666 Version: v1.0
Die Hand des Magiers senkte sich herab und schrieb dem Golem das lebenspendende Zeichen auf die Stir...
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666 Version: v1.0
Die Hand des Magiers senkte sich herab und schrieb dem Golem das lebenspendende Zeichen auf die Stirn. Daß der Magier nur ein kleiner Schuhmacher war, tat dabei nichts zur Sache. Er war der Erbe des Maharal, des Hohen Rabbi Judah Loew ben Bezalel, der dieses Wesen einst aus Lehm erschaffen hatte. Ihm allein war es gegeben, den Formlosen nach seinem jahrhundertelangen Schlaf zu neuem Leben zu erwecken. Ob zum Guten oder zum Bösen, vermochte er noch nicht zu sagen. Sein tastender Finger vollendete den hebräischen Buch staben, und das Wort auf der Stirn lautete nun wieder WAHRHEIT. Die graue Gestalt schlug die Augen auf.
Was bisher geschah Landru hat die Jagd um den Lilienkelch – vorerst – verloren. Der Kelch ist wie der in Felidaes Besitz, die sich damit zurückgezogen hat, um ihn zu reinigen. Auch Landrus Rache an Lilith und Beth wird vereitelt – von Robert Craven, dem 137 Jahre alten Hexer. Auf seine Bitte hin befreit Lilith die Vampirin Fee, deren Biß Cravens Leben verlängern könnte, aus der Gewalt rumänischer Blut sauger. Doch Fee hat in der Gefangenschaft den Verstand verloren. Der Hexer verspricht, sich um sie zu kümmern. Craven verschafft den beiden Frauen eine neue Existenz in Japan. In Tokio beginnt für Lilith und Beth ein neuer Lebensabschnitt. Sie beziehen ein Penthouse im Schinrei-Building. Beth findet Arbeit als freie Journalistin und besucht eine Sprachenschule. Lilith trifft in der U-Bahn auf einen Werwolf, ver hindert, daß er über die Fahrgäste herfällt, und beschwört damit einen Krieg zwischen den Vampiren und Werwölfen der Stadt herauf, die bislang unsiche ren Frieden hielten. Einen der Tokioter Wölfe verschlägt es in das Sanktuarium des Gurus Chiyo da, bei dem sich auch Landrus Freundin Nona aufhält. So erfährt sie von den Vorgängen in Tokio – könnte, der Beschreibung nach, nicht Lilith Eden dahin terstecken? Nona macht sich auf den Weg, nicht ahnend, daß ein Feind auf ih rer Fährte ist: El Nabhal, der Magier, den sie tötete, lebt in einem seiner magi schen Tücher weiter und benutzt die Körper Unschuldiger, um Nona zu su chen und Rache an ihr zu nehmen. Als er in Tokio vom bevorstehenden Krieg hört, übernimmt er eine Vampir-Geisha, um durch weitere Morde die Aggres sion zu schüren. Dadurch bringt er – ungewollt – Nona von ihrer Fährte ab, Li lith könnte hinter den Anschlägen stecken. Beth ist bei ihrer Recherche in der Tokioter Unterwelt an den Boß einer Gang geraten, der gleichzeitig Führer eines Wolfsrudels ist. Sie soll schon sein Opfer werden, als er zu einer Versammlung gerufen wird. Nona will zwischen Vam piren und Wölfen vermitteln. Das weiß auch El Nabhal und stellt Nona im Park vor dem Konferenzgebäu de. Lilith wird Zeuge, wie er sie besiegt und schwer verletzt – bevor plötzlich Chiyoda auftaucht, den Magier tötet und Nona mit sich nimmt …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und der Vampirin Creanna. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit er wacht. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer wahren Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, ob wohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vam pirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lilien kelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestoh len wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Ge burt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Men schen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalistin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf gegen die Vampire. Nona – Werwölfin und eine alte Freundin Landrus – und damit auch Liliths Feindin. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Der einzige Weg, einen neuen Vampir zu schaffen, besteht darin, ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lilienkelch trinken zu lassen. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegen seitig umzubringen. Lilith verstößt dagegen und wird gnadenlos gejagt. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Tokio, Gegenwart Die Katze lauerte auf der Wiese unter den Kirschbäumen. Im Licht des Vollmondes, der durch die Zweige fiel, wirkte sie schwarz-weiß, ein Holzschnitt, geschaffen von einem asiatischen Meister dieser Kunst. Aber Lilith Eden, die sie von einem der Bäume des alten Klostergartens herab beobachtete, wußte, daß es in Wirk lichkeit nicht zwei, sondern drei Farben waren, die das Fellmuster bildeten – nämlich schwarz, weiß und orange. Von daher hatte diese japanische Katzenrasse auch ihren Namen: Mi-ke, was nichts ande res als »drei Felle« bedeutet. Zum Eindruck eines klassischen Holzschnittes trug auch die zu gleich entspannte und doch so hochkonzentrierte Haltung bei, die die Katze einnahm. Ihr Leib war wie ein Bogen, von einem ZenMeister gespannt, um zu treffen, ohne das Ziel anzuvisieren – ja, ohne auch nur daran zu denken, daß es so etwas wie ein Ziel über haupt gibt. Sich vollständig seinem Instinkt hinzugeben, sich ihm hundertprozentig auszuliefern, um schließlich um so perfekter zu schlagen zu können, das war etwas, das auch Lilith beherrschte. Das alle Vampire beherrschten. Vielleicht war es ja diese Ähnlichkeit im Wesen von Vampiren und Katzen, die ihr Interesse an dem Tier dort unten geweckt hatte. Denn eigentlich war sie nur hier in diesem menschenleeren Garten gelandet, um sich in Ruhe von einer Fledermaus in einen Menschen zurückverwandeln zu können, bevor sie auf Beutefang ging und ih ren Durst nach Blut stillte. Jetzt schien irgend etwas die Katze zu beunruhigen. Ihre Schwanz spitze bewegte sich zuckend hin und her, ein silbriges Schlängeln im Gras. Dann ruckte ihr Kopf hoch, und mit zitternden Schnurrbart
haaren nahm sie Witterung auf. Unwillkürlich begann auch Lilith prüfend zu schnuppern. Ihr Ge ruchssinn war hervorragend entwickelt, weit höher als bei einem Menschen, aber offenbar doch noch nicht so fein wie der einer Kat ze, denn sie vermochte nichts wahrzunehmen, was sie nicht schon vorher gerochen hatte. Der alte Klostergarten war eine Symphonie aus Düften: herber japanischer Tempel-Wacholder, die süße Schwe re der Thuja-Bäume, deren Duft zwischen dem von Zitronenbon bons und Obstkuchen mit Mandeln variierte, dazu der satte Geruch des üppigen Grases. Halt, da war noch etwas. Jetzt konnte auch Lilith es riechen: ein ätherisches Öl, beinahe wie Minze, vielleicht etwas weniger frisch, dafür süßlicher und ein wenig stechend. Ihr selbst sagte der Geruch nicht sonderlich zu, aber die Katze schien er ungemein zu erregen. Das Zittern der Schnurrbarthaare wurde stärker, das Peitschen des Schwanzes heftiger. Und dann, plötzlich, sprang sie mit einem Satz davon, tiefer in die Schatten und Silberlichter des alten Klostergar tens hinein. Lilith runzelte die Stirn. Sollte sie der Katze folgen, um festzustel len, was sie so magisch anzog? Ihr Instinkt sagte ja, ihr Verstand nein. Und natürlich hatte ihr Verstand in diesem Fall ganz eindeutig recht. Der Katze zu folgen war völliger Unsinn. Sie hatte nicht den langen Flug vom Schinrei-Building im Herzen Tokios bis hierher in die Außenbezirke der Megalopolis auf sich genommen, um ihre Zeit mit der Beobachtung eines Tieres zu vergeuden. Wenn sie noch in dieser Nacht Blut trinken wollte, mußte sie sich beeilen, denn der Rückweg war lang, und sie wollte vor Anbruch der Morgendämme rung wieder daheim im Penthouse bei Beth sein. Die Katze war auch ein nächtlicher Jäger. Und jetzt war etwas ge schehen, das sie die Jagd vergessen ließ und ihrer Aufmerksamkeit eine neue Richtung gab. Die Katze folgte allein ihrem Instinkt.
Warum dann also nicht auch ich? dachte Lilith. Mit einem lautlosen Seufzer ließ sie sich vom Baum herunterglei ten und huschte hinter der Katze her. Sie mußte sich beeilen, um mit ihr Schritt zu halten, denn je stärker der seltsame Duft nach Minze wurde, der den Garten erfüllte, desto schneller wurde auch die Kat ze. Sie schien mit großen, beinahe gierigen Sätzen auf die Quelle des Geruchs zuzustreben … Und plötzlich hielt sie an. Lautlos schob sich Lilith zwischen den Bäumen näher. Vor ihr, halb von Zweigen verdeckt, erkannte sie die Ruine des alten ShintoTempels, um den herum sich der Garten erstreckte. Auf der offenen Grasfläche vor dem Tempel, dort, wo es keine Schatten, sondern nur noch klares weißes Mondlicht gab, hatte die Mi-ke-Katze die Quelle des magischen Duftes gefunden. Von der Schönheit und Würde, die Lilith eben noch an ihr bewundert hatte, war seither nichts mehr übrig. Statt dessen wälzte sie sich unter ek statischem Gemaunze wollüstig auf einem Haufen silbriger Blätter hin und her, der mitten auf der Wiese lag. Sie wirkte beinahe wie ein Trunkenbold, der sich nach dem Genuß mehrerer Flaschen Reiswein in der Gosse suhlt. Und je ekstatischer sich ihr Körper wand, desto stärker wurde auch der süßlich-stechende Minzegeruch. Inzwischen war er so penetrant geworden, daß er Lilith unangenehm an Katzen urin zu erinnern begann. Kein Zweifel: Er ging von den Blättern aus, die die Katze mit ihrem Körper zerdrückte. Eine berauschte Katze. Minzegeruch. Natürlich! Katzenminze! Das, was die Katze hierher gelockt hatte, waren Katzenminze-Blät ter – so ungefähr die stärkste Rauschdroge, die es für Katzen über haupt gab. Aber Katzenminze wuchs nicht in diesem Garten. Und wenn die Blätter nicht von einem Strauch abgefallen waren, dann
mußte jemand sie dort hingelegt haben. Und das wiederum bedeu tete … Als Lilith begriff, was es bedeutete, erstarrte sie mitten im Gedan kengang. Statt dessen öffnete sie ihre Vampirsinne, die sie für einen Moment vernachlässigt hatte, ganz weit. Und keinen Augenblick zu früh. Da war es: blutvolles, pulsierendes Leben. Ganz eindeutig ein Mensch. Und gar nicht einmal weit entfernt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Wiese, nur ein paar Dut zend Schritte entfernt, löste sich eine schlanke Gestalt in einem schwarzen Catsuit aus dem Schatten der Tempelruine. Sie huschte über die freie Fläche auf die Katze zu, die jetzt nur noch ein vor Wollust zitterndes Fellbündel war, das jegliche Kontrolle über sei nen Körper verloren hatte. Als die Hände der Gestalt sie am Nackenfell packten, wehrte sie sich überhaupt nicht, ja, sie schien es nicht einmal zu bemerken. Statt dessen hing sie einfach nur schlaff von der zupackenden Hand herunter und zuckte schwächlich mit Schnurrhaaren, Pfoten und Schwanz. Als die Gestalt den mitge brachten Sack öffnete und sie hineinsteckte, sah es für Lilith so aus, als flösse sie regelrecht hinein, wie Wasser, das man von einem Ge fäß in ein anderes umgießt. Aber eigentlich galt Liliths Aufmerksamkeit jetzt schon nicht mehr der Katze, sondern der Gestalt, die sie eingefangen hatte und die sich jetzt mit raschen Schritten von der Wiese entfernte, um wieder in den Schatten zu verschwinden, aus denen sie so plötzlich aufge taucht war. Zwei, drei Sätze nur, und Lilith wäre bei ihr gewesen und hätte ihr die Fangzähne in den Hals schlagen können. Aber sie verzichtete darauf. Vorerst jedenfalls. Denn jetzt war neben ihrem Blutdurst noch ein anderer Urtrieb geweckt – ihre Neugierde. Was, so fragte sie sich, veranlaßte eine junge Japanerin in einem schwarzen Catsuit dazu, mitten in der Nacht in einem Tempelgarten eine ganz gewöhnliche
Straßenkatze zu fangen? Sie würde es herausfinden. So viel Zeit hatte sie allemal. Und wenn sie das Geheimnis erst einmal ergründet hatte, dann konnte sie ihren Durst ja immer noch stillen …
* Das Haus, zu dem Lilith der Frau folgte, erhob sich nicht mehr als einen Kilometer vom Gelände des alten Shinto-Tempels entfernt. Es stand, halb an einen Hügel herangebaut, am Rande eines schönen ja panischen Steingartens, ohne jedoch selbst sehr japanisch zu wirken. Zwar war es nach Art japanischer Landhäuser ganz aus Holz errich tet, aber Türen und Fenster machten einen entschiedenen westlichen Eindruck, der sich noch verstärkte, als Lilith das Schloß der Tür überprüfte, durch die ihre Beute im Inneren des Hauses verschwun den war. Selbst ein Profi-Einbrecher hätte damit seine Probleme ge habt, und sie hatte nicht einmal einen kleinen Dietrich dabei. Lautlos begann sie das Haus zu umrunden und hatte schon nach wenigen Metern Glück. Eines der Fenster stand auf, vielleicht nicht gerade sperrangelweit, aber immerhin weit genug, um Lilith in ihrer Fledermausgestalt Einlaß zu gewähren. Sekunden später befand sie sich im Zimmer und verwandelte sich wieder in ihre menschliche Gestalt zurück. Der seltsam unjapanische Eindruck des Hauses setzte sich in sei nem Inneren fort. Auf dem Holzboden lagen zwar Tatami-Matten, aber in der Ecke des Raumes stand ein ganz und gar europäischer Schreibtisch mit einem Computer samt Laserdrucker und ein paar Aktenordnern darauf. Über dem Schreibtisch hatte jemand – wahr scheinlich die Bewohnerin – mit Nadeln eine Reihe von Fotografien an die Wand gepinnt. Da sich in den Nebenräumen nichts regte, be
schloß Lilith, einen Blick auf diese Bilder zu werfen. Ein paar davon schienen älteren Datums zu sein – Schwarzweißfo tos, offenbar in den fünfziger oder sechziger Jahren aufgenommen. Auf einem war ein junger Japaner zu sehen, der einen schwarzen Talar und einen Doktorhut trug. Er blinzelte stolz und ein bißchen verlegen in die Kamera, und man konnte vermuten, daß er diese Zeichen akademischer Würde gerade erst erworben hatte und sich noch nicht recht wohl in ihnen fühlte. Ein zweites Bild direkt daneben zeigte eine hübsche, schwarzhaa rige Frau mit fein geschnittenen Gesichtszügen, keine Asiatin, son dern eine Weiße, die ein leichtes Sommerkostüm und eine eindeutig amerikanische Schmetterlingsbrille trug. Auf einem dritten Bild wa ren die beiden zusammen vor einer Kirche zu sehen, er im schwar zen Anzug, sie im rosa Brautkleid; der Fotograf hatte sie genau in dem Moment abgelichtet, in dem die überglückliche junge Braut ih ren Brautstrauß in die Menge der Freunde und Verwandten warf. Dieses Bild war in Farbe. Auf dem vierten Bild schließlich, ebenfalls einem Farbfoto, waren die Eheleute vor ihrem neuen Haus in Japan zu sehen – demselben, in das Lilith soeben eingestiegen war. Zwischen dem dritten und dem vierten Foto schien eine Reihe von Jahren zu liegen, denn beide wirkten nicht mehr ganz so jugendlich wie auf dem Hochzeitsbild. Zwischen ihnen stand klein und schüchtern ein niedliches Mädchen mit eurasischem Gesicht, offensichtlich ihre gemeinsame Tochter; die eine Hand hatte es haltsuchend in die der Mutter, die andere in die des Vaters gelegt. Alle drei trugen traditionelle japanische Kimo nos, vielleicht, um dem japanischen Paar – den Eltern des Eheman nes? – eine Freude zu bereiten, das neben ihnen vor dem Haus stand und mit ältlicher Würde in die Kamera blickte. Und das war zugleich auch das letzte Foto, auf dem Eltern oder Großeltern zu sehen waren. In der Reihe darüber fanden sich nur
noch Aufnahmen von einer einzigen Person. Es war das Mädchen: in japanischer Kleidung, in europäischer Kleidung, im Kindergarten, in der Schule, auf einem Karussell in einem Tokioter Vergnügungs park. Auf dem letzten Bild, das sie als vielleicht fünfundzwanzigjäh rige Frau vor einem Tempel zeigte, an eine von tausend abergläubi schen Händen glattpolierte bronzene Buddhafigur gelehnt, war sie zu einer atemberaubenden eurasischen Schönheit herangewachsen, die in ihrem genetischen Erbe den besten Teil beider Rassen in sich vereinte. Diese Frau war es gewesen, die Lilith im Park des Shinto-Tem pels beim Einfangen der Katze beobachtet hatte und der sie bis in dieses Haus gefolgt war. Seltsam, dachte Lilith verblüfft, wie ähnlich sie mir sieht. Ihr Haar ist noch ein wenig schwärzer als meins, es wirkt wie lackiert, und ihre Augen stehen ein wenig schräger. Mandelaugen. Und dann der gelblichere Teint … aber ansonsten könnte sie ich sein, vom Gesicht her jedenfalls. Nein, auch vom Körperbau. Nicht einmal ihre Brüste sind viel kleiner oder ihre Hüften schmaler – sicher das Erbe ihrer amerikanischen Mutter … In diesem Moment klingelte im Nebenraum das Telefon. Das Geräusch ertönte so unvermittelt, daß Lilith zusammenschrak. Über sich selbst verärgert, schüttelte sie den Kopf. Was befürchtete sie denn? Sollte die Hausbesitzerin sie doch ruhig hier erwischen – das war dann ihr Pech, nicht das Liliths. Nebenan klingelte das Telefon immer noch. Niemand ging an den Apparat. Nach einer Weile verstummte das Klingeln wieder. Wohin war die Eurasierin verschwunden? Warum hatte sie das Gespräch nicht entgegengenommen? Einen Augenblick lang über legte Lilith, ob sie die Untersuchung dieses Raumes abbrechen und die anderen Zimmer in Augenschein nehmen sollte, aber dann be schloß sie, wenigstens noch einen flüchtigen Blick auf den Schreib tisch zu werfen.
Und diese Entscheidung veränderte alles. Neben der Computertastatur lagen mehrere flache Gegenstände, zu einem kleinen Stapel aufgehäuft – zuoberst ein japanischer Reise paß, den Lilith ohne Zögern aufschlug. Ja, er gehörte der jungen Frau auf den Fotos. Sie hieß Helen Takahashi und war achtund zwanzig Jahre alt. Den Stempeln im Paß nach zu urteilen hatte sie schon die halbe Welt bereist. Und auch jetzt stand sie wieder kurz vor Antritt einer Reise. Mor gen wollte sie nach Europa fliegen, nach Wien. Das ließ sich dem Flugticket entnehmen, das unter dem Reisepaß lag und das Lilith sich jetzt genauer anschaute. Erster Klasse. Zu den Ärmsten der Ar men schien Helen Takahashi nicht gerade zu gehören. Schade, dachte Lilith, daß aus diesen beiden Dokumenten nichts über den Grund der Reise hervorging. Na ja, etwas anderes war ja auch nicht zu erwarten gewesen. Dergleichen wird schließlich we der in einem Paß noch auf einem Flugticket eingetragen. Aber viel leicht … Sie legte auch das Ticket beiseite. Ja, da war noch etwas; ein unauffälliges Stück rechteckige Pappe, kaum größer als eine Visitenkarte, mit etwas Text und einem grafi schen Symbol darauf. Neugierig hob Lilith das Kärtchen auf. Was sie sah, ließ ihren Atem stocken. Und es war nicht der in Prägedruck gehaltene Text, der sie so voll ständig verblüffte, obwohl auch er merkwürdig genug war: Leander Satanas adveniet 42 Nein, es war nicht dieser Text, sondern das Symbol darüber. Mit sei
nen verschlungenen Linien erinnerte es an ein Jugendstilmotiv vom Anfang des Jahrhunderts. Eigentlich ganz harmlos und nicht weiter auffällig. Sah man allerdings genauer hin. stellte man fest, daß das Symbol im wesentlichen aus drei kunstvoll ineinander verschlunge nen Ziffern gebildet war. die von einigen dünneren Linien als Bei werk umrankt – oder getarnt? – wurden. Dreimal die Ziffer 6. In Liliths Gehirn überschlugen sich die Gedanken. Obwohl Vam pire christliche Symbole scheuten, kannte sie sich hinreichend in der Heiligen Schrift der Christenheit aus, um zu wissen, was die Zahl 666 bedeutete. »Wer Verstand hat, der überlege die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertundsechsundsechzig.« Das 13. Kapitel der Offenbarung des Johannes. Die Beschreibung der Apokalypse, der Übernahme der Herrschaft auf Erden durch den Teufel und seine Heerscharen. »Leander der Satan wird kommen.« Aber was bedeutete die Zahl 42 in der Zeile darunter? Deutete sie womöglich auf eine andere Stelle in der Offenbarung hin? Oder war es nur eine Nummer? War Helen Takahashi vielleicht die Nummer 42 von – ja, von was? Und wenn das zutraf, wer waren dann die an deren? Und wie viele gab es insgesamt? Aber vielleicht bedeutete diese Karte – diese Einladung? – ja auch gar nichts. Vielleicht war sie nur ein Jux, das Possenspiel irgendwel cher abgedrehter Teufelsjünger. Vielleicht. Aber sicher war das nicht. Ganz und gar nicht. Es konnte mehr, viel mehr dahinterste cken – und zwar womöglich etwas, das Lilith ganz direkt betraf. Denn das Symbol, das die drei ineinander verschlungenen Ziffern bildeten, hatte eine geradezu frappierende Ähnlichkeit mit der stili sierten Abbildung des Lilienkelchs der Vampire …
* Prag, Ende März 1939 »Benji«, sagte seine Frau, »du hast Besuch.« Benjamin Loew, seines Zeichens Schuhmacher im jüdischen Vier tel von Prag, blickte von seinem Werkzeug auf und ließ seinen Blick wohlwollend auf der stark gerundeten Gestalt seiner Frau Rachel ruhen, die unter der offenen Tür stand. »Dann nur herein damit«, meinte er fröhlich. »Wer ist es denn? Shmuel?« »Nein … nein, Benjamin«, stotterte seine Frau. Erst jetzt bemerkte er, wie aufgeregt sie eigentlich war. »Es ist keiner deiner Freunde, sondern … sehr hoher Besuch. Der Rabbi …« Bevor sie den Satz beendet hatte, betraten die Besucher auch schon Benjamins Werkstatt. Es waren fünf uralte Männer in schwarzen Anzügen, die sich im Gänsemarsch hintereinander in das Halbdämmer seiner ärmlichen Kammer drängten. Sie alle waren bärtig und trugen schwarze Hüte auf dem Kopf. In der engen Werkstatt wirkten sie seltsam fehl am Platze, aber das schien sie nicht zu stören. Und natürlich erkannte Benjamin Loew sie auf den ersten Blick. »Mit so hohem Besuch«, sagte er und stand von seinem Schemel auf, um sich zu verneigen, »habe ich wirklich nicht gerechnet. Viel leicht sollten wir doch lieber in die Stube gehen?« »Nein, nein«, sagte Moses Pelz, mit seinen 81 Jahren wohl der Äl teste der Gruppe. »Es ist schon recht hier, Benjamin.« Sein Blick wanderte unmerklich von Benjamin zu Rachel. Benjamin verstand den Wink sofort und schickte sie hinaus. »Aber bitte, nehmt doch Platz. Was führt euch zu mir?«
Die fünf alten Männer nahmen auf der Holzkiste Platz, die Benja min ihnen in Ermangelung einer besseren Sitzgelegenheit anbot. Sie wirkten ungeheuer ernst: ernst und feierlich. Ihr Auftreten trug nicht eben dazu bei, die Nervosität des Schusters zu verringern. Gekleidet wie zu einem Gottesdienst in der Synagoge, schoß es Benjamin durch den Kopf. Und er hatte immer noch keine Ahnung, was sie von ihm wollten. Wortführer der Gruppe schien der alte Moses Pelz zu sein. Bis vor wenigen Jahren war er Rabbiner einer kleinen Gemeinde draußen auf dem Lande gewesen – der »Wunderrabbi von Jeschowitz«, wie man ihn seiner hohen Gelehrsamkeit wegen nannte. Später hatte man ihn nach Prag gerufen, um hier eine neue Generation weiser Männer in die Geheimnisse der jüdischen Mystik – und besonders der Kabbala – einzuführen. Es war eine Aufgabe, die er mit großer Würde und Hingabe erfüll te. Immerhin galt er als einer der besten Kenner des Sohar, jenes in Anlehnung an die fünf Bücher Moses gestalteten Hauptwerkes der Kabbala. Sohar bedeutet »Glanz«, und etwas davon schien auf magi sche Weise auch auf das zerfurchte Gesicht des alten Pelz überge gangen zu sein. Ein Leuchten strahlte davon aus, das es zugleich überirdisch alt und ungeheuer jung erscheinen ließ. Auch die Männer, die ihn begleiteten, waren alle weit über siebzig. Benjamin kannte sie seit seiner frühesten Kindheit, und schon da mals waren sie ihm uralt und ehrwürdig vorgekommen. Sie gehör ten zu den spirituellen Führern der Prager Gemeinde – Leute, die ihr weltliches Leben der Förderung von Handel und Wandel und ihr geistiges Leben dem höheren Ruhme Gottes gewidmet hatten. Im übrigen waren sie alle Freunde seines längst verstorbenen Vaters gewesen. »Wir wollen«, sagte Moses Pelz übergangslos, »daß du den Golem erweckst.«
Benjamin Loew starrte ihn an. Seine Augen wanderten von einem Mitglied der Gruppe zum anderen, aber ihre Gesichter waren wie versteinert und sagten nichts darüber aus, was die alten Männer bei den Worten des Rabbis empfanden. Langsam kehrte Benjamins Blick zu Moses Pelz zurück. »Ich … ich soll …«, stammelte er hilflos. »Ja, Benjamin, das sollst du«, sagte der Rabbi. »Wir« – er deutete auf die anderen – »haben lange darüber beraten. Wir glauben, daß es die einzige Möglichkeit ist, die uns bleibt. Und du bist der einzi ge, der es tun kann, das weißt du.« Nachdem der erste Schock vorbei war, fühlte Benjamin sich fast ein wenig erleichtert. Immerhin, jetzt war es wenigstens heraus. Sorgfältig suchte er nach Worten. »Aber … aber was wird es nut zen, Rebbe? Ich meine, selbst wenn wir den Golem erwecken – wie sollte er etwas gegen die Übermacht der Deutschen ausrichten?« »Was es nutzt?« wiederholte Pelz langsam. Er zuckte mit den Ach seln. »Wenn ich ehrlich sein soll, Benjamin, ich weiß es nicht. Schon die Existenz des Golem ist ein Wunder. Vielleicht, wenn wir ihn auf wecken und ihn zu unserem Streiter machen … nun, es mag sein, daß dann ein noch größeres Wunder geschieht. Und schaden kann es wohl auf keinen Fall.« Er hob den Blick und schaute Benjamin direkt in die Augen. »Mit ›Wunder‹ meine ich übrigens nicht, daß er unser Volk erretten wird. Nein, es wäre vermessen, das zu hoffen. Aber er könnte einige weni ge retten, vielleicht die besten – nicht uns alte Männer, sondern un sere Enkel, damit diese eines Tages das gelobte Land sehen. Außer dem …« Benjamin Loew erwiderte den Blick. »Ja, Rebbe?« »Außerdem steht geschrieben: ›Die Aussichtslosigkeit unseres Tuns und auch seine Lächerlichkeit auf uns nehmen, das muß unsere Form von
Tapferkeit sein.‹ – Und so sei es. Alles weitere liegt nicht in unserer Hand.« Benjamin nickte langsam und ließ sich auf seinem Hocker zurück sinken. Natürlich hatte er über diese Dinge auch schon nachgedacht – eigentlich schon seit jenem Tag in ferner Vergangenheit, als sein Vater ihn in das Geheimnis der Loews eingeführt hatte, erst recht aber nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Tschecho slowakei. Lag das wirklich erst eine Woche zurück? Aber darüber nachzudenken und eine Entscheidung zu fällen, das waren zwei völlig verschiedene Dinge. Manchmal jedoch konnte man nicht ein fach dasitzen und warten, bis die Welt sich von selbst wieder richte te. Nicht, während Hitlers Schergen damit begannen, immer mehr jü dische Familien Gott weiß wohin abzutransportieren. Sein Blick wanderte zu seinen Schusterutensilien hinüber, schweif te über Ahle und Pfriem, Leisten und Leder. Nein, auch von dorther kam ihm keine Hilfe. Vielleicht, wenn er mit Rachel sprechen, ihr sein Herz offenbaren konnte … Nebbich. Rachel war ihm immer eine gute Frau gewesen, aber das hier ging sie nichts an. Hier ging es um eine Tradition, die einzig die männlichen Vertreter der Familie Loew betraf. Frauen hatten zu die sem Mysterium keinen Zutritt. So hatte es sein Urahn, der legendäre Judah Loew ben Bezalel, feierlich auf dem Totenbett bestimmt. Und wer war er, der kleine Schuhmacher Benjamin Hillel Loew, daß er gegen den Willen des mächtigen Rabbis und Magiers verstoßen konnte, auch wenn dieser schon seit über 330 Jahren tot war? Vielleicht der Erretter des jüdischen Volkes. Vielleicht der Erretter der Gemeinde von Prag. In diesem Augenblick merkte er, daß Rachel hinter der Tür zur Küche stand und lauschte. Mit einer unauffälligen Handbewegung,
die eher liebevoll als ungehalten war, gab er ihr ein Zeichen, die Tür leise von außen zu schließen. Sie blickte ihn in ängstlicher Verwir rung an, dann nickte sie ergeben und gehorchte. Sie war im sechsten Monat schwanger, und eine Schwangerschaft, das wußte Benjamin, machte eine Frau noch neugieriger, als Frauen es ohnehin schon sind. Hoffentlich, dachte er, wird das Kind diesmal ein Junge. Gewiß, er liebte auch seine beiden Töchter, aber die Familientradi tion verlangte eben, daß er mindestens einen Sohn zeugte, an den er jenes große magische Geheimnis weitergeben konnte, das – wie für unzählige Generationen vor ihm – seit seiner Bar-Mizwa für ihn das Wunder und der Schrecken seines Lebens gewesen war. Und das brachte ihn wieder auf das Anliegen zurück, mit dem die se Männer zu ihm gekommen waren. »Gut, ich werde es tun«, sagte er. »Aber vorher, Rebbe, erklärt mir noch eines: Seid Ihr Euch wirklich sicher, daß nichts Schlechtes dar aus entstehen kann? Ihr wißt, sogar der Maharal hat es nicht ver mocht, den Formlosen, den er immerhin selbst erschaffen hatte, auf Dauer zu beherrschen. Es könnte doch geschehen, daß das, was wir tun, uns nicht zum Guten, sondern zum Bösen ausschlägt.« Moses Pelz schien den Einwand erwartet zu haben. Er strich sich mit der Hand durch den schlohweißen Bart, dann nickte er langsam und deutete auf den gelben Judenstern an seinem Gewand, den sie alle auf Befehl des Stadtkommandanten jetzt ständig tragen mußten. »Ja, ich bin mir sicher«, sagte er. »Etwas Schlimmeres als das, was die Nazis unserem Volk antun, kann es nicht geben. Denk an das Pogrom im letzten November, das sie Reichskristallnacht nannten. Wenn du das Ritual nicht ausführst, werden wir alle sterben. Nicht einer von uns wird am Leben bleiben, du nicht, deine Frau nicht, und auch deine Kinder nicht.
Du weißt, was das außerdem noch bedeutet, nicht wahr? Es be deutet, daß du die Weisheit des Maharal niemals an deinen ungebo renen Sohn wirst weitergeben können. Die Kette wird unterbrochen werden, und dann wird auch der Golem in alle Ewigkeit nur noch ein totes Stück Lehm sein.« »Ihr habt recht, Rebbe.« Benjamin konnte spüren, wie ein Aufatmen durch die Gruppe der alten Männer ging. Natürlich hatten sie mit dieser Entscheidung ge rechnet. Aber wenn er sich wirklich geweigert hätte, hätten sie keine Möglichkeit gehabt, seine Mitwirkung zu erzwingen oder das Ritual ohne ihn durchzuführen. Moses Pelz sagte nichts, sondern nickte nur, mit einem sehr erns ten Lächeln auf dem zerfurchten Gesicht. »Also ist es entschieden.« »Schön«, warf Shlomo Weinstein, einer von Pelz’ Begleitern, ein. Es war das erstemal, daß einer der vier anderen das Wort ergriff. »Was mich im Augenblick aber genauso interessiert, ist die Frage: Wo ist er eigentlich? Wo hat dein Vater ihn versteckt? Ich meine, wir wissen von seiner Existenz, aber gesehen hat ihn noch keiner von uns …« »Er ist da, wo er immer war«, sagte Benjamin ruhig. »Auf dem Dachboden der Altneuschul.«
* Die fünf Männer starrten ihn ungläubig an. »In der Synagoge?« keuchte Shlomo. »Nebbich! Das kann nicht sein! Damals, 1915, als der Journalist auf den Dachboden hinaufge kraxelt ist, hat er ihn dort nicht gefunden. Das schrieb er jedenfalls hinterher in seiner Reportage. Den Golem wiederzuerwecken, so hieß
sie doch, wenn ich mich recht erinnere.« Benjamin nickte. »Du meinst den Egon Erwin Kisch aus der Leder gasse, nicht wahr? Damals, als noch der alte Zwicker, Gott habe ihn selig, Hüter der Schul war? Nu, natürlich hat er nichts gefunden. Als mein Vater hörte, daß er der alten Geschichte nachgehen und auf den Dachboden klettern wollte, hat er sich entschlossen, den Golem vom Boden herunterzuholen und ihn zu verstecken. Allein konnte er das nicht, dazu war er schon zu gebrechlich. Deshalb hat er mich mitgenommen. Normalerweise hätte er mich erst nach meiner BarMizwa in das Familiengeheimnis eingeweiht, aber ich war schon zwölf und ein kräftiger Junge, und da es sich um einen Notfall han delte …« Er hielt einen Augenblick lang inne, und sein Blick bekam etwas nach innen Gewandtes, so, als sehe er in diesem Augenblick seinen Vater vor sich. »Gemeinsam gingen wir zur Synagoge und stiegen auf den Dach boden hinauf. Natürlich hatte ich schon viel vom Golem gehört, aber bis dahin hatte ich das immer für eine Legende gehalten, für ein altes jüdisches Märchen. Als mein Vater mir erklärte, daß wir, die Familie Loew, in direkter Linie vom Maharal abstammten und von ihm selbst über die Generationen hinweg zu Hütern des Golems bestimmt seien, hielt ich ihn im ersten Augenblick für verrückt. Aber dann sah ich, daß er in allem die Wahrheit gesprochen hatte. Oben auf dem Dachboden stand eine große Holzkiste, eine Art Sarg. Sie war zugenagelt und mit einem Siegel verschlossen, das das Zei chen Salomos zeigte. Mein Vater erbrach das Siegel, stemmte den Deckel mit einem Eisen auf – und da lag er, der Golem.« Die Männer hörten ihm mit angehaltenem Atem zu. Benjamin Loew stützte schwer sein Kinn auf die Hände. »Wir mußten die riesige Gestalt mitsamt ihrer Kiste mit Hilfe eines
Flaschenzugs vom Dach herunterlassen, so schwer war sie. Zuletzt verwischten wir die Spuren im Staub, so daß niemand auf die Idee kommen konnte, daß da etwas gestanden hatte. Dann luden wir den Golem auf einen mitgebrachten Karren und fuhren ihn hierher, in dieses Haus.« Als er das plötzliche Zusammenzucken seiner Gäste bemerkte, fuhr er rasch fort: »Es war ja nur für einige wenige Tage. Nachdem dieser Journalist seine Expedition auf den Dachboden un ternommen und dort nichts gefunden hatte, brachten wir ihn wieder zurück. Und dort liegt er nun wieder, seit 1915, und niemand hat seither seine Ruhe gestört.« »Nun gut«, sagte Moses Pelz. »Und wann soll es geschehen? Die Entscheidung liegt bei dir.« »Am besten heute nacht noch«, sagte der Schuster in plötzlicher Entschlossenheit. »Aber wir müssen zusammen gehen. Die gehei men Worte kann ich zwar allein sprechen, aber das Ritual drumher um ist sehr kompliziert. Wir müssen zu mehreren sein, um es auszu führen.« Aaron Silberberg, der Jüngste in der Runde, fuhr auf. »Bist du me schugge, Benjamin? Ab zehn Uhr ist Ausgangssperre! Wenn man uns erwischt …« Benjamin Loew schüttelte den Kopf. »Es gibt keine andere Mög lichkeit. Wenn wir am Tage hinaufsteigen, wird man uns auf jeden Fall sehen, und dann sind wir erst recht in Schwierigkeiten. Nein, wir müssen es nachts tun – und zwar, da wir nun schon einmal alle beieinander sind, heute nacht.« »So sei es«, sagte Moses Pelz. »Also riskieren wir es.«
*
Tokio, Gegenwart Die Treppe, die in den Keller hinunterführte, entdeckte Lilith erst, nachdem sie fast das ganze Haus abgesucht hatte. Sie fand den Ein gang mehr durch Zufall neben einem kleinen buddhistischen Altar in einer Nische von Helen Takahashis Schlafzimmer, das – abgese hen von einem Futon – nur ein einziges Möbelstück enthielt: eine Art hölzernes Kabinett mit schön geschnitzten Schiebetüren, das vom Boden bis zur Decke des Raumes reichte und auf den ersten Blick so etwas wie das Äquivalent eines begehbaren Schranks zu sein schien. Dieses Kabinett und eine der Wände bildeten die Ni sche, in der der Altar mit seiner kleinen Buddhafigur stand. Vor dem Altar hatte die Bewohnerin des Hauses ihren Göttern das traditionelle Speiseopfer dargebracht: ein Schälchen mit Reis und ei nes mit Sake. Als Lilith sich darüberbeugte, um den Inhalt näher in Augenschein zu nehmen, stellte sie fest, daß beides noch völlig frisch wirkte. Viel leicht hatte Helen Takahashi mit ihnen den Segen der Götter auf ihre seltsamen nächtlichen Aktivitäten herabgefleht. Unterstützt wurde diese Vermutung durch den intensiven Geruch, der von den Räu cherkerzen rechts und links der Opfergaben ausging. Offenbar hatte Helen Takahashi sie, kaum daß sie ein Stückchen heruntergebrannt waren, wieder gelöscht, um sie während ihrer Abwesenheit nicht unbeaufsichtigt in dem ganz aus Holz gefertigten Haus weiterbren nen zu lassen. Als Lilith wieder vom Altar aufschaute, fiel ihr Blick auf die nicht ganz geschlossene Seitentür des Kabinetts. Vorsichtig schob sie sie ganz auf. Dahinter lag der Anfang einer Treppe – schmale hölzerne Stufen, die in einen Keller hinunterführten, von dessen Existenz Li lith bisher nichts geahnt hatte.
Langsam, lautlos, trat sie in das Kabinett und begann die Treppe hinabzusteigen. An deren Ende erwarteten sie ein kurzer Gang und eine weitere hölzerne Schiebetür, auch diese geschlossen. Stirnrunzelnd blieb Lilith stehen. Ein merkwürdiger Geruch stach ihr in die Nase – nicht der nach Katzenminze oder Räucherwerk, die im Haus oben allgegenwärtig waren, sondern ein schwerer, süßlicher Gestank, den sie im ersten Augenblick nicht einzuordnen wußte. Irgendwie kannte sie ihn. Aber woher? Und dann wurde ihr schlagartig klar, wonach es hier roch. Nach Verwesung. Es war der gleiche widerwärtige Geruch, den sie damals wahrgenommen hatte, als sie in den Gewölben der Vampir sippe von Sydney gegen Landrus monströse Dienerin, die Ghul, kämpfte.* Einen Augenblick lang zögerte sie. Sollte sie ihren magischen Scout – die schwarze, stilisierte Fledermaus in ihrer linken Hand, die sie von Felidae erhalten hatte – vorausschicken, um durch seine Au gen zu sehen, was in dem Kellerraum vorging? Sie entschied sich dagegen. Es war zu gefährlich, und sie hatte noch nicht genügend Übung im Umgang damit. Während der Zeit, in der der Scout unterwegs war, war ihr Körper erheblich ge schwächt und deshalb eine leichte Beute für alles, was sich hinter der Tür befinden mochte. Und deshalb … Entschlossen öffnete sie die Tür, die sich zum Glück völlig lautlos aufschieben ließ, und glitt wie ein Schatten in die Höhle des Löwen hinein. Der Anblick, der sich ihr bot, war unglaublich. *siehe VAMPIRA 9: »Diener des Bösen«
Mit dem Rücken zur Tür kniete Helen Takahashi, nackt und blut überströmt, im Innern eines mit Kreide auf den Boden gemalten Pentagramms, vor einem falsch herum aufgehängten Holzkreuz, das ganz so aussah, als sei es aus einer christlichen Kirche gestohlen worden. Dadurch, daß sie es mit dem Querbalken nach unten ge dreht und es mit einer Reihe heidnischer Symbole entweiht hatte, hatte sie ein Satanskreuz daraus gemacht – ein Kreuz, wie es Sata nisten bei ihren Schwarzen Messen verwenden. Und es war sogar ein Kruzifix. Das Blut auf Helen Takahashis Körper stammte nämlich nicht von ihr, sondern von der Mi-ke-Katze aus dem Tempelgarten, die sie mit kräftigen Neun-Zoll-Nägeln an das Satanskreuz genagelt hatte. Und zwar bei lebendigem Leibe. Unter der mit dem Kopf nach unten hängenden Katze stand ein Abendmahlskelch, der ebenfalls durch satanistische Symbole auf das widerwärtigste entweiht war. In ihn troff aus tiefen, offenbar mit einem Skalpell beigebrachten Schnitten das Blut der Katze. Aber selbst das war längst noch nicht alles. Beim Schein der zwei flackernden schwarzen Kerzen beiderseits des improvisierten Altars ließ Lilith ihren Blick durch den Raum schweifen. Längs der Wände hingen weitere Kreuze – alle verkehrt herum – mit den Überresten gequälter Katzen daran. Die Katzen be fanden sich in jedem Stadium der Verwesung, einige waren mumifi ziert, andere skelettiert. Von denen, die Helen Takahashi erst vor wenigen Tagen oder Wochen umgebracht hatte und in denen des halb noch die Maden an der Arbeit waren, ging auch jener grauener regende Gestank aus, den Lilith schon auf der Kellertreppe wahrge nommen hatte. Hier war er so stark, daß er einem gewöhnlichen Menschen den Magen umgedreht hätte. Helen Takahashi allerdings schien keine Probleme damit zu ha
ben. Sie war in eine Art Trance gefallen und murmelte etwas vor sich hin, das wie eine eigentümliche Mischung aus Gesängen des ja panischen Kabuki-Theaters und einem lateinischen Hymnus wirkte. Zwischendurch vollführte sie allerlei devote Verneigungen vor dem Satanskreuz, bei denen sie Lilith, ohne es zu wissen, einen sehr hübschen, weit ausladenden Hintern darbot. Dann, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, griff sie nach dem rot verkrusteten Kelch, in den inzwischen wieder neues Blut der Katze getropft war, trank einen Schluck daraus, benetzte auch ihre Finger und strich sich damit über ihre Brüste. Anschließend goß sie den Rest des Blutes nach hinten über ihre Schultern und ihren Rücken, so daß der rote Saft in kleinen Bächen über ihre elfenbein farbene Haut rann. Fasziniert schaute Lilith zu, wie das Blut Helens Hinterbacken be netzte und in die Spalte zwischen den beiden Gesäßhälften rann, um von dort aus weiter auf ihre Fußsohlen zu tropfen. Obwohl es nur das Blut einer Katze war, war es ein Anblick, der nicht nur Liliths Durst ins Unermeßliche steigerte. Zugleich entfach te er auch eine heiße Flamme zwischen ihren Schenkeln. In ihrer Erregung machte sie einen weiteren Schritt in den Raum hinein und stieß dabei gegen etwas, das dort auf dem Boden lag. Als es vor Liliths Fuß davonrollte, erzeugte es ein leises, polterndes Ge räusch, fast wie eine Kegelkugel. Und so ähnlich – nur kleiner – sah es auch aus. Dann erkannte Lilith, was es war: der nur noch an wenigen Stellen mit Fell- und Fleischresten überzogene Schädel einer Katze. Von einer Sekunde zur anderen erwachte Helen Takahashi aus ih rer Trance. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung wirbelte sie herum und kam dabei gleichzeitig auf die Füße. Erst jetzt, als die Eurasierin sich umdrehte, begriff Lilith wirklich,
wie ähnlich sie ihr sah. Natürlich, ihr Becken war schmaler, und auch ihre Brüste waren um eine Winzigkeit kleiner, aber ansonsten hätten sie und Lilith zumindest Schwestern sein können – vor allem, da sie nun über und über mit Blut verschmiert war. Mit ihr ins Bett zu gehen, mußte so sein, als schliefe man mit seinem eigenen Spie gelbild. Und sie dann auszusaugen, womöglich auf dem Höhepunkt des Aktes … Allein der Gedanke reichte aus, um Lilith beinahe einen Orgasmus zu verschaffen. Helen Takahashis Augen weiteten sich in jäher Überraschung, als sie den Eindringling erblickte. Mit der Routine langjähriger Übung nahm sie eine Kung-FuGrundposition ein. »Ich habe keine Ahnung, wer du bist, und ich weiß auch nicht, wie du hier hereingefunden hast«, flüsterte sie da bei. »Aber wer immer du sein magst – lebendig kommst du hier nicht wieder heraus.« Die Kampfhaltung brachte das Spiel der Muskeln unter ihrer nack ten Haut auf das vorteilhafteste zur Geltung, und Lilith mußte sich gewaltig zurückhalten, um sie nicht auf der Stelle anzuspringen und ihr die Zähne in den Hals zu schlagen. Aber dazu war später immer noch Zeit. Jetzt mußte sie erst einmal etwas anderes stillen: ihre Neugierde. Mit einem verführerischen Lächeln trat sie näher Helen heran und blickte ihr tief in die Augen. Über das Gesicht der Eurasierin husch te ein Ausdruck völliger Verblüffung. »He, was …« Keine Sekunde später stand sie bereits vollständig unter Liliths suggestivem Bann. »Ich werde dich jetzt ein paar Dinge fragen, und du wirst mir rückhaltlos darauf antworten«, flüsterte sie der Eurasierin fast zärt
lich ins Ohr. »Hast du verstanden?« Helen Takahashi nickte. Ihre Stimme war seltsam tonlos. »Gewiß.« »Schön, sehr schön … Also: Du bist Helen Takahashi?« »Ich bin Helen Takahashi.« »Was ist das für ein Ritual, das du hier gerade vollführst?« »Ich rufe Leander Satanas an.« Leander Satanas. Der Name, den sie auch auf der Karte oben im Ar beitszimmer gelesen hatte. »Wer ist Leander Satanas?« »Der Teufel.« »Was bedeutet Leander Satanas adveniet?« »Es bedeutet, daß Leander Satanas sein Versprechen wahrmachen und leibhaftig auf die Erde zurückkehren wird.« Lilith studierte aufmerksam das Gesicht der Eurasierin. aber auch bei dieser Antwort blieb es unbewegt. Kein Zweifel: Sie glaubte an das, was sie sagte. »Und wann soll das geschehen?« »Am 13. dieses Monats, um Mitternacht.« Bis zum 13. waren es nur noch zwei Tage. Liliths Erregung wuchs. »Woher weißt du das?« »Es stand auf der Einladung der Leander Society, die ich vorige Wo che erhalten habe.« »Aber auf deinem Schreibtisch lag keine Einladung.« Natürlich wunderte sich Helen Takahashi nicht darüber, daß Lilith ihren Schreibtisch in Augenschein genommen hatte. »Genau, wie uns befohlen wurde, habe ich das Anschreiben ver nichtet und nur die Einladungskarte behalten.« »Nummer 42?«
»Ja. Ich bin die 42. von 666 Auserwählten.« »Und wo wird Leander Satanas erscheinen? In Wien?« »Das weiß ich nicht. Wir sollen uns auf dem Wiener Flughafen treffen, am Schalter der Charterlinie TLC. Von dort aus werden wir zu unserem eigentlichen Ziel weiterbefördert.« Jetzt kam die entscheidende Frage: »Und was hat das alles mit den Vampiren zu tun?« »Mit … was?« »Mit den Vampiren. Die Zahl 666 auf der Einladung bildet einen stilisierten Lilienkelch. Das mußt du doch wissen.« Helen Takahashis Gesicht verzog sich zu einer Maske der Qual, als sie verzweifelt versuchte, Liliths Frage zu beantworten. Auf ihrer Stirn perlte der Schweiß und vermischte sich mit dem Blut der sata nistischen Zeichen, die sie sich während des Rituals daraufgemalt hatte. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Vampiren«, stieß sie schließ lich mühsam hervor. »Vampire gibt es nur in Horrorfilmen oder Ro manen. Und von einem ›Lilienkelch‹ habe ich auch noch nie etwas gehört.« Selbstverständlich sagte sie auch jetzt wieder subjektiv die Wahr heit. Aber wie sah die objektive Wahrheit dahinter aus? Betrieben da vielleicht bloß irgendwelche Menschen eine üble Bauernfängerei, oder steckten am Ende doch Vampire dahinter? Wenn ja, dann be kam die ganze Sache nämlich etwas überaus Bedrohliches. In Liliths Gehirn überschlugen sich die Gedanken. Daß wirklich der »Teufel« im Spiel sein könnte, kam ihr nicht ein mal andeutungsweise in den Sinn. Natürlich, es gab das Böse an sich, aber sie hatte nie gehört, daß es sich in einer konkreten Gestalt manifestiert hatte.
Falls aber wirklich Vampire ihre Hand im Spiel hatten, mußte sie es unbedingt herausfinden. Mit einemmal war ihr Entschluß gefaßt. »Helen«, sagte sie eindringlich, »hörst du mich? Ich werde dir jetzt einen Befehl geben.« »Ja, ich höre.« »Gut. Du wirst jetzt einige Stunden schlafen. Während du schläfst, vergißt du, daß die Leander Society dich jemals aufgefordert hat, nach Wien zu kommen. Du hast keine Einladungskarte erhalten, und du hast auch keinen Flug gebucht. Du weißt nichts davon, daß Leander Satanas am 13. erscheinen soll. Hast du mich verstanden?« »Ja, ich habe verstanden.« »Dann schlaf.« Wie eine Marionette, deren Fäden man durchtrennt hatte, sackte Helen Takahashi vor dem entweihten Kreuz zu Boden. Ein wollüstiges Lächeln spielte über Liliths Gesicht. Jetzt endlich konnte sie zum angenehmen Teil des Abends übergehen. Langsam, mit der Vorfreude eines Gourmets, beugte sie sich über die nackte Gestalt und leckte ihr mit der Zunge über den Hals. Das Blut der Katze, das darauf verschmiert war, schmeckte fade, aber darunter pochte in köstlichem Rhythmus die Halsschlagader Helen Takahashis. Lilith spürte, wie ihre Zähne sich aus dem Kiefer scho ben, und die Gier in ihrem Körper wurde übermächtig. Schon ritzten die Spitzen ihrer Zähne die zarte Haut. Doch dann … Im letzten Augenblick hielt sie inne. Nein, es war zu riskant. Wenn sie jetzt ihren Durst stillte, hinter ließ sie eine Spur, die für den Kundigen einfacher zu lesen war als ein Fingerabdruck.
Falls Vampire etwas mit der Einladung zu tun hatten, und falls ei ner davon Helen Takahashi vor dem 13. aufsuchte, dann konnte die ser kleine Biß lebensgefährliche Folgen für Lilith haben. Denn im merhin hatte sie vor, an Helens Stelle nach Wien zu reisen und sich in das geheime Treffen der Leander Satanas-Anbeter einzuschmug geln. Mit einem leisen Seufzer des Bedauerns leckte Lilith noch einmal über den Hals der jungen Eurasierin, dann richtete sie sich wieder auf. Nun, vielleicht fand sie ja auf dem Rückweg noch ein anderes Opfer, eines, das nichts mit dieser ganzen Geschichte zu tun hatte. Oder vielleicht nachher im Flugzeug? Bevor sie sich endgültig abwandte, ließ ein klägliches Maunzen sie innehalten. Es war unglaublich, aber die Katze lebte immer noch. Der Blutver lust mußte sie enorm geschwächt haben, aber sie war riesig, eine wahre Monster-Mike, und deshalb kämpfte sie weiter, bis der letzte Tropfen Blut aus ihren Adern in den Kelch geflossen war. Ihre Tapferkeit im Angesicht des Todes rührte Lilith. In einem An flug völlig unvampirischen Mitleids stieg sie über Helens schlafen den Körper hinweg, griff zu und drehte der Katze mit einem blitz schnellen Ruck das Genick um. Wenige Minuten später war sie, jetzt wieder in Fledermausgestalt, auf dem Rückweg zum Schinrei-Building. Es war ein ziemlich mühsamer Flug, denn in den Krallen hielt sie Helen Takahashis Reisepaß, ihr Ticket und die Einladungskarte der Leander Society.
*
Prag, Ende März 1939 – und davor Wann sie sich das erste Mal getroffen hatten, wußten sie selbst nicht mehr genau. Vampire, die sich wie Marketender den Heerzügen der Menschen anschlossen, hatte es schon gegeben, seitdem Menschen überhaupt Kriege führten. Die ersten jener, die einmal diese Sippe – die Sippe Leanders – bilden würden, mochten etwa zur Zeit des Dreißigjähri gen Krieges festgestellt haben, daß man nirgendwo so leicht Beute machen kann wie dort, wo die Weltordnung aus den Fugen geraten ist. Unersättlich in ihrem Blutdurst, von anderen Vampiren ihrer schieren Maßlosigkeit wegen scheel angesehen und als unwägbares Sicherheitsrisiko betrachtet, schlossen sie sich darum eines Tages zu einer neuen Sippe zusammen. Einer Sippe, die fortan wie ein Wolfs rudel über die Schlachtfelder Europas zog, um gemeinsam ihren grenzenlosen Durst zu stillen. Sie waren, im wahrsten Sinne des Wortes, zu Schlachtenbummlern geworden – zu einer Art vampiri scher Hyänen. Das brachte ihnen bald die Verachtung aller alteingesessenen Vampirsippen des Kontinents ein. Während der Französischen Revolution gingen sie im Schatten der Guillotine auf Beutefang. Sie zogen Napoleons Heeren in die eisigen Weiten Rußlands nach; sie nahmen, auf ihre Weise, am Krimkrieg teil; sie kehrten Jahre später ins zaristische Rußland zurück, um das unermeßliche Leid während der Judenpogrome noch zu vergrößern; und sie trieben sich während des Ersten Weltkriegs (den die Men schen damals den »Großen Krieg« nannten) als reißende Bestien in den Schützengräben der Westfront herum. Vor allem dort waren sie ganz in ihrem blutigen Element: ein schattenhafter nächtlicher Schrecken, von dem die Männer in den
Unterständen nur hinter vorgehaltener Hand zu flüstern wagten. Ein Spuk, den zu erwähnen Generäle beider Parteien bei Todesstrafe untersagten. Immer waren sie zur Stelle, in vorderster Front, bevor die Soldaten sich zum nächsten selbstmörderischen Sturmangriff aus den Gräben schwangen, um sehenden Auges in das Feuer der Mörser und Ma schinengewehre zu laufen. Sehr viele von jenen, die von Granaten zerrissen oder von MG-Ku geln zerfetzt wurden oder die mit von Phosgen verätzten Lungen in den Schlamm sanken, waren zu diesem Zeitpunkt längst keine Men schen mehr, sondern Dienerkreaturen. Tatsächlich hatte es noch nie mals eine bessere Tarnung für die Beutezüge der Sippe gegeben als diesen speziellen Krieg. Dort, wo ohnehin schon Hekatomben von Menschen hingeschlachtet wurden, fragte wirklich niemand mehr danach, was mit ihnen geschah, bevor sie auf den »Feldern der Ehre« verbluteten. In den ruhigeren Zeiten zwischen den großen Kampagnen zogen sie sich auf die Burg ihres Kumpanen Slawomir zurück, den sie als Adjutant Napoleons während des Rußlandfeldzuges kennengelernt hatten. Dort, hoch droben in der Unwirtlichkeit der Karpaten, for derten sie ihren Blutzoll von den Bauern der umliegenden Gemar kungen, bis von irgendwoher die Kunde von der nächsten großen Auseinandersetzung in ihre Abgeschiedenheit drang. Und es kam selten vor, daß sie länger als ein paar Jahre warten mußten. Manch mal hatten die Angehörigen der Sippe den Eindruck, daß die kriege rischen Gelüste der Menschen mit der Zeit nicht ab-, sondern zunah men. Der Mensch, so begriffen sie, war kein sehr lernfähiges Tier. Auch nach dem Ersten Weltkrieg zeigten sich jedenfalls keine An zeichen für dauerhaften Frieden. Jetzt, im März 1939, war beispielsweise gerade der deutsche Dikta tor Adolf Hitler mit seinen Truppen in der Tschechoslowakei ein
marschiert. Daß es dadurch nicht gleich zu einem neuen Weltkrieg gekommen war, lag einzig und allein an der Zurückhaltung der Engländer und Franzosen. Aber lange würden sie die andere Wange bestimmt nicht mehr hinhalten. Ja, wenn Hitler so weitermachte, brachen wirklich glorreiche Zei ten an – für die Sippe. Und falls er sogar, wie Napoleon, eines Tages versuchen sollte, Rußland unter sein Joch zu zwingen, dann würden die Vampire mit Begeisterung dabei sein. Zunächst aber folgten einige von ihnen den deutschen Truppen nach Prag. Es war ein Ort, den unsicher zu machen ein Genuß sein mußte. Was immer sie dort taten, man würde es ohne zu zögern der Gegenseite ankreiden, und das konnte nur zu weiterem Blutvergie ßen führen. Beste Aussichten also für eine gute, eine große Zeit für die ganze Sippe. Und so standen die Dinge, als …
* Zu sechst folgten die Vampire einer Prachtstraße mitten im Herzen Prags: Leander, das Oberhaupt der Sippe, Arco, seine rechte Hand, dazu Slawomir und drei andere. Jetzt, nach Anbruch der Dunkelheit, lag die sonst so belebte Straße wie ausgestorben da. Die Fenster in den Mietshäusern rechts und links waren zwar nicht verdunkelt, aber auf die Straße hinaus wagte sich niemand. Nur drüben auf der Karlsbrücke patrouillierte ein vereinzeltes Panzerfahrzeug, um jede Verletzung der von den Deut schen verhängten Ausgangssperre zu unterbinden – wenn nötig auch mit Gewalt.
Wie ausgestorben …? Nein, stellte Leander plötzlich fest, ganz stimmte das nicht. Dort, aus der Seitenstraße, kam ihnen gleich ein ganzer Trupp entgegen: vier SS-Männer, von einem Leutnant ange führt. Wer anders sollte um diese Zeit auch unterwegs sein? Wahr scheinlich hatte man sie losgeschickt, um im Schutze der Dunkelheit eine Verhaftung durchzuführen, die ohne größeres Aufsehen über die Bühne gehen sollte. Immerhin waren die Deutschen erst vor we nigen Tagen, am 15. März, in Prag einmarschiert, und noch war der Widerstand der Bevölkerung nicht vollständig gebrochen. Jetzt hatten auch die SS-Leute bemerkt, daß sie nicht mehr allein auf der Straße waren. Einer der Männer stupste den Leutnant an und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sofort ruckte der Kopf des Leut nants hoch. Leander sah, daß seine Hand nach der Pistole an seinem Gürtel tastete. Ein kurzer, scharf geflüsterter Befehl, und seine Män ner taten es ihm gleich. »Was machen Sie hier draußen?« schnauzte der Leutnant die sechs Gestalten an, die seiner Gruppe fast lautlos entgegenkamen. Ein ra sches Handzeichen, und seine Untergebenen hatten sich auf Bürger steig und Straße verteilt, um sich nicht gegenseitig im Schußfeld zu stehen. Das hier konnte durchaus eine Falle sein – ein Hinterhalt tschechischer Freischärler vielleicht. Es wäre nicht der erste gewe sen, in den eine deutsche Patrouille hineinlief. Und für einen solchen Fall lautete der Befehl, nicht das geringste Risiko einzugehen. Mit gezogener Pistole blieb der Leutnant kaum anderthalb Meter vor Leander stehen und starrte ihn unter dem Schirm seiner zackig in die Stirn gezogenen Mütze an. Der prüfende Blick sagte Leander genug: Bewaffnet oder nicht? Nein, offensichtlich keine Waffen. Aber das war für den Leutnant noch kein Anlaß, sich zu entspan nen. »Sie wissen doch, daß in Prag Ausgangssperre herrscht. Laut Verordnung des Stadtkommandanten dürfen sich nach Einbruch der Dunkelheit keine Personen mehr auf der Straße aufhalten.«
Leander tippte grüßend mit dem Zeigefinger an den Schirm einer unsichtbaren Uniformmütze. Zugleich schenkte er dem Major ein so wölfisches Lächeln, daß dieser – wie ihm deutlich anzusehen war – für einen Augenblick ein sehr mulmiges Gefühl in der Magengrube verspürte. Aber dann fing er sich wieder und blickte womöglich noch härter drein als zuvor. Seine ganze Haltung signalisierte über deutlich, daß er keine Lust hatte, sich von einem Feind – und noch dazu von einem gottverdammten Zivilisten – den Schneid abkaufen zu lassen. »Vielleicht«, sagte Leander leise, aber in akzentfreiem Deutsch, »sind wir ja gar keine Personen im Sinne Ihrer Verordnung?« Der SS-Mann starrte ihn an. »Machen Sie sich nicht lustig über mich, Mann«, schnauzte er dann. »Das verbessert Ihre Lage ganz und gar nicht. Jungs, ich den ke, wir nehmen sie alle mit zur Kommandantur.« »Versuchen Sie’s einfach«, sagte Leander sanft. Er mußte seinen Gefährten nicht einmal ein Zeichen geben. Die Zeigefinger der SS-Männer hatten sich noch nicht halb um die Ab züge der Waffen gekrümmt, da waren die Vampire schon über ih nen. »So, Leutnant«, sagte Leander ein paar Minuten später, während seine Fangzähne wieder in den Kiefer zurückwichen. »Wissen Sie nun, mit wem Sie es zu tun haben?« »Jawohl«, sagte die Dienerkreatur, die eben noch ein Leutnant der Waffen-SS gewesen war. »Bitte, vergebt mir, Herr. Ich hatte keine Ahnung, wer Ihr seid. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?« Sein Blick war vollkommen leer. »Ziehen Sie Ihre Uniform aus. Und die anderen auch.« Arco starrte Leander von der Seite her an. »He, was hast du vor?« erkundigte er sich erstaunt. »Wozu sollen sie …« Plötzlich überzog
ein breites Lächeln sein Gesicht. »O ja, natürlich. Wunderbar. In den Uniformen …« »… können wir uns trotz der Ausgangssperre frei auf den Straßen bewegen, ohne ständig behelligt zu werden, richtig. – Ich glaube, wir bekommen heute nacht noch eine Menge Spaß.«
* Wien, Flughafen Schwechat, Gegenwart »Helen! Helen Takahashi!« In der Hand die Reisetasche, die sie gerade erst vom Förderband in der Gepäckausgabe genommen hatte, drehte Lilith sich um. Ihre Maschine war vor wenigen Minuten hier auf dem Wiener Flughafen Schwechat gelandet, nach einem anfänglich ereignislosen Flug, der nur durch eine Zwischenlandung in Moskau unterbrochen worden war, bei der sie die Maschine nicht verlassen hatte. Ab Mos kau war es dann ein wenig interessanter geworden. Sie hatte einen neuen Sitznachbarn bekommen, einen österreichischen Ingenieur namens Kostarski, der auf dem Rückweg von einem Entwicklungs projekt am Ural war. Als er nach einer Weile mit ihr zu flirten be gonnen hatte, war sie sofort darauf eingegangen, teils, weil der schon etwas ältere Mann ihr gefiel, teils, weil sie die Gelegenheit nutzen wollte, ihre neue Rolle auszuprobieren. Wenn sie auf ihrer Reise ins Unbekannte nicht ständig gezwungen sein wollte, auf ihre übersinnlichen Fähigkeiten zurückzugreifen, dann durfte sie nicht bloß äußerlich wie Helen Takahashi aussehen, sie mußte Helen Ta kahashi sein – eine junge reiche Erbin mit japanischem Vater und amerikanischer Mutter, die sich in beiden Kulturen – der östlichen
wie der westlichen – gleichermaßen sicher zu bewegen wußte. Und das wollte geübt sein. Daß ihre äußere Verwandlung in Helen Takahashi geglückt war, wußte sie hingegen schon, seit sie ihr – recht unscharfes – Bild in dem Spiegel gesehen hatte, den ihr Beth nach einstündiger konzen trierter Arbeit vors Gesicht hielt. Am meisten Arbeit hatte die Form der Augen bereitet. Zwei Kleb streifen rechts und links unter dem Haaransatz sorgten für die nöti ge Schmälung. Dadurch wirken auch die Wangen schmaler und die Wangenknochen etwas ausgeprägter. Natürlich durfte Lilith auf kei nen Fall die Haare hochstreichen, auch nicht versehentlich. Selbst die Farbe der Augen stimmte nun mit der von Helen Takahashi überein; Beth hatte ihre umfangreiche Sammlung von Kontaktlinsen zu Rate gezogen. Der Rest war Schminke und schwarzer Haarlack. Was Lilith nicht gewußt hatte, war, was für eine Wirkung diese Verwandlung auf Außenstehende haben würde. Im Fall Kostarskis, so stellte sie rasch fest, gab es für diese Wirkung offenbar nur ein Wort: umwerfend. Natürlich war Lilith klar, daß viele Europäer und auch Amerika ner eine ausgesprochene Vorliebe für Eurasierinnen hatten. Jetzt er fuhr sie es im wahrsten Sinne des Wortes am eigenen Leibe. Ko starski fand Worte für ihre exotische Schönheit, die einem Dichter nicht schlecht angestanden hätten. Und dabei war er ein wirklicher Gentleman, aber glücklicherweise nicht einer von der Sorte, die es bei romantischen Worten beließ. Nein, dieser hier kam rasch zur Sa che. Knapp eine halbe Stunde nach Beginn des Flirts machte er ihr das Angebot, zusammen mit ihm den einzigen Platz an Bord des Düsen jets aufzusuchen, an dem man sich von fremden Blicken ungestört noch ein wenig näher kennenlernen konnte – den Vorraum der Bordtoilette. Dabei legte er seine Hand auf ihren rechten Oberschen
kel und strich mit einer seltsam suggestiven Bewegung den Rock ih res eher strengen Reisekostüms, in das der Symbiont sich verwan delt hatte, ein winziges Stückchen weiter nach oben. Lilith öffnete den Mund zu einem Lächeln, das die Spitze ihrer Zunge zwischen den makellosen Zahnreihen sehen ließ. Dieser Ös terreicher war so … appetitlich. Wirklich zauberhaft, wie die Ader an seinem gebräunten Hals vor Erregung pochte. Geschmeidig folg te sie ihm durch den Mittelgang des Jets, ein Raubtier, das seinem Opfer immer dicht auf den Fersen bleibt, bis der Augenblick gekom men ist, es endgültig zur Strecke zu bringen. Die Blicke der anderen Passagiere, die hinter ihnen herschweiften, sprachen Bände. Nachdem sie dann die Tür hinter sich verriegelt hatten, war Ko starski nicht mehr ganz der Gentleman, der zu sein er draußen in der Ersten Klasse vorgegeben hatte. Mit einem harten, fast gewalttä tigen Ruck schob er ihren Rocksaum hoch und hob sie auf das Waschbecken. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, daß sie unter dem Rock nackt war. Der Anblick schien ihn regelrecht um den Verstand zu bringen, denn er gab einen kehligen Laut von sich, wie Lilith ihn noch nie von einem Mann gehört hatte. Ohne seine Augen von ihrer weit geöffneten Scham abzuwenden, tastete er blindlings nach dem Reißverschluß seiner Hose. In diesem Augenblick beugte Lilith sich elegant nach vorn und schlug ihm ihre Fangzähne in den Hals. Angesichts seiner Erregung schmeckte das Blut, das sie aus ihm heraussog, noch einmal so köstlich. Während sie trank und trank, stand er schweratmend da, wie ein Stier, in dessen Nacken sich ge rade der Degen des Matadors gesenkt hat und der eigentlich schon tot ist, ohne es zu wissen. Aus den Augenwinkeln sah Lilith, daß nicht einmal der jähe Aderlaß seine Erektion abschwächen konnte. Nein, dieser Mann gefiel ihr wirklich. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihm nach dem Ende ihrer Mahlzeit
die Erinnerung an ein phantastisches Sexerlebnis zu suggerieren. Jetzt überlegte sie es sich anders und löste den Gürtel seiner Hose.
* Als die Stimme in der Gepäckhalle ihren falschen Namen rief, hatte sie im ersten Moment geglaubt, es sei noch einmal Kostarski. Aber dann war ihr klargeworden, daß die Stimme ganz anders klang – jünger. »Helen Takahashi!« Inmitten des Gewimmels der Fluggäste, die mit ihren Koffern und Taschen vom Förderband wegstrebten, erspähte sie einen rothaari gen jungen Mann, der sich mit rudernden Armen zwischen den an deren Fluggästen hindurchdrängte und sich dabei zielstrebig auf sie zubewegte. Er war kaum älter als sie selbst – das heißt, kaum älter als Helen Takahashi –, und er machte einen ungeheuer britischen Eindruck auf Lilith. Vielleicht lag es am Schnitt seines auf liebens werte Weise jungenhaften Gesichts, vielleicht aber auch an der um eine Spur zu betont auf Understatement hin ausgesuchten Kleidung unter seinem offen getragenen Trenchcoat: grüne Cordhose, grünbeigebraunes Tweedjackett, dazu Hemd, Pullover und Krawatte. Auf jeden Fall ein junger Mann aus bester Familie. Wahrscheinlich hatten irgendwelche seiner Vorfahren eigenhändig dabei geholfen, die überschüssigen Frauen Heinrichs des Achten zu köpfen, und waren dafür in den erblichen Adelsstand erhoben worden. Soviel meinte Lilith auf einen Blick erkennen zu können. Im übri gen hatte sie nicht die geringste Ahnung, wer dieser Junge war und was er von ihr wollte. Nein – letzteres stimmte nicht. Im Grunde gab es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war er ein alter Freund (oder womöglich Liebhaber?) von Helen Takahashi, der sich zufällig hier
aufhielt und sich nun auf einen kleinen Plausch zwischen den Flü gen freute, oder er gehörte zu den Satansjüngern, die sich hier am Schwechater TLC-Schalter treffen wollten, um gemeinsam zu einem noch unbekannten Ziel weiterzureisen – dorthin, wo jener mysteri öse Leander Satanas die Welt mit seinem Erscheinen zu »beglücken« gedachte. »Wie schön, dich wiederzusehen. Es ist so lange her!« Er sprach ein wunderschönes, singendes Englisch, wie Lilith es bisher nur in Fernsehsendungen über das britische Königshaus gehört hatte. »Aber sag, wo hast du Nobosuke gelassen? Ihr seid doch bestimmt zusammen geflogen, oder nicht?« Nobosuke? Wer zum Teufel war Nobosuke? Mit einem Mal hatte Lilith das Gefühl, daß sie keineswegs so gut darauf vorbereitet war, die Rolle Helen Takahashis zu spielen, wie sie bisher geglaubt hatte. »Ich freue mich auch.« Lilith legte alle Wärme in ihre Stimme, de rer sie fähig war, und verzog den Mund zu einem kleinen, aber charmanten Willkommenslächeln, das ihrem Gegenüber geschickt die Verantwortung für den nächsten Zug in diesem Spiel überließ. Je nachdem, wie er zu ihr stand, konnte er sie angesichts dieses Lä chelns verliebt in die Arme schließen oder aber ihr einfach nur über schwenglich die Hand schütteln. Der junge Mann überraschte sie dadurch, daß er keines von bei dem tat. Statt dessen blieb er einen halben Schritt vor ihr stehen, hob verblüfft die Augenbrauen und winkelte den linken Arm auf Brust höhe waagerecht an. Dann stützte er den rechten Ellbogen in die lin ke Handfläche und führte die rechte Hand zum Mund, so daß das zweite Glied seines Zeigefingers leicht die Unterlippe berührte. »Laß dich erst mal anschauen«, sagte er in einer Mischung aus Un sicherheit und Freude. »Irgendwas … ja. du hast dich verändert. Aber ich weiß noch nicht, wie. Laß mir einen Moment Zeit … Ich komme gleich darauf.«
Lilith begriff sofort, was geschehen war. Auf eine gewisse Entfer nung hin hatte ihre Maske ausgereicht, um ihn zu täuschen. Aber am Ende war sie doch nicht perfekt genug. Jetzt, da er sie aus der Nähe sah, merkte er, daß etwas nicht stimmte – daß die Person, die da vor ihm stand, nicht Helen Takahashi war. Auf jeden Fall lief das hier alles gründlich schief. Und darum ent schloß Lilith sich blitzartig, ihren ursprünglichen Plan umzuwerfen und etwas zu tun, das sie eigentlich hatte vermeiden wollen: näm lich, ihre suggestiven Fähigkeiten gegenüber einem Mitglied der Le ander Society einzusetzen. Für einen außenstehenden Beobachter mußte es wie eine zärtliche Begrüßungsgeste wirken, als sie mit einer raschen Bewegung die rechte Hand ausstreckte und sie sanft auf die Wange ihres Gegen über legte. Im ersten Augenblick zuckte er unter der überraschen den Berührung leicht zusammen, aber dann wurde er ganz ruhig. »Nein, ich habe mich nicht verändert«, soufflierte Lilith ihm mit halblauter Stimme. »Nur deine Erinnerung ist fehlerhaft. Du mußt sie korrigieren. Ich habe immer so ausgesehen, wie ich jetzt aussehe. Ich bin immer so gewesen, wie ich jetzt bin. Das ist doch richtig, oder?« »Ja, das ist richtig.« Die Stimme des jungen Engländers klang ein bißchen wie die eines Computers, der keine Gefühle empfindet, son dern nur seiner Programmierung folgt. »Du hast immer so ausgese hen, wie du jetzt aussiehst. Du bist immer so gewesen, wie du jetzt bist. Ich habe mich nur falsch erinnert.« »So ist es recht. Und jetzt sag mir, wer du bist und woher wir uns kennen.« »Ich heiße Nicholas Rhodes. Wir haben uns auf der letzten Jahres versammlung der Society in Turin kennengelernt.« »In welchem Verhältnis stehen wir zueinander?«
»Ich bin in dich verliebt, aber du betrachtest mich nur als Freund. Allerdings haben wir bei einer der Messen miteinander geschlafen. Jedenfalls glaube ich das, weil ich mir sicher bin, deinen Körper trotz der Maske erkannt zu haben.« Lilith hielt sich nicht damit auf, diese Informationen genauer zu analysieren. Dazu blieb ihr in den nächsten Stunden immer noch Zeit. Statt dessen fragte sie rasch weiter, bevor irgendeiner der Um stehenden auf Nicholas’ starre Haltung oder den merkwürdigen In halt ihrer Unterhaltung aufmerksam wurde. »Wer ist Nobosuke? Wie heißt er mit vollem Namen?« »Nobosuke Otami ist dein Liebhaber. Er lebt wie du in Tokio und arbeitet dort als Manager bei einem großen Automobilkonzern.« O verdammt. Noch mehr Probleme! Von diesem Scheiß-Liebhaber hatte Helen Takahashi ihr nichts gesagt. Aber andererseits hatte Li lith sie natürlich auch nicht danach gefragt, weil ihr eine solche Möglichkeit überhaupt nicht in den Sinn gekommen war. Lilith frag te sich mißmutig, was wohl geschehen würde, wenn Otami seine Geliebte in somnambulem Zustand zu Hause vorfand und bei dieser Gelegenheit feststellte, daß ihr Paß und ihr Flugticket verschwunden waren … »Letzte Frage: Ist Nobosuke ebenfalls Mitglied der Society?« Trotz des hypnotischen Einflusses, unter den Lilith ihn gesetzt habe, stahl sich so etwas wie ein Ausdruck der Verwirrung in das Gesicht des jungen Engländers. »Ja, natürlich. Deswegen habe ich mich doch auch gewundert, ihn nicht bei dir zu treffen.« Na super. Also würde er nicht nur Helen Takahashis Paß und ihr Ticket vermissen, sondern auch ihre Einladungskarte zum großen Satanistentreffen mit Orgien und Gruppensex. Oder war er womög lich unabhängig von Helen auf dem Wege hierher? Ach, egal, Ärger würde es so oder so geben.
»Du vergißt dieses Gespräch, sobald ich die Hand von deiner Wange nehme.« »Ich vergesse dieses Gespräch, sobald du die Hand von meiner Wange nimmst.« Und genau das tat sie dann auch. »Nobosuke?« fuhr sie im Plauderton fort. »Der kommt direkt aus den Staaten. Seine Firma hat ihn hingeschickt, und er wollte nicht erst den Umweg über Tokio nehmen.« »Ach, deswegen.« Nicholas Rhodes ließ die Hand, die er die ganze Zeit vor das Kinn gehalten hatte, sinken und verzog den Mund zu einem seltsam befangenen Lächeln. »Ach, Helen, es ist einfach schön, dich wiederzusehen. Und du hast dich eigentlich überhaupt nicht verändert. Einen Augenblick lang dachte ich …« Er verstumm te, trat einen Schritt zurück und ließ seinen Blick bewundernd über ihre schlanke Gestalt gleiten. »Ja, natürlich«, sagte er zu Liliths Er schrecken dann. »Du hast dich doch verändert, und dafür gibt es nur eine Erklärung …« He, was ist denn jetzt los? dachte Lilith. War Rhodes gegen die hypnotische Beeinflussung immun? »… nämlich die: Du mußt in den letzten Monaten noch schöner geworden sein!« O verdammt, er wollte nur mit ihr flirten! »Nicholas, du bist ein alter Süßholzraspler.« Sie schenkte ihm das verheißungsvollste Lächeln, zu dem sie fähig war. »Und ich freue mich wirklich, dich zu sehen. Sag mal, warst du schon am TLCSchalter? Weißt du, wie es von hier aus weitergeht?« Nicholas nickte. »Transfer nach Bukarest mit einer Chartermaschi ne der TLC.« Er beugte sich vor und griff nach der Reisetasche, die sie immer noch in der linken Hand hielt. »Komm, gib mir dein Ge päck. Mein Ticket habe ich schon, aber deines müssen wir noch ab
holen.« Bereitwillig hakte sie sich in den Arm ein, den er ihr zögernd bot, und folgte ihm quer durch die Gepäckhalle. Durch die Kleidung hindurch konnte sie deutlich spüren, daß er nur aufgrund der leich ten Berührung, mit der ihre Hand auf seinem Unterarm lag, am gan zen Leibe erschauerte. Und ihr wurde klar, daß das hier vielleicht die intimste Berührung war, die sie ihm jemals in der wirklichen Welt, der Tagwelt der bürgerlichen Normalität, gewährt hatte. In ei ner anderen, der unwirklichen Nachtwelt der Schwarzen Teufels messen und der rituellen Orgien, hatten er und Helen miteinander den wildesten Sex gehabt. Aber seltsamerweise schien das für ihn nicht wirklich zu zählen. Innerlich seufzte Lilith. Menschen waren seltsame Wesen.
* Tokio, Gegenwart Mit dröhnenden Kopfschmerzen und einem scheußlichen Ge schmack im Mund wachte Helen Takahashi auf. Langsam hob sie den Kopf und blickte sich um. Im ersten Augen blick hatte sie keine Vorstellung davon, wo sie sich befand, doch dann begriff sie, daß sie nackt und blutbeschmiert auf dem Kellerbo den vor dem umgedrehten Kreuz lag, an dem sie die im Tempelgar ten gefangene Katze geopfert hatte. Die schwarzen Altarkerzen rechts und links des Kreuzes waren in zwischen heruntergebrannt und erloschen, und auch das stete Trop fen des Blutes in den entweihten Kelch schien aufgehört zu haben. Die Katze, jetzt längst ausgeblutet und erkaltet, hing immer noch am
Kreuz. Ihr Kopf war seltsam nach hinten verdreht, fast so, als habe man ihr das Genick gebrochen. Helen griff nach dem runden, be pelzten Schädel und drehte ihn ein paarmal hin und her. Tatsäch lich: In ihrer Trance mußte sie der Katze den Hals umgedreht haben – was mehr als seltsam war, denn so etwas hatte sie noch nie ge macht, bei keiner der fünf oder sechs Dutzend Katzen, die sie hier unten schon geopfert hatte, seit sie Mitglied der Leander Society war. Natürlich konnte man nie im voraus wissen, wie man sich in einer solchen Trance verhielt. Aber seltsam war es doch … Mühsam rappelte sie sich hoch. Ihr war entsetzlich schwindelig, und sie fror so heftig, daß ihre Kiefer wie im Schüttelfrost aufeinan derschlugen. Halb blind vor Benommenheit taumelte sie zur Tür, die Treppe hinauf und in ihr Schlafzimmer. Die Schweinerei unten im Keller konnte sie ja später immer noch beseitigen. Wie sie zu ihrem Futon gekommen war, wußte sie später nicht mehr zu sagen. Zeit verstrich. Helen Takahashi schlief, einen Schlaf, der anfangs mehr einer Bewußtlosigkeit ähnelte und dann, mit zunehmender Dauer, immer mehr von entsetzlichen Träumen erfüllt wurde – Träumen, in denen eine gräßliche Dämonengestalt (ihre Vorstellung von Leander Satanas, nur diesmal seltsamerweise mehr Frau als Mann) sie in allen möglichen Positionen vergewaltigte, dann mit hauerartigen Zähnen zerriß und anschließend wieder hohnlachend zum Leben erweckte, nur um sie immer aufs neue, bis in alle Ewig keit, zu schänden. Minuten oder Stunden mochten vergangen sein, als eine Tür sich öffnete. Zögernde Schritte erklangen auf Holzdielen, dann eine ferne Stimme, die mehrmals fragend »Helen? Helen?« rief, als rechne sie im Grunde nicht mit einer Antwort. Schließlich betrat jemand den Raum.
Das Geräusch ließ Helen Takahashi mühsam ein Auge öffnen. In der Tür zeichnete sich schattenhaft eine schwarze Gestalt vor dem Tageslicht ab. Unwillkürlich stieß die Eurasierin ein paniker fülltes Keuchen aus, zog die Knie ganz dicht an den Körper und schlang die Arme in einer instinktiven Abwehrbewegung darum. »Helen …!« Sie wimmerte. »Ich bin’s, Nobosuke. Was ist geschehen?« Sie spürte, wie sein Blick über ihre embryonal zusammengekrümmte, zitternde und im mer koch blutverschmierte Gestalt wanderte, als könne er dadurch herausfinden, was sich im Haus abgespielt hatte. Ganz allmählich begann sie wieder ins Reich der Normalität zu rückzukehren. »Nobosuke? Was … was machst du hier?« »Nachschauen, was los ist«, sagte ihr japanischer Liebhaber tro cken. Er hockte sich neben den Futon hin und legte behutsam einen Arm auf ihr Handgelenk. Im ersten Augenblick zuckte Helen vor der Berührung zurück, aber dann entspannte sie sich und ließ es zu, daß er sie vorsichtig in die Arme schloß. Dabei schien es ihm egal zu sein, daß das getrocknete Katzenblut von ihrem nackten Körper häßliche rote Flecken auf seinem eleganten weißen YamamotoJackett hinterließ. »Warum bist du denn nicht geflogen? Hast du auf eine andere Maschine umgebucht?« Sie runzelte die Stirn. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, daß durch Nobosukes Ankunft alles wieder einfacher und klarer werden würde, aber jetzt brachten seine Worte alles nur noch mehr durch einander. »Geflogen?« flüsterte sie verwirrt. »Was … was meinst du damit? Wohin hätte ich fliegen sollen?« Nobosuke starrte sie verständnislos an. »Aber … nach Wien natür
lich. Zum Treffen.« Und als er ihren völlig leeren Blick sah: »Leander Satanas adveniet, du weißt doch. Die Einladung …« Aus Helens Augen sprach jetzt nur noch grenzenlose Qual. »Lean der Satanas adveniet. natürlich«, sagte sie stumpf. »Aber … aber … ist es denn schon soweit? Ist denn tatsächlich eine … eine Einladung gekommen?« Nobosuke drückte sie mit einem harten Ruck, der beinahe weh tat. an sich. »Aber natürlich ist die Einladung gekommen. Wir gehören zu den 666 Auserwählten, das mußt du doch wissen. Du bist Num mer 42 und ich Nummer 96. Du wolltest heute morgen fliegen, um acht Uhr, das heißt, vor –« Er blickte auf seine Armbanduhr. »– vor gut zwei Stunden. Ich wollte nachmittags nachkommen, da ich noch einen dringenden Auftrag für die Firmenleitung zu erledigen hatte. Gestern war ich hier, um dir das Flugticket zu bringen. Als ich weg fuhr, hast du es zu deinem Reisepaß und der Einladungskarte ge legt, dort auf den Schreibtisch.« Er sprang auf und trat an den Tisch. Seine suchende Hand griff ins Leere. »Sie sind weg«, sagte er verständnislos. »Wo hast du sie hingelegt? Oder … hat jemand anders sie weggenommen?« Helen schüttelte den Kopf. »Ich habe immer noch keine Ahnung, wovon du sprichst. Daß du gestern da warst, daran erinnere ich mich, aber an das übrige nicht … Wieso bist du eigentlich jetzt noch einmal hergekommen?« »Du wolltest dich vor dem Abflug noch telefonisch bei mir mel den. Als das nicht geschah, habe ich mehrmals versucht, hier anzu rufen, aber du bist nie drangegangen. Als ich um acht Uhr immer noch nichts von dir gehört hatte, wurde ich langsam nervös.« Sein Blick schweifte zwischen Helen und der leeren Schreibtischplatte hin und her. »Scheint, als hätte ich mit meinen Vorahnungen recht gehabt.«
»Aber was bedeutet das alles, Nobosuke?« flüsterte Helen. »Wieso habe ich die Einladung vergessen? Wie konnte ich sie vergessen? Und wenn tatsächlich jemand hier im Haus war …« Plötzlich fuhr sie hoch. »Die Katze! Irgend jemand hat der Katze den Hals umge dreht!« Otami ließ sich neben ihr in die Hocke sinken. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das alles bedeutet«, sagte er müde. »Aber eines weiß ich: Die Leander Society muß davon erfahren. Und wir haben noch genug Zeit, um dir einen Ersatzreise paß und einen Platz in meiner Maschine zu besorgen, auch wenn uns das ein paar Yen kosten wird.«
* Prag, Altneuschul, Ende März 1939 Behende kletterte Benjamin Loew die letzten der achtzehn Eisen sprossen hinauf, die 1880, nach dem großen Ringtheaterbrand, auf Anordnung der Prager Feuerpolizei an der Außenseite der Altneu schul angebracht worden waren. Vorher, überlegte er, war es wahrscheinlich noch schwieriger ge wesen, hier heraufzukommen. Oder vielleicht sogar unmöglich. Selbst heute noch war die Kletterei ein keineswegs ungefährliches Unterfangen. Ganz oben, praktisch schon auf Höhe der Dachkante, beschrieb der Verlauf der Sprossen sogar noch einen kräftigen Schwenk nach links. Benjamin schluckte. Wenn er jetzt eine verfehl te, wie tief würde er dann fallen? Einen Augenblick lang überkam ihn das Bedürfnis, nach unten zu sehen, um die Höhe schätzen zu können, aber dann verkniff er es sich wohlweislich. Besser, er klet
terte einfach so weiter. Auf keinen Fall durfte ihm jetzt schwindelig werden! Mit einer letzten entschlossenen Anstrengung hangelte er sich an der Krümmung entlang und schwang sich mit einem Ruck in die Mauernische, in der sich der einzige Zugang zum Dachboden der Synagoge befand. Es war eine Eisentür, und natürlich war sie versperrt. Doch Benja min hatte einen Schlüssel – jenen Schlüssel, den auch sein Vater da mals im Jahre 1915 schon benutzt hatte. Es war ein unförmiges Stück Eisen, über und über verrostet, und er knirschte so laut im Schloß, daß Benjamin einen Augenblick lang Angst bekam, er werde darin abbrechen. Aber dann ertönte ein schnappendes Geräusch, und das Schloß war offen. Nicht so die Tür. Mit einem an diesem Ort recht unpassenden Fluch keilte Benjamin sich in der Nische fest und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Zuerst benötigte er seine ganze Kraft, um sie auch nur einen Spalt weit aufzudrücken, aber dann, als der erste Widerstand über wunden war, schwang sie plötzlich ganz nach innen auf, so daß er fast über die Schwelle gefallen wäre. Benommen rappelte er sich wieder auf. Hier drinnen war es stockfinster, doch Benjamin hatte nichts ande res erwartet. Es gab zwar ein paar Fenster, aber die waren vom Staub und Schmutz der Jahrhunderte so blind geworden, daß sie höchstens bei Tage ein bißchen graues Dämmerlicht hereingelassen hätten. Jetzt, um diese Zeit, da draußen nur die Sterne glitzerten, waren sie völlig nutzlos. Aber eines nach dem anderen. Später würde er noch genügend Zeit haben, sich umzusehen. Im Augenblick mußte er erst einmal den anderen helfen.
Benjamin legte den Sack beiseite, den er über die Schultern ge schlungen trug, und machte sich ans Werk.
* In der Stille des Dachbodens wirkte das Keuchen der fünf alten Männer übermäßig laut. »Schließt die Tür«, flüsterte Moses Pelz. Auch sein Atem ging im mer noch stoßweise. »Ich will die Lampe anzünden.« Augenblicke später tauchte der warme gelbe Schein einer mitge brachten Sturmlaterne den Dachboden in freundlicheres Licht. Ein erstauntes »Ah!« ging durch die Gruppe, und auch Benjamin Loew konnte sich eines leisen Ausrufs der Überraschung nicht er wehren. Zwar war er – im Gegensatz zu den anderen – schon einmal hier oben gewesen, aber das lag vierundzwanzig Jahre zurück, und damals hatte er mehr auf die Worte seines Vaters und dann auf die beeindruckende Erscheinung des Golems geachtet als auf die Form des Raumes. Dabei war der Dachboden der Altneuschul wirklich eine merk würdige Konstruktion. Er hatte die Form einer spitzen Pyramide, aber niemand hatte sich je die Mühe gemacht, einen ebenen Boden einzuziehen. Statt dessen wurde der Fußboden einfach von den stei nernen Gewölben gebildet, die die Decke des Betraumes formten, so daß das Ganze beinahe aussah wie die Wellen eines versteinerten Meeres. Vom Eingang her führte nur ein vermodertes Brett, das wenig ver trauenerweckend wirkte, tiefer in den Raum hinein. Benjamin hütete sich, den Fuß darauf zu setzen. Glücklicherweise war der Schotter in den Vertiefungen zwischen den Buckeln durch Kalkstaub und
Feuchtigkeit zu einer harten Masse verbacken, so daß er mit etwas Vorsicht durchaus begehbar erschien. Andernfalls, dachte Benjamin, wäre es ihnen damals ja auch gar nicht möglich gewesen, die zent nerschwere Kiste mit dem Golem zum Ausgang zu transportieren. »Und wo soll hier der Golem sein?« erkundigte sich der kleine Na than Fink mißtrauisch. Es waren die ersten Worte, die er während des ganzen Abends gesprochen hatte. »Ich jedenfalls sehe keine Spur von ihm. Bist du dir wirklich sicher, Benjamin, daß …« »Kommt einfach mit, aber seid vorsichtig. Man kann hier sehr leicht stürzen.« Benjamin schulterte den Sack und leuchtete den Greisen. Im Gänsemarsch stolperten sie los, hinüber zur anderen Seite des Raumes. Hinter einer kleinen Mauer, halb unter Schutt begraben, stand dort eine uralte Holzkiste. Sie war etwas größer als ein Sarg und so solide gezimmert, daß sie wie für die Ewigkeit gemacht wirkte. »Das da?« Aus Moses Pelz’ Stimme klang nur mühsam unter drückte Erregung. »Das da«, bestätigte Benjamin. Er wandte sich zu Aaron Silberberg um. der ihm am nächsten stand. »Hier, halt mal die Lampe.« Als er die Hände frei hatte, begann er, den Schutt beiseite zu räu men, der auf dem Deckel der Kiste lag. »Mein Vater und ich haben die Kiste nicht wieder versiegeln können, weil das Siegel des Hohen Rabbi Löw nicht mehr im Besitz der Familie ist. Aber wir haben sie wenigstens wieder fest zugenagelt«, erklärte er seinen Begleitern, während er sich die Hände an der Hose abklopfte und nach dem Brecheisen griff, das Moses Pelz ihm hinhielt. »Hau-ruck … hau-ruck …« Ein paar kräftige Hebelbewegungen, und der Deckel sprang auf. Sofort drängten sich die Männer dichter um die Kiste. Und da lag er – der Golem. Ein großer grauer Klotz, mehr als zwei
Meter groß und mit ungeschlachten Gliedmaßen. Wäre er ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen, hätte er sicher mehr als drei hundert Pfund gewogen; da er aus Lehm bestand, vermochte Benja min sein Gewicht nicht zu schätzen. Er erinnerte sich nur, daß er un geheuer schwer gewesen war. Genauso grobschlächtig wie der Körper war auch das Gesicht, eine Maske aus grobporigem grauem Lehm, die mit den aufgewor fenen Lippen und den dicken, übermäßig ausgeprägten Brauen wülsten an ein urzeitliches Götzenbild erinnerte. Die Augen darun ter standen offen, aber es war kein Ausdruck darin. Am ehesten wirkten sie noch wie Glasmurmeln, die von einer dünnen Staub schicht überzogen waren. Benjamin wußte allerdings, daß es keinen Sinn hatte, diese Staub schicht wegwischen zu wollen. Als Knabe hatte er es versucht, aber es war ihm nicht gelungen. Nein, wenn diese Augen jemals wieder lebendig glänzen sollten, dann nur vermittels kabbalistischer Magie! Die ersten leisen Ausrufe des Erstaunens waren inzwischen ver stummt. »Wir sollten beginnen«, sagte Moses Pelz mit schwankender Stim me. Selbst für ihn war es ein Wunder, dieses Geschöpf endlich mit eigenen Augen zu sehen und nicht nur in irgendwelchen uralten Texten anderer Gelehrter darüber zu lesen. »Was müssen wir tun?« »Ich werde es euch erklären«, beruhigte ihn Benjamin. Er griff nach dem Sack, den er neben der Kiste abgestellt hatte, und holte schwere goldene Kerzenleuchter, geweihte Sabbatkerzen, allerlei Räucherwerk und eine mit einer Kordel verschnürte Schriftrolle dar aus hervor. »Nach meiner Bar-Mizwa«, berichtete er, »machte mein Vater sich daran, mir die Rituale beizubringen, die nötig sind, um den Golem zu erwecken. Er bediente sich dazu dieser alten Schriftrolle, in der
Rabbi Löw den Vorgang seiner Erweckung genau beschrieben hat. Denn es ist nicht damit getan, ihm das magische Zeichen auf die Stirn zu schreiben. Nein, viel Komplizierteres ist dazu nötig, und das magische Schriftzeichen ist nur der Höhepunkt und Abschluß des ganzen Rituals.« »Von dieser Rolle habe ich schon gehört«, nickte Moses Pelz. »Sie wird in den alten Texten erwähnt. Aber es heißt, es seien bestimmte Worte darin ausgelassen.« Benjamin Löw nickte. »Das stimmt. Diese Worte werden seit den Zeiten des Maharal in unserer Familie mündlich überliefert. Mein Vater brachte sie mir als letztes bei, und ich habe sie noch niemals laut ausgesprochen. ›Das‹, so sagte mein Vater, ›darfst du erst dann tun, wenn du das Ritual wirklich ausführst, nicht, wenn du es nur einstudierst.‹ Und einstudieren mußte ich es, o ja! Woche für Woche ließ er es mich vorführen, stets in einem Kellerraum unseres Hauses, auf dessem Boden die Gestalt des Golems mit geweihter Kreide ge malt war. Bis er starb, habe ich es wohl hundertmal ausgeführt – aber immer ohne die geheimen Worte. Nun werde ich sie wohl zum ersten und vielleicht einzigen Mal tatsächlich aussprechen.« »Und was sollen wir …?« »Ihr werdet dazu talmudische Gebete sagen, die ich euch nenne. Außerdem müßt ihr den Golem auf eine genau festgelegte Weise umschreiten und ihn im Namen der vier Himmelsrichtungen und der vier Elemente segnen. Die genauen Anweisungen gebe ich, so bald es so weit ist.« Der Rabbi und die anderen Greise nickten feierlich. »Dann laßt uns beginnen«, sagte Moses Pelz endlich. »Und gebe Gott, daß wir weise damit handeln.«
*
Ein paar Stunden nach dem Überfall auf die deutsche Patrouille hat ten Leanders Vampire sich in einen wahren Blutrausch hineingestei gert. Ihre Spur zog sich wie eine rote Schneise durch die Josephstadt. In der Maske der Besatzer drangen sie in Dutzende von Häusern ein und versetzten deren Bewohner in Angst und Schrecken. Manche vom ihnen saugten sie gleich an Ort und Stelle aus, andere nahmen sie angeblich »zum Verhör« mit und rissen sie irgendwo in dunklen Hauseingängen oder in den Kellern leerstehender Häuser. Ihr von Panik aufgepeitschtes Blut fanden sie besonders köstlich. Die Uhr am alten jüdischen Rathaus zeigte eine Stunde nach Mit ternacht, als die Vampire endlich in die Gasse einbogen, an der auch die Altneuschul lag. Beides, das Rathaus und die Schul – was ja nichts anderes als Syn agoge hieß –, gehörten zu den wenigen Gebäuden, die die ab 1893 er folgte »Assanierung« des alten Judenghettos unversehrt überstan den hatten. Die Schul selbst war eines der ältesten jüdischen Gottes häuser in Europa – ein schlichter gotischer Bau aus dem 13. Jahrhun dert, rechteckig, kaum größer als ein Wohnhaus und von einem steil aufragenden Satteldach gekrönt. Von seinen früheren Besuchen in Prag her wußte Leander, daß sich ein ganzer Kranz von Mythen und Legenden um sie rankte. Eine davon berichtete zum Beispiel, sie sei aus Steinen des zerstör ten Jerusalemer Tempels erbaut worden, die die Engel durch die Lüfte hierher getragen hätten. Eine andere, vielleicht die berühmtes te, war jene vom sagenhaften Rabbi Löw und seinem künstlich er schaffenen Schammes – die Sage vom Golem, der angeblich seit dem 16. Jahrhundert droben auf dem Dachboden der Schul in magischem Schlaf ruhen sollte.
Als Leander dieses uralte Märchen wieder einfiel, hob er unwill kürlich den Blick nach oben, zum Giebel der Synagoge. Und erstarrte mitten im Schritt. Über Metallsprossen, die in die Giebelwand eingelassen waren, kamen mehrere Männer heruntergeklettert. Mit einem Handzeichen bedeutete Leander seinen Begleitern, ste henzubleiben. Dann schaute er noch einmal hin, diesmal etwas ge nauer. Verblüfft stellte er fest, daß es sich um fünf steinalte jüdische Grei se handelte, die diese Klettertour offenbar nur mit allergrößter Mühe absolvierten. Ja, es war geradezu ein Wunder, daß keiner von ihnen dabei abstürzte. Als sie endlich, mit Ächzen und Stöhnen und vielerlei Verrenkungen, den sicheren Boden erreicht hatten, folgte ihnen ein ungeschlachter Klotz von Mann, unter dessen enormem Gewicht die Metallsprossen aus der Wand zu reißen drohten. Ob danach noch jemand kam. darauf achtete Leander schon gar nicht mehr. Er stellte sich auch nicht die Frage, was die Männer dort oben, auf dem Dachboden, gewollt haben mochten und ob ihr Be such dort vielleicht etwas mit den alten Legenden zu tun haben könnte, an die er eben noch gedacht hatte. Sein vom Blutdunst umnebeltes Gehirn beherrschte statt dessen nur noch ein Gedanke: Diesen Riesenkerl da muß ich haben. Sein nächstes Signal an die Sippe war eindeutig: Bleibt in Deckung, bis sie alle unten sind. Und dann holen wir sie uns. Reglos, mit vor Gier glitzernden Augen, lauerten die Vampire in den Schatten der Gasse.
*
Selbst jetzt, als Benjamin Loew schon wieder die Eisensprossen an der Außenmauer der Altneuschul hinunterkletterte, konnte er es im mer noch nicht richtig fassen. Das, was da oben auf dem Dachboden der Synagoge geschehen war, kam ihm wie ein Traum vor, wie der Stoff einer weiteren Legende, die man sich eines Tages über den Go lem erzählen würde. Über den Golem und ihn, Benjamin Loew. Aber er träumte nicht. Ausgerechnet ihm, dem unbedeutenden kleinen Schuhmacher, war es gelungen, den Golem wiederzuerwe cken, und es war nicht einmal so besonders schwer gewesen. Sicher, trotz des vielen Übens unter Anleitung seines Vaters hatte es Momente gegeben, in denen er gestockt und nicht mehr weiterge wußt hatte. Aber gerade in diesen kritischen Augenblicken war ihm etwas Seltsames widerfahren. Da hatte er plötzlich das Gefühl ge habt, als sei er bei dem Ritual nicht mehr allein – als seien mindes tens noch zwei weitere Personen anwesend, die ihm wohlwollend über die Schultern blickten und ihm an den entscheidenden Stellen halfen: sein Vater und der Hohe Rabbi Löw. Einmal – genau in dem Augenblick, als er die Silbe »An« vor die Silbe »Mauth« auf die Stirn des Golems geschrieben hatte – war es ihm sogar so vorgekommen, als habe jemand anders seine Hand ge führt, damit er nur ja keinen Fehler machte. Und vielleicht hatte der Golem ihn deshalb auch sofort, nachdem seine Augen sich mit Leben gefüllt hatten, als seinen Herrn und Meister anerkannt; als den einzigen, der ihm Anweisungen und Be fehle erteilen durfte. Auch Rabbi Pelz hatte es versucht, natürlich, aber es war ihm nicht gelungen. Nein – er, Benjamin Loew, hatte die Worte aussprechen müssen, damit der Golem sich langsam in Bewegung setzte und trotz seines immensen Gewichts mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit
zur Tür des Dachbodens hinüberbalancierte. Kein Zweifel: Der Golem war sein Schammes, sein Diener, auch wenn der Gehorsam des Formlosen letztlich nicht ihm persönlich galt. Er galt dem Maharal, dem Hohen Rabbi Löw, der in ihm, Ben jamin, nur ein weiteres Mal eine menschliche Gestalt angenommen hatte. Es war ein Gedanke, der ihn nicht beunruhigte, sondern ihm viel mehr ein Gefühl ungeheurer Sicherheit verlieh. Auf der untersten Sprosse stehend, warf Benjamin einen Blick hin unter auf den Golem, der, bewundernd umringt von den schwarz gekleideten alten Männern, am Fuß der Mauer auf ihn wartete. Was sollte er ihm als nächstes befehlen? Vielleicht … ja, am besten zu nächst einmal, daß er ihnen nach Hause, in die Werkstatt, folgte. Dort würde man beraten und in Ruhe weitersehen. Er war nur gespannt, wie Rachel auf die Erscheinung des Golems reagieren würde. Eben, als Benjamin dazu ansetzte, den letzten Meter bis zum Bo den hinunterzuspringen, stieß Nathan Fink plötzlich einen unter drückten Schrei aus und deutete an der Lehmgestalt vorbei in das Dunkel der Gasse. »Deutsche!« Alle Köpfe, außer dem des Golems, ruckten herum. O verdammt, Fink hatte recht. SS-Männer! Und gleich ein ganzes Kommando! Als die Uniformierten merkten, daß die Juden bei der Synagoge auf sie aufmerksam geworden waren, lösten sie sich aus dem Schat ten der benachbarten Häuser und begannen zu laufen – nein, nicht eigentlich zu laufen, sondern eher zu traben, mit merkwürdig federn den Sprüngen, die immer länger wurden und etwas hochgradig Un natürliches an sich hatten. So, dachte Benjamin, konnten Menschen
sich eigentlich gar nicht bewegen. »Der Herr steh uns bei!« stieß Moses Pelz ungläubig hervor. »Das sind Dibbuks!« Böse Geister hatte Benjamin Loew sich eigentlich immer ganz an ders vorgestellt, aber ihm blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, ob der Rabbi sich irrte oder nicht. Im nächsten Augenblick waren die falschen SS-Männer schon über ihnen. Einer – der vorauslaufen de – schnellte direkt an Moses Pelz vorbei und warf sich auf den Go lem. Seine im Sternenlicht blitzenden messerscharfen Zähne bohrten sich in den Hals der Lehmkreatur. Und dann ging alles blitzschnell. Ungläubig und vor Entsetzen wie erstarrt sah Benjamin, wie der Golem in sich zusammensackte. Da, wo er eben noch gestanden hat te, war von einem Augenblick zum anderen nichts mehr, nur noch ein graues, unscheinbares Häufchen Staub, das mit übernatürlicher Geschwindigkeit in alle Himmelsrichtungen verwehte. Der Dibbuk, der ihn angesprungen und gebissen hatte, stieß ein entsetzliches Ge heul aus. Im nächsten Augenblick verwandelte er sich in einen Wolf und hetzte davon, in die Schatten hinein, aus denen er, da noch in Menschengestalt, gekommen war. Die anderen Dibbuks schienen es nicht einmal zu bemerken. Die Mehrzahl von ihnen warf sich auf die schwarzgekleideten al ten Männer. Einer jedoch sprang mit einem wahren Tigersatz an der Wand der Synagoge hoch, krallte sich in der Kleidung des Schuh machers fest und riß ihn mit einem Ruck zu Boden. Dann schlug er seine spitzen Zähne in Benjamins Halsschlagader. Bevor die Schwärze der Bewußtlosigkeit über ihm zusam menschlug, hatte Benjamin nur noch Zeit für einen einzigen Gedan ken: Wir haben versagt.
Denn der Golem, die vielleicht einzige Hoffnung für die Juden Prags, existierte nicht mehr. Eben erst aus jahrhundertelangem Schlaf geweckt, war er durch den üblen Zauber eines Dibbuks binnen Sekunden zu Staub zerfallen und wieder in jene Nichtexistenz zu rückgekehrt, aus der der Hohe Rabbi Löw ihn einst heraufbeschwo ren hatte. Ein entsetzlicher Schmerz durchzuckte Benjamin. Dann spürte er nichts mehr. Fürs erste …
* Von Wien über Bukarest zur Burg, Gegenwart Nach dem Flug mit dem Luxusjet der Japan Airlines von Tokio nach Wien war der Flug mit der TLC-Chartermaschine von Wien nach Bukarest in etwa mit dem Umsteigen von einer Mercedes-Limousine in einen Ochsenkarren zu vergleichen. Die drei rumänischen Ste wardessen, die im übrigen kein Wort Englisch sprachen, gaben sich redliche Mühe, den Passagieren den Flug so angenehm wie möglich zu machen, aber dazu war die Maschine nicht nur viel zu alt und klapprig, sondern auch ganz einfach zu eng. An Bord – so hatte Lilith durch rasches Überschlagen im Kopf fest gestellt – mußten sich über zweihundert Personen jeglicher Nationa lität und Hautfarbe befinden, jeweils in etwa zur Hälfte Männer und Frauen. Offensichtlich war es die zweite von drei Maschinen, die die Leander Society für ihre Zwecke gechartert hatte. Wie Lilith aus ei nem beiläufigen Gespräch zwischen zwei TLC-Mitarbeitern am Schalter der Gesellschaft auf dem Flughafen Schwechat entnommen
hatte, war die erste schon vor ein paar Stunden nach Bukarest abge flogen; die dritte würde später folgen. Aber nicht nur wegen der qualvollen Enge herrschte eine seltsam angespannte Atmosphäre an Bord. Lilith merkte bald, daß alle ihre Mitreisenden krampfhaft versuchten, nicht über das eine Thema zu sprechen, welches sie in Wirklichkeit bewegte: die Ankunft jenes mysteriösen »Leander Satanas« auf der Erde und das, was daraus für sie und die übrige Menschheit folgen würde. Wahrscheinlich wußten sie letzteres selber nicht genau, und vielleicht war ihnen die Erwähnung des ganzen Themas vor Fremden sowieso streng verbo ten. Statt dessen sprach man über die gleichen Themen, über die sich auch die Teilnehmer einer x-beliebigen anderen Gruppenreise unterhalten hätten: Erinnerungen an frühere Treffen (darunter jenes in Turin, das Nicholas in seiner Trance erwähnt hatte), Berufliches, Familiäres, Fernsehserien, Popmusik … Lilith beteiligte sich nicht an diesen Unterhaltungen, sondern gab vor, in ihrem Sitz neben Nicholas eingeschlafen zu sein. Aber da sie die Ohren gespitzt hielt, entging ihr nicht viel von dem, was in ihrer Umgebung geredet wurde. Eines jedenfalls ging aus den verschiede nen Gesprächen eindeutig hervor: Das hier waren keine Arbeiter oder kleinen Angestellten. Es waren reiche Erben und Erbinnen (wie etwa Helen Takahashi), Jungunternehmer und Top-Manager, dazu Modeschöpfer, Models, Popstars und Werbefachleute beiderlei Ge schlechts, kurz: Menschen mit Geld. Lilith konnte sich vorstellen, daß die Mitgliedschaft in der Leander Society nicht ganz billig war. Ob man die Gesellschaft wohl auch für den Fall seines Ablebens als Alleinerben einsetzen mußte, wenn man ihr beitrat? Auszuschließen war es nicht. Und allmählich begann Lilith sich zu fragen, ob es für diesen Flug wohl ein Rückflugticket gab. Über diese Frage dachte sie immer noch nach, als die Maschine in Bukarest landete.
Seit der Eiserne Vorhang gefallen war, bestand zwar für Rumänien keine Visumspflicht mehr, aber insgeheim hatte Lilith doch mit eini ge Schikanen bei der Einreise gerechnet. Aber nichts dergleichen war der Fall. Für die Passagiere dieses Charterflugs gab es überhaupt keine Ein reiseformalitäten, ja nicht einmal eine Gepäckkontrolle. Statt dessen wurden sie direkt nach der Landung an der Gangway von mehreren jungen Männern mit maskenhaft starren Gesichtern in Empfang ge nommen und ohne Zwischenstopp durch das Flughafengebäude ge schleust, hinaus auf einen Parkplatz, wo in grauem Nieselregen drei uralte, klapprige Tatra-Busse aus tschechoslowakischer Produktion auf sie warteten. Die jungen Männer luden die größeren Koffer in die Gepäckabteile, scheuchten die Reisenden in die Busse hinein und schwangen sich dann hinter die Lenkräder. Die ganze Aktion, von der Gangway bis zur Abfahrt, dauerte kaum eine Viertelstunde. Diesmal gab Lilith nicht vor zu schlafen. Durch eines der Seiten fenster starrte sie hinaus in den Nieselregen. Draußen war alles grau in grau. Die Busse holperten über regennasse Straßen mit kindskopf großen Schlaglöchern, rechts und links gesäumt von unendlich häß lichen und traurigen Wohnblocks in Plattenbauweise. Es gab einigen Autoverkehr, aber die Wagen wirkten zumeist wie von Spucke und Draht zusammengehalten. Den deprimierendsten Anblick allerdings boten die Menschen, von denen bei diesem Wetter aber nicht viele unterwegs waren. Erspähte man einmal Passanten auf den Bürger steigen, wirkten sie abgehärmt und geduckt. Kaum einer von ihnen hob auch nur den Blick, um den vorüberratternden Bussen nachzu schauen. Draußen auf dem flachen Land nahm die allgegenwärtige Trostlo sigkeit keineswegs ab. Die Dörfer sahen aus, als wären sie schon vor Jahrzehnten von all ihren Bewohnern verlassen worden. Aber das konnte nicht stimmen, denn hin und wieder sah man bestellte Fel
der und mageres Vieh auf den Weiden. »Und hier, meine Damen und Herren«, sagte eine junge Frau in der Reihe vor ihnen im übertrieben begeisterten Tonfall einer Frem denführerin, »sehen Sie Transsylvanien – das Land ›hinter den Wäl dern‹, auch bekannt als das Land Draculas und der Vampire. Bitte beachten Sie die Ärmlichkeit und Blutarmut seiner Bewohner …« Während dieser Worte drehte sie sich halb zu Nicholas und Lilith um. Allerdings, das merkte Lilith sofort, galten ihre Worte keines wegs ihnen beiden, sondern im Grunde einzig und allein Nicholas. Ihr war die Kleine schon im Flugzeug dabei aufgefallen, wie sie mit Nicholas zu flirten versuchte. Sie hieß Sonja und stammte aus der Schweiz, ein extrem schlankes, fast magersüchtig wirkendes Mäd chen mit milchweißer Haut und hüftlangem, flammend roten Haar. Ihr durchscheinendes, fein geschnittenes Gesicht wäre schön gewe sen, hätte der dünnlippige Mund mit den spitzen weißen Zähnen nicht so unangenehm an den eines Raubfischs erinnert. Nach Liliths wohlerwogener Meinung war sie im Augenblick so läufig wie eine Hündin; aber gut, wenn es Nicholas gefiel … »Und einen Dracula hat es hier ja wirklich gegeben«, nahm Nicho las bereitwillig das Stichwort auf, »Vlad Dracul, der Bram Stokers Romanfigur seinen Namen geliehen hat. Aber der Dracula aus Sto kers Roman ist natürlich nur eine Phantasiefigur. Der echte Vlad war ein mittelalterlicher Fürst, der sein Land gegen eine Invasion der Türken verteidigte. Seine Feinde ließ er bei lebendigem Leibe pfählen, das heißt, sie wurden so auf einen zugespitzten Pfahl ge bunden, daß ihnen die Spitze durch eine gewisse untere Körperöff nung in den Leib drang und ihnen nach und nach die Eingeweide zerfetzte – ein extrem qualvoller und ziemlich langsamer Tod, wie es heißt.« Nicholas legte eine Kunstpause ein, um seinen Zuhörerinnen Gele genheit zu geben, sich das, was er beschrieb, im Detail auszumalen.
An Sonjas Gesicht konnte Lilith erkennen, daß die Rothaarige genau das tat – und daß ihr die Vorstellung gefiel. »Deswegen«, fuhr Nicholas fort, »gab man ihm auch den Bein amen ›der Pfähler‹.« Das Gespräch verursachte Lilith einen seltsamen Überdruß. Sie ließ sich in ihren Sitz zurücksinken, dachte an Beth und schlief so fort ein. Als sie erwachte, machten die Busse gerade an einer Tankstelle Halt. Das Land hier war deutlich gebirgiger als bei Bukarest – die ersten Ausläufer der Karpaten, wie Lilith vermutete. Über den Tanksäulen schaukelte ein rostiges Schild im Wind, dessen Auf schrift außer Lilith und den Busfahrern wahrscheinlich niemand an Bord der drei Busse lesen konnte: WEGEN BENZINMANGELS GESCHLOSSEN Für die drei Busse allerdings schien genügend Benzin da zu sein. Der Tankwart, der aus dem baufälligen Häuschen neben den Zapf säulen geschlurft kam, begrüßte die aussteigenden Busfahrer mit ei nem Handschlag, der auf seltsame Weise an das Erkennungszeichen eines Geheimbundes erinnerte. Dann tankte er voll, während er ein paar Worte mit den Fahrern wechselte, und verabschiedete sich mit dem gleichen auffälligen Händedruck wieder von ihnen. Eine Be zahlung verlangte er nicht. »Securitate«, sagte Nicholas leise. Lilith, die genau wie die meisten anderen Passagiere das Gesche hen draußen aufmerksam verfolgt hatte, wandte sich halb zu ihm um. »Was?« »Der Geheimdienst der Ceausescu-Regierung«, erläuterte Nicho las. »Für seine Grausamkeit berüchtigt. Sag bloß nicht, daß du den Namen noch nie gehört hast. Heute bilden sie hier so eine Art rumä
nische Mafia, oder aber sie operieren als Gangsterbanden im west europäischen Ausland, um Devisen zu beschaffen. Ich möchte wet ten, daß unsere Fahrer und der Tankwart dazugehören. Wenn du hier im Lande etwas erreichen willst, mußt du dich dieser Leute be dienen, sonst hast du nur endlose Scherereien. Ich denke, der Innere Zirkel hat ganz richtig gehandelt, daß er ihnen unsere Beförderung überläßt.« Es war das erste Mal, daß diese Bezeichnung im Zusammenhang mit der Leander Society fiel. Der Innere Zirkel. Lilith wagte nicht weiter zu fragen, weil sie nicht wollte, daß Ni cholas sich über ihre Unwissenheit wunderte. Aber sie hätte zu ger ne gewußt, was das für Leute waren, die diesen Inneren Zirkel bilde ten. Obwohl die Antwort für sie eigentlich auf der Hand lag …
* Die Busse kletterten immer höher in die Berge hinauf, über eine schmale, kurvige Straße, die diesen Namen oft kaum noch verdien te. Seitlich der Piste fielen die Hänge an manchen Stellen Hunderte von Metern steil ab, in Abgründe, deren Boden noch keines Men schen Fuß betreten haben mochte. Auf manchen Abschnitten der Straße lag Schnee, der selbst unter dem ständigen Nieselregen nicht wegtaute. Irgendwann, nachdem ihnen seit bestimmt einer Stunde keine Menschenseele mehr begegnet war, passierten sie eine provi sorische Straßensperre – einen Stacheldrahtverhau, an dem mehrere Männer mit Maschinenpistolen postiert waren. Und dann, noch ein paar Serpentinen weiter, konnten sie endlich ihr Ziel sehen. Ein lautes Aufkeuchen ging durch den Bus.
»Wow«, stöhnte die inzwischen nach einem längeren Nickerchen wieder erwachte Sonja und griff nach hinten über die Rückenlehne, um ihre rotlackierten Fingernägel tief in Nicholas’ Arm zu graben. »Ich glaube, ich träume!« Sogar Lilith, die in ihrem Leben schon eine Menge Dinge gesehen hatte, von denen Normalsterbliche nichts ahnten, kam das, was sie hier sah, beinahe wie ein Traum vor. Vor ihnen, meilenweit von jeder menschlichen Zivilisation ent fernt, erhob sich eine Burg aus schwarzem Gestein – ein regelloses, allem Anschein nach in alle Richtungen endlos weiterwucherndes Zyklopenbauwerk, das sich zwischen zwei steil aufragende Felsza cken schmiegte und von einer gewaltigen Wallmauer geschützt wurde. Auf das einzige Tor in dieser Mauer führte die Straße zu. Im Falle einer Belagerung hätte diese Bergfeste Tausenden von Menschen Platz bieten können. Wahrscheinlich war sie so gut wie uneinnehmbar – wenn überhaupt irgendein Feind sie in dieser Kar pateneinöde hätte finden und belagern können, ohne bereits beim Anmarsch an der Unwirtlichkeit der sie umgebenden Natur zu scheitern. Im Schrittempo fuhren die drei Busse durch das Tor in den Vorhof der Burg ein. Hier wurden die Reisenden zum erstenmal kontrolliert. Während die Busfahrer das Gepäck aus den Kofferräumen holten und es un ter einem Vordach zu einem Stapel aufschichteten, umringten mit MPs bewaffnete Männer mit den nun schon bekannten SecuritateEinheitsgesichtern die Busse und ließen sich von jedem, der aus stieg, den Paß und die Einladungskarte zeigen. Namen und Num mern verglichen sie sorgfältig mit einer Liste, bei der es sich um einen Computerausdruck zu handeln schien. Wer überprüft und abgehakt war, wurde mit der MP weiterge
winkt und konnte die Burg betreten. Nach wenigen Metern weitete der Gang hinter der Eingangspforte sich zu einer Halle, in der sicherlich tausend Personen Platz gefun den hätten. Als Lilith diesen wie für Titanen erbauten Raum betrat, stürmte eine solche Flut von Eindrücken auf sie ein, daß selbst ein so geschulter Verstand wie der ihre Mühe hatte, sie alle gleichzeitig zu verarbeiten. Ihre Mitreisenden, bei denen es sich ja schließlich nur um gewöhnliche Menschen handelte, hatten noch größere Probleme damit. Sie stießen sich aufgeregt flüsternd an, machten sich gegen seitig auf die großen, kirchenartigen Mosaikglasfenster an Seiten wänden und Stirnwand der Halle aufmerksam, auf die hohen Ge wölbe und die in schwarzem Stein gemauerten Pfeiler mit den Reli efs uralter, finster dreinblickender Ritter. Aber dann konzentrierte sich ihrer aller Aufmerksamkeit auf die Stirnseite des Saales, wo aus Holzbalken eine Empore errichtet worden war. Auf dieser Empore erhob sich vor einem schwarzen Samtvorhang ein verkehrt herum angebrachtes, übermannshohes Kreuz. Davor standen zwei ältere Männer, in ebenfalls schwarze Umhän ge gehüllt. Ihr Anblick durchfuhr Lilith wie ein elektrischer Schlag, obwohl er eigentlich keine Überraschung für sie darstellte. Bereits in Tokio hatte ihr Instinkt ihr beim Anblick des stilisierten Lilienkelchs auf der Einladungskarte gesagt, daß auf irgendeine mysteriöse Weise Vampire in die Geschäfte der Leander Society ver wickelt sein mußten. Sie hatte sich schon darüber gewundert, daß sie während der ganzen Reise bisher noch nicht einem davon begeg net war, ja nicht einmal einer Dienerkreatur. Die Angestellten am Schalter der TLC, die Piloten der Chartermaschine, die drei Stewar dessen, selbst die Busfahrer mit den maskenhaft starren Gesichtern und das Empfangskomitee unten im Burghof – das alles waren ganz normale Menschen gewesen, die routinemäßig ihre Jobs erledigten und offensichtlich keine Ahnung hatten, in wessen Auftrag sie tätig
waren. Hier nun aber waren sie: gleich zwei Vampire. Lilith konnte ihre wahre Natur so eindeutig spüren, als hätte sie ihre Fangzähne gese hen. Sie konnte nur hoffen, daß die beiden nicht ihrerseits merkten, daß auch in der Menge der Neuankömmlinge ein Vampir – oder, ge nauer gesagt, eine Halbvampirin – verborgen war. Glücklicherweise war es nicht wahrscheinlich. Wo zwei Vampire auftauchten, da wa ren andere nicht fern, und wenn die beiden tatsächlich einen Vam pir ganz in der Nähe spürten, dann würden sie es sicherlich darauf zurückführen, daß ein weiteres Mitglied ihrer eigenen Sippe sich mit im Raum aufhielt. Gerade die Anwesenheit der Vampire war es, die Lilith davor schützte, entdeckt zu werden. Nein, was Lilith in diesem Augenblick viel mehr beschäftigte, war etwas völlig anderes: nämlich die Tatsache, daß die beiden Vampire kei nerlei Schwierigkeiten mit dem Kreuz hatten, vor dem sie standen! Nor malerweise hätten sie sich in Krämpfen und mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden winden müssen. Aber nichts dergleichen; Sie standen ganz ruhig da, ja, einer von ihnen berührte das Kreuz sogar leicht mit der Hand, ohne zurückzuzucken, als habe er sich daran verbrannt. Wie war das möglich? Und dann plötzlich begriff sie, woran es lag. Dieses Kreuz war ein entweihtes christliches Symbol, ein »Satanskreuz«. Und der Kontakt mit einem solchen Zeichen machte selbst reinblütigen Vampiren nicht das geringste aus. Sie selbst hatte ja auch keinerlei Unbehagen inmitten all der umgedrehten Kreuze in Helen Takahashis Opferkel ler gehabt. Bisher hatte sie das auf eine natürliche Resistenz dank ih rer zur Hälfte menschlichen Herkunft zurückgeführt – etwa so, wie es ihr im Gegensatz zu reinrassigen Vampiren auch bei früheren Ge legenheiten möglich gewesen war, eine christliche Kirche zu betre ten. Jetzt wußte sie es besser. Die beiden Vampire oben auf dem Podest warteten, bis alle Rei
senden den Burgsaal betreten und sich gleichmäßig verteilt hatten. Dann trat der links stehende vor und hob in einer beschwörenden Geste die Arme. Allmählich trat Ruhe ein. »Arco«, flüsterte Nicholas mit seltsamer Ergriffenheit. »Liebe Freunde«, rief der Mann, den Nicholas »Arco« genannt hat te, mit weithin tragender Stimme, »auserwählte Mitglieder der Lean der Society – im Namen des Inneren Zirkels begrüße ich euch auf das herzlichste auf Burg Dracul.« Ein erregtes Raunen ging durch die Menge. Rings um sich sah Li lith vor Erstaunen aufgerissene Münder und hochgezogene Augen brauen, was ihr zeigte, daß ihre Mitreisenden von dieser Eröffnung genauso überrascht waren wie sie selbst. »Jawohl, Burg Dracul«, fuhr Arco fort. »Diese Festung war der letzte Rückzugsort jenes berühmten Fürsten Vlad Dracul, von dem ihr sicher alle gehört habt. Wie ihr wißt, hat er die Türken besiegt; deswegen hat er die Burg niemals benötigt. Bis zum Beginn der kommunistischen Herrschaft war sie im Besitz der Adelsfamilie, die noch Vlad selbst als Verwalter eingesetzt hatte. Während des Ceau sescu-Regimes wurde sie zu … äh … anderen Zwecken genutzt, aber nach seinem Sturz hat man sie dem Nachfahren der ursprüngli chen Eigentümer zurückgegeben – Graf Slawomir, der hier neben mir steht und der heute unser aller Gastgeber ist.« Applaus brandete auf, als der Graf grüßend in die Menge winkte. »Ihr alle wißt, warum ihr hier seid«, fuhr Arco nach einem Augen blick fort. »Das Ereignis, auf das wir alle seit so vielen Jahren gewar tet haben, dessen Eintreten wir alle durch unsere Gebete und Rituale zu beschleunigen versucht haben – dieses Ereignis steht nun unmit telbar bevor. Leander Satanas adveniet!« »Leander Satanas adveniet«, psalmodierte die Menge. »Was ihr nicht wissen könnt, was bisher nur der Innere Zirkel un
ser Gesellschaft weiß«, sagte Arco ruhig, »das ist der Zeitpunkt, zu dem dies geschehen wird. Wir haben ihn euch in der Einladung be wußt nicht mitgeteilt, denn wie leicht hätte es geschehen können, daß eine der Einladungen in falsche Hände geriet! Wie leicht hätte eine unbeabsichtigte Indiskretion einer Welt, die dazu noch nicht be reit ist, vorzeitig Auskunft über unsere Pläne geben können! Nun aber kann ich es euch verkünden. Es ist dem Inneren Zirkel mitgeteilt worden, daß Leander Satanas heute abend, genau um Mitter nacht, erscheinen wird – und zwar hier, an diesem Ort.« Ein Aufstöhnen ging durch die Menge, als Arco mit ausgestreck tem Arm auf eine Stelle direkt vor dem Podium wies, an der, wie Li lith erst jetzt bemerkte, mit weißer Kreide ein Pentagramm auf die Bodenplatten gezeichnet war. »Ja, ihr hört richtig. Um 12 Uhr Mitternacht wird Leander Satanas hier unter uns erscheinen. Bis dahin werden, so hoffen wir zuver sichtlich, alle 666 Auserwählten – 333 Männer und 333 Frauen – auf Burg Dracul eingetroffen sein. Ich kann euch die erfreuliche Mittei lung machen, daß die dritte Maschine bereits jetzt in Bukarest gelan det ist. Euch, die ihr schon hier seid, muß ich bitten, sich in Geduld zu fas sen. Leider ist es uns nicht möglich, euch allen angemessene Zim mer zur Verfügung zu stellen, da wir weder über das nötige Perso nal noch über die nötigen Hilfsmittel verfügen, um die Räumlichkei ten der Burg in einen entsprechenden Zustand zu versetzen. Immer hin haben wir einige Zimmer beheizen lassen, und für diejenigen, die sich von der Reise ausruhen wollen, gibt es eine Reihe von Schlafgelegenheiten. Wir können euch auch einen einfachen Imbiß anbieten. Diejenigen, die mit der ersten Maschine gekommen sind, werden euch den Weg weisen. Im übrigen könnt ihr euch frei in Burg Dracul bewegen – ab gesehen von den Räumen, die verschlossen sind. Den Anweisungen
des Personals ist Folge zu leisten. Denkt bitte daran: Sie handeln im Auftrag des Inneren Zirkels. Und nun möchte ich euch bitten, eine Stunde vor Mitternacht wie der hier zu erscheinen – nicht nur in angemessener Kleidung, son dern auch in jenem Zustand des Geistes, der dem Anlaß unserer Zu sammenkunft angemessen ist. Leander Satanas adveniet!« »Leander Satanas adveniet!« respondierte die Menge ergriffen. »Leander Satanas adveniet«, bekräftigte Arco. »Und bevor ihr geht …« Er wandte sich zu Slawomir um. »Graf, zeigen Sie ihnen das Op fer.« »Gewiß.« Der Graf trat an den schwarzen Vorhang und holte je manden dahinter hervor. Ein erneutes Aufstöhnen ging durch die Menge. Die Gestalt, die aus dem Spalt im Vorhang trat, war ein Kind, ein wunderschönes blondes Mädchen mit einem Gesicht von der ver derbten Unschuld eines gefallenen Engels. Und sie war beinahe nackt. Ihr einziges Kleidungsstück bestand aus einem hauchzarten, praktisch durchsichtigen Chiffonumhang. Darunter zeichnete sich eine vollendete Gestalt ab, die beinahe noch ebenso kindlich wie das Gesicht war – aber andererseits doch nicht mehr ganz kindlich, denn die Brüste begannen schon zu knospen, und die Hüften rundeten sich bereits merklich. Aber noch etwas anderes zeichnete sich unter dem Umhang ab. Nein, begriff Lilith, dieses Kind war nicht nur ein Mädchen. Es war zugleich auch ein – wenngleich in seinen intimsten Teilen sehr zart gebauter – Knabe. »Beim Bocksfuß«, flüsterte Sonja, die neben Lilith stand, lüstern. »Die haben ja tatsächlich einen echten Hermaphroditen für das Ritu al aufgetrieben!«
* In der Nähe von Prag, Ende März 1939 Den Mund voller Schlamm, fand er sich bäuchlings und halb in das Erdreich hineingewühlt auf einem Feld wieder. Als er den Kopf aus dem Morast hob, sah er, daß es immer noch Nacht war. Die Luft war sehr kalt und sehr klar; über ihm glitzerte der Große Wagen. Er fühlte sich sterbenselend, und das lag nicht nur am Schlamm in seiner Mundhöhle. Er war am ganzen Körper wie zerschlagen, beinahe so, als wäre er tagelang im Dauerlauf über unwegsames Gelände gerannt. Und dann kehrte dieser Teil der Erinnerung zurück. Eine vage Erinnerung zwar, aber immerhin eine Erinnerung – dar an, wie er heulend und wimmernd durch Straßen gestürmt war, über Bahndämme, über Felder. Daran, daß er auf dieser kopflosen Flucht – vor was? – mehrmals die Gestalt gewechselt und einen Teil des Weges als Wolf, einen anderen als Fledermaus zurückgelegt hat te. Mehr gab sein Gedächtnis noch nicht her. Nach einer Weile, in der er einfach nur zitternd dalag und die übelschmeckende, schlammige Brühe aus dem Mund rinnen ließ, nahm er seine ganze Kraft zusammen und versuchte sich hochzu stemmen. Bevor er sich auch nur halb aufgerichtet hatte, wurde ihm übel. Er begann zu würgen und zu spucken, erbrach Schlamm aus der Kehle, dann noch mehr aus dem Magen. Endlich, als er damit fertig war, was eine Ewigkeit zu dauern schien, gelang es ihm, auf die Beine zu kommen.
Schwankend stand er da und sah sich um. Dort vorne, kaum ein Dutzend Schritte entfernt, strömte ein Fluß vorbei. In einiger Entfernung leuchteten die Lichter einer Stadt, bei der es sich nur um Prag handeln konnte. Demnach mußte der Fluß die Moldau sein. Auf der anderen Seite wurde das Feld von einer Straße begrenzt. Von Baumreihen gesäumt, lag sie etwas erhöht auf einer Art Deich. Im Moment waren weder Menschen noch Fahrzeuge darauf unter wegs, aber wenn die Sonne aufging, würde sich das bestimmt än dern. Von Rechts wegen sollte es ihm keine Probleme bereiten, eine Mitfahrgelegenheit zurück in die Stadt zu finden. Um die ganze Strecke zu laufen, war er viel zu erschöpft. Aber es hatte wenig Sinn, so weit vorauszudenken. Im Augenblick interessierte ihn viel mehr die Frage, wieso er ausgerechnet hier, in dieser Einöde, wieder zu sich gekommen war. Und was davor ge schehen war. Und wieso er eine … ja, eine zerfetzte SS-Uniform am Leibe trug. Und dann setzte die Erinnerung mit einem Schlag wieder ein. Der Beutezug durch Prag. Die uralte Synagoge. Die Männer in ihren schwarzen Anzügen, die über die Metallsprossen an der Außenwand des Gebäudes herabgeklettert kamen. Die riesige graue Gestalt, die ihnen folg te. Der Überfall auf die Gruppe, seine Zähne, die sich in blinder Gier in den Hals der Gestalt bohrten. Der entsetzliche Schock, als anstelle von warmem, roten Blut nur eine seltsame Schwärze in ihn überströmte – eine Schwärze, die ihn von innen heraus zu verbrennen schien. Mit einemmal wußte er, was geschehen war. Er, Leander, hatte den Golem gebissen – jenes Geschöpf, das er bisher stets für eine Legende gehalten hatte, ein Ammenmärchen aus dem Mittelalter, das jüdische Mütter ihren Kindern erzählten, um ihnen Angst zu machen, wenn sie nicht gehorchen wollten. Jetzt allerdings
wußte er es besser. Der Golem war keine Sagengestalt, sondern Wirklichkeit. Der Schock dieser Erkenntnis war es gewesen, der sein Bewußtsein getrübt und ihn in blinder Flucht hinaus in die Nacht gejagt hatte. Jetzt fielen auch die anderen Stücke des Puzzles jäh an ihren Platz. Plötzlich begriff er, daß er nicht zufällig ausgerechnet hier erwacht war, in einem Morast am Ufer der Moldau. Dieses Feld, dieser graue Uferschlamm mußte es gewesen sein, aus dem der Hohe Rabbi Löw im 16. Jahrhundert den Golem geformt hatte. Deshalb also hatte er sich wie ein Maulwurf in den Boden gewühlt! Der Golem – oder was von ihm auf Leander übergegangen war – hatte versucht, in den Mutterschoß seiner Geburt zurückzukehren! Erde zu Erde, Staub zu Staub. Denn daß etwas vom Golem auf ihn übergegangen war, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Schließlich war er nicht freiwillig hierher gekommen. Ein fremder Einfluß hatte ihn getrieben, hatte seine Handlungen gelenkt. Es war eine Erkenntnis, die Leander ganz und gar nicht gefiel. Mit neu erwachtem Mißtrauen horchte er in sich hinein. Nein, es schien alles wieder ganz normal zu sein. Das schwarze Blut des Go lems wütete nicht mehr in seinen Adern. Kein fremder Einfluß ver suchte ihn zu Dingen zu drängen, die er von sich aus niemals getan hätte. Aber würde das auch so bleiben? Vielleicht kamen diese Zwänge ja anfallartig, wie die Fieberschübe einer Krankheit. Und was dann? Was dann? Müde schüttelte er den Kopf. Es hatte keinen Sinn, länger darüber nachzudenken. Wenn die Magie des Golems in ihm weiterwirkte, würde er es früh genug erfahren. Bei dem Gedanken daran lief ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken. Verdammt, er mußte so schnell wie möglich nach Prag zurück,
mußte Arco und seine anderen Gefährten ausfindig machen. Ge meinsam würden sie sich diese schwarzgekleideten alten Juden vor nehmen, würden alles aus ihnen herauspressen, was sie über die Magie des Golems wußten. Daß sie es gewesen waren, die den Go lem zum Leben erweckt hatten, daran gab es für Leander keinen Zweifel. Aber wenn es so war, dann mußten sie ihm auch dabei hel fen können, ein Gegenmittel zu finden, das Antidot gegen das schreckliche schwarze Blut des Golem, das womöglich immer noch in seinen Adern kreiste, auch wenn er seine Wirkungen im Augen blick nicht spüren konnte. Aber vielleicht kannten sie es ja selbst nicht. Vielleicht war es wie in der Geschichte vom Zauberlehrling, und sie wußten nur den einen Teil der Formel: den, der das Unheil anrichtete, nicht den, der es wieder aus der Welt schaffte. Mit diesem düsteren Gedanken setzte er sich in Bewegung, der Straße entgegen. Und blieb schon nach wenigen Schritten wieder stehen. Wieso fiel ihm das Gehen mit einemmal so schwer? Humpelte er? Ja, tatsächlich, er zog das rechte Bein nach. Und es fühlte sich auch seltsam falsch an, kürzer als das linke. Er blickte an sich hinunter. Totaler Schock. Totaler Unglaube. Aber das war doch nicht möglich! Er hatte sich nicht vollständig aus sei ner Wolfsgestalt in die eines Menschen zurückverwandelt! Sein rechtes Bein unter der Uniform war immer noch das eines Wolfes, haarig und miß gestaltet! Mühsam kämpfte er die aufsteigende Panik nieder und konzen trierte sich mit aller Gewalt auf das Bein – versuchte, es durch die schiere Kraft seines Willens wieder in das eines Menschen zurück zuverwandeln, so wie er es schon tausendmal gemacht hatte. Aber
diesmal gelang es ihm nicht. Er konnte sich noch so sehr anstrengen: Das Bein blieb der Lauf eines Wolfes. Hektisch begann er, seinen ganzen Körper abzutasten. Oben, im Nacken, ragte ein kleines Paar Fledermausflügel aus sei nem Kragen heraus, das er bisher ganz übersehen hatte. Und auch seine Haut war nicht mehr überall so glatt wie die eines Menschen, sondern an den verrücktesten Stellen mit Wolfshaar und Fleder mauspelz besetzt. So etwas war in den Annalen der Vampire ohne Beispiel. Nie mand, nicht einmal der legendäre Landru, hatte bisher von einem solchen Fall zu berichten gewußt. Ja, er mußte wirklich sofort zurück nach Prag – zurück zur Syn agoge. Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte er weiter, den Lich tern der fernen Stadt entgegen.
* Burg Dracul, Gegenwart Die Nacht brach schon herein, als die drei letzten Busse sich über die Serpentinen zur Burg hinaufquälten und in den Burghof einrollten. Die Posten an der Straßensperre unten im Tal hatten ihre Ankunft über Funk vorausgemeldet, so daß dem Empfangskomitee reichlich Zeit geblieben war, Aufstellung zu nehmen. Die Scheinwerfer, die den Hof diesmal ausleuchteten, ließen die Gesichter der Wächter noch undurchdringlicher und ihre Maschinenpistolen noch bedroh licher wirken. Abgesehen davon verlief alles nach Routine. Der leitende Offizier
– ein ehemaliger Oberst der Securitate – nahm wortlos die Pässe ent gegen, verglich die Paßbilder mit den Gesichtern, überprüfte die Einladungskarten und hakte die daraufstehenden Nummern auf ei nem Computerausdruck ab. Dann allerdings … Als der Bus sich etwa zur Hälfte geleert hatte, stiegen ein Japaner und eine Eurasierin aus – offensichtlich ein Pärchen, da sie Hand in Hand gingen. Das allerdings war es nicht, was den Oberst beson ders auf sie aufmerksam werden ließ. Es war die Tatsache, daß die Frau einen sehr nervösen Eindruck machte, fast so, als habe sie ir gend etwas zu verbergen … oder zu befürchten. Nur zur Vorsicht gab der Oberst seinen Leuten einen Wink, auf den hin sich ein halb es Dutzend Hände fester um die Kalaschnikows schlossen. Erst dann konzentrierte er sich ganz auf den Japaner, der ihm als erster seine Ausweisdokumente hinhielt. Nobosuke Otami, Nummer 96. Die Einladungskarte war echt; der Paß auch. Gerade wollte er ihn weiterwinken und sich der Eurasie rin zuwenden, als der Japaner die Hand hob. »Einen Moment bitte«, sagte er. »Sprechen Sie Englisch?« Der Oberst nickte. »Gewiß, Sir.« »Gut. Meine Begleiterin hier« – er deutete auf die junge Frau ne ben sich – »kann sich bedauerlicherweise nur mit einem ersatzweise ausgestellten Reisepaß ausweisen. Ihr richtiger Paß und die Einla dungskarte zu diesem Treffen sind ihr am Tag vor dem Abflug aus ihrer Wohnung in Tokio gestohlen worden.« Deshalb also die Nervosität! Aber so etwas konnte vorkommen. Bei 666 Teilnehmern mußte man ganz einfach mit dem einen oder anderen Zwischenfall dieser Art rechnen. »Wir werden das überprüfen.« Der Oberst wandte sich jetzt direkt an die Eurasierin. »Ihr Name?«
»Helen Takahashi.« »Hm … dieses Dokument scheint in Ordnung zu sein. Welche Nummer hatte Ihre Einladungskarte?« »42.« Der Oberst warf einen Blick auf die Liste. Im nächsten Augenblick gab er den in der Nähe stehenden Posten das Alarmzeichen. Die Mündungen der Kalaschnikows ruckten hoch. Sicherungshebel wurden mit einem Knacken, das durch den ganzen Burghof hallte, umgelegt. »Was …« Die Eurasierin wich erschrocken einen halben Schritt zu rück, hinter ihren Begleiter, dessen schmächtiger Körper aber wohl kaum ein ausreichender Schutz gegen das konzentrierte Feuer von einem halben Dutzend MPs gewesen wäre. Den Männern und Frau en in der Schlange dahinter schien das ebenfalls bewußt zu werden, denn sie beeilten sich, aus der Schußlinie zu kommen. »Ich verstehe nicht …« »Dann werde ich es Ihnen erklären«, sagte der Oberst sachlich. »Sie sind schon die zweite Helen Takahashi, die heute hier an kommt. Die andere hatte, wie ich der Liste entnehme, einen richti gen Paß – und eine Einladungskarte. Verstehen Sie, daß wir unter diesen Umständen etwas … äh … mißtrauisch werden?« Helen Takahashis Augen weiteten sich vor Überraschung. Dann nickte sie kurz und abgehackt. »Ja … ja, natürlich. Aber wieso …« Ihr Begleiter hingegen schien von der Entwicklung nicht sonder lich überrascht zu sein. Er blickte den Oberst mit kühler Beherr schung an – keine geringe Leistung, dachte der Oberst anerkennend, wenn man bedachte, daß dabei ein halbes Dutzend MPs auf ihn ge richtet waren. »Ich hatte so etwas befürchtet«, sagte er. »In diesem Falle sollten Sie uns vielleicht zu Arco oder einem anderen Mitglied des Inneren Zirkels bringen, damit wir klären können, welches die
echte und welches die falsche Helen Takahashi ist. Wobei«, er lä chelte knapp, »ich Ihnen versichern darf, daß diese Frage natürlich zugunsten meiner Begleiterin beantwortet werden wird.« Der Oberst nickte und winkte zwei seiner Männer herbei, um das Paar von ihnen ins Innere der Burg eskortieren zu lassen. »Das hoffe ich«, sagte er. »Für Sie.«
* Einer seiner Freunde, die im Inneren der Burg Dienst taten, hatte ihn davon unterrichtet, in welchem Zimmer sich die Rothaarige im Au genblick aufhielt. Um dorthin zu gelangen, benutzte der Securitate-Mann nicht die üblichen Treppenaufgänge und Korridore, sondern eines der gehei men Treppenhäuser, die sich wie ein gewaltiges senkrechtes Laby rinth zwischen den meterdicken doppelten Mauern durch die ge samte Burg zogen. Jetzt kam es ihm zustatten, daß er sich in diesem Gebäude wie in seiner Westentasche auskannte – kein Wunder, denn schließlich hatte er schon vor dem Sturz Ceausescus zur hiesi gen Stammbesatzung gehört, damals, als dieses »Ausbildungszen trum« eine der gerüchteumwobensten Einrichtungen des rumäni schen Geheimdienstes gewesen war. Seit damals hatten sich eine Menge Dinge geändert – zum Beispiel ihr Arbeitgeber –, aber man ches war auch gleichgeblieben. Zum Beispiel hatten sie immer noch den gleichen Vorgesetzten – auch wenn er sich jetzt nicht mehr Ge neral Slawomir nannte, sondern Graf Slawomir. Die einzigen Räumlichkeiten, die er während all dieser Jahre nie betreten hatte, waren die Verliese unten im Keller, in denen ein Teil der Gefangenen regelmäßig verschwunden war, nachdem die Ver hörspezialisten mit ihnen fertig waren. Denn das war der Gegen
stand ihrer Ausbildung gewesen: zu lernen, wie man Menschen un ter Einsatz aller nur erdenklichen Mittel das größtmögliche Maß an Schmerzen zufügte. Vielleicht gab es dort unten auch jetzt noch gan ze Gewölbe voller Leichen, aber wen interessierte das schon? Ihn nicht. Es war sowieso besser, nicht danach zu fragen. Im Augenblick interessierte ihn im übrigen nur eines: die rothaarige Westlerin, die ihm unten auf dem Burghof bei der Ankunft des zweiten Buskon vois so unverschämt auffordernde Blicke zugeworfen hatte. Natürlich hatte er die Blicke erwidert, und als sie nach der Aus weiskontrolle an ihm vorbeigegangen war, hatte sie ihn leicht mit der Hand gestreift – an einer Stelle, die ihre Wünsche mehr als nur deutlich machten. Vielleicht rechnete sie gar nicht damit, daß es ihm gelingen würde, sich in seinem Dienst ablösen zu lassen und zu ihr zu kommen, aber die Einladung war ausgesprochen, und er wäre kein Mann gewesen, wenn er ihr nicht gefolgt wäre. Bisher hatte sich ihm noch nie die Gelegenheit geboten, mit einer Westlerin zu schlafen – in erster Linie deswegen, weil er hier in der Einöde festsaß und nie nach Bukarest kam. Nach dem, was er gehört und gelesen und von seinen Kameraden gehört hatte, sollten sie sehr anspruchsvoll sein, viel anspruchsvoller, als rumänische Frauen es jemals gewesen wären. Um so besser – er schätzte Frauen, die ihn restlos forderten. Allerdings war er sich auch darüber im klaren, daß er bei dieser Frau sehr vorsichtig sein mußte. Das war noch etwas, was nach dem Sturz Ceausescus schlechter geworden war. Heutzutage war es ge fährlich, ungeschützt mit einer Frau zu schlafen, etwas, worüber man in den Jahren vor dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs niemals hatte nachdenken müssen. Gut, manchmal schwängerte man eine Frau, aber dafür gab es ja schließlich Abtreibungen. Und gelegentlich kam es auch einmal vor, daß man sich ansteckte, aber nie mit etwas, das sich nicht durch eine ordentliche Dosis Penizillin
beheben ließ. Die gewöhnliche Bevölkerung mochte ihre Schwierig keiten haben, an dieses Wundermittel heranzukommen; die Ärzte der Securitate jedoch waren sehr freigiebig damit. So, hier war die Tür – unverschlossen, aber von außen nicht als solche zu erkennen, so daß trotzdem keine Gefahr bestand, daß je mand unbefugt das geheime Treppenlabyrinth betrat. Er öffnete sie einen Spalt weit, schlüpfte hindurch und drückte die schwere Tür vorsichtig wieder zu, aber nicht so weit, daß sie ganz ins Schloß ge fallen wäre. Im Notfall mußte er dann nicht erst lange nach dem Griff suchen, mit dem die Tür sich öffnen ließ. Es war eine rein rou tinemäßige Vorsichtsmaßnahme, denn in Wirklichkeit rechnete er nicht damit, einen übereilten Rückzug antreten zu müssen. Weswe gen auch? Dann sah er sich aufmerksam um. Er befand sich auf einem schmalen, menschenleeren Gang in einem der Seitenflügel der Burg, der zu einer Reihe von Schlafzimmern führte. Einige der Türen stan den auf, andere waren geschlossen. Aus manchen drangen Ge räusche, die ihm mehr als vertraut waren. Es waren die Geräusche, die Männer und Frauen machten, wenn sie es miteinander trieben. Nein, er schien nicht der einzige zu sein, der heute an Sex dachte. Langsam wanderte er weiter, den Gang entlang. Ja, hier mußte es sein – die letzte Tür, ganz am Ende des Gangs. Er legte das Ohr daran, aber drinnen war alles totenstill. Vielleicht war das Zimmer leer, und sein Gewährsmann hatte ihn falsch informiert. Man würde sehen. Er öffnete die Tür und trat ein. »Hallo«, sagte die Rothaarige. »Da bist du ja. Der letzte Mann, mit dem ich schlafen werde – vorher.« Sie stand mitten im Raum, keine zwei Meter vor ihm, eine schma le, zierliche Gestalt wie aus einer anderen Welt, und blickte ihm
ohne jegliche Überraschung entgegen, mit Augen unter aufgemalten Augenbrauenbögen, die ihn an glimmende Kohlen erinnerten. Ihr stark geschminkter Mund war eine rote Wunde in dem bleichen Ge sicht, das von so unnatürlicher Blässe war, wie er es noch nie bei ei ner lebenden Frau gesehen hatte. Jetzt trug sie nicht mehr den Reise mantel, in dem sie unten auf dem Burghof an ihm vorbeigestreift war, sondern ein kurzes, weinrotes Samtkleid, das kaum bis zur Hälfte ihrer Oberschenkel reichte, und darunter ein Paar hochhacki ge Schnürstiefel aus ebenfalls weinrotem Leder. Zwischen Kleid saum und Stiefeln glitzerte die Haut ihrer Schenkel in gespensti schem Weiß. Er starrte sie mit offenem Munde an, sprachlos vor auf steigender Erregung und verwirrt von dem, was sie gesagt hatte. »Ich heiße Sonja«, sagte die Rothaarige. Ihre Stimme klang seltsam metallisch. »Wie du heißt, will ich nicht wissen. Ich will nur, daß du mich jetzt auf der Stelle nimmst – um meinetwillen und zu Ehren von Leander Satanas.« Er verstand nicht, was sie damit meinte, obwohl er genug Englisch sprach, um die Worte als solche zu verstehen. Der Sinn dahinter war es, der sich ihm entzog. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Leander Satanas war. Mit einer fließenden Bewegung kam sie auf ihn zu und strich ihm auffordernd mit der Hand über die Brust. Zugleich drängte sie ihr Gesicht an seines und schob ihm die Zunge in den Mund, eine klei ne, sehr spitze Zunge, die auf eine Weise forschte und forderte, wie er es noch nie erlebt hatte. Er hatte das Gefühl, am Rande eines Mahlstroms zu stehen, in dem er im nächsten Augenblick unrettbar untergehen mußte, wenn er nicht gewaltig aufpaßte. In einer letzten Aufwallung von klarem Denken löste er sich von der Rothaarigen und schob sie auf Armeslänge von sich zurück. »Ich …«, brachte er mühsam hervor. »Wir sollten …« Zugleich tasteten er nach der kleinen Schachtel, die er in der Brust
tasche bei sich trug. Er ahnte zwar, daß er sich damit vor ihr gren zenlos lächerlich machen würde, aber trotzdem führte er die Bewe gung wie ein Automat zu Ende und hielt ihr die Packung auf der ausgestreckten Hand hin. Sonja starrte ihn ungläubig an. Und dann explodierte sie regel recht. »Kondome?« kreischte sie ihn mit einer Stimme an, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. »Ja, bist du denn verrückt gewor den? Weißt du denn nicht, was heute um Mitternacht hier in dieser Burg geschehen wird? Wir werden Leander Satanas heraufbeschwören – den Teufel höchstpersönlich, wenn du das besser verstehst, und wenn er kommt, dann wird er Verheerungen und Seuchen mit sich bringen, wie diese Welt sie noch nie gesehen hat – Seuchen, neben denen dein läppisches AIDS kaum mehr ist als ein lächerlicher Schnupfen. Begreifst du das nicht? Geht das nicht in deinen dämli chen rumänischen Bauernschädel hinein?« Er starrte sie an, völlig sprachlos und mit aufgerissenem Mund. Während ihrer letzten Worte hatte ihre Stimme sich zu einem fast metallischen Kreischen gesteigert, dem Geräusch einer Kreissäge nicht unähnlich. Jetzt schlug sie ihm mit einem einzigen wilden Hieb die Kondome aus der Hand, so wuchtig, daß sie quer durch das Zimmer flogen und von der Wand abprallten. Dann ging sie, jetzt nur noch unartikuliert kreischend, wie eine Furie auf ihn los und krallte mit ihren spitz zugefeilten Fingernägeln nach seinem un geschützten Gesicht. In jäher Panik stieß er sie von sich und wich mit dem Rücken ge gen die Tür zurück. Seine Reaktion schien Sonja zur Besinnung zu bringen, denn plötz lich wurde sie ganz ruhig. »Oh, das tut mir leid. Ich glaube, ich habe dich erschreckt, nicht wahr? Aber sag, willst du mich trotzdem noch, ja?«
Er konnte nur krampfhaft nicken. Ihr Mund verzog sich zu einem wahnsinnigen Lächeln. »Das ist schön«, schnurrte sie. »Dann schau dir mal an, was ich zu bieten ha be.« Mit einer einzigen fließenden Bewegung streifte sie sich das Kleid über den Kopf. Im nächsten Augenblick stand sie nackt vor ihm. Er wußte nicht, was er eigentlich erwartet hatte. Vielleicht genauso perfekte Schönheit, genauso milchweiße, zarte Haut, wie ihr Gesicht es versprach. Aber das, was er zu sehen bekam, hatte nicht die ge ringste Ähnlichkeit damit. Ihr magerer Bauch und ihre kleinen flachen Brüste waren über und über tätowiert – mit seltsamen alchimistischen Zeichen und großen schwarzen Pentagrammen, deren Mittelpunkt die Brustwar zen waren. Außerdem hatte sie sich an den verschiedensten Körper stellen piercen lassen. Goldene Ringe mit kleinen grinsenden Teu felsfratzen blinkten an ihren Brustwarzen, an ihrem Nabel, sogar in ihrer dichten rotblonden Schambehaarung. Bei jeder ihrer Bewegun gen hüpften diese Fratzen auf und ab und schienen ihn mit ihrem Grinsen zu verspotten. »Na, gefällt dir das?« schnurrte sie. »Oder magst du vielleicht lie ber – das?« Mit der Eleganz einer Tänzerin drehte sie sich um. Von den Schultern bis über die Hinterbacken hinab war ihr Rücken mit Narben bedeckt – roten, wulstig aufgeworfenen Narben, die kreuz und quer verliefen und nicht einen Quadratzentimeter weiße Haut freiließen. Selbst der Securitate-Mann, der eine Menge von solchen Dingen verstand, vermochte nicht zu erkennen, womit man ihr diese Narben zugefügt hatte. Es konnte alles gewesen sein: Peitschen, Brandeisen, Glasscherben, Stacheldraht … Und dann begriff er, daß sie sich diese Verletzungen freiwillig hat
te zufügen lassen. Das war der Augenblick, in dem sein Verstand endgültig aussetz te. »Na, willst du mich noch?« flüsterte sie. »Willst du mich noch? Dann komm …« Mit einem gellenden Aufschrei warf er sich auf sie.
* An einer anderen Stelle der Burg, etwas früher Lilith sollte nicht lange brauchen, um herauszufinden, was Arco bei der Begrüßung mit »angemessener Kleidung« und einem »dem An laß unserer Zusammenkunft angemessenen Zustand des Geistes« gemeint hatte. Nachdem sie ihre Reisetasche aus dem Gepäckstapel auf dem Hof geborgen hatte, suchte sie sich ein leeres Zimmer, um sich dort für jene mysteriöse Feier »umzuziehen«, die eine Stunde vor Mitter nacht unten in der Halle beginnen sollte. Als sie damit fertig war, dem Symbionten ihre Vorstellungen mitzuteilen, hätte sie sich zu gerne in einem Wandspiegel betrachtet, aber das ging natürlich nicht. Zum einen wäre sie in dem Spiegel sowieso nur als vager Schemen erschienen, denn immerhin war sie ja ein Halbvampir. Zum anderen war dieses Gemäuer der Hort einer Vampirsippe, und Vampire, die sich freiwillig Spiegel in ihre Gemächer hängten … nein. Trotzdem war sie sicher, daß sie einen bemerkenswerten Anblick bot. Sie trug jetzt ein hautenges Kleid aus der Illusion feinster, nahezu
durchsichtiger chinesischer Shantung-Seide, über und über filigran mit Rosenblättern bestickt, dazu eine schlichte, aber elegante einrei hige Perlenkette mit einer Rosette aus sieben besonders auserlese nen Perlen vor der Halsgrube. Das Ganze kam ihr ein bißchen ge wagt vor, aber andererseits hatte Nicholas ja von irgendwelchen Or gien erzählt, die die Angehörigen der Leander Society bei ihren Schwarzen Messen feierten. An freizügiger Kleidung würde hier also sicherlich niemand Anstoß nehmen; wahrscheinlich wurde sie sogar verlangt. Mit dem Schminkset, daß Beth ihr mitgegeben hatte, hatte Lilith außerdem ihr japanisches Make-up nachgebessert, das durch die lange Reise ziemlich ramponiert war. Selbst bei näherer Inspektion wäre jetzt niemand mehr auf die Idee gekommen, daß sie keine sehr hellhäutige Eurasierin, sondern eine Weiße sein könnte. Nachdem sie auch noch ihr Haar wieder in Form gebracht hatte, trat sie hinaus auf den Korridor. Und rannte dabei fast in ein mehr als exotisches Pärchen hinein, das ihr entgegenkam. Die Frau mochte, dem Zustand ihrer Haut nach zu urteilen, etwa fünfzig oder sechzig Jahre alt sein. Trotzdem trug sie nur ein Nichts aus schwarzem Leder und stahlblitzenden Ketten, dazu eine schwarze Samtmaske, unter der ihre Augen eisblau blitzten. Sie hielt eine schwarze Reitpeitsche in der Hand, mit der sie rhythmisch ge gen die verwelkten Oberschenkel klopfte. Im Vergleich zu ihr wirkte ihr Begleiter – der erheblich jünger war – auf den ersten Blick geradezu korrekt gekleidet. Aber wirklich nur auf den ersten Blick. Er trug einen außerordentlich konventionell geschnittenen Gesell schaftsanzug in gediegenem, nachtblauem Samt. Erst als Lilith ihren Blick weiter nach unten wandern ließ, stellte sie zu ihrer Verblüf fung fest, daß die Hose so geschnitten war, daß sie die Geschlechts
teile und das knochige Gesäß des Mannes vollkommen frei ließ. Ob jektiv betrachtet, war es kein besonders imposanter Anblick, aber der Nachtblaue schien trotzdem einigermaßen stolz darauf zu sein, denn sonst hätte er sich an diesen Stellen sicher nicht mit Lippen rouge geschminkt. Um die Hoden trug er außerdem straffe blaue Gummibänder, eine mehr als schmerzhafte Verzierung, die viel leicht auch dazu dienen sollte, seine ansonsten eher spärliche Man neskraft auf mechanischem Wege auf das Normalmaß zu steigern. Im übrigen kannte Lilith weder den Mann noch die Frau. Und sie legte auch keinen gesteigerten Wert auf eine nähere Bekanntschaft. »Hallo, da bist du ja«, begrüßte sie der Mann mit seltsam belegter Stimme. »Wir haben dich schon überall gesucht.« Erst jetzt bemerkte Lilith, daß seine Pupillen unnatürlich geweitet waren – schwarze Löcher in einem totenbleichen, tief eingefallenen Gesicht. Offen sichtlich stand er unter Drogen. Auch seine Begleiterin schien vollkommen berauscht zu sein, denn sie lächelte nur blöde mit dem zu stark geschminkten Mund und be gann, mit ihrer freien Hand nach Liliths Brüsten zu grapschen. Instinktiv wich Lilith zurück. »Schön, daß wir dich treffen«, lallte der Mann. Er streckte die Handfläche aus. Ein durchsichtiges Pillenröhrchen lag darauf. »Hier, ich hab’ auch was für dich. Ist echt gut, das Zeug. Glaubste, du fliegst. Ssss … schschsch … ssss …« Seine Stimme verlor sich in einem seltsamen, schlangenhaften Zischen. »Nein … nein, danke.« Lilith wich noch weiter zurück, aber die beiden schienen sie kaum noch zu bemerken. Jetzt hatte die Frau ih ren Gefährten an seinem intimsten Körperteil gepackt und zog ihn daran weiter, an Lilith vorbei in Richtung irgendeines Zimmers, in dem sie sich mit ihm vergnügen konnte. Lilith sah ihnen noch einen Moment lang nach, dann zuckte sie die Achseln und marschierte los.
Nein, auf eine Sexorgie hatte sie nun wirklich keine Lust. Im Au genblick war ihr eher zumute wie weiland Blaubarts achter Frau. Heute nacht wollte sie unbedingt herausfinden, was das Geheimnis der verschlossenen Kammern war, die zu betreten der Burgherr ih nen allen so nachdrücklich verboten hatte. Auch wenn sie ihr Leben dabei riskierte.
* Eine Stunde später war Lilith immer noch nicht viel klüger, was die verbotenen Bereiche der Burg betraf. Und ihre Suche gestaltete sich auch nicht ganz einfach. Zwar hinderte niemand sie daran, sich frei in den erlaubten Räum lichkeiten zu bewegen, aber überall – in den Gängen, auf den Trep pen, in den Zimmern – tobte die Orgie, mit der sich die Mitglieder der Leander Society auf das große Fest der Ankunft ihres satanischen Herrn und Meisters vorbereiteten. Es war nicht immer ganz einfach, über das Knäuel von halbnackten Leibern hinwegzusteigen, ohne mit in diesen Hexensabbat hineingezogen zu werden. Seltsam nur, daß sie wieder keinen einzigen Vampir in der Menge ausmachen konnte. Obwohl die Gelegenheit zum Blutsaugen mehr als günstig gewesen wäre, ließen Arco und seine Sippe ihre »Gäste« vollkommen unbehelligt. Es war nicht das, womit Lilith eigentlich gerechnet hatte, und sie wußte auch keine Erklärung dafür. Als sie es leid war, ständig von irgendwelchen lüsternen, mit Dro gen aufgeputschten Satanisten beiderlei Geschlechts begrapscht zu werden, zog sie sich in einen ruhigeren Seitengang zurück und trat an eines der hohen Fenster. Draußen lag der Burghof grau und verlassen im Regen.
Während sie hinausstarrte, versuchte sie zu rekapitulieren, was sie auf ihren nur scheinbar ziellosen Wanderungen durch die Burg bis her herausgefunden hatte. Immerhin war es ihr gelungen, sich eine erste grobe Orientierung zu verschaffen. Sie wußte jetzt, daß es sich im Falle von Burg Dracul nicht um ein einzelnes »Blaubartzimmer« handelte, sondern um einen riesigen Bereich, der sich offenbar über ganze Stockwerke er streckte. Dazu gehörte auch das Stockwerk über diesem – eine fens terlose Etage, zu der es absolut keinen Eingang zu geben schien. Derzeit hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie sie in diesen Be reich hineinkommen sollte. Falls es von hier aus Zugänge gab, dann waren sie hervorragend getarnt; schmale Einflugröhren vielleicht, durch die die Vampire die verbotenen Räume in ihrer Fledermaus gestalt betreten konnten. Wenn das zutraf, dachte Lilith, dann blieben ihr eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder, ihren Scout loszuschicken, oder aber, sich selbst in eine Fledermaus zu verwandeln, um sich in dieser Ge stalt auf die Suche zu machen. Genau das jedoch war es, was sie eigentlich vermeiden wollte. Bis her hatte sie ihr Inkognito wahren können, aber wenn sie dabei er wischt wurde, wie sie ihre Gestaltwandlerfähigkeit einsetzte, war al les vorbei. Vor allem war dann die einmalige Chance vertan, uner kannt an der Satansbeschwörung heute nacht teilzunehmen. Und das war etwas, was sie auf keinen Fall versäumen wollte. In diesem Augenblick hallte ein entsetzlicher Schrei durch den Korridor. Lilith wirbelte herum. Zu sehen war nichts, aber der Schrei war of fenbar aus einem Zimmer ganz am Ende des Ganges gekommen. Im ersten Augenblick hatte er beinahe wie der Lustschrei einer Frau ge klungen, aber dann war er in etwas übergegangen, das Lilith eher an
einen Todesschrei erinnerte. Sollte sie nachschauen, was da passiert war? Oder sollte sie sich einfach nicht darum kümmern und ihre Suche fortsetzen? Zögernd machte sie zwei, drei Schritte tiefer in den Korridor ent lang. Es war reiner Zufall, daß sie dabei mit der Hand gedankenlos an der Wand entlangstreifte. Und da … Was war das? Eine Fuge zwischen den Mauersteinen? Unmittelbar vor ihr schwang ein Teil der Wand nach innen. Ohne zu zögern schlüpfte Lilith durch die getarnte Tür. An den Schrei, den sie gehört hatte, dachte sie in diesem Augenblick nicht mehr. Hier bot sich ihr schließlich zum erstenmal die Gelegenheit, einen Zugang zu den geheimen Bereichen der Burg zu finden. Und was konnte wichtiger sein als das? Sie trat durch eine Art gemauerten Torbogen und fand sich in ei nem Treppenhaus mit einer massiven, aus schwarzem Eichenholz gezimmerten Wendeltreppe wieder. Der Farbe des Holzes und dem Schnitzwerk am Geländer nach zu urteilen, mußte sie uralt sein. Das einzige Anzeichen von Modernität waren die Glühbirnen, die den Treppenschacht in rötliches Dämmerlicht tauchten. Licht, wie es den Augen von Vampiren angenehm war … Das also war die Antwort, die sie die ganze Zeit über so verzwei felt gesucht hatte. In das ohnehin schon labyrinthische Gewirr der Burg hatten ihre Erbauer einfach noch ein zweites Labyrinth hineingesetzt – ein La byrinth, das sich hinter meterdicken Wänden verbarg und aus dem nicht einmal das leiseste Geräusch huschender Füße nach außen dringen konnte. Aber in welche Richtung sollte sie gehen, nach oben oder nach un ten? Nach oben, entschied sie sich. Direkt über ihr lag ein verbotenes
Stockwerk, und sie wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte. Langsam machte sie sich daran, die schwarzen Eichenstufen hin aufzusteigen. Etwas Ledriges streifte ihre Wange. Mit einem Aufschrei preßte Lilith sich an die Wand. Ein geflügel ter Schatten zuckte auf sie zu, schnellte mit irrsinniger Geschwindig keit hierhin und dorthin, wie etwas, das gegen die Gitterstäbe eines unsichtbaren Käfigs anrannte, und schwang sich dann in weitem Bogen um sie herum. O verdammt, jetzt war sie erledigt. Ein Vampir in Fledermausgestalt! Oder etwa doch nicht? Beinahe hätte Lilith hysterisch aufgelacht. Es war eine echte Fleder maus, die durch Liliths Anwesenheit in Panik aufgeschreckt worden war und nun zu entkommen suchte. Wahrscheinlich nisteten Hun derte, wenn nicht Tausende von ihnen hier in der rötlichen Dämme rung. Es war ein idealer Platz für diese scheuen Tiere. Die Fledermaus nutzte Liliths Erstarrung, um an ihr vorbei in den Treppenschacht hinabzukurven und in der rötlichen Dämmerung zu verschwinden. Einen Augenblick lang blieb Lilith tief atmend stehen und wartete darauf, daß ihr Herzklopfen – das selbst jetzt noch viel langsamer war als das eines normalen Menschen – wieder abklang. Dann setzte sie ihren Weg die Treppe hinauf fort. Schon nach wenigen Stufen stieß sie auf eine Tür. Den Öffnungsmechanismus zu ergründen, war eine Sache von Se kunden. Vorsichtig trat sie hinaus auf den dahinterliegenden Gang und machte sich daran, einen Blick in die Zimmer auf beiden Seiten zu werfen.
Was sie zuerst fand, war ein weiß gekachelter Operationssaal, voll ausgestattet, mit chirurgischen Instrumenten in Glaskästen längs der Wände. Keines der Instrumente war steril; an den meisten klebte so gar Blut. Und außerdem waren es nicht nur chirurgische Werkzeuge, die sie entdeckte, sondern auch andere, gröbere: Handsägen, ein Schlagbohrer, eine Lötlampe … Der Raum daneben enthielt ein Elektroschockgerät. Die nächsten Türen führten zu einer Reihe von winzigen, fenster losen Zellen. In einer davon hatte jemand – offenbar mit seinem ei genen Blut – ein paar schwer lesbare Worte an die Wand geschrie ben: MEIN GOTT, WARUM HAST DU MICH VERLASSEN? Wenn Lilith jetzt noch Zweifel gehabt hätte, waren sie ihr nach dieser Entdeckung vergangen. Der ganze Trakt, in dem sie sich befand, war nichts anderes als eine Folterkammer des rumänischen Geheimdienstes. Wenigstens schien sie schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb zu sein, denn auf den Geräten hatte sich Staub angesammelt, und die Blutspuren an den Folterinstrumenten und auf den Wänden waren bräunlich ver färbt. Trotzdem war das Ganze noch entsetzlich genug. Wieviel mensch liches Leid mochten diese stummen Wände im Laufe der Jahre wohl miterlebt haben? Fast hätte Lilith gezögert, auch den nächsten Raum noch zu betre ten. Eine düstere Ahnung sagte ihr, daß sie dort nur weitere Scheuß lichkeiten vorfinden würde, und davon hatte sie wahrlich genug ge sehen. Aber das stimmte nicht. Der nächste Raum hielt eine völlig andere Überraschung für sie bereit.
Er war eine Bibliothek.
* Mit offenem Mund blieb Lilith stehen. Die Bücherregale, die den Raum ausfüllten, reichten vom Boden bis zur Decke. Es mußten Tausende und Abertausende von Bänden sein, die sich darin stapelten: moderne und uralte, Lederbände und Taschenbücher, dazu Handschriften, Aktenordner, Videokassetten. Der Eindruck war überwältigend. Lilith runzelte die Stirn. Bibliophile Vampire? Natürlich, unmög lich war so etwas nicht, aber wieso befand sich die Bibliothek dann ausgerechnet hier, in diesem sorgfältig abgeschirmten Trakt, Wand an Wand mit einer High-Tech-Folterkammer der Securitate? Und was war das überhaupt für eine Bibliothek? Fachliteratur zur Fol terkunde? Lilith trat an eines der Regale und zog wahllos ein paar Bände her aus. Es waren Werke in jeder erdenklichen europäischen Sprache, dazu Texte in Hebräisch und Kyrillisch. Dank ihrer besonderen Fähigkeit, jede Sprache lesen und verste hen zu können, war Lilith mühelos imstande, die Titel auf den Buch rücken zu entziffern: Die Geheimnisse der Kabbala. Geschichten aus dem Ghetto. Der Maharal von Prag. Jüdische Zahlenmystik. Der Golem, ein Roman von Gustav Meyrink. Die Gesammelten Werke von Isaac Bas hevis Singer. Micha Josef bin Gorion und zahlreichen weiteren jüdi schen Autoren. Ein Opernlibretto für eine Golem-Oper. Geschichte der Altneuschul zu Prag. Die Rolle der vier Elemente in der jüdischen Mystik. Utz, ein Roman von Bruce Chatwin … Und so ging es weiter.
In einem Zustand zunehmender Desorientierung streifte Lilith an den Regalen entlang, zog hier einen Band heraus, dann dort. Sie alle gehörten zum gleichen Themenkreis: jüdische Mystik und jüdische Mythologie. Einen besonderen Schwerpunkt dabei schien das Go lem-Thema zu bilden, aber es fanden sich auch etliche Texte zu Ahasverus, dem Ewigen Juden, dazu alles nur Erdenkliche zum Ost judentum und den jüdischen Schöpfungsmythen. Was, um alles in der Welt, mochte das bedeuten? Sie beschloß, die Probe aufs Exempel zu machen, und schlug aufs Geratewohl eines der Bücher auf. Sie hatte es aus dem Regal gezo gen, weil es ihr durch seinen hübschen grün-weißen Einband aufge fallen war: eine Sammlung von Tagungsreferaten in deutscher Spra che mit dem Titel Traumreich und Nachtseite, herausgegeben von Thomas Le Blanc und Bettina Twrsnick. Ein Lesezeichen steckte dar in, und da es bei dieser ungeheuren Menge an Texten sowieso egal war, wo sie anfing, betrachtete sie es einfach als Omen. Mehrere Stellen im Text waren mit einem gelben Textmarker un terstrichen. »Der Golem«, las Lilith, »stammt aus dem Bereich der Legende, wäh rend sein Schöpfer, der ›hohe Rabbi Löw‹ – was manchen vielleicht überra schen wird – eine gut greifbare und dokumentierte geschichtliche Gestalt ist … Rabbi Judah Loew ben Bezalel, genannt MaHaRaL mi-Prag (More nu ha-Rav Liva mi-Prag: unser Lehrer Rabbi Löw aus Prag), hat von etwa 1525 bis 1609 gelebt, davon die meiste Zeit im Prag Kaiser Rudolphs II., und hat einen ganzen Bücherschrank von Schriften hinterlassen, die auch meist gut ediert und insofern durchaus zugänglich sind.« Und weiter un ten: »Seit 1917 steht eine Statue von Rabbi Loew am Eingang der Prager Stadthalle … Mit dem Golem ist Rabbi Loew erst in relativ späten Legen denbildungen (in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) verbunden wor den.« Womöglich noch konfuser als zuvor schob Lilith den Band wieder
ins Regal zurück und griff nach dem, der genau daneben stand – eine uralte Scharteke, in lateinischer Sprache abgefaßt. Verfasser und Titel waren nicht angegeben, aber auch in diesem Band steckte ein Lesezeichen. Lilith schlug die so bezeichnete Seite auf und be gann auf gut Glück mittendrin zu lesen. »Und als der Hohe Rabbi Löw nun den Golem wollte zum Leben erwe cken, da schrieb er ihm das hebräische Wort für WAHRHEIT auf die Stirn. Dies aber tat er noch aus einem anderen Grund; denn er, der für seine Weisheit berühmte, ahnte schon, daß es eines Tages vonnöten sein mochte, das Geschöpf wieder in jenen Zustand irdenen Schlafes zurückzuversetzen, aus dem er es hervorgezaubert hatte. Nun aber hat das hebräische – und nur das hebräische – Wort für WAHRHEIT eine seltsame Besonderheit: Löscht man nämlich seine erste Silbe aus, so bleibt ein anderes Wort in die ser Sprache, nämlich dasjenige für TOD, auf der Stirn des Golems stehen. Auf diese Weise hatte der Rabbi sich eine Möglichkeit verschafft, seine Die nerkreatur« – bei dem an dieser Stelle von ihr nicht erwarteten Wort zuckte Lilith unwillkürlich zusammen – »wieder ins Dunkel der Ur nacht zurückzuschicken. Ob aber dieser besondere Zauber ihm aus den Schriften der Alten bekannt war, oder ob er ihn selbst in seiner Weisheit ersann, wird wohl für immer unbekannt bleiben.« Lilith schüttelte verwirrt den Kopf. Dieser Autor – wer immer er sein mochte – schien nicht nur von der Existenz des Golems über zeugt zu sein, nein, er schien auch eine ganze Menge über ihn und seine Erweckung zu wissen. Außerdem stammte das Buch möglicherweise aus der Zeit vor dem 18. Jahrhundert. Also gab es den Golem vielleicht doch. Aber was für eine Verbin dung bestand zwischen ihm und den Vampiren? Und wie paßte »Leander Satanas« und seine Ankunft heute um Mitternacht in die ses ohnehin schon verworrene Bild? Nun, sie würde es herausfinden. Noch blieben ihr einige Stunden
Zeit dazu. Mit einer entschlossenen Bewegung griff Lilith nach dem nächsten Band und begann zu lesen.
* Burg Dracul, 1990, kurz nach dem Ende der Diktatur in Rumänien Endlose Treppenfluchten aus schwarzem Stein führten hinunter in die Verliese unter Burg Dracul. Am unteren Ende der Treppe angekommen, stieg Arco über zwei Skelette hinweg, die einer der anderen anscheinend vergessen hatte beiseitezuräumen, und betrat jenes unterirdische Gewölbe, das das Ziel seiner Expedition in die Tiefe war. Im Gegensatz zu allen anderen Kellerräumen der Burg bestand der Boden dieses speziellen Gewölbes nicht aus schwarzen Stein platten oder gewachsenem Fels, sondern aus lockerer, aufgeworfe ner Erde. Nur dort, wo sich die Tür befand, gab es eine Art Vor sprung oder Balkon aus schwarzem Stein, auf dem eine einfache hölzerne Bank stand. Auf diesen Vorsprung trat Arco nun hinaus, um auf der Bank Platz zu nehmen. Dabei achtete er sorgfältig darauf, sich der Trennungslinie zwi schen Stein und lockerem Erdreich nicht allzu weit zu nähern. Zwar war derjenige, den er hier besuchen wollte, selbst jetzt noch so etwas wie sein Freund, aber das änderte nichts daran, daß der Boden aus sah, als sei er von den Schaufeln eines Riesenmaulwurfs umgepflügt worden. Außerdem war er mit menschlichen Knochen und halb ver faulten Leichenteilen durchmischt, die infernalisch stanken. Etwas Ähnliches hatte Arco bisher nur in der Höhle einer Ghul gerochen.
Nein, es lohnte sich wirklich nicht, ein unnötiges Risiko einzugehen! »Bist du da?« erkundigte er sich mit lauter Stimme. Einen Augenblick lang regte sich nichts. Dann antwortete ihm ein langgezogenes Seufzen, das direkt aus der aufgewühlten Erde des Gewölbes zu kommen schien. »Ah, wunderbar. Ich hatte schon befürchtet, daß du dich wieder in die Tiefe zurückgezogen hättest. Es ist gut, daß du da bist. Ich kom me zu dir, weil sich die Lage an der Oberfläche grundlegend verän dert hat. Ich denke, darüber sollte ich dir Bericht erstatten.« Wieder ein Geräusch aus der Erde, diesmal aber langgezogener, fragender. »Als wir das letztemal miteinander sprachen, hatte die Krise oben noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Inzwischen ist allerhand ge schehen. Das Regime ist tatsächlich am Ende. Ceausescu und seine Frau haben versucht zu fliehen, aber man hat sie eingefangen und ihnen den Prozeß gemacht. Beide wurden zum Tode verurteilt und kurzerhand erschossen. Nur gut, daß wir die beiden nie zu Diener kreaturen gemacht haben, sonst hätten wir jetzt eine Menge Ärger am Hals.« Ein leises Stöhnen. »Aber das ist leider noch nicht alles. Die neuen Machthaber beab sichtigen, das gesamte politische System von Grund auf zu verän dern. Auch die Securitate soll in absehbarer Zeit aufgelöst werden. Was das bedeutet, weißt du, nicht wahr? Aber keine Angst, wir ha ben schon begonnen, unsere Vorbereitungen zu treffen, um die schlimmsten Folgen abzumildern.« Ein fragendes Ächzen. »Was wir vorhaben? Nun, zum Beispiel wird Slawomir seine bis herige Identität ablegen und statt dessen als letzter Sproß jener Fa milie wieder auftauchen müssen, welcher die Burg ursprünglich ge
hört hat – also als der, der er eigentlich ja auch ist. Wir gehen zuver sichtlich davon aus, daß die neue Regierung ihm die Besitzrechte wieder überträgt. Immerhin sitzen noch genügend Dienerkreaturen an den entsprechenden Schaltstellen, und wenn es dennoch Proble me gibt, können wir jederzeit weitere Politiker auf unsere Seite brin gen – auf die übliche Weise, du weißt schon.« Er hielt einen Augenblick lang inne, um seine Gedanken zu sam meln, dann fuhr er fort: »Eines allerdings ist klar. So wie bisher kann es nicht weitergehen. Die Burg wird nicht mehr länger ein Ausbil dungszentrum der Securitate sein, und es wird keine Gefangenen mehr geben, die wir unauffällig verschwinden lassen können. Wir alle werden uns eine Zeitlang einschränken müssen. Aber verhun gern müssen wir natürlich nicht.« Keine Reaktion. Arco blickte über die von trüben Glühbirnen er leuchtete Fläche hinaus und versuchte sich vorzustellen, was im Ge hirn des Wesens dort unten vorging, gab den Versuch aber gleich wieder als hoffnungslos auf. Die körperlichen Veränderungen wa ren in den letzten Jahren so rasend fortgeschritten, daß auch der Geist seines unsichtbaren Gesprächspartners davon nicht unbeein flußt geblieben sein konnte. Nein, die Gedanken eines solchen Ge schöpfes vermochte niemand nachzuvollziehen. »Aber jetzt zu den guten Nachrichten. Wie du weißt, arbeite ich seit Jahren daran, die Ursache deiner Krankheit zu ergründen und vielleicht sogar ein Mittel dagegen zu finden. Zu diesem Zweck habe ich ja auch die Bibliothek oben im Hochsicherheitstrakt aufge baut. Bisher konnte ich dir leider keine positiven Resultate melden, aber jetzt endlich scheint es soweit zu sein. Meine Studien haben, so glaube ich, zu ersten brauchbaren Ergebnissen geführt.« Der Seufzer, den sein unsichtbarer Gesprächspartner ausstieß, war so heftig, daß die lockere Erde des Gewölbes leicht zu zittern be gann.
»Halt, halt, nicht so voreilig! Noch ist nichts bewiesen, aber im merhin habe ich eine Spur gefunden, die mir vielversprechend er scheint. Ich will jetzt nicht in die Einzelheiten gehen – dazu ist spä ter immer noch Zeit. Nur soviel: Die ersten Hinweise entdeckte ich in einigen obskuren Schriften der jüdischen Kabbala, aber dann ge lang es mir, eine Querverbindung zu einem ganz anderen Buch zu ziehen.« Er vermied es, das Wort Bibel auszusprechen. »Um dieser Spur nachzugehen, mußte ich mich der Hilfe einiger … Mitarbeiter bedienen, die im Gegensatz zu mir in der Lage waren, gewisse Bü cher in die Hand zu nehmen und zu studieren.« Er erwähnte nicht, daß es sich bei diesen Mitarbeitern um zwei ehemalige Wissenschaftler der Universität Bukarest gehandelt hatte – ehemalige deswegen, weil sie aufgrund unvorsichtiger politischer Äußerungen der Securitate in die Hände gefallen waren. Indem sie Arcos Aufträge mit größter Bereitwilligkeit erfüllten, hatten sie ge hofft, wenigstens ihr nacktes Leben zu retten – eine trügerische Hoffnung, wie sich bald nach Abschluß ihrer Studien herausstellen sollte. Die Skelette, über die Arco auf seinem Weg in das Gewölbe hinweggestiegen war, mochten durchaus von diesen beiden stam men. Wer konnte das bei so vielen Toten schon nachhalten? »Wenn meine Theorien nicht völlig falsch sind«, fuhr Arco nach ei ner winzigen Pause fort, »habe ich vielleicht endlich eine Möglich keit gefunden, dich zu heilen. Versteh mich richtig – ich spreche nicht davon, deinen Zustand vorübergehend zu bessern, sondern davon, dich vollständig und auf Dauer zu heilen.« Diesmal erfolgte keine Reaktion. Es war, als hielte das Geschöpf unter der Erde in gespannter Erwartung den Atem an. »Natürlich ist es ärgerlich, daß gerade jetzt die politische Krise uns vorerst einen Strich durch die Rechnung macht«, meinte Arco. »Aber ich habe mir schon einen Weg ausgedacht, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen – natürlich erst, wenn die politische Lage
sich wieder stabilisiert hat. Das wird ein paar Jahre dauern, aber dann …« Jetzt drangen zum erstenmal halbwegs verständliche Worte aus dem Erdreich hervor. Man merkte, welch ungeheure Mühe es den Sprecher kostete, sie zu formen. »Was … ist … das … für … ein … Weg?« Arco lächelte, obwohl er wußte, daß sein Gesprächspartner ihn durch die Erdoberfläche hindurch nicht sehen konnte. Es war ein Lächeln äußerster Selbstzufriedenheit. »Wir werden eine sehr spezielle internationale Gesellschaft grün den«, sagte er langsam, seinen Triumph genüßlich auskostend. »Sie muß nicht einmal besonders verdeckt operieren, denn ihr erklärtes Ziel wird so auffällig sein, daß niemand auf die Idee kommt, sie könne darüber hinaus noch eine andere, verborgene Absicht verfol gen. Besonders ihre Mitglieder werden nichts davon ahnen und des halb völlig blind – und vor allem freiwillig – in ihr Verderben laufen. Und das ist von entscheidender Bedeutung; wieso, erkläre ich dir später. Ich habe sogar schon einen Namen für die Gesellschaft. Ich denke, wir nennen sie – die Leander Society.«
* Burg Dracul, Gegenwart Als Lilith um Viertel vor zwölf die große Halle betrat, war die Schwarze Messe längst in vollem Gange. So unauffällig wie möglich schob sie sich durch einen der Seiten eingänge herein und suchte sich einen etwas erhöhten Platz zwi
schen zwei Säulen, weil sie hoffte, von dort aus den Ablauf der Ze remonie beobachten zu können, ohne selber allzusehr aufzufallen. Doch darüber, so stellte sie fest, hätte sie sich keine Gedanken ma chen müssen. Kaum einer der Umstehenden beachtete sie, denn sie alle waren voll und ganz damit beschäftigt, das zu verfolgen, was vorne auf der Bühne geschah. Nicht einmal die Tatsache, daß sie sich bei einer so wichtigen Zeremonie verspätete, schien etwas aus zumachen. Die Satanisten jedenfalls störten sich nicht daran, und selbst die Ex-Securitate-Leute, die, mit Maschinenpistolen bewaff net, längs der Wände postiert standen, warfen ihr nur einen unauf merksamen und etwas tadelnden Blick zu. Woran das lag, verstand Lilith erst, als sie sah, wie noch andere Mitglieder der Leander Society verstohlen in die Halle geschlichen ka men. Offenbar war sie nicht die einzige, die zu spät kam. Wahr scheinlich, dachte sie, hatten sich eine ganze Reihe Satanisten erst einmal ein Stündchen hingelegt, um nach der anstrengenden »Ein stimmung« von Körper und Geist wieder fit für die Schwarze Messe zu sein, und dabei deren Beginn verschlafen. Der Grund, warum Lilith sich verspätet hatte, war allerdings ein anderer. Über der faszinierenden Lektüre oben in der Bibliothek hat te sie die Zeit vergessen und erst vor einer knappen Viertelstunde den Verdacht geschöpft, daß es vielleicht schon später sein könnte, als sie glaubte. Ihre erste Erregung verebbte, und sie fing an, sich systematischer in der Halle umzuschauen. Dabei stellte sie fest, daß der Beobach tungsplatz, den sie gewählt hatte, wirklich ausgezeichnet war. Von den Stufen, auf denen sie stand, konnte sie die Szenerie unter sich hervorragend überblicken. Trotz seiner Größe war der Raum bis zum Podium gedrängt voll mit Menschen. Einige hatten sich inzwischen wieder umgezogen, aber die meisten trugen noch immer die absurden Gewänder, in de
nen sie an der Orgie in den Räumen der Burg teilgenommen hatten. Von diesen grotesk Kostümierten wirkten viele so, als könnten sie sich kaum auf den Beinen halten – wahrscheinlich eine Auswirkung der Drogen, die sie konsumiert hatten, um sich sexuell zu enthem men. Ihre Gesichter allerdings waren andächtig dem Podium zuge wandt, und sie sangen einen lateinischen Hymnus, der Lilith verteu felt an Gesänge in der katholischen Liturgie erinnerte. Was ja kein Zufall war. Immerhin pflegten die meisten Zirkel von Satansanbetern das Ritual der katholischen Messe als Ausgangsma terial für ihre eigenen Schwarzen Messen zu benutzen. Liliths Blick schweifte weiter über die Menge hinweg, aber es ge lang ihr nicht, Nicholas oder irgendwelche anderen bekannten Ge sichter zu erspähen. Statt dessen sah sie, daß vorne, vor der Empore, ein großer Platz freigelassen war. Dort prangte ein mindestens zehn Meter durchmessendes Pentagramm auf dem Boden, mit weißer Kreide auf die Steinplatten gezeichnet. Lilith bemerkte, daß die Um stehenden sorgfältig darauf achteten, nicht auf die Linien dieses rie sigen Drudenfußes zu treten, sondern sich in respektvollem Ab stand darum herum gruppiert hatten. Seltsam, daß die Steinplatten im Innern des Pentagramms entfernt worden waren. Heute nachmittag, bei ihrer Begrüßung durch Arco, war das noch nicht der Fall gewesen. Was mochte das für einen Sinn haben? Statt sich weitere Gedanken darüber zu machen, ließ sie ihren Blick lieber hinauf zur Empore schweifen. Dort standen, wie schon heute nachmittag, Arco und Slawomir, die offenbar bei dieser Schwarzen Messe als Priester fungierten. Diesmal allerdings waren sie nicht allein, sondern es waren noch mehrere andere Vampire bei ihnen, zwei männliche und drei weibliche, alle in schwarze Umhän ge gekleidet. Also sieben insgesamt, dachte Lilith. Wie passend.
Erst jetzt fiel ihr auf, daß sie keine Ahnung hatte, wie viele Vampi re insgesamt auf Burg Dracul versammelt sein mochten. Waren das dort vorne alle? Oder hielten sich hier im Raum noch weitere auf? Wenn ja, dann konnte sie sie mit ihren Vampirsinnen jedenfalls nicht spüren, und auch ein rascher Blick über die Menge gab ihr kei ne Antwort auf diese Frage. Außerdem war das, was vorne auf der Bühne geschah, im Augen blick sowieso viel interessanter. Jetzt, als sie genauer hinsah, wußte sie auch, woran sie das ganze Arrangement erinnerte: nämlich an den Keller jenes Hauses in To kio, in dem Helen Takahashi ihr Anbetungsritual für Leander Sata nas inszeniert hatte. Das Ritual hier war nicht so viel anders, nur auf wendiger natürlich, und es beteiligten sich mehr Teilnehmer daran. Auch hier gab es das verkehrt herum aufgehängte Kreuz, und es war ebenfalls durch einen daran hängenden Körper zur satanischen Travestie eines Kruzifixes pervertiert worden. Nur, daß es bei der Schwarzen Messe auf Burg Dracul keine Katze war, die die Zelebranten an das Kreuz genagelt hatten. Sondern der Hermaphrodit. Plötzlich war Lilith froh, daß sie den Anfang der Zeremonie ver paßt hatte. Der Gedanke, dabei zuschauen zu müssen, wie die Füße des Hermaphroditen an den Querbalken des Satanskreuzes genagelt wurden, so daß er mit gespreizten Beinen, den Kopf nach unten, mit seinem gesamten Körpergewicht daran hing, war selbst für eine Halbvampirin wie Lilith grauenerregend. Allein der Anblick der di cken, über und über mit Blut verkrusteten Stahlnägel bereitete ihr schreckliche Übelkeit, und sie begriff absolut nicht, wieso der Herm aphrodit trotz der Qualen, die er zweifellos litt, nicht einen Schmerz laut von sich gab. Vielleicht, dachte sie, hatte man ihn ja unter Dro gen gesetzt, bevor man ihn kreuzigte. Sie hoffte es um seinetwillen.
In diesem Augenblick berührte eine Hand ihre Schulter. Sie drehte sich um. Und erstarrte. Vor ihr standen zwei Vampire, ein männlicher und ein weiblicher. Daß es Vampire waren, sah Lilith auf den ersten Blick, noch bevor sie ihre typische Ausstrahlung spürte. Viel interessanter fand sie al lerdings den Mann und die Frau, die zusammen mit den Vampiren so unvermittelt hinter ihr aufgetaucht waren. Der Mann war ein klein gewachsener Japaner in tadellos eleganter Kleidung, die so gar nicht zu den wahnsinnigen Kostümen paßte, die die anderen Satanisten unten in der Halle trugen. Lilith hatte ihn noch nie gesehen, aber trotzdem wußte sie sofort, um wen es sich handelte – nämlich um jenen Nobosuke Otami, von dem Nicholas Rhodes auf dem Flughafen in Wien gesprochen hatte. Denn die Frau in seiner Begleitung – eine wunderschöne Eurasie rin mit pechschwarzen Haaren und elfenbeinfarbener Haut – war niemand anders als Helen Takahashi.
* »Das ist sie, nicht wahr?« sagte die Vampirin zu der echten Helen, die neben ihr stand. Helen Takahashi musterte Lilith mit einem Gesichtsausdruck zwi schen Faszination und Ekel. »Ich … ich weiß nicht«, sagte sie leise. »Ich kann mich nicht erin nern, aber das Make-up und das Kostüm … ich glaube, das ist doch eindeutig, nicht wahr? Sie muß es sein.« Die Vampirin lächelte Lilith freundlich an. »Eindeutig, ja«, schnurrte sie mit einer Stimme, welche Lilith an die einer Katze erin
nerte, die mit einer Maus spielt. Seltsamerweise schien sie gar nicht besorgt oder verärgert zu sein, nicht einmal neugierig, wer die falsche Helen tatsächlich war. Und plötzlich sagte sie etwas völlig Verblüffendes: »Ich gehe doch recht in der Annahme, daß du frei willig hier bist, nicht wahr?« Lilith starrte sie an. »Ich … ja. Niemand hat mich gezwungen, her zukommen.« »Gut. Dann können wir dich verwenden«, schnurrte die Vampirin. »An diesem Ritual dürfen nämlich nur Personen teilnehmen, die freiwillig hergekommen sind. Leider hat es einen kleinen … Zwi schenfall gegeben, bei dem einer unserer weiblichen Gäste, eine ge wisse Sonja, ums Leben gekommen ist. Deswegen verfügen wir jetzt nur noch über 665 Teilnehmer – eine mißliche Situation, wie du mir glauben darfst. Aber jetzt haben wir ja plötzlich zwei Helen Takaha shis in unserer Mitte, und das löst unser Problem … Los, komm mit.« Bevor Lilith protestieren konnte, hatten die Vampire sie zwischen sich genommen und an beiden Ellbogen gepackt. Im nächsten Au genblick wurde sie auch schon die Stufen hinuntergeführt, in Rich tung des Pentagramms. Die echte Helen Takahashi und Nobosuke Otami folgten ihnen auf dem Fuße. »Ich hoffe, du weißt das zu würdigen«, sagte der männliche Vam pir an ihrer rechten Seite. »Du wirst die einmalige Gelegenheit ha ben, das Ritual aus nächster Nähe mitzuerleben – nicht als Beobach ter, sondern als Teilnehmerin.« Während der Zeit, in der Lilith mit dem Rücken zur Halle gestan den hatte, hatte das Ritual weiter seinen Fortgang genommen. Die Menge sang immer noch irgendwelche abgewandelten lateinischen Hymnen, aber oben auf dem Podium hatte Arco jetzt ein Messer er griffen und es hoch in die Luft erhoben, um es der Menge zu zeigen.
Als Lilith begriff, was er damit vorhatte, hätte sie sich am liebsten von ihren Bewachern losgerissen und wäre zum Podium gelaufen, um ihm in den Arm zu fallen, aber dazu war es natürlich zu spät. Mit einem einzigen raschen Schritt war Arco zu dem Hermaphro diten getreten und hatte ihn mit zwei tiefen Schnitten verstümmelt. Selbst jetzt, in diesem entsetzlichen Augenblick, gab der Herm aphrodit nicht den geringsten Schmerzenslaut von sich. In dem fla ckernden Licht konnte Lilith nicht einmal erkennen, ob sich sein Körper zusammenkrampfte, als das Messer in sein Fleisch drang. Vielleicht spürte er ja wirklich nichts, auch wenn sein Blut so hoch aufspritzte, daß es nicht nur Arco und Slawomir, sondern auch die am nächsten stehenden Satanisten besudelte. Ein paar Tropfen davon fielen auch auf die freie Fläche im Zen trum des Pentagramms. Lilith glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie sah, daß das Erdreich leicht zu vibrieren begann. Plötzlich erinnerte sie sich an eine alte Legende, die unter den Vampiren kursierte – nämlich die, daß das Blut eines echten Herm aphroditen magische Qualitäten besitze. Kein anderes Blut, so hieß es, könne einen kranken oder erschöpften Vampir so schnell wieder zu Kräften bringen wie das eines Hermaphroditen. In diesem Augenblick warf Arco den abgetrennten Phallus mit ei ner weitausholenden Gebärde mitten in das Pentagramm hinein. Und diesmal zitterte die Erde nicht bloß. Sie begann regelrecht zu brodeln. Ein Aufschrei ging durch die Satanisten rings um den Drudenfuß. Die, die nicht völlig von Drogen umnebelt waren und ihre Umge bung noch einigermaßen klar wahrnahmen, versuchten zurückzu weichen, wurden aber durch die Reihen der hinter ihnen Stehenden daran gehindert.
Es hätte sowieso keinen Sinn gehabt. Das, was da sein Kommen ankündigte, war so gewaltig, daß jeder Fluchtversuch zwecklos sein mußte. Auch Lilith spannte sich unwillkürlich an. Sie spürte, wie die Vampirin an ihrer Seite warnend den Griff um ihren Arm verstärk te, wie um ihr zu signalisieren, daß sie sich nur ja nicht vom Fleck rühren sollte. Aber das hatte Lilith ohnehin nicht vor. Nein, sie wollte unbedingt wissen, was auf Burg Dracul vorging; deshalb war sie schließlich aus Tokio hierhergekommen. Und in die sem Augenblick, das spürte sie, war sie der Lösung des Rätsels um die mysteriöse Leander Society näher als je zuvor. In ein paar Sekun den würde sie mit ihren eigenen Augen sehen können, wie alles zu sammenhing – was das verbindende Glied war zwischen den Vam piren, Leander Satanas und der Golem-Literatur, die sie oben in der Bibliothek entdeckt hatte. Das Brodeln wurde immer stärker. Erste Risse bildeten sich im Boden. Und dann brach aus dem Erdreich eine monströse Gestalt hervor. Der Anblick war so unglaublich, daß Lilith das Gefühl hatte, ihr Herz würde stehenbleiben. Denn das Geschöpf, das sich vor ihr aus der Erde erhob wie ein Walfisch aus dem Meer, war mindestens vier Meter groß und wog bestimmt eine Tonne. Der erste Eindruck war der eines riesigen Maulwurfs, aber dann sah sie, daß es ein Mensch war – ein ins Gi gantische vergrößerter und zugleich schrecklich entstellter Mensch. Nein, auch das stimmte nicht. Es war ein Vampir. Seine Ausstrahlung war so stark, so massiv, wie Lilith es noch nie zuvor bei einem anderen Vampir gespürt hatte. Zugleich war sie auf entsetzliche Weise anders, beinahe so, als sei dieser deformierte Vampir im Zuge seiner Veränderung zu einem anderen Geschöpf
geworden. Lilith blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn jetzt reckte sich die Schreckensgestalt hoch auf und starrte über die Menge hin weg. Ihre roten Augen waren im Vergleich zu ihrer Körpermasse winzig, und sie waren abgrundtief böse. Wie im Rausch begann die Menge »Leander Satanas! Leander Sa tanas!« zu skandieren. Leander Satanas adveniet. Das also war der Teufel, den diese Sata nisten anbeteten – ein ins Absurde mutierter Vampir! Das, was die monströsen Veränderungen an ihm ausgelöst hatte, mußte noch viel weiterreichende Konsequenzen gehabt haben, als man auf den ersten Blick sah. Es schien sogar seine Fähigkeit zur Gestaltwandlung beeinträchtigt zu haben, denn sein rechtes Bein war ein Wolfslauf, und aus seinem Nacken wuchs ein Paar lächer lich winziger Fledermausflügel hervor – das sichere Zeichen einer nur unvollständig gelungenen Rückverwandlung. Als er sich schüt telte, fielen die Erdbrocken, die seinen Körper zuvor wie eine Kruste bedeckt hatten, von ihm ab, und Lilith konnte sehen, daß auch ande re Teile seiner lehmgrauen Haut mit Wolfs- und Fledermausfell überzogen waren. An einigen Stellen meinte sie sogar reptilienartige Schuppen auszumachen, etwas, das sie noch nie zuvor an einem Vampir gesehen hatte. Es war ein Anblick, der einen unvorbereite ten Betrachter wirklich glauben machen konnte, den Leibhaftigen in Person vor sich zu haben. Von der Bühne herab begann Arco, einen neuen Gesang in lateini scher Sprache anzustimmen. Zwar verstand Lilith den Text nicht, aber ein Wort wurde so oft wiederholt, daß es selbst durch das To sen des Blutes in ihren Ohren bis zu ihr durchdrang: Sacrificium. »Leander Satanas! Leander Satanas!« brüllte die in Ekstase gerate
ne Menge. Hände packten einen der Satanisten, einen jungen Mann, und ris sen ihn nach vorne, bis an den Rand des Pentagramms. Lilith konnte hören, wie er einen winzigen Angstlaut von sich gab, als er das Monstrum direkt vor sich aufragen sah. Leander Satanas starrte auf ihn herunter, mit Augen, die so böse und mitleidlos waren, daß es selbst Lilith schauderte. Und dann beugte er sich nach vorn, öffnete seinen Rachen … … und biß dem jungen Mann den Kopf ab. Und erst in diesem Augenblick erkannte Lilith ihn. Es war Nicholas! Ein Aufschrei ging durch die Menge, als der kopflose Körper des Engländers einen Schritt zur Seite taumelte, während eine Blutfontä ne aus seinem Hals aufsprang. Im nächsten Augenblick hatte Lean der Satanas mit seinen unförmigen Armen zugegriffen, den Körper gepackt und ihn wieder zu sich herangezogen, um nur ja keinen Tropfen des kostbaren roten Lebenssaftes zu vergeuden. Mit unge heurer Gier trank er aus Nicholas, ohne sich dabei die Mühe zu ma chen, nach Vampir-Art seine Zähne zu benutzen. Dann schleuderte er die ausgesaugte Hülle weg und griff nach dem nächsten Opfer, das die bereitstehenden Vampire schon zum Pentagramm hinüber geschleppt hatten. All das geschah rasend schnell, beinahe wie in einem Traum. Und vielleicht war es ja auch ein Traum, denn so etwas konnte es einfach nicht geben. Vampire verfügten gar nicht über die biologische Aus rüstung, um feste Nahrung zu sich zu nehmen. Versuchten sie es, dann mußten sie sie sofort unter den entsetzlichsten Qualen wieder auswürgen, eine Tatsache, die selbst Lilith als Halbvampirin aus ei gener bitterer Erfahrung kannte. Leander Satanas indes schien keinerlei Schwierigkeiten damit zu
haben. Er hatte Nicholas’ Kopf gefressen. Und das bewies, daß er wirk lich zu etwas völlig anderem geworden war, etwas, das kaum noch etwas mit einem normalen Vampir gemein hatte. Deshalb auch seine seltsame Ausstrahlung … Hatte er sich womöglich in eine Art Vam pir-Ghul verwandelt? Oder … In dem Moment, als er sich vorbeugte, um das zweite Opfer anzu nehmen, bemerkte Lilith das Zeichen auf seiner Stirn. Es war ein verschlungenes Gebilde aus narbig aufgeworfenen ro ten Wülsten, das man im ersten Augenblick auch für ein Feuermal hätte halten können. Wahrscheinlich taten die meisten der anwesen den Menschen das auch, wenn sie denn überhaupt darauf achteten. Im Gegensatz zu Lilith verfügten sie schließlich nicht über die Bega bung, alle Sprachen dieser Welt lesen und verstehen zu können. Das Mal stellte eine Abfolge von hebräischen Schriftzeichen dar. Schriftzeichen, die zusammen das Wort ANMAUTH ergaben: Wahrheit. Und plötzlich fielen alle Steine dieses Puzzles an ihren Platz und ergaben ein vollständiges Bild. Es war jenes Wort, das der Hohe Rabbi Löw auf die Stirn des Go lems geschrieben hatte, um ihn zum Leben zu erwecken. Und wenn es jetzt auf der Stirn von Leander Satanas stand … Es gab nur eine Erklärung dafür. Irgendwann, vielleicht im 16. Jahrhundert, vielleicht auch später, hatte ein Vampir namens Lean der, ohne zu wissen, was er tat, den Golem gebissen. Und die Magie, die den Golem am Leben erhielt, war auf ihn übergegangen. Nur, daß sie bei ihm nicht lebenspendend wirkte, sondern ihn ver giftet und die schrecklichen Veränderungen bewirkt hatte, die ihn zu dem Ungeheuer machten, das er jetzt war. Dem Ungeheuer, das sich »Leander Satanas« nannte.
Und nun versuchte er, sich durch das Blut von 666 freiwilligen Opfern von diesem Gift, das in seinen Adern wühlte, zu befreien. Deshalb also die Bibliothek! Irgendwo in den dort gesammelten Schriften mußte das Geheimnis dieses Heilzaubers enthalten sein, auch wenn Lilith es in den wenigen Stunden, die ihr zur Verfügung standen, nicht entdeckt hatte. Es war auch gleichgültig. Worauf es jetzt ankam, war, daß sie in der Bibliothek etwas ganz anderes gefunden hatte – einen Hinweis, der ihr und allen anderen hier versammelten Opfern des GolemVampirs vielleicht das Leben retten konnte. Aber dazu mußte sie sofort handeln. Natürlich wußte sie nur zu gut, welche Folgen es für sie haben konnte, wenn sie den Scout in ihrer Handfläche losschickte. Trotz dem zögerte sie nicht, denn jetzt ging es um ihr Leben. Wie ein Schatten löste sich die seltsame Tätowierung aus ihrer Handfläche, nahm materielle Gestalt an und schoß auf Leander Sa tanas zu.
* Ein Aufschrei ging durch die Menge, als die Satanisten die Fleder maus bemerkten, die auf Leander zuflog. Obwohl keiner von ihnen wußte, was das zu bedeuten hatte, war ihnen doch klar, daß es kein Teil jenes sorgfältig festgelegten Rituals sein konnte, in dessen Ver lauf sie alle ihr Leben opfern würden, um danach, wiederauferstan den, als Mitglieder der höllischen Heerscharen an der Seite von Le ander Satanas über die Welt der Menschen zu herrschen. Lilith verfolgte den Flug des Scouts mit angehaltenem Atem. Sie konnte durch seine Augen sehen, wie er unter Leanders unbeholfen
zupackendem Arm hindurchflog, sich in einem eleganten Bogen nach oben schwang und sich mit vorgereckten Krallen auf den Kopf des Monsters stürzte. Und dann tat er das, was Lilith ihm als Auftrag mit auf den Weg gegeben hatte. Er zerkratzte die Silbe AN auf Leanders Stirn. Blut spritzte hoch auf. Erst jetzt, da der Schmerz der Verletzung ihn durchzuckte, be merkte der Golem-Vampir seinen Angreifer, aber da war es schon zu spät. Aus dem Wort ANMAUTH war das Wort MAUTH gewor den – Tod. Zum erstenmal seit seinem Auftauchen aus dem Erdboden gab Le ander einen Laut von sich – mit einer Stimme, die klang, als komme sie geradewegs aus einer Gruft. Eine solch entsetzliche Stimme hatte Lilith noch nie in ihrem Leben gehört. Was die Stimme sagte, war nur ein einziges Wort. »Adonai …« Und dann ging alles sehr schnell. Leander, der Vampir, der sich als Satan ausgegeben hatte, zerfiel zu Staub. Eine Welle der Schwärze breitete sich von ihm aus, schwappte über die Anwesenden hinweg und löschte den letzten Funken an klarem Verstand aus, den die Satanisten nach der Orgie, den Drogen und der Schwarzen Messe noch in sich haben mochten. Die Vampire waren von diesem Effekt nicht ausgenommen. Lilith sah Arco, der dem Monstrum an nächsten stand, niedersinken, kurz bevor die schwarze Welle sie selbst traf. Lilith verlor augenblicklich das Bewußtsein.
*
Als sie kaum zwei oder drei Minuten später wieder zu sich kam, fühlte sie sich sterbenselend. Rings um sie herum war das totale Chaos ausgebrochen. Überall erklangen Stimmen, die durcheinanderriefen, dazu das Geräusch trampelnder Füße, Schüsse aus Maschinenpistolen, Schreie, Flüche. Durch den Tod von Leander war in der großen Halle anscheinend eine Massenpanik ausgebrochen. Liliths Handfläche schmerzte, als hätte jemand sie mit Nadeln ge spickt. Doch als sie angstvoll darauf blickte, sah sie das Tattoo an seinem angestammten Platz. Die schemenhafte Fledermaus war trotz ihrer Ohnmacht zu ihr zurückgekehrt. Lilith hätte nicht zu sa gen gewußt, was mit ihr geschehen wäre, hätte der Scout es nicht ge schafft. Und sie hatte auch kein Verlangen danach, es auszuprobie ren. Erst recht nicht in ihrem jetzigen Zustand. Miserabel war noch eine geschmeichelte Beschreibung dafür. Am liebsten hätte sie sich zurücksinken lassen, um in aller Ruhe zu sterben. Aber nur für einen Moment. Dann erwachte ihr Überlebenswille. Irgendwie gelang es ihr, sich durch die tobende Menge zu dem Hermaphroditen durchzukämpfen. Als sie die hölzerne Plattform erreichte, zog sie sich mit letzter Kraft hinauf, torkelte zu dem Ster benden hinüber und hieb ihm die Zähne in die Halsschlagader. Dann begann sie wie eine Verdurstende zu saugen. Das Blut war nicht nur außergewöhnlich köstlich, es war ein wah res Lebenselixir. Also stimmten die Sagen über das heilkräftige Blut der Hermaphroditen tatsächlich. Als sie genug davon getrunken hatte, wich die entsetzliche Schwäche aus ihrem Körper, und zum erstenmal seit ihrem Erwachen nahm sie sich und ihre Umwelt wie der richtig wahr. Routiniert verwandelte sie sich in eine Fledermaus. Es war die ein
fachste Möglichkeit, aus der Halle zu entkommen, auch wenn es sie schon wieder viel von ihrer soeben neugewonnenen Kraft kostete. Eines der Mosaikfenster war unter einer MPi-Salve in tausend Scherben zersplittert, und durch dieses Fenster schwang Lilith sich nun hinaus in die sternklare Nacht. Mit matten Flügelschlägen gewann sie an Höhe, bis Burg Dracul nur noch als dunkler Schatten unter ihr lag. Von dort drangen Lärm und ein langsam stärker werdender Feuerschein zu ihr herauf, aber es berührte sie nicht mehr. Sie verspürte nur noch das Bedürfnis, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo sie ausruhen konnte. Danach war immer noch Zeit genug, weiterzusehen. Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Aus dem Burgtor löste sich ein länglicher Schatten und jagte mit rasch zunehmender Geschwindigkeit die Serpentinenstraße entlang, die den einzigen Zugang zur Burg darstellte. Es war einer der TatraBusse, mit denen sie gestern gekommen waren. Offensichtlich be nutzte ihn jemand, um damit zu fliehen – keine schlechte Idee, wie Lilith fand. Vielleicht konnte sie sich der Gruppe, die den Bus gekapert hatte, sogar anschließen. In ihrer Fledermausgestalt die ganze Strecke bis Bukarest zurückzulegen, war ihr sowieso unmöglich. In ihrem ge schwächten Zustand würde sie wahrscheinlich nicht einmal bis zur nächsten menschlichen Ansiedlung kommen. Nein, der Bus war wirklich keine schlechte Idee – wenn er nicht mit Vampiren besetzt war. Die Wahrscheinlichkeit dafür war allerdings nicht groß. Vampire hätten sich in einer solchen Situation keines technischen Transport mittels bedient, sondern sich eher in ihre Wolfsgestalt verwandelt, die es ihnen ermöglichte, auch lange Strecken rasch und ohne Ermü dung zurückzulegen – eine Metamorphose, der Lilith nicht fähig
war. In weitem Bogen schwang Lilith sich aus dem Himmel herab. Da bei steuerte sie nicht direkt auf den Bus los, sondern zielte auf eine Kurve ein ganzes Stück weiter unten am Hang, die der Bus erst in einigen Minuten erreichen würde. Trotz der Schwäche, die sie von Sekunde zu Sekunde deutlicher spürte, hoffte sie ihn dort abfangen zu können. In dem Moment, als sie festen Boden unter den Füßen hatte, ver wandelte sie sich wieder in ihre menschliche Gestalt zurück. Unend lich müde ließ sie sich auf einen Felsklotz am Straßenrand sinken. Wenn sie so tat, als sei sie ebenfalls gerade dem Inferno in der Burg entronnen, würde man sie sicherlich zusteigen lassen und sie mit nach Bukarest nehmen. Und wenn sie unterwegs jenen nagenden Durst nach Blut verspürte – nun, dann würden ihr die Mitreisenden eine zwar unfreiwillige, aber dennoch wohlschmeckende Zwischen mahlzeit bieten. Essen auf Rädern, dachte sie mit einem Anflug von Sarkasmus. Von Bukarest aus war es dann kein Problem mehr, nach Tokio zu rückzukehren – in die Geborgenheit des Penthouses auf dem Dach des Schinrei-Buildings, wo Beth auf sie wartete. Zurück in eine andere Welt. Sie ahnte nicht, wie lang der Weg dorthin für sie noch werden soll te.
* Irgendwo, irgendwann Die Dienerkreatur, die einmal der jüdische Schuster Benjamin Loew aus Prag gewesen war, schlug die Augen auf. Vor ihr stand einer der Vampire. »Was verlangt Ihr von mir, Meister?« fragte die Kreatur. Und der Meister sagte es ihr … ENDE
Tote Herzen von Adrian Doyle Ihr Name ist Laila. Einst war sie ein einfaches Mädchen aus einem kleinen rumänischen Dorf: Râcâsdia. Doch dann wurde sie von Wesen entführt und geknechtet, die sich von Blut und Qualen ernährten. Die einen unheiligen Keim in sie pflanzten, der ewiges Leben, aber auch ewige Verdammnis ver sprach. Ihre Folterknechte wurden selbst gerichtet, von einer Frau, die wie aus dem Nichts auftauchte und die gesamte Vampirsippe vom Ant litz der Erde tilgte. Laila überlebte als einzige. Und starb. Der Keim erweckte sie zu einem zweiten, grausamen Leben. Und nun kehrt sie nach Râcâsdia zurück …