankung, so sollte das psychotische Zustandsbild innerhalb weniger Wochen durch stationäre Behandlung, Gabe von Neuroleptika und die auch sonst bei Psychosepatienten eingeleiteten sozialpsychiatrischen Maßnahmen deutlich zu bessern sein. Bei dieser Gruppe ist eine jahre- oder gar lebenslange Behandlung mit Neuroleptika im Unterschied zu chronisch schizophrenen Patienten nicht sinnvoll. Freilich kann die Differenzierung beider Krankheitsgruppen schwierig sein. Bei alkoholabhängigen Patienten kann eine große Zahl von körperlichen Folgeschäden auftreten, die praktisch alle Organsysteme betreffen können. Besonders häufig ist die alkoholbedingte periphere Polyneuropathie. Obwohl manche dieser Folgeerkrankungen, etwa die alkoholtoxischen Hepatopathie, sekundär zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten mit möglicher forensischer Relevanz hervorrufen können, ist für eine detaillierte Darstellung hier nicht der Raum.
Abhängigkeit von Drogen und Medikamenten Ebenso wie Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit stellen Abhängigkeiten von illegalen Drogen und üblicherweise als Psychopharmaka verordneten psychotropen Substanzen wie Benzodiazepinen nicht nur ein psychiatrisches, sondern auch ein gravierendes gesellschaftliches Problem dar, oft mit rechtlichen und forensischen Konsequenzen. Nun gibt es Merkmale, die für alle süchtigen Fehlhaltungen gelten, wie etwa die auf Dauer zunehmende Einengung des psychischen und sozialen Feldes durch die Abhängigkeit. Es gibt aber zwischen den einzelnen Abhängigkeitsgruppen auch markante Unterschiede. So etwa kommt es bei der Drogenabhängigkeit vom Opioidtyp (z. B. Heroin) schon nach recht kurzer Zeit zur Entwicklung einer Toleranz mit entsprechender Dosissteigerung und zu einer psychischen wie körperlichen Abhängigkeit. Das Niveau einer ausgeprägten Sucht mit allen Folgeerscheinungen wird bei den illegalen Drogen somit in der Regel rascher erreicht als bei Alkohol. Geht man davon aus, dass in der Bundesrepublik Deutschland etwa eine Viertelmillion Menschen regelmäßig sogenannte „harte Drogen“ konsumiert und dass es eine seit der Jahrtausendwende zwar leicht rückläufige, jedoch immer noch auf hohem Niveau befindliche Zahl von Drogentoten gibt (im Jahr 2000: 2030 Personen, 2004: 1385 Personen), so wird die Dimension des Problems auch auf dieser epidemiologischen Ebene deutlich.
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Der Missbrauch von Drogen beginnt in der Regel recht früh im Leben der betreffenden Person. Hinzu kommt der Umstand, dass im Gegensatz zu legalen Suchtmitteln wie Alkohol oder Nikotin illegale Drogen eben nur auf illegalem Wege zu beschaffen sind, was Folgephänomene wie Beschaffungskriminalität und generell erhöhte Delinquenz nach sich zieht. Auch darf nicht vergessen werden, dass für eine schwere Drogenabhängigkeit enorme finanzielle Mittel aufzubringen sind, die über die üblichen Wege einer festen Arbeitsstelle typischerweise nicht erworben werden können. In jüngerer Zeit ist verstärkt zu beobachten, dass der Drogenkonsum, vor allem mit Blick auf Kokain sowie „Designer-“ und „Lifestyle-Drogen“, sich nicht nur in gesellschaftlich randständigen Gruppen abspielt, die überdies noch in der Öffentlichkeit aufgrund ihres auffälligen Verhaltens rasch erkennbar sind, sondern auch Eingang in etabliertere gesellschaftliche Kreise gefunden hat. Drogenkonsum wird hier mitunter gar nicht mehr als solcher wahrgenommen, sondern eher als berechtigter Versuch der Leistungsoder Befindlichkeitssteigerung durch die Zufuhr psychotroper Substanzen. Freilich werden dadurch die mit diesen Substanzen verbundenen medizinischen wie sozialen Risiken keineswegs verringert, obwohl dieser falsche Eindruck durch die im Vergleich zur offenen Drogenszene ganz andere Art der Konsumenten durchaus entstehen kann. Es wird im Folgenden nicht möglich sein, jede einzelne Suchtform detailliert darzustellen. Vielmehr werden die mit Blick auf die forensische Relevanz wichtigsten Bereiche herausgegriffen. Es sind diese die Abhängigkeiten von Opioiden, Kokain und Psychostimulantien, Cannabinoiden, Halluzinogenen sowie Missbrauch und Abhängigkeit von üblicherweise ärztlich verordneten psychotropen Substanzen, vor allem Sedativa und Hypnotika. z Opioide. Opioide sind in der Medizin seit langem als hochwirksame schmerzlindernde Substanzen bekannt. Jedoch weiß man auch seit ebenso langer Zeit um ihr hohes Abhängigkeitspotential. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielte das Opium vorübergehend eine wichtige Rolle als frühe pharmakologische Depressionsbehandlung („Opiumkur“). Opiate wirken im Zentralnervensystem auf verschiedene Opioidrezeptoren und erzeugen auf der subjektiven Ebene – neben der analgetischen Wirkung – in erster Linie einen Zustand von Sedierung, Angstfreiheit, innerer Ruhe und Euphorie. Eine psychische und körperliche Abhängigkeit entwickelt sich jedoch rasch. Zu den missbräuchlich eingesetzten Opioiden gehören unter anderem die folgenden Substanzen: Heroin, Codein, Methadon, Pethidin, Fentanyl, Buprenorphin, Tramadol. Naloxon und Naltrexon sind Opioidantagonisten, die selbst kaum psychotrope Wirkungen zeigen, wohl aber bei Opioidintoxikationen als Antidot eine wichtige Rolle spielen bzw. bei den in praxi häufigen unklaren Intoxikationszuständen auch als diagnostisches Hilfsmittel eingesetzt werden. Im Falle einer Abhängigkeit liegt, medizinisch betrachtet, eine chronische Opioidintoxikation vor. Diese zeigt sich psychopathologisch durch Antriebsarmut und Lethargie, häufig treten auch Stimmungsschwankungen
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vorwiegend in die dysphorisch-depressive Richtung auf. Über einen noch längeren Zeitraum werden das Persönlichkeitsgefüge und die Werthaltungen einer Person nachhaltig beeinträchtigt bis völlig zerrüttet, wobei schließlich Beschaffung und Konsum der Suchtsubstanz zu den entscheidenden Lebensinhalten werden können. Im sozialen Bereich kommt es zu zunehmender Isolierung, abgesehen von den Kontakten in der Drogenszene selbst, sowie zu einer körperlichen und psychischen Verwahrlosung. Die psychische und körperliche Abhängigkeit wird in vielen Fällen von ganz verschiedenen und zunehmenden, oft lebensbegrenzenden körperlichen Folgeschäden begleitet (etwa Infektionen mit Hepatitis oder HIV, Fehl- und Mangelernährung). Voraussetzung für eine erfolgreiche therapeutische Intervention ist auch bei der Drogenabhängigkeit zunächst das Problembewusstsein der betroffenen Person und eine daraus resultierende Motivation, den Zustand nachhaltig zu ändern. Heute werden opiatabhängige Personen, sofern keine gravierenden körperlichen oder psychischen Begleiterkrankungen dies unmöglich machen, oft ambulant entzogen. Bei schweren Verläufen wird allerdings der stationäre Drogenentzug auch in Zukunft seine Bedeutung behalten. Opioide verursachen, wenn sie bei einer Abhängigkeit nicht kontinuierlich zugeführt werden, ein recht charakteristisches Entzugssyndrom, das freilich im Einzelfall sehr unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Gekennzeichnet ist es durch das starke bis ununterdrückbare Verlangen nach der Substanz, Tränenfluss und Schnupfen, Bauchkrämpfe, Muskelschmerzen, Pupillenerweiterung, Übelkeit bis zum Erbrechen, oft auch Durchfall, Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdruck. Ein ausgeprägtes Entzugssyndrom dauert in der Regel mehrere Tage. Nicht charakteristisch für den Opioidentzug sind hingegen psychotische Episoden oder delirante Zustände, wie sie wiederum typischerweise beim Alkoholentzugssyndrom oder beim Entzug von Benzodiazepinen vorkommen können. Es sind verschiedene medikamentöse Verfahren beschrieben worden, um den Entzug von Opioiden zu unterstützen. Hierbei kommt häufig das synthetische Opioid Methadon zum Einsatz, das die Entzugserscheinungen abmildert, eine längere Halbwertszeit als die primäre Suchtsubstanz hat, daher nicht so häufig zugeführt werden muss und eine deutlich geringere suchterzeugende Potenz aufweist als etwa Heroin. Auch liegen Berichte über den Einsatz von Antidepressiva sowie des üblicherweise zur Blutdrucksenkung eingesetzten Clonidin vor. Nachdem der Entzug selbst abgeschlossen ist, steht die entscheidende Frage an, wie eine langfristige Prophylaxe gestaltet werden kann. Neben verschiedenen psychotherapeutischen und sozialpsychiatrischen Angeboten wie Einzel- und Gruppengespräche sowie niederschwellige Hilfsangebote werden heute viele drogenabhängige Patienten nach dem Prinzip des kleineren Übels mit dem synthetischen Opiat Methadon weiterbehandelt („substituiert“), um so den Rückfall in die unkontrollierte schwere (Heroin-)Abhängigkeit zu verhindern. Internationale Studien zeigen, dass mit der Methadonsubstitution ein erheblicher Teil der Patienten in Richtung auf eine
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soziale und medizinische Stabilisierung bewegt werden kann. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass es sich bei der Methadonsubstitution um eine, wenn auch kontrollierte Fortsetzung der Opiatabhängigkeit handelt. Nur in vergleichsweise wenigen Fällen gelingt es, Patienten in einem Methadonprogramm von dem Ziel eines völligen und nachhaltigen Verzichts auf jede Art von Opiatkonsum zu überzeugen. In jüngerer Zeit sind vereinzelt Modellprojekte mit der gezielten und ärztlich kontrollierten Abgabe von Heroin (Diäthylmorphin) an Schwerstabhängige initiiert worden, um damit deren (weiteres) Abrutschen in die Prostitution, Kriminalität oder in nicht mehr behandelbare körperliche Folgeerkrankungen zu vermeiden. Eine abschließende Beurteilung dieses Ansatzes, der erwartungsgemäß politisch sehr kontrovers diskutiert wird, ist noch nicht möglich. z Kokain. Kokain ist ein Alkaloid des in Peru und Bolivien heimischen Kokastrauches, dessen psychotrope Wirkungen seit Hunderten von Jahren bekannt sind. Wegen seiner stimulierenden Wirkung war Kokain im 19. Jahrhundert zeitweise auch als Antidepressivum im Einsatz. Kokain führt zu einem Zustand von Euphorie, gesteigerter Wachheit, reduziertem Schlafbedürfnis, affektiver Enthemmung, jedoch auch zu psychomotorischer Unruhe bis Erregung sowie zu Aggressivität. Der Affekt kann sehr labil werden, die Fähigkeit zu abwägendem Denken nimmt markant ab. Schließlich kommt es nicht selten zur Entwicklung von paranoiden Ideen und Sinnestäuschungen auf verschiedenen Sinnesgebieten. Diese „Kokainpsychosen“ können schizophrenen Erkrankungen im klinischen Erscheinungsbild sehr ähnlich sehen. Körperlich zeigen Menschen unter Kokaineinfluss oft eine Pupillenerweiterung, erhöhten Blutdruck, Übelkeit und Erbrechen, nicht selten auch Zittern und Angst sowie – seltener – epileptische Anfälle. Der Kokainentzug verläuft meist weniger dramatisch als derjenige von Opiaten. Bei plötzlichem Entzug von lange und hoch dosiert konsumiertem Kokain zeigt sich zunächst das für alle Süchte charakteristische, starke Verlangen nach der Substanz („craving“). Dann folgen aversive Gefühle mit allgemeiner Müdigkeit und depressiver Verstimmung, wobei ein solcher Zustand im Einzelfall mehrere Wochen andauern kann. Kokainentzüge erfordern selten eine stationäre Krankenhausaufnahme. Therapeutisch werden bei Kokainabhängigen oder bei Personen mit Kokainmissbrauch in erster Linie psychotherapeutische Einzel- und Gruppentechniken eingesetzt. Medikamentös unterstützend ist die Gabe von Antidepressiva als wirksam belegt, wenn hier auch die empirische Datenlage noch unterschiedlich interpretiert wird. Sofern der Patient dem zustimmt, ist der Einbezug des näheren Umfeldes, vor allem der Familie, sinnvoll und in seiner therapeutischen Wirksamkeit empirisch belegt. z Cannabinoide. Die wesentliche Wirksubstanz Tetrahydrocannabinol (THC) wird aus der Hanfpflanze gewonnen und auch unter den Bezeichnungen Marihuana und Haschisch als Droge konsumiert. Ihre psychotro-
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pen Effekte bestehen in erster Linie aus einer euphorisierenden und einer sedierenden Komponente. Es kommt typischerweise zu einer positiv veränderten Sinneswahrnehmung sowie zu subjektiver Veränderung der Zeitwahrnehmung. Auch eine angstlösende Wirkung wird oft beschrieben. Sinnestäuschungen sind selten, sofern die Person nicht regelmäßig und viel Cannabis konsumiert. In diesem Fall hingegen ist das Auftreten von paranoiden und halluzinatorischen Zuständen beschrieben. Hier gibt es eine kontroverse Diskussion, ob THC die relevante kausale Komponente für die Entstehung der Psychose ist oder „lediglich“ eine ohnehin von der Vulnerabilität der Person her angelegte psychotische Reaktion ausgelöst hat. Neben dem Einsatz als Droge wird Cannabis in der Medizin auch therapeutisch genutzt: Es hat eine schmerzlindernde und übelkeitsbekämpfende Wirkung, was beispielsweise zur unterstützenden Behandlung von Karzinompatienten sehr nützlich ist, die als Nebenwirkung einer Chemotherapie unter quälender Übelkeit leiden. Auch über positive Effekte von Cannabisprodukten bei der multiplen Sklerose sowie in der Schmerztherapie liegen Untersuchungen vor. Konsumiert eine Person häufig und hoch dosiert Cannabis, so entsteht zwar in der Regel nicht die charakteristische schwere körperliche Abhängigkeit, wie sie für Opioide kennzeichnend ist. Doch berichten langjährige Konsumenten ebenfalls über ein sehr starkes Verlangen nach regelmäßiger Zufuhr der Substanz („craving“). Ein umstrittener, gelegentlich auch in forensischem Kontext auftauchender Begriff beschreibt eine mögliche Spätfolge langjährigen THC-Konsums, nämlich das „amotivationale Syndrom“. Dieses Zustandsbild ist charakterisiert durch eine flache Affektlage, Rückzug, lethargisches Verhalten und allgemeine Passivität. Unklar ist, ob es sich hier wirklich um ein Cannabisspezifisches Residualsyndrom handelt, ob sich lediglich die chronische Intoxikation selbst so auswirkt oder ob es ein sekundäres Phänomen ist. Im gutachterlichen Kontext ist dies freilich nicht die entscheidende Frage. Vielmehr stehen die präzise Erfassung des psychopathologischen Befundes und die daraus resultierenden Einschränkungen im Erleben und Verhalten im Vordergrund. Im Unterschied zu dem komplexen Konstrukt des amotivationalen Syndroms sind isolierte Defizite in kognitiven Funktionen bei chronischen Cannabiskonsumenten empirisch durchaus gut belegt. Dies bezieht sich vorwiegend auf die Funktionen Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Reagibilität. Inwieweit diese Defizite bei konsequenter Abstinenz voll reversibel sind oder nicht, kann nicht allgemeingültig beantwortet werden. z Halluzinogene. Halluzinogene Substanzen führen zu einer mehr oder weniger markanten Veränderung des gesamten Wahrnehmungs- und Erlebensfeldes. Zu ihnen gehören die über den Neurotransmitter Serotonin wirkenden Substanzen Lysergsäurediethylamid (LSD) und Psilocybin, die von der Gruppe der Katecholamine abgeleiteten Substanzen Meskalin und MDMA („Ecstasy“), anticholinerge Pharmaka wie Atropin und Skopolamin sowie schließlich Substanzen, die zur Einleitung und Aufrechterhaltung
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von Narkosen eingesetzt werden, aber eben auch halluzinogene Wirkungen hervorrufen, wie etwa Ketamin und Phenylcyclidin. Halluzinogene werden in der Regel nicht kontinuierlich genommen, sondern gezielt und kurzfristig, um die erwünschten psychotropen Effekte zu erzielen. Dabei ist die im Einzelfall auftretende Veränderung des psychischen Feldes schwer vorhersagbar. Neben den intendierten positiven Veränderungen von Stimmungslage und Wahrnehmung sind sehr wohl auch gegenteilige Effekte möglich, etwa starke Angst, erschreckende halluzinatorische Erlebnisse und schwer depressive Verstimmung. Eine manifeste körperliche Abhängigkeit entsteht in der Regel nicht, jedoch gibt es eine ganze Reihe von psychischen und körperlichen Folgeschäden, die erheblich sein können: So sind lang andauernde paranoide Reaktionen beschrieben, was im Einzelfall auch an die Auslösung einer schizophrenen Erkrankung denken lassen kann. Bei längerem Konsum können unterschiedliche, zum Teil dauerhafte kognitive Defizite auftreten, etwa im Bereich des Gedächtnisses. Bei den sogenannten Designerdrogen, vor allem beim MDMA („Ecstasy“), finden sich ebenfalls mitunter erhebliche negative Begleiterscheinungen psychischer wie körperlicher Art bis hin zu seltenen lebensbedrohlichen Zuständen wie maligne Hyperthermie, massive Blutgerinnungsstörung, Nierenversagen oder perakut verlaufende schwerste Leberentzündungen. Diese Substanzen dürften auch ein neurotoxisches Potential haben, was bei längerem Konsum zu expliziten Hirnschädigungen und entsprechenden kognitiven Defiziten führen kann. z Sedativa und Hypnotika. In Anbetracht der sehr hohen Verschreibungshäufigkeit von Beruhigungs- und Schlafmitteln insbesondere vom Benzodiazepintyp ist wegen ihres schon lange bekannten Suchtpotentials die häufige Entwicklung von Abhängigkeiten keine Überraschung. Auch außerhalb des forensischen Kontextes ist von Bedeutung, dass die ärztlichen Verordner von Benzodiazepinen sich dieses Abhängigkeitspotential stets kritisch vor Augen halten und vor allem den längeren Einsatz dieser bei Angst und Schlafstörungen sehr gut wirksamen Medikamentengruppe auf begründete Fälle begrenzen sollten. Mit jeder Verschreibung sollte zugleich Zeitpunkt und Art des Absetzens besprochen werden. Benzodiazepine haben eine angstlösende, beruhigende, muskelentspannende und antiepileptische Wirkung. Kommt es zu einer Abhängigkeit, so ist die Hochdosis- von der Niedrigdosis-Abhängigkeit zu unterscheiden. Im letzteren Fall liegen die kontinuierlich eingenommenen Mengen noch innerhalb des Rahmens, der für die eigentliche medizinische Indikation vorgesehen ist, selbst wenn diese Indikation gar nicht mehr besteht. Im Falle der Hochdosis-Abhängigkeit hingegen werden teilweise um ein vielfaches höhere Mengen eingenommen, und dies wegen des charakteristischen Wirkungsverlustes über die Zeit erst noch mit steigender Tendenz („Tachyphylaxie“). Bei dauerhaftem, hoch dosiertem Gebrauch von Benzodiazepinen ist neben einer allgemeinen Verlangsamung und verschiedenen kognitiven Einschränkungen auch mit Veränderungen der Persönlichkeit zu rechnen,
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wobei hier meistens die ohnehin schon bestehenden ängstlich-abhängigen Züge weiter zugespitzt werden. Je nach Substanz sind zum Teil gravierende Gedächtnisstörungen beschrieben worden, was im Einzelfall forensisch relevant werden kann. Klinisch bedeutsam sind die oft drastischen psychischen und körperlichen Entzugserscheinungen, die beim plötzlichen Absetzen eines längere Zeit konsumierten Benzodiazepins auftreten: Sie reichen vom bloßen Wiederauftreten der ursprünglich zur Verordnung führenden (Angst-)Symptomatik über starke Agitiertheit und heftige Angstzustände bis hin zu voll ausgeprägten psychotischen Zustandsbildern mit Verwirrtheit, Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen. Auch epileptische Anfälle sind häufig. Entzugspsychosen markanter Ausprägung erfordern in der Regel eine stationäre Behandlung. Die noch vor einigen Jahrzehnten dominierenden Barbiturate spielen heute mengenmäßig eine deutlich geringere Rolle als die Benzodiazepine. Doch werden auch heute noch schwere Barbituratabhängigkeiten und entsprechende Entzugserscheinungen bis hin zu Entzugspsychosen beobachtet. Generell gilt, dass bei Personen, die längere Zeit Beruhigungs- oder Schlafmittel eingenommen haben, unbedingt ein ausschleichendes Absetzen unter engmaschiger ärztlicher Kontrolle, wenn nötig über einen mehrmonatigen Zeitraum, vorzunehmen ist, will man keine gravierenden psychischen und körperlichen Entzugserscheinungen riskieren.
1.4.3 Schizophrenie und verwandte psychische Störungen Schizophrene Psychosen und verwandte psychoseähnliche oder psychotische Krankheitsbilder stellen seit jeher einen Kernbereich psychiatrischen Handelns dar. Immerhin handelt es sich bei der Schizophrenie um eine schwere, häufig auch rezidivierende oder chronisch verlaufende psychische Erkrankung, die für die betroffenen Personen, aber auch für ihr Umfeld in den meisten Fällen großes Leid und eine ausgeprägte Belastung bedeutet. Trotz dieses besonderen Gewichtes schizophrener Erkrankungen und der dadurch generierten Forschungsbemühungen gibt es nach wie vor heterogene Ansätze zum Verständnis von Ursachen und Entstehung (Ätiologie und Pathogenese) sowie zur diagnostischen Einschätzung und zum therapeutischen Vorgehen. Im Folgenden wird der aktuelle Wissenstand als Orientierungsmarke genutzt, ohne jedoch manche grundlegenden und noch unbeantworteten Fragen im Kontext der Schizophrenie außer Acht zu lassen. Im traditionellen triadischen System der Psychiatrie werden die organisch begründbaren psychischen Erkrankungen von den endogenen Psychosen und diese schließlich von der Gruppe der psychischen Fehlentwicklungen abgegrenzt, wobei zu letzterem Bereich die neurotischen und reaktiven Störungen ebenso gehören wie die Persönlichkeitsstörungen. Die schizophrenen Psychosen galten lange Jahre als Paradebeispiel einer endogenen Psychose. Nun wurde im Kontext des markanten Wissenszuwachses im neurowissenschaftlichen Bereich im 20. Jahrhundert der aus dem 19. Jahr-
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hundert stammende Endogenitätsbegriff immer fragwürdiger, da er aus Sicht vieler Autoren mehr verschleierte als aufklärte. Außerdem geriet im selben Zusammenhang die frühere kategoriale Unterscheidung von organisch begründbaren und endogenen Psychosen insofern ins Wanken, als diejenigen Stimmen lauter wurden, die auch und gerade die endogenen Psychosen ebenfalls als hirnorganische, als körperlich begründbare Störung ansehen, bei der allerdings die genaue Art der biologischen Dysfunktion noch nicht völlig verstanden sei. Freilich ist der Gedanke, dass letztlich alle psychischen Störungen im Grunde Ausdruck biologischer Fehlfunktionen des Gehirns seien, nicht neu, doch gewann er in den letzten Jahrzehnten durch die empirische Befundlage stark an Bedeutung. Auch die modernen operationalen Diagnosemanuale ICD-10 und DSM-IV verzichten auf den Begriff der Endogenität.
Schizophrenie Heute wird weitgehend akzeptiert, dass die Schizophrenie eine schwere psychische Erkrankung mit multifaktorieller Verursachung ist, wobei sich im Einzelfall die ursächlichen Faktoren vielfältig miteinander verbinden können. Entsprechend heterogen sind auch die klinischen Verlaufsformen. Von besonderer Bedeutung ist, dass die früher ausgesprochen pessimistische Einschätzung der Langzeitprognose der Schizophrenie, wie sie etwa in der Bezeichnung der Erkrankung als „Dementia praecox“ durch Emil Kraepelin (1856–1926) zum Ausdruck kam, im Laufe des 20. Jahrhunderts auf dem Hintergrund umfangreicher Langzeitbeobachtungen von einer deutlich differenzierteren und positiveren Sicht der Dinge abgelöst wurde. Dennoch kommen auch heute noch sehr schwere, chronische und weitgehend therapieresistente schizophrene Verläufe vor. Erst als man sich zunehmend von der Idee, dass es sich bei der Schizophrenie um eine einzige, kategorial verstandene natürliche Krankheitseinheit handelt, losgesagt hatte, geriet die enorme Vielfältigkeit psychotischer Verläufe vermehrt ins wissenschaftliche Blickfeld. Diese reicht von der völligen Genesung nach einer isolierten psychotischen Episode über den Verlaufstyp der episodischen Rezidive bis hin zum ungünstigeren schubweisen Verlauf, bei dem zwischen den einzelnen psychotischen Schüben zunehmend mehr Defizite psychopathologischer und sozialer Art verbleiben, und schließlich zum chronisch-progredienten Verlauf. Bei der letztgenannten Gruppe handelt es sich um Menschen, bei denen die schizophrene Psychose ein in die Gesellschaft integriertes Leben weitgehend und dauerhaft verhindert. Trotz allen wissenschaftlichen Fortschrittes ist es nach wie vor noch nicht möglich, zu Beginn einer psychotischen Erkrankung eine zuverlässige Prognose darüber abzugeben, ob die betroffene Person zur Gruppe mit guter oder schlechter Prognose gehört. Dies ist natürlich aus Sicht der Patienten und Angehörigen ein markantes Defizit, hat aber auch Konsequenzen für die forensische (Prognose-)Begutachtung.
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z Ursachen. Man geht heute von einer multifaktoriellen Verursachung schizophrener Erkrankungen aus. Zu berücksichtigen ist bei den folgenden Ausführungen, dass es sich um wissenschaftliche Hypothesen mit unterschiedlichem Evidenzgrad handelt. Aus den vorliegenden Erkenntnissen folgt nämlich nicht, dass in jedem klinischen oder forensischen Einzelfall die entsprechenden Hypothesen konkret angewendet werden können, etwa im Sinne eines direkten Rückschlusses von einem Bildgebungsbefund in der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) auf die psychopathologische oder gar die forensische Ebene. Die sorgfältige Erhebung des aktuellen psychopathologischen Befundes und der biographischen Anamnese einschließlich der Persönlichkeitsentwicklung bleibt das Kernstück nicht nur bei der klinischen Diagnostik, sondern auch im Bereich der Psychosenforschung. Im Vordergrund der heute zur Ätiologie der Schizophrenie vertretenen Hypothesen stehen biologische bzw. im weiteren Sinne neurowissenschaftliche Faktoren, vor allem aus den Bereichen Genetik, Neuropathologie, Biochemie, Neurophysiologie und Neuropsychologie. Demgegenüber werden psychische und psychosoziale Faktoren heute weniger als ätiologie-, sondern mehr als verlaufsrelevant eingeschätzt. Im Folgenden werden die wichtigsten Hypothesen genannt, wobei detailliertere Angaben (auch zur Literatur) den einschlägigen Lehrbüchern zu entnehmen sind. Vorab zu erwähnen ist allerdings noch der wichtige Begriff der Vulnerabilität. Am einflussreichsten ausformuliert wurde dieser Gedanke im Vulnerabilitäts-Stress-Modell der psychotischen Erkrankung. Dieses geht aus von einer vorwiegend biologisch determinierten Empfindlichkeit – eben Vulnerabilität – der einzelnen Personen für psychische Labilisierungen im Allgemeinen und für psychotische Dekompensationen im Speziellen. Dabei erfolgt nach diesem Konzept der Schritt von der erhöhten Empfindlichkeit zur klinisch erkennbaren psychotischen Erkrankung aber nicht zufällig und auch nicht streng determiniert, sondern hängt vielmehr von zahlreichen individuellen Variablen ab wie Lebenssituation, Persönlichkeit, zur Verfügung stehende Reaktionsmöglichkeiten („Coping-Mechanismen“), aber auch von weiteren psychosozialen und biologischen Faktoren. Zu nennen sind beispielhaft so unterschiedliche Elemente wie genetische Ausstattung, medizinische Bedingungen während der Schwangerschaft und der Geburt, neuronale Entwicklung im Kleinkindes- und Kindesalter sowie Zahl und Art belastender Lebensereignisse. Diejenigen Hypothesen, die am stärksten auf neurobiologische Faktoren abzielen, gehen davon aus, dass vor allem bei den schweren und chronischen schizophrenen Psychosen primär eine möglicherweise schon in utero beginnende neuronale Entwicklungsstörung vorliegt, die nach längerem Verlauf der psychotischen Störung im schlechtesten Fall sogar in einen neurodegenerativen Prozess übergehen kann, was klinisch mit den Phänomenen der Negativsymptomatik bzw. dem schizophrenen Residuum in Verbindung gebracht wird (s. u.).
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Schon diese bei weitem unvollständige Aufzählung macht die enorme Komplexität des Sachverhaltes deutlich und veranschaulicht die Schwierigkeit, in einem solchen Umfeld zu verlässlichen wissenschaftlichen Daten zu kommen. z Genetische und morphologische Befunde. Das Wissen um die familiäre Häufung schizophrener Erkrankungen ist so alt wie die neuzeitliche Schizophrenieforschung überhaupt. Zwillingsstudien und dabei gerade der Vergleich eineiiger mit zweieiigen Zwillingen haben immer wieder gezeigt, dass es einen im Einzelfall zwar schwer quantifizierbaren, doch mit Sicherheit vorhandenen genetischen Einfluss auf die Entstehung schizophrener Erkrankungen gibt. In die gleiche Richtung wiesen die vor allem im skandinavischen Raum durchgeführten Adoptionsstudien: Sie zeigten, dass früh adoptierte Kinder, die mindestens ein an Schizophrenie erkranktes Elternteil haben, auch dann mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einer Schizophrenie erkranken, wenn sie in einer Adoptivfamilie aufwuchsen, in der es keine erkennbaren Risikofaktoren, insbesondere keine manifest psychotisch erkrankten Familienmitglieder gibt. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund dieser Befunde wird von vielen Autoren in letzter Zeit ein Kontinuitätsmodell favorisiert. Dieses geht davon aus, dass es keine kategoriale Unterscheidung zwischen den Zuständen schizophren und nichtschizophren gibt, sondern vielmehr ein Kontinuum zwischen den folgenden Eckpunkten: 1. die psychisch gesunde Bevölkerung, wobei aber jüngere Befunde mehrfach zeigten, dass ein bestimmter Prozentsatz dieser Personen durchaus über kurzfristige und leichte psychosenahe Erlebnisse berichtet, ohne darunter im persönlichen oder beruflichen Alltag zu leiden, 2. Personen mit dauerhaften Persönlichkeitsauffälligkeiten im Sinne der sogenannten Schizotypie und schließlich 3. Menschen mit explizit psychotischen Erkrankungen, wobei wiederum nur ein Teil von ihnen das Vollbild einer schizophrenen Psychose zeigt und die noch zu besprechenden diagnostischen Kriterien erfüllt. Die Suche nach morphologisch fassbaren Veränderungen im Gehirn bei Psychosekranken ist ebenfalls so alt wie die neuzeitliche Schizophrenieforschung. Während bis vor wenigen Jahrzehnten die Ergebnisse ausgesprochen widersprüchlich und uneinheitlich blieben, stellen nunmehr die modernen bildgebenden Verfahren, vor allem in Verbindung mit weiteren Untersuchungstechniken wie Neuropsychologie und Neurophysiologie, eine ganz andere Situation her: Nunmehr ist es möglich, wenn auch mit erheblichem technischen Aufwand, auf nichtinvasive Weise die im Gehirn ablaufenden physiologischen und biochemischen Vorgänge abzubilden und sie mit dem aktuellen psychischen Zustand des Probanden, sei er gesund oder krank, zu korrelieren. Zahlreiche Studien seit etwa den 70er Jahren haben reduzierte Volumina bestimmter Hirnregionen bei schizophrenen Personen beschrieben. Doch ist auch hier zu betonen, dass die Ergebnisse nicht einheitlich sind. Immerhin führten die vorliegenden Daten zur Hypothese, dass Störungen der Ver-
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bindung zwischen einzelnen Neuronengruppen, Störungen der Konnektivität, für die Entstehung psychotischen Erlebens von großer Bedeutung sind. z Biochemische Befunde. In der Geschichte der Schizophrenieforschung ist die seit Jahrzehnten diskutierte Dopaminhypothese gleichsam das Symbol für die Hinwendung zur Neurobiologie, die etwa ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts begann und bis heute unvermindert anhält. Das Dopaminsystem rückte in den Mittelpunkt des Interesses, nachdem bekannt wurde, dass Substanzen, die dopaminantagonistisch wirken, schizophrene Symptomatik bessern können, und dass umgekehrt Substanzen, die dopaminagonistisch wirken, psychotische Zustände hervorrufen können, die auf den ersten Blick denjenigen der schizophren Erkrankten sehr ähnlich sind. Insoweit ging die ursprüngliche Dopaminhypothese (Carlsson u. Lindquist 1963) davon aus, dass es im Falle der Schizophrenie zu einer generellen Überfunktion der Neuronenverbände kommt, die als Überträgerstoff Dopamin nutzen. Zwischenzeitlich ist das Bild durch die enorme Forschungsarbeit auf diesem Gebiet wesentlich differenzierter, aber auch unübersichtlicher geworden. Insbesondere kennt man heute mehrere dopaminerge neuronale Systeme und eine ganze Reihe von biochemisch verschiedenen Dopaminrezeptoren. Bemerkenswert ist, dass der Wissenszuwachs auf diesem Gebiet in enger Verbindung mit der Entwicklung neuartiger neuroleptischer Substanzen zustande kam und vermutlich in Zukunft auch weiter zustande kommen wird. Dies erinnert an das alte medizinische Prinzip des Diagnostizierens ex juvantibus, also des Rückschlusses auf die Art der vorliegenden Erkrankung durch die Beobachtung des erfolgreich eingesetzten Heilmittels. Noch komplizierter wurde die Situation durch die Erkenntnis, dass es keineswegs nur das Dopamin ist, das hier eine Rolle spielt, sondern auch eine ganze Reihe von anderen Neurotransmittern, etwa das Serotonin und jüngst das Glutamat. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es mittlerweile eine fast unübersehbare Fülle von Studien gibt, die auf Dysfunktionalitäten von Neurotransmittern bei psychotischen Patienten hinweisen. Freilich sind auch diese Befunde nicht widerspruchsfrei. Sie lösen natürlich auch nicht implizit die Kardinalfrage jeder biologischen Psychosenforschung, die Frage nämlich, ob die beobachtete neurobiologische Veränderung Ursache des psychotischen Erlebens ist, Begleiterscheinung oder Folge. z Neurophysiologische und neuropsychologische Befunde. In diesen beiden Bereichen konnten in den letzten Jahrzehnten interessante und teilweise auch für die forensische Beurteilung bedeutsame Befunde erhoben werden. Schon sehr lange ist bekannt, dass Störungen des formalen Denkens sowohl in expliziter als auch in subtiler, nur durch entsprechende Testung erkennbarer Form eine Kernstörung schizophrener Erkrankungen darstellen. Beispielsweise Eugen Bleuler hat im Rahmen seiner Schizophreniekonzeption (1911) ausdrücklich auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Allerdings ist es erst in den letzten Jahrzehnten – wiederum im Zusammenhang mit der
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Neu- bzw. Weiterentwicklung neurophysiologischer und neuropsychologischer Untersuchungsmethoden – gelungen, diese Phänomene zuverlässiger zu messen und miteinander zu korrelieren. Neurophysiologische Befunde führten zu der Hypothese, dass es bei schizophrenen Patienten (aber nicht nur bei diesen) zu einer Störung der Informationsverarbeitung im Sinne einer reduzierten Fähigkeit zur Filterung eingehender Wahrnehmungen kommt. Dies führe, so die Annahme, auf der subjektiven Ebene zu einer Reizüberflutung, zu dem Gefühl des Bedrängtseins und gegebenenfalls auch zu schweren affektiven Auslenkungen. Neben dieser eher physiologisch bzw. informationstheoretisch orientierten Hypothese, in deren Mittelpunkt die Hirnregion des Thalamus steht, gibt es eine klinisch ausgerichtete Strömung, nämlich die von G. Huber entwickelte Lehre von den schizophrenen Basissymptomen (Huber et al. 1979). Dieses Konzept verbindet insofern die neurobiologische mit der psychopathologischen Ebene, als für bestimmte Basissymptome eine große Substratnähe, sprich eine starke biologische Fundierung angenommen wird, wohingegen andere Symptome eher bereits Ausdruck der psychologisch nachvollziehbaren Reaktion des Individuums auf weitere, subjektiv unerklärliche psychotische Symptome darstellen. In den letzten Jahren hat es eine große Zahl von Studien gegeben, die eindeutig erkennbare, jedoch nicht für die Schizophrenie spezifische Defizite bei verschiedenen neuropsychologischen Funktionen nachweisen konnten. Dies betrifft z. B. die Bereiche Arbeitsgedächtnis, „Theory of Mind“ und Konzeptbildung. z Psychologische und psychosoziale Befunde. In der älteren Psychiatrie und im 20. Jahrhundert vor allem durch die anthropologische Psychiatrie wurde auf die Möglichkeit der reaktiven Auslösung oder gar Verursachung psychotischer Erkrankungen ein deutlich stärkerer Akzent gelegt, als dies heute der Fall ist. Auch gibt es hier regionale Unterschiede. So etwa kannte und kennt die skandinavische Psychiatrie das Konzept der reaktiven Psychosen, das sich im sonstigen europäischen Raum nicht wirklich durchsetzen konnte. Wiewohl jedem klinisch Erfahrenen gut bekannt ist, dass es im Vorfeld, aber auch im Verlauf von psychotischen Erkrankungen markante Einflüsse des jeweiligen Lebensumfeldes des Erkrankten und seiner Persönlichkeit gibt, sind doch empirische Studien zu diesem Thema vergleichsweise rar. Versuche, die spätere schizophrene Psychose mit ungünstigen Kommunikationsstilen der Eltern in der Kindheit in kausale Verbindung zu bringen, konnten in Nachuntersuchungen nicht bestätigt werden. Weitere empirische Studien haben sich mit dem Einfluss des emotionalen Kommunikationsstils im Umfeld von psychotischen Menschen befasst und hier zeigen können, dass ein besonders markanter expressiver Stil („high expressed emotion“) für den Langstreckenverlauf der Psychose eher ungünstig ist. Auch fanden sich Korrelationen zwischen belastenden Lebensereignissen und der Rezidivneigung von psychotischen Erkrankungen. Eine lange Kontroverse ist zu verfolgen bezüglich der Frage, wie der im
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Mittelwert niedrigere soziale Status psychotischer Menschen einzustufen ist, ob also die Erkrankung zu einem sozialen Abstieg führt oder ob umgekehrt Personen, die primär schon einer niedrigeren sozialen Schicht zugehörig sind, gegebenenfalls sogar durch die damit verbundenen ungünstigeren Lebensumstände häufiger psychotisch werden. All diese verschiedenen Forschungsrichtungen haben im Laufe der letzten Jahrzehnte interessante Daten geliefert, nicht jedoch ein so klares Profil erbracht, dass man von zweifelsfrei nachgewiesenen kausalen Faktoren für die Entstehung einer schizophrenen Erkrankung sprechen könnte. z Klinische Symptomatik und Verlauf. Schizophrene Erkrankungen können zur Veränderung praktisch aller psychischen Funktionen führen. Auf die einzelnen Symptome ist im Abschnitt 1.3 bereits eingegangen worden. Wegen der Vielgestaltigkeit der Erkrankung gibt es auch ganz unterschiedliche Versuche, hier eine systematische Ordnung zu schaffen. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass bei schizophrenen Patienten auch dann, wenn bestimmte Symptombereiche wie Stimmenhören oder Wahnideen prägnant im Vordergrund stehen, doch oft auch andere psychische Funktionen beeinträchtigt sind. So finden sich zumeist Störungen des formalen Denkablaufes, häufig auch des inhaltlichen Denkens, Störungen der Wahrnehmung, solche der Affektivität und des Ich-Erlebens. Auf einer noch höheren Ebene kann davon gesprochen werden, dass bei schizophren erkrankten Menschen zentrale Bereiche der Persönlichkeit labilisiert werden, was subjektiv für den Betroffenen zu Angst und Irritation führt, aber auch bei Außenstehenden den Eindruck des Befremdlichen, Unbekannten, Distanzierten hervorrufen kann. Von den vielen Einteilungsversuchen der psychopathologischen Symptomatik schizophrener Erkrankungen seien hier paradigmatisch zwei erwähnt, nämlich die von Eugen Bleuler eingeführte Unterscheidung von Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen einerseits sowie die von Kurt Schneider beschriebenen Symptome ersten und zweiten Ranges: z Bleuler unterschied Grundsymptome, die bei jedem Fall einer schizophrenen Erkrankung vorliegen müssten, wohingegen die akzessorischen Symptome vorliegen könnten, aber nicht müssten. Das Bemerkenswerte hier ist, dass die akzessorischen Symptome eher diejenigen sind, die im Kontakt mit schizophrenen Menschen primär auffallen, etwa Wahnideen und Sinnestäuschungen. Relevanter für die Diagnose erschienen Bleuler hingegen die Grundsymptome: Hier nannte er Assoziationsstörungen, Störungen der Affektivität, Ambivalenz und Autismus. Mit Störungen der Assoziation waren in erster Linie formale Denkstörungen bis hin zu Zerfahrenheit gemeint. Die affektiven Störungen werden als sehr heterogen beschrieben, von einer allgemeinen affektiven Irritabilität über Erregungszustände bis hin zur Affektverflachung und zum parathymen Affekt reichend, der inhaltlich nicht zu der gegebenen Situation passt. Ambivalenz meint im Unterschied zu dem alltäglichen und nicht psychopathologisch relevanten Problem, sich im Einzelfall nicht leicht für das
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eine oder andere entscheiden zu können, eine grundsätzliche Störung des Entscheidens und Positionierens bis hin zur Unfähigkeit, die eigenen psychischen Zustände kognitiver, affektiver oder voluntativer Art sicher einordnen und bewerten zu können. Mit Autismus schließlich meinte Bleuler eine wesentlich weitere Thematik als sie der heute vorwiegend in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendete Krankheitsbegriff Autismus umfasst. Für ihn zeichnete sich der schizophrene Autismus dadurch aus, dass es für Außenstehende nur schwierig möglich ist, einen tieferen Kontakt zum Patienten aufzubauen und dass umgekehrt sich auch der Patient großen Schwierigkeiten gegenüber sieht, von sich aus auf andere zuzugehen und in einen tragfähigen emotionalen Rapport zu treten. Häufig wird die Differenzierung zwischen Grundsymptomen und akzessorischen Symptomen verwechselt mit einer zweiten Unterscheidung, die Bleuler getroffen hat, die aber etwas anderes meint, nämlich diejenige zwischen primären und sekundären Symptomen der Schizophrenie. Diese Dichotomie hatte einen pathogenetischen Hintergrund, wenn auch einen spekulativen: Bleuler ging davon aus, dass die von ihm als primär bezeichneten Symptome direkte Folgen der auch von ihm angenommenen neurobiologischen Störung seien, die der Erkrankung zugrunde liege, wohingegen die sekundären Symptome schon Ausdruck der psychologischen Reaktion der betroffenen Person auf die für sie unerklärlichen Primärsymptome seien. z Kurt Schneider entwarf einige Jahrzehnte später eine Unterteilung der psychopathologischen Symptome bei schizophrenen Erkrankungen, die aufgrund ihrer Präzision und Ausrichtung an klaren Kriterien als Vorläufer der heute eingesetzten operationalen psychiatrischen Diagnoseinstrumente ICD-10 bzw. DSM-IV angesehen werden kann: Er unterschied Symptome ersten Ranges von solchen zweiten Ranges. Die Symptome ersten Ranges hielt er für weitestgehend beweisend, pathognomonisch für Schizophrenie, wohingegen die Symptome zweiten Ranges auch bei diversen anderen psychischen Erkrankungen anzutreffen seien. Eine wesentliche Einschränkung wurde allerdings von Schneider sehr betont, in späterer Zeit jedoch häufig übersehen: die Einschränkung nämlich, dass die markante diagnostische Relevanz der Symptome ersten Ranges nur dann gegeben sei, wenn eine somatische Erkrankung des Gehirns ausgeschlossen sei (z. B. ein Gehirntumor oder eine Enzephalitis). In der klinischen Praxis werden die schizophrenen Psychosen nach ihrer vorherrschenden Symptomatik unterteilt, wobei auch Verlaufsmerkmale einfließen. Je nach klinischem Schwerpunkt spricht man von der paranoidhalluzinatorischen Schizophrenie, der hebephrenen, der katatonen und, wobei dies keine gut klassifizierte Untergruppe ist, der undifferenzierten Schizophrenie. Die folgende Übersicht zeigt, wie innerhalb der ICD-10-Klassifikation sowohl die verschiedenen klinischen Subgruppen wie auch die Verlaufsformen in einem alphanumerischen System abgebildet werden.
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Subtypen und Verlaufsbilder der Schizophrenie nach ICD-10 F20 F20.0 F20.1 F20.2 F20.3 F20.4 F20.5 F20.6 F20.8 F20.9
Schizophrenie Paranoide Schizophrenie Hebephrene Schizophrenie Katatone Schizophrenie Undifferenzierte Schizophrenie Postschizophrene Depression Schizophrenes Residuum Schizophrenia simplex Sonstige Schizophrenie Nicht näher bezeichnete Schizophrenie
Verlaufsbilder: F20.x.0 F20.x.1 F20.x.2 F20.x.3 F20.x.4 F20.x.5 F20.x.8 F20.x.9
Kontinuierlich Episodisch, mit zunehmendem Residuum Episodisch, mit stabilem Residuum Episodisch, remittierend Unvollständige Remission Vollständige Remission Sonstige Beobachtungszeitraum weniger als ein Jahr
Die ICD-10 setzt als Zeitkriterien für die Diagnose einer schizophrenen Erkrankung ein Minimum von einem Monat fest. Dauert eine akute psychotische Symptomatik, die klinisch wie eine Schizophrenie imponiert, weniger als vier Wochen, so wird sie in der ICD-10 als „akute schizophreniforme psychotische Störung“ bezeichnet (F23.2). Die folgende Übersicht nennt die wesentlichen diagnostischen Kriterien der ICD-10 für eine schizophrene Erkrankung und gibt damit auch einen Einblick in die generelle Art des Vorgehens bei den heute international und vor allem in der Forschung üblichen operationalisierten psychiatrischen Diagnosenmanualen. Charakteristische (aber nicht beweisende!) Symptome einer Schizophrenie nach ICD-10 (F20) 1. Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung oder Gedankenentzug, Gedankenausbreitung 2. Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten, deutlich bezogen auf Körper- und Gliederbewegungen oder bestimmte Gedanken, Tätigkeiten oder Empfindungen, Wahnwahrnehmungen 3. Kommentierende oder dialogische Stimmen 4. Anhaltender, kulturell unangemessener oder völlig unrealistischer Wahn 5. Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität 6. Gedankenabreißen oder Einschiebungen in den Gedankenfluss 7. Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien oder wächserne Biegsamkeit, Negativismus, Mutismus und Stupor 8. „Negative“ Symptome wie Apathie, Sprachverarmung, verflachte oder inadäquate Affekte zumeist mit sozialem Rückzug und verminderter sozialer Leistungsfähigkeit
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9. Eine eindeutige und durchgängige Veränderung bestimmter umfassender Aspekte des Verhaltens der betreffenden Person, die sich in Ziellosigkeit, Trägheit und einer in sich selbst verlorenen Haltung und sozialem Rückzug manifestiert
Der Langstreckenverlauf der schizophrenen Erkrankung ist außerordentlich heterogen. Es gibt Patienten, die eine einzige psychotische Episode schizophrenen Gepräges erleben, voll remittieren und nicht mehr erneut erkranken. Am anderen Ende der Skala stehen Patienten, die in frühem Alter an einer vom Typus her vorwiegend hebephrenen Psychose erkranken, um dann ihr ganzes weiteres Leben über von der chronifizierten Psychose geprägt zu sein, im schlimmsten Fall bis hin zu der Unfähigkeit, ein selbstständiges Leben in der sozialen Gemeinschaft führen zu können. Stehen sogenannte Negativsymptome im Vordergrund, wie etwa Antriebsmangel, Verflachung der affektiven Ansprechbarkeit, reduzierte (sprachliche) Kommunikation und sozialer Rückzug, so spricht man von einem schizophrenen Residuum oder Residualsyndrom. Als weitgehend gesichert kann gelten, dass ein besonders frühes Erkrankungsalter, ein schleichender Beginn, ein niedriges prämorbides soziales Funktionsniveau einschließlich der Schulbildung, eine stärker gestörte prämorbide Persönlichkeit, eine besonders hohe familiäre Belastung mit schizophrenen Erkrankungen und gegebenenfalls auch morphologische Auffälligkeiten im Gehirn sowie weitere neurologische Symptome die Gesamtprognose verschlechtern. Je eindeutiger auslösende Ereignisse eine ursächliche Rolle gespielt haben und je weniger Residual- oder Negativsymptome auftreten, umso günstiger verläuft die Erkrankung in der Regel. Bei Frauen beginnt eine schizophrene Psychose statistisch einige Jahre später als bei Männern. Schizophren Erkrankte haben ein massiv erhöhtes Suizidrisiko. Betrachtet man die ganze Lebensstrecke der Patienten, so weisen die Befunde darauf hin, dass 10%, nach anderen Studien bis zu 20% der Schizophreniekranken sich selbst das Leben nehmen. Außerdem weisen schizophrene Menschen eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit für zusätzliche psychische Störungen auf, vor allem für Suchterkrankungen. Häufig leiden junge Patienten parallel an einer psychotischen Erkrankung und an einer Suchterkrankung. Hier spricht man von einer dualen Diagnose, wofür spezielle Behandlungsoptionen stationärer und ambulanter Art vorgehalten werden. z Therapie. Die therapeutischen Optionen bei schizophrenen Psychosen haben sich in den letzten Jahrzehnten durch die Einführung und evidenzbasierte kontinuierliche Weiterentwicklung verschiedener Therapiestrategien erfreulich erweitert. Freilich gibt es nach wie vor Patienten, deren Leben weitgehend von einer chronischen schizophrenen Erkrankung geprägt und beeinträchtigt wird. Generell sind drei Therapiearme zu unterscheiden, nämlich die Psychopharmakotherapie, die Psychotherapie sowie sozialpsychiatrische Therapiemaßnahmen, die sich natürlich in einzelnen Bereichen überschneiden.
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z Im Vordergrund der medikamentösen Behandlung schizophrener Erkrankungen stehen die neuroleptischen Substanzen. Von ihnen konnte in zahlreichen Untersuchungen gezeigt werden, dass sie die akute psychotische Symptomatik positiv beeinflussen, aber auch mittel- und langfristig die Rückfallhäufigkeit senken. Selbstverständlich gilt auch dies nur im Mittelwert aller untersuchten Patienten, sprich, man trifft im klinischen wie im forensischen Bereich auch weiterhin auf manche weitgehend therapieresistente Verläufe. In den letzten Jahren wurden die zuvor üblichen klassischen Neuroleptika, die im Wesentlichen eine Blockade dopaminerger Neurone hervorrufen, ergänzt, aber nicht abgelöst durch die atypischen Neuroleptika oder, wie sie korrekter genannt werden sollten, die Neuroleptika der zweiten Generation („second generation antipsychotics“, SGA). Diese neueren Substanzen unterscheiden sich von den früheren durch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil, insbesondere durch eine geringere Häufigkeit sogenannter extrapyramidalmotorischer Nebenwirkungen, Erscheinungen also, die dem neuroleptisch behandelten Patienten häufig ein charakteristisches, an Frühstadien der Parkinson-Erkrankung erinnerndes motorisches Erscheinungsbild gaben. Es liegen eine Reihe von Untersuchungen vor, die darüber hinaus auf eine längerfristig höhere Lebensqualität der mit SGA behandelten Patienten hinweisen und auf eine bessere Wirkung der SGA auf die eingeschränkten kognitiven Funktionen vor allem der chronisch Erkrankten. Nichtsdestoweniger zeigen auch die neueren Medikamente eine Reihe von zum Teil unangenehmen Nebenwirkungen: So etwa entwickeln manche Patienten im Laufe der Behandlung eine markante Gewichtszunahme. Auch sind bei den neueren Substanzen – wie bei jeder psychopharmakologischen Dauermedikation – regelmäßige Kontrollen von EKG, Blutbild und gegebenenfalls weiteren Parametern erforderlich, was recht hohe Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Patienten im Langzeitverlauf stellt. Besonders hervorzuheben ist der Umstand, dass es bei schizophrenen Patienten häufig zu gravierenden depressiven Zuständen kommt. Nicht selten werden diese depressiven Syndrome im Vergleich zu der primär beeindruckenderen produktiv-psychotischen Symptomatik unterschätzt oder gar übersehen. Jüngere Studien zeigen zum einen ihre Häufigkeit, zum anderen aber auch ihre Behandelbarkeit. Zahlreiche dieser Patienten profitieren von einer zusätzlich zu der Basistherapie mit einem Neuroleptikum verabreichten antidepressiven Behandlung. Eine langfristige psychopharmakologische Therapie bedarf dabei generell, im Besonderen aber im Falle einer komplexen Kombinationstherapie mit verschiedenen Substanzen, einer sorgfältigen fachärztlichen Kontrolle. Hier stößt im Übrigen die evidenzbasierte Medizin rasch an ihre Grenzen, da es aus unterschiedlichen Gründen kaum systematische Untersuchungen über die in der Praxis häufig praktizierte Mehrfachmedikation bis hin zur eigentlichen Polypharmazie gibt.
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z Was psychotherapeutische Methoden anbetrifft, so ist bei schizophrenen Psychosen der Bereich der psychodynamischen und psychoanalytischen Behandlungsansätze wenig vertreten. Zum einen bieten sich diese Verfahren bei den oft besonders schwer kranken und in der Interaktion stark gestörten schizophrenen Personen aufgrund des erforderlichen Settings nicht an, zum anderen gibt es nur wenige empirische Studien, die sich überhaupt mit der Wirksamkeit psychodynamischer therapeutischer Interventionen bei schizophrenen Erkrankungen auseinandergesetzt haben, geschweige denn diese überzeugend belegen konnten. Von größerer Bedeutung sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Optionen. In vorderer Linie ist hier der Bereich der Psychoedukation zu nennen. Damit ist die systematische und interaktive Information des Patienten und gegebenenfalls der Angehörigen über die psychotische Erkrankung und den therapeutischen und sonstigen Umgang mit ihr gemeint. Das Konzept hat sich im Sinne des „Empowerment“ von Patienten auch in anderen Bereichen der Medizin, etwa beim Diabetes mellitus oder der koronaren Herzerkrankung, durchgesetzt. Im Falle der psychoedukativen Behandlung von schizophrenen Patienten darf allerdings der Langzeiteffekt dieser Maßnahme nicht überschätzt werden. Ein weiterer vielversprechender psychotherapeutischer Ansatz zielt auf die Erhöhung der Kompetenz der Patienten im Erkennen von Frühwarnsymptomen. Gerade solche Patienten, die häufig rezidivierende psychotische Zustände haben, können von einem frühzeitigen Erkennen und angemessenen Reagieren auf Vorpostensymptome außerordentlich stark profitieren. Freilich setzt dies die Bereitschaft des Patienten voraus, diese subjektiven Erfahrungen als möglicherweise krankheitsassoziiert anzuerkennen und an eine Person des Vertrauens zu berichten, was keinesfalls selbstverständlich ist. In jüngerer Zeit finden zahlreiche Befunde neuropsychologischer Art, die es zu schizophrenen Erkrankungen in der Forschung gibt, zunehmend auch in den klinischen Alltag Eingang: So etwa bieten die integrierte psychologische Therapie sowie die integrierte neurokognitive Therapie (IPT bzw. INP, Roder et al. 2002) ein umfassendes und komplexes psychotherapeutisches Programm, das so verschiedene Ebenen wie die Verbesserung neurokognitiver Funktionen im engeren Sinne, aber auch die sozialen Kompetenzen sowie die Einschätzung mentaler Zustände anderer Menschen einschließt. z Inhaltlich kaum zu trennen von diesen im engeren Sinne psychotherapeutischen Interventionen sind eine ganze Reihe von ergotherapeutischen, sozialpsychiatrischen und rehabilitativen Maßnahmen. Dabei ist ein Trend zu erkennen, schizophrene Patienten, wo immer möglich, nicht zu lange zu hospitalisieren und auch nicht zu lange in beschützender Umgebung zu rehabilitieren, sondern eine ambulante und gemeindenahe Versorgung sicherzustellen. Im besten Fall wird erfolgreich versucht, gut stabilisierte psychotische Patienten im Rahmen von „Supported Employment“ mit Unterstützung durch einen Job-Coach auf dem
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ersten Arbeitsmarkt zu platzieren und dort längere Zeit zu begleiten (Burns et al. 2007). Erste empirische Ergebnisse zu diesem Vorgehen sind sehr ermutigend, müssen aber noch in verschiedenen sozioökonomischen Kontexten systematisch überprüft werden. Generell ist festzuhalten, dass sich bei der Behandlung schizophrener Patienten in den letzten Jahren international eine klare Entwicklung weg von lang dauernden stationären Behandlungen zeigt hin zu teilstationären oder ambulanten Betreuungen, die räumlich möglichst im nahen Lebensumfeld des Patienten angesiedelt sein sollen. Beruflich und sozial rehabilitativen Bemühungen kommt dabei eine immer stärkere Bedeutung zu.
Wahnhafte Störung Im Umkreis der schizophrenen Störungen, jedoch davon üblicherweise diagnostisch abgegrenzt, liegen die wahnhaften Störungen. Sie sind charakterisiert durch das Auftreten von einem oder mehreren Wahnphänomenen nichtbizarrer Art, die mindestens einen Monat anhalten. Die Diagnose einer wahnhaften Störung wird nicht gestellt, wenn die Kriterien einer Schizophrenie vorliegen. Charakteristisch ist das relativ isolierte Auftreten eines Wahnes, ohne dass wesentliche andere Denkstörungen formaler oder inhaltlicher Art, Halluzinationen, charakteristische Gefühlsveränderungen und andere psychotische Symptome des schizophrenen Formenkreises hinzutreten. Die Bestimmung, ob Wahnphänomene als bizarr gelten, besitzt für die Unterscheidung von wahnhafter Störung und Schizophrenie besondere Bedeutung, kann jedoch im Einzelfall schwierig sein. Die Wahnphänomene gelten als bizarr, wenn sie eindeutig unplausibel, nicht verständlich und nicht aus alltäglichen Erfahrungen heraus herleitbar sind. Nichtbizarre Wahnphänomene betreffen zum Beispiel Situationen und Geschehnisse, die sich nachvollziehbar im realen Leben ereignen können, zum Beispiel die Vorstellung, verfolgt oder benachteiligt zu werden, infiziert zu sein, über größere Entfernungen geliebt zu werden oder von einem Ehegatten betrogen zu sein. Forensisch relevant sind vor allem die chronischen wahnhaften Störungen in Zusammenhang mit krisenhaften Zuspitzungen in Partnerbeziehungen, etwa in der Form des Eifersuchtswahnes oder des sensitiven Beziehungswahnes. Eine andere forensisch bedeutsame Form wahnhafter Störungen ist der Querulantenwahn, der sich im Laufe einer fanatisch-querulatorischen Entwicklung bei entsprechender Persönlichkeitsdisposition einstellen kann. Die psychosoziale Leistungsfähigkeit bei wahnhaften Störungen ist unterschiedlich und führt meist zu geringerer Beeinträchtigung als bei den schizophrenen Erkrankungen. Einige Personen erscheinen relativ wenig in ihren beruflichen und zwischenmenschlichen Rollen tangiert, so dass die Wahnphänomene lediglich im Bereich des speziellen Themas störend in Erscheinung treten. Bei anderen kann es zu einer Beeinträchtigung in vielen
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oder nahezu allen Lebensbereichen kommen, wenn die Wahnthematik in der Vorstellungswelt und im Verhalten des Betroffenen eine bestimmende Rolle erhält. Das Ersterkrankungsalter bei der wahnhaften Störung ist uneinheitlich und reicht von der Adoleszenz bis zum höheren Lebensalter. Insbesondere beim Typus mit Verfolgungswahn kann die Störung chronisch sein, doch auch die querulatorischen Formen wahnhafter Störungen neigen zu Chronizität und hoher Penetranz. Die klassische Darstellung des sensitiven Beziehungswahnes findet sich bei Kretschmer (1966), während die fanatischquerulatorische Entwicklung in ebenfalls klassischer Form in der Novelle „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist (1810) geschildert wurde. Tiefgründige forensisch-psychiatrische Überlegungen hierzu gibt es bei W. v. Baeyer (1967).
Schizoaffektive Störungen Störungen aus dem schizoaffektiven Zwischenbereich werden seit einigen Jahren immer häufiger diagnostiziert. Es ist ungeklärt, ob psychotische Krankheitsbilder dieses Übergangsbereiches eher zu den affektiven oder zu den schizophrenen Störungen zu rechnen sind. Rein systematisch gibt es unterschiedliche Möglichkeiten für die ätiologische und nosologische Einordnung der schizoaffektiven Störungen: z eine Variante aus dem schizophrenen Formenkreis, z eine Variante aus dem affektiven Formenkreis, z eine unabhängige Psychoseform neben den affektiven und schizophrenen Störungen, z eine Sammelbezeichnung für atypische Erscheinungsformen der schizophrenen und der affektiven Störungen mit einem symptomatologischen Mischbild, z eine Interpretation der schizoaffektiven Erkrankung im Rahmen des Konzeptes der „Einheitspsychose“ als Zwischenform im Spektrum von den schizophrenen zu den affektiven Störungen, z die schizoaffektive Störung als Folge einer doppelten biologischen oder auch genetischen Disposition sowohl für schizophrene als auch für affektive Erkrankungen. Nach ICD-10 handelt es sich bei den schizoaffektiven Störungen um episodische Krankheitserscheinungen, bei denen sowohl affektive als auch schizophrene Symptome in derselben Krankheitsphase auftreten, meistens gleichzeitig, zuweilen auch durch höchstens einige Tage getrennt. Patienten, die unter rezidivierenden schizoaffektiven Episoden leiden, besonders solche, deren Symptome eher manisch als depressiv sind, zeigen gewöhnlich eine vollständige Remission und entwickeln nur selten ein Residuum. Zu den diagnostischen Leitlinien für schizoaffektive Störungen gehört das gleichzeitige oder nur durch wenige Tage getrennte Auftreten von eindeutig schizophrenen wie auch eindeutig affektiven Symptomen. Das be-
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deutet, dass die jeweilige Krankheitsepisode weder als Episode einer Schizophrenie noch als Episode einer depressiven oder manischen Erkrankung diagnostizierbar ist. Die Unterform der schizoaffektiven Störung mit gegenwärtig manischem Bild ist gekennzeichnet durch das gleichzeitige Vorkommen von schizophrenen und manischen Symptomen in einer Krankheitsepisode. Beispielsweise wird der affektive Anteil ausgedrückt durch gehobene Stimmung, vermehrtes Selbstbewusstsein und Größenideen, unter Umständen auch durch Erregung, Gereiztheit, aggressives Verhalten oder gar Verfolgungsideen. Hinzu kommen Antriebssteigerung, Überaktivität, Konzentrationsstörungen und Distanzlosigkeit. Beispielsweise können die betreffenden Patienten aus einer Mischung von Gehobenheit, erhöhter Bedeutung und Beeinträchtigungsideen heraus die Vorstellung äußern, dass sie von fremden Mächten beobachtet oder auch kontrolliert werden. Halluzinationen und bizarre Wahnideen, die über reine Größen- und Verfolgungsgedanken hinausgehen, kommen vor. Bei der depressiven Form der schizoaffektiven Störung sind gleichzeitig in einer Krankheitsepisode schizophrene und depressive Symptome vorhanden. Der affektive Anteil besteht meist aus depressiven Symptomen und Verhaltensauffälligkeiten wie Verlangsamung, Schlafstörungen, Appetit-, Antriebs- oder Gewichtsverminderung, Interessenreduktion, Konzentrationsstörungen, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit und Suizidideen. Hinzu treten Symptome aus dem schizophrenen Formenkreis, etwa die Vorstellung, dass die Gedanken sich ausbreiten oder gestört werden, dass fremde Kräfte versuchen, sie zu kontrollieren. Die Abgrenzung der schizoaffektiven Störungen von den affektiven Erkrankungen einerseits und von den schizophrenen Störungen andererseits kann wegen des Übergangscharakters dieser Krankheitsgruppe Schwierigkeiten bereiten. Dieses Problem ist jedoch für den forensischen Kontext weniger wichtig, da es im Zweifel nicht auf die Entscheidung über die Zugehörigkeit zu dieser oder jener Kategorie ankommt, sondern auf die psychopathologische Einschätzung des Symptomenbildes, des Schweregrades der psychopathologischen Phänomene und der Auswirkungen auf Verhalten und Erleben des Patienten.
1.4.4 Affektive Störungen Das entscheidende psychopathologische Merkmal affektiver Störungen ist eine Veränderung der Stimmungslage, wobei diese Veränderung sehr unterschiedlichen Charakter und Ausprägungsgrad annehmen kann: Es gibt Auslenkungen in die depressive und in die manische Richtung sowie Mischformen. Nun ist die Geschichte des Depressions- und auch des Melancholiebegriffes schlechthin ein Teil der Kulturgeschichte und kann hier im Einzelnen nicht nachgezeichnet werden. Im Folgenden werden vielmehr, orientiert an der Einteilung der ICD-10, die wesentlichen affektiven Störungen unter besonderer Berücksichtigung
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ihrer psychopathologischen Aspekte dargestellt und an prägnanten Stellen mit forensischen Aspekten vernetzt.
Depressive Störungen Wie bei vielen anderen psychischen Störungen auch, doch hier vielleicht mit besonderer Intensität, tritt dem klinischen wie forensischen Untersucher bei den depressiven Störungen das Problem der Abgrenzung „normaler“ Zustände von Traurigkeit oder Resignation von „krankhaften“ Zuständen der Depression entgegen. Die falsche Platzierung einer solchen Grenze ist keineswegs „nur“ ein akademisches Problem, sondern hat erhebliche negative Konsequenzen: Man denke nur an die Nichtbehandlung einer als alltägliche Verstimmung (fehl-)eingeschätzten depressiven Erkrankung oder, umgekehrt, an eine unnötige psychopharmakologische oder psychotherapeutische Behandlung einer kritischen, mit einigen depressiven Symptomen einhergehenden Lebenssituation, die aber auch ohne therapeutische Intervention rasch abgeklungen wäre. Aus diesen Gründen ist es nachvollziehbar, dass in der psychiatrischen Diagnostikforschung erhebliche Anstrengungen unternommen worden sind, sowohl die Binnendifferenzierung depressiver Störungen als auch die Abgrenzung vom noch gesunden Bereich reliabel und valide vorzunehmen. Gleichwohl wird hier eine wirklich eindeutige Grenzziehung wohl nie erreichbar sein. Der psychopathologische Befund und dessen Einbettung in die Persönlichkeitsentwicklung der betroffenen Person sowie in ihr früheres und aktuelles Umfeld bleiben von entscheidender Bedeutung, nicht zuletzt im forensischen Kontext. z Häufigkeit und Verursachung. Depressive Störungen gehören zu den häufigsten und mit Blick auf das damit verbundene persönliche Leid sowie auf die ökonomischen und sonstigen Konsequenzen für die Gesellschaft zu den gravierendsten Erkrankungen überhaupt. Studien über die Häufigkeit depressiver Störungen in den Praxen der Grundversorger geben Häufigkeiten zwischen 5 und 10%, manche bis zu 20% an. Die Lebenszeitprävalenz für die schwere depressive Episode wurde in einer jüngeren epidemiologischen Untersuchung mit 10% für Frauen und 5,7% für Männer angegeben (Meyer et al. 2000). Nicht zu vergessen ist auch, dass viele depressive Störungen nicht für sich alleine genommen auftreten, sondern im Kontext anderer, häufig körperlicher Erkrankungen. Es ist zwar nicht überraschend, jedoch mittlerweile auch empirisch gut belegt, dass Patienten mit gravierenden und vor allem chronischen körperlichen Erkrankungen weit überzufällig häufig zusätzlich depressive Störungen entwickeln. Beispiele sind Patienten mit Diabetes mellitus, Myokardinfarkt, Morbus Parkinson oder Schlaganfall und natürlich solche mit Tumorerkrankungen. Was die Verursachung depressiver Störungen anbetrifft, so geht man auch hier von einer multifaktoriellen Genese aus. Biologische, psychologische und soziale Faktoren wirken auf dem Hintergrund einer spezifischen
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individuellen Vulnerabilität zusammen, was im einen Fall bei einer bestimmten Konstellation eine depressive Störung auslöst, im anderen Fall – bei stabilen Ressourcen und Bewältigungsmechanismen („Coping“) – eben nicht. Im Folgenden werden die wesentlichen ätiologischen Argumente der verschiedenen Richtungen zusammengefasst. z Neurobiologische Befunde. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts stehen die zerebralen Neurotransmitter im Mittelpunkt der biochemischen Überlegungen zur Depressionsentstehung. Kerngedanke ist dabei, dass eine Absenkung der wirksamen Spiegel der Überträgerstoffe Noradrenalin bzw. Serotonin kausal mit dem Auftreten depressiver Störungen zusammenhängt (Noradrenalinmangelhypothese, Serotoninmangelhypothese). In jüngerer Zeit sind, wie auch bei den psychotischen Erkrankungen, die Befunde weitaus komplexer geworden. Mittlerweile werden eine größere Zahl von Neurotransmittern und andere biochemische Funktionsabläufe in die postulierte Kausalkette einbezogen. So etwa sind Beziehungen einer allfälligen transmitterbasierten Ätiologie der Depression zum Hormonhaushalt (Glukokortikoide, Schilddrüsenhormone, Geschlechtshormone) beschrieben, wobei die Datenlage keine eindeutigen Aussagen zulässt. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass affektive Störungen in manchen Familien gehäuft auftreten. Auch die vorwiegend im skandinavischen Raum durchgeführten Zwillingsstudien zeigten eine weitaus höhere Konkordanz bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen. Eine genetische Beteiligung an der Entstehung depressiver (und vieler anderer psychischer) Störungen darf als gesichert gelten, wobei Art und Umfang dieser „Beteiligung“ gerade jüngst wieder sehr kontrovers diskutiert werden (Gamma 2008). Ein wichtiger Forschungszweig hinsichtlich der Ätiologie der Depression ist die Chronobiologie. Depressive Menschen berichten häufig über eine charakteristische Tagesrhythmik ihrer Befindlichkeit, häufig mit einem ausgeprägten Morgentief. Darüber hinaus gibt es aber auch Rhythmen mit längerer Phasendauer bis hin zur Häufung von depressiven Erkrankungen im Frühjahr und Herbst. In jüngerer Zeit befassen sich zahlreiche Untersuchungen mit dem Phänomen der „saisonalen Depression“ mit ihrer häufig atypischen Symptomatik und ebenso atypischem Ansprechen auf die Therapieoptionen. Hier ergeben sich interessante Berührungspunkte mit der Schlafforschung, wobei letztlich die genaue Relation zwischen gestörten biogenen Rhythmen und depressiven Störungen noch nicht als geklärt gelten darf. z Individuell-biographische Aspekte. Es liegt auf der Hand, dass belastende Lebensereignisse, insbesondere wenn sie dauerhaft nachwirken, zu depressiven Verstimmungen und weiteren psychopathologischen Auffälligkeiten führen können. Andererseits ist auch bekannt, dass es Menschen gibt, die trotz vergleichbar intensiver Belastungen nicht oder weitaus weniger depressiv verstimmt werden. Wir haben es also bei den psychischen Faktoren in der Ätiologie der Depression mit einem System von schädigenden, „pa-
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thogenen“ und dieser Schädigung Widerstand leistenden „Resilienzfaktoren“ zu tun, ein System freilich, das bei Menschen sehr unterschiedlich justiert sein kann. Auch im Längsschnitt des Lebenslaufes einer einzelnen Person wird es Phasen von hoher Widerstandsfähigkeit geben sowie Phasen von eher geringerer, auch dann, wenn es nie zu einer manifesten depressiven Erkrankung kommt. Neben der negativen Wirkung belastender Lebensereignisse wird aus psychodynamischer Sicht auf die depressionsfördernde Spätwirkung von mangelhafter emotionaler Zuwendung im frühkindlichen Lebensabschnitt verwiesen. Hier werden auch die Gründe für die bei depressiven Personen häufig anzutreffenden Gefühle eines markant verringerten Selbstwertes eingeordnet. Zur Beziehung zwischen Persönlichkeitseigenschaften und Lebensereignissen einerseits sowie der Entwicklung depressiver Symptomatik andererseits existiert aus psychodynamischer Sicht eine umfassende Literatur. Häufig werden dabei die beiden Aspekte der gehemmten Aggressivität sowie der Angst, von einer wichtigen Bezugsperson im Stich gelassen zu werden, als besonders bedeutsam bezeichnet (Böker et al. 2000). Vorwiegend auf lerntheoretische Überlegungen stützt sich die in den letzten Jahrzehnten stark rezipierte und praktisch umgesetzte Depressionskonzeption von Aaron Beck (1972). Dieser Autor geht davon aus, dass später depressiv erkrankende Personen in eine zunehmend negativ eingeengte Sicht der eigenen Person, aber auch der Umgebung hinein geraten, aus der sie sich nicht mehr aus eigener Kraft zu befreien vermögen. Ein psychopathologisch interessanter Forschungsstrang widmet sich der Frage, inwieweit bestimmte Persönlichkeitseigenschaften prädisponierend wirken können für die depressive Erkrankung. Das klassische Werk, in dem eine solche These entwickelt und empirisch unterlegt wird, ist Hubertus Tellenbachs oben bereits erwähntes Buch „Melancholie“ (1961). Dessen Kernthese lautet, dass Persönlichkeitsmerkmale wie besondere Ordentlichkeit, Abhängigkeit von penibel eingehaltenen Normen sowie Aufopferungsbereitschaft bei Hinzutreten weiterer psychologisch belastender Faktoren das Entstehen einer schweren depressiven Episode, seinerzeit meist „endogene Depression“ oder manchmal auch „Melancholie“ genannt, stark begünstigen. Da es klinisch genau gleich aussehende depressive Syndrome auch bei Personen geben kann, die nicht über diese Persönlichkeitseigenschaften verfügen, besteht hier kein einfacher Zusammenhang. Dennoch ist – nicht zuletzt aus forensischer Perspektive – die Beziehung zwischen Persönlichkeit und späterer psychischer Erkrankung ein heuristisch interessantes und fruchtbares Feld. Jüngeren Datums sind Konzepte, die im Falle der Depression versuchen, die psychologische bzw. neuropsychologische Ebene mit biologischen Veränderungen auf der Gehirnebene zu korrelieren. So etwa geht Aldenhoff (1997) davon aus, dass durch frühkindlich erworbene psychosoziale oder auch biologische Traumata, etwa eine Virusinfektion, ein neurobiologisches Defizit entstehen könne („biological priming“), welches sekundär zu einer Veränderung neuronaler Transmitterprozesse führe. Dies bedeute freilich
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nicht, dass es sofort zum Ausbruch einer depressiven Störung kommen müsse. Vielmehr gebe es eine mehr oder weniger lange Latenzphase, der später im Lebenslauf, etwa im Kontext dauerhaft belastender Ereignisse, bei neurobiologisch besonders vulnerablen Personen eine depressive Erkrankung im engeren Sinne folge. Zusammenfassend ist mit Blick auf die ätiologischen Hypothesen zur Depression festzuhalten, dass sich heute ein außerordentlich komplexes Bild darbietet mit einer Fülle von neurobiologischen, individuell-psychologischen und sozialen Faktoren. Nun soll dies nicht etwa pessimistisch stimmen im Sinne einer großen Unübersichtlichkeit. Denn es darf nicht übersehen werden, dass aus einigen dieser ätiologisch-pathogenetischen Theorien zwischenzeitlich erwiesenermaßen gut wirksame Therapieverfahren entwickelt worden sind mit unmittelbarem Nutzen für die betroffenen Personen (etwa Psychopharmaka, kognitive Verhaltenstherapie, psychoedukative Ansätze). z Klinisches Bild und Verlauf. Im Vordergrund des klinischen Erscheinungsbildes bei depressiven Störungen steht die herabgesetzte Stimmung, was freilich deutlich über eine bloß traurige Verstimmtheit hinausgeht. Depressiv erkrankte Personen erleben sich als generell reduziert, geschwächt, antriebsvermindert. Im Extremfall sieht sich der depressive Mensch überhaupt nicht mehr in der Lage zu denken, etwas zu empfinden, Handlungen zu planen. Man spricht in diesem (im klinischen Kontext nicht so seltenen) Fall von depressivem Stupor. Bei fast allen depressiven Personen treten neben den affektiven Kernsymptomen weitere, oft auch kognitive Symptome auf, etwa eine Verlangsamung oder Hemmung des Denkablaufes, eine reduzierte Spontaneität, Interessensverlust. Besonders beunruhigend ist das bei depressiven Störungen deutlich erhöhte Suizidrisiko. Untersuchungen zeigen, dass bis zu 80% der depressiven Patienten während einer schweren depressiven Episode Suizidideen entwickeln. Und leider scheiden etwa 10% (!) der an einer schweren Depression erkrankten Patienten irgendwann einmal – also nicht nur im Kontext der aktuellen Episode – durch Suizid aus dem Leben. Eine ähnlich hohe Lebenszeitziffer für Suizid ergibt sich im Übrigen bei den chronischen psychotischen Erkrankungen. Häufig ist bei depressiven Störungen die Stimmung aber nicht nur traurig-gehemmt. Zahlreiche Patienten klagen über eine unproduktive innere Unruhe oft bis hin zu einem schweren Gequältsein durch innere (oder auch einmal äußere) Agitiertheit. Dies kann mit Angstgefühlen und heftigen dysphorischen Verstimmungen einhergehen. Sehr oft wird über Tagesschwankungen berichtet, typischerweise mit einem Morgentief. Nahezu alle depressiven Menschen berichten über Schlafstörungen, besonders quälend ist hier das Früherwachen mit Grübeln. Die ICD-10 gibt für die Diagnose einer schweren depressiven Episode eine Reihe von psychopathologischen und Verlaufskriterien vor, wobei zusätzlich unterschieden wird zwischen Formen ohne und mit psychotischen Symptomen.
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Psychopathologische Symptome einer depressiven Episode nach ICD-10 (F32) z Gedrückte Stimmung z Interessenverlust z Freudlosigkeit z Verminderung des Antriebs z Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit z Vermindertes Selbstwertgefühl z Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit z Negative und pessimistische Zukunftsperspektive z Suizidgedanken, erfolgte Selbstverletzungen und Suizidhandlungen z Schlafstörungen z Verminderter Appetit
Handelt es sich um eine ausgeprägte Symptomatik mit begleitenden, in der Regel stimmungskongruenten Wahnideen, Halluzinationen oder einem depressivem Stupor, so spricht man von einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10 F32.3). Die Verläufe depressiver Störungen können sehr heterogen sein. Häufig zeigt sich allerdings ein rezidivierender Verlauf mit immer wieder neu auftretenden depressiven Episoden. Dabei können die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Episoden auch bei derselben Person ebenfalls sehr unterschiedlich sein. Epidemiologische Zahlen zeigen, dass innerhalb von fünf Jahren nach Abklingen einer schweren depressiven Episode etwas mehr als die Hälfte aller Patienten ein Rezidiv erleiden wird. Geht man von einer Verlaufsstrecke von 10 Jahren aus, so sind es sogar nahezu 80%. Selbstverständlich gibt es aber auch Patienten, die wenige oder gar nur eine schwere depressive Episode im Laufe ihres Lebens entwickeln. Besonders problematisch hinsichtlich des durch die Krankheit angerichteten Schadens und des subjektiven Leides ist der Umstand, dass sich bei etwa 15–30% der depressiven Patienten die Krankheit in Richtung auf einen chronischen Verlauf hin entwickelt, im schlimmsten Fall sogar das ganze weitere Leben des Patienten – ähnlich wie die chronischen Psychosen – markant und negativ prägen wird. Es gibt zahlreiche Versuche, quantitative prognostische Kriterien für die depressive Erkrankung herauszuarbeiten. In Anbetracht ihrer ätiologischen Komplexität verwundert es nicht, dass solche Verlaufsprädiktoren ganz unterschiedliche Aussagekraft haben. Als recht gut gesicherte, risikoerhöhende Faktoren gelten die starke Belastung mit gravierenden Lebensereignissen, soziale Isolation, zahlreiche und lang dauernde frühere depressive Episoden, spannungsreiche Persönlichkeitseigenschaften sowie ausgeprägte psychiatrische Komorbidität (etwa das gleichzeitige Bestehen einer schweren Sucht). Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die typischen affektiven Störungen im Unterschied zu früheren Auffassungen keineswegs immer episodenhaft und letztlich gutartig verlaufen. Leider gibt es immer wieder depressive Patienten, die keine volle Remission erreichen oder gar, trotz optimaler Behandlung, in ausgeprägten chronischen Zuständen verharren („Therapieresistenz“). Die depressive Störung muss als eine schwerwiegende Erkran-
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kung mit einem hohem Rezidivrisiko betrachtet werden, allerdings eben auch als Erkrankung, die heute in der Mehrzahl der Fälle einer effizienten Therapie zugänglich ist – sofern denn diese Therapie dem Patienten zugänglich gemacht wird und er sie wahrnimmt. z Grundsätze der Behandlung depressiver Störungen. Auch hier ergänzen sich medikamentöse, psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Ansätze. Zumindest bei mittelschweren und schweren depressiven Störungen besteht heute Konsens dahingehend, dass eine medikamentöse antidepressive Behandlung indiziert ist. Seit der Entdeckung der antidepressiven Wirkung der Substanz Imipramin im Jahre 1957 sind eine ganze Reihe von verschiedenen Substanzen bzw. Substanzgruppen entwickelt worden, für die in Doppelblindstudien der klinische Wirksamkeitsnachweis geführt wurde. Allerdings ist auch hier zu beachten, dass es einen nicht unerheblichen Placeboeffekt gibt, wie sich überhaupt in der Behandlung psychischer Störungen eindimensionale Betrachtungsweisen der therapeutischen Wirkfaktoren verbieten. Das pharmakologische Wirkprinzip der Antidepressiva beruht im Wesentlichen darauf, dass die Konzentration bestimmter Neurotransmitter im synaptischen Spalt erhöht wird. Dieser erhöhten Konzentration etwa von Serotonin wird eine wesentliche kausale Bedeutung für das Eintreten des antidepressiven Effektes zugeschrieben. Jenseits der Akutbehandlung der aktuellen depressiven Episode stellt sich häufig die Frage einer medikamentösen Erhaltungstherapie zur Rezidivprophylaxe. Aufgrund der Studienlage wird heute nach dem Abklingen der depressiven Episode eine Weiterbehandlung mit dem gleichen Antidepressivum, möglichst auch in gleicher Dosis, von mindestens 6 Monaten gefordert. Bei Patienten mit mehreren depressiven Episoden in der Vorgeschichte ist eine noch wesentlich längere, mitunter sogar über Jahrzehnte laufende rezidivprophylaktische Therapie indiziert und wirksam. Zur medikamentösen Dauerprophylaxe geeignet sind zum einen die Antidepressiva selbst, zum anderen Lithiumsalze und verschiedene, ursprünglich als Antiepileptika eingesetzte Substanzen. Allerdings ist deren prophylaktische Wirkung bei den bipolaren Erkrankungen klarer nachgewiesen worden als bei ausschließlich depressiven Episoden („unipolarer Verlauf“). Besonderer Erwähnung bedürfen die Patienten, die nicht auf eine Standardbehandlung medikamentöser Art ansprechen und häufig auch ebenso erfolglose Psychotherapieversuche hinter sich haben. Bei diesen therapieresistenten Verläufen ist zunächst einmal zu prüfen, ob es sich überhaupt um eine echte Therapieresistenz handelt, oder ob lediglich die zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen nicht konsequent und langfristig genug angewandt worden sind, was leider immer wieder der Fall ist. Bei echter Therapieresistenz stehen als therapeutische Strategien zur Verfügung: die Erhöhung der Dosis des angewandten Antidepressivums, der Wechsel zu einer anderen Substanz mit unterschiedlichem pharmakologischem Profil, die zusätzliche Gabe von Lithium, von Schilddrüsenhormonen oder auch von einem neueren Neuroleptikum, die Gabe der heute aufgrund spezieller
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Sicherheitsbestimmungen bei der Anwendung eher selten verabreichten irreversiblen Monoaminooxydase-Hemmer (MAO-Hemmer) und schließlich die Durchführung einer Elektrokrampftherapie. Die Elektrokrampftherapie (EKT) ist eine außerordentlich wirksame und bei den in der Regel sehr schweren Krankheitsbildern, bei denen sie zum Einsatz kommt, nebenwirkungsarme Behandlungsmethode. Allerdings setzt diese positive Gesamteinschätzung selbstverständlich voraus, dass die Indikation sorgfältig gestellt, die Methode vor einem großen Erfahrungshintergrund angewandt und der Patient ausreichend vor- und nachinformiert wird. Dann aber ist die immer wieder einmal in die öffentliche Kritik geratende Elektrokrampftherapie keineswegs ein absonderliches Relikt mittelalterlichen Denkens über psychische Erkrankungen, sondern eine wirksame, oft lebensrettende therapeutische Maßnahme bei schwersten depressiven Störungen. Erwähnenswert sind weitere biologisch fundierte Behandlungsverfahren, die nicht medikamentöser Natur sind, so etwa die Behandlung mit großen Lichtmengen („Lichttherapie“), häufig in Verbindung mit antidepressiv medikamentöser Therapie, außerdem Methoden, die sich noch im späten experimentellen bzw. frühen klinischen Routinestadium befinden, etwa die transkranielle Magnetstimulation oder die Vagusnerv-Stimulation. Ob sich diese Methoden zukünftig durchsetzen werden, ist offen und Gegenstand empirischer Untersuchungen. Die Psychotherapie depressiver Störungen hat erfreulicherweise in den letzten Jahren erheblich an Dynamik gewonnen, sowohl was die konkrete Situation in den Kliniken und Ambulatorien betrifft als auch mit Blick auf die Intensität und Qualität der Forschung. Vor allem ist es der empirischen Psychotherapieforschung gelungen, für eine Reihe von Ansätzen ihre Wirksamkeit im Vergleich zu oder als Ergänzung zu medikamentösen Behandlungsverfahren zu belegen. Einen Schwerpunkt stellt hierbei die (kognitive) Verhaltenstherapie dar. Kerngedanke ist der Ansatz, die negativen Gedankenspiralen des depressiven Patienten mit den damit einhergehenden verzerrten Wahrnehmungen und Interpretationen durch Gespräche und Erprobungen im sozialen Umfeld zu überwinden. Im Unterschied zu klassischen psychoanalytischen Psychotherapien nimmt der Therapeut bei diesem Verfahren eine sehr aktive und problemzentrierte Rolle ein. Bei der interpersonellen Psychotherapie nach Klerman et al. (1984) werden die genannten verhaltenstherapeutischen Prinzipien mit Strategien verknüpft, die eher der psychodynamischen Psychotherapie zuzuordnen sind, also etwa das Fokussieren auf den Umgang mit Verlusterlebnissen oder auf die Bewältigung von aktuellen und früheren Konflikten. Die psychodynamischen Schulen sind in der Depressionsbehandlung heute vorwiegend in Form der psychodynamischen Kurztherapien vertreten. Hier existieren auch Studien mit Wirksamkeitsnachweisen, wobei allerdings die Vergleichbarkeit mit anderen therapeutischen Strategien aus methodischen Gründen nicht unproblematisch ist.
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Soziotherapeutische Maßnahmen bei insbesondere chronisch depressiven Menschen umfassen, wie dies auch für die Behandlung von Psychosekranken gilt, die aktive Einbeziehung von relevanten Bezugspersonen, gegebenenfalls auch – sofern der Patient dies ausdrücklich wünscht – des Arbeitgebers, in den therapeutischen Prozess. Außerdem wird versucht, stationäre Behandlungszeiten zu verkürzen und den Patienten so rasch wie möglich in ambulante oder teilstationäre Weiterbehandlung zu entlassen. Dennoch ist festzuhalten, dass bei schweren Depressionen, insbesondere wenn Suizidalität oder psychotisches Erleben, etwa im Sinne eines Schuldwahnes, in den Vordergrund treten, eine stationäre Behandlung nach wie vor die optimale therapeutische Strategie darstellt.
Bipolare affektive Störungen Bei der früher manisch-depressive Erkrankung genannten bipolaren Störung treten charakteristischerweise sowohl depressive als auch manische Episoden beim selben Patienten auf. Man rechnet mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 2%. Fasst man die Diagnose sehr weit und schließt beispielsweise auch leichtere Formen von bipolar anmutenden Stimmungsschwankungen mit ein, so erhöht sich diese Ziffer auf bis zu 6%. Was die Ätiologie anbetrifft, so stellt die bipolare Störung ein Beispiel für eine psychische Erkrankung dar, bei der heute vorwiegend neurobiologische Faktoren diskutiert werden. Es sind teilweise die gleichen Faktoren, die bei den unipolar depressiven Störungen untersucht werden. In erster Linie geht es um genetische Einflüsse, um allfällige morphologische Veränderungen in Hirnarealen wie etwa Hippocampus und dorsolateraler frontaler Kortex sowie, auch hier ein wichtiger Aspekt, um Befunde zu gestörten Transmitterfunktionen im Zentralnervensystem. Kontrovers ist die Beurteilung der Relevanz belastender Lebensereignisse. Während weitgehend Einigkeit dahingehend besteht, dass derartige Lebensereignisse bei bipolaren Menschen zur Auslösung einer depressiven oder auch einmal einer manischen Phase führen können, ist die Frage, ob es sich hier über die auslösende Funktion hinaus auch um eine ursächliche Variable handelt, umstritten. Von der klinischen Symptomatologie her entspricht die depressive Episode bei bipolarer Erkrankung weitgehend der unipolaren depressiven Episode. Die manische Episode stellt in vielerlei Hinsicht das Spiegelbild der depressiven dar: Die Patienten sind euphorisch, ideenflüchtig, antriebsgesteigert, überschätzen sich bis hin zum Größenwahn, schlafen wenig und leiden mitunter unter der Fülle der andrängenden, letztlich aber mehrheitlich als positiv erlebten Gedanken. Allerdings gibt es auch schwere manische Verläufe, die auf der Höhe der Erkrankung massiv psychotisches Erleben im engeren Sinne aufweisen, also etwa halluzinatorische und wahnhafte Zustandsbilder. Auch ist das Krankheitsbild der gereizten Manie bekannt und gefürchtet, weil in diesen (nicht so seltenen) Fällen eine Kommunikation mit dem Betroffenen aufgrund seiner schweren Gereiztheit, ja Aggressi-
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vität praktisch nicht möglich ist. Therapeutisch bleiben in einer solchen Situation als ultima ratio mitunter nur Zwangsmaßnahmen im Sinne einer Bewegungseinschränkung oder einer medikamentösen Behandlung gegen des Willen des Betroffenen übrig, um akute Gefährdungen vom Patienten selbst und seinem unmittelbaren Umfeld abzuwenden. Die diagnostischen Kriterien einer manischen bzw. hypomanen Episode nach ICD-10 sind in der folgenden Übersicht wiedergegeben. Manie ohne psychotische Symptome (F30.1) und Hypomanie (F30.0) Manie ohne psychotische Symptome: z Die Episode dauert wenigstens eine Woche. z Sie ist schwer genug, um die berufliche und soziale Funktionsfähigkeit mehr oder weniger vollständig zu unterbrechen. z Die gehobene Stimmung ist begleitet von vermehrtem Antrieb und mehreren Symptomen wie Rededrang, vermindertem Schlafbedürfnis und übertriebenem Optimismus. Hypomanie: z Umfasst den Bereich der Störungen von Stimmung und Aktivitätsniveau zwischen Zyklothemia (F34.0) und Manie (F30.1 und F30.2). z Gesteigerte Aktivität, Ruhelosigkeit und Gewichtsverlust müssen von Hyperthyreose und Anorexia nervosa unterschieden werden. z Besonders die Anfangsstadien der „agitierten Depression“ gegen Ende des mittleren Lebenabschnittes können Ähnlichkeiten mit der gereizten Form der Hypomanie zeigen. z Patienten mit schweren Zwangshandlungen können ähnlich gesteigert aktiv sein, ihre Stimmung ist aber meist entgegengesetzt. z Tritt eine hypomane Phase nur als Einleitung oder Nachwirkung einer Manie auf, soll sie nicht getrennt diagnostiziert werden.
Der Verlauf der bipolaren Störung ist ebenfalls heterogen. Viele bipolare Patienten erleben ihre erste Episode bereits im jungen Erwachsenenalter. Die in älteren Lehrbüchern noch vertretene Auffassung, wonach bipolare Erkrankungen in jeweils voll remittierenden Episoden oder Phasen verlaufen, schizophrene Psychosen mit ihrem schubweisen Verlauf hingegen regelhaft zu schweren dauerhaften Defizienzen führen („Residualzustand“), kann aufgrund der heutigen Datenlage nicht aufrecht erhalten werden. Es gibt auch bei der bipolaren Erkrankung Verläufe, bei denen die Patienten zwischen den Erkrankungsphasen nicht mehr ihre volle Leistungsfähigkeit und Lebensqualität erreichen. Auch hier gilt, dass ein sehr früher Krankheitsbeginn prognostisch als ungünstig einzustufen ist, ebenso wie ein häufiges Auftreten von manischen oder depressiven Phasen im Laufe des Lebens der betroffenen Person. Eine ausgeprägte familiäre Belastung mit bipolaren Erkrankungen sowie die Komorbidität mit anderen psychischen Störungen gelten ebenfalls als ungünstige Prädiktoren. Besonders häufig werden Sucht- und Angsterkrankungen als komorbide Störungen bei bipolaren Patienten genannt.
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Man unterscheidet die Bipolar-I- von den Bipolar-II-Verläufen, wobei in jüngerer Zeit sogar noch weitere Differenzierungen vorgeschlagen wurden. Bipolar-I-Patienten zeigen den klassischen Verlauf mit dem Wechsel von mehr oder weniger voll ausgebildeten depressiven und manischen Episoden mit zwischenzeitlich starker Rückbildung der Symptomatik oder völliger Remission. Bei den Bipolar-II-Patienten hingegen treten zwar voll ausgebildete depressive Episoden auf, hingegen keine gravierenden Manien. Diese Patienten entwickeln häufig direkt nach, mitunter aber auch vor depressiven Episoden ein kürzeres und leichter ausgeprägtes maniformes („hypomanes“) Zustandsbild. Hier ist die Unterscheidung zwischen einer hypomanen Episode im Rahmen einer bipolaren Erkrankung und der bloßen (und gut nachvollziehbaren) Erleichterung durch das Ende einer schweren Depression oft schwer zu treffen. Therapeutische Aspekte bei den bipolaren Erkrankungen beziehen sich bei den akut manischen Zuständen in erster Linie auf die Medikation. Dabei kommen antipsychotische (neuroleptische) Medikamente und/oder stimmungsstabilisierende Substanzen wie Lithium, Carbamazepin oder anderen Antiepileptika zum Einsatz. Außerdem werden häufig, dies aber vorwiegend zur Sedierung, beruhigende Medikamente vom Typus der Benzodiazepine gegeben. Selbstverständlich ist jedoch auch bei der Behandlung einer manischen Episode die Einbeziehung des familiären und gegebenenfalls auch des beruflichen Umfeldes von großer Bedeutung sowie die Vorbereitung der Zeit nach dem Krankenhausaustritt, insbesondere was die rehabilitativen Aspekte anbetrifft. Recht kontrovers wird aktuell die Behandlung der depressiven Episoden im Rahmen der bipolaren Erkrankung, der sogenannten „bipolaren Depression“, diskutiert. Hier gibt es zwischen nordamerikanischen und europäischen Studien und vor allem deren Interpretation betreffend deutliche Differenzen. Während in den USA der Einsatz von Antidepressiva ohne gleichzeitige medikamentöse Phasenprophylaxe mit einem „mood stabilizer“ wegen des Risikos des Umschlags der bipolaren Depression in eine manische Episode skeptisch betrachtet wird, werden in Europa Antidepressiva in dieser Situation vergleichsweise häufig eingesetzt, wenn auch zunehmend mehr in Kombination entweder mit einem Stimmungsstabilisator oder mit einem atypischen Neuroleptikum. Auch bei bipolaren Patienten können psychotherapeutische Verfahren erfolgreich zur Rezidivprophylaxe und zur Entwicklung eines stabilen Selbstbildes trotz allenfalls rezidivierender Erkrankung eingesetzt werden. Wie bei der Depressionsbehandlung stehen hier die kognitive Verhaltenstherapie und die interpersonelle Psychotherapie im Vordergrund. Ein zentraler Aspekt bei den bipolaren Erkrankungen ist die medikamentöse Rezidivprophylaxe. Lithium ist vermutlich diejenige psychotrope Substanz, für die die meisten empirischen Studien vorliegen, was die Wirksamkeit bei der Rezidivprophylaxe affektiver Störungen anbetrifft. Und so kann heute, obwohl es eine Reihe von alternativen Substanzen gibt, festgehalten werden, dass bei bipolarer Erkrankung die dauerhafte medika-
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mentöse Vorbeugung mit Lithium ein probates und gut untersuchtes Instrument ist. Allerdings bedarf es bei der Lithiumbehandlung regelmäßiger Kontrollen des Plasmaspiegels und anderer Laborparameter. Überdies hat Lithium leider eine geringe therapeutische Breite, womit gesagt ist, dass der optimale therapeutische Bereich zwischen nicht mehr wirksamer Unter- und toxischer, eventuell sogar lebensbedrohlicher Überdosierung recht schmal ist. Ideal ist eine dauerhafte Lithiumprophylaxe also bei Patienten, die zuverlässig sind und gut informiert über diese Zusammenhänge. Ein besonderes Risiko bei der Lithiumbehandlung ist dasjenige des Suizidversuchs mit dieser Substanz. Wegen der erwähnten geringen therapeutischen Breite besteht hier ein hohes Risiko, dass hochgradige Überdosierungen tatsächlich tödlich enden. Die in den letzten Jahren weltweit breit untersuchten Antiepileptika wie etwa Carbamazepin, Valproinsäure oder Lamotrigin sind ebenfalls nachweislich wirksam in der Phasenprophylaxe bipolarer Störungen. Allerdings sind auch bei diesen Substanzen regelmäßige Überwachungsmaßnahmen erforderlich, um die Güterabwägung zwischen prophylaktischer Wirkung einerseits und Nebenwirkungen andererseits kompetent durchführen zu können. Zyklothymie und Dysthymie als anhaltende affektive Störungen Unter diesen Begriffen werden länger dauernde und gewöhnlich fluktuierende Auslenkungen im Stimmungs- und Antriebsbereich gefasst, bei denen die einzelnen Episoden selten, wenn überhaupt, ausreichend schwer genug sind, um als hypomanische oder auch nur leichte depressive Episoden beschrieben zu werden. Dysthymien und Zyklothymien sind gekennzeichnet durch chronische, das heißt über mindestens zwei Jahre in entweder unipolarer oder bipolarer Richtung verlaufende affektive Störungsbilder. Sie besitzen eine recht hohe Prävalenz von zusammen annähernd drei Prozent und stellen für die Betroffenen eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Lebensqualität dar. Gelegentlich ist es möglich, die dysthymen bzw. zyklothymen Störungen abzutrennen von eindeutig depressiven, manischen und bipolaren Erkrankungsphasen. Komorbidität kommt außerdem mit Alkoholismus und Drogenabhängigkeit vor. Die zyklothyme Störung beginnt oft im frühen Lebensalter und möglicherweise auf dem Boden einer temperamentmäßigen Disposition für andere affektive, insbesondere bipolare Störungen. Die Störung zeigt zumeist einen schleichenden Beginn und einen chronischen Verlauf. Differentialdiagnostisch ist sie von der Borderline-Persönlichkeitsstörung abzugrenzen, die ebenfalls ausgeprägte Stimmungsschwankungen aufweist. Hauptmerkmal der zyklothymen Störung ist eine chronische, fluktuierende affektive Störung, die mit zahlreichen Perioden mit hypomanen Symptomen und zahlreichen Perioden mit depressiven Symptomen einhergeht, ohne dass jeweils die vollen Kriterien einer manischen bzw. depressiven Episode erfüllt sind.
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Hauptmerkmal der dysthymen Störung ist eine chronische depressive, zuweilen auch gereizte Verstimmung, die die meiste Zeit des Tages andauert und sich über mindestens zwei Jahre erstreckt. Die Stimmung kann als traurig oder niedergeschlagen, manchmal auch als gereizt beschrieben werden. Hinzu treten Störungen von Appetit und Gewicht, Schlafstörungen, Energiemangel, reduziertes Selbstwertgefühl, Konzentrationsschwäche und Gefühl der Hoffnungslosigkeit.
1.4.5 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen In dieses Kapitel sind in der ICD-10 jene psychischen Störungen eingeordnet, die in früherer Zeit als „kleine psychiatrische Erkrankungen“ galten, dies im Vergleich zu den sog. „großen psychiatrischen Erkrankungen“ wie Schizophrenie, affektive oder körperlich begründbare Psychosen, organische Psychosyndrome etc. Im einzelnen gehören hierher gemäß ICD-10 die Angststörungen, die Zwangsstörungen, die Anpassungsstörungen mit der akuten und der posttraumatischen Belastungsstörung, die dissoziativen Störungen, die somatoformen Störungen, die artifiziellen Störungen und die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Bezüglich der diagnostischen, klinischen und therapeutischen Details sei auf die ausführlichen Darstellungen in den einschlägigen Lehrbüchern verwiesen (vgl. Möller et al. 2008; Berger 2004). Dagegen sollen hier vor allem solche Gesichtspunkte dieser Erkrankungen behandelt werden, die in forensischem Kontext bedeutsam werden können. In der ICD-10 ist ausgeführt, dass die neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen wegen des historischen Zusammenhanges mit dem Neurosekonzept und wegen eines beträchtlichen, im Ausmaß allerdings unklaren Anteils psychischer Verursachung in einem großen Kapitel zusammengefasst wurden. Hierin liegt die beträchtliche Heterogenität der nachfolgend abgehandelten Störungen begründet, zumal das in früheren psychiatrischen Klassifikationen genutzte Ordnungsprinzip der Neurosenkonzeption in den heute gültigen Klassifikationssystemen keine grundlegende Bedeutung mehr besitzt. Der Begriff „neurotisch“ wird zwar in Einzelfällen noch weiter verwendet, etwa im Zusammenhang mit Belastungs- und somatoformen Störungen, doch wurde insgesamt die früher gültige Dichotomie neurotisch-psychotisch aufgegeben.
Angststörungen (F40, F41) Die Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Störungsbildern in der Allgemeinbevölkerung mit einer Lebenszeitprävalenz von 15 bis 20%. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass derartige Angaben sehr stark vom zugrunde gelegten diagnostischen Schwellenwert abhängig sind. Generell gehört die Fähigkeit, Angst in unterschiedlich starkem Ausmaß empfinden zu können, zur Grundausstattung der mensch-
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lichen Psyche. Nicht jede, auch nicht die in bestimmten Situationen außerordentlich stark ausgeprägte Angst besitzt Störungscharakter. Dagegen bedeuten ein Fehlen oder eine zu geringe Ausprägung der Fähigkeit, Angst zu empfinden und sich dadurch in seinem sozialen Verhalten steuern zu lassen, etwa durch situationsadäquate Vorsicht oder durch das Vermeiden negativer Reize, eine Gefährdung nicht nur in Hinsicht auf Leben und Gesundheit, sondern auch auf ein normengetreues Verhalten in der Gesellschaft. Abnorme Angstfreiheit gehört daher zu den Kriterien der antisozialen Persönlichkeitsstörung bzw. der „Psychopathy“ im Sinne der angloamerikanischen Literatur (Cleckley 1976). Diesen Sachverhalt hat Lykken in die einprägsame Formulierung gefasst: „Angstfreiheit – der Stoff, aus dem Psychopathen gemacht werden“ (vgl. Saß 1988). Unter Angststörungen, die zu ausgeprägtem subjektiven Leiden und zur Beeinträchtigung in der sozialen Rollenerfüllung führen können, werden in den psychiatrischen Klassifikationssystemen vier wichtige Untergruppen gefasst: z die Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, z die generalisierte Angststörung, z die soziale Phobie, z die spezifischen Phobien. Alle Angststörungen neigen mehr oder weniger zu einem chronischen Verlauf und können bei Fixierung zu erheblichen psychosozialen Behinderungen mit Rückzugs- und Vermeidungsverhalten führen. Unter forensischer Perspektive besitzen die Angststörungen wenig kriminogene Potenz, am ehesten dürfte es zu Delikten durch Unterlassen von eigentlich gebotenem Tun kommen, etwa bei phobisch bedingtem Vermeidungsverhalten. Im Übrigen ist bei den Angststörungen zu berücksichtigen, dass Angst ein wichtiges Symptom fast jeder psychischen Erkrankung sein kann, so dass bei abnormen, aus der Situation nicht ohne weiteres ableitbaren Angstzuständen stets die Frage zu prüfen ist, ob das Angstsyndrom Folge oder Begleiterscheinung einer anderen, gravierenden psychischen Erkrankung ist. z F40 Phobische Störungen. Ein herausragender Begriff in diesem Bereich ist die Agoraphobie, die jedoch weiter gefasst wird als in früherer Zeit. Sie bezieht sich nicht nur auf Ängste vor offenen Plätzen, sondern z. B. auch vor Menschenmengen oder auf die Schwierigkeit, sich nicht sofort und leicht wieder auf einen sicheren Platz oder nach Hause zurückziehen zu können. Andere Störungsbilder sind mit der Angst verbunden, das eigene Heim zu verlassen, Geschäfte zu betreten, sich in die Öffentlichkeit zu begeben oder alleine in Zügen, Bussen oder Flugzeugen zu reisen. Das Ausmaß der Angst und des Vermeidungsverhaltens kann so weit gehen, dass die Betroffenen schließlich völlig an ihr Haus gefesselt sind. Häufiger sind Frauen von der Störung betroffen, auch liegt oft eine Begleitsymptomatik depressiver und zwanghafter Art oder eine Kombination mit sozialen Phobien vor.
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Oft beginnt die soziale Phobie in der Jugend und damit, dass sich eine Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen einstellt, was schließlich zur gänzlichen Vermeidung des Aufsuchens sozialer Situationen führen kann. Das Störungsbild kann umschrieben sein und sich etwa auf Essen oder Sprechen in der Öffentlichkeit oder ein Zusammentreffen mit dem anderen Geschlecht beschränken, es kann aber auch zur Generalisierung auf fast alle sozialen Situationen außerhalb des Familienkreises kommen. Soziale Phobien gehen häufig mit einem niedrigen Selbstwertgefühl und Furcht vor Kritik einher. Typische Beschwerden sind Erröten (Erythrophobie), Händezittern, Übelkeit oder Drang zum Wasserlassen. Die Symptomatik kann sich bis hin zu Panikattacken (s. u.) steigern. Einige spezifische (isolierte) Phobien sind auf ganz bestimmte Situationen bezogen, etwa Examensangst, Höhenangst, Klaustrophobie oder spezielle Tierphobien, z. B. Angst vor Spinnen. z F41.0 Panikstörung (paroxysmale Angst). Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch wiederkehrende Angstzustände mit plötzlichem Beginn und eskalierender, subjektiv schließlich als unkontrollierbar erlebter Angst von anfallsartigem Charakter. Angstanfälle werden häufig begleitet von somatischen Symptomen im Sinne einer sympathikotonen Erregung, etwa Herzklopfen, Herzrasen, Schmerz- oder Engegefühl in der Brust, Atemnot oder Hyperventilation. Hierdurch kann es dann zu weiteren vegetativen Dysregulationen wie Parästhesien oder Schwindel kommen. Angst- oder Panikattacken weisen üblicherweise einen Crescendo-Verlauf auf, wobei nach etwa 10 Minuten der Höhepunkt erreicht wird und das allmähliche Abflauen der Symptomatik innerhalb der nächsten 10 bis 20 Minuten erfolgt. Das Einsetzen der Angstattacke wird vom Patienten meistens als grundlos und „wie aus heiterem Himmel“ empfunden. Nur selten sind physiologische oder emotionale Auslöserreize zu eruieren, etwa körperliche Anstrengung, Ärger, emotionale oder sexuelle Erregung, der Konsum von Drogen, Koffein oder Alkohol. Kompliziert wird das Störungsbild durch die allmähliche Entwicklung einer antizipatorischen Angst. Damit ist gemeint, dass sich nach den Angstanfällen eine Angst vor der Angst (Phobophobie) einstellt, die mit weiteren Panikattacken immer mehr zunehmen kann. Bei ungünstigem Verlauf kommt es zur Entwicklung von Vermeidungsverhalten, das sich anfangs möglicherweise auf reale oder vermeintlich identifizierte Triggerreize oder Auslösesituationen beschränkt, aber auch mit einer Generalisierung der vermiedenen Situationen einhergehen kann. z F41.1 Generalisierte Angststörung. Dieses Störungsbild ist gekennzeichnet durch eine generalisierte und anhaltende Angst, die sich nicht mehr auf bestimmte Situationen in der Umgebung beschränkt oder darin besonders betont ist, sondern einen frei flottierenden Charakter besitzt. Typische Beschwerden sind ständige Nervosität, Zittern, Muskelanspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwer-
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den. Spezifische Befürchtungen können hinzutreten, etwa dass der Patient selbst oder ein Angehöriger demnächst erkranken oder verunglücken könne. Der Verlauf ist schwankend und kann zu Chronifizierung führen. Wie bei allen Angststörungen ist auch hierbei mit erheblichen Einbußen in der Lebensqualität zu rechnen, etwa durch zunehmenden sozialen Rückzug und eine Einengung aller Lebensbezüge. Klinisch wichtig ist, dass die Angststörungen häufig mit anderen Störungen verquickt sind, wobei insbesondere die Kategorie der gemischten Angst- und depressiven Störung von Bedeutung ist. Eine milde Kombination beider Syndrome kommt in der Allgemeinbevölkerung häufiger vor, ohne dass ein entsprechendes Krankheitsgefühl besteht oder professionelle Hilfe für die Beschwerden in Anspruch genommen wird. Bei Patienten mit gemischter Angst und Depression gibt es auch fließende Übergänge zu Persönlichkeitsstörungen des ängstlich-vermeidenden Clusters wie auch zu entsprechenden Persönlichkeitsakzentuierungen, die im normalpsychologischen Bereich liegen und keine krankheitswertige Ausprägung besitzen.
F42 Zwangsstörungen Mit der systematischen Befunderhebung im Rahmen der operationalisierten Diagnostik hat sich gezeigt, dass Zwangsstörungen mit ca. 2% Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung wesentlich häufiger vorkommen als früher vermutet wurde. Oft dauert es lange Zeit, bis die betroffene Person den Störungscharakter erkennt und von sich aus Hilfe sucht. Der Krankheitsverlauf ist häufig chronisch und mit einer ausgeprägten psychiatrischen Komorbidität verbunden, auch kann es zu erheblichen psychosozialen Belastungen und Behinderungen kommen. Zwangsphänomene sind nach Kurt Schneider (1967) dadurch definiert, dass jemand Bewusstseinsinhalte nicht loswerden kann, obwohl er sie gleichzeitig als inhaltlich unsinnig oder wenigstens als ohne Grund beherrschend oder beharrend beurteilt. Der Betreffende erlebt also bei erhaltener Realitätskontrolle die Sinnlosigkeit oder Inadäquatheit der andrängenden Vorstellungsinhalte, es kommt zum Gefühl eines subjektiven Gezwungenseins und eines inneren willentlichen Widerstandes. Formal werden Zwangsideen von Zwangshandlungen unterschieden, letztere etwa in Form eines Symmetrie-/Ordnungszwanges, eines Sammelzwanges, eines Beschmutzungs-/Waschzwanges oder eines Kontrollzwanges. Typische Inhalte von Zwangsgedanken und Zwangsideen sind aggressive Regungen, ferner körperliche, sexuelle, religiöse Zwangsgedanken oder mentale Rituale. Wesentlich ist schließlich die Abgrenzung der Zwangsstörung zu den zwanghaften Persönlichkeitseigenschaften bei sog. zwanghaften oder anankastischen Individuen. Hierbei handelt es sich um ich-syntone, überdauernde Persönlichkeitseigenschaften im Sinne einer charakterlichen Disposition zu Ordentlichkeit, Genauigkeit, Sauberkeit und Normengebundenheit. Derartige Persönlichkeitszüge können bei leichterer Ausprägung und gelun-
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gener sozialer Anpassung zu guten Leistungen in entsprechenden beruflichen oder sozialen Konstellationen führen, bis es bei stärkerer Ausprägung und Verhärtungen zu psychosozialer Dysfunktionalität wegen mangelnder Anpassungsfähigkeit an wechselnde Anforderungen im menschlichen Zusammenleben kommen kann. Auch bei den Zwangsstörungen ist eine hohe Rate an psychiatrischer Komorbidität zu berücksichtigen, etwa mit depressiven und Angststörungen. In ein sog. Zwangsspektrum werden neben der Zwangsstörung vor allem die körperdysmorphe Störung, die Hypochondrie und das Tourette-Syndrom eingeordnet. Daneben besteht eine Beziehung zu den Störungen der Impulskontrolle, zu den Essstörungen und zu den somatoformen Störungen. Forensisch bedeutsam ist, dass Zwangsvorstellungen nicht nur mit Zweifeln, grübelnden Gedanken und Zwangsbildern im Sinne von lebhaften Visualisierungen von obsessiven Gedankeninhalten einhergehen, sondern es kann auch zu Zwangsimpulsen oder Zwangsbefürchtungen kommen, die durchaus mit riskanten oder aggressiven Inhalten einhergehen können. Derartige Ausgestaltungen von Zwangsphänomenen betreffen z. B. die Vorstellung von körperlichen oder verbalen Angriffen auf sich selbst oder andere Personen, Unfälle, Missgeschicke, Krieg, Katastrophen und Tod, aber auch sexuelle Handlungen an sich oder anderen, inzestuöse Impulse etc. So kann etwa eine junge Mutter von der Zwangsvorstellung eingenommen werden, ihr Baby vom Balkon zu werfen oder den Kinderwagen vor ein Auto zu stoßen. Andere Patienten müssen im Sinne eines Kontrollzwanges immer wieder überprüfen, ob sie nicht in alltäglichen Situationen Schaden für andere angerichtet haben, z. B. umkehren und überprüfen, ob nicht ein Kanaldeckel geöffnet und damit eine Gefahr für andere Personen herbeigeführt wurde. Trotz der zuweilen recht massiven Aggressivität in den Zwangsvorstellungen kommt es, sofern nicht eine weitere psychische Erkrankung komplizierend hinzutritt, in aller Regel nicht dazu, dass tatsächlich ein aggressives Delikt begangen wird. Anders ist es bei einer Kombination von Zwang und Schizophrenie, wenn durch die psychotische Entordnung des psychischen Gefüges die ansonsten bei Zwangspatienten stark ausgeprägten Kontrollund Hemmungsmechanismen versagen.
F43 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen Hier geht es um stressbezogene psychische Störungen, bei denen es in Abhängigkeit von Intensität und Ausmaß einer Belastung oder Traumatisierung zu einer konsekutiven psychischen Störung kommt. Bei den Anpassungsstörungen, die zu den am häufigsten gestellten psychiatrischen Diagnosen zählen, finden sich schlecht angepasste Auseinandersetzungen mit belastenden Lebensereignissen oder einschneidenden Veränderungen im Lebenszyklus. Akute und posttraumatische Belastungsstörungen stellen psychische Reaktionen auf massive Traumatisierungen dar. In forensischem Kontext ist diese Gruppe von Störungen durchaus bedeutsam, da nicht sel-
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ten unter Verweis auf psychische Belastungen von einer Anpassungsstörung gesprochen wird und zuweilen auch unterschiedliches deliktisches Fehlverhalten als Reaktion auf Traumatisierungen bzw. damit verbundene Anpassungsstörungen interpretiert wird. Schon aus grundsätzlichen psychopathologischen Erwägungen heraus ist allerdings gegenüber einem zu häufigen Gebrauch der diagnostischen Restkategorie der „Anpassungsstörungen“ Skepsis geboten. Dies gilt vermehrt im forensischen Kontext. So existiert in klinisch-phänomenologischer Hinsicht bisher keine verbindliche Symptomliste, die eine Anpassungsstörung reliabel charakterisieren würde. Es besteht vielmehr eine symptomatologische Ähnlichkeit zu stark ausgeprägten psychiatrischen Störungen wie der Major Depression, wobei aber bei der Anpassungsstörung die Symptome deutlich milder sind und unterhalb einer arbitrarisch angenommenen Schwelle des „Krankheitswertes“ bleiben. Mit den konzeptionellen Unschärfen der Kategorie der Anpassungsstörung hängt zusammen, dass diese Diagnose in den meisten epidemiologischen Studien nicht berücksichtigt wird und daher kaum Angaben zur Prävalenz vorliegen. Generell lässt sich sagen, dass die Diagnose einer Anpassungsstörung gestellt wird, wenn ein identifizierbarer Auslöser vorhanden ist und die betroffene Person in der Folge psychische Auffälligkeiten wie depressive Symptome, Ängste, Anspannung und Ärger entwickelt oder aber Verhaltensauffälligkeiten, etwa aggressives und dissoziales Verhalten, ohne dass Kriterien für eine operationalisierte Diagnosekategorie erfüllt werden, etwa einer Major Depression oder einer spezifischen Angststörung. Es handelt sich also um unterschwellige oder subsyndromale Ausprägungen von psychischen Störungen, deren Vollbild nicht erreicht wird. Klinisch relevant sind vor allem die depressiven Reaktionen kürzerer oder längerer Dauer, die nach Trennungs- und Verlusterlebnissen oder nach schweren körperlichen Erkrankungen auftreten können. Aus forensischer Sicht scheint es, dass es sich bei dieser in den letzten Jahren häufiger vergebenen Diagnose in aller Regel nicht um tiefer greifende psychische Störungen handelt, sondern vielmehr um nach bestimmten Lebensereignissen oder Belastungen auftretende Veränderungen im Befinden und Erleben, die normalpsychologisch gut einfühlbar sind und den Schweregrad psychischer Erkrankungen nicht erreichen. Entscheidende Bedeutung für die forensischen Fragestellungen im Kontext von Schuldfähigkeit oder Gefährlichkeit besitzen sie damit nicht. Neuerdings wurde versucht, aus der heterogenen Gruppe von Anpassungsstörungen besondere Prägnanztypen herauszuheben, etwa die „posttraumatische Verbitterungsstörung“ als Reaktion auf tiefgreifende Kränkungs- und Ungerechtigkeitserlebnisse (Linden et al. 2004). Diese dürfte jedoch eher im sozial-medizinischen als im strafrechtlich-forensischen Kontext von Bedeutung sein, da es vor allem um Probleme der Berufs- und Erwerbsfähigkeit oder um Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit dem Verlust des Arbeitsplatzes oder anderen sozialen Einbußen geht.
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Abnorme psychische Reaktionen nach psychischen Belastungen sind seit je beschrieben worden. So fand Charcot am Ende des 19. Jahrhunderts bei seinen Studien über die Hysterie in Paris häufig in der Vorgeschichte der Patientinnen Hinweise auf sexuelle Traumatisierungen in der Kindheit. Im gleichen Zeitraum schuf Oppenheim den Begriff der traumatischen Neurose, wie auch Freud bei der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie davon ausging, dass eine traumatische Situation dann zu einer Neurose führen könne, wenn die von außen einstürmenden Erregungen die Möglichkeiten zur psychischen Verarbeitung übersteigen. In der Folge von extremen Belastungen durch Krieg, Verfolgung oder Freiheitsentzug, besonders auch durch die psychischen Maximalbelastungen in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches konnten überdauernde Veränderungen der Persönlichkeit beobachtet werden, etwa ein „erlebnisreaktiver Persönlichkeitswandel“ (von Baeyer et al. 1964). Als „KZ-Syndrom“ oder „Survivor-Syndrom“ wurden die psychischen Folgeschäden bezeichnet, die nach den psychischen und körperlichen Entwürdigungen der Lebensgefahr, der Hoffnungs- und Rechtlosigkeit nach langer Lagerhaft eintreten können. In den operationalisierten diagnostischen Manualen ICD-10 und DSMIV-TR wird für die posttraumatische Belastungsstörung ein ätiologischer Faktor als Eingangskriterium definiert. Danach ist Voraussetzung für die Diagnose, dass die Person ein oder mehrere Ereignisse direkt als unmittelbar Betroffener oder als Zeuge erlebt hat und dabei mit einem lebensbedrohlichen Ereignis, schwerer Verletzung oder einer Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer konfrontiert war. Beispiel ist der Tod eines Familienmitgliedes oder einer nahestehenden Person, ein Unfall, insbesondere wenn das Unfallopfer in der Unfallsituation starke Angst und Hilflosigkeit verspürte und das Auftreten schwerer Verletzungen befürchten musste. Eine posttraumatische Belastungsstörung liegt vor, wenn es nach einem derartigen Ereignis zu einer erheblichen Beeinträchtigung psychosozialer Funktionen kommt, also in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen im sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Lebensbereichen auftreten. Symptomatologisch können z. B. dissoziative Bilder auftreten mit Amnesie, Derealisation, Depersonalisation, Einengung der Wahrnehmung oder das Empfinden, sich selbst als gefühllos oder abwesend zu erleben. Hinzu kommen Erlebnisse des Wiedererinnerns der traumatisierenden Situation, eine gesteigerte psychophysiologische Erregbarkeit mit Schlafstörungen und vegetativen Symptomen, was zuweilen an Reize gebunden ist, die an das Trauma erinnern. Durch dysfunktionale Lernprozesse kann es zu phobischem Vermeidungsverhalten kommen, wobei der Patient die Konfrontation mit an das Trauma erinnernden Reizen aus Angst vor wiederkehrenden Erinnerungen und der gesteigerten psychophysiologischen Aktivierung vermeidet. Ein Beispiel sind Verkehrsunfallverletzte mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die hinsichtlich des Autofahrens künftig ängstlich und angespannt sind oder dieses ganz vermeiden.
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Klinisch bedeutsam sind Störungen des Gedächtnisses, die nach traumatisierenden Erlebnissen beschrieben werden. Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse können desorganisiert und bruchstückartig sein, auch kann es dem Betreffenden schwer fallen, darüber zu sprechen. Darüber hinaus werden im Zusammenhang mit dem traumatisierenden Ereignis dissoziative Symptome wie emotionale Betäubung, Depersonalisation und Derealisation beschrieben bis hin zu „out-of-body“- Erlebnissen während und unmittelbar nach traumatischen Einwirkungen. Diese dissoziativen Reaktionen werden als phylogenetisch verankerter Schutzmechanismus interpretiert, ähnlich einem im Tierreich vorhandenen Immobilisierungssystem („freezing“), das angesichts unentrinnbarer Lebensgefahren höhere Überlebenschancen beinhaltet (Möller et al. 2008). Aus forensischer Perspektive ergeben sich angesichts der dissoziativen und amnestischen Phänomene, die im Umfeld von traumatisierenden Erlebnissen und posttraumatischen Belastungsstörungen beschrieben werden, Beziehungen zu manchen Angaben über abnorme psychische Verfassungen und Gedächtnisstörungen im Zusammenhang mit Gewaltdelikten. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei delinquent gewordenen Personen in der Regel nicht um die Opfer von traumatisierenden Ereignissen, sondern um die gestaltenden Akteure handelt. Auch stellen angegebene Amnesien und dissoziative Symptome postdeliktische Phänomene dar, die keinen Hinweis auf eine gestörte psychische Verfassung unmittelbar vor oder auch während eines Deliktes bedeuten. Schließlich ist die geläufige forensische Erfahrung zu berücksichtigen, dass es nach schwerwiegenden Delikten und im Umfeld eines damit verbundenen Strafverfahrens häufig zu einer gewissen Umgestaltung des Erinnerungsvermögens bzw. der angegebenen Erinnerungsinhalte kommt, verbunden mit normalpsychologisch einfühlbaren Tendenzen zu Dissimulation, Aggravation und Verdrängung (vgl. Horn 1993). Von daher erscheint in forensischem Kontext eine gewisse Zurückhaltung und Vorsicht gegenüber manch bunten, dramatischen Symptomschilderungen angebracht, die sich im Umfeld von Störungsbildern bewegen, welche heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet werden und früher zum Umfeld etwa von hysterischen, asthenischen und dissoziativen Reaktionsbereitschaften gehörten. Insbesondere mit der Angabe einer dissoziativen Störung wird nicht selten auf eine die Schuldfähigkeit beeinträchtigende psychische Störung zum Zeitpunkt eines Deliktes hinzuweisen versucht. In einer Studie zum Zusammenhang von Dissoziation und Verbrechen (Schacter 1986) fand sich bei Tätern, die wegen Tötungsdelikten vor Gericht standen, zwischen 23 und 65% die Angabe, an den Tathergang keine Erinnerung zu besitzen (s. a. Horn 1993). Hieraus wird deutlich, dass behauptete retrograde Amnesien forensisch sorgfältig diskutiert und auch vor dem Hintergrund von Simulation und Entlastungstendenzen gesehen werden müssen. Zutreffend findet sich auch in der ICD-10 bei der Diskussion der dissoziativen Amnesie, also der partiellen oder vollständigen Amnesie für kürzliche traumatisierende oder belastende Ereignisse, ein entsprechender Warnhinweis. Danach sei es
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am schwierigsten, eine bewusste Simulation der Amnesie auszuschließen. Erforderlich sei eine wiederholte und genaue Untersuchung der prämorbiden Persönlichkeit und der möglichen Motivation. Dabei hänge eine bewusst simulierte Amnesie gewöhnlich mit offensichtlichen finanziellen Problemen, Lebensgefahr in Kriegszeiten oder drohender massiver Bestrafung zusammen. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf das „Syndrom der falschen Erinnerung“ („false memory syndrom“) und auf die aus psychotherapeutischen Erfahrungen stammende Unterscheidung zwischen einer „historischen“ versus „narrativen“ Wahrheit (vgl. Knecht 2005). Vorsichtig sind auch andere angegebene dissoziative Störungen zu bewerten, etwa Trance und Besessenheitszustände, dissoziativer Stupor, dissoziative Krampfanfälle (Pseudoanfälle) und die sonstigen dissoziativen Störungen, auch als Konversionsstörungen bezeichnet. Hierunter fallen u. a. das Ganser-Syndrom, das als psychogene Fehlreaktion vor allem in Gefängnisumgebungen auftaucht und durch „Vorbeiantworten“ gekennzeichnet ist, ferner die sog. multiple Persönlichkeitsstörung, bei der kontrovers diskutiert wird, in welchem Ausmaß sie iatrogen oder kulturspezifisch ist. Derartige Bilder dürften sich bei eingehender psychopathologischer Analyse in forensischem Kontext hinsichtlich ihres psychoreaktiven und zielgerichteten Charakters in aller Regel auflösen lassen.
F45 Somatoforme Störungen Hierunter wird eine Gruppe heterogener Störungen gefasst, denen – als führende klinische Beschwerden – körperliche Symptome ohne eine fassbare organmedizinische Ursache gemeinsam sind. Häufig spielen akute oder chronische psychosoziale Belastungen eine wichtige Rolle. Der Verlauf ist in der Regel chronisch und kann zu erheblichen psychosozialen Behinderungen sowie einer intensiven Inanspruchnahme medizinischer Ressourcen führen. Auch wenn Beginn und Fortdauer der Symptome einen engen Bezug zu belastenden Lebensereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten aufweisen, widersetzen sich die Patienten gewöhnlich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Ursache zu diskutieren. Nicht selten gestaltet sich daher die Arzt-Patienten-Beziehung schwierig und konfliktträchtig. Zu den Unterformen der Somatisierungsstörung gehört die hypochondrische Störung, also die beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren fortschreitenden körperlichen Erkrankungen zu leiden. Bei der somatoformen autonomen Funktionsstörung werden die Beschwerden so geschildert, als beruhten sie auf der körperlichen Erkrankung eines Organs oder eines Organsystems, das weitgehend oder vollständig vegetativ kontrolliert wird, etwa des kardiovaskulären, gastrointestinalen oder respiratorischen Systems. Klinisch wichtig und therapeutisch hartnäckig ist die anhaltende somatoforme Schmerzstörung, bei der vom Patienten ein andauernder schwerer und quälender Schmerz berichtet wird, der möglicherweise an tatsächliche somatische Schädigungen anknüpfen,
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aber durchaus in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auftreten kann. Die somatoformen Störungen weisen insgesamt eine enge Verquickung zwischen psychologischem Stress und den Angeboten des medizinischen Versorgungssystems auf, wobei eher die Inanspruchnahme der medizinischen Leistungen als ihr Ergebnis von subjektiver Bedeutung für die Patienten ist. Insofern haben die somatoformen Störungsbilder eine hohe sozialmedizinische und gesundheitsökonomische Bedeutung, während sie in forensischem Kontext höchstens als begleitende Diagnose eine Rolle spielen und in aller Regel ohne Relevanz für Fragen der Schuldfähigkeit oder gar Gefährlichkeit sind. Zu beachten ist allerdings die Möglichkeit komorbider Störungen, etwa begleitender depressiver Syndrome, die in der Regel ebenfalls ohne erhebliche forensische Relevanz sind, jedenfalls im Kontext leichterer psychoreaktiver Störungen auf dem Boden psychosozialer Belastungsoder Konfliktsituationen.
1.4.6 Essstörungen, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen F50 Essstörungen Unter diesem Oberbegriff werden zwei klinisch wichtige Symptome gefasst: Anorexia nervosa und Bulimia nervosa (Bulimie). Beide Störungen haben erhebliche medizinische, jedoch geringe forensische Bedeutung. Bei der Anorexie geht es um einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrecht erhaltenen Gewichtsverlust, eine Störung, die vor allem heranwachsende Mädchen und junge Frauen betrifft. Ursächlich wird eine Interaktion soziokultureller und biologischer Faktoren angenommen. Im Zusammenhang mit der Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades kann es sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen bis hin zu schweren körperlichen Funktionsstörungen kommen. Insbesondere das durch Modeentwicklung verbreitete Schlankheitsideal industrialisierter Länder dürfte eine wichtige Rolle spielen, ebenso wichtig sind psychische und soziale Veränderungen in der problemträchtigen Zeit der Adoleszenz, Identitätsprobleme und Autoritätskonflikte. Psychopathologisch werden bei Magersüchtigen häufig eine besondere Willensstärke, Hartnäckigkeit, sexuelle Ängste und Ängste in Verbindung mit den neuen Anforderungen und der Verantwortung im Erwachsenenalter beobachtet. Darüber hinaus können spezifische Charakteristika der Familieninteraktionen und -konflikte eine Rolle spielen. Genannt wurden in diesem Zusammenhang problematische Verhaltensweisen etwa einer überfürsorglichen Mutter und eines emotional oder persönlich abwesenden Vaters in Magersuchtfamilien. Magersüchtige definieren ihren Selbstwert in hohem Maße über das Erreichen einer schlanken Figur, das Einhalten selbstgesetzter Gewichtsziele und Leistung. Hinsichtlich Gewichtszunahme und Übergewicht kann es bisweilen zu phobischem Verhalten kommen.
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Die Bulimia nervosa ist charakterisiert durch das häufige Auftreten von Essattacken, wobei die Betroffenen in kurzer Zeit große Nahrungsmengen zu sich nehmen. Häufig kommt es zu massiver Gewichtszunahme, zuweilen gelingt es aber auch, durch gegenregulierende Maßnahmen, insbesondere ein provoziertes Erbrechen, ein mehr oder weniger normales Gewicht zu halten. Im Übrigen können sich die Symptome der Essstörungen durchmischen, gut die Hälfte der Magersüchtigen weisen auch bulimische Symptome auf. Spezifische forensische Probleme werden im Kontext mit Magersucht und Bulimie nicht berichtet, außer dass im Rahmen der Essstörung auch massive zwischenmenschliche Probleme auftauchen können, etwa durch Heimlichkeiten und Unaufrichtigkeiten in Zusammenhang mit Essverhalten oder provoziertem Erbrechen. Häufig entstehen innerfamiliäre oder sonstige zwischenmenschliche Spannungen mit hoher Dynamik und erheblicher Belastung auch für die Umgebung der Betroffenen, die sich durch hohe Energie und untergründige aggressive Spannungen in ihrem Persönlichkeitsgefüge auszeichnen.
F51 Schlafstörungen Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen können den Schlaf des Menschen erheblich beeinträchtigen. Grundsätzlich hat gestörter Schlaf einen symptomatischen Charakter, wobei ursächlich körperliche oder psychische Erkrankungen zugrunde liegen können. Im Vorfeld von depressiven oder auch schizophrenen Erkrankungen spielen Schlafstörungen eine wichtige Rolle, darüber hinaus aber auch bei lebenssituativen Krisen und Belastungssituationen. Schlafstörungen können zu erheblichen Einschränkungen der Lebensqualität und auch zu konsekutiven gesundheitlichen Schädigungen führen, insbesondere stellen sie einen Risikofaktor für die Entwicklung von Depressionen, Panikstörungen, Medikamenten- und Alkoholmissbrauch dar. Im forensischen Kontext sind Schlafstörungen allein sicherlich nicht von wesentlicher Bedeutung, außer dass sie zu einer Beeinträchtigung des Allgemeinbefindens mit Reizbarkeit und Nervosität führen können. Mittelbar kann allerdings forensisch bedeutsam werden, dass es im Gefolge einer Schlafstörung zur Einnahme und schließlich zum regelmäßigen Gebrauch von Schlafmitteln kommen kann, nicht selten aber auch zur Gewöhnung und schweren Abhängigkeit. Dies kann bis zu einer schweren Suchterkrankung einschließlich aller damit verbundenen Risiken und Komplikationen führen.
F52 Sexualstörungen Sexuelle Funktionsstörungen beeinträchtigen die von der betroffenen Person gewünschten sexuellen Beziehungen, so lautet die lapidare Definition in ICD-10. Was allerdings unter einer Sexualstörung zu verstehen ist, unter-
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lag in der Geschichte häufigem Wechsel, auch wird wie bei kaum einer anderen Diagnose das Verständnis dieser Störung durch gesellschaftliche und politische Faktoren beeinflusst (vgl. Pfäfflin 2008). Dabei sind die sexuellen Funktionsstörungen und die Störungen der Geschlechtsidentität zwar klinisch und für das Wohlbefinden der Betroffenen von erheblicher Bedeutung, doch spielen sie zumeist in forensischem Kontext keine wesentliche Rolle. Anders verhält es sich mit Störungen der Sexualpräferenz und der Paraphilien, die häufig von strafrechtlicher Relevanz sind und deshalb nachfolgend detaillierter behandelt werden sollen. Dabei spielen häufig auch allgemeine gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle, z. B. die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, die Rechte von Kindern in der Gesellschaft, öffentliche Verherrlichung von Gewalt sowie sich wandelnde Auffassungen über sexuelle Verhaltensweisen und Scham- oder Tabugrenzen. Von daher sind viele sexualwissenschaftliche Konzeptionen stets auch in engem Zusammenhang mit forensischen Problemstellungen entwickelt worden. Bei den sexuellen Funktionsstörungen im Sinne der operationalisierten Klassifikationssysteme von ICD-10 und DSM-IV-TR werden verschiedene Unterformen differenziert. Dabei kann es um den Mangel und den Verlust an sexuellem Verlangen gehen, um eine verminderte Fähigkeit zum Erleben sexueller Befriedigung, um das Versagen genitaler Reaktionen im Sinne von Erektionsstörungen oder Störungen der sexuellen Erregbarkeit bei der Frau, um Störungen in der Orgasmusfähigkeit, um Ejaculatio praecox, Vaginismus und Dyspareunie, also vermehrter Schmerzempfindung beim sexuellen Kontakt, schließlich um ein gesteigertes sexuelles Verlangen. Eine einheitliche Ätiopathogenese für die verschiedenen sexuellen Funktionsstörungen lässt sich nicht finden, vielmehr ist eine multifaktorielle Verursachung anzunehmen, wofür allerdings eine Vielzahl somatischer und psychogener Hypothesen existiert. Diagnostik und Differentialdiagnostik begegnen auf diesem sensiblen Feld erheblichen Schwierigkeiten. Führend ist eine sorgfältige Sexualanamnese, die u. U. auch eine Befragung des Partners umfasst. Zu berücksichtigen ist, dass der Patient und evtl. auch der Partner Zeit braucht und Gelegenheit haben muss, sich im Gespräch zu entfalten, weil die Thematik in der Regel schamhaft besetzt ist (vgl. Pfäfflin 2008). z Störungen der Geschlechtsidentität werden in den Klassifikationssystemen definiert als nachhaltige gegengeschlechtliche Identifikation bzw. das starke und anhaltende Verlangen, dem anderen Geschlecht anzugehören, verbunden mit dem Gefühl des Unbehagens am bzw. der Nichtzugehörigkeit zum eigenen Geschlecht. Die Extremform der Geschlechtsidentitätsstörung ist der Transsexualismus, der durch den Wunsch gekennzeichnet ist, durch hormonelle Behandlung oder durch operative Maßnahmen den eigenen Körper dem Bild des präferierten Geschlechtes angleichen zu lassen. Die genaueren Regelungen, nach denen Transsexuelle unter bestimmten Voraussetzungen den Vornamen und den Personenstand ändern können, re-
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gelt das Transsexuellengesetz. Für die Durchführung der medizinischen Maßnahmen zur Veränderung der körperlichen Geschlechtsmerkmale gelten besondere Beurteilungs- und Begutachtungsrichtlinien, etwa die „Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen“ (Becker et al. 1997). Hierzu gehören auch kassenrechtliche Fragen. Häufig bestehen bei den Betroffenen schwierige Persönlichkeitsmerkmale, darüber hinaus führen die Transsexuellenwünsche nicht nur intrapsychisch, sondern auch im sozialen Kontakt zu erheblichen Schwierigkeiten. Daher kann es zu begleitenden Problemen kommen, etwa affektiven Verstimmungen, familiären Konflikten, Auseinandersetzungen über das Geschlechtsrollenverhalten sowie am Arbeitsplatz und schließlich zu massiven Problemen in den unterschiedlichen partnerschaftlichen Konstellationen. Eintretende Komplikationen wie Suizidalität oder schwere psychoreaktive Verstimmungen können intensive psychiatrische und psychotherapeutische Interventionen erforderlich machen. z Störungen der Sexualpräferenz und Paraphilien. Diese sind gekennzeichnet durch lang dauernde, sexuell intensiv erregende Phantasien, Drang oder Verhaltensweisen im Hinblick auf Sachen oder Personen. Als Formen gestörter Sexualpräferenz gibt es Exhibitionismus, Fetischismus, Pädophilie, SadoMasochismus, Voyeurismus, fetischistischen Transvestitismus und weitere, nicht näher benannte Störungen. Frühere Begriffe in diesem Feld waren etwa die Bezeichnungen Perversion oder Deviation, vorgeschlagen wird heute auch der Begriff der Dyssexualität (Beier et al. 2005). Einige der genannten Paraphilien können, wenn sie aus der Phantasie in konkretes Handeln fortschreiten, strafrechtlich relevant werden, etwa Exhibitionismus, Pädophilie oder Sadismus. Genauere epidemiologische Daten über die Häufigkeit der Störungen stehen ebenso wenig zur Verfügung wie allgemein anerkannte ätiopathogenetische Modelle. Erklärungsversuche folgen entweder psychoanalytischen Triebtheorien oder kognitiv-behavioralen und lerntheoretischen Modellen. Stets ist differentialdiagnostisch die Einbettung der Sexualstörung in eine andere psychische Erkrankung zu überprüfen, etwa bei Störungen der Geschlechtsidentität in eine schizophrene Erkrankung. Bei gesteigertem sexuellen Verlangen ist auf die Möglichkeit einer affektiven Störung im Sinne der Manie zu achten, gelegentlich kann eine derartige Erscheinung auch in frühen Stadien einer Demenz auftreten. Daneben kommt es auch bei den Störungen der Sexualpräferenz und den Paraphilien wegen der erheblichen psychosozialen Implikationen und Konfliktmöglichkeiten häufig zu begleitenden Verstimmungen, krisenhaften Zuspitzungen und Belastungsreaktionen. Eine forensisch bedeutsame Sonderstellung im Gebiet der sexuellen Störungen nehmen die aggressiven Sexualdelikte ein, die im Kapitel über Sexualdelinquenz (Kap. 3.4.2) eingehend behandelt werden. Die Durchmischung von libidinösen und aggressiven Handlungsimpulsen stellt im Tierreich wie in den verschiedenen menschlichen Kulturen ein geläufiges Phänomen dar. Insbesondere weist die männliche Sexualität bei evolutionär
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verankerten Beziehungen Dominanzstrebungen und Aggression auf. Dabei können in der Motivation für sexuell/aggressiv durchmischtes Verhalten mehrere Strebungen unterschieden werden, etwa die Ausübung von Macht und Kontrolle, das Abreagieren von Ärger und Frustrationsgefühlen oder auch das Ausfüllen innerer Leere. Von daher können enge Verbindungen zu problematischen Persönlichkeitszügen und Fehlentwicklungen bei der Ausreifung der psychosexuellen Konstellation bestehen bis hin zum prägenden Einfluss durch individuelle Verführungserlebnisse oder gruppendynamische Erfahrungen. Im Rahmen der Pädophilie ist auf die erotisierten pädagogischen Beziehungen hinzuweisen, die bei engagierten Lehrern, Gruppenleitern, Erziehern, Sportwarten, Priestern und ähnlichen Angehörigen von Berufsgruppen auftreten können, die im engen Kontakt zu Kindern und Heranwachsenden stehen. Häufig findet sich ein sehr gutes Einfühlungsvermögen, das die Herstellung von emotional lebendigen, zunächst kameradschaftlichen, vertrauensvollen und dann immer enger werdenden Beziehungen fördert, was dann schließlich zu privatem Umgang und intimeren Kontakten mit sexuellen Verführungshandlungen reichen kann. Ein anderes Phänomen im pädophilen Kontext stellt die Alterspädophilie dar, die in früherer Zeit eine größere Rolle spielte. Zur Entstehung kann ein Geflecht von körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen im Involutionsalter führen, einhergehend mit Lockerung oder Verlust von Partnerkontakten oder Einbußen in beruflichen und zwischenmenschlichen Bereichen. Kommen leichte hirnorganische Abbauvorgänge mit Einbußen von Takt, Diskretion und Hemmungsvermögen hinzu, so kann eine Bahnung und Aktualisierung von bislang kompensierten bzw. unterdrückten pädophilen Regungen entstehen. Beim Fetischismus tritt an die Stelle der genitalen partnerschaftlichen Heterosexualität ein Surrogat als Gegenstand von sexuellen Phantasien und Praktiken, der Fetisch. Hierbei kann es sich um einen Körperteil handeln, wobei Füße, Gesäß oder Brüste im Vordergrund stehen, häufig sind es auch Kleidungsstücke, etwa Unterwäsche, Strümpfe, Stiefel. Zuweilen ist der Abstand zur Körperlichkeit noch größer durch Bevorzugung von Materialien wie Leder oder Latex bzw. unpersönliche, aber in den Dienst bestimmter Praktiken gestellte Gegenstände wie Stöcke, Peitsche, Fesselungsmaterialien. In forensischer Hinsicht ist der Fetischismus relativ harmlos und tritt allenfalls einmal bei Eigentumsdelikten in Erscheinung, etwa bei Diebstahl weiblicher Unterwäsche. Allerdings sind auch Übergänge in aggressivere Verhaltensweisen mit sexueller Tönung möglich, etwa Berührungen und Reibung oder Angreifen der weiblichen Brust, z. B. in gedrängter Umgebung. Schließlich gibt es die hochgefährlichen Übergänge in sadomasochistische Ausgestaltungen. Der Sadomasochismus bedeutet eine Amalgamierung von libidinösen und aggressiven Strebungen, wobei im Sadismus der auf einen anderen gerichtete, destruktive Antrieb lustvoll besetzt wird, dies als aktive Form. Dagegen bedeutet der Sadomasochismus die passive, eine sexualisierte De-
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struktivität erleidende Form. Die Ausprägungen des Sadomasochismus sind in Form und Intensität sehr unterschiedlich und können in heterosexuelle, homosexuelle, pädophile oder autoerotische Praktiken eingebettet sein, bis hin zu sodomitischen Beziehungen. Häufig kommt es zur Entwicklung bestimmter Rituale, die mit großer Gleichförmigkeit ablaufen, etwa Bestrafungsszenen, ein Verhältnis von Herr und Sklave oder von Lehrer und Schüler bzw. die jeweiligen weiblichen Formen. Forensisch relevant werden diese gewöhnlich in subkulturellen Vierteln ablaufenden Arrangements etwa bei Handlungen an Kindern und abhängigen Personen und wenn es bei erwachsenen Partnern zur Überschreitung selbstbestimmter Mitwirkungsbereitschaft kommt. Selten, jedoch manchmal sehr gravierend sind Steigerungen zu sadistischen Körperverletzungen, Tierquälereien oder Tötungsdelikten aus sadistischer Motivation (vgl. Nedopil et al. 2008).
1.4.7
Persönlichkeitsstörungen
1.4.7.1 Zur Terminologie Das Gebiet der abnormen Persönlichkeiten besitzt in der forensischen Psychiatrie eine besondere Bedeutung, stellt aber auch eine empfindliche Unsicherheitszone in der psychiatrischen Systematik dar (vgl. Saß 1986, 1987 a, 2000). Die terminologischen und konzeptuellen Unsicherheiten spiegeln sich in der geringen Trennschärfe der früher gebrauchten Begriffe in diesem Feld – etwa Neurose, Psychopathie, Triebstörung, Charakteropathie, Kernneurose, Soziopathie, Symptomneurose oder neurotischer Charakter. Im psychiatrisch/psychotherapeutischen Sprachgebrauch definieren wir Persönlichkeit als die Summe aller psychischen Eigenschaften und Verhaltensbereitschaften, die dem Einzelnen seine eigentümliche, unverwechselbare Individualität verleihen, enthalten in Aspekten des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens und der Beziehungsgestaltung. Eine Persönlichkeitsstörung dagegen liegt dann vor, wenn durch Ausprägungsgrad und/oder die besondere Konstellation von psychopathologisch relevanten Merkmalen dieser Bereiche erhebliche subjektive Beschwerden und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen der sozialen Anpassung entstehen (Saß 2000). Dabei wurde die einschränkende Formel von der psychopathologischen Relevanz gerade für die Differenzialtypologie von Persönlichkeitsstörungen im forensischen Bereich entwickelt, also im Umfeld von Psychopathie, Soziopathie und Dissozialität (Saß 1987 a). „Psychopathologisch relevant“ zielt auf solche Persönlichkeitszüge, die nicht lediglich abweichendes und sozial störendes Verhalten bezeichnen, wie es z. B. bei chronischer rezidivierender Rückfalldelinquenz der Fall ist, vielmehr geht es um Auffälligkeiten mit erkennbarem Bezug zu psychopathologischen Symptomen bei psychischen Erkrankungen.
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1.4.7.2 Zur Ideengeschichte Hier sollen die wesentlichen Entwicklungslinien des psychiatrischen Denkens in diesem Feld mit besonderer Berücksichtigung der forensischen Bezüge dargestellt werden. z Französische Konzepte. Pinels Konzept einer „Manie sans délire“ (1809), die am Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit abnormen Persönlichkeiten steht, umgrenzt erstmals den Bereich gestörter Persönlichkeit als nosologische Einheit. Entscheidendes Merkmal ist eine Beeinträchtigung der affektiven Funktionen bei ungestörten Verstandeskräften. Eines seiner Fallbeispiele zeigte deutliche emotionale Instabilität und dissoziale Tendenzen, also zwei bis heute gerade für die forensischen Aspekte von Persönlichkeitsstörungen zentrale Merkmale. Ätiologisch erwog Pinel eine mangelhafte Erziehung oder eine perverse, zügellose Veranlagung, womit schon damals die bis heute aktuelle Streitfrage um eine mehr endogene oder eher biographisch entstandene Verursachung aufgeworfen war. Auch in Esquirols Beschreibungen der Monomanien (1838) finden sich viele Auffälligkeiten, die heute zum Gebiet der Persönlichkeitsstörungen gerechnet werden, insbesondere Veränderungen des Willens und der Gefühle bei unbeeinträchtigter Intelligenz. Allerdings wurde das Konzept insofern überdehnt, als ganz umschriebene Verhaltensstörungen als „Krankheitsbild“ aufgefasst wurden, etwa die Pyromanie, Kleptomanie, Erotomanie oder Mordmonomanie. Hieraus sind forensisch bedeutsame Missverständnisse entstanden, die sich zum Teil bis in die heutigen Klassifikationssysteme fortgesetzt haben. Besonders folgenreich wurde Morels Lehre von den Degenerationen (1857), die krankhafte Abweichungen vom normalen Bild des Menschen darstellten, entstanden durch schädliche Umgebungseinflüsse und durch weitergegebene Vererbung mit zunehmendem Schweregrad der Störung von Generation zu Generation bis zum Aussterben. Magnan und Legrain (1895) haben die Konzeption einer gesetzmäßigen Abfolge bestimmter Krankheitsbilder mit einer Disharmonie im Zusammenspiel der zerebrospinalen Zentren hinzugefügt. Vorstellungen einer im Nervensystem fundierten Dysbalance und Fragilität tauchten von da an im Denken über abnorme Persönlichkeiten immer wieder auf und führten in der „Doctrine des Constitutions“ von Dupré (1925) zum Konzept einer „Déséquilibration mentale“ i. S. einer hereditär verankerten psychopathischen Degeneration. Gemeinsam mit sozialdarwinistischem Gedankengut entstanden daraus später in Deutschland folgenschwere ideologische Verirrungen, etwa mit der Monographie von Binding und Hoche (1920) über „lebensunwertes Leben“. z Angelsächsische Tradition. 1812 beschrieb der Amerikaner Benjamin Rush Fälle, die bei unbeeinträchtigtem Intellekt antisoziales/dissoziales Verhalten zeigten, als „moral alienation of the mind“. Ähnlich einflussreich wurde in England das Konzept „moral insanity“ von Prichard (1835). Aus der zu-
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nehmenden Konzentration auf Individuen, die durch amoralisches, gesellschaftsschädigendes Verhalten und Delinquenz auffielen, ergab sich die Frage der Verantwortlichkeit dieser Personen. Später ist Hendersons Begriff des unangepassten bzw. aggressiven Psychopathen (1939) in die angelsächsischen Konzepte einer vorwiegend durch antisoziale Züge bestimmten Persönlichkeitsstörung eingegangen. Großen Einfluss auf die amerikanische Psychopathiekonzeption und die empirische Forschung über Psychopathie gewann schließlich Cleckleys Monographie „The Mask of Sanity“ (1941). Auch er begrenzte seine Definition des Psychopathen, die wegweisend für die heute wichtige Konzeption von Hare (1970, 1991) wurde, auf Personen mit einem antisozialem Verhalten, das keine adäquate Motivation erkennen lässt und nicht durch eine Psychose, Neurose oder geistige Behinderung bedingt ist. Daneben wurde das Konzept der abnormen Persönlichkeiten durch die psychoanalytische Charakterkunde und deren frühe Vertreter A. Meyer (1903) und S. Freud (1908) beeinflusst. Wegweisend wurden Alexanders Publikationen über den „neurotischen Charakter“ (1928), in denen er zwischen einer primären und einer sekundären Form unterscheidet. Diese Differenzierung in einen ich-syntonen Psychopathen, der als „acting-out“ -Neurotiker vorwiegend die Umgebung stört, und einen ich-dystonen Neurotiker, der vornehmlich unter sich selbst leidet, hat sich vor allem im angelsächsischen Raum etabliert. z Deutschsprachige Schulen. In Deutschland diente der Ausdruck „Psychopathie“ zunächst als unspezifischer Oberbegriff für alle psychischen Abnormitäten. Koch benutzte erstmals die Bezeichnung „psychopathische Minderwertigkeiten“ für ein „psychisches Zwischengebiet“ und legte mit seiner gleichnamigen Monographie (1891–1893) eine erste Typologie vor, wobei der Ausdruck „Minderwertigkeit“ ganz im Zusammenhang mit den Degenerationslehren zu sehen ist und eher organpathologisch als soziologisch wertend gemeint war. Koch unterschied angeborene von erworbenen psychopathischen Verfassungen, dabei fielen die meisten der späteren Psychopathentypen in die Gruppe der Personen mit angeborener psychischer Belastung. Kraepelin entwickelte in den verschiedenen Folgen seines Lehrbuches ab 1883 das Konzept der psychopathischen Zustände allmählich im Sinne des heutigen Verständnisses von abnormen Persönlichkeiten. Der Begriff der „psychopathischen Persönlichkeit“ erschien zum ersten Mal in der 7. Auflage (1903–1904), wo er vor allem unter dem Gesichtspunkt der Dissozialität stand. Auch anhaltende Zustände gestörter Stimmung und konstitutioneller Unruhe fielen dort noch in den Bereich psychopathischer Persönlichkeiten und gelangten erst in der 8. Auflage als Dispositionen für Depression, Manie, Erregtheit und Zyklothymie in das Kapitel über die manisch-depressive Erkrankung, was interessanterweise der aktuellen Einordnung von sog. subaffektiven Störungen unter die affektiven Erkrankungen entspricht. Später folgten konstitutionstypologische Entwürfe von Kretsch-
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mer (1921), systematische Typenlehren, so z. B. von den Schichttheoretikern Kahn (1928), Schultz (1928) und Homburger (1929), oder Reaktionstypologien von Kretschmer (1921) und Ewald (1924). Mit Kurt Schneiders klassischer Monographie „Die psychopathischen Persönlichkeiten“ (1923) verloren die systematischen Typologien an Bedeutung, vielmehr ging es um eine deskriptiv-symptomatologische Beschreibung ohne soziologische Wertung. Schneider definiert als abnorme Persönlichkeiten die Variationen oder Abweichungen von einer uns vorschwebenden, aber nicht näher bestimmbaren Durchschnittsbreite und hebt sodann die psychopathischen Persönlichkeiten als solche heraus, unter deren Abnormität die Betroffenen selbst oder die Gesellschaft leiden. Im einzelnen unterscheidet Kurt Schneider 10 Typen psychopathischer Persönlichkeiten: die Hyperthymischen, die Depressiven, die Selbstunsicheren (mit den Unterformen der Ängstlichen und Zwanghaften), die Fanatischen, die Geltungsbedürftigen, die Stimmungslabilen, die Explosiblen, die Gemütlosen, die Willenlosen und die Asthenischen. Seine Lehre hat die Klassifizierung der Persönlichkeitsstörungen bis in die Gegenwart entscheidend beeinflusst.
1.4.7.3 Historische Entwicklung des Borderline-Bereichs Bei der Entwicklung der heutigen Konzepte von Persönlichkeitsstörungen nahm der Borderline-Bereich eine paradigmatische Stellung ein. Als „Grenzgebiet oder Niemandsland“ (Saß u. Koehler 1983) lassen BorderlineStörungen in exemplarischer Weise den Weg aus konzeptionell ganz heterogenen, zumeist vagen und wenig trennscharfen historischen Vorläufern in die relative Klarheit der gegenwärtigen Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen erkennen. In allgemeinerer Form war zuerst von Hughes (1884) von einem „Borderland“ gesprochen worden. Als dezidiert nosologischer Begriff wurde „Borderline“ erstmals 1938 von dem Psychoanalytiker Stern für Patienten verwandt, die sowohl psychotische als auch neurotische Merkmale aufwiesen. In der wechselvollen Entwicklung bis zur heutigen Borderline-Persönlichkeitsstörung heben sich vier Linien hervor, die teils auf den Fortschritt empirischer Untersuchungen, teils auf allgemeine Perspektivenänderungen in der psychiatrischen Nosologie und Klassifikation zurückgingen (vgl. Herpertz u. Saß 2000). Die erste Entwicklungslinie kennzeichnet die Borderline-Störung als subschizophrene Störung. Bereits Kraepelin beschrieb einen Zwischenbereich zwischen krankhaften psychischen Zuständen und persönlichen Eigentümlichkeiten und stellte das Grenzgebiet einer kleinen Gruppe auffälliger Persönlichkeiten heraus, die er als unentwickelte Fälle, „formes frustes“, der Dementia simplex betrachtete. Analog umfasste Bleulers diagnostische Kategorie einer latenten Schizophrenie Fälle von sonderlingshaften, merkwürdigen, exzentrischen Menschen (1911). Besonders folgenreich wurde das Konzept der pseudoneurotischen Schizophrenie von Hoch und Polatin (1949), das als untypische Form der Schizophrenie gedacht war und multi-
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ple neurotische Symptome einer „Panneurosis“, „Pananxiety“ oder „Pansexuality“ enthielt, vor allem auch mikropsychotische Episoden mit vorübergehenden Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen, Beziehungsideen und hypochondrischen Befürchtungen. Diese vielschichtige Symptomatologie ging in die psychoanalytischen Konzepte des BorderlineSyndroms ein. Die Auffassungen eines Borderline-Syndroms im Übergangsbereich zu den Schizophrenien sind Vorläufer des heutigen DSM-III/DSMIV-Konzeptes der schizotypischen Persönlichkeitsstörung. In der ICD-10 wird sie als schizotype Störung bezeichnet, die allerdings von der WHO den schizophrenen Erkrankungen zugeordnet wird, da Familienuntersuchungen und biologische Befunde auf eine enge genetische Verwandtschaft innerhalb eines schizophrenen Spektrums verweisen (Kendler et al. 1984; Kenneth et al. 1995). Die zweite Entwicklungslinie kennzeichnet die Borderline-Störung als emotional instabile und „subaffektive“ Störung im Grenzgebiet zu den affektiven Erkrankungen. Grundzüge hierfür waren klassische Beschreibungen von Menschen mit labilen, rasch und unvermittelt wechselnden Stimmungslagen sowie leichter Erregbarkeit. Ein solches Syndrom wurde erstmals von Bonet (1684) als „Folie maniaco-mélancholique“ gefasst. „Konstitutionelle Verstimmungen“ beschrieb Kraepelin ab der 5. Auflage seines Lehrbuches innerhalb der „psychopathischen Zustände“ als Verdünnungsformen der manisch-depressiven Erkrankung, womit sowohl andauernd trübe als auch wechselhaft erregte Verfassungen gemeint waren, die zu Unstetigkeit und Rastlosigkeit im Lebenswandel führen, ähnlich der affektiven Instabilität der heutigen Borderline-Störung. In der Tradition Kraepelins interpretieren zeitgenössische Autoren die Borderline-Persönlichkeitsstörung als zyklothymes Temperament mit biologischem Bezug zu bipolaren affektiven Erkrankungen (Akiskal u. Akiskal 1992). Kurt Schneider (1923) beschrieb solche Persönlichkeitszuspitzungen in seinen Typen des stimmungslabilen und explosiblen Psychopathen, charakterisiert durch unberechenbar auftretende moros-depressive Stimmungsauslenkungen als Reaktion auf minimale Reize und eine triebhafte Sucht nach Veränderung und Neuem. Von hier aus bestehen Bezüge zu den heutigen Konzepten der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung der ICD-10 bzw. der Borderline-Persönlichkeitsstörung des DSM-IV. Die dritte Entwicklungslinie betrifft die Auffassung der BorderlinePersönlichkeitsstörung als Impulskontrollstörung, die sich in verschiedenen Formen autodestruktiver Impulshandlungen äußert und als zentrales Merkmal der Borderline-Persönlichkeitsstörung diskutiert wird (Clarkin et al.1993; Herpertz u. Saß 1997). Das Konzept geht auf die alten Krankheitskonzepte der Willensstörung zurück, bei denen dem subjektiven Erleben eines freiheitseinschränkenden Dranges eine zentrale Bedeutung zukommt (vgl. Scharfetter 1976; Berrios u. Gili 1995). Vorläufer waren die „fureur sans délire“ des Schweizer Psychiaters Matthey (1816) sowie die Monomanie-Lehren von Esquirol (1838), die bei Kraepelin in das „impulsive Irresein“ führten. In der Typologie K. Schneiders (1923) finden sich impul-
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sive Persönlichkeitsmerkmale bei den stimmungslabilen und den explosiblen Psychopathen wieder, die sich durch unbesonnen-kurzschlüssige und wütend-aggressive Reaktionen auszeichnen. Derartiges Verhalten lässt sich zum einen als Funktion einer Impulskontrollstörung, zum anderen aber auch als Ausdruck eines erhöhten impulsiven Antriebs auffassen (Herpertz u. Saß 1997). Eine vierte, gegenwärtig stark beachtete Entwicklungslinie kennzeichnet die Borderline-Persönlichkeitsstörung als posttraumatische Belastungsstörung, wie sie im DSM-III erstmals aufgrund von Beobachtungen an Veteranen des Vietnamkrieges formuliert worden war. Mögliche konzeptionelle Überlappungen wurden wegen phänomenologischer Ähnlichkeiten und Vermutungen über die ätiologische Bedeutung gravierender Traumata in der Kindheit von Borderline-Patienten diskutiert (Sansone et al. 1995). So wird die Häufigkeit von körperlichen Misshandlungen bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen zwischen 30 und 40%, die des sexuellen Missbrauchs zwischen 25 und 70% angegeben (Silk et al. 1995; Resch 1996). Bis zu einem Drittel aller Patienten, die die Borderline-Kriterien des DSM-III erfüllten, zeigten auch die Merkmale einer posttraumatischen Belastungsstörung (Coryll u. Zimmerman 1989). Auch wurde nachgewiesen, dass die Borderline-Persönlichkeitsstörung zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung disponiert, wenn Stressoren auftreten, die für andere Individuen noch unterschwellig sind und asymptomatisch bewältigt werden können (Gunderson u. Sabo 1993). Allerdings findet sich eine Häufung von Traumata ebenso bei anderen psychiatrischen Erkrankungen (Zanarini et al. 1997; Williams et al. 1997); auch begegnet man Patienten, die die Kriterien einer Borderline-Persönlichkeit erfüllen, aber nicht über gravierende traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit berichten. Zusammengefasst zeigt sich, dass es sich bei dem großen Gebiet der Borderline-Syndrome früher weniger um spezifische Störungsbilder gehandelt hat, sondern um eine aus verschiedenen historischen Vorläufer-Konzeptionen entstandene Sammelbezeichnung für schwierige Patienten. Den entscheidenden Durchbruch zur Klärung und Ordnung der unterschiedlichen Entwicklungslinien brachte dann die Arbeit von Spitzer et al. (1979) mit der dichotomen Aufteilung des Feldes in eine emotional instabile bzw. Borderline-Persönlichkeitsstörung auf der einen und eine Borderline-Schizophrenie bzw. schizotypische Persönlichkeitsstörung auf der anderen Seite (vgl. Saß u. Koehler 1983). Inzwischen ist aus der heterogenen Restkategorie des „Borderline“ mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung eine der empirisch am besten belegten Formen in der gegenwärtigen Diagnostikforschung geworden, die eine Beispielfunktion für die Weiterentwicklung im gesamten Bereich der Persönlichkeitsstörungen erhalten hat (vgl. Kap. 3.4.1 in diesem Band).
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1.4.7.4 Persönlichkeitsstörungen in den modernen Diagnosesystemen Die heutige Konzeption von Persönlichkeitsstörung verlässt die alte Kontroverse um die – mehr lebensgeschichtlich geprägten – Neurosen einerseits und die – mehr konstitutionell fundierten – Psychopathien andererseits. In den möglichst voraussetzungsarmen, deskriptiven Klassifikationssystemen des DSM und der ICD dient der Terminus „Persönlichkeitsstörung“ nunmehr als neutraler Oberbegriff für alle behandlungsbedürftigen Abweichungen der Persönlichkeitsentwicklung. Er löst mehr oder weniger theoriebeladene, wertende Bezeichnungen aus dem neurotisch-psychopathischen Übergangsbereich wie Soziopathie oder Charakterneurose ab. Im Kern geht auch die heutige Definition der Persönlichkeitsstörungen auf K. Schneider zurück, wenn sie das Leiden der betroffenen Person und/oder die soziale Beeinträchtigung aufgreift. Diese beiden Elemente finden sich in der ICD-10 wie im DSM-IV wieder, wonach eine Persönlichkeitsstörung dann diagnostiziert werden kann, wenn Persönlichkeitszüge unflexibel und wenig angepasst sind und in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen. Im DSM-IV und in den ICD-10-Forschungskriterien folgt die Diagnosestellung einer operationalen Beschreibung mit Formulierung expliziter Einund Ausschlusskriterien. Die Diagnose darf nur gestellt werden, wenn die Person aus der Liste von Kriterien eine vorgegebene Mindestzahl erfüllt. Es wird jedoch kein spezifisches Muster vorgeschrieben, so dass zwei Personen dieselbe Diagnose erhalten können, obwohl sie unterschiedliche Kombinationen von Kriterien aufweisen. Ein solcher polythetischer Algorithmus trägt einerseits der Komplexität des Persönlichkeitskonstrukts Rechnung, führt aber andererseits zu einer Randunschärfe, da jeder Einzelfall eine gewisse Ähnlichkeit mit dem theoretisch angenommenen Konzept aufweist. Gleichzeitig entstehen Überlappungen, denn zum einen tauchen gleichlautende Kriterien in den Merkmalslisten verschiedener Persönlichkeitsstörungen auf, zum anderen können manche Personen einzelne Kriterien für verschiedene Persönlichkeitsstörungen, aber nicht die jeweils geforderte Mindestzahl erfüllen. Häufig weist auch eine Person die geforderte Mindestzahl von Kriterien für verschiedene Persönlichkeitsstörungen auf, so dass per definitionem mehrere Diagnosen gestellt werden müssen. Ein solches Zusammentreffen verschiedener Störungskategorien wird Komorbidität genannt, obwohl „gemeinsames Vorkommen“ gerade im Persönlichkeitsbereich mit seinem ungeklärten Morbiditätsstatus begrifflich vorzuziehen wäre. Dieser in der Diagnostikforschung allgemein akzeptierte Tatbestand führt bei den Persönlichkeitsstörungen zu erheblichen praktischen Problemen. Es stellt sich die Frage, ob die in den Kriterien vorgegebenen Merkmalsbeschreibungen und die sogenannten „cut offs“, also die Schwellenwerte für die Diagnosestellung, eine reliable und valide Zuordnung erlauben oder ob die Konzepte nicht vielmehr zu heterogen sind, als dass klare Abgrenzungen vorgenommen werden können (vgl. Saß 1986; Herpertz et al. 1994).
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Tabelle 1.2. Persönlichkeitsstörungen in der klassischen Typologie und in den modernen Klassifikationssystemen Kraepelin, Kretschmer, K. Schneider, ICD-9
ICD-10
DSM-IV
Fanatisch Schizoid – Explosibel Gemütsarm
Paranoid Schizoid – Dissozial
Paranoid Schizoid Schizotypisch Antisozial
Stimmungslabil
Emotional instabil
Geltungsbedürftig – Selbstunsicher Willenlos Zwanghaft
Histrionisch – Selbstunsicher Dependent Anankastisch
Depressiv Asthenisch Hyperthym Zyklothym
– – –
Borderline-Typ Impulsiver Typ
Borderline-Typ Histrionisch Narzisstisch Selbstunsicher Dependent Zwanghaft (Passiv aggressiv) (Depressiv) – – –
Die Gegenüberstellung der Persönlichkeitsklassifikation gemäß DSM-IV, ICD-10 und der traditionellen Differentialtypologie in Tabelle 1.2 zeigt, dass sich einige der schon von K. Schneider, E. Kretschmer und Kraepelin beschriebenen Typen von Persönlichkeitsstörungen in den Kategorien von DSM-IV und ICD-10 wiederfinden, ebenso wie es zwischen den beiden Klassifikationssystemen untereinander Entsprechungen, aber auch erhebliche Abweichungen gibt. So sind in der ICD-10 die schizotypische und die narzisstische Persönlichkeitsstörung des DSM-IV nicht enthalten, Kriterien der narzisstischen Persönlichkeitsstörung finden sich stattdessen z. B. beim paranoiden Typus. Auf der anderen Seite enthält ICD-10 eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, die in einen impulsiven Typus und einen Borderline-Typus unterteilt ist. Letzterer findet sich als eigenständige Persönlichkeitsstörung im DSM-IV.
1.4.7.5 Epidemiologie Die Häufigkeit von Menschen, die die Kriterien zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erfüllen, liegt in der unausgelesenen Allgemeinbevölkerung nach den Angaben deutscher sowie amerikanischer Studien zwischen 3 und 10% (Reich et al. 1989; Zimmerman u. Coryll 1990; Maier et al. 1992;
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Casey 1989; Torgersen et al. 2001). Im Vergleich zu den in der früheren Persönlichkeitsdiagnostik gewohnten Werten sind diese Zahlen relativ hoch. Das Aufweisen der Kriterien muss aber nicht bedeuten, dass die Personen in ihrem Verhalten so dysfunktional und beeinträchtigt sind, dass ein Behandlungsbedarf besteht, auch bedeutet die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung natürlich nicht, dass dies forensisch erheblich ist. Persönlichkeitsstörungen treten häufiger in der Stadtbevölkerung als in ländlichen Populationen auf und sind eher in sozial schwächeren Schichten anzutreffen. Die Geschlechterverteilung ist dabei über alle Persönlichkeitsstörungen gleich; bestimmte Persönlichkeitsstörungsdiagnosen finden sich jedoch häufiger bei Frauen, z. B. die dependente und Borderline-Persönlichkeitsstörung, andere häufiger bei Männern, z. B. die antisoziale Persönlichkeitsstörung (vgl. Merikangas u. Weissman 1986; Weissman 1993). Die unterschiedlichen Häufigkeiten mögen tatsächliche Geschlechtsunterschiede im Vorliegen dieser Störungen anzeigen, jedoch sollte der Einfluss von sozialen Stereotypien und geschlechtsspezifischem Rollenverhalten auf den diagnostischen Prozess berücksichtigt werden. Unter unausgelesenen psychiatrischen Patienten liegen die Prävalenzraten weit höher. Nachdem die ersten Klassifikationssysteme erschienen sind, war die Häufigkeit von Persönlichkeitsstörungsdiagnosen mit 50–80% in verschiedenen klinischen Untersuchungen relativ hoch (Mellsop et al. 1982); neuere Studien ergaben Prävalenzraten mit einer mittleren Quote von 40–60% (vgl. Saß u. Mende 1990; Oldham et al. 1992; Herpertz et al. 1994). In forensisch-psychiatrischen Stichproben fanden sich Prävalenzraten von bis zu 80% (Dilling et al. 1984; Merinkangas u. Weissman 1986; Saß 1986). In einer großangelegten internationalen Studie der WHO (Loranger et al. 1994) wurde bei 39,5% der 716 untersuchten psychiatrischen Patienten mindestens eine Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 diagnostiziert, wobei die Prävalenzraten zwischen 15,2% bei der ängstlichen und 1,8% bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung lagen.
1.4.7.6 Verlauf und Prognose Die Annahme, dass Persönlichkeitsstörungen weitgehend stabil und überdauernd sind, war von Anfang an mit dem Konzept verbunden und findet sich auch in den diagnostischen Leitlinien von ICD-10 und DSM-IV. Tölle (1986) äußerte aufgrund katamnestischer Beobachtungen, Persönlichkeitsmerkmale an sich seien bemerkenswert stabil und auch bei langfristiger Nachuntersuchung in gleicher Weise nachweisbar, doch zeige sich auch, wie stark die Auswirkungen auf Befinden und Erleben, Leistungsfähigkeit und soziale Beziehungen von den jeweiligen Lebensumständen und vom Lebensalter abhängig seien. Viele Autoren kritisieren das Postulat der Zeitstabilität der Persönlichkeitsstörungen und weisen auf die Bedeutung situativer Umstände für Persönlichkeitsstörungen hin. Anstelle von Kontinuität und Kontextunabhängigkeit dürfte es sich in vielen Fällen eher um langwellige Verlaufsformen mit einer Trägheit ihrer Änderungen bzw. Variationen handeln (Loranger et al.
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1991). Jüngere Zusammenfassungen empirischer Studien zu Stabilität und Veränderlichkeit unter Pharmako- wie psychosozialer Therapie ergeben z. T. eine Bestätigung, z. T. eine Differenzierung früherer Annahmen, wobei insbesondere bei depressiven Formen erhebliche Veränderungen gesehen wurden (Sanislow u. McGlashan 1998; Grilo u. McGlashan 1999). Die klinische Erfahrung geht dahin, dass sich viele zugespitzte Persönlichkeitsmerkmale mit zunehmendem Alter und nachlassender Vitalität abschwächen. Dies gilt besonders für Persönlichkeitszüge, die die soziale Funktionsfähigkeit nachhaltig beeinträchtigen, u. a. Unstetigkeit, dissoziales Verhalten, autodestruktive Handlungen, Impulsivität. Andere Merkmale können im Alter eine Zuspitzung erfahren, denkt man z. B. an den Eigensinn und die Rigidität mancher älterer Menschen. Bei aller grundsätzlichen Stabilität der Persönlichkeitsstörungen ist also insgesamt ein größeres Maß an Flexibilität und Anpassungsfähigkeit anzunehmen, als es das theoretische Konzept vorgibt. Der Ausprägungsgrad der Verhaltensauffälligkeiten hängt auch von den situativen Bedingtheiten und Ansprüchen des jeweiligen Lebensabschnittes ab, und Entwicklungsaufgaben können zu krisenhaften Zuspitzungen Anlass geben. So wird eine ängstliche Persönlichkeit im jungen Erwachsenenalter, wo es um das Erringen von Autonomie, Entscheidungen und Sinnorientierung geht, besonders stark unter ihrer mangelnden sozialen Kompetenz leiden, eine dependente oder depressive Persönlichkeit insbesondere dann, wenn es im Leben zu Verlusten und partnerschaftlichen Trennungssituationen kommt. Das Suizidrisiko in der Gesamtgruppe der persönlichkeitsgestörten Individuen wird mit einer dreifachen Erhöhung gegenüber der Allgemeinbevölkerung angegeben. Die höchsten Suizidraten werden für die Borderline-, narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen genannt. In diesen Gruppen findet sich auch der höchste Grad an psychosozialer Beeinträchtigung mit devianten Handlungen, Minderung der Arbeitsfähigkeit und Mangel an verlässlichen interpersonellen Beziehungen. In ähnlicher Weise ist letzteres nur noch bei der paranoiden und der schizoiden Persönlichkeitsstörung mit ihrer gravierenden Tendenz zur sozialen Isolation der Fall. Dennoch wird in katamnestischen Untersuchungen über relevante Zeiträume zwischen 10 und 30 Jahren auch in diesen Subgruppen schwer gestörter emotional instabiler Persönlichkeiten bei zwei Drittel der Patienten eine ausreichende soziale Integration angegeben. Die erhebliche soziale Dysfunktion und die wiederholten autodestruktiven Handlungen gerade im jüngeren Lebensalter führen zur Häufung stationärer Behandlung bei Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung. Menschen mit einer ängstlichen, dependenten oder auch zwanghaften Persönlichkeitsstörung werden sich zwar ihrem Hausarzt und gelegentlich auch einem Facharzt anvertrauen, aber erst bei einer zusätzlich auftretenden Krankheitssymptomatik, wie Angst-, Zwangs- oder depressiver Störung ein stationäres Behandlungssetting benötigen. Wieder andere persönlichkeitsgestörte Gruppen werden kaum jemals von sich aus therapeutische Hilfe suchen, beispielsweise die schizoiden und paranoiden Menschen.
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Die Prognose wird also von der speziellen Form der Persönlichkeitsstörung, einer eventuellen Komorbidität und vom Schweregrad abhängen. Prognostische Faktoren sind ferner der psychostrukturelle Reifegrad sowie das Niveau der psychischen und sozialen Funktionen. Zu einer guten Prognose tendieren die histrionischen, zwanghaften, dependenten und selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen; über Behandlungserfolge trotz häufig schwieriger und langer Therapieverläufe wird auch bei Borderline- und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen berichtet. Weniger günstig sind die Beeinflussungsmöglichkeiten bei den schizoiden, paranoiden und insbesondere den antisozialen Formen. Prognostisch günstige Persönlichkeitsmerkmale sind Motivation, Vertrauen in andere Menschen, Flexibilität sowie Einsicht in eigenes Beteiligtsein an zwischenmenschlichen Schwierigkeiten. Erschwerend wirkt das Vorkommen anderer psychischer Begleiterkrankungen, insbesondere Suchterkrankungen oder affektiver Störungen. So steigt die Mortalitätsrate auf das Dreifache bei Patienten mit Persönlichkeitsstörung und Substanzmissbrauch gegenüber solchen mit einer alleinigen Persönlichkeitsstörung (Bohus et al. 1999). Für die Behandlung der Persönlichkeitsstörungen bieten sich in erster Linie psychotherapeutische, aber auch psychopharmakologische Maßnahmen an. Wichtige Entwicklungen der letzten Jahre liegen in einem integrativen, schulenübergreifenden Vorgehen (Saß u. Herpertz 1999: Herpertz u. Saß 2003). In der Regel wird die Psychotherapie von Persönlichkeitsstörungen längere Zeiträume erfordern, da es um die allmähliche Umgestaltung von überdauernden Eigenschaften im Bereich des Lebens, Befindens und des sozialen Verhaltens geht. Kurze Kriseninterventionen sind erforderlich, wenn die problematischen Persönlichkeitseigenschaften lebenssituative Zuspitzungen und soziale Konflikte erzeugen. Zuweilen ist es hilfreich, die Konfliktpartner im Sinne von Paar- oder Familiengesprächen mit einzubeziehen. Die Wahl des Behandlungsverfahrens wird von der speziellen Form der Persönlichkeitsstörung und vom Schweregrad sowie von eventuell begleitenden psychischen Erkrankungen abhängen. Stets ist initial eine sorgfältige psychopathologische Untersuchung einschließlich somatischer Abklärungen erforderlich, um komplizierende Erkrankungen körperlicher wie psychischer Art und die Indikation medikamentöser Behandlung zu prüfen. Psychotherapeutisch werden in erster Linie supportive sowie verhaltenstherapeutische Techniken zur Anwendung kommen, darüber hinaus auch tiefenpsychologische, seltener analytische Therapieformen. Große Bedeutung haben in den letzten Jahren kognitive Methoden für die Behandlung von Persönlichkeitsstörungen erhalten, wobei die differentielle Indikation und differentielle Psychotherapie zunehmend elaborierter wird (Fiedler 1999). Inhaltlich geht es vor allem um konkrete, für den jeweiligen Patienten prototypische Interaktionsstörungen. Ergänzend können psychologische und soziotherapeutische Elemente hilfreich sein, etwa zur Verbesserung der sozialen Lebenssituation oder zur Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen. Unabhängig von der gewählten Methode ist der Aufbau einer verlässlichen, regelmäßigen, vertrauensvollen therapeutischen Beziehung von zentraler
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Bedeutung. Sie ist die Grundlage für einen der wichtigsten allgemeinen Wirkfaktoren, nämlich die Möglichkeit korrektiver emotionaler Erfahrungen. Neben der Einzeltherapie werden vermehrt Gruppenverfahren entwickelt, doch müssen die Eignungsvoraussetzungen der Patienten sorgfältig abgeklärt werden (vgl. Schmitz 1999; Renneberg u. Fydrich 1999). Der neueste Stand der therapeutischen Empfehlungen findet sich in der DGPPN-Leitlinie (Herpertz et al. 2008). Pharmakotherapeutische Interventionen, die allmählich stärkere Bedeutung haben, zielen darauf, biologische Dispositionen für störende Verhaltens- und Erlebensweisen zu beeinflussen. Konzeptionell liegen die auf Kraepelin und Kretschmer zurückgehenden Vorstellungen zugrunde, dass abnorme Persönlichkeitszüge als unvollständige Ausprägungen, Verdünnungen oder „formes frustes“ der beiden großen Gruppen endogener Krankheiten anzusehen sind. Deshalb werden die bei der Behandlung schizophrener und affektiver Psychosen bewährten Psychopharmaka auch bei damit verwandt erscheinenden Persönlichkeitsstörungen eingesetzt, um neurochemisch die Vulnerabilität für affektive und kognitive Dysfunktionen zu reduzieren. Die pharmakologische Behandlung stellt keine Alternative, sondern allenfalls eine Unterstützung für die Psychotherapie dar (vgl. Saß et al. 1998; Kapfhammer 1999; Kapfhammer u. Rothenhäusler 1999; Herpertz u. Saß 2003). Unter Umständen wird ein psychotherapeutisches Vorgehen erst unter dem Schutz stabilisierender Medikamente möglich sein. Gefahren sind z. B. das Agieren mittels der Medikamente, etwa in Form von parasuizidalen Handlungen, oder auch unrealistische Erwartungen oder das ständige Klagen über Nebenwirkungen. Die Möglichkeit einer medikamentösen Begleittherapie sollte schon bei Behandlungsbeginn mit dem Patienten erörtert werden. Insbesondere müssen dabei eventuelle negative Auswirkungen auf die Übertragungsbeziehung reflektiert werden. Gegenüber sedierenden Substanzen ist Zurückhaltung geboten, da sie bei dauerhaftem Gebrauch die allgemeine Lebensführung beeinträchtigen, vor allem aber die Arbeitsfähigkeit in der Psychotherapie vermindern können. Streng muss auch auf die Gefahr der Abhängigkeit geachtet werden, insbesondere erscheinen Benzodiazepine bei der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, die per definitionem langdauernde Zustände darstellen, in aller Regel kontraindiziert, außer wenn es um eine akute Krisenintervention geht.
1.4.7.7 Zu den einzelnen Persönlichkeitsstörungen Die folgende Darstellung stützt sich in der Systematik auf die beiden großen internationalen Klassifikationssysteme. Dabei spielt das DSM-IV wegen der angloamerikanischen Dominanz in der internationalen Forschungsdiskussion zwar die führende Rolle, doch besitzt die ICD-10 als offizielles System zur Verschlüsselung der Diagnosen im deutschen Gesundheitssystem seit dem 1. 1. 2000 große praktische Bedeutung. Deshalb erfolgt bei wesentlichen Unterschieden eine vergleichende Kommentierung der beiden Systeme, wobei die Gliederung in die Cluster A, B und C dem DSM-System
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folgt. Im Übrigen werden aus der Gruppe der 11 Persönlichkeitsstörungen gemäß DSM-IV-TR vor allem jene mit forensischer Bedeutung dargestellt.
Cluster A: Sonderbare, exzentrische Persönlichkeitsstörungen z Paranoide Persönlichkeitsstörung z Historie. Der Begriff paranoide Persönlichkeitsstörung drückt zwar eine Nähe zu den wahnhaften (paranoiden) Störungen sowie der paranoiden Schizophrenie aus, doch sind paranoide Persönlichkeitsmerkmale, die unterhalb der Schwelle psychotischer Störungen liegen, in der Literatur seit jeher bekannt: z. B. in Kraepelins Lehrbuchbeschreibungen der „Pseudoquerulanten“ und der „Streitsüchtigen“, bei Kretschmer (1921) in der „expansiven Persönlichkeit“. K. Schneider (1923) erwähnte in diesem Umkreis die aktiven und expansiven Züge des fanatischen und querulatorischen Menschen, aber auch stille, verschrobene, wirklichkeitsabgekehrte und rein phantastische Formen bei den matten Fanatikern. z Deskription. Nach DSM-IV findet sich bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung ein Muster von Misstrauen und Argwohn in dem Sinne, dass die Motive anderer als böswillig ausgelegt werden. Der übermäßige Argwohn von Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung bezieht sich auf die Loyalität oder Glaubwürdigkeit ihrer Freunde und Partner, aber auch auf harmlose Bemerkungen oder unbedeutendes Verhalten anderer Personen, mit denen sie in Kontakt geraten. Auf empfundene Verletzungen reagieren Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung expansiv und rasch mit Gegenangriffen und/oder mit lang anhaltender Feindseligkeit. Hervorzuheben ist die sensitive Empfindlichkeit, insbesondere gegenüber Misserfolgen und vermeintlichen Zurücksetzungen. Diese Menschen sind vermehrt kränkbar, emotional rigide, beharrlich und streitbar, dabei humorlos und scheinbar gefühlsarm. Kennzeichnend sind Überwertigkeiten bestimmter persönlicher oder ideenhafter Komplexe, die zum Kampf nach außen führen, Fehler werden überwiegend der Umgebung angelastet. Typische Denkschemata bei Menschen mit paranoider Persönlichkeitsstörung sind: „Ich kann niemandem vertrauen“, „Andere versuchen, mich zu manipulieren und auszunutzen“, „Andere Menschen wollen mich erniedrigen oder verärgern“ (Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Von der wahnhaften Störung mit Verfolgungswahn lässt sich die paranoide Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-IV anhand der klar umschriebenen und anhaltenden Wahnvorstellungen abgrenzen, deren Bezug zur Realität nicht mehr gegeben ist. Bei paranoider Persönlichkeitsstörung entsteht hingegen häufig ein durchaus realer Teufelskreis von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, denn das anhaltende Misstrauen führt leicht dazu, dass tatsächlich Informationen zurückgehalten oder negiert werden, was den Argwohn der Betroffenen scheinbar unterstützt. Aller-
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dings ist bei der differentialdiagnostischen Abgrenzung zu beachten, dass bei der paranoiden Persönlichkeitsstörung, vor allem in Zeiten vermehrter Belastung, kurze, Minuten bis Stunden dauernde Episoden mit vorübergehendem Verlust der Realitätskontrolle wie bei psychotischen Episoden auftreten können. Zu den forensisch bedeutsamen Sonderformen, die in der deutschsprachigen Tradition beschrieben wurden, gehört der (Renten-)Querulant. Manchmal entstehen bei kompliziert aufgebauter Persönlichkeit – Expansive mit einer heimlichen Wunde, einem „Pfahl im Fleische“ – paranoide Entwicklungen nach Art der „Kampfparanoia“ (Kretschmer 1921). Forensisch bedeutsam können „Kampffanatiker“ werden, die nicht nur querulatorisch Gerichte und Behörden durch Beleidigungen beschäftigen, sondern auch zu Gewalttaten neigen und in einigen verzweifelt zugespitzten Fällen sogar zur Unterbringung gemäß § 63 StGB zwingen. Ideenfanatiker folgen einer als absolut gesetzten überwertigen Idee und können zu bestimmten Zeiten hohe sektiererische oder politische Wirksamkeit entfalten, aber auch kriegsähnliche Terrorakte vollbringen oder andere Menschen zu (Massen-)Suiziden verleiten. z Schizoide Persönlichkeitsstörung z Historie. E. Bleuler (1911) beschrieb in seiner Schizophrenie-Monographie, dass viele Angehörige schizophrener Patienten, obwohl sie selbst keine psychotische Erkrankung aufwiesen, eine Reihe von Verhaltensauffälligkeiten wie soziale Isolation und einen absonderlichen Kommunikationsstil boten. Ähnlich wie Kraepelin (vgl. Abschnitt „Borderline-Syndrome“) vermutete Bleuler einen Übergangsbereich, in dem sich die Grenzen zwischen schizoidem Charakter und einer latenten Schizophrenie mit ihren typischen Denkstörungen und sozialen Dysfunktionen nicht eindeutig festlegen ließen. Bleuler konstatierte einen quantitativen Anstieg der Anomalie von gesund über schizoid bis schizophren. Dies führte zu Kontinuumsvorstellungen, wie sie vor allem dann bei E. Kretschmer (1921) mit der Auffassung von fließenden Übergängen zwischen prämorbiden Persönlichkeitseigenschaften und den schizophrenen Erkrankungen verbunden waren, also vom schizothymen Temperament zum schizoiden Typen und zur Psychose. z Deskription. Hauptmerkmal der schizoiden Persönlichkeitsstörung sind Gleichgültigkeit und Zurückhaltung im zwischenmenschlichen Kontakt, Einzelgängertum sowie eingeschränkte emotionale Erlebnis- und Ausdrucksfähigkeit. Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung sind scheu, verschlossen und erscheinen gleichgültig gegenüber Äußerungen von Lob oder Kritik. Bleulers immer noch plastische Darstellungen bezeichnen schizoide Menschen als starr, undurchdringlich, trocken, kalt; sie imponieren als verschrobene Querköpfe, äußerungsarme Eigenbrötler, kühle, innerlich fein differenzierte Aristokratentypen oder auch zerfahrene, wurstige, gemütsstump-
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fe Sonderlinge. Kraepelins Lehrbuchbeschreibungen sind ähnlich; auch registrierte er, dass spätere Kranke mit Dementia praecox als Kinder scheu, besonders ruhig und zurückgezogen gewesen seien. Typische Denkschemata sind: „Es geht mir besser, wenn ich alleine bin“, „Beziehungen bringen Verwirrung mit sich“, „Was andere über mich denken, ist gleichgültig“ (Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Die schwierigste Unterscheidung betrifft die leichten Formen der autistischen und der Asperger-Störung, die ebenfalls mit Einschränkungen im Sozialkontakt einhergehen. Letztere sind durch zusätzliche stereotype oder rituelle Verhaltensweisen, durch motorische Manierismen sowie durch Einengung der Interessen gekennzeichnet. Im Übrigen können auch bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung unter Belastung kurze, vorübergehende psychotische Episoden auftreten, die aber nur Minuten bis Stunden anhalten, wohingegen solche Phänomene bei den wahnhaften Störungen und der Schizophrenie überdauernd sind. Um bei diesen Störungen zusätzlich die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung stellen zu können, müssen die Persönlichkeitsauffälligkeiten sich vor und nach der Periode mit psychotischer Symptomatik nachweisen lassen. Bezüglich der anderen Persönlichkeitsstörungen sind Merkmalsüberlappungen mit der schizotypischen und der paranoiden Persönlichkeitsstörung vorhanden, etwa hinsichtlich der sozialen Isolation und der eingeengten Affektivität, doch fehlen bei der schizoiden Form die kognitiven Einschränkungen und Wahrnehmungsverzerrungen der schizotypischen Störung, während im Vergleich zur paranoiden Persönlichkeitsstörung ein erhöhtes Misstrauen und paranoide Ideen nicht festgestellt werden. Wichtig ist die Differenzierung von vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen mit ebenfalls deutlicher sozialer Isolation, die jedoch eher auf soziale Angst bei durchaus vorhandenem Kontaktwunsch zurückgeht. Schizoide Menschen ziehen sich dagegen vor sozialer Intimität zurück, weil nur wenig Verlangen danach besteht. z Schizotypische Persönlichkeitsstörung z Historie. Hinsichtlich des Bezugs zur Schizophrenie gelten ähnliche Ausführungen wie bei der schizoiden Persönlichkeitsstörung. Was die historische Entwicklung betrifft, so wird vor allem auf die Darstellung des Borderline-Bereichs verwiesen, der stets einen gewissen Anteil „subschizophrener“ Syndrome enthielt. Hierhin gehört auch das in den dänischen Familien- und Adoptionsstudien entwickelte Konzept eines schizophrenen Spektrums mit der Borderline-Schizophrenie (Parnas et al. 1990). z Deskription. Die schizotypische Persönlichkeitsstörung ist charakterisiert durch erhebliche Defizite im zwischenmenschlichen Kontakt, ähnlich wie bei der schizoiden Störung geschildert. Darüber hinaus aber kommt es zu
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Besonderheiten des Wahrnehmens, des Denkens und des Verhaltens in unterschiedlichen Abstufungen, beispielsweise zu Störungen der Aufmerksamkeit, der selektiven Wahrnehmung und der Filterung von Reizen, zu Phänomenen des kognitiven Gleitens, zur vermehrten Bezugssetzung durch eigentümliche Auswahl und Bewertung von Informationen. Sprachlich finden sich unklare, seltsame Ausdrucksweisen und eine abwegige Verwendung von Worten, die aber noch nicht bis zu Assoziationslockerung und Inkohärenz reicht. Die Personen sind einzelgängerisch und fühlen sich in Gesellschaft unwohl, es bestehen Defizite im Gebrauch der üblichen Kommunikationsmechanismen wie Augenkontakt, Körpersprache u. ä. Hinzu kommt meist eine ausgeprägte Furcht vor und Vermeidung von sozialen Situationen. Menschen mit dieser Störung entwickeln häufig magische, esoterische und abergläubige Überzeugungen. Oft zeigen sie eigentümliche Verhaltensweisen, etwa in der Art, sich zu kleiden oder zu bewegen. Typische Denkschemata sind: „Wenn fremde Menschen mich ansprechen, ist dies furchtbar unangenehm“, „Wenn andere Menschen miteinander sprechen, kennen die sich wahrscheinlich schon lange und wollen mich nicht dabei haben“, „Ich gehöre nicht dazu“ (Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Wegen des engen Bezuges zum schizophrenen Spektrum findet sich die „schizotype Störung“ in der ICD-10 im Rahmen der schizophrenen und wahnhaften Störungen, auch besteht eine gewisse symptomatologische Überschneidung mit der Schizophrenia simplex in der ICD-10. Bei der differentialdiagnostischen Abgrenzung zur sozialen Angst ist von Bedeutung, dass Personen mit letzterer Störung in Situationen, die mit Sozialkontakt einhergehen, allmählich entspannter werden, während Menschen mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung sich zunehmend unwohler fühlen. Von der Schizophrenie, der wahnhaften Störung oder einer affektiven Störung mit psychotischen Merkmalen lässt sich die schizotypische Persönlichkeitsstörung durch das Fehlen von halluzinatorischen und Wahnphänomenen abgrenzen. Es können Verzerrungen des Denkens und der Wahrnehmung auftreten, beispielsweise mit falscher Interpretation von Zufallsereignissen, von Bemerkungen anderer Personen oder von Situationen, doch wird an solchen Verzerrungen im Unterschied zum Wahn nicht starr festgehalten. Allerdings können ebenso wie bei der paranoiden und der schizoiden Persönlichkeitsstörung kurze, vorübergehende psychotische Episoden auftreten, vor allem bei Belastung. In der Querschnittsbetrachtung ist die Abgrenzung zu Simplexformen oder zum residualen Typus der Schizophrenie am schwierigsten, und man sollte in Betracht ziehen, dass die Eruierung einer irgendwann abgelaufenen schizophrenen Episode mit florider Symptomatik nicht immer gelingt.
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Cluster B: Emotional instabile Persönlichkeitsstörungen z Antisoziale Persönlichkeitsstörung z Historie. Für die sozial devianten Persönlichkeitsformen werden heute unterschiedliche diagnostische Kategorien benutzt, nämlich die antisoziale Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-IV und die dissoziale Persönlichkeitsstörung gemäß ICD-10, daneben aber auch die psychopathische Persönlichkeitsstörung in der Konzeptualisierung von Hare (1970, 1991), die weitgehend auf Cleckleys Lehre von „Psychopathy“ i. S. von schwer dissozialer Persönlichkeit beruht (siehe hierzu auch Kap. 3.4.1 in diesem Band). Schwierigkeiten bereitet bei dem recht weit gefassten Begriff von „antisozialer Persönlichkeitsstörung“ in DSM-IV die – vor allem forensisch bedeutsame – Abgrenzung zur reinen Dissozialität ohne zusätzliche psychopathologische Auffälligkeiten. Dies erfordert eine Differenzierung in mehr pathische und mehr kriminelle Varianten antisozialer Persönlichkeitsformen (vgl. Saß 1987 a), was zu folgender Gliederung führt: 1. Persönlichkeitsstörungen liegen bei Menschen vor, die aufgrund ihrer psychopathologischen Auffälligkeiten und Verhaltensweisen subjektiv leiden und/oder in ihrer sozialen Kompetenz beeinträchtigt sind, ohne deshalb aktiv sozial deviant zu sein. Durch das Gesamt ihrer psychischen Symptome stehen diese Menschen in Nähe zu den psychiatrisch Kranken im engeren Sinne. 2. Ein Teil dieser Menschen weist darüber hinaus dauerhaft konfliktträchtige soziale Verhaltensweisen mit aktiver Devianz und Delinquenz auf, die erkennbar mit ihren psychologischen Besonderheiten in Beziehung stehen. Wegen des engen Zusammenhangs zwischen sozialer Devianz und den psychopathologischen Auffälligkeiten erscheint die Bezeichnung als „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ gerechtfertigt. 3. Darin bilden diejenigen Menschen eine identifizierbare Untergruppe, bei denen im Gefolge einer dissozialen Charakterstruktur (Saß 1987 a) eine im gesamten Lebenslauf erkennbare, hartnäckige Disposition zu devianten und delinquenten Verhaltensweisen besteht. Diese Kerngruppe, die inzwischen auch biologisch recht gut definierbar ist (vgl. Kap. 3.4.1 in diesem Band), entspricht dem engen Psychopathiekonzept von Hare (1970, 1991). 4. Rezidivierende soziale Devianz und Delinquenz allein, wie sie bei chronischen Rückfalltätern oder Berufskriminellen vorliegt, sollte dagegen nicht ausreichen, um von einer Persönlichkeitsstörung zu sprechen, da dieser diagnostische Begriff zur fälschlichen Konnotation von krankheitsähnlicher Störung führen könnte. Erst eine derartige Differenzierung ermöglicht in der forensischen Auseinandersetzung die Klärung von Fragen der Schuldfähigkeit, der Prognose und der Therapie (vgl. Saß 1987 a).
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z Deskription. Hauptmerkmal der antisozialen Persönlichkeitsstörung im Sinne von DSM-IV ist die dauerhafte und tiefgreifende Neigung, die Rechte anderer zu verletzen und zu missachten. Als charakterliche Besonderheiten dieser Menschen fanden sich empirisch geringe Introspektion und Selbstkritik, Mangel an Empathie, Gefühlskälte, Egozentrizität, überhöhter Anspruch, paradoxe Anpassungserwartung und Unter- bzw. Fehlbesetzung sozialer Normen (Saß 1987 a). Im Verhalten imponieren Impulsivität, Unzuverlässigkeit, Bindungsschwäche sowie ein Mangel an Schuldgefühlen. Typische Denkschemata bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung sind: „Andere Menschen sind schwach und verdienen es, dass man sie ausbeutet“, „Wenn ich etwas haben möchte, sollte ich alles Erforderliche tun, um es zu bekommen“, „Wir leben in einem Dschungel, in dem der Stärkste überlebt“ (vgl. Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Die DSM-IV-Definition der antisozialen Persönlichkeitsstörung bereitet diagnostisch erhebliche Schwierigkeiten, erkenntlich an Problemen einer zu hohen Diagnosehäufigkeit, der zeitlichen Stabilität der Diagnose, der mangelhaften Berücksichtigung der Intensität der Symptome und des großen Überschneidungsbereiches mit der Symptomatik von Substanzmissbrauch (vgl. Cunningham u. Reidy 1998). Trotz Weiterentwicklungen des Konzeptes seit DSM-III ist die DSM-IV-Beschreibung immer noch stark davon bestimmt, kriminelle und sozial schädliche Muster des Verhaltens aufzuzählen, ohne dass Indikatoren für tief reichende Störungen der Persönlichkeitsfunktionen, die über bloße kriminelle Handlungen hinausgehen, Berücksichtigung finden. Kritisiert wird auch eine unzureichende Beachtung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern, da beispielsweise Studien über antisoziale Persönlichkeitsstörung und Psychopathie bei kokainabhängigen Frauen gezeigt haben, dass ein früh einsetzendes antisoziales Verhalten bei jungen Mädchen nur einen geringen Zusammenhang mit den antisozialen Verhaltensweisen bei erwachsenen Frauen aufwies (Rutherford et al. 1999). Bei der Differentialdiagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung muss auf antisoziales Verhalten, das ausschließlich im Rahmen einer Schizophrenie oder manischen Episode auftritt, geachtet werden, was als Ausschlusskriterium gilt. Dagegen kann die antisoziale Persönlichkeitsstörung häufig in Zusammenhang mit Störungen durch psychotrope Substanzen auftreten, so dass dann beide Diagnosen zu stellen sind. Unter den Persönlichkeitsstörungen gibt es Überschneidungen zwischen antisozialer und narzisstischer Persönlichkeitsstörung, doch ist bei letzterer nicht mit ausgeprägten Tendenzen zu Impulsivität, Aggressivität und Betrügereien zu rechnen. Symptomatologische Überschneidungen in Teilbereichen können mit der histrionischen, der Borderline- und der paranoiden Persönlichkeitsstörung bestehen, obwohl diese in der Regel keine so nachhaltigen antisozialen Verhaltensweisen zeigen.
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z Prävalenz. Die Angaben zur Prävalenz sind stark stichproben- und geschlechtsabhängig. In der Allgemeinbevölkerung beträgt sie ca. 3% für Männer und ca. 1% für Frauen. Innerhalb klinischer Einrichtungen kann sie zwischen 3 und 30% betragen, während in Suchtbehandlungszentren, Haftanstalten oder forensischen Institutionen deutlich höhere Werte gefunden werden. Studien an Gefängnisinsassen ergaben für die antisoziale Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-IV eine Prävalenz von 70–100% und lassen somit diese Kategorie als zu umfassend erscheinen (Widiger et al. 1996), während bei Anwendung der Psychopathie-Checkliste von Hare (1991) an verschiedenen forensischen Populationen in Gefängnissen oder psychiatrischen Kliniken die Prävalenz der Psychopathie-Diagnose bei 25% lag (vgl. Herpertz u. Saß 1999). Was das familiäre Verteilungsmuster betrifft, so findet sich bei biologischen Verwandten ersten Grades von Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ein häufigeres Vorkommen dieser Störung als in der Allgemeinbevölkerung. Darüber hinaus bestehen familiäre Bezüge zur Somatisierungsstörung und zu Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen, wobei Männer häufiger eine antisoziale Persönlichkeitsstörung und Substanzmissbrauch aufweisen, Frauen häufiger Somatisierungsstörungen. Adoptionsstudien sprechen für den Einfluss von genetischen wie auch von Umweltfaktoren, wobei adoptierte Kinder zwar den leiblichen Eltern in Hinblick auf antisoziale Persönlichkeitsmerkmale mehr ähneln als ihren Adoptiveltern, dennoch beeinflusst auch die Umgebung in der Adoptivfamilie die Entwicklung in Richtung auf antisoziale Verhaltensweisen. Im Langzeitverlauf kann es bei zunehmendem Lebensalter ab dem 4. Jahrzehnt zu einem Nachlassen in der Dynamik der Störung kommen. z Ätiopathogenetische Aspekte. In der großen Verlaufsstudie von Robins (1966) an über 500 Problemkindern hatte sich als bester Prädiktor für eine spätere antisoziale Persönlichkeitsstörung das Ausmaß antisozialen und aggressiven Verhaltens in Kindheit und Jugend ergeben. Rutherford et al. (1999) fanden allerdings allgemeine Abweichungen von einem normenund rollenkonformen Verhalten bei weiblichen Kindern und Adoleszenten nicht als zuverlässige Prädiktoren für die antisoziale Persönlichkeitsstörung bei Erwachsenen, wohl aber für antisoziale Züge im Sinne der engeren Psychopathiekonzeption von Hare (1970, 1991) und im Sinne der dissozialen Charakterstruktur von Saß (1987 a). Die neurobiologischen Grundlagen der antisozialen Persönlichkeitsstörung sind im Kap. 3.4.1 dargestellt. z Therapie. Wegen ausgeprägter Aggressivität und Kriminalität von Personen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung ist die Behandlung von hoher Bedeutung nicht nur für die betroffenen Individuen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Bislang waren die Ergebnisse der unterschiedlichsten Programme allerdings enttäuschend, v. a. in Hinblick auf die Kerngruppe der sogenannten primären Psychopathen, wohingegen bei den als sekundär und neurotisch aufgefassten Formen Hoffnungen in psychodynamisch ori-
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entierte und verhaltenstherapeutische Programme gesetzt wurden. Allerdings sind die typischen Handlungsmuster bei antisozialer Persönlichkeitsstörung denkbar ungünstig für therapeutische Bemühungen, nämlich geringe Frustrationstoleranz, impulsives, wenig vorausschauendes Verhalten und Orientierung auf kurzfristig zu erreichende Belohnung. Zwischenmenschlich und auch in therapeutischen Beziehungen zeigen die Personen eine ausgeprägte Unzuverlässigkeit. Die Motive, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, sind zumeist fremdbestimmt, etwa eine gerichtliche Therapieauflage oder Aufenthalt in Gefängnissen bzw. forensischpsychiatrischen Krankenhäusern. Der Therapieprozess wird durch die institutionellen Einflüsse behindert, hinzu kommen manipulative Fähigkeiten und finale Tendenzen der Insassen, so dass Shapiro (1965) resigniert zusammenfasste, dass die „psychopathische Unehrlichkeit und Lüge“ wie auch die Impulsivität des kognitiven Stils die therapeutischen Möglichkeiten bei dissozialen Verhaltensstilen begrenzen. Noch ist das Ergebnis der teils stärker verhaltenstherapeutisch, teils stärker psychodynamisch orientierten Therapieprogramme für Menschen mit antisozialer Persönlichkeitsstörung nicht sicher einzuschätzen. Am ehesten haben multimodale, gut strukturierte Behandlungsprogramme mit kognitiven und verhaltenstherapeutischen Elementen positive Effekte gezeigt, während allgemeine Gruppenaktivitäten, permissive Milieutherapie sowie unstrukturierte psychodynamische und klientenorientierte Sitzungen eher unwirksam sind oder sogar die Prognose verschlechtern (vgl. Andrews 1995; McGuire 1995; Müller-Isberner u. Cabeza 1999). z Borderline-Persönlichkeitsstörung z Deskription. Wegen ihrer großen klinischen und theoretischen Bedeutung sollen vier wichtige Symptomkomplexe der Borderline-Persönlichkeitsstörung näher herausgearbeitet werden (vgl. Herpertz u. Saß 2000; s. a. Kap. 3.4.1 in diesem Band). Die affektive Instabilität beruht auf einer übersensiblen Reaktivität gegenüber schon niedrigschwelligen, aber emotional relevanten Reizen, auf einer hohen Affektintensität sowie auf einer Neigung zu schnellen Affektwechseln, wie emprisch-experimentell gezeigt werden konnte (Herpertz et al. 1997). Aus klinischer Perspektive wird darüber hinaus ein prolongiertes Abklingen der affektiven Erregung vermutet (Linehan 1993). Mit variierenden Reizen ist die Intensität des Affekterlebens stärkeren Wechseln unterworfen, was zu schnellen Affektänderungen im Zeitverlauf prädisponiert. Die hohe affektive Reagibilität führt zu den plötzlich aufschießenden, kurzwelligen, extremen Stimmungsschwankungen. Sie ereignen sich unter bestimmten Umgebungsbedingungen, die sich im Rahmen einer sorgfältigen Verhaltens- und Situationsanalyse fast immer gemeinsam mit dem Patienten herausarbeiten lassen, bei realen oder angenommenen Erfahrungen von Verlassenwerden und Zurückweisung; oft wird auch zwischenmenschliche
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Nähe als bedrohlich erlebt. Diese typischen Auslösesituationen gelten als Folge einer ungelösten Ambivalenz zwischen Bedürfnissen nach Bindung und einer gegenläufigen Sorge um Autonomieverlust (Fiedler 2001). Besonders charakteristisch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung sind über die Lebenszeit wechselnde Muster von meist impulsiver Selbstoder Fremdschädigung, u. a. suizidale Handlungen, Selbstverletzungen, bulimische Ess-/Brechattacken, episodische Alkoholexzesse, aber auch Wutausbrüche und körperliche Auseinandersetzungen (Zanarini et al. 1990). Die meisten Patienten versuchen – dies im Gegensatz zu antisozialen Persönlichkeiten –, ihre Impulse zurückzuhalten bzw. zu unterdrücken. Allerdings sind diese Kontrollversuche wenig differenziert, unflexibel und nicht eingebettet in überdauernde, stabile Motivationslagen und Wertbezüge, die geeignet wären, sich gegenüber andrängenden affektiven Regungen und plötzlichen Handlungsimpulsen zu behaupten. Dies führt zu einem unberechenbaren Wechsel zwischen angespanntem Zurückhalten von affektiven Regungen und Impulsen auf der einen und plötzlichen Affekt- und Verhaltensdurchbrüchen auf der anderen Seite (Herpertz u. Saß 1997). Qualitativ herrschen dysphorische, ängstliche und ärgerliche Affekte vor, auch können Borderline-Patienten durch chronische Gefühle der Leere gequält sein. Weiter zeichnen sich Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörung durch eine ausgeprägte Instabilität des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung aus, die auch Aspekte der Geschlechtsidentität mit einbeziehen kann und sich dann als Wechsel zwischen heterosexueller und homosexueller Partnerwahl oder auch als transsexuelle Strebung manifestiert. Eine mangelnde Zukunftsorientierung und Lebensplanung bei der Borderline-Persönlichkeit können mit dem Aufbau von Selbstidentität interferieren und zu Ausbildungsabbrüchen, häufigen Stellenwechseln, aber auch zu wahllosen Kontakten mit unterschiedlichen sozialen Bezugsgruppen führen. Ein letzter, wichtiger Bereich betrifft dissoziative oder (pseudo-)psychotische Symptome, deren Aufnahme in den Merkmalskatalog der BorderlinePersönlichkeitsstörung und deren Einfluss auf die Validität der Diagnose allerdings umstritten sind (Gunderson u. Zanarini 1987; Widiger et al. 1992). Kurzdauernde paranoide Vorstellungen oder Halluzinationen wurden zum Teil für pathognomonisch angesehen (Zanarini et al. 1990), doch warnten andere Autoren vor einer neuerlichen Vermischung der Konzepte von Borderline und schizotypischer Persönlichkeitsstörung (Serban et al. 1987). Typische Denkschemata bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung sind: „Die Welt ist gefährlich und böse“, „Ich bin hilflos und machtlos“, „Ich bin von Natur aus unakzeptabel“ (Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Differentialdiagnostisch sind vor allem die affektiven Störungen von Bedeutung, wobei häufig im Querschnitt die BorderlinePersönlichkeitsstörung dem Bild einer depressiven Episode entsprechen kann. Stets ist auf den überdauernden Charakter der Persönlichkeitsstörung zu achten, obwohl gerade für die Borderline-Verläufe die stetige Unstetig-
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keit charakteristisch ist. Gegenüber den anderen Persönlichkeitsstörungen im B-Cluster mit dem Grundzug der emotionalen Instabilität bestehen erhebliche Überlappungen mit der histrionischen Persönlichkeit, die ebenfalls durch Streben nach Aufmerksamkeit, manipulatives Verhalten und plötzliche Stimmungswechsel gekennzeichnet ist, jedoch weniger autodestruktive Handlungen, Beziehungsabbrüche und chronische Gefühle von Leere und Einsamkeit bietet. Die Bezüge zur schizotypischen Persönlichkeitsstörung und zur Schizophrenie wurden früher enger gesehen. Eine detaillierte Exploration wird jedoch bei der Mehrzahl der Patienten eine diagnostische Abgrenzung ermöglichen. Für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung sprechen eine kurze Dauer der paranoiden Symptomatik, ihr Auftreten in einem affektiv hoch geladenen Kontext und eine inhaltliche Verknüpfung mit nahen Bezugspersonen, zu denen eine konflikthafte Verbindung besteht. Sinnestäuschungen sind meist von pseudohalluzinatorischem Charakter, unterscheiden sich also von echten Halluzinationen dadurch, dass sie im subjektiven Raum wahrgenommen und als abnorm erkannt, aber dennoch als willensmäßig nicht beeinflussbar erlebt werden. Viel häufiger als (pseudo-)psychotische Symptome sind dissoziative Erlebnisweisen, etwa kindliche und dissoziative Amnesien, seltener auch Depersonalisationserlebnisse und hypnagoge Phänomene. Schwere dissoziative Zustände stehen zuweilen bei Patienten mit massiven traumatischen Erlebnissen in der Vorgeschichte symptomatologisch ganz im Vordergrund. Bezüge finden sich auch zur paranoiden und zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung, deren Betroffene ebenfalls wütende Reaktionen auf geringfügige Reize zeigen können, aber mehr Stabilität im Selbstbild aufweisen. Die antisoziale Persönlichkeitsstörung weist ähnliche manipulative Verhaltensweisen auf, die jedoch auf Erlangung von persönlichen Vorteilen ausgerichtet sind, während es den Borderline-Patienten mehr um Zuwendung von Bezugspersonen geht. Im Unterschied zum DSM-IV stellt der Borderline-Typus nach ICD-10 eine von zwei Subformen der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung dar. Bei inhaltlicher Nähe zum „erregbaren Psychopathen“ nach ICD-9 wurde der Borderline-Typus erst in einem relativ späten Stadium der Entwürfe eingefügt. Trotz weitreichender Überlappungen mit der DSM-IVBorderline-Persönlichkeitsstörung bestehen inhaltlich deutliche Unterschiede. So fehlen Hinweise auf dissoziative oder paranoide Erlebnisweisen im ICD-10 gänzlich, und Leeregefühle bzw. Verlassenheitsängste werden nur in den Forschungskriterien erwähnt. Neben dem Borderline-Typ enthält die emotional instabile Persönlichkeitsstörung von ICD-10 den impulsiven Typus, gekennzeichnet durch mangelhafte Impulskontrolle und Affektsteuerung, zudem leicht erregbar und zu gewalttätigem und bedrohlichem Verhalten neigend, dies insbesondere reaktiv auf Kritik und Zurückweisung. Eine solche Differenzierung zweier Subtypen erscheint nicht unproblematisch, handelt es sich bei diesen Beschreibungen doch eher um unterschiedliche, insbesondere auch geschlechtsspezifische Ausdrucksformen einer zu-
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grundeliegenden impulsiven und emotional instabilen Persönlichkeit (vgl. Herpertz u. Saß 2000). z Histrionische Persönlichkeitsstörung z Historie. Diese Bezeichnung ersetzt den Begriff „hysterische Persönlichkeitsstörung“ (Histrion: Schauspieler im alten Rom). Nach Hoffmann u. Holzapfel (1999) war der ideengeschichtliche Vorläufer der histrionischen Persönlichkeitsstörung die hysterische Neurose, die seit altersher als uneinheitlich und facettenreich beschrieben worden war, wobei insbesondere Konversionssymptome sowie dissoziative Phänomene im Vordergrund standen und alle Darstellungen die Buntheit und Vielfalt der Störungen hervorgehoben haben („La hystérie imite les maladies“). Im Übrigen wurde der Hysteriebegriff als Ordnungskategorie nicht nur wegen des Diskriminierungs- oder Labeling-Problems verlassen, sondern aus psychoanalytischer Sicht hatte sich zudem nicht nachweisen lassen, dass hysterische Symptome, wie ursprünglich postuliert, vornehmlich bei ödipalen Konflikten auftreten. Bei Kurt Schneider (1923) wurden Menschen mit Neigung zu dramatischem, theatralischem Verhalten, Suggestibilität, oberflächlichen labilen Affekten und fortwährendem Streben nach Aufmerksamkeit als geltungssüchtige Psychopathen beschrieben. z Deskription. Hauptmerkmale dieser Persönlichkeitsstörung sind eine hohe Abhängigkeit von äußerer Aufmerksamkeit, Bestätigung und Anerkennung, Suggestibilität und eine Neigung zur affektiven Labilität und Oberflächlichkeit. Histrionische Persönlichkeiten haben ein Gespür für Atmosphäre, aber auch einen Hang zur Dramatisierung, Unechtheit und Koketterie. Sie zeigen einen Mangel an gleichmäßig durchgehaltenen Zielen und Wertorientierungen mit der Folge von Unbeständigkeit, insbesondere im zwischenmenschlichen und partnerschaftlichen Bereich. Menschen mit histrionischer Persönlichkeitsstörung zielen darauf ab, anders und mehr zu erscheinen, als sie sind. Symptomatik und Grundpersönlichkeit tragen agierende Züge, wobei häufig ein ausgeprägter sekundärer Krankheitsgewinn besteht. Typische Denkschemata sind: „Wenn andere mich nicht mögen oder bewundern, bin ich ein Nichts“, „Gefühle und Intuition sind bei weitem wichtiger als rationales Denken und Planen“, „Ich bekomme das, was ich möchte, wenn ich die anderen blende oder amüsiere“ (Beck u. Freeman 1993). Aufgrund von klinischen Beschreibungen sowie Cluster- und Faktorenanalysen haben Millon und Davis (1996) unterschiedliche Subtypen der histrionischen Persönlichkeitsstörung herausgestellt: Der „theatralische Typus“ zeigt ausgeprägte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, auch kann er ja nach Situation ganz unterschiedliche Rollen einnehmen. Durch Verführungskunst und Attraktivität für das andere Geschlecht, verbunden mit Sinn für Dramatik und Romantik, imponiert dieser Typus als „femme fata-
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le“ oder „bonvivant“. Dabei reagieren Menschen gleichen Geschlechtes oft empfindlich und kritisch auf derartige Verhaltensweisen histrionischer Persönlichkeiten. Beim „hypomanen Typus“ finden sich Energie, Lebenslust und Naivität, gepaart mit der Sucht nach aufregenden Ereignissen. Diese Menschen sind leicht anregbar, impulsiv und sprunghaft, dabei charmant, eloquent und witzig, expressiv und in der Lage, neue Gedanken und Ideen mit rascher Auffassungsgabe zu erspüren und ihnen mit guter Darstellungsfähigkeit Ausdruck zu geben. Positiven Leistungen, etwa in Schauspielkunst und Politik, stehen negative Auswirkungen im Beziehungsbereich gegenüber, etwa Unzuverlässigkeit und mangelndes Verantwortungsgefühl. Der „infantile Typus“ bietet affektive Labilität, dysthyme Verstimmungen und ausgeprägte Gefühle von Hilflosigkeit, Angst und Abhängigkeit. Charakteristisch sind starke Schwankungen zwischen dependent-submissivem, kindlich-naivem Verhalten einerseits und abweisenden, trotzigen oder aggressiven Zügen andererseits. Es bestehen Schwierigkeiten in der Kontrolle von sexuellen Impulsen und Emotionen; die Personen haben das Gefühl, nicht verstanden zu werden und schwanken im Kontakt zwischen bitteren Klagen und erotisch verführendem Verhalten, was – dies auch in der Therapie – mit Grenz- und Regelverletzungen einhergehen kann. Beim „schmeichelnden Typus“ dominiert das Bestreben, um jeden Preis Anerkennung und Bewunderung von der Umgebung zu erhalten, was mit dem unbewussten Anspruch korrespondiert, von allen geliebt zu werden. Diese Personen sind besonders hilfsbereit, besorgt und zuvorkommend, opfern sie sich für das Wohlergehen anderer Menschen auf, quasi um Mängel im Selbstbewusstsein und Gefühle, eigentlich ungeliebt, unwillkommen und überflüssig zu sein, zu kompensieren. Beim „verschlagenen Typus“ verbirgt sich nach Millon und Davis hinter oberflächlichen Zügen von Freundlichkeit und Geselligkeit eine Tendenz zu launischem, impulsivem und unzuverlässigem Verhalten mit häufig wechselndem Engagement und Beziehungsabbrüchen. Durch oberflächlichen Charme und soziale Gewandtheit werden Mitmenschen manipuliert und für eigene Zwecke eingesetzt. In Konkurrenzsituationen neigen diese Menschen zu mitleidloser, übernachhaltiger Verfolgung, wobei je nach situativen Interessen aus ehemaligen Feinden rasch neue Bündnispartner werden können. Im Alter können Zynismus, Bitterkeit und Isolation entstehen. z Differentialdiagnose. Am wichtigsten sind die Überschneidungen mit den anderen Persönlichkeitsstörungen aus dem emotional instabilen Cluster B. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung gemäß DSM-IV finden sich ebenfalls die Suche nach Aufmerksamkeit, manipulatives Verhalten und wechselnde Emotionen, doch treten in charakteristischer Weise Selbstschädigung, Wutausbrüche und ein chronisches Gefühl der Leere sowie Identitätsunsicherheit hinzu. Mit der antisozialen Persönlichkeitsstörung haben die histrionischen Personen die Tendenz zu Impulsivität, Oberflächlichkeit, Reizsuche, Egozentrizität, Verführung und Manipulation gemein, nicht je-
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doch das ausgeprägt antisoziale Verhalten mit Streben nach materiellem Gewinn. Mit der narzisstischen Persönlichkeit besteht Übereinstimmung in der Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, doch fehlen dort die emotionale Wechselhaftigkeit und die dramatischen Tendenzen. Klinisch wichtig sind die – zahlenmäßig allerdings nicht sehr häufigen – Fälle, in denen es u. a. im Vorfeld, seltener in der abklingenden Phase, psychotischer Störungen unterschiedlicher Genese zu teils drastischen „pseudohysterischen“ Verhaltensweisen mit Aggravation, Konversion, dramatischer Überzeichnung und appellativem Verhalten kommen kann. Narzisstische Persönlichkeitsstörung z Historie. Die Narzissmuslehren gingen von der Psychoanalyse aus und waren anfangs eng mit der Vorstellung von sog. frühen oder präödipalen Störungen der Ich-Entwicklung verbunden. Später erfolgte durch Hartmann (1972), Kohut (1977) und Kernberg (1976) eine Weiterentwicklung im Lichte von Objekt-Beziehungs-Theorien, die schließlich in das Konzept der narzisstischen Persönlichkeitsstörung einmündeten, wie es 1980 erstmals im DSM-III aufgenommen wurde. Allerdings haben sich in verschiedenen Untersuchungen nur unbefriedigende Reliabilitätswerte ergeben (vgl. Gunderson et al. 1991), so dass diese Persönlichkeitsstörung bislang auch nicht offiziell in der ICD-10 eingeführt, sondern lediglich im Anhang genannt wird. Dennoch ist in den letzten Jahren mit Hilfe von standardisierten Untersuchungsinstrumenten eine bessere Reliabilität erreicht worden (vgl. Cooper u. Ronningstam 1992), so dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung auch im DSM-IV weiter enthalten ist. z Deskription. Im DSM-IV beschreibt das Konzept der narzisstischen Persönlichkeitsstörung Menschen, die vor dem Hintergrund eines brüchigen Selbstwertgefühls auf der einen Seite in Phantasie und Verhalten zu Großartigkeit, Überlegenheitsgefühlen und Verachtung anderer tendieren, auf der anderen Seite aber in hohem Maße kränkbar, dünnhäutig und überempfindlich gegenüber der Einschätzung durch andere sind. Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung neigen dazu, andere unbewusst auszubeuten, wobei sie glauben, dass ihnen aufgrund ihrer besonderen Qualitäten und Fähigkeiten auch eine besondere Behandlung zusteht. Es bestehen eine hohe Anspruchshaltung, ein Mangel an Empathie und ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Bewunderung. Zur Symptomatik gehören weiterhin Gefühle von Leere und Sinnlosigkeit, Verunsicherung des Identitätsgefühls und Misstrauen. Bei deutlich erhöhter Selbstwahrnehmung und Egozentrizität dominiert soziales Unbehagen mit Angst vor negativer Beurteilung. Ein besonderes Problem stellt die Neigung zu depressiven Krisen und entschlossener Suizidalität bei vermeintlicher Kränkung dar. Typische Denkmuster sind: „Niemand hat das Recht, mich zu kritisieren“, „Da ich anderen überlegen bin, habe ich das Recht auf besondere Be-
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handlung und Privilegien“, „Andere Menschen sollten glücklich sein, dass sie meine Bedürfnisse befriedigen dürfen“ (Beck u. Freeman 1993). z Differentialdiagnose. Zunächst ist zu unterscheiden, ob es sich bei den Gefühlen von Großartigkeit um Persönlichkeitseigenschaften handelt oder ob sie auf eine manische oder hypomane Episode oder auf Substanzkonsum zurückzuführen sind. Wenn Personen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung kritisiert oder unter Vorenthaltung der ihnen ihrer Meinung nach zustehenden Zuwendung oder Belohnung gekränkt werden, können depressive Verstimmungen auftreten, die das Ausmaß einer Episode einer Major Depression erreichen. Sofern deren Kriterien vollständig erfüllt sind, sind beide Diagnosen zu stellen. Wichtig sind die Überschneidungen mit anderen Persönlichkeitsstörungen, insbesondere denjenigen des Clusters B. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur histrionischen, antisozialen und Borderline-Persönlichkeitsstörung, zu deren Interaktionsstil ebenfalls Koketterie, Gefühlsarmut bzw. soziale Ansprüche gehören, ist das narzisstische Selbstgefühl von Großartigkeit. Unterschiedlich sind auch die relative Stabilität des Selbstbildes bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung sowie der weitgehende Mangel an Autodestruktivität, Impulsivität und der Sorge, verlassen zu werden, wie es für die Borderline-Persönlichkeitsstörung typisch ist. Menschen mit antisozialer und narzisstischer Persönlichkeitsstörung können sich darin ähneln, dass sie gefühlsarm, glatt, oberflächlich, ausbeuterisch und unempathisch sind, doch fehlen bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung in der Regel kurzschlüssiges Verhalten, Aggressivität und Täuschung.
Cluster C: Ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörungen Dieser Bereich ist forensisch weniger bedeutsam und wird daher knapper abgehandelt. z Vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung z Historie. In der deutschsprachigen Tradition gehen dem selbstunsicheren Typus von Millon die Beschreibungen des „sensitiven Charakters“ bei Kretschmer (1921) voraus, vor allem aber die des „selbstunsicheren Psychopathen“ bei Kurt Schneider (1923), der in der Nähe zum depressiven Typus steht. Die historischen Vorläufer von Millons Konzept der schizoiden und der vermeidenden Persönlichkeitsstörung bei Kretschmer haben Livesley et al. (1985) herausgearbeitet. z Deskription. Die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung zeichnet sich durch eine große Angst vor Zurückweisung und Ablehnung aus sowie durch ein ständiges Bemühen, unangenehme Gefühle und Situationen, in denen solche auftreten können, zu vermeiden. Trotz des großen
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Wunsches nach Zuwendung verhindern Personen mit vermeidend-selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung so das Anknüpfen sozialer Beziehungen; sie sind unsicher, schüchtern, angespannt und ängstlich. Ihre Minderwertigkeitsgefühle im sozialen Kontakt führen zu einer gravierenden Einschränkung der sozialen Kompetenz und Rollenerfüllung. Typische Denkmuster sind: „Ich sollte Situationen, in denen ich Aufmerksamkeit errege, aus dem Wege gehen oder möglichst unauffällig sein“, „Die unangenehmen Gefühle werden zunehmen und außer Kontrolle geraten“, „Es wäre unerträglich, wenn man meine Unsicherheit bloßlegen würde“ (Beck u. Freeman 1993). K. Schneider (1923) beschrieb, wie Menschen mit mangelndem Selbstvertrauen aus innerer Unsicherheit heraus nach außen krampfhaft ausgeglichen oder mit einem allzu sicheren Auftreten oder auffallendem Äußeren in Erscheinung treten, aber dennoch ständig mit einem schlechten Gewissen herumlaufen und bei allem, was missglückt, zunächst die Schuld bei sich suchen. Die maßlose Selbstkritik des ethischen Skrupulanten tritt auch beim sensitiven Typus von E. Kretschmer (1921) hervor, was bis zu paranoiden Entwicklungen führen kann. Auf dem Boden der übertriebenen Gewissenhaftigkeit und Reinlichkeit selbstunsicherer und sensitiver Menschen können nach K. Schneider Zwangsvorgänge entstehen, wie sie bei anankastischen Psychopathen charakteristisch sind und die manchmal blitzartig mit überfallender Angst und körperlichen Sensationen wie Schwindel oder Herzklopfen einhergehen. Die Zwangseinfälle dieser Menschen entspringen nach K. Schneider den Schuld- und Insuffizienzgefühlen infolge der Selbstunsicherheit. z Differentialdiagnose. Am stärksten ist die Ähnlichkeit dieser Persönlichkeitsstörung zur sozialen Phobie. Die Unterscheidung beruht letztlich auf den allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung, d. h. im Gegensatz zu einer Sozialphobie müssen die vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitszüge überdauernd seit dem frühen Erwachsenenalter bestehen, tiefgreifend sein und sich in unterschiedlichen Situationen manifestieren. In der Abgrenzung zur sozialen Phobie weisen Millon und Davis (1996) darauf hin, dass bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung vor allem die Ambivalenz des sozial aversiven Verhaltens eine Rolle spielt, ebenso das niedrige Selbstwertgefühl und der Wunsch nach sozialem Kontakt. Dagegen überwiegen bei Patienten mit sozialer Phobie das vermeidende Verhaltensmuster und eine starke Reaktion auf angstauslösende Reize. Für die Differentialdiagnose zu anderen Persönlichkeitsstörungen ist vor allem die dependente Persönlichkeitsstörung zu berücksichtigen, die ebenfalls im „asthenischen“ Cluster C angesiedelt ist. Gemeinsam sind Insuffizienzgefühle, Überempfindlichkeit gegenüber Kritik und Bedürfnis nach Bestätigung, doch liegt bei der vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung das Hauptinteresse darin, Erniedrigung und Zurückweisung zu vermeiden, während die dependente Persönlichkeitsstörung sich vor allem durch das Bedürfnis nach Umsorgtwerden auszeichnet.
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z Dependente Persönlichkeitsstörung z Historie. Eine Beschreibung von Menschen mit Zügen von Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Willensschwäche und Anlehnungsbedürfnis an andere Personen war zwar in den Darstellungen abnormer Persönlichkeiten schon im vorigen Jahrhundert enthalten, doch wurde kein gesonderter Typus daraus geformt. Anklänge an die heutige Persönlichkeitsstörung finden sich bei den willenlosen, den haltschwachen, den selbstunsicheren und den asthenischen Psychopathen K. Schneiders (1923). z Deskription. Die dependente Persönlichkeitsstörung wird charakterisiert durch das übermächtige Gefühl, nicht zu eigenständiger Lebensführung in der Lage zu sein. Vor dem Hintergrund der Selbsteinschätzung als hilflos und schwach wird in allen Lebenssituationen Unterstützung durch andere, insbesondere den Partner, gesucht. Menschen mit einer dependenten Persönlichkeitsstörung sind kaum bereit, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. In Zweierbeziehungen steht eine ständige Angst vor Verlust und Alleingelassenwerden im Vordergrund, verbunden mit dem Bemühen um Anpassung und Nachgiebigkeit. Typische Denkmuster sind: „Ich bin hilflos, wenn ich mir selbst überlassen werde“, „Ich kann keine eigenen Entscheidungen treffen“, „Ich darf nichts tun, was meinen Unterstützer und Helfer kränken könnte“ (Beck u. Freeman 1993). Wichtige Komplikationen, die häufig den Anlass für einen therapeutischen Kontakt liefern, sind depressive Verstimmungen, wie sie meist bei drohenden oder eingetretenen Verlusterlebnissen auftreten, aber auch Angststörungen, die aus ähnlichen situativen Konstellationen heraus entstehen. Darüber hinaus werden häufig und vor allem bei Frauen somatische Beschwerden im Sinne von Konversionssymptomen, hypochondrischen Ängsten und Somatisierungssyndromen beobachtet. Wenn zur Entlastung Alkohol und andere psychotrope Substanzen eingesetzt werden, droht wegen der Neigung dieser Menschen zu passiver Konfliktvermeidung die Entwicklung von Abhängigkeit. Im Kontakt zeigen Menschen mit dependenter Persönlichkeitsstörung ein angepasstes, freundliches, submissives Verhalten, auch können sie mit beträchtlicher sozialer Gewandtheit Partnern, an die sie Anlehnung suchen, angenehme Gefühle von Bedeutung, Stärke und Überlegenheit vermitteln. z Differentialdiagnose. Schon bei der Konzeptentwicklung wurde immer wieder kritisiert, dass die Merkmale dependenter Menschen von bestimmten gesellschaftlichen Rollenerwartungen geprägt und spezifisch für das weibliche Geschlecht sind (Kaplan 1983). Insofern kann es bei der Diagnose der dependenten Persönlichkeitsstörung leicht zu geschlechtsspezifischen Beurteilungsfehlern kommen. Die Kriterien beschreiben eine unterwürfige Form der Abhängigkeit, die eher Frauen zugeordnet wird, während dominierende Formen der Abhängigkeit, wie sie bei Männern häufiger vorkom-
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men, seltener als störend bzw. pathologisch diagnostiziert werden, dies vor allem von männlichen Therapeuten. Die Differentialdiagnose der dependenten Persönlichkeitsstörung betrifft vor allem Abhängigkeitszustände, die Folge von affektiven Störungen, Panikstörung oder Agoraphobie sein können. Unterscheidungsmerkmale sind der frühe Beginn, der chronische Verlauf und ein Verhaltensmuster, das nicht auf Episoden der genannten Störungen beschränkt, sondern durchgängig während der gesamten Persönlichkeitsentwicklung beobachtbar ist. Abhängige Verhaltensweisen können auch bei anderen Persönlichkeitsstörungsformen auftreten, etwa bei histrionischen Menschen, die jedoch deutlicher dramatisierend, fordernd, selbstbezogen, schillernd und oberflächlich sind, während dependente Menschen gefügig und bescheiden auftreten. Auch bei vermeidend-selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung sind Insuffizienzgefühle, Überempfindlichkeit gegenüber Kritik und Bedürfnisse nach Schutz und Zuneigung vorhanden, doch fehlt die Bereitschaft der dependenten Menschen, sich vertrauensvoll in die Nähe anderer Menschen zu begeben und sich auf sie zu verlassen. Selbstunsichere Menschen neigen dagegen zu Rückzug und Vermeidung des Kontaktes. Bei Patienten mit Depressionen und Angststörungen wurde, sofern zusätzlich Persönlichkeitsstörungen vorlagen, häufig eine Kombination von dependenten und selbstunsicheren Zügen gesehen (Mavissakalian u. Hamman 1988). z Zwanghafte Persönlichkeitsstörung z Historie. Frühe Beschreibungen von zwanghaften Auffälligkeiten der Persönlichkeit finden sich bei Esquirol (1838), der im Rahmen der „Monomanie instinctive“ ein „Délire partiel“ kasuistisch darstellte. Bei Morel und Dagonet standen gestörte Emotionen und Impulse im Mittelpunkt ihrer Auffassung von Zwangsphänomenen (vgl. Berrios 1995), während in Deutschland Griesinger erstmals eine Fallgeschichte mit Zwangsphänomenen präsentierte und eine grundlegende Darstellung der „Zwangsvorstellungen“ dann 1877 durch Westphal erfolgte. K. Schneider (1923) ordnete die Zwangsvorgänge bei den anankastischen oder Zwangspsychopathen als Unterform der selbstunsicheren Psychopathen ein. Die Zwänge entspringen dem tiefgreifenden Insuffizienz- und Schuldgefühl dieser Menschen, die in der ständigen Angst leben, etwas versäumt oder Schlimmes angerichtet zu haben, wobei die einzelnen Phänomene stets tief mit den Strebungen und Wertungen in der Person und ihrer Lebensgeschichte im Zusammenhang zu sehen sind. In der Psychoanalyse bestanden seit Freuds grundlegender Arbeit über „Charakter und Analerotik“ (1908) enge Beziehungen bzw. Übergänge zwischen den Eigenschaften des „Analcharakters“ und der Zwangsneurose mit ausgeformten Zwangssymptomen. Ähnlich wurden unter psychopathologischer Perspektive zwanghafte Charaktermerkmale als eine prämorbide Persönlichkeitsstruktur angesehen, die bei Belastungen zu ausgeformten
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Zwangssymptomen und einer Zwangskrankheit fortschreiten könne (Weitbrecht 1963; Scharfetter 1976). z Deskription. Hauptmerkmale der zwanghaften Persönlichkeitsstörung sind Gewissenhaftigkeit, Perfektionismus, Unflexibilität, Solidität und Normentreue, die so überwertig sind, dass sowohl die berufliche Produktivität als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen darunter leiden. Strenge, Ernsthaftigkeit und Rigidität kennzeichnen nicht nur den Umgang mit sich selbst, sondern auch mit anderen Menschen. Die starren, moralisch anspruchsvollen und prinzipientreuen Verhaltensmuster werden eigensinnig vertreten und den relevanten Bezugspersonen aufgenötigt. Gefühle, sowohl eigene als auch die anderer Menschen, Humor und Freude erscheinen suspekt und bedrohlich. Der Mensch, das Leben und die Welt werden negativ gesehen, der Sinn des Daseins liegt in Mühe, Anstrengung und Pflichterfüllung. Typische Denkmuster sind: „Wenn ich mich nicht 100%ig an meine Prinzipien halte, versinke ich im Chaos“, „Die Welt ist schmutzig und konfus, nur bei mir ist es sauber und ordentlich“, „Ich muss meine Gefühle vollkommen unter Kontrolle haben“ (Beck u. Freeman 1993). Im Grunde entsprechen die Eigenschaften zwanghafter Persönlichkeiten, etwa Ordnungsliebe, Ausdauer, Pünktlichkeit und Sparsamkeit, zumeist gesellschaftlich erwünschten Tugenden, die jedoch in ihrer Übersteigerung zu Beeinträchtigungen führen. Dies ist der Fall, wenn Ängstlichkeit, Skrupelhaftigkeit, Entscheidungsschwäche, peinliche Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit sowie die Unfähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, die Erfüllung sozialer Rollen behindern. Auch eine übertriebene Vorsicht als Ausdruck von Entschlussunfähigkeit und Angst vor der Verantwortung lässt das soziale Handeln unsicher werden. z Differentialdiagnose. Die wichtigste differentialdiagnostische Überlegung betrifft die Unterscheidung von der Zwangsstörung, auf die in den modernen Klassifikationssystemen im Gegensatz zu den eingangs genannten Auffassungen der psychoanalytischen und psychiatrischen Schulen großer Wert gelegt wird. Beiden Störungen gemeinsam sind die Neigung zu Ritualen, die mangelnde Flexibilität des Verhaltens, das Defizit in der Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden sowie die Einschränkung des emotionalen Ausdruckes. Es gibt Hinweise, dass unter schweren Belastungen einzelne Symptome der zwanghaften Persönlichkeit „aus den Fugen“ geraten und in eine Zwangsstörung münden, ähnlich wie es schon K. Schneider (1923) beschrieb. Allerdings finden sich bei Patienten mit einer Zwangsstörung nicht unbedingt zwanghafte Persönlichkeitszüge, sondern ebenso häufig Selbstunsicherheit und Angst vor Kritik oder Strafe. Besonders wichtig sind wechselseitige Beziehungen zwischen der zwanghaften Persönlichkeitsstörung und depressiven Störungen. Das negative Welt- und Menschenbild und die damit verbundene Armut an Lebensfreu-
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de tragen dazu bei, dass sich vor allem in Belastungssituationen Verstimmungen entwickeln können. Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung zeigt zudem Überschneidungen mit Tellenbachs „Typus melancholicus“, der sich bei ca. 50% endogen depressiver Patienten findet (Tellenbach 1961; v. Zerssen 1976). Dieser ist charakterisiert durch Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewusstsein, Streben nach Vollkommenheit; seine zwischenmenschlichen Beziehungen zeichnen sich durch Harmoniebedürfnis und Einordnung aus und ähneln neben zwanghaften auch dependenten Zügen. Persönlichkeitsimmanente zwanghafte Tendenzen können schließlich auch in Prodromalphasen schizophrener Syndrome als Versuch zur Abwehr psychotischer Verhaltensdesintegration fungieren (Lang 1981).
1.4.7.8 Schlussbemerkung Resümierend muss noch einmal auf die Sonderstellung der Persönlichkeitsstörungen in der psychiatrischen Nosologie hingewiesen werden. Persönlichkeitsstörungen sind konzeptionell angesiedelt im Übergangsbereich zwischen Normalität und eindeutiger psychiatrischer Erkrankung. Die Heraushebung der Persönlichkeitsstörungen als diagnostische Gruppe, die in DSM-III/DSM-IV auf Achse 2 kodiert wird, hat die Aufmerksamkeit für diesen Übergangsbereich erhöht. Im Rahmen der Diagnostikforschung, die bei der Entwicklung der operationalisierten Klassifikationssysteme erfolgt ist, konnten Reliabilität und Validität bei der Erfassung von Persönlichkeitsstörungen wesentlich verbessert werden. Allerdings muss gerade in forensischem Kontext darauf hingewiesen werden, dass – im Unterschied zu psychiatrischen Erkrankungen im engeren Sinne – mit der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung nicht unbedingt ein krankheitswertiger Zustand konstatiert ist. Auch muss auf die allgemeinen diagnostischen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung hingewiesen werden, um eine zu häufige Diagnosestellung zu vermeiden. DSM-IV-TR nennt unter den allgemeinen Kriterien: (A) ein überdauerndes Muster, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht, (B) dieses überdauernde Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem breiten Bereich persönlicher sozialer Situation, (C) es führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialem, beruflichem oder anderen wichtigen Funktionsbereichen, (D) das Muster ist stabil und lang dauernd mit Beginn in Adoleszenz oder frühem Erwachsenenalter, (E) das überdauernde Muster lässt sich nicht besser als Manifestation einer anderen psychischen Störung erklären, (F) es geht auch nicht auf den Einfluss psychotroper Substanzen oder einer medizinischen Erkrankung wie z. B. Hirnverletzungen zurück.
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Bei sorgfältiger Beachtung dieser allgemeinen diagnostischen Kriterien wird selbst beim Vorkommen auffälliger Persönlichkeitsmerkmale die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Sinne der operationalisierten Klassifikationssysteme sicherlich seltener gestellt werden. Erinnert sei auch an den Warnhinweis in DSM-IV-TR, dass mit der Aufnahme einer bestimmten psychischen Störung in die Klassifikationssysteme noch keinerlei Aussagen über die Bedeutung in bestimmten administrativen, sozialrechtlichen oder strafrechtlichen Zusammenhängen getroffen sind. Zuletzt sei erwähnt, dass auch bei deutlichem Vorliegen auffälliger Persönlichkeitsmerkmale zuweilen die in den Klassifikationssystemen genannte Schwelle verfehlt wird. Hierfür gibt es die Kategorie der „kombinierten Persönlichkeitsstörung“ gemäß ICD-10 bzw. der „nicht näher bezeichneten Persönlichkeitsstörung“ gemäß DSM-IV-TR. Dort sind Störungen der Persönlichkeitsfunktionen zu nennen, die nicht den Kriterien einer spezifischen Persönlichkeitsstörung entsprechen, etwa wenn einzelne Merkmale von mehr als einer spezifischen Persönlichkeitsstörung vorhanden sind („gemischte Persönlichkeit“).
1.4.8 Entwicklungsstörungen Dieses Gebiet fällt zunächst in den Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, da die angebrochenen und früh erworbenen Beeinträchtigungen der allgemeinen geistigen Entwicklung natürlich schon im Kindes- und Jugendalter in Erscheinung treten und fördernde wie stützende Interventionen erforderlich machen. Die Intelligenzminderung im Sinne von ICD-10 ist definiert als eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z. B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fertigkeiten. Hingewiesen wird darauf, dass das Anpassungsverhalten stets beeinträchtigt ist, wobei aber bei Personen mit leichter Intelligenzminderung bei Aufwachsen in geschützter Umgebung mit Unterstützungsmöglichkeiten eine solche Anpassungsstörung nicht auffällig sein muss. Insgesamt wird die Zahl der geistig behinderten Menschen in Deutschland auf etwa 400 000 geschätzt, dies macht etwas 0,5% der Bevölkerung aus. In epidemiologischen Untersuchungen zeigten sich bei etwa 30% der geistig behinderten Kinder und Jugendlichen mit einem IQ unter 60 neben der Intelligenzminderung auch ausgeprägte Verhaltensstörungen. Darüber hinaus ist die Persönlichkeit von Menschen mit geistiger Behinderung in aller Regel wenig differenziert. Schwierige und im Sozialkontakt störende Persönlichkeitszüge der meist durch Unreife gekennzeichneten Menschen sind emotionale Instabilität, Impulsivität und ängstliche Verhaltensauffälligkeiten. Darüber hinaus ist die Prävalenzrate für psychische Störungen bei intelligenzgeminderten Personen mindestens drei- bis viermal so hoch als in der Allgemeinbevölkerung. Dabei zeigt sich unter Berücksichtigung des Schweregrades der Intelligenzminderung, dass schizophrene und affektive
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Erkrankungen sowie neurotische Symptome mit stärkerer Ausprägung der Behinderung abnehmen, während autistische Störungen und allgemeine Verhaltensauffälligkeiten im sozialen Kontakt zunehmen. Von den geistig behinderten Erwachsenen weisen knapp 30% psychische Störungen auf. Die meisten geistig Behinderten benötigen bei leichter und mittelschwerer Ausprägung ambulante heilpädagogische Förderung, in schweren Fällen ist Heimunterbringung erforderlich.
1.4.9 Intelligenzminderung Die Intelligenz eines Menschen wird am besten in Bezug auf bestimmte Leistungen eingeschätzt, etwa Merkfähigkeit, Gedächtnis, Kognition, Sprache, Konzentrationsvermögen oder motorische und soziale Fertigkeiten. Die Einteilung in die verschiedenen Unterformen der Intelligenzminderung geschieht durch IQ-Werte, die durch standardisierte, transkulturell unterschiedliche Intelligenztests individuell bestimmt werden. Diese Werte sind lediglich als Richtschnur geeignet und stellen eine arbitrarische Einteilung eines kontinuierlichen Übergangsbereiches mit unterschiedlichsten Formen der Intelligenzminderung und den damit verbundenen Auswirkungen dar. Als psychometrische Messverfahren sind der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest oder der Raven-Test am gebräuchlichsten. Dabei geht es um einen Vergleich des jeweils in einem Leistungstest erzielten Ergebnisses mit den Durchschnittswerten einer gleichaltrigen Population, wobei eine Intelligenz von 100 als Durchschnitt angesehen wird. Die verschiedenen Grade von Intelligenzminderung werden in 4 Stufen eingeteilt: z die leichtere Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung mit einem IQ von 50 bis 69 entspricht den früheren Begriffen der leichten Oligophrenie bzw. Debilität, z die mittelgradige Beeinträchtigung mit einem IQ von 35 bis 49 entspricht der mittelgradigen Oligophrenie bzw. Imbezillität, z die ausgeprägte Form mit einem IQ von 20 bis 34 entspricht der schweren Oligophrenie, z die hochgradige Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung schließlich mit einem IQ unter 20 bis 25 wurde früher als schwerste Oligophrenie bzw. Idiotie bezeichnet. In forensischer Hinsicht lassen sich die Einteilungen der verschiedenen Schweregrade von Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung nicht ohne Weiteres mit den rechtlichen Konsequenzen etwa im Hinblick auf die Schuldfähigkeitsfrage in Beziehung setzen. Weniger wichtig als ein rechnerisch zu ermittelnder Intelligenzquotient ist der Grad der praktischen Intelligenz, die sich aus der Beobachtung des biographischen Werdeganges, der sozialen Beziehungen und der im Alltagsleben gezeigten Fertigkeiten ergibt (vgl. Kap. 3.3).
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Die forensische Analyse der Intelligenzfunktionen und ihrer Auswirkungen auf die geistige Entwicklung erfordert zumeist die Durchführung einer differenzierten testpsychologischen Zusatzdiagnostik. Darüber hinaus wird die forensische Beurteilung sich an der Lebensfähigkeit, dem Grad der Selbstständigkeit und den erreichbaren Fertigkeiten im Alltag orientieren. Für den Erfolg in den verschiedenen Lebensbereichen ist nicht nur das Niveau der Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung maßgeblich, sondern es kommt vor allem auf die (heil-)pädagogische Förderung, die Unterstützung und Anleitung in der Kindheit und Jugend der Betroffenen durch Familie, Schule und soziale Institutionen an. In einer allgemeinen Annährung lässt sich sagen, dass leicht minderbegabte Personen sich zumeist im Alltag selbst versorgen und unter geeigneter Anleitung einfache Tätigkeiten ausüben können. Dagegen sind sie dem Wettbewerb und den Anforderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt meist nicht gewachsen. Die Sprache wird meist verzögert erlernt, und es bleibt in der Regel bei einfachen sprachlichen Fertigkeiten. Ein Hauptschulabschluss wird eher selten und nur bei besonderer Förderung möglich sein. Mittelgradige Beeinträchtigungen der Intelligenz haben meist zur Folge, dass die Betroffenen nicht selbstständig leben können. Sie sind auf die Unterbringung in einer geschützten Einrichtung angewiesen und können nur einfachsten Tätigkeiten im Sinne einer Beschäftigungstherapie nachgehen. Die eigenständige Versorgung im Sinne des Umganges mit Geld, Einkaufen und Kochen ist ihnen nicht möglich, doch können sie selbstständig essen, sich ankleiden und für ihre Hygiene sorgen. Bei der ausgeprägten und bei der hochgradigen Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung ist eine Heimunterbringung in Einrichtungen für geistig behinderte Menschen mit ständiger Aufsicht und Unterstützung bei allen Vorrichtungen erforderlich.
1.4.10 Sonstige Störungsbilder Immer wieder treten, den jeweiligen Forschungsinteressen, zuweilen aber auch modischen Zeitströmungen folgend, einige Störungsbilder vermehrt in den Vordergrund. Manchmal handelt es sich dabei lediglich um Umbenennungen bei leichten inhaltlichen Akzentverschiebungen von im Grunde altbekannten Konzepten. Beispiele sind die Neurasthenie, das Burnout-Syndrom, das Chronic Fatigue Syndrome oder auch die Fibromyalgie. Immer wieder kommt es auch zu einer speziellen Beachtung einzelner, für die Öffentlichkeit besonders interessanter Bilder, etwa dem zweitweise inflationär gewordenen Syndrom der sogenannten multiplen Persönlichkeit. Auch die Borderline-Problematik hatte vor einigen Jahren einen Höhepunkt in der wissenschaftlichen wie klinischen Wahrnehmung. Inzwischen wird sie in dieser Funktion vielerorts von der posttraumatischen Stresserkrankung abgelöst. Weitere Interessensschwerpunkte werden folgen. Die forensische Psychiatrie tut gut daran, es bei nüchterner Analyse der empirisch feststellbaren Befunde zu belassen und sich gegen zwar interessante, aber auch
1.4 Psychiatrische Krankheitsbilder
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spekulative und manchmal von Spezialinteressen geleitete Theoriebildungen abzugrenzen. Zwei Beispiele seien pars pro toto genannt.
Burnout Einen häufig benutzten, wenn auch unscharf definierten Begriff stellt das Burnout-Syndrom dar, das „Ausbrennen“ am Arbeitsplatz. Gemeint sind Erschöpfungs- und ängstlich depressive Zustände bei berufstätigen Personen, die nicht unter einer psychischen Erkrankung leiden und vor Auftreten des Burnout-Zustandes in der Regel erfolgreich tätig waren. Vor allem die Kombination aus Überlastung, Mangel an Autonomie, mangelnder Anerkennung in der Bezugsgruppe sowie gravierende oder gar unlösbare Wertekonflikte können zur Entstehung dieses Zustandsbildes beitragen. Es bestehen signifikante Überlappungsbereiche zwischen dem Burnout-Zustand und depressiven Störungen, hingegen sind diese beiden Konzepte nicht identisch. Eine klare Assoziation mit depressiven Störungen wird umso häufiger auftreten, je schwerer das Burnout-Syndrom ausgeprägt ist. Eine interessante Sonderform stellt die in letzter Zeit herausgestellte „Verbitterungsstörung“ dar (Linden 2004). Wie bei den meisten kritischen Zuspitzungen im psychischen Bereich handelt es sich beim Burnout-Prozess um ein Kontinuum. Dieses beginnt bei starker beruflicher Belastung mit eher gesteigertem Einsatz, dann zeigen sich erste Erschöpfungssymptome, und schließlich entwickelt sich ein reduziertes Engagement und – vor allem bei mangelnder positiver Rückmeldung – starke emotionale Reaktionen wie Pessimismus, Leere oder gar Hoffnungslosigkeit. Motivation und Kreativität nehmen ab, die emotionale Beteiligung an den beruflichen, später auch persönlichen Vorgängen kann schwinden, und es kommt in manchen Fällen sogar zu depressiv-verzweifelten Zustandsbildern bis hin zu Suizidalität. Ebenfalls häufig vergesellschaftet mit Burnout-Zuständen sind verschiedene somatische Symptome wie Schmerzen, muskuläre Verspannungen, veränderte Essgewohnheiten. Auch ist schädlicher Substanzgebrauch häufig. Sowohl die Feststellung eines Burnout-Zustandes als auch seine differentialdiagnostische Abgrenzung vorwiegend von depressiven Erkrankungen und natürlich die therapeutischen Optionen sollten Gegenstand einer differenzierten Diagnostik sein.
Stalking Unter Stalking versteht man ein kontinuierliches und zunehmend belästigendes bis beunruhigendes Nachstellen einer bestimmten Person. Zwar ist dieses Phänomen nicht neu, jedoch ist es in den vergangenen Jahren zunehmend Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen geworden und hat viel öffentliches Interesse auf sich gezogen, auch im Zusammenhang mit Begutachtungsfällen. Durch das Strafrechtsänderungsgesetz vom
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22. 3. 2007 wurde das Stalking im Sinne der Nachstellung in § 238 StGB gesondert unter Strafe gestellt. Es gibt zahlreiche Gründe, warum jemand beginnt, eine andere Person in ihrer Privatsphäre zu stören, ihr nachzustellen, sie ständig anzurufen oder anzuschreiben oder über Dritte zu versuchen, mit ihr in Kontakt zu treten. In extremen Fällen kann sich aus diesem Fehlverhalten eine explizite Bedrohung bis hin zu Gewaltdelikten ergeben. Die psychopathologischen Konstellationen im Falle von Stalking-Verhalten sind außerordentlich heterogen: Häufig sucht der Stalker oder die Stalkerin unbedingt die persönliche und auch körperliche Nähe der anderen Person. Dies wäre unter Einhaltung normaler sozialer Regeln kaum möglich, vor allem bei Stalking gegen prominente Personen. Stalking kommt auch vor auf dem Hintergrund ungelöster früherer oder aktueller Konflikte, etwa im Rahmen einer Partnerschaft. Auch psychotische Menschen können, zum Beispiel bei paranoider Verkennung oder starkem Misstrauen, Stalking-Verhalten entwickeln. Insgesamt handelt es sich hier zunächst einmal um ein auffälliges Sozialverhalten, das in sich keine eigene psychiatrische Krankheitseinheit darstellt, sondern in jedem Einzelfall einer sorgfältigen psychopathologischen Untersuchung und allenfalls Begutachtung bedarf. Vorschläge zur Begutachtung von Schuldfähigkeit und Prognose bei Stalking-Fällen haben Dressing et al. (2007) vorgelegt und dabei auch eine typologische Gliederung von Stalking-Konstellationen vorgenommen. Mit Spezialfragen wie Psychiatern als Opfer von Stalkern haben sich Borski et al. (2005) oder Krammer et al. (2007) befasst, mit den Missbrauchsmöglichkeiten des Internets für Nachstellungen im Sinne des Cyber-Stalking Dressing et al. (2009). Immer noch gültig scheinen allerdings die Ausführungen von Habermeyer und Hoff (2002), wonach Stalking eine zwar populäre, aber zumindest in forensisch-psychiatrischer Sicht nur eingeschränkt verwertbare Konzeption sozial störender Verhaltensweisen darstellt. Wesentlich erscheint, dass hier wie bei anderen durch Modeströmungen und Zeitgeist vorübergehend ins öffentliche wie ins Medieninteresse gerückten Störungsbildern eine genaue Analyse der psychopathologischen Hintergründe, der Einbettung in andere psychische Erkrankungen oder in eine spezifische Persönlichkeitsproblematik vorgenommen wird. Dabei spielen vor allem die Zusammenhänge von Stalking-Verhalten mit Zügen akzentuierter Persönlichkeit eine Rolle, etwa narzisstischer, paranoider und egozentrischer Prägung. Darüber hinaus kann es fließende Übergänge zu wahnhaften Störungen im Sinne des sensitiven Beziehungswahnes oder des Liebeswahnes geben, die nach den üblichen psychopathologischen Kriterien zu analysieren sind.
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Zusammenfassung
Seit je haben konzeptuelle und empirische Aspekte der Psychopathologie eine markante Rolle im Kontext der forensischen Psychiatrie gespielt. Allerdings ist der Einfluss der Psychopathologie in den letzten Jahrzehnten vor allem auf dem Hintergrund der rasanten Entwicklung der neurowissenschaftlichen Forschung gesunken oder wurde von manchen gänzlich in Frage gestellt. Der vorliegende Beitrag versucht, diesem komplexen Spannungsfeld gerecht zu werden und zu begründen, warum psychopathologische Grundlagen für die forensische Psychiatrie auch weiterhin nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig sind. Dabei wird die psychopathologische Ebene keineswegs als Gegenposition zur neurowissenschaftlichen verstanden, sondern, ganz im Gegenteil, als offener theoretischer Rahmen und reflektierende Grundlage. Freilich führt dies zu einem deutlich breiteren Verständnis von Psychopathologie, als dies ihre immer wieder zu beobachtende Reduzierung auf die Definition und klinische Erfassung einzelner Symptome nahelegt. Auch in Zukunft bleibt die forensische Psychiatrie eine in wissenschaftlicher wie praktischer Hinsicht besonders herausfordernde Teildisziplin der Psychiatrie. Dies liegt zum einen daran, dass sie sich notwendigerweise in einem komplexen Schnittstellenbereich bewegt, der von wissenschaftlichen, klinisch-pragmatischen, ethischen und, nicht zuletzt, politischen Argumenten und Interessen geprägt wird. Dadurch steht sie unter besonderer Beobachtung der jeweiligen Spezialisten und der Öffentlichkeit. Zum anderen stellen sich bestimmte psychiatrische Grundsatzfragen, etwa zum Krankheitsbegriff oder zum Status der personalen Autonomie, im forensisch-psychiatrischen Kontext oft mit besonderer Schärfe. Nimmt sich die forensische Psychiatrie dieser Themen zukünftig verstärkt an und nutzt sie dabei konsequent die psychopathologische Perspektive, so könnte sie, quasi als pars pro toto, beispielhaft wirken für die ebenso nötige theoretische Reflexion im Gesamtgebiet der Psychiatrie.
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2 Praxis der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung
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Die psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren H.-L. Kröber
2.1.1 Gegenstandsgebiet der forensischen Psychiatrie Forensische Psychiatrie lebt von der unmittelbaren Begegnung mit besonderen Menschen, die bestimmten sozialen Erwartungen und Erfordernissen nicht (mehr) genügen: die nicht mehr arbeiten können, keine wirksamen Verträge schließen können oder eine rechtswidrige Tat begangen haben. Forensische Psychiatrie findet statt als intensive persönliche Untersuchung und Begutachtung, sie findet statt als Behandlung dieser Menschen in Kliniken und Ambulanzen und schließlich auch als theoretische und klinische Forschung. Als wissenschaftliche Disziplin befasst sie sich mit der Sichtung, Auswertung und Darstellung der Erfahrung aus dieser psychiatrischen Begutachtungs- und Forschungstätigkeit, die sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt und zu einem großen Bestand an empirischem Wissen geführt hat. Dies geschieht im Abgleich mit den Erfahrungen und Erkenntnissen der allgemeinen Psychiatrie und der Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch der kriminologischen Forschung. Wichtige Kenntnisse und Konzepte waren aus der Entwicklungspsychologie, der Rechtspsychologie, der Persönlichkeitsund Sozialpsychologie und weiteren Bereichen der Psychologie zu gewinnen, großen Einfluss haben die empirische Sozialforschung und weitere Gegenstandsgebiete der der Soziologie. Das jeweils geltende Öffentliche, Zivilund Strafrecht hat die notwendigen Rahmenbedingungen und Fragestellungen geliefert. Forensische Psychiatrie ist in besonderer Weise auf Interdisziplinarität angelegt und steht im regen Gedankenaustausch mit Juristen, Kriminologen und Kriminalisten, Psychologen, Sozialwissenschaftlern, aber auch Rechtsmedizinern, Neurologen und Neurobiologen. Forensische Psychiatrie ist, wie es in der Einleitung zu Band 1 dieses Handbuchs heißt, aber stets gleichermaßen Medizin, nämlich ein Teilgebiet der klinischen Psychiatrie, und empirische Sozialwissenschaft. Es geht um die grundlegende Abklärung der Bedeutung von psychischer Verfassung, Persönlichkeit und psychischer Krankheit für die Bewährung des Einzelnen in der Begegnung mit den anderen und mit den sozialen Anforderungen und Regeln. Dies beginnt bei zivil- und sozialrechtlichen Fragen wie Ar-
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2 Praxis der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung
beits- und Erwerbsfähigkeit und reicht bis zur Gefährlichkeitsprognose. Von besonderer Bedeutung für das Fach ist das Strafrecht im Hinblick auf Strafverfolgung, Begutachtung, Intervention und Prävention. Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin, das man im Anschluss an das Medizinstudium in einer zumindest fünfjährigen Weiterbildung erlernt. Anschließend kann man in dreijähriger Weiterbildung und mit einem Kompetenznachweis die Schwerpunktbezeichnung „Forensische Psychiatrie“ der Ärztekammern und das Zertifikat „Forensische Psychiatrie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) erwerben. Das eingrenzende Adjektiv „forensisch“ leitet sich ab von „forum“, dem Marktplatz, auf dem einst öffentlich Rechtsstreitigkeiten ausgetragen wurden. Die Maßnahmen zur Qualitätssicherung in der forensischen Psychiatrie sowie die ethischen Aspekte wurden im Einleitungskapitel von Band 1 dargestellt. Die forensisch-psychiatrische Begutachtung im Einzelfall ist sicherlich der Kernbereich des Faches, und die Regeln dieser Begutachtungstätigkeit im strafrechtlichen Kontext sowie ihre wissenschaftliche Begründung bilden das Schwerpunktthema dieses zweiten Bandes unseres Handbuchs.
2.1.2 Zweischrittige Beurteilung von „Fähigkeiten“ Das juristische Vokabular in verschiedenen Rechtsgebieten verwendet oft den Begriff „Fähigkeit“. So gibt es – in den diversen Gesetzbüchern und juristischen Entscheidungen – Arbeitsfähigkeit, Erwerbsfähigkeit, Berufsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Prozessfähigkeit, Testierfähigkeit, Einwilligungsfähigkeit, Vernehmungsfähigkeit, Verhandlungsfähigkeit, Zurechnungsfähigkeit und Schuldfähigkeit. Es ist ganz entscheidend, sich dessen bewusst zu bleiben, dass es sich hier stets exklusiv um Rechtsbegriffe handelt, nicht jedoch um natürliche oder biologische Eigenschaften eines Menschen. Eine natürliche Eigenschaft wäre die Hörfähigkeit oder die Zeugungsfähigkeit; eine natürliche Eigenschaft kann man nicht per Gesetzesänderung erhalten oder verlieren. Dies gilt jedoch für alle juristischen „Fähigkeiten“: bei ihnen handelt es sich um Zuschreibungen, die unter bestimmten juristischen Voraussetzungen automatisch eintreten (z. B. in der mitternächtlichen Sekunde, in der man 14 oder 18 Jahre alt wird) und bestehen, solange sie nicht durch eine juristische Entscheidung aufgehoben oder eingeschränkt sind. Ausgangspunkt der erfahrungswissenschaftlichen Begutachtungstätigkeit – zumeist durch Mediziner oder Psychologen – ist häufig die Frage, ob eine juristisch vorausgesetzte „Fähigkeit“ im konkreten Einzelfall fairerweise nicht angenommen, nicht zugeschrieben werden kann, verkürzt gesprochen: ob sie nicht vorliegt. Bei allen psychiatrischen Gutachten mit rechtlichen Fragestellungen ist ein zweischrittiges Verfahren obligatorisch:
2.1 Die psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren
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1. Es muss gezielt geprüft werden, ob eine psychische Störung vorliegt und wie diese in psychiatrischer Diagnostik zu benennen ist. 2. Ausgehend von Diagnose und Befund muss geprüft werden, wie sich diese Störung auf die jeweils nachgefragte, juristisch definierte „Fähigkeit“ auswirkt. Dieses zweischrittige Verfahren gilt grundsätzlich gleichermaßen für die Begutachtung im Sozial- und Privatrecht, im Zivilrecht für die verschiedenen Aspekte der Geschäftsfähigkeit und für strafrechtliche Fragen wie Strafreife, Schuldfähigkeit oder auch die Aussagetüchtigkeit psychisch Kranker. Ein weiterer, quantitativ umfänglicher Bereich ist die Beurteilung der Kraftfahreignung verhaltensauffälliger oder psychisch gestörter Personen; hier ist ebenfalls in diesem Sinne zweischrittig zu verfahren. z Der erste Schritt verbleibt im rein erfahrungswissenschaftlichen Bereich; die Suchrichtung allerdings ist vorgegeben durch die juristische Fragestellung. Er beinhaltet zunächst die Auswertung der vorhandenen Akteninformationen daraufhin, welche Informationen bereits vorliegen. Aus diesen lassen sich erste Arbeitshypothesen ableiten, die dann Schritt für Schritt geprüft und eingeengt werden (im Sinne des in Kap. 2.2 erläuterten „hypothesenprüfenden Verfahrens“). Eine ärztliche oder psychiatrische Untersuchung ist nie ein großer, ungerichteter Rundumschlag, sondern stets eine gezielte Suche, die sich vorab eingrenzen lässt durch die Informationen über Beschwerden und Symptome, über bestimmte Handlungsweisen, Zeugeneindrücke, und die eingegrenzt wird durch die juristische Fragestellung. Sollen z. B. die Voraussetzungen der Schuldfähigkeit geprüft werden, bedeutet dies stets eine Eingrenzung auf die vier Rechtsbegriffe der „krankhaften seelischen Störung“, der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“, des „Schwachsinns“ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“. Nicht selten lassen sich bereits relativ rasch einige dieser Optionen ausmustern (z. B. eine Intelligenzminderung, die dem „Schwachsinn“ zuzuordnen wäre). Gleichwohl bleibt die Optik der Befunderhebung initial weit; Fehleinschätzungen ergeben sich nicht selten daraus, dass eine vorschnelle Festlegung auf eine bestimmte Diagnose erfolgte und nicht alle Möglichkeiten, die überhaupt in Frage kommen, sorgsam exploriert und untersucht wurde. Fast stets erforderlich ist zumindest bei den klassischen strafrechtlichen Fragen eine umfassende psychiatrische Exploration einschließlich der medizinischen Anamnese. Zentral geht es zunächst um die Fragestellung, ob sich daraus Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung ergeben. Falls dies der Fall ist, gilt es diese Störung im Rahmen der Diagnose genauer zu klassifizieren, weil sich aus solchen differentialdiagnostischen Zuordnungen möglicherweise wichtige weitere Informationen über den Verlauf und die Beeinflussbarkeit der vorliegenden Störung ergeben. Die Befunderhebung wird also zusammengefasst in einer psychiatrischen Diagnose, die sich zum Zwecke der eindeutigen Verständigung an den aktuell gültigen Klassifikationsmanualen orientiert (ICD, DSM).
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Dem Gutachter muss, dem befassten Juristen sollte klar sein, dass diese Klassifikations- und Diagnosemanuale jeweils vorläufige und veränderliche Konventionen sind und dass eine psychiatrische Diagnose noch keine direkte Aussage über die Beeinträchtigung einer „Fähigkeit“ erlaubt. z Gerade deshalb ist der zweite Schritt der fallbezogenen konkreten Umsetzung des erhobenen Befundes auf die Beurteilung der jeweils fraglichen „Fähigkeit“ eine eigenständige und ebenso wichtige Aufgabe des Gutachters wie die Befunderhebung und Diagnosestellung. Dazu muss der Sachverständige ein korrektes Verständnis der juristischen Bedeutung der jeweils nachgefragten „Fähigkeit“ erworben haben; dies geschieht in der Ausbildung, durch Studium der Lehr- und Handbücher oder auch durch Nachfrage beim Auftraggeber. Diese „Fähigkeit“ (z. B. Schuldfähigkeit oder Geschäftsfähigkeit) ist im Gesetz in aller Regel nicht positiv definiert, sondern als gegeben unterstellt im für alle Erwachsenen anzunehmenden Normalfall. Dass von einer „Fähigkeit“ im konkreten Fall kein Gebrauch gemacht wurde, beweist nicht bereits deren Fehlen. Die Einschränkung oder Aufhebung der jeweiligen Fähigkeit ist zumeist durch einen knappen Gesetzestext definiert und in höchstrichterlichen Urteilen, die sich in der Kommentarliteratur finden, ausführlicher erläutert. Gerade weil der Sachverständige gleichsam als Dolmetscher zwischen der Sprache der Erfahrungswissenschaften wie Medizin und Psychologie einerseits und der Rechtswissenschaft andererseits vermitteln soll, obliegt es ihm, sich darüber klar zu werden, wie die in seinem Bereich wichtigen Rechtsbegriffe gemeint sind und angewendet werden. (Nicht minder wünschenswert ist es, dass auch die Strafrichter sich in dieser Mittlerrolle zwischen Erfahrungswissen(schaft) und Strafrecht sehen und sich entsprechend hinsichtlich psychiatrischer und psychologischer Begrifflichkeit eine angemessene Kennerschaft erwerben.) Gestützt auf eine gezielte Exploration und die Anwendung klinischen Wissens über typische Beeinträchtigungen beim jeweiligen Störungsbild sind also im zweiten Schritt Art und Ausmaß der Beeinträchtigungen im Hinblick auf die fragliche „Fähigkeit“ im Gutachten plastisch darzulegen.
2.1.3 Zweischrittige Prüfung der Schuldfähigkeit Etwa in zwei Prozent aller Straftaten wird im Rahmen des Strafverfahrens ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit beauftragt. Dieses soll klären, ob eine psychische Krankheit oder eine andere gravierende psychische Störung vorliegt, die Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB) haben könnte. Zugleich wird häufig nach den Voraussetzungen einer „Maßregel der Besserung und Sicherung“ gemäß den §§ 63, 64 und 66 StGB gefragt. Bei der Frage der Anordnung von freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – gesicherte Unterbringung in einer psychiatrischen Krankenanstalt, Unterbringung in einer Entziehungsanstalt oder Anordnung der Sicherungs-
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verwahrung – ist nach den gesetzlichen Vorgaben zwingend ein Sachverständiger zu hören. Ansonsten kommt es bei der Frage, ob ein Gutachter betraut wird, auf die eigene Sachkunde des Richters an. Für die Beurteilung der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB reicht diese nach der BGHRechtsprechung jedenfalls dann regelmäßig nicht mehr aus, wenn sich aufgrund von Auffälligkeiten oder gar Störungen Zweifel an der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergeben. Dann muss ein Sachverständiger hinzugezogen werden. Sachverständige sind Personen, die auf Grund besonderer Sachkenntnis über Tatsachen, Wahrnehmungen oder Erfahrungssätze Auskunft geben oder einen bestimmten Sachverhalt beurteilen können. Der Staatsanwalt oder der Richter hat die Tätigkeit des Sachverständigen zu leiten (§ 78 StPO). Das Gericht hat den Sachverständigen anzuleiten in dem, was er erforschen soll, nicht aber in der Arbeitsweise, wie er es erforschen soll: Diese muss der Sachverständige von sich aus in angemessener Weise beherrschen, wenn er sachverständig ist. Das Strafrecht unterstellt (siehe Bd. 1), dass jeder ab dem Alter von 14 Jahren im Grundsatz, ab dem Alter von 21 Jahren uneingeschränkt für sein soziales Tun verantwortlich ist, es sei denn, eine psychische Krankheit raube ihm gänzlich die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln. In solchen Fällen wird ein Straftäter exkulpiert, d. h. er handelt objektiv rechtswidrig, aber ohne individuell zurechenbare Schuld, es besteht Schuldunfähigkeit. Da wir kein Tat-, sondern ein Schuldstrafrecht haben, richtet sich die Strafe nicht primär nach der Schwere der rechtswidrigen Tat, sondern nach der Schwere der individuellen, ihm als Subjekt zurechenbaren Schuld des Täters. Die individuelle Schuldschwere kann gemindert sein, wenn die Schuldfähigkeit zwar nicht aufgehoben, aber doch erheblich beeinträchtigt war. Neben der Exkulpation wegen krankheitsbedingter Schuldunfähigkeit gibt es in Deutschland die Dekulpation, die Minderung der Schuldfähigkeit infolge einer psychischen Störung. Zwischen Dekulpation und Exkulpation besteht ein kategorialer Unterschied: Der vermindert Schuldfähige bleibt ein strafrechtlich verantwortlicher Mensch, die Zubilligung verminderter Schuldfähigkeit führt allein (wenn auch nicht zwingend) zu einer Herabsetzung des Strafmaßes; der Schuldunfähige hingegen ist freizusprechen. Die Dekulpation ist mithin eine unter mehreren Möglichkeiten, die Schuldschwere zu bestimmen, welche auch durch andere individuelle Faktoren vermindert werden kann (mildernde Umstände), die nicht in den §§ 20, 21 StGB genannt sind. Diese beiden Paragraphen des Strafgesetzbuches benennen allein die spezifisch psychiatrischen Gründe aufgehobener oder verminderter Schuldfähigkeit. Anders als andere Schuldminderungsgründe können sie aber zur Unterschreitung der Mindeststrafe führen, was insbesondere bei Mord (Unterschreitung der lebenslangen Strafe) und bei Raubdelikten (Unterschreitung der Mindeststrafe von 5 Jahren Freiheitsentziehung) relevant wird. Zudem kann nur gestützt auf die Zuerkennung von zumindest § 21 StGB die Maßregel der unbefristeten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verhängt werden.
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Die beiden entscheidenden Paragraphen des Strafgesetzbuches lauten: § 20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. § 21 StGB Verminderte Schuldfähigkeit Ist die Fähigkeit eines Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
z Die Schuldfähigkeitsbegutachtung hat in einem ersten Schritt des zweischrittigen Vorgehens zunächst durch eingehende Untersuchung festzustellen, ob bei dem Beschuldigten zum Zeitpunkt der Tat eine psychische Störung vorgelegen hat, die einem der in § 20 StGB genannten vier Rechtsbegriffe zuzuordnen ist. Es sind dies: – Krankhafte seelische Störung: Diesem Begriff zugeordnet werden psychotische Erkrankungen aus dem Spektrum der schizophrenen und schizoaffektiven Störungen, psychotische Residualsyndrome, akute typische depressive und bipolar manisch-depressive Störungen, hirnorganisch bedingte psychische Störungen, akute hirnorganische Störungen wie Intoxikationen, insbesondere akute Berauschung mit Alkohol, Drogen oder Medikamenten, des Weiteren schwere Angst- und Zwangskrankheiten. – Tiefgreifende Bewusstseinsstörung: Gemeint ist eine normalpsychologisch durch hochgradige affektive Erregung bedingte, massive Bewusstseinseinengung, wenn sie die Besinnungsfähigkeit und Handlungsfreiheit eines Menschen weitgehend einschränkt. – Schwachsinn: Diesem Begriff zugerechnet wird die angeborene intellektuelle Minderbegabung, in der Regel mit weitgehender Unfähigkeit zum Lesen und Schreiben oder zu basalen Rechenoperationen, die sich insbesondere in erheblichen lebenspraktischen Schwierigkeiten und dauerhafter Hilfsbedürftigkeit erweist. Testpsychologisch ist eine intellektuelle Leistungsfähigkeit im IQ-Bereich von unter ca. 70 gemeint. – Schwere andere seelische Abartigkeit: Gemeint sind schwere Persönlichkeitsstörungen, suchtbedingte Persönlichkeitsveränderungen, sexuelle Deviationen (sofern sie von pathologischer Bedeutung für die innerpsychische Balance eines Menschen sind), und auch intensive längerdauernde Anpassungsstörungen. Um deutlich bewusst zu halten, dass die vier Rechtsbegriffe nicht so etwas wie psychiatrische Diagnosen sind, keine psychopathologischen Zustände, sondern juristische Termini, sollte das Gutachten nicht davon sprechen, dass jemand zum Tatzeitpunkt „Schwachsinn“ gehabt habe, sondern dass eine Intelligenzminderung bestand, welche diesem Rechtsbegriff entspricht.
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Das Gutachten sollte nicht behaupten, die vorliegende Persönlichkeitsstörung „ist eine schwere seelische Abartigkeit“, sondern es sollte verdeutlichen, dass diese Persönlichkeitsstörung einen Zustand darstellt, den man diesem Rechtsbegriff zuordnen oder subsumieren kann. z Falls nun aber eine psychische Störung vorliegt, die nach Qualität und Intensität einer dieser vier „Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB“ entspricht, ist gutachterlich in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob eine relevante Kausalbeziehung zwischen der Störung und der konkret vorgeworfenen Tat besteht. Es geht um die Frage, ob die Störung zu einer Aufhebung (§ 20 StGB) oder aber zumindest erheblichen Beeinträchtigung (§ 21 StGB) der Einsichtsfähigkeit oder der Steuerungsfähigkeit (synonym: des Hemmungsvermögens) geführt hat. Einsichtsfähigkeit ist im Wesentlichen das kognitive Wissen, dass die Tat verboten ist; sie ist entweder vorhanden oder nicht vorhanden (also nicht „erheblich gemindert“) und auch bei psychotischen Tätern selten verloren. Wenn die Einsichtsfähigkeit aufgehoben war, erledigt sich die Frage nach der Steuerungsfähigkeit: „Einsichtsgemäßes Handeln“ ist logischerweise unmöglich, wenn gar keine Einsicht vorliegt. Formulierungen, wonach Einsichts- und Steuerungsfähigkeit aufgehoben gewesen seien, verweisen auf mangelnde Durchdringung des Problems und werden richterlich moniert. Höchstrichterlich nicht geduldet wird auch eine „erheblich verminderte Einsichtsfähigkeit“: Man will dann wissen, ob diese Fähigkeit im konkreten Fall ausgereicht hat oder nicht: entweder – oder. Hat sie nicht ausgereicht, gab es gar keine Einsicht. Hat sie ausgereicht, kann die Schuldfähigkeit nur gemindert sein, wenn die konsekutive Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Verhalten (Steuerungsfähigkeit) gemindert war. Tatsächlich ist in den meisten Fällen trotz psychischer Krankheit oder trotz starker geistiger Behinderung die Einsicht in das Verbotswidrige von Gewalt, sexuellem Übergriff oder Diebstahl nicht nennenswert beeinträchtigt; nicht erwartet wird vom Kranken oder auch gänzlich Gesunden, dass er eine überzeugende ethische Begründung für die verletzte Gesetzesnorm zu nennen vermag oder sich mit dieser identifiziert. Der Pädophile, der die sexuellen Schutzbestimmungen für Kinder als überflüssig ansieht, leidet keineswegs an einem Mangel an Einsichtsfähigkeit. Fehlende Einsichtsfähigkeit kann am ehesten dann angenommen werden, wenn krankheitsbedingt, vor allem infolge eines Wahns, die soziale Situation und die eigenen Handlungen darin in bizarrer Weise fehlbestimmt werden. In der praktischen Begutachtung geht es in aller Regel um die Steuerungsfähigkeit, also um die Frage, ob der Täter sein Handeln gemäß der Einsicht in das Verbotene seines Tuns bestimmen konnte. Diese Frage stellt sich aber nicht stets, sondern nur dann, wenn eine der vier Eingangsvoraussetzungen relevanter psychischer Störung erfüllt ist. Zur genauen Erfassung des Konstrukts „Steuerungsfähigkeit“ oder auch, synonym gebraucht, von „Hemmungsvermögen“, sei hier auf Band 1 (Kap. 2.3 und 2.4) verwiesen; zudem auf die nachfolgenden Kapitel dieses Ban-
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des, in denen diese Problematik konkret anhand der verschiedenen Krankheits- und Störungsbilder erörtert werden wird.
2.1.4 Mindeststandards in der Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtung Eine an forensisch-psychiatrischen Fragen besonders interessierte interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Juristen, forensischen Psychiatern und Psychologen sowie Sexualmedizinern hat sich in den Jahren 2003 und 2004 beim Bundesgerichtshof getroffen und die nachfolgend erläuterten Empfehlungen für die forensische Schuldfähigkeitsbeurteilung nach §§ 20, 21 StGB erarbeitet (Boetticher et al. 2005). Nahezu der gleiche Arbeitskreis hat sodann in den Jahren 2005 und 2006 auch Mindeststandards für kriminalprognostische Gutachten (Boetticher et al. 2006) formuliert. Die Empfehlungen zur Schuldfähigkeitsbegutachtung richten sich in erster Linie an die psychologischen und psychiatrischen Fachkollegen, die psychologische oder psychiatrische Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit erstatten. In der Sache sind diese Empfehlungen bisher kaum angegriffen worden. Klar war von Anfang an, dass die Empfehlungen keine rechtlichen Kriterien für die revisionsgerichtliche Überprüfung liefern im Sinne verbindlicher Mindeststandards, deren Nichtbeachtung in jedem Einzelfall einen Rechtsfehler begründen kann. Dessen ungeachtet gingen die beteiligten Juristen davon aus, dass die Empfehlungen in der Rechtsprechung der fünf Strafsenate des Bundesgerichtshofs Berücksichtigung finden. Eingangs heißt es in den „Mindeststandards“: Der Sachverständige bedient sich bei der Gutachtenerstattung methodischer Mittel, die dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand gerecht werden. Existieren mehrere anerkannte und geeignete Verfahren, so steht deren Auswahl in seinem pflichtgemäßen Ermessen. In diesem Rahmen steht es dem Sachverständigen – vorbehaltlich der Sachleitungsbefugnis durch das Gericht – frei, wie er die maßgeblichen Informationen erhebt und welche Gesichtspunkte er für seine Bewertung für relevant hält. Allerdings wird gewünscht, dass sich ein forensisch tätiger Sachverständiger bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit in der Regel an den Kriterien der in der Psychiatrie gebräuchlichen diagnostischen und statistischen Klassifikationssysteme (also der aktuell gültigen Auflage von DSM oder des psychiatrischen Teils der ICD) orientiert. Rechtlich besagt die Zuordnung eines Befundes zu einer Diagnose nach ICD oder DSM noch nichts über das Ausmaß der psychischen Störungen und deren forensische Bedeutung. Allerdings glaubt der BGH, dass die Vergabe einer Diagnose nach einem der Manuale „in der Regel auf eine nicht ganz geringfügige Beeinträchtigung“ hinweise; er übersieht dabei, dass eine beträchtliche Zahl dieser Diagnosen leichtere Befindlichkeitsstörungen benennt, oft ohne forensische Relevanz (wie z. B. die entsprechenden Diagnosen für Nikotinabusus, leichte Verstimmungen, Liebeskummer und andere passagere Anpassungsstörungen).
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Gelangt der Sachverständige zu der Feststellung, dass das Störungsbild die Merkmale einer Diagnose im Sinne von ICD oder DSM erfüllt, so soll er sodann das Ausmaß der psychischen Störung und deren Auswirkung auf die Tat(en) bestimmen. Er soll sich dabei auf eine Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Beschuldigten, den Ausprägungsgrad der Störung und ihre Auswirkungen auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Probanden stützen. Die Beurteilung erfolgt also im Dreiklang bezogen auf die Person mit all ihren Möglichkeiten und Schwächen, auf deren psychische Störung in ihrer speziellen Qualität und Intensität und schließlich das konkrete Delikt. Das Gutachten muss nachvollziehbar und transparent sein. Darin ist darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen (Angaben des Probanden, Ermittlungsergebnisse, Vorgaben des Gerichts zum Sachverhalt und möglichen Tathandlungsvarianten), aufgrund welcher Untersuchungsmethoden und Denkmodelle der Sachverständige zu den von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist. Es muss deutlich werden, ob und welche Angaben des Beschuldigten als Anknüpfungstatsachen zugrunde gelegt wurden; insbesondere sind die gerichtlich noch zu überprüfenden Zusatztatsachen besonders hervorzuheben. Die Gutachtenerstattung in der Hauptverhandlung muss auf das dort gefundene Beweisergebnis – gegebenenfalls mit vom Gericht vorgegebenen Sachverhaltsvarianten – eingehen. Grundlage für die richterliche Urteilsfindung ist allein das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten. Der vorläufige Charakter des schriftlichen Gutachtens muss dem Sachverständigen und dem Gericht bewusst bleiben.
2.1.5 Praktisch-handwerkliche Mindestanforderungen Nennung von Auftraggeber und Fragestellung, ggf. Präzisierung Der Sachverständige muss sich initial darüber klar werden, welchen Auftrag er hat, denn dies bestimmt das ganze weitere Vorgehen. Er hat üblicherweise ein Anschreiben, einen Beweisbeschluss und eine bzw. mehrere Akten erhalten. Eine weitere Präzisierung durch den Auftraggeber ist in dem keineswegs ganz seltenen Fall erforderlich, dass die Beweisfragen nicht genannt oder nicht eindeutig sind. Das ist der Fall, wenn im Beschluss z. B. nur steht: „soll psychiatrisch begutachtet werden“. Auch der Auftrag, es solle gemäß eines bestimmten Paragraphen des Maßregelvollzugsgesetzes ein Gutachten erstattet werden, ist in diesem Sinne insuffizient, wenn es in diesem MRVG-Paragraphen nur heißt, dass in festen Abständen ein Gutachten erstattet werden soll. Zur weiteren Abklärung der Beweisfrage ist beim Auftraggeber rückzufragen. Ohnehin gilt die Regel: Je konkreter, klarer und klüger die Beweisfragen, desto gezielter und klarer sind die Antworten im Gutachten. Auch wenn der Sachverständige zu der Einschätzung kommt, dass sinnvollerweise gleich weitere Fragen zu erörtern sind (z. B. eine Maßregel gemäß § 64 StGB), sollte er dies nur in Absprache mit dem Auftraggeber tun.
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Aktive Informationsgewinnung durch den Sachverständigen Der Gutachter selbst muss prüfen, ob er alle Aktenunterlagen hat, die für die gutachterliche Fragestellung bedeutsam sind. Das betrifft insbesondere Vorstrafakten, zumal wenn kriminalprognostisch abgeschätzt werden soll, ob von dem Beschuldigten oder Angeklagten auch künftig erhebliche Straftaten zu erwarten sind. Der Sachverständige wendet sich üblicherweise an den Auftraggeber und bittet um Beschaffung und Überlassung dieser Akten; bei Prognosegutachten über Verurteilte ist auch die direkte Anforderung bei den aktenführenden Staatsanwaltschaften gebräuchlich. Es betrifft die Pflicht zur aktiven Informationsgewinnung; auch Krankenakten über den Probanden können angefordert werden, wenn der Proband die jeweiligen Ärzte schriftlich von der Schweigepflicht entbindet.
Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung Es ist dies unerlässlich zum Schutz von Probanden wie auch Sachverständigen vor nachträglichen Fehlbehauptungen oder Irrtümern hinsichtlich Umfang und Rahmenbedingungen der Untersuchung. Dies geht bis zur nachträglichen Abklärung, ob der Proband zur Untersuchungszeit unter Medikamenten stand etc. Die Untersuchung – in der Praxis, in der Haftanstalt, in der Maßregelklinik – ist vom Sachverständigen selbst zu organisieren, notfalls unter Mithilfe des Auftraggebers.
Adäquate Untersuchungsbedingungen Die Exploration sollte unter fachlich akzeptablen Bedingungen durchgeführt werden, bei denen ein diskretes, ungestörtes und konzentriertes Arbeiten möglich ist.
Angemessene Untersuchungsdauer unter Berücksichtigung des Schwierigkeitsgrads, ggf. an mehreren Tagen Die Exploration ist für den Probanden möglicherweise für Jahre die letzte Chance, seine Person und seine Sicht der Dinge darzustellen. Dafür sollte ihm angemessen Raum gegeben werden. Bei begrenzten Fragestellungen oder bei ausführlichen vorangegangenen Begutachtungen kann ein einziger Untersuchungstermin ausreichend sein. Bei komplexen Fragestellungen und einem bislang unbekannten Probanden wird der Sachverständige schon wegen der Fülle der zu besprechenden Themen meist mehrere Termine wahrnehmen müssen.
Dokumentation der Aufklärung Zu Beginn jeder Begutachtung ist der Proband im Sinne des fairen Verfahrens auf seine Rechte in der Begutachtungssituation hinzuweisen, also vor
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allem auf sein Recht, insgesamt wie auch zu jeder beliebigen Frage zu schweigen. Er ist darauf hinzuweisen, dass hier keine therapeutische Situation vorliegt, so dass der Sachverständige keineswegs der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegt, sondern im Gegenteil als Zeuge über die Äußerungen des Probanden nicht einmal ein Zeugnisverweigerungsrecht hätte. Es genügt die mündliche Aufklärung und ein Vermerk des Sachverständigen in seinen Unterlagen und später im schriftlichen Gutachten, dass und wann diese Aufklärung erfolgt ist.
Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungsund Dokumentationsmethoden Wenn der Sachverständige besondere Hilfsmittel benutzt, muss er dies natürlich dokumentieren. Es ist dies stets der Fall bei der Einschaltung von Dolmetschern (natürlich mit Namensangabe), bei der Mitwirkung weiterer Personen (Exploration mit mehreren Untersuchern), bei Tonband- oder Videoaufzeichnung. Anders als bei manchen polizeilichen Vernehmungen, insbesondere von Kindern, und anders als bei der Glaubhaftigkeitsbegutachtung (wo dies aus methodischen Gründen sinnvoll ist), werden in der Schuldfähigkeitsbegutachtung fast nie Wortprotokolle gefertigt. Es genügen die schriftlichen Aufzeichnungen des Sachverständigen in der Gesprächssituation, die allerdings den Sprach- und Argumentationsduktus des Probanden so gut eben möglich erkennen lassen sollen. Die Übertragung einer Tonbandaufzeichnung in ein schriftliches Wortprotokoll, womöglich gar durch eine Schreibkraft, die am Gespräch nicht teilgenommen hat, ist ein ebenso aufwändiges wie fehlerträchtiges Verfahren, das den inhaltszentrierten sofortigen Aufzeichnungen des Sachverständigen nicht überlegen ist. Es ist im Übrigen wichtig, auch dem Probanden zu verdeutlichen, dass hier keine Befragung entsprechend dem polizeilichen Vernehmungsprotokoll stattfindet (welches der Beschuldigte Seite um Seite paraphiert und am Ende unterzeichnet). Der Beweiswert seiner Aussagen dem Sachverständigen gegenüber ist ein anderer: Es geht in diesen Gesprächen um die Abklärung der psychiatrischen Fragestellung entsprechend den handwerklichen Techniken der Psychiatrie, und dies im rechtlichen Feld des Freibeweisverfahrens. Demgemäß findet die Exploration und psychiatrische Untersuchung auch nicht in Anwesenheit des Verteidigers oder eines anderen Verfahrensbeteiligten statt; es geht dabei nicht um eine Fortsetzung polizeilicher oder richterlicher Vernehmungen, und es wird kein Vernehmungsprotokoll erstellt. Wird eine Untersuchung nach den fachlichen Vorgaben der Psychiatrie – also direktes Gespräch Untersucher – Proband – anwaltlich abgelehnt und die Anwesenheit des Verteidigers verlangt, entspricht dies nicht mehr den etablierten Formen der psychiatrischen Begutachtung und sollte im Regelfall vom Sachverständigen nicht akzeptiert werden.
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Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen sowie eine klare und übersichtliche Gliederung Schon von einer Zeitung verlangt man die saubere Trennung von Nachricht und Kommentar und die Offenlegung der Erkenntnisquellen. Umso mehr gilt dies für Gutachten, die sich wissenschaftlicher Methodik und Erkenntnisse bedienen sollen. Üblicherweise ist ein Gutachten also in mehrere Kapitel gegliedert: (a) Zunächst werden meistens die für die Begutachtung relevanten Akteninformationen zusammenfassend referiert. Der Verzicht hierauf – wenn z. B. die vorgeworfene Straftat nicht nach Zeit, Ort, Opfer und Tatablauf skizziert wird, relevante Zeugenaussagen und Einlassungen zur Person und psychischen Verfassung des Beschuldigten „als bekannt vorausgesetzt“ werden – weckt den meist zutreffenden Verdacht auf nur flüchtiges Aktenstudium und beeinträchtigt Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Schlussfolgerungen des Gutachtens. Allerdings ist die komprimierte Wiedergabe der gutachterlich relevanten Akteninformationen harte Arbeit; wörtliche Zitate sind nur ausnahmsweise und wegen charakteristischer Formulieren erlaubt, abzulehnen sind seitenlange Zitate und eine wahllose Wiedergabe, deren argumentativer Sinn unverständlich bleibt. In die Darstellung der Aktenlage gehören also: z Tatvorwurf (Anklageschrift oder Haftbefehl oder Strafanzeige), z Tatablauf (laut Anklage etc. und/oder Zeugenangaben), z Einlassung des Beschuldigten/Angeklagten zur Tat, z Blutentnahmeprotokoll, Ergebnis der Untersuchung einer Blutalkoholkonzentration z frühere Angaben des Beschuldigten zu seiner psychischen Verfassung zur Tatzeit, z Zeugenangaben, die auf die psychische Verfassung schließen lassen, z Bundeszentralregister-Auszug, frühere Urteile, Beiakten: Vorstrafen, delinquente Vorgeschichte (einschlägige frühere Taten, frühere Tatmuster, frühere Straftaten, Ähnlichkeit der Hintergründe früherer Taten (z. B. Alkoholisierung), Alter bei erster Verurteilung, Häufung oder Seltenerwerden von Straftaten in welchen Lebensaltern, z frühere Urteile, (Jugend-)Gerichtshilfebericht, Zeugen: Angaben zur Biographie, soweit von Belang und nicht besser in der eigenen Exploration enthalten, z frühere Begutachtungen – Befunde, Diagnosen, rechtliche Beurteilungen. Die Mindeststandards verlangen hier das Kenntlichmachen der interpretierenden und kommentierenden Äußerungen und deren Trennung von der Wiedergabe der Informationen und Befunde. Es kann aus Gründen der Lesbarkeit und zur raschen Erledigung randständiger Probleme allerdings sinnvoll sein, dass man bei der Darstellung früherer Dokumente, z. B. früherer Urteile und Gutachten, sogleich darauf hinweist, dass sich inzwischen bestimmte Annahmen als unzutreffend herausgestellt haben. Solche
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Kommentare müssen natürlich als solche erkennbar und belegt sein. Manchmal kann es auch sinnvoll sein, darauf hinzuweisen, dass sich bestimmte frühere Theorien (z. B. über Tathintergründe) nicht auf belegte Fakten stützen konnten. All dies gilt besonders dann, wenn sehr umfangreiches Aktenmaterial zu verarbeiten ist. (b) In einem eigenen Abschnitt werden die Angaben des Probanden referiert; auch hier sind bisweilen Zwischenüberschriften sinnvoll, welche die nun verhandelten Themenbereiche benennen (gegenwärtiges Befinden, medizinische Vorgeschichte, Suchtprobleme, Angaben zur Lebensgeschichte, sexuelle Entwicklung, Vorgeschichte der Tat, Stellungnahme zum Tatvorwurf). (c) Die fachkundige Beobachtung und Untersuchung des Probanden in den Begegnungen mit dem Sachverständigen findet ihren Niederschlag in einer ausführlichen Verhaltensbeschreibung im Rahmen des psychischen Befundes. Dieser psychische Befund bezieht sich keineswegs nur auf grobe psychopathologische Ausfälle, sondern zielt auf eine differenzierte Beschreibung der Persönlichkeit unter Berücksichtigung ihrer Eingebundenheit in ein soziales Umfeld und eine bestimmte Situation. Soweit der Sachverständige mitteilt, was alles an psychopathologischen Symptomen nicht der Fall ist, soll er dies kurz und bündig tun. Hinsichtlich dessen, was der Fall ist, soll er ausführlich und anschaulich sein, unter aufmerksamer Meidung von Fachbegriffen (es gibt eine Vielzahl treffender deutscher Worte zur Beschreibung von Gestimmtheit und Auftreten; „mürrisch“ und „missmutig“ ist nachprüfbarer und verständlicher als „dysphorisch“); das Gutachten geht an medizinische Laien, nicht an Psychiater. Wo Fachbegriffe unbedingt erforderlich sind, weil sie allein diagnostisches Gewicht verdeutlichen (wie „Wahnwahrnehmung“, „Neologismen“, „Gedankenlautwerden“, „akustische Halluzination“), sind sie natürlich geboten und ggf. zu erläutern. Ist der psychische Befund kürzer als eine Seite, ist er sehr kurz. Er folgt beispielsweise einer etwa dreiteiligen Gliederung: äußerer Eindruck und Verhalten in der Begutachtungssituation – spezieller psychiatrischer Befund – Persönlichkeitsbild. Der psychische Befund ist ein Spiegel der Aufmerksamkeit und psychiatrischen Wahrnehmungsfähigkeit des Sachverständigen. Es ist dies wie jede eine subjektive Wahrnehmung (es gibt keine „objektive“ Wahrnehmung von Stimmungen, Verhalten und Persönlichkeitsartung), aber eine beruflich geschulte, die schriftlich dokumentiert wird, um sie intersubjektiv überprüfbar zu machen. Von diesem psychischen Befund – als einer differenzierten Zustandserfassung – profitiert man als Jahre später befasster Gutachter bisweilen mehr als von den gutachterlichen Schlussfolgerungen. (d) Zusätzlich durchgeführte Untersuchungen (z. B. bildgebende Verfahren, testpsychologische Befunderhebung, Fremdanamnese) sind gesondert zu dokumentieren, natürlich auch hinsichtlich der Personen, die die Untersuchung oder Befundung durchführen. Der Sachverständige hat es zu begründen, wenn die Erschließung weiterer Informationsquellen notwendig ist. Zusätzlich zu medizinischen und psychologischen Untersuchungsver-
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fahren kann z. B. die Einholung fremdanamnestischer Angaben von signifikanten Dritten (z. B. Eltern, Partnerinnen) zur Gewinnung von Informationen über die psychiatrische und soziale Vorgeschichte und die aktuelle Lebenssituation des Probanden hilfreich sein; in der klinischen Psychiatrie sind solche Fremdanamnesen durchaus gebräuchlich. Im Strafverfahren ist es allerdings problematisch, wenn der Sachverständige eigenständig ermittelt. Während medizinische und psychologische Untersuchungsverfahren von ihm selbst durchgeführt oder veranlasst werden können, sind Zeugenvernehmungen (sog. Fremdanamnese) durch den Sachverständigen angreifbar; es ist hier allemal in enger Absprache mit dem Auftraggeber vorzugehen. Allemal müssen solche Fremdanamnesen unter Verweis auf Schweigerechte durchgeführt und sorgfältig dokumentiert werden. Fragwürdig sind sicherlich reine Telefoninterviews, zumal wenn selektiv nur einige passende Sequenzen schriftlich dokumentiert werden. (e) Als weitere Kapitel folgen dann die Diagnose, ggf. mit der Diskussion der differentialdiagnostischen Aspekte, und schließlich das abschließende Kapitel Zusammenfassung (der relevanten Anknüpfungstatsachen) und Beurteilung (Beantwortung der Beweisfragen). Bis einschließlich zur Diagnose ähnelt ein Gutachten weitgehend einer psychiatrischen Eingangsuntersuchung. Nun aber wird kein Behandlungsvorschlag erwartet, sondern der Abgleich mit einer rechtlichen Fragestellung. Wie findet man den Zugang zu dieser Antwort? Es ist manchmal nützlich, zu Beginn der Zusammenfassung kurz den Tatvorwurf zu skizzieren und zu erklären, man solle zur Schuldfähigkeit des Beschuldigten oder Angeklagten Stellung nehmen. Sodann kann man zusammenfassend die für die psychiatrische Beurteilung wichtigen biographischen und sonstigen Sachverhalte referieren, psychiatrisch bewerten und damit auch die Diagnose begründen. Gegebenfalls erfolgt hier eine Auseinandersetzung mit Befunden und Diagnosen von Vorgutachten. Jetzt fängt das spezifisch Gutachterliche an. Ausgehend von dem Befund könnte man so vorgehen, dass man zunächst klärt, was alles man nun aussortieren kann: Welche der 4 Rechtsbegriffe des § 20 StGB kommen anhand des Befundes sicherlich nicht in Betracht? Wenn gar keiner übrig bleibt, kann gleichwohl eine Erörterung der Persönlichkeit, der Tatmotive und möglicher Interventionsformen dem Gericht eine treffende Urteilsfindung erleichtern; eine verminderte Schuldfähigkeit kommt dann aber nicht mehr in Betracht, auch keine psychiatrische Maßregel gemäß § 63 StGB. Aber auch wenn eine psychiatrische Diagnose zu stellen ist und diese Störung nach Qualität und Intensität eine der vier Eingangsvoraussetzungen erfüllt – z. B. „schwere andere seelische Abartigkeit“ –, so hat nun eine Diskussion der psychologischen und psychodynamischen Tathintergründe zu erfolgen. Dabei muss die vorgeworfene Tat genauer gemustert werden: was die Tat ihrerseits über den Täter, seine Motive und seine Leistungsfähigkeit aussagen könnte. Dies ist wiederum abzugleichen mit den Hypothesen über Leistungsfähigkeit und Beeinträchtigungsgrad des Beschuldigten. (Der Sachverständige darf auch bei dem nicht geständigen Angeklag-
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ten hypothetisch davon ausgehen, dass dieser der Täter ist; nur dann stellt sich überhaupt die Frage der Schuldfähigkeit. Er muss natürlich kenntlich machen, dass dies für ihn eine Arbeitshypothese und keineswegs eine Überzeugung ist.) All dies mündet in die gutachterliche Beurteilung, ob die psychische Besonderheit des Probanden von Bedeutung allgemein für Delinquenz und speziell den Tatvorwurf ist, und ob sie zum Tatzeitpunkt überhaupt vorlag. Dies ist eng verknüpft mit der Beurteilung, ob durch die vorliegende Eingangsvoraussetzung der §§ 20,21 StGB die Einsichtsfähigkeit oder die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt oder aufgehoben war oder nicht. Letztlich erfordert dies einen Rückgriff auf klinisches Wissen darüber, wie konkret bestimmte Störungen bestimmte Fähigkeiten, nicht zuletzt hinsichtlich der motivationalen und exekutiven Handlungskontrolle, beeinflussen. Zudem erfordert es kriminologisches, z. T. kriminalistisches Wissen darüber, welche Anforderungen bestimmte Tatformen (von der Körperverletzung bis zum Subventionsbetrug) stellen. Auch hier hat nun ggf. eine Auseinandersetzung mit der (identischen oder abweichenden) Einschätzung von Vorgutachten zu erfolgen. Nachdem dann abschließend zu den psychiatrischen Voraussetzungen verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit Stellung genommen wurde, erfolgt – falls gefordert – die Auseinandersetzung mit prognostischen Fragen (§§ 63, 64, 66 StGB). Will man den juristischen Leser nicht enttäuschen, endet man mit einer knappen, partiell auch formelhaften, abschließenden Zusammenfassung des Inhalts, ob der Proband zum Tatzeitpunkt an einer definierten psychischen Störung gelitten hat, die z. B. dem Rechtsbegriff der krankhaften seelischen Störung zugeordnet werden kann, und die zwar nicht seine Einsicht in das Verbotene seiner Tat aufgehoben habe, wohl aber zu einer Aufhebung seiner Steuerungsfähigkeit geführt habe. Mithin halte man hier – bei gegenwärtigem vorläufigem Kenntnisstand – die psychiatrischen Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit für gegeben. In den Mindeststandards wird gefordert: Trennung von gesichertem medizinischem (psychiatrischem, psychopathologischem) sowie psychologischem und kriminologischem Wissen und subjektiver Meinung oder Vermutungen des Gutachters. Das ist sicher richtig; allerdings liegt das Problem oft darin, dass manche Psychiater und Psychologen gar nicht merken, dass sie in der Ausbildung Sichtweisen und Deutungsmuster erworben haben, die kein gesichertes Wissen darstellen, sondern höchst spekulativ und wahrscheinlich gar falsch sind. Dies hindert sie in gewissen Regionen keineswegs daran, gefragte Gutachter zu sein, die stets wissen, warum der Proband so geworden ist, wie er ist, und warum er die Straftaten begehen musste. Man sollte Gutachtern misstrauen, die das immer wissen. Ebenso gefordert wird: Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten und den daraus abzuleitenden Konsequenzen, ggf. rechtzeitige Mitteilung an den Auftraggeber über weiteren Aufklärungsbedarf. Dies knüpft an den letzten Satz an: Verfährt der Sachverständige so wie hier gefordert, erwirbt er sich Achtung.
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Bei Verwendung wissenschaftlicher Literatur soll die übliche Zitierpraxis beachtet werden, so dass dem Leser des Gutachtens die Nachprüfung der Referenz möglich ist. Völlig unnötig ist das Auflisten von gängigen Lehrbüchern oder Diagnosemanualen am Schluss eines Gutachtens. Mit Fundstelle belegt werden sollte spezielle Literatur, aus der im Gutachten zitiert wird, um bestimmte wissenschaftliche Sachverhalte zu verdeutlichen. Dies dürfte nur ausnahmsweise erforderlich sein. Dass das Gutachten ein wissenschaftliches ist, ergibt sich aus seiner Methodik und der Sachkenntnis des Verfassers, nicht aus dem Verweis auf einige jedermann bekannte Lehrbücher der forensischen Psychiatrie. (f) Das mündliche Gutachten in der Hauptverhandlung ist letztlich das juristisch allein relevante und darf mit guten Gründen vom vorläufigen schriftlichen Gutachten abweichen. Diese Gründe müssen natürlich offengelegt werden. Man redet bei Gericht nicht über das Gutachten, bevor man vom Richter zu dessen Erstattung aufgefordert wird: nicht mit dem Staatsanwalt, nicht mit dem Verteidiger, und schon gar nicht mit Journalisten. Zu vermeiden ist auch sonst alles, womit man sich den Vorwurf vorzeitiger Festlegung, mithin der Befangenheit einhandeln könnte. Während der Hauptverhandlung kann der Sachverständige sein Fragerecht nutzen, allerdings beschränkt auf Gegenstände seines Gutachtens; er sollte sich von der Versuchung freimachen, als Hilfsverteidiger oder als Hilfsstaatsanwalt tätig zu werden. Er sollte auch nichts fragen, was er schon weiß; insbesondere ist der Gerichtssaal nicht der Ort, die Exploration des Angeklagten vor aller Augen zu wiederholen. Unabdingbar zu fordern (wenn auch kein rechtliches Erfordernis) ist, dass das mündliche Gutachten anhand von Stichpunkten frei vorgetragen wird. Zu Beginn wird nach Namen, Alter, Beruf, ladungsfähiger Anschrift (Klinik) gefragt und danach, ob man mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert ist. Dann spricht der oder die Sachverständige. Niemals sollte man das schriftliche Gutachten oder dessen Zusammenfassung vorlesen. Vorlesen ist für alle Beteiligten quälend, macht einen miserablen Eindruck, außerdem kann der Text des schriftlichen Gutachtens nicht die (eigentlich einzig relevanten) Ergebnisse der Hauptverhandlung berücksichtigen. Allenfalls zulässig ist ein extra gefertigtes Textkonzept, sozusagen ein Redemanuskript, das es dem Sachverständigen aber ermöglicht, jederzeit frei zu ergänzen oder zu modifizieren. Enden sollte auch das mündliche Gutachten mit einer klaren, Juristen verständlichen Beurteilung der Schuldfähigkeit, praktisch genau so wie im schriftlichen Gutachten. Der mündliche Vortrag muss nicht jedes Detail ansprechen, das kann ggf. in der Diskussion nachgefragt werden. Gerade hier ist eine Konzentration notwendig auf das, was von Belang ist. Auch ist es an dieser Stelle notwendig, deutsch zu sprechen, also alle medizinischen und psychologischen Fremdworte zu meiden; wenn es nicht anders geht, erläutert man ein Fremdwort. Generell ist es nicht sinnvoll den Versuch zu machen, die Prozessbeteiligten einzuschüchtern und den Eindruck zu erwecken, nur man selbst könne das Problem verstehen. Vielmehr ist es wünschenswert, wenn das Gericht nicht nur die Con-
2.1 Die psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren
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clusio, sondern die wesentlichen Argumente des Sachverständigen versteht und in seinem Urteil korrekt wiedergeben kann. Man verringert damit auch die Gefahr, dass das Urteil gerade aufgrund des unverstanden gebliebenen Gutachtens aufgehoben wird. Bei der anschließenden Befragung durch die Prozessbeteiligten geht es eigentlich nur darum, sich nicht provozieren lassen. Sachverständige sind für jede Frage äußerst dankbar und können in aller Ruhe ihre Antwort überlegen. Sie müssen sich keine Antwort vorgeben lassen. Falls gewünscht, müssen sie Auskunft über ihre Qualifikation und ihren Ausbildungsgang geben. Sie gewinnen Erfahrung mit Fangfragen wie: „Können Sie mit völliger Sicherheit ausschließen, dass . . . ?“ Empirische Wissenschaftler können nichts mit letzter Sicherheit ausschließen; für die gutachterliche Beurteilung kommt es allein darauf an, ob irgendwelche positiven Anhaltspunkt für das Gegebensein eines besonderen Zustandes vorliegen, und wenn ja, wie gewichtig diese erscheinen. Den Rest, die normative Beurteilung dieses Befundes – oder der Befundlosigkeit – besorgt das Gericht.
2.1.6 Mindestanforderungen der Schuldfähigkeitsbeurteilung bei Persönlichkeitsstörungen oder sexueller Devianz Bei der Begutachtung von Menschen mit Persönlichkeitsstörungen oder sexueller Devianz gelten im Prinzip die gleichen methodischen Anforderungen wie bei anderen Störungen. Die Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof (Boetticher et al. 2005) hat sich aber mit diesen beiden Störungsbildern besonders befasst, weil sie in der Rechtspraxis besonders häufig sind und Abgrenzungsprobleme aufwerfen. Die meisten hier dargestellten Anforderungen finden als allgemeine Grundsätze bei allen Schuldfähigkeitsbegutachtungen analog Anwendung. Insofern können sie hier zur Illustration der Probleme bei der Beurteilung des schließlich erhobenen Befundes im Hinblick auf die juristische Fragestellung dienen, also beim zweiten Schritt (wesentlich ausführlicher werden diese Fragen dann in den einzelnen Abschnitten von Kap. 3 dieses Bandes abgehandelt). Es gehört allemal zu einer sorgfältigen forensischen Begutachtung zur Schuldfähigkeit, dass diagnostisch auch auf die Persönlichkeit und eine eventuelle Persönlichkeitsstörung eingegangen wird. Dies betrifft auch Gutachten bei Sexualstraftaten, da Störungen der psychosexuellen Entwicklung in der Mehrzahl der Fälle eng mit Persönlichkeitsauffälligkeiten verschränkt sind und eigentlich auch nur dann problematisch werden. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen stellen das größte Kontingent der psychisch auffälligen Straftäter. Entsprechend häufig ist diese Fragestellung Kernpunkt der Begutachtung. Auf Initiative insbesondere von Saß, Leygraf und Habermeyer hat die Arbeitsgruppe beim BGH sich schließlich auf folgende Kriterien geeinigt, die hier nochmals vollständig zitiert werden, um entsprechend den Intentionen der Arbeitsgruppe ihre weite Verbreitung zu sichern:
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1. Sachgerechte Diagnostik 1.1. Das Gutachten sollte die Kriterien von ICD-10 oder DSM-IV-TR zur Diagnose einer Persönlichkeitsstörung berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist die Beachtung der allgemeinen definierenden Merkmale von Persönlichkeitsstörungen in den beiden Klassifikationssystemen. Darüber hinaus ist in jedem Fall die Diagnose anhand der diagnostischen Kriterien der einzelnen Persönlichkeitsstörungen zu spezifizieren. 1.2. Da zum Konzept der Persönlichkeitsstörungen eine zeitliche Konstanz des Symptomenbildes mit einem überdauernden Muster von Auffälligkeiten in den Bereichen Affektivität, Kognition und zwischenmenschliche Beziehungen gehört, kann eine zeitlich umschriebene Anpassungsstörung die Diagnose nicht begründen. Um die Konstanz des Symptombildes sachgerecht begründen zu können, darf sich das Gutachten nicht auf die Darstellung von Eckdaten beschränken, sondern muss die individuellen Interaktionsstile, die Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen sowie Veränderungen in Folge von Reifungs- und Alterungsschritten oder eingeleiteter therapeutischer Maßnahmen darlegen. Da biographische Brüche oder Tendenzen zu stereotypen Verhaltensmustern bei Konflikten bzw. Stressoren für die Diagnosestellung von besonderer Bedeutung sind, bedürfen sie auch im Gutachten einer entsprechenden Hervorhebung. 1.3. Rezidivierende sozial deviante Verhaltensweisen müssen sorgfältig von psychopathologischen Merkmalen einer Persönlichkeitsstörung getrennt werden. Auswirkungen von Persönlichkeitsstörungen zeigen sich nicht nur im strafrechtlichen Kontext. 1.4. Die klinische Diagnose einer Persönlichkeitsstörung darf nicht per se mit dem juristischen Begriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit gleichgesetzt werden. 2. Sachgerechte Beurteilung des Schweregrads 2.1. Stellungnahmen zum Schweregrad der diagnostizierten Persönlichkeitsstörung sollten getrennt werden von der Diskussion der Einsichts- bzw. Steuerungsfähigkeit, die eng mit der Analyse der Tatsituation verbunden ist. 2.2. Der Orientierungsrahmen, anhand dessen der Schweregrad der Persönlichkeitsstörung eingeschätzt wird, muss jedem Gutachten entnommen werden können. 2.3. Nur wenn die durch die Persönlichkeitsstörung hervorgerufenen psychosozialen Leistungseinbußen mit den Defiziten vergleichbar sind, die im Gefolge forensisch relevanter krankhafter seelischer Verfassungen auftreten, kann von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit gesprochen werden. 2.4. Gründe für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit können sein: z erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation,
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z Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens, z durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile, z durchgehende Störung des Selbstwertgefühls, z deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen. 2.5. Gegen die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit sprechen: z Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit ohne schwerwiegende Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit, z weitgehend erhaltene Verhaltensspielräume, z Selbstwertproblematik ohne durchgängige Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung und psychosoziale Leistungsfähigkeit, z intakte Realitätskontrolle, reife Abwehrmechanismen, z altersentsprechende biographische Entwicklung. 3. 3.1. 3.2.
3.3. 3.4.
3.5.
Psycho(patho)logisch-normative Stufe: Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Eine relevante Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit allein durch die Symptome einer Persönlichkeitsstörung kommt in der Regel nicht in Betracht. Selbst wenn eine schwere andere seelische Abartigkeit vorliegt, muss geprüft werden, ob ein Zusammenhang zwischen Tat und Persönlichkeitsstörung besteht. Hierbei ist zu klären, ob die Tat Symptomcharakter hat, also Ausdruck der Charakteristika einer schweren anderen seelischen Abartigkeit ist. Die Beurteilung der Steuerungsfähigkeit erfordert eine detaillierte Analyse der Tatumstände (u. a. Verhalten vor, während und nach der Tat, Beziehung zwischen Täter und Opfer, handlungsleitende Motive). Für forensisch relevante Beeinträchtigungen der Steuerungsfähigkeit sprechen über den vorgenannten Aspekt hinausgehend folgende Punkte: z konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor dem Delikt, z abrupter impulshafter Tatablauf, z relevante konstellative Faktoren (z. B. Alkoholintoxikation), z enger Zusammenhang zwischen („komplexhaften“) Persönlichkeitsproblemen und Tat. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen, nicht aber notwendigerweise bei anderen Störungen (z. B. beim Wahnsyndrom) sprechen Verhaltensweisen, aus denen sich Rückschlüsse auf die psychischen Funktionen herleiten lassen:
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z Tatvorbereitung, z Hervorgehen des Deliktes aus dissozialen Verhaltensbereitschaften, z planmäßiges Vorgehen bei der Tat, z Fähigkeit, zu warten, lang hingezogenes Tatgeschehen, z komplexer Handlungsablauf in Etappen, z Vorsorge gegen Entdeckung, z Möglichkeit anderen Verhaltens unter vergleichbaren Umständen. 3.6. In der Regel kommt für den Bereich der schweren anderen seelischen Abartigkeit allenfalls eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit in Betracht. Wegen der besonderen öffentlichen Aufmerksamkeit für den Umgang mit Sexualstraftätern hat die Arbeitsgruppe auch dazu detaillierte Arbeitsvorgaben gemacht (Boetticher et al. 2005, S. 61–62). Einigkeit bestand darin, dass hier im Grundsatz dieselben Gesichtspunkte anzuwenden sind, wie sie bei den Persönlichkeitsstörungen entwickelt worden sind. Es wurde darauf hingewiesen, dass wegen der häufigen Diskrepanzen zwischen den Einlassungen der Beschuldigten einerseits, den Zeugenaussagen und Tatortbefunden andererseits auch hier (wie stets) eine sorgfältige Analyse der Akten und die explizite Darlegung von Anknüpfungstatsachen erforderlich ist. Auf der Hand lag natürlich, dass bei diesen Probanden eine gründliche Sexualanamnese zu erheben ist, auch wenn diese bei vielen nicht sexuell Straffälligen (z. B. Gewalttätern) nicht minder bedeutsam sein kann und andererseits viele Sexualstraftäter Besonderheiten nicht in der sexuellen, sondern der sozialen Anamnese aufweisen. Die einzelnen Elemente der Sexualanamnese werden im Beitrag von Boetticher et al. dargestellt, wichtig ist sicher der Hinweis, dass der Proband auch eingehend zu seiner früheren Sexualdelinquenz zu befragen ist, wenn eine solche aktenkundig ist. Auch die diagnostische Einordnung paraphiler Neigungen bzw. von Paraphilien soll anhand der gängigen Klassifikationssysteme erfolgen und anhand der Einzelkriterien erläutert werden. Gerade für die Einordnung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit bedürfe es der Prüfung des Anteils der Paraphilie an der Sexualstruktur, der Intensität des paraphilen Musters im Erleben, der Integration der Paraphilie in das Persönlichkeitsgefüge und der bisherigen Fähigkeit des Probanden zur Kontrolle paraphiler Impulse. Daraus ergäben sich unter anderem folgende mögliche Gründe für die Einstufung einer Paraphilie als schwere andere seelische Abartigkeit: z Die Sexualstruktur ist weitestgehend durch die paraphile Neigung bestimmt. z Eine ich-dystone (ich-fremde) Verarbeitung führt zur Ausblendung der Paraphilie. z Eine progrediente Zunahme und „Überflutung“ durch dranghafte paraphile Impulse mit ausbleibender Satisfaktion beherrscht zunehmend das Erleben und drängt zur Umsetzung auf der Verhaltensebene.
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z Andere Formen soziosexueller Befriedigung stehen dem Beschuldigten aufgrund von (zu beschreibenden) Persönlichkeitsfaktoren oder (zu belegenden) sexuellen Funktionsstörungen erkennbar nicht zur Verfügung. Eine forensisch relevante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit könne bei Vorliegen folgender Aspekte diskutiert werden: z Konflikthafte Zuspitzung und emotionale Labilisierung in der Zeit vor dem Delikt mit vorbestehender und länger anhaltender triebdynamischer Ausweglosigkeit. z Tatdurchführung auch in sozial stark kontrollierter Situation. z Abrupter, impulshafter Tatablauf, wobei jedoch ein paraphil gestaltetes und zuvor (etwa in der Phantasie) „durchgespieltes“ Szenario kein unbedingtes Ausschlusskriterium für eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit ist, sofern dieses Szenario einer diagnostizierten Paraphilie entspricht und eine zunehmende Progredienz nachweisbar ist. z Archaisch-destruktiver Ablauf, der ritualisiert wirkt und bei dem es Hinweise für die Ausblendung von Außenreizen gibt. z Konstellative Faktoren (z. B. Alkoholintoxikation, Persönlichkeitsstörung, eingeschränkte Intelligenz), die unter Umständen eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit bedingen können. Grundsätzlich aber ist im Bewusstsein zu halten, dass nicht die Paraphilie selbst im Zentrum des strafrechtlichen Vorwurfs steht. Nicht die Pädophilie wird bestraft und nicht die sadistische Perversion, nicht die sexuelle Präferenz, sondern das Praktizieren entsprechender Neigungen. Vom Paraphilen wird erwartet, dass er auf das rechtswidrige Praktizieren devianter Sexualität verzichtet; die Schuldfähigkeitsbegutachtung hat zu prüfen, ob er mit diesem Ansinnen überfordert ist. Sie hat dabei als Vergleichswert zu bedenken, dass auch das „normale“, heterosexuelle Begehren ausgesprochen stark sein kann und dass Millionen heterosexueller Menschen mangels Partner auf das Praktizieren von Sexualität verzichten müssen – und offenbar können. Es gibt keine klinische Erfahrung, die besagen würde, dass deviante Sexualität von vorneherein schwerer zu kontrollieren wäre als die übliche. Vielmehr ist beim devianten wie beim „normalen“ Sexualstraftäter das triebhafte Begehren allein noch kein hinreichender Grund für die Annahme einer der vier Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB.
2.1.7 Begutachtung nicht deutschsprachiger Probanden Männer nichtdeutscher Herkunft sind unter Straffälligen überrepräsentiert, was eine ganze Reihe von sozialen und demographischen Gründen hat: Nichtdeutsche sind durchschnittlich deutlich jünger, leben oft erst seit einigen Jahren in Deutschland, haben eine schlechtere schulische und berufliche Bildung, sind wesentlich häufiger arbeitslos, haben eine andere familiäre Sozialisation erlebt und oft einen deutlich anderen kulturellen Hinter-
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grund. Allerdings gibt es auch viele ethnische Einwanderergruppen ohne nennenswert erhöhte Kriminalität. Nichtdeutsche werden seltener psychiatrisch oder psychologisch begutachtet und deutlich seltener in den psychiatrischen Maßregelvollzug oder in eine Entziehungsanstalt eingewiesen, als ihrem Anteil an den Verurteilten entspricht. Dies liegt teilweise daran, dass sie in Feldern „klassischer“ Kriminalität auffällig werden, in denen generell selten begutachtet wird, also mit Eigentums- und Körperverletzungsdelikten. Für die psychiatrische oder psychologische Begutachtung von Personen, die nicht Deutsch sprechen, stehen natürlich nicht annähernd genügend viele muttersprachliche Sachverständige zur Verfügung. Dies ist auch nicht erforderlich. Die Gerichtssprache ist Deutsch, sie werden ohnehin von Richtern und Schöffen abgeurteilt, die nicht die Muttersprache des Angeklagten sprechen. An der Transformation in deutsche Sprache und Rechtskultur geht kein Weg vorbei. Die Fachliteratur zum Thema ist schmal (Horn 1995; Jahn 1997; Schepker 1999; Toker 1999; Schiffauer 2000; Leonhardt 2004; Rasch u. Konrad 2004; Kröber 2005). Zumeist geht es um die Begutachtung von Asylbewerbern, Folteropfern, von Abschiebung bedrohter, in Deutschland in psychiatrischer oder psychologischer Behandlung befindlicher Menschen oder um die sozialmedizinische Begutachtung Nichtdeutscher (Zinkler 2003; Sieberer et al. 2008). In diesem Feld taucht eine Vielzahl weiterer Schwierigkeiten auf, nicht zuletzt durch den Mangel an objektivierbaren Informationen zur biographischen Vorgeschichte im Herkunftsland, speziell zur Glaubhaftigkeit früherer Verfolgung und Traumatisierung. Ebenso groß ist oft die Unsicherheit über eine im Falle der Abschiebung zu erwartende, also zukünftige physische oder psychische Belastung, gar vitale Bedrohung. Insofern wird in diesem Feld nicht zuletzt um die Frage gerungen, welche Informationen überhaupt gutachterlichen Beurteilungen zugrunde gelegt werden können oder müssen, und was man noch sachverständig aussagen kann, wenn man ausschließlich zum aktuellen Querschnittsbefund einigermaßen Zuverlässiges weiß. Im strafrechtlichen Bereich geht es zumeist um etwas einfachere Fragestellungen; es gibt eine aktenkundige Vorgeschichte, einen konkreten Tatvorwurf, eine umschriebene Fragestellung. Deutschsprachige Sachverständige können und müssen diese Aufgabe leisten, schon weil es keine anderen gibt und sie wiederum mit der deutschen Rechtskultur vertraut sind. Entscheidend ist letztlich die klinisch-psychiatrische Kompetenz des Sachverständigen. Seine Vertrautheit mit einem breiten Spektrum psychischer Gestörtheit ist eine wesentliche Voraussetzung uneingeschränkter, dann aber auch gezielter Exploration, die keine Störungsmöglichkeit außer Acht lassen muss, und mithin Voraussetzung einer zuverlässigen Differentialdiagnostik. Zugleich gewährleistet diese Erfahrenheit mit den klinischen Bildern in der ganzen Bandbreite möglicher Störungen eine adäquate Beurteilung der Störungsfolgen in Hinblick auf bestimmte rechtliche Fähigkeiten. Psychologie und insbesondere Psychiatrie sind seit langem transkulturell vergleichende, internationale Wissenschaften. Wir können uns hier also auf recht verlässliche wis-
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senschaftliche Grundlagen stützen, welche die Vergleichbarkeit von psychischen Krankheiten und psychischen Störungen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg beleuchten. Als Faustregel gilt: Je kränker Menschen sind, ob körperlich oder psychisch, desto ähnlicher werden sie einander; je gesünder sie sind, desto unterschiedlicher sind sie. Insofern befinden wir uns beim ersten Schritt, der Diagnostik, sofern schwere Störungen wie psychotische Erkrankungen vorliegen, zumeist noch auf sicherem Boden. Aber bereits die Einschätzung leichter Krankheitszustände und von Persönlichkeitsstörungen kann erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Differentialdiagnostisch schwierig kann die Beurteilung von vorübergehenden Anpassungsstörungen sein und die Abgrenzung von ausgeprägten dissoziativen Zuständen, die man früher als hysterische Reaktionen bezeichnete. Spricht der nichtdeutsche Beschuldigte hinreichend deutsch, so ist dies bereits ein Beweis einer intellektuellen und sozialen Kompetenz. Er hat bereits eigenständig Schritte zur Überwindung kultureller Grenzen unternommen, ist aus dem eigenen Kulturzentrismus zumindest ein Stück heraus geraten – es gibt für ihn nicht mehr nur sein Land, seine Kultur, seine Sprache, sondern auch eine andere. Er hat sozial und kulturell einen Perspektivenwechsel mitgemacht und weiß, dass es mehr als einen Nabel der Welt gibt. Wenn jemand jedoch nicht deutsch spricht, bereitet dies pragmatische, nicht aber grundsätzliche Begutachtungsprobleme. Es wird ein Dolmetscher benötigt, nach Möglichkeit einer, dessen Muttersprache die des Beschuldigten ist. Schlechtes Deutsch kann der deutsche Sachverständige selbst verbessern, schlechtes Türkisch nicht. Dolmetscher sind ein Vorteil, soweit sie zusätzlich Kommentare zu landsmannschaftlichen und kulturellen Eigenheiten beisteuern (erkennbar als Kommentar). Sie erleichtern dem Sachverständigen zumeist auch die Kontaktaufnahme mit dem Pobanden. Zudem ist es interessant, den Probanden in einer Dreiersituation zu erleben. Dolmetscher verlangsamen die Exploration und geben dem Gutachter zusätzliche Zeit, sich auf das Verhalten, die Mimik und Gestik des Probanden zu konzentrieren. Dies gilt umso mehr, wenn dieser die Sprache des Probanden in Maßen versteht. Dolmetscher sind ein Nachteil, wenn sie nicht wörtlich und nicht vollständig übersetzen, die Angaben des Probanden vielmehr verbessern oder glätten, oder wenn sie den Gutachter ganz vergessen und mit dem Probanden diskutieren, ohne weiter zu übersetzen. Das ereignet sich nicht zuletzt dann, wenn der Proband Auffassungs- und Denkstörungen hat: Der Proband versteht die Fragen nicht oder will sie nicht verstehen, der Dolmetscher versucht nun die Frage anders zu stellen, statt die defizitäre Antwort des Probanden zu übersetzen. Womöglich beseitigt er in seiner Übersetzung die logischen Inkonsistenzen der Aussage des Probanden, übergeht die Gedankenabbrüche und Wortneuschöpfungen. Es sind dies Dinge, die vorab mit dem Dolmetscher geklärt werden müssen; er muss wissen, dass eine möglichst weitgehende Annäherung an eine 1 : 1-Übersetzung gefragt ist. Die Verlangsamung und Desynchronisierung ist aber zugleich ein Problem: Der Gutachter kann das Tempo kaum abrupt beschleunigen, kann kei-
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ne raschen Fragen stellen. Gerade bei Probanden, die in Wahrheit mehr oder weniger gut deutsch können und sich bereits während der Übersetzung in ihre Muttersprache in Ruhe ihre Antwort überlegen können, wird man um spontane und impulsive Antworten gebracht. Zudem erreichen gestischer und mimischer Ausdruck einerseits, verbale Botschaft andererseits den Sachverständigen zeitversetzt, er muss also ständig das beobachtete Verhalten quasi in einem Zwischenspeicher halten und mit der danach erhaltenen Übersetzung zusammenfügen. Das ist anstrengend und erfordert viel Konzentration. Im Regelfall ist die Exploration mit Dolmetscher zwar anstrengend, aber sie erfüllt ihren Zweck und ist nicht grundsätzlich schlechter als die direkte Exploration in gemeinsamer Sprache. Viel schwieriger kann die Exploration eines zweisprachig sprachuntüchtigen Jugendlichen sein, der weder richtig deutsch noch richtig arabisch spricht und für den auch ein Dolmetscher kaum eine Erleichterung darstellt. Bedeutsam ist, ob der Proband aus einem vergleichbaren kulturellen Kontext kommt oder aus einem ganz anderen. Dies ist ohne große Bedeutung, wenn eine schwere psychische Störung vorliegt. Allerdings kann es schwerfallen, leichtere psychische Störungen oder auffällige Verhaltensweisen zu verstehen, wenn der Proband aus einem sehr fernen, unbekannten Umfeld stammt. Eventuell muss der Gutachter oder das Gericht ethnologischen Sachverstand bemühen. Solche Fälle aber sind selten. Zumeist gibt es in der Bevölkerung eine größere Anzahl von Menschen mit ähnlichem Hintergrund wie dem des Probanden, und es gibt Informationen, wie bosnische Flüchtlinge, rumänische Roma, schwarzafrikanische Händler in Deutschland leben. Wichtig für die Beurteilung der sozialen Kompetenz und der psychischen Leistungsfähigkeit ist die Frage, ob der Proband schon längere Zeit in Deutschland lebt oder erst seit kurzer Zeit. Hat es dabei zumindest ansatzweise eine Integration in deutsche Sozialstrukturen gegeben, oder bewegte sich der Beschuldigte durchgängig in einer Sondergruppe, die ihn vor Anpassungsleistungen bewahrte? Der Psychiater versucht, die Biographie eines Menschen zu rekonstruieren und die sie bestimmenden Momente zu erfassen. Die Entfaltung der Fähigkeiten und Schwächen eines Menschen im zeitlichen und sozialen Raum liefert ihm das grundlegende Beurteilungsmaterial; betrachtet wird die individuelle Lebensgeschichte in ihrer inneren Stimmigkeit und in ihren Verwerfungen. Wie groß ist die Fähigkeit zur Anpassung und Einordnung, zur Internalisierung von Regeln, wie groß aber auch die Fähigkeit zur eigenständigen Gestaltung, zur Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, zur Bewältigung von Hemmnissen, zur konstruktiven Rivalität mit anderen? In welchem Umfang finden sich Hinweise für eine mittel- und längerfristige Lebensplanung und eine Ausrichtung eigener Aktivitäten auf diese Planung? In welchem Umfang werden soziale Vorgaben in diese Planung integriert? Die Beurteilung dieser Lebensgeschichte wird erleichtert, wenn sie sich zumindest phasenweise in einem sozialen Raum abspielt, der dem Sachverständigen bekannt ist. Der Auslän-
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der, der seine Biographie in Deutschland, also in einem anderen Land, in einem anderen kulturellen Kontext fortschreibt, tut dies unter zunächst erschwerten Bedingungen, und seine Leistungsfähigkeit in diesem veränderten Kontext ist besonders aufschlussreich. Dies allerdings am ehesten dann, wenn er sich auch auf die veränderten sozialen Rahmenbedingungen einlässt und zumindest partiell das landschaftsmannschaftliche Ghetto verlässt, das sowohl große wie auch kleine Migrantenpopulationen in Deutschland implantieren oder vorgesetzt bekommen. Für die Beurteilung, ob zum Tatzeitpunkt eine krankhafte seelische Störung vorgelegen hat, ist all dies nicht so belangvoll. Wesentlich schwieriger ist die Beurteilung von schweren Persönlichkeitsstörungen, da sich diese gerade im Sozialverhalten manifestieren. Um hier zu einer Diagnose zu kommen, muss man ein Wissen darüber haben, welche Verhaltensweisen im kulturellen Kontext, dem der Proband entstammt, noch akzeptiert sind, welche nicht mehr, und welche als grob auffällig gelten. Tatsächlich lernt der Gutachter viel darüber aus der Exploration des Probanden, soweit dieser imstande ist, die Reaktionen seiner sozialen Umwelt zu schildern, der früheren und der jetzigen, sowie seine Wahrnehmung der Regeln. Es hilft das Gespräch mit Landsleuten, mit dem Dolmetscher, aber es bleibt dem Sachverständigen im Zweifel nicht erspart, nachzulesen und sich explizit kundig zu machen. Dies gehört zum beruflichen Handwerkszeug: Ausländer in Deutschland sind keine Novität, sondern Alltag, nicht zuletzt psychiatrischer Versorgungsalltag, und zwar nicht nur in Großstädten, sondern ebenso auf dem Lande. Hochgradig eingeschränkt oder unmöglich ist der Einsatz standardisierter testpsychologischer Methoden zur Erfassung der Intelligenz oder auch von Persönlichkeitseigenheiten. Abgesehen von Ausländern, die fließend deutsch sprechen, sind Testinstrumente in der Sprache des Ausländers ebenso obligatorisch wie eine Auswertung, die sich auf Normalwerte bezieht, die in der Heimatpopulation des Probanden gewonnen wurden. Das ist kein großes Problem bei Engländern oder US-Amerikanern, soweit der Testleiter gut englisch spricht, es ist ebenso gelöst mit einem türkisch-deutschen Psychologen und türkischen Testinstrumenten. Damit sind wir aber bereits im Bereich der Raritäten. Ein unbehebbarer methodischer Fehler wird begangen, wenn man dem Probanden die Testanweisungen und die Fragen eines Fragebogens in seine Sprache übersetzen lässt: Erstens ist dies ein Wechsel vom Lesen zum Hören und mithin eine deutlich höhere Anforderung, zweitens weiß man nicht, was der Dolmetscher übersetzt und ob der besondere Sinn der standardisierten Fragen dabei erhalten blieb. Drittens ist die Auswertung auf deutsche Eichstichproben bezogen, was selbst bei Intelligenztests zu deutlichen Unterschieden führt. Noch problematischer wird es, wenn man keinen „eindeutigen“ Ausländer vor sich hat – z. B. einen Türken, der vor einem Jahr nach Deutschland gekommen ist – sondern einen deutschstämmigen, russischsprechenden Aussiedler aus Kasachstan, der seit fünf Jahren in Deutschland lebt: Welche Normwerte sollen für ihn gelten? Sofern keine zwingende Indikation besteht, verzichtet
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man auf die Anwendung testpsychologischer Verfahren. Wenn es um die Abschätzung intellektueller Beeinträchtigung geht, hüte man sich zumindest vor Pseudoexaktheit und begnüge sich mit der Beschreibung besonderer Schwächen, aber auch vorhandener Leistungsstärken. Ohnehin sind testpsychologische Untersuchungen bei der Abklärung der Schuldfähigkeit von sehr begrenztem Wert und vielfach, auch bei deutschen Tatverdächtigen, entbehrlich. Eine hochgradige Minderbegabung, die dem Rechtsbegriff des „Schwachsinns“ zuzuordnen wäre, kann nicht nur testpsychologisch nachgewiesen werden, sondern müsste sich gerade auch in der rekonstruierten Lebensgeschichte sowie im Untersuchungsgespräch manifestieren. Ein letzter Problembereich im Rahmen der Schuldfähigkeitsbegutachtung Nichtdeutscher sind die Zustände, die sich dem Rechtsbegriff der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zuordnen lassen. Es geht hier um versuchte oder vollendete Partnertötungen, Tötungs- und Körperverletzungsdelikte innerhalb der Familie, innerhalb des Freundeskreises oder gegenüber Angehörigen einer anderen Familie oder einer anderen, konkurrierenden Gruppe. Ausländer, die aus Kulturen stammen, in denen Ehre und Integrität von Familienverband, Gruppe, Clan einen besonders hohen Stellenwert haben, geraten leichter in die Situation, nicht im genuin individuellen Interesse, sondern als Agent sozialer Erwartungen – im Zweifel auch rechtswidrig – tätig zu werden. Tatsächlich sind wir hier regelhaft eher beim Problem der Schuldschwere als dem der Schuldfähigkeit. Die Akzeptanz sozialer Regeln, die im Widerspruch zu deutschen Normen stehen, ist nicht Ausdruck einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, von Schwachsinn oder seelischer Abartigkeit. Eine psychische Störung wäre am ehesten zu vermuten, wenn dieser Normenkonflikt gar nicht wahrgenommen würde. Wo er wahrgenommen wird, mag er zu seelischer Not und zu einer – aus unserer Sicht – falschen Entscheidung führen, nicht jedoch zu einer Beeinträchtigung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit. Wohl aber wird man die Schuldschwere, die Frage der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens zuweilen nachsichtiger zu beurteilen haben, ein andermal auch strenger. Der psychiatrische Sachverständige überschreitet keineswegs seinen Auftrag, wenn er dem Gericht verdeutlicht, in welche Konflikte z. B. den türkischen Ehemann die Tatsache gebracht hat, dass sich seine Ehefrau sehr viel rascher an die deutschen Verhältnisse adaptiert hat, deutsch gelernt und den Führerschein gemacht hat, sich mit Arbeitskolleginnen trifft und sich in erstaunlicher Geschwindigkeit von der traditionellen Männerherrschaft emanzipiert, während er, der Ehemann, von der Familie und seinen Freunden bedrängt wird, sich als Mann zu bewähren und die Frau in ihre Schranken zu weisen. Gut ist es natürlich auch, wenn sich hier soziologisch kompetente Personen zu Wort melden, die das Problemfeld aus intensiver alltäglicher Erfahrung kennen (Kelek 2005); dem Sachverständigen werden dabei die Grenzen seines Erfahrungshintergrundes ebenso verdeutlicht wie die Notwendigkeit, sich immer erneut kundig zu machen. Auch die Arbeiten von Giordano (1999) und Schiffauer (2000) befassen sich mit Themen wie „Ehre“ vor dem jeweiligen
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kulturellen Hintergrund, Schiffauer weist darauf hin, dass es praktisch keine randscharf abgegrenzte Kultur gibt, die homogen und zeitstabil alle darin Aufgewachsenen begleitet (oder gar in ihrem Handeln bestimmt), sondern dass z. B. die Deutungsmuster, Normen und Wertvorstellungen eines kurdischen Bauern und eines kurdischen Arztes unterschiedlicher sein werden als zwischen letzterem und einem deutschen Arzt. Man sollte nicht übersehen, dass das Leben im Ausland, je länger es dauert, im Normalfall auch instand setzt, die dort geltenden Normen zu erkennen und zu respektieren. Wer andererseits auch im Ausland unbeirrbar von der moralischen und sozialen Überlegenheit der eigenen Kultur ausgeht, wird geneigt sein zu demonstrieren, dass ihn die dortigen Normen nicht interessieren und er bei seinen überlegenen Regeln bleibt. Das hat mit einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit nicht das Mindeste zu tun. Zu prüfen ist allein, inwieweit im Einzelfall der Normenkonflikt zu einer Überforderung der psychischen Möglichkeiten eines Individuums geführt hat. Schwächen und Beeinträchtigungen dieses Individuums müssen dann aber bereits vorbestehen und können sich nicht allein aus dem Normenkonflikt ergeben. Bei der Behandlung ausländischer Rechtsbrecher im Maßregelvollzug geht es letztlich um das Problem der Behandlung jener, die nicht oder ganz schlecht Deutsch sprechen und es auch nicht lernen wollen. Wenn diese an einer Psychose leiden, ergibt sich vor allem das verlaufsdiagnostische Problem einzuschätzen, ob der Proband noch wahnhaft ist, ob er noch Neologismen produziert, ob er noch denkgestört ist etc. Hier brauchen wir einen besonders sachverständigen Dolmetscher, der diese Störungen wahrnimmt und nicht verdeckt. Die nicht seltene Konstellation, dass sich ein sprachgleicher Krankenpfleger des Patienten annimmt, kann dazu führen, dass er fortbestehende Störungen nicht berichtet und beim Dolmetschen überspielt, um die Entlassung seines Landsmanns nicht zu gefährden. Zumindest bei Begutachtungen sollte man auf Dolmetscher zurückgreifen, die nicht fortlaufend auch therapeutisch bzw. pflegerisch mit dem Patienten befasst sind. Bei persönlichkeitsgestörten Patienten ist es für die Behandlung essentiell, dass sie einigermaßen Deutsch lernen. Deutsch lernen ist hier bereits ein wesentlicher Schritt prosozialen Verhaltens, der sozialen Anpassung und Integration. Der Patient muss dafür keine hohen sprachlichen Kompetenzen erwerben; was therapeutisch wirklich wichtig ist, lässt sich mit einem relativ kleinen Wortschatz erfassen. Wenn der Patient allerdings sowieso in sein Heimatland abgeschoben wird, sollte man auf Sozialisierungsbemühungen für ein ganz anderes Zielfeld verzichten. Wenn der Maßregelpatient in Deutschland bleiben kann und soziale Kompetenz erwerben will sowie vor einem strafrechtlichen Rückfall bewahrt werden soll, muss er Deutsch lernen. Man kann also zusammenfassen: Psychiatrische und auch psychologische Begutachtung ausländischer Tatverdächtiger hat einen begrenzten Auftrag. Es geht um die Feststellung der Schuldfähigkeit und nicht der Schuld-
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schwere. Es geht mithin zunächst um eine diagnostische Aufgabe, um die Feststellung einer psychischen Störung oder Erkrankung. Psychiatrische Diagnostik ist seit Jahrzehnten ein internationales wissenschaftliches Projekt, in dem sehr viel an transkulturellen Erfahrungen gesammelt wurde. Die psychiatrischen Klassifikationssysteme werden international angewandt. Das psychiatrische Versorgungssystem (mit psychiatrischen, psychologischen, sozialarbeiterischen, pflegerischen und weiteren Mitarbeitern) ist auch in Deutschland seit mindestens dreißig Jahren in erheblichem Umfang mit Patienten befasst, die aus anderen Nationen und Kulturen stammen. Insofern gibt es durchaus auch einen gewachsenen klinischen Erfahrungshintergrund, und die Probleme ähneln denen in der Allgemeinpsychiatrie. Die Aufgabe der forensischen Diagnostik von psychischen Erkrankungen im engeren Sinne, also von schizophrenen, manisch-depressiven und hirnorganischen Erkrankungen wie auch akuten Intoxikationen ist vor diesem wissenschaftlichen Hintergrund relativ zuverlässig lösbar. Schwieriger ist die Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere dann, wenn sich die Lebensgeschichte des Probanden ganz überwiegend in einem andersartigen kulturellen Umfeld abgespielt hat. Allemal schafft aber auch die genaue Exploration der Lebensgeschichte Hinweise auf überdauernde Verhaltensbereitschaften, Leistungsfähigkeit und Schwächen eines Menschen sowie auf seine soziale Bezogenheit. Wo nötig und möglich, ist der Sachverständige gehalten, Zusatzwissen über die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen eines solchen Lebens zu erwerben. Normenkonflikte haben selten etwas mit Schuldfähigkeit zu tun, sie mindern auch nicht die Einsichtsfähigkeit. Sie haben aber Auswirkungen auf die Beurteilung der Schuldschwere. Schuldschwerebeurteilung ist ausschließlich Aufgabe des Gerichts, nicht des Sachverständigen. Der Sachverständige kann aber dazu beitragen, das subjektive Erleben des Normenkonflikts wie auch die subjektive Belastung durch die innere Konkurrenz gegensätzlicher kultureller Erwartungen zu erhellen.
Literatur Boetticher A, Nedopil N, Bosinski HAG, Saß H (2005) Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. NStZ 25:57–62 Boetticher A, Kröber H-L, Müller-Isberner R, Böhm K-M, Müller-Metz R, Wolf T (2006) Mindestanforderungen für Prognosegutachten. NStZ 26:537–544 sowie: Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1:90–100 (2007) Giordano C (1999) Ethnologische Gutachten im Strafverfahren: Konstruktion, Manipulation und Anerkennung von Differenz. MschrKrim 82:S36–S44 Horn H-J (1995) Die Begutachtung von fremdsprachigen Ausländern – Probleme und Fehlerquellen. Mschr Krim 77:382–386 Jahn K (1997) Rechtskonflikte mit ausländischen Beteiligten aus psychologischer Sicht. In: Begutachtung im interkulturellen Feld. Expertentagung Hannover Kelek N (2005) Die fremde Braut: Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Kiepenheuer & Witsch, Köln
2.2 Gegenstandsbereiche und Methodik der psychologischen Begutachtung
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Kröber H-L (2005) Probleme bei der Begutachtung ausländischer Rechtsbrecher. In: Kröber H-L, Steller M (Hrsg) Psychologische Begutachtung im Strafverfahren, 2. Aufl. Steinkopff, Darmstadt, S 119–131 Leonhardt M (2004) Psychiatrische Begutachtung bei asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren. In: Foerster K (Hrsg) Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl. Urban & Fischer, München Jena Rasch W, Konrad N (2004) Forensische Psychiatrie, 3. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Saß H (Hrsg) (1993) Affektdelikte. Springer, Berlin Heidelberg New York Schepker R (1999) Psychiatrische Aspekte der Begutachtung im interkulturellen Kontext. MschrKrim 82:S50–S57 Schiffauer W (2000) Zur Problematik ethnologischer Gutachten. In: Wolf G (Hrsg) Kriminalität im Grenzgebiet, Bd 3 – Ausländer vor deutschen Gerichten. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 93–110 Sieberer M, Calliess IT, Ziegenbein M (2008) Menschen mit Migrationshintergrund – Was ist bei der psychiatrischen Begutachtung zu beachten? InFo Neurologie & Psychiatrie 10:41–45 Toker M (1999) Begutachtung von Migranten: Psychologische Perspektiven. Mschr Krim 82:S58–S66 Zinkler M (2003) Zur psychiatrischen Begutachtung von Migranten bei drohender Abschiebung. Recht & Psychiatrie 21: 22–24
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Gegenstandsbereiche und Methodik der psychologischen Begutachtung M. Steller
2.2.1 Einführung Forensische (gerichtliche) Psychologie bezeichnet die einzelfallorientierte psychologische Begutachtungskunde. Seit Gründung einer Fachgruppe „Rechtspsychologie“ in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie im Jahre 1984 hat sich in der Psychologie in Angleichung an den angloamerikanischen Sprachgebrauch einer „legal psychology“ (auch: „psychology and law“) durchgesetzt, Rechtspsychologie als Bezeichnung für alle Gegenstandsbereiche zu benutzen, die eine Interaktion rechtlicher und psychologischer Problemstellungen beinhalten. Rechtspsychologie ist also einerseits der Oberbegriff für Teilbereiche, die mit den Begriffen forensische Psychologie (Begutachtungskunde) oder Kriminalpsychologie (Kunde von den Erscheinungsformen und der Entstehung von Verbrechen) bezeichnet werden, andererseits sollten durch den Begriff Rechtspsychologie vor allem Themenfelder integriert werden, die nicht der dem Recht „dienenden“ traditionellen Funktion der forensischen Psychologie zugeordnet werden können. Hierzu gehören viktimologische Themen (etwa psychische Verbrechensfolgen, Opferverhalten u. a.) ebenso wie Fragen der richterlichen Urteilsbildung, des Rechtsbewusstseins, der Verfahrensgerechtigkeit oder des rechtlichen Umgangs mit psychologischen Konzepten wie „Vorsatz“, „Wille“ oder „Reife“. Hommers (1991, S. 9) betonte nach einem historischen Abriss
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über eine unterschiedliche Verwendung des Begriffes Rechtspsychologie die „echte Wechselseitigkeit“ zwischen Recht und Psychologie: Bei einer „Psychologie im Recht“ gehe es darum, rechtliche Ziele mit Methoden der Psychologie zu erreichen, ohne dass die rechtlichen Ziele selbst Gegenstand der Analyse sind, während eine „Psychologie des Rechts“ das Recht zum Gegenstand kritischer Betrachtung unter psychologischer Perspektive macht.1 In diesem Kapitel erfolgt eine Beschränkung der Betrachtung auf den klassischen Ansatz der forensischen Psychologie im Sinne der einzelfalldiagnostischen Begutachtungskunde, also einer im positiven Sinne psychologischen Hilfswissenschaft des Rechts. Forensische Psychologie als Teil der Rechtspsychologie beinhaltet auch Beiträge der Psychologie zu anderen Rechtsgebieten als dem Strafrecht (z. B. Familienrecht oder Verwaltungsrecht). Hier soll sich jedoch auf das Strafrecht beschränkt werden. Gegenstandsbereiche der forensisch-psychologischen Begutachtung ergeben sich also aus Fragen des Strafrechts an die Psychologie. Diese können sowohl die Angeklagten als auch die Zeugen eines Strafverfahrens betreffen. Hinsichtlich der Angeklagten geht es um („regnostische“) Fragen nach deren Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt (bei jugendlichen Straftätern zunächst um ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit) oder um prognostische Einschätzungen ihrer Gefährlichkeit bzw. eines (Tat-)Wiederholungsrisikos. Hinsichtlich von Zeugen ergeben sich Fragen nach deren Aussagetüchtigkeit und/oder der Glaubhaftigkeit ihrer verfahrensbezogenen Aussagen. Aussagepsychologische Beurteilungen der Einlassungen von Angeklagten sind aus rechtlichen und methodischen Gründen im deutschen Strafrecht selten – sie betreffen in der Regel Fälle mit Geständnis und dessen Widerruf. Die aussagepsychologische Begutachtung stellt die eigentliche Domäne der forensischen Psychologie im strafrechtlichen Kontext dar (vgl. Kap. 6), während Schuld- und Prognosebegutachtungen überwiegend durch forensische Psychiater erfolgen, auch wenn dies nicht immer zwingend durch die Problemstellung des Einzelfalles indiziert ist. 1
Es ist müßig, wissenschaftlich eindeutige Definitionen der Begriffe Rechts-, Kriminaloder forensische Psychologie versuchen und sie eindeutig von benachbarten Disziplinen abgrenzen zu wollen, etwa von Kriminologie oder von forensischer Psychiatrie bzw. Kriminalpsychiatrie. Interessanterweise sind sowohl „Gerichtsmedizin“ als auch „Rechtsmedizin“ traditionelle Begriffe für die somatomedizinische forensische Begutachtungskunde, während sich eine „Rechtspsychiatrie“ begrifflich nie etabliert hat, nur die Bezeichnungen gerichtliche oder forensische Psychiatrie sind gebräuchlich. Wenig überzeugend ist es, für die gerichtspsychologische Tätigkeit, also die forensische Psychologie, synonym den Oberbegriff Rechtspsychologie zu verwenden – auch wenn die Föderation Deutscher Psychologenverbände im Bemühen um eine Qualitätssicherung forensisch-psychologischer Tätigkeit ihr Zertifikat entsprechend benannt hat, nämlich Fachpsychologin oder Fachpsychologe für Rechtspsychologie. Prüft man die Zertifizierungsbestimmungen der Ordnung für die Weiterbildung in Rechtspsychologie, die von der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen 1995 verabschiedet wurde, so ergibt sich, dass es sich im Schwerpunkt um ein Zertifikat zum Nachweis forensisch-psychologischer Erfahrungen und Kompetenzen handelt. (http://www.dgps.de/fachgruppen/rechts/auwei.html).
2.2 Gegenstandsbereiche und Methodik der psychologischen Begutachtung
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Da die einzelnen Gegenstandsbereiche forensisch-psychologischer Begutachtung wohl mit Ausnahme der Begutachtung zur Verhandlungs-, Vernehmungs- und Haftfähigkeit (vgl. Kap. 5) sich mit denen forensisch-psychiatrischer Begutachtung weitgehend überlappen und in den folgenden Kapiteln dargestellt werden (zur Kriminalprognose vgl. Bd. 3 dieses Handbuchs), liegt der Schwerpunkt dieses einleitenden Kapitels auf allgemeinen und methodischen Aspekten. Zunächst wird reflektiert, dass eine eigenschaftsorientierte Sichtweise (im Sinne von „Dieser Täter ist schuldfähig bzw. nicht schuldfähig“, „Dieser Täter ist gefährlich“ bzw. „Dieser Zeuge ist glaubwürdig“) den forensischen Fragestellungen nicht ausreichend gerecht wird, sondern dass die zu beurteilenden rechtlichen Konzepte immer eine Person-Situation-Interaktion betreffen (z. B. „schuldfähig zum Tatzeitpunkt unter den seinerzeit herrschenden Bedingungen“). Daraus ergeben sich grundsätzliche methodische Überlegungen: Einem personenbezogenen Beurteilungsmodell psychologischer Diagnostik per Menschenkenntnis oder per Eigenschaftsbeurteilung wird das Diagnostikmodell einer hypothesengeleiteten Problemlöseprozedur gegenübergestellt. Die daraus resultierenden Gütemaßstäbe für forensisch-psychologische Begutachtungen werden um gegenwärtige Aspekte der Qualitätsdebatte über forensisch-psychologische bzw. -psychiatrische Gutachten erweitert. Es wird dargestellt, dass ein berufständisches Kompetenzgerangel zwischen forensischer Psychologie und forensischer Psychiatrie unnötig ist und dass kein „Führungsanspruch“ einer dieser Disziplinen über die andere berechtigt ist.
2.2.2 Gegenstandsbereiche forensisch-psychologischer Begutachtungen 2 Psychologische Diagnostik im Allgemeinen ist in der Vorstellung der meisten psychologischen Laien mit der Zielsetzung verbunden, die individuelle Eigenart von Menschen festzustellen. Historisch lassen sich zwei Entwicklungslinien der Menschenbeurteilung erkennen (Hehlmann 1963). Die eine besteht in der Auffassung, dass Seelisches sich im Körperlichen ausdrücke und damit im Körperlichen zu erkennen sei. Die zweite Entwicklungslinie besteht in der Beschreibung charakteristischer Grundzüge von Menschen in so genannten Typologien. Für beide Entwicklungslinien lassen sich in Anlehnung an Hehlmann (a. a. O.) prägnante Beispiele anführen: u. a. die vier Temperamente der alten Griechen mit ihrer Beziehung zur Beschaffenheit des Blutes, der Zusammenhang von Temperament und Physiognomie bei Johann Caspar Lavater im 18. Jahrhundert und die Kretschmerschen Körperbautypen mit ihrer Beziehung zu typischen Charakteren (Kretschmer 1931). Wesentliche Komponenten dieses (historischen) Diagnostikverständnisses sind „Abbildung“ (des Eigentlichen, aber Verborgenen) der menschlichen Psyche im Körperlichen und „Deuten“ (des Vordergründigen, 2
Die Ausführungen in diesem Abschnitt sind eine aktualisierte Fassung der Überlegungen von Steller (2005 a).
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des Erkennbaren) im Sinne des Eigentlichen (aber eben Verborgenen). Die Indikatorfunktion des Körperlichen kann dabei verfeinert (z. B. Chiromantie, Phrenologie) bzw. auch ganz ersetzt werden durch menschliche Äußerungsformen (Mimik, Pantomimik) oder Gestaltungen (z. B. Graphologie). Das Bedürfnis, die individuelle Eigenart von sich selbst und seinen Mitmenschen zu erkennen, ist offenbar so ursprünglich und elementar im Menschen verankert, dass selbst Leerformeln gern übersehen werden. Auch vor Gerichten kann man mit Tautologien wie „Der Proband verhält sich so gewalttätig, weil er einen aggressiven Charakter hat“ oder „Der sexuelle Übergriff ist auf eine sexuelle Devianz zurückzuführen“ durchaus bestehen, zumal, wenn diese Tautologien weniger offenkundig, d. h. mit nicht allgemein gebräuchlichen Begriffen, vorgebracht werden. Das Grundbedürfnis nach Menschenkenntnis kann auch begünstigen, dass die interpretierenden Begrifflichkeiten bestimmter Persönlichkeits- oder Entwicklungstheorien (z. B. Metaphern wie das Drei-Instanzen-Modell von Über-Ich, Ich und Es oder die psychoanalytische Entwicklungslehre mit der schicksalhaften Bedeutung bestimmter Körperregionen für ein gedeihliches Heranwachsen) wegen ihrer Anschaulichkeit nicht nur bei psychologischen Laien gern zu vermeintlichen Realitäten mutieren. Das hier nur kurz skizzierte Abbildkonzept von psychologischer Diagnostik, das einen Höhepunkt in der Entwicklung psychologischer Tests hatte, geriet in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den USA und mit der üblichen Verzögerung bei uns etwas später in eine tiefe Krise. In dieser „Krise der Diagnostik“ (Pulver 1975) wurde die Zielsetzung von Psychodiagnostik als Menschenkenntnis aus methodischen und ethischen Gesichtspunkten in Frage gestellt. Schließlich kam es zu einer Absage an Notwendigkeit und Möglichkeit der umfassenden Menschenbeurteilung. Ergebnis dieser Erschütterung mit anschließender konstruktiver Aufarbeitung der Krise im Sinne einer „Diagnose der Diagnostik“ (Pawlik 1976) war eine Neubestimmung der Aufgabe von Psychodiagnostik. Als ihr Ziel wurde die „Optimierung von Problemlösungen“ und nicht (mehr) die umfassende Persönlichkeitsbeurteilung definiert. Mit dem Paradigmenwechsel war die Betonung verbunden, dass Psychodiagnostik keinen Aufdeckungs- und Deutungsprozess für Verborgenes, sondern einen hypothesengeleiteten Prüfprozess darstellt, um zu Entscheidungen bei praktischen Problemstellungen beizutragen (vgl. 2.2.3). In der forensisch-psychologischen Begutachtung wird die personenbezogene Betrachtungsweise durch die Formulierung der juristischen Fragestellungen nahe gelegt. Im Folgenden soll für die forensisch-psychologischen Gegenstandsbereiche gezeigt werden, dass eine ausschließlich oder vorwiegend personenbezogene Begutachtung zur sachgerechten Beantwortung der juristischen Fragestellungen nicht ausreicht. z Forensisch-psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtungen werden von Staatsanwaltschaften oder Gerichten in Fällen in Auftrag gegeben, in denen Zeugen zugleich die vermeintlichen Opfer darstellen, andere Personal- oder Sachbeweise fehlen oder besondere Schwierigkeiten der Aus-
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sagebewertung vorliegen. Aus den genannten Voraussetzungen ergibt sich, dass die Mehrzahl der Fälle Sexualdelikte an Kindern (meistens Mädchen) oder Frauen betrifft. Der Gutachtenauftrag lautet in der Regel dahingehend, dass die Glaubwürdigkeit der Zeugin oder des Zeugen XY beurteilt werden möge, wobei traditionell eine allgemeine Glaubwürdigkeit der Zeugin bzw. des Zeugen von ihrer bzw. seiner speziellen Glaubwürdigkeit unterschieden wurde. Psychologen haben nun seit den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts immer wieder darauf hingewiesen, dass das personale Konstrukt einer allgemeinen Glaubwürdigkeit problematisch ist (Undeutsch 1954). Es kann wissenschaftlich nämlich nicht gelingen, eine eindeutige Definition von allgemeiner Glaubwürdigkeit im Sinne eines Eigenschaftskonzeptes zu erstellen. Für das aussagebezogene Konzept der speziellen Glaubwürdigkeit gilt außerdem die Frage, warum die spezielle Glaubwürdigkeit eines Zeugen nicht gleich als Glaubhaftigkeit seiner Aussage bezeichnet wird. Dies hätte den Vorteil, konzeptionelle Irrtümer zu vermeiden, die sich aus der Wortkombination allgemeine und spezielle Glaubwürdigkeit ergeben. Diese Begrifflichkeit birgt nämlich die Gefahr, eine hierarchische Beziehung zwischen allgemeiner und spezieller Glaubwürdigkeit anzunehmen. Eine solche ist natürlich nicht gegeben. Es ist trivial, dass Feststellungen über die allgemeine Glaubwürdigkeit einer Person keine hinreichend eindeutigen Beziehungen zur Glaubhaftigkeit von spezifischen Bekundungen dieser Person aufweisen. Bereits der Volksmund weist auf die weite Verbreitung einer charakterbezogenen Glaubhaftigkeitseinschätzung hin („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht . . .“), gleichzeitig macht der Volksmund aber die Fehlerhaftigkeit dieser Beurteilungsstrategie deutlich („ . . . und wenn er auch die Wahrheit spricht“). Es erscheint einleuchtend, statt von spezieller Glaubwürdigkeit einer Person schlicht von der Glaubhaftigkeit einer Aussage zu sprechen – nur Feststellungen zu diesem Sachverhalt sind letztlich bei der gerichtlichen Rekonstruktion von Lebenssachverhalten von Bedeutung. Auch die so genannte Zeugentüchtigkeit, also die Fähigkeit zur sachgerechten Wahrnehmung, Speicherung und Reproduktion von Ereignissen, lässt sich nicht ausschließlich personen-, sondern nur sachverhaltsbezogen beurteilen und sollte daher zutreffender als Aussagetüchtigkeit bezeichnet werden (vgl. Kap. 6). Allenfalls bei sehr jungen Kindern, in Grenzbereichen schwerer geistiger Behinderung oder bei geistiger Erkrankung kann eine Einschränkung von Aussagetüchtigkeit „allgemein“ gegeben sein (vgl. Steller u. Volbert 1997; Volbert 2005 a sowie in Bezug auf Personen mit psychopathologischen Störungen Böhm u. Lau 2005). In der forensisch-psychologischen Glaubhaftigkeitsbeurteilung wurden die vorgetragenen Überlegungen seit Jahrzehnten konsequent in die Praxis umgesetzt (jedenfalls dort, wo sie sachgerecht durchgeführt wird): Statt einer Personenbegutachtung (Zeugenbegutachtung) wird eine Aussagebegutachtung vorgenommen. Eine Begutachtung der Aussage führt zu ganz anderen diagnostischen Suchstrategien als eine Persönlichkeits-
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begutachtung. Die systematische Analyse des Inhalts von Aussagen anhand definierter so genannter Realkennzeichen (früher: Glaubwürdigkeitsmerkmale) führt heute zu recht sicheren Unterscheidungen von Bekundungen über tatsächliche Erlebnisse von erlogenen Darstellungen. Dass die personale Kompetenz des Aussagenden, seine „Erfindungs-“ bzw. potentielle Lügenkompetenz, den Bezugspunkt für die qualitative Aussageanalyse bildet, widerspricht nicht den dargelegten Überlegungen. Eine Persönlichkeitsdiagnostik als Bezugsrahmen für die Aussageanalyse ist etwas grundsätzlich anderes als die Befundung einer „allgemeinen Glaubwürdigkeit“ eines Zeugen. Der Bundesgerichtshof hat in einem Grundsatzurteil vom 30. Juli 1999 über wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen eindeutig Stellung bezogen (BGHSt 45, 164): Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist (. . .) nicht die Frage einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen (. . .).
Konsequent spricht der BGH daher auch von Glaubhaftigkeits- und nicht mehr von Glaubwürdigkeitsbegutachtungen. Durch zeitgeistige Fehlentwicklungen im Umgang mit dem Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch spielt in zahlreichen aussagepsychologischen Begutachtungsaufträgen seit Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts weniger die Problematik „Lüge oder Wahrheit“ eine Rolle als vielmehr die Frage, ob die kindliche Aussage erlebnisbasiert ist oder ob sie ein Produkt suggestiver Beeinflussung durch so genannte Aufdeckungsarbeit darstellt. Die Probleme suggestiver Aufdeckungsarbeit wurden einem breiten Publikum durch vermeintliche Massenmissbrauchsverfahren wie zum Beispiel dem so genannten Montessori-Prozess vor dem Landgericht Münster (Köhnken 1997, 2000) oder den so genannten Wormser Verfahren vor dem Landgericht Mainz bekannt (Steller 1998, 2000), die sämtlich mit Freisprüchen endeten. Den an den Verfahren beteiligten kindlichen Zeuginnen und Zeugen waren in wochen- bzw. monatelangen Prozeduren mit starken suggestiven Komponenten Vorstellungen eingeredet worden, sexuell missbraucht worden zu sein. Auch für die Suggestionsproblematik gilt, dass ein personenbezogenes Konzept von kindlicher Suggestibilität inadäquat ist. Nicht die Kinder stellen das Problem dar, sondern die pseudopsychologisch begründeten „Aufdeckungs“-Techniken von engagierten Missbrauchsfahndern. Es hat sich nämlich empirisch gezeigt, dass Persönlichkeitseigenschaften von Kindern (etwa geringe kognitive Leistungsfähigkeit oder Submissionstendenzen) zwar eventuell katalysierend für suggestive Einflüsse wirken können, dass aber die eigentlichen Determinanten von Suggestion außerhalb der kindlichen Aussageperson liegen. Befragervoreinstellungen und Verwendung von suggestiven Befragungsmethoden haben den entschei-
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denden Anteil an der Entstehung von suggestionsbedingten Pseudoerinnerungen (Erdmann 2001, Volbert 2005 b). Die adäquate Problemstellung ist nicht die Suggestibilität kindlicher Zeugen, sondern es geht um potentiell suggestive Komponenten im Umgang mit dem Verdacht auf sexuellen Kindesmissbrauch. z Auch der Gegenstandsbereich Schuldfähigkeitsbegutachtung beinhaltet potentielle Fehler einer überwiegend personenbezogenen diagnostischen Perspektive. Unter dem hier diskutierten Paradigmenwechsel forensischpsychologischer Diagnostik kann bereits der Begriff der Schuldfähigkeit problematisiert werden. Schuldfähigkeit hieß ja früher – d. h. vor der Strafrechtsreform von 1975 – Zurechnungsfähigkeit 3 (und war damals in § 51 StGB definiert). Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit stellt sich im Kontext der hier angestellten Überlegungen wegen der Wortkomponente „Fähigkeit“ auch nicht als optimal dar, er war aber weniger personenbezogen als der Begriff der Schuldfähigkeit. Der juristische Terminus Schuldfähigkeit könnte für die forensische Begutachtung nahe legen, dass es sich um ein personales Konstrukt handele, das per Diagnostik erkannt bzw. aufgedeckt werden könne. Für die Existenz eines personalen Konstrukts von Schuldfähigkeit gibt es aber keine logischen Begründungen. Man braucht sich ja nur vor Augen zu halten, dass dasselbe Individuum bei verschiedenen Delikten und unter verschiedenen Bedingungen durchaus unterschiedlich schuldfähig sein kann bzw., richtiger ausgedrückt, unterschiedlich klassifiziert werden kann. So wenig wie Menschen einen Intelligenzquotienten oder eine allgemeine Glaubwürdigkeit besitzen, so wenig besitzen sie Schuldfähigkeit. Schuldfähigkeit entsteht vielmehr am Ende eines juristischen Wertungsprozesses, der die Interaktion von personalen und situativen Bedingungen zum Gegenstand hat. Schuldfähigkeitsbeurteilung ist damit das Ergebnis eines Zuschreibungsprozesses und nicht ein Ergebnis psychodiagnostischer Aufhellung einer nicht direkt erkennbaren Personeneigenschaft. Im Rahmen der Schuldfähigkeitsbegutachtung stellt die Kategorie der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung einen Gegenstandsbereich dar, der besonders anfällig ist für personenbezogene Fehlbegutachtungen. Forensische Psychiatrie und forensische Psychologie haben noch keine verbindliche Beschreibung des Phänomens geliefert, das dem juristischen Konzept einer (affektbedingten) „tiefgreifenden Bewußtseinsstörung“ entsprechen könnte (s. a. Greuel 1997; Endres 1998), denn die tiefgreifende Bewusstseinsstörung als rechtlicher Begriff ist nicht ohne Weiteres gleichzusetzen mit psychiatrischen Definitionen von Bewusstseinszuständen bzw. ihren Störungen. Kröber (1993, S. 93) plädierte für eine enge psychiatrische Definition der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, um diese nicht zu einem „inhaltsleeren Begriff“ zu machen. Letzteres geschehe, wenn man Täterverfassungen (psychische Zustände) durch das 3
Ebenso in § 15 Strafgesetzbuch der DDR.
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Nadelöhr der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung presse, die zwar eine hohe Angespanntheit, aber eben nichts krankheitsartig Gestörtes erkennen ließen. Ganz im Sinne der hier vorgetragenen Analyse lässt sich in der wissenschaftlichen Literatur eine Entwicklung weg von der Analyse des Affekttäters (Titel einer Dissertation von Diesinger 1976) hin zur Analyse der Affekttat (stellvertretend sei das Herausgeberbuch von Saß (1993) genannt) feststellen. Kröber (1993, S. 77) formulierte: „Unmöglich ist wohl eine täterbezogene Definition des Affektdelikts.“ Betrachtet man die Erscheinungsjahre der Bücher von Diesinger und Saß, so erscheint die eindeutig tatbezogene Analyse von Rasch (1964) über die Tötung des Intimpartners als unzeitgemäß im positiven Sinne einer Pionierleistung. Die interaktionistische Betrachtungsweise, d. h. die Berücksichtigung von Merkmalen sowohl der Person als auch der Situation und die Berücksichtigung ihrer Wechselwirkungen, gilt auch für Verhaltensprognosen. Sie beinhaltet für Forschung und Begutachtungspraxis andere Suchrichtungen als die einseitige Favorisierung der Personenperspektive (vgl. ausführlich die jeweiligen Kapitel von Dahle und von Kröber in Bd. 3 dieses Handbuches). Ein Prognosegutachten hat die wahrscheinlich verhaltensdeterminierenden Anteile von Personen- und Situationsfaktoren herauszuarbeiten und durch gegebenenfalls alternative Wenndann-Aussagen auf denkbare zukünftige Situationen zu projizieren. Nur in seltenen Fällen dürfte ein Täter sich per Persönlichkeitsdiagnostik als situationsinvariant „gefährlich“ erweisen. Es gibt weitere Beispiele für irreführende personenbezogene Konstrukte in der forensischen und Kriminalpsychologie und ihre weit verbreitete unkritische Akzeptanz nicht nur bei psychologischen Laien (Steller 2005 a). Beispielhaft soll nur noch auf die so genannte Therapieeignung von psychisch gestörten Straftätern hingewiesen werden. Die fehlende Eignung von bisher entwickelten Therapiemethoden für bestimmte Personengruppen wird weitgehend nicht als Methodendefizit identifiziert, sondern als personales Defizit der zu Behandelnden. Eine Perspektive, die im somatischen Bereich eher als skurril bewertet werden würde (wenn man zum Beispiel die Unbehandelbarkeit von Erkältung oder Aids ursächlich auf Eigenschaften der Erkrankten und nicht auf fehlende Behandlungsmethoden oder fehlende Medikamente attribuieren würde), wird im forensischen Bereich von Auftraggebern und Gutachtern für seriös gehalten. Es erscheint einleuchtend, dass eine solche Perspektive Entlastungsfunktion hat, da sie die Notwendigkeit zur Entwicklung zielgruppenspezifischer Interventionsmethoden verdeckt (zu einem differenzierten Konzept der Therapiemotivation vgl. Dahle 1995, 1998). Zusammenfassend wird festgestellt: In der forensisch-psychologischen Begutachtung spielen Konzepte eine Rolle, die eine personenbezogene Definition nahe legen (Glaubwürdigkeit, Schuldfähigkeit, Gefährlichkeit), eine forensisch-psychologische Begutachtung, die ausschließlich oder vorwiegend
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unter persönlichkeitsdiagnostischer Perspektive stattfindet, ist aber notwendigerweise mit Fehlern behaftet. Psychodiagnostik verfolgt ganz grundsätzlich nicht das Ziel, Verborgenes im Menschen aufzudecken und abzubilden. Psychodiagnostik im Allgemeinen und forensisch-psychologische Begutachtung im Speziellen bestehen in der hypothesengeleiteten Problembearbeitung bzw. Beantwortung von Fragen des Rechts, was im folgenden Abschnitt näher erläutert werden wird.
2.2.3 Methodik: hypothesengeleitete Begutachtung Bei forensisch-psychologischen Begutachtungen determinieren eine juristische Zielvorgabe, bestehend aus einer Ausgangsfrage, und anfallende Informationen, nämlich „Anknüpfungstatsachen“ in Akten, die Durchführung von zielgerichteten Aktivitäten der Informationssammlung durch den beauftragten Gutachter zum Zwecke der Gewichtung dieser Informationen („Daten“) für Entscheidungen bzw. Entscheidungsvorbereitungen, da die endgültige forensische Entscheidung durch den Auftraggeber erfolgt. Das in 2.2.2 erwähnte Abbildkonzept von Psychodiagnostik als Methodik zur Kategorisierung von Menschen (Menschenbeurteilung) kann die notwendige Integration von Personen- und Situationsvariablen bei der Bearbeitung von forensisch-psychologischen Fragestellungen schon deswegen nicht leisten, weil die Informationssammlung (Datenerhebung) durch den Gutachter nicht nur Personeneigenschaften des zu Begutachtenden betrifft, sondern zusätzlich andere Personen und besonders auch situative Gegebenheiten einschließen muss. Forensisch-psychologische Begutachtung folgt demselben gedanklichen Konzept wie moderne Psychodiagnostik im Allgemeinen nach Vollzug des erwähnten Paradigmenwechsels (vgl. Kaminski 1970; Jäger 1983; Steller u. Dahle 2001). Juristische Ausgangsfragen lassen sich auf allgemeiner Ebene in notwendige Themenfelder gutachterlicher Bearbeitung übersetzen – etwa die Spezifizierung der Eingangsvoraussetzungen von verminderter oder aufgehobener Schuldfähigkeit durch psychologische bzw. psychiatrische Störungsbilder. Die einzelfallbezogene Bearbeitung dieser allgemeinen Themenfelder folgt aber keiner allgemein gültigen Routine, die konkrete Bearbeitung des Einzelfalls hängt nämlich von einzelfallspezifisch anfallenden Informationen und im weiteren Verlauf von den Ergebnissen der eigenen Erhebungen des Gutachters ab. Die folgende Abb. 2.1 verdeutlicht die notwendigen gedanklichen und praktischen Schritte im Rahmen forensisch-psychologischer Begutachtungen. Das Modell verdeutlicht, dass Akteninformationen beim Gutachter unmittelbar zur Bildung von Hypothesen führen. Beispielhaft sei ein Fall der Begutachtung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Jugendlichen angenommen. Enthält die Akte die Information, bei dem zu Begutachtenden handele es sich um einen Absolventen einer Sonderschule für Lernbehinderte, so wird der Gutachter Hypothesen zum psychologischen Konstrukt
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Fallunspezifische Umformulierung in psychodiagnostischen Einzelfragen
Globale forensische Fragestellung mit „Fallschilderung” (Aktenlage) als „zufälligem” Dateneingang
Fallspezifische vorläufige psychodiagnostische und forensische Hypothesenbildung
Hypothesen ausreichend für psychodiagnostische Inferenzen?
ja
Systematische forensische Hypothesenbildung
nein
Planung und Durchführung systematischer Datenerhebung
nein
Hypothesen ausreichend für forensische Inferenzen?
ja
Gutachtenerstellung
Abb. 2.1. Strukturmodell forensisch-psychologischer Diagnostik
„Intelligenz“ bilden, möglicherweise auch schon Vorüberlegungen anstellen (also Hypothesen bilden) zum forensischen Konstrukt „Einsichtsfähigkeit“. Die Hypothesenbildung ist an dieser Stelle notwendigerweise noch sehr breit und wenig spezifisch. Der Diagnostiker wird im Folgenden zielgerichtete Aktivitäten der Datenerhebung durchführen zwecks Spezifizierung und Prüfung seiner Hypothesen. So kann die Intelligenzhypothese u. a. durch Einsatz eines psychometrischen Tests überprüft werden, dessen Auswahl durch Alter und angenommenes Intelligenzniveau des zu Testenden mitbestimmt wird, da es universell einsetzbare Tests nicht gibt. Für die Bearbeitung eines Falles besonders interessante Informationen ergeben sich häufig gerade dann, wenn für ähnliche oder identische Gegenstandsbereiche erhebliche Differenzen zwischen verschiedenen Datenquellen vorliegen, im Beispiel: wenn der Absolvent einer Schule für Lernbehinderte im Intelligenztest ein weit überdurchschnittliches Ergebnis erzielen sollte. Diese „Diskrepanzdiagnostik“ (Steller u. Dahle 2001) ist deswegen weiterführend, weil sie im diagnostischen Prozess neue Hypothesenbildungen anstößt, im Beispiel: die Hypothese eines „Underachievement“ als perzipiertes Versagen
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mit Delinquenz als Bewältigungsversuch mit der Folge notwendiger Diagnostik in Bereichen wie Selbstwerterleben und Frustrationstoleranz. Am Beispiel kann auch verdeutlicht werden, dass für Zwecke der „forensischen Inferenz“ nicht nur personen-, sondern auch tatbezogene Informationen nötig sind, geht es ja u. a. um die Unrechtseinsichtsfähigkeit in Bezug auf die spezifische Tat zum spezifischen Tatzeitpunkt. Das Modell beinhaltet, dass Art und Umfang notwendiger Datenerhebungen nicht allgemein, sondern nur fallspezifisch bestimmt werden können. Es ist prinzipiell denkbar, wenn auch in der Praxis wohl nicht häufig vorkommend, dass Akteninformationen bereits zur psychologischen und forensischen Hypothesenbildung und Inferenz ausreichen. Bei den Entscheidungsrhomben in der Abbildung würde die Antwort dann jeweils den Weg direkt zum „Ausgang“, also zur Gutachtenerstellung, ermöglichen. Rückschleifen im Modell verdeutlichen, dass Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung im diagnostischen Prozess permanent stattfinden und nicht etwa erst nach Abschluss der Datenerhebung. Ein Datum erfüllt sowohl die Funktion der Hypothesenprüfung als auch die der Hypothesengenerierung. Ein diagnostisches Datum ist somit Befund und zugleich Steuerungsglied des diagnostischen Prozesses. Sowohl auf der Makroebene (Verfahrensauswahl zwischen Tests, Befragung, Beobachtung u. a.) als auch auf der Mikroebene (Auswahl bestimmter Fragen oder Aufgaben) muss der Diagnostiker nach diesem Modell in der Lage sein, seine so genannten investigatorischen Entscheidungen zu jedem Zeitpunkt aus dem zu diesem Zeitpunkt gültigen Hypothesenbestand zu begründen. Ein hypothesengeleitetes Vorgehen reguliert also Art und Umfang der Datenerhebung im Rahmen einer forensischen Begutachtung. Das Konzept von Diagnostik als hypothesengeleitetem Entscheidungsprozess lässt u. a. einen regelmäßigen Einsatz von a priori zusammengestellten Testbatterien fragwürdig erscheinen. Es wird auch die Logik von rein persönlichkeitsbeschreibenden psychologischen Zusatzgutachten zu psychiatrischen Gutachten in Frage gestellt. Eine routinemäßige, nicht fallbezogen begründete „Testpsychologie in psychiatrischen Gutachten“ (vgl. bereits Heim 1985), deren Ergebnisse häufig gar nicht in die diagnostischen Schlussfolgerungen des Psychiaters integriert werden, ist unvereinbar mit der Vorstellung von Psychodiagnostik als Einsatz zielgerichteter Datensammlung zum Zwecke der Gewichtung dieser Daten für Entscheidungen. Natürlich können bei von Psychiatern bearbeiteten forensischen Fragestellungen psychologische Tests eingesetzt werden, die vorgetragene Kritik stellt auch nicht das Zusammenwirken von Psychologen und Psychiatern im konkreten Einzelfall in Frage. Unzulänglich ist aber die Verwendung von Tests, wenn ihr Stellenwert zur Prüfung diagnostischer Hypothesen nicht deutlich gemacht wird – das gilt sowohl im Rahmen forensisch-psychologischer Begutachtungen als auch im Rahmen von Zusatzbefundungen zu forensisch-psychiatrischen Begutachtungen. Am Modell lässt sich auch zeigen, dass in die diagnostische Inferenz Daten von sehr unterschiedlicher Herkunft, Qualität und Komplexität einge-
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hen. Eine Antwort in der Exploration ist ebenso ein diagnostisches Datum wie ein Wert auf einer Fragebogenskala oder in einem Intelligenztest. Für die Regeln der diagnostischen und forensischen Inferenz, d. h. für die Verknüpfungsregeln zu diesen Daten, gilt das Gleiche wie für die Einzeldaten: Der Diagnostiker verwendet Verknüpfungsregeln sehr unterschiedlicher Art. Während die Inferenz vom Ankreuzverhalten eines Individuums bei Fragebogen-Items auf die Ausprägung eines psychischen Merkmals in standardisierten Regeln vorgegeben ist (der Diagnostiker schlägt lediglich in Tabellen nach, es ist auch eine computerisierte Auswertung möglich), inferiert der Diagnostiker auch von anfallenden Beobachtungen des Verhaltens, von einzelnen Äußerungen des untersuchten Probanden oder von Drittpersonen über ihn auf das Vorliegen desselben Merkmals, das er mit dem Fragebogen zu erfassen versucht. Für solche Daten sind die Inferenzregeln natürlich nicht standardisiert, es ist nicht auszuschließen, dass ein Diagnostiker sie wenig reflektiert, sondern „klinisch-intuitiv“ benutzt. Das dargestellte Modell forensisch-psychologischer Diagnostik ist zugleich deskriptiv, da es den Ist-Zustand von Abläufen gutachterlichen Denkens und Handelns erfasst, es ist aber auch normativ in dem Sinne, dass es einen Soll-Zustand formuliert: Statt implizit ablaufender Hypothesenbildungen und Inferenzen sind explizite, begründbare systematische und vollständige Hypothesenbildungen und -prüfungen zu fordern, die im Gutachten transparent darzustellen sind. Nur auf diese Weise können Unabhängigkeit von gutachterlichen „Vorurteilstrukturen“ (Pfäfflin 1978) und Gutachterübereinstimmung wenigstens annäherungsweise erreicht werden. Anhand des Modells lässt sich auch belegen, dass eine diagnostische Aussage immer nur das vorläufige Endergebnis einer Verknüpfung von Einzeldaten zu Hypothesen darstellt. Eine diagnostische Aussage behält zu jedem Zeitpunkt den Charakter einer Hypothese. Da formalisierte oder gar quantifizierbare Entscheidungsregeln zur Beendigung notwendiger Datenbeschaffungen nicht existieren, können keine verbindlichen Regeln für Art und Umfang sowie für die Beendigung eines diagnostischen Prozesses im Einzelfall formuliert werden. Dennoch herrscht diesbezüglich keine Willkür: Mit dem Modell hypothesengeleiteter forensisch-psychologischer Begutachtung lässt sich unnötige Breitbanddiagnostik identifizieren. Kinder- und jugendpsychiatrische Verbände forderten 1999 in etwa zeitgleich zum aussagepsychologisch relevanten BGH-Urteil in einer Art Resolution4, bei Glaubhaftigkeitsbegutachtungen routinemäßig internistische und entwicklungsneurologische Untersuchungen (z. B. EKG) durchzuführen. Kindliche und jugendliche Zeugen seien außerdem gemäß einer Diagnostik zu begutachten, die sich nach den Klassifikationskriterien für psychische Störungen richtet. Steller und Volbert (2000) kritisierten die geforderten 4
Stellungnahme zur Glaubwürdigkeitsbegutachtung der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (DGKJP) und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte.für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (1999). In: Z Kinder Jug-Psych 27:72–75.
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körperlichen Untersuchungen als unnötig und wiesen auf die Pathologisierung kindlicher Opferzeugen hin, wenn man regelhaft bei Missbrauchserfahrungen auf psychische Störungen von Zeugen schließt. Berufsständische Versuche der Kinder- und Jugendpsychiater, die psychologische Glaubhaftigkeitsbegutachtung für sich zu reklamieren, wurden in der Resolution überdeutlich, ökonomische Aspekte einer überflüssigen körperlichen Diagnostik (inklusive Labordiagnostik) wurden dabei ebenso ausgeblendet wie ethische Aspekte einer unnötigen Belastung von Opferzeugen durch eine Breitbanddiagnostik. Von Einzelfällen abgesehen wird bei Glaubhaftigkeitsbegutachtungen keine der vorgeschlagenen körperlichen Befundungen mit fallspezifischen Hypothesen begründbar sein. Es erscheint unnötig, zu betonen, dass hier natürlich nicht einer Beweissicherung durch körperliche Untersuchung in den wenigen Missbrauchsfällen, in denen dies möglich erscheint, widersprochen werden soll. Das Beispiel verdeutlicht eine Interdependenz von methodischen und ethischen Aspekten der forensisch-psychologischen Begutachtung, auf die im folgenden Abschnitt über Qualitätssicherung noch einmal eingegangen wird. Hier soll zunächst die methodische Metaperspektive einer hypothesengeleiteten Begutachtungsstrategie um einige methodische Einzelaspekte ergänzt werden. Es geht um die verschiedenen Möglichkeiten zur Datenerhebung im Begutachtungsprozess. z Das psychodiagnostische Gespräch spielt in der forensisch-psychologischen Begutachtung nicht nur gemessen an seinem zeitlichen Umfang in Relation zu anderen Verfahren eine herausragende Rolle. Der grundsätzliche Streit um das psychodiagnostische Gespräch als „Via regia der psychologischen Diagnostik“ (Walther 1941, zitiert nach Undeutsch 1982, S. 353) oder als – gemessen an teststatistischen Gütekriterien – völlig unzulängliches Instrument der Datenbeschaffung hat die Praxis unberührt gelassen. Psychodiagnostische Gespräche dienen als Anamnese zur Rekonstruktion der Biographie von zu Begutachtenden und als Exploration zur Feststellung gegenwärtiger Befindlichkeiten oder im forensischen Bereich auch zur Einholung von Feststellungen „zur Sache“. Die hohe Wertschätzung des psychodiagnostischen Gespräches als Datenerhebungsinstrument mag auch darin begründet sei, dass es anders als bei standardisierten Tests im psychodiagnostischen Gespräch möglich ist, jedes einzelne Item (jede Frage) dem Fortgang der Hypothesenbildung anzupassen, also auf der Mikroebene ein antwortadaptives Vorgehen zu realisieren. Psychodiagnostische Gespräche werden daher in der Praxis nicht nur zur Hypothesengenerierung eingesetzt, sondern mindestens gleichberechtigt zu anderen Verfahren der Datenerhebung auch zur Verifizierung bzw. Falsifizierung von Hypothesen. Wenn Jäger (1983, S. 188) für die allgemeine Psychodiagnostik noch berechtigte Kritik an der „überwiegenden Theorielosigkeit in der Datenerfassung“ bei psychodiagnostischen Gesprächen üben konnte, so ist seine damalige Forderung, für „bestimmte praktische Fragestellungen“ ein „Datenordnungssystem oder gar ein Determinationsmodell zur Auflis-
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tung konkreter Items oder bestimmter Inhaltsbereiche“ zu erstellen, in der forensischen Begutachtung für verschiedene Gegenstandsbereiche wenigstens zum Teil erfüllt worden. In der Glaubhaftigkeitsbegutachtung (vgl. Kap. 6) leiten u. a. die so genannten inhaltlichen Realkennzeichen Methodik und Themen der Exploration zur Sache. Die im diagnostischen Urteilsprozess (später) anzuwendenden Beurteilungskriterien (die Realkennzeichen nach Steller u. Köhnken 1989) bestimmen logischerweise die „Suchrichtung“ bei der Befragung des Zeugen zur Sache (also die Hypothesenbildung des Sachverständigen) und grenzen daher die Varianz des Vorgehens unterschiedlicher Gutachter ein. Eine analoge Feststellung kann für die Beurteilung einer affektbedingten „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ im Rahmen der Schuldfähigkeitsbegutachtung getroffen werden. Während Rasch (1980, S. 1312) kritisierte, dass so genannte Affektmerkmale „zerbröckeln, sobald man sich ihrer zu bedienen versucht“, urteilte Wegener (1981, S. 84), dass die so genannten Affektmerkmale in der forensischen Literatur das „Stadium der anekdotenhaften Darstellung überschritten“ hätten. Durch die Kriteriologien zur Affektbeurteilung von Saß (1983) und ihre Einbettung in einen komplexen Begutachtungsvorgang (siehe dazu diverse Autoren in Saß 1993) dürfte heute eher die Position von Wegener Geltung beanspruchen können. Die beispielhaft genannten Versuche zur Erhöhung der Konkordanz zwischen verschiedenen Exploratoren durch deren Ausrichtung auf systematisierte Kriteriologien praxeologischer Genese könnten und sollten durch Versuche ergänzt werden, handlungstheoretische Modelle für bestimmte Deliktbereiche und/oder Gegenstandsbereiche der Begutachtung zu entwerfen und so zu spezifizieren, dass sie „abfragbare Details“ identifizierbar machen können. Beispielhaft sei für entsprechende Entwicklungen erneut auf die Prognosebegutachtung verwiesen (vgl. Bd. 3 dieses Handbuchs). z Verhaltensbeobachtungen, also Feststellungen von para- und nonverbalen Äußerungen eines zu Begutachtenden, die seine Exploration begleiten, haben trotz ihrer wahrscheinlich geringen Eindeutigkeit ihren Stellenwert in forensisch-psychologischen Begutachtungen, wobei die Formulierung „Verhaltensbeobachtung“ die Reserve und die Vorsicht von Psychologen bei der Integration solcher Daten in ihre Inferenzen signalisiert. Psychiater verhalten sich diesbezüglich in der Regel großzügiger, indem sie einen (nur vermeintlich „inter-rater-reliablen“) „psychischen Befund“ zum regelmäßigen Bestandteil ihrer Gutachten definieren. z Viele forensische Fragestellungen lassen den Einsatz von psychologischen Leistungstests oder Intelligenztests zur Hypothesenbildung und -prüfung sinnvoll erscheinen (s. o.), Bedenken bestehen allerdings gegen einen routinemäßigen Einsatz bestimmter Verfahren oder ihrer Kurzformen. Wesentlich ist der oben dargestellte Gedanke, dass der Stellenwert spezifischer Verfahren für die Problemlöseprozesse erkennbar ist bzw.
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gemacht werden kann. Der häufig hergestellte Zusammenhang zwischen psychometrischem Testen und der Feststellung des de- bzw. exkulpierenden Merkmals „Schwachsinn“ ist verfehlt, da gerade für diesen Intelligenzbereich entsprechende Tests fehlen. Bei sehr geringer intellektueller Leistungsfähigkeit der zu Testenden sind außerdem Zuverlässigkeitsprobleme schon dadurch gegeben, dass sie nur sehr wenige Items werden bearbeiten können, wenn ihnen Tests vorgegeben werden, die für den breiten „Normalbereich“ konstruiert wurden. Ein augenscheinliches Problem des Einsatzes von Leistungstests im Rahmen von forensischen Begutachtungen besteht in der Motivationslage der zu Diagnostizierenden. Wenn manche Probanden auch durch den testimmanenten Aufforderungscharakter von Leistungstests zur Mitarbeit motiviert werden mögen, so sind doch Verweigerungen der Bearbeitung von Leistungstests zu erwarten, was sich schon aus der – aus Sicht der Probanden – geringen „face validity“ vieler Aufgaben aus Leistungstests für die eigentliche Gutachtenfrage ergibt. z Bewusste Simulations- oder Dissimulationsbemühungen oder auch bewusstseinsferne Akzentuierungen (im Sinne von Aggravation oder Diminution) sind bei der Verwendung von Fragebögen in der forensischen Begutachtung zu erwarten, die in der Regel nicht ausreichend durch so genannte Kontroll- oder Lügenskalen identifizierbar sind. Generelle Bedenken gegen den Einsatz von Fragebögen wegen ihrer „Durchschaubarkeit“ und der daraus resultierenden Verfälschbarkeit durch die zu Diagnostizierenden sind aber nicht gerechtfertigt. Im hypothesengeleiteten Beurteilungsprozess können – wie bereits ausgeführt – gerade erwartungswidrige („diskrepante“) Befunde einen besonderen Wert haben, da sie weitere Hypothesenbildungen ermöglichen. Falsch ist auf jeden Fall die Auflösung von Diskrepanzen zwischen Fragebogenergebnissen und Verhaltens- oder Lebenslaufdaten durch einseitige Favorisierung von psychometrischen Befunden gegenüber den anderen, vielmehr besteht der diagnostische Nutzen einer solchen Diskrepanzdiagnostik in der interpretierenden Gewichtung der diskrepanten Informationen im Einzelfall. Dafür gibt es im hypothesengeleiteten Begutachtungsprozess keine generelle Überlegenheit psychometrisch erfasster Informationen gegenüber solchen aus unstandardisierten Beobachtungen und Gesprächen. z Die Verwendung so genannter projektiver Verfahren im Rahmen forensischer Begutachtungen dürfte gegenwärtig eher selten vorkommen. Aufgrund der prinzipiellen Mehrdeutigkeit der Ergebnisse aus projektiven Verfahren können diese zu der multimodalen forensisch-psychologischen Begutachtung nur in seltenen Fällen zusätzliche relevante Informationen liefern. Die Mehrdeutigkeit der Ergebnisse ist dadurch bedingt, dass bei der Bearbeitung von projektiven Verfahren durch die zu Diagnostizierenden sehr unterschiedliche Reaktionsebenen realisiert werden können: Das kann von reiner „Bildbeschreibung“ der unstrukturierten Vorlagen über Reaktionen auf den Ebenen von bewussten Selbstbild- oder Wunschbildbeschreibungen bis hin zur „Projektion“ unbewusster Persönlichkeits-
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anteile in das Testmaterial gehen, wobei Letzteres der „eigentlichen“ Zielsetzung der projektiven Verfahren entspricht. Bei der Bestimmung, welche Reaktionsebene im Einzelfall gegeben ist (die auch während einer Verfahrensbearbeitung wechseln kann), ist auf keinen Fall eine Begründung überzeugend, die die vermeintliche Richtigkeit von Befunden aus projektiven Verfahren mit der „Erfahrung“ des Diagnostikers untermauert, wie es zuweilen in Gutachten zu lesen ist. „Deutende“ Verfahren beinhalten immer auch die Gefahr der Projektion von Seiten des Diagnostikers anstelle des zu Diagnostizierenden. z Indirekte Verfahren, d. h. solche ohne Augenscheinvalidität für den Geprüften (etwa „Rückwärtsschreiben“ als Indikatorvariable für die Persönlichkeitsdimension „Rigidität/Flexibilität“), werden in der Psychologie als „objektive Tests“ bezeichnet. Obwohl ihr Prinzip der „Undurchschaubarkeit“ sie zur Vermeidung allfälliger Verfälschungstendenzen bei forensischen Begutachtungen geeignet erscheinen lassen, haben sie dort keinerlei Bedeutung erlangt. Es gilt weiterhin die Feststellung von Häcker (1982, S. 173), dass auch in der allgemeinen Psychodiagnostik keine nennenswerte Entwicklung so genannter „objektiver Tests“ stattgefunden hat. In der forensisch-psychologischen Begutachtung dominieren also Erhebungsmethoden (Exploration, Fragebogen), die als subjektive Verfahren gekennzeichnet werden können, da sie auf Selbstbeschreibungen der zu Diagnostizierenden beruhen. Das muss trotz der angesprochenen Gefahr von bewussten Verfälschungen oder unbewussten Akzentuierungen kein Nachteil sein – psychodiagnostische Inferenz hat die subjektiven Sichtweisen des zu Begutachtenden mit objektiven Daten seiner Biographie und seines deliktischen Verhaltens in Beziehung zu setzen. Deutende und indirekte („objektive“) Verfahren, wobei Letztere ja auch Merkmale von „Tricks“ aufweisen, erscheinen verzichtbar, und ihre Benutzung kann möglicherweise eine veraltete menschenkundliche Durchleuchtungsstrategie des Diagnostikers indizieren, von Komponenten plumper Überrumpelungsversuche einmal abgesehen. z Als letzter potentieller Datenerhebungsbereich in der forensischen Begutachtung ist auf psychophysiologische Messungen einzugehen. Sie können ebenfalls als „objektiv“ bezeichnet werden in dem Sinne, dass sie keine Selbsteinschätzungen von den Probanden wie etwa in Fragebögen verlangen, also die subjektiven Komponenten der Selbstbeobachtung und Selbstreflexion zur Datenerhebung nicht erforderlich sind. Im Zusammenhang mit der Verfälschungsproblematik erscheint die Möglichkeit vorgetäuschter physiologischer Messungen im Rahmen des „BogusPipeline“-Paradigmas der sozialpsychologischen Einstellungsforschung erwähnenswert (vgl. Brackwede 1980). In zahlreichen sozialpsychologischen Experimenten konnte festgestellt werden, dass Versuchspersonen bei Befragungen ihre tatsächlichen Einstellungen (z. B. Vorurteile gegenüber Farbigen) ohne Verfälschung durch Antworttendenzen der sozialen Erwünschtheit zu erkennen gaben, wenn ihnen die Registrierung
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physiologischer Maße durch eine Art „Lügendetektor“ vorgetäuscht wurde. Dieses Vortäuschen geschah durch Anlegen von Elektroden, die angeblich über eine Leitung (Pipeline) mit einem im Nebenraum befindlichen Registriergerät verbunden waren. In Wirklichkeit wurden keine physiologischen Maße registriert („bogus“ = unecht, schwindelhaft). Einer Täuschung des zu Diagnostizierenden durch Täuschung von Seiten des Diagnostikers vorbeugen zu wollen, erscheint jedoch praktisch und ethisch problematisch. Schon wegen der zu erwartenden massiven Beeinträchtigungen des Vertrauensverhältnisses zwischen Gutachter und Begutachtetem bei Offenbarwerden solcher Manipulationen kann der praktische Einsatz von „Bogus-Pipeline“-Anordnungen oder Varianten davon im Rahmen der forensischen Einzelfallbegutachtung nicht empfohlen werden. Die psychophysiologische Aussagebeurteilung (Steller 1987) im Sinne der umgangssprachlich so genannten Lügendetektion benutzt keine Fehlinformationen wie das „Bogus-Pipeline“-Paradigma, wenn auch in der Logik der direkten Fragemethodik, der Kontroll- bzw. Vergleichsfragentechnik, ein suggestives und somit in gewissem Maße irreführendes Element enthalten ist. Auf jeden Fall kann die Befragungslogik dem zu Prüfenden nicht vollständig „durchschaubar“ gemacht werden, da sie sonst invalidiert werden würde. Die direkten und indirekten Methoden der psychophysiologischen Aussagebeurteilung (Kontrollfragen- und Tatwissentechnik) können aus wissenschaftlicher Sicht als Methoden zur „intraindividuell vergleichenden Bedeutsamkeitsdiagnostik“ beschrieben werden (Steller 1987). Die in der Praxis vorherrschende Kontrollfragemethodik beruht auf der Annahme, dass direkte Fragen nach einer in Frage stehenden Tatbegehung bei einem Täter stärkere physiologische Aktivierungen zur Folge haben als allgemein formulierte Fragen nach vergleichbaren Normverstößen und dass das Verhältnis der Reaktionsstärken bei einem Nichttäter genau umgekehrt ist. Damit weist die Kontrollfragentechnik (auch zuweilen als Vergleichsfragentechnik bezeichnet) eine grundsätzliche Schwäche auf: Im Einzelfall ist es nicht empirisch prüfbar, ob der intendierte unterschiedliche Bedeutungsgehalt der beiden verwendeten Fragetypen tatsächlich gegeben ist. Die Interpretation individualdiagnostischer Ergebnisse aus Prüfungen mit der Kontrollfragenmethodik kann also nicht eindeutig erfolgen. Die indirekte Befragungsmethodik nach dem Vorliegen von Tatwissen bei dem zu Prüfenden hat den Nachteil, dass sie nur in ganz frühen Stadien von Ermittlungen einsetzbar ist, wenn Tatdetails noch nicht per Medienberichten oder auf andere Weise (etwa in Verhören) dem zu Prüfenden bekannt gemacht worden sind. Denn per Stärke der physiologischen Aktivierung nach tatbezogenen im Vergleich zu tatneutralen Details (etwa vergleichende Vorgabe verschiedener Tötungsarten) wird die herausragende Bedeutung des Wissens um die Tatbegehungsform indiziert und nicht die Tatbegehung selbst. Zu Recht urteilte der BGH daher in den nachfolgend genannten Entscheidungen, dass der
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Tatwissenbefragungstechnik als indirekte Variante der psychophysiologischen Aussagebeurteilung trotz unproblematischer wissenschaftlicher Grundlage kein Beweiswert (mehr) zum Zeitpunkt einer Hauptverhandlung zukommt, der Kontrollfragenmethodik sprach der BGH jeglichen Beweiswert ab. Durch zwei (gleich lautende) Grundsatzurteile des 1. Strafsenats des BGH aus dem Jahre 1988 (BGHSt 44, 308 = NJW 1999, 657) ist die Entwicklung einer so genannten Polygraphpraxis 5 in Deutschland abgebrochen worden. In Deutschland hatte die Diskussion über den forensischen Einsatz von psychophysiologischen Täterschaftsbeurteilungen (Lügendetektion, Polygraphie) ihren Ausgangspunkt in Fällen des Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch in familienrechtlichen Kontexten (Steller u. Dahle 1997). Die BGH-Entscheidungen für das Strafrecht mit dem Inhalt, dass psychophysiologische Aussagebeurteilungen keinen Beweiswert haben, beruhten auf der Einholung wissenschaftlicher Gutachten über ihre Grundlagen und Methoden (Fiedler 1999; Steller u. Dahle 1999; Undeutsch u. Klein 1999). Sie wurden später durch höchstrichterliche Rechtsprechung auch für das Zivilrecht übernommen (Beschluss vom 24. 6. 2003 – VI ZR 327/02). In Gerichtsverfahren werden zuweilen immer noch privat erstellte psychophysiologische Aussagebeurteilungen eingebracht. Zwar wird ihr Ausschluss aus der Beweiswürdigung leicht mit der gegenwärtigen Rechtsprechung zu begründen sein, doch erscheint für einen aufgeklärten Umgang mit der „Lügendetektion“ ein Verständnis ihrer Begrenztheit gerade für den in Deutschland in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts intendierten Anwendungsbereich „Prüfung des Verdachts auf Täterschaft bei sexuellem Kindesmissbrauch“ sinnvoll (Steller 2005 b). Es ist zu befürchten, dass potentielle Anwendungsfelder der psychophysiologischen Bedeutsamkeitsdiagnostik in Form der Tatwissentechnik in frühen Stadien von Ermittlungsverfahren nicht erkannt oder genutzt werden, da geeignete Experten und kundige Ansprechpartner bei Polizei und Staatsanwaltschaft fehlen (Dahle 2003).
2.2.4 Qualitätssicherung in der forensisch-psychologischen Begutachtung Vorläufige Höhepunkte einer jahrzehntelangen Diskussion über Qualitätsmängel, -verbesserung und -sicherung bei psychowissenschaftlichen Begutachtungen im Strafrecht sind das Urteil des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 30. 7. 1999 über „wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten)“ (BGHSt 45, 164), das in der Regel abgekürzt als Urteil über Mindeststandards für Glaubhaftig5
Polygraphen (Mehrkanalschreiber) bildeten früher den äußerlich erkennbaren Bestandteil von Registrierungen autonomer physiologischer Reaktionen, wovon sich die Bezeichnung der amerikanischen Praxis der Lügendetektion ableitet. Heute erfolgt die Registrierung computerisiert.
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keitsgutachten bezeichnet wird, und die Empfehlungen einer Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof über „Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten“ (Bötticher et al. 2005; vgl. auch Kröber 2005 b) sowie „Mindestanforderungen für Prognosegutachten“ (Bötticher et al. 2006). Der Beginn der so genannten Qualitätsdebatte ist schwer zu fixieren, eine deutliche Markierung im Sinne eines früheren Höhepunktes bestand in der Diskussion über die forensisch-psychiatrischen Beurteilungen der strafrechtlichen Verantwortungsreife und Schuldfähigkeit des mehrfachen Kindestöters Jürgen Bartsch (vgl. Föster 1984), die besonders durch eine „Streitschrift“ des Psychoanalytikers Tilmann Moser über eine „repressive Kriminalpsychiatrie“ und das „Elend“ dieser Wissenschaft allgemein bekannt wurde (Moser 1971). Bartsch war kontrovers von nahezu allen damaligen Größen der forensischen Psychiatrie begutachtet worden. Der heftig und persönlich ausgetragene Gutachterstreit initiierte ein informelles, aber regelmäßiges Treffen, ein Symposium von (einigen herausragenden) forensischen Psychiatern, (wenigen) forensischen Psychologen, (einigen interessierten) Strafrechtslehrern und (wenigen) Gerichtsreportern – bereits in den frühen Jahren dieser Treffen waren auch zwei Frauen dabei: eine Professorin für Psychologie und eine Gerichtsreporterin. Nach einigen Jahren interner Debatten entschloss sich der Kreis, die Psychowissenschaftler außerhalb des „Kränzchens“, wie man sich inzwischen nannte, „nicht dumm sterben zu lassen“ (Originalton des bekannten Berliner forensischen Psychiaters Wilfried Rasch) und publizierte in der Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform vorläufige Bilanzierungen über Versuche zur Qualitätssicherung (Wegener 1983). Zum Teil wurden diese als Bemühung um eine Quantifizierung der forensisch-psychologisch bzw. -psychiatrischen Begutachtung missverstanden (Bresser 1988 mit Kommentar durch Steller 1989; vgl. auch Kröber 2005 a, S. 208), obwohl sie im Schwerpunkt auf eine „Objektivierung“ der Begutachtung im Sinne einer Verbesserung der „Inter-Rater-Reliabilität“ abzielten, also schlicht auf eine Erhöhung der Übereinstimmung zwischen unterschiedlichen Gutachtern durch relative „Standardisierung“, eine Vereinheitlichung des gutachterlichen Prozedere. Mende (1986, S. 323) bezeichnete dieses Ziel für die so genannte Affektdiagnostik, also die Begutachtung der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, sogar als „Optimum“ des für Tätigkeiten von psychiatrischen Sachverständigen Erreichbaren. Die o. g. Mindeststandards, die bisher von oder mit Hilfe von BGH-Richtern für unterschiedliche Gegenstandsbereiche der psychologisch-psychiatrischen Begutachtungen im Strafrecht formuliert wurden, entsprechen den damaligen Zielvorstellungen der meisten Mitglieder des Kränzchens: Eine Reduzierung der Begutachtungsmethodologie auf psychometrische Verfahren oder gar eine „Mathematisierung“ der psychowissenschaftlichen Diagnostik war weder erwartet noch erhofft worden, auch wenn einige Botschaften nach außen missverständlich geklungen haben mögen (dazu Kritik von Kröber et al. 1994). Viele der heutigen vielfältigen Fort- und Weiterbildungsinitiativen in forensischer Psychologie und forensischer Psychiatrie haben ihre Wurzeln in den Qualitätsdebatten des
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Kränzchens, das sich in den neunziger Jahren einem breiten Publikum öffnete und zu einer Tagung mutierte, zu der man sich anmelden konnte und zu der man nicht durch einen im Hintergrund wirkenden Zirkel von „relevanten“ Personen eingeladen, geprüft und dann eben wieder eingeladen wurde oder nicht. Das Kränzchen stellte zur Jahrtausendwende aus nicht ganz bekannten Gründen seine Treffen ein. Ganz der Zielsetzung des forensischen Symposiums entsprechend referierte der Autor dieses Kapitels dort über „Standards der forensisch-psychologischen Begutachtung“ (Steller 1988). Neben allfälligen Regeln für die Durchführung von Begutachtungen und für die Abfassung von Gutachten (Gutachtentechnik) sind drei weitere Aspekte von Gütemaßstäben für forensische Begutachtungen von Bedeutung: Natürlich gehört inhaltliches Wissen ganz wesentlich zur adäquaten Bearbeitung rechtlicher Fragestellungen an Psychowissenschaftler, des Weiteren ist der hier ausführlich dargestellte Aspekt einer adäquaten Modellvorstellung von Psychodiagnostik ein wichtiges Bestimmungsstück gutachterlichen Handelns, und letztlich sind rechtliche sowie ethische Aspekte als Gütemaßstäbe für forensische Begutachtungen von Bedeutung. Dass die genannten Standards nicht unabhängig voneinander sind und dass praktisches gutachterliches Handeln nicht ohne inhaltliche Kenntnisse und nicht ohne Diagnostiktheorie begründbar ist, machen die sich ergänzenden Beiträge von Dahle (2006) und Kröber (2006) über „Grundlagen und Methoden der Kriminalprognose“ und „Kriminalprognostische Begutachtung“ im dritten Band dieses Handbuchs sehr deutlich. Auch für die anderen Gegenstandsbereiche der psychowissenschaftlichen Begutachtung im Strafrecht gilt, dass es eine Psychotechnologie ohne theoretischen Bezugsrahmen nicht geben kann. An anderer Stelle hat der Autor praxeologische Kontroversen in der Diskussion über Standards von Glaubhaftigkeitsbegutachtungen als Peinlichkeiten bezeichnet (Steller 2002): etwa dass Offe (2000) im Gegensatz zum BGH-Urteil apodiktisch ein Wortprotokoll der Exploration zur Sache in Glaubhaftigkeitsgutachten zwecks Anfertigung einer Realkennzeichenanalyse forderte und dabei zum einen übersah, dass es viele Glaubhaftigkeitsbegutachtungen gibt – etwa solche mit suggestiver Vorgeschichte –, in denen die inhaltliche Qualitätsanalyse eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt (Volbert u. Steller 2004, vgl. auch Kap. 6 in diesem Band), und zum anderen übersah, dass Abspielgeräte eine Rücklauftaste haben und eine Inhaltsanalyse einer Exploration daher auch ganz ohne Wortprotokoll durchführbar ist. Der BGH hat im Rahmen seiner Mindeststandards für Glaubhaftigkeits-, Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtungen einen breiten Raum für methodische Vielfalt bei der Durchführung von Begutachtungen und der Abfassung von schriftlichen Gutachten gelassen. Er hat gut daran getan, seine jeweiligen Mindestanforderungen auf einer inhaltlich und methodisch mittleren Metaebene und nicht auf der Ebene praxeologischer Kleindetails zu formulieren. Derart gestaltete Bemühungen sind in der Vergangenheit immer wieder in selbsternannten Qualitätszirkeln angestellt worden (vgl. Pfäfflin 2000 als Kritik an Fegert 2000).
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Die Formulierung von Mindeststandards in den BGH-Richtlinien wurde hier als mittlere Metaebene bezeichnet. Das auch vom BGH betonte hypothesengeleitete Vorgehen stellt in Verbindung mit inhaltlichem Wissen und mit Kenntnissen über spezifische methodische Teilschritte eines Gegenstandsbereiches eine ausreichende Vorgabe für die Bewertung der Qualität einzelner Begutachtungen dar. Selbst die Einhaltung formaler Mindeststandards, also Regeln der Gutachtentechnik, kann nicht anhand von Checklisten, sondern nur bei Berücksichtigung des Gesamtkontextes der Begutachtung bewertet werden. Wesentlich für die Bewertung eines schriftlichen oder mündlichen Gutachtens ist das Transparenzgebot. Natürlich ist die klare Trennung in der Darstellung von erhobenen Befunden („Daten“) und gutachterlichen Schlussfolgerungen eine Selbstverständlichkeit, die sich auch aus dem Transparenzgebot ergibt. Peinlich ist es, wenn Kritiker von Gutachten sich nur die Reihenfolge „zuerst Darstellung von Daten“, dann „gutachterliche Schlussfolgerungen“ vorstellen können und dabei übersehen, dass es die geforderte Transparenz mit klarer Indikation, was Daten und was Schlussfolgerungen im Gutachten sind, auch bei umgekehrtem Gutachtenaufbau geben kann, indem nämlich eine Beurteilung (Schlussfolgerung) vorangestellt wird, die nachfolgend begründet wird. Prüfer (1993) schlug in Analogie zu richterlichen Urteilsbegründungen diese Reihenfolge explizit für mündliche Gutachtenerstattungen vor, da Zuhörer bei dieser Reihenfolge besser in der Lage seien, das Gutachtenergebnis zu verstehen und den Begutachtungsprozess zu bewerten. Als praktischer Ratschlag soll hier eingestreut werden: Das „Kleben“ eines Gutachters an Aufbau und Inhalt eines vorläufigen schriftlichen Gutachtens nach Teilnahme an einer (eventuell umfangreichen) Hauptverhandlung wirkt als überzeugender Indikator mangelnder Kompetenz und sollte vermieden werden. Tatsächlich hat das Transparenzgebot nicht nur Bedeutung für die Bewertung praktischer Aspekte der Gutachtentätigkeit, sondern es hat auch ethische Implikationen. So wird das Transparenzgebot für psychologische Begutachtungen nicht nur unter praktischer Perspektive in Richtlinien zur Gutachtenerstellung genannt (Berufsverband Deutscher Psychologen 1994), sondern es wird auch in ethischen Richtlinien der psychologischen Vereinigungen erörert (Berufsverband Deutscher Psychologen 1999). Eine Diskussion des Transparenzgebots unter ethischen Aspekten beinhaltet die Frage, ob Transparenz einer Begutachtung für den Auftraggeber ausreicht oder ob Transparenz für die Betroffenen, also für die zu begutachtenden Probanden, ebenfalls dazugehört. In Überlegungen zur Qualitätssicherung psychologischer Tätigkeit wird Transparenz als vertrauensbildende Maßnahme in Beziehung gesetzt zur „Kundenzufriedenheit“ als Qualitätsmerkmal psychologischer Tätigkeit (Nienhaus et al. 1997). Die Autoren übersahen nicht, dass „Kundenzufriedenheit“ natürlich nicht gleichgesetzt werden kann mit einer Nachgiebigkeit gegenüber Forderungen und Wünschen von Probanden oder Auftraggebern, bei denen fachliche Grundsätze verletzt werden würden. Im forensischen Kontext stößt die Forderung nach Transparenz für die Betroffenen (im Sinne eines Nachvollzugs der gutachterlichen Fest-
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stellungen durch diese) bei psychisch kranken oder intellektuell stark behinderten Personen auf enge Grenzen. Die Darstellung gutachterlicher Ergebnisse in einfacher und allgemein verständlicher Sprache läuft auch Gefahr, im Extremfall ein Gutachtenergebnis „sogar formal verändert“ darzustellen (Wegener 1981, S. 18). Über die „Verantwortung für die Folgen der Begutachtung“ heißt es bei Wegener (a. a. O., S. 15 f.): Bei strafrechtlichen Begutachtungen findet der in Untersuchungshaft befindliche Beschuldigte in den intensiven Kontakten mit dem Gutachter oft zum ersten Mal in seinem Leben einen Gesprächspartner, der ihm die Einsicht in die eigene verfehlte Lebensführung eröffnet. Der Gutachter ist hier in Gefahr, seelische Wunden aufzureißen, die er, zumindest während des laufenden Verfahrens, nicht immer heilen kann, ohne seine neutrale Position zu verlassen.
Und weiter heißt es: Es liegt auf der Hand, daß der Sachverständige diese sekundären Folgen seiner Begutachtung weder sämtlich vorhersehen noch vermeiden kann. Das Wissen um sie sollte ihm jedoch seine besondere Verantwortung in der Doppelrolle als Gehilfe des Gerichtes und als potentieller Verursacher von Nebenfolgen (Aktualisierung seelischer Krisen, Aktivierung von Zuschreibungsprozessen) bewußt machen. Seine ,normative Abstinenz‘ stößt hier an persönlich gesetzte Grenzen.
Als Antwort auf vereinzelte amerikanische Autoren, die der forensischen Psychiatrie den „ethischen Status des Arzttums“ absprechen, betonte Kröber (2005 c) die Übereinstimmung forensisch-gutachterlichen Handelns mit den Ethik-Richtlinien der American Association of Psychiatry and Law. Zur Qualitätssicherung gehört auch die Frage, ob und gegebenenfalls bei welchen Fragestellungen forensische Psychiater oder forensische Psychologen als Gutachter beauftragt werden sollten. Die Zuständigkeit der forensischen Psychologie im Vergleich zur forensischen Psychiatrie ist nicht immer klar abzugrenzen. Wenn die Beurteilung krankhafter Phänomene auch den psychiatrischen Experten vorbehalten ist, so ist doch die Abgrenzung von psychischer „Störung“ und „Krankheit“ nicht eindeutig. Auch kann keine Ausschließlichkeit für die Sichtweise in Anspruch genommen werden, dass ein „psychopathologisches Referenzsystem“ (Saß 1985) notwendiger Bezugsrahmen für die Einschätzung von psychischen Ausnahmezuständen ohne Vorliegen von „Krankheit“ sei. Dies wird in Bezug auf den Rechtsbegriff der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ in der Schuldfähigkeitsregelung des § 20 StGB postuliert, obwohl als alternativer Bezugsrahmen für die Einschätzung von Abweichungen vom „Normalen“ logisch nahe liegend auch das „durchschnittliche Verhalten Normaler“ postuliert werden kann. Schon 1959 hat der BGH diese Frage behandelt (Urteil vom 22. 7. 1959 – 4 StR 250/59 SchwG Bielefeld) und es „dem pflichtmäßigen Ermessen des Tatrichters überlassen“, ob er für die Begutachtung „nicht krankhafter Zustände“ einen Psychiater oder einen Psychologen als Sachverständigen beauftragt. Außerdem beinhaltet das damalige Urteil eine Absage an eine quasi nebenbei erfolgende Übermittlung psychologischer Kenntnisse durch einen Psychiater: Wenn das Gericht einer psychologi-
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schen Lehrmeinung folgen wolle, so müsse es einen Vertreter dieser Disziplin anhören (NJW 1959, 2315). Der Streit, ob ein Studium des gesunden, „normalen“ Verhaltens und Erlebens von Menschen oder ein Studium psychischer Erkrankungen die Kompetenz zur Beurteilung verschafft, wie es im Kopf eines Täters bei Begehung einer Tat unter starker Erregung aussah (Formulierung in Anlehnung an BGH GA 1962, 116), erscheint überflüssig, zumal selbst die Anwendung eines psychopathologischen Referenzsystems kein Medizinstudium voraussetzt und psychopathologische Kenntnisse bei Diplompsychologen vorausgesetzt werden sollten. Ebenso wenig tauglich erscheint allerdings der Versuch, die Beurteilung des „Schwachsinns“ aus der Schuldfähigkeitsbestimmung mit dem Argument testpsychologischer Kenntnisse und Instrumentarien für Psychologen reklamieren zu wollen: Gerade bei Personen mit extrem geringer kognitiver Leistungsfähigkeit versagt in der Regel das zur Verfügung stehende testpsychologische Inventar, eine Diagnosestellung starker Intelligenzminderungen hat „klinisch“ zu erfolgen, Instrumente für eine quantifizierende Psychometrie stehen nicht zur Verfügung. Anamnestische Gespräche, Verhaltensbeobachtungen und Explorationen gehören zum Methodeninventar sowohl von Psychiatern als auch von Psychologen. Kompetenz ist in den beispielhaft genannten Bereichen und wohl in manchen anderen nicht von der Profession abzuleiten, sondern von den persönlichen Kenntnissen und Erfahrungen eines Gutachters (so auch Baltzer 2002; Nowara 2002; Kröber 2005 a), man könnte auch sagen: Kompetenz begründet sich durch den tatsächlichen (und nicht durch einen berufständisch abgeleiteten) Sachverstand der Person, die per Ernennung zum Sachverständigen gemacht werden soll. Kröber (2005 a) kritisierte die im Vergleich zu den Zertifizierungsbestimmungen der forensischen Psychiatrie geringeren Anforderungen in der Ordnung für die Weiterbildung in Rechtspsychologie, die 1995 von der Föderation Deutscher Psychologenverbände verabschiedet wurde (siehe Fußnote 1). Er stellte fest, dass für das Zertifikat „Rechtspsychologie“ keine Ausbildung „als klinischer Psychologe oder Psychotherapeut“ verlangt wird (a. a. O., S. 217). Seine Forderung nach einem „klinisch-psychologischen Fundament“ erscheint einleuchtend, klinische Erfahrung sollte aber nicht mit langjähriger psychotherapeutischer Tätigkeit gleichgesetzt werden. „Klinische Erfahrung“ bedeutet im psychologischen Sprachgebrauch „Erfahrung in der Einzelfallarbeit“, und zwar nicht nur in Psychotherapie, sondern auch in Diagnostik. Klinische Tätigkeit ist also nicht Tätigkeit in einer Klinik, sondern einzelfallorientierte praktische Tätigkeit in Abgrenzung von wissenschaftlicher Tätigkeit. Sollte Kröbers Beobachtung zutreffen, dass Diplompsychologen „direkt im Anschluss an das Studium in eine relativ schmal angelegte Begutachtungstätigkeit (z. B. für TÜV, DEKRA, Begutachtungspraxis)“ hineinkommen (a. a. O., S. 216), so ist einer solchen Entwicklung durch die Forderung nach relativ langer gutachterlicher Tätigkeit unter Supervision auf der Grundlage einer guten wissenschaftlichen Ausbildung entgegenzuwirken.
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Die Ausführungen von Kröber erfolgten wahrscheinlich ohne Bezug auf die Diskussion eines „Approbationsvorbehalts“ in der Psychologie, also der Forderung von psychologischen Psychotherapeutenkammern, jegliche psychodiagnostische Tätigkeit (auch die in Berufs- oder Verkehrseignungsuntersuchungen) als heilkundliche Tätigkeit zu definieren und sie damit den psychologischen Psychotherapeuten unter den Diplompsychologen vorzubehalten. In einem Rechtsgutachten (Plagemann 2007) wurde diese Forderung als inhaltlich unbegründet zurückgewiesen (siehe auch Steller 2009). Eine Approbation als psychologischer Psychotherapeut ist weder eine notwendige noch eine ausreichende Voraussetzung für qualifiziertes forensisch-psychologisches Arbeiten, vielmehr bedarf es fundierter diagnostischer und forensischer Kenntnisse und Erfahrungen. Psychotherapeuten unterliegen zuweilen der Gefahr, Patientenangaben nicht nur als deren subjektiv wahre Sicht anzunehmen, sondern sie auch für objektiv zutreffend zu halten. Eine unkritische Akzeptanz von Explorationsinhalten kann nicht nur bei Glaubhaftigkeits-, sondern auch bei Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtungen zu Fehlbeurteilungen führen. Kröber (2005 b, S. 114) forderte für Begutachtungen im strafrechtlichen Bereich den „Blick von außen“, da die „intime Kenntnis aus der therapeutischen Beziehung“ vereinseitigen könne. Unvereinbarkeit von psychotherapeutischer und gutachterlicher Tätigkeit im Einzelfall gehört zu den Standards forensicher Begutachtungen, was die Einholung von Berichten über Psychotherapien in Strafverfahren natürlich nicht ausschließt. Es sollte deutlich geworden sein, dass Qualitätssicherung bei forensischen Begutachtungen nicht auf einfache „Gutachtentechnik“ zu reduzieren ist, sondern dass die hier skizzierte Interdependenz von Diagnostiktheorie, spezifischem inhaltlichen Wissen, methodischer Kompetenz und ethischer Reflexion zu beachten ist. Qualitätssicherung ist letztlich auch nicht durch die Verkündigung von Mindeststandards aufgrund von Kommissionsarbeit zu erreichen. Sicher ist es verdienstvoll, wenn einer breiten Öffentlichkeit Mindeststandards für forensische Begutachtungen bekannt gemacht werden, doch gleichzeitig ist vor einer apodiktischen Festschreibung unzureichend durchdachter praxeologischer Kleindetails zu warnen, die eine fallspezifische flexible Anwendung von Sachverstand durchaus einschränken kann. Adäquate Maßnahmen zur Qualitätssicherung sind gute wissenschaftliche Ausbildung und permanente Fort- und Weiterbildung der Gutachter. Darüber hinaus bedarf es einer festen Verankerung der forensischen Wissenschaften an universitären Lehr- und Forschungsstätten (vgl. bereits Wegener u. Steller 1986; Steller 2002). In Zeiten knapper öffentlicher Mittel besteht diesbezüglich Anlass zur Sorge.
2.2 Gegenstandsbereiche und Methodik der psychologischen Begutachtung
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2 Praxis der psychiatrischen und psychologischen Begutachtung
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
3.1
Schuldfähigkeit bei krankhaften seelischen Störungen S. Lau, H.-L. Kröber
Die Psychiatrie kennt in ihrem Kernbereich drei klassische Krankheitsgruppen, die sich in der alten Dreiteilung von Nerven-, Geistes- und Gemütskrankheiten wiederfinden, nämlich z die durch Hirnverletzungen oder Hirnerkrankungen bedingten „organischen“ Psychosen, z die Gruppe der Schizophrenien sowie z die affektiven Psychosen, also die depressiven und manischen Erkrankungen. Alle drei Krankheitsgruppen haben natürlich gewichtige „organische“, somatische Ursachen, werden aber in ihrer Manifestation unterschiedlich stark von biographischen Erfahrungen und belastenden Einflüssen befördert. Wer in dieser Weise erkrankt war, galt von alters her als massiv verändert und seiner selbst nicht mehr Herr. Selbst in der öffentlichen Wahrnehmung war psychische Krankheit daher immer schon eine mögliche Begründung von Schuldunfähigkeit. So hieß es im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 (Teil II, 20, I, § 16): „Wer frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt.“ In Art. 11 §§ 2 ff. waren die psychischen Verfassungen bzw. Krankheiten benannt, die in Frage kamen, so „völlige Gemütsverrückung, als bey Toll und Unsinnigen“, Rausch, aber auch Taubstummheit und entsprechende primäre Behinderungen. Daraus entwickelten sich in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts die Nerven-, Geistes- und Gemütskrankheiten. In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie organische Erkrankungen zu einer Beeinträchtigung oder gar Aufhebung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit führen können. Als klassische psychiatrische Erkrankungen werden die psychischen Störungen bezeichnet, die sich heute in den Kapiteln F0, F2 und F3 und im zweiten Teil des Kapitels F1 der ICD-10 der WHO finden. Es sind dies Erkrankungen bzw. Beeinträchtigungen oder Schäden des Gehirns, die teilweise ihre Ursache in einer Gehirnerkrankung oder -verletzung haben (sog. organische Psychosen wie die Demenz). Für andere ist eine anlagebedingte, aber auch erworbene, durch Lernerfahrun-
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
gen bedingte Dysfunktion des Gehirns inzwischen gut belegt (früher „endogene“ Psychosen genannt, heute bisweilen als „functional psychosis“ bezeichnet, gemeint sind Schizophrenien und affektive Störungen). Gemäß der klassischen psychiatrischen Krankheitslehre gehören auch akute, passagere organische Psychosen wie das Entzugsdelir oder der Alkoholrausch in diese Gruppe der psychiatrischen Krankheiten. Angesichts der Häufigkeit und besonderen Relevanz von alkohol- und drogenassoziierter Delinquenz wird auf deren Relevanz für die Schuldfähigkeitsbeurteilung gesondert im nachfolgenden Kapitel 3.1.2 eingegangen. Für weitere psychopathologische Ausführungen zur Symptomatik der beschriebenen Störungsbilder wird zudem auf das Eingangskapitel dieses Bandes verwiesen.
3.1.1 Überdauernde organisch bedingte psychische Störungen 3.1.1.1 Basale Symptomatik organisch bedingter Störungen Das Hauptmerkmal organisch bedingter psychischer Störungen ist eine auffallende psychische oder Verhaltensänderung, die mit einer vorübergehenden oder andauernden Funktionsstörung des Gehirns einhergeht (DSMIV). Organisch bedingte psychische Störungen werden einerseits diagnostiziert durch die Feststellung eines der „organisch bedingten“ psychischen Syndrome und andererseits durch den Nachweis bestimmter organischer Faktoren, von denen angenommen wird, dass sie ätiologisch mit dem abnormen psychischen Zustand zusammenhängen. Hirnorganische Störungsbilder werden unter klinischem Aspekt unterschieden in akute und chronische. Wer soeben bei einem Auffahrunfall mit seinem Kopf auf ein Armaturenbrett aufgeschlagen ist oder wer soeben einen Hirninfarkt erlitten hat, leidet unter einer akuten Störung. Deren Leitsymptom ist die Bewusstseinstrübung. Diese kann mit einem initialen Maximum der tiefen Bewusstlosigkeit über Stunden oder Tage abnehmen, sie kann aber auch – z. B. bei einer sich ausbreitenden Hirnentzündung oder dem Wachstum eines Hirntumors – mit Intensivierung der zugrunde liegenden Krankheit zunehmen. Die Bewusstseinstrübung reicht von leichtesten kognitiven Einbußen wie Unkonzentriertheit und leichter Müdigkeit über Benommenheit bis hin zur tiefen, unerweckbaren Bewusstlosigkeit. Psychopathologisch ist die „Bewusstseinsstörung“ also ein typisches Merkmal der akuten, krankheitsbedingten hirnorganischen Beeinträchtigung – und mithin etwas völlig anderes als der Terminus „Bewusstseinsstörung“ in § 20 des StGB, mit dem ein normalpsychologisch bedingter, nicht krankhafter, affektiver Ausnahmezustand gemeint ist. Im Gegensatz dazu ist die Bewusstseinstrübung der akuten organisch bedingten psychischen Störung ein erfahrungswissenschaftlich gesicherter, leistungspsychologisch messbarer Sachverhalt. Neben Unfällen und Hirnerkrankungen ist die Zufuhr berauschender Substanzen eine häufige Ursache einer akuten organischen psychischen Störung. Alkohol in etwas größerer Menge ist ein schädigen-
3.1 Schuldfähigkeit bei krankhaften seelischen Störungen
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des Gift (organischer Faktor) für das Gehirn und verursacht psychische Auffälligkeiten (psychisches Syndrom). Auch beim Alkoholrausch ist die Bewusstseinstrübung das klinische Leitsymptom: Diese beginnt mit leichten, subjektiv oft gar nicht bemerkten kognitiven Einbußen, die aber die Fahrtüchtigkeit bereits deutlich beeinträchtigen können, und reicht in Abhängigkeit von der Intensität der Alkoholvergiftung bis zu massiver Müdigkeit oder aber tiefer Bewusstlosigkeit. Von akuten Zuständen abgrenzbar sind chronische Hirnerkrankungen, am bekanntesten sind Demenzen, Epilepsien und weitere neurologische Erkrankungen. Bei einem Patienten mit gefäßbedingter Demenz (psychisches Syndrom) liegt eine Vielzahl von kleinen Hirninfarkten (organischer Faktor) vor, die solche Auffälligkeiten bewirken. Die beiden möglichen Leitsymptome bei chronischen Prozessen sind kognitive Leistungseinbußen (Gedächtnisstörungen, schließlich zunehmende Orientierungsstörungen) oder aber eine Wesensänderung, also eine deutliche Veränderung der Persönlichkeit in Emotionalität, Bewertungen und Verhalten, die in der ICD-10 auch als „organische Persönlichkeitsstörung“ (F07.0) bezeichnet wird. Es können aber auch beide Leitsymptome vorliegen, also dementieller Abbau und Wesensänderung. Grundsätzlich können aber alle psychopathologischen Syndrome organisch bedingt sein, angefangen von Symptombildern, die primär als reaktiv imponieren, bis hin zu maniformen Störungen. Aufschluss gibt oft erst der Verlauf, wenn sich zum Beispiel eine langsam progrediente Virusenzephalitis zunächst als Ehekrise darstellt, dann als (reaktive) Depression, dann als paranoid-halluzinatorisches Syndrom und schließlich in neurologische Störungen und Bewusstlosigkeit mündet.
3.1.1.2 Psychopathologische Vieldeutigkeit Noch Anfang des 20. Jahrhunderts stellten chronische organische Psychosen ein Hauptarbeitsfeld für den Psychiater dar. Unfall- oder kriegsbedingte Hirnverletzungen und weit verbreitete Infektionskrankheiten, nicht zuletzt wegen ungenügender hygienischer Verhältnisse, bedingten eine hohe Zahl (hirn)organisch Kranker, die mit psychopathologischen Auffälligkeiten in Erscheinung traten. Insofern entsprechen die heutigen Anschauungen im Wesentlichen den psychopathologischen Erkenntnissen jener Zeit; sie sind durch die Resultate neuerer Hirnforschung bestätigt und ergänzt worden. Insbesondere Karl Bonhoeffer (1908, 1910) hatte angesichts der vielfältigen Erscheinungen einige wichtige Regeln aufgestellt, die bis heute Bestand haben und die Diagnostik leiten. Zusammengefasst in seinem Werk über die „exogenen Reaktionstypen“ (Bonhoeffer 1917) verdeutlicht er, dass gleiche internistische oder neurologische Erkrankungen unterschiedliche psychopathologische Krankheitsbilder hervorrufen können, während gleiche psychopathologische Syndrome auf unterschiedliche organische Ursachen zurückgehen können (Lehre von der Unspezifität exogen (organisch) verursachter psychopathologischer Syndrome). Gleichwohl gibt es „Achsensymptome“: Das obligatorische, durchgängig in unterschiedlicher Stärke zu
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
beobachtende Achsensymptom der akuten organischen Hirnfunktionsstörung (durch Vergiftung, Hirnverletzung, akuten Hirninfarkt oder Hirntumor dekompensierende internistische Erkrankung) ist die Bewusstseinsstörung. Das Achsensymptom des chronischen organischen Störungsbildes (Demenzen, langsam fortschreitende Hirnkrankheiten wie Encephalomyelitis disseminata, manche Epilepsien, toxische Hirnabbauprozesse) ist der intellektuelle Abbau und/oder die Wesensänderung. Man hat, gestützt auf die organischen Befunde, angenommen, dass Demenzentwicklungen eher bei Erkrankungen auftreten, die das ganze Hirn erfassen (hirndiffuses Psychosyndrom), während die emotionalen und affektiven Symptome der Wesensänderung (z. B. Reizbarkeit, Aggressivität, Verstimmbarkeit) besonders bei umschriebenen, asymmetrischen Hirnschädigungen auftreten, also z. B. unfallbedingten Hirnverletzungen, Schuss- und Granatsplitterverletzungen, manchen Hirntumoren und fokalen Epilepsien. Man sprach daher auch von hirnlokalen, fokalen oder hirntraumatischen Psychosyndromen, bei denen die kognitive Leistungsfähigkeit keineswegs beeinträchtigt sein muss (Bleuler 1916). Wird die Untersuchung allein auf leistungspsychologische Untersuchungsinstrumente gestützt, entgehen teilweise schwerwiegende hirntraumatische Läsionen dem Nachweis. Eine sehr differenzierte Darstellung der Psychopathologie findet sich bei Conrad (1960).
3.1.1.3 Infektionskrankheiten und Folgekrankheiten Manche der hirnorganischen Erkrankungen sind mittlerweile durch den medizinischen Fortschritt, insbesondere in der Bekämpfung der Infektionskrankheiten, zu Raritäten geworden, psychopathologisch aber von nicht geringer heuristischer Bedeutung. Aufgrund fehlender Antibiotika beispielsweise litten um das Jahr 1900 etwa 30% aller männlichen psychiatrischen Anstaltspatienten an einer progressiven Paralyse als Folge einer unbehandelten Syphilis (Schild 1990, S. 641). Diese Krankheit ist außer durch neurologische Folgeschäden durch eine vielgestaltige psychopathologische Symptomatik gekennzeichnet, nämlich Merkfähigkeits- und Gedächtnisstörungen, Konfabulationen, Größenwahn sowie Enthemmung des Verhaltens. Die Erkrankung galt lange Zeit als „Chamäleon“ der Psychiatrie, da sie ganz unterschiedliche Symptombilder hervorbringen konnte und andere Krankheitsbilder „imitierte“. Durch Einführung der Antibiotika in Deutschland, die ja in breitem Umfang erst Mitte des letzten Jahrhunderts erfolgte, wurde das Krankheitsbild zur Rarität; durch die erhöhte internationale Mobilität und Risikobereitschaft gibt es aber mittlerweile wieder eine Zunahme sexuell übertragbarer Krankheiten (Kühn 2005; Marcus et al. 2006), die schließlich auch zu psychiatrischen Störungsbildern führen können. Sehr viel häufiger ist dies natürlich bei HIV-Infektionen der Fall, wo aber zumeist keine diagnostischen Probleme auftreten (O’Donell u. Emery 2005). Vielfach werden infektiös bedingte psychische Syndrome in der Neurologie gesehen und abgeklärt (Scheid 1960). Für die forensisch-psychiatrische Begutachtung zur Schuldfähigkeit haben die infektiös bedingten psychopatho-
3.1 Schuldfähigkeit bei krankhaften seelischen Störungen
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logischen Syndrome heute jedoch in Europa und dem angloamerikanischen Raum nur marginale Bedeutung. Akute Hirnentzündungen sind forensisch nahezu bedeutungslos. Hirnentzündungen können folgenlos abheilen, in anderen Fällen aber können sie auch schwere und schwerste Schädigungsbilder zurücklassen. Diese Menschen imponieren dann als geistig oder auch neurologisch behindert, haben aber zumeist kein erhöhtes Delinquenzrisiko, oft sogar ein vermindertes. Eine Meningitis, also ein Hirnhautentzündung, ist keine Hirnentzündung, sondern eben eine Erkrankung der Hirnhäute. Wenn sie nicht von einer Enzephalitis begleitet wird, also einer Erkrankung des Nervengewebes, bleibt sie hinsichtlich der psychischen Leistungsfähigkeit folgenlos. Hirnhautentzündungen sind relativ häufige Begleiterscheinungen bei schweren Allgemeininfekten von Kindern oder infektiösen Organerkrankungen, z. B. bei schweren Bronchopneumonien. Bleiben keine Krankheitsfolgen zurück, dann sind früher durchgemachte Erkrankungen für die Beurteilung der Schuldfähigkeit ohne Relevanz.
3.1.1.4 Demenzerkrankungen Viel bedeutsamer für die Psychiatrie ist die erhöhte Lebenserwartung der Bevölkerung in den Industriestaaten mit einer gravierenden Zunahme altersbedingter psychischer Störungen (Berr et al. 2005). Das Alter allein ist keine Krankheit, und infolge der besseren Gesundheitsversorgung sind ältere Menschen heute häufig noch leistungsfähiger und weniger beeinträchtigt als früher. Mit hohem Lebensalter wächst aber sehr stark das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Grundsätzlich nimmt die Straffälligkeit mit dem Lebensalter ab, nur die Eigentums- und Vermögensdelinquenz ist auch noch bei älteren Menschen eine nicht ganz rare Erscheinungsform. Sexuelle Übergriffe alter Menschen sind selten, sie werden am häufigsten von Tätern begangen, die auch schon als jüngere Erwachsene solche Delikte begingen. Gewalttaten von älteren und alten Menschen sind etwas Seltenes, und wenn sie in diesem Alter erstmals oder verstärkt auftreten, nicht selten mit psychischer Störung verknüpft; nur ein Teil der diesbezüglich Verurteilten wird jedoch im Straf- oder Maßregelvollzug untergebracht (Taylor u. Parrott 1988; Barak et al. 1995; Coid et al. 2002). Bei Straftätern, die erstmalig in späten Lebensabschnitten Gewalttaten begehen, finden wir am häufigsten psychiatrische Störungen wie wahnhafte und paranoide Entwicklungen, organische Persönlichkeitsveränderungen und Demenzerkrankungen. Leitsymptome der Demenz sind der Abbau intellektueller Leistungen und/oder Veränderungen der Emotionalität und der Persönlichkeit, die als Wesensänderung imponieren können. Solche Demenzen können die Folge von Hirndurchblutungsstörungen sein (vaskuläre Demenz), Ausdruck unmittelbaren Untergangs von funktionsfähigem Nervengewebe (AlzheimerDemenz) oder auch Folge anderer Schädigungsprozesse. Es gibt „präsenile Demenzen“, die nicht erst im Alter, sondern teilweise schon vor dem 50. Lebensjahr beginnen. Demenz bezeichnet also zunächst einmal ein psycho-
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pathologisches Syndrom, das unterschiedliche Ursachen haben kann (Lauter u. Kurz 1999). Die Patienten klagen anfangs häufig über Vergesslichkeit oder NichtWiederfinden von Sachen, sie leiden nicht selten darunter, dass ihr Denken nicht mehr von der Stelle kommt. Aber auch erheblich Demente können häufig noch registrieren, dass etwas mit ihrer Orientierung oder dem Gedächtnis nicht stimmt. Sie bemerken, oft mit Scham, dass sie ein „Durcheinander“ produzieren oder sich in einem solchen bewegen. Kriminologisch relevant wird dieses „Durcheinander“, wenn es misstrauisch-paranoid verarbeitet wird. Ein Demenzkranker reagiert nicht selten aggressiv, wenn er vermutet, dass die Angehörigen, Pfleger oder anonyme Personen in die Wohnung eingedrungen seien, dass sie die nicht auffindbaren Dinge gestohlen oder das Chaos in der Küche angerichtet haben. In solchen Fällen suchen die Kranken plausible Erklärungen für ungewöhnliche und sie ängstigende Phänomene, wobei die tatsächlichen Ursachen der Unordnung (wie Orientierungsstörungen und Vergesslichkeit) negiert oder gar nicht erfasst werden. Häufig sind in solchen Situationen die Symptome des Hirnabbaus schon recht gravierend. Auch für den psychiatrischen Laien wird dann erkennbar, dass das Fehlverhalten auf Krankheitsprozesse zurückzuführen ist. Zumeist liegen bei Rechtsbrüchen keine intendierten Straftaten vor, sondern Situationsverkennungen, vermeintliche Notwehr- und Bedrohungssituationen. Die Krankheit kann aber auch zu einer affektiven Enthemmung führen, so dass Zorn und Ärger überschießend ausagiert werden, was sich dann in Form von Aggressionstaten gegen nahe Angehörige, Pflegepersonal oder den Arzt richten kann. Meist gelingt es, frühzeitig geeignete Maßnahmen (Einweisung in ein Krankenhaus, Errichtung einer gesetzlichen Betreuung oder die Anwendung der Psychisch-Kranken-Gesetze) einzuleiten, die Schlimmeres verhindern. Die relativ häufige Einleitung sozialer und medizinischer Maßnahmen ist wahrscheinlich ein Grund dafür, dass schwerwiegende dementielle Syndrome nur sehr selten Anlass zur Schuldfähigkeitsbegutachtung geben. Möglicherweise ist aber auch die Bereitschaft allgemeinpsychiatrisch tätiger Ärzte viel größer, Aggressivität bei (alten) Menschen mit dementiellem Hirnabbau zu tolerieren, nicht aber bei jungen Männern mit chronischpsychotischer Symptomatik, bei denen ein Gefahrenmanagement dringend erforderlich ist (Hodgins u. Müller-Isberner 2004). Schließlich tritt die Verwirrung eines gravierend Demenzkranken sehr schnell deutlich zutage. Zudem handelt es sich um einen fortschreitenden Krankheitsprozess, der bei zunehmender Symptomatik in immer sinnlosere Handlungen mündet und auf die Hilfsbedürftigkeit des Kranken verweist, so dass die Einleitung strafrechtlicher Schritte unangemessen erscheint (Nnatu et al. 2005) und zur Problembewältigung nicht erforderlich ist. Dementielle Syndrome disponieren allerdings auch zu Unfällen und Straßenverkehrsdelikten (Barak et al. 1995; Rösler 2004); hier sind bisweilen Eingriffe erforderlich (Entzug nicht nur des Führerscheins, sondern auch des Autoschlüssels).
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Gelegentlich wird im Rahmen eines milden dementiellen Syndroms auch eine Enthemmung körperlicher Primärbedürfnisse beobachtet, die zu Delikten führen kann. Sexualdelikte von alten Menschen können selten die Erstmanifestation eines beginnenden, eventuell vorzeitigen Hirnabbaus darstellen (z. B. Morbus Pick, eine präsenile Demenz). Eine solche Konstellation ist heutzutage allerdings ausgesprochen rar, zumal eine sachgerecht erhobene Deliktvorgeschichte gelegentlich die Erstmaligkeit eines Delikts widerlegt (Lau u. Kröber 2000). In jedem Falle hat im Laufe der letzten Jahrzehnte der Anteil organisch psychisch Gestörter in strafrechtlichen Begutachtungskollektiven erheblich abgenommen. z Paranoide Syndrome bei Demenz. Forensisch bedeutsam ist es jedoch, wenn sich ein dementieller Prozess schleichend einstellt. Auf dem Boden eines solchen nicht sehr ausgeprägten Hirnabbaus kann sich ein paranoidhalluzinatorisches Syndrom bilden. Dies kann sich in Fehlüberzeugungen äußern. Eine solche Symptomatik bedarf einer differentialdiagnostischen Abklärung gegenüber passageren deliranten Zuständen (z. B. bei Medikamentenintoxikationen in Wechselwirkung mit internistischer und psychiatrischer Multimorbidität) einerseits, Spätschizophrenien und Wahnentwicklungen andererseits. Schwierig ist die Beurteilung des Schweregrades psychopathologischer Veränderungen gerade bei milde Demenzkranken, deren Handlungsfähigkeit nur wenig eingeschränkt wirkt oder bei denen Merkmale der Wesensänderung wie Reizbarkeit und überbordendes Misstrauen objektiv im Vordergrund stehen, aber nicht für jedermann erkennbar. Die Symptomatik geht noch nicht mit gravierender Verwirrung einher, die Verrichtung der Alltagsdinge ist nicht wesentlich beeinträchtigt. Es kann in solchen Situationen zu aktiv initiierten strafbaren Handlungen auch älterer Menschen kommen. Bekannt sind dabei vor allem aggressive Taten gegen nahe Angehörige, die aus paranoider Überzeugung resultieren (Coid et al. 2002), also beispielsweise dem Gefühl, durch einen Angehörigen in einer subjektiv quälenden Art beeinträchtigt zu werden. Ein hohes Alter muss nicht unbedingt mit dem Verlust der körperlichen Kraft verbunden sein, daher finden sich in forensisch-psychiatrischen Begutachtungspopulationen auch immer wieder alte Menschen, denen schwere Gewalttaten vorgeworfen werden. Recht häufig ist bei den Straffälligen dabei die Überzeugung, vergiftet zu werden, mit der schlimmen Konsequenz, dass die unter den paranoiden Überzeugungen Stehenden den Verursacher ihres Leids auszuschalten suchen. Da in solchen Konstellationen die „Krankhaftigkeit“ der Gewalttat plausibel herauszuarbeiten ist, fällt die Zuschreibung der Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit nicht schwer. Ein in hohem Alter erstmalig Wahnkranker hat im Gegensatz zu psychisch Gesunden nicht mehr umfassend die Möglichkeit, sein Handeln an realistischen Motiven auszurichten. Er handelt krankheitsbedingt und unter massiver Beschränkung bzw. Aufhebung relevanter Freiheitsgrade. Die Einschätzung, dass die Steuerungsfähigkeit
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in Bezug auf die Tatintentionen völlig oder weitestgehend aufgehoben war, ist klinisch gerechtfertigt.
3.1.1.5 Wesensänderung Bei manchen hirnorganisch Kranken, zum Beispiel Hirntraumatikern und Menschen mit zerebralen Durchblutungsstörungen, ist die intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht oder gering beeinträchtigt, während es zu deutlichen Störungen der Affektivität und Emotionalität kommt. Die traditionelle Bezeichnung „organische Wesensänderung“ wird synonym verwandt mit den Begriffen organische Persönlichkeitsänderung, -veränderung und -störung (Freyberger u. Schmidt 1999). Diese Kranken sind im Vergleich zu gesunden Zeiten erhöht affektdurchlässig, haben also z. B. bei traurigen Themen sofort Tränen in den Augen, werden bei Kritik sofort heftig wütend oder sind affektlabil, schwanken also abrupt zwischen traurig, heiter oder zornig. Daneben bestehen chronische Einengungen und Verschiebungen der Emotionalität, vor allem in den drei Prägnanztypen der chronischen Depressivität und Weinerlichkeit, des chronischen missmutig-mürrischen Rückzugs, aber auch der chronisch subeuphorischen Stimmungslage. Entscheidend ist der Verlust früher vorhandener Gestimmtheiten und emotionaler Reaktionsmöglichkeiten, der als Wesensänderung imponiert, entweder im Sinne der krassen Zuspitzung früherer Tendenzen (der früher finanziell Ängstliche wird zum abweisenden Geizkragen) oder des Verlustes früher bestehender Eigenschaften (der einst Fröhliche und Aufgeschlossene wird dauerhaft missmutig und abweisend). Die organische Wesensänderung ist natürlich sehr viel stärker als das akute Psychosyndrom oder auch der intellektuelle Abbau mit den Eigenheiten der jeweiligen Persönlichkeit intensiv verschränkt. Auch alte Menschen können sich noch in bestimmtem Maße wandeln. So ist der Krankheitsprozess mit seiner Symptomatik abzugrenzen gegenüber normalen Reaktionen auf die biographischen Erlebnisse und Veränderungen, auf die nachlassende körperliche Leistungsfähigkeit, den Verlust der einstigen sozialen Rolle und nahestehender Personen. Bisweilen wird als organisch angesehen, was psychogen ist, aber auch – und vielleicht häufiger – wird als psychogen missdeutet (und vorgeworfen), was hirnorganisch bedingt ist und nicht anders gekonnt wird. Die organisch bedingte Persönlichkeitsveränderung (ICD-10: F07.0) wird diagnostiziert, wenn andauernd die Fähigkeit reduziert ist, zielgerichtete Aktivitäten durchzuhalten, insbesondere wenn es sich um längere Zeiträume handelt und darum, Befriedigungen aufzuschieben. Die Patienten leiden unter einer emotionalen Labilität (unkontrollierter, unbeständiger und wechselnder Ausdruck von Emotionen) oder unter Euphorie und flacher, inadäquater Scherzhaftigkeit, die den Umständen nicht angemessen ist, oder unter Reizbarkeit bzw. Ausbrüchen von Wut und Aggressionen oder unter Apathie. Ein wichtiges auffallendes Merkmal kann sein, dass diese Kranken ihre Bedürfnisse und Impulse ungehemmt äußern, ohne Berück-
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sichtigung der Konsequenzen und der sozialen Konventionen. Gerade forensisch-psychiatrisch ist dies natürlich ein komplizierter Bereich, weil tatsächlich infolge hirnorganischer Störungen gleichartige dissoziale Verhaltensweisen auftreten können wie bei Hirngesunden, also Stehlen, unangemessene sexuelle Annäherungsversuche, gieriges Essen oder Vernachlässigung der Körperpflege. Kognitive Störungen bei solchen organischen Persönlichkeitsveränderungen äußern sich häufig in Form von ausgeprägtem Misstrauen und paranoiden Ideen; sie führen bisweilen zu einer exzessiven Beschäftigung mit einem einzigen Thema wie Religion oder zur ständigen strengen Einteilung des Verhaltens anderer in „richtig“ und „falsch“. Manche Patienten fallen auf durch Veränderungen der Sprachproduktion und des Redeflusses mit Umständlichkeit, Begriffsunschärfe, zähflüssigem Denken und Schreibsucht, oder eben mit verändertem Sexualverhalten (verminderte Sexualität oder Änderungen der sexuellen Vorlieben). Wenn ein älterer Rechtsbrecher zu begutachten ist, sollte sorgfältig auf hirnorganische Symptomatik geachtet werden. Für die Schuldfähigkeitsbeurteilung ist insbesondere das klinische Bild wichtig; um einen Eindruck vom Ausmaß des dementiellen Syndroms zu bekommen, ist die Leistungsfähigkeit im Untersuchungsgespräch wichtig, aber auch die Auskunft von Pflegepersonen, Haushaltshilfe oder Freunden über das, was der Proband noch kann und für welche Verrichtungen im Alltagsleben er Hilfe braucht (Aufstehen, Waschen, Anziehen, Frühstück machen, Einkaufen, Kochen, Schriftverkehr). Dabei kann es sinnvoll sein, den Umfang der hirnorganischen Beeinträchtigung testpsychologisch zu objektivieren; bei ausgeprägteren Störungsbildern überschreiten solche Testverfahren oft schon die Leistungsfähigkeit. Es gibt aber umschriebene hirnorganische Defekte z. B. nach Hirnverletzungen, die sich testpsychologisch kaum abbilden. Hirnlokal verursachte Beeinträchtigungen wie abnorme Lärmempfindlichkeit, Reizbarkeit, Aggressivität oder Antriebsverlust mancher Hirnverletzter lassen sich allerdings in standardisierten Leistungstests oft nicht erfassen, zumal der Antriebsverlust in solchen Situationen durch die erhaltene Anregbarkeit durch Dritte kompensiert wird (Faust 1960); man muss sich hier vor allem auf fremdanamnestische Angaben und charakteristische Berichte des Probanden stützen. Allemal geht es bei der forensisch-psychiatrischen Begutachtung zur Schuldfähigkeit zunächst um die Sicherung eines psychopathologisch relevanten Störungsbildes, das sich auch in einer entsprechenden Diagnose äußert. Dabei kann die Ursache dieses Störungsbildes ggf. unsicher bleiben. Umgekehrt geben deutliche Strukturdefizite des Gehirns in bildgebenden Verfahren nur Hinweise zur Prüfung auf der psychopathologischen Ebene, die letztlich allein entscheidet; wenn trotz optisch gut erkennbarer Hirnverletzungsfolgen die psychische Leistungsfähigkeit unbeeinträchtigt ist, ist der Betreffende psychiatrisch gesund.
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Im zweiten Schritt ist dann das Bedingungsgefüge der rechtswidrigen Tat durch eine genaue Handlungsanalyse herauszuarbeiten und so zu verdeutlichen, ob oder inwieweit bei ihr die hirnorganische Symptomatik eine Rolle gespielt hat. Darzulegen ist insbesondere, ob schon die Einsichtsfähigkeit für das Unangemessene, ja Strafbare des Handelns wegen eines intellektuellen Abbaus nicht mehr vorhanden war oder ob rechtswidrigen Impulsen kein Widerstand mehr entgegengesetzt werden konnte. Dies wäre beispielsweise beim Ausagieren von Verärgerung bei organischen Persönlichkeitsänderungen zu diskutieren. Auch im Falle von Demenzkranken, die erstmalig in höherem Lebensalter mit sexuellen Übergriffen auffallen, ist wohl eher die Steuerungsfähigkeit als die Einsichtsfähigkeit zu betrachten. Im Falle eines Tötungsdelikts durch einen hirnorganisch Kranken mit paranoiden Überzeugungen wäre möglicherweise auch die Annahme von Schuldunfähigkeit infolge fehlender Einsicht(sfähigkeit) gerechtfertigt. Plausibler ist jedoch meist eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit, da das Wissen vom generellen Tötungsverbot vermutlich selbst bei Demenz kaum erlischt. Schließlich handelt es sich bei einer solchen Konstellation um die Tat eines Kranken mit akuter psychotischer Symptomatik, die seine Handlungsmotive in krankhafter Weise bestimmt. Die motivationsbezogene Steuerungsfähigkeit (s. a. Kröber 2007, S. 192) wäre diesem Kranken daher abzusprechen, er unterliegt der determinierenden, zur Handlung treibenden Wirkmacht seines psychotischen Motivs. Weiter unten wird im Rahmen der Ausführungen zur Schizophrenie noch weiter dargelegt, warum bei Vorliegen akut-psychotischer Symptomatik die Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit bejaht werden sollten. Man erlebt immer wieder, dass wegen der gravierenden und gefährlichen Delikte eines Hochbetagten eine Unterbringung im Maßregelvollzug angeordnet wird, möglicherweise um einem diffusen Strafbedürfnis gerecht zu werden. Häufig liegen bei dieser Art der Unterbringung aber die rechtlichen Voraussetzungen nicht umfassend vor. Die Erwartung zukünftiger gefährlicher Straftaten kann, da nun die Krankheit erkannt ist, nicht immer plausibel begründet werden. Insbesondere reichen oft die üblichen Behandlungsmaßnahmen (psychiatrisches betreutes Heim o. ä.) aus, welche die Freiheitsrechte des Betreffenden weniger tangieren. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn paranoide Überzeugungsbildungen vorliegen, hochgradig aggressiv besetzt sind und die allgemeine körperliche und psychische Leistungsfähigkeit noch keineswegs einen erneuten Versuch eines schweren Gewaltdelikts ausschließt.
3.1.1.6 Epilepsien Viele Verletzungen, Infektionen und Vergiftungen des Gehirns können eine dauerhafte Neigung zu Krampfanfällen, also eine Epilepsie, nach sich ziehen. Insofern war Epilepsie gerade vor den Zeiten moderner Gesundheitsversorgung eine verbreitete Krankheit, insbesondere auch in armen Bevölkerungsschichten. Da sie oft auch mit psychischen Veränderungen einher-
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ging, galt sie in den Anfängen der klinischen Psychiatrie als eine der großen psychiatrischen Erkrankungen, und zwar insbesondere auch mit forensischer Bedeutung (Krafft-Ebing 1875). Viele Anfallskranke lebten in psychiatrische Anstalten, sie fanden sich vermehrt auch in Häftlingspopulationen. Heutzutage ist die Epilepsie zwar noch immer eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen, allerdings sind die modernen Behandlungsmethoden so effizient, dass Anfallskranke nur noch selten längerfristiger stationärer Behandlung bedürfen. Nur eine kleine Gruppe schwer therapierbarer Patienten, bei denen keine Anfallsfreiheit zu erzielen ist, hat ein erhöhtes Risiko, auch deutliche psychische Störungen zu entwickeln. Bei Epilepsien kommt es durch einen fehlgesteuerten Erregungszustand im Gehirn zu anfallsweise auftretenden, fast immer (jedoch nicht ausnahmslos) mit Bewusstseinsstörungen und/oder motorischen, sensiblen, sensorischen oder vegetativen Phänomenen einhergehenden, vorübergehenden Zuständen, die sich im Idealfall elektroenzephalographisch darstellen lassen, sehr häufig aber durch das klinische Bild diagnostiziert werden. Charakteristisch ist dabei, dass sich epileptische Anfälle durch unterschiedliche Phänomene ankündigen können (Prodromalstadium), es dann zu einer sehr typischen Bewusstseinsveränderung kommen kann (präiktal), die dann übergeht in den eigentlichen Anfall (Iktus). Hernach gibt es einen Folgezustand des Wiederauftauchens aus dem Anfallsgeschehen (postiktal), in dem sich die normalen neurologischen und psychischen Funktionen wiederherstellen. Im forensischen Kontext wird immer wieder ins Spiel gebracht, dass Gewalttätigkeit und aggressives Verhalten Ausdruck eines epileptischen Anfalls sein können. Allerdings wird die Bedeutung von Aggressivität als Symptom einer Epilepsie enorm überschätzt, eindeutige Fälle mit verlässlich nachgewiesenem Zusammenhang zwischen Epilepsie und Aggression sind entgegen der weitläufigen Meinung nur selten beschrieben (Übersicht bei Treiman 2003). Allerdings kann Aggression in allen Phasen der Entwicklung eines epileptischen Geschehens auftreten (Fenwick 1989). Am bedeutsamsten ist sie im Zusammenhang mit postiktalen Zuständen, in denen die Kranken noch nicht ausreichend orientiert sind und im Rahmen von Missinterpretationen zu Fehlhandlungen (und somit auch zu aggressivem Verhalten) neigen können. Besondere forensische Aufmerksamkeit erlangte eine spezielle Unterform, die Epilepsie mit komplex-fokalen Anfällen (früher auch als „psychomotorische Anfälle“ oder „Temporallappen-Epilepsie“ bekannt), bei denen es zu fortgesetzten automatischen, teilweise auch komplexen Handlungen kommen kann. Allerdings muss für die forensisch-psychiatrische Beurteilung der Schuldfähigkeit zunächst plausibel herausgearbeitet werden, ob zum Tatzeitpunkt tatsächlich epileptische Symptomatik vorgelegen hat und somit ein Anfallsgeschehen als bedingender Faktor des rechtswidrigen Verhaltens anzunehmen ist. Bei generalisierten „großen“ Anfällen („grand mal“, mit Bewusstseinsverlust und tonisch-klonischen Zuckungen) wird der Nachweis des Anfalls selbst keine Schwierigkeiten bereiten (wenn es sich
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nicht um einen psychogenen Anfall handelt). Ein solcher Anfall ist sehr charakteristisch und auch für medizinische Laien als Anfallsgeschehen zu erkennen. Wenn sich klar darlegen lässt, dass eine aggressive Handlung in engem zeitlichen Zusammenhang mit einem eindeutigen Krampfanfall auftrat, so ist zu prüfen, ob beispielsweise eine postiktale Situationsverkennung die Aggressivität bedingt hatte. Prinzipiell sind die eigentlichen „großen“ Anfälle als Ursache für komplexe Handlungen äußerst unwahrscheinlich, da sie mit Bewusstlosigkeit einhergehen, welche die Fähigkeit zu zielgerichtetem Handeln aufhebt. Etwas anders ist dies schon bei Fällen, bei denen für den Straftatzeitpunkt das Vorliegen eines komplex-fokalen Anfalls möglich erscheint. Wenn jedoch eine Straftat eindeutig mit einem gewissen Vorlauf begangen wurde, wenn mehrere abgrenzbare Handlungsetappen und eine erhaltene Umstellungs- und Reaktionsfähigkeit beschrieben werden, so ist das Vorliegen eines epileptischen Geschehens zum Tatzeitpunkt ausgesprochen unplausibel, denn echte epileptische Anfälle (auch komplex-fokale) verhindern in der Regel zielgerichtetes Handeln, ja sie durchbrechen typischerweise einen sinnvoll geordneten Handlungsablauf und wirken darin wie ein Fremdkörper. Bemerkenswert ist, dass in einigen älteren Studien die Diagnose Epilepsie auch unabhängig von einem Anfallsgeschehen mit einer erhöhten Prävalenz von aggressivem und gewalttätigem Verhalten assoziiert wurde (z. B. Taylor 1969). Dieser Zusammenhang konnte jedoch in empirischen Überprüfungen so nicht bestätigt werden (Treiman u. Delgado-Escueta 1983). Allerdings zeigt sich bei der Untersuchung von Gefängnisinsassen, dass sowohl Verurteilte als auch ihre Familien in erhöhtem Maß epileptische Erkrankungen aufweisen (Gunn u. Bonn 1971; Fearnley u. Zaatar 2001). Wahrscheinlich ist hier aber kein direkter Zusammenhang ursächlich, vielmehr spielt der im Vergleich zur Normalbevölkerung niedrigere sozioökonomische Status von Straffälligen eine entscheidende Rolle, der auch zu neurologischen Auffälligkeiten sowie einer Epilepsie prädisponiert (Kröber et al. 1994). Nicht vergessen werden sollte, dass eine schlecht behandelbare Epilepsie mit einer Vielzahl durchlittener Anfälle zu einer Wesensänderung mit klinisch sehr typischem Bild führen kann. Insbesondere schwere Krankheitsverläufe, bei denen keine Anfallsfreiheit erreicht werden kann, bewirken häufiger eine psychische Wesensänderung, teilweise auch eine Demenzentwicklung, und eine früh beginnende Verhaltensstörungen. Die Wesensänderung zeigt sich bei manchen in erhöhter Rigidität, verminderter Umstellungsfähigkeit, Haften oder Distanzminderung, bei anderen in emotionaler Instabilität, Oberflächlichkeit oder dissozialen Tendenzen. Sowohl bei generalisierten wie bei fokalen Epilepsien leiden manche dieser Problempatienten unter erhöhter Reizbarkeit und bisweilen sehr massiven aggressiven Durchbrüchen. All dies kann zur Straffälligkeit führen; allerdings sind diese Patienten inzwischen häufig so gut in ein Versorgungssystem integriert, dass es nicht zur Anzeige und nicht zum Strafverfahren kommt. Diese Kranken, die in
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stationären Einrichtungen überrepräsentiert sind, prägen natürlich in gewisser Weise für Ärzte und medizinisches Personal das Bild des Epileptikers; vergessen wird dabei die inzwischen große Mehrheit ganz unauffälliger Anfallskranker, die den Neurologen nur im ambulanten Kontakt sehen. Epileptische Anfälle können auch nach Hirnverletzungen auftreten, also posttraumatisch. Für die forensisch-psychiatrische Beurteilung relevant sind aber am ehesten die erhöhte Reizbarkeit und verminderte Alkoholtoleranz hirntraumatisch Geschädigter (v. a. Opfer von Unfällen), die oft noch junge Erwachsene sind oder im mittleren Lebensalter stehen. Insbesondere bei Schäden des Gehirns, die im Stirnlappen lokalisiert sind, finden sich Phänomene wie erhöhte Irritierbarkeit, Enthemmung und Impulshaftigkeit. Geringe Anlässe können bei in dieser Weise Hirngeschädigten zu einem überschießenden Ausbruch von Wut und Ärger führen und Straftaten bedingen. In einer forensisch-psychiatrischen Untersuchung muss jedoch in Hinblick auf die Beurteilung der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit zunächst herausgearbeitet werden, dass diese Art Affektlabilität auf einem Hirnschaden beruht. Weitere enthemmende Faktoren, die straftatbegünstigend wirken können, dürfen nicht übersehen werden. Meist dürfte es allerdings nicht schwer fallen, den Zusammenhang zwischen Hirnschaden und impulshaft durchgeführter Aggressionstat darzulegen; wenn eine solche Affektlabilität vorliegt, hat sie sich sicherlich nicht erstmals in der Straftat geäußert, sondern wurde bereits vielfach beobachtet. In einem solchen Fall erscheint es durchaus gerechtfertigt, von den Voraussetzungen der erheblich verminderten Schuldfähigkeit auszugehen, wobei es schwer fallen könnte, die Aufhebung der Steuerungsfähigkeit auszuschließen. Probleme wird in einem solchen Fall weniger die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit machen als vielmehr die Einschätzung des Risikos zukünftiger Straftaten (siehe Bd. 3 dieses Handbuchs).
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3.1.2 Passagere organisch bedingte psychische Störungen F. Wendt Im vorangehenden Kapitel wurden organisch bedingte psychiatrische Krankheitsbilder besprochen, die länger anhalten und oft noch zum Zeitpunkt der Begutachtung vorliegen. In diesem Kapitel nun geht es um zeitlich umschriebene, vorübergehende psychopathologische Phänomene im tatrelevanten Zeitraum, die Bedeutung gehabt haben könnten für Tatmotivation, Tatentscheidung, Art der Tatbegehung und für die Schuldfähigkeit. Das ist am häufigsten der Fall bei der Hirnvergiftung, also der akuten Berauschung. Anders als die überdauernde psychische Störung liegt diese vorübergehende hirnorganische Störung zum Untersuchungszeitpunkt nicht mehr vor. Sie muss deshalb aus den Angaben des Probanden, aus Fremdberichten und Vorbefunden diagnostisch rekonstruiert werden, bevor ggf. eine Zuordnung zu den krankhaften seelischen Störungen erfolgen und über deren Auswirkungen und die forensische Relevanz diskutiert werden kann. Zunächst behandelt werden die relativ unspezifischen hirnorganischen Syndrome mit und ohne Bewusstseinsstörung, die sich auf dem Boden direkter Hirnschädigung oder systemischer Erkrankungen entwickeln und nach erfolgreicher Behandlung der Ursache wieder bessern. Hierzu zählen auch die akuten und zeitlich begrenzten Syndrome, die eine Epilepsie begleiten können (siehe Abschn. „Unspezifische hirnorganische Syndrome“). Forensisch eher selten relevante Syndrome gibt es auch im Rahmen einiger körperlicher Erkrankungen. Manche akute Stoffwechselstörungen, hormonelle Entgleisungen, Medikamentennebenwirkungen und unbeabsichtigte Vergiftungen gehen mit funktionellen hirnorganischen Störungen einher (siehe Abschn. „Metabolische Erkrankungen und Medikamentenwirkungen“). Sodann wenden wir uns den Rausch- und Intoxikationszuständen zu, welche in foro recht häufig zur Diskussion stehen. Das am häufigsten vor Gericht verhandelte psychiatrische Phänomen ist die Alkoholisierung in ihren verschiedensten Ausprägungen (siehe Kap. 3.1.2.3). Auch andere psychotrope Substanzen (Drogen, Medikamente) verursachen verschiedenste akute Syndrome, die in Zusammenhang mit Strafvorwürfen stehen können; deren Wirkungen, Nachweisbarkeit und forensische Relevanz werden im vierten Teilabschnitt dargestellt (siehe Kap. 3.1.2.4).
3.1.2.1 Unspezifische hirnorganische Syndrome In diesem Abschnitt sollen solche körperlich begründbaren Syndrome erörtert werden, die durch eine unmittelbare hirnorganische Beeinträchtigung oder durch eine Schädigung des Organismus mit Hirnbeteiligung zu vorübergehenden psychopathologischen Auffälligkeiten führen. Bonhoeffer prägte 1917 den Begriff des „akuten exogenen Reaktionstypus“, der wiederkehrende ätiologisch unspezifische Symptome und Verhaltensmuster zu-
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sammenfasst. Die leichteren Syndrome ohne Bewusstseinsstörung, die durch eine körperliche Erkrankung verursacht wurden, bezeichnete Wieck 1961 als „Durchgangssyndrome“. Diese „körperlichen Psychosen“ sind nach Kurt Schneider (1946) dadurch charakterisiert, dass z ein belangvoller körperlicher Befund vorliegt, z ein eindeutiger Zusammenhang zwischen dem organischen Faktor und der Psychose besteht, z ein Fehlen alternativer Ursachen und z eine günstige Beeinflussung durch eine Besserung der organischen Erkrankung erreicht werden kann. Der Begriff „organisch“ bedeutet hier, dass eine materielle/biologische pathologische Grundlage als sicher anzunehmen ist, wobei zwischen Primärfaktoren (Strukturveränderungen des Gehirns) und Sekundärfaktoren (körperliche Erkrankungen, Verringerung von Mobilität und Aktivität, Verlust von sozialer Kommunikation und sensorische Deprivation mit entsprechenden emotionalen Reaktionen) zu unterscheiden ist (Förstl 2002). Dementsprechend sind die Ursachen dieser Syndrome in Art, Umfang und Dauer recht unterschiedlich, je nachdem, ob eine diffuse oder fokale Hirnschädigung, eine metabolische Störung oder eine infektiöse Erkrankung vorliegt, die dann zu Psychosen, Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen im Sinne von Fehlanpassungen an Belastungen oder zu Verhaltensabweichungen führen (Lipowski 1975). Während die überdauernden psychopathologischen Syndrome in Kap. 3.1.1 dargestellt werden, geht es hier um die akuten organischen Psychosyndrome, die durch plötzlichen Beginn, fluktuierende Störungen der kognitiven Fähigkeiten, der Psychomotorik und der Affektivität gekennzeichnet sind. Für gewöhnlich sind sie reversibel, wenn die Ursache wegfällt oder erfolgreich behandelt wird. Die Zuordnung zu den aktuellen Klassifikationssystemen (ICD-10 und DSM-4-TR) ist in Tabelle 3.1 dargestellt. Die Prävalenz der akuten organischen psychischen Störungen ist zwischen dem 18. und 64. Lebensjahr mit unter 1% sehr gering, steigt dann ab dem 65. Lebensjahr deutlich an, wobei Prävalenzraten zwischen 1–16% angegeben werden. In Krankenhauspopulationen finden sich Häufigkeiten von 20–30%. Es verwundert nicht, dass es in den meisten Fällen um delirante Symptome geht, da im Alter die Reagibilität und Kompensationsfähigkeit für Verletzungen, Intoxikationen oder Infektionen abnehmen.
3.1.2.1.1 Akute organische Psychosyndrome mit Bewusstseinsstörung Alle organischen Psychosyndrome, die mit einer Bewusstseinstrübung einhergehen, werden in den modernen Klassifikationssystemen als Delir bezeichnet. Im traditionellen psychiatrischen Sprachgebrauch war dieser Begriff nur für solche Erscheinungsbilder reserviert, die durch Situationsverkennung, optische Sinnestäuschungen und eine Veränderung des Realitäts-
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Tabelle 3.1. Akute hirnorganische Psychosyndrome Mit Bewusstseinsstörungen
Weisen aufgrund ihrer psychopathologischen Symptomatik direkt auf eine hirnorganische Ohne Bewusstseins- Verursachung hin störungen
Nicht zwingend mit hirnpathologischen Veränderungen vergesellschaftet
Delir (außer Alkohol und psychotrope Substanzen)
ICD-10 F05 DSM-IV-TR 293.0
Organisches amnestisches Syndrom (außer durch Alkohol und psychotrope Substanzen)
ICD-10 F04 DSM-IV-TR 294.0
Psychische Störung aufgrund ICD-10 F06.x einer Schädigung oder DSM-IV-TR Funktionsstörung 293.8x des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung (z. B. „Durchgangssyndrome“) Persönlichkeits- und VerICD-10 F07.x haltensstörungen aufgrund DSM-IV-TR 310.x einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns
bezugs gekennzeichnet sind. Insofern hat sich der Delirbegriff ausgeweitet und beinhaltet auch andere Zustände verminderter oder eingeengter Vigilanz. Es lassen sich grob vier Hauptsyndrome des Delirs unterscheiden, die aber auch fließend ineinander übergehen können: z Bewusstseinsminderung mit ihren verschiedenen Graduierungen von Somnolenz bis Koma (z. B. bei Contusio cerebri, Hirntumor und Vergiftungen). z Amentielles Syndrom („Verwirrtheitszustand“) mit Erregungszustand und starkem Bewegungsdrang. Als „Delir ohne Halluzination und Wahn“ tritt es u. a. bei zerebrovaskulären Erkrankungen auf. z Delir im engeren traditionellen Sinn mit Verwirrtheit, Erregung und optischen Halluzinationen (zumeist Bewegungen kleiner Figuren oder auch szenische Abläufe). Die Betreffenden sind unruhig und zeigen vegetative Symptome wie beschleunigte Herzfrequenz, Schwitzen und Tremor, z. B. beim Alkoholentzug, bei Vergiftungen oder im Rahmen entzündlicher Erkrankungen. z Das seltene epileptische Delir („Dämmerzustand“; siehe Abschn. „Vorübergehende psychopathologische Syndrome der Epilepsie“). Bei der diagnostischen Zuordnung „Delir“ geht es um folgende Kriterien: 1. Störungen des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit. Die quantitative Herabsetzung der Bewusstseinshelligkeit reicht dabei von der Somnolenz über Stupor bis zum Koma. Qualitative Veränderungen des Erlebens äu-
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ßern sich in der verminderten Aufmerksamkeit (die Fähigkeit, die Kognition im Wachzustand einzugrenzen und auszurichten) und in verminderter Konzentration (die Fähigkeit, die Kognition im Wachzustand zu fokussieren und aufrecht zu erhalten). Globale Störungen der Kognition. Dazu zählen Wahrnehmungsstörungen mit Verzerrungen in Form von Illusionen und meist optischen Halluzinationen, die Beeinträchtigung des abstrakten Denkens und der Auffassung – mit oder ohne flüchtige Wahnideen, aber mit deutlicher Inkohärenz. Das Intermediärgedächtnis ist beeinträchtigt, während das Langzeitgedächtnis intakt bleibt. Während es in leichteren Fällen lediglich zu einer zeitlichen Desorientierung kommt, treten in schweren Fällen auch Störungen der Orientierung zu Ort und Person auf. Psychomotorische Auffälligkeiten. Hypo- oder Hyperaktivität und der nicht vorhersehbare Wechsel zwischen beiden kann mit verlängerten Reaktionszeiten kombiniert sein. Verstärkte Schreckreaktionen sind zu beobachten, und die Betreffenden zeigen einen vermehrten oder verminderten Redefluss. Der Schlaf-Wach-Rhythmus ist gestört bis hin zur Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit am Tage und der nächtlichen Verschlechterung. Unangenehme Träume können nach dem Erwachen als Halluzinationen weiter bestehen. Affektive Störungen wie Depression, Angst, Furcht, Reizbarkeit, Euphorie, Apathie oder staunende Ratlosigkeit lassen sich nicht aus dem Situationszusammenhang heraus erklären.
Der Beginn ist für gewöhnlich akut und die Symptomausprägung ist tageszeitlichen Schwankungen unterworfen. Die meisten Delire klingen nach wenigen Tagen bis Wochen ab, in Einzelfällen kann die Gesamtdauer bis zu sechs Monaten betragen. Für diese Zeit besteht eine partielle oder vollständige Amnesie. An dieser Stelle sollen die Hirntrauma-bedingten Akutsyndrome kurz dargestellt werden, die nach den aktuellen Klassifikationen den Deliren zugeordnet werden. Allgemein gilt, dass das Ausmaß der Schädigung mit der Dauer der posttraumatischen Amnesie und mit dem Auftreten und Ausmaß kognitiver und motorischer Störungen korreliert und nach Ausprägung der funktionellen und strukturellen Schädigungen des Gehirns in Commotio, Contusio und Compressio cerebri unterschieden wird: 1. Bei einer Schädelprellung (Commotio) sind strukturelle Schädigungen nicht nachweisbar. Bei leichteren Formen fehlen Bewusstlosigkeit und Amnesie, so dass rein vegetative Begleitsyndrome wie Schwindel, Übelkeit und Erbrechen das Bild bestimmen. Bewusstlosigkeit setzt unmittelbar ein und dauert in der Regel nur kurz (15–30 min). Neurologische Ausfälle sind bei einer Commotio nicht zu erwarten. Psychopathologisch fallen für kurze Zeit Orientierungsstörungen und psychomotorische Unruhe („posttraumatischer Verwirrtheitszustand“) auf, was bis zu einer Stunde andauern kann. Für diese Zeit besteht eine retrograde Amnesie
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(Rumpl 1999). Nach Abklingen der Commotio können vorübergehend postkommotionelle Beschwerden zurückbleiben: Kopfschmerzen, Schwindel, vermehrtes Schwitzen, Kreislaufdysregulation und Überempfindlichkeit gegenüber Alkohol bilden sich ebenso wie eine leichte Erschöpfbarkeit, Konzentrationsstörungen, Merkschwäche und Affektlabilität innerhalb von Wochen zurück. 2. Die Contusio cerebri ist neben Funktionsstörungen durch lokalisierbare morphologische Veränderungen des Gehirns gekennzeichnet. Die initiale Bewusstlosigkeit dauert länger als eine Stunde an, und der posttraumatische Verwirrtheitszustand kann über ein reversibles, mehr oder weniger ausgeprägtes hirnorganisches Psychosyndrom bis zu Tagen andauern und sich dann folgenlos zurückbilden oder (je nach Ausprägung des begleitenden Hirnödems) in eine delirante, depressive, maniforme, wahnhafte oder halluzinatorische Symptomatik übergehen. Die Dauer der „Kontusionspsychose“ beträgt meist mehrere Wochen. Im günstigen Fall kann es zu einer Remission kommen, anderenfalls entwickelt sich ein chronisches organisches Psychosyndrom. Neurologische Begleitsymptome wie Hemiparesen, Aphasie und Hirnnervenausfälle sind zu beobachten. Gelegentlich treten in der Akutphase fokale bzw. sekundär generalisierende epileptische Anfälle auf. Ausgeprägte vegetative Störungen (Temperaturanstieg, Wasser- und Elektrolytstörungen) können ihrerseits zur Zunahme des Hirndrucks führen, was mit Übelkeit und Erbrechen, Nackensteifigkeit und Störungen der Pupillomotorik einhergeht. 3. Steigt der intrakranielle Druck nach traumatischer Läsion weiter an, kommt es sekundär zu Hirnschädigungen, die als Compressio cerebri bezeichnet werden und in der Regel eher den Neurochirurgen oder Intensivmediziner denn den psychiatrischen Sachverständigen interessieren muss. Förstl und Hüll (2004) nennen in einem umfangreichen Überblick die Ursachen eines Delirs, vor allem Infektionskrankheiten, metabolische Störungen, Intoxikationen (einschließlich durch psychotrope Substanzen und deren Entzug), Schädel-Hirn-Traumata oder zerebrovaskuläre Erkrankungen. Darüber hinaus ist auch auf endokrinologische und Elektrolytstörungen hinzuweisen, was gerade bei Älteren zu einer besonderen Empfindlichkeit gegenüber einer ganzen Reihe von Medikamenten führt, die ggf. selbst Delire auslösen können. Es handelt sich dabei weniger um exotische Präparate, sondern um in der Praxis oft verwendete Antiarrhythmika (z. B. Disopyramid), Antibiotika (z. B. Cephalosporine), Antidepressiva mit anticholinerger Wirkung (z. B. Amitriptylin), Antihypertensiva (z. B. Captopril), Antikonvulsiva (z. B. Valproat), Neuroleptika (z. B. Clozapin), Parkinsontherapeutika (z. B. Levodopa), Virostatika und andere. Insofern verwundert es nicht, dass Alter, vorbestehende Hirnschädigungen, eine Suchtmittelproblematik, Fehlernährung, Diabetes mellitus, Karzinome und andere körperliche Erkrankungen ein besonderes Risiko darstellen, ein Delir zu entwickeln.
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3.1.2.1.2 Akute organische Psychosyndrome ohne Bewusstseinsstörungen Unter diesem Begriff werden neben dem akuten amnestischen Syndrom (akutes Korsakow-Syndrom) organische Halluzinosen und affektive, aspontane, paranoide und pseudoneurasthenische Psychosyndrome zusammengefasst, die im Verlauf einer Hirnerkrankung auftreten können. Sie können an Schwere zunehmen und fließend in ein Delir übergehen. z Organisches amnestisches Syndrom. Im Vordergrund steht die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses, in geringerem Umfang ist auch das Langzeitgedächtnis betroffen. Das Erlernen und Behalten neuer Informationen ist beeinträchtigt. Die Rekonstruktion früher erlernter Gedächtnisinhalte, gerade die Reproduktion jüngerer Erfahrungen, ist behindert. Es besteht eine antero- und retrograde Amnesie. Vergangene Erlebnisse können nicht in ihrem chronologischen Zusammenhang wiedergegeben werden. Weiterhin muss anamnestisch oder objektivierbar eine Hirnschädigung oder eine Hirnerkrankung nachweisbar sein, insbesondere bilateral dienzephaler und mediotemporaler Strukturen. Das Intermediärgedächtnis, also die unmittelbare Wiedergabe von Informationen, wie z. B. Zahlennachsprechen, Aufmerksamkeit und Bewusstsein, sind nicht betroffen, ebenso auch nicht die allgemeine intellektuelle Fähigkeit des Betreffenden. Das Fehlen von qualitativen und quantitativen Bewusstseinsstörungen grenzt das amnestische Syndrom vom Delir ab. Die Amnesie betrifft besonders die zeitliche Abfolge, den räumlichen Kontext und die Informationsquelle von Ereignissen. Einige Amnesien (z. B. bei Schädel-Hirn-Traumen oder bei der transienten globalen Amnesie (TGA)) erstrecken sich nur auf kurze, vorübergehende Lebensperioden (Minuten bis Stunden). Andere, i. S. der „Korsakow-Psychose“, sind zeitlich ausgedehnt und anhaltend. Klinisch auffällig sind die Betreffenden durch Konfabulationen, die mangelhafte Berücksichtigung tradierter oder aktuell äußerer Vorgaben und durch affektive Veränderungen. Apathie und Entschlusslosigkeit sind zusätzliche, aber nicht notwendige Symptome. Als Ursache kommen am häufigsten Schädel-Hirn-Traumen in Frage (siehe unten). Zerebrovaskuläre Ursachen, u. a. bei Infarkten des Basiliarisbzw. A.-posterior–Stromgebietes, sind häufig auch mit sensomotorischen Hemiparesen oder Gesichtsfeldausfällen – also komplexeren Störungen – assoziiert. Durch Aneurysmablutungen (A. communicans anterior) kann es ebenfalls zu Verletzungen von Mittelhirnstrukturen und Zeichen einer Frontalhirnläsion mit mangelnder Einsicht und Enthemmung kommen (aber auch zu Paresen und vegetativen Störungen durch Schädigung dienzephaler Strukturen). Bei der TGA entwickelt sich eine über mehrere Stunden andauernde anterograde und retrograde Amnesie. Die Betreffenden sind dabei aufmerksam und bewusstseinsklar, die Erinnerung an die eigene Identität bleibt erhalten, die vertraute Umgebung wirkt allerdings fremd. Die Betreffenden sind ratlos-ängstlich und unruhig. Innerhalb von Stunden bessert sich hier
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die Orientierung bis hin zur vollständigen Normalisierung. Bei einer Herpes-simplex-Enzephalitis ist das amentielle Syndrom meist mit neurologischen Auffälligkeiten (Aphasie, Anosmie, komplex-partielle Anfälle) kombiniert. Aufgrund des Krankheitsverlaufs treten die mnestischen Störungen eher in den Hintergrund. Bei der Encephalomyelitis disseminata zeigen 40–60% der Betroffenen häufig eine Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses, wobei ein ausgeprägtes amnestisches Syndrom selten ist. Nicht zuletzt sind auch Gliome mit Alteration thalamischer und hypothalamischer Strukturen und Kraniopharyngeome mit Kompression zentraler Hirnstrukturen aufzuführen. Systemerkrankungen wie die Wernicke-Korsakow-Enzephalopathie können sich durch eine amnestische Phase ankündigen. Hier besteht meist eine anterograde und retrograde Amnesie mit stärkerer Beeinträchtigung des Kurzzeit- wie auch des Langzeitgedächtnisses. Aufmerksamkeit, Abstraktion und Konzentration bleiben zunächst ungestört. Im Verlauf entwickelt sich ein konfabulatorisches Syndrom, während später Apathie und Passivität das klinische Bild bestimmen. Nach Kohlenmonoxid-Intoxikation, Strangulationen, Anästhesiezwischenfällen, Stoffwechsel- und Elektrolytentgleisungen entwickeln sich anhaltende amnestische Störungen. Letztlich sind auch einige Medikamente wie Benzodiazepine und andere Sedativa geeignet, eine Amnesie zu begründen. Differentialdiagnostisch ist davon die dissoziative Amnesie (ICD-10 F44.0) abzugrenzen. Dies wird insofern keine Schwierigkeiten bereiten, da körperliche Krankheitssymptome fehlen, sich bei dieser psychogenen Störung eher emotionale Stressfaktoren finden lassen und die Gedächtnisdefizite zum Teil selektiv die eigene Biographie betreffen. z Akute organische Halluzinosen. Per definitionem gelten auch hier die bereits von Kurt Schneider formulierten Voraussetzungen, die sich in den aktuellen Klassifikationssystemen für akute organische Störungen wiederfinden. Zerebrale Erkrankung, Verletzung oder Funktionsstörung im zeitlichen Zusammenhang bilden dabei die Abgrenzung zu den symptomatischen Syndromen der Schizophrenie, der affektiven Störungen u. a. Andererseits sind die diagnostischen Kriterien für Delir, Demenz und das amnestische Syndrom nicht erfüllt. Bei den organischen Halluzinosen herrschen optische und akustische Phänomene vor. Während strukturelle Läsionen eher zu einer überdauernden Symptomatik führen, begründen funktionelle Beeinträchtigungen durch Temporallappenepilepsie, Hirnstammtraumen, Enzephalitiden, Tumoren und Narkolepsie ein fluktuierendes Bild, letztere mit hypnagogen (Einschlaf-) und hypnopompen (Aufwach-)Halluzinationen mit lebhaften visuellen Phänomenen. z Die akuten organischen katatonen, wahnhaften und affektiven Störungen entsprechen in ihrer Symptomatik den überdauernden organischen Syndromen und unterscheiden sich lediglich darin, dass sie i. S. eines Durchgangssyndroms bei adäquater Behandlung der Grunderkrankung reversibel sind.
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Aufgrund ihrer akut einsetzenden Symptomatik im Rahmen einer nachweislichen Schädigung ergeben sich selten strafrechtliche Fragestellungen, da z. B. Patienten nach ausgedehnten Operationen bei adäquater Versorgung kaum in die Gelegenheit versetzt werden dürften, ohne weiteres justiziable Fehlhandlungen zu begehen.
Forensische Konsequenzen In der forensisch-psychiatrischen Begutachtung werden diese Syndrome eher selten eine Rolle spielen (Nedopil 2000; Rösler 2004). Bei den schweren Beeinträchtigungen eines Delirs sind die Betreffenden eher auf stationäre Hilfen angewiesen. Im Falle leichterer Ausprägungen kann es bei Situationsverkennungen zu Aggressionsdelikten kommen. Es leuchtet ein, dass aufgrund der syndromtypischen Bewusstseinsstörungen – so denn ein Delir (ob nun infektiös, intoxikations- oder entzugsbedingt oder als „posttraumatischer Verwirrtheitszustand“) retrospektiv anhand der Befundlage zu rekonstruieren ist – von einer vorübergehenden krankhaften seelischen Störung auszugehen ist, wie auch beim Vorliegen eines amnestischen Syndroms und den anderen reversiblen hirnorganischen Störungen. Es geht bei der juristischen Frage nach der Schuldfähigkeit weniger um eine Ursachenanalyse, sondern um die Einschätzung zu den Konsequenzen dieser recht unspezifischen hirnorganischen Syndrome anhand der psychopathologischen Defizite, z. B. inwieweit Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an wechselnde Umweltbedingungen erhalten geblieben waren oder nicht. Es wird medizinisch nicht schwer sein, anhand der Auffassungsstörungen, der Konzentrationsdefizite und Wahrnehmungsstörungen die mangelnde Reagibilität nachzuweisen und im Ergebnis zu einer gestörten Einsichtsfähigkeit zu gelangen, die medizinisch die Annahme eines Zustands der Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB rechtfertigt.
3.1.2.1.3 Vorübergehende psychopathologische Syndrome der Epilepsie Abschließend soll unter dem Aspekt der vorübergehenden Störungen auch auf die Phänomene dieser Krankheiten, an denen ca. 1% der Bevölkerung leidet, eingegangen werden. Als Folge einer chronischen neuronalen kortikalen Funktionsstörung kommt es zu wiederholten Spontananfällen, d. h. zu paroxysmalen synchronen Entladungen von Neuronengruppen des Gehirns, die zu Veränderungen der Wahrnehmung oder des Verhaltens führen. Je nach Lokalisation und Ausmaß der Entladung treten Bewusstseinsstörungen, motorische, sensible, sensorische oder vegetative Symptome auf. Zur genaueren Klassifikation wird auf die neurologische Fachliteratur verwiesen. Psychiatrisch ist festzuhalten, dass die bisher besprochenen Syndrome bei allen Anfallsformen auftreten können. Neben überdauernden Störungen wie die organische Persönlichkeitsstörung oder die Demenzentwicklung sind im Rahmen akuter und vorübergehender hirnorganischer Syndrome Zustände mit und ohne Bewusstseinsstörung zu unterscheiden.
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Hingewiesen sei darauf, dass sich bei fokalen und komplex-fokalen Anfällen, deren Symptomatik an die Lokalisation im Gehirn gebunden ist, delirante Zustandsbilder ergeben, die je nach Läsion von optischen oder akustischen Phänomenen begleitet werden. Sie reichen vom „geordnetem Dämmerzustand“ bis zu katatonieartigen Zustandsbildern, die neben ausgeprägter psychomotorischer Hemmung auch durch extreme Erregungszustände gekennzeichnet sind. Während des psychomotorischen Anfalls werden affektive Störungen mit Angst, Wut, Schreien, Kreischen und Gewalttätigkeit beobachtet. z Vorübergehend mit Bewusstseinsstörung sind anfallsgebundene Dämmerzustände, der Petit-mal-Status, komplex-fokale Anfälle ohne Status, die Aura continua und postiktale Dämmerzustände. Ohne Anfallsbindung sind ebenfalls Dämmerzustände und Verwirrtheitszustände (oft medikamentös) möglich. z Epileptisches Delir (Dämmerzustand). Dieses Syndrom tritt vorwiegend nach tonisch-klonischen Anfällen, seltener als Anfallsäquivalent bei psychomotorischen komplex-fokalen Anfällen oder als Status einfach fokaler Anfälle auf und kann Minuten bis Wochen andauern. Während des postparoxysmalen Dämmerzustands kommt es zu quantitativen Bewusstseinsstörungen, die Betroffenen sind ganz mit ihren Erlebnissen beschäftigt, und ihre Ansprechbarkeit für Außenreize ist herabgesetzt. Das Auffassungsvermögen und der formale Gedankengang sind verlangsamt. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich partiell Orientierungsstörungen zu Ort, Zeit und Situation. Insofern werden zwar Bruchstücke der Umgebung wahrgenommen, die Situation als solche wird aber nicht überblickt. Einzelne Impulse können so zu Handlungen führen, die keinen Zusammenhang zu den übrigen Denkvorgängen und Motivationen haben. In einem fast traumwandlerischen Zustand bleibt die Handlungsfähigkeit für einfache/automatische Tätigkeiten erhalten, was von außen betrachtet mitunter klar und besonnen wirken mag und erst durch genauere Prüfung der kognitiven Funktionen deutlich wird. Im Rahmen der postparoxysmalen Dämmerzustände kommt es häufig zu einem ziellosen Weglaufen (Poriomanie) und Aggressionshandlungen, wenn man sich den Betroffenen in den Weg stellt. Bei den iktalen Dämmerzuständen sind die Betreffenden stuporös, verlangsamt und räumlich sowie zeitlich desorientiert. Der Status einfach fokaler Anfälle mit sensorischen Empfindungen oder psychischen Symptomen (Aura continua) kann als paranoid-halluzinatorisches Syndrom mit Halluzinationen, Derealisation und Angstzuständen einhergehen. Nach dem Dämmerzustand besteht für diese Zeit eine Amnesie, die nicht die gesamte Dauer des Dämmerzustandes umfassen muss. z Episodische psychopathologische Phänomene ohne Bewusstseinsstörung sind phasische Verstimmungen (stunden- bis tagelang anhaltende Zustände mit deprimierter, euphorischer, missmutig-dysphorisch-gereizter Stimmung vor
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einem Anfall und oft danach nicht mehr zu beobachten), melancholische und maniforme Syndrome (die von einer eigentlichen affektiven Störung nicht zu unterscheiden sind und ggf. zu fremdaggressivem Verhalten führen). z Paranoid-halluzinatorische Episoden sind peri- oder interiktal zu beobachten. Meistens treten sie entweder kurz vor oder direkt nach Anfällen auf oder als Anfallsäquivalent („produktiv-psychotischer Dämmerzustand“). Wie bei schizophrenen Syndromen gibt es akustische Halluzinationen (seltener auf anderen Sinnesgebieten), Wahneinfälle und Wahngedanken (vor allem Verfolgungs- und Größenwahn), Wahnwahrnehmungen und IchStörungen. Unmittelbar können diese Syndrome nicht von einer Schizophrenie zu unterscheiden sein, wie auch die schizophrenieformen Episoden in anfallsfreien Intervallen, die mit einer Normalisierung des EEGs (forcierte Normalisierung) verbunden sind. Die schizophrene Symptomatik verschwindet dann bei erneuter Verschlechterung des EEGs oder erneuten Anfällen. Chronische, nichtepisodische schizophreniforme Syndrome und Wahnbildungen treten bei Epileptikern überzufällig häufig auf. Meist bleibt offen, ob es sich um eine gleichzeitig bestehende Schizophrenie handelt oder tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Epilepsie besteht, also eine organische schizophreniforme Störung vorliegt.
Forensische Konsequenzen Die Diagnose einer Epilepsie rechtfertigt nicht pauschal, bei Verhaltensaufälligkeiten von einer generellen Beeinträchtigung des Hemmungsvermögens auszugehen. Im anfallsfreien Intervall sind die Probanden, soweit andere klinisch fassbare Syndrome fehlen, nicht anders zu behandeln wie Gesunde. Es leuchtet ein, dass bei Bewusstseinsstörungen die Zuordnung zur krankhaften seelischen Störung erfolgen muss und letztlich von einer fehlenden Einsichtsfähigkeit i. S. des § 20 StGB auszugehen ist, wenn sich dies für den tatrelevanten Zeitraum diagnostisch rekonstruieren lässt. Laut Marsh und Krauss (2000) sind aggressive Akte während eines epileptischen Anfalls extrem seltene Ereignisse, sondern eher postiktal zu beobachten. Rösler (2004) verwies zu Recht darauf, dass bei Vorliegen deliranter Symptome (siehe Abschn. „Epileptisches Delir“) für diesen Zeitraum „Schuldunfähigkeit wegen fehlender Unrechtseinsichtsfähigkeit“ vorliegt. Gleichwohl ist die forensische Bedeutung eher gering. Bei der Auswertung von Gerichtsurteilen aus den Jahren 1952 bis 2000 fanden Schulze-Lohne und Bauer (2001) nur 149 Urteile, davon 27 Strafverfahren, bei denen die Epilepsie des Betreffenden eine Rolle spielte. Episodische psychopathologische Syndrome ohne Bewusstseinsstörung bei Probanden mit Epilepsie (z. B. Verstimmungszustände, die kein Anfallsäquivalent sind) lassen zumindest an eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit i. S. des § 21 StGB denken, wie die Erregungszustände auf dem Boden eines katatonen Syndroms oder bei Fehlhandlungen im Rah-
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men einer paranoiden Symptomatik. Persönlichkeitsstörungen sind im Intervall, je nach Gewichtung hirnorganischer oder persönlichkeitsdiagnostischer Gesichtspunkte, als krankhafte seelische Störung oder schwere andere seelische Abartigkeit zu behandeln und dann in ihrem Ausmaß zu bewerten, d. h. welche psychopathologischen Defizite zum Tatzeitpunkt vorlagen, welche Behinderung sie für Alltagsbewältigung und Anpassungsfähigkeit in der konkreten Tatsituation darstellten und inwieweit das zur Last gelegte Delikt Ausdruck eben dieser Symptomatik war oder nicht. Je nachdem, wie diese Fragen vom psychiatrischen Sachverständigen im jeweiligen Fall beantwortet werden, lässt sich auf eine erheblich verminderte oder – relativ selten – eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit wegen epilepsieassoziierter Störungen schließen.
3.1.2.2 Metabolische Erkrankungen und Medikamentenwirkungen Zwischen Rauschzuständen und den symptomatischen Syndromen des Abschnitts „Unspezifische hirnorganische Syndrome“ gibt es phänomenologische und pathophysiologische Gemeinsamkeiten, die auch ihre Ursachen betreffen. Eine davon ist die vorübergehende Intoxikation durch Rauschdrogen oder durch eine Vielzahl anderer akuter Einflussfaktoren, die psychopathologische Auffälligkeiten bedingen, nicht generell die Schwere eines Delirs erreichen – d. h. mit Bewusstseinsstörungen einhergehen – und bei Beseitigung der Ursache z. T. recht schnell reversibel sind. Solche Syndrome erlauben für sich genommen noch keine Zuordnung zu den organischen Störungen (wie Demenz und Delir), da es Überschneidungen mit anderen Krankheitskategorien (z. B. Schizophrenie, affektive oder Persönlichkeitsstörungen) gibt. Die Klassifikationssysteme ordnen solche Syndrome unter die Begriffe der anderen Störungen aufgrund einer Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns oder einer körperlichen Erkrankung (ICD-10 F06.x) bzw. unter Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen aufgrund einer Erkrankung, Schädigung oder Funktionsstörung des Gehirns (ICD-10 F07.x) ein. In diesem Abschnitt interessieren nicht die aufgrund fortlaufend funktioneller und struktureller Schädigungen überdauernden Phänomene, sondern die leicht zu beseitigenden Störungen, die zum Begutachtungszeitpunkt zumeist nicht mehr im psychischen Befund nachweisbar sind und aus Anamnese, Vorbefunden und Beschreibungen rekonstruiert werden müssen. Dies ist bei Intoxikationen am ehesten der Fall, vorausgesetzt, es kommt nicht zu bleibenden Schädigungen entweder aufgrund direkter Neurotoxizität oder indirekt aufgrund von Organschädigungen bis hin zu hypoxischen Defekten. Während der Konsum psychotroper Substanzen absichtlich die subjektive Befindlichkeit beeinflussen soll, haben eine Reihe verordneter Medikamente unerwünschte psychotrope Nebenwirkungen, erst recht bei Überdosierungen. Die einzelnen Nebenwirkungen der jeweils in Frage kommenden Medikamente wird der Sachverständige dann recherchieren
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müssen, u. a. seien hier genannt: die organische Halluzinose bei L-DopaÜberdosierung, die organische katatone Störung nach hochpotenter Antipsychotikagabe (oder bei Kohlenmonoxidvergiftung) und die organische affektive Störung mit depressiver Verstimmung u. a. bei Clonidin und Betablockern. Die forensische Bewertung hat über die Feststellung hinaus, dass Medikamente im tatrelevanten Zeitraum eingenommen wurden, immer auch den Nachweis zu führen, dass eben diese Medikamente eine entsprechend ausgeprägte Symptomatik begründeten (pharmakologisch überhaupt begründen konnten) und dass somit das Denken, Fühlen und Handeln des Betreffenden auf der Basis einer dadurch bedingten organischen Störung beeinflusst waren. Im Vergleich zum Konsum psychotroper Substanzen werden in der Regel bei Straftaten solche Umstände kaum geltend gemacht. Ob dann aber die Einnahme von 1500 mg des Analgetikums Paracetamol ein „impulsgestörtes“ Eigentumsdelikt rechtfertigt, bedarf weniger pharmakologischen Expertentums, wenn der psychiatrische Sachverständige sich darauf besinnt, dass es bei jeder Tat ein Davor und ein Danach gibt und organisch begründete Defizite komplexer Natur sind, deren Auswirkungen kaum auf einzelne Momente, hier nun gerade eine strafbare Handlung, beschränkt sein dürften. Mitunter ergibt sich auch die Konstellation, dass erst durch die adäquate medikamentöse Behandlung einer Krankheit der Betreffende in die Lage versetzt wird, an seine frühere Leistungsfähigkeit anzuknüpfen oder aktuelle Behinderungen, wie z. B. Schmerz, zu unterdrücken. Niemand würde auf die Idee kommen, den erfolgreich behandelten Herzpatienten, der seine Arbeit wieder aufnimmt, als „unverantwortlich“ zu bezeichnen, nur weil er dafür regelmäßig Tabletten nehmen muss. Das Gleiche gilt für metabolische und endokrine Störungen und ihre Behandlung. Dabei ist ein Zuviel oder Zuwenig an Schilddrüsenhormon nicht automatisch gleichbedeutend mit psychischer Gestörtheit oder der Behinderung normkonformen Verhaltens. Auch hier wird im Einzelfall zu überprüfen sein, was an Symptomatik zu verifizieren ist, ob dies mit der hormonellen oder Stoffwechselstörung in Deckung zu bringen ist und welche Konsequenzen sich daraus für Einsicht und Hemmungsvermögen zum Tatzeitpunkt ergeben. Dies soll anhand der Anabolika näher beleuchtet werden. Es stellt sich in foro mitunter die Frage, inwieweit ein hoch dosierter Gebrauch von Anabolika (z. B. Testosteron 1000 lg/Woche) Auswirkungen auf die bewertenden Fähigkeiten und das umsichtige Handeln des Betreffenden hatte, ob Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Verhalten bei Straftaten dadurch ggf. erheblich beeinflusst waren und das Hormon die Aggressions- oder Sexualdelikte provoziert bzw. erst möglich gemacht hat. Folgte man dieser einfachen Kausalbeziehung, würden allerdings die persönlichkeitsbedingten Faktoren des Betreffenden, seine sozialen Kompetenzen und Defizite sowie situative Aspekte wie aktuelle Konflikte schlichtweg ausgeblendet.
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Es ist empirisch belegt, dass gerade bei der Einnahme supraphysiologischer Anabolikadosen psychische Auffälligkeiten auftreten können. Diese reichen von leichter Irritierbarkeit, Aggressivität, Euphorie, Größenideen bis hin zu manischen Syndromen und deliranten Bildern (Hall u. Hall 2005). Bei einer validen Untersuchung von Bodybuildern, die über Jahre hinweg einen Anabolikamissbrauch betrieben hatten, standen bei der Selbstbeurteilung allgemeine psychische Symptome wie Aggressivität, Euphorie und Impulsivität im Vordergrund (Lefavi et al. 1990). Problematisches Verhalten mit Stimmungsschwankungen bis hin zu depressiven Verstimmungen und suizidalen Krisen wird als psychopathologische Folge betrachtet, als Begleiterscheinung eines hochdosierten Anabolikagebrauchs i. S. eines organisch begründbaren Syndroms (Pope et al. 2000; Trenton et al. 2005; Hall et al. 2005). Die Aufgabe des Sachverständigen ist, eben diese Symptome in ihrem Verlauf und den Verhaltenskonsequenzen nicht nur zum Zeitpunkt zur Last gelegter Taten über die Angaben von Dosierungen hinaus herauszuarbeiten. Es wird pharmakologisch schwer zu vermitteln sein, dass entsprechende Begleiterscheinungen lediglich im Rahmen sexueller Übergriffe oder bei Aggressionsdelikten in Erscheinung treten, während die Betreffenden im sonstigen Kontakt mit dem Umfeld unauffällig sind. Eine hormonell begründete organische Beeinträchtigung lässt eine durchgängige Änderung des psychischen Befindens und der Verhaltensbereitschaften erwarten, die sich auch außerhalb sexueller Aktivitäten und einzelner Konfrontationen niederschlägt. Sicherlich mag das subjektive Erleben von Stärke und Kraft die Handlungsbereitschaft befördern. Es ist aber unwahrscheinlich, dass der Hochdosis-Missbrauch von Testosteron lediglich zu einer sexuellen Enthemmung oder Entwicklung neuer sexueller Präferenzen führt, während die häufigsten Nebenwirkungen wie z. B. Aggressivität und Reizbarkeit im Alltag nicht auffallen. Der unkritische Gebrauch von Anabolika vermittelt sich mitunter für den Betreffenden als Abhängigkeit, wenn er bei Aussetzen z. B. einer hochdosierten Testosteronzufuhr Stimmungseinbrüche, Antriebsmangel und Konzentrationsprobleme – allgemeine Leistungseinbußen – erlebt, was dann den erneuten Anabolikamissbrauch reizvoll erscheinen lässt und letztlich zu den Dosissteigerungen führt, an die sich die Mehrzahl der Konsumenten gut adaptiert. Die Annahme einer psychischen Abhängigkeit von Anabolika ist aber wenig geeignet, die Frage der Einsichts- und Hemmungsfähigkeit z. B. bei sexuellen Übergriffen zu begründen. Für sich genommen erklärt die Fokussierung auf den Gebrauch von Anabolika nicht die Bereitschaft zu sexuellen Übergriffen. Oftmals findet sich überdauernde Unzufriedenheit bei akzentuierten Persönlichkeitszügen, die sich bereits für die Zeit vor dem Anabolikakonsum nachzeichnen lässt. In der forensisch-psychiatrischen Beurteilung wird nicht nur auf die punktuellen Befindlichkeiten und die potentielle Hormonwirkung einzugehen sein. Es ist die allgemeine Lebenssituation, ggf. durch Fremdanamnesen gestützt, zu beleuchten, um sich einen Überblick über das Ausmaß berichteter Beeinträchtigungen zu verschaffen. Die Gesamtschau (persönlich-
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keitsbedingte Faktoren, soziale Kompetenzen, situative Aspekte) erlaubt in der Regel eine Zuordnung, ob von einer relevanten hirnorganischen Störung auszugehen ist – also ein Eingangskriterium der §§ 20, 21 StGB vorliegt – oder nicht und welche Schlussfolgerungen sich in Verbindung mit der Tatanalyse für die strafrechtliche Verantwortlichkeit ergeben, was im Wesentlichen die Hemmungsfähigkeit betrifft.
Fazit Intoxikationen, in welcher Form auch immer, können vorübergehende psychopathologische Phänomene provozieren, die letztlich als Syndrom fassbar und diagnostisch zuzuordnen sind. Pauschal rechtfertigt ein Zuviel oder Zuwenig pharmakologischer Wirkung noch kein relevantes organisches Störungsbild. Im Einzelfall wird zu überprüfen sein, welche pharmakologischen Einflüsse in Art und Umfang welche Handlungsauffälligkeiten begründeten und ob die relevanten Verhaltenskonsequenzen eher einem Substanzeinfluss oder der Persönlichkeit geschuldet sind. Erst wenn dies zu Gunsten einer belegbaren hirnorganischen Beeinträchtigung entschieden ist, kann der psychiatrische Sachverständige bei vorgegebenem Tathergang sinnvoll über deren Auswirkungen für die Hemmungsfähigkeit im Tatverhalten diskutieren.
3.1.2.3 Alkoholrausch F. Wendt, H.-L. Kröber Laut Erhebung der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen lag 2004 der Pro-Kopf-Verbrauch reinen Alkohols bei 10,1 l (Glaeske 2006). Bei 22 548 Verkehrsunfällen spielte im Jahre 2004 Alkohol eine Rolle; 704 Menschen kamen dabei ums Leben, die mittlere Blutalkoholkonzentration (BAK) der Unfallfahrer zum Unfallzeitpunkt betrug 1,6‰. Laut IFT München betreiben 10,4 Millionen Menschen in Deutschland einen riskanten Alkoholkonsum, bei 1,7 Millionen besteht ein Alkoholmissbrauch, und bei weiteren 1,7 Millionen sind die diagnostischen Kriterien für eine Alkoholabhängigkeit erfüllt, d. h. bei 4–5% unserer Bevölkerung besteht ein klinisch relevantes Alkoholproblem. Andererseits legen diese Zahlen auch nahe, dass kriminelles Handeln nicht zwingend an eine Alkoholisierung gebunden ist; von den Menschen mit Alkoholmissbrauch und -sucht wird nur eine Minderheit substanzbedingt straffällig. Auch hat nur ein Teil der alkoholisierten Straftäter ein Suchtproblem. In statistischen Erhebungen liegt der Anteil alkoholisierter Straftäter bei Gewaltdelikten bei 25,3% (Egg 2002), was die aktuelle polizeiliche Kriminalstatistik in ihrer Gesamterhebung für das Jahr 2005 (BMI 2006) mit 29,7% aller erfassten 212 832 Gewaltdelikte in der Größenordnung bestätigte. In Gutachtenpopulationen und bei Klinikpatienten liegt der Anteil alkoholisierter Straftäter deutlich höher (z. B. Pillmann et al.
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2000; Wendt u. Kröber 2003: bis zu 40%), was verständlicherweise der Selektion der unterschiedlichen Stichproben geschuldet ist. Bei diesen Zahlen verwundert es nicht, dass sich psychiatrische Sachverständige und die Gerichte häufig mit der Frage auseinanderzusetzen haben, welche Rolle bei Straftaten der Alkohol spielte, der unmittelbar im Vorfeld einer Straftat vom Betreffenden konsumiert wurde. Der Hinweis auf eine akute Alkoholisierung ist nicht allein bedeutsam für die mögliche Dekulpierung von Fehlverhalten. Er ist auch wichtig für die Charakterisierung einer bestimmten sozialen Situation, aus welcher heraus die Tat begangen wurde: Alkoholkonsum ist regelhaft mit bestimmten persönlichen Absichten, sozialen Feldern und Aktivitäten verknüpft. Durch seine Wirkung, innere Kontrollen aufzulockern, Bedenken auszublenden, Selbstvertrauen und Risikobereitschaft zu fördern, dient er der gezielten Beeinflussung der eigenen Befindlichkeit. Spannungen werden erträglicher, Kontaktschwierigkeiten mildern sich und Konflikte sollen gedämpft werden. Die erhöhte Risikobereitschaft fördert impulsives Verhalten, gerade wenn sich die äußeren Rahmenbedingungen, wie beim Besuch einer Kneipe oder einer Diskothek, von den Routineanforderungen bzw. den alltäglichen Erfahrungen unterscheiden. In solchen Zusammenhängen kann es dann u. a. zu Aggressions- und Sexualdelikten kommen, wenn die sonst gezeigte Kontrolle aufgegeben wird oder nicht mehr gelingt. Alkohol besitzt somit zwar eine nicht zu übersehende konstellierende Wirkung, indem z. B. sonst beherrschte Impulse verstärkt oder ausagiert werden, wie bei der tradierten Wirtshausschlägerei, ohne dass Alkohol selbst aber spezifisch kriminogen ist. Die kausalen Beziehungen sind viel komplexer und unübersichtlicher (Schalast u. Leygraf 2002). Unbestritten bleibt, dass es nicht nur von Belang ist, ob jemand Alkohol getrunken hat, sondern dass es für seine individuelle Leistungsfähigkeit vor allem darum geht, wie viel er getrunken hat. So zeigen Untersuchungen (Kröber 2000), dass zwar bei 30–60% der Beschuldigten in verschiedenen Deliktarten Alkohol eine Rolle spielte. Die große Mehrheit war aber eher gering alkoholisiert, und in den meisten Fällen gerade der schweren Straftaten, also bei Tötungs- und massiven Sexualdelikten, war die Alkoholisierung der Täter eher gering, mehrheitlich waren sie nüchtern.
3.1.2.3.1 Charakteristika des Alkohols Alkohol – oder besser Ethylalkohol (C2H5OH) – ist eine wasserklare, farblose, brennbare Flüssigkeit. Bis zu 20% gelangen bereits über den Magen in den Körperkreislauf, konzentrierter Alkohol auch über Mundschleimhaut und Speiseröhre. Der größte Teil wird im oberen Dünndarm aufgenommen, wobei es sich eher um Diffusions- als um Resorptionsvorgänge handelt. Die Geschwindigkeit ist dabei von der Konzentration und der Dosis abhängig. Bei genauerer Betrachtung beeinflussen zweifellos auch die Durchblutung des Magen-Darm-Traktes, dessen Füllungszustand sowie die Wasserverteilung im Organismus die Alkoholkonzentration im Körper. Dies wird
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im Einzelfall gerade retrospektiv kaum zu ermitteln sein. Es kann aber angenommen werden, dass bei nüchternem Magen nach 20–60 Minuten mit der weitgehenden Aufnahme (zu 70–90%) des Alkohols ins Blut zu rechnen ist (Elbel u. Schleyer 1956). Darüber hinaus bilden Körpergewicht, Konstitution und der Zustand der Leber weitere individuelle Organismusvariablen, durch welche die Abbaugeschwindigkeit und die Ausscheidung von Alkohol bestimmt werden. Alkohol wird im Körper zum größten Teil (90–95%) oxidiert und nur zu einem geringen Teil unverändert ausgeschieden. Die Ausscheidung der Stoffwechselprodukte des Alkohols erfolgt über die Nieren in den Urin. z Nachweis. Neben der Bestimmung des Atemalkohols (Alkoholtest) kann Alkohol im Blut nachgewiesen werden, wobei die Blutentnahme je nach konsumierter Menge nur zeitnah nach Genuss alkoholischer Getränke sinnvoll ist. Eine Blutprobe, die erst 12 Stunden später genommen wird und negativ ausfällt, widerlegt allein keine Berauschung im relevanten Zeitraum, da sich der Betreffende zumindest theoretisch auf eine maximale TatzeitBAK von 2,4‰ berufen könnte. z Pathophysiologischer Wirkmechanismus. Die pharmakologische Wirkung des Alkohols resultiert aus einer dosisabhängigen Beeinflussung einer Vielzahl verschiedener Rezeptorsysteme des Gehirns: z Aktivierung des Gamma-Aminobuttersäure(GABA)-Benzodiazepin-Rezeptorkomplexes mit angstlösenden und beruhigenden Effekten; z Inhibition der NMDA-Rezeptoren (N-Methyldeaspartat), was dosisabhängig zu einer Erregung und Hemmung der Zellaktivität führen kann; z Hemmung des Glutamat-Systems, des wichtigsten erregenden Neurotransmittersystems im Gehirn; z Beeinflussung der Signalübertragung an Dopamin- und verschiedenen Serotonin-Rezeptoren. Es kommt durch Aktivierung des Belohnungssystems zur Freisetzung von Betaendorphinen und von Met-Enkephalin im Hypothalamus und im Striatum, die ihrerseits an den Opioidrezeptoren Reaktionen auslösen. Im Ergebnis wird durch den Alkohol die Synchronisation der Informationsleitung und deren Koordination zwischen Stammhirn und Großhirnrinde dosisabhängig gestört (Mann u. Rommelspacher 1999). Mit zunehmender Alkoholkonzentration überwiegen die zentral hemmenden Eigenschaften, was mit einer Sedierung einhergeht. Bei Alkoholentzug kommt es demzufolge zu einer verstärkten Aktivität der sonst supprimierten Neuronen. z Psychische und körperliche Wirkungen. Dosisabhängig kommt es zu einer Reihe charakteristischer Veränderungen, wobei hier gleich angemerkt sei, dass die jeweils erforderliche Dosis nicht nur individuellen Schwankungen unterliegt durch Konstitution, Allgemeinverfassung oder Trainingseffekte. Auch zwischen den Menschen gibt es große Unterschiede. Vereinfacht fin-
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det dies seinen Niederschlag in der Unterscheidung zwischen dem ungewohnten Gelegenheitskonsumenten und dem trainierten Trinker. Es gab immer wieder Versuche, die dosisbezogene Wirkung des Alkohols in einer Stadieneinteilung einzuordnen, was fatalerweise zu einer Fixierung auf Zahlenwerte geführt hat, um zwischen einer leichten Alkoholisierung, mittelgradigem Alkoholrausch oder Alkoholintoxikation zu unterscheiden. Sicherlich trifft die traditionelle Stadieneinteilung von Feuerlein (1998) oftmals den Sachverhalt (0,5 bis 1,5‰: leichte Alkoholisierung, 1,5 bis 2,5‰: mittelgradiger Rausch, über 2,5%: massiver Rauschzustand). Die Streuung der Zahlenwerte – individuell und interindividuell – ist aber so groß, dass ein Wert von beispielsweise 2,3‰ BAK bei dem einen massiven Rausch, bei dem anderen bereits ein Entzugssyndrom bedeuten kann. Insbesondere Alkoholgewöhnung verursacht diese massive Verschiebung der Zahlenwerte. Gerade bei der Begutachtung im Einzelfall ist dies sehr wichtig (Spann 1979; Kröber 1996). Entscheidend ist jedenfalls nicht der gemessene BAK-Wert, sondern das psychopathologische Syndrom, also die tatsächlich manifeste psychische Beeinträchtigung. Schulz et al. (1976) unterschieden anhand des Wachheitsgrades (Vigilanz) zwischen exzitativem und dem darauf folgenden hypnotischen Stadium, das bei weiterer Alkoholzufuhr von einem narkotischen und schließlich von einem asphyktischen Stadium (Atemlähmung) abgelöst wird. Andere Autoren wie Feuerlein (1998) differenzierten phänomenologisch bei ansteigender Alkoholkonzentration einen leichten, einen mittelgradigen und einen schweren Rausch, wobei sich diese Zustände aufgrund psychopathologischer und neurologischer Auffälligkeiten klinisch voneinander abgrenzen lassen: z Ein leichter Alkoholrausch ist durch eine allgemeine Enthemmung, Aktivitätsdrang, Kritikschwäche, dem subjektiven Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit bei objektivem Leistungsabbau und durch ausgeprägte, meist lärmend-laute euphorische Gestimmtheit mit verbesserter sozialer Kontaktfreudigkeit und Stimmungslabilität gekennzeichnet. Neurologisch fallen leichte Koordinationsstörungen, gerade der Augenmotilität, auf. z Bei einer mittelgradigen Berauschung finden sich stärkere Euphorie oder Gereiztheit, eine deutlichere Kritikschwäche mit erhöhter Risikobereitschaft und Impulsivität. Die Neigung zum aggressiven Reagieren nimmt zu. Es kommt zu Fehleinschätzungen sozialer und persönlicher Situationen. Das Verhalten wird auf den Augenblick ausgerichtet, was auf der Verhaltensebene als Sprunghaftigkeit und Ziellosigkeit des Handelns imponiert. Die kognitive Beeinträchtigung zeigt sich in einer Perseverationsneigung: Der Betrunkene haftet an wenigen Themen und wiederholt bestimmte, meist wenig eindrucksvolle Aussagen. Nicht zuletzt kann es hier auch zu explosiblen, gegebenenfalls gewalttätigen Reaktionsweisen kommen. Neurologisch lassen sich neben Sprachstörungen (Lallen) ataktische Koordinationsstörungen (Störungen der Feinmotorik, später der Grobmotorik), Nystagmus der Augenbewegung und ein Intentionstremor finden.
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z Von einem schweren Alkoholrausch wird dann gesprochen, wenn eindeutig pathologische Phänomene vorliegen, also Bewusstseins-, Orientierungsstörungen oder illusionäre Verkennungen. Es kommt zu einem Verlust der Kontinuität des Denkens und Handelns bzw. zu einem aufgelockerten Zusammenhang zwischen Verhalten und realer Situation. Hierunter versteht man unter anderem das plötzliche Auftreten motivationsloser Angst oder Erregung, die sich nicht aus der betreffenden Situation herleiten lassen. Die Bewusstseinsstörungen können zu wachsender Schläfrigkeit und über die Benommenheit bis hin zu komatösen Zuständen reichen. Insofern tritt dann bei schwersten Rauschzuständen die Bewusstseinsstörung in den Mittelpunkt, was von einer allmählichen Handlungsunfähigkeit begleitet wird. Auf der neurologischen Ebene nehmen die ataktischen Symptome bis hin zur Rumpf- und Standataxie zu, was das Laufen und schließlich auch das Stehen für den Betreffenden erheblich erschwert. Es kommt nicht selten zu Stürzen und Verletzungen. z Situative Einflüsse auf die rauschbedingte Verhaltensänderung. Wenn sich diese Symptome auch mehr oder weniger ausgeprägt bei allen Konsumenten nachzeichnen lassen, so hängt der Grad der Alkoholisierung beim einzelnen Individuum ab von gesundheitlicher Verfassung, Tagesform, Vorerfahrungen, Trinkmenge und Trinkgeschwindigkeit. Auch der situative Kontext, also wo, wie und mit wem getrunken wird, und welche Anforderungen die Situation stellt, bestimmt in erheblichem Maße das Verhalten des Alkoholisierten. So mag einer angesichts eines Ärgers bereits in häuslicher Umgebung trinken und dabei verstimmt und besorgt bleiben, dann auf einer Party – bei gleichbleibender mittlerer Alkoholisierung – ausgelassen und fröhlich wirken, dann aber draußen auf der Straße bei der Versorgung eines gestürzten und verletzten Freundes ernsthaft, vergleichsweise nüchtern und sachgerecht. z Ernüchterung. Die „ernüchternde“ Wirkung, die in der kühlen Nachtluft beim Verlassen einer ausgelassenen Gemeinschaft eintritt, bei einer Polizeikontrolle oder beim Absolvieren einer ernsten Pflicht (z. B. Kirchgang bei einer Beerdigung), vermindert natürlich nicht die BAK und nicht die toxischen psychopathologischen Beeinträchtigungen; wer meint, er könne nun doch Auto fahren, irrt. Diese relative „Ernüchterung“ verdeutlich aber, dass es auch einen subjektiven Faktor des Rausches gibt, ein Sich-Entlassen in den Rausch, in ein regressives Verhalten. Man merkt dies nicht zuletzt in Trinker(innen)runden, die eigentlich erst wenig konsumiert haben, aber schon so laut und albern sind, als wären sie spürbar intoxikiert. Das, was nach der subjektiven „Ernüchterung“ durch eine Situationsveränderung an Symptomintensität bleibt, ist der reale, dann nicht weiter zu mindernde Beeinträchtigungsgrad durch die Alkoholisierung, also durch die Hirnvergiftung. Die Leistungsfähigkeit in dieser „ernüchterten“ Verfassung ist maßgeblich für die Beurteilung der Schuldfähigkeit, denn diese ist die getreulichste Abbildung seiner alkoholbedingt reduzierten psychischen Kapazität.
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z Toleranzentwicklung. Selten geht es bei der psychiatrischen Begutachtung um einen massiven Gelegenheitskonsum, häufig hat es der Sachverständige mit Probanden zu tun, die zumindest einen kritischen Konsum in der Vorgeschichte aufweisen und nicht selten bereits auch strafrechtlich in Erscheinung getreten sind. In der Konsequenz bedeutet dies, dass durch Toleranzentwicklung an die Wirkungen des Alkohols Trainingseffekte zu berücksichtigen sind. Insofern wird erst einmal zu klären sein, welche Form des Konsumverhaltens beim Betroffenen zu diagnostizieren ist. Im Einzelnen geht es um eine ausführliche Suchtanamnese zur Unterscheidung, ob ein schädlicher Gebrauch oder eine Abhängigkeitserkrankung vorliegt. Das Konsumverhalten im tatrelevanten Zeitraum ist zu erfassen und die gesundheitliche Situation des Probanden abzuklären. Die Folgen von Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit und die alkoholtoxischen Folgeerkrankungen, wie die Persönlichkeitsveränderung im Sinne der Depravation, die Alkoholhalluzinose, der chronische Eifersuchtswahn, sollen nicht an dieser Stelle besprochen werden (siehe dazu Kap. 3.5).
3.1.2.3.2 Bewertung der Alkoholisierung und diagnostische Einordnung Im konkreten Fall ist zu klären, ob eine Alkoholisierung vorlag und ob diese zu den Symptomen eines hirnorganischen Psychosyndroms geführt hat. Nicht immer liegen zeitnahe Bestimmungen der Blutalkoholkonzentration vor, oft nur Trinkmengenangaben des Betreffenden. z Trinkmengenangaben sind eine extrem unsichere, zumeist untaugliche Quelle zur Erforschung der akuten Berauschung zum Tatzeitpunkt. Gerade bei relativ hohem Konsum gibt es gar keine zuverlässige Erinnerung an die tatsächlichen Trinkmengen; trotzdem wird bei Gericht bisweilen versucht, durch insistierende Befragung und richterliche Trinkmengenangebote eine Pseudorealität zu schaffen, nur damit man hinterher mit einem (völlig fiktiven) BAK-Zahlenwert arbeiten kann, statt sich an realen Ausfallerscheinungen bzw. deren Fehlen zu orientieren. Im Verfahrensverlauf haben Trinkmengenangaben die Tendenz zu steigen, nämlich sich der Intelligenz des Probanden oder aber der Sachkunde des Verteidigers anzupassen. Im günstigen Fall kann sich der Sachverständige bei der Auswertung sowohl auf die Angaben des Probanden, auf Fremdberichte und einen Laborwert stützen. In diesem Fall wird es keine Schwierigkeiten bereiten, eine Alkoholisierung nachzuweisen und ihre Intensität einzuschätzen. Diese kann labormedizinisch quantitativ erfasst werden; in foro entscheidend aber ist eine andere phänomenale Ebene, also nicht der Blutspiegel, sondern das durch Hirnbeeinflussung bewirkte psychopathologische Syndrom.
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Blutalkoholkonzentration Am sichersten lässt sich eine Alkoholisierung belegen, wenn sie labormedizinisch erfasst wurde, ausgedrückt in Promillewerten. Die Bestimmung der Blutalkoholkonzentration stellt technisch keine Schwierigkeit dar. Allerdings ist der direkte Nachweis wegen der raschen Verstoffwechslung je nach aufgenommener Dosis nur begrenzte Zeit, gemessen in Stunden, möglich. Wird der Tatverdächtige erst viele Stunden oder Tage später ermittelt, ist eine Blutprobe allenfalls aufschlussreich für die Frage einer Sucht, nicht aber für die Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt. z Berechnung der Blutalkoholkonzentration aus einem später gewonnenen Laborwert. Wird Stunden nach der Tat dem Beschuldigten eine Blutprobe entnommen, muss der gewonnene Wert auf den juristisch relevanten Zeitraum „zurückgerechnet“ werden. Für die Berechnung ist wichtig, ob zum Zeitpunkt des Deliktes der Alkohol überhaupt schon getrunken war oder ob der jetzige BAK-Wert ganz oder teilweise einen „Nachtrunk“ widerspiegelt. War der Alkohol vor der Tat konsumiert, macht es für die Rückrechnung einen Unterschied, ob das ganz kurz vorher war, der Alkohol also noch resorbiert und im Körper verteilt wurde (Diffusionsphase), oder ob der Körper schon mit dem Alkoholabbau befasst war (Eliminationsphase). Da es beim Alkohol eine im Wesentlichen lineare Konzentrationskurve des Blutspiegels in der Eliminationsphase gibt, kann von einem konstanten stündlichen Abfall der Alkoholkonzentration ausgegangen werden, der aber durchaus individuell unterschiedlich ist. Abweichungen von der Idealkurve können sich durch besonderes Trinkverhalten („Grehantsches Plateau“), protrahiertes oder in kurzen Abständen erfolgtes Trinken, durch „Schlusstrunk“, „Sturztrunk“ oder „Nachtrunk“ ergeben. Zudem sind die körperlichen Bedingungen des Betreffenden zu berücksichtigen, z. B. konsumierende Krankheiten oder Blutverlust. Die lineare Elimination ist darüber hinaus individuell recht unterschiedlich, abhängig von Trinkgewohnheiten und damit dem Zustand der Leber. Der Faktor, um den die BAK stündlich sinkt, liegt dabei in einem Bereich von 0,1 bis 0,25 (letzterer gerade bei Trinkgewöhnten mit deutlicher Enzyminduktion in der Leber). Der niedrige Faktor 0,1 kommt bei Verkehrsrechtsfragen zur Anwendung. Im Strafrecht wird nach der Formel von Zink und Reinhardt unter Ansatz eines Sicherheitszuschlages von 0,2‰ ein stündlicher Abbau von 0,2‰/h zu Grunde gelegt. Wichtig sind also der Trinkbeginn und das Konsumverhalten. Es sind die potentiellen Besonderheiten in der Konzentrationsverlaufskurve des Blutalkohols abzuklären, ob es ggf. einen Nachtrunk gab oder Blutverlust. Je nach Fragestellung erfolgt dann die Rückrechnung mit 0,1‰ oder 0,2‰ pro Stunde von der Entnahme bis zum tatrelevanten Zeitraum. Der BGH verlangt bei Beurteilung der Schuldfähigkeit dann noch einen Sicherheitszuschlag von 0,2‰. Bei einer wenige Stunden nach der Tat gemessenen
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BAK (Messung innerhalb der ersten vier Stunden) ist das Ergebnis einer solchen Rückrechnung einigermaßen stimmig und wirklichkeitsnah. z Berechnung der Blutalkoholkonzentration aus den Trinkmengenangaben. Hierfür stehen meist nur die – in der Regel ungenauen – Angaben der Probanden zur Verfügung. Mithin gibt es den Trend, bei Verkehrsdelikten eher niedrigere und im Strafrecht höhere Trinkmengen anzugeben. Ob die Angaben letztlich den realen Trinkmengen nahe kommen, bleibt der Beweiswürdigung des Gerichts vorbehalten, dem dafür wenig mehr als Glaubensbereitschaft zur Verfügung steht. Wesentlich aussagekräftiger wäre es, sich statt mit rein spekulativen Zahlen mit der tatsächlichen, durch Zeugenaussagen belegten oder durch den Geschehensablauf erkennbaren Leistungsfähigkeit des Betreffenden zu befassen. Die Berechnung der BAK nach Trinkmengenangaben erfolgt nach der Widmark-Formel. Das Verhältnis der Alkoholkonzentration im Gesamtkörper zu derjenigen im Blut hat Widmark (1932) als „r“ (reduzierte Körpermasse) bezeichnet. Die Gesamtmenge des sich zu einem Zeitpunkt im Körper befindlichen Alkohols (a) entspricht dem Produkt der Konzentration im Körper und dem Körpergewicht (p). Die Konzentration im Gesamtkörper ist das Produkt aus der Blutalkoholkonzentration (c) und r. Daraus ergibt sich die Formel: a = c p r: Unter der Voraussetzung, dass sich der gesamte aufgenommene Alkohol (A) im Verteilungsgleichgewicht befindet und die Abbaugeschwindigkeit unabhängig von der Konzentration ist, erhält man den „theoretischen Maximalwert“ (cw). Die Formel lautet dann: A = cw p r : Für r wurde in kontrollierten Untersuchungen anhand der Formel ein durchschnittlicher Wert von 0,7 für Männer und 0,6 für Frauen ermittelt. Die Werte können jedoch von 0,5 (bei besonders Adipösen) bis 0,95 (bei sehr schlanken Männern) schwanken. Nach Umstellung ergibt sich zur Berechnung der BAK die Formel: cw =
A ; also pr
max. BAK =
Alkoholmenge in Gramm kg K orpergewicht Korrekturfaktor (0,6 oder 0,7)
Dafür werden die Trinkmenge des Alkohols in Gramm, das Körpergewicht und der Faktor r benötigt. Zur Ermittlung der Alkoholmenge ist das
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„Resorptionsdefizit“ zu beachten, das ist die Alkoholmenge, die zwar getrunken, aber nicht vom Körper aufgenommen wird und u. a. je nach Füllung des Magens zwischen 10 und 30% schwankt, je nach Bindung des Alkohols an unspezifische Nahrungsbestandteile und Veresterung mit Aminosäuren oder Dipeptin. Auch der First-pass-Effekt in der Leber spielt dabei eine Rolle. Außerdem ist der Alkoholgehalt des Getränks zu berücksichtigen. Dieser Wert ist dann auf die tatrelevante Zeit zu beziehen. Trinkbeginn und die Zeit bis zur Tat sind zu berücksichtigen. Obwohl bei der Ermittelung von Befundtatsachen der Leitsatz in dubio pro reo nicht anzuwenden ist, geht der Bundesgerichtshof bislang jeweils von den für den Probanden günstigsten Werten bei der Berechnung des theoretischen Maximalwertes aus. Das betrifft den zeitlichen Abstand zwischen Trinkbeginn und Delikt, das Resorptionsdefizit und den stündlichen Abbauwert. Günstig bedeutet auch hier je nach Fragestellung entweder einen niedrigen Promillewert bei Verkehrsdelikten (bis zu 30% Resorptionsverlust und ein stündlicher Abbauwert von 0,2‰) oder einen möglichst hohen Wert im Strafverfahren (minimaler Resorptionsverlust von 10% und ein stündlicher Abbauwert von 0,1‰). z Beispiel: Ein 70 kg schwerer Mann trinkt auf nüchternen Magen ab 20.00 Uhr vier Flaschen Bier (5 Vol.-%) à 0,5 l. Um ca. 22.00 Uhr kam es zu einer Schlägerei. Berechnung des Alkoholanteils A: 2000 ml × 0,05 = 100 ml. Die zwei Liter Bier enthalten demnach 100 ml Alkohol. Das spezifische Gewicht des Alkohols beträgt 0,8. Die Umrechnung der Alkoholmenge in Gramm ergibt: 100 ml × 0,8 = 80 g. Resorptionsverlust (10–30%) hier 10%: 80 g–8 g = 72 g. Das reduzierte Körpergewicht beträgt: 70 kg (p) × 0,7 (r für Männer) = 49. Für die Alkoholkonzentration (cw) folgt daraus: 72 : 49 = 1,47‰. Für 22.00 Uhr ist bei einem minimal stündlichen Abbauwert von 0,1 von einer theoretisch maximalen BAK von 1,27‰ auszugehen. Die Bestimmung des Werts ist mit einer ganzen Reihe von Ungenauigkeiten verbunden, was in der Konsequenz zu einer systematischen Verfälschung des Resultats führt (Gerchow et al. 1985; Liebner et al. 1990; Schewe 1991; Soyka 1992; Kröber 1996, 2001; Foerster u. Leonhardt 2002). Fehlerquellen sind: z mögliche Differenz zwischen Trinkmenge und Trinkmengenangabe, z mögliche Abweichung des realen vom unterstellten Alkoholgehalt der Getränke, z individuelle Unterschiede im Resorptionsverlust, der zwischen 10 und 40% variiert, z Differenz des Verteilungskoeffizienten (zwischen 0,6 und 0,8), z mögliche Differenz zwischen realem und angegebenem Körpergewicht, z mögliche Zeitdifferenz zwischen dem tatsächlichen und dem angegebenen Trinkbeginn, z individuelle Schwankungen des stündlichen Alkoholabbaus: bei Gelegenheitstrinkern zwischen 0,12 und 0,18 Promille pro Stunde, beim massiv Alkoholgewöhnten bis zu 0,3 Promille pro Stunde (Haffner et al. 1992).
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Tatsächlich verschleiert die aufwändige Erhebung und Verrechnung der verschiedenen Eingabewerte (Trinkmenge, Alkoholgehalt, Trinkzeitpunkt, Körpergewicht, Tatzeitpunkt), dass für jeden dieser unsicheren Einzelwerte nach BGH-Vorgaben nach dem Zweifelssatz unrealistische Optimalvorgaben gemacht werden sollen; man rechnet sorgsam die BAK auf zwei Stellen hinter dem Komma, und in Wahrheit arbeitet man von Anfang an mit falschen Zahlen. Meist ist alles ungewiss: die Trinkmenge, der reale Alkoholgehalt der Getränke, das wirkliche Körpergewicht (wird meist unterschätzt), der wirkliche Resorptionsverlust, der angemessene Korrekturfaktor für die Flüssigkeitsverteilung, der tatsächliche stündliche Abbau, der Trinkbeginn, manchmal auch der Tatzeitpunkt. Die meisten dieser Werte werden schlicht geraten. Eine in den Eingabedaten falsche Kalkulation wird aber nicht dadurch richtig und „objektiv“, dass man sie nach strengen Regeln durchführt. Wie eigene Untersuchungen an Fällen mit sowohl Trinkmengenangabe als auch BAK-Messung gezeigt haben (Kröber 2001), führen die BGH-Regeln zur Verwertung von Trinkmengenangaben in der Realität dazu, dass in mehr als 90% der Fälle eine falsche kategoriale Zuordnung zu mittelgradigem Rausch oder gar Vollrausch erfolgte. Die nach Trinkmengenangaben errechneten Werte waren in der Regel etwa doppelt so hoch wie die tatsächlich gemessenen BAK-Werte. Mit real 1,2‰ BAK kommt man dann auf 2,4‰ und landet im Bereich verminderter Schuldfähigkeit, mit gemessenen 1,6‰ kommt man durch die BGH-Regeln auch auf 3,2‰ und kandidiert für Vollrausch. Das Ausgehen primär von Trinkmengenangaben führt also zu einer systematischen Fehlbeurteilung der Schuldfähigkeit. z BAK-Aussagekraft. Ohnehin aber sollte die Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht primär und nicht allein nach BAK-Werten erfolgen, auch wenn ein tatzeitnah gewonnener Messwert sicher sehr hilfreich ist. Der BAKWert sagt zunächst nur aus, dass vor einiger Zeit Alkohol konsumiert wurde. In den Auswirkungen gibt es aber erhebliche Unterschiede zwischen Gelegenheitskonsumenten und „trainierten Trinkern“. Gleichwohl hat der Wert für den Sachverständigen insofern Bedeutung, als er durch Gegenüberstellung von BAK-Wert und Symptomatik als zusätzlichem Indiz die Einschätzung erlaubt, wie es mit der Alkoholgewöhnung des Betreffenden aussieht. Nur noch selten sieht sich der Sachverständige in foro damit konfrontiert, dass einem gemessenen oder lediglich aus Trinkmengenangaben ermittelten (also rein fiktiven) BAK-Wert der Vorrang gegenüber einer psychopathologischen Bewertung eingeräumt wird. Der Sachverständige sollte sich im Verfahren nicht durch „Grenzwerte“ beeindrucken lassen, sondern sich vielmehr auf seine Fachkunde stützen. Maatz und Wahl (2000) haben die Position des BGH dazu klar formuliert: „Schuldfähigkeit ist ein normatives Postulat, aber keine messbare Größe. Deshalb kommt auch keine Messzahl – auch in Gestalt eines BAK-,Grenzwertes‘ – in Betracht, die für
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sich die Annahme der Schuldunfähigkeit oder der erheblich verminderten Schuldfähigkeit belegt. Vielmehr stellt die BAK für sich genommen nur eine quantitative Größe dar, die etwas über den Umfang der Alkoholaufnahme und die toxische Konzentration im Blut (d. h. die Pharmakokinetik) aussagt, als analytischer Wert – isoliert betrachtet – aber ohne Aussage für die individuelle Wirkung, d. h. für die Schuldfähigkeitsbeurteilung allein maßgebliche Pharmakodynamik ist.“
3.1.2.3.3 Psychodiagnostische Beurteilung des Alkoholisierungsgrades Entsprechend der Vielfalt psychopathologischer Auffälligkeiten nach Alkoholkonsum geht es um die Zuordnung und die Ausprägung der einzelnen Symptome. Dazu gehören neurologisch-körperliche Auffälligkeiten, kognitive Beeinträchtigungen, affektive und Verhaltensänderungen. Deren Ausprägungsgrad korreliert mit der alkoholtoxischen Wirkung als Maß für das akute hirnorganische Psychosyndrom (Übersicht Kröber 2000). Die vier Achsensyndrome der Alkoholintoxikation (Kröber 1996) sind: 1. Neurologisches Achsensyndrom. Beeinträchtigung von Sprache (Artikulation, Lautstärke), Gleichgewichtssinn, Feinmotorik und zunehmend der gesamten motorischen Koordination mit Vergröberung und Ungenauigkeit der Bewegungsabläufe (Gangataxie), Kreislaufdysregulation, Nystagmus mit Übelkeit, Erbrechen oder Schwindel. 2. Akutes hirnorganisches Achsensyndrom. Störungen der Bewusstseinslage sowie von Denken und Wahrnehmung mit Abnahme des Gedächtnisses, reduzierter Konzentrationsfähigkeit, Verlangsamung von Denkabläufen, mit Ungenauigkeit und thematischer Einengung, Einschränkung der gedanklichen Vielfalt; vermindertes Auffassungsvermögen und eingeschränkte Anpassung an äußere Vorgaben, merkbare Einschränkung der zielsicheren und gleichzeitig umweltflexiblen Umsetzung eines Handlungsplans, Abnahme der Kritikfähigkeit, Auftreten von Größenideen. 3. Affektives Achsensyndrom. Ausgeprägte euphorische oder missmutigreizbare oder depressive, zum Teil jammerig-klagsame Verstimmung; teilweise rascher Wechsel zwischen diesen Zuständen, wobei diese Stimmungen vorbestehen oder alkoholisch induziert sein können. 4. Verhaltensänderungen. Deutliche Veränderungen im Vergleich zum nüchternen Zustand in der Form brütenden Rückzugs, zum Teil mit heftigen Reaktionen bei geringfügigen Störungen, in Form des unkomplizierten Rückzugs, in Form der distanzgeminderten Extraversion, in Form des ungerichteten Handlungsdrangs, in Form der erhöhten Diskussions-, Streit- und Kampfbereitschaft. Um diese Einzelheiten erfassen zu können, sind neben den Schilderungen des Probanden oftmals fremdanamnestische Angaben über den Probanden und sein Verhalten im Tatzeitraum hilfreich. Erst so lässt sich ein detailreiches Bild der psychischen, körperlichen und sozial-kommunikativen Fähig-
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keiten des Betreffenden im relevanten Zeitraum rekonstruieren. Es geht dabei nicht um Spekulationen über potentielle Alkoholwirkungen anhand fiktiver Zahlen, sondern um das Erfassen benennbarer neurologischer und psychischer Pathologie. Darüber hinaus wird sich der Sachverständige einen Überblick zu verschaffen haben, welche Trinkmengen in welcher Zeit diese Wirkungen erzielt haben, inwieweit eine individuelle Alkoholtoleranz vorliegt, ob es vorbestehende hirnorganische Beeinträchtigungen oder körperliche Erkrankungen mit Auswirkungen auf die Alkoholverträglichkeit gibt, ob zusätzlich andere Substanzen eine Rolle spielten. Belangvoll ist, welche Persönlichkeitseigenschaften oder tradierten Verhaltensbereitschaften bei dem Betreffenden vorliegen oder was sich über die situativen Gegebenheiten und zur psychischen Befindlichkeit vor dem Alkoholkonsum verifizieren lässt, wie z. B. Konfliktbelastungen oder sexuelle Erregung (Soyka 1995). Es reicht nicht aus, die Bewertung auf einzelne Symptome zu stützen. Vielmehr sollte aus der Summe der Symptome ein in sich stimmiges Syndrom zu rekonstruieren sein. Denn trotz aller individuellen Unterschiede in der Verträglichkeit der jeweiligen Trinkmengen ist zu erwarten, dass Veränderungen von Antrieb und Stimmung zuerst auftreten und deshalb auch beobachtet werden können (Grauland et al. 1964). Wie in den versuchten Stadieneinteilungen dargestellt, treten dann kognitive/hirnorganische Leistungseinbußen hinzu. Insofern ist eine Verhaltensänderung ohne begleitende neurologische, hirnorganische und affektive Symptomatik als Folge einer Alkoholisierung schwer vorstellbar. Allein der Umstand, dass es um eine strafbare Handlung geht, dürfte für den Beleg einer Verhaltensänderung kaum ausreichend sein. Hilfreich sind auch hier Fremdeinschätzungen, die sich nicht immer aus den Ermittlungsergebnissen folgern lassen, sondern mitunter erst im Rahmen der Hauptverhandlung gezielt fachlich erhoben werden können. Winckler und Foerster (1996) entwickelten Prägnanztypen, um die vielfältigen Zusammenhänge mit Hilfe forensischen Erfahrungswissens plastischer zu gestalten: 1. Alkoholisierter Täter ohne vorbestehende psychische Auffälligkeit, bei dem es infolge spontaner, situativ geprägter Handlungen zur ganzen Spannbreite gekränkten Verhaltens kommen kann. 2. Dissozialer alkoholisierter Straftäter mit episodisch oder habituell schädlichem Gebrauch von Alkohol, ohne dass eine Abhängigkeit vorliegt. Kriminalität und Alkoholkonsum sind nicht zwingend miteinander verknüpft, wenngleich durch den Alkohol eine bereits vorbestehende reduzierte Impulskontrolle und verminderte Frustrationstoleranz sowie eine erhöhte Aggressionsbereitschaft gefördert wird. 3. Alkoholisierter Täter im Rahmen einer Alkoholabhängigkeit, dessen Delinquenz im Zusammenhang mit den psychosozialen Folgekomplikationen seiner Sucht steht. 4. Alkoholisierter Straftäter mit anderen psychischen Erkrankungen, bei denen der Konsum von Alkohol oder von illegalen Drogen ein Risikofak-
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tor für gewalttätige Verhaltensweisen darstellt. Dies schließt neben psychotischen Probanden auch Probanden mit Persönlichkeitsstörungen oder geistigen Behinderungen ein (Soyka 2000; Foerster 2004). In den Klassifikationssystemen ICD-10 (Dilling et al. 2004) und DSM IVTR (APA 2003) kann für die diagnostische Zuordnung der Alkoholisierung auf den Begriff der „Intoxikation“ zurückgegriffen werden (siehe die vier Achsensyndrome zur Alkoholintoxikation). Es liegt auf der Hand, dass diese Diagnose im forensischen Kontext nicht nach Alkoholkonsum pauschal vergeben werden sollte, sondern den klinisch schwereren Bildern vorbehalten bleibt. Zu beachten ist jedoch, dass die DSM- und ICD-Kriterien einer spezifischen Alkoholintoxikation (wie auch der spezifischen Intoxikation mit Drogen) keine Quantifizierung des Schweregrades enthalten, so dass hier im Prinzip auch der leichte Schwips eine Diagnose erhalten könnte; der Verweis auf den notwendigen Schwergrad ist in der allgemeinen Definition einer Intoxikation enthalten (siehe unten). Lässt sich ein solches hirnorganisches Syndrom (im Sinn der klinischen Definition der Intoxikation) kausal auf die Alkoholwirkung zurückführen und ist es durch eine relevante psychopathologische Symptomatik gekennzeichnet, so ist der rekonstruierte Befund dem Rechtsbegriff der (vorübergehenden) krankhaften seelischen Störung zuzuordnen.
Definition der Intoxikation (ICD-10 F1x.0) Zustand nach Aufnahme einer psychotropen Substanz mit Störungen der Bewusstseinslage, der kognitiven Fähigkeiten, der Wahrnehmung, des Affekts und des Verhaltens oder anderer psychophysiologischer Funktionen und Reaktionen. Die Veränderungen stehen in einem direkten Zusammenhang mit den akuten pharmakologischen Wirkungen der Substanz und nehmen bis zur vollständigen Wiederherstellung mit der Zeit ab. Ausnahmen bilden Gewebsschäden oder Komplikationen (z. B. chirurgische Traumata, Aspiration von Erbrochenem, Delir, Koma, Krampfanfälle). Die Art der Komplikationen hängt von den pharmakologischen Eigenschaften der Substanz und der Applikationsart ab. Diagnostische Kriterien sind dabei: z Nachweis der kürzlichen Aufnahme einer oder mehrerer psychotroper Substanzen in einer für die Symptomatik ausreichenden Dosis; z die Symptome sind vereinbar mit der Wirkung der in Frage kommenden Substanz und von ausreichendem Schweregrad, um Störungen von klinischer Relevanz des Bewusstseins, der Kognition, der Wahrnehmung, der Affekte oder des Verhaltens zu verursachen; z die Symptome sind nicht durch eine vom Substanzgebrauch unabhängige körperliche Krankheit oder durch eine andere psychische oder Verhaltensstörung erklärbar.
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z „Pathologischer“ Rausch. Nach wie vor stiften einige Begriffe Verwirrung, welche angeblich besondere Alkoholfolgen beschreiben: Alkoholintoleranz, komplizierter Rausch, abnormer Rausch, atypischer Rausch, alkoholischer Dämmerzustand, idiosynkratische Alkoholintoxikation, pathologischer Rausch. Es sind dies missverständliche Erklärungsversuche, die in ihrer Definition ungenau sind und sich differentialdiagnostisch kaum eingrenzen lassen. Als relevant angeführte Merkmale wie der aggressive Erregungszustand oder die Persönlichkeitsfremdheit sind letztlich unspezifisch und empirisch in ihrer kausalen Korrelation schwer zu fassen. Zudem suggerieren diese Zuschreibungen, dass es einen „normalen“ Rausch gebe, was allerdings nicht stimmt. Jeder Rausch ist medizinisch betrachtet pathologisch. Es kommt zu einer hirnorganisch begründeten Beeinträchtigung des allgemeinen Leistungsvermögens, was sich – je nach Ausprägung – in unterschiedlichen Symptomen äußern kann. Gleichwohl gibt es immer wieder Versuche, mit diesen Zuschreibungen das Besondere individueller Alkoholwirkung in ihren psychopathologischen Folgen herauszustreichen. Die Pathologie besteht darin, dass es dabei um zeitlich scharf begrenzte Dämmerzustände (Venzlaff 2003) geht, die mit ausgeprägter Erregung, Desorientiertheit und Personenverkennung verbunden sind und bereits nach dem Genuss geringer Alkoholmengen auftreten („Intoleranz“). Es heißt, bei den Betreffenden hätten sich häufig organische Vorschädigungen des Gehirns oder andere körperliche Erkrankungen (etwa der Leber) nachweisen lassen (Winckler 1999). Solche Minuten bis einige Stunden dauernden Zustände, bei denen neurologische Auffälligkeiten meist fehlen, sollen durch geringe Alkoholmengen ausgelöst werden, was eindeutig gegen eine Intoxikation – bzw. einen Rausch im eigentlichen Sinne – spricht. Vielmehr handelt es sich entweder um delirante Syndrome bei einem erheblich vorgeschädigten Gehirn, die mit einem Terminalschlaf ausklingen und durch eine (Teil-) Amnesie für diese Zeit gekennzeichnet sind; das delirante Syndrom sollte dann diagnostisch als solches erfasst und bewertet werden. Oder es handelt sich um ein dramatisches Verhaltensmuster, das früher „hysterischer Dämmerzustand“ genannt wurde und heute als „dissoziativer Zustand“ (ICD-10: F44) bezeichnet wird; auch dann gilt es diese Diagnose zu stellen, statt auf einen minimalen Alkoholeinfluss zu fokussieren. z Alkoholmissbrauch (ICD-10 F10.1) und -abhängigkeit (ICD-10 F10.2) beschreiben ein über eine einzelne Berauschung hinausreichendes, problematisches oder klinisch relevantes Trinkverhalten. Dies ist in der forensischen Bewertung von Rauschzuständen oder der Einordnung von Laborbefunden vom Sachverständigen insofern zu berücksichtigen, da aufgrund der Toleranzentwicklung erst wesentlich größere Alkoholmengen im Vergleich zu Gelegenheitskonsumenten zu toxisch bedingten Ausfällen führen. Außerdem ist bei der diagnostischen Einordnung und letztlich damit auch bei der Zuordnung zu einem Rechtsbegriff zu berücksichtigen, dass weitere psychiatrische Störungsbilder vorliegen können, vor allem Persönlichkeitsstörungen, affektive Störungen und Angststörungen (Driessen et. al. 1998; Holtcraft et
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al. 1998; Pelissier u. O’Neil 2000; Bahlmann et. al. 2002; Wendt u. Kröber 2003). Die Abhängigkeitserkrankungen werden in diesem Band an anderer Stelle erörtert; hier ist nur wichtig, dass sie sich durch Gewöhnung und Toleranzentwicklung auszeichnen, so dass eine Verschiebung des „Normalwertes“ der Alkoholisierung um oft 2 bis 3 Promille BAK eintritt; infolgedessen ist mancher chronische Alkoholiker quasi „nüchtern“, wenn er eine BAK von 2,5‰ hat und bei Werten darunter bereits Entzugserscheinungen entwickelt.
Bewertung der Einsichtsfähigkeit und des Hemmungsvermögens Allein die Feststellung, dass Alkohol im Tatzeitraum getrunken wurde, dass gar ein Alkoholmissbrauch oder eine Abhängigkeitsproblematik vorliegt, rechtfertigt aus psychiatrischer Sicht und nach ständiger Rechtssprechung keine pauschale Zuordnung zu einem der Rechtsbegriffe der §§ 20, 21 StGB bzw. eine Dekulpierung. Ganz entscheidend ist zunächst, ob phänomenologisch ein klinisch fassbarer Zustand vorgelegen hat, der als zumindest mittelgradiger Rauschzustand zu diagnostizieren ist und mithin geeignet sein kann, das Hemmungsvermögen erheblich zu beeinträchtigen. Differentialdiagnostische Überlegungen sollten in die Entscheidung münden, was im konkreten Fall bzw. bei dem zur Last gelegten Delikt aus sachverständiger Sicht das führende Syndrom war, um auf kaum transparente Summenbildungen zu verzichten. Liegt z. B. eine Alkoholabhängigkeit mit deutlichen Zeichen einer Depravation vor, kann diese unter Umständen dem Rechtsbegriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden. Allerdings ist bei gleichzeitiger Berauschung zum Tatzeitpunkt anhand des Tatgeschehens zu entscheiden, was psychopathologisch die wesentlichen Auswirkungen auf die Einsichtsfähigkeit und das Hemmungsvermögen hatte, ob die akuten oder die überdauernden Defizite den Entschluss und das Handeln beförderten. Eine Vermischung der klinischen Diagnosen und in der Konsequenz der juristischen Termini, die in der Summe als Beleg für eine verminderte Schuldfähigkeit herangezogen werden, ist fachlich lediglich bei prognostischen Überlegungen zur Gesamtwürdigung der Persönlichkeit sinnvoll. Bei der Bewertung des zurückliegenden Tatgeschehens wird es aber darum gehen, ob dieses eher Ausdruck einer depravierten Persönlichkeit oder durch akute alkoholtoxische Beeinträchtigungen gekennzeichnet ist. Die Symptome massiver Berauschung (Vollrausch) sind: z qualitativ abnorme Symptome (illusionäre oder wahnhafte Situationsund Personenverkennung, Wahrnehmungs- und Sinnestäuschungen); z hochgradige Bewusstseinseinengung (fehlende oder stark verminderte Ansprechbarkeit durch Außenreize); z Antriebssteigerung (erhebliche psychomotorische Unruhe bis hin zu Erregungszuständen); z freisteigende Angstzustände mit Auswirkungen auf die Realitätsinterpretation, sichtbar z. T. auch durch motorische Anspannung und vegetative Überaktivität;
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z formale Denkstörungen wie assoziative Lockerung (nicht nur bei euphorischen Zuständen), Sprunghaftigkeit, ungesteuerter Rededrang und ständige Wiederholungen; z erhebliche Verstimmungszustände, insbesondere depressiv-dysphorischer Färbung, z. T. in Verbindung mit Schwanken zwischen suizidalen und fremdaggressiven Impulsen. Im Falle einer massiven Berauschung mit einer gravierenden, von keinem zu verkennenden qualitativen Veränderung der psychischen Leistungsfähigkeit wird üblicherweise Schuldunfähigkeit angenommen. Es kommt aber eine Verurteilung wegen Vollrausches in Betracht. Ein so schwerer Rauschzustand ist durch Verhaltensbeschreibungen gut zu verifizieren. Dominierend sind dabei Orientierungsstörungen: Es findet sich ein fehlerhaftes Situationsverständnis mit fehlender oder paradoxer Ansprechbarkeit für Außenreize, auch im Hinblick auf das Eigeninteresse inadäquate Reaktionen, ziellose Umtriebigkeit und Unruhe sowie sinnlose Handlungen, was von außen betrachtet die Delikte oft eher wie einen Unfall wirken lässt. Es handelt sich um einen Zustand, der sich immer durch qualitativ verändertes Verhalten, verzerrtes Wahrnehmen und bizarres Reagieren auszeichnet (Konrad u. Rasch 1992). Schuldunfähigkeit wegen massiver Berauschung schützt vor Strafe nicht. Nach § 323a StGB kann wegen Vollrausches bestraft werden, wer sich vorsätzlich oder fahrlässig durch alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt – „wenn er in diesem Zustand eine rechtswidrige Tat begeht und ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er infolge des Rausches schuldunfähig war oder weil dies nicht auszuschließen ist“. Voraussetzung ist also, dass sich der Betreffende vorsätzlich oder fahrlässig in diesen Zustand gebracht hat. Es handelt sich hierbei um eine Rechtsfrage, bei der der psychiatrische Sachverständige mitunter Stellung nehmen muss, inwieweit für den Tatbestand des „Sich-in-den-Zustandbringens“ die Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB beeinträchtigt war. In der Praxis dürfte dies nur bei alkoholabhängigen Probanden der Fall sein, deren Hemmungen gegenüber der Entscheidung, den Alkoholkonsum fortzusetzen, durch süchtige Abhängigkeit (sowohl psychisch wie evtl. auch körperlich) erheblich vermindert sind. Wesentlich häufiger geht es um Alkoholisierungen, die in ihrer psychopathologischen Symptomatik zum Tatzeitpunkt nicht derart ausgeprägt sind. Liegt eine wirksame Alkoholisierung vor, sind aber auch hier psychopathologische und neurologische Symptome in den vier Achsensyndromen zu erwarten, die zwar weniger bemerkenswert, aber dennoch fachlich zu erfassen sind. In der psychiatrischen Exploration geht es darum, nach eben diesen Symptomen zu suchen, wobei anzumerken ist, dass gerade die kognitiven Auffälligkeiten im Fall einer Alkoholintoxikation nicht explizit nur auf die Tathandlungen begrenzt sein dürften. Die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen besteht nicht allein darin, die tatrelevante Alkoholisierung in ihrer Größenordnung einzuschät-
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zen, sondern diese in ihren Auswirkungen auf die konkreten Anforderungen des Tatgeschehens zu bewerten. Dies betrifft die klinisch begründbare Verfassung des Probanden zum Tatzeitpunkt, seine Fähigkeiten, eben auch trotz der Alkoholisierung. Selten ist die Einsichtsfähigkeit des Betreffenden gestört; alkoholisch unterminiert sein kann die Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln (Hemmungsvermögen, Steuerungsfähigkeit). Um eine Beurteilung der Steuerungsfähigkeit bei gesichertem Rausch vorzunehmen, wird man sich nicht allein auf die Auswertung psychopathologischer Phänomene durch Alkoholisierung beschränken, sondern auch auf deren Auswirkungen auf das Tatgeschehen mit dessen Vorgeschichte und dem Nachtatverhalten eingehen müssen. Als Orientierungshilfe empfohlen (Kröber 2001) wurden die Kriterien, die Saß für die Beurteilung von Affekttaten vorgeschlagen hat (1983, 1985). Wenn neurologische und kognitive Symptome fehlen, d. h. Motorik, Koordination und Aufmerksamkeit nicht beeinträchtigt sind, wird sich eine mittelgradige Berauschung nicht belegen lassen. Wenn die Auswertung des Tatgeschehens ergibt, dass es Vorbereitungshandlungen gab, gegebenenfalls eine Ankündigung, wenn flexibel auf Schwierigkeiten und Hindernisse reagiert wurde, sich das Geschehen über einen längeren Zeitraum erstreckte, ggf. einzelne Etappen abzugrenzen sind und sich Sicherungstendenzen nachzeichnen lassen, belegt dies eher ein bedachtsames, geordnetes und an äußeren Gegebenheiten orientiertes Verhalten. Die alkoholbedingten Beeinträchtigungen, d. h. insbesondere diejenigen der gedanklichen Flexibilität oder situativen Anpassungsfähigkeit, können in einem solchen Fall nicht als erheblich bewertet werden. Zeichnet sich dagegen eher ein kurzschlüssig aus der situativen Konstellation heraus entstandener Handlungsimpuls ab, dessen Ergebnis in einem deutlichen Missverhältnis zum Anlass steht und lassen sich die Achsensyndrome der Alkoholintoxikation belegen, wird man bei Analyse des Tatgeschehens aus sachverständiger Sicht zu dem Ergebnis eines erheblich verminderten Hemmungsvermögens im Sinne des § 21 StGB gelangen. Als Hilfestellung seien die zur Beurteilung relevanten Gesichtspunkte bei Alkoholdelikten im Folgenden aufgelistet (Kröber 2000): Kriterien, die gegen eine erhebliche alkoholtoxische Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen können: z spezifische Tatvorgeschichte, affektive Ausgangssituation und Persönlichkeit des Täters, z Ankündigungen der Tat, z aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit nüchtern wie alkoholisiert, z Vorbereitungshandlungen für die Tat, z zielgerichtete Gestaltung der Tat durch den Täter, Meisterung unvorhergesehener Schwierigkeiten, z lang hingezogenes Tatgeschehen und/oder komplexer Handlungsablauf in Etappen,
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z schlagartige „Ernüchterung“ nach der Tat, z. B. bei Konfrontation mit der Polizei, z erhaltene Introspektionsfähigkeit und exakte, detailreiche Erinnerung. Kriterien, die für eine erhebliche alkoholtoxische Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen können: z Missverhältnis zwischen Tatanstoß und Reaktion, z abrupter, elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen, z Hängenbleiben in dem vor wie nach der Tat bestehenden missmutig-aggressiven Affekt bis zum Abklingen der Alkoholwirkung, z Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe, z deutliche kognitive und neurologische Ausfälle. Die Angabe von Amnesie für das Tatgeschehen ist ohne indiziellen Wert. Amnestische Störungen – Erinnerungslücken zum Tatgeschehen – sind, wie im Abschn. „Unspezifische hirnorganische Syndrome“ dargestellt, Symptome einer hirnorganischen Beeinträchtigung. Zweifellos können sie auch Ausdruck einer Alkoholintoxikation sein. Ein sicherer Zusammenhang zwischen der Höhe der BAK und dem Ausmaß einer angemerkten Erinnerungslücke lässt sich nicht herstellen, da Amnesien bei der Befragung von Untersuchungshäftlingen für quasi jede beliebige BAK angegeben werden. Insofern besitzt die amnestische Lücke für sich genommen keinen indiziellen Wert als Gradmesser für die Berauschung. Allenfalls kann sie beim Nachweis neurologischer, akuter hirnorganischer, affektiver Symptome und einer belegten Verhaltensänderung im Rahmen der Alkoholisierung dann das Bild stimmig abrunden.
Fazit Bei der medizinischen Beurteilung der Schuldfähigkeit nach Alkoholkonsum, die in ihren Auswirkungen einer akuten hirnorganischen Vergiftung entspricht, hat sich mittlerweile das pauschale Abstellen auf Trinkmengen und Blutalkoholkonzentrationswerte relativiert. Neben der Abklärung üblicherweise konsumierter Alkoholmengen und der diagnostischen Einordnung der jeweiligen Trinkgewohnheiten (Gelegenheitstrinker, Alkoholmissbrauch, Abhängigkeit, Depravation) geht es im konkreten Fall um psychopathologische und neurologische Auffälligkeiten, die Rückschlüsse auf die Alkoholwirkung und die dadurch begründeten individuellen Defizite und Einbußen des Probanden im relevanten Zeitraum zulassen. Auch hier ist es Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, in einem zweischrittigen Verfahren (Saß u. Kröber 1999) die Fragen der Schuldfähigkeit zu klären: Der erste entscheidende Schritt ist die Diagnose des aktuellen Berauschungsgrades, vor aller Spekulation über Steuerungsfähigkeit. Es stellen sich also zunächst die Fragen: Lag zum Tatzeitpunkt eine zumindest mittelgradige Berauschung vor? Lag zum Tatzeitpunkt ggf. ein akutes Ent-
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zugssyndrom oder ein Delir vor? Besteht ein Abhängigkeitssyndrom und wenn ja, in welchem Schweregrad bezüglich hirnorganischer, psychopathologischer und sozialer Parameter? Die dafür notwendigen Informationen ergeben sich aus den Ermittlungsergebnissen, der Exploration und der Untersuchung, ggf. auch durch Zusatzuntersuchungen und durch Fremdanamnesen im Rahmen der Hauptverhandlung. Erst wenn sich Aspekte einer deutlichen Berauschung belegen lassen, der erste Schritt also getan ist, kann der Sachverständige dazu übergehen – nach Zuordnung des Zustands zum Rechtsbegriff der vorübergehenden krankhaften seelischen Störung – die Auswirkungen des Rausches auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit anhand des vorgegebenen Tatgeschehens zu beleuchten. Dann also geht es um die Frage: Welche Auswirkungen hatte die akute Intoxikation auf die kognitive, emotionale und voluntative Leistungsfähigkeit des Probanden unter Berücksichtigung der Anforderungen, die das letztlich sichtbare Tatgeschehen an ihn stellte?
3.1.2.4 Drogenrausch F. Wendt 3.1.2.4.1 Einführung Drogen sind psychotrope Substanzen, die je nach chemischer Struktur und Dosis die Bewusstseinslage, die Wahrnehmung, das Denken, die Ich-Funktion, die Stimmung und die Antriebslage beeinflussen. Illegale Drogen umfassen dabei Substanzen, die nicht wie Alkohol, Tabak und Kaffee öffentlich verfügbar sind, sondern deren Beschaffung, Besitz und Verwendung besonderen Bestimmungen unterliegen bzw. verboten sind (BtMG). Sie finden dennoch über soziale Randbereiche hinaus ihre Verbreitung. In verschiedenen Erhebungen werden Versuche unternommen, Einschätzungen über die Verfügbarkeit und das Ausmaß des Drogengebrauchs in der Bevölkerung sowie die Entwicklungen zu erfassen. Neben der polizeilichen Kriminalstatistik beschäftigen sich fortlaufend u. a. die Drogenaffinitätsstudie (DAS) der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) mit den 12- bis 25-Jährigen, der Epidemiological Survey on Substance Abuse (ESA) mit den Altersgruppen der 18- bis 64-Jährigen oder die Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen (ESPAD) in 35 europäischen Ländern mit den Erfahrungen der 15- bis 16-Jährigen. Sie geben sicherlich keine vollständige Übersicht, erlauben aber eine Einschätzung der Verbreitung, der Konsumgewohnheiten und der Trends. Die Lebenszeitprävalenz für den Konsum illegaler Drogen liegt in den einzelnen Erhebungen zwischen 27 und 50% (Alkohol 97%), wobei bis auf Cannabis (ca. 15%) der Anteil der Befragten mit (fast) täglichem Konsum illegaler Drogen unter einem halben Prozent liegt (Kraus et al. 2006). Wenn die Erhebungen auch nahe legen, dass fast die Hälfte der Bevölkerung Erfahrungen mit illegalen Substanzen hat, wird bundesweit die Zahl der Kon-
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sumenten, die einen mindestens regelmäßigen bis klinisch relevanten Umgang mit psychotropen Substanzen haben, auf 3 Millionen geschätzt, davon 8000–10 000 Opiatabhängige (REITOX 2008). Der Konsum illegaler Drogen betrifft vor allem die 14- bis 30-Jährigen. Die Konsumenten sind jünger geworden, und seit Jahren gibt es den Trend weg vom Heroin, hin zu den Stimulantien/Ecstasy (DHS 2008). Insofern hat sich das Publikum nicht nur in den Drogenberatungsstellen und Entwöhnungseinrichtungen verändert, sondern auch bei der forensischen Begutachtung. An erster Stelle steht Cannabis, dem mit deutlichem Abstand Amphetamine, Ecstasy, LSD, Opiate, Kokain und Crack folgen. Dazu kommen auch Arzneimittel mit eigenem Suchtpotential (z. B. Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ, zentral wirkende Schmerzmittel oder Psychostimulantien), auch bereits im Jugendalter (Kraus et al. 2006). Die Gesamtzahl der Medikamentenabhängigen wird auf 1,3–1,4 Mio. geschätzt (Glaeske 2006; DHS 2008). Die weite Verbreitung von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit kontrastiert mit einer eher geringen kriminogenen Bedeutung; sehr häufig geht es um Beruhigungsmittel, die das Straftatrisiko eher mindern.
3.1.2.4.2 Forensische Aspekte des Drogengebrauchs Bei der Auseinandersetzung mit illegalen Drogen sind verschiedene Erscheinungsformen und Umstände relevant, wobei Drogenkriminalität ein weites Spektrum delinquenten Verhaltens umfasst. Im engeren Sinne zählen dazu die Rauschgiftdelikte, die gemäß Betäubungsmittelgesetz (BtMG) im Zusammenhang mit der Herstellung, dem Handel (Erwerb, Abgabe, Schmuggel) oder dem Besitz verbunden sind. Zum anderen geht es um Kriminalität im Rahmen der Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel für den Konsum. Beides sind von vornherein illegale Handlungen. Die Beschaffungskriminalität lässt sich weiter in direkte und indirekte Beschaffungskriminalität unterteilen. Bei der direkten Beschaffungskriminalität geht es um unmittelbare Drogen- oder Geldbeschaffung z. B. innerhalb des Drogenmilieus durch Delikte zwischen Konsument/Kleindealer und Dealer oder zwischen Dealern, aber auch um kurzgreifende Eigentumsdelikte. Die indirekte Beschaffungskriminalität geht über das Drogenmilieu oder die unmittelbare Beschaffung hinaus. Es handelt sich bei den meisten dieser „geschäftlichen Abwicklungen“ nicht um spontane, sondern um überlegte und gut strukturierte Handlungsketten, die sinnvoll in den Tagesablauf integriert sind (Betrug, Unterschlagung, Diebstahl, Apothekeneinbruch, Rezeptfälschung, Raub). Allgemein lässt sich aus Drogenkonsum und Beschaffungskriminalität nicht der Schluss ziehen, dass dieses Bedingungsgefüge die Verantwortlichkeit des Betreffenden grundsätzlich beeinträchtigt (Schramm u. Kröber 1994). Ausnahmen gibt es dann, wenn im Einzelfall durch die psychopathologischen Folgen einer Abhängigkeit der Handlungsspielraum des Betreffenden eingeschränkt wird (siehe Kap. 3.5). Diese psychischen Defekte sind
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dann aber nicht auf kriminelle Handlungen beschränkt, sondern müssen auch in anderen Zusammenhängen sichtbar werden. Im weiteren Sinn gehören auch Folge- oder Begleitdelinquenz zur Drogenkriminalität, d. h. allgemein Straftaten, die von Drogenkonsumenten begangen werden ohne unmittelbaren Bezug zum Drogengebrauch (vom Schwarzfahren bis hin zu Gewalt- und Sexualdelikten). In diesem Sinne sind auch Straßenverkehrsdelikte der Drogendelinquenz zuzuordnen. Hierbei stellt sich auch die Frage nach der Fahreignung (BVerwG 3 C 1.08). Über die Aspekte der Drogendelinquenz hinaus spielen illegale Drogen u. a. als konstellierendes Moment, ggf. auch ohne klinisch fassbaren Missbrauch oder Abhängigkeit, eine bedeutsame Rolle, wenn sie vor oder während einer Straftat konsumiert werden, wobei Drogenkonsum für sich genommen keine zwangsläufig gewaltauslösende Wirkung hat (Egg 2002). Die Beziehungen zwischen Delinquenz und Drogenkonsum sind wesentlich differenzierter, wie dies Kreutzer bereits 1982 mit seiner Typologie nahelegte, deren Ergebnisse sich in späteren Untersuchungen immer wieder bestätigt haben. Von Bedeutung ist, dass sich delinquentes Verhalten nicht allein aus dem Gebrauch illegaler Drogen ableiten lässt und Delinquenz somit nicht zwingend krankheitsbedingt oder ein krankheitswertiges Symptom der Drogenwirkung ist, auch wenn es einige Wechselwirkungen gibt (Rautenberg 1998).
3.1.2.4.3 Drogenassoziierte Phänomene und ihre Bewertung Der forensischen Betrachtung sind verschiedene drogenassoziierte Phänomene in ihren Auswirkungen zugänglich. Einmal sind dies die unmittelbaren psychischen und physischen Wirkungen, wobei zwischen Rausch und Intoxikation (Vergiftung) unterschieden wird. Anderseits sind ihnen Entzugssymptome gegenüberzustellen. Sowohl die fortdauernde Intoxikation wie auch der Entzug können zu einem Delir führen, das sich durch Orientierungs- und Bewusstseinsstörungen, psychomotorische Unruhe sowie oft auch durch „produktive“, halluzinatorische Symptome auszeichnet. Der anzutreffende Drogengebrauch ist ggf. in überdauernde Syndrome einzuordnen (schädlicher Gebrauch, Abhängigkeit), oder es sind nicht nur körperliche Folgeerscheinungen zu berücksichtigen, wie sie bei langjährigen Suchtkarrieren im Sinne der Depravation zu beobachten sind. Es geht in der Begutachtung immer um den Einzelfall, da die Drogenwirkung einer Vielzahl modulierender Einflüsse unterliegt. Je nach Persönlichkeit, psychischer Ausgangslage, genetisch mitbedingtem Stoffwechsel, Alter, Geschlecht, körperlicher Situation, Begleiterkrankungen, Dosis, Applikationsart und eventuell vorliegender Toleranzentwicklung zeigt die gleiche Substanz bei verschiedenen Individuen differierende Wirkungen und begründet damit auch unterschiedliche Auswirkungen auf Denken und Handeln. Insofern ist zu überprüfen, inwieweit es substanzbedingt zu einer Beeinflussung von Situationswahrnehmung, Urteilsvermögen, Selbstbeherr-
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schung und Emotionskontrolle gekommen ist, und ob es eventuell paradoxe Substanzwirkungen gegeben hat. Dies gilt auch für Mischintoxikationen. Nach dem Konsummuster sind – unabhängig von klinischen Diagnosen – die Probierer, gelegentliche und regelmäßige Konsumenten oder solche abzugrenzen, die ein abhängiges Verhalten zeigen. Beim gelegentlichen Konsum ist keine Toleranzentwicklung zu erwarten. Bei den regelmäßigen Konsumenten lassen sich u. U. gewisse Stereotypien nachzeichnen, wenn gemeinsam in der Clique Drogen konsumiert werden und es dann eine große Bereitschaft zu delinquentem Verhalten gibt (Schlägereien, Einbrüche, sexuelle Übergriffe). Ebenso finden sich beim häufigen Konsum (ohne Abhängigkeit) mitunter nachfolgend gewalttätige Übergriffe im sozialen Umfeld, aber auch beim gehäuften Konsum in Krisenzeiten (z. B. bei Trennungen) als Konsequenz verminderter Anstrengungen und Fähigkeiten zur Krisenbewältigung, wodurch die Krise weiter zugespitzt wird. Neben der Frequenz des Drogenkonsums ist die Menge der verwandten Drogen zu betrachten. Zudem ist zu beachten, dass die erlebten psychischen Veränderungen durch zunehmende Konsumfrequenz weniger eindrücklich werden, wenn sich aufgrund der Gewöhnungseffekte z. B. beim Cannabis die Rauscheffekte nicht mehr einstellen und Begleitwirkungen das Bild beherrschen, wie z. B. eine Sedierung oder körperliche Effekte. Der reine Heroin- oder Kokainkonsument ist eher eine Modellvorstellung. In der Realität werden verschiedene Drogen nach- oder miteinander genommen. Ein polyvalenter Gebrauch verschiedener psychotroper Substanzen ist gerade bei Konsumenten sogenannter harter Drogen häufig zu beobachten. Als Polytoxikomanie wird bezeichnet, wenn über einen Zeitraum von zwölf Monaten wiederholt psychotrope Substanzen aus mindestens drei verschiedenen Substanzgruppen konsumiert wurden, ohne dass eine davon eindeutig überwiegt. Der sporadische Gebrauch zur Überbrückung von Versorgungsengpässen oder bei Entzugserscheinungen (z. B. Benzodiazepine bei Opiatabhängigkeit) zählt nicht dazu. Häufig werden Drogen aus den verschiedenen Substanzgruppen auch mit der Absicht kombiniert, ungewünschte Nebenwirkungen der jeweils anderen Droge zu mildern. So erhöht der zusätzliche Kokainkonsum die subjektive Verträglichkeit von Alkohol, indem dessen sedierende Wirkung reduziert wird. Das gleiche gilt für die Kombination von Heroin und Kokain. Bei jüngeren Probanden wird häufig die Kombination von Stimulantien mit Cannabis, Benzodiazepinen oder auch Heroin beobachtet, wodurch nach der subjektiv erwünschten Stimulation ein „Herunterkommen“ leichter fallen soll. Die Gruppe der polytoxikomanen Drogenkonsumenten ist somit äußerst heterogen, wie auch die Art der Delinquenz, die letztlich zur psychiatrischen Begutachtung führt. Es sind beim Konsum illegaler Drogen die folgenden vorübergehenden Phänomene zu unterscheiden: z Berauschung/Intoxikation, z Entzugssymptome bei Drogenkarenz und Abhängigkeit, z subjektiver „Normalzustand“ bei tradiertem Gebrauch.
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Wichtig ist somit das Konsumverhalten des Betreffenden, welche Drogen wann in welcher Dosierung genommen wurden, welche Motive im Einzelfall den Gebrauch begründeten (z. B. bei vorliegender Abhängigkeit) und welche Erfahrungen mit der Wirkung der jeweiligen Droge bisher gemacht wurden. Dazu dienen die Informationen aus der Suchtmittelanamnese und – im besten Fall – Fremdanamnesen, klinische und labormedizinische Befunde sowie die körperliche Untersuchung. Typische Narben und Verletzungen (Einstichstellen, Erosionen der Nasenscheidewand, Hautausschläge) können, wie die allgemeine körperliche Verfassung, Hinweise liefern. Hilfreich sind Berichte, wie der Zustand des Untersuchten bei Festnahme und in den Tagen danach war, die Ergebnisse ärztlicher Untersuchungen in der Vorgeschichte und ggf. bei Aufnahme in der Haftanstalt oder im Krankenhaus. Allein der positive Nachweis einer Droge im Blut oder im Urin, der je nach Substanz unterschiedlich lange gelingt (Tabelle 3.2), rechtfertigt letztlich nur die Annahme, dass Drogen konsumiert wurden, klärt aber nicht annähernd die Frage, ob im Tatzeitraum eine Intoxikation vorlag oder die Substanzen tatsächlich in relevanter Form psychoaktiv waren. Eine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung (wie beim Alkohol, d. h. eine Rückrechnung der konsumierten Menge aufgrund der später gemessenen Substanzkonzentration in Blut) ist aufgrund der ungleichmäßigen Verteilung der meisten Drogen und ihrer Stoffwechselprodukte im Körper nicht möglich. So lagern sich Drogen mit lipophilen Eigenschaften – wie Cannabis – bei hohen Konsummengen eher im Fettgewebe ab, als dass sich dies in proportional hohen Blutspiegelwerten niederschlägt.
Tabelle 3.2. Nachweisbarkeit illegaler Drogen
a
Droge
Halbwertszeit
Blut
Urin
Heroin Methadon Cannabinoide z gelegentlich z chronisch Kokain Amphetamin Ecstasy GHB (liquid E) Ketamin
3h 15–53 h
8h 12–24 h
2–3 Tage 3 Tage
50 h 25 h 30–90 min 6h 2h 20–40 min 15 min
2–4 h
2–3 Tage 6–8 Wochen 2–3 Tage (AP) 1–4 Tage 4 Tage 12 h 4 Tage
Konzentration Gehirn/Leber : Plasma = 7 : 1.
1–2 h 6 ha 24 h 6h 4h
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Berauschung und Intoxikation Bei der unmittelbaren Wirkung psychotroper Substanzen kann die Grenze zwischen beabsichtigter Anregung oder aber Sedierung, eigentlichem Rausch und Intoxikation im Einzelfall schwer zu ziehen sein. Es kommt zeitlich begrenzt zu Veränderungen des Erregungsniveaus, der Wahrnehmung, der Stimmung und des Denkens, bisweilen in einer Weise, die ohne die Zufuhr psychotroper Substanzen nicht erfahrbar wäre. Ein Rausch kann durch euphorische Stimmung, beschleunigten Gedankengang, motorische Enthemmung und Antriebssteigerung gekennzeichnet sein, aber auch mit einem Stimmungstief, Ermüdung und Erschöpfung einhergehen. Es gibt eine Fülle charakteristischer psychopathologischer Phänomene, die einen Rausch begleiten können (Gouzoulis-Mayfrank 2009). Steht die Bewusstseinseintrübung im Vordergrund, ist die angestrebte Intensität eines Rausches bereits überschritten, und es liegt eine schwere Intoxikation vor. Der Rausch wird gewissermaßen übersprungen, ohne dass sich die rauschhaften Erlebnisveränderungen handlungsbestimmend ausbilden können. Es wird nach zeitlichem Verlauf und Ausprägungsgrad zwischen akutem und protrahiert verlaufendem Rausch unterschieden. Inhaltlich lässt sich der typische vom atypisch ablaufenden Rausch differenzieren. Atypische Rauschverläufe weichen inhaltlich von früheren Erfahrungen ab und können bei Querschnittsbetrachtung der Symptomatik das Aussehen von Psychosen haben (Täschner 2002). Eine Abgrenzung des Rausches von einer Psychose wird aber angesichts der kurzen Dauer und der zeitlichen Bindung an den aktuellen Drogenkonsum keine Probleme bereiten. Entsprechend den Klassifikationssystemen (ICD-10, DSM IV-TR) geht es um die Reaktion des Organismus unmittelbar nach Zufuhr der Drogen. Die Ausprägung einzelner Symptome ist dosisabhängig, und sie klingen mit dem Abbau oder der Ausscheidung ab. Klinisch handelt es sich um ein hirnorganisches Psychosyndrom, dessen psychopathologische Symptome sich durch ihren vorübergehenden Charakter von anderen Störungsbildern unterscheiden, die nicht an eine unmittelbare Drogenwirkung gebunden sind. Gerade beim Gelegenheitskonsumenten bewirken psychotrope Substanzen eine Änderung seiner üblichen Erlebensweisen und der vertrauten Handlungsmuster, indem der Ängstliche mutig, der Reservierte distanzlos oder der Bedachtsame leichtsinnig werden kann. Oft verstärken sich auch bereits vorhandene Persönlichkeitseigenheiten. Das Ausmaß einer akuten Beeinflussung ist somit an die Konsumgewohnheiten gebunden. Da es, wie beim Alkohol, je nach Art der Droge unterschiedlich schnell Toleranz- und Gewöhnungseffekte gibt, treten beim regelmäßigen Drogengebrauch die ursprünglich gewünschten psychopathologischen Rauschzustände seltener auf als bei Gelegenheitskonsumenten. Dies führt u. U. zur Dosissteigerung oder Kombination mit anderen Drogen. Mitunter sollen durch den fortgesetzten Drogenkonsum primär die Entzugssymptome gedämpft werden mit dem Ziel, überhaupt subjektiv handlungsfähig zu bleiben. Es kann aber auch bei Abhängigen zu erheblichen Intoxikationen kommen, wenn der Betreffende
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die normalerweise von ihm benötigte Dosis deutlich überschritten hat. Dies zeigt sich z. B. bei Opiatabhängigen in Form einer stärkeren Sedierung bis hin zum Bewusstseinsverlust oder bei der Intoxikation mit Stimulantien in Form von Erregungszuständen bis hin zu Krampfanfällen oder psychotischen Erlebnisveränderungen. Solche Zustände sind alles andere als symptomarm und in der Mehrzahl der Fälle mit der Begehung von komplexeren Straftaten, einschließlich zielführender Vorbereitungshandlungen oder intakter Eigensicherung, nicht vereinbar. Bei der forensischen Bewertung der Intoxikation geht es um eine retrospektive Rekonstruktion der wesentlichen Einflussfaktoren auf das Denken und Handeln des Betreffenden. Dies verlangt eine rückschauende psychopathologische Befunderhebung, die psychische und körperliche Symptome einer Berauschung erfasst und auch allgemein die individuelle Leistungsfähigkeit des Betreffenden beachtet, um ggf. zwischen substanzbedingten Veränderungen oder tradierten Verhaltensweisen unterscheiden zu können. Die Graduierung der Drogenwirkung ergibt sich damit nicht allein aus der Art der Droge, deren Dosis oder der Persönlichkeit des Konsumenten, sondern primär aus deren offensichtlicher Wirkung. Die kriteriengeleitete Diagnose einer „Intoxikation“ (in den Klassifikationssystemen synonym mit Rausch) erlaubt bei fassbaren Symptomen erst einmal die Zuordnung zum Rechtsbegriff der „vorübergehenden krankhaften seelischen Störung“. Ohne eine weitere Rekonstruktion des psychopathologischen Befundes zum Tatzeitpunkt ist allerdings keine pauschale Aussage über Einsichtsfähigkeit und Hemmungsvermögen des Betreffenden im Tatgeschehen möglich. Am einfachsten ist eine Intoxikation zu sichern, wenn die für die Substanz jeweils typischen Symptome beschrieben sind. Handelt es sich substanzbedingt um eine in Art und Umfang gravierende psychopathologische Veränderung von Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln, in Form eines substanzinduzierten paranoiden, wahnhaften Erlebens oder um (pseudo)halluzinatorische Phänomene innerhalb des relevanten Zeitraums, wird es meist keine Schwierigkeiten bereiten, solche eindeutigen Symptome zu explorieren oder aus dem Handlungsablauf bzw. den Verhaltensbeobachtungen ggf. vorhandener Zeugen zu filtern. Gibt es einen Bezug zwischen dem Delikt und einem massiv verzerrten Umweltbezug bzw. substanzbedingten Verhaltensänderungen, dann wird an die Voraussetzungen des § 20 StGB zu denken sein. Im Strafprozess wird häufiger eine (juristisch) erhebliche Intoxikation für den Tatzeitpunkt bereits durch die angegebenen Konsummengen geltend gemacht, oft jedoch allein mit vagen oder pharmakologisch schwer nachzuvollziehenden Angaben. Es wird ein kombinierter Substanzgebrauch beschrieben, ohne dass detailliertere Informationen zur jeweiligen Verfassung des Betreffenden beigesteuert werden. In der Exploration kann es dann hilfreich sein, sich bereits über die Mengenangaben Gedanken zu machen, z. B. wie ein kontinuierlich massiver Kokainkonsum auf Dauer finanzierbar und mit den sonstigen Lebensgewohnheiten, dem Alltag unabhängig von der zur Last gelegten Tat, in Einklang zu bringen war. Gemäß den
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Tabelle 3.3. Drogenpreise in 1 (BKA 2008) Kleinmengen [Preis in 5/g]
Heroin Kokain Crack Ecstasy Amphetamin a THC M THC H LSD a
Großmengen [Preis in 5/kg]
2007
2006
Änderung 2007
2006
Änderung
35,6 63,3 55 6,2 12,6 8,1 5,8 8,8
36,7 59,1 55 6,6 12,9 8,2 6,4 8,6
–3% +7% 0% –6% –2% –1% –9% +2%
17 938 36 120 – 1 942 4 109 3 739 2 377 –
+9% –2% – –6% +5% –14% 0% –
19 465 35 483 – 1 826 4 303 3 200 2 367 –
1 g Methamphetamin kostete 2007 ca. 70 1 (Einzeldosis 7–10 1).
in Tabelle 3.3 dargestellten Preisspannen, wie sie sich auch in eigenen Erhebungen bestätigten, kann je nach Art und Umfang der jeweils konsumierten Drogen ein beachtlicher Geldbedarf entstehen. Befragungen bei Patienten in Entwöhnungseinrichtungen nach den finanziellen Aufwendungen für ihren Drogenkonsum (unabhängig von forensischen Fragestellungen) erbrachten einen täglichen Geldbedarf von 5–150 1, der erst einmal innerhalb des jeweiligen Alltags realisiert werden musste und einige Anforderungen an die Kompetenz der Betreffenden stellte. Gelegentlich führen genauere Nachfragen über die Finanzierung und Alltagsgestaltung des Probanden zur Relativierung der angegebenen Mengen der konsumierten Drogen. Hilfreicher als Mengenangaben sind die relevanten Drogenwirkungen und das zu rekonstruierende Leistungsbild der Betreffenden im zu Grunde gelegten Geschehen. In Anlehnung an die vier Achsensyndrome bei der Bewertung der Alkoholisierung (siehe Kap. 3.1.2.3) sind bei der Drogenintoxikation außer einer Verhaltensänderung auch neurologische, kognitive und affektive Symptome zu erwarten, die je nach Hauptwirkung der betreffenden Drogen (anregend, sedierend, halluzinogen) zu differenzieren sind und sich im Geschehen widerspiegeln müssen. Dazu dient die Tatanalyse, d. h. die Erfassung des Zusammenspiels der realen Anforderungen innerhalb des konkreten Geschehens und des realen Leistungsbildes des Betreffenden trotz/wegen seines Drogengebrauchs. Die Auswertung der rekonstruierten psychischen und körperlichen Verfassung erlaubt im Kontext der Handlung dann durchaus gutachterliche Rückschlüsse über das Ausmaß individueller Leistungseinbußen durch eine Drogenintoxikation. Dabei ermöglichen Schilderungen der Probanden selbst oder Fremdberichte fundierte Aussagen darüber, welche Überlegungen oder Abwägungen eine Rolle gespielt haben und ob diese eher mit der Persönlichkeit und ihren tradierten Verhaltensweisen oder mit der jeweili-
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gen Substanzwirkung im Zusammenhang zu sehen sind. Zu berücksichtigen ist dabei die Einbettung in den sozialen Zusammenhang (sonstige Alltagsbewältigung und Konfliktlagen). Im Einzelfall wird durch die Tatanalyse erst einmal zu ermitteln sein, ob der Umweltbezug aufgrund der zugeführten Substanz gestört war, z. B. durch Situationsverkennungen oder fehlende Sicherungstendenzen als Zeichen mangelnder Realitätskontrolle. Dabei helfen Verhaltensbeschreibungen, z. B. inwieweit Grenzsetzungen durch Dritte möglich waren oder nicht. In letzterem Fall ist in der Regel von einer erheblich verminderten Fähigkeit auszugehen, das Handeln nach gesetzeskonformen Normen auszurichten. Je komplexer die erfolgreich bewältigten Anforderungen in einem bestimmten längeren Tatgeschehen waren, desto weniger Anhaltspunkte gibt es für die Annahme einer forensisch relevanten erheblichen Intoxikation.
Entzugssymptome bei Drogenkarenz Die rückblickende Bewertung einer im Tatzeitraum relevanten Entzugssymptomatik stellt aus mehreren Gründen ein Problem dar. Einmal weist die Symptomatik solcher Zustände sowohl beim Einzelnen als auch interindividuell eine weite Spanne auf, von körperlichen und psychischen Missempfindungen bis hin zu schweren körperlichen Beeinträchtigungen. Andererseits handelt es sich um Zustände, die jeder Abhängige auch unabhängig des konkret zu beurteilenden Geschehens in vielfältiger Weise durchlaufen hat: Damit sind entsprechende Symptomschilderungen problemlos abrufbar. Hilfreicher als Erfahrungsberichte eines suchterfahrenen Probanden sind Fremdbeschreibungen, inwieweit für andere überprüfbare psychische Besonderheiten oder vegetative Symptome wie Schwitzen, Zittern, massive Unruhe und Schmerzen u. a. bemerkbar waren. Bei nachweisbarer schwerer Entzugssymptomatik ist diese dem Rechtsbegriff der vorübergehenden krankhaften seelischen Störung zuzuordnen. Anzumerken ist, dass im ausgeprägten Entzug, wie z. B. im Opiatentzug (siehe Abschn. „Opioide“), die meisten Betroffenen kaum noch aktiv handlungsfähig sind und die Begehung von strafbaren Handlungen deutlich erschwert ist. Zu erwarten sind allenfalls einfach durchführbare, in der Situation vorgegebene Delikte direkter Beschaffungskriminalität, z. B. ein versuchter Handtaschenraub. Hierbei kann die Annahme einer erheblich beeinträchtigten Hemmungsfähigkeit gerechtfertigt sein. Dass darüber hinaus im Rahmen des Entzuges die Geldbeschaffung allgemein, d. h. auch die indirekte Beschaffungskriminalität mit ihren planvollen Vorbereitungen und Zwischenetappen, einen dekulpierenden Zustand rechtfertigt, lässt sich anhand kaum belegbarer Beeinträchtigungen bei der Abwicklung komplexerer Aktionen (z. B. Überfälle) dagegen nicht begründen. Hier wäre dann auch die Angst vor dem Entzug zu betrachten. Nach wie vor wird von juristischer Seite bis zum BGH bei Opiatabhängigen bereits auch die „Angst vor drohender Entzugssymptomatik“ als Schuldminde-
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rungsgrund geltend gemacht (2002). Das Ausmaß körperlichen Missbefindens im Opiatentzug, der einer mittelschweren Grippe ähnelt, wird juristischerseits oft erheblich überschätzt; der Alkoholentzug ist in der Regel wesentlich unangenehmer und gefährlicher. Es ist sicherlich unstrittig, dass im Rahmen einer Drogenabhängigkeit der Moment kommt, bei dem die Substanzwirkung nachlässt und Überlegungen einsetzen, dass sich nun bald die unangenehm oder quälend erlebten Entzugssymptome einstellen werden. Der Wunsch, Unannehmlichkeiten zu vermeiden, ist allerdings in den §§ 20, 21 StGB nicht privilegiert worden (Schramm u. Kröber 1994). Die Angst vor kommenden, bereits einmal durchgemachten Schmerzen oder Unwohlsein schafft sicherlich Handlungsmotive, beeinträchtigt aber nicht die Steuerungsfähigkeit. Niemand würde auf die Idee kommen, die Angst im Wartezimmer des Zahnarztes (die sich ggf. ebenfalls bereits auf schmerzhafte Vorerfahrungen stützen kann) als Hinweis für eine vorübergehend erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit zu werten. Vorstellbar ist allenfalls, dieses Phänomen im Kontext einer übergeordneten Beeinträchtigung der Persönlichkeit zu sehen, als Teil einer schweren Persönlichkeitsveränderung mit verminderter Fähigkeit zur Verhaltenssteuerung, wobei dann psychopathologisch nicht die „Angst“ vor Entzugserscheinungen entscheidend für die forensisch-psychiatrische Bewertung ist, sondern die insgesamt gestörte, süchtige, depravierte Persönlichkeit.
Phänomene beim fortgesetzten Drogengebrauch Es wird bei regelmäßigem Drogenkonsum zu berücksichtigen sein, dass es diagnostische Abstufungen zwischen gelegentlichem Konsum, Missbrauch und Abhängigkeit gibt. Klinische Diagnosen bezeichnen keineswegs zwangsläufig bereits psychopathologischen Defizite, die eine Zuordnung zu den Eingangskriterien der §§ 20, 21 StGB rechtfertigen. Drogenmissbrauch ist häufig als Teilphänomen eines bestimmten, meist dissozialen Lebensstils zu beobachten und kann fester Bestandteil des (subjektiv durchaus erfolgreich bewältigten) Alltags sein, ohne eine Eigendynamik zu entwickeln. Bei der Rekonstruktion der Delinquenzgeschichte lassen sich dann mitunter bei Wiederholungstaten Konstellationen finden, bei denen Straftaten alkoholisiert sowie unter Drogen, aber auch nüchtern begangen wurden (z. B. sexueller Kindesmissbrauch). Der Drogenmissbrauch hat hier eine unbedeutende kriminogene Relevanz. Eine höhere Intoxikation zur Tatzeit hätte die Durchführung der Straftat vielleicht sogar verhindert. Es gibt zahlreiche gute, prosoziale und ebenso auch rechtswidrige Taten, die nicht wegen, sondern trotz einer leistungsmindernden Berauschung begangen werden. Liegt ein Abhängigkeitssyndrom vor, sollte dieses anhand klinischer Merkmale auch über den Tatzeitraum hinaus gut zu verifizieren sein. Kriminologisch geht es bei Abhängigen oft um Beschaffungskriminalität, wobei für den unmittelbaren Erwerb illegaler Drogen in der Regel die Hemmschwelle niedrig ist. Unschwer wird anhand der Tatumstände ein Zusam-
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menhang zwischen Delikt und Abhängigkeit herzustellen sein. Bei der indirekten Beschaffungskriminalität, die zur Finanzierung des Drogenkonsums dient, bei anders motivierten Eigentumsdelikten, Aggressionsdelikten wie Körperverletzung oder Sexualdelikten spielt neben der Abhängigkeit auch der tatzeitnahe Konsum eine Rolle. Für die forensische Bewertung geht es dann weniger um Ausmaß und Dauer des Substanzgebrauchs, sondern wie bei den Gelegenheitskonsumenten oder beim Drogenmissbrauch um die psychopathologischen Folgen der konkreten Intoxikation. Eine differenzierte Analyse der Dosis und deren Wirkung, der persönlichkeitsimmanenten Faktoren, der situativen Bedingungen und des Zusammenspiels dieser Faktoren beim jeweiligen Tatvorwurf ermöglicht eine fallbezogene Beurteilung, ohne pauschal von einer erheblich verminderten Hemmungsfähigkeit bei süchtigen Straftätern auszugehen (Schramm u. Kröber 1994). In der ständigen Rechtsprechung des BGH (2001, 2002) können Betäubungsmittelkonsum und Abhängigkeit nur in Ausnahmefällen eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit begründen, wenn die Tat im Zustand eines aktuellen Drogenrausches begangen wurde, der Betreffende durch starke Entzugserscheinungen – oder bei Heroin aus Angst davor – zur Straftat und damit zur Drogenbeschaffung getrieben wurde oder „harte“ Drogen nach langjähriger Abhängigkeit zu „schwersten Persönlichkeitsveränderungen“ führten. Letzteres zielt auf die überdauernden Veränderungen ab, den suchtmittelbedingten Persönlichkeitsabbau, wie er sich im Rahmen einer langjährigen Abhängigkeit als Depravation entwickeln kann. Diese ist gekennzeichnet durch zunehmende soziale Desintegration mit wachsender Selbstbezogenheit und Abbau sozialer Verantwortung, Interessenverlust an Bezugspersonen, Einengung gedanklicher Flexibilität mit Reduzierung der intellektuellen Leistungsbereitschaft und Verlust der individuell persönlichen Akzente, letztlich auch durch die (nicht nur körperliche) Vernachlässigung der eigenen Person. Dies begründet eine Nivellierung des Persönlichkeitsgefüges, begleitet von leichter Verstimmbarkeit, Halt- und Kritikschwäche sowie einem allgemeinen psychischen und physischen Vitalitätsverlust. Dies betrifft allerdings einen wesentlich kleineren Personenkreis mit erheblicheren Strukturdefiziten als bei der Gesamtgruppe der Drogenabhängigen. Medizinisch ist dies als organische Persönlichkeitsstörung zu fassen und wäre dann dem Rechtsbegriff der schweren anderen seelischen Abartigkeit zuzuordnen. Insofern ist die Annahme unzutreffend, dass sich jeder abhängige Drogenkonsument in einem permanenten Zustand verminderter Schuldfähigkeit befindet, zumal sich dies dann nicht nur auf potentiell strafbare Handlungen beziehen würde, sondern auf die Gestaltung und Bewältigung des Alltags allgemein. Allenfalls für den konkreten Beginn des abhängigen Drogenkonsums, der in der konkreten Situation zum „Vollrausch“ führt, lässt sich dies sinnvoll begründen. Tatsächlich ist eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit beim Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms anzunehmen
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z bei Beschaffungstaten unter starken Entzugserscheinungen, z im Rahmen eines akuten Rauschzustandes oder z deliktbezogen bei schweren Persönlichkeitsveränderungen im Rahmen der Sucht, die mit einer gewissen Eigengesetzlichkeit zu psychischen, körperlichen und sozialen Einbußen geführt hat (Depravation). z Komorbidität. Der Drogenmissbrauch kann – außer als suchtbedingtes Phänomen – komorbider Ausdruck einer anderen psychischen Störung sein, die ihrerseits Einfluss auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit hat bzw. diese bei oberflächlicher Betrachtung überdecken kann. So findet sich insbesondere der kaum zu unterbindende Gebrauch von Cannabis häufig bei schizophren Erkrankten im Sinne einer Eigenmedikation. Am häufigsten werden bei Persönlichkeitsstörungen zusätzlich Suchtprobleme diagnostiziert, aber auch bei affektiven und Angststörungen (Bahlmann et al. 2002; Wendt u. Kröber 2003). In der Regel spielen Persönlichkeit, schizophrenes Erleben, Impulsivität oder affektive Gestörtheit bei motivischen Überlegungen zum Tatgeschehen eine Rolle. Gleichwohl geht es um die Bedeutung des Einflusses psychotroper Substanzen und inwieweit der Betreffende bei sonst mehr oder weniger normkonformen Verhalten substanzbedingt in seinem Entscheidungs- und Handlungsspielraum zusätzlich eingeengt wurde. Die Auswertung der Lebensgeschichte und die Tatanalyse lassen dabei Schlussfolgerungen auf Hintergründe und die führende Symptomatik zu, inwieweit in der begleitenden Störung oder im Drogenkonsum die beurteilungsrelevanten Aspekte liegen. Hilfreich bei der Differenzierung von persönlichkeitsbedingter Sucht vs. suchtbedingten Persönlichkeitsveränderungen sind die Beachtung des zeitlichen Vorlaufs der Persönlichkeitsauffälligkeiten vor den Symptomen einer Sucht (u. a. biographische Brüche im Kindes- und Jugendalter, niedrige Schulbildung, geringer Ausbildungsstand bei Beschäftigung, Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, häufig früh beginnende Delinquenzkarriere bei dissozialer Problematik), das Vorliegen heterogener Konsumgewohnheiten (nicht kontinuierlich, intendiert, polyvalenter Konsum, Abstinenz je nach Situation ohne gravierende Probleme möglich), das Fehlen nachhaltiger Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsgefüges durch das Suchtmittel und der Umstand, dass Verhaltensauffälligkeiten und Defizite nach andauernder Suchtmittelkarenz fortbestehen (Wendt u. Kröber 2003). Die Gesichtspunkte zur Differenzierung zwischen persönlichkeitsbedingter Sucht und suchtbedingten Persönlichkeitsveränderungen sind: z zeitlicher Vorlauf der Persönlichkeitsauffälligkeiten vor den Symptomen einer Sucht (biographische Brüche bereits im Kindes- und Jugendalter, niedrige Schuldbildung, geringer Ausbildungsstand bei Beschäftigung, Probleme im zwischenmenschlichen Bereich, häufig früh beginnende Delinquenzkarriere gerade bei dissozialer Problematik), z heterogene Trink- bzw. Konsumgewohnheiten (nicht kontinuierlich, intendiert, polyvalenter Konsum, Abstinenz je nach Situation ohne gravierende Probleme möglich),
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z keine Einengung auf den Suchtmittelkonsum (es fehlt eine nachhaltige Beeinträchtigung des Persönlichkeitsgefüges durch das Suchtmittel), z Verhaltensauffälligkeiten und Defizite bestehen nach andauernder Suchtmittelkarenz fort. Bei jahrzehntelangen Verläufen verschwimmen die Grenzen zwischen primärer und sekundärer Sucht, und die Symptome der Depravation bzw. der Folgestörungen stehen im Vordergrund. Sind primär die persönlichkeitsbedingten Syndrome ausgeprägt, sollte der Drogenkonsum als vorübergehender konstellierender Faktor in der Bedeutung zurückgestellt und die Diskussion unter dem dann zutreffenden Eingangskriterium geführt werden. Ein schwer aufzulösender Mix aus Diagnosen ist zu vermeiden, um nicht aus Drogenwirkung und Persönlichkeitspathologie in kaum transparenter Weise die Schwelle zur verminderten Schuldfähigkeit zu nehmen. Dies stiftet eher Verwirrung und ist nicht sachgerecht. Stattdessen ist eine differenzierte Betrachtung notwendig und insbesondere dann von Bedeutung, wenn die Voraussetzungen einer Maßregel nach § 64 StGB oder 63 StGB diskutiert werden sollen. Zusammenfassend ist für die forensische Beurteilung einer Berauschung mit Drogen festzuhalten, dass die klinischen Überlegungen, inwieweit ein Abhängigkeitssyndrom, eine Intoxikation oder ein Entzugssyndrom vorgelegen haben, lediglich der Klärung dienen, ob ein juristisches Eingangskriterium der §§ 20, 21 StGB vorgelegen hat. Die Diagnose bildet erst einmal die Möglichkeit, bestimmte Defizite zu benennen und evtl. einer Ursache zuzuordnen, impliziert aber noch keine gutachterlichen Schlussfolgerungen. Dazu ist auf das Tatgeschehen einzugehen. Der Sachverständige erfährt aber mitunter erst in der Hauptverhandlung die zu berücksichtigenden Sachverhalte. Zu differenzieren sind Augenblickshandlungen, deren Zielrichtung und Sinnhaftigkeit sich aus der jeweiligen Situation erklären und bei denen es sich um ein spontanes und wenig konturiertes Geschehen handelte. Bei lang hingezogenen Geschehnissen sind deren Anforderungen an den Betreffenden zu berücksichtigen. Zu klären ist, ob und wie er diese bewältigte, Schwierigkeiten meisterte oder scheiterte, ob sich Vorbereitungshandlungen und Sicherungstendenzen belegen lassen oder nicht. Dies ermöglicht Rückschlüsse auf Wahrnehmung, Orientierung, Aufmerksamkeit, gedankliche Flexibilität und somit die psychische Verfassung überhaupt. Bei der Gesamtwürdigung des Probanden ist zu bedenken, inwieweit sonstige Verhaltensgewohnheiten mit dem Delikt in Übereinstimmung zu bringen sind, ob es sich also eher um ein tradiertes Verhaltensmuster handelt oder ob die zur Last gelegte Tat aus seinem sonstigen Handlungsspektrum heraussticht. Es versteht sich von selbst, dass solche Erörterungen über abweichendes Verhalten erst dann sinnvoll sind, wenn zuvor durch Auswertung psychischer und körperlicher Auffälligkeiten die Diagnose einer relevanten Berauschung fachlich gesichert wird (Saß u. Kröber 1999).
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Synopsis – Beurteilung der Schuldfähigkeit bei Drogengebrauch Erste Stufe – Eingangsmerkmal: z Konsummuster (gelegentlicher Konsum, Suchtmittelmissbrauch oder Abhängigkeit) zur Klärung von Toleranzentwicklungen und Vorerfahrungen (Suchtmittelanamnese) z Konsum im zeitlichen Zusammenhang zu Tat, Art und Umfang der konsumierten Substanzen und deren Symptomatik (ggf. Ermittlungsergebnisse oder medizinisch fassbare Symptome einer Intoxikation oder eines akuten Entzugssyndroms über Mengenangaben hinaus) z Zuordnung zu einem der Rechtsbegriffe der §§ 20, 21 StGB: Intoxikation als „vorübergehende krankhafte seelische Störung“; „schwere andere seelische Abartigkeit“ bei schweren Abhängigkeitssyndromen mit Depravation, hier auch medizinisch die „Angst vor Entzugserscheinungen“ bei Opiatabhängigen verständlich Zweite Stufe – Auswirkungen der vorübergehenden krankhaften seelischen Störung: z Analyse der konkreten Auswirkungen auf die Einsichtsfähigkeit und das Hemmungsvermögen zum Tatzeitpunkt (in der Regel wird es um die Beeinträchtigung der Hemmungsfähigkeit gehen) unter Einbeziehung des Tatgeschehens z subjektive Schilderungen, objektivierbare Symptome und Anforderungsprofil der verfahrensgegenständlichen Handlung – Tatanalyse (ggf. Verhaltensbeobachtungen mitunter erst durch Inhalte der Hauptverhandlung) z Zusammenschau erlaubt fundierte retrospektive Einschätzung, ob durch die psychotrope(n) Substanz(en) im relevanten Zeitraum die Schuldfähigkeit des Betreffenden zum Tatzeitpunkt medizinisch begründbar ohne dekulpierende Konsequenz beeinflusst oder erheblich vermindert oder aufgehoben war z irreführend und missverständlich: ein Mix aus Eingangsmerkmalen, erst recht für prognostische Fragen (z. B. wenn etwas Drogenwirkung und etwas Persönlichkeit, die jeweils allein eine verminderte Schuldfähigkeit nicht rechtfertigen, diese dann als Summe erreichen sollen)
3.1.2.4.4 Charakteristika psychotroper Substanzen Der Drogenmarkt selbst entzieht sich genauerer Betrachtung. Allerdings erlaubt die Auswertung von Beschlagnahmungen (BKA 2008) genauere Untersuchungen sowohl der Transportwege und des aktuellen Angebots als auch der Qualität der importierten (z. B. Heroin, Kokain, andere Stimulantien und Ecstasy) oder der im Inland produzierten Substanzen (z. B. Cannabis, Amphetamine, GHB, Fentanyl). Demnach sinkt, entgegen allen Beteuerungen der Konsumenten, in den letzten Jahren der mittlere THC-Gehalt (Marihuana 2,4–10%; Haschisch ca. 8%) ebenso wie der Wirkstoffanteil in Amphetamingemischen (6,2%). Während der Wirkstoffgehalt beim
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Kokain in Großmengen (über einem Kilogramm) seit Jahren relativ stabil ist (75%), sinkt er beim Straßenhandel (24–40%) kontinuierlich ab. Beim Heroin liegt der Reinheitsgrad in Großmengen (40%) wie auch im Straßenhandel (20%) höher als noch vor Jahren (9%). Der Wirkstoffgehalt von Ecstasy-Tabletten wurde mit durchschnittlich 50mg/Einheit bestimmt, wobei es je nach Marge einen Streubereich von 0,5–200 mg/Tablette geben kann (Zerrell u. Thalheim 2008), was teilweise gravierend differierende Mengenangaben bzw. die ungewöhnliche Verträglichkeit hoher Mengen einzelner Konsumenten erklären mag. Die wesentlichen Charakteristika der einzelnen Substanzen, ihre pathophysiologischen Wirkmechanismen, ihre psychischen und körperlichen Wirkungen, Intoxikationssyndrome, Langzeiteffekte und ihr Nachweis werden im Folgenden dargestellt. Da sich bei Mischintoxikationen durch die unterschiedlichen, dosisabhängigen, synergistischen oder mitunter gegenläufigen Wirkungen der einzelnen Substanzen eine recht bunte Symptomatik ergeben kann, ist die Kenntnis der einzelnen Besonderheiten notwendig. Die Systematik folgt der ICD-10, wobei es zwischen einigen Substanzgruppen Überschneidungen gibt (Entaktogene mit stimulierenden und halluzinogenen Eigenschaften). Auf Koffein und Nikotin wird mangels Relevanz im forensischen Kontext nicht eingegangen, obwohl es die am weitesten verbreiteten psychotropen Substanzen sind.
Opioide (ICD-10 F11.x) z Charakteristika Neben dem Morphin (Hauptbestandteil des Rohopiums) als Vertreter der natürlichen Opiate kommt dem halbsynthetischen Heroin die größte Bedeutung zu. Darüber hinaus gibt es in der Gruppe der synthetischen Opiate das Codein (Methylmorphin) und das Tilidin (Valoron N). In der Substitutionsbehandlung kommen Levo-/Methadon und Buprenorphin (Subutex), selten noch Codein zum Einsatz. z Vertreter z Morphin wird als Morphinhydrochlorid in der Schmerztherapie in Tagesdosen zwischen 10 und 100 mg eingesetzt. Die Halbwertszeit beträgt 6 Stunden, die therapeutische Einzeldosis 10 mg (höchste Einzeldosis 30 mg), die toxische Dosis beim ungewohnten Konsumenten 50 mg, ab 100 mg ist in jedem Fall mit Vergiftungserscheinungen zu rechnen. Die Toleranzentwicklung geht sowohl mit einer erheblichen Erhöhung der Einzeldosis als auch mit einer Erhöhung der Einnahmefrequenz einher. Dosiserhöhungen bis auf das Hundertfache des therapeutischen Bereichs sind möglich. Es kann oral in Tablettenform genommen oder mit umgehendem Wirkungseintritt i.v. appliziert werden. z Heroin (3,5-Diacetylmorphin) gibt es in mehreren Varianten (1. Morphinhydrochlorid mit 60–80% Wirkstoffgehalt; 2. graue oder weiße Heroinbase, 3. wasserlösliche, grau-braune Substanz als „brown sugar“,
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4. braunes oder weißes kristallines Pulver mit Wirkstoffkonzentration bis 90%). Für den sofortigen Wirkungseintritt („Flash“) wird es i.v. appliziert (Mindestdosis ca. 1–10 mg), da es aufgrund der hohen Lipidlöslichkeit rasch durch die Blut-Hirn-Schranke tritt. Es kann auch auf Folie geraucht werden („chasing the dragon“ mit Mindestdosis um ca. 25 mg). Dabei bleibt der „Flash“ aus, wie auch beim „Ziehen“ durch die Nase. Heroin verfügt über ein zehnfach stärkeres Wirkpotential als Morphin und hat nur eine Halbwertszeit von 3 Stunden, Entzugserscheinungen treten deshalb doppelt so schnell auf. Einzeldosen von 10 mg (bis zu 20–50 mg) werden angegeben. Für den Unerfahrenen kann der Konsum von 20 mg Heroin tödlich enden. Bei Abhängigkeit werden meist 0,3–3 g mit bis zu 6 Injektionen über den Tag verteilt benötigt. Die Preisangaben schwanken und liegen zwischen 30–60 1 /g Heroin. z Methadon wird als Flüssigkeit oral aufgenommen, beginnt nach 30–60 min zu wirken und ist mit 15–53 h Halbwertszeit am längsten im Körper verfügbar (Stoller u. Bigelow 2006). z Buprenorphin, eine Kombination aus Opiatrezeptoragonist (l) und -antagonist (j), wird in Tablettenform in einer Tagesdosis von 6–12 mg (u. U. 32 mg) sublingual zur Substitutionsbehandlung verordnet. Die Halbwertszeit liegt zwischen 2 und 5 h. z Tilidin (Valoron N) besitzt ein Fünftel der analgetischen Wirkung des Morphins und wird zur oralen Schmerzbehandlung in Einzeldosen von 50–100 mg verordnet, die empfohlene Tageshöchstdosis liegt bei 400 mg (20 Tropfen = 0,72 ml = 50 mg Tilidin). Die Wirkung setzt nach 10–15 min ein, erreicht nach 25–50 min ihr Maximum und dauert bis 4 h an. Schon ab 25–50 mg werden ein angenehmes Wohlbefinden und euphorisierende Effekte sowie Anxiolyse berichtet (also bereits unterhalb der therapeutischen Dosis). Bei gleichzeitiger Einnahme von Alkohol oder Sedativa kommt es zu einer gegenseitigen Verstärkung und Verlängerung der dämpfenden Wirkung. Dass Tilidin aggressiv machen würde, ist in der Schmerztherapie unbekannt. Berichte in diesem Zusammenhang beziehen sich ausschließlich auf jugendliche Konsumenten mit offenkundigem Bezug zum dissozialen Milieu (soziokulturelles Umfeld, Mentalität des Konsumenten). z Nachweis Heroin wird im Organismus rasch zu Morphin metabolisiert. Bei den Tests werden auch Substanzen mit ähnlicher Struktur erfasst (Hydromorphin, Hydrocodon, Codein). Mohnsamen (z. B. in Mohnkuchen) erreicht nur Konzentrationen unter 4 ng/ml Urin. Morphin und Codein können im Serum und im Urin ca. 2 bis 3 Tage erfasst werden. Heroin ist 3 bis 6 Stunden, selten auch einmal bis zu 8 h im Blut und 2 bis 3 Tage im Urin nachzuweisen. Methadon kann im Blut 12 bis 24 h (bis 48 h) und im Urin bis zu 3 Tagen gefunden werden (pH-Wert abhängig).
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z Pathophysiologische Wirkweise Agonisten an den l-Rezeptoren (endogene Liganden, z. B. Endorphine, Enkephaline, Dynorphine) und Untergruppen der l-, j-, d- und e-Rezeptoren (Koob 1992; Yuan et al. 1992) vermitteln unterschiedliche Funktionen (Analgesie, Euphorie, Atemdepression); die größte Rezeptordichte ist im limbischen System (Nucleus accumbens, Neostriatum); das endogene Opioidsystem aktiviert das dopaminerge Belohnungssystem. z Psychische Wirkung Subjektiv wird von Schmerzminderung und -erleichterung berichtet, dem Empfinden, „wie auf Watte gebettet“ zu sein. Die Dämpfung geistiger Aktivität erzeugt Euphorie, wenn Angst, Anspannung und Unlust verschwinden und Probleme des Alltags gleichgültig werden; Gleichgültigkeit und orgastische Körpergefühle („von Wärme durchströmt“) werden auch als „Klarheit im Kopf“, „Kick“, „Flash“ oder „Rush“ beschrieben. Objektivierbar sind Schmerzdämpfung, Apathie und Sedierung (Schläfrigkeit), abnehmende Aufmerksamkeit und Leistungsfähigkeit, ggf. Wechsel zwischen Erregung und Weggetretensein. z Körperliche Wirkung Dämpfung des Atem- und Hustenzentrums, ausgeprägte periphere parasympathische Eigenschaften mit Tonussteigerung der glatten Muskulatur (Obstipation, Miosis), Unterdrückung des Hungergefühls, verwaschene Sprache, hängende Augenlider, häufiges Lippenlecken. Bei höheren Dosen Harnverhalt und Bradykardie, Bewusstseinsstörung bis Stupor/Koma (dann Mydriasis bei Anoxie). z Intoxikation Nach anfänglicher Euphorie und Analgesie kommt es zu Vigilanzstörungen (bis zum Koma). Zentral parasympathische Aktivität provoziert vegetative Dysregulation (Hypotonie, Bradykardie, Herzrhythmusstörungen, Hypothermie bei peripherer Vasodilatation) bis zur zentralen Atemlähmung mit Lungenödem als Folge einer Hypoxämie. Möglich sind auch opioidinduzierte Intoxikationsdelire, psychotische und affektive Störungen; die mit körperlichen Begleitsymptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Obstipation bis zum paralytischen Ileus und Oligurie (antidiuretischer Effekt) vergesellschaftet sind. z Langzeitkonsum Toleranzentwicklung kann zu einer physischen und psychischen Abhängigkeit führen, indirekte Folgen sind Schlafstörungen, Impotenz, Bewegungsund Koordinationsstörungen, depressive Verstimmungen und Zahnverfall (Bühringer et al. 1993). Probleme vor allem durch die Illegalität mit den damit verbundenen Umständen, dem i.v.-Konsum und Verunreinigungen. Gerade Heroin besitzt sehr hohes Suchtpotential (bereits nach 7- bis 10-maliger Injektion kann sich ein Abhängigkeitssyndrom ausbilden). Im
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Verlauf kommt es immer seltener zu positiv getönten Rauschzuständen. Stattdessen geht es um die Vermeidung von Entzugserscheinungen. Den wenigsten Konsumenten gelingt eine kontinuierliche Zufuhr, weshalb der Zustand der Betreffenden im Tagesverlauf schwankt. Täschner (2002) nahm deshalb fünf Unterteilungen vor: 1. Zustand unmittelbar nach der Injektion von Heroin, der einige Minuten dauern kann; 2. subjektiver Normalzustand, in dem sich der Abhängige leicht euphorisch ohne Sorgen und Probleme erlebt; 3. beim Abklingen des subjektiven Normalzustandes kommt es zur Ahnung des beginnenden Entzugs, was mit verschärfter Wahrnehmung und erhöhter Wachheit einhergeht; 4. es folgt der beginnende Entzug mit extremer Wachheit, stärkerer Unruhe und den ersten Entzugserscheinungen. Daran schließt sich dann der Entzug an. 5. Das Opiatentzugssyndrom (zentral noradrenerge Überaktivität mit Enthemmung des Locus coeruleus). Es setzt spätestens 6–8 h nach der letzten Heroinzufuhr ein, bei Methadon nach 24 h, erreicht nach 48 h das Maximum und klingt nach maximal 5 bis 7 Tagen ab. In der Regel erleben die Betroffenen subjektiv massive Beeinträchtigungen, die objektiv allerdings meist nicht zu einer vital bedrohlichen Symptomatik führen. Der Opiatentzug lässt sich (u. a. nach Irwin et al. 1976) in mehrere Stadien einteilen: Stadium 0: Verlangen nach Opiaten, Angst und Unruhe; Stadium 1: Gähnen, Hyperhydrose, Tränenfluss, Rhinorrhoe; Stadium 2: zusätzlich Mydriasis, Piloerektion, Tremor, Muskelzucken, Hitze- und Kälteschauer, Knochen- und Muskelschmerzen, Anorexie; Stadium 3: zusätzlich Schlaflosigkeit, Blutdruck- und Temperatursteigerung, Tachykardie, Tachypnoe, Übelkeit; Stadium 4: zusätzlich Fieber, Diarrhoe, Übelkeit, Erbrechen, Muskelkrämpfe, Spontanejakulationen, laborchemisch Hämokonzentration mit Leukozytose, Eosinopenie, Anstieg von Blutzucker und Laktat.
Cannabinoide (ICD 12.x) z Charakteristika Aus der weiblichen Hanfpflanze (Cannabis sativa) gewonnen, ist der wichtigste Wirkstoff das Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC). Der THC-Gehalt der Pflanzen schwankt je nach Anbaugebiet beträchtlich und wird zwischen 0,04 und 3,7%, am häufigsten mit 1%, angegeben (Täschner 2002). Bei längerer Lagerung verliert THC durch Umwandlung in Cannabinol seine psychotrope Wirksamkeit. Cannabis reichert sich in fettreichen Geweben an.
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Die Halbwertszeit von THC sinkt bei fortdauerndem Gebrauch von 56 auf 28 Stunden ab. Neben einer Toleranzentwicklung kommt es zur Kumulation im Organismus (Coper 1972). Nach Zufuhr sinkt der Cannabisspiegel innerhalb der ersten Stunden rasch, dann nur noch langsam ab, da aus den Speichern im Körper ebenfalls Cannabis freigesetzt wird. Die Dosis für einen mittleren Cannabisrausch beträgt 5–10 mg THC (ca. 0,25 g Marihuana oder 0,1 g Haschisch). Die berichteten Konsummengen variieren zwischen 1 und 3 g/Tag und liegen in Einzelfällen über 5 g/Tag. Die Preisangaben reichen von 4 1/g in Ballungsgebieten bis zu 10 1/g, auch abhängig von Mengenrabatten oder Kommissionsgeschäften. Bei Inhalation über die Lunge (Joint, Tüte, Stick, als Bong mit Pur- und Wasserpfeifen) werden 20–50% resorbiert. Nach unmittelbarem Konzentrationsanstieg im Serum setzt innerhalb von 15 min die Wirkung ein, hält etwa 3 bis 4 Stunden an und klingt innerhalb von 8 Stunden weitgehend ab. Das Wirkungsmaximum liegt in der Zeit zwischen 30 und 60 Minuten nach Aufnahme. Bei oraler Applikation (z. B. Haschkekse – Spacecakes, oder in Tees) setzt die Wirkung wegen der langsameren Resorption erst mit Latenz, nach ca. 60 min, ein und ist schwer vorhersehbar. Die Intensität ist im Vergleich zur Inhalation im Verhältnis 1 : 3 niedriger, dafür mit 5 bis 8 Stunden länger. Nach Verstoffwechselung in der Leber werden die Metaboliten über Galle, Urin und Stuhl ausgeschieden (Wall u. Peres-Reyes 1981). Das Wirkungsspektrum hängt von unterschiedlichen Faktoren ab (von der Dosis, die im einzelnen vom Konsumenten selbst wegen der differierenden Zusammensetzung nicht festzustellen sein wird, von Alter und Herkunft; von der Art der Aufnahme – Schnelligkeit des Wirkungseintritts, Intensität und Wirkdauer; von der individuellen Situation und Persönlichkeit sowie Konsumerfahrungen des Betroffenen). Zudem spielen der Konsum zusätzlicher Substanzen (z. B. Alkohol, LSD, Benzodiazepine) und die körperliche Ausgangssituation (Ermüdung, Ernährungszustand, Gesundheit/ konsumierende Krankheiten) eine Rolle. Zu unterscheiden sind eine akute Phase (1–2 h) mit zentral dämpfender Wirkung, Störung der Motorik (Gangunsicherheit, lallende Aussprache, gerötete Augen und glasig weite Pupillen); eine subakute Phase (4–6 h) mit Aufhebung der Trägheit, Euphorie (ausgelassen, heiter), dem Ausschalten negativer Umwelteinflüsse und Überschätzung des Leistungsvermögens sowie eine postakute Phase (12–24 h) mit vermindertem Antrieb, Passivität ( „nicht völlig klar im Kopf“). z Vertreter z Marihuana (Gras, Grün, Heu, Pott) wird aus den getrockneten Blattspitzen und Stielen der Pflanze gewonnen und hat einen Wirkstoffgehalt von 1–15%. z Haschisch (Hasch, Dope, Shit) ist eine grün-bräunliche Masse mit einem Wirkstoffgehalt von 5–10% THC aus dem Blütenharz; Haschischöl als konzentrierter Auszug aus dem Blütenharz besitzt einen THC-Gehalt bis 43–50% (auf Zigaretten geträufelt oder Speisen und Getränken beigemengt).
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z Cannabimimetische Indole (Huffman et al. 2005), wie z. B. JWH-018 (1-Pentyl-3-naphthoylindol) als „Spice-Verunreinigung“ (Spice-Gold: 0,2–0,5%, Arctic Synergy: 1,7–1,9% oder Yukatan Fire: 1,1–1,5%) werden verschiedenen Kräutermischungen beigemengt. Unter Ausnutzung von Gesetzeslücken waren sie zeitweise in Headshops als Kräutertütchen zu erstehen (3 g für 20–30 1) und wurden auch als Tabakzusatz verwandt. JHW 018 hat 4 fach stärkere psychotrope Effekte als Cannabis und ist durch die üblichen Nachweisverfahren nicht zu erfassen. z Nachweis Durch die Anreicherung im Fettgewebe und die Freisetzung der gespeicherten Substanz lässt sich keine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung wie beim Alkohol nachzeichnen oder eine voraussichtliche Cannabiswirkung anhand von Konsummengen und Konzentrationswerten berechnen. z Im Serum lassen sich Cannabinoide mit den gängigen Verfahren innerhalb von 2–4 h, in Einzelfällen bis zu 12 h in Konzentrationsbereichen unter 20 ng/ml nachweisen. Felgate und Dinan (2000) gelang der Nachweis noch bei Serumkonzentrationen um 0,5–1,5 ng/ml. Abbauprodukte sind nach 2–3 Tagen bei gelegentlichem und ca. 3 Wochen bei häufigerem Konsum zu erwarten. Eine Blutprobe gilt als positiv, wenn sie mehr als 25 ng/ml aufweist. Werte diese Größenordnung sind durch Passivrauchen nicht zu erreichen. z Wesentlich verbreiteter ist der Nachweis im Urin. Erwartet werden kann ein positives Ergebnis bei seltenem Konsum für 2–3 Tage bis maximal eine Woche (Abbauprodukte), nach regelmäßigem Konsum für 6–8 Wochen und nach chronischem Konsum noch nach 12 Wochen (Smith-Kielland u. Scuderud 1999). Die Nachweisgrenze im Urin liegt bei 5–15 ng/ ml. Eine Urinprobe gilt als positiv, wenn mehr als 50 ng/ml THC enthalten sind. Festzuhalten bleibt, dass ein einmalig positiver Cannabisnachweis im Serum bzw. im Urin nicht mehr besagt, als dass THC bei Probennahme im Organismus verfügbar war. Psychopathologische Konsequenzen lassen sich daraus nicht ziehen, z. B. wenn es um engere zeitliche Eingrenzungen oder Dosierungen geht. Ein positiver oder mehrmals positiver Wert im Urin unter Abstinenzbedingungen lässt nur den Rückschluss zu, dass ein chronischer Cannabiskonsum vorgelegen hat. Ein Rückfall innerhalb der ersten 12 Wochen ist damit aber nicht bewiesen. Je nach Stoffwechsellage kann ein positiver Cannabiswert bei der quantitativen Bestimmung im Urin auch ohne erneuten Konsum in einem geringen Bereich wieder ansteigen. Erst der Verlauf über 3–4 Urinproben kann einen fortgesetzten Konsum beweisen. Selten erforderlich ist der Nachweis im Haar oder in den Fingernägeln. So ist bei einem Grenzwert von 0,1 ng THC/mg Haar ein positiver Nachweis möglich (Kemp u. Abukhalaf 1995, Stranow-Rossi u. Chiarotti 1999).
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z Pathophysiologische Wirkweise Matsuda und Lolait (1990) entdeckten die Cannabinoid-Rezeptoren. Der physiologisch wirksame Ligand ist das Arachnoidonsäurederivat Anandamid. Auf molekularer Ebene bewirken beide Moleküle eine Inhibition der Adenylatzyklase, wodurch die Signalübertragung reduziert wird, u. a. auch bei inhibitorischen Neuronen, was dann zur fortgesetzten Transmitterausschüttung an anderer Stelle führt. Die entsprechenden Rezeptoren finden sich vor allem in den Basalganglien (Hippocampus: Gedächtnisstörungen, sensorische Eindrücke), im Kleinhirn und im frontalen Bereich der Großhirnrinde (Hochstimmung, verändertes Zeitgefühl, reduzierte Konzentrationsfähigkeit und traumartige Zustände). Dagegen ist der Hirnstamm als Sitz wichtiger Vitalfunktionen frei von Cannabinoid-Rezeptoren, was die relativ gute Verträglichkeit, z. B. die seltene Beeinflussung motorischer Abläufe und das seltene Auftreten toxischer Nebenwirkungen, begründen mag (Julien 1997). z Psychische Wirkungen Typisch bei einmaligem/gelegentlichem Konsum sind gehobene euphorische Stimmung, verminderter Antrieb, Passivität, Apathie bis Lethargie, was als Entspannung und subjektives Wohlbefinden berichtet wird. Es können Denkstörungen wie bruchstückhaftes Denken, ein herabgesetztes gedankliches Speicherungsvermögen bei gleichzeitiger Intensivierung sowohl akustischer als auch visueller Wahrnehmungen und eine Auflockerung der assoziativen Ordnung mit Ideenflucht und gesteigertem Kommunikationsbedürfnis auftreten (Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhte Ablenkbarkeit bei Reizoffenheit). Durch die Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses wird auf Nebenreize fokussiert. Mitunter treten Illusionen oder Pseudohalluzinationen auf, was zu abnormen gedanklichen Verknüpfungen führen kann. Mittelbar gibt es Störungen im Langzeitgedächtnis. Weitere Phänomene sind Körperschemastörungen, Zeitgitterstörungen, erhöhte Risikobereitschaft und Veränderungen der Psychomotorik (Ausdrucksverhalten in Mimik und Gestik). Allgemein kommt es also zu Denk-, Wahrnehmungs- und Merkfähigkeitsstörungen, wodurch die Sorgfaltsleistung reduziert wird. Scheintiefsinn tritt an die Stelle von logisch geordnetem, schlussfolgerndem Denken. Evidenzerlebnisse, die als plötzliche, tiefreichende und neuartige Einsichten oder als „Bewusstseinserweiterung“ apostrophiert werden, ersetzen rational zustande gekommene Einsichten (Hall u. Slowij 1994; Nolte 1996; Johns 2001). Praktische Verhaltensänderungen durch Erlebtes im Cannabisrausch sind nicht feststellbar. Er bleibt ohne Auswirkung auf den Lebensalltag. Seltener werden Unruhe oder Agitation, Verfolgungsphantasien, paranoide Wahnvorstellungen und Panikreaktionen vor allem von unerfahrenen Konsumenten beschrieben (atypische Rauschverläufe). Die positive Gestimmtheit kann plötzlich in eine als negativ erlebte Stimmung umschlagen (aus Euphorie wird Angst und Unsicherheit).
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Am Ende eines Cannabisrausches können Trägheitsgefühl und Sedierung auftreten (Daunderer 1994; Julien 1997). Die Betreffenden wirken apathisch-depressiv (Nachlassen der subjektiven Leistungsfähigkeit, Teilnahmslosigkeit, Grübeleien oder Selbstwertkrisen). Stimmungsumschwünge ohne erkennbaren äußeren Anlass sind dann nicht selten. Die Antriebsminderung dauert in Korrelation mit der aufgenommenen Cannabisdosis auch noch über den Haschischrausch hinaus an (chronische Erschöpfungszustände). z Körperliche Wirkungen Auffallend sind die erweiterten Pupillen und gerötete Skleren. Neurologisch lassen sich eine Steigerung monosynaptischer Reflexe und Parästhesien (Missempfindungen in den Gliedmaßen oder eine verminderte Schmerzempfindlichkeit), Zittern u. ä. finden. Bei einmaligem/gelegentlichem Konsum sind gesteigerte Herzfrequenz bei gleichbleibendem Blutdruck, Hunger, Müdigkeit sowie das Gefühl kalter Finger- und Zehenspitzen typisch. Je nach Beimengungen und in höheren Dosierungen treten Kopfschmerzen, Schwindel, Gangunsicherheit, Übelkeit und Brechreiz auf. Je größer die gerauchte Gesamtmenge ist, desto größer sind auch die unerwünschten Nebenwirkungen wie unangenehmer Geschmack und schlechte Verträglichkeit. z Intoxikation Cannabinoide besitzen nur eine geringe Toxizität. Gleichwohl kommt es bei hohen Dosen initial zu einer psychischen Stimulation mit Euphorie, später zu Sedierung und depressiver Verstimmung, Halluzinationen, Agitation und Angstzuständen bis hin zu zerebralen Krampfanfällen. Eine Tachykardie (in hohen Dosen Bradykardie) und zunächst Hyper-, später dann Hypotension begleiten die psychischen Symptome. Dazu sind dann Pharyngitis, Bronchitis und (in extrem hohen Dosen) Atemdepression beschrieben worden. z Langzeitkonsum Bei regelmäßigem Konsum kommt es immer seltener zur Euphorie, dafür aber zu psychischen Entzugserscheinungen wie innere Leere, Nervosität, Konzentrations- und Antriebsstörungen, Unruhe, Fahrigkeit und Schlafstörungen (Kouri u. Harrison 1999). Körperliche Entzugssymptome sind unspezifisch und rechtfertigen nicht die Annahme physischer Abhängigkeit. Gesundheitliche Probleme entstehen eher durch das Rauchen (Lungenschäden durch Teergehalt). Eine klinisch fassbare psychische Abhängigkeit ist nicht die Regel, sondern tritt nur bei einem kleinen Teil der Konsumenten auf (Täschner 2002). Die bleibenden Veränderungen mit Kritik- und Urteilsschwäche sowie einer veränderten Bedürfnislage hielt Vierth (1967) für den Ausdruck eines organischen Psychosyndroms mit egozentrischem Denken und Erleben. Nach längerem Konsum sind schlechtere Lern- und Gedächtnisleistungen typisch. Es kommt zur reversiblen Abnahme der Sexualfunktion (verminderte Testosteronproduktion und Spermienzahl bei
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Männern und im Tierversuch Hodenverkleinerung; bei Frauen sind LH und FSH vermindert und der Menstruationszyklus unregelmäßig). Das Immunsystem zeigt ebenfalls zellgebundene Veränderungen an den Lungenbläschen, da insbesondere die B-Lymphozyten über viele Ananamid-Rezeptoren verfügen (Rosenkrantz u. Spraque 1975, Nahas 1999). Bis zu 25% der regelmäßigen Cannabisnutzer berichten über unangenehme psychische Nebenwirkungen. Bei Dauergabe toxischer Mengen treten Hyperaktivität, Nervosität und Aggressivität auf. Beim Langzeitmissbrauch kommt es zu Persönlichkeitsveränderungen. In diesem Zusammenhang wird ein „amotivationales Syndrom“ beschrieben, das sich in Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Teilnahmslosigkeit, Verlust an Aktivität und in Gleichgültigkeit gegenüber den Anforderungen des Alltags äußert, dazu kommt eine allgemeine Antriebsverminderung und herabgesetzte Belastbarkeit. Dies kann auch nach Absetzen der Cannabiniode über mehrere Wochen anhalten. Vegetative Symptome wie Schlafstörungen und Appetitmangel, deren gesundheitliche Risiken höher als beim Raucherentzug bewertet werden (Kouri u. Harrison 1999), runden das Bild ab. z Sonstiges Atypische Rauschverläufe sind nicht primär dosisabhängig und vom Betreffenden auch nicht weiter zu beeinflussen. Insbesondere beherrschen negativ erlebte und als bedrohlich empfundene Körpersensationen das Bild. Aus atypischen Verläufen können leicht psychotische Entgleisungen resultieren (kurzdauernde Halluzinationen und Wahnvorstellungen). Wie bei den Halluzinogenen kann es zu Nachhallphänomenen (Flashbacks) kommen, was in der Rechtssprechung z. B. bei der Frage der Fahrtauglichkeit durchaus eine Rolle spielt. Medizinisch wird das Auftreten von Flashbacks bei Cannabiskonsumenten bezweifelt, da sie vor allem dann vorkommen, wenn auch Halluzinogene konsumiert wurden. Bereits Tennant und Groespeck (1972) untersuchten Cannabiskonsumenten, die schizophrenieähnliche Symptome zeigten. Dabei handelte es sich vor allem um Patienten, die 25–200 g Cannabis pro Monat geraucht hatten, einige hatten auch andere Substanzen wie Alkohol und Amphetamine missbraucht. In einer anderen Studie (Täschner 1983) war der Cannabiskonsum der Untersuchten mit psychotischer Symptomatik mit LSD oder Amphetaminen kombiniert. Während Orientierungs- und Denkstörungen, Wahnsymptome, Halluzinationen, Affekt- und Verhaltensstörungen auch bei anderen substanzinduzierten psychotischen Störungen vorkommen, ist nach Täschner (2002) die Antriebsarmut ausschließlich bei Cannabis-induzierten Psychosen zu beobachten. Einigkeit besteht in der Feststellung, dass Cannabiskonsum das Wiederaufflackern abgeklungener schizophrener Episoden begünstigt, damit das Risiko einer Wiedererkrankung erhöht und den Verlauf schizophrener Störungen ungünstig beeinflusst (Fischer u. Täschner 1991, Linszen u. Dingemans 1994; Martinez-Arevalo u. Calcedo-Ordonez 1994). Eine Krankheitseinheit „Cannabispsychose“ lässt sich als eigenständiges Krankheits-
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bild nicht abgrenzen (Edwards et al. 2006). Cannabis kann allerdings schizophrene Psychosen anstoßen bzw. bei entsprechender Vulnerabilität, z. B. bei einer schizotypen Störung, den Ausbruch psychotischer Symptome befördern (Hall 1998, Arendt et al. 2005; Semple et al. 2005; Barkus et al. 2006). Für die forensische Bewertung allgemein ist das gehobene Selbstwertgefühl mit kreativen, noch nie gedachten Gedanken und dem Gefühl von Leichtigkeit zu berücksichtigen. In den Schilderungen fallen die verzerrten zeitlichen und räumlichen Wahrnehmungen auf. Die Fokussierung auf Nebenreize kann bewirken, dass die Dinge der Umgebung einen neuen Erlebnischarakter annehmen. Akustische Wahrnehmungen werden so mit einem fremdartigen Bedeutungsgehalt gekoppelt (z. B. werden der Musik Aussagen entnommen, die dem neutralen Beobachter nicht zugänglich sind). Das kritisch abwägende Betrachten der Situationen wird beeinflusst, so dass zwischen der subjektiv eingeschätzten Leistungsfähigkeit und den objektiv gegebenen Möglichkeiten eine Lücke klafft (Hall u. Solowij 1997, Solowij 1998).
Sedativa, Hypnotika und Anxiolytika (ICD-10 F13.x) z Charakteristika und Vertreter Beruhigungs- oder Schlafmittel können leicht legal beschafft werden. Die wichtigste Gruppe bilden die Benzodiazepine. Es gibt heute ein breites Spektrum kurz, mittel und lang wirkender Substanzen. Außer in der Psychiatrie finden Benzodiazepine breite Verwendung – verordnet oder nicht – bei den verschiedensten psychischen und körperlichen Beschwerden, u. a. auch als Bei- oder Ersatzkonsum (Herbst 1996). Die Einnahme erfolgt überwiegend oral als Tablette, ggf. auch i.v. als aufgelöste Tablette oder Injektionslösung. Außer zur Selbstbehandlung von Schlafstörungen oder Missbefindlichkeit werden Benzodiazepine auch zur Überbrückung bei Opiatabhängigkeit eingesetzt oder zum „Runterkommen“ nach Gebrauch von Stimulantien, Halluzinogenen oder Entaktogenen. Die einzelnen Benzodiazepine unterscheiden sich aufgrund der chemischen Struktur und der Metabolisierungswege in Wirkstärke und Pharmakokinetik (Benkert u. Hippius 2005). Trotz erheblicher quantitativer Unterschiede (Tagesdosen von 4 mg bei Alprazolam bis 40 mg und mehr bei Diazepam) zeigen sie ein ähnliches Wirkspektrum. Sie haben im Gegensatz zu den Barbituraten eine große therapeutische Breite und kaum eigentlich narkotisierende Eigenschaften. Je nach Präparat setzt die Wirkung innerhalb weniger als 30 Minuten ein und hält je nach Halbwertszeit einige Stunden an. Bei langer Halbwertszeit kommt es zur Kumulation im Körper und auch zu typischen Hang-over-Effekten. Die Toleranzentwicklung kann speziell bei den Benzodiazepinen zu Dosierungen führen, die das 20- bis 50 fache der therapeutischen Dosis betragen.
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z Nachweis Die Benzodiazepine können allgemein einige Stunden bis Tage im Blut nachgewiesen werden, nach Einnahme geringer Mengen bis 3 Tage im Urin und nach Langzeiteinnahme bis zu 4–6 Wochen. Ein negatives Ergebnis im Benzodiazepin-Gruppentest, der für die klassischen Benzodiazepine ausgelegt ist (Diazepam und Oxazepam), schließt andere Benzodiazepine nicht aus (z. B. Clonazepam und Flunitrazepam). Allgemein lassen sich Barbiturate im Blut in Zeiträumen von einigen Stunden bis Tagen, im Urin ca. 24 Stunden (kurz wirksame) bis zu 3 Wochen (lang wirksame) nachweisen. Die Erfassungsgrenze liegt bei Barbituraten um 1,5 mg/l, bei Benzodiazepinen um 150 lg/l. z Pathophysiologische Wirkweise Die Wirkung wird über spezifische Benzodiazepin-Rezeptoren (x-Rezeptoren) vermittelt (Möhler 2005), welche die GABA-Rezeptoren der Nervenzellen, z. B. im limbischen System, modulieren. GABA ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter des Nervenssystems. Durch die Benzodiazepine wird die Affinität dieser GABA-Rezeptoren für ihren Transmitter erhöht, was letztlich eine schnellere Hyperpolarisation der Zelle und damit eine Abnahme der Signalübertragung zur Folge hat. Benzodiazepine wirken nicht als direkte Agonisten. z Psychische Wirkungen Durch inhibitorische Effekte wirken sie anxiolytisch, sedierend bis hypnotisch (Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, geminderte Auffassungsgabe); bei Kumulation sind die Symptome verstärkt. Subjektiv erlebte Leichtigkeit, ohne dass der Realitätsbezug dabei verloren geht; und eingeschränktes Reaktionsvermögen beeinflussen u. a. bei der Fahrtüchtigkeit. Durch rasche Anflutung ist eine anterograde Amnesie möglich. Werden über längere Zeit hohe Dosen konsumiert, kann dies dysphorische Verstimmungen, Vergesslichkeit und allgemeine Leistungsminderung provozieren, dann auch mit vermehrter Aggressionsbereitschaft (Prentky 1985). Gerade bei älteren Menschen werden unter hohen Dosen paradoxe Wirkungen beschrieben (Agitiertheit, Euphorie, Erregungszustand, Schlaflosigkeit und aggressives Verhalten). z Körperliche Wirkungen Benzodiazepine sind muskelrelaxierend und -entspanned sowie antikonvulsiv, was mitunter ataktische Beschwerden bis Sturzgefahr und dysarthrische Symptome bedingt; bei hohen Dosierungen kommt es zum Blutdruckabfall und zur Atemdepression, bei Kumulation herrscht eine pharmakologisch durch motorische Verlangsamung bedingte Apathie vor. z Intoxikation Eine Intoxikation findet sich meist in Kombination mit anderen sedierenden Mitteln (Alkohol, Opiate) und äußert sich durch eine nicht durch
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Außenreize zu durchbrechende Apathie bis hin zur Bewusstseinstrübung (Somnolenz bis Koma); muskuläre Schwäche mit Hyporeflexie, Dysarthrie, Ataxie und Nystagmus; Schwindel und Übelkeit, Hypotension mit begleitender Tachykardie sowie Atemdepression (was eher in ein Krankenhaus als zu strafbaren Handlungen führt). z Langzeitkonsum Entzugssyndrome können wegen langer Halbwertszeiten (z. B. bei Diazepam) mit einiger Verzögerung einsetzen. Sie sind gekennzeichnet durch besondere Irritierbarkeit, Angst, Unruhe und vegetative Symptome (Schwitzen, Tremor, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen), selten Depersonalisations-/Derealisationsphänomene im Entzug, Verwirrtheitszustände, Delire und Krampfanfälle (noch nach 2–3 Wochen Karenz). z Sonstiges Nicht alle sedierenden Wirkstoffgruppen wurden hier berücksichtigt. Nicht unerwähnt sei, dass es neben rezeptpflichtigen Substanzen eine Reihe freiverkäuflicher Stoffe gibt, die gleichsam zum Missbrauch oder ggf. zu einer Abhängigkeitsentwicklung führen können. Hingewiesen sei z. B. auch auf die Schmerzmittel. Die Symptomatik ist aufgrund der unterschiedlichen Wirkweise der Substanzen verschieden. Allgemein finden sich nach Auslassen der Einnahme unspezifische neurologische Symptome wie Schwindel, Gangunsicherheit und Dysarthrie, Schlafstörungen, reduzierte Leistungsfähigkeit, leichte Reizbarkeit und ängstlich-depressive Verstimmung. Zu den opioidhaltigen Schmerzmitteln siehe Abschn. „Opioide“.
Kokain (ICD-10 F14.x) z Charakteristika und Erscheinungsformen Kokain ist ein Methylesther des Benzoylecgonins. Die Substanz liegt meist als Hydrochlorid vor. In dieser Form ist Kokain wasserlöslich, farb- und geruchlos und bitterschmeckend (Koks, Koka, Schnee, Puder, Coke, Kola, Weißes) und wird üblicherweise geschnupft oder injiziert (siehe Tabelle 3.4). In geringen Mengen führt oral aufgenommenes Kokain zu Rauschzuständen, in höherer Dosierung oder bei rascher i.v.-Gabe zu Vergiftungserscheinungen. Lokal angewandt hat es anästhesierende Effekte. Die Einzeldosis liegt bei 50–200 mg, wobei es sich dann lediglich um 20–50 mg Reinsubstanz handelt und nur 20–30% wegen Gefäßverengung beim Schnupfen resorbiert werden. In Einzelfällen werden Dosierungen um 1000 mg mit Tagesmengen über 5–10 g angegeben. Zum Rauchen eignen sich die Basen Freebase (Kokainbase, die durch Erhitzen von Kokainhydrochlorid in Salmiakgeist entsteht) und Crack (Kokain-Hydrogencarbonat, das durch Aufkochen von Kokainhydrochlorid mit Natriumhydrogencarbonat wesentlich einfacher und ungefährlicher als Freebase herzustellen ist). Durch Verbrennen geht ein Teil verloren; nur
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Tabelle 3.4. Kokain – Applikation und Wirkungseintritt Applikation
Wirkungseintritt
Wirkungsdauer
Wirkung
Rauchen Injizieren
Sofort i.v. nach 30–60 s, s.c. nach 5–10 min
Nasal
nach 1–2 min
Sehr intensiv i.v.-„Flash“ (danach noch für 45–90 min), s.c. weniger intensiv Intensiver Rausch
Oral
3–5 min
5–10 min Nach 5–10 min verschwindet euphorische Wirkung 10–30 min (selten 60 min) 45–120 min
Mild euphorisch
6–32% werden resorbiert. Die Wirkung setzt unmittelbar ein, und der euphorische Rausch dauert ca. 5–10 Minuten. Die Kokainbase hat ein hohes Suchtpotential (Gold et al. 1992; Daunderer 1994; Julien 1997; Haasen 1998; Täschner 2002). Darüber hinaus gibt es Kokainsulfat und Cocapaste. Kokain wird häufig mit Heroin gemischt und als sog. „Cocktail“ oder „Speedball“ i.v. injiziert (Tabelle 3.4). Der Gehalt an Kokain in den einzelnen Gemischen schwankt – anders als z. B. beim Heroin – beträchtlich und kann bei „Straßenkoks“ u. U. nur noch 10% oder weniger betragen (Iten 2001). Preis und Reinhaltsgehalt korrelieren dabei weniger miteinander als vielmehr mit der Position innerhalb der Handelskette. Gestreckt wird das Gemisch z. B. mit Lactulose, anderen Zuckern/Stärke, aber auch mit Lidocain, Phenacetin, Koffein, Benzocain und Paracetamol, Ibuprofen, Acetylsalicylsäure, Ascorbinsäure, sogar mit Amphetamin, Ephedrin, Methamphetamin, Pholedrin, Ketamin und Atropin. z Nachweis Kokain erreicht schnell seine maximale Plasmakonzentration, bevor es über die Niere ausgeschieden wird. Die Halbwertszeit im Plasma liegt zwischen 30 und 90 Minuten. An nachweisbaren Stoffwechselprodukten entstehen Benzylecgonin, Benzylnorecgonin, Ecgonin und Ecgoninmethylester. Kokain wird auch unverändert ausgeschieden (bei hohen Einzeldosen steigt die Rate des unverändert ausgeschiedenen Kokains von 20% auf bis zu 54% an). Im Blut kann Kokain 1–2 Stunden und Benzoylecgonin 2–3 Tage nachgewiesen werden, im Urin ist Kokain einige Stunden und Benzoylecgonin bis zu 3 Tage (bei chronischem Konsum 15–22 Tage) nachweisbar. Der Schwellenwert im Blut liegt um 75 g/ml, im Urin um 300 ng/ml. In den Haaren (je nach Länge) kann der Nachweis positiv sein, wobei sich Aussagen über Konsumverhalten, Menge und Häufigkeit daraus nicht ableiten lassen. z Pathophysiologische Wirkweise Kokain hemmt aufgrund der chemischen Struktur die Rückresorption adrenerger Transmitter in die präsynaptisch sympathische Nervenendi-
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gung. Es kommt deshalb im synaptischen Spalt zum Konzentrationsanstieg von Dopamin und Noradrenalin (auch von Serotonin) mit erhöhter adrenerger Erregung (erhöhter Sympathicotonus) insbesondere im Nucleus accumbens und im Neostriatum (Belohnungssystem), stärker als in anderen dopaminergen Neuronengebieten (Peterson et al. 1990; Schwarting 1997). Die Blockade der Rückresorptionen geht letztlich mit einer Erschöpfung der Reserven in der Präsynapse einher, was nach längerem Konsum die gegenläufigen Effekte wie Ermüdung bis hin zur Leistungsinsuffizienz erklärt. Diese subjektiv belastend erlebten Folgen begründen meist den erneuten Gebrauch, was sich letztlich nach kurzer Zeit in einer psychischen Abhängigkeit niederschlägt. z Psychische Wirkungen In geringen Mengen wird ein Gefühl erhöhter Leistungsfähigkeit, Stärke und Wachheit beschrieben; Müdigkeit, Schlafbedürfnis und Hunger treten in den Hintergrund; die Stimmung wird angehoben, der Antrieb gesteigert; bei nachweisbar vermehrter Ausdauer und Belastbarkeit erschöpfen sich die psychischen Reserven dann doch. Überdosierungen führen zu Angstund Erregungszuständen. z Körperliche Wirkungen Motorische Aktivität, Körpertemperatur, Blutdruck und Puls sowie Atemfrequenz steigen; die Pupillen sind erweitert (Mydriasis); bei höheren Dosen treten zusätzlich Koordinationsstörungen oder Krampfanfälle auf. z Intoxikation Durch die zentrale Sympathikusstimulation kommt es zu starken sympathikoadrenergen und vegetativen Effekten, in der Regel biphasisch (Preuss et al. 2000): 1. Phase: psychisch mit Euphorie, Unruhe, Reizbarkeit, allgemeiner Agitation; körperlich mit Pupillenerweiterung (Glanzauge), Kälteschauern mit Zähneklappern, Speichelfluss, quälendem Brennen, Schluckbeschwerden, Stenokardien, Tachykardie, Gesichtsrötung, Schwitzen, Hyperventilation, Temperatur- und Blutdrucksteigerung. Danach folgt die 2. Phase: mit Hyporeflexie, Anhedonie, gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit und Erbrechen), Gefäßkonstriktionen und Hypertension (+50 mmHg), Hyperglykämie und Laktatacidose, u. U. Rhabdomyolyse u. a. Systemkomplikationen als Folge der Hypertension oder der Gefäßkonstriktion in verschiedenen Stromgebieten (Leberzellnekrose, eosinophile Myokarditis, Gerinnungsstörungen, Zentralarterienverschluss der Retina oder intrakranielle Blutungen); es folgen Krampfanfälle und primitive Bewegungsautomatismen sowie psychoseähnliche Erlebnisse. Die Erregung geht ohne eigentliches Rauschstadium in ein delirantes Bild bis hin zur Bewusstlosigkeit über. Beim Kokainschock handelt es sind um eine dosisunabhängige Überempfindlichkeitsreaktion mit Unruhe und Angst, psychomotorischer Erre-
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gung, abrupt hypotoner Kreislaufregulation sowie Bewusstseinstrübung bis hin zum Koma. z Langzeitkonsum Der tradierte Gebrauch hat psychische und physiologische Auswirkungen, die nach Absetzen oder Reduktion als Entzugssymptomatik eingeordnet werden: dysphorische Stimmung, Müdigkeit, lebhafte unangemessene Träume, Schlaflosigkeit oder Hypersomnie, Appetitsteigerung, psychomotorische Verlangsamung oder Unruhe, depressive Symptome mit Suizidideen oder suizidalem Verhalten. Nach längerem Gebrauch können Gedächtnisund Konzentrationsstörungen auftreten. Ein körperliches Entzugssyndrom ist nicht belegt (Böllinger et al. 1995; Julien 1997). Allerdings finden sich typische Schleimhautschäden (bis hin zur Septumerosion) und kardiotoxische Symptome. z Sonstiges Für die forensische Beurteilung ist es im Einzelfall hilfreich, sich bei der Einschätzung der Kokainwirkung die Stadien des Kokainrauschs nach Joel und Fränkel (1924) zu vergegenwärtigen: z Euphorisches Stadium. Je nach Applikationsweise treten innerhalb weniger Minuten erste Veränderungen auf. Das Umfeld wird bei gehobener Stimmung positiv erlebt. Es kommt zu einer Steigerung des Selbstwertgefühls, einer Beschleunigung des Denkablaufes, der Sinneswahrnehmung, Kreativität und Libido bei gesteigerter motorischer Antriebslage. In diesem Zusammenhang gehen Hemmungen verloren. Mitunter kann es zu flüchtigen Halluzinationen oder häufigeren Pseudohalluzinationen mit erhaltener Realitätskontrolle kommen. z Rauschstadium. Bei höheren Dosierungen treten nach 20–60 Minuten illusionäre Verkennungen und weitere Pseudohalluzinationen hinzu. Es kann aber auch zu echten optischen und akustischen Fehlwahrnehmungen kommen (drohende und schimpfende Stimmen) i. S. eines paranoid-halluzinatorischen Syndroms mit Beziehungsideen und eigenbezüglichem Erleben. Manchmal werden taktile Halluzinationen in Form kleiner Tiere und winziger Objekte auf der Haut beschrieben. Es werden Synästhesien berichtet, ähnlich wie bei Cannabisrausch, LSD und Meskalin. Diese Symptomatik kann bei entsprechender Dosierung in eine „Intoxikationspsychose“ münden. Bewusstseinsveränderungen im Rauschstadium sind nicht zwingend. Bei fehlenden schweren Bewusstseinsstörungen besteht keine Erinnerungslosigkeit für diese Zeit. z Depressives Stadium. Nach Erschöpfung der Transmitterreserven stehen Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Passivität im Vordergrund. Antriebsschwäche, bis hin zu stuporösen Zustandsbildern, wird von Schuldgefühlen und
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Niedergeschlagenheit begleitet, was auch zu Suizidgedanken und -versuchen führen kann. Mitunter wird die Frage nach einer Kokainpsychose aufgeworfen. Erstmals wurden von Thomson 1887 paranoide Wahnzustände und Zwangssymptome beschrieben. Charakteristisch sind die taktilen Mikrohalluzinationen oder Wahrnehmungsstörungen bei zunächst intakter Realitätskontrolle (d. h. die Betreffenden wissen, dass die Halluzinationen durch die Substanz bedingt sind und nicht der äußeren Wirklichkeit entsprechen), die dann aber i. S. einer psychotischen Dekompensation verloren gehen kann. Zum Phänomen der Kokainpsychosen gehören auch substanzinduzierte Delire, affektive Störungen sowie Angst-, Sexual- und Schlafstörungen.
Andere Stimulantien (ICD-10 F15.x) z Charakteristika Es handelt sich u. a. um chemische Abkömmlinge des Adrenalin bzw. des Ephedrin (Weckmittel, Weckamine). Neben einer Reihe von synthetischen Substanzen (z. B. Amphetamin, Methylphenidat) gehört dazu auch das Cathinon, das im Kaht enthalten ist (siehe Abschn. „Sonstiges“). Durch Veränderungen am chemischen Grundgerüst verschwimmen die Grenzen zu anderen Substanzklassen. Aus Phenylethylamin ergeben sich drei unterschiedliche Wirkgruppen: 1. Psychostimulantien ((Meth-)Amphetamine), 2. Entaktogene (MDA, MDMA, MDE) und 3. Halluzinogene (DOM). Die Gruppen 2 und 3 werden unter den synthetischen Halluzinogenen weiter beschrieben. Gerade Stimulantien verfügen über eine schwer zu überschauende Begrifflichkeit und Kombinationsvielfalt. Amphetamine gibt es als Speed (Mischung aus Amphetamin, Methampethamin, Ephedrin, Koffein und Verschnittstoffe). Crystal ist Speed mit hohem Methamphetamingehalt; Methamphetamin wird als Crystal, Yaba, Perlik, Piko, Crank, Crystal-Speed, Ice, Glass, Arbeiterkoks, Black Beauty, Cappies, Crank, Free Base, Pep, Peppers, Pink, Power, Uppers, „Vitamin A“ angeboten. Der Wirkstoffgehalt der festgestellten Gemische sinkt seit Jahren (Zerrell u. Thalheim 2008), wobei der Amphetamingehalt gegenwärtig bei 6,2% angegeben wird. Zugesetzt werden Koffein und Salicylsäure, verschnitten wird mit Laktose (49%), Kreatin (4,7%), Glucose (2,9%), Kreatinin (2,5%), Mannit (2,2%), Mehl (1,6%) oder Saccharose (1,1%). z Vertreter z Amphetamin wird als Pulver oder Tablette geschluckt, geschnupft, auf die Mundschleimhäute gerieben oder i.v. injiziert. Tagesdosen liegen zwischen 5 und 40 mg. Dosierungen ab 50 mg gelten als sehr hoch. z Methamphetamin, das im Vergleich zum gestreckten Amphetamin in der Regel einen höheren Reinheitsgrad um 80–90% besitzt, wird als weißes
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oder eingefärbtes kristallines Pulver überwiegend geschnupft, als Tablette oder Kapsel geschluckt oder als Methamphetamin-Base „Ice“ geraucht. Es ist lipophiler als Amphetamin, wodurch es schneller im Gehirn anflutet (intensiver im Beginn) und länger verfügbar bleibt. Nasale Applikation oder Rauchen zeigen umgehend psychotrope Effekte (< 1 min). Bei oraler Aufnahme setzt die Wirkung nach ca. 30–60 min ein. Die Wirkungsdauer wird bei niedriger Dosis mit 4 Stunden, bei höheren Dosen mit bis zu 20 Stunden angegeben. Amphetamin wird nach Resorption rasch im Körper verteilt. Die höchste Konzentration findet sich in Nieren und Lunge, hohe Konzentrationen im Gehirn und in der Leber, die geringsten Werte im Serum und im Fettgewebe. Das Verhältnis von Plasmakonzentration zu Gewebekonzentration im Gehirn liegt bei etwa 1 : 7, was über Stunden hinweg konstant bleibt. Die Halbwertszeit beträgt etwa 6 Stunden. z Nachweis Ca. 35% werden unverändert ausgeschieden, wobei der Anteil der unveränderten Substanz umso größer wird, je saurer der Urin ist. Mit relativ geringem Aufwand lassen sich die Amphetamine z. T. halbquantitativ noch bis drei Tage nach dem letzten Konsum nachweisen. Für Amphetamine beträgt der Schwellenwert im Urin 1000 lg/l, im Serum ca. 300 lg/l (Külpmann 2003). Speed (Amphetamin) ist 6 h im Blut und 1–4 Tage im Urin nachweisbar (Ausscheidung stark pH-Wert abhängig). Crystal (Methamphetamin) kann im Blut einige Stunden, im Urin 1–2 Tage bis zu einer Woche gefunden werden. z Pathophysiologische Wirkung Strukturell dem Dopamin ähnlich, kommt es durch Amphetamin zur Freisetzung von Noradrenalin und Dopamin aus den Speichern adrenerger präsynaptischer Nervenendigungen. Die Rückaufnahme der Amine wird gehemmt. Amphetamin bindet auch an den postsynaptischen Rezeptoren der adrenergen Neurone, und der Metabolismus der Amine durch die MAO wird verzögert. Damit kommt es zu einem Konzentrationsanstieg der Transmitter im synaptischen Spalt. Amphetamin ist deshalb ein indirektes Symphatikomimetikum. Bei hohen Dosen wird außerdem vermehrt Serotonin freigesetzt (Johnson et al. 2005). z Psychische Wirkungen In niedriger Dosierung (5–20 mg) bewirken Amphetamin und Methamphetamin Euphorie, Rededrang, gesteigertes Selbstvertrauen, „entspannte Aufmerksamkeit“ sowie eine Unterdrückung von Schlafbedürfnis (ohne vermehrte innere Erregung wie beim Konsum größerer Mengen koffeinhaltiger Getränke). Die Betreffenden erleben sich wach und subjektiv leistungsstärker. Die Antriebslage ist mit vermehrter Initiative und Aktivität gesteigert. Tatendrang, Unternehmungslust und Spontaneität prägen das Verhalten. Allerdings nimmt die objektivierbare Qualität der Leistungen deutlich
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ab, was von den Betreffenden nicht wahrgenommen wird. Eine distanzierte Selbsteinschätzung ist erschwert, der Realitätsbezug aber nicht gestört. Bei chronischer Einnahme herrscht eine gehobene Stimmung vor, und die Zeit wird verkürzt erlebt. z Körperliche Wirkungen In niedrigen Dosierungen wirken die Amphetamine blutdrucksteigernd, pulsbeschleunigend und antiasthmatisch (Dilatation der Bronchien). Sie zügeln den Appetit, die Körpertemperatur steigt. In mittleren bis hohen Dosen beschleunigt sich die Atmung, die Berührungsempfindlichkeit wird stärker, Zittern und Unruhe fallen auf, und es kommt zu ausgeprägten Erregungszuständen. Durch die Stimulation der Großhirnrinde wird die Krampfschwelle herabgesetzt. z Intoxikation Da den Konsumenten die Reinheit des Produkts nicht bekannt sein dürfte, kommt es leicht zu Überdosierungen, in deren Folge dann auch Aggressionen mit Gewalttätigkeiten auftreten können. Selten sind diese durch Halluzinationen oder ein Verfolgungserleben provoziert. Eindrücklicher sind eher die Vergiftungserscheinungen, die sich klinisch in vier Schweregrade einteilen lassen: 1. Unruhe, Irritabilität, Insomnie, Tremor, Hyperreflexie, Mydriasis, Flash; 2. Hypertonie, Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Hyperpyrexie, Verwirrtheit; 3. Delir, psychotische Symptome mit Sinnestäuschungen, Angst, Agitation; 4. Krampfanfälle, Koma, Herz-Kreislauf-Versagen (weitere Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe/Tenesmen, Vasospasmen mit Gefahr der Infarzierung wichtiger Organe). z Psychotische Erlebnisphänomene werden in Form von symptomatischen paranoid-halluzinatorischen (Angst-) Syndromen, als Syndrome der ekstatisch gesteigerten Wahrnehmung und als dysphorisch-depressive Zwangssyndrome beschrieben. Diese besitzen Ähnlichkeit mit dem Alkoholdelir oder mit Psychosen bei Kokainkonsum. Thematisch geht es um Eifersuchts-, Verfolgungs- und Beeinträchtigungsideen verbunden mit halluzinierten Druckwahrnehmungen kleinster, meist lebender Objekte auf und in der Haut. Bei chronischen Verläufen ist auch an eine entsprechende Vulnerabilität für schizophrene Erkrankungen zu denken. z Langzeitkonsum Amphetamine besitzen ein hohes psychisches Abhängigkeitspotential mit ausgeprägter Toleranzentwicklung (durch Down-Regulation der Rezeptoren). Beim Entzugssyndrom herrschen die Zeichen der verminderten katecholaminen Transmission vor, mit depressiver Verstimmung oder Stimmungsschwankungen, Erschöpfung, Rebound-Hypersomnie, Hyperphagie, Angst- und Erregungszuständen. Die Symptome halten nicht selten im Sinne eines prothra-
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hierten Entzugssyndroms mehrere Wochen, selten Monate, an. Eigentliche körperliche Entzugserscheinungen fehlen (Rapeli et al. 2005). Oftmals werden Stimulantien zum Ausgleich von Nebenwirkungen anderer Drogen verwendet, wie Erschöpfung, Müdigkeit und Lethargie bei Cannabis, Halluzinogenen oder Opioiden. In den Anamnesen von polytoxikomanen Probanden findet sich dann häufig der sporadische Gebrauch von Speed im Sinne eines Austitrierens subjektiver Befindlichkeit. z Sonstiges Khat (abessinischer Tee oder Kat, Qat, Quat, Qad, DMG, Gat, Chat oder Miraa) findet in Deutschland bisher wenig Verbreitung, wenn es auch ein wichtiges Transitland zwischen den Niederlanden und Skandinavien ist. Die Blätter des Strauchs werden gekaut („Tennisball“ in Backen schieben). Ein Kilogramm (60–200 1 /kg) enthält ca. 1–3 g Cathinon, Cathin (Norephedrin) und Cathidin. Über die Schleimhaut wird das Cathinon resorbiert, so dass nach 10 (2–30) min mit einem Wirkungseintritt zu rechnen ist, was bis ca. 30 min bis 2 h nach Ende des Gebrauchs anhält (Halbwertszeit 4 h). Der Genuss süßer Getränke oder Tabakkonsum verstärken die Wirkung. Die sympathikomimetische Wirkung erklärt sich pathophysiologisch aus der Katecholaminausschüttung der Präsynapse. Als Wirkung wird ein allgemeines Wohlgefühl beschrieben. Die Konsumenten erleben sich angeregt und fröhlich, was sich u. a. in einem starken Mitteilungsbedürfnis äußert. Müdigkeit und Hungergefühl sind herabgesetzt. Erst in größeren Mengen treten Müdigkeit und Benommenheit auf. Vergiftungserscheinungen sind dann auch Magenkrämpfe, Erbrechen und Kreislaufkollaps. Der Langzeitgebrauch geht einher mit Schlafstörungen, Impotenz, KHK und (im Tierversuch mit Ratten und Affen) mit aggressivem Verhalten. Physische Abhängigkeiten sind nicht bekannt.
Halluzinogene (ICD-10 F16.x) z Allgemeine Charakteristika Unter diesem Begriff werden eine ganze Reihe chemisch unterschiedlicher Substanzen zusammengefasst, die das Wahrnehmen und Erkennen (optisch, akustisch, taktil) beeinflussen. Rauschassoziiert kann es zu Verhaltensauffälligkeiten kommen. Es gibt natürliche Halluzinogene (Meskalin, Psylocibin, Bufotenin, Scopalamin, Atropin, Tonga, Toloachi, Datura, Harmin, Banisterin, AIbogain, Ergotamin) und synthetische Substanzen (Serotoninderivate: LSD, DMT, DET; Katecholaminderivate: MDMA, MDE, DMA, MDA, MMD, DOM, TMA – auch als Entaktogene bezeichnet; Piperidylester: JB 318; Phencyclidine: PCP) In Abhängigkeit von dem spezifischen Wirkort der jeweiligen Substanz werden die Halluzinogene nach Ihrer Struktur in drei Gruppen unterteilt (Julien 1997):
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1. anticholinerge Stoffe (z. B. Alkaloide der Nachtschattengewächse wie Atropin, Scopalamin und Hyoscyamin) – sie zeichnen sich durch eine starke peripher-anticholinerge und z. T. toxische Reaktion aus; 2. Katecholamin-verwandte Substanzen (u. a. Mescalin); 3. Serotonin-verwandte Substanzen (z. B. Lysergsäurediethylamid – LSD). Dazu kommt eine 4. Gruppe, die so genannten Designerdrogen, wobei es strukturell Überschneidungen gibt. Da sie gerade in den letzten Jahren eine wachsende Bedeutung erlangt haben und in ihrem Wirkungsprofil ein Spektrum aufweisen, das je nach chemischer Struktur zwischen den Stimulantien und den Halluzinogenen liegt, werden sie gesondert aufgeführt. z Allgemeine pathophysiologische Wirkung Gemeinsam weisen die Halluzinogene strukturelle Ähnlichkeiten mit dem Serotoninmolekül auf und haben dementsprechend eine zentral serotonerge Wirkung u. a. im dorsalen Raphekern. Mit dem partiellen Agonismus (insbesondere 5-HT2 und 5-HT1a) manifestieren sich bereits in sehr geringen Dosen (75 lg) psychotische Phänomene. Es kommt zu Störungen von Stimmung, Denken, Wahrnehmung, Ich-Erleben, Zeit- und Raumerleben mit rauschartigen Bewusstseinsveränderungen, die von optischen und akustischen Illusionen bzw. Halluzinationen begleitet werden. Die Ausgestaltung des Rauschzustandes ist auch vom Setting abhängig. Schnell bildet sich eine Toleranz aus, die nach Absetzen reversibel ist. Physische und psychische Abhängigkeit sind selten. Gefährlich sind Horrortrips mit suizidalen bzw. fremdaggressiven Impulsen sowie Flashback-Phänomene noch nach Monaten. Somatisch kommt es zu Pupillenerweiterung, Nickhautkontraktionen, Piloerektion und Temperaturanstieg. Im EEG verschwinden die langsamen Wellen, und neurologisch ist eine Steigerung monosynaptischer Spinalreflexe zu beobachten. z Nachweis der Halluzinogene LSD, Meskalin und Psilocybin liegen in ihren Wirkmengen im Mikrogrammbereich und erreichen in den Körperflüssigkeiten nur extrem niedrige Konzentrationen. Dadurch gelingt der Nachweis chromatographisch oder enzymimmunologisch nur schwer. Der Schwellenwert im Serum liegt für LSD bei 0,5 ng/ml und ist bis zu 12 Stunden nach Einnahme erfolgversprechend. Der Nachweis im Urin mittels Radioimmunoassay kann 1–2 Tage nach Einnahme gelingen. Mit einigem Aufwand ist der Nachweis in den Haaren noch nach Monaten möglich. Meskalin ist 1–4 h nach Konsum nachweisbar. Psilocybin (magische Pilze) wird in den üblichen Drogenscreenings nicht erfasst. Die Substanz kann aber im Blut bis zu 8 h, im Urin bis zu 24 h gefunden werden, die Abbauprodukte bis zu 3 Tage.
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z Natürliche Halluzinogene z 1. Nachtschattengewächse Charakteristika. Sie sind in der heimischen Flora zu finden und enthalten die psychoaktiven Substanzen Atropin, Scopolamin und Hyoscyamin. Vertreter sind u. a. Stechapfel, Engelstrompete, Bilsenkraut, Tollkirsche und Alraune. Sie bewirken ein anticholinerges Syndrom, egal ob man 3–5 Tollkirschen, den Extrakt aus 4 g Beladonnawurzeln, 10–60 ml Tollkirschensaft, Stechapfel- oder bilsenkrauthaltige Tees oder eine genügende Menge von Blättern geraucht hat. Die psychotropen Effekte werden bereits durch kleine Dosen ausgelöst. Die Wirkung setzt nach ca. einer Stunde mit Ziehen und Zittern in allen Gliedern ein. Die Betreffenden fühlen sich leicht und entwickeln das Gefühl inneren Glücks und vollkommener Zufriedenheit. Danach treten Halluzinationen und Illusionen auf. Atypische Verläufe sind durch Erregungszustände gekennzeichnet. Psychische und physische Wirkungen. Zunächst kommt es zu einer Pupillenerweiterung (hält über mehrere Tage an), die durch Lähmung des Musculus sphincter pupillae zustande kommt. Dies wird von Akkomodationsstörungen, Doppelsehen oder auch von vorübergehender Blindheit begleitet. Durch Blockade parasympathischer Nervenleitungen nimmt die Herzfrequenz zu und die Magen-Darm-Motilität und Drüsensekretion ab, so dass es zu dem trockenen Gefühl in Mund und Rachen kommt; Gleichgewichtsstörungen, Muskelzuckungen, Hautrötungen (Kopf- und Halsregion) und schließlich Verwirrtheits- und Erregungszuständen (Tollkirsche) treten gleichfalls auf. Harnsperre und Tachykardie bis hin zu Herzrhythmusstörungen und Kammerflimmern stellen Notfallsituationen dar. Neben erotisch besetzten Sinnestäuschungen beim Atropin wird über die Vorstellung berichtet, sich in eine Tiergestalt zu verwandeln. Im Rauschzustand werden die Betreffenden gesprächig, unruhig und laut erlebt. Müller und Wank (1998) beschrieben „Intoxikationspsychosen“ durch Atropin und Scopolamin, die letztlich von deliranten Syndromen kaum abzugrenzen sind. Die Harminbasen provozieren Halluzinationen (Flammen, Landschaftsbilder, Lichtkreise). Die psychomimetische Wirkung ist an größere Mengen gebunden, während es bei geringem Konsum nur zu Exzitationen der Muskulatur kommt. Von der Engelstrompete werden die oberirdischen Teile der Pflanzen verwandt. Meist genügen 3–4 Blätter oder eine Blüte, um Halluzinationen zu erzeugen. Teilweise werden die getrockneten Blätter auch geraucht, wobei ein etwas leichterer Rausch auftritt. Die Wirkstoffe werden rasch resorbiert, und es kommt nach 30–50 Minuten zu fiebertraumähnlichen Visionen und Illusionen, die sich rasch in Halluzinationen umwandeln. Der Rausch kann von 3 h bis 3 Tage andauern und in ein Delir übergehen. Die Halluzinationen beinhalten erschreckende Erlebnisse. Die Realitätskontrolle geht verloren, weshalb auch selbstzerstörerische Handlungen vorkommen (z. B. „fliegen“ können). Nach einer Erregungsphase mit aggressiven Verhaltensauffälligkeiten folgt ein Dämmerschlaf. Bei höheren Dosierungen und Ver-
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giftungen berichten Betroffene oft von Gedächtnisstörungen, die tagelang andauern. Das Muskarin des Fliegenpilzes wirkt parasympathisch mit Pulsverlangsamung, Pupillenverengung, heftigen Magen-Darm-Kontraktionen, Hyperhydrosis, Gleichgewichtsstörungen, Benommenheit und Sinnestäuschungen bereits durch kleine Dosen (1–2 kleine Pilze) nach ca. 1 Stunde. Erregungszustände sind atypisch. z 2. Meskalin Charakteristika. 3,4,5-Trimethoxyphenylethylamin ist das psychoaktive Alkaloid des Peyote-Kaktus – auch „Mesk“, „Peyote“, „Kaktus“, „Kakteen“ genannt. Es wird gegessen (Köpfe der Pflanzen), getrunken (als Kaktussud/ Tee) oder gekaut (Peyote-Scheiben – „Buttons“). Die Wirkung setzt nach 1–2 h ein und klingt nach ca. 8–12 h ab. Die übliche Dosis für einen Rausch wird mit 500 mg Pflanze angegeben. Obwohl chemisch wenig Verwandtschaft zwischen LSD und Meskalin besteht, ist die Wirkung sehr ähnlich. Meskalin hat aber eine höhere Affinität zum Botenstoff Noradrenalin. Psychische Wirkungen. Der Rauschzustand ist durch Euphorie gekennzeichnet. Eine Verfeinerung des Geruchssinns, eine Intensitätsveränderung der Geschmackswahrnehmung, eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, die neue Qualitäten annehmen können, und Veränderungen der Farbwahrnehmung in Helligkeit und Farbton bestimmen das Bild. Die optische Wahrnehmung des Raumes ändert sich und auch das Empfinden von Gewicht, Form und Lage. Charakteristisch ist das Auftreten von Synästhesien (Töne sehen, Farben schmecken). Behringer beschrieb 1927 eine Veränderung der Bewusstseinslage in der Form, dass einerseits ein abnormes Abstandserleben zwischen dem Ich und dem Bewusstsein vorliege, andererseits ein abnormales Verschmelzungserlebnis, wobei es nicht zu einer Bewusstseinstrübung komme. Die Konzentrationsfähigkeit ist erschwert. Es tritt eine Verminderung des abstrakten Denkens auf und schließlich eine allgemeine Flüchtigkeit der Denkabläufe. Die euphorische Stimmungslage kann bei einem atypischen Verlauf auch plötzlich umschlagen in quälende Angst, Panik, Furcht und Misstrauen. Trotz der veränderten Wahrnehmung ist der Realitätsbezug möglich (Behringer beschrieb dies als besonnentraumhafte Versunkenheit). Körperliche Wirkungen. Entsprechend der anticholinergen Wirkung sind Pupillenerweiterung, Abnahme der Reflexerregbarkeit und Verlangsamung der Atmung zu beobachten. Noch vor Einsetzen der Pseudohalluzinationen gibt es Gleichgewichtsstörungen, wechselnde Pulsfrequenz (Tachykardie oder Bradykardie), Druckgefühl über der Brust, Atemnot, Übelkeit und Brechreiz, erhöhte Schweißabsonderung und vermehrten Speichelfluss. Hunger und sexuelles Verlangen sind herabgesetzt, wobei geringe Menge Meskalin aphrodisisch wirken sollen. Chronischer Meskalinkonsum bewirkt eine schnelle, reversible Toleranzentwicklung. Ein körperliches Abhängigkeitssyndrom bildet sich nicht aus.
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z 3. Magische Pilze Charakteristika. „Zauberpilze“, „Magic Mushrooms“, „Psilos“ gehören zu den Gattungen Psilocybe und Stropharia. Sie enthalten die Alkaloide Psilocybin (4-Phosphoryloxy-N,N-dimethyltryptamin) und Psilocin (4-HydroxyN,N-dimethyltryptamin), das sind Tryptophanabkömmlinge wie auch Serotonin. Die getrockneten Pilze (zeitweise als „Duftkissen“ vertrieben) werden gegessen. Nach ca. 20–30 min setzt die Rauschwirkung ein, erreicht nach ca. 2 h das Maximum und klingt dann innerhalb von ca. 5 h aus. Der Wirkstoffgehalt der Pilze schwankt, auch innerhalb einer Sorte, zwischen 0,1% und 2%. Die Dosisangaben liegen zwischen 10 und 20 mg Wirkstoffgehalt, d. h. zwischen 5 und 10 g frische Pilze entsprechen maximal 20 mg Psilocybin. Die doppelte Dosis, 20 g Pilze, gilt als letal für den Menschen. Psychische Wirkungen. Während es nach oraler Aufnahme von wenigen Milligramm Psilocybin (etwa 4 mg) zu einer subjektiv als angenehm empfundenen geistigen und körperlichen Entspannung kommt, sind bei Dosierungen von 8–12 mg die psychischen Beeinträchtigungen tiefergehend. Die Wirkung ähnelt der des LSD, dauert aber kürzer. Es kommt insbesondere zu optischen Halluzinationen, Farbveränderungen, Stimmungs- und Gefühlsveränderungen. Die Gefahr von Horrortrips ist geringer als beim LSD, aber vorhanden (Panikzustände). Abrupte Stimmungsumschwünge wie bei LSD werden kaum beschrieben. Die Störungen von Zeiterleben und räumlicher Wahrnehmung sind intensiver. Illusionen und Pseudohalluzinationen beherrschen das Erleben. Körperliche Wirkungen. Begleiterscheinungen sind Übelkeit, erhöhter Puls und Blutdruckanstieg, Gleichgewichtsstörungen und im Gegensatz zum LSD eine Verminderung des Antriebsniveaus. Ein Langzeitrisiko besteht bei entsprechender Vulnerabilität in der Triggerung psychotischer Störungen. Eine psychische Abhängigkeit entwickelt sich selten, bereits nach 1- bis 2-maligem Konsum kommt es zur Toleranzentwicklung. Eine physische Abhängigkeit besteht nicht (Geschwinde 2007). z Synthetische Halluzinogene z 1. Serotoninderivate – Lysergsäure-Diethylamid (LSD) Charakteristika. LSD ist ein Mutterkornalkaloid. Es wird oral in Form kleiner, ca. 5 mm2 großer Papiertrips („Trips“, „Micros“, „Acid“, „Pappen“, „Tickets“) aufgenommen, die mit LSD beträufelt sind und 25–250 g Wirkstoff enthalten. Die Schwellendosis von LSD liegt bei 25–50 g. Mikrotabletten haben ca. 250 g und mehr Wirkstoffgehalt. Der Rausch setzt nach ca. 30–60 Minuten ein, was sich bei vollem Magen auch auf 2 h strecken kann. Nach etwa 8–12 h ist die Wirkung abgeklungen. Die Affinität zu Serotoninrezeptoren des Hypothalamus, des Frontalhirns und des Striatums führt zu einer Entkoppelung der kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schleife, die das Gehirn vor Reizüberflutung schützt. Psychische Wirkungen. Im Rausch schwindet die Fähigkeit selektiver Wahrnehmung von Außen- und Innenreizen. Daraus resultieren Reizoffen-
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heit und unkoordinierte bzw. konfuse Interaktionen von Gedächtnisinhalten und aktuellen Wahrnehmungen, was zu ungewohnten und veränderten Wahrnehmungsinhalten führt (McGlothin et al. 1964). Der Schwerpunkt liegt dabei auf optischen Pseudohalluzinationen als farbenprächtige Verzerrungen der Realität, während die akustische Wahrnehmung praktisch unverändert bleibt. Dinge, Farben und Formen, die objektiv nicht vorhanden sind, können als Produkt einer Wahrnehmungsstörung realisiert werden, d. h. dass die kritische Realitätskontrolle – im Gegensatz zu echten Halluzinationen – möglich ist. Mit der Auflösung formaler Denkstrukturen zugunsten assoziativer Gedankenketten kann sich der Sinngehalt der erlebten Umgebung im Gesamteindruck und im affektiven Kontext bizarr verändern (u. a. Proportionen von Raum und Zeit). Verschmelzungserlebnisse mit der Umgebung sind möglich. Dieses „Einssein“ mit der Welt als Auflösung der Ich-Grenzen kann aber auch als „fremdgesteuert“ negativ erlebt werden. Der Wechsel oder das gleichzeitige Auftreten von angstvollen und positiven Empfindungen kann bis zu einer psychotisch anmutenden Symptomatik führen. Die Ausgangssituation vor dem Konsum hat einen wesentlichen Einfluss für das Erlebnismuster und seine Inhalte (Hole 1967). Bei vorbestehender depressiver Verstimmung, Niedergeschlagenheit, Angst oder Trauer kann der LSD-Trip leicht einen atypischen Verlauf nehmen, wenn diese Emotionen wie in einem Vergrößerungsglas intensiviert werden. LSD bewirkt nicht nur eine Veränderung der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch der Informationsverarbeitung, ein ungeordnetes Denken bis hin zum Abbau der abstrakten Denkleistung. Nervosität, Aggressivität, Antriebsstörungen finden sich ebenso wie Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Lienert wies bereits 1959 nach, dass 6–7 h nach Verabreichung von LSD Störungen des Wortzusammenhangs, des Wortschatzes, der Wortfindung, des Zahlengedächtnisses und der Raumvorstellung auftreten. Körperliche Wirkungen. Begleitsymptome sind Anstieg von Atem- und Pulsfrequenz, erhöhte Körpertemperatur, Anstieg des Blutdrucks und des Blutzuckerspiegels, Schwindelgefühle und Benommenheit. Auch bei LSD können erweiterte Pupillen (Verschwommensehen) und mangelnde Koordination sowie Piloerektion hinweisend sein. Intoxikation. Bei Vergiftungen kommen wegen der vorwiegend zentralserotonergen Wirkung die peripheren Intoxikationserscheinungen erst bei sehr hohen Dosen vor. Zu beobachten sind Angst- und Erregungszustände mit optischen und akustischen Sinnestäuschungen, Vigilanzstörungen bis zum Koma, zerebrale Krampfanfälle und vegetativ/neurologisch dann Hyperreflexie, Mydriasis, Anisokorie, Tachykardie, Hypertonie, Tachypnoe, Übelkeit, Erbrechen, Piloerektion und Hyperthermie. Langzeitkonsum. Das Abhängigkeitssyndrom ist vor allem psychisch, mit mäßig ausgeprägter Tendenz zur Dosissteigerung. Neben dem Drang, den Konsum fortzusetzen, werden als psychische Abhängigkeitsphänomene innere Unruhe und Getriebenheit, ängstliche Erregung und Nervosität beschrieben, die tage- bis wochenlang fortbestehen können. Körperliche Entzugserscheinungen gibt es nicht. Zwischen LSD, Meskalin und Psilocybin
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entwickelt sich eine Kreuztoleranz. Flashbacks sind spontan auftretende Episoden von kurzer Dauer, die im Unterschied zum Horrortrip lange nach Absetzen und ohne erneuten Konsum aufblitzen. Das Intervall kann bis zu einem Jahr betragen, weshalb der Begriff der sog. Echopsychosen in der Literatur verwendet wurde (Täschner 2002). Sonstiges. In Stadien aufgeteilt stellt sich der LSD-Rausch nach Wanke und Täschner (1985) so dar: Nach einem Initialstadium (bis etwa 15–45 min) mit Schwindel, aufkommender Angst, Tachykardie, verstärkter Atemtätigkeit und leicht erhöhter Körpertemperatur setzt die Rauschphase ein, die bis 8 h andauern kann. Typische psychedelische Effekte wie Synästhesien, Pseudohalluzinationen, Veränderungen des zeitlichen/räumlichen Erlebens, optische Verzerrungen sowie Störungen der Affektäußerungen und der Koordination bestimmen das Bild. In der Erholungsphase klingt der Rausch innerhalb von mehreren Stunden allmählich ab, und in der Nachwirkungsphase treten depressive Verstimmung, Ermüdung und Erschöpfung oder aber Anspannung und Angst auf. Komplikationen im LSD-Rausch sind psychotische, schizophreniforme Syndrome, paranoide Wahrnehmungs- und Denkstörungen (u. a. Größenideen) und akute paranoide Zustandsbilder, welche die unmittelbare Substanzwirkung überdauern können. Außerdem können depressive und ängstlich-agitierte Zustände, chronische Angstreaktionen, akute Panikzustände mit Tendenz zur Selbstgefährdung, Motivationsverlust, erhöhte Suggestibilität, Derealisation, Depersonalsation und Kritikschwäche beobachtet werden. Als neurologische Komplikation sind Krampfanfälle zu nennen. Nach dem Erlebnisinhalt wird zwischen dem einfachen LSD-Trip und atypischen Rauschverläufen (Horrortrip, Bad Trips) unterschieden (Ungerleider 1968). Letztere sind durch angstbetonte Erlebnisse, bedrohliche Themen wie Tod und Vernichtung, Schuld und Sühne, Qual und Grauen, Verfolgung und Unfähigkeit zur Flucht charakterisiert. Sie sind in ihrer Ausprägung dosisabhängig. Klinisch sind sie durch Verwirrtheit, Verworrenheit des Denkens, delirante Unruhe, Angst und Panikreaktionen bei Verkennung der realen Situation gekennzeichnet und eher selten von lebhaften optischen und akustischen Halluzinationen begleitet. Sie klingen innerhalb von Stunden oder Tagen ab und hinterlassen eine Amnesie für die Dauer der psychotischen Veränderungen. Bei länger dauernden psychotischen Wirkungen mit dem klinischen Bild einer Schizophrenie dominieren ängstliche Verstimmung, Antriebsarmut, Konzentrationsstörungen, Beziehungs-, Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn, innere Unruhe, ambivalentes Gefühlsleben, Denkhemmung und Gefühlsverarmung. Auch hier gilt wie bei den Cannabinoiden, dass bei entsprechender Vulnerabilität eine schizophrene Erkrankung in Gang gesetzt werden kann.
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z 2. Phencyclidin (PCP) Charakteristika. Als „Angel Dust“, „Peacepowder“, „Superweed“, „Wack“ oder „Slumdrug“ ist PCP eine synthetische Substanz, die als weißes Pulver geschnupft oder als Spray appliziert wird. PCP gibt es auch in Tablettenform oder als „Loveleys“ (in flüssiges PCP getunkte Zigaretten). Aufgrund der tranquilisierenden Wirkung zunächst in der Anästhesie eingesetzt, zeigten Patienten nach Abschluss der Narkose ein extremes exzitatorisches Durchgangssyndrom bis hin zu vorübergehend psychotischen Veränderungen. PCP fand dann weite Verbreitung in der Drogenszene. Die Wirkung setzt nach etwa 2–5 min ein, erreicht nach ca. 15–30 min ihren Höhepunkt (nasal 2–5 min, oral ca. 20–30 min) und hält ca. 45–20 min (selten 4–6 h) an. Häufig wird es mit anderen Substanzen wie Marihuana, Meskalin, Psilocibin, LSD, Amphetamin oder Kokain gemischt konsumiert. PCP blockiert den NMDA-Rezeptor (ähnlich Ketamin). Nachweis. PCP kann im Urin 2 bis 4 Tage nachgewiesen werden. Bei regelmäßigem Gebrauch ist es aufgrund der Einlagerung ins Fettgewebe länger nachweisbar. Psychische und körperliche Wirkung. Die Hauptwirkung ist die Provokation von Halluzinationen und Pseudohalluzinationen. Daneben wirkt PCP dosisabhängig stimulierend oder tranquilisierend. Häufiger als andere Drogen führt PCP zu atypischen Rauschverläufen, z. B. Horrortrips, die denen beim LSD-Konsum ähneln. Körperliche Begleitsymptome sind zudem: verengte Pupillen, Anstieg von Blutdruck und Puls, Übelkeit und Erbrechen. Bei Überdosierung besteht die Gefahr tödlicher Atemdepression. Intoxikation. Das klinische Erscheinungsbild ähnelt der Kokainintoxikation. Insbesondere sind Krampfanfälle möglich. Nach anfänglicher Stimulation des Kreislaufs kommt es zu Blutdruckabfall, Narkose und Schock. Bei der Vergiftung mit PCP unterscheiden Smith et al. (1978) vier Stadien: 1. akute PCP-Vergiftung, 2. toxische PCP-Psychose, 3. durch PCP ausgelöste psychotische Episoden, 4. PCP-induzierte Depressionen. Langzeitkonsum. Bei längerem Konsum beklagen die Betreffenden anhaltende Muskelkrämpfe. Es kann zu tagelangen deliranten Zustandsbildern oder schizophreniformen Episoden kommen. Persistierende Sprachstörungen, Abnahme der Gedächtnisleistung und besonders depressive Verstimmungen beherrschen das Bild, was die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit provoziert. Körperliche Entzugssymptome bei Karenz bilden sich nicht heraus. Sonstiges. Das Wirkungsspektrum ist dosisabhängig nach Petersen und Stillmann (1978) einzuteilen in: z kleine Dosen (3–5 mg), die zu einem Zustand der Trunkenheit mit Euphorie und Schweregefühl in den Extremitäten, gelegentlich zu Erregungszuständen führen. Die Umgebung wird als surreal und verzerrt wahrgenommen. Der Denkablauf ist beeinträchtigt; z Dosierungen über 5 mg, bei denen kaum mehr zwischen Realität und Traumwelt unterschieden werden kann. In mittleren Dosierungen (5–10 mg) setzen Analgesie und Anästhesie ein. Es kommt zu einer er-
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heblichen Reizabschirmung, die Wahrnehmung wird eingeschränkt, und kataleptiform-motorische Zustandsbilder können auftreten. Wegen der abnehmenden Körperkontrolle sind Bewegungsstörungen oder unartikuliertes Sprechen zu beobachten; z Dosierungen über 10 mg (orale Einnahme), bei denen Auto- und Fremdaggressionen möglich sind. Es kann wegen der fehlenden Schmerzempfindlichkeit zu Selbstverstümmelungen und Suizid kommen, vor allem bei Mischkonsum mit Alkohol oder Kokain. Mit dem Verlust des Realitätsbewusstseins korreliert die hohe Gewaltbereitschaft der Konsumenten (Julien 1997; Geschwinde 1996; Nowoczyn 1998); z hohe Dosen von 10–20 mg, bei denen depressive Verstimmungen und sympathomimetische Effekte mit Pulsbeschleunigung und Blutdruckanstieg auftreten können. Vergiftungszustände ähneln denen des Kokains, u. a. treten Krampfanfälle auf. Nach anfänglicher Stimulation des Kreislaufs kommt es zu Blutdruckabfall, Narkose und Schock. z Katecholaminderivate – Ecstasy und seine Derivate (Entaktogene) Charakteristika. Sie weisen ein Wirkungsspektrum auf, das zwischen Amphetaminen und Halluzinogenen liegt, und werden auch als Entaktogene („das eigene Innere berühren“) bezeichnet. Nach Kuhlmann (1996) werden darunter psychotrope Substanzen verstanden, „durch deren Wirkung Gefühle und Erfahrungen dem Bewusstsein wieder zugänglich gemacht werden, welche zuvor in das Unbewusste verdrängt worden sind, und die die Selbstreflexion fördern“. Sie weisen stimulierende sowie leicht halluzinogene Wirkungen auf. Es wird eine große Entspannung und Empathie sich selbst wie auch anderen gegenüber empfunden. Thomasius (1999) beschrieb das Gefühl der „Einigkeit mit anderen, ein Wir-Gefühl“. Als Partydrogen haben diese Substanzen mittlerweile ihren festen Platz unter den illegalenDrogen (Gouzoulis-Mayfrank 1998, 2009; Geschwinde 2007), insbesondere bei jüngeren Konsumenten. Vertreter. Am bekanntesten sind „Ecstasy“ (MDMA: 3,4-Methylendioxymetamphetamin) und „Eve“ (MDA: 3,4-Methylendioxyamphetamin). Beide Substanzen ähneln sich in ihrer Wirkung derart, dass Konsumenten keine Unterscheidung treffen können. Weitere Vertreter sind MDE (3,4-Methylendioxy-N-ethylamphetamin), DOM (4-Methyl-2,5-dimethoxyamphetamin), DOB (4-Bromo-2,5-dimethoxyamphetamin), PMA (4-Methoxyamphetmin), MDEA (Methylendioxyethylamphetamin) und MMDA (Methoxymethylendioxyamphetamin). Meist als Kapseln oder Tabletten (seltener als Zäpfchen) aufgenommen, reichen die Dosisangaben von 1–2 Tabletten bis hin zu 6–7 Tabletten pro Abend. Die Preisangaben schwanken zwischen 3–5/Tablette, in Einzelfällen bis zu 10 1. Dabei wird allerdings der deutlich divergierende Wirkstoffgehalt pro Konsumeinheit zu berücksichtigen sein, der den Konsumenten in der Regel nicht bekannt ist und zwischen 0,5 und 215 mg/Tablette (im Median bei ca. 50 mg/Tablette) liegen kann (Zerrell u. Thalheim 2008).
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Die Wirkung von MDMA setzt nach ca. 30–60 min ein und hält bis zu 5–6 h an (Nowoczyn 1998). Durchschnittlich werden 100–150 mg MDMA genommen. Bei höheren Dosierungen ab 200 mg treten verstärkt Nebenwirkungen in den Vordergrund. Nachweis. Bei Einnahme von 50 mg MDMA kann nach einer Stunde ein Plasmaspiegel um 50 ng/ml erreicht werden. Nach zwei Stunden steigt er auf ca. 100 ng/ml, und nach 24 Stunden sind noch ca. 5 ng/ml zu erwarten. Hier liegt dann auch die Nachweisgrenze. Im Urin kann MDMA dagegen bis nach vier Tagen nachgewiesen werden (Külpmann 2003). Pathophysiologische Wirkweise. MDMA beeinflusst selektiver als Amphetamin das serotonerge Transmittersystem und übt nur einen geringen Einfluss auf das dopaminerge System aus (Schmoldt 1999). Durch die Hemmung der Serotonin-Wiederaufnahme in die Präsynapse steigt die Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt. Gleichzeitig sorgt MDMA in der Präsynapse für eine zusätzliche Serotoninausschüttung, was zu einer Entleerung der zellulären Speicher in der Präsynapse führt. Erst bei hohen MDMA-Konzentrationen konnte eine vermehrte Dopaminfreisetzung beobachtet werden (Obrocki 1999; Nair u. Gudelsky2005). Im Rattenhirnen kam es besonders im Nucleus accumbens zu einem Anstieg der Dopaminkonzentration (innerhalb des zentralen Belohnungssystems), was im Zusammenhang mit der Ausbildung von Toleranz und Abhängigkeit steht (Rommelspacher 1996,1998). Psychische Wirkungen. Akuteffekt ist eine zentrale Stimulation mit Euphorie, erhöhter Kontaktbereitschaft und Empathiegefühlen (erhöhte Emotionalität und verminderte Ich-Abgrenzung) – ohne Verlust der Selbstkontrolle. Gefühle werden offener geäußert, die Akzeptanz des Umfeldes ist erhöht. Auffällig sind Gedankensprünge. Bei subjektiv empfundener Entspannung und Angstfreiheit treten aggressive Impulse selten auf. Das Selbstwertgefühl ist erhöht, die Kommunikationsbereitschaft steigt, die Zeit wird verändert erlebt. Mit der subjektiv erlebten Intensivierung von visuellen, sensorischen und akustischen Eindrücken können im Verlauf Fehlwahrnehmungen auftreten. Zum Teil wird von einer besonderen Wachheit oder einer Wahrnehmungsverschärfung berichtet (Gouzoulis-Mayfrank 1998). Als Nachwirkungen treten Schlafstörungen, anhaltende Appetitlosigkeit und Antriebsarmut auf (Green et al. 1995). Angst- und Panikattacken, bis hin zu Todesängsten, können ebenso fortbestehen wie Konzentrationsstörungen und Gereiztheit mit aggressivem Verhalten oder Erschöpfungszuständen. Körperliche Wirkungen. Begleiterscheinungen sind Hyperthermie (bis auf über 40 8C) und Dehydrierung, die u. U. zu klinischen Notfällen werden. Sprachschwierigkeiten, Kopfschmerzen, Übelkeit und Muskelzittern (vor allem im Kieferbereich) kommen vor. Blutdruck und Puls sind erhöht. Bei gesteigerter motorischer Erregbarkeit kann es zu Krampfanfällen kommen. Intoxikation. Toxische Dosisbereiche sind interindividuell variabel. Die Folgen einer Intoxikation resultieren aus den zentralen und peripheren serotonergen und dopaminergen Effekten. Das klinische Bild ähnelt dem ma-
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lignen neuroleptischen Syndrom mit Tremor, Hyperpyrexie, Rhabdomyolyse (mit akutem Nierenversagen), Hepatopathie mit Cholestase und Transaminasenerhöhung bis zum Leberversagen, disseminierter intravasaler Koagulopathie. Kardial treten Palpitationen, Sinustachykardien und ektope Erregungen mit der Gefahr ventrikulärer Tachyarrhythmien auf. Arterieller Hypertonus, Elektrolytentgleisung und zerebrale Krampfanfälle komplettieren das klinische Bild (Green et al.1995; Thomasius 1999). Langzeitkonsum. Wegen der Entleerung der Serotoninspeicher und teilweise der Dopaminreserven entwickelt sich eine Toleranz (die sich bei Karenz innerhalb von 2–6 Wochen zurückbildet). Es kommt zum Gewichtsverlust. Vorbestehende Erkrankungen werden ungünstig beeinflusst (HerzKreislauf-, Herzrhythmus-Erkrankungen, Diabetes mellitus, Leber- und Schilddrüsenerkrankungen, Asthma und Epilepsie). Psychisch stehen bei chronischem Konsum Panikstörungen, Depressionen, paranoide Syndrome sowie Depersonalisationssyndrome im Vordergrund. Sonstiges. Im Tierversuch (Nager, Affen) sind bei chronischer Anwendung neurotoxische Effekten mit degenerativen Veränderungen der serotonergen Neuronen u. a. im Neocortex und im Hippocampus beobachtet worden (Obrocki 1999). Mittlerweile gibt es eine Reihe von klinischen und technischen Untersuchungen, die beim Menschen eine langfristige Neurotoxizität belegen (Übersicht dazu bei Thomasius et al. 2006). MDMA soll zu einer psychischen, aber nicht zu einer physischen Abhängigkeit führen. Ob durch Ecstasy per se Psychosen auslöst werden oder ob die Droge bei entsprechender Vulnerabilität den Ausbruch einer Psychose triggert, wird – wie bei den anderen psychoseinduzierenden Substanzen – diskutiert. z Andere synthetische Drogen („Designerdrogen“) z 1. Allgemeines Dieser Begriff subsummiert synthetische Verbindungen, deren Kombinationen sich in beliebiger Weise baukastenartig neu zusammensetzen lassen. Katecholaminderivate der Halluzinogene zählen dazu wie MDA (Methylen-dioxy-amphetamin), MDE (Methylendioxy-N-ethylamphetamin), DOM (Dimethoxy-4-amphetamin), DOB (Dimethoxybrom-amphetamin) und TMA (Trimethoxy-amphetamin). Sie haben strukturelle Gemeinsamkeiten mit Nordrenalin und Dopamin. Im Gegensatz zu Amphetaminen und Kokain, die ebenfalls eine Katecholaminstruktur haben, kommt es zu einer Betonung psychedelischer Eigenschaften, während anderen Substanzen eher antriebssteigernde, appetitzügelnde oder wachmachende Effekte haben. Bei DOM, DOB und TMA gibt es mehr strukturelle Ähnlichkeiten mit Mescalin (TMA unterscheidet sich von Meskalin nur durch eine CH3Gruppe in der Seitenkette), weshalb diese Stoffe überwiegend halluzinogene Wirkungen haben. Synonyme sind Sereniti, Tranquiliti, Pies, STP, SuperLSD. DOM hat eine extrem lange Wirkdauer, die bis zu 72 h anhalten und toxisch begründete Psychosen, Delire, akute Angstreaktionen und allgemein atypische Rauschverläufe auslösen kann. Zu beobachten sind extrapy-
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ramidale Symptome, Krampfanfälle und ataktische Störungen, weshalb DOM für seine letztlich kaum kalkulierbare Wirkung bekannt ist. Prodine haben ohne strukturelle Gemeinsamkeiten mit den Opiaten eine betäubende Wirkung wie die synthetischen Opiate. MPPP (Methylphenylpropionoxypiperidin) bindet sich irreversibel an die dopaminergen Neuronen des Zentralnervensystems, ist also unmittelbar neurotoxisch, was u. a. zu Schüttellähmungen oder sogar zum Tod führen kann. Synthetische Piperidylester (JB 336, JB 318, JB 329) zeigen ein anitcholinerges Wirkprofil und damit eine pharmakologische Verwandtschaft mit dem Alkaloid Atropin. Schon geringe Dosen von 2–3 mg rufen eine halluzinogene Reaktion hervor. Schwere Bewusstseinstrübungen und ausgeprägte Delire mit amnestischen Störungen können ebenfalls auftreten. Das Gedächtnis wird auf ein Minimum reduziert, so dass Rauscherlebnisse nur lückenhaft berichtet werden können. Die Sinnestäuschungen sind optischer, akustischer, olfaktorischer und taktiler Art. Anticholinerge und halluzinogene Effekte sind nicht miteinander gekoppelt (Täschner 2002). Tryptamin und seine Derivate („Happy Pills“, „HI-Trips“ „Liebespillen“) wirken durch ihre serotonerge Affinität aufputschend und halluzinogen. DMT (Dimethyloxyltryptamin), DET (Diethyltryptamin) und DPT (Dipropyltryptamin) haben nur eine schwache LSD-ähnliche Wirkung, die rasch wieder abklingt. Bei Gabe von 0,7–1,0 mg/kg Körpergewicht DMT i.m. kommt es nach 3–5 min schlagartig zu einem Rauschzustand, wobei Pseudohalluzinationen und Selbstüberschätzung stark ausgeprägt sind. Im Unterschied zum LSD führt DMT zu einer Blutdrucksteigerung um bis zu 70 mmHg und zu extrapyramidalen Bewegungsstörungen mit hyperkinetischem, choreiformem und athetoidem Charakter. Die Phänomenologie des Rausches wird durch die Persönlichkeitsstruktur, die Umgebung und die seelische Ausgangssituation mitbestimmt. Die halluzinogene Wirkung ist relativ kurz und klingt bereits nach 30–40 min ab (Nowoczyn 1998; Kähnert 1999). z 2. Gammahydroxybuttersäure (GHB) Charakteristika. 4-Hydroxybutansäure oder Gammahydroxybuttersäure kommt zwar auch im Körper als Metabolit der GABA vor, wird hier aber unter den synthetischen Drogen aufgeführt. Als Narkosemittel und in der Geburtshilfe (Somsanit), zur Behandlung des Alkoholentzugs (Alcover) oder in der Behandlung der Narkolepsie (Xyrem) eingesetzt, wurde GHB in Bodybuilderkreisen als Stimulans (des Wachstumshormons) benutzt und im Sport als Dopingmittel eingesetzt. Als „Liquid Ecstasy“, „Liquid X“, „Liquid E“, „G-Juice“ tauchte GHB in den 90er Jahren erstmals in englischen Clubs als Partydroge auf, um mittlerweile auch in Deutschland insbesondere bei Jugendlichen immer populärer zu werden. In den USA hat sich die Anzahl von GHB-Patienten in den Rettungsstellen innerhalb von 4 Jahren verzwanzigfacht (Couper et al. 2004). In den USA und seit 2005 auch in Deutschland ist die Substanz als Medikament für Narkolepsie-Patienten zwar zugelassen, unterliegt aber in Deutschland seit 2003 dem BtMG. Der
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Name „Liquid Ecstasy“ ist eher Verkaufsstrategie als chemisch oder vom Wirkungsspektrum her begründbar. Zwar kann sich Euphorie einstellen, die empathischen oder harmonisierenden Effekte gibt es aber nicht. GHB ist flüssig, geruchs- und farblos (kann auch mit Lebensmittelfarbe eingefärbt sein), schmeckt salzig und seifenartig. Es wird als stark wasseranziehendes Pulver oder Tabletten, als Flüssigkeit in kleinen Plastikampullen oder Flaschen zu 5–10 ml und als Kapseln für ca. 5 1 pro Konsumeinheit oder als so genannte „Centware“ verkauft. Geschluckt wird es meist zur Intensivierung des Rausches anderer Drogen, insbesondere von Alkohol (verstärkt die Wirkung um das 2- bis 3 fache), Benzodiazepinen und Opioiden (was bis zu Atemlähmung/Erstickungstod führen kann). Nachweis. Wegen der weitgehenden Metabolisierung zu CO2 und Wasser ist nach 12 Stunden kein sinnvolles Ergebnis mehr zu erwarten. Therapeutische Plasmakonzentrationen liegen bei 50–120 lg/ml, toxische bei 200 lg/ ml, letale ab 260 lg/ml. Die Nachweisdauer im Blut beträgt ca. 6 h, im Urin ca. 12 h. Pathophysiologische Wirkweise. GHB kommt als Metabolit der GABA physiologisch im Gehirn vor. Wong et al. (2004) erklären die vielfältigen und z. T. dosisabhängigen Effekte durch einen GABA-GHB-Komplex, Kemmel et al. (2006) wiesen nach, dass GHB in physiologischen Konzentrationen die GABA-Aktivität an den Präsynapsen durch die Hyperpolarisation von Nervenzellen senken kann und dadurch die Signalübertragung je nach unterschiedlicher Affinität in den einzelnen Hirnregionen beeinflusst. Zudem wurden eigenständige GHB-Rezeptoren am dichtesten im Hippocampus und nicht im Kleinhirn gefunden. Psychische Wirkungen. Das Rauschspektrum reicht dosisabhängig von alkoholähnlichen Rauscherfahrungen über Entspannung, sexuelle Anregung, Antriebssteigerung, intensiverer Wahrnehmung bis hin zu schläfrigen, deliranten und komatösen Zuständen. Die Dosis entscheidet erheblich über die Dauer und Art und Weise des Rausches, der nach etwa 15 min eintritt und bis etwa 2–4 h andauern kann (Halbwertszeit 20–45 min). Einzeldosen von 0,5–5 ml bzw. 0,75–2,0 g (10–20 mg/kg) bewirken entspannende, euphorische, stimulierende und aphrodisische Effekte („tanzfördernd“). Somnolenz ist bei ca. 2,5 g (30 mg/kg) und eine Narkose bei ca. 3–4 g (50 mg/kg) zu erwarten. Es kommt zu deliranten Symptomen mit ggf. aggressivem Verhalten und fortbestehenden Gedächtnislücken. 4–5(–30) g (> 60 mg/kg) führen zum Koma. Notfallmediziner beobachteten Panikattacken nach GHB-Konsum, die bis zu 12 Stunden nach Einnahme anhielten (Liechti et al. 2005). Insofern sind die Konzentrationsspannen zwischen gewünschten und ungewünschten Wirkungen sehr gering, erst recht bei Mischkonsum mit anderen Substanzen. Körperliche Wirkungen. Eine Beeinträchtigung der Motorik wird meist bei höheren Dosierungen durch Faszikulationen an den Gliedmaßen, Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen ergänzt. Der Blutdruck ist erniedrigt. Bei sehr hohen Dosierungen hemmt GHB den Herzrhythmus und das
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Atemzentrum, was zu Schwindel, Bewusstlosigkeit und Krämpfen führen kann. Intoxikation. GHB-Überdosierungen sind bei Mischkonsum mit anderen Drogen wegen der Atemdepression gefährlich (z. B. Kombination mit Alkohol oder Benzodiazepinen). Außerdem können lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen auftreten. Langzeitkonsum. Zu den Folgen bei Langzeitgebrauch liegen noch keine validen Untersuchungen vor. Beschrieben werden Gedächtnis- und anhaltende Konzentrationsstörungen. Eine körperliche Abhängigkeit wird verneint, auch wenn die Betreffenden bei Karenz über unspezifische Symptome (Schwitzen, Herzrasen und körperliche Unruhe) für die Dauer von 12–96 Stunden berichten. Ein psychisches Abhängigkeitssyndrom wird diskutiert (Wong et al. 2004; Irwin 2006). Sonstiges. Neben der 1,4-Hydroxybutansäure finden das Lösungsmittel 1,4-Butyrolacton (GBL) und die Weichmacher 1,4-Butandiol (BDO) und 1,4-Hydroxyvalerat (GHV) Verwendung. Der Felgenreiniger aus der Industrie wird im Körper zu GBH umgewandelt. Die Erinnerungen an die Zeit unter GHB-Einfluss ist oft nur lückenhaft (Steinecke et al. 2002). Populär wurde GHB deshalb auch als so genannte „date-rape-drug“, nachdem am Anfang des Jahrhunderts solche Fälle in die öffentliche Wahrnehmung rückten. Als so genannte K.O.-Tropfen (früher Chloralhydrat und Barbiturate) blieben aber die Benzodiazepine, insbesondere Flunitrazepam, weiter bedeutsam. Als „Vergewaltigungsdroge“ hat GHB gegenüber den Benzodiazepinen einige Nachteile. So lässt sich der salzige bis seifige Geschmack nur schwer überdecken und die Wirkung nach Eintritt innerhalb 15–30 min (Schläfrigkeit bis komatöser Schlaf) schlecht kalkulieren. z 3. Ketamin Charakteristika. Das Narkosemittel Ketamin-Chlorid oder (RS)-2-(2-Chlorphenyl)-2-(methylamino)cyclohexanon) ist mittlerweile als „Special K“, „Vitamin K“, „Kate“ oder „K“ bekannt. Bei i.v.-Applikation setzt die Wirkung innerhalb weniger Sekunden ein. Üblicher ist die i.m.-Injektion bei der es nach 3–5 min zum Rausch kommt. Ketamin wird aber auch geraucht, geschnupft (Wirkeintritt nach 5–10 min) und in Form von Tabletten oder Kristallen oral genommen (Wirkeintritt nach ca. 20 min). Die Wirkdauer liegt zwischen 30 min und 3 h. Zum Vergleich: Für eine Narkose von 10–15 min Dauer bei einem 70 kg schweren Erwachsenen werden zwischen 70 und 140 mg Ketamin i.v. gespritzt. Als Partydroge werden 20–25 mg (nasal) bzw. 40–50 mg (oral), meist in Kombination mit LSD, genommen. Höhere Dosierungen zwischen 50 und 100 mg rufen schon negative Nebenwirkungen hervor. Bei Mengen zwischen 120 und 200 mg (nasal) kommt es zu sehr intensiven Rauschzuständen. Nachweis. Der Nachweis gelingt im Blut einige Stunden, im Urin bis zu einigen Tagen, bei häufigem Konsum auch bis zu 4 Wochen.
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Pathophysiologische Wirkungsweise. Ketamin interferiert mit dem exzitatorischen Neurotransmitter Glutaminsäure, indem es sich an dessen NMDA-Rezeptor bindet. Da durch Ketamin keine Öffnung des Kalziumionenkanals erfolgt, der sonst durch Glutaminsäure-Moleküle geöffnet wird, bleibt die Aktivierung der Signalübertragung aus. Im Ergebnis kommt es nicht zur Informationsübertragung. In der Konsequenz werden akustische und optische Signale nur noch fragmentarisch wahrgenommen, und die Schmerzempfindung und -weiterleitung bleibt aus. Ein weiterer Effekt wird über die Hemmung der Wiederaufnahme der Monoamine (Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin) in die Präsynapse erklärt, da es zu deren Konzentrationsanstieg kommt, der an den entsprechenden Rezeptoren zu höheren Übertragungsraten führt (Steigerung der zentralen dopaminergen Übertragung). Psychische und körperliche Wirkungen. Psychisch wirkt sich dies in Stimmungsänderungen von Euphorie bis hin zu negativen Gefühlen oder Panikattacken aus, in einer veränderten Wahrnehmung mit verringertem Geruchs- und Geschmacksempfinden, verzerrter Akustik und Schmerzunempfindlichkeit. Farben erscheinen lebhafter, und es kommt zu Halluzinationen. Stärker als bei LSD oder Psilocybin dominieren angstbesetzte Gefühle, und die Betreffenden beschreiben ihr Unvermögen, diesen Zustand willentlich zu beeinflussen. Körperliche Begleiterscheinungen sind die Erhöhung von Blutdruck und Herzfrequenz, ein Zittern des Augapfels, Übelkeit und Erbrechen, Schwindel, Lähmungserscheinungen, in höheren Dosierungen natürlich Narkose, aber auch epileptische Anfälle und Koma. Langzeitkonsum. Es werden Beeinträchtigungen der Gedächtnisleistung und neurologische Störungen beobachtet. Zudem stellt der regelmäßige Konsum eine erhebliche Belastung des Herz-Kreislauf-Systems dar. Sonstiges. Ein anderes kurz wirkendes Narkosemittel mit analgetischer Komponente, das Eingang in die Szene der „Designerdrogen“ gefunden hat, ist Fentanyl (China White, Persian White). Laut Wilkens (1997) existieren auf dem illegalen Drogenmarkt inzwischen etwa 100 chemisch leicht veränderte Derivate dieser Stoffgruppe, wobei auch in Deutschland bereits ein entsprechendes Labor sichergestellt wurde. Wegen der morphinähnlichen Wirkung werden diese Substanzen auch als Opiatersatzstoff genutzt. Teilweise sind sie um ein vielfaches potenter als Morphin. Im Allgemeinen setzt die Wirkung schnell ein und hält im Vergleich zu den Opiaten nicht so lange an. Schnell kann es zu Überdosierungen kommen (siehe Abschn. „Opiate“). z 4. Organische Lösungsmittel/Schnüffelstoffe (ICD-10 F18.x) Charakteristika und Vertreter. Es handelt sich um leicht flüchtige, narkotisierende, lokal betäubende, gasförmige oder flüssige Substanzen, die legal frei verkäuflich oder über Apotheken zu beziehen sind. Die wichtigsten Vertreter sind aliphatische und aromatische Kohlenwasserstoffe, halogenierte Kohlenwasserstoffe (Chloroform) und andere flüchtige Substanzen: Tolu-
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ol (z. B. in Leimen), Aceton (z. B. in Nagellackentferner, Lösungsmittel in Filzstiften, Haar- und Lacksprays), Nitro (z. B. in Klebstoffen und Verdünnungsmitteln), Butan (Treibgas in Feuerzeugen), Chlorethyl (Wundspray, Lokalanästhetikum), Per- oder Trichlorethylen (in Metall- und Farbreinigern), Benzin, Distickstoffoxid („Lachgas“), Amyl-/Butylnitrit („Poppers“, „Jungle Juice“, „Explosive“). Die Gase und flüchtigen Substanzen werden inhaliert. Die Wirkung setzt nach wenigen Sekunden ein und dauert zwischen einigen und 30 Minuten an (Lachgas: Sekunden bis Minuten, Amylnitrit: 3–10 min). Nachweis. Aufgrund der Flüchtigkeit der Substanzen gelingt der direkte Nachweis nicht, eher lassen die mitgeführten Utensilien bei berauschten Probanden Rückschlüsse auf den Gebrauch zu. Pathophysiologische Wirkung. Lösungsmittel provozieren ein zentrales Exzitationsstadium mit Unruhe, Tachykardie und innerer Erregung, gefolgt von einem Rauschstadium und danach einem Schlafstadium. Psychische Wirkungen sind Euphorie, Veränderung der Sinneswahrnehmung mit akustischen und optischen Phänomenen, gesteigertes Tast- und Berührungsempfinden. Optische und akustische Wahrnehmungen werden umgestaltet, teilweise intensiviert bis hin zu illusionären Verkennungen oder flüchtigen (Pseudo-)Halluzinationen. Im Rausch wirken die Betreffenden benommen, gereizt oder apathisch (bis zur Bewusstseinstrübung und Bewusstlosigkeit). Lachgas sorgt für ein Wärme- und Glücksgefühl (mitunter provoziert es Halluzinationen), während z. B. Amylnitrit durch die Intensivierung des Tast- und Berührungssinns eine sexuell enthemmende Wirkung aufweist. Danach klagen die Konsumenten meist über einen „Kater“ mit Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen. Körperliche Wirkungen. Unerwünschte Wirkungen sind Übelkeit oder Erbrechen zu Beginn, reduzierte Schmerzwahrnehmung, Sprach-, Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen, Hörminderung und Kribbelparästhesien. In Extremfällen treten Krampfanfälle, Anurie und Atemstillstand auf, z. B. bei der Überdosierung von Lachgas. Bei Amylnitrit mit seiner gefäßerweiternden und damit blutdrucksenkenden Wirkung kommt es zu Schwindel und Herzklopfen, bei Überdosierung zur Ohnmacht (Sauerstoffmangel). Intoxikation bewirkt Gleichgültigkeit, Streitlust, Apathie sowie Beeinträchtigung der Urteilsfähigkeit. In der DSM-IV-TR sind mindestens zwei der folgenden Kriterien während oder kurz nach dem Gebrauch von Inhalantien gefordert: Schwindel, Nystagmus, Koordinationsstörungen, undeutliche Sprache, unsicherer Gang, Lethargie, Reflexabschwächung, psychomotorische Verlangsamung, Tremor, allgemeine Muskelschwäche, verschwommenes Sehen oder Diplopie, Stupor oder Koma, Euphorie. Langzeitkonsum. Der gewohnheitsmäßige Konsum von organischen Lösungsmitteln bedingt typische periphere Polyneuropathien (bis hin zu schlaffen Lähmungen und Muskelatrophien). Im Gegensatz zur alkoholischen Polyneuropathie sind Missempfindungen und Schmerzzustände eher selten. Bei massivem Konsum wurden Toleranzentwicklungen beschrieben.
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Hinweisend kann mitunter ein Hautausschlag um Nase und Mund sein. Unspezifische respiratorische Befunde (Nasenausfluss, Husten) sowie Verletzungen oder Brandwunden bei Inhalationen entzündlicher Stoffe kommen je nach Schnüffeltechnik vor. Hinweisend können auch Leber- und Knochenmarksschädigungen sein. Sonstiges. Intoxikationsbedingte Delire, persistierende Demenz, psychotische Störungen, affektive und Angststörungen können durch hypoxische Schädigungen, durch Elektrolytverschiebungen oder Arrhythmien zustande kommen. Langzeitfolgen (Konzentrationsstörungen) sind meist reversibel. Allerdings gibt es wegen der Neurotoxizität mancher Stoffe dauerhafte Beeinträchtigungen, die dann umfassend im Alltag des Betreffenden nachzuzeichnen sind und nicht auf strafbare Handlungen begrenzt bleiben. Trotz beschriebener Toleranzentwicklung und psychischer Abhängigkeit gibt es keinen sicheren Beleg für ein eigentliches Entzugssyndrom. Beschrieben werden Reizbarkeit, Übelkeit, Schlafstörungen, Tremor oder flüchtige Illusionen.
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Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis H.-L. Kröber, S. Lau
3.1.3.1 Krankheitsbild Zu den schizophrenen Psychosen werden die psychischen Erkrankungen gerechnet, die durch charakteristische Störungen des Denkens, des Antriebs, der Wahrnehmung, der Affektivität, des Ich-Erlebens und des Verhaltens und somit durch Veränderungen der gesamten Persönlichkeit gekennzeichnet sind. Auch psychiatrischen Laien ist bekannt, dass sich diese Erkrankungen häufig in wahnhaften Vorstellungen und Denkweisen sowie Sinnestäuschungen manifestieren können. Darüber hinaus sind bei diesen psychischen Störungen bizarre und uneinfühlbare Verhaltensweisen sowie eine unangemessene Gestimmtheit zu beobachten, seltener auch abnorme Bewegungsmuster. In Extremformen können diese psychotischen Erkrankungen mit völligem Verlust des Realitätsbezuges und der Kommunikationsfähigkeit einhergehen. Solche Zustände sind in aller Regel mit sehr viel Angst und Leid verbunden und bedürfen psychiatrischer Behandlung; sie führen sehr häufig zu stationären Aufenthalten. Nicht wenige Schizophrene können sich trotz ihrer Ängste und massiven subjektiven Missempfindungen nicht vorstellen, dass sie an einer Krankheit leiden und müssen bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung wegen fehlender Krankheitseinsicht auch gegen ihren Willen (auf öffentlich-rechtlicher oder betreuungsrechtlicher Grundlage) behandelt werden. Als Ursache wird eine komplexe, multifaktorielle Genese angenommen, bei der biologische, psychologische und soziale Einflüsse eine Rolle spielen. Es gibt eine familiäre Häufung und eine nicht unerhebliche genetische Prädisposition für schizophrenes Erkranken, die sich als „Vulnerabilität“ darstellt, die infolge protektiver Faktoren gemindert, infolge belastender Faktoren jedoch auch zur Manifestation gebracht werden kann. Die Schizophrenie hat über alle Kulturkreise hinweg eine ähnliche Symptomatik, sie tritt global mit einer Lebenszeitprävalenz von 1–2% auf. Da die Erkrankung relativ früh in der Lebensentwicklung einsetzt und in nicht unerheblichem Anteil einen chronischen Verlauf mit deutlichen Einbußen der sozialen Funktionsfähigkeit nach sich zieht, sind schizophrene Psychosen ein sozialmedizinisches Problem. Die Mehrzahl der Kranken ist mit 40 Jahren berentet. Männer und Frauen werden von diesen Erkrankungen gleich häufig betroffen, allerdings liegt der Erkrankungsgipfel für Frauen etwas später als bei Männern (Häfner et al. 1995). Eine schizophrene Psychose geht trotz medizinischer Fortschritte mit einem deutlich erhöhten Suizidrisiko einher. Verlauf und Prognose schizophrener Erkrankungen sind schwer berechenbar. Einer akuten Erkrankung geht häufig eine Prodromalphase voraus, die viele Monate, jedoch auch Jahre dauern kann (Häfner et al. 1995). An die akute Phase der Psychose schließt sich entweder eine Vollremission
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oder aber eine Residualphase an. Der Verlauf kann insgesamt episodischschubhaft oder eher einförmig-progredient in Richtung eines Defektsyndroms verlaufen. Betrachtet man den Langzeitverlauf, so kam nach dem Ergebnis von Langzeitstudien in Zürich und in Bonn (Bleuler et al. 1976) etwa ein Viertel der Fälle nach einer oder wenigen Episoden zu vollständiger Gesundung. Etwa 50% verlaufen episodisch mit schwächeren oder stärkeren sozialen und psychischen Defiziten, und ein weiteres Viertel verläuft deletär mit chronisch fortschreitender Krankheitssymptomatik. Neuere Studien ergaben etwas ungünstigere Ergebnisse. Die berichteten Raten von Verbesserungen ohne Rückfall lagen zwischen 21% (Bland u. Orn 1978) und 30% (Scottish Schizophrenia Research Group 1992). Die Rate schlechter Ergebnisse im Sinne kontinuierlicher psychotischer Symptome und/ oder zunehmender sozialer Behinderung rangierte zwischen 24 und 43% (Shepherd et al. 1989). Die Varianz der Ergebnisse erklärt sich teilweise aus unterschiedlichen diagnostischen Abgrenzungen; Schizophrenie ist eine Erkrankung mit einer sehr vielgestaltigen Symptomatik, und die Versuche, zu einer verbindlichen symptomatologischen Gliederung und diagnostischen Abgrenzung zu kommen, reichen – mit stets nur begrenztem Erfolg – bis in die Gegenwart (Jablensky 2000). Von der klinischen Symptomatik her werden die Schizophrenien unterschieden in die häufigste paranoid-halluzinatorische Form (mit Wahn und meist akustischen Halluzinationen), die katatone Form (mit massiven Antriebsveränderungen) sowie den hebephrenen Typus (mit Besonderheiten des Affekts). Heute spricht man hier vom desorganisierten Typus mit frühem Krankheitsbeginn. Lange Zeit konnte man diese, das Persönlichkeitsgefüge massiv deformierende psychische Störung nur schwer beeinflussen. Die Behandlung schizophrener Erkrankungen hat mit der Entwicklung der Neuroleptika, der spezifisch antipsychotischen Medikamente, eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Während schizophren Erkrankte bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zu einem hohen Anteil Dauerpatienten psychiatrischer Anstalten waren, wurde es durch die antipsychotischen Medikamente möglich, eine große Zahl dieser Kranken soweit zu bessern und zu rehabilitieren, dass sie ein eigenständiges Leben im Rahmen ihrer Familie oder zumindest von schützenden Einrichtungen außerhalb der psychiatrischen Krankenhäuser finden konnten. Die Entwicklung moderner und nebenwirkungsärmerer Medikamente ist mit der Hoffnung verbunden, dass die Behandlung der Schizophrenie noch weiter verbessert werden kann.
3.1.3.2 Kriminalitätsbelastung schizophren Erkrankter Die Diskussion um die Kriminalitätsbelastung bei schizophrenen Psychosen wurde lange Zeit kontrovers geführt (Rous 2005). Allerdings bestand bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein die weitverbreitete Annahme, dass psychisch Kranke und insbesondere Schizophrene per se gefährlich seien. Eine umfangreiche Untersuchung über den Zeitraum
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1955–1964 von Böker u. Häfner (1973) verglich die Delinquenzbelastung psychisch Kranker mit der in der Allgemeinbevölkerung und kam zu dem Ergebnis, dass „Gewalttaten Geistesgestörter“ nicht häufiger seien als die Gesunder. Dies war eine wichtige Botschaft im Kontext der Etablierung sozialpsychiatrischer Versorgungseinrichtungen. Allerdings galt die Aussage nur in Bezug auf das untersuchte Gesamtkollektiv, in dem das etwa 13fach erhöhte Risiko Schizophrener, ein Tötungsdelikt zu begehen (wie eine Reanalyse der Daten von Erb et al. (2001) ergab), neutralisiert wurde durch die unterdurchschnittliche Delinquenz z. B. von Depressiven, Zwangspatienten und anderen Diagnosegruppen. Inzwischen ist natürlich die Aussagekraft einer durch Krieg und Euthanasie dezimierten Patienten-Population vor mehr als 50 Jahren – bei einem noch völlig anderen psychiatrischen Versorgungssystem, anderen sozialen Rahmenbedingungen und in der Anfangszeit antipsychotischer Medikamente – weitgehend geschwunden. Neuere Studien der internationalen psychiatrischen Forschung geben aber gleichwohl vielfältigen Aufschluss. Verglichen wurde zum einen die Kriminalitätsbelastung bei Patienten mit und ohne Diagnose Schizophrenie, untersucht wurden zum anderen der Verlauf der Erkrankung von schizophrenen Patienten über mehrere Jahre, repräsentative Gruppen von Straftätern und Inhaftierten sowie komplette Geburtskohorten (insbesondere im skandinavischen Raum). Die Ergebnisse all dieser Untersuchungen (Taylor u. Gunn 1984; Hodgins u. Côté 1993; Monahan 1998; Bonta et al. 1998; Taylor 1998; Arseneault et al. 2000; Brennan et al. 2000; Monahan et al. 2001; Hodgins u. Janson 2002, Wallace et al. 2004) sind recht eindeutig und robust, da sie verschiedenste Studiendesigns nutzten und in unterschiedlichen Kulturkreisen und Rechtssystemen sowie von vielen unterschiedlichen Beteiligten durchgeführt wurden. In der Gesamtschau legen die Ergebnisse der Untersuchungen nahe, dass das Risiko für Kriminalität generell und für Gewalttaten im Besonderen durch eine Erkrankung an Schizophrenie erheblich steigt. Bei Männern soll Gewaltdelinquenz um das bis zu 7fache (Tiihonen et al. 1997) häufiger auftreten, bei Frauen möglicherweise sogar um den Faktor 23 vermehrt (Hodgins 1992; kritisch dazu: Schanda 2006). Aussagestark ist eine methodisch sehr stabile Untersuchung über 25 Jahre hinweg an verschiedenen schizophrenen Populationen, die in 5-JahresAbständen in Australien von 1975 bis 2000 erfasst wurden. Sie umfasst insgesamt 2861 Patienten, die mit 2861 gematchten Gesunden im Hinblick auf Straffälligkeit und Substanzmissbrauch verglichen wurden (Wallace et al. 2004). Es handelte sich in jeder der beiden Gruppen um 1689 Männer und 1172 Frauen. Erfasst wurde die Straffälligkeit im Verlauf von 5 Jahren sowie lebenslang. Gerichtlich abgeurteilt wurden – wegen irgendeiner Straftat – lebenslang 21,6% der Schizophrenen gegenüber 7,8% der Gesunden. Die Odds Ratio beträgt 3,2. Betrachtet man nur die Männer, so wurden 31,3% der schizophrenen Männer gerichtlich abgeurteilt – gegenüber 11,7% der Gesunden (Frauen: 7,7% vs. 2,2%). Auch die Anzahl der Verurteilungen pro Person war bei den Schizophrenen um ein Mehrfaches erhöht.
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Der größte Anteil der Verurteilungen entfiel auf Eigentumsdelikte (14,5% der Schizophrenen, 4,4% der Gesunden). Dabei handelte es sich ganz überwiegend um Kleinkriminalität, einfache und einfachste Diebstähle, die zum einen der Verarmung, sozialen Isolierung und Verwahrlosung eines Teils der Kranken entsprachen, andererseits aber auch ihrer Kritikschwäche und der verminderten sozialen Wahrnehmungsfähigkeit. Schizophrene werden gehäuft bei Taten erwischt, die andere so unklug gar nicht begehen würden. Deutlich erhöht war mit 8,2% aber vor allem der Anteil der Schizophrenen, die wegen Gewaltdelikten abgeurteilt wurden, gegenüber 1,8% in der Vergleichsgruppe (Odds Ratio 4,8); bei den Männern betrug der Unterschied 13,0% gegenüber 2,9% (Odds Ratio 5,0; das Gewaltrisiko bei schizophrenen Männern war also in dieser Studie um den Faktor 5 erhöht.). Jeder abgeurteilte schizophrene Gewalttäter kam lebenslang auf fast 4 gleichartige Taten. Es handelte sich dabei nicht um geringfügige Taten, sondern meist um erhebliche Gewaltdelikte. In neun Fällen war Mord angeklagt, hingegen war in der Vergleichsgruppe nur ein Tötungsdelikt angeklagt. Bei den Frauen waren die Zahlen zu klein für eine statistisch zuverlässige Aussage; 1,4% der schizophrenen und 0,3% der gesunden Frauen wurden irgendwann in ihrem Leben wegen Gewaltdelikten verurteilt. Die Zahlen der Frauen verdeutlichen, dass die Odds Ratio zwar heuristisch von Belang sein mag, dass aber sozialmedizinisch die tatsächlichen Prozentsätze, in denen ein Phänomen (wie hier Gewalttätigkeit) auftritt, vorrangige Bedeutung haben. Bei schizophrenen Männern gibt es ein bedeutendes, wenn auch keineswegs dominierendes Gewaltproblem, bei Frauen ist es vergleichsweise eine Rarität. Eher selten wurden in beiden Gruppen Sexualdelikte abgeurteilt; aber auch hier kam die schizophrene Population mit 1,8% auf höhere Anteile als die Vergleichsgruppe (0,7%); möglicherweise ist dieser Unterschied auch dadurch befördert, dass schizophrene Täter leichter identifiziert und abgeurteilt werden. Delikte in Zusammenhang mit Substanzmissbrauch hatten 9,4% der Patienten, 2,3% der Gesunden begangen. Begleitender Substanzmissbrauch erwies sich in dieser Studie als ein penetranter Risikofaktor. Schizophrene mit komorbidem Substanzmissbrauch waren nicht nur regelhaft wegen Drogendelikten verurteilt worden, sondern begingen in 30% der Fälle auch Gewalttaten. Der Anteil der Patienten mit begleitendem Substanzmissbrauch stieg erheblich an; im Jahre 1975 gab es ihn nur bei 8,3% der Patienten, 1995 bereits bei 26,1%. In einer eigenen Studie über schizophren Kranke, die wegen rechtswidriger Taten in den psychiatrischen Maßregelvollzug aufgenommen wurden, fand sich 1985 bei 32% der Patienten ein Konsum von Cannabis; 2004 hatte sich diese Quote auf 64% verdoppelt (Seliger u. Kröber 2008). Wallace et al. (2004) berichten, dass der Anteil der strafrechtlich Abgeurteilten unter den Schizophrenen von 1975 bis 1995 von 14,8 auf 25,0% stieg; sie sehen hier jedoch keinen Effekt der Desinstitutionalisierung und
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des Übergangs zur ganz überwiegend ambulanten Versorgung, weil die Verurteiltenrate in der Vergleichsgruppe im gleichen Grade, wenn auch keineswegs um den gleichen Prozentsatz stieg, nämlich von 5,1 auf 9,6%. Die Einschätzung, dass damit ein Effekt der Enthospitalisierung bereits widerlegt sei, ist nicht schlüssig. Zumindest in Deutschland bedeutet begleitender Substanzmissbrauch (Komorbidität mit Alkohol-, Cannabis- oder sonstigem Drogenmissbrauch) in vielen Fällen auch, dass diese Kranken das ambulante Versorgungssystem kaum noch oder nicht hinreichend nutzen, ihre Medikation nicht zuverlässig einhalten, rascher rückfällig werden bzw. eine chronisch produktive Symptomatik entwickeln. Gesichert ist jedenfalls, dass eine gute Einbindung in ein sozialpsychiatrisches Behandlungsangebot, die Wahrnehmung der eigenen Behandlungsbedürftigkeit und die subjektiv erlebte Wirksamkeit der Behandlung das Gewaltrisiko schizophrener Patienten vermindern (Elbogen et al. 2006). Die Zahlen über die Kriminalitätsbelastung Schizophrener sind recht eindrucksvoll, es wäre jedoch unzulässig, daraus zu schließen, dass von schizophrenen Kranken generell eine große Gefahr ausgeht; die Mehrheit begeht keine Straftaten, und es gibt sehr viele ausnehmend friedliche Patienten. Allerdings können die berichteten Daten – Aburteilungen – eher zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Umfangs von Gewalttaten führen; viele Verfahren enden in einem früheren Stadium durch Einstellung, wenn zunächst eine allgemeinpsychiatrische Einweisung erfolgt, die möglicherweise nach wenigen Tagen schon wieder aufgehoben wird. Die Hochrechnung von Wallace et al. (2004) auf der Grundlage der soeben berichteten Daten ergab, dass knapp 10% der Gewaltdelikte in Australien von Schizophrenen begangen werden (ähnlich Walsh et al. 2002). Nun haben bekanntermaßen unterschiedliche Länder recht unterschiedliche allgemeine Kriminalitäts- und Gewaltquoten. Fazel u. Grann (2006) berechneten anhand der Strafregister und aller stationär behandelten Schizophrenen (n = 98 000, davon 43 000 Männer), die binnen 13 Jahren in Schweden behandelt wurden, dass insgesamt im Schnitt jährlich 45 Gewalttaten pro 1000 Einwohner begangen wurden, dabei 2,4 Gewalttaten pro 1000 Einwohner von Schizophrenen. Ihr Anteil an Gewaltdelikten in Schweden betrug mithin 5,2%. Bezogen auf den Bevölkerungsanteil der Schizophrenen betrug die Odds Ratio gegenüber Nichtschizophrenen bei den Männern 4,0, bei den Frauen 6,1. Wir haben hier das Phänomen, dass Männer (der Allgemeinbevölkerung) generell schon ein relativ hohes Gewaltrisiko haben. Steigt dies Risiko krankheitsbedingt deutlich an, führt dies wegen des hohen Ausgangswerts gleichwohl zu keiner besonders hohen OR, während der krankheitsbedingte Anstieg bei Frauen infolge niedriger Ausgangswerte eine höhere Odds Ratio nach sich zieht. In der absoluten Fallzahl von Gewaltdelinquenz liegen auch die schizophrenen Frauen weit hinter den Männern. Besonders stark sind Schizophrene bei Tötungsdelikten überrepräsentiert (Eronen et al. 1996); in Europa sollen 10–15% der Tötungsdelikte auf Schizophrene zurückgehen (Erb et al. 2001; Nordström et al. 2006).
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Die großen empirischen Untersuchungen können nicht die inneren Beweggründe der Kranken für ihre Delikte erfassen, wohl aber stabile, teilweise äußere Risikofaktoren, bei denen in besonders hohem Maße mit Straftaten und insbesondere Gewalttaten zu rechnen ist. Dazu gehört die fehlende Integration in das psychiatrische Versorgungssystem – oder auch Schwächen der Allgemeinpsychiatrie, Gefährlichkeit zu erkennen und zu mindern. Über eine solche multizentrische Studie aus Kanada, Deutschland, Finnland und Schweden berichten Hodgins u. Müller-Isberner (2004). Sie verfolgten den Weg von 158 männlichen Patienten mit den Diagnosen Schizophrenie, schizophreniforme oder schizoaffektive Störung, die aus dem psychiatrischen Maßregelvollzug bzw. einer vergleichbaren Einrichtung entlassen werden konnten, sie waren also alle zuvor straffällig geworden. Verglichen wurden sie mit 74 Patienten der Allgemeinpsychiatrie gleicher Diagnose und gleichen Alters, die zu diesem Zeitpunkt entlassen wurden; von diesen allgemeinpsychiatrisch behandelten Schizophrenen waren bislang 24% straffällig geworden. 78% der forensischen Patienten waren vorher schon mindestens einmal in der Allgemeinpsychiatrie stationär behandelt worden. Vor ihrer ersten allgemeinpsychiatrischen Behandlung hatten 40% der forensischen und 11% der anderen Patienten, insgesamt 59 Personen, eine rechtswidrige Tat begangen; es waren dies 195 nichtgewaltsame und 59 Gewalttaten. Verglichen wurden dann diese 59 Kranken mit den 56 Patienten, die nie straffällig geworden waren. Bei 49% von ihnen bestand ein Alkoholmissbrauch, jedoch nur bei 14% der Nichtstraffälligen. 49% der früh Delinquenten waren sozial verhaltensauffällig (vs. 16%), 37% (vs. 11%) waren als verhaltensgestört diagnostiziert. Zum Untersuchungszeitpunkt bestand bei 59% eine Drogenproblematik (vs. 27% in der nichtdelinquenten Gruppe), und 39% erhielten die DSM-Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (mit Beginn in der Kindheit), in der Vergleichsgruppe nur 9%. Tatsächlich findet sich in der Vorgeschichte von Männern, die später an Schizophrenie erkranken, eine deutlich erhöhte Prävalenz einer „Störung des Sozialverhaltens“ in Kindheit und Jugend (mit deren kognitiven, sozialen und neurologischen Auffälligkeiten) bzw. einer antisozialen Persönlichkeitsstörung (Robins et al. 1991; Kröber et al. 1994; Kim-Cohen et al. 2003). Diese erwies sich bei mehreren Untersuchungen, so auch bei Hodgins und Müller-Isberner (2004), als gewichtiger Risikofaktor; die zusätzliche Diagnose „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ erhöhte das Risiko der Straffälligkeit bei einem Schizophrenen um das 6fache. Zusätzlicher Alkohol- und Drogenmissbrauch zum Zeitpunkt der ersten psychiatrischen Behandlung – der zweite stabile Risikofaktor – erhöhte das Risiko um das 4fache. Speziell Cannabis fördert bei entsprechender Veranlagung nicht nur die Manifestation einer schizophrenen Erkrankung (Arseneault et al. 2004), sondern bei fortgesetztem Konsum auch einen medizinisch wie sozial schlechten Krankheitsverlauf. Ein dritter Risikofaktor war frühes Erkranken mit erster stationärer Behandlung vor dem 18. Geburtstag (3fach erhöhtes Risiko). Ein
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Viertel der früh straffälligen Schizophrenen wies aber keinen einzigen dieser Risikofaktoren auf, jeweils gut ein Drittel kam auf einen oder zwei Risikofaktoren, 5% hatten drei Risikofaktoren. Im Übrigen war, wie auch sonst in der Kriminologie, zurückliegende Delinquenz bei den Patienten der beste Prädiktor für künftige Delinquenz. Jedes (weitere) begangene Gewaltdelikt erhöht das Risiko künftiger Delikte. Die Autoren betonen, dass die Ärzte der Allgemeinpsychiatrie besser imstande sein müssten, schizophrene Patienten mit Suchtproblemen, antisozialer und/oder delinquenter Vorgeschichte als Risikokandidaten zu erkennen und speziellen Behandlungsprogrammen zuzuführen (Hodgins u. Müller-Isberner 2004). Ob mit zunehmendem Alter auch bei Schizophrenen das Risiko für Gewalttätigkeit nachlässt, ist nicht eindeutig geklärt (Steinert 1998). z Die Rolle des Versorgungssystems. In den letzen Jahren wird in der forensischen Psychiatrie mit Sorge registriert, dass Schizophrene aufgrund des erhöhten Kostendrucks und der verkürzten Liegedauern in der Allgemeinpsychiatrie nur unzureichend versorgt werden können, dadurch zunehmend in sozialen Abstieg geraten und Straftaten aus dem niedrigen Delinquenzbereich begehen, auf die jedoch häufiger mit juristischer Härte und Einweisung in den Maßregelvollzug reagiert wird (Rosenheck et al. 2000; Lamb 2001; Schanda 2001). Das Problem liegt nach allgemeiner Auffassung nicht generell in der unvermeidlichen Auflösung der großen Anstalten und dem Aufbau eines komplementären Versorgungssystems, sondern im Fehlen einer adäquaten Behandlungskultur für die Problemgruppe eher chronisch kranker Schizophrener mit geringen Kooperationsfähigkeiten; für diese wünscht man sich Möglichkeiten längerdauernder stationärer Behandlung, ambulante Weisungs- und Kontrollmöglichkeiten sowie aufsuchende ambulante Behandlung. Lincoln et al. (2006) haben bei einem Vergleich forensischer und allgemeinpsychiatrischer Patienten darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf Risikovariablen künftiger Gewalttätigkeit erstaunlich geringe Unterschiede zwischen forensischen und allgemeinpsychiatrischen Psychosekranken vorlagen. Naturgemäß war die delinquente Vorgeschichte bei den Maßregelpatienten ausgeprägter; kaum Unterschiede fanden sich jedoch in den klinischen Risikovariablen und hinsichtlich des sozialen Empfangsraumes. Im Gegenteil, die Autoren resümierten, dass bei der Entlassung aus der Allgemeinpsychiatrie ein weitaus höheres Wiedererkrankungs- und Delinquenzrisiko in Kauf genommen werde als bei der Entlassung aus dem Maßregelvollzug. Anscheinend bleibe bei der kurzen Aufenthaltsdauer in der Allgemeinpsychiatrie oft zu wenig Zeit für eine hinreichende Anamnese, die Erfassung früherer Delinquenz und weiterer Risikofaktoren. Die Effekte des Enthospitalisierungsprozesses werden zunehmend erforscht (Kallert et al. 2006), sie sind für bestimmte Patientengruppen, nicht zuletzt unter den chronisch Kranken, problematisch. Nach einer Erhebung von Leygraf und Kutscher (2006) sank die Zahl der psychiatrischen Betten in Nordrhein-Westfalen (18 Mio Einwohner)
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von 1990 bis 2005 um 46% von 26 541 auf 14 360 Betten. Die Zahl der behandelten schizophrenen Patienten blieb nahezu konstant bei zuletzt 24 000, die stationäre Behandlungsdauer je Fall reduzierte sich jedoch von 97 (1993) auf 39 Tage (2004), also um mehr als die Hälfte. Hingegen stieg in den 12 Jahren von 1994 bis 2006 die Zahl schizophrener Patienten im NRW-Maßregelvollzug von 187 auf 531 Patienten. Der Anteil der Schizophrenen im NRW-Maßregelvollzug lag bei 48%. 70% waren wegen Gewaltdelikten (29% Tötungsdelikte) untergebracht, 10% wegen Sexualdelikten, 9% wegen Brandstiftung. 80% waren bereits zuvor in allgemeinpsychiatrischer Behandlung gewesen mit durchschnittlich 7 Voraufenthalten. 60% waren bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten; diese hatten durchschnittlich 7 frühere Strafverfahren hinter sich. Die Häufigkeit eines komorbiden Substanzmissbrauchs war von 29% (1988) über 57% (1994) auf 72% (2006) angestiegen (Leygraf u. Kutscher 2006). Die steigenden Einweisungszahlen haben in den letzten Jahren zu einer starken Überbelegung im Maßregelvollzug geführt, der seinerseits die Behandlungsprogramme und die Therapieakzeptanz durch die Patienten gefährdet (Kröber 1999, 2002, 2005). Auch bei psychisch kranken Rechtsbrechern gibt es offenbar in den letzten Jahren von juristischer Seite ein zunehmendes Sicherheitsbedürfnis, das sich in steigenden Einweisungen und verminderten Aussetzungen der Maßregel zur Bewährung äußert. Zu beobachten ist auch, dass gefährliche Situationen, die vor fünfzehn Jahren durch eine Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie beherrschbar erschienen, Kliniken mit Versorgungsverpflichtung in der letzten Zeit zunehmend Anlass geben, eine Unterbringung gemäß § 126 a StPO zu initiieren. So hatten inzwischen 16,5% der Maßregelpatienten in Nordrhein-Westfalen ihr Delikt in stationärer Behandlung oder einer komplementären Wohneinrichtung begangen (Leygraf u. Kutscher 2006). Es scheint, dass das Phänomen „Gefährlichkeit“ als Ausdruck psychischer Gestörtheit in der Allgemeinpsychiatrie zunehmend seltener toleriert wird und dass es teilweise auch an der Kompetenz zur Risikoanalyse und adäquaten Risikobehandlung fehlt. Vermutlich muss man künftig Zwischenformen zwischen der sehr kostenintensiven, sehr kurz dauernden Akutpsychiatrie und der sehr lang dauernden, sehr einschränkenden und infolge der Dauer sehr kostenintensiven Maßregelbehandlung finden. z Eigentumsdelinquenz. Schizophren Erkrankte werden häufig auffällig durch eine Klein- und Verwahrlosungskriminalität. Dies hängt mit den Schwierigkeiten sozial hilfloser chronisch Kranker zusammen, die häufiger mit kleinen Diebstahlsdelikten, Sachbeschädigungen, Hausfriedensbruch, Landstreicherei und Zechbetrug in Erscheinung treten, oftmals erst dann als schwer krank erkannt werden und dennoch wegen fehlender Rechtsgrundlage oder wegen eines sehr weit ausgelegten „Rechts auf Krankheit“ keiner Behandlung zugeführt werden. Durch die Reform im psychiatrischen Anstaltswesen und die Auflösung von Einrichtungen, in denen chronisch schizophren Kranke längere Zeit verbringen konnten, hat sich ein zu-
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nehmendes „Outdoor-Ghetto“ schizophren Kranker entwickelt, die sozial stark verwahrlost, obdachlos, substanzmissbrauchend und multimorbide sind. Diese Kranken begehen häufig auch kleinere Delikte (Wallace et al. 2004). z Gewaltdelikte. Wenn es zu Gewaltdelikten durch Schizophrene kommt, sind Tatopfer in der großen Mehrheit der Fälle enge Bezugspersonen wie Verwandte und Bekannte (Arseneault et al. 2002). Mütter sind sehr häufig Opfer von Tötungsdelikten durch Schizophrene (Nordström u. Kullgren 2003). Einem erhöhten Risiko sind zudem rollenspezifische Bezugspersonen, Vorgesetzte oder Ärzte ausgesetzt. Teilweise sind diese Personen in den Wahn des Kranken einbezogen, teilweise werden sie angegriffen, weil sie die Freiheit des Kranken beschneiden oder an ihm Behandlungsmaßnahmen durchführen wollen, insbesondere wenn der Patient zuvor schon angespannt oder bedrohlich wirkte. Bisweilen handelt es sich auch um Missdeutungen einer Situation, wenn z. B. Freunde, Pfleger oder Ärzte durch betont munter-forsches Vorgehen die Ängste des Kranken negieren und ihn zu impulsiven Interventionen verleiten; diese Taten haben oftmals das Gepräge von (sozialen) Unfällen. Nur ein kleinerer Teil der Tatopfer steht in keiner Beziehung zu den Kranken. Im Rahmen eines chronischen, geordneten Wahnes werden aber bisweilen entfernte, häufig prominente Personen paranoid besetzt und zu einem zentralen Bezugspunkt des eigenen Denkens und Erlebens gemacht; dies kann eine entfernte Nachbarin sein, mit der man noch nie ein Wort gewechselt hat, es kann eine bekannte Schlagersängerin sein oder ein bekannter Politiker. Wo wahnhaft motivierte Tötungsdelikte begangen werden, um ein Fanal zu setzen, um die Welt auf das zerstörerische Treiben intergalaktischer Geheimorganisationen aufmerksam zu machen und sich der quälenden, fortdauernden Bestrahlung zu entziehen, wird der schließlich attackierte Prominente aber teilweise recht spät und nach Maßgabe der praktischen Gelegenheiten ausgesucht: weil er beispielsweise zwei Monate zuvor für ein Gastspiel in dieser Stadt angekündigt worden ist. Schizophrene werden aber, teils durch unvorsichtiges, teils durch ihr bizarres Verhalten auch häufiger Opfer von Gewalttaten (Swanson et al. 2002; Walsh et al. 2002). Diese beginnen bisweilen mit Zurechtweisungen wegen einfachen Fehlverhaltens oder handgreiflichen Versuchen, den Kranken zur Ordnung zu zwingen; aus der Gegenwehr heraus kann die Situation eskalieren und der Kranke schließlich als Täter dastehen. Eigene Gewalterfahrungen wiederum erhöhen das Risiko späteren gewaltsamen Agierens; bei Schizophrenen in sozial randständigen Bezirken US-amerikanischer Städte fand sich auch ein gehäuftes, dissozial wirkendes Begehen von Gewalthandlungen und Drohen mit Waffen, das in seinem kriminologischen Muster der durch Verwahrlosung bedingten Eigentumskriminalität ähnelt (Swanson et al. 2006).
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z Sexualstraftaten Schizophrener. Vergleichsweise selten werden Schizophrene durch Sexualstraftaten auffällig (Smith u. Taylor 1999; Soyka et al. 2004; Wallace et al. 2004). Diskutiert wird in solchen Fällen, ob bestimmte, von Sexualität unabhängige Effekte der Grunderkrankung zu sexuellen Übergriffen führen (Smith 2000). Zu nennen wäre hier beispielsweise die fortschreitende soziale Isolation von Psychotikern mit der reduzierten Möglichkeit zum Ausleben sexueller Wünsche und der Unfähigkeit eines angemessenen Beziehungsaufbaus zu potentiellen Sexualpartnern, so dass dadurch sexuelle Übergriffe provoziert werden könnten. Zu berücksichtigen ist auch die häufige Komorbidität mit einem Suchtmittelmissbrauch, der durch Enthemmung sexuelle Übergriffe bahnen könnte. Da die Schizophrenie das Persönlichkeitsgefüge eines Menschen zudem massiv verändert, kann sie aber auch besondere Alterationen des Sexualtriebes nach sich ziehen, so dass sexuelle Übergriffe bei krankheitsbedingt gesteigerter Libido wahrscheinlicher werden könnten. Meist reduziert sich bei Schizophrenen jedoch das Bedürfnis nach Sexualität entweder durch die Erkrankung selber, die das allgemeine Antriebsniveau und somit auch sexuelle Aktivitäten reduziert, oder durch den Effekt einer antipsychotischen Medikation, die ebenfalls zu einer Reduktion der Libido führen kann. Raritäten sind Fälle, in denen ein Sexualdelikt direkter Ausdruck psychotisch bedingten bizarren Verhaltens ist. Sehr selten werden Schizophrene beispielsweise durch imperative Phoneme (befehlende Stimmen) zu Sexualstraftaten getrieben oder begehen einen sexuellen Übergriff als Bestrafungshandlung gegen einen vermeintlichen Widersacher, unter dessen Kontrolle und Überwachung sie sich wähnen (Drake u. Pathé 2004). In Hinblick auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit eines schizophrenen Sexualstraftäters ist sehr genau zu analysieren, ob eine eigenständige Sexualpathologie, das Vorliegen zusätzlicher antisozialer Persönlichkeitszüge, die Symptome der psychotischen Erkrankung oder einer anderen psychischen Störung (wie hirnorganische Veränderungen), soziale Defizite oder ein zusätzlicher Suchtmittelkonsum für das straffällige Verhalten ausschlaggebend war. Jede Konstellation zieht unterschiedliche Einschätzungen nach sich in Hinblick auf die Fähigkeit eines Schizophrenen, das Unrecht einer Sexualstraftat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
3.1.3.3 Theorien zur Verursachung der Straffälligkeit Schizophrener Unklar ist, auf welche Weise der Zusammenhang zwischen der Psychopathologie dieser Erkrankung und dem erhöhten Risiko für Gewalttaten vermittelt ist. Offenbar führt die Erkrankung keineswegs im Selbstlauf oder in der Mehrzahl der Fälle zu delinquentem Handeln oder gar zu Gewalttaten. Insofern gab es Stimmen, dass gar nicht die Psychose selbst, sondern komorbide Störungen (wie Substanzmissbrauch oder antisoziale Vorgeschichte) die Delinquenz verursachen. Dies wiederum hielt häufig kasuistischer Überprüfung nicht stand, denn auch Schizophrene mit Substanz-
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missbrauch begingen nicht selten ihre Taten aus einer wahnhaften Motivation heraus, z. T. auch in keineswegs berauschter Verfassung. z Insuffiziente Therapie. Sinnvoll ist es, sich die Vorgeschichte der Kranken mit schweren Delikten zu vergegenwärtigen, die dann in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen wurden (Leygraf u. Kutscher 2006): 35% hatten einen gesetzlichen Betreuer, 16,5% waren in einer psychiatrischen Klinik oder einer nachgeordneten Einrichtung, anderseits waren 12% obdachlos, jedenfalls „ohne festen Wohnsitz“. 27% waren maximal 3 Monate zuvor aus stationärer Behandlung entlassen worden. Bei 72% lag ein Substanzmissbrauch vor, unter Substanzeinwirkung bei der Tat standen aber nur 43% der Patienten (bei Tötungsdelikten 30%). Bei zwei Dritteln der Patienten gab es Behandlungsschwierigkeiten. Nur 9% der Patienten erhielten vor dem Unterbringungsdelikt eine regelmäßige antipsychotische Medikation, also auch nur ein Teil der Untergebrachten. Die große Mehrzahl der Patienten hatte also zum Tatzeitpunkt keine oder keine annähernd suffiziente Behandlung. Auch Steinert et al. (2000) betonten den Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Gewaltdelikten durch Schizophrene und dem Fehlen einer angemessenen medikamentösen Behandlung. Dabei spielt weniger eine schlechte medizinische Versorgung eine Rolle als vielmehr die Tatsache, dass die zu Gewalttaten neigenden Schizophrenen diejenigen sind, die sich einer adäquaten Behandlung entziehen. Sie nehmen die notwendigen Medikamente nur unzuverlässig ein, weil sie ein nur gering ausgeprägtes Krankheitsgefühl entwickeln oder eine Einsicht in das Vorliegen einer Erkrankung fehlt (Bartels et al. 1991). Von besonderem Gewicht ist mithin der „soziale Empfangsraum“, und zwar keineswegs nur bei der Entlassung aus dem Maßregelvollzug, sondern nicht minder bei der Entlassung aus der Allgemeinpsychiatrie. z Unterschiedliche Ursachen. Tatsächlich gibt es wohl unterschiedliche Voraussetzungen und Hintergründe der rechtswidrigen Taten Schizophrener, insbesondere Formen der direkten Verursachung durch wahnhafte Motivation und krankhafte Situationsauffassung und indirekte Verursachung durch Verwahrlosung und Persönlichkeitsveränderung: z Taten, die durch massive schizoide, psychopathische oder auch impulsive Persönlichkeitsanteile befördert wurden; z überwiegend impulsive Taten infolge einer sehr akuten paranoid-halluzinatorischen Symptomatik (Wahn und Halluzinationen, akut überwältigende Symptomatik („TCO“, siehe unten)); z sorgfältig vorbereitete, besonnen begangene Taten aus einer chronischen Wahnentwicklung heraus; z Taten in der Residualverfassung infolge eines krankheitsbedingten Persönlichkeitswandels mit oder ohne soziale Verwahrlosung.
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z Persönlichkeitseigenheiten. Auch unter schizophrenen Patienten gibt es eine Variation und unterschiedliche Prägnanz von Persönlichkeitseigenschaften, so auch jenen, die das Risiko für kriminelles bzw. gewalttätiges Verhalten erhöhen. Insbesondere eine gering ausgeprägte Fähigkeit zur Impulskontrolle, eine untersteuerte Affektregulation, eine hohe Kränkbarkeit und ein noch nicht psychotischer, aber ausgeprägt paranoider Denkstil (Misstrauen, Feindseligkeit und geringe Empathiefähigkeit) scheinen insgesamt mit einem hohen Risiko für gewalttätiges Verhalten und Gewalttaten verbunden zu sein (Nestor 2002; Abu-Akel u. Abushualeh 2004). Die kompensatorische Entwicklung von Gewalt- und Rachephantasien bei Beeinträchtigungserlebnissen schafft Voraussetzungen für entsprechende Taten (Monahan et al. 2001). Aber auch besonders impulsive, kurzschlüssig und vorschnell handelnde Menschen sind stärker gefährdet, einfache Eigentumsdelikte ebenso wie Gewalthandlungen zu begehen. In Bezug auf die Gewalttätigkeit von Schizophrenen steht auf der einen Seite daher die Auffassung, dass die gewalttätigen Kranken diejenigen sind, die schon vor Ausbruch der Erkrankung bestimmte, dabei insbesondere dissoziale bzw. antisoziale Persönlichkeitszüge aufgewiesen haben. Tatsächlich gibt es eine relevante Korrelation zwischen den Diagnosen „Schizophrenie“ und „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ (Moran et al. 2003; Moran u. Hodgins 2004). Insbesondere bei Vorliegen von „Psychopathy“, einer Sonderform der antisozialen Persönlichkeitsstörung, gemessen anhand der PCL-R (Hare 1991), erhöht sich für Schizophrene das Risiko für allgemeine und gewalttätige Rückfälligkeit beträchtlich (Rice u. Harris 1992; Tengström et al. 2000). Tatsächlich gibt es hier wohl eine Überlappung von bestimmten Kernsymptomen, insbesondere Kühle, emotionale Oberflächlichkeit und Unberührtheit, Empathiemangel, fehlende Schuldgefühle. Zugleich ergeben sich aus den prämorbiden Defiziten in der Kindheit mancher späterer Schizophrener deutliche soziale Integrationsschwierigkeiten, so dass sie früh in eine Außenseiterrolle geraten. z Substanzmissbrauch. Bereits eingehend erörtert ist die negative Rolle des Substanzmissbrauchs, gerade auch für Gewaltdelikte (Soyka 2000; Putkonen et al. 2004). Dabei handelt es sich wohl am ehesten um einen additiven Effekt; die Tatmotivation kann gleichwohl ganz und gar wahnhaft oder Ausdruck psychotischer Angst und Gequältheit sein, sie kann aber auch Ausdruck der sozialen Verwahrlosung sein, vor allem bei (teils gewaltsamen) Eigentums- und Raubdelikten. z Akute psychotische Verfassung. Keineswegs ganz selten sind jedoch die Fälle, in denen schizophren Kranke vor Ausbruch der Psychose keine besonders riskanten Persönlichkeitseigenheiten hatten und eindeutig erst im Zusammenhang mit akuter psychotischer Symptomatik gefährliche Straftaten begehen. Versucht man, mit dem Probanden die subjektiven Gründe für seine Tat zu rekonstruieren, fällt dies infolge des fortlaufenden Krankheitsprozesses und einer weiteren Umdeutung der Geschehnisse bisweilen
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nicht ganz leicht. Unstreitig ist aber in diesen Fällen die Gewalttat ganz Ausdruck der psychotischen Erkrankung. Seit langer Zeit hingewiesen wurde auf den Zusammenhang zwischen dem akuten Ausbruch einer psychotischen Störung und Gewalttätigkeit bei Schizophrenen (Taylor 1985); die Wahrscheinlichkeit gewalttätigen Verhaltens steigt aber offenbar auch mit zunehmender Krankheitsdauer an (Taylor 1993). Böker u. Häfner (1973) beschrieben, dass bei einem Teil der Kranken schon lange vor der Begehung von Gewalttaten schizophrene Symptomatik deutlich war, ohne dass sie einer entsprechenden Therapie zugeführt worden wären. Zum einen gab es in ihrer Studie Gewalttaten von Kranken, die in akuter psychotischer Verfassung Situationen als Bedrohung fehldeuteten, die also eher unvorbereitet aus akuter psychotischer Angst und/oder Gereiztheit heraus handelten. Zum anderen gab es Kranke, die aus einem besonnenen, geordneten Wahn heraus, äußerlich recht unauffällig, eine Gewalttat – nicht selten eine Tötung, z. B. einer nahestehenden oder aber prominenten Person – sorgfältig vorbereiteten, zielgerichtet durchführten und sich der Strafverfolgung geschickt zu entziehen versuchten. So wurden auch von verschiedenen weiteren Autoren (Taylor 1985) schizophrene Gewalthandlungen vor allem mit Wahn und den damit verbundenen Emotionen in Verbindung gebracht. Statistisch allerdings unterschied das Vorliegen von Wahn (bei Schizophrenie ja häufig) nicht zwischen gewalttätigen und nicht gewalttätigen Kranken; es sind offenbar bestimmte Wahninhalte bei bestimmten Individuen, die zu Gewalttaten disponieren. Genannt wurden immer wieder Verfolgungswahn und das Gefühl der Bedrohung, und in vielen Einzelfällen lässt sich rekonstruieren, dass die schizophrenen Täter(innen) der Überzeugung waren, das (zumeist nahestehende) Opfer habe ihnen nach dem Leben getrachtet, sei eingebunden gewesen in eine Verschwörung. Nordström et al. (2006) haben alle 48 schizophrenen Tötungsdelikte analysiert, die 1992–2000 in Schweden begangen wurden. Gut die Hälfte der Täter litt akut unter Wahn und Halluzinationen; neben der Überzeugung von Bedrohtheit und Verfolgung sei bisweilen auch wahnhaft verursachter Ärger das Tatmotiv gewesen, so der Zorn auf den Vater, von dem der Kranke glaubte, er unterhalte eine Liebesbeziehung zu seiner Ehefrau. In 10 von 48 Fällen berichteten die Täter von imperativen Stimmen, die aber im Wesentlichen wahnhafte Überzeugungen wiedergaben und teilweise bereits seit Jahren – z. B. als Stimme des Teufels – die Tötung der Mutter verlangten. Entscheidend auch in diesen Fällen war wohl nicht das Befehlende an den Stimmen, sondern die in ihnen sichtbar werdenden wahnhaften Überzeugungen. Wenn Täter primär auf imperative Stimmen verweisen, ist angesichts der Laienauffassungen über Schizophrenie bei einer Begutachtung stets als erstes zu prüfen, ob überhaupt eine Psychose vorliegt bzw. vorgelegen hat, also ob es eine diagnostisch wegweisende weitere Symptomatik gegeben hat. Ist eine Schizophrenie gesichert, so ergeben die imperativen Stimmen einen wichtigen diagnostischen Hinweis und beleuchten die Wahnthematik. Die Stimmen sind insoweit Sprache gewordener Wahn. Für die forensisch-
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psychiatrische Beurteilung ist entscheidend, dass ein akut psychotischer Zustand vorgelegen und das Handeln bestimmt hat; bereits unabhängig vom Erleben von Halluzinationen war die Handlungskontrolle für das Verhalten wahnbedingt massiv beeinträchtigt. Ohnehin zeigt die Beobachtung, dass Psychotiker keineswegs ihren befehlenden Halluzinationen zwanghaft folgen müssen, sondern sich für längere Zeit durchaus den Aufforderungen widersetzen und diese als Belästigung erleben. Auch in der Allgemeinpsychiatrie berichten Patienten vom Erleben befehlender Stimmen, ohne dass es zu strafbaren Handlungen kommen muss. So stellt sich oftmals die Frage, warum es nach längerer Krankheitsgeschichte gerade zu diesem Zeitpunkt zu Gewalttaten gekommen ist. Link et al. (1998, 1999) entwickelten dazu den Gedanken, dass besonders ein bestimmtes Symptombündel an Taten heranbringt, nämlich „threat – control – override“ (TCO), also das unmittelbare subjektive Erleben von Bedrohung (Bestrahlung, Körperhalluzinationen etc.), Kontrolliertsein von äußeren Mächten (Gedankenentzug, Gedankenbeeinflussung etc.) mit Ausgeliefertsein und beginnender Überwältigung (Ich-Verlust, Untergang). Allerdings entziehen sich die TCO-Symptome der Überprüfung in großen Kollektiven, da sie spontan kaum berichtet werden, sondern gezielt exploriert werden müssen. Die Kranken wehren sich in diesen Fällen gegen vermeintliche Widersacher, um den subjektiv quälend erlebten Beeinflussungen zu entgehen, die sie sehr unmittelbar in Coenästhesien und schmerzhaften Körperhalluzinationen erleben, zum Teil auch in belastenden, beschimpfenden, bedrohenden Stimmen und Wahrnehmungsverzerrungen. Allerdings ist die Befundlage zu diesem Zusammenhang nicht eindeutig (Hodgins et al. 2003; Stompe et al. 2004). Bei Nordström et al. (2006) waren bei gut einem Viertel der Tötungsdelinquenten TCO-Symptome nachweisbar, ohne dass gezielt danach geforscht werden konnte, so dass die tatsächliche Quote eher höher liegen könnte. Relativ unstrittig ist, dass insbesondere chronische Verläufe einer Schizophrenie mit überdauernder intensiver und unkorrigierbarer Wahnsymptomatik zu aufsehenerregenden Straftaten führen können wie z. B. den Attentaten gegen Politiker, bei denen psychotische Menschen über lange Zeit die gefährlichen Straftaten geplant hatten. Lang vorbereitete Gewaltdelikte sind gleichwohl selten. z Situative Faktoren. Andere Autoren weisen auf die erhebliche Bedeutung situativer Faktoren als Tatauslöser hin – insbesondere die Entwurzelung aus bisherigen Lebensumfeldern, den Verlust signifikanter Bezugspersonen und stützender Settings – sowie darauf, dass Schizophrene häufiger Gewalt- und Kriminalitätsopfer werden und schneller auffallen (Hiday 1995; Monahan et al. 2001; Silver 2002). Sicherlich gibt es auch bei Schizophrenen im Langzeitverlauf jenseits sehr akuter Krankheitsphasen Situationen der Resignation und der Selbstaufgabe, die zu einem erhöhten Risiko suizidaler Handlungen führen, aber auch zu einem erhöhten Delinquenzrisiko. Nochmals sei betont, dass es in einer ganzen Reihe von Fällen durch Fehl-
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deutungen von Situationen zu aktiven Gewaltdelikten gegen vermeintlich Feindselige kommt; sinnvollerweise führen solche sozialen Unfälle zur Zwangseinweisung in die Akutpsychiatrie und nicht zu einer Gerichtsverhandlung. Typische Delikte aus dem Bereich sich relativ rasch entwickelnder Gefährlichkeit bei schizophren Kranken sind Anklagen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ohne Vorbereitungshandlungen. Der Kranke erlebt beispielsweise die Aufforderung von Sicherheitskräften, einen bestimmten Bereich zu verlassen, als Ausdruck einer umfassenden Beeinträchtigung und kann mit Angst und Gegenwehr reagieren und sehr häufig auch mit Beschimpfungen. Bisweilen fallen Schizophrene dabei auch durch sarkastisch gemeinte Sieg-Heil-Rufe und den Hitlergruß auf, was ihnen zusätzlich ein Verfahren wegen eines vermeintlichen Propagandadelikts einträgt. z Residualverfassung. Ein besonderes Problem für die Beurteilung der Schuldfähigkeit bei Schizophrenien stellen chronisch-residuale Zustände dieser Psychose dar, wenn sie mit Beeinträchtigungen der Intentionalität und Volition einhergehen. Schizophren Kranke können Schwierigkeiten entwickeln, Handlungen aktiv aus sich selbst heraus zu initiieren. Bei Anstoß von außen können sie u. U. jedoch Handlungen durchaus gestalten. Die Unfähigkeit zur zielorientierten Planung und eigenständigen kontinuierlichen Umsetzung eines Handlungsplans kann eine der Ursachen für die Antriebsarmut von chronisch Schizophrenen sein. Diese Beeinträchtigung kann jedoch auch für die Begehung von Straftaten eine Rolle spielen, insbesondere bei Gruppendelikten. Einige Schizophrene können an solchen Straftaten beteiligt sein, obwohl die Mehrzahl der Kranken einen sozialen Rückzug entwickelt und in Isolation lebt und wenn, dann vor allem als Einzeltäter in Erscheinung tritt (Haller et al. 2001). Infolge ihrer verminderten Kritikfähigkeit finden sich gelegentlich Schizophrene (häufig vom hebephrenen Typus, der früh im Lebensverlauf einsetzt und zu dissozial anmutenden Verläufen führen kann) als Mitglieder von Banden oder Gruppen, in die sie als Mitläufer integriert sind. Sie schließen sich in solchen Konstellationen Gruppenaktivitäten an, die in Straftaten münden können, wenn sie nicht schon von vorne herein als solche geplant waren. Recht häufig waren die psychisch Behinderten dann Beteiligte an den Straftaten, ohne dass sie aktiv die strafbaren Handlungen begonnen oder den Ablauf aktiv mitgestaltet hätten. Eine klare Entscheidung gegen das delinquente Handeln ist ihnen jedoch auf Grund ihrer Erkrankung nur eingeschränkt möglich. Diese Beeinflussbarkeit kann Grundlage sein für die Annahme, ein Schizophrener sei in seinem Hemmungsvermögen bzw. seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert gewesen. Die forensische Erfahrung zeigt aber auch, dass in solchen besonderen Gruppenkonstellationen gelegentlich Schizophrene bewusst Delikte begehen, weil sie damit rechnen, auf Grund ihrer Erkrankung nicht strafrechtlich belangt werden zu können. Von einer
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aufgehobenen Steuerungsfähigkeit kann in solchen Fällen nicht gesprochen werden. Allerdings kann durch den chronifizierten Krankheitsprozess auch das Wertgefüge eines Kranken massiv verändert sein, so dass auf der motivationalen Ebene der Impuls zur strafbaren Handlung auf Prozesse zurückgehen mag, die nur noch sehr beschränkt einer gesunden Steuerung unterliegen, so dass verminderte Schuldfähigkeit bei ihnen auch für relativ banale und nachvollziehbare Delikte, speziell Eigentumsdelikte, naheliegt.
3.1.3.4 Beurteilung der Schuldfähigkeit Schizophrener Bei vielen schwerwiegenden Taten Schizophrener ist bei einer genauen forensisch-psychiatrischen Analyse recht gut herauszuarbeiten, dass die akute Psychopathologie der Erkrankung, speziell Wahn und die Furcht vor Auflösung und Vernichtung, direkt zu den Straftaten führt und sie bedingt (siehe den Beispielfall in Band 3 des Handbuchs, S. 173 ff., der in größerem zeitlichen Abstand zwei innerfamiliäre Tötungsdelikte begangen hat (Kröber 2006)). In weiteren Fällen sind die besonderen psychischen Symptome nicht unmittelbar Ursache für die vermeintlich erforderliche Gegenwehr des Psychotikers, sie können jedoch Furcht und Panik bedingen und aggressives Verhalten bahnen. Immer wieder bleiben allerdings die Motive für bestimmte Taten trotz umfangreicher Analyse einer zweifellos als schizophren zu bezeichnenden Psychopathologie im Dunkeln. Bisweilen ist der Kranke zum Tatzeitpunkt in einer geistig so desorganisierten, verworrenen Verfassung, dass er im Nachhinein nicht imstande ist, seine Gedankengänge und Motive zu rekonstruieren; die Kranken neigen dann dazu, ihrem Handeln hinterher eine triviale, normalpsychologische Deutung beizulegen, welche zumal juristische Beurteiler in die Irre führen kann. In solchen Situationen es ist für den forensisch-psychiatrischen Beurteilungsprozess der Voraussetzungen der Schuldfähigkeit von entscheidender Bedeutung, dass nicht allein nach einem schlüssigen Motiv gesucht wird, sondern dass durch Musterung der Zeugenaussagen und eingehende Exploration gesichert wird, dass zum Tatzeitpunkt ein akuter psychotischer Krankheitszustand vorlag. Diese akute schizophrene Symptomatik bildet die Grundlage für die Zuschreibung der psychiatrischen Voraussetzungen aufgehobener Schuldfähigkeit, unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung der Krankheit im Einzelfall. Akute psychotische Symptomatik im Sinne einer exazerbierten schizophrenen Psychose hebt die bei einem psychisch Gesunden unbeeinträchtigt bestehenden Freiheitsgrade des Handelns weitestgehend auf. Schon lange vor der Etablierung der Psychiatrie als medizinischer Disziplin galt, dass psychische Erkrankung mit einer Aufhebung der Fähigkeit zur Realitätswahrnehmung und zur Realitätsprüfung und einer massiven Veränderung der basalen Denkfunktionen einhergeht. Damit werden die Selbstbestimmung und freie Willensbestimmung aufgehoben. Seelische Krankheit bedeutet eine schuldlose, schicksalhafte Überwältigung des Individuums durch von ihm selbst nicht kontrollierbare Wahrnehmungs-, Denk- und
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Handlungsformen. Wahrnehmungen und Bewertungen sind dem eigenen steuernden Zugriff entzogen. Die Befangenheit in der eigenen Besonderung, die krankheitsbedingte Egozentrik, macht es dem Betroffenen unmöglich, sich primär an sozialen Normen zu orientieren und im Konfliktfall normkonforme Entscheidungen zu treffen (siehe Band 1 dieses Handbuches, S. 159 ff.). Die agnostische Schule der forensischen Psychiatrie (Schneider 1948) vertrat die Auffassung, dass für psychisch Gesunde die Prozesse im Rahmen einer schizophrenen Psychose überhaupt nicht nachvollziehbar sind. Es verbiete sich daher ein Urteil über erhaltene oder beeinträchtigte „psychologische“ bzw. strafrechtlich relevante Fähigkeiten, speziell über das Ausmaß von Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit. Einem schizophrenen Kranken müsse daher allein aufgrund der Diagnose Schuldunfähigkeit zugeschrieben werden, da beispielsweise die Impulssteuerung von Psychotikern einer differenzierten Betrachtung nicht zugänglich sei und man daher eine völlige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit nicht ausschließen oder sogar unterstellen könne. Dies führte über längeren Zeitraum dazu, dass sachverständig beratenen Gerichten die Diagnose „Schizophrenie“ prinzipiell ausreichte, um Kranke unabhängig von den Taten und dem akuten Krankheitsstadium für ihr Handeln zu exkulpieren, waren es nun Bagatelldelikte oder aber auch schwere Gewalttaten. Insbesondere gestützt auf die Arbeiten von Janzarik (1961, 1991) hat sich dann jedoch die Auffassung etabliert, das die Psychiater sehr wohl imstande sind, unterschiedliche Schweregrade und Störungsqualitäten bei Schizophrenen zu unterscheiden und dass gerade remittierte Schizophrene mit einer nur mäßigen Residualsymptomatik durchaus schuldfähig sein können, wenn auch in vermindertem Umfang. Es ist unter mehreren Gesichtspunkten problematisch, wenn nach einmaliger Feststellung von Schuldunfähigkeit eines schizophren Kranken alle Folgeverfahren frühzeitig wegen Schuldunfähigkeit eingestellt werden. Wie erörtert, neigen manche chronisch kranke Schizophrene auch in Krankheitsphasen ohne Wahn und Halluzinationen (oder ganz unabhängig von ihnen) zu Straftaten aus dem niedrigen Delinquenzbereich. Typische Delikte wären Beförderungserschleichung oder Ladendiebstahl, aus durchaus normalpsychologischen Motiven begangen. Gelegentlich befördert das Vorgehen, allen Straftaten mit Einstellungsbeschlüssen zu begegnen, die Herausbildung delinquenter Gewohnheiten. Andererseits kann das stete Einstellen der Verfahren eine allmählich zwingende Maßregel verhindern. Eine Aufhebung der Einsichtsfähigkeit und, wenn diese im Grunde vorhanden ist, eine Beeinträchtigung der Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln (Steuerungsfähigkeit) durch die psychotische Symptomatik ist vom Sachverständigen plausibel darzustellen. Die massiven psychopathologischen Veränderungen in der akuten Psychose umfassen Veränderungen des Denkens, des Antriebs, der Gefühle, der Impulssteuerung und der Ich-Grenzen (siehe Kap. 1). Sie sind so massiv und durchgreifend, dass bisweilen von Vorneherein feststeht, dass
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krankheitsbedingt kein normbezogenes Hemmungsvermögen zu erwarten war, dass aber auch die Realitätswahrnehmung so tiefgreifend verändert war, dass die Einsichtsfähigkeit in das Rechtswidrige des Handelns nicht mehr gegeben war. Wenn die Einsichtsfähigkeit in die Rechtswidrigkeit eines zur Rettung der Welt vermeintlich notwendigen Mordes oder Inzestversuchs krankheitsbedingt fehlte, so handelt es sich bei der Tat gleichwohl nicht um ein Handeln im Zustand des „Verbotsirrtums“ (§ 17 StGB). Allemal sind auch bei aufgehobener Einsichtsfähigkeit und der Erwartung künftiger erheblicher Taten ein Sicherungsverfahren und die gerichtliche Anordnung einer psychiatrischen Maßregel möglich. Delikte schizophren Kranker können chaotisch, bizarr und spontan begangen werden; in diesen Fällen ist auch die situationale Steuerungsfähigkeit oft beeinträchtigt, die Tatmuster wirken ungeordnet wie bei einem Betrunkenen oder hirnorganisch Kranken (zu situationaler und motivationaler Steuerungsfähigkeit siehe auch Handbuch Band I, S. 192 (Kröber 2007)). Die sorgfältig geplante und zielstrebige Durchführung einer Tat eines Schizophrenen bedeutet jedoch nicht, dass sich daraus nun erhaltene „Steuerungsfähigkeit“ ableiten ließe, denn dieser Rechtsbegriff bedeutet nicht primär operative Handlungskontrolle, sondern eben die Fähigkeit zu einsichtskonformem Verhalten. Diese aber ist aber bei besonnen Wahnkranken aufgehoben; deren motivationsbezogene Steuerungsfähigkeit ist durch paranoides Erleben und Ausdeuten der Welt grundlegend verändert. Werden solche Taten sorgsam geplant und vor polizeilicher Intervention geschützt, wird man das Wissen um das Verbotene des eigenen Tuns zwanglos voraussetzen können. Gleichwohl ist dies ein Zustand aufgehobener Schuldfähigkeit, wenn die Einsicht in das Rechtswidrige folgenlos bleibt, weil aus Krankheit entstandene wahnhafte Überzeugungen, die der Kranke als unbezweifelbar erlebt, den Schizophrenen über das Rechtssystem erheben in eine a-soziale, gottgleiche Position, die ihm seine Handlungen auferlegt. Bisweilen werden destruktive Wahnbildungen und paranoide Überzeugungen im Rahmen schizophrener Zustände von intensiven Gefühlsveränderungen der Kälte, des Hasses, der Herablassung begleitet, die wiederum mit einer hochgradigen Empfindlichkeit und Verletzlichkeit einhergehen können. Die gestörte Affektivität trägt zusätzlich dazu bei, dass die Kranken ihre Impulse schließlich nicht mehr steuern können, zumal auch die Emotionsregulation durch die chronische Erkrankung beeinträchtigt sein kann. Schwierig ist die Beurteilung von Straftaten durch Schizophrene, wenn Delikte zwar in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Ausbruch einer psychotischen Erkrankung zu sehen sind, eindeutige akut-psychotische Symptomatik für den Tatzeitpunkt selber jedoch noch nicht oder nicht mehr nachzuweisen ist. Sofern der Kranke nicht in einem Umfeld war, in dem seine Symptomatik fachkundig genauestens täglich registriert wurde, wird man in solchen Fällen aus gutem Grund nicht ausschließen, dass auch zum Tatzeitpunkt einige Tage oder wenige Wochen vorher bereits eine
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wirksame Erkrankung vorlag. Schizophrene Psychosen gehen mit Vorlaufund Abklingphasen einher, in denen das Persönlichkeitsgefüge nicht mehr intakt oder noch nicht wieder soweit hergestellt ist, dass von gesunden Denkabläufen und ausreichenden gedanklichen Steuerungsmechanismen gesprochen werden könnte. Der Schizophrene unterliegt auch schon im fortgeschrittenen Prodromalstadium einem krankhaft veränderten Weltbezug. Residualsyndrome jedoch können nur in Ausnahmefällen die Annahme der Voraussetzungen aufgehobener Schuldfähigkeit begründen. Dass die krankhaften Prozesse einer Psychose jedoch überhaupt keinen Einfluss auf das Handeln des Kranken gehabt hätten, wird schwerlich nachzuweisen sein, so dass auch bei chronischen schizophrenen Psychosen in der Mehrzahl der Fälle die Dekulpation nach § 21 StGB gerechtfertigt erscheint. z Wahnhafte und schizophreniforme Störungen. Eine ähnliche, wenn auch nicht vollständig identische Symptomatik wie schizophrene Psychosen zeigen die anhaltenden wahnhaften Störungen (so der heutige Begriff der Internationalen Klassifikation der WHO), obwohl sie eine andere Krankheitsgruppe darstellen (Häfner et al. 2001). Es handelt sich hierbei um Störungen mit umschriebenem und chronifiziertem Wahnsystem ohne darüber hinausgehende affektive Symptome oder Antriebsauffälligkeiten wie bei den Schizophrenien (Fuchs 2000). Auch Halluzinationen stehen nicht im Vordergrund der Symptomatik. Risikofaktoren für die Entwicklung einer solchen Störung können Kontaktmangel, Schwerhörigkeit, Verfolgung und Konflikte darstellen. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer. Es wird eine multifaktorielle Verursachung angenommen, allerdings sind die Interaktionen der prämorbiden Persönlichkeitsstruktur des Kranken zu Konflikten mit der Umwelt häufig gut herauszuarbeiten (insbesondere beim sog. sensitiven Beziehungswahn). Manifestationsformen dieser anhaltenden Störungen sind auch der Liebes- oder Eifersuchtswahn und der Querulantenwahn, wobei alle genannten Formen forensisch relevant werden können. Querulanten beschäftigen die Justiz bekanntermaßen häufig und intensiv, allerdings ist der Zusammenhang zwischen anhaltenden wahnhaften Störungen bzw. paranoiden Psychosen und Gewalttätigkeit nicht besonders gut wissenschaftlich untersucht. Gelegentlich wurde allerdings ein erhöhtes Risiko für Tötungsdelikte bei den paranoiden Psychosen beschrieben (Gottlieb et al. 1987; Schanda et al. 2004). Auch für die wahnhaften Störungen ist in Hinblick auf die strafrechtliche Verantwortlichkeit festzustellen, dass es sich um akute psychotische Zustände handelt. Straftaten resultieren in diesen Fällen wiederum aus einer krankhaft veränderten Weltsicht. Gemäß der oben genannten Ausführungen ist daher auch in solchen Fällen die Zuschreibung der Voraussetzungen der Schuldunfähigkeit gerechtfertigt. Bei Straftaten gegen Partner im Rahmen eifersuchtswahnhafter Zustände beispielsweise ist unschwer die gravierende Beeinträchtigung der motivationsbezogenen Steuerungsfähigkeit des Kranken zu sehen, die es rechtfertigt, ihn als schuldunfähig anzu-
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sehen, auch wenn den Taten meist über einen längeren Zeitraum Vorbereitungshandlungen vorausgehen. Probleme machen einmalige schizophreniforme Episoden – von denen sich manche im weiteren Verlauf als erste Episode einer Schizophrenie erweisen – im Hinblick auf die Krankheitsprognose und die daran gekoppelte Kriminalprognose. Wenn keine einschlägige frühere Kriminalität vorliegt und die Tat eindeutig eingebunden war in die akute psychotische Erkrankung und nur aus ihr heraus zu verstehen, wenn andererseits die Krankheitssymptomatik vollkommen abgeklungen ist, so lässt sich die vorsorgliche Einweisung in die psychiatrische Maßregel nicht begründen. Dieser Entschluss mag schwer fallen, wenn in der psychotischen Verfassung ein Tötungsdelikt begangen wurde, das wegen Schuldunfähigkeit straflos bleibt. Doch die Diagnose besagt, dass mit einem erneuten Erkranken kaum zu rechnen ist, und ein Delinquenzrisiko bestünde nur im Falle erneuten Erkrankens. Natürlich gilt dies nur, bis ein eventuelles erneutes Erkranken die Diagnose revidiert und auf einen phasischen Krankheitsverlauf verweist. z Schizotypische Störung. Den Schizophrenien nahestehend ist eine besondere psychische Störung, die schizotypische (Persönlichkeits-)Störung. Im diagnostischen Manual der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (DSM) wird die schizotypische Störung den Persönlichkeitsstörungen zugerechnet. In der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (ICD) wird sie jedoch im Kapitel F2, also bei den Störungen u. a. aus dem schizophrenen Formenkreis, geführt. Es wird damit die Verwandtschaft zu den schizophrenen Psychosen betont, für die es relevante wissenschaftliche Befunde gibt: Die schizotypische Persönlichkeitsstörung scheint familiär gehäuft aufzutreten und ist bei Verwandten ersten Grades schizophrener Patienten häufiger als in der Normalbevölkerung. Es scheint auch eine leichte Häufung von schizophrenen Psychosen oder anderen psychotischen Erkrankungen bei den Angehörigen eines schizotypisch Erkrankten vorzuliegen. Diagnostische Kriterien für die schizotypische Persönlichkeitsstörung sind ein tiefgreifendes Muster sozialer und zwischenmenschlicher Defizite, das durch akutes Unbehagen in und mangelnde Fähigkeit zu engen Beziehungen gekennzeichnet ist. Es treten Verzerrungen der Wahrnehmung oder des Denkens und ein eigentümliches und gelegentlich skurril erlebtes Verhalten auf. Die Störung beginnt im frühen Erwachsenenalter und zeigt sich in verschiedenen Situationen. Betrachtet man die Symptome der schizotypischen Persönlichkeit gemäß DSM genauer, so fällt auf, dass die besonderen Auffälligkeiten als milde ausgeprägte, „verwässerte“ Symptome einer ausgebildeten Schizophrenie imponieren. Es wird verwiesen auf Beziehungsideen, die jedoch noch nicht in einen Beziehungswahn münden. Schizotypisch geprägte Persönlichkeiten haben seltsame Überzeugungen oder magische Denkinhalte, sie berichten über ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen und fallen durch seltsame Denk- und Sprechweisen auf. Sie wirken argwöhnisch und zeigen einen inadäquaten oder eingeschränk-
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ten Affekt. Sie sind sozial isoliert durch eine ausgeprägte soziale Angst. Außenstehende erleben das Verhalten oder die äußere Erscheinung dieser schizotypisch geprägten Menschen als „seltsam“, „exzentrisch“ oder „merkwürdig“. Wie oben schon ausgeführt, ist nicht abschließend geklärt, inwieweit eine Beziehung zwischen Schizophrenie und schizotypischer Persönlichkeitsstörung besteht. Daher ist auch unter kriminologischen Gesichtspunkten nicht klar herauszuarbeiten, inwieweit eine Verbindung zwischen dieser Diagnose und einem erhöhten Risiko für straffälliges Verhalten besteht. Die zuvor erwähnte soziale Angst ist gekoppelt mit einer unterschwelligen Anspannung und einem Misstrauen gegenüber anderen. Diese Eigenschaften können in reizbarer Aggressivität oder sogar Feindseligkeiten münden. Es ist daher vorstellbar, dass in solchen Situationen auch das Risiko für strafbare Handlungen oder sogar Gewaltdelikte steigt, da aus anderen Zusammenhängen bekannt ist, dass solche Auffälligkeiten unabhängig von psychiatrischen Diagnosen das Risiko für aggressives Verhalten erhöhen. Möglicherweise findet sich auch in den Gruppen von Patienten, die zur Klärung der Frage des Zusammenhangs zwischen Schizophrenie und Straffälligkeit untersucht wurden, auf Grund diagnostischer Überschneidungen bzw. Unklarheiten ein Teil mit der Diagnose schizotypische Persönlichkeitsstörung. Bei diversen der oben zitierten Studien zur Gefährlichkeit und Kriminalitätsbelastung Schizophrener wurden zudem schizotypische Persönlichkeiten, schizophreniforme und schizoaffektive Störungen mit erfasst (Hodgins u. Müller-Isberner 2004; Wallace et al. 2004; Lincoln et al. 2006); offenbar nimmt man an, dass hier gleichartige Risikofaktoren zu betrachten sind (Empathiemangel, soziale Desintegration, antisoziales Verhalten, Substanzmissbrauch, bereits gezeigtes delinquentes und gewalttätiges Verhalten). Wenn man geneigt ist, die schizotypische Störung als milde ausgeprägte Form einer Schizophrenie zu verstehen, so wäre es gerechtfertigt, sie der überdauernden krankhaften seelischen Störung zuzurechnen. Es wäre dann in Bezug auf die Frage der Schuldfähigkeit zu klären, in welchem konkreten Umfang die Handlungsmotivation, die Situationserkennung, die Impuls- und Affektkontrolle beeinträchtigt waren und zum Begehen einer Straftat beigetragen haben. Da die Besonderheiten der Störung gerade nicht sehr gravierend ausgeprägt sind und sich dadurch auszeichnen, dass die Schwelle zum eindeutigen Vorliegen psychotischer Symptome nicht überschritten ist, so erscheint es am ehesten plausibel, bei solchen Patienten über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit zu diskutieren. Aber auch in diesem Falle muss darauf hingewiesen werden, dass allein das Vorliegen der Diagnose bei der Zuschreibung der Voraussetzung der Schuldfähigkeit nicht hilft. Es muss klar herausgearbeitet werden und möglicherweise auch in anderen Lebenszusammenhängen dargestellt sein, dass die Besonderheiten der Störung durchgehend (und nicht nur im Rahmen einer isolierten Straftat) zu einer Beeinträchtigung der Fähigkeit führte, Handlungsimpulse adäquat zu steuern. Dass die Einsichtsfähigkeit durch eine schizoptypische (Persönlichkeits-)Störung beeinträchtigt ist,
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kann auf Grund der oben beschriebenen Symptomatik nicht plausibel gemacht werden. Möglicherweise entstehen aus den Besonderheiten der Störung jedoch besondere Motive, die Straftaten bedingen könnten. In einem solchen Falle wäre genau auszuloten, inwieweit durch die pathologischen Überzeugungen und Erlebensweisen die motivationsbezogene Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt gewesen ist.
3.1.4 Affektive Störungen: Depression, Manie H.-L. Kröber, S. Lau Die affektiven Störungen umfassen eine weite Gruppe von Krankheiten mit Veränderungen der Stimmung und des Antriebs. Sie gehen häufig auch mit Veränderung vegetativer Funktionen, starker innerer Unruhe und Schlafstörungen einher. Die häufigste Form einer affektiven Störung stellt die depressive Episode dar, Kennzeichen sind dabei eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit, typische negative Kognitionen (die sogenannte depressive Trias aus negativer Sicht auf die Vergangenheit, die Zukunft und die eigenen Person), Antriebsarmut, Denkhemmung und Grübelneigung sowie Interessenverlust und beeinträchtigte vegetative Funktionen. Die Manie ist definiert als eine Periode mit Antriebssteigerung, gehobener (Euphorie) oder missmutig-gereizter Stimmung (Dysphorie) sowie einer Vielzahl an unkritischen Ideen, die teilweise infolge des Aktionsdranges zügig in Handlungen umgesetzt werden. Treten nur depressive Zustände auf, spricht man von einer unipolaren affektiven Störung. Leidet ein Kranker sowohl unter depressiven als auch unter manischen Episoden, so spricht man von einer bipolaren affektiven Störung. Die affektiven Psychosen verlaufen meistens in Phasen mit zwischenzeitlicher vollständiger oder weitgehender Remission der Symptomatik. Diese gesunden Intervalle umfassen zumeist mehrere Jahre. Frauen erkranken mehr als doppelt so häufig wie Männer an rezidivierenden depressiven Störungen. Unipolare depressive Störungen haben ihre durchschnittliche Erstmanifestation etwas später als bipolare affektive Psychosen; über 50% aller Betroffenen erkranken im Alter zwischen 20 und 50 Jahren mit einem Gipfel im vierten Lebensjahrzehnt. Als ursächlich angesehen wird – wie bei den schizophrenen Psychosen – eine multifaktorielle Genese, wobei eine neurobiologische Grundlage zweifelsfrei feststeht. Belastende Lebensereignisse haben bisweilen Auslöserfunktionen, der weitere Verlauf erscheint jedoch von solchen Ereignissen weitgehend unabhängig. Berücksichtigt werden müssen bei der Genese der Erkrankungen auch biologisch-hormonelle Veränderungen wie z. B. die Menopause. Die entscheidende Behandlungsform ist medikamentös mit spezifisch antidepressiven Medikamenten, in Verbindung mit stützenden Psychotherapieverfahren, in denen die Patienten lernen, sich nicht immer wieder in Überlastungssituationen zu manövrieren. Die Prognose der affektiven Störungen ist bei Nutzung der thera-
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peutischen Möglichkeiten prinzipiell günstig, insbesondere bei den unipolaren Depressionen. Allerdings gehen die affektiven Störungen mit einem erheblich erhöhten Suizidrisiko einher. Es gibt für Deutschland keine verlässlichen Zahlen, die eine erhöhte Kriminalitätsbelastung von Menschen mit affektiven Störungen belegen. In der klassischen Studie von Böker und Häfner (1973) sorgten die Menschen mit depressiven und bipolaren Erkrankung mit unterdurchschnittlichen Werten für Gewaltdelinquenz sogar dafür, dass die Gesamtgruppe psychisch Kranker (trotz der erhöhten Risiken Schizophrener) sich nicht von Gesunden unterschied. Insbesondere in Nordamerika wird in kriminologischen Studien auf ein erhöhtes Risiko verwiesen; in der Übersicht von Eaves et al. (2000) sind die Raten allerdings ebenfalls nicht besonders hoch; angegeben werden Prävalenzraten für affektive Erkrankungen bei Kriminalität von 3 bis 25%. Im deutschen psychiatrischen Maßregelvollzug liegt der Anteil der Patienten mit affektiven Störungen deutlich unter 10%. Unter 395 psychiatrisch Untergebrachten in Hessen – gut 6 Millionen Einwohner – waren 2007 nur 3 Bipolare, 2 unipolar Depressive und 7 als schizoaffektiv Diagnostizierte. Offenbar spielen diagnostische Probleme eine wichtige Rolle, wenn es heißt, dass insbesondere Personen mit „psychotischer Depression“ ein erhöhtes Gewaltrisiko aufweisen – und dann typische schizophrene Symptomatik als Merkmal dieses Krankheitsbildes genannt wird (Malmquist 1995). z Delinquenz manisch Erkrankter. Sicherlich ist es richtig, dass manche manischen Patienten zu handgreiflichen Übergriffen oder zumindest Bedrohungen neigen, die fast ausschließlich situativ bedingt sind und praktisch nie geplant begangen werden (Faust 1997). Es wird dann bisweilen geschubst, geohrfeigt, oder es fliegt ein Blumentopf; schwerwiegende Angriffe sind aber absolute Raritäten. Ein typisches Beispiel dafür stellen Handlungen eines Manikers dar, der aufgrund seiner Erkrankung überzogene Ansprüche erhebt, deren Erfüllung jedoch meist verweigert wird. Auf diesen Widerstand reagiert der Kranke nicht selten bei krankheitsbedingt erhöhter Reizbarkeit mit aggressiven Handlungen. Insofern gibt es solche Vorkommnisse auch am ehesten im psychiatrischen Krankenhaus oder an sonstigen Orten, wo man versucht, dem umtriebigen Agieren des Kranken Grenzen zu setzen, was diesen dann ärgert und provoziert. Gleichwohl sind sich die Kranken auch in sehr akuten Krankheitsphasen der sozialen Regeln sehr wohl bewusst und reagieren gekränkt, wenn man ihnen beispielsweise Rücksichtslosigkeit vorwirft. Es hängt dies damit zusammen, dass man bei unipolar Depressiven wie auch bei bipolar erkrankenden Menschen gehäuft Personen antrifft, die einen besonders intensiven Normenbezug haben (Kröber 1988; von Zerssen 2000). Anders als bei den Schizophrenen gibt es keine Untergruppe, die sich durch frühe dissoziale Entwicklung auszeichnen würde. Modestin et al. (1997) berichteten, dass bei rechtswidrigen Taten manisch Erkrankter vor allem Eigentums- und Vermögensdelikte überwiegen. Schon dem klinisch-psychiatrisch Erfahrenen ist bekannt, dass Patienten
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mit manischen Syndromen sehr häufig durch eine hohe Zahl von Kaufverträgen auffällig werden, die sie an den Rand des Ruins treiben können, wenn nicht unter Feststellung von Geschäftsunfähigkeit solche Kaufverträge rückgängig gemacht werden. Aufgabe des psychiatrischen Gutachtens ist es, in solchen Fällen zu klären, dass gar keine Straftat vorlag, weil die Handlung nicht in Betrugsabsicht begangen wurde, sondern in einer krankheitsbedingt kritiklosen Realitätsverkennung. Bleiben die sozialen Kontakte zeitlich umschrieben und durch bestimmte übliche Formen weitgehend vorstrukturiert, so können die Kranken für Geschäftspartner recht unauffällig, geordnet oder sogar eindrucksvoll kreativ erscheinen; die krankhafte Bedingtheit ihres Handelns ist dann insbesondere für psychiatrische Laien nicht leicht zu erkennen. Zu den möglichen Symptomen einer Manie gehört erhöhte sexuelle Ansprechbarkeit und ein gesteigertes sexuelles Verlangen. Allerdings fanden sich in dieser Hinsicht nur bei einem Teil der Patienten deutliche Unterschiede zum Normalzustand; insbesondere manische Frauen neigen dazu, sich zu verlieben und große romantische Luftschlösser zu bauen, während bei Männern eher Träume von großem beruflichem Erfolg – und entsprechende Aktivitäten – das Bild bestimmen (Kröber 1987). Wenn manische Frauen sexuell enthemmt sind, werden sie entweder zurückgewiesen oder aber auch ausgenutzt, sie begehen jedoch keine Sexualdelikte. Manische Männer, bei denen ein erhöhtes sexuelles Begehren vorliegt, besuchen dann anders als sonst einschlägige Etablissements, fallen am Arbeitsplatz durch sonst nicht gewohnte Anzüglichkeiten und durch Distanzlosigkeit auf. Sie sind dann oft auch bereit, sich fremden Menschen anzüglich zu nähern. Dabei kann es auch vorkommen, dass der Kranke jemanden anfasst oder zu küssen versucht; kommt es dann zur Zurückweisung, wird dies aber in aller Regel hingenommen. Vergewaltigungen in manischer Verfassung sind Raritäten, dem Erstautor ist ein einziger Fall bekannt. Wenn solche Fälle so selten sind, wäre zu fragen, ob die Ausnahmen nicht durch andere Faktoren (insbesondere dissoziale Entwicklung und Substanzmissbrauch) entscheidend befördert waren. Nichtsdestotrotz ist die Datenlage zum Zusammenhang zwischen manischen Zuständen und Sexual- und Gewaltdelikten unzureichend (Übersicht bei Eaves et al. 2000). Wahrscheinlich neigen Maniker sehr selten zu gefährlichen Delikten (Wulach 1983). Innerhalb von Gefängnispopulationen findet sich mit Raten von 3 bis 25% ein erhöhter Anteil von Häftlingen mit affektiven Störungen (Ogloff 1996; v. Schönfeld et al. 2006). Diese Untersuchungen belegen jedoch keineswegs auch einen Zusammenhang zwischen affektiven Störungen und Straftat. Generell kommt es nach Inhaftierung und im Haftverlauf vermehrt zu depressiven Zuständen. Die affektiven Störungen sind relativ häufige psychische Erkrankungen, die einen Menschen auch unabhängig von Straftaten treffen können und nicht Ausdruck eines spezifischen Zusammenhangs sein müssen. Das häufige Auftreten affektiver (meist depressiver Störungen) bei Häftlingen ist vor allem als Argument für eine adäquate psychiatrische Versorgung dieser Population zu werten, kriminologische
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Schlüsse zum Einfluss affektiver Störungen auf Delinquenz können so nicht gezogen werden. Insbesondere gibt es bei Männern ein kriminogenes Zwischenglied: Männer, die zu depressiven Verstimmungen neigen, können darüber in einen Alkoholmissbrauch geraten, der weitere soziale Probleme schaffen und Delinquenz (Verkehrsdelikte, Eigentumsdelinquenz, vereinzelt Körperverletzungsdelikte) befördern kann. z Delinquenz Depressiver. Die kriminologische Forschung kam wiederholt zu dem Ergebnis, dass depressive Störungen prinzipiell mit einem geringgradigen Risiko für gefährliche Straftaten assoziiert sind. Schon die umfassende Studie von Böker und Häfner (1973) verwies auf die geringe Belastung der Gruppe von Depressiven mit gefährlichen Delikten. Strafrechtlich relevant kann depressive Symptomatik werden, wenn krankheitsbedingt Unterlassungen oder Vernachlässigungen begangen werden, die gelegentlich großen Schaden anrichten können oder gar als Tötungsdelikt imponieren. Es gibt zudem eine relevante Gruppe depressiv Kranker, die Gewaltdelikte begehen. Lange Zeit wurde der sogenannte erweiterte Suizid oder Mitnahmesuizid als typisches Delikt endogen Depressiver betrachtet, die wahnhaft dekompensiert waren (Lammel 1987). Tatsächlich findet sich bei versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten gelegentlich die Konstellation, dass Straftäter oder insbesondere Straftäterinnen im Rahmen einer schweren Depression die Auslöschung der eigenen Person, aber auch enger Angehöriger für unausweichlich halten. Die Täter beabsichtigen, sich zu suizidieren, der Antrieb erlahmt jedoch im Verlauf der Handlungen, oder es wird eine „weiche“ Suizidmethode gewählt, so dass die Täter die Tat überleben und gegen sie ermittelt wird. Man nimmt an, dass beim erweiterten Suizid ein wahnhafter Altruismus das Motiv schafft: Der (oft weibliche) Täter möchte z. B. die eigenen Kinder nicht in der krankheitsbedingt als ganz schrecklich erlebten Welt zurücklassen. Bisweilen ist der Täter auch überzeugt, das Opfer sei todkrank und stehe vor schrecklichen Qualen, denen man es nicht aussetzen dürfe. Gelegentlich wird bei solchen Taten auch der „geliebte Lebensraum“ einbezogen (Donalies 1949), so dass beispielsweise Brandstiftungsdelikte beurteilt werden müssen. Eine solche wahnhaft-altruistische Konstellation ist jedoch ausgesprochen selten und durch eine genaue psychiatrische Analyse des Geschehens relativ klar zu identifizieren. Kritisch wurde eingewandt, dass altruistische Motive sehr häufig eben nicht zu eruieren sind, sondern dass vielmehr diese Art Tötungsdelikte auch als Ausdruck einer massiven Kränkung durch den später Getöteten verstanden werden können, der sozusagen als Verursacher des Leids nicht davonkommen soll und aufgrund von Racheimpulsen getötet wird. Es gibt sehr aggressive Formen des erweiterten Selbstmords, der in Wahrheit Ausdruck einer großen narzisstischen Wut ist, bei der sogar völlig unbeteiligte Personen mit in den Tod gerissen werden, z. B. durch die Inszenierung von Verkehrsunfällen oder Brandlegung. Eine solche Konstellation findet sich z. B. bei manchen Partnerschaftskonflikten.
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Rasch (1964) hat in seiner Monographie über die Tötung des Intimpartners eindrucksvolle Fälle dieser Art geschildert. Die Auseinandersetzung um den „erweiterten Suizid“ zeigt vor allem, dass die Konzeptualisierung eines Tatgeschehens anhand von Motiven oder sogar Opfereigenschaften nur schwer Rückschlüsse auf die psychische Verfassung des Täters zulässt. Die Angabe nach einer fremdaggressiven Tat, man habe eigentlich auch einen Suizid vorgehabt, beweist ebenso wenig eine krankheitswertige depressive Verfassung wie der gescheiterte Suizidversuch. Insbesondere schafft der angebliche Suizidgedanke keine Legitimation für fremdaggressives Verhalten; wohl aber gilt der Leitsatz, dass Suiziddrohung und Suizidversuch Indikatoren von aggressiver Handlungsbereitschaft und potentieller Fremdaggressivität sind. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist vielmehr von Bedeutung, dass typische depressive Störungen ein so dramatisches Ausmaß annehmen können, dass sie ähnlich wie bei schizophrenen Psychosen das gesamte Denken und Fühlen eines Menschen beherrschen. Dies geht zwangsläufig einher mit nicht realitätsbegründeten, absolut pessimistischen depressiven Überzeugungen. Diese können sozusagen gegenstandslos sein und sich als abgründiger Nihilismus äußern, als das Gefühl, dass alles sinnlos sei, zugleich aber auch unendlich schwer und quälend. Es können andererseits auch massive konkrete Befürchtungen vorliegen, in denen sich die Sorge um den eigenen Körper (hypochondrischer Wahn), um die soziale Stellung (Verarmungswahn) oder das Seelenheil (Schuldwahn) äußert. Es handelt sich dabei um eindeutig psychotische Zustände, Depressive sind in ihren wahnhaften Überzeugungen einer Argumentation noch weniger zugänglich als Schizophrene. Solche mittelschweren und schweren depressiven Episoden sind klassische Fälle einer „krankhaften seelischen Störung“, in denen die Steuerungsfähigkeit aufgehoben ist. Auch die Tatsache, dass man bisweilen die rechtswidrige Tat vor dem Hintergrund einer depressiven Verstimmung „verstehen“ kann, sollte nicht dazu verleiten, hier Schuldfähigkeit zu unterstellen. Allerdings ist die akute Depression ein Krankheitsbild, das durch die Antriebshemmung, die Niedergeschlagenheit und subjektive Perspektivlosigkeit den Gedanken an die Begehung von Straftaten gar nicht aufkommen lässt. Es ist in diesem Zustand alles sinnlos, man knüpft keine Hoffnungen und Erwartungen mehr an eigenes Handeln, man fühlt sich abgetrennt von der Welt um einen herum und ihrem Treiben, man ist ganz auf sich selbst zurückgeworfen und isoliert. In einem solchen Zustand bringt man keine Bombe in eine Diskothek, um den amerikanischen Imperialismus zu treffen, und feiert nicht anschließend mit den Komplizen. In einem solchen Zustand kann man nicht mehr arbeiten und auch nicht einbrechen, man begeht keine Banküberfälle und inszeniert keine betrügerischen Anlagegeschäfte. Allenfalls besteht ein gewisses Risiko, sich mit Alkohol oder Drogen zu berauschen und in dieser Verfassung einmal mit anderen in Streit zu geraten; wer es gewohnt ist, so etwas mit Fäusten auszutragen, wird dies vielleicht auch in depressiver Verfassung einmal tun. Das größte Risiko
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droht durch selbstzerstörerische Aktionen, bei denen andere in Mitleidenschaft gezogen werden. Klinischen Psychiatern ist bekannt, dass manche depressive Patienten zu Beginn einer depressiven Phase oder im Verlauf der Genesung einzelne Diebstahlsdelikte begehen (Keller et al. 1981); die depressive Antriebshemmung ist noch nicht oder nicht mehr so ausgeprägt, dass sie die Tat verhindert hätte. Unklar ist, ob die Tat infolge oder trotz der Depression begangen wurde. Mundt (1981) hat durchaus einen Zusammenhang mit der Depression gesehen, er verwies auf die verstärkten Bedürfnisse nach einer Gratifikation; zur Frage einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit hat er sich eher zurückhaltend geäußert. Für Missverständnisse in foro können einige Begriffe der ICD-10 sorgen. Es ist dort die Rede von der schweren depressiven Episode „mit“ oder „ohne psychotische Symptome“; in der psychiatrischen Krankheitslehre ist natürlich die gesamte mittelsschwere oder schwere depressive Episode eine „Psychose“, nämlich eine willentlich nicht beeinflussbare Krankheit. Mit „psychotischer Symptomatik“ werden hier in der ICD-10 – terminologisch unsauber – einige spezielle produktive Symptome bezeichnet, die das Krankheitsbild zusätzlich komplizieren. Keineswegs aber ist die Einordnung eines depressiven Zustandes als „krankhafte seelische Störung“ an das Vorliegen dieser speziellen Symptomatik gebunden. Das Gleiche gilt auch für die manischen Zustände. Das Psychotische manifestiert sich in der ideenflüchtigen Denkstörung, der Antriebssteigerung und der monoton veränderten Stimmungslage. Die Symptomatik der Psychose beherrscht die Willensbildung des Kranken, er kann Konsequenzen nicht mehr angemessen abwägen oder in seine Handlungsplanung einbeziehen, da er störungsbedingt schon wieder neue Ideen in die Tat umsetzen muss. Gerade bei Manikern zeigt die psychiatrische Erfahrung, dass ihre Handlungen meist ungeplant und spontan entstehen und der Kranke schon im Moment des Handelns nicht mehr in der Lage ist, seine auffälligen Verhaltensweisen zu reflektieren. Es erscheint daher auch in diesem Falle gerechtfertigt, von Schuldunfähigkeit für rechtswidrige Taten auszugehen, die in manischen Zuständen begangen wurden, auch wenn nicht eindeutig wahnhafte Überzeugungen zu eruieren sind. Auch bei diesen psychotischen Veränderungen gehen die psychopathologischen Auffälligkeiten mit einer gravierenden Veränderung des Persönlichkeitsgefüges eines Kranken einher, so dass eine Exkulpation gerechtfertigt erscheint. Anders verhält es sich bei der Hypomanie. Sie zeichnet sich durch eine abgeschwächte manische Symptomatik aus: Die Betreffenden fühlen sich wohl, aktiv, haben ein geringes Schlafbedürfnis, merken, dass sie unruhig und etwas überaktiv, vielleicht aber auch besonders leistungsfähig sind. Der entscheidende Unterschied zum Manischen besteht darin, dass sie durchgängig absprache- und dialogfähig bleiben, dass sie offen bleiben für Belehrung und Beratung. Genau dies bedeutet aber auch, dass sie weiterhin für ihr soziales Handeln die Verantwortung behalten.
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z Chronische Verstimmungen. Das Kapitel 3 der ICD-10 führt auch so genannte anhaltende affektive Störungen auf. Die auffällige affektive Symptomatik ist dabei nicht sehr stark ausgeprägt, jedoch dauerhaft vorhanden und tritt nicht in abgegrenzten Phasen auf. Ob diese Störungen eher den Störungen der Erlebnisverarbeitung (Persönlichkeitsstörungen, „Neurosen“) nahe stehen, ist auch in der psychiatrischen Forschung noch nicht abschließend geklärt. Schwierigkeiten bei der forensisch-psychiatrischen Beurteilung solcher Phänomene ergeben sich daher schon bei der Frage, ob man sie als krankhafte seelische Störung oder als seelische Abartigkeit ansprechen soll. Wenn man annimmt, dass es sich um milde ausgeprägte Formen von krankhaften seelischen Störungen handelt, so ergibt sich trotzdem das Beurteilungsproblem, ob das Ausmaß der Beeinträchtigung so groß gewesen ist, dass eine erhebliche Verminderung handlungsrelevanter Fähigkeiten vorliegt oder nicht. Eine nicht sehr stark ausgeprägte psychische Symptomatik hebt normale psychische Prozesse nicht auf, eine geringe Ausprägung depressiver Symptomatik lässt durchaus Spielraum für Abwägungen und Realitätskontrolle und geht mit einem prinzipiell erhaltenen Situationsverständnis einher. Eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit oder gar der Einsichtsfähigkeit ist durch eine solche Symptomatik sicher nicht plausibel zu machen. Bei der Zyklothymia steht vor allem eine andauernde Instabilität der Stimmung im Vordergrund der Symptomatik, wobei diese Schwankungen anscheinend nicht von Lebensereignissen bewirkt werden. Für die Annahme einer Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit reichen diese Auffälligkeiten allein sicher nicht aus. Wenn ausgeprägtere Symptomatik zu beschreiben ist, ist zu prüfen, ob nicht doch eine manische oder depressive Episode vorgelegen hat. Bei der Dysthymia, die uns durch einige Romanund Theatergestalten bekannt ist und sich durch chronischen Missmut und Lustlosigkeit ausgezeichnet, lässt sich eine Relevanz für die Beurteilung der Schuldfähigkeit noch weniger feststellen: Der Betreffende ist mit sich und seinen Gepflogenheiten wohlvertraut und hat diese sozialverträglich zu gestalten. Temperament und Charakter, auch wenn sie aus der Norm herausfallen, führen keineswegs direkt zur Straftat. Die forensisch-psychiatrische Beurteilung gleicht also jener bei einer Persönlichkeitsstörung; bereits die diagnostischen Kriterien dieser Störung legen jedoch den Gedanken nahe, dass hier der erforderliche Schweregrad nicht erreicht wird.
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3.2.1 Einführung Aus Wut, Zorn oder Leidenschaft, aus Kränkung, Trauer oder Angst in eine heftige affektive Erregung zu geraten und im Gefolge dieser Erregung mit hoher Aggressivität zu handeln oder zu reagieren, stellt eine ubiquitäre menschliche Verhaltenstendenz dar, die sich, geringfügig modifiziert durch kulturell-zivilisatorische Überformungen, zu allen Zeiten und in allen Ge-
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sellschaften auffinden lässt. Eine Parallele dazu findet sich in instinktgebundenen Verhaltensradikalen im Tierreich, wo die arterhaltende Funktion rituell kontrollierter aggressiver Selbstbehauptung zur Sicherung von Rang und Revier unverstellter in Erscheinung tritt (Hippius u. Saß 1990). Die Verletzung der in der Gemeinschaft akzeptierten Grenzen spontaner oder reaktiver Aggressivität wird zum Schutze des Zusammenlebens durch normerhaltende Strafmaßnahmen geahndet. Dabei wird allerdings in vielen Rechtsgemeinschaften die heftige Gemütserregung als Grund zur Milderung der sonst üblichen Sanktionen angesehen. Mit ursächlich dafür mag zumindest in archaischen Gemeinschaften gewesen sein, dass die offenbar tief in der anthropologischen Matrix verankerte Inklination zu affektiven Aufwallungen auch einen Selektionsvorteil mit sich brachte, wenn es in primordialen Kampf- und Bedrohungssituationen zu einer maximalen Mobilisierung der Kräfte durch Entbindung aggressiver Impulse kam. Bedenkt man diese Grundbedingungen, so können in der Natur des Menschen Affektdelikte oder, in einer umsichtigeren Formulierung von Janzarik (1993), affektiv akzentuierte Delikte nahezu als Ausdruck einer anthropologischen Konstante gelten. Dennoch stellen sie ob ihrer Dramatik und ihrer oft schwerwiegenden Folgen in der Regel tragische soziale Zwischenfälle dar und sind gleichermaßen Gegenstand mitfühlender Aufmerksamkeit wie auch schauernden Sensationsinteresses. Als Gegenstand der Strafgerichtsbarkeit bringen sie die forensischen Disziplinen in immer wieder umstrittene Grenzsituationen gutachterlicher und richterlicher Kompetenz. Wissenschaftliche Erkenntnisfortschritte im Sinne kausalgesetzlicher Erklärungen und allgemeingültige Lösungsvorschriften kann es für die Affektdeliktsproblematik nicht geben, vor allem aber, wie gezeigt werden wird, keine Fundierung der Beurteilung durch skalierende Messinstrumente und objektivierende Rechenverfahren. Ein richtig oder falsch nach dem Muster tatsachenwissenschaftlicher Beweisführung ist aus Sicht der menschenkundlichen Wissenschaften bei der Erfassung und Bewertung der Beweggründe menschlichen Verhaltens in Konfliktsituationen, wie sie bei Affektdelikten vorliegen, ebenso wenig vorstellbar und wünschenswert wie eine objektive Bestimmung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. Dies gilt in besonderem Maße für die bei den Affektdelikten zu prüfende Frage einer „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ zur Tatzeit.
3.2.1.1 Rechtsbegriff und Krankheitsbegriff Mehr noch als bei der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ der §§ 20, 21 StGB handelt es sich bei der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ um eine Problemkategorie, bei der sich grundlegende Fragen zu Rationale und Systematik der Schuldfähigkeitsprüfung stellen (vgl. Saß 1983 a). Nicht zuletzt geht es dabei auch um die Problematik des Krankheitsbegriffes in seinen juristischen wie in seinen medizinisch-psychiatrischen Begründungszusammenhängen (vgl. Saß 1985 a). Noch bei der Strafrechtsreform von 1975 sollte die divergierende Entwicklung zwischen dem juristischen
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und dem medizinischen Krankheitsbegriff (Lange 1963) überwunden werden durch die Restaurierung eines engen psychiatrischen Krankheitsbegriffes für die „krankhaften seelischen Störungen“ bei gleichzeitiger Abkoppelung der neu geschaffenen Kategorien der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ und der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ (Krümpelmann 1976). Der möglicherweise nicht hinreichend durchdachte Verzicht auf das Kriterium der Krankhaftigkeit, für das die quantifizierenden Gleitklauseln des „tiefgreifend“ (bei der Bewusstseinsstörung) und „schwer“ (bei der Abartigkeit) keinen sinnvollen Ersatz darstellen, führte zu einer Verunsicherung der Beurteilungsnorm (vgl. Saß 1985 b). In der Praxis half man sich durch Hilfsformeln, etwa indem die „Krankhaftigkeit“ über den zwar geläufigen, aber wenig treffsicheren Begriff des Krankheitswertes doch wieder Eingang in die forensischen Formulierungen fand. Krankheitswertig wurde in der Reformdiskussion paraphrasiert als Zerstörung oder Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges, wie es bei Psychosen bekannt ist; eine häufig gebrauchte, bei kritischer Betrachtung allerdings nicht ohne Weiteres hilfreiche Formel, für die klinisch-praktische oder auch wissenschaftlich-theoretische Überprüfungskriterien zunächst fehlten. Unsicherheiten in der Anwendungspraxis des Begriffes beruhen schon allein darauf, dass die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ im Kontext der seinerzeit neu geschaffenen Schuldfähigkeitsparagraphen zunächst einmal einen Rechtsbegriff darstellt, dessen allgemeiner Geltungsbereich sich durch Gesetzgebung, Kommentare sowie Rechtssprechung bestimmt und dessen Beurteilung im Einzelfall durch das Gericht erfolgt. Gleichzeitig aber bedeutet Bewusstseinsstörung einen psychopathologischen Sachverhalt, der vom psychiatrisch/psychologischen Sachverständigen in seinen theoretischen Vorbedingungen zu erläutern und am konkreten Fall mit Hilfe empirischer Feststellungen zu untersuchen ist. Naturgemäß führt diese unterschiedliche Verankerung des Bewusstseinsbegriffes – einerseits im auf normativ-wertende Beurteilung menschlichen Handelns ausgerichteten juristischen Argumentationszusammenhang, andererseits im empirisch-deskriptiv und klinisch orientierten psychopathologischen Erfahrungsbereich – zu terminologischen und inhaltlichen Divergenzen. Die Probleme um die tiefgreifende Bewusstseinsstörung werden verstärkt durch die Tatsache, dass sie als Kategorie für die sog. Affektdelikte dient, deren Beurteilung zu den kompliziertesten Problemen im Grenzbereich zwischen psychiatrisch/ psychologischen und juristischen Aufgaben gehört. Nur kursorisch seien, um den Rahmen der Bewusstseinsproblematik aus empirischer Sicht anzudeuten, einige Definitionsversuche zitiert. Fish (1967) formulierte britisch-lapidar: „Consciousness is awareness of environment and self“. In phänomenologischer Differenzierung unterschied Jaspers (1913), der das Bewusstsein als „das Ganze des augenblicklichen Seelenlebens“ bezeichnete, dreierlei Seiten des Bewusstseins: Innerlichkeit eines Erlebens, Gegenständlichkeit des Bewusstseins, d. h. ein Wissen von Etwas sowie Selbstreflexion, d. h. ein Bewusstsein seiner selbst. Aus klinischpsychiatrischer Sicht immer noch anschaulich und wertvoll ist die Um-
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schreibung von Jahrreis (1928) in Bumkes Handbuch, wonach das Bewusstsein einen eigentümlichen Grad von Helligkeit, Klarheit, Fülle, Beweglichkeit, Ablauftempo und Rangordnung des inneren Erlebens und der psychischen Funktionen bedeutet. Die Beurteilung der Bewusstseinsstörungen hatte in der älteren forensischen Psychiatrie keine besonderen Probleme bereitet, solange es um Zustände in Folge von Krankheit, Hirntraumen oder auch Intoxikationen ging. Schwierigkeiten entstanden erst, als die mit heftiger affektiver Erregung verbundenen Bewusstseinsveränderungen bei den sog. Affektdelikten zu beurteilen waren. Dies begann mit dem Gewohnheitsverbrechergesetz aus dem Jahre 1933, das im § 51 eine neue Fassung der „biologischen“ Vorbedingungen der Zurechnungsunfähigkeit vornahm. Der bei dieser Gelegenheit neu geschaffene juristische Krankheitsbegriff der Bewusstseinsstörung umfasste als medizinische Sachverhalte z. B. Schlaflosigkeit, Fieberdelirien, Halluzinationen, Rausch- und hypnotische Zustände, völlige Übermüdung, ferner in seltenen Fällen auch hochgradige Affektzustände, letztere selbst dann, wenn der Täter an keiner Krankheit und auch nicht an sonstigen Ausfallserscheinungen litt (Lenckner 1972). Die nun vertretene Auffassung, wonach auch bei psychisch gesunden Tätern eine „Bewusstseinsstörung durch starken Affekt“ als Ursache für eine aufgehobene oder verminderte Zurechnungsfähigkeit anzuerkennen sei, wurde eine Zeitlang durch Anhänger eines somatologischen Krankheitskonzeptes in der forensischen Psychiatrie, etwa Gruhle (1943, 1955), Hadamik (1953) und vor allem Kurt Schneider (1948) in Frage gestellt. Allerdings war die juristische Reaktion auf diese an der praktischen Lebenserfahrung und dem überwiegenden Rechtsgefühl der Zeit vorbeigehende Position einer dezidiert somatopathologisch argumentierenden forensischen Psychiatrie eindeutig ablehnend (vgl. Saß 1983 a). Zunächst wurde in der Strafrechtsreformdiskussion, die schließlich zur neuen Schuldfähigkeitskonzeption der § 20, 21 StGB von 1975 führte, mit innerem Bezug auf die krankhafte seelische Störung von einer „ihr gleichwertigen Bewusstseinsstörung“ gesprochen. Diese Gleichwertigkeitsklausel korrespondierte mit der bereits für die Beurteilung von Psychopathien und Triebstörungen in Gebrauch gekommenen Formel vom Krankheitswert, die gewährleisten sollte, dass nur eine schwerwiegende, mit einer krankhaften seelischen Störung vergleichbare Zerrüttung oder Erschütterung des Persönlichkeitsgefüges in den Bereich der verminderten oder aufgehobenen Schuldfähigkeit führt. Nach Lenckner (1972) sollte so der für bedenklich gehaltenen Ausweitung des Rechtsbegriffes der Bewusstseinsstörung im Laufe der Zeit durch die Rechtsprechung und durch die Begutachtungspraxis entgegengewirkt werden. Auf Vorschlag des Psychologen Arnold wurde das Adjektiv „gleichwertig“ vor „Bewusstseinsstörung“ in der endgültigen Gesetzesfassung durch „tiefgreifend“ ersetzt, weil insbesondere von psychologischer Seite befürchtet worden war, dass sonst die Beurteilung psychischer Zustände zu eng an medizinische Konzepte geknüpft würde. Die Bezeichnung „tiefgreifend“ kam darüber hinaus der Begrifflichkeit der Psychologie entgegen, die bei der Persönlichkeitsanalyse
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seinerzeit noch gern mit dem Schichtenmodell arbeitete (vgl. Theune 1999). Im Grunde geht es seit der damaligen Relativierung des Krankheitskonzeptes als Basis der Schuldfähigkeitsregeln darum, ob die Untersuchung möglicher Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit weiterhin eine psychopathologische Aufgabe ist, bei der ein entscheidender Ausgangspunkt in den Kenntnissen über die psychischen Krankheiten liegt, oder ob vielmehr theoretische Modellvorstellungen über die idealen seelischen Abläufe beim normalen menschlichen Handeln als Maßstab für die Bestimmung eines Zustandes ungestörter Fähigkeit zur Normorientierung dienen sollen. In bewusstem Unterschied zu den sozialpsychologischen Modellen etwa im Sinne des von Rasch (1986) vertretenen „strukturell-sozialen Krankheitsbegriffes“ wurde als psychopathologische Lösung ein Referenzsystem vorgeschlagen (Saß 1983 a, 1985 a), das dem Ziele dient, vergleichbare Maßstabe für die Schweregradsbestimmung aller forensisch relevanten psychischen Störungen zu erarbeiten.
3.2.1.2 Die psychopathologische Beurteilungsnorm für die Schuldfähigkeit Die Konzeption des psychopathologischen Referenzsystems hat Vorläufer in Überlegungen von Rasch (1983), Huber (1983) und vor allem Witter (1972), dessen psychopathologische Syndromlehre die abnormen seelischen Phänomene in vier der Schwere nach geordnete Syndrome einteilt, um so eine Einschätzung der forensischen Erheblichkeit zu ermöglichen. Gegenüber dem Einwand einer „Pathologisierung“ der forensischen Perspektive ist darauf hinzuweisen, dass der psychopathologische Ansatz sich keineswegs nur an Krankheiten orientiert. Dies wird im Folgenden bei der Darstellung des psychopathologischen Referenzsystems zu zeigen sein. Dann wird auch deutlich werden, dass der psychopathologische Lösungsvorschlag, da er sich nicht auf die Betrachtung pathologischer Phänomene beschränkt, durchaus im Einklang steht mit der wichtigen BGH-Entscheidung zur Affektproblematik aus dem Jahre 1957: „Eine Bewusstseinsstörung im Sinne des § 51 StGB kann bei einem in äußerster Erregung handelnden Täter auch dann gegeben sein, wenn er an keiner Krankheit leidet und sein Affektzustand auch nicht von sonstigen Ausfallserscheinungen (wie z. B. Schlaftrunkenheit, Hypnose, Fieber oder ähnlichen Mängeln) begleitet ist“ (BGH St 11, 20). Nur am Rande sei übrigens bemerkt, dass es sich auch bei diesem scheinbar „reinen“ Affektfall um eine komplexere Situation handelte, bei der zur Tatzeit eine Alkoholisierung in Höhe von 1,18 Promille vorlag. Beim Vorgehen nach dem Prinzip des psychopathologischen Referenzsystems (Saß 1983 a, 1985 a, 2008) werden die psychischen und psychosozialen Auffälligkeiten des vorliegenden Falles verglichen mit dem breiten psycho(patho)logischen Erfahrungshintergrund von denjenigen krankhaften seelischen Verfassungen, die mit hohem Evidenzcharakter den markantesten Typus psychischer Störungen ausmachen. Im Grunde geht es um die
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„Verrücktheit“ des alltäglichen Sprachgebrauchs mit dem wesentlichen Merkmal eines „Herausgerücktseins“ aus der gesunden psychischen Verfassung, die in einem generellen Verständnis Vorraussetzung von Verantwortlichkeit ist. Im psychopathologischen Referenzsystem gilt als zentrale, für die Orientierung maßgebliche Gruppe das Gebiet der krankhaften seelischen Störungen, von Krümpelmann (1976) als „Kernkategorie“ und „Höhenmarke“ der Schuldfähigkeitsuntersuchung bezeichnet. Die in den klinischen Kerngebieten psychischer Störungen vorliegende Symptomatologie, ihre Verlaufsgestalten, die prodromalen und residualen Veränderungen sowie die Dauerverfassungen psychischer Störungen sind einschließlich ihrer psychoreaktiven und psychosozialen Auswirkungen und Verarbeitungsweisen in aller Breite untersucht. Damit steht ein empirisch reichhaltiger, gut gesicherter Orientierungsrahmen für alle Erscheinungsformen gestörten Seelenlebens sowie ihrer unterschiedlichen Schweregrade zur Verfügung. Entgegen einem häufigen Missverständnis in der forensischen Diskussion bedeutet das psychopathologische Vorgehen keine Beschränkung der Beurteilungsbasis auf pathologische psychische Erscheinungen, da die Psychopathologie auf dem gesamten Erfahrungsbereich über die pathologischen und die normvarianten seelischen Phänomene sowie über das damit kontrastierende gesunde Seelenlebens beruht (Jaspers 1913). Das psychopathologische Referenzsystem gilt auch für die in der forensischen Psychiatrie besonders wichtigen Übergangsbereiche zwischen krankhaften, abnormen und schließlich gesunden Verfassungen, wie sie bei Neurosen, Psychopathien, Triebstörungen, Intoxikationen, abnormen Affekterregungen und anderen Ausnahmeverfassungen vorkommen. Auch psychoreaktive Störungen, seelische Fehlentwicklungen, Symptom- und Charakterneurosen oder Fehlhaltungen der Persönlichkeit werden, wenn sie forensische Relevanz besitzen sollen, mit empirisch zugänglichen Veränderungen der geistig-seelischen Funktionen und damit verknüpften Einflüssen auf das Verhalten einhergehen. Relevante psychopathologische Erscheinungen sind beispielsweise Verstimmungen, Störungen des Antriebs, des Denkens, des Fühlens, des Wollens, des zwischenmenschlichen Kontaktes, der privaten und beruflichen Rollenerfüllung, der Triebdynamik. Anhand solchen Materials wird eine in klinischer Empirie abgestützte Schweregradseinschätzung der psychischen Auffälligkeiten und ihrer Auswirkungen auf das seelische Erleben und Befinden sowie auf das soziale Verhalten vorgenommen.
3.2.1.3 Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung im psychopathologischen Referenzsystem Bei der Beurteilung einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wie sie bei den nachfolgend näher zu analysierenden Affektdelikten vorkommen kann, werden entsprechend dem Prinzip des psychopathologischen Referenzsystems die psychischen Störungsphänomene im Umfeld des Tatgeschehens verglichen mit dem gesamten Spektrum psychopathologischer Erfahrungen
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über affektbedingte Einflüsse auf das Bewusstsein. Gerade wegen der fließenden Übergänge zwischen pathologisch gestörter, normvarianter und gesunder Bewusstseinsstätigkeit liefern die Kenntnisse von den krankhaften Bewusstseinsstörungen einen empirisch gut gesicherten Bezugsrahmen auch für die Einschätzung der nicht aus krankhafter Ursache entstandenen Bewusstseinsveränderungen und ihrer Auswirkungen auf die geistig-seelischen Funktionen. So können sowohl im Vorfeld wie auf dem Höhepunkt der typischen Ausgangssituation für Affektdelikte wichtige psychopathologische Phänomene auftreten, nach deren Vorliegen zu forschen ist, etwa depressive Verstimmungen unterschiedlichster Färbung, Somatisierungssymptome, Angst, Suizidalität, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, vegetative Dysregulationen, Schlafstörungen etc. Wollte man die Beurteilung der Bewusstseinstätigkeit und ihrer Störungen im forensischen Kontext von der psycho(patho)logischen Empirie abkoppeln, so ginge im forensischen Kontext jeder verlässliche Bezugsrahmen verloren. Weder der von Rasch vorgeschlagene „strukturell-soziale Krankheitsbegriff“ noch aus Arbeitspsychologie und Handlungstheorie stammende Entscheidungsmodelle (vgl. Steller 1993, s. u.) können bislang eine plausiblere Beurteilungsbasis liefern. Entsprechend unserem Ansatz zieht auch Witter (1972, 1987) für die Beurteilung der Affekttaten ein Referenzsystem der anderen psychischen Störungsgruppen heran. Ähnlich hat Mende (1979) gezeigt, dass die Symptomatologie bei organisch bedingten oder psychogenen Dämmerzuständen prototypisch für den Vergleich mit affektiv bedingten Bewusstseinsstörungen herangezogen werden kann. Nach Überwindung der zeitgebundenen Kontroversen stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob eine affektiv bedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung etwa auch beim Fehlen sämtlicher konstellativer oder krankheitsbedingter Faktoren möglich ist. Hiervon ist nach der Rechtsprechung und nach dem inzwischen erreichten forensischen Diskussionsstand auszugehen. Heute geht es vielmehr um das Problem, wie die zweifellos vorkommenden, auch nach psychiatrischem Konsens erheblichen Beeinträchtigungen der Bewusstseinstätigkeit, die unter die „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ der Schuldfähigkeitsparagraphen zu subsumieren sind, möglichst gut erfasst und in ihren forensischen Konsequenzen eingeschätzt werden können.
3.2.2 Zur forensischen Beurteilung der Affektdelikte 3.2.2.1 Definitionen Vor der Auseinandersetzung mit den deskriptiven und strukturellen Merkmalen von Affektdelikten sind einige definitorische Überlegungen erforderlich, um sodann die Systematik der psychopathologischen Analyse in Hinblick auf das Merkmal der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung zu erläutern (vgl. Saß 1983 b).
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In einem weiteren Sinne gehören zu den Affektdelikten sehr unterschiedliche Handlungen, etwa impulsive Aggressionstaten reizbarer und rücksichtsloser Menschen, der rasche Schlagabtausch in der aufgeheizten Atmosphäre einer Wirtshausprügelei, „kopflose“ Spontanreaktionen bei Katastrophen und in Paniksituationen, mehr asthenische Verhaltensweisen bei Versagens- und Fluchtreaktionen, sexuelle Spontanentgleisungen, auto- und heteroaggressive Gewalthandlungen nach lang andauernden Konfliktspannungen, schließlich auch Gewalttaten aus einer gestörten Affektivität heraus bei Menschen mit gravierenden psychischen Erkrankungen, etwa bei Schizophrenen, Manikern, Epileptikern, Schwachsinnigen oder bei hochgradig persönlichkeitsgestörten Menschen. Als Affektdelikte im engeren Sinne sind diejenigen Handlungen definiert, die von psychisch nicht erheblich kranken bzw. abnormen Tätern impulsiv im Zustand hoch gespannter Affekterregung begangen werden. Unter Hinweis auf die Heterogenität des Problemkreises bevorzugt Janzarik (1993) den Begriff der affektiv akzentuierten Delikte, während Kröber (1993) ganz pragmatisch von Affektdelikten bei jenen Taten sprechen will, bei denen an den Gutachter die Frage herangetragen wird, ob die möglicherweise hohe affektive Erregung zum Tatzeitpunkt nicht an eine „tiefgreifende Bewusstseinsstörung“ und an die Pflicht zur De- oder Exkulpierung denken lasse. Zur wünschenswerten Klärung des Begriffsfeldes hat jüngst Marneros (2007, 2008) beigetragen, der die Bemühungen um eine Schärfung der Konzepte von Impulsivität und Impulskontrolle aufnahm (vgl. Herpertz u. Saß 1997; Herpertz 2001). Bei der Diskussion der definitorischen Abgrenzung von affektgetragenen Delikten kritisiert er deren Inhomogenität und schlägt in Fortführung der Differenzierung von „Affektdelikten im engeren Sinne“ und „Affektdelikten im weiteren Sinne“ gemäß Saß (1983 b) die Unterscheidung von „Affekttaten“ und „Impulstaten“ vor. Dabei sind die Affekttaten bzw. Affektdelikte vor allem durch die spezifische Vorgeschichte der Tat, abgeleitet aus der Täter-Opfer-Beziehung, gekennzeichnet, während als Impulstaten all diejenigen impulsiv durchgeführten, nicht geplanten aggressiven Handlungen definiert werden, bei denen keine spezifische, aus einer relevanten Täter-Opfer-Beziehung abgeleitete Vorgeschichte der Tat vor dem aktuellen Delikt bestanden hat.
3.2.2.2 Deskriptive und strukturelle Merkmale von Affektdelikten Die vorwiegend psychopathologisch argumentierende Bearbeitung des Affektdeliktproblems stützt sich auf die 1983 in der Zeitschrift Der Nervenarzt (Saß 1983 b) vorgeschlagene Konzeption. Erforderlich ist dabei eine gesamthafte Interpretation aller Informationen über Vorgeschichte, Persönlichkeit, Tatanlaufzeit, Tatablauf und Nachtatverhalten, wobei gemäß dem Prinzip des psychopathologischen Referenzsystems als Orientierungsrahmen für die Beurteilung von Schwere und Relevanz einer affektbedingten Bewusstseinsveränderung das allgemeine psycho(patho)logische Erfahrungswissen von den krankhaften Störungen der seelischen Verfassung dient.
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Das Beurteilungsmodell von 1983 brachte als wesentliche, von der seinerzeit aufkommenden Diskussion um die operationalisierte Diagnostik inspirierte Neuerung die Formulierung zweier Merkmalskataloge, die für oder gegen die Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung mit relevanten Auswirkungen auf das Steuerungsvermögen zur Tatzeit sprechen können. Ein entscheidender methodischer Aspekt dieser Konzeption, der jedoch von der Kritik nicht immer genügend berücksichtigt wurde, liegt darin, dass alle vorgestellten Merkmale lediglich einen indiziellen Charakter tragen und nur vor dem Hintergrund des gesamten Materials eines Falles dazu dienen können, die gutachterliche Beurteilung mehr in diese oder jene Richtung zu lenken. Keineswegs handelt es sich um skalierbare Größen, die einer Messung und Addition oder Subtraktion zugänglich wären. Im Folgenden sollen die Merkmalskataloge, wie sie inzwischen Eingang in Rechtsprechung, Schrifttum und Lehrbücher gefunden haben (vgl. Salger 1989; Nedopil 2007; Marneros 2007, 2008; Venzlaff u. Foerster 2009), unter Berücksichtigung des Diskussionsverlaufes seit 1983 dargestellt werden.
Die Positiv-Kriterien Ein erster Analyseschritt besteht in der Prüfung eines Affektdeliktfalles nach einem Katalog von Merkmalen, die eher für die Annahme einer relevanten Affektdeliktskonstellation mit der Möglichkeit erheblicher Auswirkungen auf das Einsichts- und/oder Steuerungsvermögen im Sinne der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung sprechen können: 1. spezifische Vorgeschichte und Tatanlaufzeit, 2. affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft, 3. psychopathologische Disposition der Persönlichkeit, 4. konstellative Faktoren, 5. abrupter elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen, 6. charakteristische Affektauf- und abbau, 7. Folgeverhalten mit schwerer Erschütterung, 8. Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe, 9. Missverhältnis zwischen Tatanstoß und Reaktion, 10. Erinnerungsstörungen, 11. Persönlichkeitsfremdheit, 12. Störung der Sinn- und Erlebniskontinuität. Zu 1. Die Bedeutung der spezifischen Vorgeschichte der Tat wird seit der Monographie von Rasch (1964) über die „Tötung des Intimpartners“ einhellig anerkannt. In der Regel gibt es eine über Wochen und Monate, manchmal bis Jahre andauernde Periode schwerer innerer und äußerer Konflikte mit Kumulation traumatisierender Ereignisse und chronischen Affektanspannungen. Das Erleben des künftigen Täters wird immer stärker bestimmt durch die Konflikte und das gleichzeitige Bemühen, die ansteigende Spannung zu beherrschen. Dabei gelingt diese Beherrschung immer weniger, auch kommt es zu einer fortschreitenden Zermürbung und Labili-
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sierung der psychischen Kräfte durch nicht zu überwindende Versagungsund Kränkungserlebnisse. Sehr wesentlich ist eine zunehmende Störung des Motivationsgefüges. Aus der Sicht der strukturdynamischen Konzeption gehen dem eigentlichen Delikt langwierige innere und äußere Auseinandersetzungen voraus, und es kommt zur Entwicklung einer bestimmten Handlungsdisposition, gefasst in dem Begriff der Selbstkorrumpierung, die über allmähliche Einstellungsänderungen den Weg zur schließlichen Tat vorbereitet (Janzarik 1993). Dergestalt entwickelt sich aus den langdauernden Konfliktsituationen die spezifische Tatanlaufzeit, die in typischen Fällen eine zunehmende Erlebniseinengung, Isolierung, soziale Ausgliederung, Selbstentfremdung und Konfluenz der Antriebe in Richtung auf die spätere Tat mit sich bringt. Zu 2. Auf diese Weise entsteht eine charakteristische affektive Ausgangssituation vor der Tat, eine vorbereitende Gestimmtheit, die von verschiedenen Autoren als Affekt-, Motiv- oder Tatbereitschaft beschrieben und am prägnantesten von Rasch (1964) als „homizidale Tatbereitschaft“ bezeichnet wurde, von der aus die Gewalttat das „Nächstliegende“ sei. Im unmittelbaren Tatvorfeld besteht häufig eine Verengung und Primitivierung der Situationsauffassung mit Einschränkung des Realitätsgefühls und verändertem Erleben der Situation. Zu 3. Besonderheiten der Persönlichkeit wurden von den verschiedenen Autoren immer wieder hervorgehoben, doch gilt nach eigener Erfahrung wie beim Überblick über die Literatur, dass es einen „typischen Affekttäter“ nicht gibt. Differentialpsychologische Beschreibungen des Affekttäters, die eine besondere Persönlichkeitsdisposition aufweisen wollen, sind ausgesprochen heterogen, ferner fehlen bisher über kasuistische Illustrationen hinaus empirische Belege für derartige Typisierungen (vgl. Endres 1995, 1998). In einem Beurteilungsexperiment durch 193 Jura- und Psychologiestudenten, denen fiktive Fälle vorgelegt wurden, ergab sich, dass sog. überkontrollierte Täter häufiger für nicht verantwortlich gehalten wurden. Eine überzeugende und durch Untersuchungen an einer größeren Zahl abgesicherte Differentialtypologie von Personen, die mit einer Affekttat auffällig werden, liegt nicht vor. In der Literatur genannt wurden asthenische, labile und unsichere Persönlichkeitszüge, aber auch Bereitschaften zu Explosibilität, Stimmungslabilität, Neigung zu dysphorischer Gereiztheit und heftigen Reaktionen. Auch Züge, die für aggressive Gehemmtheit und Überkontrolliertheit sprechen, wurden beschrieben (Megargee 1966), ferner eine Übernachhaltigkeit in der Charakterstruktur mit Desaktualisierungsschwäche (Janzarik 1991), wobei diese nach Leonhard (1968) ohne scharfe Grenzen in paranoide Persönlichkeitszüge übergehen kann. In diesen Zusammenhang gehört auch eine übersteigerte Kränkbarkeit, wie sie im Rahmen narzisstischer Persönlichkeitszüge vorkommt. Entsprechend beschrieb Glatzel (1993) einen eher depressiven und einen eher narzisstisch strukturierten Tätertypus. Kritisch hat Kröber (1993) allerdings zu der in diesem Zusammenhang oft genannten „narzisstischen Wut“ ausgeführt, zunächst
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einmal sei sorgfältig abzuklären, was die narzisstische vor der landläufigen Wut privilegiere. Auf jeden Fall ist hinsichtlich der persönlichkeitsgebundenen Auffälligkeiten von Affektdelikten zu prüfen, ob es sich um Merkmale einer überdauernden, von der kritischen Deliktkonstellation unabhängigen Persönlichkeitsstörung handelt, die dann als „schwere andere seelische Abartigkeit“ im Sinne der Schuldfähigkeitsparagraphen zu berücksichtigen wäre. Zu 4. Als konstellative Faktoren, die das psychische Geschehen bei Affektdelikten modifizieren, ohne den Grad krankhafter Störungen zu erreichen, gelten Einflüsse durch Alkohol, Rauschdrogen und psychotrope Medikamente, Erschöpfung, Übermüdung oder auch vegetative Regulationsstörungen in Folge vorangegangener Labilisierungen in der Konfliktphase, etwa durch Schlafstörungen. Generell gilt für diese Faktoren, dass sie zu einer Veränderung der psychophysischen Reagibilität führen können und damit auch zu einer gesteigerten Empfindlichkeit bzw. zu einer Verminderung des Hemmungsvermögens gegenüber aggressiven Impulsen. Kröber (1993) hat sich kritisch mit dem Begriff „konstellativ“ auseinandergesetzt und insbesondere die Bedeutung der alkoholtoxischen Einflüsse analysiert, die unter den gleichen psychopathologischen Kriterien wie jene der organisch bedingten Bewusstseinsstörungen zu prüfen seien. Zu 5. Ein sehr wichtiges Merkmal von Affektdelikten ist das impulsive Bild des Tatgeschehens, das typischerweise abrupt, mit großer Energie und Schnelligkeit sowie mit elementarer Wucht abläuft. Dynamik und überschießende Aggressivität der Tathandlung sprechen für starke Affekte meist von Ärger und Wut. Charakteristischerweise nehmen die Täter dabei ebenso wenig Rücksicht auf die eigene Person, Schmerzen oder Verletzungen wie auf die äußere Situation. Dazu zählt auch das Außer-Acht-lassen von Sicherungstendenzen, etwa der Verzicht auf die Bereitstellung von Fluchtmöglichkeiten und den Schutz vor Entdeckung. In der amerikanischen Kriminologie wird in diesem Zusammenhang von einem Police-nearthe-elbow-Test gesprochen, also der Prüfung der Frage, ob das Delikt auch in unmittelbarer Nähe von Beobachtern geschehen wäre. Während das bei den allermeisten Straftaten zu verneinen wäre, da der Selbstschutz im Motivationsgefüge eine große Rolle spielt, ist dies bei Affektdelikten charakteristischerweise nicht der Fall. So wird beispielsweise auf Anwesenheit von Zeugen oft keine Rücksicht genommen. Zu 6. Ein typischer Affektauf- und abbau wurde von verschiedenen Autoren beschrieben, insbesondere ein sog. rechtwinkliger Affektverlauf mit abruptem Einsetzen des Affektes wie aus dem Stand, einem – sicherlich kurzen, unter dem Minutenbereich liegenden – Affektplateau und sodann einem quasi rechtwinkeligem Abbau am Ende der affektiven Entladung durch die Tat (Rasch, 1964). Allerdings sind nach Auffassung verschiedener Autoren und auch eigener Erfahrung durchaus andere Affektverläufe möglich, etwa ein allmähliches Aufschaukeln der Erregung bei Rede und Gegenrede im Verlauf einer Auseinandersetzung zu einem so hochgradigen Affekt-
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zustand, dass es zu einer Beeinträchtigung besonnener Bewusstseinsleistungen kommt. Zu 7. Ein wichtiges Merkmal, das bei typischer Affektdeliktskonstellation häufig beobachtet wird, liegt in einem charakteristischen Folgeverhalten im Anschluss an die Tat mit schwerer Erschütterung, fassungslosem Staunen, einem Zusammenbrechen des Täters und manchmal Suizidhandlungen, auch wenn diese in der Regel weniger Dynamik und Durchschlagskraft aufweisen als die vorangegangenen fremdaggressiven Akte. Mikorey u. Metzger (1938) bezeichneten dies plastisch als den Rückstoß einer schweren reaktiven Verstimmung, durch welche sich die Persönlichkeit nach der Tat von derselben distanziere. Hierhin gehören auch Handlungen, mit denen versucht wird, das vorangegangene Geschehen wieder rückgängig zu machen, etwa eigene Hilfeleistung oder das Herbeirufen von Personen, die helfen sollen. Zu 8. Einengungen der seelischen Abläufe und des Wahrnehmungsfeldes, auch als Bewusstseinseinengung zu bezeichnen, stellen ein besonders wichtiges Phänomen dar. Seine Erfassung ist allerdings von einer guten Selbstbeobachtung und retrospektiven Schilderung durch den Probanden abhängig. Es handelt sich um den auch sonst bei hoher affektiver Erregung, Schreck, Überraschung oder Ängstigung geläufigen Vorgang, dass die Aufmerksamkeit auf wenige Bewusstseinsinhalte und situative Elemente konzentriert wird. Gemessen am dynamisch hoch besetzten, das psychische Feld dominierenden Zornaffekt kommt es zu einem relativen Verblassen der übrigen Wahrnehmungen. Dies kann zu Einschränkungen der übersichtigen Situationsbeurteilung und wohl auch zu einer Minderung des Einflusses der moralisch-ethischen Grundausrichtung der Person führen. Beschrieben wurde dieses Phänomen auch als „Besinnungsstörung“ (Störring 1953) oder als „Erlebniseinengung durch Feldverlust“ (Stumpfl 1961). Geläufig ist auch das Bild eines „Affekttunnels“. Forensische Psychologen wie Undeutsch (1965) haben die Bewusstseinseinengung als besonders wichtiges Merkmal der Orientierungsstörung angesehen, weil sie die Fähigkeit zur normgemäßen Überformung des Verhaltens beeinträchtige. Rösler et al. (1993) konnten bei ihrer Analyse der Affektdeliktskriterien mit Gutachtenauswertung und Faktorenanaylse zeigen, dass die Faktoren „affektive Kernsymptomatik“ und „Einengung des Erlebens“ beim Gruppenvergleich besondere Bedeutung für die Feststellung einer Bewusstseinsstörung besaßen. Damit erhalten klassische psychopathologische Phänomene, die bei Bewusstseinsstörungen zu überprüfen sind, besonderes Gewicht, also Vigilanz, Orientierung, Auffassung, Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit, Ein- und Umstellungsfähigkeit (vgl. Saß 1983 a; Kröber 1993). Zu 9. Seit Hoche (1901) gehört zur Phänomenologie von Affektdelikten auch das Missverhältnis zwischen Tatanstoß und Reaktion. Eine derartige Diskrepanz in der Relation zwischen Anlass und Ausmaß der Tat haben forensische Psychologen wie Thomae und Schmidt (1967) als Hinweis auf eine Orientierungsstörung im psychologischen Sinne angesehen. Tatsächlich
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sind es nicht selten relativ kleine bzw. nicht von Vorkommnissen im vorangegangenen Ablauf deutlich unterschiedene Ereignisse, die dann schließlich zum Ausbruch eines in die Tat mündenden Affektes führen. Plastische Umschreibungen dafür, die allerdings wegen einer gewissen suggestiven Tendenz kritisch und vorsichtig zu gebrauchen sind, finden sich in Bildern wie etwa des „letzten Tropfens, der das Fass zum Überlaufen bringt“, oder des „kleinen Funkens, der eine große Explosion auslöst“. Zu 10. Die Vieldeutigkeit und Unzuverlässigkeit von Erinnerungsstörungen in forensischem Kontext ist dem Erfahrenen gut bekannt. Eine Tatamnesie bei Affektdelikten, sofern sie für plausibel und nachvollziehbar gehalten wird, könnte beispielsweise auf die erwähnte Einengung der Aufmerksamkeit zurück gehen, aber auch auf psychologisch verständliche Umgestaltungen nach der Tat. Nicht selten lässt sich bei sorgfältigem Aktenstudium feststellen, dass es im Laufe des Verfahrens zu einer mehr oder weniger bewussten Reduktion dessen kommt, was ein Täter als Erinnerungsumfang einzuräumen bereit ist. Horn (1993) hat die Beurteilung der Amnesie bei Affekttaten eingehend diskutiert und typische Verlaufskriterien der affektbedingten Amnesie zusammengestellt. Er weist auf die mögliche Funktion von Verdrängungsvorgängen zur äußeren und inneren Rechtfertigung sowie zur Stabilisierung des Selbstwertgefühles hin. Wesentlich für die Frage der Bewusstseinsstörung zur Tatzeit ist, dass die – angegebene – Erinnerungslücke ein postdeliktisches Phänomen darstellt und deshalb nicht unmittelbar auf die Bewusstseinsleistungen während des inkrimierten Aktes bzw. kurz davor rückschließen lässt. Der Wert der Erinnerungsstörungen für die Affektdeliktsfrage erscheint umso zweifelhafter, je isolierter die Amnesie lediglich belastende Ereignisse betrifft und je weniger sie in einen Kontext begleitender anderer Symptome, die für Veränderungen des Bewusstseins sprechen, eingebettet ist. Nicht selten lässt sich beobachten, dass die letzten Erinnerungsreste vor Einsetzen der Amnesie sich auf angegebene Kränkungen oder Provokationen durch das Opfer unmittelbar vor der Tat beziehen, während die eigentliche Tat mit ihren destruktiven, das Selbstbild belastenden Handlungen amnesiert ist und die Erinnerung erst wieder nach der Tat einsetzt, etwa mit dem beschriebenen Folgeverhalten der eigenen Erschütterung oder auch der Versuche, das vorangegangene Geschehen rückgängig zu machen und zu helfen. Zu 11. Ein schwieriges, zu Recht umstrittenes Merkmal ist die so genannte Persönlichkeitsfremdheit, die in der forensischen Psychologie auch als „Inkonstanz des Verhaltensstils“ gefasst wird (Thomae u. Schmidt 1967). Es handelt sich allerdings um eine ausgesprochen subjektive Bewertung, wenn ausgesagt werden soll, was „fremd“ für einen Täter bzw. seine Persönlichkeit ist. Im Grunde geht es hierbei – ähnlich wie bei dem folgenden Merkmal – um das „Unverständlichkeitstheorem“ der klassischen Psychopathologie, mit den – kritischen – Protagonisten Gaupp sowie Kretschmer auf der einen und – befürwortend – Jaspers sowie K. Schneider auf der anderen Seite. Tötungshandlungen im Sinne von Affektdelikten stellen
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üblicherweise singuläre Ereignisse in der Biographie eines Menschen dar und dürften daher regelhaft als fremd und abweichend von den bisherigen Verhaltenstendenzen erscheinen. Zu 12. Ähnlich umstritten und schwierig ist das Merkmal einer Störung der Sinn- und Erlebniskontinuität, das in der allgemeinen und in der klinischen Psychopathologie etwa bei Jaspers (1913) oder Kurt Schneider (1967) eine große Bedeutung besaß. Witter (1972, 1987) sah in der Zerreißung des Sinnzusammenhanges ein Kriterium für Ausnahmezustände im Rahmen von Psychosen, während bei affektiv getragenen Persönlichkeitsreaktionen und Primitivhandlungen, zu denen er die Affektdelikte zählt, der Sinnzusammenhang in der Regel erhalten sei. Die Einschätzung des Sinnkriteriums als das bei weitem unsicherste für die forensische Beurteilung von Affektdelikten (Saß 1983 b) ist auch durch die seitherige Diskussion nicht relativiert worden, so dass dieses Merkmal wohl nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen einmal heran zu ziehen ist.
Die Negativ-Kriterien Neu am Beurteilungsvorschlag von 1983 war neben der Beschreibung von positiven Kriterien die Formulierung eines weiteren, negativen Merkmalskataloges. Dies war sicherlich in besonderem Maße von der damals aufkommenden Diagnostikforschung und den psychiatrischen Klassifikationssystemen inspiriert. In Analogie zu den Ein- und Ausschlusskriterien der operationalisierten Diagnostik wurden Merkmale zusammengestellt, die eher gegen die Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung mit relevanten Auswirkungen auf das Einsichts- und/oder Steuerungsvermögen eines Täters sprechen können. In chronologischer Reihung handelt es sich um: 1. aggressive Vorgestalten in der Phantasie, 2. Ankündigungen der Tat, 3. aggressive Handlungen in der Tatanlaufzeit, 4. Vorbereitungshandlungen für die Tat, 5. Konstellierung der Tatsituation durch den Täter, 6. fehlender Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat, 7. zielgerichtete Gestaltung des Tatablaufs vorwiegend durch den Täter, 8. lang hingezogenes Tatgeschehen, 9. komplexer Handlungsablauf in Etappen, 10. erhaltene Introspektionsfähigkeit bei der Tat, 11. exakte, detailreiche Erinnerung, 12. zustimmende Kommentierung des Tatgeschehens, 13. Fehlen von vegetativen, psychomotorischen und psychischen Begleiterscheinungen heftiger Affekterregung. Zu 1. Aggressive Vorgestalten des späteren Deliktes in der Phantasie lassen sich bei vielen Affekttätern explorieren, sofern hinreichend kooperiert wird. Sie korrespondieren mit einer spannungsreichen Vorgeschichte in der Tatanlasszeit mit streitigen Auseinandersetzungen.
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Zu 2. Ähnlich verhält es sich mit Ankündigungen der Tat in mündlicher oder schriftlicher Form, was gegen das Opfer selbst oder gegenüber Dritten geschehen kann. Tatankündigungen belegen noch deutlicher als Vorgestalten in der Phantasie eine Beschäftigung des Täters mit der aggressiven Thematik. Zu 3. Dies gilt in noch stärkerem Maße für aggressive Handlungen des Täters gegenüber dem späteren Opfer in der Tatanlaufzeit. Die Gewaltproblematik und die Gefahr einer Entgleisung werden den Beteiligten dadurch deutlich vor Augen geführt. Janzarik (1993) gliedert den Problemkreis, der in den hier genannten drei Merkmalen aufscheint, in ähnlicher Weise als imaginative Vorgestalten, verbal bekräftigte Vorgestalten sowie handlungsbekräftigte Vorgestalten und weist auf die Probleme bei der Interpretation hin. Besonders eingehend hat Hoff (1993) den ideengeschichtlichen Hintergrund und die forensisch-psychiatrische Bedeutung dieser Phänomene analysiert. Vorgestalten des Deliktes im Sinne eines den affektiven und kognitiven Bereich in komplexer Weise vernetzenden Vorwegnehmens wesentlicher Momente des späteren Tatgeschehens sind angesiedelt zwischen bewusst intendierter Planung einerseits und unreflektiert-dumpfer Ahnung einer drohenden Eskalation andererseits. Zu Recht führt Hoff aus, dass Vorgestalten für sich allein genommen keinen aussagekräftigen Rückschluss auf den psychopathologischen Befund zur Tatzeit ermöglichen, vielmehr komme es stets auf den Kontext und den psychopathologischen Gesamtzusammenhang an, der etwa nach dem Modell des psychopathologischen Referenzsystems zu analysieren sei. Wesentlich aus forensisch-psychiatrischer und psychopathologischer Sicht erscheint die Bedeutung der Vorgestalten vor allem für die auch vom Gutachter zu leistende Analyse des Motivationshintergrundes. Insbesondere geht es darum, wie es beim Täter zur Tat gekommen ist, bzw. wie bei dem im Vorfeld der Tat charakteristischen Nebeneinander von eher aggressiven Regungen wie Wut, Ärger, Zorn, Enttäuschung, Erbitterung oder Verzweiflung einerseits und gleichzeitigen positiven Gefühlen wie Liebe und Wünschen nach Verbundenheit oder Fortsetzung der Beziehung usw. andererseits eine Situation entstehen konnte, in der sich der destruktive Handlungsimpuls durchsetzt. Diese Frage ist besonders fruchtbar von Janzarik mit den Mitteln der strukturdynamischen Konzeption analysiert worden (1991, 1993). Dabei betrachtet er als Grundlage für die Beurteilung der affektiven Verfassung mehr die vorangehende Entscheidungsphase und weniger die akute Ausführungshandlung. Bereits im Vorfeld der affektiv akzentuierten Delikte und damit zu einer Zeit, in der noch Möglichkeiten der Steuerung und Entscheidung bestehen, komme es zu devianter Strukturierung. In einer solchen Betrachtungsweise erscheinen die oben diskutierten Vorgestalten als Hinweis auf eine progrediente Verformung motivierender Gerichtetheiten, wodurch die bisherigen Wertorientierungen außer Kraft gesetzt werden
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und es beim Fehlen eines gangbaren Ausweges zur gewaltsamen Lösung drängt. Dabei kann es in der Zeit vor dem Delikt eine von emotionaler Bewegung begünstigte Tendenz zur Selbstverdeckung und zu einer – von Selbsttäuschung untergründig geförderten – Normenüberschreitung geben, von Janzarik als Selbstkorrumpierung bezeichnet. Eine derartig unter lang währender emotionaler Belastung entstandene deviante Strukturierung oder eben Selbstkorrumpierung bereitet den Boden für das Autonomwerden der emotionalen Komponente als affektive Entgleisung in der unmittelbaren Tatsituation. Hier bestehen wichtige konzeptionelle Querverbindungen zur Willenspsychologie von Heckhausen (1987). Die plastische Rubikonmetapher bezeichnet die Freigabe und das Anspringen der ausführenden Motorik an der Grenze zwischen Entscheidung und Handlung. In ähnliche Richtung zielen frühere Darstellungen der für das forensische Denken besonders fruchtbaren Figur des „limitativen Wollens“ (Keller 1968; Stumpfl 1961; Ricoeur 1969). Dieses bezeichnet die Situation, dass „das Dasein sich als Wollendes schnell fertig mit den aktuellen Triebregungen und Strebungen einig gibt, indem es sich einfach – aber doch schon von sich aus – in die Bahn desjenigen Tuns entlässt, die durch diese elementar vorgezeichnet ist“ (v. Baeyer 1967). Mit Hoff (1993) ist auf die forensischen Konsequenzen eines solchen „limitativen Wollens“ hinzuweisen, denn hier liegt das argumentative Fundament für die These, dass Vorgestalten der Tat für und nicht gegen die personale Zurechenbarkeit des Deliktes sprechen. Allerdings ist die Bedeutung der genannten Vorgestalten für die Beurteilung der Tatzeitverfassung und die Schuldfähigkeitsfrage nicht unumstritten. In der eigenen Darstellung von 1983 waren die Merkmale 1 bis 3 des Negativ-Kataloges als Hinweise für eine vorauslaufende Beschäftigung mit der aggressiven Thematik, die dann später in der Tat zum Ausdruck kommt, gewertet worden und damit als mögliches Indiz gegen die Annahme, der Täter sei erst in Folge einer Bewusstseinsstörung in ein gedanklich nicht vorbereitetes Tatgeschehen geraten. Andere Autoren wie Glatzel (1987) oder Krümpelmann (1993) betonen, dass die Vorgestalten zwar ein Anzeichen für den beginnenden Motivationsverfall darstellten können, ohne dass sie jedoch einen sicheren Rückschluss auf die Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit erlaubten. Vorgestalten der Tat könnten dazu geeignet sein, dem Täter seine Zuständlichkeit deutlich zu machen, insofern seien sie dann Anlass und Signal für die vom Betroffenen einzuleitenden Gegensteuerungen (Krümpelmann 1993). Dies führt in äußerst komplexe Überlegungen zu der juristischen Figur des sog. Vorverschuldens, das jedoch mit dem Koinzidenzprinzip der Schuldfähigkeitsparagraphen („. . . zur Zeit der Tat“) kollidiert und wegen der schwierigen rechtlichen Probleme der juristischen Diskussion vorbehalten bleibt (vgl. Krümpelmann 1974, 1993; Ziegert 1993). Zu 4. Weniger umstritten dürfte sein, dass konkrete Vorbereitungshandlungen für das Tatgeschehen ein starkes Indiz gegen die Annahme einer
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den Täter überraschenden, seine Steuerungsmöglichkeiten überschreitenden affektiven Erregung darstellen. Hier geht es etwa um das Mitnehmen einer Waffe oder andere Maßnahmen, mit denen die spätere Tatsituation vorbereitet wird. Derartige Verhaltensweisen deuten auf einen zumindest in groben Umrissen ausgeformten Tatentwurf, der die Handlungen auch schon in einer affektiv noch nicht extrem gespannten Vorphase geleitet hat. Nicht selten wird in späteren Aussagen eine Relativierung der Vorbereitungshandlungen etwa durch Äußerungen angestrebt, dass eine Waffe ständig mitgeführt werde, dass sie nur zufällig vorhanden gewesen sei oder dem eigenen Schutze dienen sollte. Hier wird der Gutachter die Beurteilung der Glaubwürdigkeit dem Gericht überlassen, diesem aber möglicherweise doch Fragen über die psychologischen Aspekte unter Berücksichtigung der Vorlaufphase und der konkreten Situation, in der es zu Vorbereitungen kam, zu beantworten haben. Sollten gedankliche Planungen und Vorbereitungshandlungen, die mit dem realen Tatablauf in Verbindung stehen, anzunehmen sein, so stellt dies ein gewichtiges Argument gegen die Annahme dar, dass es erst aus affektbedingter Bewusstseinsstörung heraus zur Tat gekommen ist. Allerdings lässt sich auch dann, wenn von Vorbereitungshandlungen auszugehen ist, nicht gänzlich ausschließen, dass es im Rahmen aktueller Geschehnisse unmittelbar vor der Tat doch zu massiven Affekterregungen gekommen ist. Insofern wird auch dieses Merkmal sorgfältig vor dem Hintergrund des gesamten Materials zu gewichten sein. Zu 5. In engem Zusammenhang mit dem vorangegangenen Kriterium steht die Frage, wie die entscheidende Begegnung zustande kam. Hat das Opfer sie bewirkt, geschah dies zufällig bzw. ohne besonderes Zutun eines der Beteiligten, etwa im Rahmen routinemäßiger Abläufe, oder wurde die Tatsituation auf Betreiben des Täters herbeigeführt und in den näheren Umständen arrangiert? Je aktiver und übersichtiger gestaltend hierbei die Rolle des späteren Täters war, umso weniger dürfte die Annahme einer gravierenden Bewusstseinsstörung als konstituierendes Element der späteren Tat anzunehmen sein. Doch gilt auch hier die beim vorigen Merkmal erwähnte Überlegung, dass dennoch im unmittelbaren Tatvorfeld durch spezielle Ereignisse Bewusstseinsveränderungen eingesetzt haben können. Problematisch für die Verwertung aller bis hierhin genannten Merkmale könnte das bereits erwähnte Tatzeitkriterium sein, wonach es nicht auf Verhaltensweisen vor dem Delikt ankomme, sondern lediglich auf die Verfassung unmittelbar bei der Tat. Keineswegs sollten die gutachterlichen Erhebungen und Einschätzungen in einen kriminalistischen oder rechtlichen Beurteilungsraum vordringen. Dennoch bietet das Verhalten in der Zeit vor der Tat auch für die psychopathologische Analyse mögliche Anhaltspunkte, aus denen Rückschlüsse über die Qualität der psychischen Funktionen und ihre eventuellen Veränderungen im Vorfeld der Tat gezogen werden können. Im Übrigen ist es auch bei anderen Konstellationen der Schuldfähigkeitsprüfung geläufig, aus Beobachtungen über Symptome und Verhaltensweisen, die vor der Tat gelegen sind, Schlüsse auf die Tatzeitverfassung
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zu ziehen, so bei psychischen Erkrankungen und toxischen oder traumatischen Schädigungen. Insofern wäre es eine unübliche und der empirischen Analyse abträgliche Verkürzung, wollte man fordern, die Einschätzung des psychischen Zustandes allein auf die unmittelbare Tatzeit zu stützen. Die Längsschnittbetrachtung erhöht die Sicherheit der psychopathologischen Beurteilung bei allen vier Störungskategorien der Schuldfähigkeitsparagraphen. Aus psychiatrischer Sicht ist es für die Frage einer Bewusstseinsstörung von erheblicher Bedeutung, ob sich eine mehr oder weniger ungebrochene Verbindungslinie zwischen den Bewusstseinsinhalten in der Vorphase des Deliktes und bei der Tat selbst zeigen lässt. Eine derartige Kontinuität des Bewusstseins macht es unwahrscheinlich, dass die aus höchstgradiger Affekterregung zum Zeitpunkt der Tat eingetretene Veränderung des Bewusstseins ein entscheidender Faktor für die Tat war. Zu 6. Gegen ein typisches Affektdelikt spricht ferner ein fehlender Zusammenhang inhaltlicher und zeitlicher Art zwischen einer Provokation, der affektiven Erregung und dem Tatgeschehen. Affekte stellen kurze, heftige und reaktive Veränderungen auf situative Reize dar. Ohne einen adäquaten Stimulus wird eine affektive Ausnahmeverfassung unplausibel. Findet sich kein Ereignis, das geeigneter Anlass für das Aufschießen einer Affekterregung sein könnte, so lässt sich die Annahme einer massiven affektbedingten Bewusstseinsveränderung nicht stützen. Zu 7. Ein zielgerichteter Tatablauf, der erfolgreich vom Täter gestaltet wird, bei dem er also Herr des Geschehens ist und dieses steuert, stellt ebenfalls ein Indiz gegen eine massive Störung der psychischen Funktionen dar. Zwar wird immer wieder, so auch im Zusammenhang mit Alkoholisierung, darauf hingewiesen, dass ein äußerlich geordnetes Verhalten des Täters nicht gegen eine erhebliche Beeinträchtigung seines Steuerungsvermögens sprechen muss. Allerdings ist es aus psychopathologischer Sicht schwer plausibel zu machen, warum hinsichtlich der äußeren Beherrschung der Situation und den inneren Möglichkeiten der Handlungssteuerung eine erhebliche Diskrepanz bestehen sollte. Derartiges mag vorkommen, etwa bei – forensisch gelegentlich angegebenen, aber sicherlich sehr seltenen – dissoziativen Störungen oder tranceartigen Veränderungen des Bewusstseins. Über die reine Denkmöglichkeit hinaus müsste aber die Annahme eines solchen Zustandes durch weitere Phänomene, die sich aus dem Gesamtzusammenhang des Geschehens ergeben, plausibel gemacht werden. Hierzu gehören die oben genannten Symptomenbereiche, aus denen auf Bewusstseinsstörungen geschlossen werden kann. Je größer der Anteil des Täters bei der Gestaltung von Tatsituation und Tatablauf ist, umso mehr aktive, übersichtige Steuerungsleistungen waren offenbar möglich. Zu 8. Auch bei einem lang hingezogenen Tatgeschehen wird eine durchgängige affektbedingte tiefgreifende Bewusstseinsstörung unwahrscheinlich. Der von Steigleder (1968) postulierte „protrahierte“ Affekt hat für Affektdelikte in der forensischen Literatur keine Anerkennung gefunden. Anders
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mag es beim Vorliegen zusätzlicher krankhafter Störungen sein, etwa erhebliche Intoxikationen, Epilepsie oder hirnorganische Wesensänderungen. Zu 9. Ein weiterer aus der Tatanalyse zu gewinnender Gesichtspunkt für die psychopathologische Beurteilung ist ein in Etappen gegliederter, komplexer Handlungsablauf. Er stellt an den Täter hohe Anforderungen für die Wahrnehmung wechselnder Situationen, für die Erfassung der relevanten Merkmale und ihre übersichtige Beurteilung und schließlich für die Fähigkeit, sinnvoll auf Außenreize zu reagieren. Bereits Kurt Schneider (1948) hat betont, je mehr die Handlung zeitlich ausgedehnt ist, je mehr Etappen sie hat, je mehr sie Einzelhandlungen und Überlegungen erfordert, umso mehr werde erwartet, dass auch die Einsicht Zeit und Gelegenheit zum Mitsprechen habe. Wenn über den Wechsel von situativen und örtlichen Gegebenheiten hinweg eine Handlungsintention vergegenwärtigt bleibt und verfolgt wird, so erfordert dies Ein- und Umstellungsleistungen, die mit der Annahme einer massiven Bewusstseinsstörung schwer in Einklang zu bringen sind. In diesen Kontext gehören auch ein eventuelles Zusammenwirken mit anderen Tätern, das Bedienen komplizierter Geräte sowie anspruchsvollere motorische und Koordinationsleistungen. Zu 10. Eher marginal, weil selten vorkommend, dann aber von erheblichem Gewicht sind Hinweise, aus denen auf eine zumindest partiell erhaltene Introspektionsfähigkeit bei der Tat geschlossen werden kann. Hierzu gehören Äußerungen, die die Tat begleiten und mit denen inneren Absichten Ausdruck gegeben wird, aber auch Beschreibungen der inneren Verfassung wie Gefühlslage oder Gedanken des Täters bei der Ausführung, etwa, er sei völlig verzweifelt gewesen, habe nur dieses oder jenes gedacht bzw. gefühlt, ihm sei alles egal gewesen, er habe nicht gewollt, dass jemand anderes den Partner bekomme u. ä. Zu 11. Auf die Unwägbarkeiten bei der Beurteilung einer angegebenen Erinnerungsstörung wurde hingewiesen. Liegt dagegen eine exakte, detailreiche Erinnerung vor, so ist dies ein gewichtiger psychopatholgischer Hinweis gegen eine erhebliche Störung der Bewusstseinstätigkeit, vor allem dann, wenn die Erinnerung nicht nur ein Kerngeschehen betrifft, sondern auch randständige Situationsanteile wiedergegeben werden können. Zu 12. Kommentierende Äußerungen unmittelbar vor, während oder nach der Tat, mit denen der Täter seine Absicht bekräftigt oder rechtfertigt, kommen nicht selten vor. Sie sprechen für die erhaltene Kontinuität des Bewusstseins und eine Kongruenz zwischen Fühlen, Denken, Wollen, Handeln und Sprechen. Dabei wäre bei einer relevanten Veränderung der Bewusstseinsleistungen eher eine Dissoziation der einzelnen psychischen Funktionen anzunehmen. Zu 13. Schließlich sind noch die geläufigen Merkmale heftiger affektiver Erregung zu verwerten, etwa starke vegetative Zeichen wie Zittern, auffällige Blässe oder Gesichtsrötung, orthostatische Dysregulationen oder auch Besonderheiten der Psychomotorik. Solche psychopathologisch geläufigen
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Hinweise auf heftige Affekterregung sprechen, wenn sie vorhanden sind, eher für die Möglichkeit einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, während ihr Fehlen dagegen spricht. Gelegentlich werden Derealisations- und Depersonalisationsphänomene angegeben, die jedoch abzugrenzen sind von einer psychologisch einfühlbaren Neigung eines Täters, sich hinterher vom Delikt mit Äußerungen etwa der Art zu distanzieren, er sei nicht er selbst gewesen. Für alle hier vorgestellten Merkmale gilt, dass sie lediglich als Anhaltspunkte für eine strukturierte Erfassung und Diskussion des Gesamtmaterials eines Falles dienen. Sie sind je nach den Umständen oder den zur Verfügung stehenden Informationen dem Einzelfall anzupassen. Die Beschreibung in einer einigermaßen standardisierten Form hilft der Vergleichbarkeit und dient der Verständigung. Die vorgestellten Merkmale stellen „Begünstigungsfaktoren“ im Sinne Bressers (1981) dar, deren gutachterliche Herausarbeitung das Einfühlen in die Entwicklung einer deliktträchtigen Konstellation und den Ablauf des Deliktes fördert. Auf diese Weise wird ein allgemeines Verständnis der Tat und ihres Motivationshintergrundes möglich, ohne dass damit bereits die Feststellung einer relevanten Bewusstseinsveränderung im psychopathologischen Sinne, die mit der „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“ als Rechtsbegriff korrespondiert, verbunden ist. Hierfür sind nachfolgend gesonderte Überlegungen anzustellen.
3.2.2.3 Dialogisches Vorgehen bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung Von Anfang an wurde bei der Formulierung der Merkmalskataloge herausgestellt, dass wir damit keineswegs über ein Diagnoseinstrument oder ein Verfahren zu skalierender Erfassung und Messung verfügen. Es handelt sich vielmehr um einen Vorschlag, wie Gutachter und Gericht bei der systematischen Untersuchung, Gliederung und Gewichtung der wesentlichen Gesichtspunkte für typische Affektdelikte vorgehen können. Stets ist auf die Besonderheiten des Einzelfalles einzugehen, um die Beurteilung vor dem Hintergrund des gesamten Materials zu leisten. Zentrale Elemente dabei sind die biographischen Entwicklung, die Persönlichkeit, Art und Verlauf des Beziehungskonfliktes, die psychische Verfassung im Vorfeld der Tat und schließlich zur Tatzeit. Dabei ist derzeit die Frage, wie die Merkmalssammlungen im Rahmen der zweistufigen Methode bei der Schuldfähigkeitsuntersuchung eingesetzt werden können, noch weitgehend ungelöst. Insofern gibt es noch keinen ähnlich elaborierten Vorschlag für ein differenziertes Vorgehen auf den beiden Ebenen der Schuldfähigkeitsuntersuchung, wie dies etwa für die Beurteilung der Persönlichkeitsstörungen formuliert worden ist (vgl. Boetticher et al. 2006; Habermeyer u. Saß 2007; Saß u. Habermeyer 2007). Was das Verhältnis zwischen erster und zweiter Ebene der Schuldfähigkeitsuntersuchung bei Affektdelikten angeht, so hat Krümpelmann (1993) auf das fruchtbare Bild eines hermeneutischen Zirkels hingewiesen. Im Un-
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terschied zu den anderen Störungskategorien der Schuldfähigkeitsparagraphen geht es bei den Affektdelikten nicht um die Diagnose einer Erkrankung auf der ersten Ebene und ihrer Auswirkungen auf Einsichts- und/oder Steuerungsvermögen auf der zweiten Ebene. Deshalb müssen alle im vorliegenden Fall informativen Aspekte aus beiden Merkmalskatalogen auf beiden Ebenen herangezogen und in ihrer Wechselwirkung diskutiert werden. Schorsch (1988) hatte hierzu ausgeführt, bei den Affekttaten handle es sich um die einzige Kategorie, bei der es nicht auf eine Prüfung in zwei Stockwerken ankomme, vielmehr ergebe sich die Schuldfähigkeitsrelevanz direkt aus der Störung. Dies wird von Krümpelmann (1993) kritisiert, da bei allen Störungsgruppen der Schuldfähigkeitsparagraphen Störungsform und Steuerungsfähigkeit in ihrer Wechselwirkung zu interpretieren seien. Schuldfähigkeit, also die Fähigkeit, Anreize zu einem bestimmten Handeln und Hemmungsvorstellungen gegeneinander abzuwägen und danach seinen Willensentschluss zu bilden, sei ebenso ein juristisch-normativ zu beurteilender Wertbegriff wie ein psychopathologisch auszufüllender, empirischer Dispositionsbegriff. Dabei liegt das Schwergewicht der psychopathologischempirischen Zuständigkeit sicherlich auf der ersten Ebene. Es gehen m. E. aber auch auf der zweiten Ebene bei der Diskussion von Einsichts- und Steuerungsfähigkeit normative und empirische Gesichtspunkte Hand in Hand. Dies erfordert statt einer Trennung von empirischen und normativen Beurteilungsgesichtspunkten einen ständigen Rückbezug, eben nach dem Muster des hermeneutischen Zirkels. Am besten geschieht das durch einen konstruktiven Dialog zwischen psychowissenschaftlichen Sachverständigen und juristischen Funktionsträgern im Verhandlungssaal. Dabei müssen beide Seiten behutsam auf Unterschiede in gegenseitiger Terminologie und Denkgewohnheiten Rücksicht nehmen. In einer Analogie lässt sich sagen, dass ähnlich wie beim Gestaltkreis im Sinne von Weizsäckers der im Dialog vorangetragene Erkenntnisprozess einen äußerst sensiblen Vorgang darstellt, bei dem jeder Beschreibungs- oder Bewertungsakt Einfluss auf die sich herausbildende Gestalt, die Beurteilung, nimmt. Für die psychopathologische Seite sei durchaus zugestanden, dass der erfahrene Gutachter Möglichkeiten und Gefahren seines Einflusses sorgfältig reflektieren muss, also etwa wie er durch Auswahl und Gewichtung der empirischen Gesichtspunkte, die er in seine Darstellung einbringt, und durch feine Nuancen der Bewertung richtunggebende Akzente setzen kann. Reziprok mag Ähnliches beim juristischen Dialogpartner vorkommen. Angesichts dieser Situation erscheint es gegenwärtig noch am sinnvollsten, bei einer gravierenden Affektdeliktskonstellation, wie sie etwa mit Hilfe der Merkmalskataloge erschlossen wurde, deren Erheblichkeit für die Schuldfähigkeitsfrage dialogisch zu erörtern, das heißt in einem rückkoppelnden Wechsel zwischen den unterschiedlichen Argumentationsebenen der psycho(patho)logischen und der normativ-rechtswissenschaftlichen Kategorienebenen.
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3.2.3
Zur Diskussion des psychopathologischen Lösungsvorschlages
3.2.3.1 Grundsätzliche Kritik Die 1983 formulierte Konzeption hatte zu einer Wiederbelebung der Debatten um die forensische Beurteilung der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung geführt. Auf rechtswissenschaftlichem Gebiet waren es vor allem die Arbeiten von Ziegert (1987), Frisch (1989) und Bernsmann (1989), während im psychiatrisch/psychopathologischen Schrifttum neben Diskussionsbeiträgen von Förster (1984), Glatzel (1986) und Schorsch (1988) ein größerer Beitrag von Witter (1987) erschien, der ebenso wie die Untersuchung von Rösler (1991) die Konzeption von 1983 unterstützte. Übereinstimmend wurde vor reduktionistischer Vorgehensweise bei der Anwendung von Kriteriologien gewarnt und, wie bereits 1983 geschehen, eine gestalthafte Darstellung und Analyse des gesamten Falles gefordert (s. a. Rasch 1993). 10 Jahre nach der Publikation im Nervenarzt wurde in einem Sammelband die Diskussion seit erster Vorlage der Konzeption im Jahre 1983 zusammengetragen und in wesentlichen Punkten entscheidend vertieft (vgl. insbesondere Janzarik 1993; Kröber 1993; Hoff 1993; Ziegert 1993). Hinzu kam eine zunehmende Akzeptanz der Konzeption in der Rechtsprechung, in deren Folge Salger (1989) auch eine Adaptation der vorgeschlagenen Merkmalskataloge in der juristischen Literatur vornahm. Wiederholt wurden Einwände gegen einen psychopathologischen Bezugsrahmen bei der Beurteilung von Affektdelikten formuliert. Endres (1998) kritisiert ähnlich wie früher schon De Boor (1966), dass die pathologisch, das heißt durch krankhafte körperliche Vorgänge bedingten Affekte „psychologisch verstehend nicht ableitbar“ seien und damit „uneinfühlbar“, während eine Affekttat stets sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen Situation und vor dem Hintergrund der biographischen Entwicklung nachvollziehbar sei. Endres bevorzugt eine psychodynamische und handlungstheoretische Betrachtungsweise, da sie entsprechend der Absicht des Gesetzgebers einen konsequenten normalpsychologischen Maßstab an die Affekttat anlege. Struktur und Intention der §§ 20, 21 StGB sprechen nach Endres dafür, dass für aggressive Gewalttaten psychisch gesunder Menschen nicht das Verhalten von Psychotikern, sondern die ubiquitäre Aufgabe der Selbstregulation und Impulskontrolle den angemessenen Bezugsrahmen liefere. In ähnliche Richtung zielt die apodiktische Kritik von Glatzel (1993) am psychopathologischen Ansatz, der feststellt, das Studium der Psychopathologie befähige zum Umgang mit konventionsbedingten psychiatrischen Kategorien, lehre jedoch keine Menschenkenntnis. Allerdings lässt er dabei die grundlegenden Errungenschaften der allgemeinen Psychopathologie im Sinne von Jaspers (1913) außer Acht. Auch Jähnke (1993) formuliert im Leipziger Kommentar, dass Vergleiche von Symptomen einer Bewusstseinsstörung mit Krankheitssymptomen unzulässig seien. Gemeinsam ist all diesen Einwänden, dass sie das Prinzip des psychopathologischem Referenzsystems, nämlich einen Vergleich der auffälligen Phänomene
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auf der Grundlage des gesamten psycho(patho)logischen Erfahrungshintergrundes, missverstehen in Richtung einer Gleichsetzung krankhaft bedingter und/oder organischer Bewusstseinsstörungen mit den psychischen Auffälligkeiten im Rahmen der – sicherlich unglücklich benannten – „tiefgreifenden Bewusstseinsstörung“. Eher sporadisch sind bislang Versuche geblieben, als Alternative zum psychopathologischen Vorgehen einen handlungstheoretischen Bezugsrahmen für Affektdelikte zu entwickeln (Steller 1993). Von Endres (1998) wird hierzu ausgeführt, aus den Merkmalskatalogen von 1983 seien allenfalls diejenigen Kriterien brauchbar, die mit der Selbstregulationstheorie vereinbar seien, auch wenn ihre Anwendung ganz anders zu erfolgen habe als bei einer klinischen Diagnosestellung. Dazu ist kritisch anzumerken, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle wegen ihrer Einbettung in ein individuell sehr unterschiedliches Kontinuum personaler und situativer Gegebenheiten außerordentlich schwer zu erfassen ist. Gerade das Element der psychischen Einwilligung, das in dieser Beschreibung der Selbstkontrolle einen wichtigen Platz einnimmt, stellt für Endres den Bezug zur rechtlichen Beurteilungsebene her. Einwilligung („acquiescence“) wird verstanden als ein aktives Sich-Überlassen an den Impuls, das bei jedem Verlust der Selbstkontrolle mehr oder weniger beteiligt sei. Die Person entscheide sich nicht bewusst für Kontrollverlust, aber dafür, nicht weiter Widerstand zu leisten. Das Mehr oder Weniger dieses Elementes der Einwilligung ist es nach Endres, was den Ansatzpunkt des moralischen und rechtlichen Schuldvorwurfes ausmacht. Unterlassen wird in diesem Zusammenhang die Bezugnahme auf Ricoeur und Keller, die mit der Figur des „limitativen Wollens“ genau diese Form der Handlungssteuerung aus willlenspsychologischer Sicht eingehend herausgearbeitet haben (siehe 3.2.2.2). Nicht thematisiert werden auch die Beziehungen zur strukturdynamischen Konzeption mit ihrer Aussage zur devianten Strukturierung im Vorfeld der Delikte und zur Einsichtssteuerung (Janzarik 1991, 1993), wie es vorstehend im Zusammenhang mit den Vorgestalten diskutiert wurde.
3.2.3.2 Empirisch-statistische Überprüfungen Eingehend haben Rösler (1991) und Rösler et al. (1993) bei der Untersuchung von tiefgreifenden Bewusstseinsstörungen in forensischem Kontext die 1983 vorgelegten Merkmalskataloge mit den Methoden der Diagnostikforschung hinsichtlich ihrer Beurteiler-Übereinstimmung (Reliabilität) und Gültigkeit (Validität) untersucht. Dabei fand sich für den Positiv-Katalog (Hinweise für gravierende Affektdeliktskonstellation) bei sechs von zwölf Items eine gute Reliabilität, zwei weitere Items zeigten befriedigende Verhältnisse, bei vier Merkmalen war die Reliabilität gering. Im Negativ-Katalog ergab sich eine gute Übereinstimmung bei zwei von dreizehn Items, eine befriedigende Übereinstimmung bei sechs Items und eine ungenügende Übereinstimmung bei fünf Items. Das Verhältnis zwischen der kriteriengeleiteten Diagnostik und der ganzheitlichen Erfassung aller Umstände des
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Einzelfalles sahen Rösler et al. nicht als Alternative, sondern als sich ergänzende Vorgehensweisen. Zutreffend wurde vor einer isolierten Nutzung der kriterienorientierten Diagnostik ohne Einbindung in den syndromatologischen Ansatz gewarnt, weil aus dem unsystematischen Abgreifen von Einzelelementen folgenschwere Fehlbeurteilungen resultieren können. Eine psychologische Untersuchung von Schiffer (2007) unternimmt den Versuch einer Validierung der so genannten Sass-Kriterien mit statistischen Mitteln. Schiffer geht von einem Vulnerabilitäts-Stress-Modell aus und untersucht 31 Affektdeliktsgutachten unter Berücksichtigung der ergangenen Gerichtsurteile. Hervorgehoben werden folgende Dimensionen: Eigenschaften der Persönlichkeitsstruktur, eine besondere Vulnerabilität und eine situative Belastung im Sinne von Stress. Aus dem Gutachtenmaterial wurden 53 Kriterien herausgefiltert, die nach inhaltsanalytischer Bearbeitung der Gutachtentexte und clusteranalytischer Auswertung auf einen Katalog von 15 Kriterien reduziert wurden. Die Prüfung der Validität erfolgte durch Rangkorrelation der Kriteriensausprägung mit den Gerichtsentscheidungen bezüglich der Schuldfähigkeit. In absteigender Reihenfolge erwiesen sich die folgenden Merkmale als wesentlich: z Problemlösen und Coping; z unterwürfiges, misserfolgsorientiertes Verhalten; z Überzeugungen und Erwartungen; z Herausforderung; z interaktionales Konfliktmanagement; z Reflexivität und Wahrnehmungsstile; z Bahnung der Tat vor dem Selbst; z verbalisierte Aggression; z affektive Schemata; z konfligierender Beziehungsverlauf; z aggressives Verhalten und entsprechende Definition; z Konstellierung der Tatbereitschaft; z Folge- und Begleiterscheinungen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung. Diese Kriterien, die in ähnlicher Weise wie bei Saß (1983 a) in Positiv- und Negativ-Merkmale differenziert wurden, stellen für Schiffer im Vergleich zu den eher tatbezogenen Kriterien möglicherweise die besseren Prädiktoren dar. Insofern sieht Schiffer die von ihm nach dem Vulnerabilitäts-StressModell herausgearbeiteten Faktoren als sinnvolle Ergänzung zu den SassKriterien an und schlägt zusätzlich eine weitere Überprüfung der prädiktiven Validität in einem prospektiven Design vor. Die Ergebnisse der empirisch-statistischen Überprüfungen und der konzeptionellen Arbeiten zur Affektdeliktsproblemaktik stimmen sämtlich darin überein, dass eine valide Aussage zum Vorliegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung von forensischer Relevanz nicht auf die isolierte Erfassung und Skalierung bestimmter Merkmale gestützt werden kann, vielmehr kommt es auf eine gestalthafte Zusammenschau des gesamten Materials an (vergl. Saß 1983 b, 1985 a, 1993; Rösler 1991; Rösler et al. 1993; Janzarik
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1993; Kröber 1993; Rasch 1993; Schiffer 2007). Diese Situation stellt keine Besonderheit der Affektdelikte dar. Bisher ist es auf keinem Gebiet der forensischen Begutachtung gelungen, mit skalierenden Beurteilungsinstrumenten zu einer quasi rechnerischen Fundierung der Schuldfähigkeitsbeurteilung zu gelangen. Fehlgeleitete Hoffnungen in dieser Richtung gab es zeitweise bei der Beurteilung des Schwachsinns, obwohl doch für die Messung der Intelligenz umfangreiches empirisches Material der differentiellen Psychologie zur Verfügung steht, aber auch bei der Beurteilung von Rauschfolgen, bei der eine zu stark an rechnerische BAK-Ergebnisse gebundene Methodik sich als Irrweg erwiesen hat. Hierzu hat Kröber (1996) in Auseinandersetzung mit den Ausführungen des vierten Senates des BGH zur Alkoholisierung nüchterne Feststellungen getroffen. Schuldfähigkeit stellt eben, wie Maatz und Wahl (2000) zutreffend ausführen, zwar ein normatives Postulat, aber keine messbare Größe dar. Diese Aussage trifft nicht nur auf die Alkoholisierung, sondern auch auf mögliche Bewusstseinsstörungen bei Affektdelikten und auf die anderen Kategorien der Schuldfähigkeitsparagraphen zu.
3.2.4 Ausblick Klassische Affektdelikte stellen ein Ausnahmegeschehen in menschlichen Extremsituationen dar. Möglicherweise kann die subtile Beschreibung der psychischen Verfassung im Vorfeld und während der Tat ihrer gerechten Bewertung im Strafverfahren dienlich sein und dem Richter bei der Abwägung helfen, was an Beherrschung zu fordern war und welches Maß an Schuld das Scheitern bedeutet. In vielen Fällen bieten sich für die seelisch zermürbenden Entwicklungen im Vorfeld der Tat andere Lösungsmöglichkeiten an. Erwogen wurde unter Umgehung der problematischen Kategorie der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung die Einordnung von Affektdeliktskonstellationen in die schwere andere seelische Abartigkeit, insbesondere, wenn Persönlichkeitsauffälligkeiten vorhanden sind und eine länger hingezogene Vorgeschichte der Tat zu psychopathologisch relevanten zusätzlichen Veränderungen geführt hat, etwa einer reaktiv-depressiven Verfassung (vgl. Rasch 1980; Janzarik 1993; Kröber 1993: Venzlaff u. Förster 2009). Darüber hinaus gibt es neuerdings Überlegungen, affektive Ausnahmezustände als Reaktionen auf massive und außergewöhnliche Ereignisse oder Belastungen unter die akuten Belastungsreaktionen (ICD-10) bzw. akute Belastungsstörungen (DSM-IV TR) der modernen Klassifikationssysteme zu fassen (s. a. Venzlaff u. Förster 2009). Marneros (2007, 2008) sieht bei den vom ihm unterschiedenen „Affekttaten“ und „Impulstaten“ als gemeinsames Merkmal eine Dysbalance im Umgang mit Impulsivität. Bei den Impulstaten (Marneros 2007) beziehungsweise Affektdelikten in weiteren Sinne (Saß 1983 b) fehlt eine biographisch fundierte, aus schwerwiegendem Täter-Opfer-Konflikt abgeleitete Erschütterung des Täters mitsamt der damit verbundenen Persönlichkeitslabilisierung. Marneros erkennt daher bei
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den aggressiven Handlungen der Impulstaten kaum die Vorraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB. Bei den Affekttaten, die als Beziehungstaten aus einer relevanten TäterOpfer-Beziehung hervorgehen, gebe es im Vorfeld Persönlichkeitslabilisierung, Abschwächung von Coping-Mechanismen, Selbst- und Fremdzweifel sowie Selbst- und Fremdentwertung, was zu einem destruktiven Bereitschaftspotential führen könne. Als tatwirksamen Rahmen erwägt er am Ende einer solchen komplexen psychologisch-interaktionalen Entwicklung eine schwere akute Belastungsreaktion im Sinne von ICD-10 (F43.02). Bei ihrem Vorliegen müsse in einem zweiten, ebenfalls psychopathologisch orientierten Schritt geprüft werden, ob eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung vorhanden sei. Hierfür schlägt Marneros Beurteilungskriterien vor, die in Anlehnung an die Merkmalskataloge von Saß (1983 b) und deren Diskussion formuliert sind. Darüber hinaus sieht er die Möglichkeit bestimmter Fälle von Affekttaten ohne tiefgreifende Bewusstseinsstörung, bei denen aber dennoch wegen einer akuten Belastungsreaktion ex- bzw. dekulpierende Faktoren vorliegen können. Bei näherer Betrachtung ergeben sich allerdings erhebliche Zweifel an derartigen Vorschlägen, die Affektdelikte unter Bezug auf die akuten Belastungsstörungen bzw. die akuten Belastungsreaktionen im Sinne der operationalisierten Klassifikationssysteme zu beurteilen. Die akuten Belastungsreaktionen oder -störungen sind definitorisch vor allem dadurch gekennzeichnet, dass sie als Folge einer gravierenden Traumatisierung auftreten: Gemäß DSM-IV-TR (Saß et al. 2003) ist Hauptmerkmal der akuten Belastungsstörung das Leiden unter charakteristischen Angstsymptomen, dissoziativen oder anderen Symptomen innerhalb eines Monats nach der Konfrontation mit einem extrem traumatisierendem Ereignis. Beispiele für eine derartige Extrembelastung sind kriegerische Auseinandersetzungen, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, Entführung, Geiselnahme, Terroranschläge, Folterungen, Kriegsgefangenschaft, Konzentrationslager, Katastrophen, schwere Autounfälle oder die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Diese Aufzählung zeigt, dass die Entstehungsbedingungen der akuten Belastungsstörungen deutlich von den typischen Affektdeliktskonstellationen abweichen. Was die Symptomatologie angeht, so können tatsächlich Ähnlichkeiten zwischen den Erscheinungen bei den akuten Belastungsstörungen und der psychischen Verfassung im Umfeld von Affektdelikten bestehen. Dies betrifft etwa dissoziative Symptome wie das subjektive Gefühl emotionaler Taubheit, Derealisations- oder Depersonalisationserleben und dissoziative Amnesie, vor allem aber auch die Symptome von Angst oder erhöhtem Arousal, etwa Schlafstörungen, Reizbarkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und andere Stresssymptome. Tatsächlich also gibt es einige symptomatologische Beziehungen zwischen akuten Belastungsstörungen und Affekttaten. Insgesamt aber erscheint die Einordnung der Affektdelikte unter die akuten Belastungsstörungen/Belastungsreaktionen wegen der unterschiedlichen Entscheidungs-
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bedingungen nicht sehr nahe liegend zu sein. Daher ist der Einschätzung von Endres (1998) zuzustimmen, dass weitergehende Gesichtspunkte für eine Trennung zwischen schuldfähigkeitsrelevanten Ausnahmezuständen und voll zu verantwortenden psychischen Erregungszuständen von derartigen Diagnosen nicht zu erwarten sind. Zutreffend führt er aus, dass die Tat eben nicht als Reaktion auf eine basale Bedrohung oder Provokation stattfindet, sondern das Ergebnis einer emotionalen Verarbeitung ist, etwa im Gefolge einer Trennungsankündigung. Das Einbeziehen der Affektdeliktsthematik würde m. E. eine wenig plausible Überdehnung der Konzeption der posttraumatischen Belastungsstörung darstellen, ohne dass ein zusätzlicher Nutzen für die forensischen Fragestellungen zu erkennen ist. Das Grundproblem bei der Beurteilung der Affektdelikte, nämlich die Verständigung über die Auswirkungen affektiver Erregung auf die Fähigkeit zur einsichtsmäßigen Handlungssteuerung, bedarf keiner neuen diagnostischen Zuordnung, sondern eines differenzierenden Dialogs im Übergangsbereich zwischen empirischer und normativer Bewertung.
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Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“) M. Lammel
3.3.1 Einführung Der Schwachsinn (frz.: „débilité mental“; engl.: „mental deficiency“, „mental retardation“) ist die allgemeine Bezeichnung für alle Formen niedriger Intelligenz. Unter historischem Gesichtspunkt wurde er definiert als ein „Mangel an Sinn, d. i. nicht allein an Empfindung, sondern auch am Verstande“ (Adelung 1798, Bd. 3, S. 1703, darauf Bezug nehmend auch Grimm 1899, Bd. 15, Sp. 2166, 43, 49), umgangssprachlich-adjektivisch wird er gebraucht im Sinne von „anspruchslos, rührselig, einfältig“ (Küppers 1997, S. 749); synonyme Begriffe sind auch Geistesschwäche, Blödsinn, Stumpfsinn oder Einfalt. Der (angeborene) Schwachsinn wurde als geistige Entwicklungshemmung des Kindes erst in der Unterteilung in Imbezillität und Idiotie (Kraepelin 1896) und dann als Oligophrenie in den Abstufungen von Debilität über Imbezillität bis zur Idiotie (Kraepelin 1915) um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert über Emil Kraepelin (1856–1926) zum Bestand der wissenschaftlichen Psychiatrie. Heute wird er – ähnlich wie in der Pädagogik – in den modernen Klassifikationssystemen begrifflich als geistige Behinderung (DSM-IV) bzw. Intelligenzminderung (ICD-10) verwaltet. Der Begriffsgeschichte (ausführlich dazu: Müller 2001), der als einer der letzten Zwischenschritte die Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung, Behinderung und Benachteiligung zugehörte (WHO 1980, Holland 2000) und die eine aktuelle Festlegung in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (International Classification of Functioning, Disability and Health, WHO 2001; ausführlich: Seidel
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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2005) erfahren hat, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Es soll, im Wesentlichen der ICD-10 (WHO 1992, 2000) folgend, im Rahmen der folgenden Ausführungen das hinter dem Begriff Schwachsinn stehende psychopathologische Syndrom als Intelligenzminderung (oder geistige Behinderung) bezeichnet werden, zumal der Begriff Schwachsinn sachlich unzutreffend ist, da die Sinnesorgane in der Regel nicht beeinträchtigt sind. Vom Schwachsinn soll nur die Rede sein, wenn es im Sinne eines Rechtsbegriffes um das Eingangsmerkmal der §§ 20, 21 StGB geht. Die Anmerkungen, die in dieser Arbeit speziell zur forensischen Bedeutung des Schwachsinns unter historischen Aspekten zu machen sind (siehe 3.3.7), sind in allgemeine Zusammenhänge zu stellen, die von Häßler (2005 b) und Häßler und Häßler (2005) ausführlich mit Blick auf die Stellung des geistig Behinderten in der Medizin, in der Psychiatrie und in der Gesellschaft aufgezeigt worden sind. Auch ist auf die sehr informative Studie von Müller (2001) zu verweisen, die einen Einblick in die Schweizer Verhältnisse hinsichtlich des Umgangs mit Menschen mit einer geistigen Behinderung gibt, zumal die enge Verflechtung der deutschen und schweizerischen Psychiatrie – in positiver wie in negativer Hinsicht – dort detailreich dargelegt wurde. Dieser (Kultur-)Geschichte des Umgangs der Gesellschaft mit „dem Schwachsinnigen“ gehört zu, dass erst nach der Psychiatrie-Enquete 1975, d. h. nach der im Rahmen dessen angemahnten Trennung der Versorgung psychisch Kranker und geistig Behinderter sowie der Schaffung von eigenständigen Behinderteneinrichtungen außerhalb der Krankenhäuser, die geistig Behinderten ihr Dasein als „Stiefkinder – ,Cinderella‘ – der Psychiatrie“ (Häßler 2005 b, S. 6, nach Tarjan 1966) zu verlassen begannen. Auf dieser Zeitstrecke der letzten 30 Jahre kam es über „klinikinterne Verbesserungen, die Hinwendung zu kleineren therapeutisch orientierten Fachkrankenhäusern mit vorrangiger Förderung der sozialen Kompetenz, moderneren Behandlungsstrategien, d. h. Integration psychotherapeutischer Verfahren neben der Psychopharmakotherapie, als auch gemeindenahe Wiedereingliederungsmaßnahmen und die Integration entwicklungspsychologischer, sozioökologischer und psychoedukativer Modelle in ein Gesamtbehandlungskonzept“ (Häßler 2005 b, S. 6 f.) nicht nur zu einer Entpsychiatrisierung, Enthospitalisierung und zu einer neu definierten Rolle der Psychiatrie in der Betreuung geistig behinderter Menschen, sondern auch zu angemessener sozialer Integration, adäquater Ausbildung, besserer medizinischer Betreuung und zu einer Stärkung der rechtlichen Position mit Wegfall von Entmündigung und Gebrechlichkeitspflegschaft durch das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige vom 1. 1. 1992 („Betreuungsgesetz“). Dies fordert dazu auf, erneut über die forensische Relevanz des Schwachsinns nachzudenken. In der jüngeren Literatur ist durch Hellmann (2003, auch Müller 2001) zwar ausführlich die zivilrechtliche Problematik des geistig Behinderten bis hin zur Entscheidung über eine Sterilisation (dazu auch: Heidenreich u. Otto 1991) erörtert worden, nicht aber die strafrechtliche Relevanz.
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
Ehe in eine Erörterung des Themas eingetreten wird, muss darauf hingewiesen werden, dass zwei Themenbereiche zwar berührt, nicht aber näher behandelt werden, nämlich allgemein das Ursachenspektrum von Intelligenzminderungen und speziell die Problematik der Beurteilung des Bedingungsgefüges und der Phänomenologie von Intelligenzminderungen im Kindesalter. Das potentielle Ursachenspektrum der Intelligenzminderung ist aus zwei Gründen nicht auszubreiten und zu diskutieren. Zum einen reicht im forensisch-psychiatrischen Kontext – soweit es um die Begutachtung geht – die Feststellung aus, dass die Intelligenzminderung ein charakteristischer Symptomenkomplex (und kein Krankheitsbild) ist, dem eine Vielzahl ätiologisch geklärter, aber auch ungeklärter Krankheitsbilder zugehört, die sich nach dem Zeitpunkt der Entstehung (prä-, peri- und postnatal) oder nach erblichen (genetischen) bzw. umweltbedingten (exogenen) Faktoren einteilen lassen. Einschlägige Lehrbücher der Pädiatrie sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie geben darüber Auskunft. Zum anderen ist es der historischen Entwicklung geschuldet, dass nur die angeborenen Zustände der Intelligenzminderung dem Rechtsbegriff des Schwachsinns der §§ 20, 21 StGB zugehören sollen. Auf den Hintergrund und den fraglichen Sinn dieser Festlegung ist an späterer Stelle (siehe 3.3.6) einzugehen. Da Strafmündigkeit in Deutschland erst mit der Vollendung des 14. Lebensjahres eintritt und Kinder somit nicht hinsichtlich ihrer Schuldfähigkeit zu beurteilen sind, muss auf die besondere Problematik des Bedingungsgefüges, der Erscheinungsformen und der Feststellungsverfahren von Zuständen geistiger Behinderung im Kindesalter nicht eingegangen werden (siehe dazu: Neuhäuser u. Steinhausen 2003; Steinhausen 2005), wobei diesbezüglich selbstverständlich Kenntnisse vorhanden sein müssen, um im Rahmen der Begutachtung Jugendlicher, Heranwachsender und Erwachsener angeforderte Unterlagen interpretieren und die Befunde den Informationen über die biographische Entwicklung zuordnen zu können. Wichtig erscheinen hingegen: z die Bestimmung der Begriffe, um eine Ausgangsposition zu gewinnen (siehe 3.3.2), z ein Hinweis auf die Schweregrade der Intelligenzminderung unter Berücksichtigung ihrer Häufigkeit (siehe 3.3.3), z ein Blick auf Differentialtypologie und -diagnostik der Intelligenzminderung sowie das Problem der Komorbidität von Intelligenzminderung und anderen Störungen (siehe 3.3.4), z die Erörterung des phänomenologischen Spektrums der leichten Intelligenzminderung unter besonderer Berücksichtigung der kognitiven Defizite und der Verhaltensauffälligkeiten (siehe 3.3.5), z die Zuordnung der Intelligenzminderung zum Eingangsmerkmal des Schwachsinns (siehe 3.3.6), z die Verwaltung der kriminologischen Relevanz von Schwachsinnszuständen durch die forensische Psychiatrie (siehe 3.3.7),
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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z die Auswirkungen des Schwachsinns auf Einsichtsfähigkeit und Einsicht sowie die Konsequenzen für die Anwendung der §§ 20, 21 und 63 StGB (siehe 3.3.8), z die Auswirkungen des Schwachsinns auf Steuerungsfähigkeit und die Konsequenzen für die Anwendung der §§ 20, 21 und 63, 64 StGB (siehe 3.3.9).
3.3.2 Begriffe Die Auswahl der Begriffe und die nachfolgenden Anmerkungen dazu orientieren sich an den Aufgaben der forensisch-psychiatrischen Praxis im Rahmen der Beurteilung der Schuldfähigkeit von Personen mit Intelligenzminderungen im Strafverfahren.
Intelligenz Seit dem Beginn der modernen Intelligenzforschung, die im ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzte und als deren „Väter“ Sir Francis Galton (1822– 1911), Alfred Binet (1857–1911), Charles Edward Spaerman (1863–1945) und William Stern (1871–1938) gelten dürfen, sind Begriffsbestimmungen erprobt, Messinstrumente entwickelt, Intelligenzfaktoren unterschieden und Intelligenzmodelle entworfen worden, ohne dass eine verbindlich gewordene Definition zum Ergebnis dieser Bemühungen gehören würde. Soweit es in Geschichte und Gegenwart der Intelligenzforschung zur Schaffung solcher heuristischer Konzeptionen gekommen ist, um die intellektuelle Leistungsfähigkeit mit Rückgriff auf psychometrische Daten und Befunde der kognitiven Psychologie der Informationsverarbeitung über verschiedenartige Intelligenzmodelle erfassen zu können, kann darauf hier nicht eingegangen werden (siehe Gardner 1994; Perleth 1999). Soweit aber folgender Konsens unterstellt werden darf, reicht das für die Belange der forensischen Psychiatrie erst einmal aus: „Gemeinsam ist indessen den meisten Definitionen, dass sie als das wesentliche Moment der Intelligenz die Fähigkeit bezeichnen, sich in neuen Situationen aufgrund von Einsichten zurechtzufinden oder Aufgaben mit Hilfe des Denkens zu lösen, ohne dass hierfür die Erfahrung, sondern vielleicht vielmehr die Erfassung von Beziehungen das Wesentliche ist“ (Häcker u. Stapf 2004, S. 447). Intelligenz ist damit kurz und prägnant formuliert „das Ganze aller Begabungen, aller Talente, aller Werkzeuge, die zu irgendwelchen Leistungen in Anpassung an die Lebensaufgaben brauchbar sind und zweckmäßig verwendet werden“ (Jaspers 1946, S. 180) oder noch kürzer gesagt: „eine Fähigkeit, eine Begabung für komplexe Funktionen“ (Scharfetter 2002, S. 163), der zahlreiche Einzelfunktionen zugehören. Im Zentrum dieser Einzelfunktionen steht die Gesamtheit der kognitiven Leistungsfähigkeit, d. h. der Verstand als das Vermögen der Auffassung, Orientierung, Kombination, Abstraktion, Urteilsfähigkeit und der Befähigung zu Schlussfolgerungen. Die Erkenntnis, dass sich erfolgreiche Lebensbewältigung mit Verweis auf die traditionelle Intel-
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
ligenzkonzeption allein nicht hinreichend erklären lässt, hat den Blick über die kognitiven Intelligenzfaktoren hinaus auf Antriebsniveau, Ausdauer, emotionale Reaktionsbereitschaften, Motivation, Kommunikationsfähigkeit, Intuition, Erfahrung, Selbstbewusstheit, Empathie etc. gelenkt und zur Rede von multipler (Gardner 1994) und schließlich emotionaler Intelligenz (Goleman 1996) geführt. Weitere Definitionen zum Intelligenzbegriff und eine Beschreibung der Intelligenzentwicklung lassen sich bei Resch et al. (1999, S. 166 ff.) finden. Es geht im Rahmen der allgemeinen Definitionen von Intelligenz also immer um die in verschiedene Bereiche aufteilbare Gesamtheit der (nicht nur kognitiven) Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft als Voraussetzungen für eine Anpassungsleistung an gegebene Anforderungen und als Voraussetzungen für produktiv-schöpferisches Problemlösungsverhalten angesichts sich ändernder Anforderungen. Ein normativ-sozialer Gesichtpunkt tritt hinzu, wenn Scharfetter Intelligenz definiert als „Fähigkeit zur rechten (d. h. sachgerechten und intersubjektiv übereinstimmbaren) Kenntnisnahme von und zur Einsicht in Sachverhalte und ihre Zusammenhänge sowie zur sich daraus ergebenden Entfaltung sinnvoll planender gezielter Wirksamkeit (intelligentes Verhalten)“ (2002, S. 163).
Lernbehinderung Der Begriff der Lernbehinderung, der im forensischen Bezug über Schuleinschätzungen, Heimerziehungsberichte, Unterlagen des Jugendamtes oder Einschätzungen durch die Jugendgerichtshilfe begegnen kann, ist ein Begriff, der nur im schulischen bzw. pädagogischen Kontext zu sehen und dort zu belassen ist. Er wird mit Blick auf Kinder gebraucht, deren unterschiedlich bedingtes Schulleistungsversagen zum Nachdenken darüber zwingt, welche der im jeweiligen Bundesland diesbezüglich vorgehaltenen Schulformen geeignet sein kann, den individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf zu leisten. Die Bindung an das schulische Lernen besagt zugleich, dass damit nur ein kleiner Ausschnitt menschlichen Lernens widergespiegelt wird. Soweit in der ICD-10 im Rahmen der „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ (F81) die „diagnostischen“ Kategorien der kombinierten (F81.3), sonstigen (F81.8) oder nicht näher bezeichneten (F81.9) Störungen schulischer Fertigkeiten vorgehalten werden, kann sich das zwar mit der Rede von einer Lernbehinderung in Übereinstimmung bringen lassen, doch ist der Hinweis zu beachten, dass es dabei ausnahmslos um Lernstörungen geht, die nicht Folge einer Intelligenzminderung sind. Die Rede vom Vorliegen einer Lernbehinderung lässt also keinen Rückschluss auf das Vorliegen einer Intelligenzminderung zu. Lernbehinderungen können aber durchaus intellektuelle Minderbegabungen und auch Intelligenzminderungen zugrunde liegen, wenn dieser Begriff unter dem Gesichtspunkt schulischer Förderungsmöglichkeiten und schulischen Förderungsbedarfes gebraucht oder unter diesem Vorzeichen, abweichend von
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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den medizinischen Klassifikationssystemen, zwischen einer Lernbehinderung (IQ = 80–50) und einer geistigen Behinderung (IQ = 55–30) unterschieden wird (Remschmidt u. Schmidt 2000).
Minderbegabung Der Begriff der intellektuellen Minderbegabung meint am ehesten das, was in der diesbezüglich pejorativen Nomenklatur der ICD-9 noch mit der Kategorie der „niedrigen Intelligenz“ bzw. der „Grenzdebilität“ einer Unterteilung des „Schwachsinns“ bzw. der „intellektuellen Behinderung“ in Debilität, Imbezillität und Idiotie vorangestellt worden ist (Tabelle 3.5). Die in dieser Weise Betroffenen lernen langsamer und quantitativ weniger, haben in der Schule Schwierigkeiten, sich den Lernstoff anzueignen, sind aber bei entsprechender Motivation und Anstrengungsbereitschaft durchaus in der Lage, einen Schulabschluss zu erwerben und eine Berufsausbildung zu absolvieren. Oftmals geht es auch nur um eine intellektuelle Entwicklungsverzögerung, deren Auswirkung auf den Schulbesuch von der Reaktion und der Kompetenz der sozialen Umgebung abhängen, die aber dann im Alltags- und Berufsleben des Erwachsenen ohne praktische Auswirkungen bleibt. So sehr wie es zu begrüßen ist, dass die tradierte und einer Etikettierung Vorschub leistende Terminologie verlassen wurde, so sehr ist aber auch davor zu warnen, dass die nun in Gebrauch gekommen Begriffe regelwidrig verwandt werden. Da der Begriff der intellektuellen Minderbegabung nicht konsens- und evidenzbasiert definiert ist, kann diesbezüglich nur empfohlen werden, damit allenfalls den Bereich niedriger Intelligenz (IQ = 84–70) zu bezeichnen, also nicht noch den Bereich der (leichten) Intelligenzminderung zu umfassen. Andernfalls besteht die Gefahr der sprachkosmetischen Verschleierung einer zumindest aus forensisch-psychiatrischer und juristischer Sicht hilfreichen und von daher gewollten qualitativen Grenze – nämlich der zwischen Normalintelligenz und Intelligenzminderung.
Intelligenzminderung Die vermutlich polygenetisch determinierte Entwicklung der Intelligenz kann, wie eingangs erwähnt, durch unterschiedlichste Einflussfaktoren eine solche Störung erleiden, die im Symptomenkomplex der Intelligenzminderung ihren Ausdruck findet. Die Intelligenzminderung ist eine Intelligenzaufbaustörung, die sich im Kindesalter als geistige Entwicklungsstörung und dann im Schulalter als Lernbehinderung zeigt, darüber hinaus im Erwachsenenalter aber dadurch bestimmt wird, dass die für ein eigenständiges Leben zu fordernde geistige Reifung auf Dauer unvollständig bleibt und die Defizite im Laufe der Entwicklung trotz Zuwendung und Förderung nur unzureichend kompensiert werden können. So sehr wie mit Blick auf Kinder und Jugendliche diesbezüglich nur mit Vorsicht auf diagnostische Kategorien zurückgegriffen werden soll, um die
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
Tabelle 3.5. Die Graduierung der Intelligenzminderung in den Klassifikationssystemen IQ/Anteil
ICD-9
ICD-10
DSM-IV
Oligophrenien
Intelligenzminderung
Geistige Behinderung
84–70
317.0
–
–
–
–
69–50/80%
317.1
F70
Leichte Intelligenzminderung
317
Leichte geistige Behinderung
49–35/12%
318.0
F71
Mittelgradige Intelligenzminderung
318.0
Mittelschwere geistige Behinderung
34–20/7%
318.1
F72
Schwere Intelligenzminderung
318.1
Schwere geistige Behinderung
< 20/< 1%
318.2
F73
Schwerste Intelligenzminderung
318.2
Schwerste geistige Behinderung
–
–
F78
–
–
–
319
Sonstige Intelligenzminderung Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
319
Geistige Behinderung mit unspez. Schweregrad
Niedrige Intelligenz, Grenzdebilität Leichte intellektuelle Behinderung, Debilität Deutlicher Schwachsinn, Imbezillität, intellektuelle Behinderung mittleren Grades Schwerer Schwachsinn, schwere intellektuelle Behinderung Hochgradiger Schwachsinn, Idiotie, schwerste intellektuelle Behinderung –
Nicht näher bezeichneter Schwachsinn
F79
Die nachfolgend wiedergegebene Codierung der Dimension der Verhaltensstörungen findet sich nur in der ICD-10: F7x.0 Keine oder geringe Verhaltensstörung F7x.1 Deutliche Verhaltensstörung, die Beobachtung oder Behandlung erfordert F7x.8 Sonstige Verhaltensstörung F7x.9 Nicht näher bezeichnete Verhaltensstörung
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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Erfassung von Komplexität nicht zu behindern und zugunsten von Entwicklungsmöglichkeiten keine zu frühen Feststellungen unter prognostischen Aspekten zu treffen, so sehr ist es mit Blick auf den Erwachsenen geboten, eine diagnostische Positionsbestimmung vorzunehmen, um die Angebote und Anforderungen an den nunmehr definierbaren Defiziten orientieren zu können. Unter diesem Gesichtpunkt schlug Benda als Definition der Intelligenzminderung vor: „Ein Mensch ist vom Rechtsstandpunkt oligophren, wenn er nicht imstande ist, sich selbst und seine Angelegenheiten zu besorgen und wenn er dies auch nicht lernen kann, sondern zu seinem und dem Wohle der Gesellschaft Überwachung, Kontrolle und Fürsorge braucht“ (1960, S. 870). Wenn hier diese prononciert anmutende Definition erwähnt wird, dann soll das keineswegs eine Rückkehr zu primär defektorientierten Denkmodellen signalisieren. Im forensisch-psychiatrischen Kontext und dort zum einen im Rahmen von Überlegungen über die Zuordnung der Intelligenzminderung zum Eingangsmerkmal des Schwachsinns sowie zum anderen dann, wenn man die die Schuldfähigkeitsbeurteilung tragenden Defizite vom motivationsbedingt unzureichenden oder normabweichenden Gebrauch der Fähigkeiten abgrenzen will, kann man die Argumentation nicht aus den Betrachtungen über das multifaktorielle Bedingungsgefüge der Intelligenzminderung beziehen, sondern es sind solche Betrachtungen hinter die präzise Beschreibung der Fähigkeitsdefizite des Betroffenen zurückzustellen. Im besten Falle gelingt es auch auf diesem Wege, ungerechtfertigte Zuschreibungen und Etikettierungen zu überwinden. Wenn es über die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortungsfähigkeit hinaus dann – auch in der forensischen Psychiatrie – darum gehen muss, mit geeigneten Maßnahmen pädagogisch und therapeutisch-rehabilitativ zu intervenieren sowie Vorsorge unter kriminalprognostischen Aspekten zu treffen, sind ein Perspektivenwechsel und ein geweiteter Horizont notwendig. Mit anderen Worten: Unter Berücksichtigung der die Intelligenzminderung ausmachenden – allgemein graduell feststellbaren und individuell spezifizierbaren – Relationen von Defiziten und Fähigkeiten ist gerechterweise im Rahmen der Aussagen über eine eventuelle Verminderung von Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit auf die Beschreibung der in der Situationsdefinition relevant gewordenen Defizite zu fokussieren, während im Rahmen der auf die Kompensation von Defiziten ausgerichteten pädagogisch-therapeutischen Bemühungen die gegebenen Fähigkeiten zum Ausgangspunkt der Diskussion gemacht werden müssen. Wenn sich beide Problemfelder gelegentlich auch hinsichtlich der Terminologie unterscheiden, dann hat das mit unterschiedlichen Aufgaben und Zielsetzungen zu tun.
Intelligenzquotient Bereits aus einem ausführlichen Gespräch über den Lebensweg, die Sozialisationsbedingungen in der Kindheit, die Modalitäten und Details des Schulbesuchs, die Fähigkeit des Lesens und Schreibens, die Bewältigung
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
berufsvorbereitender Maßnahmen und einer eventuellen Berufsausbildung, den Erwerb eines Führerscheins, die Eigenständigkeit im Rahmen der Gestaltung der Wohnverhältnisse und der Lebenssituation, die Rechenfähigkeit und den Umgang mit Zahlungsmitteln sowie aus der Beurteilung von Sprachverständnis und Ausdrucksfähigkeit etc. ergibt sich in der Mehrzahl der Fälle, ob von Intelligenzminderung im oben genannten Sine die Rede sein muss oder nicht sein darf. Die Intelligenzmängel lassen sich partiell, d. h. in bestimmten – am ehesten kognitiven – Bereichen mit Testverfahren erfassen, wobei hinsichtlich der Intelligenzdiagnostik auf die einschlägige Literatur zu verweisen ist (Guthke 1980, 1996, 1999; Hengesch 1992). Das bekannteste Normensystem für Intelligenztests sind die so genannten IQWerte, d. h. die Werte des Intelligenzquotienten. Aus dem Umstand, dass sich mit den im klinischen Alltag und in der forensischen Praxis üblichen psychometrischen Verfahren am ehesten die kognitiven Bereiche der Intelligenz erfassen lassen, das Ganze der Intelligenz sich einer solchen reduktionistischen Erfassung aber entzieht, resultiert, dass sich die Schlussfolgerungen, die aus der Bestimmung eines Intelligenzquotienten gezogen werden, in engen Grenzen halten müssen. Da aber in foro die Mitteilung eines Intelligenzquotienten nicht selten ein Maß an wissender Zustimmung und Befriedigung der Verfahrensbeteiligten herbeizuführen geeignet ist, das unter numerischen Aspekten nur durch die Mitteilung einer Blutalkoholkonzentration überboten werden kann, sind Stellenwert und Relativierung der Aussagekraft des IQ näher zu begründen. Der Intelligenzquotient als ein Ausdruck für das Maß der intellektuellen Leistungsfähigkeit einer Person ist kein Absolutmaß, sondern ein kulturell normiertes und auf die jeweilige Altersgruppe bezogenes Relativmaß, welches von vielgestaltigen Einflüssen abhängig ist (Rösler 1973). Er lässt sich als klassischer IQ errechnen, indem man das Intelligenzalter (gemessene Intelligenz im Verhältnis zur statistischen Durchschnittsintelligenz der Altersgruppe = Ist-Wert) durch das Lebensalter in Jahren (Soll-Wert) dividiert. Der Quotient von 1, der aus Gründen der Übersichtlichkeit mit 100 multipliziert wird, signalisiert die Übereinstimmung der intellektuellen Leistungsfähigkeit des jeweiligen Betroffenen mit dem arithmetischen Mittel der Leistungsbefunde seiner Altersgruppe in Form eines Verhältnismaßes. Da aber der in dieser Weise bestimmte klassische IQ als Verhältnis zwischen Intelligenzalter und Lebensalter ein wenig sinnvolles Maß ist, wenn man die Intelligenz eines Erwachsenen misst, da sich zwischen den Fähigkeiten eines durchschnittlichen 30-Jährigen und denen eines durchschnittlichen 40-Jährigen kein Unterschied feststellen lässt, wurden Abweichungsmaße eingeführt, für deren Bezeichnung der Begriff Quotient nun allerdings irreführend ist. Intelligenz wurde nicht mehr auf der Altersachse, sondern auf der Leistungsachse gemessen. Der entscheidende Fortschritt hinsichtlich der IQ-Berechnung geht auf den amerikanischen Psychologen David Wechsler (1896–1981) zurück, der einen Abweichungs-IQ als Ausdruck der Streuung der Normalverteilung einführte (1939, in: Matarazzo 1982). Die Verteilung der Intelligenz in der Bevölkerung wird mit der von
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
3%
Abb. 3.1. Gaußsche Verteilungskurve der Intelligenz
IQ 70
z
3% IQ 100
IQ 130
Carl Friedrich Gauß (1777–1855) im Jahre 1832 erstellten Normalverteilungskurve erfasst. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die intellektuelle Potenz des Menschen insgesamt so zugemessen sei wie die Körpergröße, die der Gaußschen Glockenkurve folgt (Abb. 3.1). Dem Scheitelpunkt der Kurve wurde der IQ von 100 zugewiesen und zur Durchschnittsnorm erklärt. Unter Berücksichtigung einer angenommenen Standardabweichung von 15 gilt mathematisch demnach, dass Durchschnittsintelligenz den Bereich von IQ = 115–85 umfasst und das ziemlich genau für 68% der Bevölkerung gilt. Unter Berücksichtigung einer weiteren Standardabweichung von 15 liegen 95% aller Schüler und Erwachsenen demzufolge zwischen einem IQ von 130, der als magische Grenze zur Hochbegabung gilt, und einem IQ von 70, der die Grenze in Richtung der Intelligenzminderung vorgibt. Das bedeutet aber zugleich, dass erst die Leistungen, die mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen, also unter einem IQ von 70, im Sinne einer Intelligenzminderung als weit unterdurchschnittlich bezeichnet werden dürfen (Groffmann 1964, 1983). Nach der Gaußchen Verteilungskurve wären also jeweils 2–3% der Bevölkerung der Gruppe der Hochbegabten bzw. der Gruppe von Personen mit Intelligenzminderung zuzurechnen. Mit dem Umstand, dass die Schwierigkeiten der verlässlichen Erfassung von diesbezüglichen Prävalenzraten immer wieder betont worden sind, mag es zusammenhängen, dass die grobe Orientierung bisweilen schlicht an der Verteilungskurve erfolgt (Huber 1999, S. 556). Es wurde aber auch auf eine Absicherung dieser Größenordnung im Ergebnis internationaler Feldstudien verwiesen (Holland 2000; Steinhausen 2005). „Dabei variiert der Anteil der leichten geistigen Behinderung, die stärker mit niedriger Sozialschicht verknüpft ist. Hingegen liegen die Anteile der sehr viel weniger sozialschichtabhängigen schweren geistigen Behinderung (IQ < 50) recht übereinstimmend bei 0,3–0,5%. Das männliche Geschlecht ist wegen seiner höheren biologischen Vulnerabilität häufiger als das weibliche Geschlecht von einer geistigen Behinderung betroffen. Die gilt für die leichte Behinderung noch einmal stärker als für die mittelgradige und schwere Ausprägung der Behinderung.“ (Steinhausen 2005, S. 10) Jedoch auch deutlich höhere Prävalenzraten (etwa 9–10% der Gesamtbevölkerung, Remschmidt u. Schmidt 2000, S. 115) wurden schon angegeben.
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
Es wird sich aus den Ausführungen zur Graduierung der Intelligenzminderung (siehe 3.3.3) und aus der Beschreibung der Phänomenologie der Intelligenzminderung (siehe 3.3.5) ergeben, dass die Bestimmung des Intelligenzquotienten keine notwendige Voraussetzung für die Rede vom Vorliegen einer Intelligenzminderung und damit auch nicht für die Beurteilung der Verantwortungsfähigkeit ist. Die Auswahl und der Einsatz testpsychologischer Verfahren zur Bestimmung der intellektuellen Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung der Persönlichkeit(sauffälligkeiten) im Einzelfall ist vielmehr eine Funktion psychologischer und psychopathologischer Bildung.
Pseudodebilität und Pseudointelligenz Der Erwerb des sozial kompetenten Gebrauchs von Intelligenz einerseits und angemessener Umgang mit Intelligenzminderung im Ergebnis von Bildung, Förderung und Betreuung andererseits sind das Erstrebenswerte. Dabei geht es jeweils nicht nur um das numerische Maß der Fähigkeit schlechthin, sondern in besonderer Weise um den situationsangemessenen, anstrengungsbereiten und zielorientierten Gebrauch der Fähigkeiten. Fehlen Krankheit oder psychische Störung, dann gehört es auch in forensischen Zusammenhängen grundsätzlich der Freiheit des Menschen zu, ob und welchen Gebrauch – den unvernünftig- oder kriminell-normabweichenden Gebrauch eingeschlossen – er von seinen Fähigkeiten machen bzw. nicht machen will. Im Rahmen der forensischen Psychiatrie ist streng zu unterscheiden zwischen der Beeinträchtigung der interessierenden Fähigkeit durch Krankheit, Intelligenzminderung oder psychische Störung einerseits und dem (motivationsbedingt) unzureichenden oder normabweichenden Gebrauch derselben andererseits. Es muss also nicht der Nachweis geführt werden, dass die für den Rechtsverkehr zu fordernden Fähigkeiten vorhanden sind, sondern es ist gutachtlich darzulegen, ob und wie sich die Störung aufgrund ihrer Art und Intensität auf die jeweilige Fähigkeit ausgewirkt haben kann. Das gilt auch für die Intelligenzminderung. Ehe es um Graduierung und Phänomenologie der Intelligenzminderung geht, ist noch auf Variationen des persönlichkeitsbestimmten Gebrauchs von intellektueller Leistungsfähigkeit aufmerksam zu machen, die einen Namen bekommen haben und die in foro häufiger begegnen als die Intelligenzminderung selbst. z Unter Pseudodebilität wird die Diskrepanz zwischen der im Normbereich liegenden Testintelligenz und unzureichender sozialer Kompetenz im Rahmen der Bewältigung von Anforderungen verstanden, die zum einen Folge einer ausgebliebenen oder unzureichenden Beschulung und Bildung unter ungünstigen soziokulturellen Rahmenbedingungen und Milieuverhältnissen sein kann. Zum anderen können, möglicherweise begünstigt durch problematische Erziehungs- und Milieuverhältnisse, Angst, Ausweichverhalten, Regression, Gehemmtheit usw. zu einem Ver-
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sagen angesichts der Anforderungen in Schule und Beruf führen. Mit Blick auf diese beiden Konstellationen sprach Gerd Huber (*1921) von sozial bzw. neurotisch bedingten Formen der Pseudodebilität (1999, S. 558). Grundsätzlich liegt in beiden Fällen ein – entweder eher den äußeren Umständen oder eher den Persönlichkeitsbesonderheiten geschuldeter – unzureichender und sozial inkompetenter (ineffizienter) Gebrauch von vorhandenen Fähigkeiten vor, nicht aber eine Beeinträchtigung der Fähigkeiten selbst. Dieser Problematik begegnet man heute gelegentlich bei der Begutachtung von Probanden ausländischer Herkunft oder im Rahmen der Beurteilung von Jugendlichen und Heranwachsenden mit Reifungsdefiziten bzw. der Begutachtung von Probanden mit Persönlichkeitsstörungen. Kommen in sehr seltenen Ausnahmefällen beide Faktoren als extremer Mangel von psychosozialen Grunderfahrungen infolge von Isolation und Deprivation zusammen, dann wird es nicht mehr gerechtfertigt sein, von Pseudodebilität zu sprechen, weil die Störung der Intelligenzentwicklung mit dem Ergebnis intellektueller Minderleistung eine tatsächliche Folge dieser Entwicklung ist (Kaspar-Hauser-Syndrom, psychischer Hospitalismus, Deprivationssyndrom). z Einen (in der forensischen Praxis kaum mehr vorfindbaren) Sonderfall stellen Menschen dar, deren Ausschöpfung der intellektuellen Leistungsfähigkeit durch Sinnesdefekte mit der Folge behindert worden ist, dass sie mit anderen Personen nicht hinreichend Schritt halten und in einen Wettbewerb treten können. Ausgehend davon, dass für eine im psychopathologischen Sinne störungsfreie Entwicklung und Lebensbewältigung den Sinnen wie auch der „Ich-Leib-Beziehung“ und der „Ich-Welt-Beziehung“ eine außergewöhnliche Bedeutung zukommen, ist auf zwei miteinander korrespondierende Begriffe hinzuweisen, die geeignet sind, die Sichtweise zu bestimmen, mit der die Problematik erfasst werden kann; die Kommunikationsfähigkeit und die Konkurrenzfähigkeit, oder – mit Blick auf den Mangel – die Kommunikationsbehinderung und die Konkurrenzbehinderung. Denn von Interesse wird nun, in welcher Weise dieses Zusammenspiel von Sinnesleistung, Ich- und Leib-Erleben und IchWelt-Beziehung eine Störung durch eine sensorisch-soziale oder ästhetisch-soziale Behinderung und Isolierung erfahren kann, und wie aus der damit gegebenen Kommunikations- und Konkurrenzbehinderung psychopathologische Syndrome, speziell paranoide Beziehungs- und Beeinträchtigungssyndrome erwachsen können (Lange 1962; Tellenbach 1968, 1987). Diese Sichtweise, die zuerst in der Analyse des Vorfeldes des Paranoiden erprobt wurde, erfasst etwas Allgemeines und kehrte in der Bearbeitung anderer Themen (Lange u. Hilbig 1969) wieder. Sie hat auch Bedeutung für die Wahrnehmung der Auswirkungen der Sinnesbehinderung auf die Intelligenzentwicklung, wobei es historisch grundsätzlich so gewesen ist, dass in diesem Zusammenhang die „Taubstummen“ größere Aufmerksamkeit als die „Blinden“ auf sich gezogen haben. Mit der Ausklammerung einer besonderen Regelung für „Taubstumme“ aus dem
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
Strafrecht wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass diese Personengruppe in dem Maße aus dem forensischen Blickfeld verschwunden ist, wie Möglichkeiten der Vermittlung von Bildung und sozialer Integration verwirklicht worden sind. Während nach § 58 RStGB (i. d. F. vom 15. 5. 1871) bei Taubstummheit – gleichermaßen wie bei Jugendlichen – noch das Fehlen der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht (siehe auch 3.3.8) geprüft werden sollte, lässt die Neuregelung in § 55 RStGB (i. d. NF vom 1. 1. 1934) erkennen, dass Taubstummheit als ein Sonderfall des neu eingeführten Eingangsmerkmals der Geistesschwäche behandelt wurde, denn ein Taubstummer sei nicht strafbar, wenn er in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben und deshalb unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Diese Regelung bestand im StGB der BRD (i. d. F. vom 25. 8. 1953) erst einmal fort. Im Zuge der Reformdiskussion, die bis zur Neufassung des StGB (i. d. F. vom 1. 1. 1975) geführt wurde, bestand aber Einigkeit dahingehend, dass auf eine besondere Regelung für Taubstumme verzichtet werden könne. z Unter Pseudointelligenz versteht man das Phänomen, eine unzulängliche und testpsychologisch am unteren Rande der Norm, d. h. noch nicht im Bereich der Intelligenzminderung liegende intellektuelle Leistungsfähigkeit durch Temperamentsbesonderheiten (Aktivität, Unternehmungslust, Ehrgeiz, Kommunikationsfähigkeit, Liebenswürdigkeit etc.) bis hin zum sozialen Erfolg kompensieren zu wollen. Grundsätzlich ist es der persönlichkeitsbestimmte, aber sozial kompetente (effiziente) Gebrauch unzureichend vorhandener Fähigkeiten. In Abhängigkeit von der Art des Misslingens des Gebrauches unzureichend vorhandener Fähigkeiten (nicht schon im Sinne einer Intelligenzminderung, sondern noch auf dem Niveau einer intellektuellen Minderbegabung), wird man nicht mehr von Pseudointelligenz sprechen können. Eugen Bleuler (1857–1939) unterschied (1916) in Anlehnung an Bernhard von Gudden (1824–1886), der diesbezüglich allgemein von „höherem Blödsinn“ sprach, einen Salonblödsinn (nach Alfred Hoche 1865–1943) von einem Verhältnisblödsinn: z Unter Salonschwachsinn kann man in der Nachfolge von Bleuler und Hoche das Missverhältnis zwischen Renommierverhalten, Assimilationsfähigkeit und Eloquenz einerseits und den tatsächlichen intellektuellen Voraussetzungen andererseits verstehen, das im Verhalten (im 19. Jahrhundert im literarischen Salon, heute im übertragenen Sinne auf öffentlicher Bühne schlechthin) zum Ausdruck kommt. Grundsätzlich ist es der persönlichkeitsbestimmte, aber normabweichende Gebrauch unzureichend vorhandener Fähigkeiten, der als Hochstapelei und Betrug forensisch relevant werden kann. z Unter Verhältnisschwachsinn kann man in der genannten Traditionslinie das Phänomen verstehen, dass sich die Betroffenen mit einer gewöhnlichen Lebensstellung nicht begnügen können, sondern Aktionismus und
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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eine besondere Anspruchshaltung trotz unzureichender intellektueller Voraussetzungen über die Selbstüberschätzung dazu führen, dass die Betroffenen sich mehr zumuten, als sie verstehen können. Grundsätzlich ist es der persönlichkeitsbestimmte, aber unzureichend reflektierte Gebrauch unzureichend vorhandener Fähigkeiten, der die Geschäfte zum Scheitern bringen und in die Verschuldung führen kann. Vor allem Jakob Wyrsch (1892–1980) betonte die forensische Bedeutsamkeit von Salon- und Verhältnisschwachsinn (1955). Auch wenn die eben erwähnten Begriffe der gegenwärtigen Sprachkultur kaum mehr zugehören und deren explizite Verwendung in foro unterlassen werden sollte, gehören die beschriebenen Konstellationen doch dem forensischen Alltag zu. Die hinter den Begriffen stehenden Sachverhalte müssen gegen die Intelligenzminderung abgegrenzt und sprachlich angemessen beschrieben werden.
3.3.3 Graduierung der Intelligenzminderung Von Intelligenzminderung wird im Sinne einer Konvention seit der im Jahre 1968 abgegebenen Empfehlung eines WHO-Expertenkomitees in der psychiatrischen Literatur und in den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV dann gesprochen, wenn der IQ von 70 mit dem Überschreiten der zweiten Standardabweichung der Gaußschen Verteilungskurve unterschritten wird (Tab. 3.5). Zwar ist die Bestimmung der Intelligenzminderung über psychometrische Verfahren nur ein Weg, sich der Problematik zu nähern, doch ist es wohl trotz aller Unzulänglichkeiten die zurzeit beste Möglichkeit, zu einer international vergleichbaren Klassifikation zu gelangen. Es ist bereits erkennbar gewesen, dass in dieser Arbeit den Vorgaben gefolgt wird, die über die ICD-10 vermittelt werden und die sich in der Psychiatrie grundsätzlich als konsensfähig erwiesen haben, wissend darum, dass alle Einteilungen willkürliche Gliederungen eines Kontinuums sind, die allerdings zugleich systematisch und zweckmäßig sein können. Die Parallelisierung der Begriffe Debilität, Imbezillität und Idiotie mit der aktuellen Graduierung der Intelligenzminderung in den Klassifikationssystemen ist eine grobe Zuordnung neueren Datums. Da diese Begriffe in der Literatur der letzten 100 Jahre keinesfalls übereinstimmend gebraucht worden sind, schränkt das die Verwertbarkeit nicht nur früherer Untersuchungen, sondern auch der Aussagen zum Teil erheblich ein, die zur forensischen Bedeutung des Schwachsinns getroffen worden sind. Ähnliches ist mit Blick auf die nicht nur in der Literatur, sondern auch in der ICD-10 vorfindbare Bindung der Grade der Intelligenzminderung an Alterstufen der Intelligenzentwicklung des Kindes und des Jugendlichen anzumerken. Es sei hilfreich, das geistige Niveau und die soziale Kompetenz von Intelligenzgeminderten mit dem Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen zu vergleichen und daran zu denken, dass „Kinder
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3 Das Schuldfähigkeitsgutachten
unter 7 Jahren geschäftsunfähig sind, vor dem 14. Lebensjahr nicht strafrechtlich belangt werden können und Jugendliche erst mit 18 Jahren voll geschäftsfähig und strafmündig sind“ (Nedopil 2000, S. 174). Unklar bleibt allerdings, wie und mit welchen herkömmlichen Graden der Intelligenzminderung diese normativ gesetzten Altersschutzgrenzen, die ja keine natürlichen Grenzen sind und im Übrigen über die europäische Strafgesetzgebung hinweg ganz erheblich divergieren (siehe Kap. 4 in diesem Band), in eine Verbindung gebracht werden sollen, zumal der ICD-10 die Vorgabe zu entnehmen ist, dass bereits die leichte Intelligenzminderung dem mentalen Alter eines 9- bis 12-jährigen Kindes entspräche. Letzteres würde zwar deutlich unter der aktuellen Altersgrenze der Erlangung strafrechtlicher Verantwortlichkeit liegen, wäre aber immerhin mit § 55 RStGB vom 15. Mai 1871 kompatibel zu machen, in dem die Strafmündigkeit auf das vollendete 12. Lebensjahr festgelegt wurde. Mit Blick darauf machte Cramer bereits 1897 den Vorschlag, sich bei der Graduierung der Intelligenzminderung an dieser damals juristisch fixierten Altersgrenze zu orientieren. Kalpa (1947, zit. nach Kröber 1952, S. 314) vertrat die Meinung, dass alle Debilen mit einem Intelligenzalter unter 9½ Jahren unzurechnungsfähig und Schwachsinnige mit höherem Intelligenzalter generell vermindert zurechnungsfähig seien, wobei für die letzte Gruppe Ausnahmen in beide Richtungen zugelassen wurden. Wer Umgang mit Kindern hat, wird wissen, dass deren Entwicklungspotenzen über Stimmung und Antrieb in das Erscheinungsbild hineinwirken und gerade darin ein wesentlicher Unterschied zur Phänomenologie der Intelligenzminderung liegt. Wer von den Verfahrensbeteiligten keinen Umgang mit Kindern hat, wird über solche Vergleiche der Gefahr ausgesetzt, ein Bild vom Kinde über die Intelligenzminderung zu gewinnen. Es wurde für epidemiologische Untersuchungen für zweckmäßig erachtet (Dupont 1988; Holland 2000), mit der Trennlinie bei einem IQ von 50 eine Unterteilung in nur zwei Untergruppen vorzunehmen und so eine leichte bzw. mäßiggradige von einer schweren geistigen Behinderung zu unterscheiden – ähnlich der früheren Einteilung in Imbezillität und Idiotie. In ähnlicher Weise wurde 1973 vom Deutschen Bildungsrat eine Grenze bei einem IQ von 55, also drei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes, gezogen und damit unter pädagogischen Gesichtspunkten eine Lernbehinderung (IQ = 85–55) von einer geistigen Behinderung (IQ < 55) unterschieden. Jedoch führen Grenzziehungen, mit denen etwa bei einem IQ von 50 zwei Bereiche gegeneinander abgegrenzt werden, im Rahmen der forensischen Psychiatrie zum einen nicht weiter, weil damit allenfalls der Bereich forensisch relevanter von forensisch irrelevanter Intelligenzminderung getrennt würde, was für praktische Aufgabenstellungen ohne Interesse ist. Sie führen zum anderen auf Irrwege, weil das Fehlen einer Eingangsschwelle offen lassen würde, ab wann unter juristischen Gesichtspunkten vom Eingangsmerkmal des Schwachsinns gesprochen werden sollte. Es darf nämlich ein Konsens der kriminologischen, juristischen, psychologischen und psychiatrischen Wissenschaft dahingehend unterstellt werden, dass zwar
3.3 Schuldfähigkeit bei Intelligenzminderung („Schwachsinn“)
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hinsichtlich der strafrechtlichen Relevanz von intellektueller Minderbegabung und Intelligenzminderung allenfalls noch der Grenzbereich zur mittleren Intelligenzminderung von Interesse ist, nicht aber Zustände der ausgeprägten mittleren, schweren und schwersten Intelligenzminderung. Soweit es aber darum geht, ab wann Intelligenzminderung potentiell mit Rückgriff auf das Eingangsmerkmal des Schwachsinns und der Rede vom Vorliegen verminderter Schuldfähigkeit privilegiert und gegen intellektuelle Minderbegabung als einem die kriminellen Verhaltensstile begünstigenden Faktor abgegrenzt werden soll, wird die Grenzziehung im Sinne einer Eingangsschwelle benötigt. Der IQ um 70 mag also dazu dienen, die Bestimmung der Grenze zwischen intellektueller Minderbegabung und leichter Intelligenzminderung numerisch zu fixieren, doch macht er die Beschreibung des charakteristischen Syndroms nicht überflüssig, welches den Blick noch vor der Bestimmung des IQ auf die Kategorie der leichten Intelligenzminderung lenkt (siehe 3.3.5). In der forensischen Praxis sollte sich diese Grenzziehung sprachlich darin widerspiegeln, dass der Begriff der intellektuellen Minderbegabung nicht auf den Bereich der Intelligenzminderung ausgedehnt und der Begriff der leichten Intelligenzminderung nicht umgangssprachlich gebraucht wird, um etwa gewisse Schwierigkeiten im Sinne von Lernbehinderung oder unzureichender intellektueller Begabung zu erfassen. Das Attribut „leicht“ verweist auf eine Binnendifferenzierung innerhalb des Bereiches der Intelligenzminderung und damit hinsichtlich des Grades der Normabweichung auf schon schwerwiegende Beeinträchtigungen. Redet man bereits bei IQ-Werten um 85–80 vom Vorliegen einer (leichten) Intelligenzminderung, dann degradiert man die Problematik zu einer statistischen Frage und gerät in einen Widerspruch zur Empirie, die mit den sozialen Auswirkungen der Phänomenologie gegeben ist. Unter phänomenologischen Gesichtspunkten sah Busemann in der Sprachleistung ein Merkmal, das die Imbezillität gegen die Idiotie abgrenzen lasse: „Idioten lernen bestenfalls einzelne Wörter aussprechen und Befehle verstehen, Imbezille darüber hinaus sich im Bereich der präsenten Situation einigermaßen verständigen.“ Die Grenze zwischen Imbezillität und Debilität lasse sich über die Unterrichtbarkeit ziehen: „Debile sind in Klassen unterrichtbar (und darum schulpflichtig), Imbezille selten“ (1975, S. 124). Zu den IQ-Werten, die dienlich sein sollen, die mittelgradige (IQ = 49–35), schwere (IQ = 34–20) und schwerste (IQ