Globale Gerechtigkeit
Campus Studium
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Globale Gerechtigkeit
Campus Studium
Henning Hahn, Dr. phil., arbeitet derzeit an seiner Habilitation zur globalen Verantwortung im Projekt »Ethik der Globalisierung« an der Universität Kassel.
Henning Hahn
Globale Gerechtigkeit Eine philosophische Einführung
Campus Verlag Frankfurt/New York
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-593-39024-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2009 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Satz: Marion Jordan, Frankfurt am Main Druck und Bindung: Druck Partner Rübelmann, Hemsbach Gedruckt auf Papier aus zertifizierten Rohstoffen (FSC/PEFC). Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
für Anselm
Inhalt
1. Einleitung: Zur Theoriebildung globaler Gerechtigkeit ................11 1.1 Moralische vs. politische Gerechtigkeit...................................14 1.2 Globale Gerechtigkeitspflichten...............................................18 1.3 Globale soziale Gerechtigkeit ..................................................24 1.4 Zur Systematik der Einführung................................................30 2. Verantwortung für globale Armut ...................................................33 2.1 Globale Armut als moralische Herausforderung: Peter Singer ..................................................................................37 2.2 Globale Armut als Gerechtigkeitsproblem: Thomas Pogge.............................................................................44 2.3 Globale Pflichten und nationale Verantwortung: David Miller .................................................................................50 2.4 Politische Verantwortung: Iris Marion Young.......................55 3. Globaler Kontraktualismus ................................................................65 3.1 Vom Rechtsfrieden zum Weltbürgerrecht: Immanuel Kant ...........................................................................70 3.2 Die Vision einer komplementären Weltrepublik: Otfried Höffe ..............................................................................75 3.3 Eine Grundcharta der Völkergemeinschaft: John Rawls ...................................................................................85
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4. Gerechtigkeitstheoretischer Kosmopolitismus ...............................95 4.1 Weltweite Verteilungsgerechtigkeit: Charles Beitz und Thomas Pogge...................................................................103 4.2 Ein globales Menschenrechtsregime: Martha Nussbaum ....................................................................113 4.3 Weltinnenpolitik ohne Weltrepublik: Jürgen Habermas ......................................................................126 4.4 Vom Staatsbürger- zum Weltbürgerrecht: Seylah Benhabib ........................................................................141 4.5 Ein globales Grundrecht auf Rechtfertigung: Rainer Forst ...............................................................................148 5. Gerechtigkeitstheoretischer Partikularismus .................................159 5.1 Von der Ohnmacht globaler Gerechtigkeit: Hans J. Morgenthau und Kenneth N. Waltz .......................165 5.2 Liberaler Nationalismus: David Miller ..................................174 5.3 Der Staat als Domäne sozialer Gerechtigkeit: Thomas Nagel ...........................................................................182 6. Ausblick: Politischer Kosmopolitismus ohne Alternative?.........190
Literatur ............................................................................................... 199 Register ................................................................................................ 210
Danksagung
Wenige Themen in der politischen Philosophie erfordern ein ähnlich hohes Maß an Frustationstoleranz wie die Beschäftigung mit globaler Gerechtigkeit. Nirgends ist die Diskrepanz zwischen gesellschaftlicher Relevanz und wissenschaftlichem Elfenbeinturm frappierender, nirgends wird die Gegensätzlichkeit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit deutlicher und nirgends wächst die disziplinübergreifende Literatur rascher. Um in dieser Problem- und Forschungslandschaft einen ersten Überblick gewinnen zu können, haben mir eine Vielzahl von Personen und Institutionen geholfen, denen ich hier ausdrücklich danke. An erster Stelle danke ich der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung für die großzügige Unterstützung meines Post-DocProjekts »Kontexte transnationaler Gerechtigkeit« an der Universität Bremen. Dem Kolleg Friedrich Nietzsche in Weimar und seinem Leiter Dr. Rüdiger Schmidt-Grépály danke ich sehr für eine intensive Zeit als Fellow in Residence, die es mir erlaubte, mich gründlich in das Thema einzuarbeiten. Für die Möglichkeit zur Teilnahme an einschlägigen Workshops danke ich unter anderem Lukas Meyer, Elke Mack und Corinna Mieth. Und schließlich geht mein Dank für weiterführende Hinweise, Kommentare und Kritik an Christoph Broszies, Anna Goppel, Stefan Gosepath, Dirk Jörke, Matthias Katzer, Darrel Moellendorf, Walter Pfannkuche und Asmus Trautsch. Henning Hahn
Kassel, Juni 2009
1 Einleitung: Zur Theoriebildung globaler Gerechtigkeit
Globale Herausforderungen Im Zuge einer sich beschleunigenden Globalisierung sind wir mehr denn je mit weltumgreifenden Problemen konfrontiert. Ob es sich dabei um Armut in Afrika, Überbevölkerung in Südostasien, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in Mittelamerika, Kohlendioxidemissionen in den USA, Agrarsubventionen in Europa oder den Raubbau an Bodenschätzen in der Arktis handelt: Unabhängig von unserem Wohnort gehen uns diese Probleme etwas an, sei es unmittelbar, weil wir ihre ökonomischen oder politischen Folgekosten bezahlen, sei es mittelbar, weil sie uns moralisch betroffen machen. Medien und Immigranten transportieren das Leid der ganzen Welt zu uns; Klimawandel und zuletzt Finanzkrise haben uns vor Augen geführt, dass wir eine Lebenswelt teilen. Entscheidungen, die in fernen Teilen des Globus gefällt werden, wirken sich bis in unseren Alltag hinein aus. Kurz, wenn politische Philosophen und Theoretiker zunehmend Fragen globaler Gerechtigkeit in den Blick nehmen, ist dies keinesfalls der Ausdruck einer moralisierenden Schwärmerei, sondern ein Erfordernis unserer Zeit und eine notwendige Reaktion auf die zunehmende Verflechtung unseres Zusammenlebens. Trotzdem geht es vielen noch zu weit, von globaler Gerechtigkeit zu sprechen. Denn der Ausdruck ›globale Gerechtigkeit‹ scheint bereits einige strittige begriffliche Weichenstellungen vorwegzunehmen. Vor allem evoziert er, dass Gerechtigkeitsfragen keine Grenzen kennen. Wer globale Gerechtigkeit fordert, für den scheinen sich Gerechtigkeitsfragen von vornherein auf den gesamten Planeten Erde zu erstrecken. Es schwingt darin ein Zweifel mit, dass sich Gerechtigkeitsforderungen nur in Hinsicht auf politische Gemeinschaften
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stellen lassen. Um dieser Entgrenzung des Gerechtigkeitsbegriffs vorzubeugen, sprechen viele Autoren bevorzugt von internationaler Gerechtigkeit. Aber auch diese Redeweise ist nicht neutral, sondern nimmt bereits normative Voreinstellungen vor. Wer von internationaler Gerechtigkeit spricht, zeigt damit an, dass wir vom Nationalstaat als ursprünglichem Kontext der Gerechtigkeit ausgehen sollten. Aus dieser Sicht stellen sich Gerechtigkeitsfragen vorwiegend innerhalb einzelner Nationalstaaten und insoweit wir es mit staatsübergreifenden Problemen zu tun haben, bleibt es Sache der einzelnen Staaten, verbindliche Normen auszuhandeln.1 In dieser am Nationalstaat orientierten Theorie internationaler Beziehungen ist Gerechtigkeit auf völkerrechtliche Grundprinzipien beschränkt, oft mit dem Ziel, eine internationale Friedensordnung zu ermöglichen.
Globale Gerechtigkeit als neues Paradigma Die Theorie internationaler Beziehungen und das damit verbundene Primat des Nationalstaats hat das Nachdenken über Gerechtigkeit lange dominiert. Mit Blick auf die Theorieentwicklung der letzten Jahre hat sie allerdings ihren Alleinvertretungsanspruch verloren. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die Theorie internationaler Beziehungen auf einem Modell mehr oder weniger unabhängiger Nationalstaaten aufruht, mitunter auf eben jenem Weltbild, das im Zuge der Globalisierung mehr und mehr erodiert.2 Heute steht der souveräne Einzelstaat im besonderen Maße unter Druck. Seine innere Souveränität, also das Vermögen eines Staates, soziale Regeln innerhalb seines Territoriums durchzusetzen, wird durch die ökonomische Globalisierung unterlaufen. Dezentrale Finanzströme entziehen sich staatlicher Regulierung mit derselben Flexibilität, mit der multinationale Konzerne ihre Produktionsstandorte wechseln. Was die äußere Souveränität von Nationalstaaten, also die Fähigkeit, ihre Verteidi-
—————— 1 Vgl. die Diskussion in Mertens (2005). 2 Entsprechend kritisiert Buchanan (2000), dass Rawls eine Theorie für eine bereits im Auflösen begriffene Weltordnung entwickelt hat; Julius (2006) stellt die provozierende Frage, ob Nagels Atlas noch auf dem neuesten Stand ist; und Fraser (2009) diagnostiziert insgesamt eine post-westfälische Welt.
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gungs- und Sicherheitsinteressen aus eigener Kraft zu realisieren, betrifft, hat eine lange wie grausame Geschichte kontinentaleuropäischer Kriege gezeigt, dass die Idee eines Kräftegleichgewichts souveräner Staaten ein zerbrechliches Ideal darstellt. Im Atomzeitalter und noch viel mehr in einer Zeit, in der der Terrorismus global agiert und Kriege neu definiert, stehen Staaten vor kategorial neuen Herausforderungen, die nachhaltig nur durch eine globale Friedensordnung in den Griff zu bekommen sind.3 Vor dem Hintergrund dieser inneren und äußeren Schwächung des Nationalstaats lässt sich auf der Theorieebene eine Verschiebung von internationaler hin zu globaler Gerechtigkeit diagnostizieren. Dieser Entwicklung Rechnung tragend habe ich für diese Einführung den Ausdruck ›globale Gerechtigkeit‹ als Oberbegriff gewählt, auch wenn sie eine Reihe von Ansätzen umfasst, die weiter am Nationalstaat modelliert sind wie die von John Rawls (Kap. 3.3), David Miller (Kap. 5.2) oder Thomas Nagel (Kap. 5.3). Bemerkenswert ist jedenfalls, dass diese Theorien in eine defensive Position geraten sind. Heute trägt die Theorie internationaler Beziehungen die Beweislast, dass sie den spezifischen Problemen einer sich ausdifferenzierenden Globalisierung gerecht werden kann. Sie muss sich vor dem Hintergrund eines neuen Paradigmas rechtfertigen, nämlich vor dem Paradigma globaler Gerechtigkeit. Die fortschreitende Entgrenzung von Gerechtigkeitsproblemen zeigt sich auch und gerade mit Blick auf die politische Landkarte. Bildlich gesprochen sind die Nationalgrenzen auf dem Globus blasser geworden, während sie durch die Schraffur supranationaler Verbände wie der Europäischen Union (EU) überlagert werden. In einigen übergeordneten sicherheitspolitischen und ökonomischen Politikfeldern haben sich zudem globale Institutionen wie die Vereinten Nationen (UNO), die Weltbank, die Welthandelsorganisation (WTO) oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgebildet, die nahezu alle Nationalstaaten in derselben Kontur erscheinen lassen. Dies bedeutet keinesfalls, dass der Nationalstaat obsolet geworden ist. Im Gegenteil, gerade die politische Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten zum Wiedererstarken nationaler Identitäten und
—————— 3 Vgl. dazu Münkler (2002).
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zur Sezession neuer Nationalstaaten in Osteuropa geführt. Jede seriöse Theorie globaler Gerechtigkeit wird den Nationalstaat daher weiterhin als unverzichtbare Domäne der Gerechtigkeit anerkennen. Die einleitend genannten Probleme wie Menschenrechtsverletzungen, Klimawandel oder Terrorismus beginnen aber die Regelungskompetenz einzelner Nationalstaaten zu übersteigen, so dass eine Perspektivenverschiebung von internationaler hin zu globaler Gerechtigkeit erforderlich erscheint.
1.1 Moralische vs. politische Gerechtigkeit Hinwendung zur politischen Gerechtigkeit Die Frage, was Gerechtigkeit ist, hat im Laufe der Theoriegeschichte einen reichhaltigen Strauß von Antworten hervorgebracht. Es ist hier nicht der Ort für eine begriffsgeschichtliche Bestandsaufnahme. Aber einige systematische Unterscheidungen im Gerechtigkeitsbegriff werden uns helfen, die in den folgenden Kapiteln dargestellte Theoriedebatte besser zu verstehen. Die wichtigste und zugleich problematischste Unterscheidung ist die zwischen einer moralischen und einer politischen Gerechtigkeitskonzeption. Grob gesagt, drückt die moralische Gerechtigkeitskonzeption ein Verständnis von Gerechtigkeit aus, nach dem jede Form vermeidbaren menschlichen Leidens als ungerecht zu bezeichnen ist. Diesem Verständnis zufolge sind Gerechtigkeit und Moral nahezu koextensive Begriffe, das bedeutet, es kommt in etwa aufs Gleiche hinaus, ob wir einen Missstand als ungerecht oder als unmoralisch bezeichnen. Die politische Gerechtigkeitskonzeption begreift Ungerechtigkeit dagegen als ein ganz bestimmtes, nämlich als ein durch politische Beziehungen hervorgebrachtes Missverhältnis. Politische Gerechtigkeit bezieht sich damit allein auf solche zwischenmenschlichen Verhältnisse, die über spezifisch politische Praktiken und Institutionen geregelt werden. Gerechtigkeitsfragen stellen sich dann per Definition nur innerhalb politischer Körperschaften.
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Die Unterscheidung zwischen moralischer und politischer Gerechtigkeit hat sich seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer weiter durchgesetzt. Mit John Rawls’ Namen ist nicht nur die Renaissance der Gerechtigkeitstheorie, sondern auch ihre institutionelle Wende verbunden. In seiner Theorie politischer Gerechtigkeit versucht er gezielt, die Legitimität politischer Institutionen und Regelsysteme zu bewerten (Kap. 3.3). Gerechtigkeit ist, wie Rawls es ausdrückt, die »erste Tugend sozialer Institutionen« (1975: 19). Ein Gericht urteilt beispielsweise gerecht, wenn es jede Person nach gleichen und fairen Grundsätzen beurteilt. Ein politisches Regime ist gerecht, wenn es den Zugang zu Regierungsämtern transparent und gleichberechtigt organisiert. Es ist dieser Ausdrucksweise zufolge aber weder gerecht noch ungerecht, wenn außerhalb politischer Zusammenhänge moralisch inakzeptable Zustände entstehen. Schon auf den ersten Blick hat die jüngste Konzentration auf politische Institutionen und Regeln gute Gründe. Ohne die Koordinierungsleistung politischer Institutionen ist eine nachhaltige Gerechtigkeitssicherung in komplexen Gesellschaften nicht zu gewährleisten. Und gerade die hochkomplexen Probleme globaler Gerechtigkeit verlangen nach institutionellen Lösungen. Trotzdem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Konzentration auf Institutionen immer auch mit der anfänglichen Konzentration der Gerechtigkeitstheorie auf den Nationalstaat zu tun hat. Im Nationalstaat haben wir es mit einem wirksamen institutionellen Gefüge zu tun, mit dem sehr weitgehende Eingriffe in die Lebenspläne einzelner Staatsbürger verbunden sind. Deswegen tritt im Nationalstaat die Frage nach der Legitimität dieser Institutionen in den Vordergrund. Zwar hat sich mittlerweile auch in der globalen Arena so etwas wie eine institutionelle Grundstruktur herausgebildet, die für einige Kosmopolitisten bereits einen globalen Gerechtigkeitskontext konstituiert (Kap. 4.1); dennoch gibt es signifikante Unterschiede zwischen globalen und nationalen Institutionen, Unterschiede, auf die partikularistische Autoren zu Recht verweisen (Kap. 5.3). Diese Unterschiede beziehen sich insbesondere auf die Durchsetzungsfähigkeit, die Regelungsdichte und die Repräsentationsfunktion politischer Institutionen. Globale Institutionen sind weder mit einer staatsanalogen Zwangsgewalt ausgestattet, noch beeinflussen sie in
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vergleichbarem Umfang die Lebensprojekte einzelner Menschen, noch leiten sie ihre Legitimation aus der Identifikation und Teilnahme aller Individuen ab. Daher ist die Engführung des politischen Gerechtigkeitsbegriffs mit Blick auf die globale Arena differenziert zu beurteilen. In vielerlei Hinsicht ist es zweifelsohne angebracht, die Legitimität globaler Institutionen zu kritisieren; aber viele der angesprochenen Gerechtigkeitsprobleme haben gerade damit zu tun, dass die globale Arena relativ schwach institutionalisiert ist. Angesichts dieser Probleme haben wir gute Gründe, neben der legitimatorischen auch die kritisch-visionäre Funktion des Gerechtigkeitsbegriffs ernst zu nehmen. Gerechtigkeitstheorien können ihre Aufgabe, bestehende Verhältnisse zu kritisieren, nur wahrnehmen, wenn sie zugleich die Vision einer gerechten Welt entwickeln, die zum Maßstab ihrer Kritik taugt. Im Rahmen einer politischen Gerechtigkeitskonzeption bedeutet dies, dass Gerechtigkeit nicht nur ein normativer Prüfstein für bestehende Institutionen ist; ihre Funktion besteht ebenso darin, die Idee eines fair geregelten Miteinanders auch dort einzufordern, wo gerechtigkeitssichernde Institutionen fehlen. Die Funktion einer genuin politischen Gerechtigkeitskonzeption besteht somit auch darin, politische Akteure in die Pflicht zu nehmen und auf eine gerechte politische Ordnung hinzuwirken.
Moralische Gerechtigkeit als notwendiges Backup Die erweiterte Definition politischer Gerechtigkeit fängt aber immer noch nicht alle Funktionen ein, die der Gerechtigkeitsbegriff sowohl umgangssprachlich als auch im normativen Diskurs auszufüllen hat. Im Rahmen unserer Theorieübersicht ist es insgesamt hilfreich, wenn wir uns vergegenwärtigen, worauf das Gerechtigkeitsprädikat jeweils bezogen wird oder, technischer ausgedrückt, was das jeweilige iudicandum einer Gerechtigkeitstheorie ist. Für die politische Konzeption ist Gerechtigkeit ein auf gesellschaftliche Relationen bezogener Begriff, über den wir die Legitimität von Institutionen, Praktiken und Regeln beurteilen. Andere Konzeptionen beziehen das Gerechtigkeitsprädikat hingegen auf individuelle Einstellungen und Handlun-
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gen oder sie wenden es auf absolute Missverhältnisse an, die gar nicht aus zwischenmenschlichen Beziehungen hervorgegangen sind. Diese weitere Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs wird in solchen Konzeptionen mitreflektiert, die ich mangels eines besseren Ausdrucks als moralische Gerechtigkeitskonzeptionen bezeichne. Eine moralische Gerechtigkeitskonzeption hat beispielsweise die Funktion, gravierende Ungleichheit auch dann als ungerecht auszuweisen, wenn sie nicht auf Ungleichverteilung beruht, sondern etwa das Ergebnis einer Katastrophe ist. So können die Opfer einer Dürre ihren Zustand als ungerecht empfinden, und zwar einfach darum, weil es Menschen gibt, denen es besser geht und die sie aus ihrem Elend befreien könnten. Umgangssprachlich ist es ebenso sinnvoll, eine Ungleichverteilung als ungerecht zu bezeichnen, die in der privaten Verantwortung einer Person liegt. Ein Kind kann beispielsweise die Taschengeldvergabe als ungerecht empfinden, auch wenn dabei selbstredend keine politische Institution die Hand im Spiel hatte. Kurz, als moralisch ungerecht bezeichnen wir neben individuellen Handlungen vor allem Zustände, die uns per se, das heißt ungeachtet ihrer politischen Ursachen, als moralisch inakzeptabel erscheinen – wie eben absolute oder auch relative, aber nicht auf Ungleichverteilung beruhende Armut. Im Gegensatz zu göttlicher Gerechtigkeit, die wir auch angesichts unabänderlicher Not anrufen, setzt moralische Gerechtigkeit aber voraus, dass der jeweilige Missstand behebbar ist. Dass der moralische Sinn von Gerechtigkeit zuletzt in den Hintergrund getreten ist, hat, wie gesagt, mit dem Erfolg politischer Gerechtigkeitskonzeptionen zu tun. Dieser Erfolg spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen globaler Gerechtigkeit und globaler Ethik wider. Auch sie dient dazu, Gerechtigkeitsforderungen an die Verantwortung politischer Institutionen zu delegieren und damit den Einzelnen von einer schier überwältigenden Verantwortung zu entlasten. Aber in der globalen Arena hat diese Unterscheidung nur einen begrenzten Sinn, weil es ihr eben an der entsprechenden Grundstruktur gerechtigkeitssichernder Institutionen mangelt. In Bezug auf die ökonomische Globalisierung fehlt es beispielsweise an Institutionen, die Sozialstandards, Menschenrechte und Fairnessgrundsätze transnational koordinieren und durchsetzen können. Gerade dieser Mangel zwingt jede einzelne Person in die Mitverantwortung für globale Armut, sei
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es, weil sie sich qua Konsum mittelbar an ausbeuterischen Praktiken beteiligt, oder sei es, weil sie schlicht in der Lage ist zu helfen. Eine der Leitthesen dieser Einführung lautet daher, dass globale Gerechtigkeit und globale Ethik kein Gegensatzpaar sind. Wiederum verbietet es uns die Dramatik gegenwärtiger Gerechtigkeitsprobleme, individuelle Verantwortung auf politische Institutionen abzuschieben, die (derzeit noch) gar nicht existieren oder ineffektiv arbeiten. Die Forderung nach einem weltweiten Aufbau gerechtigkeitssichernder Institutionen ist vielmehr selbst mit einer überwältigenden Verantwortung für den Einzelnen verbunden. Dies wird gleich im zweiten Kapitel die Frage in den Mittelpunkt rücken, wieviel Verantwortung eine Gerechtigkeitstheorie einer einzelnen Person überhaupt zumuten kann (2.1).
1.2 Globale Gerechtigkeitspflichten Assoziative und universelle Gerechtigkeitsintuitionen In Vorarbeit auf die Betrachtung moralischer und vor allem politischer Konzeptionen globaler Gerechtigkeit müssen wir noch zwei weitere Unterscheidungen einführen. Die erste trennt zwischen assoziativen und universellen Gerechtigkeitspflichten, die zweite unterscheidet analog dazu zwischen assoziativen und universellen Gerechtigkeitsintuitionen. Um diese unterschiedlich gelagerten Intuitionen zu veranschaulichen, bietet es sich an, das sogenannte Inselbeispiel zu betrachten, das Richard J. Arneson entworfen hat, um zu zeigen, dass »das Problem sozialer Gerechtigkeit auch in Abwesenheit sozialer Interaktionen entstehen kann« (1999: 225):4 »Wir stellen uns mehrere Personen vor, von denen jede für sich auf einer Insel lebt. Die Inselbewohner unterscheiden sich in einer Reihe persönlicher Eigenschaften wie Körperkraft, physischem Koordinationsvermögen und Intelligenz, die es ihnen ermöglichen, ihre Ziele umzusetzen. Die Inseln sind
—————— 4 Für den Zweck einer flüssig zu lesenden Einführung wurden die englischen Originalzitate im Haupttext durchgehend ins Deutsche übertragen.
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so gelegen, dass jede Art sozialer Interaktion und Kooperation zwischen den Individuen auf zwei verschiedenen Inseln unmöglich ist, aber wir setzen voraus, dass die Individuen auf irgendeine Weise von den Lebensbedingungen der anderen wissen. Schließlich setzen wir voraus, dass ein einseitiger Warenverkehr zwischen den Inseln möglich wäre: Von manchen Inseln könnte ein mit Gütern ausgestattetes Boot mit der Gezeitenströmung zur Küste der anderen Insel gelangen.« (ebd.)
Für Arneson macht dieses Bild hinreichend klar, dass es gerecht wäre, die tiefgreifende Ungleichheit zwischen den Inseln zu beseitigen und Waren von den wohlhabenden zu den notleidenden Inselbewohnern zu verschiffen. Seiner universellen Gerechtigkeitsintuition zufolge stellen sich Gerechtigkeitsansprüche nicht nur innerhalb politischer Körperschaften. Vielmehr löst ein moralisch inakzeptabler Zustand immer schon eine Gerechtigkeitspflicht aus – vorausgesetzt nur, dass es einer Partei überhaupt möglich ist, diese Zustände zu beseitigen. Die universelle Gerechtigkeitsintuition liegt vor allem kosmopolitischen Theorien zugrunde, also Theorien, die eine globale Gerechtigkeitsordnung anvisieren (Kap. 4). Im Gegensatz dazu ist es für Vertreter einer partikularen Gerechtigkeitskonzeption einzig und allein innerhalb nationaler oder staatlicher Verbände gerechtfertigt, einen Anspruch auf Gerechtigkeit zu erheben (Kap. 5). Ihrer assoziativen Gerechtigkeitsintuition zufolge beziehen sich Gerechtigkeitsforderungen immer schon auf die Grundregeln gemeinsamen Handelns. Gerechtigkeit ist im Wesentlichen soziale Gerechtigkeit. Nachteile, die einer Person oder Gruppe außerhalb einer durch soziale Regeln vereinten Gesellschaft zuteil werden, sind dieser Auffassung nach eben nicht als ungerecht zu bezeichnen. Sie sind schlicht und ergreifend unglückliche Umstände, die vielleicht unsere moralischen Empfindungen wecken, nicht aber eine Frage der Gerechtigkeit auslösen. Entsprechend hat sich beispielsweise Robert Nozick (1974) auf das im Kern identische Inselgleichnis berufen, ist aber zum gegenteiligen Ergebnis gekommen.5 Für ihn macht der Fall deutlich, dass sich aus
—————— 5 Auch Nozick fragt: »If there were ten Robinson Crusoes, each working alone for two years on separate islands, who discovered each other and the facts of their different allotments by radio communication via transmitters left twenty years earlier, could they not make claims on each other, supposing it were possible to
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einem Wohlstandsgefälle zwischen unabhängigen Inseln gerade keine Gerechtigkeitsansprüche rechtfertigen lassen, ganz gleich, wie sehr wir sie moralisch bedauern mögen. Wo es an politischen, ökonomischen oder rechtlichen Interaktionen fehlt, so die assoziative Gerechtigkeitsintuition, können die Benachteiligten zwar um humanitäre Hilfe bitten, nicht aber soziale Gerechtigkeit einfordern.
Assoziative und universelle Gerechtigkeitspflichten Eine Erklärung für diese gegenteiligen Schlussfolgerungen liegt demnach schlicht in den zugrundeliegenden Intuitionen. Die weiterreichende Frage aber, welche dieser Intuitionen die angemessenere ist, lässt sich nur funktional lösen. Das heißt, wir müssen einen Begriff davon haben, was wir überhaupt damit bezwecken wollen, wenn wir bestimmte Zustände als gerecht oder ungerecht bezeichnen. Eine tragfähige Antwort auf diese Frage lässt sich über die Unterscheidung zwischen moralischen Pflichten und Gerechtigkeitspflichten gewinnen. Als Gerechtigkeitspflichten oder auch Pflichten der Gerechtigkeit wird eine besonders strenge Klasse moralischer Pflichten bezeichnet, nämlich Pflichten, die Sanktionen Dritter rechtfertigen. Indem wir bestimmte Pflichten in der Sprache von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ausdrücken, erheben wir einen starken normativen Anspruch. Wir bedeuten damit, dass es keine Privatangelegenheit ist, dieser Pflicht nachzukommen, sondern ein öffentlich einforderbarer Anspruch. Bemerkenswert ist vor allem, dass nicht nur alle Betroffenen, sondern auch dritte Parteien berechtigt sind, sie mittels angemessener Sanktionen durchzusetzen.6 Denn wenn jemand ungerecht handelt, schädigt er nicht nur das Opfer, sondern zugleich die
—————— transfer goods from one island to the next? […] Wouldn’t the one with least make a claim on grounds of need, or on the ground that his island was naturally poorest, or on the ground that he was naturally least capable of fending for himself? Mightn’t he say that justice demanded he be given some more by the others, claiming it unfair that he should receive so much less and perhaps be destitute, perhaps starving?« (ebd.: 185) 6 David Miller definiert: »Duties of justice are enforceable, in the sense that third parties may be justified in applying sanctions to those who default on them; not so with humanitarian duties.« (2007: 248)
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zugrundeliegende Norm und damit das gesamtgesellschaftliche Interesse, dass diese Norm unbedingt gelten soll. Ungerechtigkeit zu bestrafen und Gerechtigkeit wiederherzustellen ist deshalb nicht allein Aufgabe unmittelbar Beteiligter, sondern eine Pflicht der Gesellschaft. Es besteht also ein fundamentaler Unterschied, ob wir uns bloß moralisch verpflichtet sehen oder einer Gerechtigkeitspflicht obliegen. So gibt es moralische Pflichten, die wir lediglich uns selbst schulden. Dazu zählen nach Kant Pflichten der Selbstvervollkommnung oder eine Pflicht, die eigenen Talente fortzubilden. Weiter gibt es sogenannte supererogatorische Pflichten; das sind Pflichten, die zwar moralisch geboten sind, die aber gerade nicht von Seiten Dritter eingefordert werden können, die also lediglich Appelle nicht aber robuste Sanktionen rechtfertigen. Hierzu zählen sogenannte Samariterpflichten, bei denen es in unserem eigenen Ermessensspielraum liegt zu entscheiden, wie und in welchem Maße wir sie ausführen sollten.7 Schließlich gibt es beziehungsgebundene Pflichten, die wir zwar bestimmten Personen schulden, wie etwa partnerschaftliche Treue, für die wir aber keine gesamtgesellschaftliche Rechenschaft abzugeben brauchen und zu denen wir auch von anderen nicht gegen unseren Willen gezwungen werden dürfen. Im Gegensatz zu rein humanitären Pflichten, die sich an interne Sanktionen wie etwa unser Gewissen richten, legitimieren Gerechtigkeitspflichten externe Sanktionen durch den Rechtsstaat oder das Völkerrecht. Das Verhältnis von Gerechtigkeit zum Recht ist dabei mindestens ebenso klärungsbedürftig wie das Verhältnis von Moral zu Gerechtigkeit. Auch hier besteht auf den ersten Blick ein enger Zusammenhang. Auf der einen Seite ist der Gerechtigkeitsbegriff mit dem Verrechtlichungsgebot verbunden. Wer gerechte Verhältnisse einfordert, wird sinnvoller Weise auch einen zuverlässigen Rechtsschutz dafür verlangen.8 Den Schutz vor Ungerechtigkeit kann letzt-
—————— 7 Für eine Erörterung dieser besonderen Pflichten vgl. Wessels (2002). 8 Diesbezüglich hat sich eine ausgewachsene Debatte über die Notwendigkeit, Möglichkeit und Realität der Verrechtlichung globaler Gerechtigkeitsprinzipien entwickelt. Vgl. Brunkhorst 2002; Kreide/Niederberger 2008; und die Argumente von Höffe (Kap. 3.2); Habermas (Kap. 4.3); und Benhabib (Kap. 4.4) in diesem Band.
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lich nur ein Rechtssystem garantieren, das über die entsprechende Durchsetzungsmacht verfügt; und diese Macht ist wiederum nur unter der Voraussetzung legitim, dass sie gerecht verfasst ist. Dass Gerechtigkeit und Recht aufeinander bezogen sind, bedeutet aber wiederum nicht, dass sich Gerechtigkeitsfragen einzig und allein innerhalb geltender Rechtssysteme stellen. Gegenüber einer solchen etatistischen Voreinstellung erweist sich die globale Arena als echter Prüfstein. Denn auch wenn die im Völkerrecht geschützten Gerechtigkeitsprinzipien und Menschenrechte nicht über zwingende Maßnahmen durchgesetzt werden können, begründen sie dennoch Gerechtigkeitspflichten. Im Unterschied zu Rechtspflichten sind Gerechtigkeitspflichten nicht auf bestehende Rechtsverhältnisse beschränkt; und gerade in der globalen Arena ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, durchsetzungsfähige Rechtsverhältnisse erst zu schaffen und in ihrer Abwesenheit die Einhaltung völkerrechtlicher Grundprinzipien auch mittels spezifisch politischer oder ökonomischer Sanktionen durchzusetzen. So betrachtet bildet die Theorie globaler Gerechtigkeit ein Vermittlungsorgan zwischen Moral und Recht. Sie diskutiert die Rechtsfähigkeit einzelner moralischer Forderungen und damit die Möglichkeit, sie mit der Verbindlichkeit einer Gerechtigkeitspflicht auszustatten. Begrifflich bietet es sich an, Gerechtigkeitspflichten ebenfalls in universelle und assoziative Pflichten einzuteilen. Universelle Gerechtigkeitspflichten sind Pflichten jedes Menschen angesichts moralisch inakzeptabler Zustände, assoziative Gerechtigkeitspflichten bezeichnen die spezifischen Pflichten der Angehörigen einer Vereinigung gegenüber ungerechtfertigter Ungleichheit innerhalb dieser Vereinigung. Im Falle assoziativer Gerechtigkeitspflichten ist besonders gut einzusehen, wie sich mit dem Gerechtigkeitsprädikat eine besondere Verbindlichkeit herstellen lässt. Als ein Beispiel für eine solche assoziative Pflicht können wir die Pflicht nehmen, jede Person angemessen am gesellschaftlichen Wohlstand zu beteiligen. Eine solche Umverteilungspflicht ist an soziale Institutionen gerichtet, sie wird in der politischen Öffentlichkeit diskutiert und hat ihren externen Verpflichtungsgrund idealiter im geltenden Recht. Gegenüber einer moralischen Gerechtigkeitskonzeption erweist sich der Unterschied und letztlich auch die praktische Vorzugswür-
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digkeit einer Theorie politischer oder allgemein sozialer Gerechtigkeit darin, dass es ihr besser gelingt, Verantwortung zu adressieren und durchzusetzen. Beides ist im Falle universeller Gerechtigkeitspflichten fraglich. Betrachten wir als Beispiel die Pflicht, aufgrund einer humanitären Katastrophe Geld in ein weit entferntes Land zu spenden. Wie identifizieren wir den Adressaten dieser Gerechtigkeitspflicht? Und wer sollte legitimiert sein, diese Spenden einzufordern und notfalls mittels Sanktionen durchzusetzen? Da in der globalen Arena institutionelle Zuschreibungs- und Durchsetzungsmechanismen nur unzuverlässig greifen, werden wir immer wieder auf solche Fragen zurückgeworfen. Die Funktion der moralischen Gerechtigkeitskonzeption liegt gerade darin, die Gerechtigkeitsfrage auch außerhalb politischer Assoziationen stellen zu können und soziale Regeln überall dort einzufordern, wo sie nicht gelten. Aber kann sie auch ein funktionales Äquivalent zur sozialen Gerechtigkeitskonzeption abgeben, das heißt, kann sie eine vergleichbare Verbindlichkeit herstellen und externe Sanktionen legitimieren? Klar ist, dass moralische Gerechtigkeitskonzeptionen auf diese Frage eine überzeugende Antwort geben müssen. Zusammenfassend lässt sich schon jetzt festhalten, dass es sich keineswegs um einen fehlerhaften oder bloß metaphorischen Gebrauch handelt, wenn wir auch da von Gerechtigkeit sprechen, wo soziale Regeln unterentwickelt sind oder ganz fehlen. Vielmehr ist dieser präpolitische Sinn von Gerechtigkeit tief in unser moralisches Selbstverständnis eingelagert und erzeugt starke Resonanzen in unseren moralischen Gefühlen. Nun sind solche mit dem Gerechtigkeitssinn verbundenen Gefühle wie Mitleid, Solidarität oder Empörung zwar wandelbar, aber gerade in ihrer Wandelbarkeit liegt eine Chance für globale Gerechtigkeit. Schon Kant beschreibt, wie sich mit dem immer dichter werdenden Verkehr zwischen den Erdteilen auch die moralischen Gefühle globalisieren und die »Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird« (Friedensschrift, AA VIII 360).9 Dass schließlich die kritische Globalisierungsbewegung die Jugendbewegung unserer Zeit darstellt, ist auch ein Indiz dafür, dass
—————— 9 Kant-Zitate folgen der Ausgabe der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe = AA) mit den üblichen Siglen und Abkürzungen; in diesem Fall: Friedensschrift für Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795).
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sich der Gerechtigkeitssinn wandelt und wir moralisch inakzeptable Zustände weltweit als ungerecht wahrnehmen.
1.3 Globale soziale Gerechtigkeit Sechs Grundformen sozialer Gerechtigkeit Während im Grunde alle der hier behandelten Theorien eine stabile internationale Friedensordnung und einen internationalen Menschenrechtsschutz für unverzichtbar halten, dreht sich die eigentliche Kontroverse zwischen Kosmopolitisten und Partikularisten um die Frage, inwieweit sich Pflichten und Grundsätze globaler sozialer Gerechtigkeit begründen lassen. Um diese Auseinandersetzung noch besser in den Griff zu bekommen, ist es hilfreich, wenn wir vorab zwischen einzelnen Grundformen sozialer Gerechtigkeit unterscheiden. Allgemein fungiert soziale Gerechtigkeit als Oberbegriff für alle Konzeptionen, die es mit der Gerechtigkeit sozialer Regeln zu tun haben. Der Inbegriff einer alle Lebensbereiche regulierenden Vereinigung ist die Gesellschaft. Im umfassenden Sinne bezieht sich soziale Gerechtigkeit deswegen auf die Regeln einer Gesellschaft, wozu nicht nur ihre gesatzten, sondern auch ihre ungeschriebenen Gesetze zählen.10 Zusammengefasst definiert sich soziale Gerechtigkeit als der moralische Anspruch an das gesamte Regelwerk einer Gesellschaft, jeden Beteiligten angemessen – das heißt im Einklang mit einem öffentlich geteilten Gerechtigkeitsverständnis – zu berücksichtigen. Wer globale soziale Gerechtigkeit im vollen Wortsinne fordert, muss entsprechend den Nachweis führen, dass die globale Arena bereits eine gesellschaftliche Grundstruktur und ein öffentlich geteiltes Gerechtigkeitsverständnis aufweist. Aber hat sich das Netz zwischenmenschlicher Regeln und Praktiken tatsächlich bereits soweit globali-
—————— 10 Auch wenn Verteilungsgerechtigkeit häufig mit sozialer Gerechtigkeit gleichgesetzt wird, folge ich hier Peter Koller (2005) und definiere Verteilungsgerechtigkeit in Bezug auf Kooperationsverhältnisse (Koller spricht von »Gemeinschaftsverhältnissen«, ebd.: 92), während soziale Gerechtigkeit der Oberbegriff für alle gerechtigkeitsrelevanten sozialen Praktiken ist.
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siert, dass sich von einer weltumspannenden Gesellschaft sprechen ließe? Einige Kosmopolitisten – allen voran Charles Beitz (Kap. 4.1) – bejahen diese Frage und verteidigen eine anspruchsvolle Konzeption globaler sozialer Gerechtigkeit. Vorerst müssen wir aber gar nicht soweit gehen, um Einzelforderungen sozialer Gerechtigkeit auf globaler Ebene zu begründen. Denn zumindest für einzelne Beziehungsformen ist es unstrittig, dass sie globalen Regeln gehorchen und Gerechtigkeitsansprüche rechtfertigen. Bevor wir daher die Frage nach einer globalen Gesellschaft noch einmal aufgreifen, schlage ich vor, zunächst sechs Arten zwischenmenschlicher Beziehungen im Einzelnen zu betrachten und ihnen sechs Grundformen sozialer Gerechtigkeit zuzuordnen:11 (1) Kooperationsverhältnisse (2) Wirtschaftsbeziehungen (3) Herrschaftsverhältnisse (4) Rechtsverhältnisse (5) Intergenerative Abhängigkeiten (6) Internationale Beziehungen
Verteilungsgerechtigkeit Tauschgerechtigkeit Politische Gerechtigkeit Strafgerechtigkeit Generationengerechtigkeit Internationale Gerechtigkeit
Dass die hier genannten Beziehungsverhältnisse mit Gerechtigkeitsvorstellungen verknüpft sind, hat einen ganz bestimmten Grund. Es handelt sich nämlich um Beziehungsverhältnisse, die zu beinahe jedem modernen menschlichen Leben gehören und die in einem zweifachen Sinne unaufgebbar sind. Einerseits will kaum ein Mensch eines dieser Verhältnisse aufgeben, weil sie eine zentrale Rolle in einer erfüllenden und sicheren Lebensgestaltung spielen. Andererseits kann sich ein einzelner Mensch diesen Verhältnissen auch gar nicht ohne weiteres entziehen, weil sie sein Leben mit einem Netz von Zwängen und Verpflichtungen überziehen, zu dem er sich nicht frei verhalten kann. Rechtliche, staatsbürgerliche oder ökonomische Rollenvorgaben überziehen den Menschen mit einem Netz sozialer Normen. Und überall dort, wo das Leben durch unfreiwillige Normen eingeschränkt wird, stellt sich jedem Betroffenen die Frage, ob diese Eingriffe auch gerecht sind. Zumindest drängt sich diese Frage auf Seiten
—————— 11 Diese Liste ist ebenfalls eine Erweiterung Peter Kollers, dem insgesamt das Verdienst zufällt, Klarheit in die Einteilung transnationaler Gerechtigkeitsformen gebracht zu haben (ebd.).
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derjenigen Betroffenen auf, die im Verhältnis schlechter gestellt sind. Darum fußen Gerechtigkeitsforderungen in der Regel auf der Erfahrung von Ungerechtigkeit.12 Daher bietet es sich an, eine an den sechs Grundformen zwischenmenschlicher Beziehungen geordnete Typologie globaler sozialer Ungerechtigkeit zu erstellen. Gewissermaßen ex negativo zeigt sich darin die Notwendigkeit einer Theorie globaler sozialer Gerechtigkeit. 1. Verteilungsgerechtigkeit: Ansprüche auf Verteilungsgerechtigkeit bzw. distributive Gerechtigkeit entstehen dort, wo Menschen miteinander in Kooperationsverhältnissen stehen. Gerecht sind Kooperationen dann, wenn alle Mitwirkenden einerseits am erwirtschafteten Wohlstand, andererseits an den gemeinsamen Lasten auf angemessene Weise beteiligt werden. Das globale Wirtschaftssystem ist allerdings so organisiert, dass weder kooperativ erwirtschaftete Gewinne noch gemeinsame Kosten gerecht verteilt sind. Besonders deutlich wird die globale Verteilungsungerechtigkeit angesichts der Folgelasten von Umweltverschmutzung und Klimawandel. Solange beispielsweise die größten Emittenten von Kohlendioxid keine Emissionsquoten oder Kompensationszahlungen akzeptieren, verstoßen sie gegen berechtigte Verteilungsansprüche betroffener Drittweltstaaten. 2. Tauschgerechtigkeit: Unter Tauschgerechtigkeit verstehen wir Regeln und Verfahren, unter denen fairer Wettbewerb und Warenverkehr sichergestellt werden. Das Äquivalenzprinzip schreibt beispielsweise vor, dass gleichwertige Güter den gleichen Marktwert haben sollen, dass es zum Beispiel unfair ist, Siedlungsgebiete gegen Glasperlen zu tauschen. Probleme globaler Tauschungerechtigkeit entstehen aber immer wieder dadurch, dass der internationale Markt unfair eingerichtet ist. Während auf der einen Seite Freihandelsbeziehungen geringe Rohstoffpreise, niedrige Arbeitslöhne und schlechte Arbeitsverhältnisse begünstigen, werden die Märkte von Industriestaaten durch protektionistische Maßnahmen geschützt.13 Andere Regelungen, wie etwa das Patentrecht, zeigen desaströse Auswirkungen, weil
—————— 12 Ein Vorbild dafür, wie sich eine Gerechtigkeitskonzeption über eine Phänomenologie von Unrechtserfahrungen konstruieren ließe, findet sich insbesondere in Axel Honneths Anerkennungstheorie (1992). 13 Für eine griffige Analyse internationaler Tauschungerechtigkeit vgl. Stiglitz (2002; 2006, insbesondere Kap. 3: »Making Trade Fair«).
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sie lebensnotwendige Medikamente für weite Teile der Welt unbezahlbar machen.14 3. Politische Gerechtigkeit: Mit der Konzeption politischer Gerechtigkeit ist hier im engeren Sinne eine Grundform sozialer Gerechtigkeit gemeint, die sich auf spezifisch politische Beziehungen richtet. Politische Gerechtigkeit stellt moralische Anforderungen an die Regeln und Praktiken, die gesellschaftliche Herrschaftsbeziehungen ordnen. In der globalen Arena ist die Beteiligung an Macht und Öffentlichkeit allerdings alles andere als fair geregelt. Als Beispiel für globale politische Ungerechtigkeit gilt vielen die Zusammensetzung der G8- bzw. G20-Staaten, bei deren Treffen politische Entscheidungen von globaler Tragweite getroffen werden oder die Dominanz westlicher Großmächte in UNO, WHO oder Weltbank. Problematisch ist auch die ungerechte Verteilung globaler Medienaufmerksamkeit, aufgrund derer bestimmte Konflikte und Katastrophen erst gar nicht bis in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit vordringen. 4. Strafgerechtigkeit: Insofern sich Menschen als Rechtsgenossen begegnen, ist es eine Forderung der Strafgerechtigkeit, dass jedes Rechtssubjekt gleichberechtigt behandelt und gleiche Vergehen auf gleiche Weise bestraft werden. Auf der globalen Ebene besteht die Strafungerechtigkeit darin, dass Entwicklungsländer unter die Jurisdiktion internationaler Gerichtshöfe gezwungen werden, der sich Großmächte faktisch entziehen können. Beispielsweise leisten es sich die USA, den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gar nicht erst anzuerkennen. Russland kann Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats blockieren und genießt trotz Völkerrechtsverletzungen in Tschetschenien oder Georgien eine faktische Immunität gegenüber internationalen Sanktionen. Und nicht zuletzt hat mit dem offenen Völkerrechtsbruch, den das Festhalten von Gefangenen ohne Prozess in Guantánamo darstellte, auch die individuelle globale Strafungerechtigkeit einen neuen Präzedenzfall bekommen. 5. Generationengerechtigkeit: Eine unumstößliche zwischenmenschliche Beziehung besteht in der Generationenfolge. Dem Grundprinzip intergenerativer Gerechtigkeit zufolge hat keine Generation das
—————— 14 Vgl. als Reaktion auf diesen Aspekt globaler medizinischer Ungerechtigkeit Pogges Idee eines Health Impact Funds (»http://www.yale.edu/macmillan/igh/ hif.html«; letzter Zugriff Juli 2009).
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Recht, die Lebensbedingungen der folgenden Generation nachhaltig zu verschlechtern. Die damit auf globaler Ebene zusammenhängenden Probleme intergenerativer Ungerechtigkeit sind vielfältig. Im Mittelpunkt der Diskussion steht das Problem generationenübergreifender Überschuldung, die dazu führt, dass sich die Entwicklungschancen vieler Drittweltländer auf Generationen hin verschlechtern. Auch wird immer wieder betont, dass die fehlende Entwicklung in einigen afrikanischen Staaten mit ihrer kolonialen Vergangenheit zusammenhängt, was, wenn es sich nachweisen ließe, generationsübergreifende Kompensationsansprüche rechtfertigen würde. Und schließlich fällt in diesen Bereich auch eine Form von Gerechtigkeit, die Otfried Höffe amnetische Gerechtigkeit nennt, eine Ethik der Erinnerung, die auf globaler Ebene eine ausgewogene Geschichtsschreibung und die Ausbildung eines multiethnischen Weltgedächtnisses gebietet (1999: 16). 6. Internationale Gerechtigkeit: Die Beziehungen zwischen Staaten sind durch die Prinzipien des Völkerrechts geordnet. Wichtigste Ziele des Völkerrechts sind die Gewährleistung nationaler Selbstbestimmung, die Eindämmung von Gewalt in internationalen Konflikten und der Schutz der Menschenrechte. Internationale Ungerechtigkeit herrscht vor allem deswegen, weil die verbindliche Durchsetzung völkerrechtlicher Normen nicht gewährleistet ist. Woran es aus der Perspektive globaler Gerechtigkeit fehlt, ist eine garantierte Friedens- und Gerechtigkeitsordnung, verbunden mit einer gerechtigkeitssichernden Exekutive oder alternativen Mitteln der Rechtsdurchsetzung.
Globale soziale Gerechtigkeit Festzustellen ist, dass es auf allen hier beschriebenen Ebenen sozialer Gerechtigkeit globale Unrechtserfahrungen gibt, deren Auflistung sich noch beliebig erweitern ließe. Viele dieser Unrechtserfahrungen zeigen, welche Wirkung globale Institutionen bereits heute entfaltet haben, bzw. welche negativen Auswirkungen es hat, dass eine vollzugskräftige institutionelle Infrastruktur auf globaler Ebene fehlt. Trotz tiefgreifender sozialer Unrechtsverhältnisse wäre es angesichts dieses Mangels aber geradezu abenteuerlich, ohne jegliche Ein-
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schränkung von globaler sozialer Gerechtigkeit zu sprechen. Oben wurde soziale Gerechtigkeit als der moralische Anspruch an das Regelwerk einer Gesellschaft definiert, jeden Beteiligten innerhalb einer öffentlich geteilten Gerechtigkeitsvorstellung in angemessener Weise zu berücksichtigen. Der Kontext globaler sozialer Gerechtigkeit wird aber nicht nur durch ein Set zwischenmenschlicher Beziehungen aufgeschlagen; er müsste darüber hinaus auch durch ein öffentlich geteiltes Gerechtigkeitsverständnis, einen, um wiederum mit Otfried Höffe zu sprechen, »Welt-Gerechtigkeitssinn« zusammengehalten werden (1999: 342ff.). Erst die Identifikation mit der Weltgesellschaft und der in ihr ausgedrückten Gerechtigkeitsvorstellung würde in den Mitgliedern dieser Gesellschaft die Bereitschaft wecken, ihre eigene Freiheit zum Wohl aller Anderen einzuschränken. Und erst innerhalb einer transparent gestalteten Weltöffentlichkeit könnte eine Gerechtigkeitsvorstellung Gestalt annehmen, die solch eine kulturübergreifende Identifikation zuließe. Ob sich jemals eine Weltgesellschaft etablieren wird, bleibt dahingestellt. Vieles im Streit zwischen Partikularisten und Kosmopolitisten dreht sich um den Zusammenhang von sozialer Gerechtigkeit und Identifikation. Im Kern lautet die Frage, ob eine öffentlich geteilte Gerechtigkeitsvorstellung eher von Differenz- oder Dependenzerfahrungen abhängt. Partikularistischen Autoren zufolge entwickelt sich ein geteilter Gerechtigkeitssinn in der Erfahrung, dass sich die eigene Gruppe gegenüber einer anderen unterscheidet. Entsprechend wird der Kontext sozialer Gerechtigkeit über patriotische, nationale oder kulturelle Zugehörigkeit definiert. Gegen die partikularistische und zugunsten der kosmopolitischen Position könnte aber sprechen, dass gerade die Globalisierungsprobleme eine Erfahrung fortschreitender Dependenz vermitteln. Angesichts von Klimaerwärmung und Finanzkrise erleben sich Menschen zunehmend als Wesen, die aufgrund einer gemeinsamen Natur und interdependenter Handlungsräume voneinander abhängig sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es sogar rechtsmoralisch geboten, die globale Vergesellschaftung voranzutreiben und eine universelle Vorstellung sozialer Gerechtigkeit zu entwickeln.
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1.4 Zur Systematik der Einführung Globale Gerechtigkeit zwischen Theorie und Praxis Globale Gerechtigkeit ist ein zentrales und hochaktuelles Thema, zu dem sich in den letzten Jahren so gut wie jeder renommierte politische Philosoph geäußert hat. Die Theoriebildung ist im vollen Gange. Völlig unklar ist es beispielsweise, ob die besonderen Problemstellungen globaler Gerechtigkeit lediglich durch einen Umbau traditioneller Theorien in den Griff zu bekommen sind, oder ob es ganz neuer Ansätze bedarf. Die Eule der Minerva kreist noch. Darum ist Peter Koller darin zuzustimmen, dass sich in der Theorieentwicklung zur globalen Gerechtigkeit »etwas zusammenbraut« (2005: 104), dass aber diese Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen ist. Eine Einführung gleicht daher zwangsläufig einer Halbzeitanalyse. Und doch wird sie angesichts der rasant anwachsenden Literatur selektiv vorgehen müssen. Überflüssig zu sagen, dass in einer solchen Auswahl eigene Vorkenntnisse und Vorlieben eine Rolle spielen und dass Einführungen mit abweichender Akzentsetzung und Autorenauswahl ebenso sinnvoll wären. Ich habe mich hier für eine philosophische Einführung entschieden, die dem Leser eine exemplarische Übersicht über die wichtigsten Ansätze an die Hand geben soll. Dazu rekonstruiere ich die Hauptschriften einzelner Autoren, die entweder zum Referenzpunkt der Debatte geworden sind oder eine für mein Dafürhalten besonders anschlussfähige Perspektive auf das Thema anbieten. Dabei ist die spezifisch philosophische Leitperspektive darauf gerichtet, wie das Verhältnis von Moral und Praxis in den einzelnen Ansätzen bestimmt wird. Die Funktion einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie liegt insgesamt darin, politische Verhältnisse zu kritisieren und realisierbare Wege in Richtung gerechter Verhältnisse aufzuzeigen. Auf den ersten Blick scheinen aber moralische und realpolitische Anforderungen zwei völlig entgegengesetzten normativen Ordnungen anzugehören. Nirgends wird diese Diskrepanz so deutlich wie in der globalen Arena, in der sich moralischer Universalismus und politischer Realismus, Utopie und Machtpolitik geradezu unversöhnlich gegenüberstehen.
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Gliederung Das Weltarmutsproblem, dem wir uns im zweiten Kapitel zuwenden werden, thematisiert diese Diskrepanz noch einmal in verschärfter Form. Im Zentrum steht dabei die Frage, wer welche Verantwortung für globale Armut trägt und ob sich das Weltarmutsproblem überhaupt als Gerechtigkeitsproblem beschreiben lässt. Während Peter Singer einfach alle wohlhabenden Individuen in die moralische Verantwortung nimmt (Kap. 2.1), zeigen Thomas Pogge (Kap. 2.2) und Iris Marion Young (Kap. 2.4), dass Armut eine Folge globaler Ungerechtigkeit ist, eine These, die David Miller (Kap. 2.3) im Gegenzug zu entkräften versucht. Das dritte Kapitel beschäftigt sich dann mit dem globalen Kontraktualismus. Dieser insbesondere an Kant (Kap. 3.1) anschließende Ansatz ist in der Diskussion besonders einflussreich, was vor allem auf seine Reaktualisierungen in den Werken von John Rawls (Kap. 3.2) und Otfried Höffe (Kap. 3.3) zurückzuführen ist. Unser Durchgang durch den globalen Kontraktualismus wird uns aber nicht nur mit einem paradigmatisch gewordenen Theoriemodell vertraut machen. Zugleich lernen wir auch die beiden Hauptströmungen in der gegenwärtigen Theoriebildung kennen, nämlich den Kosmopolitismus (Höffe) und den Partikularismus (Rawls). Diesen Hauptströmungen sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet. Zunächst gibt das vierte Kapitel eine Einführung in kosmopolitische Gerechtigkeitskonzeptionen. Während Thomas Pogge und Charles Beitz zunächst noch am kontraktualistischen Begründungsmodell festhalten (Kap. 4.1), lernen wir mit Martha Nussbaum eine Form des moralischen Kosmopolitismus kennen (Kap. 4.2), um uns dann mit Jürgen Habermas (Kap. 4.3), Seylah Benhabib (Kap. 4.4) und Rainer Forst (Kap. 4.5) diskursethisch fundierten Modellen des politischen Kosmopolitismus zuzuwenden. Gegenüber diesen kosmopolitischen Ansätzen begründet der Partikularismus eine Einschränkung sozialer Gerechtigkeit auf bestimmte Gruppen. Hans Morgenthaus Realismus (Kap. 5.1) reduziert den Raum internationaler Beziehungen auf Machtfragen, David Millers Nationalismus (Kap. 5.2) begrenzt soziale Gerechtigkeitspflichten auf Nationen und für Thomas Nagels gerechtigkeitstheoretischem Etatismus (Kap. 5.3) beschränken sich wechselseitige Gerechtigkeitsansprüche auf Staatsbürger. In dieser
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Auseinandersetzung zwischen Kosmopolitismus und Partikularismus spiegelt sich die Diskrepanz zwischen Moral und Praxis wider, die ich hier als das übergeordnete philosophische Problem benannt habe. Eine Überwindung dieses Problems eröffnet meines Erachtens am ehesten ein politischer Kosmopolitismus, dem die ausblickenden Überlegungen gewidmet werden (Kap. 6).
2 Verantwortung für globale Armut
Grundkonzeption globaler Verantwortung Das Ausmaß an Leid, das in unserer Zeit durch globale Armut verursacht wird, entzieht sich jeglicher Vorstellungskraft. Über 40 Prozent der Weltbevölkerung (etwa 2,7 Milliarden Menschen) leben unter der internationalen Armutsschwelle der Weltbank von zwei US-Dollar täglich. Über eine Milliarde Menschen muss sogar mit weniger Geld am Tag auskommen, als der Kaufkraft eines US-Dollars entspricht. Eine ähnlich hohe Zahl von Menschen, etwa 830 Millionen, sind unterernährt; noch mehr leben ohne ausreichende Versorgung mit Trinkwasser und Medikamenten. Die Folgen weitverbreiteter Armut sind verheerend. Es wird geschätzt, dass jedes Jahr etwas 18 Millionen Todesfälle auf armutsbedingte Ursachen zurückgehen. Armut zwingt zu Prostitution, Kinderarbeit und Abhängigkeit. Sie führt zu gewaltsamen Konflikten, Ausbeutung der Umwelt und massenhafter Migration. Kurzum, das durch schwere Armut verursachte Leid ist so gewaltig, dass es allen, die in einer Mitverantwortung stehen, schwerwiegende Pflichten auferlegt.15 Eine vorrangige Aufgabe der Gerechtigkeitstheorie besteht darin zu klären, wer welche Verantwortung für globale Missstände wie Hunger und Ungleichheit trägt. Vorrang hat diese Frage schon deswegen, weil unsere Konzeptionen von Verantwortung und Gerechtigkeit aufs Engste miteinander verzahnt sind. Wenn wir einen Zustand als
—————— 15 Diese Thomas Pogge (2007: 97/8) entnommenen Zahlen beruhen unter anderem auf Veröffentlichungen aus dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP). Vgl. zur Diskussion um globale Armut Aikens (1996), Bleisch/Schaber (2007), Kerbo (2005), Mandle (2002), O’Neill (1986), Runge (2003), Sachs (2005), Smith (2005).
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ungerecht bezeichnen, zeigen wir an, dass es sich nicht um ein Unglück handelt, sondern dass jemand dafür zur Verantwortung zu ziehen ist. Im Zentrum der Debatte um Verantwortung für globale Armut steht dabei die Frage, ob die Bewohner reicher Industrieländer oder internationale Institutionen wie die Weltbank mitverantwortlich für globale Armut sind, und wenn dies so sein sollte, ob diese Mitverantwortung eher moralischer Natur ist oder ob eine einforderbare Gerechtigkeitspflicht besteht. Der Streit dreht sich vor allem um die Reichweite, den Inhalt, die Bedeutung und die Adressaten globaler Verantwortung. Zunächst wird die Reichweite der Verantwortung zwischen partikularistischen und kosmopolitischen Autoren kontrovers diskutiert. Während etwa Etatisten oder Nationalisten den Kontext von Gerechtigkeitspflichten auf den Staat oder die Nation eingrenzen und eine politische Verantwortung für globale Armut kategorisch von sich weisen, kritisieren Kosmopolitisten, dass eine solche Einschränkung in moralischer Hinsicht willkürlich bleibt – schließlich können wir es niemandem als ein Verdienst anrechnen, in einem reichen Land geboren worden zu sein, wie auch niemand daran schuld ist, in armen Verhältnissen aufzuwachsen. Ähnlich umstritten ist es, den Inhalt globaler Verantwortung festzulegen. Als besonders anschlussfähig haben sich insbesondere zwei Positionen erwiesen, nämlich Menschenrechtsansätze, die unsere Mitverantwortung auf absolute Mindeststandards beschränken, und egalitäre Ansätze, aus deren Sicht Gerechtigkeit mit der Herstellung relativer Gleichheit zu tun hat – wobei Gleichheit vorwiegend als eine Variante von Chancengleichheit und nicht als absolute Gleichheit verstanden wird. Auffallend ist, dass auf globaler Ebene Menschenrechtsansätze eindeutig in der Überzahl sind, während egalitäre Gerechtigkeitskonzeptionen eher in Bezug auf den Nationalstaat verteidigt werden. In Hinsicht auf die Bedeutung globaler Verantwortung haben sich mindestens drei Grundkonzeptionen herausgebildet. Einer Unterscheidung von David Miller (2007: 81–110) folgend differenziere ich zunächst zwischen Folgeverantwortung (outcome responsibility) und Hilfsverantwortung (remedial responsibility). Folgeverantwortung (oder Kausalverantwortung) ist die Verantwortung, die eine Person oder
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ein Kollektiv für die Auswirkungen ihrer Handlungen auf andere hat. Im Zentrum dieser Konzeption steht das Haftbarkeitsmodell (liability), wonach negative Auswirkungen zu korrektiven, also wiedergutmachenden Gerechtigkeitspflichten führen. Hilfsverantwortung auf der anderen Seite ist nicht auf die Auswirkung von Handlungen, sondern auf die Fähigkeit (ability) zu helfen zurückzuführen. Die bloße Tatsache, dass eine Person in Not geraten ist, überträgt eine Verantwortung, sie zu retten, auf jede Person, die dazu in der Lage ist.16 Dieser Unterteilung lässt sich noch eine dritte Grundkonzeption hinzufügen, die oft als assoziative Verantwortung (Scheffler 2001) bezeichnet wird. Assoziative Verantwortung schreibt den Mitgliedern spezifischer Gruppen und den Angehörigen bestimmter Beziehungen spezielle Verpflichtungen zu. Beispielsweise tragen Mitbürger untereinander eine besondere Verantwortung für soziale Gerechtigkeit, ähnlich wie Eltern in einer besonderen Verantwortung für das Wohl ihrer Kinder stehen. Diesen Konzeptionen entsprechen drei Weisen, die Adressaten von Verantwortung zu identifizieren. Wenn wir eine assoziative Verantwortungskonzeption anlegen, ergibt sich die Zuschreibung spezieller Pflichten vor dem Hintergrund bestimmter Beziehungen wie Verwandtschaft oder Staatsbürgerschaft. Machen wir uns die Konzeption der Folgeverantwortung zu eigen, ist primär der Verursacher eines Schadens in die Verantwortung zu ziehen; und folgen wir der Logik der Hilfsverantwortung, dann steht der fähigste Helfer in der Pflicht. Schon ein erster Blick auf diese drei Zuschreibungskriterien macht aber deutlich, dass sich eine Gewichtung zwischen ihnen nicht pauschal, sondern nur in Auseinandersetzung mit konkreten Fällen vornehmen lässt und dass es Fälle gibt, in denen alle drei Aspekte eine Rolle spielen.
—————— 16 Vgl. die Falldiskussionen in Peter Singer (2007/1972) and Kwame Anthony Appiah (2006: 155–174).
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Gliederung der Grundpositionen Problematisch gestaltet sich vor allem die Frage, wie und ob eine Partei oder Person für einen Missstand haftbar gemacht werden kann. Schon in einfachen Handlungszusammenhängen erfordert die Zurückverfolgung einzelner Handlungsfolgen starke Vereinfachungen. Oft ist es in Fällen verwickelter Handlungszusammenhänge – dem Standardfall globaler Ungerechtigkeit – sogar gänzlich unmöglich, einzelnen Parteien Schuld zuzuweisen. Eine Strategie, globale Verantwortung dennoch zu adressieren, könnte schlicht darin liegen, sich auf Pflichten der Hilfsverantwortung zu konzentrieren. Peter Singer wählt diesen Weg. Die Fähigkeit, ein moralisches Übel wie Armut zu lindern, ist für ihn völlig hinreichend, um eine Verantwortung auf jeden einzelnen Bürger wohlhabender Gesellschaften zu übertragen, eine Verantwortung, die uns angesichts der schwerwiegenden Folgen von Armut besonders strenge moralische Pflichten auferlegt (Kap. 2.1). Nach Einschätzung vieler Autoren sind Hilfspflichten allerdings grundsätzlich von Gerechtigkeitspflichten zu unterscheiden. Hintergrund dieser Unterscheidung ist die Auffassung, dass die positive Pflicht zu helfen allgemein schwächer ist als die negative Pflicht, nicht zu schädigen. Diese Unterscheidung entspricht auch den meisten Rechtsordnungen, in denen eine unterlassene Hilfeleistung nicht oder nicht in gleichem Maße strafbar ist wie eine zurückverfolgbare Schädigung. Wenn wir nur bei solchen Pflichten von Gerechtigkeitspflichten sprechen wollen, die ultimativ auch rechtliche Sanktionen begründen, dann wäre es zweifelsfrei von Vorteil, wenn wir auch in komplexen Zusammenhängen die jeweiligen Schädiger identifizieren könnten. Thomas Pogge verfolgt dieses Ziel, indem er eine institutionelle Folgeverantwortung herausarbeitet. Für ihn sind die maßgeblichen Ursachen globaler Armut in der bestehenden Weltordnung zu finden, so dass jeder, der für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung mitverantwortlich ist oder von ihr profitiert, eine negative Gerechtigkeitspflicht verletzt (Kap. 2.2). Dagegen macht David Miller geltend, dass die primäre Verantwortung für Armut in den jeweiligen Nationalstaaten zu suchen ist, deren Regierungen für eine gerechte Verteilung und eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik zu sorgen haben (Kap. 2.3). Um diesen Einwand zu entkräften, entwickelt schließlich Iris Marion
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Young eine eigene Konzeption partizipatorischer Verantwortung. Auf Grundlage dieser Konzeption bringt bereits unsere Beteiligung an struktureller Ungerechtigkeit eine Pflicht zur politischen Einmischung mit sich (Kap. 2.4).
2.1 Globale Armut als moralische Herausforderung: Peter Singer Singers moralisches Grundprinzip Peter Singer hat einen nach wie vor herausfordernden Vorschlag unterbreitet: Er sieht Hunger in der Dritten Welt nicht als menschliche Tragödie, sondern als eine Verletzung strikter moralischer Pflichten an.17 Hintergrund von Singers vieldiskutiertem Essay »Hunger, Wohlstand und Moral« (2007/1972) bildet eine Hungersnot in Ostbengalen. Das damit verbundene menschliche Leid wäre nach Singers Überzeugung durch eine konzertierte Hilfsaktion wohlhabender Länder zu verhindern gewesen, wobei diese ihren Wohlstand nicht einmal empfindlich hätten einschränken müssen. Unter dieser Voraussetzung steht es für Singer außer Frage, dass hier der Tatbestand einer unterlassenen Hilfeleistung erfüllt und Wiedergutmachung zu leisten ist. Für Singer stellen humanitäre Katastrophen unsere Lebensweise und unser moralisches Selbstverständnis insgesamt in Frage. Seine moralische Grundposition ist dem Utilitarismus zuzuordnen. Der Utilitarismus bewertet Handlungen danach, ob sie das Wohlbefinden der Menschen maximieren, also zum größtmöglichen Wohlbefinden der größtmöglichen Anzahl von Menschen führen. Allgemein zeigen utilitaristische Autoren allerdings wenig Gespür dafür, was Menschen überhaupt motiviert, moralisch zu handeln. So tendieren sie dazu, speziellen Bindungen und Verantwortlichkeiten konkreter Lebensvollzüge auszublenden und einzelne Menschen zu überfordern. Be-
—————— 17 Eine sehr ähnliche Argumentationsrichtung findet sich in Unger (1996). Weitere Beiträge zur Singer-Debatte finden sich in Buchanan (1987), Chatterjee (2004), Kuper (2002), Linklater (2007), O’Neill (1975), Singer (1994; 2002), Steinvorth (2008).
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vor wir aber diese Standardeinwände gegen Singer erhärten, ist anzuerkennen, dass er mit einem sehr viel bescheideneren Moralprinzip operiert, das auch für nicht-Utilitaristen anschlussfähig ist. Dieses Prinzip lautet nämlich schlicht und ergreifend: »Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlechtes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, so sollten wir dies, moralisch gesehen, tun.« (Ebd., 39)
Gesetzt, dass a) schwere Armut etwas Schlechtes ist, b) es in unserer Macht steht, diese Armut zu lindern, und c) entsprechende Handlungen keine vergleichbaren moralischen Härten verursachen, so sind wir moralisch dazu verpflichtet, uns im Rahmen unserer Möglichkeiten gegen Armut und ihre strukturellen Hintergründe einzusetzen. Dieser Schluss hat nun nichts mit Singers spezieller Ansicht über Moral zu tun. Er wirkt vielmehr wie eine formale Beschreibung dessen, was wir in der Alltagssprache unter Moral verstehen, und ließe sich auch auf der Basis alternativer Hintergrundtheorien, beispielsweise auf Grundlage eines deontologischen Ansatzes, erhärten. Aus diesem unproblematisch erscheinenden Prinzip zieht Singer aber eine sehr weitreichende Konsequenz: Er meint, dass es unsere »traditionellen moralischen Kategorien« (ebd.: 43) durcheinanderbringt. Was genau auf den Prüfstand gestellt wird, ist die Unterscheidung zwischen Wohltätigkeit (charity) und Pflicht. Während Spenden gegen Armut in der Alltagsmoral häufig noch als lobenswerte Wohltaten bewertet werden, sieht Singer darin nichts weiter als eine Verpflichtung. Für ihn ist die vermeintlich gut gemeinte (benevolente) Spende schlicht die Erfüllung einer Verbindlichkeit, und damit zumindest kategorial nicht ehrwürdiger als etwa die Pflicht, seine eigenen Kinder ausreichend zu ernähren. Hinter der Umstellung von Wohltätigkeit auf Pflichten verbirgt sich bei Singer eine äußerst anspruchsvolle moralische Gerechtigkeitskonzeption. Dieser Konzeption zufolge muss jede Person alles in ihrer Macht Stehende tun, um moralische Übel wie globale Armut zu beseitigen. Dagegen ist immer wieder eingewendet worden, dass Singer nicht deutlich macht, wo die Pflicht zur Armenhilfe endet, bzw. dass er an den Stellen, an denen er dies tut, unzumutbar hohe Anforderungen an einzelne Personen stellt. Dieser Einwand greift
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den Standardeinwand gegen den Überforderungscharakter des Utilitarismus wieder auf und lässt sich insbesondere an der Stelle erhärten, wo Singer den »Grenznutzen« (ebd.: 42) als Bemessungsgrenze unserer individuellen Verpflichtung einführt. Der Grenznutzen bezeichnet den Umkehrpunkt, an dem eine Person aufgrund ihres Engagements beginnt, sich selbst und ihren Angehörigen einen moralisch inakzeptablen Schaden zuzufügen, etwa dann, wenn sie sich selbst verschuldet oder selbst zu hungern beginnt. Im Angesicht globaler Armut fordert Singer aber prinzipiell ein Leben am Rande des Grenznutzens, ein Leben, das damit weit hinter dem Wohlstandsniveau entwickelter Industrieländer zurück bleibt. Nun ließe sich einwenden, dass dieser Rigorismus im Anforderungsprogramm der Moral selbst begründet ist. Moral, könnte man meinen, stellt nun einmal hohe Anforderungen. Wer einfach eine Gefälligkeitsmoral fordert, der hat den Sinn von Moral schlicht und ergreifend nicht verstanden.18
Ein Widerstreit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit Trotzdem ist mit Singers Grundposition eine moralisch problematische Instrumentalisierung gutstehender Personen verbunden. Wenn der Einzelne im Angesicht gravierenden Elends tatsächlich verpflichtet wäre, alles ihm Mögliche zu tun, um dieses Elend zu beseitigen, dann ist diese Verpflichtung strukturell endlos. Eine solche Person ist, wie es Samuel Scheffler (1982: 10) formuliert, auf eine unangemessene Weise eine Geisel (hostage) ihrer Verpflichtungen und gibt dabei, wie es Bernard Williams (1979) ausdrückt, ihre Integrität als eigenständige Person preis. Diese Kritik lässt sich an folgendem Beispiel verdeutlichen: Peter ist passionierter Bergsteiger. Seine Vorstellung vom guten Leben ist weitgehend darin erfüllt, dass er einmal im Jahr eine mehrwöchige Expedition unternimmt. Diese Expeditionen sind sein Lebenselixier. Er arbeitet auf sie hin, zehrt von den Erinne-
—————— 18 Nagel formuliert diese Position in den Worten: »One attitude toward this problem is that it’s just too bad: no one ever said morality was going to be easy« (1986: 191).
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rungen an die letzte und lebt in Vorfreude auf die nächste. Kurz, sein Leben wäre ohne das Bergsteigen nicht das gleiche. Es ist völlig ungeklärt, wie sich ein Freiraum für solche lebenserfüllenden Projekte im Angesicht schwerer Armut rechtfertigen ließe. Einerseits gehören derartige Projekte zu einer sinnvollen menschlichen Existenz, andererseits verwandeln sich alle Tätigkeiten vor dem Hintergrund schwerer Armut in einen Luxus, der sich nicht gegen das unermessliche Leid hungernder Menschen rechtfertigen lässt. Unterschwellig handelt es sich hier um einen Widerstreit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit und damit um einen unversöhnlichen Gegensatz zweier moralisch eigenberechtigter Werte. Kennzeichen eines solchen Widerstreits ist, dass es kein übergeordnetes Prinzip gibt, an dem sich über die Rangordnung von Freiheits- und Gerechtigkeitsansprüchen entscheiden ließe. Die politische Theorie ist deswegen gefordert, nach institutionellen Lösungen zu suchen, die eine größtmögliche Freiheit in einer möglichst gerechten Welt gewährleisten. Und da dies im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr auf Grundlage der klassischen Staatsphilosophie geleistet werden kann, stehen für viele Gerechtigkeitstheoretiker globale Institutionen im Vordergrund. Singer hingegen entzieht sich dieser politischen Aufgabenstellung. Im Widerstreit zwischen Freiheit und Gerechtigkeit positioniert er sich deutlich auf Seiten der Gerechtigkeit. Und auch wenn er andeutet, dass Pflichten der Gerechtigkeit auf irgendeine Weise begrenzt werden sollten, widerstreitet sein Ansatz im Grunde dem Eigenwert persönlicher Freiheit.19
—————— 19 Immerhin greift Singer dieses Problem ein Stück weit auf, indem er den Akzent gar nicht auf die Maximierung der Lust, sondern auf die Minimierung des Leids legt. Auch ist Singer bereit, auf Seiten des maximal erwartbaren Spendenaufkommens einen Schwellenwert einzurichten. Um dem Überforderungsargument zu entgehen, legt er sich darauf fest, dass jede Person lediglich 10 Prozent ihres regelmäßigen Einkommens oder Vermögens spenden sollte. Aber diese Festlegung kann den prinzipiellen Überforderungseinwand schon deswegen nicht überzeugend entkräften, weil sie einigermaßen willkürlich erfolgt und ausdrücklich nicht in der Konsequenz seines Ursprungsprinzips liegt. Und auch ein negativer, also auf Leidminderung abgestellter Utilitarismus führt nicht aus dem Problem heraus, dass einzelne Personen instrumentalisiert werden, weil sie all ihr Handeln und Streben der Bekämpfung globaler Armut widmen müssten.
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Das Teichbeispiel In Reaktion auf Singers Position ist wiederholt eingeworfen worden, dass unsere Mitverantwortung für fremdes Leid erst dort einsetzt, wo die Eigenverantwortung der Opfer ausgeschlossen werden kann. Wer selbst daran schuld ist, dass es ihm schlecht geht, kann zwar Hilfe erbitten, diese aber nicht in gleicher Weise von anderen einfordern. Dieser Zusammenhang von Folge- und Hilfsverantwortung lässt sich gut an Singers mittlerweile zum festen Bezugspunkt avanciertem Teichbeispiel verdeutlichen: »Wenn ich an einem seichten Teich vorbeikomme und ein Kind darin ertrinken sehe, so sollte ich hineinwaten und das Kind herausziehen. Das bedeutet zwar, dass meine Kleider schmutzig und nass werden, aber das ist bedeutungslos, wohingegen der Tod des Kindes vermutlich etwas sehr Schlechtes wäre.« (1972: 39)
Singer setzt dieses eindrückliche Beispiel ein, um zu verdeutlichen, dass die Notsituation fremder Menschen durchaus Opfer rechtfertigen kann. Prima facie spielt es dabei keine Rolle, in welcher Beziehung wir zu dem Kind im Teich stehen. Seine Not löst eine Hilfsverantwortung aus, die im Übertrag auf das Problem globaler Armut zur Pflicht wird, seinen Wohlstand zu teilen und seine unmittelbare Freiheit einzuschränken. In Erweiterung des Teichbeispiels müssen wir uns aber fragen, wie unsere Verantwortung gegenüber dem Kind aussähe, wenn wir nicht die einzigen potentiellen Retter wären. Nehmen wir an, neben uns stehen noch drei weitere Personen: der Vater des Kindes, die Person, die das Kind in den Teich gestoßen hat, und ein ausgebildeter Rettungsschwimmer. Unter diesen Voraussetzungen verändert sich auch unsere Mitverantwortung, weil den genannten Personen eine spezielle Verantwortung für den Zustand des Kindes zukommt. Der Vater hat nicht nur die Aufsichtspflicht über sein Kind, sondern er steht zu ihm auch in einer besonderen Beziehung, aufgrund der wir ihm eine assoziative Verantwortung zuschreiben und eine größere Opferbereitschaft zumuten können. Analog dazu fällt Armut zunächst in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Nationalstaates, weil es innerhalb einer Nation eine stärkere Solidarität gibt und die Verteilung von Grundgütern in der
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Hauptsache der institutionellen Verantwortung der jeweiligen Nation obliegt. Als zweites steht die Person, die das Kind in den Teich gestoßen hat, in einer speziellen Folgeverantwortung, es zu bergen. Zweifelsohne haben die Umstehenden ein Recht, vom Verursacher zu verlangen, den von ihm verursachten Schaden zu bereinigen, selbst dann, wenn er dazu vielleicht weniger gut imstande wäre als andere. Im übertragenen Sinne ist zunächst der Verursacher von Armut zu identifizieren und in die Verantwortung zu ziehen. Je nach Ursachenfindung wären etwa korrupte Regimes, kleptokratische, das heißt räuberische Eliten oder ausbeuterische Konzerne regresspflichtig zu machen. Und drittens steht die Figur des ausgebildeten Rettungsschwimmers für eine Person, der aufgrund ihrer besonderen Kompetenz eine spezielle Verantwortung zuwächst. Entsprechend stünde eine Institution wie die UNESCO, das Rote Kreuz, die Weltbank und vor allem die zuständige Regierung in einer besonderen Verantwortung, weil diese Institutionen im Gegensatz zu einer einzelnen Person über das Know-how und die Infrastruktur verfügen, um effektive Hilfe zu koordinieren und langfristig auch die strukturellen Ursachen von Armut zu beseitigen. Fraglich ist schließlich auch, ob wir in gleicher Weise mitverantwortlich für einen Ertrinkenden wären, wenn er kein Kind, sondern eine mündige Person wäre, die aus Leichtsinn in die Notsituation geraten ist oder sogar freiwillig in den Teich gesprungen ist und dabei ihre Kräfte falsch eingeschätzt hat. Was ist, wenn Armut das Resultat eines Bürgerkrieges oder einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik ist? Müssten dann nicht zunächst die Regierung des jeweiligen Landes oder seine Bürger in die kollektive Verantwortung genommen werden? Und was, wenn Armut durch Ungerechtigkeit im Land zu erklären ist, wenn beispielsweise rassistische Einstellungen dazu führen, dass bestimmte Bevölkerungsteile diskriminiert werden? Vor dem Hintergrund selbstverantworteter Armut existieren nicht dieselben einforderbaren Pflichten für die Staatengemeinschaft. In diesen Fällen ist es nicht Sache der Gerechtigkeit, sondern der Barmherzigkeit zu helfen.
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Moralische Gerechtigkeitspflichten In Relation zu den genannten Akteuren und Faktoren reduziert sich unsere individuelle Mitverantwortung für globale Armut in der Tat erheblich. Von einer besonders schweren moralischen Pflicht gegenüber Armut in einem fremden Land ließe sich erst dann sprechen, wenn weder die zuständigen Nationalstaaten noch die kompetentesten Hilfsorganisationen dem Problem Herr werden können, wenn kein Verursacher in die Pflicht zu nehmen ist und wenn die Not nachweislich keine hausgemachten Ursachen hat. Weil die Dimension globaler Armut aber derart gewaltig ist und dabei selbst- und fremdverursachte Aspekte ineinandergreifen, bleibt es immerhin möglich, dass auf wohlhabende Personen eine nicht unerhebliche Mitverantwortung zurückfällt, die sich als eine Pflicht zu spenden, Fair-TradeProdukte zu kaufen oder sich politisch zu engagieren umsetzen ließe. Was der Durchgang durch Singers Argumentation darum noch einmal ans Licht gebracht hat, ist, dass individuelle Pflichten das Fehlen einer hinreichenden institutionellen Infrastruktur in der globalen Arena ausgleichen müssen. Mit der Einschränkung, dass der Einforderbarkeit dieser Pflichten Grenzen gesetzt sind, macht es Sinn, Singers Begriffsumstellung mitzugehen und gewisse charity-Attitüden an einem genaueren Pflichtverständnis zu korrigieren. Andererseits sind in unserer Auseinandersetzung auch die Grenzen der utilitaristisch-moralischen Gerechtigkeitskonzeption hervorgetreten. Insofern Europäer oder Nordamerikaner einen Wohlstand genießen, der es ihnen ermöglicht, Armut in Afrika oder Asien zu lindern, stehen sie zwar eindeutig in einer Hilfsverantwortung, die damit einhergehenden Pflichten sind aber rein moralischer Natur, das heißt, sie sind weder einklagbar noch rechtfertigen sie politische Sanktionen. Einforderbare Gerechtigkeitspflichten gegenüber globaler Armut entstehen vor allem dort, wo sich eine Verletzung negativer Pflichten, also eine Mitverursachung globaler Armut belegen lässt. Entsprechend führt Thomas Pogge den Nachweis, dass wohlhabende Staaten nicht nur eine moralische Hilfs- sondern auch eine institutionelle Folgeverantwortung tragen.
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2.2 Globale Armut als Gerechtigkeitsproblem: Thomas Pogge Die Verantwortung der Weltordnung für globale Armut Der in Yale lehrende Rawls’-Schüler Thomas W. Pogge zählt zu den einflussreichsten Kosmopolitisten unserer Tage (vgl. auch Kap. 4.1). Im Gegensatz zu Singer betont er, dass globale Armut kein moralisches Problem, sondern eine Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist. Dazu macht er deutlich, dass wohlhabende Industriestaaten in einer Folgeverantwortung für globale Armut stehen, weil sie gegen ihre negative Pflicht, nicht zu schädigen, verstoßen.20 In dem Artikel »Armenhilfe ins Ausland« (2003) fasst er seine Position folgendermaßen zusammen: »Wohlhabende Bürger und Staaten haben gewiss positive moralische Pflichten, Menschen in lebensbedrohlicher Armut zu helfen (wenigstens sofern die Kosten solcher Hilfe für uns bequem tragbar sind). Aber das Etikett lenkt davon ab, dass hier auch strengere, negative Pflichten im Spiel sind – etwa die Pflicht, von uns verursachte schwere Schädigungen zu minimieren, und die Pflicht, ungerechte Verhältnisse nicht zum Nachteil ihrer Opfer auszunutzen. […] Um diese Verletzungen negativer Pflichten zu vermeiden, müssen wir die Armen zumindest entschädigen. Eine solche Entschädigung ist nicht Hilfe, sondern eine Verminderung der Schäden, die wir ihnen dadurch antun, dass wir sie einer ungerechten Weltordnung unterwerfen, von deren Durchsetzung wir auf ihre Kosten profitieren.« (Ebd.: 243)
Pogge wird nicht müde zu betonen, dass die gegenwärtige Weltordnung eine Mitschuld für globale Armut trägt. Ungerecht ist diese Weltordnung insbesondere deshalb, weil in ihr wenige mächtige Staaten allen anderen Ländern ein System politischer Institutionen und Regeln auferlegt haben, von denen nur sie selbst profitieren, während sie sich auf strukturschwache Staaten schädigend auswirken. Pogge argumentiert vorrangig gegen eine These, die er als explanatorischen Nationalismus bzw. als »Erklärungsnationalismus« (2007) bezeichnet. Damit sind solche Erklärungsversuche gemeint, die die
—————— 20 Vgl. zur Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten in dieser Debatte Steinvorth (2008: 175ff.).
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strukturellen Ursachen von Armut vorrangig den betroffenen Staaten anlasten, etwa wenn Rawls (1999) Armut auf die mangelhafte politische Kultur eines Landes zurückführt, wenn David Miller (2007) auf unterschiedliche wirtschaftspolitische Erfolge vergleichbarer Entwicklungsländer hinweist oder wenn Amartya Sen (1981) an Beispielen belegt, dass Hungersnöte keine Naturkatastrophen sind, sondern sich auf Demokratiedefizite und eine ungerechte Umverteilung in den betroffenen Ländern zurückführen lassen. Dass Armut mit innerstaatlichen Faktoren zu tun hat, will Pogge gar nicht bestreiten. Er weist aber nach, dass einige dieser innerstaatlichen Faktoren erst durch eine ungerechte Weltordnung hervorgebracht bzw. durch sie verstärkt werden. Kennzeichen dieser ungerechten Weltordnung ist, »dass jede Gruppe, die die Gewaltmittel eines Landes kontrolliert, international als die legitime Regierung dieses Landes und seiner Menschen angesehen wird« (2003: 233). Jede an die Macht geputschte Regierung erhält allein aufgrund ihrer faktischen Souveränität bestimmte internationale Rechtstitel, die es ihr ermöglichen, sich gegen den Willen des Volkes an der Macht zu halten und sich und ihren Clan zu bereichern. Im Einzelnen prangert Pogge an, dass solche Regierungen ein unqualifiziertes Rohstoff- und Kreditprivileg genießen. Das internationale Rohstoffprivileg räumt auch illegitimen Regimen ein, Eigentumstitel an den Ressourcen des Landes rechtsgültig zu übertragen. Insbesondere für rohstoffreiche Entwicklungsländer hat diese Regelung katastrophale Auswirkungen. Denn faktisch wirkt sich das Rohstoffprivileg als ein künstliches Anreizsystem für Putschversuche des Militärs oder organisierter Banden aus. Ganz gleich, welche Partei die Herrschaft an sich reißen kann, sie erhält umgehend ein international gültiges Recht, das eigene Land auszubeuten oder Förderrechte zu veräußern. Pogge spricht in diesem Zusammenhang von international legitimierter Hehlerei. Verbunden mit dem Recht, auf dem Weltmarkt Waffen zu kaufen, sorgt das Rohstoffprivileg dafür, dass Despoten ihre gesellschaftliche Machtbasis verfestigen und sich langfristig an der Macht halten können. Nicht zufällig sprechen wir mit Blick auf Länder wie Nigeria von einem Ressourcenfluch (resource curse); gemeint ist das Paradox, das insbesondere rohstoffreiche Entwicklungsländer schlechte Entwicklungsquoten aufweisen und sich
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überproportional häufig in der Hand kleptokratischer Clans befinden.21 Dass die internationale Weltordnung ein ungerechtes Anreizsystem entwickelt hat, lässt sich für Pogge auch an den unheilvollen Auswirkungen des internationalen Kreditprivilegs veranschaulichen. Damit ist gemeint, dass jede Regierung international rechtsgültige Zahlungsverpflichtungen eingehen darf, was dazu führt, dass verschwenderisch lebende Despoten ihre Schulden in Staatsschulden umwandeln können. Auch diese Regelung verstärkt den Anreiz, Herrschaft mit illegitimen Mitteln an sich zu reißen, und auch sie ermöglicht die Finanzierung von Waffen und Söldnern, mit deren Hilfe sich verbrecherische Banden an der Macht halten können. Eine besondere Ungerechtigkeit besteht außerdem darin, dass demokratisch legitimierte Nachfolgeregierungen unter der Staatsverschuldung zu leiden haben. So sitzen oft gerade solche Länder in der Schuldenfalle, die Investitionen in Strukturreformen und Nahrungsmittelankäufe am dringendsten benötigen.
Institutionelle Verantwortung für Menschenrechte Zusammengefasst weist Pogge nach, dass die These von den innerstaatlichen Ursachen von Armut relativiert werden muss. Auf den ersten Blick ist es zwar richtig, dass Armut durch heimische Faktoren wie eine fehlende Zivilgesellschaft oder eine wachstumshemmende politische Kultur hervorgerufen wird – aus einer umfassenden Perspektive betrachtet hat regionale Armut aber globale Hintergründe. Für diese Hintergründe sind wohlhabende Industrienationen federführend verantwortlich. Sie sind verantwortlich, weil sie diese Ordnung geschaffen haben, sie mit Macht durchsetzen und von ihr zu Unrecht profitieren. Im Gegensatz zu einem unabhängigen Drittstaat reicht ihre Verpflichtung daher sehr viel weiter; denn sie verstoßen nicht gegen ein moralisches Hilfsgebot, sondern gegen fundamentale Gerechtigkeitsgrundsätze, wie sie in der Universellen Erklärung der Men-
—————— 21 Leif Wenar (2008) hat jüngst zu zeigen versucht, dass der Ressourcenfluch das Resultat einer ungerechten internationalen Eigentumsordnung ist. Er schlägt daher vor, den Handel mit diesen Ressourcen global zu besteuern.
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schenrechte und in nachfolgenden Menschenrechtspakten festgeschrieben sind. Pogge vertritt im Kern einen Menschenrechtsansatz. Als Menschenrechte definiert er alle moralischen Ansprüche, die international geteilt werden und sich auf elementare Güter (basic goods) wie körperliche Unversehrtheit, politische Freiheit oder eine ökonomische Grundsicherung beziehen. Die Frage, wer vor dem Hintergrund unverbrüchlicher Menschenrechte welche Pflichten hat, kann Pogge nun im Rahmen seiner institutionalistischen Konzeption beantworten: »Personen, die darin involviert sind, zwangsbefugte soziale Institutionen aufrechtzuerhalten, tragen eine geteilte moralische Verantwortung, dass diese Institutionen zumindest den Kern der universellen Kriterien grundlegender Gerechtigkeit sichern, indem sie, soweit es vernünftigerweise möglich ist, die Menschenrechte aller Personen erfüllen, deren Verhalten durch sie reguliert werden.« (2002: 49)
Pogge argumentiert, dass Personen eine indirekte Folgeverantwortung für die Beteiligung an der Aufrechterhaltung (involvement in upholding) von Institutionen haben (ebd.: 49). Wer mit anderen in einem institutionellen Zusammenhang steht und für die Einrichtung, die Arbeit oder die Aufsicht dieser Institutionen zuständig ist, der hat dafür Sorge zu tragen, dass sich keine dieser Institutionen schädigend auf die Menschenrechte auswirkt. Im Gegenteil, jeder steht in der Verantwortung, sein Bestes zu tun, damit diese Institutionen helfen, die Menschenrechte zu sichern. Beide Pflichten werden aber mit Blick auf die globale Weltordnung nicht erfüllt. Zwar sichern auch hier Institutionen einen verbindlichen Rechtsrahmen, der, wie gezeigt, einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Verhältnisse in einzelnen Staaten nehmen kann, aber statt die Menschenrechte global zu schützen, werden sie häufig zur Durchsetzung nationaler, ökonomischer oder geostrategischer Interessen instrumentalisiert. Die Verantwortung für das Menschenrechtsregime tragen alle Teilnehmer, mithin alle Menschen. »Es ist ihre kollektive Verantwortung dieses System so zu strukturieren, dass alle Teilnehmer einen sicheren Zugang zu den Gegenständen ihrer Menschenrechte haben.« (2002: 66). Trotz dieser universellen Betrachtungsweise hängt die konkrete Zuschreibung von Gerechtigkeitspflichten vom politischen
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Kontext ab. In erster Linie fällt die Verantwortung für Menschenrechte den Regierungen der einzelnen Nationalstaaten zu. Aber auch die internationale Gemeinschaft steht in der Mitverantwortung, weil globale Institutionen die Menschenrechtssituation in anderen Staaten stark beeinflussen. Hier sind es zunächst die Funktionäre internationaler Institutionen, die in der Verantwortung stehen. Am Ende zieht sich die Verantwortungskette aber bis zu jedem Einzelnen durch, sei es, weil er durch sein Konsumverhalten Menschenrechtsverletzungen stillschweigend in Kauf nimmt, sei es, weil er sich nicht für eine Sicherung der Menschenrechte in seinem Verantwortungsbereich engagiert: »This buck«, stellt Pogge fest, »stops with us« (2002: 21).
Eine Engführung globaler Gerechtigkeit? Gegenüber Singer sieht Pogge im Problem globaler Armut nicht ein individuelles moralisches Versagen, sondern eine institutionelle Ungerechtigkeit von globalem Ausmaß. In dieser Perspektive stellt sich unsere Verantwortung gegenüber globaler Armut als eine Angelegenheit politischer Gerechtigkeit dar. Der vermeintliche Vorzug, Verantwortung gegenüber globaler Armut als eine Verletzung negativer Pflichten in den Blick zu nehmen, bringt allerdings auch neue Probleme mit sich. Denn zunächst beruht Pogges Ansatz auf einer empirischen Analyse äußerst verwickelter Umstände. Dass das Rohstoffprivileg beispielsweise einen Militärputsch in Nigeria verursacht haben könnte, wäre eine sehr weitgehende Annahme. Richtiger ist wohl zu sagen, dass dieses Privileg bestimmte Fehlentwicklungen ermöglicht hat. Im Vergleich mit der direkten Folgeverantwortung, die etwa ein Militärdiktator auf sich lädt, der bestimmte Bevölkerungsgruppen gezielt aushungern lässt, erscheint es unklar, inwieweit der Weltordnung eine Mit-Verantwortung zufällt. Pogges Kritiker weisen darauf hin, dass sie zwar zu den Ermöglichungsbedingungen von Ungerechtigkeit zählt, dass aber verschiedene Staaten unter diesen Bedingungen verschiedene Resultate erzielen (vgl. Miller 2007: 238ff.). Die direkte Folgeverantwortung bleibt in jedem Fall bei denjenigen, die diese Voraussetzungen ausnutzen.
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Ein weiteres Problem in Pogges Konzeption liegt darin, dass die Verantwortungskette zwar bis auf jeden einzelnen Weltbürger zurückführt, dass diese Verantwortung am Ende aber recht schwach ist. Es ist schlicht und ergreifend etwas anderes, ob eine Person eine Menschenrechtsverletzung direkt begangen hat, ob sie als Komplize fungiert, ob sie von Menschenrechtsverletzungen begünstigenden Umständen profitiert oder ob sie sich prinzipiell mehr für eine gerechte internationale Ordnung einsetzen könnte. Im Endeffekt führt unsere allgemeine Mitverantwortung für die Ermöglichungsbedingungen von Menschenrechtsverletzungen nicht denselben Verpflichtungscharakter mit sich wie eine direkt nachweisbare Schädigung. Ein drittes Problem besteht schließlich darin, dass sich Pogge ausschließlich auf negative Pflichten konzentriert. Aber selbst wenn es sich in einigen Fällen unstrittig nachweisen ließe, dass Menschenrechtsverletzungen aus der bestehenden Weltordnung resultieren, wären damit längst nicht alle relevanten Fälle abgedeckt. Eine Reihe von Armutskatastrophen haben nachweislich nichts oder nur sehr wenig mit der institutionellen Weltordnung zu tun. Solche Missstände drohen in Pogges Ansatz an den Rand des Gerechtigkeitsdiskurses gedrängt zu werden. Sein Fokus auf negative Gerechtigkeitspflichten und institutionelle Zusammenhänge hat wichtige Korrekturen in unserer Sicht auf globale Gerechtigkeit vorgenommen, er blendet aber von vornherein aus, dass die institutionelle Grundstruktur auf globaler Ebene nicht sonderlich stark entwickelt ist. So macht Pogge zwar für einige Bereiche deutlich, dass bestehende Institutionen und Regeln für das Problem globaler Armut mitverantwortlich sind, ein Stück weit spielt er aber auch denjenigen in die Hand, die, wie David Miller, aufgrund einer defizitären globalen Grundstruktur die Eigenverantwortung nationaler Gemeinschaften betonen.
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2.3 Globale Pflichten und nationale Verantwortung: David Miller Gerechtigkeit als nationale Verantwortung In National Responsibility and Global Justice (2007) sucht der in Oxford am Nuffield College lehrende David Miller die direkte Auseinandersetzung mit Peter Singer und Thomas Pogge. Gemeinsam mit Yael Tamir (1993) gilt Miller als der wichtigste Vertreter des liberalen Nationalismus (vgl. auch Kap. 5.3). Theorien, die sich dem liberalen Nationalismus zurechnen, begrenzen Ansprüche sozialer Gerechtigkeit auf den Nationalstaat, anerkennen aber auch die Geltung fundamentaler Menschenrechte auf globaler Ebene. In Bezug auf das Problem globaler Armut ist es für Miller zunächst entscheidend, genau zu differenzieren, ob sie ein moralisch untragbarer Zustand oder das Resultat einer politischen Handlung ist. Dazu dient ihm die oben eingeführte Unterscheidung zwischen Folgeverantwortung (outcome responsibility) und Hilfsverantwortung (remedial responsibility). Dass, wie Singer argumentiert, wohlhabende Länder über die Mittel verfügen, Armut in anderen Ländern zu lindern, rechtfertigt für Miller noch lange nicht, dass sie auch eine Hilfsverantwortung im strengen Sinne einer Gerechtigkeitspflicht haben. Um dies festzustellen, müssen wir zunächst das gesamte Verantwortungsgefüge untersuchen, und zu diesem Bild gehört für Miller sowohl die Folgeverantwortung internationaler Institutionen als auch – und zwar ganz entscheidend – die kollektive Eigenverantwortung, die wir den von Armut betroffenen Nationen selbst zusprechen müssen. Gegen Pogge erhebt Miller den Einwand, dass die globale Weltordnung keinesfalls die Hauptverantwortung für globale Armut trägt. Für ihn berücksichtigt Pogges Bild institutioneller Verantwortung zu wenig, dass einige Machthaber das Rohstoff- und Kreditprivileg für ihre Zwecke ausnutzen, während andere dies nicht tun. Genauso haben einige Nationen Erfolge darin vorzuweisen, eine stabile politische Kultur oder eine wohlstandssichernde Wirtschaft aufzubauen, während andere aus selbstverantworteten Gründen daran scheitern. Dass die Eigenverantwortung von Despoten und notleidenden Na-
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tionen nicht einfach ausgeblendet werden kann, verdeutlicht Miller an einem hier leicht abgeänderten Beispiel: Auf einer Landstraße kommt es zu einer überdurchschnittlich hohen Unfallquote. Dies rührt daher, dass die Streckenführung einige Schwierigkeiten für die Autofahrer aufweist. Es gibt langgezogene und unübersichtliche Kurven, die Straße ist sehr schmal und der Belag in einem schlechten Zustand. Von Anfang an litt die Konstruktion der Straße unter der Inkompetenz der Straßenplaner. Hinzu kommt, dass die Landesverwaltung seit Jahren Sparzwänge gegen eine dringend notwendige Straßensanierung geltend macht bzw. andere Ausgaben als wichtiger einstuft.
In Analogie zu Pogges Argumentation müssten wir nun diejenigen Parteien in die Folgeverantwortung ziehen, die die Straße gebaut haben, sie aufrechterhalten und von ihr profitieren, also das Straßenbauamt, die Verwaltung und die angeschlossenen Gemeinden. Für Miller macht dieses Beispiel aber deutlich, dass wir die einzelnen Autofahrer nicht einfach aus der Verantwortung nehmen können. Die Unfallursache ist nicht nur in den Hintergrundbedingungen zu suchen, sondern ganz maßgeblich auch darin, wie einzelne Parteien mit den Hintergrundbedingungen umgehen, sprich im Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer. Solange Autofahrer bewusst Risiken in Kauf nehmen und ihre Geschwindigkeit nicht den schlechten Straßenverhältnissen anpassen, liegt die primäre Folgeverantwortung eindeutig bei ihnen. Analog ist für Miller die Hauptverantwortung für globale Armut nicht in der institutionellen Weltordnung zu suchen. Denn selbst wenn sie sich nachweislich als ein Anreizsystem für Putschisten und kleptokratische Banden auswirkt, liegt die primäre Schuld eben bei diesen Banden sowie in den Nationen, die das Unrecht ein Stück weit hinnehmen.
Internationale vs. nationale Verantwortung Auch wenn Miller insgesamt dazu tendiert, Armut auf nationale Ursachen zurückzuführen, ist er kein Vertreter des von Pogge kritisierten explanatorischen Nationalismus. Andersherum geht es Miller darum, Pogges explanatorischen Globalismus etwas entgegenzusetzen, nämlich eine Sensibilität dafür, dass die kollektive Verantwortung für schwere
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Armut auch bei den jeweiligen Nationen zu suchen ist, und dass wir daher differenzierter vorgehen müssen, wenn wir der internationalen Gemeinschaft Gerechtigkeitspflichten zuschreiben. Diese Sorgfalt ist schon deswegen geboten, weil diese theoretischen Unterscheidungen in die Legitimation robuster Sanktionen münden. Gerade weil politische, wirtschaftliche und militärische Sanktionen mit sehr hohen moralischen Kosten verbunden sind, will Miller den Gerechtigkeitsdiskurs stärker auf die primäre Verantwortung von Nationalstaaten umstellen. Ihre selbstverantwortete Not kann gegenüber der Staatengemeinschaft keine Gerechtigkeitspflicht begründen und schon ein begründeter Zweifel, ob eine Hungersnot nicht eher in die primäre Verantwortung einer Nation fällt, reicht aus, um die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft auf eine humanitäre Verpflichtung zurückzustufen. Die entscheidende Frage lautet aber auch für Miller: »Was wird den Armen der Welt geschuldet als eine Frage der Gerechtigkeit?« (ebd.: 248) – und nicht als eine Angelegenheit unserer humanitären Einstellungen. Um globale Armut als Gerechtigkeitsproblem ansprechen zu können, entwickelt auch Miller einen Menschenrechtsansatz. Der Kanon universeller Grundrechte, den er in diesem Zusammenhang rechtfertigt, fällt aber im Vergleich zu tatsächlich ratifizierten Menschenrechtsabkommen ausgesprochen bescheiden aus.22 Globale Gerechtigkeitsrelevanz haben für ihn ausschließlich solche Rechte, die menschliche Grundbedürfnisse (basic human needs) schützen. Zu den Grundbedürfnissen einer Person zählen Miller zufolge »alle Dinge, die für eine Person notwendig sind, damit sie nicht geschädigt wird« (ebd.: 179), also beispielsweise Nahrung, nicht aber unbedingt politische Mitbestimmung. In ausdrücklicher Abgrenzung zu der gehaltvollen Menschenrechtskonzeption einer Martha Nussbaum (Kap. 4.2) geht es für Miller auf globaler Ebene nicht um die Garantie eines würdevollen oder gar blühenden Lebens, sondern um absolute Mindeststandards, die eine Person benötigt, um ein »minimal
—————— 22 Miller beschränkt sich auf Rechte, »die ein globales Minimum spezifizieren, auf das Menschen überall ein Anrecht als eine Angelegenheit von Gerechtigkeit haben« (ebd.: 166).
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anständiges Leben in der Gesellschaft zu führen, zu der sie gehört« (ebd.: 181).23 Wenn eine Person nicht einmal ihre Grundbedürfnisse stillen kann, dann steht zunächst ihre Nation, dann erst die internationale Gemeinschaft in der Pflicht zu helfen. Dass die Gerechtigkeitspflicht aber tatsächlich einer anderen Nation oder der Staatengemeinschaft zufällt, ist nach Miller lediglich in drei Ausnahmefällen begründet. Und zwar erstens, wenn es in der Kolonialzeit eine historische Ungerechtigkeit gegeben hat, die sich nachweislich bis heute auswirkt; zweitens, wenn Nationen auf Kosten anderer von der institutionellen Weltordnung profitieren oder sich durch die Einrichtung und Aufrechterhaltung einer ungerechten Ordnung schuldhaft verhalten haben; und drittens – und hier geht Miller durchaus über andere partikularistische Ansätze hinaus –, wenn die Not betroffener Nationen das alleinige Resultat einer Naturkatastrophe ist, wenn eine Eigenverantwortung also ausgeschlossen werden kann.24 Wo Armut aber in die kollektive Verantwortung der betroffenen Nation fällt, besteht für die internationale Gemeinschaft keine Gerechtigkeitspflicht, sondern nur eine humanitäre Verpflichtung zu helfen. Immerhin stellt aber eine humanitäre Verpflichtung gegenüber Menschenrechten eine relativ strenge moralische Verpflichtung dar, die zwar nicht mit einem Recht, aber immerhin mit einem Anspruch
—————— 23 Standards eines anständigen Lebens können von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. Was für Miller aber universell gilt, ist, dass sich jede Person selbst ernähren, heiraten und eine Familie gründen, ihre Zukunft und ihr Alter ohne Existenznot planen, sich freizügig bewegen und sich ohne Furcht in die Öffentlichkeit begeben kann. »Diese Bedingungen, und ähnliche, definieren eine Schwelle, die alle Menschen erreichen sollten, egal ob sie in der Lage sind, eine florierende Form zu erreichen oder nicht.« (Ebd.: 181) 24 Insgesamt bleibt Miller aber skeptisch, dass es viele solcher Fälle gibt. In der Regel liegt die primäre Verantwortung für Menschenrechte in der kollektiven Verantwortung der betroffenen Nation selbst. Denn erstens weisen die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe ehemaliger Kolonien darauf hin, dass Armut nicht als das alleinige Erbe des Kolonialismus gedeutet werden kann; zweitens trägt, wie er kritisch gegenüber Pogge einwendet, die institutionelle Weltordnung selten die primäre Verantwortung für Armut; und drittens sieht er Armut nicht als eine unabwendbare Konsequenz von Naturkatastrophen, sondern als Konsequenz davon, zu welchen Verteilungs- und Hilfsmaßnahmen die betroffenen Nationen greifen.
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(claim) verbunden ist: »Ein Anspruch ist etwas weniger als ein Recht, aber diejenigen, die den Anspruch abweisen, müssen den Anspruchberechtigten einen Grund dafür geben« (ebd.: 213). Zwar ist im Fall einer humanitären Verpflichtung keine Nation berechtigt, eine andere zu ihrer humanitären Verantwortung zu zwingen, aber zumindest vor der öffentlichen Moral sind diese Nationen blamiert. Eine wohlhabende Nation, die sich weigert, Entwicklungshilfe zu leisten oder Flüchtlinge aufzunehmen, setzt sich dem naming and shaming der Weltöffentlichkeit aus.
Ein moralischer Menschenrechtsansatz Miller steht nicht nur für eine Begrenzung transnationaler Gerechtigkeitspflichten. Indem er Gerechtigkeitspflichten auf positive Pflichten ausweitet, geht er prinzipiell sogar über Pogge hinaus. Denn für Miller resultiert eine Gerechtigkeitspflicht nicht notwendig aus einer nachweisbaren Schädigung, sondern aus der primären Verantwortung für Menschenrechte; und diese Primärverantwortung kann bei Miller ebensogut aus der Hilfsverantwortung wohlhabender Nationen abgeleitet werden. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass Miller eine moralische Gerechtigkeitskonzeption für die globale Ebene heranzieht. Das bedeutetet, dass sich Gerechtigkeitsansprüche nicht nur dort stellen, wo Menschenrechte durch politische Institutionen oder Regeln verletzt werden, sondern bereits dort, wo Menschen ihre Grundbedürfnisse auf unverschuldete Weise nicht zu stillen imstande sind. Nationen können für andere Nationen in die Verantwortung genommen werden, deren Bedürftigkeit sie nicht mitverursacht haben. Deswegen nennt er Katastrophenhilfe ausdrücklich als eine Angelegenheit der Gerechtigkeit (a matter of justice) – jedenfalls dann, wenn das Leben der Betroffenen »unter einen absoluten Standard der Anständigkeit« (ebd.: 255) fällt.25
—————— 25 Mit Blick auf Katastrophen wie sie Singer an Bengalen beschreibt, stellt Miller fest, dass »wir den Opfern etwas schulden, einfach nur deswegen, weil sie in einer verzweifelten Lage sind«, und er unterstreicht, dass diese Schuld keine humanitäre Geste, sondern eine Gerechtigkeitspflicht ist, eine Pflicht, »die zwischen einzel-
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Zusammengefasst hängt die Zuschreibung von Gerechtigkeitspflichten bei Miller davon ab, wer die primäre Verantwortung für die Sicherung von Menschenrechten trägt und diese Verantwortung lässt sich sowohl als Folge- wie auch als Hilfsverantwortung fassen. Was die Zuschreibung primärer Verantwortung angeht, stellen sich aber einige sehr schwierig zu beantwortende Fragen: Wie ließe sich abschließend klären, zu welchem Teil Armut in einem Land wie Burkina Faso das Ergebnis hausgemachter Entscheidungen ist, zu welchem Teil sie eine Nachwirkung des Kolonialismus darstellt, zu welchem Teil die Kreditpolitik der Weltbank die innerstaatliche Entwicklung beeinflusst hat und welche Rolle amerikanische Baumwollsubventionen für die Armut in diesem Land spielen? An dieser Stelle stellt sich ein handfestes analytisches Problem: In der Entstehung globaler Armut greifen interne und externe Faktoren Hand in Hand, so dass eine saubere Trennung von primären Ursachen und ermöglichenden Faktoren gar nicht zu leisten ist. Trotz dieser Komplikation tendiert Miller recht eindeutig dazu, Armut auf die nationale Verantwortung zurückzuführen. Wie sieht es also mit der Verantwortung für globale Armut aus, wenn sich ihre primären Ursachen nicht eindeutig identifizieren lassen?
2.4 Politische Verantwortung: Iris Marion Young Strukturelle Ungerechtigkeit Um eine Antwort auf diese Frage hat sich die Chicagoer Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young (1949–2006) bis in ihre letzten Lebensjahre hinein bemüht. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet eine Kritik am Versuch, globale Verantwortung ausschließlich in den Begriffen direkter Haftbarkeit in den Blick zu nehmen. Zwar hat das Haftbarkeitsmodell den Vorzug, die entsprechenden Pflichten als (vollkommene) Unterlassungspflichten und die entsprechende
—————— nen Menschen schon vor der Einsetzung von Institutionen existiert, durch die diese Pflichten am effizientesten erfüllt werden können« (2005: 11).
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Gerechtigkeitskonzeption als korrektive Gerechtigkeit formulieren zu können; das Grundproblem globaler Gerechtigkeit liegt jedoch gerade darin, dass direkte Haftbarkeit nur in den seltensten Fällen eindeutig zu klären ist. In der globalen Arena sind die kausalen Zusammenhänge häufig so komplex, dass es schlicht unangemessen ist, eine einzelne Partei oder Institution in Haft zu nehmen. Youngs Beispiel ist der globale Markt, dessen komplexes Normensystem quer zur Alltagsintuition steht, dass Verantwortung vor allem etwas mit unserer Rolle als direkte Verursacher zu tun hat. Grund ist, dass der globale Markt ein multifaktorielles Handlungssystem darstellt. Damit ist gemeint, dass sich eine Unzahl von Handlungen und Regeln wechselseitig beeinflussen. In diesem Umfeld macht das Haftbarkeitsmodell nur bedingt Sinn. Denn der Markt ist nicht nur unübersichtlich, sondern zudem auch strukturell ungerecht. Unter struktureller Ungerechtigkeit versteht Young das Phänomen, »dass soziale Prozesse eine große Anzahl von Personen systematisch damit bedrohen, dass sie fremdbeherrscht werden und die Mittel verlieren, ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und zu verwirklichen. […] Strukturelle Ungerechtigkeit bezeichnet eine besondere Art moralischen Unrechts, die von den fehlerhaften Handlungen individueller Akteure oder der beabsichtigten Politik eines Staates unterschieden ist.« (2006: 114) Im Vergleich zu Pogges Konzeption institutioneller Ungerechtigkeit liegt Youngs Ansatz ein komplexeres Verständnis von Ungerechtigkeit zugrunde. Strukturelle Ungerechtigkeit bezeichnet ein Konglomerat von Normen, Machtverhältnissen und eingespielten Praktiken, in dem bestimmte Marktteilnehmer schlechter gestellt sind, und zwar unabhängig davon, was diese tun. Strukturelle Ungerechtigkeit ist anders ausgedrückt nicht entscheidungssensitiv; die Chancen strukturell benachteiligter Gruppen sind weitgehend davon unabhängig, welche Entscheidungen sie treffen, wie hart sie arbeiten oder wie gut ihre Pläne sind. Unter dem Vorzeichen struktureller Ungerechtigkeit kann beispielsweise die Auflegung gezielter Bildungsprogramme in einem Entwicklungsland zu brain drain und armutssteigernder Landflucht führen. Ein anderes Beispiel ist die gezielte Verringerung der Säuglingssterblichkeit durch bessere Hygienemaßnahmen, die unter den Bedingungen struktureller Ungerechtigkeit zu
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Überbevölkerung und Ressourcenknappheit führt. Wo Ungerechtigkeit strukturell verankert ist, sind wir nicht mehr berechtigt, von einer selbstverantworteten Situation zu sprechen. Andererseits lässt sich strukturelle Ungerechtigkeit auch nicht externen Verursachern zurechnen, in dem Sinne, dass wir bestimmte Personen, Parteien oder Institutionen direkt bezichtigen könnten. Zu struktureller Ungerechtigkeit trägt eine solche Vielzahl von Akteuren und Praktiken bei, dass es oft unmöglich ist, einen einzelnen Akteur herauszuheben und seinen Beitrag zu taxieren.
Partizipatorische Verantwortung Wenn Armut strukturell verankert ist, wird eine Rekonstruktion einzelner Kausalketten und damit auch die Zuschreibung direkter Folgeverantwortung unmöglich.26 Daher versucht Young, das Bild einzelner Handlungsketten durch die Metapher von Handlungsstrukturen zu ersetzen; eine Umakzentuierung, die es ihr ermöglichen soll, eine Verantwortung für die Beteiligung an solchen Strukturen zuzuschreiben.27 Demnach erstreckt sich unsere Verantwortung nicht nur auf die Auswirkungen einzelner Handlungen, sondern insgesamt auf unsere Beteiligung an dem Geflecht rechtlicher, gesellschaftlicher oder rationaler Regeln, die unsere Lebensweise bestimmen und die wir durch unsere alltägliche Regelbefolgung aufrechterhalten. Wenn wir uns beispielsweise an allgemeinen Marktregeln beteiligen, bestätigen wir zugleich diese Regeln und verschaffen ihnen in praxi Geltung. Durch unsere Beteiligung machen wir uns aber auch mitverantwortlich für ungerechte Folgen des Marktsystems wie Ausbeutung oder Umweltverschmutzung. Entsprechend vertritt Young eine partizipatorische Verantwortungskonzeption, die sie wie folgt definiert:
—————— 26 Neben anderen hat auch Samuel Scheffler die Probleme einer Verantwortungsrekonstruktion in komplexen Systemen herausgearbeitet (2001: 32– 47). 27 Young kann dabei unter anderem an Onora O’Neill anschließen, die feststellt, »that [m]odern economic causal chains are so complex that only those who are economically isolated and self-sufficient could know that they are not part of any system of activities causing unjustifiable deaths« (1975: 286); vgl. ebenso Pogge (1989: 8 – 9).
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»Unsere Verantwortung rührt daher, dass wir mit anderen in einem System abhängiger Kooperations- und Konkurrenzverhältnisse stehen, in dem wir versuchen, Vorteile herauszuschlagen und unsere Projekte zu realisieren. Auch wenn wir Konsequenzen, die wir möglicherweise bedauern, nicht bis zu unseren einzelnen Handlungen zurückführen können, tragen wir doch eine Verantwortung, weil wir ein Teil des Prozesses sind. Verantwortung für Ungerechtigkeit rührt also nicht daher, dass wir unter einer gemeinsamen Verfassung leben, sondern dass wir an den diversen institutionellen Prozessen teilnehmen, die strukturelle Ungerechtigkeit hervorbringen.« (ebd.: 119)
Auf den ersten Blick zeigt diese Definition eine Reihe von Parallelen zu Thomas Pogge auf, der eine Mitverantwortung für die Aufrechterhaltung ungerechter Institutionen einfordert (2002:169). Aber sein Ansatz hängt doch stärker davon ab, dass bestimmte Institutionen direkt für ungerechte Effekte haftbar gemacht werden können.28 Dies trifft ganz sicher in vielen Fällen zu, ist aber nicht hinreichend, um allen Problemen globaler Verantwortung zu begegnen. Nach Young wäre es bereits ein klares Indiz für strukturelle Ungerechtigkeit, wenn sich Armut langfristig und trotz Anstrengungen aufrechterhält. Der Nachweis, dass Armut selbstverantwortet und nicht auch die Folge ungerechter Strukturen ist, läge dann bei denjenigen, denen es in dieser Struktur gut geht. Und solange dieser Nachweis nicht ausreichend erbracht wird, stehen alle Beteiligten in einer partizipatorischen Verantwortung für Armut und Ungleichheit.29 Auch wenn Youngs partizipatorische Verantwortungskonzeption wie auch ihre Definition struktureller Ungerechtigkeit ein eher vages Modell anbietet, hat es den Vorteil, dass es gut mit dem Bild komplexer Handlungssysteme und dem Faktum ohnmächtiger globaler Institutionen korrespondiert, mit dem wir es weitgehend in der globalen Arena zu tun haben. Ein weiterer Vorteil in Youngs Konzeption liegt
—————— 28 In anderen Abschnitten stellt Pogge weniger stark auf das Haftbarkeitsmodell ab (2002: 209). Insgesamt bleibt aber seine Konzeption einer Verantwortung für die Aufrechterhaltung (upholding) von Ungerechtigkeit stärker auf bestehende Institutionen bezogen als Youngs Ansatz. 29 Zudem ist ein solcher Nachweis empirisch kaum zu führen, da selbst die Auswirkungen eines Tsunamis, dem Paradebeispiel einer unverschuldeten Naturkatastrophe, mit sozialen Faktoren zu tun haben wie ein fehlendes Warnsystem oder mangelnde medizinische Versorgung. Dies sind wiederum Faktoren, die von struktureller Ungerechtigkeit bedroht sind.
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darin, dass sie kollektive Verantwortung für Ungerechtigkeit kontextsensitiv anlegt. Im Gegensatz zum Partikularismus kann sie Gerechtigkeitspflichten überall dort rechtfertigen, wo politische und ökonomische Strukturen international geteilt werden. Im Gegensatz zum moralischen Kosmopolitismus eines Peter Singer gelingt es ihr aber, strenge Gerechtigkeitspflichten auf diese gemeinsamen Praktiken zu beschränken und von unseren humanitären Verpflichtungen zu unterscheiden. So anerkennt ihre Position weitgehende globale Gerechtigkeitspflichten und bleibt dabei doch sensibel für die herausragende Rolle des Nationalstaates als einer Institution, die wesentliche soziale Prozesse begrenzt.
Politische Verantwortung Die Frage ist nun, wie unsere bloße Teilnahme an struktureller Ungerechtigkeit konkrete Gerechtigkeitspflichten auslöst. Kritiker werden an dieser Stelle einwenden, dass Young nur eine generelle Mitverantwortung, nicht aber eine konkrete Gerechtigkeitspflicht zusprechen kann. Auch scheint sie ›unschuldige‹ Personen genauso in die Mitverantwortung zu ziehen wie diejenigen, die einen wesentlichen Anteil an ungerechten Folgen haben. Diese Kritik lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen, das Parallelen zu Fällen aufweist, die Thomas Pogge im Rahmen seiner institutionellen Verantwortungskonzeption diskutiert hat: In einer Stadt, die als Hochburg des Faraddiebstahls gilt, hat sich ein Gebrauchtfahrradhändler niedergelassen, der damit wirbt, Fahrräder ohne Kaufvertrag und Herkunftsprüfung von anonymer Seite anzukaufen. Dieser Fahrradhändler nimmt sehenden Auges in Kauf, dass er zu einem hohen Prozentsatz gestohlene Fahrräder handelt. Ohne diesen Fahrradhändler würde sich der Fahrraddiebstahl in der Stadt weniger lohnen und nach realistischen Prognosen deutlich zurückgehen. Sein profitables Geschäftsgebaren erlaubt es ihm nicht nur, Fahrräder besonders günstig anzubieten, er kann es sich dadurch auch leisten, andere Produkte wie Flickzeug oder Ersatzteile günstiger als die Konkurrenz anzubieten.
Wie sind nun die Pflichten des Fahrradhändlers zu beschreiben und auf welcher Grundlage wäre ein Kunde in die Pflicht zu nehmen, der
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bei diesem Fahrradhändler lediglich Flickzeug erwirbt und indirekt davon profitiert, dass der Händler besonders günstige Preise anbieten kann? Wie sieht es schließlich mit der Person aus, die den Laden boykottiert und dadurch ihre Verstrickung in das Geschäftsgebaren des Händlers penibel vermeidet? Klar scheint zunächst, dass der Fahrradhändler in einer maßgeblichen Mitverantwortung für den Fahrraddiebstahl steht. Indem er es unterlässt, die Herkunft seiner Ware zu überprüfen, nimmt er billigend in Kauf, dass er eine Dealer- bzw. Hehlerfunktion ausübt. Er verübt eine kausal wirksame Unterlassungshandlung, die zu den Ermöglichungsbedingungen eines erfolgreichen Systems von Fahrraddiebstählen dazugehört. Man könnte dies auch so ausdrücken, dass seine Verstrickung in das Unrecht eine nicht wegzudenkende Bedingung dafür ist, dass dieses Unrecht überhaupt stattfindet. Wenn eine Person solch eine konstitutive Rolle in einem Unrechtsgeschehen einnimmt, ist sie zur Unterlassung und gegebenenfalls zur Wiedergutmachung verpflicht: Ihr obliegen korrektive Pflichten, die nicht nur von Seiten der Opfer, sondern von der Gesellschaft eingefordert werden. Mit anderen Worten haben wir es im Fall des Fahrradhändlers mit einer indirekten Form von Folgeverantwortung zu tun, die nicht auf die direkten Resultate der Handlungen, sondern auf die konstitutive Rolle innerhalb eines strukturell ungerechten Handlungsprozesses zurückzuführen ist. Während der Fahrradhändler analog zu den internationalen Institutionen beurteilt werden muss, die nach Pogge eine konstitutive Funktion in der Verletzung von Menschenrechtsverletzungen einnehmen, ähnelt der Fall des Kunden, der von der strukturellen Ungerechtigkeit profitiert, der Situation eines normalen Bürgers westlicher Industriestaaten. Solange ein einzelner Kunde keine, jedenfalls keine vergleichbare Rolle im Unrechtsgeschehen einnimmt, erweist sich die Zuschreibung strenger Gerechtigkeitspflichten als wesentlich problematischer. Zwar könnte an dieser Stelle eingewendet werden, dass dieser Kunde durchaus eine co-konstitutive Funktion innehat, da der Fahrradladen nicht rentabel arbeiten könnte, wenn alle Kunden ihn boykottieren. Aber in dieser Perspektivenverschiebung von einem zu allen Kunden liegt ein gedanklicher Sprung. Um zu beurteilen, ob einer einzelnen Person konkrete Pflichten der Gerechtigkeit zufallen,
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ist zu beurteilen, ob sich das Unrecht insgesamt verändern würde, wenn sie ihr Verhalten ändert. Dies ist mit Blick auf den vernachlässigbaren Beitrag einer einzelnen Person aber nicht notwendig der Fall. Wenn eine Person an struktureller Ungerechtigkeit teilnimmt, aber keine nachweisbare Schädigung ausübt, dann verletzt sie keine negative Pflicht und ihr fallen auch nicht automatisch Wiedergutmachungspflichten zu. Für Young hängen ihre Pflichten dann von der Position ab, die sie in strukturellen Prozessen einnimmt.30 Diese Position hängt wiederum von vier Koordinaten ab (2006: 128–130): a) von der Macht einer Person oder Institution, kollektiven Einfluss auf eine soziale Praxis auszuüben; b) von den Privilegien, die eine Person oder Institution in der gegenwärtigen Struktur genießt; c) von ihrem Interesse, die Struktur zu ändern; und schließlich d) von ihrer Kollektivfähigkeit (collective ability), von ihrer Fähigkeit also, sich innerhalb politischer Parteien oder in anderen öffentlichkeitswirksamen Gruppen zu engagieren. Young geht davon aus, dass es vor dem Hintergrund struktureller Ungerechtigkeit oftmals nicht möglich ist, einzelne Schädiger oder Profiteure zu isolieren. Deswegen muss die Anwendung dieser Kriterien weitgehend unabhängig von der Schuldfrage erfolgen. Wo weder eine direkte Verschuldung noch eine konstitutive Mitverschuldung festzustellen ist, muss die Zuschreibung von Gerechtigkeitspflichten einer anderen Logik folgen. Diese Logik führt Young zu einer Konzeption politischer Verantwortung (2003). Demnach resultieren Pflichten gegenüber Armut nicht nur aus unserer Beteiligung am Markt, sondern an erster Stelle aus unserer Beteiligung an politischen Prozessen wie Wahlen oder öffentlicher Meinungsbildung. Diese Hinwendung zur politischen Verantwortung hat zwei Vorzüge. Erstens stellt das Politische einen Handlungszusammenhang zweiter Ordnung dar, unter dessen Regelungskompetenz prinzipiell alle anderen Handlungen fallen; und zweitens unterstreicht Young, dass jede einzelne Per-
—————— 30 Besondere Pflichten, schreibt sie, »correlate with an agent’s position within the structural process« (2006: 126).
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son in der Mitverantwortung für politische Entscheidungen steht. Für individuelle Personen bedeutet dies, dass sie nicht in dem Maße zur Wiedergutmachung verpflichtet sind, wie sie von einem nachweisbaren Unrecht profitieren, sondern dass sie zu politischem Engagement in dem Maße verpflichtet sind, wie sie es schlechterdings und auch aufgrund ihrer Privilegien können: »Wo es strukturelle Ungerechtigkeit gibt, erzeugt dies normalerweise nicht nur Opfer der Ungerechtigkeit, sondern auch Personen, die relative Privilegien in diesen Strukturen genießen. […] Personen die in gewissem Grade unter struktureller Ungerechtigkeit profitieren, haben eine besondere Verantwortung, zu organisierten Anstrengungen beizutragen, strukturelle Ungerechtigkeit zu korrigieren, nicht weil es in ihrem Verschulden liegt, sondern weil sie besser mit einer veränderten Situation zurechtkommen, ohne unter einem Verlust zu leiden.« (2006: 143)
Um einen abschließenden Begriff von Youngs politischer Verantwortungskonzeption zu bekommen, gilt es noch die Person zu betrachten, die im Beispielsfall Ungerechtigkeit weder verursacht, noch von ihr profitiert, sondern sich statt dessen bewusst aus der ungerechten Praxis zurückzieht und den Fahrradhändler boykottiert. Diesbezüglich steht für Young fest, dass ihre politische Verantwortung mit dem privaten Boykott keineswegs erfüllt ist. Es geht schließlich nicht darum, sich selbst keine Schuld aufzuladen, sondern darum, zukünftiges Unrecht zu vermeiden. Deswegen ist Youngs politische Verantwortungskonzeption ausdrücklich mit einer Zukunftsperspektive verbunden. Wenn sich einzelne Schädigungen nicht zweifelsfrei zurückverfolgen lassen, dann wird die Frage ausschlaggebend, inwiefern eine Person politische Prozesse beeinflussen kann, die die Zukunft gestalten: »Meiner Verantwortung gerecht zu werden, bedeutet in dieser Situation, dass ich mich zu kollektiven Handlungen mit anderen zusammenschließen muss. Wir teilen eine Verantwortung dafür, Veränderungen am Ablauf der Prozesse zu organisieren.« (2003: 42) In unserem Beispiel wird der einzelne Kunde, der den Fahrradladen boykottiert, seiner politischen Verantwortung nicht gerecht, weil er sich trotz politischer Handlungsfähigkeit (collective ability) nicht dafür einsetzt, das Geschehen insgesamt zu verändern. Ein Boykott kann durchaus ein sinnvolles Mittel darstellen, um diese Verantwor-
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tung zu realisieren, aber es wäre dann kein privater, sondern ein politischer Boykott, ein Boykott mit dem Ziel, die öffentliche Meinung, das öffentliche Verhalten und schlussendlich auch den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Die politische Verantwortung resultiert mit anderen Worten daraus, dass eine Person eine co-konstitutive Funktion im politischen Prozess einnimmt. Vorausgesetzt ist einzig und allein, dass ihr politische Handlungsoptionen offenstehen. Dies ist in einer restriktiven Diktatur zwar nur bedingt der Fall; in einer Demokratie stehen jeder Person aber vielfältige Wege offen, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Sie kann wählen, sich parteipolitisch oder zivilgesellschaftlich engagieren und ihre Meinung öffentlich verkünden. Ganz gleich, ob sie über besondere kommunikative Fähigkeiten, Kompetenzen oder Kenntnisse verfügt oder nicht, jeder Person wachsen die ihren Möglichkeiten entsprechenden Pflichten zu. Was mit Blick auf ein Fahrradgeschäft vielleicht etwas überzogen wirkt, klingt im Kontext globaler Gerechtigkeit – weil es sich hier um die Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen handelt – wesentlich plausibler. Youngs Beispiel geht von den Sweatshops amerikanischer Universitäten aus, in denen Sport- und Freizeitkleidung mit dem Logo der Universität verkauft wird. Diese Kleidung stammt in der Regel aus Ländern, in denen sie von minderjährigen Arbeiterinnen unter ausbeuterischen und gesundheitsschädlichen Bedingungen hergestellt wird – ein Beispiel dafür, wie sich der Konsum von Rohstoffen und Billigprodukten der Ersten Welt in der Dritten Welt auswirken kann. Nach Youngs Konzeption politischer Verantwortung sind wir nicht nur verpflichtet, solche Waren zu boykottieren, sondern wir stehen als co-konstitutive politische Subjekte in der Pflicht, den Import solcher Waren öffentlich und ultimativ auch rechtlich zu ächten.
Verantwortungsholismus Youngs zukunftsgerichtete Konzeption politischer Verantwortung hat den Vorteil, dass sie sich nicht mit der Klärung direkter oder indirekter Schädigungen oder Profite auseinandersetzen muss. Heißt dies nun, dass jede Person verpflichtet ist, sich für jedes Unrecht
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rund um die Uhr politisch zu engagieren, wie es Singer gefordert hat? Das, so müssten wir mit Young sagen, kommt darauf an. Entscheidend ist, welche Einflussmöglichkeiten und Interessen eine Person innerhalb der Öffentlichkeit geltend machen kann, welche Privilegien sie genießt und welche Verantwortung allen anderen Beteiligten zukommt. Die Klärung dieser Fragen läuft auf ein holistisches Modell politischer Verantwortung hinaus, das eine Reihe von Graduierungen zulässt. Um die Verantwortung eines einzelnen Konsumenten zu klären, müssten wir sein gesamtes Verantwortungsumfeld miteinbeziehen. Wir müssten seine assoziativen Verpflichtungen ebenso berücksichtigen, wie die Verstrickung aller anderen Beteiligten. Dies klingt nach einem wenig praktikablen, weil zu komplexen Unterfangen, ist aber im Grunde ein nicht abzukürzender Weg. Vereinfacht wird dieser Weg in der Regel durch Institutionen und politische Repräsentation. Nur dass es auf globaler Ebene einfach verfrüht wäre, davon zu sprechen, dass alle gerechtigkeitsrelevanten Probleme in einer globalen Grundstruktur entstehen und durch ihre Reform gelöst werden können. In den Bereichen, wo das der Fall ist, können wir Pogge folgen, nach dem die Primärverantwortung bei den Institutionen zu suchen ist, und die Verantwortung von Normalbürgern lediglich in der Kontrolle dieser Institutionen besteht.31 Das Problem liegt allerdings darin, dass wir uns an einer Reihe globaler Praktiken beteiligen, die zwar der institutionellen Regelung einzelner Staaten entwachsen sind, für die wir nach Young nichtsdestotrotz eine politische Verantwortung tragen. Die meisten dieser Praktiken haben mit dem globalen Markt zu tun, der zwar Wohlstand produziert, ihn aber äußerst unfair verteilt. Was Young damit von allen Teilnehmern am globalen Markt einfordert, ist ein politisches Engagement für eine globale soziale Marktwirtschaft.
—————— 31 Ein Versuch, unsere moralische und politische Verantwortung gegenüber globaler Armut auszubuchstabieren, ist das Erfurter Manifest, das von einer Reihe politischer Philosophen und Sozialwissenschaftler mitgestaltet wurde (»http:// hartlieb.kilu.de/wordpress/wp-content/uploads/2008/07/erfurter_manifest_ deutsch.pdf«; Juli 2009).
3 Globaler Kontraktualismus
Die Vertragsidee Vertragstheoretische bzw. kontraktualistische Theorien haben die politische Ideengeschichte der Neuzeit wie kein anderer Ansatz geprägt. Dies liegt vor allem daran, dass die Vertragstheorie eine klare und überzeugende Antwort auf eine der Kernfragen der politischen Philosophie vorweisen kann: Was legitimiert Herrschaft? Ihr Grundgedanke besagt, dass eine Herrschaftsordnung nur unter der Voraussetzung gerechtfertigt ist, dass jede Person dieser Ordnung nach Prüfung ihres wohlverstandenen Eigeninteresses und aufgrund geteilter moralischer Prinzipien zustimmen würde. Diese hypothetische Zustimmung wird in einem ebenso hypothetischen Vertragsszenario veranschaulicht. Ein Vertrag ist eine rechtsverbindliche Übereinkunft, in der sich unterschiedliche, auf ihren Vorteil bedachte Parteien auf ihr zukünftiges Verhalten festlegen. Die Legitimität politischer Herrschaft hängt somit an der Einwilligung aller Vertragsteilnehmer getreu der Devise, dass dem Einwilligenden kein Unrecht geschieht (volenti non fit iniuria). Um zumindest zwei der besonderen Herausforderungen zu verdeutlichen, vor denen die Idee eines globalen Gesellschaftsvertrags steht, werden wir uns zunächst zwei Klassikern der Vertragstheorie zuwenden, nämlich Thomas Hobbes und JeanJacques Rousseau.
Hobbes machtrealistische Herausforderung Die neuzeitliche Vertragstheorie beginnt mit Thomas Hobbes (1588– 1679). Sein Leviathan (1984/1651) setzt mit dem Gedankenexperi-
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ment ein, wie wohl das Zusammenleben ohne politische Herrschaft aussähe. Diese anarchische Welt bezeichnet Hobbes als Naturzustand. Darin, nimmt er an, begegnen sich Menschen nicht mit Respekt, sondern sie treten sich als begierdegetriebene Raubtiere gegenüber: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf (homo homini lupus). Und da selbst der Schwächste mit List oder im Verbund mit anderen den Stärksten töten könnte, wäre jeder Mensch in beständiger Lebensgefahr. So erweist sich der Naturzustand als Krieg aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) und der nackte Selbsterhaltungstrieb dominiert Denken und Handeln. Der Selbsterhaltungstrieb ist es auch, der gebietet, aus dem Naturzustand hinauszutreten und die Macht auf einen Leviathan zu übertragen. Gemeint ist ein absoluter, über dem Gesetz stehender Souverän, der Recht und Ordnung im Staate durchsetzt. Bei Hobbes hat der Gesellschaftsvertrag also in erster Linie die Funktion eines Ermächtigungsvertrags zum Zwecke der Selbsterhaltung. Sein Grundmotiv ist die Furcht ums Überleben, nicht die Suche nach Gerechtigkeit. Dass dieser Vertrag keine historische Beschreibung, sondern einzig ein Gedankenexperiment ist, um die Legitimität (absoluter) staatlicher Herrschaft zu erweisen, zeigt sich auch daran, dass Hobbes die Idee eines internationalen Gesellschaftsvertrags ausdrücklich verwirft. Für ihn herrscht zwischen den Nationen ein wirklicher Naturzustand, in dem sich die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gar nicht stellt: »Aber obwohl es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sich einzelne Menschen im Zustand des gegenseitigen Krieges befanden, so befinden sich doch zu allen Zeiten Könige und souveräne Machthaber auf Grund ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien und verhalten sich wie Gladiatoren: sie richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen […]. Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden.« (1994: 97)
Dass Begriffe wie Recht und Gerechtigkeit im internationalen Verkehr keine Bedeutung haben, wird uns in der Auseinandersetzung mit
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dem Realismus noch einmal beschäftigen (Kap. 5.1). Hier ist zunächst Hobbes’ Auffassung entscheidend, dass seine Vertragstheorie nicht auf die internationale Arena übertragen werden kann, weil hier nicht bloß hypothetisch, sondern faktisch ein Naturzustand herrscht. Forderungen nach Recht und Gerechtigkeit verhallen ohne Resonanz, wenn sie nicht an eine bestehende Autorität gerichtet werden können. Sein berühmter Satz, dass nicht die Wahrheit, sondern die Autorität das Recht setzt (auctoritas non veritas facit legem), beschränkt den Kontext der Gerechtigkeit auf bestehende Herrschaftsverhältnisse. Die kontraktualistische Rechtfertigung einer Weltrepublik muss hingegen hypothetisch bleiben, weil es keine Weltregierung gibt, an die sich internationale Ansprüche richten können, und sich somit auch nicht die nötige Autorität herstellen ließe, um globale Rechtsverhältnisse und Gerechtigkeit durchzusetzen.
Rousseaus Republikanismus Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ist der zweite klassische Vertragstheoretiker, vor dem die Idee eines globalen Gesellschaftsvertrags nicht bestehen würde. Auch Rousseau geht es in seiner Abhandlung Vom Gesellschaftsvertrag (1998/1762) darum, anhand eines fiktiven Vertrags Kriterien legitimer Herrschaft zu entwickeln.32 In seinem Szenario verlassen die Menschen den Naturzustand aber nicht aus Furcht ums nackte Überleben, sondern mit dem Ziel, in einer gesellschaftlichen Ordnung ein freieres Leben führen zu können. Sie geben ihre natürliche Freiheit zugunsten einer bürgerlichen Freiheit auf. Bürgerliche Freiheit bedeutet, dass sich eine Person als Teil des Gemeinwesens begreift und Einschränkungen ihrer natürlichen Freiheit als einen Ausdruck ihres eigenen Willens verstehen kann.33 Dazu
—————— 32 Die Zielsetzung seines Traktats formuliert Rousseau in den berühmten Eingangsworten: »Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können.« (1998: 5) 33 Die Frage, die Rousseaus Gesellschaftsvertrag beantworten soll, lautet: Wie findet man »eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen
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muss sie den gesetzgebenden Willen zu ihrem eigenen Willen machen, sie muss Teil eines Allgemeinwillens (volonté générale) werden: »Schließlich gibt sich jeder, da er sich allen übergibt, niemandem, und da kein Mitglied existiert, über das man nicht das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich einräumt, gewinnt man den Gegenwert für alles, was man aufgibt, und mehr Kraft, um zu bewahren, was man hat.« (1998: 18) Vordergründig hängt Rousseaus Legitimation politischer Herrschaft zwar an seiner Idee einer bürgerlichen Freiheit, aber unterschwellig deutet er die liberale Tradition des Gesellschaftsvertrags in eine republikanische Theorie um. Die Theorie des Republikanismus (von lat. res publica: öffentliche Angelegenheit) betont die Identifikation des Einzelnen mit dem Gemeinwesen (civitas). Der Bürger (citoyen) einer Republik ist dem Gemeinwohl stärker verpflichtet als in der liberalen Tradition. Er unterstellt sich dem überindividuellen Allgemeinwillen und gibt sich in dieser Unterordnung eine neue, bürgerliche Identität. Diese Identität beruht auf einem geteilten Kodex von Bürgertugenden, der nach Rousseau mittels Erziehung und zivilreligiösen Ritualen jedem Bürger eingepflanzt werden soll. Wenn er schreibt, dass »der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz« (1998: 23) Freiheit bedeutet, dann spricht er ausdrücklich von dieser sittlich situierten Freiheit, einer Freiheit, die es nur innerhalb einer Tugendgemeinschaft geben kann. Damit stellt Rousseau die Idee eines globalen Gesellschaftsvertrags vor eine ernstzunehmende Herausforderung. Denn für eine multikulturelle Weltgesellschaft ist die Vorstellung eines Individuums, das ganz im Allgemeinwillen aufgeht, offensichtlich ungeeignet. Ein Aufgehen im Gemeinwesen erfordert, wie es Rousseau herausgestellt und Hegel weiter ausgearbeitet hat, eine gemeinsame Sittlichkeit.34 Dieser Aspekt wird bis heute von kommunitaristischen Autoren betont (Kap. 5). Ihrer Auffassung zufolge ließe sich ein Gesellschaftsvertrag nur innerhalb einer durch
—————— Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitgliedes verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich selbst mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor«? (1998: 17) 34 Sittlichkeit meint bei Hegel die Objektivierung und Verwirklichung des freien Willens in einer vernünftigen Bürgergesellschaft. Vgl. Hegel (1980/1807: Dritter Teil: Die Sittlichkeit).
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eine gemeinsame Idee des Guten verbundenen Gemeinschaft realisieren. Auf dem bloßen Freiheitsinteresse nutzenmaximierender Individuen, wie ihn der klassische Liberalismus angeblich vor Augen hat, wäre hingegen keine gerechte Gesellschaftsordnung zu gründen, denn es würde ihr das Gemeinschaftsgefühl fehlen, durch das einzelne Personen oder Staaten Einschränkungen ihrer Freiheit zugunsten des Gemeinwohls in Kauf zu nehmen bereit wären.
Gliederung der Grundpositionen In unserer kurzen Auseinandersetzung mit Hobbes und Rousseau sind nun die zwei wesentlichen Herausforderungen benannt, vor denen die Idee eines globalen Gesellschaftsvertrags steht. In Reaktion auf Hobbes muss ein realistischer Weg aufgezeigt werden, auf dem globale Gerechtigkeitsgrundsätze zu machtpolitischer Geltung kommen; und in Reaktion auf Rousseau herrscht Klärungsbedarf, warum Menschen überall auf der Welt gemeinsamen Grundsätzen folgen sollen, wenn sie dabei nicht von einem globalen Gemeinschaftsgefühl, einer weltbürgerlichen Solidarität oder gar einer humanen Identität, vereint werden. Alle Vertragstheorien, die ich im Folgenden durchgehe, arbeiten sich an zumindest einer dieser Herausforderungen ab. Die Auswahl globaler bzw. internationaler Gesellschaftsverträge beginnt mit Immanuel Kant (Kap. 3.1). Aus pragmatischen Gründen hat Kant zwar auf die Idee einer konstitutionalisierten Weltrepublik verzichtet, dafür findet er im Friedenswillen ein Minimalethos, das einer internationalen Friedensordnung Verbindlichkeit verleihen soll. In gewisser Hinsicht lassen sich die im Anschluss an Kant besprochenen Ansätze von Otfried Höffe und John Rawls als zwei unterschiedliche Ausarbeitungen dieses Programms verstehen. Indem Höffe die Vision einer Weltrepublik entwickelt, wagt er sich weit über Kant hinaus (Kap. 3.2). Rawls hingegen wird für sich in Anspruch nehmen, dass er in direkter Kontinuität zu Kant steht, da sein Modell nicht auf die Konstruktion einer Weltrepublik, sondern auf die Gründung einer friedens- und menschenrechtssichernden Völkergemeinschaft abzielt (Kap. 3.3).
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3.1 Vom Rechtsfrieden zum Weltbürgerrecht: Immanuel Kant Ein fiktiver Friedensvertrag Mit der kunstvoll gebauten Schrift Zum ewigen Frieden (kurz: Friedensschrift, 1795) hat Immanuel Kant (1724–1804) einen Meilenstein in der politischen Philosophie gesetzt.35 Kants Leistung ist nicht nur darin zu sehen, dass er im Friedensinteresse der Völker ein allgemeinverbindliches Motiv findet, Völkerrechtsnormen zu befolgen. Im Stile eines internationalen Friedensvertrags entwirft er vielmehr das Szenario einer föderalen Völkergemeinschaft, die nicht nur über völkerrechtliche, sondern auch über weltbürgerrechtliche Grundsätze geordnet ist. Im Aufbau ist die Friedensschrift an einen realen Friedensvertrag angelehnt. Sie enthält fünf Präliminar- und drei Definitivartikel nebst zwei Zusätzen und einem Anhang. Mit Präliminarartikeln wird eine inhaltliche Vorklärung darüber bezeichnet, was genau in dem Friedensvertrag festgelegt werden soll, um es dann in Einzelverhandlungen weiter zu präzisieren und in unterschriftsfähige Formulierungen zu gießen. Zu diesen grundsätzlichen Vertragspunkten zählt nach Kant, dass der Gegenstand des Vertrages kein vorübergehender Waffenstillstand, sondern ein endgültiger Friedensschluss sein soll (§1), dass Einzelstaaten nicht in den Besitz anderer Staaten übergehen können (§2), dass Anreize zum Angriffskrieg wie der Unterhalt stehender Heere (§3) oder eine riskante Staatsverschuldung verboten werden (§4), dass Regierungen unumschränkte Souveränität genießen (§5) und dass im Krieg Greueltaten an der Zivilbevölkerung prinzipiell zu vermeiden sind (§6). Alles in allem beinhaltet diese Liste wesentliche Paragraphen des modernen Völkerrechts. Auffallend aus heutiger Perspektive ist jedoch, dass Kant keinen menschenrechtlichen Ansatz verfolgt. Primat hat ein stabiler Friede zwischen den
—————— 35 Hilfreiche Kommentare und Reaktualisierungen finden sich beispielsweise in Bohman (1997), Cheneval (2002), Gerhardt (1995), Habermas (1996; 2004), Höffe (2001; 2004), Kleingeld (1997), Merkel/Wittmann (1996) und Tan (1997).
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Völkern; darum gilt das Nichteinmischungsgebot auch im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen.
Konstitutionalisierungsgebot In den Definitivartikeln buchstabiert Kant dann seine Vision einer internationalen Friedensordnung aus. Im Friedensvertrag verpflichten sich alle ratifizierenden Parteien, den Naturzustand zugunsten eines gesetzlichen Zustands zu verlassen, denn »alle Menschen, die aufeinander wechselseitig einfließen können, müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung gehören« (Ebd.: 349). Kants Konstitutionalisierungsgebot bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf das Staatsbürger-, sondern auch auf das Völker- und das Weltbürgerrecht. In der Ausweitung des Verfassungsgedankens auf die weltbürgerliche Ebene ist die eigentliche Innovation Kants zu sehen. Seine rechtsmoralischen Argumente scheinen damit schnurstracks auf eine konstitutionalisierte Weltrepublik hinauszulaufen. Kant selbst steht der Idee einer Weltrepublik jedoch ambivalent gegenüber. Einerseits steht ihm klar vor Augen, dass eine Verrechtlichung der internationalen und globalen Ebene mit einer dem Einzelstaat übergeordneten Ordnungsmacht verbunden sein müsste. »Das Recht«, so hat es Kant bereits in der Rechtslehre ausgedrückt, »ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden« (1797, RL, AA VI, S. 231). Ohne eine solche Zwangsbefugnis lässt sich keine allgemeine Regelbefolgung garantieren: Darum stellt eine rechtsmäßige Regelbefolgung aus Zwang (Kant nennt sie Legalität im Gegensatz zur Moralität) die notwendige Grundlage jeglicher politischen Ordnung dar. Entsprechend stellt er auch mit Blick auf die internationale Arena fest: »Für Staaten im Verhältnisse untereinander kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie ebenso wie einzelne Menschen ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und so einen (freilich immer wachsenden) Völkerstaat (civitas gentium), der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden«. (Friedensschrift, AA VIII, S. 357)
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Aber auch wenn die Idee einer Weltrepublik zwingend aus dem Konstitutionalisierungsgebot hervorgeht, scheut sich Kant, diese letzte Konsequenz seines politischen Denkens zu ziehen. Grund dafür sind pragmatische Überlegungen, wie er sie bereits in einer weiteren kurzen Schrift, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (kurz: Gemeinspruch, 1793), dargelegt hat. Schon dort zögert er, die Idee einer weltbürgerlichen Verfassung konsequent zu Ende zu denken. Grund ist die Gefahr eines weltumspannenden Leviathans, also eines despotischen Weltstaats, aus dem es keine Emigrationsmöglichkeit mehr gäbe. Als einzig gangbaren Weg schlägt Kant daher vor, alle Völker zu einem gemeinsamen Friedensvertrag zu bewegen und eine völkerrechtlich geordnete Staatengemeinschaft (Föderation) zu gründen. Aus beiden Schriften ist aber auch herauszulesen, dass Kant diese Föderation als ein geschichtliches Übergangsstadium begreift, in dem sich die internationale Rechtskultur weiter entwickeln könnte, um langfristig und endgültig im weltbürgerlichen Verfassungsstaat aufgehoben zu werden.36
Staatsbürger-, Völker- und Weltbürgerrecht In Kants geschichtsphilosophischer Perspektive setzt ein Friedensvertrag zwischen den Nationen lediglich den nächsten praktikablen Schritt. In den drei Definitivartikeln dieses Vertragswerks werden nun Staatsbürger-, Völker- und Weltbürgerrecht festgelegt und zudem Wege gezeigt, auf denen sie sich auch in der vorläufigen Abwesenheit einer Weltrepublik realisieren lassen. Der erste Definitivartikel ist auf das Staatsbürgerrecht gerichtet; er lautet: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.« (Friedensschrift, AA VIII, S. 349) Mit einer republikanischen Verfassung ist hier eine auf demokratischen und freiheitlichen Grundrechten beruhende Verfassung gemeint. Hintergrund dieses Artikels bildet die These, dass sich ein Friedens- und Völkerrechtsvertrag zwischen Staaten, die in diesem Sinne demokratisch verfasst sind, quasi von selbst trägt. Demokratien sind von sich aus friedlie-
—————— 36 Zum Begriff der Rechtskultur vgl. Mohr (1997; 1998).
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bend, darum braucht es zwischen ihnen keine souveräne Ordnungsmacht. Die These, das Kriege zwischen Demokratien unwahrscheinlich sind, wird allerdings kontrovers diskutiert. Kant anerkennt selbst, dass es Ausnahmen geben kann. Seine Hoffnung liegt aber darauf, dass demokratisch verfasste Staaten zumindest weniger leichtsinnig darin sind, Kriege anzuzetteln, weil in ihnen die potentiellen Opfer über den Kriegseintritt mitbestimmen und weil sich zwischen bürgerlichen Republiken ein Handelsnetz ausbildet, das ihnen die »Kriegslust« nimmt. In Ermangelung einer Weltrepublik legt der erste Definitivartikel also fest, wie das Staatsbürgerrecht zu gestalten wäre, um dem Ziel einer stabilen internationalen Friedensordnung näher zu kommen. Der zweite Definitivartikel leistet ähnliches für das Völkerrecht. Er legt fest, dass »das Völkerrecht auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein« soll (ebd.: 354). Das politische Ordnungsmodell, das Kant für die internationale Ebene einführt, nennt er einen Völkerbund, das ist ein freiwilliger Zusammenschluss unabhängiger Staaten, der aber kein Völkerstaat ist, insofern er keine übergeordnete Machtinstanz anerkennt. Die wechselseitige Verpflichtung auf einen dauerhaften Frieden beruht einzig und allein auf der vertraglichen Selbstverpflichtung. Lediglich das Friedensinteresse demokratischer Völker verleiht dem internationalen Rechtszustand eine gewisse Stabilität. Das bedeutet, Kants Idee einer freiwilligen Staatenföderation steht und fällt ebenfalls mit der strittigen These, dass demokratisch verfasste Republiken friedfertig sind. Der dritte Definitivartikel schließlich besagt, dass »das Weltbürgerrecht […] auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein« soll (ebd.: 357). Dafür, dass Kants Idee eines Weltbürgerrechts als seine große Innovation gilt, fällt diese Bestimmung recht bündig aus. Nichtsdestotrotz markiert ein Weltbürgerrecht auf Hospitalität einen ideengeschichtlichen Quantensprung. In einer Zeit, in der das Völkerrecht gängige Praxis zu werden beginnt, schlägt Kant mit der universellen Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staaten und Menschen erstmals das Kapitel einer kosmopolitischen Rechtsordnung auf. Individuen genießen darin nicht nur als Staatsbürger Rechte, sondern auch als Weltbürger. Dass dieses Recht keinen voll entwickelten Menschenrechtsschutz beinhaltet, sondern auf das Recht
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beschränkt bleibt, auf fremden Territorien anständig behandelt zu werden, ist in Kants Konzeption zunächst hinreichend. Für ihn rechtfertigen auch schwerste Menschenrechtsverletzungen keine Interventionen in die Souveränität anderer Staaten, mit dem Hospitalitätsrecht führt er aber ein rudimentäres Asylrecht ein, dass es verfolgten Individuen erlaubt, bei Gefahr für Leib und Leben in einen neutralen Staat zu fliehen, wo sie ihr kosmopolitisches Besuchsrecht wahrnehmen dürfen. Für die Gewährleistung aller darüber hinaus gehenden Menschenrechte sind die Einzelstaaten selbst verantwortlich. Dies sind immerhin Staaten, die sich bereits im ersten Definitivartikel rechtskräftig auf eine freiheitlich-demokratische Verfassung verpflichtet haben.
Eine utopische Friedensarchitektur? Bis heute hat sich Kants Theorie insbesondere dort als anschlussfähig erwiesen, wo sie die Notwendigkeit einer weltbürgerlichen Verfassung betont. Aber obwohl er seinen anspruchsvollen rechtsmoralischen Ansatz mit großem realpolitischem Gespür vorträgt, sind im Verhältnis von normativen zu realistischen Gesichtspunkten auch die Defizite seines Ansatzes zu finden. So bleibt es fraglich, ob das Bild einer freiwilligen Föderation republikanisch verfasster Staaten tatsächlich eine realistische Utopie vorstellt. Der Ausdruck einer realistischen Utopie stammt von John Rawls. Er bezeichnet eine Theorieanforderung, derzufolge eine praktikable Gerechtigkeitskonzeption »auf bestehende politische und soziale Einrichtungen angewendet werden können« (1999: 15) muss. Mit anderen Worten: Eine Gerechtigkeitstheorie muss ihre moralischen Grundsätze zwar nicht von der Faktizität politischer Machtverhältnisse abhängig machen, aber sie darf auch nicht auf kontrafaktischen oder auch nur unwahrscheinlichen Annahmen basieren. Eine solche unwahrscheinliche Annahme macht Kant aber, wenn er im ersten Definitivartikel festlegt, dass alle Nationen zunächst eine demokratische (republikanische) Verfassung annehmen müssen. Zumindest ist dies eine sehr weitgehende und vielleicht sogar, wie wir mit Rawls ausführen werden, intolerante Forderung. Andererseits
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muss er genau diese Annahme machen, da die These von der Friedfertigkeit von Demokratien einen tragenden Stützbalken in seiner Friedensarchitektur bildet. Denn an keiner Stelle beinhaltet Kants Friedensvertrag eine Verpflichtung auf internationale Sanktionen oder Gerichtshöfe. Verbindlichkeit gewinnen die Grundsätze des Völker- und Weltbürgerrechts bei Kant vor allem, weil sie im ›natürlichen Interesse‹ bürgerlicher Republiken liegen. Die Bereitschaft demokratischer Staaten, ohne externen Zwang von gewinnbringenden Angriffskriegen abzusehen, ist aber mit Blick auf die Geschichte eher skeptisch zu beurteilen.37 Im Ergebnis hat eine freiwillige Föderation Hobbes’ machtrealistischer Herausforderung wenig entgegenzusetzen. Deswegen lässt auch Kant immer wieder durchblicken, dass sich eine freiwillige Föderation im Laufe der Geschichte ordnungspolitisch weiter verfestigen müsste – bis sich am Horizont der Geschichte doch eine Weltrepublik abzeichnet. In diese Richtung jedenfalls hat Otfried Höffe das Kantische Programm vorangetrieben. Höffe nimmt Kants Rechtsmoral beim Wort, indem er zeigt, dass eine globale Rechtsordnung auch eine autorisierte Regierung benötigt. John Rawls wird dagegen zu zeigen versuchen, wie ein Völkerrechtsvertrag auch ohne Weltregierung möglich wäre. Er greift dazu explizit auf Kants Friedensschrift zurück und fügt ihr lediglich ein moderneres Verständnis der Menschenrechte und den Gedanken der Toleranz gegenüber nichtdemokratischen Völkern ein.
3.2 Die Vision einer komplementären Weltrepublik: Otfried Höffe Die Weltrepublik als eine realistische Utopie Mit dem Begriff der realistischen Utopie haben wir bereits eine Plausibilitätsanforderung kennengelernt, hinter die keine Theorie globaler Gerechtigkeit zurückgehen sollte. So sinnvoll es sein mag, zunächst
—————— 37 Vgl. Höffes (1999: 282ff.) kritische Auseinandersetzung mit den in eine Demokratisierung der Staatenwelt verbundenen Hoffnungen.
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eine Gerechtigkeitsutopie am Reißbrett zu entwerfen, um sich einmal grundsätzlich die normative Grammatik des Gerechtigkeitsbegriffs vor Augen zu führen, so notwendig ist es, dieser Grammatik in Relation zu den realpolitischen Gegebenheiten eine konkrete und praktikable Bedeutung zu geben. Vor diesem Hintergrund nimmt sich Otfried Höffes vertragstheoretische Konstruktion einer Weltrepublik ausgenommen kühn aus. Der 1943 geborene und in Tübingen lehrende Otfried Höffe steht in vielerlei Hinsicht in Kontinuität zu Kant, hat aber mit Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999) ein Werk vorgelegt, das Kants zögerliche Umsetzung seines Konstitutionalisierungsgebots gezielt überbietet. Höffes Anliegen ist es, die Entwicklung einer Weltrepublik als gleichermaßen rechtsmoralisch geboten und realpolitisch möglich darzustellen, und damit die Vision der Weltrepublik selbst als eine realistische Utopie zu behaupten.38 Ausgangspunkt in Höffes Theorie bildet eine umfassende Analyse der Globalisierung. Im Einklang mit der jüngsten Theorie begreift er Globalisierung als ein komplexes Geschehen, das nicht nur wirtschaftliche Verflechtungen beschreibt, sondern das Leben von Menschen in allen seinen Belangen berührt.39 Vor dem Hintergrund einer »komplexen Globalisierung« versteht Höffe seine Vision einer Weltrepublik nicht als Utopie, sondern als eine zwangsläufige politische Antwort auf eine neue Problemdimension. Handlungsbedarf sieht er insbesondere angesichts neuer sicherheitspolitischer, ökonomischer und ökologischer Herausforderungen, sowie in Hinsicht auf die Vernetzung des menschlichen Lebensraums hin zu einer »Schicksalsgemeinschaft« bzw. einer »Gemeinschaft von Not und Leid« (ebd.: 20). Diese Herausforderungen lassen sich für ihn letztlich nur im Rahmen einer Weltrepublik lösen, einer Herrschaftsform also, die eine globale Rechts- und Friedensordnung organisiert, aber eben auch durchsetzen kann, und die zudem Handels- und Finanzbeziehungen reguliert und für globale soziale Gerechtigkeit sorgt.
—————— 38 Vgl. dazu auch Höffe 1997 und 2005. 39 Eine gute Übersicht über die multidimensionale Globalisierung gibt Beck (1997); über spezifische Gerechtigkeitsprobleme Sassen (1998) und Stiglitz (2002).
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Gerechtigkeit als Tausch Im Zentrum von Höffes Gerechtigkeitstheorie steht der transzendentale Tausch, eine Variante der Vertragstheorie, die er bereits in Politische Gerechtigkeit (1987) entwickelt hat und nun auf die globale Ebene überträgt. Im Gegensatz zu Kant wird bei Höffe aber kein internationaler Friedens-, sondern ein globaler Staatsvertrag abgeschlossen. Vertragssubjekte sind nicht nur Volksrepräsentanten, sondern alle Menschen. Höffe vertritt mit anderen Worten einen vertragstheoretischen Kosmopolitismus (vgl. auch Kap. 4.1). Dass Höffe eine kosmopolitische Moralkonzeption verfolgt, wird besonders deutlich, wenn er seinen legitimatorischen Individualismus vorstellt. Demnach müssen zwangsbefugte Regeln gegenüber jeder betroffenen Person gerechtfertigt werden. Und in eben einer solchen universellen Rechtfertigung gegenüber jeder einzelnen Person sieht Höffe die genaue Legitimationsaufgabe seiner Theorie. Im Einklang mit klassischen Vertragstheorien will er zeigen, dass jedes Individuum einen Grund hat, seine negative Freiheit von bestimmten globalen Rechtsnormen einschränken zu lassen. Mit negativer Freiheit ist die Freiheit von Zwang (freedom from constraint) gemeint, die im Staat genau so weit beschränkt wird, wie es die negative Freiheit aller anderen erfordert. Ihre natürliche Freiheit wird sich eine Person aber nur dann bereitwillig einschränken lassen, wenn sie sich dafür ein wichtigeres Gut einhandelt. Der politische Urvertrag besteht demnach »in einer freien und wechselseitigen, allseits vorteilhaften und rechtskräftigen Selbsteinschränkung der negativen Freiheit« (1999: 53); und weil in diesem Vertrag wechselseitig Freiheit gegen die Geltung sozialer Regeln getauscht wird, spricht Höffe von einem Tausch. Als transzendental bezeichnet Höffe diesen Tausch deshalb, weil durch ihn die Bedingungen von Handlungsfähigkeit überhaupt gesichert werden. In Kantischer Diktion bedeutet ›transzendental‹ die ›Bedingung der Möglichkeit von etwas‹, die Grundvoraussetzung also, dass dieses Etwas überhaupt zustande kommen kann. Im transzendentalen Tausch geht es um die Grundvoraussetzung menschlichen Handelns. Vorausgesetzt ist, dass jeder Mensch, ganz gleich welcher Kultur, welchen Geschlechts oder welchen Alters, ein grundlegendes Interesse daran hat zu handeln. Formal bedeutet ›han-
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deln‹ ein selbstbestimmtes und zielgerichtetes Verhalten. Höffe nimmt nun an, dass alle Mensche selbstbestimmt handeln, also ihr Leben selbst gestalten und ihre eigenen Projekte realisieren wollen. Die transzendentalen Bedingungen dieser Handlungsfähigkeit (conditions of agency) markieren ein kulturübergreifendes Interesse; und weil dieses Interesse die conditio humana insgesamt kennzeichnet, sieht Höffe seine Theorie durch eine kulturübergreifende »Minimalanthropologie« (ebd.: 56) untermauert. Das im menschlichen Wesen verankerte Interesse zu handeln macht Höffe zufolge bestimmte Freiheitseinschränkungen zulässig, nämlich genau diejenigen, die zweifelsfrei nötig sind, um die eigene Handlungsfreiheit zu sichern. Zwar schränkt eine soziale Regel, die beispielsweise die Sklaverei verbietet, die negative Freiheit einer Person in vielfacher Weise ein (ihr wäre es beispielsweise untersagt, mit Sklaven zu handeln oder sie zu besitzen); diese Einschränkung lässt sich aber jeder Person gegenüber rechtfertigen, weil durch ihre Geltung die Handlungsfreiheit jeder einzelnen Person erst garantiert wird. Auch hier entlehnt Höffe ein Argument aus der klassischen Vertragstheorie, wonach es für jede Person rational im Sinne von vorteilhaft ist, ihre unsichere natürliche Freiheit gegen gesicherte Freiheitsrechte im Staat einzutauschen.40
Universelle Gerechtigkeitsprinzipien Wie sieht nun dieser Vertrag aus, wenn es sich nicht nur um einen Staats-, sondern um einen Weltstaatsvertrag handeln soll? Für Höffe müssen vier Bedingungen erfüllt sein, nämlich das Prinzip der Protogerechtigkeit, das rechtskonstituierende Prinzip, zwei rechtsnormierende sowie fünf rechtsrealisierende Prinzipien. Das Prinzip der Protogerechtigkeit lautet:
—————— 40 Diese Freiheitsrechte gehören für Höffe zu den »soziotranszendentalen Interessen« einer Person, zu den Bedingungen also, »auf die kein Mensch verzichten kann, weil sie für jedwede Lebensform gültig sind, und die darüber hinaus, weil vom Zusammenwirken abhängig, der Vergesellschaftung bedürfen.« (1999: 57)
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»Durch eine originäre Selbst- und eine originäre Fremdanerkennung sollen alle Mitglieder der Gattung zurechnungsfähiger Wesen sich selbst und ihresgleichen als Rechtsgenossen anerkennen.« (Ebd.: 88)
Im engeren Sinne handelt es sich bei diesem Prinzip gar nicht um einen Teil des Gesellschaftsvertrags, sondern um eine Vorleistung, die alle Vertragssubjekte erbringen müssen. Im Gegensatz zu früheren Überlegungen erscheint es Höffe nicht evident zu sein, dass alle Menschen allein um ihres wechselseitigen Vorteils willen in ein allgemeines System von Freiheitsrechten einstimmen. So könnte das ursprüngliche Interesse, die eigene Handlungsfähigkeit zu sichern, auch die Zustimmung zu einer höchst ungerechten Gesellschaftsordnung motivieren. Denkbar wäre eine rassistische Gesellschaft, in der die Angehörigen der mächtigeren Gruppe für ein Apartheidsregime stimmen, weil es ihnen die größtmöglichen Handlungsspielräume eröffnen würde. Kurzum, mit dem egoistischen Interesse an der eigenen Handlungsfähigkeit ist eine universelle Zustimmung zu einer gerechten Weltrepublik nicht zu garantieren. Es bedarf eines zusätzlichen moralischen Motivs, allen Menschen überall auf der Welt die gleichen Rechte einzuräumen. Eben dieses Motiv sucht Höffe in dem, was er eine originäre Selbst- und Fremdanerkennung nennt. Originär sind diese Anerkennungsformen in dem Sinne, dass sie dem Recht bzw. dem Gesellschaftsvertrag vorausgehen. Sie sind (rechts-)moralische Vorleistungen, die einen Weltgesellschaftsvertrag erst ermöglichen. Die erste Vorleistung besteht in der Selbstanerkennung als Rechtssubjekt, die Höffe mit Kant als rechtliche Ehrbarkeit erläutert. In ihr drückt sich die Bereitschaft aus, dass sich eine Person »überhaupt als Rechtsgenosse konstituiert« (ebd.: 84), dass sie sich also nicht über dem Gesetz stehend ansieht, sondern sich statt dessen als Rechtssubjekt begreift, als eine dem Recht unterworfene Person.41 Die zweite Vorleistung besteht darin, dass eine Person alle anderen Menschen als Rechtsgenossen anerkennt, sie also als gleichberechtigte Rechtssubjekte ansieht und keinen Menschen aus Gründen seiner Rasse, seines Ge-
—————— 41 Vgl. zur Idee einer moralischen Selbstkonstitution Hahn (2008) und Korsgaard (2009).
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schlechts oder seines Wohnorts von seinem Rechtsanspruch ausschließt. Dieser anerkennungstheoretische Kern in Höffes Konzeption ist äußerst kurz gehalten und bleibt in vielerlei Hinsicht diskutabel. Es ist insbesondere fraglich, wie sich diese originäre Selbst- und Fremdanerkennung mit Blick auf die globale Arena entwickeln soll.42 Im Anschluss an Höffe ließe sich die Entwicklung einer globalen wechselseitigen Anerkennung wohl auf mindestens zwei Arten rekonstruieren. Einerseits ließe sich darauf abstellen, dass lokal begrenzte Anerkennungserfahrungen nicht notwendig zu einer lokal begrenzten Identitätsbildung führen. Die konkrete Erfahrung, die ein Staatsbürger als Rechtssubjekt sammelt, ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass sie sich überhaupt rechtsmoralisch konstituiert, dass sie also darin eingeübt wird, andere Menschen als Rechtsgenossen anzuerkennen, und allgemein dazu bereit ist, sich dem Recht und damit auch dem Weltbürgerrecht zu unterstellen. Auf der anderen Seite weist Höffe wiederholt darauf hin, dass mit der Ratifizierung von Menschenrechten und der Entwicklung internationaler Gerichtshöfe bereits eine weltbürgerliche Rechtskultur Gestalt annimmt, in Bezug auf die sich Menschen zunehmend als weltbürgerliche Rechtssubjekte definieren. Insbesondere in der Sprache der Menschenrechte artikuliert sich dabei ein weltbürgerrechtliches Selbst- und Menschenverständnis, das möglicherweise zum moralischen Grundstein für einen Weltgesellschaftsvertrag taugt.43 Auf dieses universelle Prinzip der Protogerechtigkeit folgt als zweites das rechtskonstitutive Prinzip bzw. das »universale Rechtsgebot« (ebd.: 88):
—————— 42 Nicht nur ist die wechselseitige Anerkennung als Rechtsperson auf Staatsbürger beschränkt, auch die Selbstanerkennung als Rechtssubjekt beruht zunächst auf den konkreten Erfahrungen von Staatsbürgern (vgl. Honneth 1992). Ursprünglich ist die Anerkennung als eine Rechtsperson also auf partikulare Gemeinschaften beschränkt; sich selbst als eine Rechtsperson zu verstehen, heißt zunächst, eine Differenz gegenüber denjenigen zu setzen, die nicht zu dieser Rechtsgemeinschaft gehören. 43 Höffe spricht in diesem Zusammenhang von der Entwicklung einzelner Weltbürgertugenden (1999: 335ff.), der Entstehung eines Welt-Gerechtigkeitssinns (ebd.: 341ff.) und der Ausbildung eines gemeinsamen Welt-Bürgersinns (ebd.: 346ff.).
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»Als Inbegriff von streng allseits gültigen Regeln tritt das Recht der persönlichen Willkür und persönlichen Gewalt entgegen und soll genau deshalb überall unter den Menschen herrschen.« (ebd.: 88)
Dieses Prinzip heißt rechtskonstituierend, weil es immer noch keinen Artikel des Gesellschaftsvertrags definiert, sondern erst gebietet, einen verbindliches Recht stiftenden Vertrag einzugehen. Jede Person muss sich bereit finden, ihre natürliche Freiheit aufzugeben und in einen allgemeinen Rechtszustand einzutreten. Erst nachdem die vertragsschließenden Parteien dem Kantischen Konstitutionalisierungsgebot Folge geleistet und beschlossen haben, dass das Recht weltweit herrschen soll, macht Höffe in zwei rechtsnormierenden Prinzipien explizit, wie diese globale Verfassung auszusehen hat. Das erste rechtsnormierende Prinzip stellt dazu fest: »Durch wechselseitige Freiheitsverzichte erhalte jeder Rechtsgenosse jenes Höchstmaß an Handlungsfreiheit, das, gemäß dem ersten Gerechtigkeitsprinzip, in allseits gültigen Regeln möglich ist.« (ebd.)
Auch in dieser Formulierung folgt Höffe einem liberalen Grundgedanken, wonach die Einschränkung der gesetzlosen Freiheit durch allgemeine Gesetze gerechtfertigt ist, solange dadurch die Handlungsfreiheit für alle maximiert wird. Im Einzelnen begründet dieses Prinzip klassische liberale Abwehrrechte. Das sind Rechte, die ein Individuum vor illegitimen staatlichen Eingriffen schützen sollen, wie Übergriffe auf Leib, Leben und Eigentum oder die Einschränkung von Rede- und Religionsfreiheit. Höffes zweites rechtsnormierendes Prinzip garantiert zudem ein bestimmtes Maß an positiven Freiheitsrechten, an Rechten also, die nicht nur vor Übergriffen schützen, sondern mit tatsächlichen Ansprüchen verbunden sind. Entsprechende Leistungs- und Sozialrechte umfassen nach Höffe nicht nur ein Grundrecht auf Nahrung, Kleidung und Wohnung, sondern auch auf Bildung und Gesundheitsfürsorge. Zusammengenommen lassen sich die beiden rechtsnormierenden Gerechtigkeitsprinzipien in die wichtigsten Menschenrechte übersetzen, wobei Höffe betont, dass die jeweiligen Ansprüche im Kontext kultureller und wirtschaftlicher Faktoren zu interpretieren sind, also nicht unbedingt in jedem Land zu identischen Ansprüchen führen. Ergänzt werden sie abschließend durch fünf rechtsrealisierende Gerechtig-
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keitsprinzipien. Als rechtsrealisierend bezeichnet Höffe Grundsätze, mittels derer sich die Freiheits- und Sozialrechte auch auf globaler Ebene verwirklichen lassen. Da sich die Frage nach der Realisierbarkeit einer Weltrepublik aufdrängt, sind diese Prinzipien von besonderem Interesse. Im Einzelnen gebieten sie, dass a) zur Realisierung der Gerechtigkeit ein Rechtsstaat einzurichten ist (universales Staatsgebot); b) öffentliche Gewalten zu teilen sind (Prinzip der Gewaltenteilung); c) jede Herrschaft durch das Volk oder zumindest im Namen und zum Wohle des Volkes auszuüben ist (universales Demokratiegebot); d) die Gemeinwesen ein Recht auf kulturelle Differenz haben (Prinzip der Differenz); e) Kompetenzen im Rahmen einer gestuften Staatlichkeit auf der untersten möglichen Ebene angesiedelt werden (Prinzip der Subsidiarität).
Komplementarität, Subsidiarität und Föderalismus Das Prinzip der Subsidiarität (von lat. subsidium: Hilfsmannschaft, Reserve) spielt mit Blick auf die globale Arena eine besondere Rolle. Es soll helfen, der Rousseau’schen Herausforderung zu begegnen, wonach die Bereitschaft, gemeinsame Rechtsnormen zu befolgen, von starken Gemeinschaftsgefühlen abhängt. Seine klassische Definition hat das Subsidiaritätsprinzip in der Sozialenzyklika Quadragesimo anno unter Papst Pius XI. erhalten, in der die Zuständigkeiten zwischen Diözesen, Gemeinden und Papst geregelt werden: »Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.« (zit. nach Münder 1998: 72)
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Nach dem Prinzip der Subsidiarität fallen einer Weltregierung nur solche Aufgaben zu, die nicht ebensogut von Einzelstaaten und politischen Einheiten auf regionaler und kontinentaler Ebene bewerkstelligt werden können.44 In Höffes Mehrebenenmodell zählen dazu Einzelstaaten, sowie transnationale Verbände wie die EU und lokale Verwaltungseinheiten, die unter der Ebene des Staates angesiedelt sind. Auch räumt seine Vision einer komplementären Weltrepublik ein, dass die Verrechtlichung der globalen Arena in Anerkennung kultureller Zugehörigkeiten vorgehen muss. Dass die Weltrepublik komplementär ist, bedeutet, dass sie die Arbeit kleinerer politischer Einheiten nicht lenken, sondern lediglich ergänzen soll. Als Muster einer vertikal gestaffelten Souveränität auf kontinentaler Ebene dient ihm die EU, in der das Prinzip der Subsidiarität bereits heute Anwendung findet.45 Ebenso steht die EU dem föderalen Charakter von Höffes Weltrepublik Modell. Sie ist ein Bund (lat. foedus) unabhängiger Einzelstaaten, die sich einer gemeinsamen Verfassung unterstellen. In dieser föderal-subsidiären Gestalt wäre die Weltrepublik kein zentralistischer Leviathan ohne sittliches Bindegewebe, sondern eine kulturell differenzierte, moralisch gebotene, politisch mögliche und praktisch notwendige Ergänzung der bestehenden politischen Ordnung.
Ferne Utopie oder kosmopolitische Notwendigkeit? Mittlerweile ist der Konstitutionalisierungsprozess der EU allerdings unter-, vielleicht sogar abgebrochen worden. Dies wirft die Frage auf, ob die Teilaufgabe nationaler Souveränität tatsächlich eine realistische Vision darstellt. Welches souveräne Land wird jemals bereit sein, sich demokratischen Entscheidungen auszuliefern, in denen China und Indien ein überragendes Gewicht zukäme? Eine demokratisch geordnete, menschenrechtlich verfasste und föderal-subsidiär organisierte Weltrepublik wäre ohne Frage eine legitime wie mögliche Herr-
—————— 44 Zur weiteren Diskussion dieses Prinzips vgl. Höffe (1999: 126ff). 45 Subsidiarität bedeutet hier, dass in die Kompetenz der EU nur solche Probleme fallen, die entweder nicht von Einzelstaaten zu lösen sind oder bei denen es ein gemeinsames Interesse an einer transnationalen Regelung gibt.
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schaftsform. Aber ihre Verwirklichung bleibt eben eine geschichtsphilosophische Prognose. Kant hat, wie gesehen, diese langfristige Prognose zugunsten einer kurzfristigen Friedenslösung zurückgenommen. Dessen Vertrauen in die Friedfertigkeit und Kooperationswilligkeit von Republiken weist Höffe wiederum mit guten Gründen zurück. Nicht nur ließe sich auf dem Boden einer freiwilligen Übereinkunft keine stabile Friedensordnung errichten, auch wäre ein loser Friedensbund gar nicht geeignet, die mit der Globalisierung verbundenen Probleme im Bereich Umweltschutz oder Finanzregulierung in den Griff zu bekommen. Im Angesicht dieser Probleme erscheint ihm eine Verrechtlichung der globalen Arena unausweichlich. Zuletzt ist Höffes Vision einer globalen Rechtsordnung auch geeignet, der Herausforderung Hobbes’ zu begegnen, für den sich Gerechtigkeitsforderungen nur in Verbindung mit zwangsbefugten Institutionen stellen. Höffe schließt sich dieser Auffassung indirekt an, indem er alle Ansätze, die auf ein staatsanaloges Regierungssystem verzichten, verwirft. Für ihn gibt es zumindest einige globale Gerechtigkeitsprobleme, die eine durchsetzungsfähige Weltregierung erforderlich machen. Als Alternative zu Höffes Vision einer Weltrepublik wirbt vor allem der Ansatz des Regierens ohne Regierung (governance without government) dafür, dass globale Normen lediglich über ein Netz internationaler Regelwerke, aber ohne zentrale Regierungsinstanz stabilisiert werden könnten.46 Aber selbst wenn sich die dringendsten globalen Koordinierungsprobleme durch die Zusammenarbeit einzelner Staaten, internationaler Institutionen und Interessensverbände lösen ließen, was Höffe skeptisch beurteilt, fehlt es dieser Herrschaftsform an Legitimität, die grundsätzlich, so Höffe, nur eine qualifizierte Demokratie in einer Weltrepublik liefern könnte. Zusammengefasst hat Höffes Vision einer komplementären Weltrepublik den Vorzug, dass sie eine rechtsmoralische Fundierung mit einer überzeugenden Analyse der allgemeinmenschlichen Interessen und realpolitischen Globalisierungsprobleme verbindet. Aber auch wenn Höffe für sich verbuchen kann, dass die internationale Politik in einigen Bereichen bereits Kurs auf eine Weltrepublik genommen
—————— 46 Vgl. Czempiel/Rosenau (1992).
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zu haben scheint, geht seine Vision vielen politischen Theoretikern zu weit.47 Die langfristige Möglichkeit, prinzipielle Legitimität und praktische Notwendigkeit einer Weltrepublik mögen unbestritten sein, kurzfristig eignet sie sich aber nur begrenzt als handlungsorientierender Theorierahmen. Dies macht die Vision einer gerechten Weltrepublik keinesfalls obsolet, aus einer bestimmten Perspektive sogar umso dringlicher. Aufgrund der Notwendigkeit aber, dass wir globale Probleme kurzfristig nur mit den vorhandenen ordnungspolitischen Möglichkeiten eindämmen können, hat sich bereits Kant auf einen zweitbesten Weg eingelassen und einen internationalen Völkerrechtsvertrag der kosmopolitischen Langzeitperspektive vorgezogen. Und Gründe der Praktikabilität sind es auch, aus denen sich John Rawls entscheidet, Kant auf diesem Weg zu folgen.
3.3 Eine Grundcharta der Völkergemeinschaft: John Rawls Ein Recht der Völker Der zu Lebzeiten hauptsächlich in Harvard lehrende John Rawls (1921–2002) gilt zweifelsohne als bedeutendster politischer Denker des 20. Jahrhunderts. Mit seinen Werken hat er eine Renaissance der politischen Philosophie eingeleitet, die bis heute anhält. Nicht zuletzt ist mit seinem Namen auch die Wiederbelebung der Vertragstheorie verbunden, die er mit Mitteln der zeitgenössischen Rationalitäts-, Handlungs- und Spieltheorie gründlich entstaubt hat. Den Grundstein hat Rawls mit Eine Theorie der Gerechtigkeit (1975/1971) gelegt, eine liberal-egalitäre Gerechtigkeitskonzeption, die er in seinen folgenden Schriften immer weiter verfeinert.48 Seit 1999 (dt. 2002) liegt nun Das Recht der Völker vor; Rawls’ lang erwarteter Versuch, seine
—————— 47 Vgl. zur Weltstaats-Debatte Bohman/Lutz-Bachmann (1997), und Gosepath/ Merle (2002). Verteidigend äußern sich Cabrera (2004), Höffe (1997; 1999), Horn (1996), Nielsen (1988). 48 Vgl. vor allem Rawls (1993; 2001).
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zunächst am Nationalstaat modellierte Theorie auf die internationale Ebene zu übertragen.49 Auf einige seiner kosmopolitisch eingestellten Schüler wirkt Rawls’ Theorie internationaler Gerechtigkeit allerdings enttäuschend (vgl. 4.1): Statt seinen Ansatz zur Verteilungsgerechtigkeit auf die globale Arena zu übertragen, entwirft er lediglich die völkerrechtliche Rahmenordnung für unabhängige Staaten. Am Ausgangspunkt steht dabei die Frage, welche Gerechtigkeitsprinzipien die Außenpolitik liberaler Staaten anleiten sollen. Diese zurückgenommene Fragestellung ist ausdrücklich im Anspruch begründet, eine realistische Utopie zu entwickeln. Für ihn überschreitet die Vision einer Weltrepublik nicht nur die Grenzen des Praktikablen, sie anerkennt auch nicht, dass sich Fragen der Verteilungsgerechtigkeit prinzipiell nur innerhalb eines politischen Kooperationssystems stellen. Auf internationaler Ebene kommt eine politische Grundordnung erst durch Verträge zustande, in denen die wichtigsten Interessen der Völker verbindlich geregelt werden. Allerdings ist es irreführend, Rawls als Völkerrechtstheoretiker im engeren Sinne zu begreifen. Das Völkerrecht (public international law) unterscheidet sich von Rawls’ Recht der Völker (law of peoples) darin, dass der Rechtsvertrag nicht zwischen Staaten, sondern zwischen Völkern (peoples) geschlossen wird. Wenn Rawls von einem Volk spricht, dann meint er damit eine kulturell verbundene und rechtsstaatlich organisierte Gemeinschaft, die im Gegensatz zum Nationalstaat nicht nur rationale, sondern auch vernünftige, das heißt auf wechselseitige Vorteile abgestellte Interessen verfolgt. Analog zu Personen entwickeln Völker ein ethisches Selbstverständnis, einen »moralischen Charakter« (2002: 27), wie Rawls dies nennt, der es ihnen erlaubt, sich vernünftige Ziele zu setzen. Ziel der Außenpolitik eines liberalen Volkes ist dann auch nicht allein die Stabilisierung von Frieden und Handelsbeziehungen, sondern darüber hinaus die Sicherung grundlegender Menschenrechte. Rawls überträgt sein Vertragsmodell in drei Schritten auf eine Gesellschaft von Völkern. In einem ersten Teil wird die Ausweitung der
—————— 49 Zur Diskussion vgl. Beitz (2000), Brock (2008), Buchanan (2000), Caney (2002), Kuper (2000).
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Vertragsidee auf eine Gemeinschaft von liberalen und demokratischen Völkern vorgeführt. Der zweite Teil weitet die Vertragsfigur auf eine Gesellschaft achtbarer Völker aus. Beide Teile verbinden sich dann zur Idealtheorie im Recht der Völker. Rawls bezeichnet sie als Idealtheorie, weil ihr die Annahme zugrundeliegt, dass sich alle Vertragsparteien bereitwillig an die völkerrechtlichen Gerechtigkeitsprinzipien halten und dass keine extremen Krisen wie Hungerkatastrophen, Kriege oder Staatszerfall auftreten. Dagegen untersucht der dritte, nichtideale Theorieteil konkrete Fälle, in denen das Recht der Völker nicht eingehalten wird. Dies betrifft vor allem den Umgang mit sogenannten Schurkenstaaten und belasteten Gesellschaften (burdened societies) und die damit zusammenhängenden Probleme um gerechte Kriege, Immigration oder Abrüstung.
Liberaler Gesellschaftsvertrag Der erste Vertrag in Rawls’ Mehrebenenmodell wird zwischen den Bürgern in einer liberalen Gesellschaft geschlossen. Er dient dazu, die Legitimität einer liberalen Gesellschaftsordnung anschaulich zu machen. Für Rawls ist jede liberale Gesellschaft zwei Gerechtigkeitsgrundsätzen verpflichtet, die er Freiheits- und Differenzprinzip nennt: »1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2. Differenzprinzip: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass a) vernünftigerweise zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen, und b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen.« (1975: 81)
Das Freiheitsprinzip ist im Kern mit Höffes erstem rechtsnormierendem Prinzip identisch. Es garantiert die Freiheit vor staatlichem Zwang genauso wie die Freiheit, seine Meinung zu sagen, sich politisch zu engagieren oder eine Religion zu praktizieren. Dieses liberale Element genießt Priorität vor dem Differenzprinzip. Obschon das Differenzprinzip soziale Ungleichheit unter bestimmten Voraussetzungen zulässt, wirkt es egalitär, weil jede soziale Ungleichheit prinzipiell rechtfertigungsbedürftig ist. Um die Chancen- oder Einkom-
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mensgleichheit innerhalb einer liberalen Gesellschaft zu sichern, muss der Staat für Umverteilung sorgen. Kurzum, die freiheitliche Grundordnung erhält im Differenzprinzip eine sozialstaatliche Ergänzung. Auf nationaler Ebene geht es Rawls vorrangig darum nachzuweisen, dass sich alle Bürger liberaler Staaten auf diese beiden Verfassungsprinzipien einigen würden. Als Darstellungsinstrument dient ihm dazu der Urzustand. Diese Variante des klassischen Naturzustands beschreibt eine fiktive Entscheidungssituation, unter der alle Bürger vernünftig und fair urteilen. Um diese objektive Sichtweise herzustellen, treten sie hinter einen Schleier des Nichtwissens; das heißt, sie abstrahieren von ihrer gesellschaftlichen Position, um in einer Liste alternativer Verfassungsprinzipien diejenigen auszuwählen, die ihren wohlverstandenen Eigeninteressen am besten entsprechen. An diesem unparteilichen Standort würde sich, so Rawls, jede Person für das Freiheits- und das Differenzprinzip entscheiden. Die Legitimität einer liberalen Verfassung hängt entsprechend an der hypothetischen Zustimmung jedes einzelnen Bürgers.
Eine Gemeinschaft liberaler Völker In einem zweiten Schritt nutzt Rawls das Modell des Urzustands, um seine liberale Konzeption auf das Recht der Völker auszudehnen. Wesentlicher Unterschied ist, dass im Urzustand nicht einzelne Bürger, sondern Repräsentanten einzelner Völker zusammenkommen. Verhandlungsgegenstand sind nämlich nur solche Grundsätze, unter denen Völker miteinander kooperieren, nicht aber Grundsätze, die das Verhältnis von Menschen zu Völkern regeln, wie es bereits Kant mit seiner Innovation des Weltbürgerrechts vorschlug.50 Um allgemeine Völkerrechtsprinzipien zu konstruieren, treten zunächst die Repräsentanten einzelner liberaler Völker hinter den Schleier des Nichtwissens, wo sie ebenfalls von ihrer gesellschaftlichen Position abstrahieren, etwa von der Größe ihres Territoriums, ihrer Wirt-
—————— 50 Rawls beschränkt sich hier »auf die Grundsätze und Normen des internationalen Rechts und internationaler Praktiken« (2002: 1).
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schaftskraft oder ihrer militärischen Stärke. Wäre die Fairness und Vernünftigkeit ihrer Voten auf diese Weise garantiert, würden nach Rawls’ Überzeugung alle Repräsentanten für die folgenden Grundsätze stimmen: »1. Völker sind frei und unabhängig und ihre Freiheit und Unabhängigkeit müssen von anderen Völkern geachtet werden. 2. Völker müssen Verträge und eingegangene Verpflichtungen erfüllen. 3. Völker sind gleich und müssen an Übereinkünften, die sie binden sollen, beteiligt sein. 4. Völker obliegen einer Pflicht der Nichteinmischung. 5. Völker haben das Recht auf Selbstverteidigung, aber kein Recht, Kriege aus anderen Gründen als denen der Selbstverteidigung zu führen. 6. Völker müssen die Menschenrechte achten. 7. Völker müssen, wenn sie Kriege führen, bestimmte Einschränkungen beachten. 8. Völker sind verpflichtet, anderen Völkern zu helfen, wenn diese unter ungünstigen Bedingungen leben, welche verhindern, dass sie eine gerechte oder achtbare politische und soziale Ordnung haben.« (2002: 41)
Nicht zufällig stimmt diese »Grundcharta des Rechts der Völker« (ebd.: 42) weitgehend mit dem geltenden Völkerrecht überein. Rawls entnimmt die einzelnen Artikel ausdrücklich »der Geschichte und den Gewohnheiten des internationalen Rechts und der internationalen Praxis« (ebd.: 46). Die Vertreter liberaler Gesellschaften erwägen also einfach die Vorzüge geltender Völkerrechtsnormen und legitimieren sie vom Standpunkt ihres Wunsches nach stabilem Frieden und friedlicher Kooperation.
Eine Gemeinschaft liberaler und achtbarer Völker In Wirklichkeit besteht die Völkergemeinschaft aber nur zum geringen Teil aus liberal verfassten Völkern. Für Rawls gehört es deswegen zur Toleranz liberaler Völker, dass sie auch nichtliberale Völker als Vertragspartner respektieren. Sogenannte achtbare hierarchische Völker zeichnen sich durch eine Konsultationshierarchie aus. Damit ist gemeint, dass alle Individuen die grundsätzliche Möglichkeit haben, ihre Interessen und politischen Überzeugungen zu artikulieren, auch wenn bestimmte Gruppen kein gleiches Stimmenrecht und keinen gleich-
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berechtigten Zugang zu höheren Ämtern genießen. Darüber hinaus qualifiziert Rawls achtbare Völker über ihre friedliche Einstellung, die Anerkennung grundlegender Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und über die aufrichtige Gemeinwohlorientierung von Beamten und Richtern. Woran Rawls bei einem achtbaren Volk denkt, wird deutlich, wenn er ›Kazanistan‹ als ein fiktives Beispiel einführt. In dieser islamischen Gesellschaft sind Religion und Staat nicht voneinander getrennt und die obersten Ämter stehen nur den Angehörigen der Staatsreligion offen. Vertreter anderer Konfessionen haben aber ein Recht, ihren Kultus auszuüben; sie haben eine politische Repräsentation und werden bei Entscheidungen, die sie betreffen, zu Rate gezogen. (Ebd.: 91ff.) Entscheidend ist, dass die Grundcharta des Rechts der Völker in der vorliegenden, bescheidenen Form ebensogut der Ausdruck einer nichtliberalen, beispielsweise einer religiösen Gerechtigkeitsvorstellung sein kann. So trägt das Recht der Völker dem kulturellen Pluralismus unter den Völkern Rechnung, und stellt trotzdem kein modus vivendi, keine bloß strategische Übereinkunft dar. Vielmehr etabliert das Recht der Völker eine »Stabilität aus den richtigen Gründen« (ebd.: 50), errichtet auf der Bereitschaft der Völker, ihre eigene Außenpolitik auch dann an den Grundsätzen des Rechts der Völker auszurichten, wenn andere Nationen nicht mitziehen.
Internationale Hilfspflichten Im Vordergrund des nichtidealen Theorieteils stehen abschließend die Fragen, wie die Völkergemeinschaft mit Völkern umgehen darf, die das Recht der Völker nicht befolgen, und wie alle Völker dazu gebracht werden können, sich der Gemeinschaft liberaler und achtbarer Völker anzuschließen. Während der Umgang mit Schurkenstaaten Probleme gerechter Kriegsgründe und Kriegsführung aufwirft, hat Rawls’ Gedanke einer Hilfspflicht für belastete Gesellschaften (burdened societies) in besonderer Weise nachgewirkt. Als belastete Gesellschaften werden solche Gesellschaften bezeichnet, denen es an der politischen Kultur, an den materiellen Ressourcen oder am administrativen Wissen mangelt, eine gerechtigkeitssichernde Grundstruktur einzurichten und am Laufen zu halten. Diesen Völkern gegenüber hat
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die Völkergemeinschaft die Pflicht zu helfen, indem sie die nötigen Ressourcen und Techniken zur Verfügung stellt und die Ausbildung einer entsprechenden politischen Kultur unterstützt. Ziel dieser Hilfe ist es, die Gesellschaften wieder in die Selbstbestimmung zu entlassen, nicht aber, selbstverantwortete Not zu lindern. Sie beschränkt sich strikt darauf, dass die betroffenen Staaten wieder ihre eigene Gerechtigkeitsvorstellung ausbilden und realisieren können.51 Das Recht der Völker schützt die Menschenrechte überall auf der Welt, und zwar nicht, indem sie von einer globalen Regierung durchgesetzt werden, sondern dadurch, dass jedes Volk langfristig eine wohlgeordnete politische Grundstruktur ausbildet, die die Menschenrechte vor Ort sichert. Flankiert wird dieser lokale Menschenrechtsschutz durch politische, wirtschaftliche und in Fällen besonders drastischer Menschenrechtsverletzungen auch militärische Sanktionen der Völkergemeinschaft. Weil Menschenrechte über ihre Rolle definiert werden, Sanktionen gegen andere Völker zu rechtfertigen, und weil solche Sanktionen politisch heikel, materiell kostspielig und moralisch problematisch sind, nimmt sich Rawls’ Menschenrechtskatalog ausgesprochen dünn aus. Menschenrechte bringen ihm zufolge »eine Klasse besonders dringlicher Rechte zum Ausdruck, zum Beispiel die Freiheit von Sklaverei und Leibeigenschaft, die Freiheit (aber nicht die gleiche Freiheit) des Gewissens und die Sicherheit vor Massenmord und Genozid« (ebd.: 96). Zu den Menschenrechten zählen demzufolge weder sozioökonomische Grundrechte, noch Gleichstellungsrechte, noch Partizipationsrechte, noch kulturelle Grundrechte. Weil ein Anspruch nur dann als Menschenrecht ausgedrückt werden sollte, wenn er einen Eingriff in einen anderen Staat begründet, schließt Rawls im Gegensatz zu Miller (vgl. 2.3) von vornherein
—————— 51 Im Hintergrund steht auch bei Rawls die These, dass schwere Armut kein Schicksal, sondern das Ergebnis nationaler Umverteilung ist. Im Anschluss an Amartya Sen (1981), der für einige Hungerkatastrophen empirisch belegt hat, dass sie durch eine gerechtere Umverteilung innerhalb der entsprechenden Länder zu vermeiden gewesen wären, sieht Rawls die Ursache und zugleich Lösung sozialer Ungerechtigkeit hauptsächlich in der politischen Kultur vor Ort. (Ebd.: 108/09)
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aus, dass globale Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit in Form von Menschenrechten geltend gemacht werden können.52
Das Recht der Völker – Eine bereits überholte Utopie? Ähnlich wie Kants Friedensschrift liest sich Rawls’ Recht der Völker als ein eher bescheidenes Supplement nationaler Gerechtigkeit. Das egalitäre Differenzprinzip, das seine kosmopolitischen Schüler auf die globale Arena zu übertragen suchen (Kap. 4.1), ist für ihn an die politische Kultur liberaler Gesellschaften gebunden und eignet sich daher nicht zur Universalisierung. Andere Völker können ein anderes Gerechtigkeitsverständnis entwickeln und umsetzen. So dient die Völkergemeinschaft hauptsächlich als Ermöglichungsbedingung partikularer Gerechtigkeitsvorstellungen und bleibt darauf beschränkt, Übergriffe zwischen den Völkern zu unterbinden, fundamentale Menschenrechte zu schützen und den Aufbau einer politischen Kultur in belasteten Staaten zu unterstützen. Spätestens an dieser Stelle ist zu hinterfragen, ob liberale Völker nicht auch einen Grund haben, ihre Hilfspflicht an eine demokratisch qualifizierte Gerechtigkeitskonzeption zu knüpfen, wie sie Höffe vorschwebt. Warum sollte eine liberale Gesellschaft beispielsweise Mittel einsetzen, um eine religiös-fundamentalistische Gesellschaft in einer anderen Nation zu stabilisieren, statt ihre Hilfe an Demokratisierungsanstrengungen zu knüpfen? Ein zweiter Kritikpunkt, den wir in der anschließenden Betrachtung kosmopolitischer Theorien noch erhärten werden, lautet, dass
—————— 52 Unter anderem streicht Rawls damit den Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der die Sicherung eines minimalen Lebensstandards festschreibt. Dieser strikte Verzicht auf jedwede globale Verteilungsgerechtigkeit öffnet Rawls’ Gerechtigkeitskonzeption für Kritik von kosmopolitischer Seite. Auf den kosmopolitischen Kontraktualismus von Beitz und Pogge (vgl. Kap. 4.1) blickend stellt Rawls noch einmal klar, dass sich seine Gerechtigkeitstheorie nicht am Wohlergehen einzelner Personen ausrichtet, sondern an der Einrichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Pogge und Beitz sind dagegen »concerned with the well-being of individuals, and hence with whether the well-being of the globally worst-off person can be improved. What is important to the Law of Peoples is the justice and stability for the right reasons of liberal and decent societies, living as members of a Society of well-ordered Peoples.« (1999: 120)
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Rawls’ Theorie keine tragfähige Antwort auf die eingangs beschriebenen globalen Probleme sozialer Gerechtigkeit entwickelt. Vor dem Hintergrund einer interdependenten Welt wirkt es unplausibel, wenn Rawls globale Umverteilung kategorisch ausklammert. Zum Beispiel verlangen die Folgekosten des Klimawandels eine gerechte globale Distribution. Und ebenso kann seine partikularistische Theorie nicht überzeugen, wenn wir auf politische Ungerechtigkeiten der globalen Grundstruktur schauen, welche, wie Pogge in kritischer Auseinandersetzung mit Rawls klargemacht hat, einen erheblichen Einfluss auf die lokale Entwicklung nehmen können (Kap. 2.2). Was Rawls womöglich zu wenig in Betracht zieht, ist, dass sich auch auf globaler Ebene ein politischer Kontext der Gerechtigkeit herausgebildet hat. Ein letzter Kritikpunkt ergibt sich aus Rawls’ eigener Theorieanforderung an eine realistische Utopie. Auf den ersten Blick korrespondiert die Idee einer dem Recht der Völker unterstellten Staatengemeinschaft mit den politischen Vorstellungen und Praktiken, die die außenpolitische Rhetorik liberaler Staaten bereits seit Jahrzehnten anleitet. Aber auch wenn Rawls’ Gerechtigkeitsvision an bestehende Praktiken anschließt, ist doch ein Fragezeichen dahinter zu setzen, ob sie auch durchführbar ist. Dazu müsste Rawls überzeugend erklären, wie seine Vision Verbindlichkeit erlangen soll. Einführend wurde mit Hobbes gezeigt, dass die Einforderbarkeit völkerrechtlicher Grundsätze eine zentrale Herausforderung für die Idee eines internationalen Gesellschaftsvertrags darstellt. Höffe hat daraus die Konsequenz gezogen, dass staatsanaloge Herrschaftsfunktionen auch auf globaler Ebene unverzichtbar sind, um eine Kooperation aller Staaten zu gewährleisten. Ähnlich wie Kant scheut Rawls vor dieser Konsequenz zurück. Statt dessen versucht auch er, demokratischen Gesellschaften eine Art intrinsische Friedfertigkeit nachzuweisen (2002: 52ff.). Aber auch hier gilt: Eine generelle Friedfertigkeit bietet keine Rechtssicherheit; diese kann nur eine Kombination aus externen Sanktionen (Hobbes) und interner Zusammengehörigkeit (Rousseau) garantieren. Ob Friede und Menschenrechte ohne ein robustes System externer Sanktionen hinreichend zu sichern sind, muss daher insgesamt skeptisch beurteilt werden. In Rawls’ Konzeption legitimieren schwere Menschenrechtsverstöße zwar Eingriffe in die innere Souveränität
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eines Landes, aber Sanktionen greifen unter seiner Konzeption eben nicht zwangsläufig. Unter diesen Voraussetzungen wäre eine Großmacht faktisch kaum mit den gleichen Mittel zu sanktionieren wie ein Zwergstaat. Diese Strafungerechtigkeit wirft ihrerseits ein Gerechtigkeitsproblem auf. Damit hängt zusammen, dass auch Hilfspflichten gegenüber belasteten Völkern nicht vor einer übergeordneten Instanz eingefordert werden können. Im Ergebnis müssen wir daher konstatieren, dass Rawls eine überzeugende Antwort auf das im zweiten Kapitel herausgestellte Weltarmutsproblem schuldig bleibt. Denn solange Hilfspflichten nicht den Status einforderbarer Gerechtigkeitspflichten genießen, genügt bereits ein kurzer Blick in die Realität freiwillig eingegangener Entwicklungshilfezusagen, um uns vor Augen zu führen, dass ein Recht der Völker auf unsicherem Boden steht.
4 Gerechtigkeitstheoretischer Kosmopolitismus
Kosmopolitismus als Gerechtigkeitsdoktrin Unter dem Begriff ›Kosmopolitismus‹ versammeln sich eine Reihe sehr unterschiedlicher Theorieansätze.53 Zur Übersicht bietet es sich an, einige klärende Unterscheidungen in den Begriff einzuziehen. Umgangssprachlich bezeichnet ein Kosmopolit eine weltgewandte und in unterschiedlichen Kulturkreisen verkehrende Person. Die Gegenfigur wäre eine Person mit einem engen politischen Horizont, ein beschränkter Provinzler, dem alle Weltläufigkeit abgeht. Mit der ursprünglichen Bedeutung des Kosmopolitismus hat dieses Verständnis freilich nur entfernt etwas zu tun. Der Begriff taucht erstmals in der kynischen und dann in der stoischen Philosophie auf.54 Darin ist der Kosmopolit ein Bürger einer allumfassenden Ordnung, eben der Kosmo-Polis (von gr. kósmos: (Welt-) Ordnung; und pòlis: (Stadt-) Staat). Ein Kosmopolit ist zunächst einfach ein Mensch, der sich nicht nur in Hinblick auf die Sitten und Gebräuche seines Heimatstaates, sondern auch als einen Teil der globalen Weltordnung definiert. Das Selbst- und Weltverständnis eines Kosmopoliten geht über Grenzen hinweg; er sieht sich, je nachdem, als moralischer, kultureller oder politischer Erdenbürger. Gelegentlich tritt der Kosmopolitismus einfach als eine philosophische Position auf, die eine bestimmte Doktrin über den Zusammenhang von Kultur und Identität verfolgt (Scheffler 2001: 111). Dieser kulturelle Kosmopolitismus ist mit der These verbunden, dass sich
—————— 53 Übersichtsdarstellungen finden sich in Brock/Brighouse (2005), Moellendorf (2002), Dallmayr (2003), Jones (1999), Kleingeld (1999) und Merten (2005). 54 Vgl. für eine Übersicht der antiken Wurzeln des Kosmopolitismus Appiah (2006), Höffe (1999: 234ff.) und Kleingeld (1978).
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Kulturräume nicht vollständig abschließen lassen, sondern in ständigem Austausch miteinander befinden. Kulturelle Horizontverschmelzungen gehören quasi zur zweiten Natur des Menschen. Er ist ein Wesen, das fortlaufend neue Eindrücke integriert und sich permanent neu erfindet. Entsprechend verweist der kulturelle Kosmopolitismus darauf, dass interkulturelle Einflüsse nicht erst mit dem jüngsten Globalisierungsschub in die Welt gekommen sind, sondern von Anbeginn zur menschlichen Kulturgeschichte dazugehören. Darum ersetzt er die Einteilung abgeschlossener Kulturräume durch das Bild organischer Wechselbeziehungen. Und statt die Gefahr von Überfremdung zu beschwören oder sogar einen »Kampf der Kulturen« (Huntington 2006) auszurufen, begreift der kulturelle Kosmopolitismus die Globalisierung als einen ebenso normalen wie unaufhaltsamen Prozess interkultureller Identitätsbildung. In diesem Sinne ist eine Person, die sich spirituell im Buddhismus, kulinarisch am Mittelmeer, musikalisch in Nordamerika und politisch in Europa heimisch fühlt, ein Paradebeispiel für eine moderne Patchwork-Identität, die mit der Doktrin des kulturellen Kosmopolitismus besser erklärt werden kann als mit dem antagonistischen Ordnungsverständnis eines Carl Schmitt – der unterstellt: »wer Mensch sagt, will betrügen« (1963: 55) – oder mit dem Provinzialismus kommunitaristischer Strömungen, für die eine kulturelle Identität nur »in Abgrenzung zu …« gebildet werden kann. In Auseinandersetzung mit Fragen globaler Gerechtigkeit werden wir uns aber weniger dem kulturellen denn dem normativen Kosmopolitismus zuwenden. Der normative Kosmopolitismus lässt sich über zwei Fragestellungen weiter unterteilen. Auf der einen Seite steht der ethische Kosmopolitismus, der sich mit Fragen des guten Lebens und des richtigen Handelns unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung beschäftigt. Auf der anderen Seite hat sich der Kosmopolitismus als eine bestimmte Theorie der Gerechtigkeit innerhalb der politischen Philosophie etabliert. Für diesen gerechtigkeitstheoretischen Kosmopolitismus bzw., wie Samuel Scheffler ihn nennt, für den Kosmopolitismus als Gerechtigkeitsdoktrin (2001: 111f.) sind alle Menschen Subjekte der Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass die »Normen der Gerechtigkeit letztlich so verstanden werden müssen, dass sie die Beziehungen aller Menschen zueinander anleiten, und nicht einfach bloß in einzelnen
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Gesellschaften oder anderweitig begrenzten Gruppen gelten« (ebd.: 114).
Definition des Kosmopolitismus Der Kosmopolitismus als Gerechtigkeitsdoktrin umfasst seinerseits sehr unterschiedliche Ansätze. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Definition, bietet es sich an, wenn wir zunächst seine moralische Hintergrundkonzeption genauer unter die Lupe nehmen. Einer einschlägigen Definition Thomas Pogges folgend lässt sich die kosmopolitische Moral aufgrund dreier Kriterien zusammenfassen:55 a) Individualismus: Von letzter moralischer Wichtigkeit sind Menschen oder Personen – nicht Familien, Stämme, Nationen oder ethnische, kulturelle oder religiöse Gemeinschaften. Letztere haben nur dank ihrer individuellen Mitglieder moralische Bedeutung. b) Universalismus: Der Status letzter moralischer Wichtigkeit kommt allen lebenden Menschen gleichermaßen zu – nicht nur einigen wie etwa Männern, Aristokraten, Ariern, Weißen oder Moslems. c) Allgemeinheit der Verpflichtung: Dieser besondere Status hat globale Reichweite. Menschen haben für alle anderen letzte moralische Wichtigkeit, nicht nur für ihre Mitbürger, Glaubenskrieger usw. In der Summe zeigen diese Kriterien, dass alle kosmopolitischen Ansätze einen moralischen Universalismus vertreten, demzufolge alle Menschen überall und gleichermaßen von letzter moralischer Wichtigkeit (»the ultimate units of concern«; Beitz 1999: 199) sind. Gegenpositionen zum Kosmopolitismus lassen sich daran erkennen, dass sie entweder eines oder gleich mehrere dieser Definitionskriterien nicht teilen. So gilt für einige Varianten des Utilitarismus und des Kommunitarismus, dass das Allgemeinwohl das Wohlergehen des Einzelnen übertrumpfen kann. Und für rassistische, nationalistische oder religiöse Positionen – genauer: für ihre fundamentalistischen Spielarten – gilt, dass sie nicht allen Menschen denselben moralischen Wert zuer-
—————— 55 Vgl. Pogge (2002: 125) und Caney (2005: 3).
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kennen und bestimmte moralische Privilegien auf die Angehörigen spezifischer Rassen, Konfessionen oder Nationen beschränken. Abgesehen von diesen vergleichsweise radikalen Positionen ist der Kosmopolitismus aber auch noch gegenüber moderat partikularistischen Positionen abzugrenzen. Moderat sind diese Positionen in der Hinsicht, dass sie die universalistische Moral mit dem Kosmopolitismus teilen, dass sie diese Moral aber für vereinbar mit der These halten, dass nur bestimmte Gruppen Subjekte von Gerechtigkeit sein können. Zwar haben alle Menschen denselben moralischen Wert, wenn es aber um Forderungen der Gerechtigkeit geht, soll es legitim sein, diese Forderungen auf bestimmte Gruppen zu begrenzen. Henry Shue folgend werde ich diese These als partikularistische Prioritätsthese bezeichnen, da sie in ihrer schlichtesten Form einfach feststellt, dass Mitbürger Priorität genießen (»compatriots take priority«; 1980: 132). Besonders stark wirkt die partikularistische Prioritätsthese aus dem Munde derer, die sich prinzipiell selbst für globale Verteilungsgerechtigkeit aussprechen, die aber die Ansprüche von Mitbürgern in Relation stärker gewichten. Stellvertretend für eine solche Position steht der in Toronto lehrende Philosoph Kok-Chor Tan. In Justice Without Borders (2004) argumentiert er, dass die Gerechtigkeitsdoktrin des Kosmopolitismus durchaus mit der partikularistischen Prioritätsthese vereinbar ist: »Das patriotische Ideal, dass Menschen spezielle Verpflichtungen gegenüber ihren Mitbürgern haben«, lässt sich nach Tans Überzeugung auf eine Weise vertreten, ohne dass damit »die globalen egalitären Verbindlichkeiten kosmopolitischer Gerechtigkeit« (ebd.: 3) gefährdet wären. Im Gegensatz zu dieser moderaten Position bleibt es aber für viele Kosmopolitisten ganz entscheidend, wie die Prioritätsfrage geklärt wird. Aus ihrer Sicht neigt sich Tans Vermittlungsversuch zu sehr in die partikularistische Richtung. Denn die politische Situation ist in der globalen Arena von Anfang an durch Bedingungen der Knappheit gekennzeichnet. Dass einzelne Nationen möglichst viele Ressourcen für sich beanspruchen, ist für Tan legitim, weil jede Nation eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Bürgern trägt: »Nationalität konstituiert einen legitimen moralischen Standpunkt, der zu Recht die aus einer überpersönlichen Perspektive gerechtfertigten
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Anforderungen kosmopolitischer Gerechtigkeit einschränken könnte.« (Ebd.: 193) Diese Beschränkung kosmopolitischer Gerechtigkeitsansprüche durch legitime nationale Forderungen beschreibt sehr genau unsere politische Praxis. Und da diese Praxis kaum auf Widersprüche stößt, scheint der moderate Partikularismus mit dem Gerechtigkeitssinn der meisten Menschen übereinzustimmen. Dass Sozialleistungen wie Bildung oder Altersversorgung auf Mitbürger beschränkt sind, versteht sich für die meisten Menschen ganz von selbst, was Tan am Beispiel des Gesundheitssystems darlegt: »Man könnte denken, dass die Ansprüche der Gerechtigkeit gegenüber Mitbürgern strenger sind als gegenüber Fremden, da immer, wenn es einen Konflikt zwischen der Gerechtigkeit gegenüber Mitbürgern und der Gerechtigkeit gegenüber Fremden geht, den Mitbürgern Priorität eingeräumt wird. Zur Illustration dieses Anspruchs könnten wir uns vorstellen, dass es unter der Voraussetzung knapper Ressourcen eine den Mitbürgern geschuldete Pflicht der Gerechtigkeit ist, eher das Gesundheitssystem in der eigenen Gesellschaft zu verbessern als ein einfaches Gesundheitssystem in fremden Ländern zu fördern, in denen es selbst an den minimalen Einrichtungen mangelt.« (Ebd.: 164)
Unter kosmopolitischer Perspektive zeigt sich Tans Vermittlungsansatz aber als Partikularismus, der in seinen realpolitischen Konsequenzen alles andere als moderat ausfällt. Da die Ressourcen begrenzt sind, die legitimen nationalen Forderungen aber, diese Ressourcen in das heimische Gesundheitssystem zu pumpen, keinen Sättigungspunkt kennen, wirkt sich Tans moderater Partikularismus de facto als eine einseitig partikularistische Prioritätsthese aus. Dagegen versuchen Kosmopolitisten auch unter den Bedingungen der Knappheit eine unparteiische Perspektive zwischen nationalen Interessen und globalen Pflichten aufrechtzuerhalten. Beispielsweise indem sie einen Schwellenwert (threshold) einziehen, einen Mindeststandard, der erfüllt sein muss, bevor die Bevorzugung von Landsleuten legitim genannt werden kann. Angewendet auf Tans Beispiel hieße das, dass es unter der Voraussetzung knapper Ressourcen zunächst begründeter erscheint, die weltweite Einrichtung eines rudimentären Gesundheitssystems zu fördern, als das eigene relativ hochentwickelte Gesundheitssystem weiter zu verbessern.
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Der nicht nur moralische, sondern eben auch gerechtigkeitstheoretische Kosmopolitismus geht mit anderen Worten davon aus, dass es eine prima facie Priorität für globale Gerechtigkeit gibt. Das bedeutet, dass es grundsätzlich Vorrang vor der speziellen Verantwortung gegenüber der eigenen Gruppe hat, dass alle Menschen unter gerechten Verhältnissen leben. Diese kosmopolitische Prioritätsthese steht allerdings unter einer Reihe von Vorbehalten. Vor allem gebietet sie nicht schlechthin, andere Systeme gleichzustellen; sie fordert lediglich, die Besserstellung des eigenen Systems aus überparteilicher Perspektive zu rechtfertigen und der Verbesserung des anderen Systems Priorität einzuräumen, sollten sich keinerlei solche Gründe finden. Auch der Kosmopolitismus anerkennt also, dass es für die Verbesserung des nationalen Gesundheitssystems gute Gründe geben kann. Beispielsweise könnte es die Motivation und die Effektivität steigern, wenn eine Gemeinschaft vorrangig für ihr eigenes Gesundheitssystem zuständig ist. Grenzen der Gerechtigkeit stellen für den Kosmopolitismus kein Problem dar – solange sie dazu dienen, dass möglichst alle in einer möglichst gerechten Welt leben. Es ist die unbedingte Priorität der eigenen Mitbürger, die mit dem Kosmopolitismus unvereinbar ist, zumindest, so Charles Beitz, ist mit dem Kosmopolitismus die Überzeugung verbunden, dass »die spezielle Verantwortung gegenüber Mitbürgern, die sich plausibel verteidigen lässt, nicht annähernd so weit geht, wie es unsere konventionelle Moral nahelegt« (1999: 213). Im Gegensatz zum Partikularismus hat sich hier die Beweisrichtung umgekehrt. Während dieser dazu tendiert, die Priorität bei den Mitbürgern anzusetzen und von diesem Vorrecht nur mit guten Gründen – etwa mit der besonderen Dringlichkeit globaler Armut – abweicht, liegt die Priorität für den Kosmopolitisten bei allen Menschen, die Beweislast aber bei denen, die partikulare Vorrechte beanspruchen. Der gerechtigkeitstheoretische Partikularismus ist wesentlich darüber definiert, dass Gerechtigkeitspflichten auf bestimmte Beziehungen beschränkt sind und sich nicht einfach auf den gesamten Erdball erstrecken. Im Gegenzug argumentieren Kosmopolitisten für einen globalen Kontext der Gerechtigkeit. Geführt wird diese Debatte auf empirischer, konzeptioneller und moralischer Ebene. In empirischer Hinsicht versuchen Kosmopolitisten nachzuweisen, dass die politische und wirtschaftliche Kooperation auf transnationaler
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Ebene ein Stadium erreicht hat, in dem wir dazu berechtigt sind, von einem Kontext globaler Gerechtigkeit zu sprechen. Oder sie zeigen, wie eingangs ausgeführt, dass wir in einer Welt entgrenzter Ungerechtigkeit leben. Konzeptionell arbeiten Kosmopolitisten daran, die Definition von Gerechtigkeit besser an spezifisch globale Institutionen, Praktiken und Probleme anzupassen, etwa indem sie Menschenrechte als grundsätzliche und interkulturell gültige Gerechtigkeitsprinzipien einführen. Und drittens erneuern Kosmopolitisten den Anspruch einer moralischen Gerechtigkeitskonzeption, mit dem Ziel, neue Denkund Handlungsräume in Richtung globaler Gerechtigkeit zu erschließen und ein weltbürgerliches Selbstverständnis zu begründen. Die weltbürgerliche Mission des Kosmopolitismus ist aber nicht notwendig mit der Forderung nach einer Weltrepublik kurzzuschließen. Otfried Höffes rechtsmoralisch begründete Vision einer komplementären Weltrepublik bildet hierbei eine couragierte, aber eben auch unter Praktikabilitätsvorbehalt stehende Ausnahme. Übereinstimmung herrscht eher darin, dass es in irgendeiner Form eine globale politische Gerechtigkeitsordnung geben sollte. In Abgrenzung zu partikularistischen Ansätzen lässt sich nun folgende Definition zusammenfassen: Der gerechtigkeitstheoretische Kosmopolitismus ist darin bestimmt, dass a) alle Menschen gleichermaßen Subjekte der Gerechtigkeit sind (gerechtigkeitstheoretischer Universalismus), b) Gerechtigkeitsprinzipien gegenüber jedem Individuum begründet werden müssen (legitimatorischer Individualismus), c) es eine globale politische Domäne der Gerechtigkeit gibt oder geben sollte (Globalität), und d) der globalen Domäne eine prima facie Priorität vor partikularen Gerechtigkeitsdomänen einzuräumen ist (kosmopolitische Prioritätsthese).
Formen des Kosmopolitismus Unter diese Definition des gerechtigkeitstheoretischen Kosmopolitismus fallen immer noch sehr unterschiedliche Ansätze. Zur besse-
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ren Übersicht können wir sie in legale, moralische und politische Konzeptionen einteilen. Der legale (oder institutionelle) Kosmopolitismus vertritt die These, dass es globale politische Institutionen geben sollte wie den Weltstaat oder eben die komplementäre Weltrepublik.56 Der moralische Kosmopolitismus hingegen ist nicht zwangsläufig mit einem globalen Verrechtlichungs- oder Institutionalisierungsgebot verbunden. Er behauptet lediglich, dass alle Menschen Subjekte der Gerechtigkeit sein sollen und lässt zunächst offen, auf welchem Weg dieses Ziel umgesetzt werden könnte. Ein erster Typus des moralischen Kosmopolitismus ist der kontraktualistische Kosmopolitismus, der mit den Methoden der Rawls’schen Vertragstheorie Grundsätze globaler Verteilungsgerechtigkeit begründet (Kap. 4.1). Eine zweite Gruppe des moralischen Kosmopolitismus bildet die Gruppe der Menschenrechtsansätze. Exemplarisch dafür werden wir uns mit Martha Nussbaums Fähigkeiten-Ansatz auseinandersetzen, in dem sie eine Liste globaler Mindeststandards rechtfertigt (Kap. 4.2). Zur dritten Gruppe, dem politischen Kosmopolitismus, gehören insbesondere kritische oder diskursethische Theorien (Kap. 4.3– 4.5).57 Sowohl Jürgen Habermas als auch Seylah Benhabib und Rainer Forst begreifen die kosmopolitische Forderung, Subjekt der Gerechtigkeit zu sein, als ein Recht, an politischen Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden, ein Recht, dass mit der politischen Globalisierung über den Nationalstaat hinauswächst. Habermas’ Mehrebenenmodell zeigt, dass Gerechtigkeitsfragen auf der Ebene der Weltinnenpolitik angekommen sind (Kap. 4.3); Seylah Benhabib untersucht, wie kosmopolitische Rechtsvorstellungen zunehmend in Staatsbürger- und Völkerrecht Eingang finden (Kap. 4.4); und Rainer Forst macht deutlich, dass Gerechtigkeit keine vorpolitische Frage, sondern eine Frage nach der Gestaltung politischer Macht ist (Kap. 4.5).
—————— 56 Vgl. zu dieser Unterteilung Caney (2005: 5). 57 Zum Begriff des politischen Kosmopolitismus vgl. Ferrara (2007).
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4.1 Weltweite Verteilungsgerechtigkeit: Charles Beitz und Thomas Pogge Kosmopolitischer Kontraktualismus Unsere politische Moral und Praxis ist dadurch gekennzeichnet, dass wohlhabende Staaten keine Gerechtigkeitspflicht anerkennen, den Wohlstand und die wirtschaftliche Entwicklung anderer Ländern zu verbessern. Es gilt als selbstverständlich, dass die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit Aufgabe des jeweiligen Landes ist. In humanitären Notfällen wie Natur- oder Hungerkatastrophen geht es allenfalls darum, Nothilfe zu leisten und mit dieser freiwilligen Hilfe einen absoluten sozioökonomischen Mindeststandard zu sichern, also Menschen nicht verhungern zu lassen oder den Ausbruch von Seuchen und Gewalt zu verhindern. Ansprüche auf relative ökonomische Gerechtigkeit, soziale Chancengleichheit oder eine angemessene Bildung, Altersvorsorge und Krankensicherung spielen dagegen keine Rolle. Die unumgängliche Frage lautet, aus welchen Gründen uns dies eigentlich als so selbstverständlich erscheint? Für die meisten Menschen ist es ja mindestens ebenso selbstverständlich, dass die Verhältnisse zwischen den Bürgern eines Nationalstaats durch irgendein Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit geregelt werden. Warum läst sich diese Forderung nicht einfach auf das Verhältnis zwischen allen Menschen übertragen? Den Grund dafür, dass sich keine globalen Verteilungsansprüche stellen lassen, sehen die meisten Partikularisten darin, dass innerhalb einzelner Staaten besondere Bedingungen herrschen. Zum Beispiel argumentieren sie, dass die politische Öffentlichkeit nur innerhalb einzelner Staaten auf eine Weise organisiert ist, dass sich ein allgemein akzeptierter Grundsatz der Verteilungsgerechtigkeit herausbilden kann (Kap. 5.3). Oder aber sie berufen sich darauf, dass allein der Staat über zwangsbewehrte Institutionen verfügt, durch die Verteilungsgrundsätze rechtskräftig durchgesetzt werden könnten (Kap. 5.1). Und schließlich stellen sie fest, dass zwischen Staatsbürgern eine bestimmte Beziehungsform besteht, die sich in besonderen Verantwortlichkeiten füreinander ausdrückt (Kap. 5.2. und 5.3).
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Schon früh haben Kosmopolitisten gegen eine solche Engführung politischer Gerechtigkeitskonzeptionen Front gemacht. Allen voran haben Brian Barry (1973), Charles Beitz und Thomas Pogge Rawls’ Vertragstheorie von 1971 zu einer kosmopolitischen Gerechtigkeitstheorie umgebaut und sie auf Probleme globaler Umverteilung angewendet. In seinem Hauptwerk Political Theory and International Relations (1979; überarbeitet 1999) zeigt der in Princeton lehrende Charles Beitz, dass nur wenige Akzentverschiebungen im Rawls’schen Theorierahmen nötig sind, um auch die globale Arena als eine Domäne der Gerechtigkeit – und insbesondere der Verteilungsgerechtigkeit – in den Blick zu nehmen. Vor allem zeigt er, dass Rawls’ egalitäres Differenzprinzip grundsätzlich auch auf globaler Ebene gerechtfertigt wäre, eine These, der sich Thomas Pogge ein Jahrzehnt später in Realizing Rawls (1989) anschließt. Auch Pogge blendet von der Verfassung einzelner Gesellschaften zur Frage nach globaler Verteilungsgerechtigkeit über und interpretiert Rawls’ Ansatz so, dass sich mit ihm auch ein globales Differenzprinzip begründen ließe. Was beide Autoren von Rawls übernehmen, ist die vertragstheoretische Begründungsfigur, aber nur teilweise dessen politische Gerechtigkeitskonzeption. Zur Erinnerung: Gerechtigkeit hatte Rawls als »die erste Tugend sozialer Institutionen« bestimmt und den Anwendungsbereich von Gerechtigkeitsnormen beschränkte er auf »die Grundstruktur der Gesellschaft; genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen« (1975: 23). So konnte er die Frage nach Gerechtigkeit in die Frage übersetzen, nach welchen Verfassungsprinzipien die Grundstruktur einer Gesellschaft eingerichtet werden soll. Dass die Wahl dieser Prinzipien fair und vernünftig ausfällt, wurde durch einen Urzustand zwischen allen beteiligten Individuen sichergestellt. In dieser fiktiven Position würden alle Menschen – oder eben genauer: alle Glieder eines liberalen Volks – zwei Prinzipien anerkennen: das Freiheitsprinzip, das jedem Bürger ein gleiches Recht auf das größtmögliche System persönlicher Selbstbestimmungsrechte einräumt, und das Differenzprinzip, demzufolge die Grundstruktur einer Gesellschaft Ungleichheiten nur unter der Bedingung zulässt, dass die unteren Schichten von diesen Ungleichheiten profitieren. Welche Gerechtigkeitsprinzipien aber inter-
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national gelten sollen, hat Rawls, wie gezeigt, erst sehr viel später in einem zweiten Vertrag zwischen den Repräsentanten liberaler Völker bzw. in einem dritten Vertrag zwischen liberalen und achtbaren Völkern bestimmt (Kap. 3.3).
Ein globaler Gesellschaftsvertrag Während Rawls noch damit zögerte, seine Theorie internationaler Gerechtigkeit auszuarbeiten, haben Beitz und Pogge seinen Ansatz in einen kosmopolitischen Kontrakt umgearbeitet. Im Hintergrund beider Autoren steht eine explizit universalistische Moralkonzeption, allen voran ein legitimatorischer Individualismus. Dass für Beitz wie für Pogge Individuen von letzter moralischer Wichtigkeit sind, heißt für sie, dass jede einzelne Person an der Entscheidung über Regeln, die tiefgreifende Eingriffe in ihr Leben vornehmen, direkt beteiligt werden sollte. Wenn aber nicht nur Volksrepräsentanten, sondern alle Individuen an einer hypothetischen Vertragskonferenz teilnähmen, dann würden sie sich, so Beitz und Pogge, auch auf dieselben Grundsätze der Gerechtigkeit einigen, die sie nach Rawls als Verfassungsgrundsätze eines einzelnen Staates wählen. Vorausgesetzt ist wiederum, dass in einem globalen Vertragszenario die Bedingungen der Fairness gesichert sind. Dafür soll in Anlehnung an Rawls ebenfalls ein Schleier der Unwissenheit sorgen, hinter dem die Vertragsparteien weder ihre eigene Position, noch die Größe ihres Landes oder seine Wirtschaftskraft kennen dürften. Insbesondere Beitz vertritt die Ansicht, dass die globale Arena dieselben gerechtigkeitsrelevanten Eigenschaften aufweist wie ein Staat, so dass sich hier dieselben Gerechtigkeitsprinzipien begründen lassen, die Rawls innerhalb einer liberalen Gesellschaft rechtfertigt: »Wenn die Gesellschaften der Welt als offene und voneinander abhängige Systeme angesehen werden müssen, dann«, ist sich Beitz sicher, »würde die ganze Welt in die Beschreibung sozialer Kooperationssysteme passen, und das Argument für die beiden Prinzipien [also das Freiheit- und das Differenz-
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prinzip, HH] würde, a fortiori, auch auf globaler Ebene greifen« (1999: 132).58 Indem Beitz und Pogge ein globales Differenzprinzip begründen, grenzen sie sich insbesondere gegen Rawls’ sozialen Liberalismus ab. Der soziale Liberalismus konstruiert ein zweistufiges, moralisch arbeitsteiliges Modell der internationalen Gesellschaft. Auf der Ebene einzelner Staaten gilt die primäre Verantwortung dem Wohlergehen der einzelnen Bürger, »während die internationale Gemeinschaft dazu dient, Hintergrundbedingungen einzuführen und aufrechtzuerhalten, unter denen sich gerechte Gesellschaften entwickeln und florieren können« (Beitz 1999: 215). Aus Sicht des sozialen Liberalismus ist es hinreichend, wenn sich die Repräsentanten einzelner Völker auf wenige grundsätzliche Prinzipien der Selbstbestimmung, der Menschenrechte und in äußerster Not der Entwicklungshilfe einigen könnten, alle darüber hinausgehenden Festlegungen bleiben hingegen eine interne Angelegenheit einzelner Staaten und ihrer Bürger.59 Hiergegen wenden Pogge und Beitz ein, dass eine solche moralische Arbeitsteilung in einer Welt wirtschaftlicher, institutioneller und politischer Verflechtungen nicht mehr reibungslos funktioniert. Pogge nennt es daher eine »unplausible und unnötige Voraussetzung, dass das favorisierte Modell einer nationalen Grundstruktur entwickelt werden könnte, ohne auf das internationale Umfeld zu achten, in dem nationale Gesellschaften existieren« (1989: 255). Im Gegenzug zeigt er, dass die innerstaatliche Verteilung von Grundgütern heute mehr
—————— 58 Pogge vertieft dieses Argument noch, indem er gegen den späten Rawls zeigt, dass auch eine Versammlung von Volksrepräsentanten gute Gründe hätte, über einen Minimalkatalog geltender Völkerrechtsprinzipien hinauszugehen und Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit anzuerkennen. Pogges Argumentation läuft auf die These hinaus, dass ein extremes globales Wohlstandsgefälle den sozialen Frieden zwischen den Staaten und damit die Bereitschaft, sich an internationale Sicherheits- oder Handelsabkommen zu halten, gefährden würde. Im Einzelnen zählt Pogge drei Forderungen auf, die im gemeinsamen Interesse aller Völker liegen: a) Die Weltwirtschaft soll Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit gehorchen, b) eine zunehmende Zahl internationaler Streitpunkte sollen unter eine international anerkannte Jurisdiktion fallen und c) das internationale Recht soll einzelnen Personen mehr Rechtsmittel gegenüber Staaten einräumen und über wirkungsvollere politische Sanktionsinstrumente verfügen (Pogge 1989: 246). 59 Neben Rawls vertreten diese Position auch Miller (2.3 u. 4.2) und Thomas Nagel (4.3).
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denn je von einer globalen Grundsstruktur abhängt (vgl. Kap. 2.2). Und Beitz stellt sogar fest, dass »die internationalen Beziehungen immer mehr einer innerstaatlichen Gesellschaft ähneln, und zwar in mehreren, für die Rechtfertigung von Grundsätzen (innerstaatlicher) sozialer Gerechtigkeit relevanten Hinsichten« (1999: 128). So lebt die kosmopolitische Position insgesamt von der Beobachtung, dass Staaten nicht mehr autonom darin sind, Gerechtigkeitsgrundsätze festzulegen und durchzusetzen. Diese Beobachtung wird durch aktuelle Diskussionen unterstrichen, die aus der Erfahrung geführt werden, dass etwa eine gerechte nationale Steuergesetzgebung bereits heute eine Vielzahl globaler Finanzregeln erfordert, die die Finanzströme kontrollieren oder Steueroasen unter Druck setzen. Moderne Gesellschaften lassen sich nur mit großen Einschränkungen als abgeschlossene Kooperationsgemeinschaften darstellen; eher sind sie über ein dichtes Netz von Produktionsprozessen und Handelsbeziehungen mit anderen Gesellschaften verbunden. Daher stellen sich Fragen gerechter Entlohnung, fairer Handelsbeziehungen oder anständiger Arbeitsbedingungen nicht nur innerhalb einzelner Gesellschaften. Konsumverhalten, Einfuhrbestimmungen oder Subventionen in den Wohlstandszonen der Welt haben direkte Auswirkungen darauf, welche Arbeitnehmerrechte, Lohnforderungen oder Umweltstandards sich im Rest der Welt durchsetzen lassen. Für Beitz wäre es daher »richtiger zu sagen, dass sich die Anforderungen der Gerechtigkeit auf Institutionen und Praktiken beziehen (ob sie nun wirklich kooperativ sind oder nicht), in denen soziale Aktivitäten relative oder absolute Vorteile oder Lasten herbeiführen, die es ohne die soziale Aktivität nicht geben würde« (1999: 131). Und Pogge argumentiert für eine ähnlich kontextsensitive Erweiterung unseres Gerechtigkeitsverständnisses, wenn er wiederum im Rückgriff auf Rawls erklärt: »Ich vermute, dass Rawls einer präziseren Formulierung Kants zustimmen würde, dass (gerechte) Institutionen zwischen allen Menschen nötig sind, ›welche nicht umhin können, in wechselseitigem Einfluss aufeinander zu geraten‹« (1989: 241; vgl. Kant, Gemeinspruch, AA II: 144). Auf empirischer Ebene ist für Pogges und Beitz’ kosmopolitische Position kennzeichnend, dass sie eine globale Grundstruktur diagnostizieren, auf die sich nicht nur eine moralische, sondern eben auch
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eine politische Gerechtigkeitskonzeption anwenden lässt. Gegen den Kosmopolitismus wird aber immer wieder eingewendet, dass es keine hinreichende Analogie zwischen innerstaatlicher und globaler Grundordnung gibt. »Es wird behauptet«, so Pogge, »dass das globale soziale System im Gegensatz zu entwickelten westlichen Gesellschaften so weit entfernt von einer wohlgeordneten Gesellschaft in Rawls’ Sinne ist, dass wir hier nicht dieselben Kriterien anlegen können« (1989: 265f.). Weil es aber in der Tat zweifelhaft ist, dass sich die globale Arena im vergleichbaren Sinne als eine wohlgeordnete Gesellschaft beschreiben lässt, stützen Beitz wie Pogge ihre Position noch durch eine moralische Gerechtigkeitskonzeption ab; das heißt, sie gründen ihren politischen Kosmopolitismus in einem moralischen Kosmopolitismus.60 Auf einer politischen Ebene argumentieren sie, dass es eine gerechtigkeitsrelevante Weltordnung gibt, während sie auf einer fundamentaleren moralischen Ebene geltend machen, dass – selbst wenn es solch eine institutionelle Weltordnung nicht gäbe – es eine Pflicht der Gerechtigkeit wäre, sie einzurichten. »Ideale Gerechtigkeit«, so Beitz, »wirkt sich in die nichtideale Politik über eine natürliche Pflicht aus, gerechte Institutionen zu sichern, wo es noch keine gibt« (1999: 171). Und im Gleichschritt fordert Pogge, »dass Mitglieder von wirklich selbstgenügsamen Gesellschaften eine Pflicht haben, Kontakte aufzubauen und gemeinsame Institutionen mit anderen Gesellschaften einzurichten« (1999: 241).
Globale Ressourcenverteilung Als Güter, die auf globaler Ebene umzuverteilen sind, ziehen sowohl Beitz als auch Pogge natürliche Ressourcen wie Bodenschätze und
—————— 60 Wie Pogge betont, ist Rawls Konzeption einer wohlgeordneten Gesellschaft selbst keine deskriptive, sondern eine normative Konzeption. Sie beschreibt, wie eine Gesellschaft nach Maßgabe vernünftiger Überlegungen eingerichtet sein sollte. Diese Einschätzung trifft zwar auf Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1975), nicht aber auf Politischer Liberalismus (1993) zu. Vgl. zur Weiterentwicklung des Rawls’schen Theorierahmens von einer moralischen zu einer politischen Gerechtigkeitskonzeption von Villiez (2005: 22–100).
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Trinkwasser in Betracht. Nach moralischem Dafürhalten ist das natürliche Vorkommen solcher Ressourcen arbiträr, das heißt, es ist ein unverdienter Zufall, wenn ein Volk über Ressourcenreichtum verfügt und ein anderes nicht. Wie Beitz betont, kann ein Volk für seine natürliche Ressourcenarmut genausowenig verantwortlich gemacht werden wie eine Person dafür, dass sie durch eine angeborene Behinderung benachteiligt wird. Darin folgt Beitz wiederum Rawls’ Gerechtigkeitstheorie, in der alle Personen, die aufgrund ihrer natürlichen Ausstattungen (natural endowments) schlechter gestellt werden, kompensiert werden sollen (Rawls 1975: 102). Das Ziel der Verteilungsgerechtigkeit besteht daher als erstes darin, die Ausgangsbedingungen zwischen unterschiedlichen Parteien anzugleichen: »Der Umstand, dass jemand zufällig in vorteilhafter Lage zu natürlichen Ressourcen lebt, gibt uns keinen Grund, warum er oder sie auch berechtigt sein soll, andere von den damit verbundenen Vorteilen auszuschließen. Daher werden die Parteien im Urzustand denken, dass Ressourcen (oder die aus ihnen zu ziehenden Vorteile) unter einem Prinzip zur Ressourcendistribution umverteilt werden sollten.« (Beitz 1999: 138)
Wie aber Pogge gegen Beitz ins Feld führt, sind natürliche Reichtümer (assets) wie Ressourcen, klimatische Bedingungen oder fruchtbare Böden nicht mit natürlichen Begabungen (endowments) einzelner Personen gleichzusetzen. Auch wenn die geographische Verteilung dieser Reichtümer moralisch arbiträr ist, sind die Unterschiede nicht naturgegeben, sondern ein soziales Faktum, nämlich das Resultat einer speziellen Eigentumsregelung, wie sie Pogge schon oben unter dem Begriff des internationalen Ressourcenprivilegs kritisiert hat (vgl. 2.2). Sein Argument für eine gerechte Verteilung von Ressourcen lautet nicht, dass man natürlich benachteiligte Parteien kompensieren sollte, sondern, dass die Eigentumsregeln fair zu gestalten sind, und zwar so, »dass die sozialen Ungerechtigkeiten, die sie als Resultat von natürlichen Zufällen (die Verteilung von natürlichen Vermögen) erlauben, dazu tendieren, den Anteil des am schlechtesten gestellten Individuums zu optimieren« (1999: 251). Die Frage, wie eine internationale Eigentumsregelung fair zu gestalten wäre, hat vor allem Thomas Pogge dazu veranlasst, praktikable Vorschläge in dieser Richtung auszuarbeiten. Sein erster Vor-
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schlag bezieht sich direkt auf das Problem unfairer Ressourcendistribution und betrifft die Einrichtung einer globalen Ressourcendividende: »Dieser Vorschlag sieht vor, dass Staaten und ihre Regierungen in Hinsicht auf natürliche Ressourcen auf ihrem Territorium nicht die vollen libertären Eigentumsrechte genießen, sondern dass von ihnen verlangt werden kann, einen kleinen Teil des Werts der Ressourcen zu teilen, die sie verbrauchen oder verkaufen. Diese Zwangsabgabe wird eine Dividende genannt, weil sie auf der Idee basiert, dass die globalen Armen einen unveräußerlichen Anteil an allen begrenzten natürlichen Ressourcen besitzen.« (2002: 197)
Für Pogge steht den Armen auf der Welt ein Gewinnanteil an allen weltweit verbrauchten Rohstoffen zu, weil Rohstoffe wie Erdöl unwiederbringlich verbraucht werden und weil sie nicht in gleicher Weise Nutznießer dieses Rohstoffverbrauchs sind – bzw. sogar überproportional durch dessen Folgen wie Umweltverschmutzung und Klimawandel geschädigt werden. Dass die Armen weltweit kaum Rohstoffe verbrauchen, hat auch mit historischer und struktureller Ungerechtigkeit zu tun. Deshalb sieht Pogge wohlhabende Staaten in einer Gerechtigkeitspflicht, wenigstens einen geringfügigen Teil ihres aus dem Rohstoffverbrauch erwachsenen Wohlstands in einen Fonds zur Armutsbeseitigung einzuzahlen. Einen zweiten praktikablen Vorschlag zur gerechten Gestaltung internationaler Eigentumsregeln entwickelt Pogge zur Zeit in Bezug auf das globale Gesundheitssystem. Ein gewaltiges Problem besteht hier darin, dass es enorme Kosten verursacht, Medikamente zur Marktreife zu bringen, und dass sich immer weniger Pharmakonzerne darauf einlassen, Medikamente zu entwickeln, die armutsbedingte Krankheiten kurieren. Darum regt Pogge an, einen Health Impact Fund einzurichten, einen Fund, über den Medikamente künstlich bezuschusst werden, die einen möglichst großen Gesundheitseffekt erzielen. In diesen Gesundheitsfund sollen wohlhabende Länder freiwillig einzahlen, was bedeutet, dass ausgerechnet diejenigen Länder für ihn aufkommen müssten, die am wenigsten von ihm profitieren. Der Vorschlag ist deswegen aber nicht gleich utopisch. Im Gegenteil, Pogge versucht lediglich, das Anreizsystem umzuprogrammieren und damit dem realen Rentabilitätsinteresse der Pharmaindustrie entgegenzukommen.
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Was in Pogges Reformvorschlägen noch einmal deutlich wird, ist, dass Kosmopolitisten mit einer ganz anderen Perspektive auf die Welt blicken als Partikularisten. Einleitend haben wir Kok-Chor Tan als einen moderaten Partikularisten kennengelernt, für den es insbesondere mit Blick auf das Gesundheitssystem evident ist, dass nationale Pflichten Vorrang haben. Pogge hingegen fordert einen globalen Gesundheitsfund, der letztlich mit einer Weltsozialsteuer finanziert werden müsste – und interpretiert eine solche Besteuerung als eine praktikable Umsetzung eines kosmopolitischen Gerechtigkeitsempfindens.
Grenzen des moralischen Kosmopolitismus Während Pogge in seinen späteren Arbeiten einen Menschenrechtsansatz entwickelt und ihn in Richtung einer politischen Gerechtigkeitstheorie ausbaut (2002; vgl. 2.2), hat er zunächst eine im Grunde moralisch gelagerte Gerechtigkeitskonzeption vertreten, die er wie auch Beitz und Höffe in einem kosmopolitischen Kontrakt begründet. Die Kritik daran ist nicht lange ausgeblieben. Der erste Kritikpunkt richtet sich gleich gegen den kosmopolitischen Ursprungsvertrag und wird von Rawls selbst vorgebracht (Rawls 2002: 144ff.). Für ihn berücksichtigen namentlich Pogge und Beitz nicht ausreichend, dass transnationale Gerechtigkeitsprinzipien den Bedingungen eines globalen Pluralismus genügen müssen. Rawls sieht ein großes Problem darin, Völker mit abweichenden Gerechtigkeitsvorstellungen in einen überlagernden Konsens einzubinden. Wo er sich gezwungen sah, einen mehrschrittigen Vertrag zu konstruieren und minimale Bedingungen wechselseitiger Toleranz festzulegen, wirft er Beitz und Pogge vor, dass sie lediglich die liberale Sichtweise universalisiert haben und andere politische Kulturen einfach übergehen. Ein zweiter Kritikpunkt betrifft ihre moralische Gerechtigkeitskonzeption. Wie Carola von Villiez (2005: 108) gezeigt hat, verlassen Beitz und Pogge den Boden der konstruktivistischen Vertragstheorie zugunsten einer Moral der allgemeinen Zustimmungsfähigkeit. Das bedeutet, sie verfolgen keine politische, sondern eine moralische Gerechtigkeitskonzeption. Dass alle Betroffenen ein Recht haben sollen, an
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der Gestaltung transnationaler Regeln teilzunehmen, ist eine moralisch nachvollziehbare Forderung, hat aber mit dem ursprünglichen Anspruch des politischen Konstruktivismus, ein Gleichgewicht zwischen einer institutionellen Grundstruktur, geteilten Gerechtigkeitsintuitionen und rationalen Interessen zu finden, wenig gemein. Wie schon Höffe formulieren Beitz und Pogge im Grunde nur solche Prinzipien aus, die in einer Weltrepublik erfüllt sein müssten. In Abwesenheit dieser Republik lässt sich mit diesen Legitimitätskriterien wenig anfangen. Es nützt auch nichts, sie durch ein moralisches Institutionalisierungsgebot zu ersetzen, von dem völlig unklar bleibt, welche Handlungen von wem gefordert werden. Der kontraktualistische Kosmopolitismus hat den Vorzug einer politischen Gerechtigkeitskonzeption – nämlich klar zu benennende Gerechtigkeitspflichten unter den gegebenen politischen Verhältnissen konstruieren zu können – zugunsten einer moralischen Gerechtigkeitskonzeption zurückgestellt, und zwar ohne Not, wie später der politische Kosmopolitismus bei Pogge (2002) und in der kritischen Theorie (Kap. 4.3– 4.5) zeigen wird. Drittens wird gegen Pogge und Beitz eingewendet, dass sie mit dem globalen Differenzprinzip ein viel zu anspruchsvolles – und als solches auch für den Nationalstaat umstrittenes – Verteilungsprinzip vorschlagen, statt sich mit dem Erreichen eines sozioökonomischen Minimums zu bescheiden. Damit verbunden ist der Vorwurf, dass sie eine moralische Utopie vertreten, aus der sich keine realistischen Handlungsdirektiven gewinnen lassen. Die Umsetzung globaler Verteilungsgerechtigkeit würde nach sehr ambitionierten Instrumenten verlangen, wie eben einer Weltsozialsteuer verbunden mit einer Institution, die in der Lage ist, diese Besteuerung durchzusetzen. Und selbst wenn sich Pogges Vorschläge für eine globale Rohstoffdividende oder einen globalen Gesundheitsfund als praktikabel erwiesen, steht die Effektivität einer solchen Maßnahme in Frage. Einwände gegen die Umsetzbarkeit ihrer Vorschläge haben Beitz und Pogge immer wieder zu Präzisierungen ihrer Theorie veranlasst. Einig sind sie sich aber nach wie vor darin, dass eine Reform der bestehenden Weltordnung eine Aufgabe der Gerechtigkeit ist und dass dieses Reformprojekt auch sozioökonomische Gerechtigkeitsstandards einschließt. Was beide in jedem Fall geleistet haben, ist die
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Selbstverständlichkeit und die Legitimität der bestehenden Weltordnung in Frage zu stellen und zudem die Zukunftsoffenheit globaler Gerechtigkeitsfragen gegenüber pseudorealistisch-resignativen Einschätzungen in das Bewusstsein zu rücken. Wenn auf der einen Seite globale Institutionen »tiefgreifend in die Lebensabläufe aller Menschen eingreifen«, dann ist deren Gestaltung, so Beitz, zumindest »offen für politische Entscheidungen« (1999: 204).
4.2 Ein globales Menschenrechtsregime: Martha Nussbaum Der Fähigkeiten-Ansatz Die in Chicago lehrende Martha Nussbaum zählt zu den weltweit einflussreichsten Sozialphilosophen. Ihr gemeinsam mit dem Nobelpreisträger und Ökonomen Amartya Sen entwickelter FähigkeitenAnsatz (capabilities approach) hat innerhalb kurzer Zeit Eingang in politische Entscheidungsprozesse gefunden (vgl. Nussbaum 2000; 2006; und Sen 1989). Heute liegt er unter anderem dem Human Development Index zugrunde, der den Entwicklungsstand einzelner Ländern nicht nur nach dem Durchschnittseinkommen bemisst, sondern über Faktoren wie Alphabetisierungsrate, Gesundheitsfürsorge, Lebenserwartung und Bildungsniveau ein tieferes Verständnis des menschlichen Wohlergehens (human wellbeing) gewinnt. Unter capabilities – was üblicherweise mit ›Fähigkeiten‹ übersetzt wird, treffender aber eine ›Entwicklungsmöglichkeit‹ ausdrückt – versteht Nussbaum die freie Entfaltung aller menschlichen Funktionsweisen (functionings), die zu einem blühenden Leben (flourishing life) dazugehören. Diese Funktionsweisen, die das Wesen des Menschen ausmachen, sind einerseits natürlichen Ursprungs wie Ernährung und Fortpflanzung und entspringen andererseits seiner Eigenart als Kultur- und Vernunftwesen. Das Ziel des Menschen besteht nach Nussbaum darin, diese Funktionen in intakten sozialen Gemeinschaften zu entfalten und ein »reichhaltiges menschliches Leben« (2006: 226/7) zu
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führen. Anliegen ihres Fähigkeiten-Ansatzes ist es daher zunächst, genauer zu erfassen, was ein solches Leben im Einzelnen auszeichnet. Aufgrund ihrer politischen Anthropologie wird Nussbaum als Neoaristotelikerin bezeichnet. Mit Aristoteles teilt sie die Überzeugung, dass der Mensch ein politisches Lebewesen (zoon politikon) ist, dessen Ziel (telos) darin besteht, ein gutes Leben (eu zen) zu führen. Während Aristoteles aber die für ihn beste Lebensform genau definiert, bleibt Nussbaums Bestimmung eines guten Lebens formaler. Welches Leben das beste ist, muss endgültig jeder für sich und im Kontext seiner kulturellen Werte und moralischen Ideale beantworten können. Dieses Können setzt aber voraus, das jeder Mensch sicher über eine Reihe von Grundfähigkeiten verfügt, die ihm die Möglichkeit eröffnen, ein würdevolles Leben zu leben.
Nussbaums Kritik am Kontraktualismus In Frontiers of Justice (2006) macht Nussbaum deutlich, wie sich ihr Fähigkeiten-Ansatz in die Debatte um globale Gerechtigkeit einfügt. Ausgangspunkt bildet dazu eine umfängliche Kritik am vertragstheoretischen Paradigma, das, wie gezeigt, die jüngste Theoriebildung zur globalen Gerechtigkeit lange dominiert hat. Insgesamt wirft sie Vertragstheoretikern aller Couleur vor, dass sie eine höchst idealisierte Entscheidungssituation kreieren, in der sich gleichrangige Vertragspartner mit rationalen Gründen auf gemeinsame Gerechtigkeitsprinzipien einigen. Mit Blick auf die massiven Ungleichheiten, die zwischen realen Personen oder Nationen herrschen, nimmt es sich in Nussbaums Augen aber geradezu absurd aus, Gerechtigkeit allein aus dem Eigeninteresse gleicher Vertragspartner rechtfertigen zu wollen. Für wohlhabende Staaten ist globale Gerechtigkeit mit ganz erheblichen Opfern verbunden, Opfer, die aus einer anderen Quelle als dem vertragstheoretischen Rationalisierungsverfahren gewonnen werden müssen. Als eine solche Quelle führt sie ihren Fähigkeiten-Ansatz ein, der einen vagen, aber substantiell gehaltvollen moralischen Standard für globale Gerechtigkeit festlegt. Im Einzelnen richtet sich ihre Kritik am Kontraktualismus gegen die Vorstellung, dass Anspruchsrechte (entitlements) im Vertrag auf
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irgendeine Weise ›begründet‹ werden können. Ausdrücklich stellt sie Rawls’ Konstruktionsverfahren ein naturrechtliches Verständnis gegenüber, wonach Menschen »natürliche (vorpolitische) Anspruchsrechte« (2006: 231) haben, die im Vertragsmodell zur Darstellung gebracht, aber nicht eigens begründet werden. Auch kritisiert sie Rawls’ zweischrittiges Vertragsmodell dafür, dass es unvereinbar mit einer universalistischen Moral ist. Zweischrittige Vertragsmodelle zeichnen sich in Nussbaums Darstellung darin aus, dass sie auf der ersten Stufe einen Gesellschaftsvertrag zwischen den Bürgern eines Staates ansetzen, dann aber, auf der zweiten Stufe, einen Vertrag zwischen den Staaten (oder eben Völkern) konstruieren. Dagegen vertritt sie, wie Höffe, Beitz oder Pogge, einen legitimatorischen Individualismus, wonach Individuen die vorrangigen Subjekte der Gerechtigkeit sind. Denn wenn die Gerechtigkeitsprinzipien vor jedem einzelnen Individuum gerechtfertigt werden, ist auch gewährleistet, dass die besonderen Interessen von Minoritäten und die besonderen Bedürfnisse höchst verschiedener Menschen und Gruppen angemessen berücksichtigt werden. Wenn Rawls hingegen eine Gesellschaft als achtbar anerkennt, in der Männer stellvertretend die Interessen von Frauen wahrnehmen, bleibt fraglich, ob damit besondere Formen sexueller Diskriminierung oder subtile Mechanismen häuslicher Unterdrückung ein angemessenes Gehör in der Öffentlichkeit finden können. Die individualmoralische Legitimation globaler Gerechtigkeitsprinzipien ließe sich, so Nussbaum, nur dann als ein Vertrag darstellen, wenn er gleichberechtigt zwischen allen einzelnen Menschen geschlossen wird.61 Weiter moniert sie an Rawls’ zweischrittiger Vertragstheorie, dass sich Völker nicht wirklich auf Augenhöhe begegnen. In dieser abstrakten Voraussetzung liegt für Nussbaum ein wesentlicher Grund,
—————— 61 Gegen Rawls’ zweischrittiges Modell spricht auch, dass es von der Unabhängigkeit einzelner Staaten ausgeht, und damit schlicht und ergreifend kontrafaktischen Voraussetzungen anhängt So bemängelt Nussbaum zu Recht, dass Rawls’ Recht der Völker, »keine Diskussion der sich verändernden Verhältnisse in der globalen ökonomischen Ordnung beinhaltet, keine Diskussion der Rolle von multinationalen und internationalen Vereinbarungen, Institutionen und Behörden, und keine Diskussion der Rolle von Nichtregierungsorganisationen, politischen Bewegungen und anderer Vereinigungen, die die Politik häufig über Nationalgrenzen hinaus beeinflussen.« (ebd.: 239)
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dass Rawls Grundsätze globaler Verteilungsgerechtigkeit von Anfang an aus den Augen verliert. Rawls entwirft das Szenario einer Gemeinschaft prosperierender Staaten, in dem die besonderen Bedürfnisse armer Völker keine Rolle spielen. Wenn es in seiner Grundcharta vor allem um die Sicherung von Selbstbestimmung und Nichteinmischung geht, macht dies zwar zwischen gleichstarken Parteien Sinn; aber arme Länder haben eben zusätzliche Bedürfnisse, die »sich von Anfang an im Design des gesamten Systems globaler Gerechtigkeit niederschlagen sollten, und nicht erst im nachhinein und als eine Angelegenheit von Wohltätigkeit« (ebd.: 250). Hätte Rawls von Anfang an berücksichtigt, dass sich in einem globalen Gesellschaftsvertrag wesentlich schwächere Parteien auf stärkere Parteien einlassen, müsste er ein ganz anderes System transnationaler Wohlstandstransfers und soziökonomischer Sonderrechte einrichten. Genauso wie Personen mit Behinderung innerhalb einer Gesellschaft Sonderrechte und kein nachträgliches Almosensystem einfordern, sieht es Nussbaum außerordentlich kritisch, wenn Rawls lediglich ein Hilfspflichtenprogramm gegenüber unselbständigen Gesellschaften zu rechtfertigen können glaubt. Ihr letzter Einwand gegen Rawls lautet, dass er nur »wenig Fortschritt in Richtung einer reichhaltigeren Konzeption internationaler Gesellschaft« macht, und dass er, wo er doch Fortschritte in diese Richtung erzielt, diese gar nicht »durch den kontraktualistischen Ansatz selbst« begründet, »sondern durch eine dramatische Abweichung von ihm, in Richtung eines Ansatzes […], der eine minimale Konzeption sozialer Gerechtigkeit definiert, und zwar anhand positiver Auswirkungen darauf, was Personen tatsächlich tun oder sein können« (ebd.: 248). Rawls selbst anerkennt ja durchaus einen – wenn auch aus Nussbaums Sicht zu stark entkernten – Katalog von Menschenrechten, der nicht unmittelbar aus dem Interesse der Vertragspartner hervorgeht. Denn auch bei Rawls resultiert die Anerkennung universeller Menschenrechte aus einer humanitären Voreinstellung, einer kosmopolitischen Gesinnung, die für Nussbaum auf einer vorgängigen und sehr viel »reichhaltigeren Vision zwischenmenschlicher Verbundenheit« (ebd.: 227) fußt. Nussbaums Kritik an Rawls mündet darin, dass sich hinter der kontraktualistischen Begründungsprozedur eine kosmopolitische
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Kernmoral verbirgt, die sich ebensogut direkt darstellen ließe. Diese Kritik wendet sie dann auch gegen den kosmopolitischen Kontraktualismus an. Zwar stimmt sie ausdrücklich mit Beitz und Pogge überein, dass nationale Zugehörigkeit ein moralisch kontingentes Faktum ist und dass ein globaler Vertrag zwischen allen Individuen das angemessenere Darstellungsmittel wäre; insgesamt wirft sie aber auch ihnen vor, dass sie eine moralische Voreinstellung verfolgen, die überhaupt keiner kontraktualistischen Darstellung bedarf, ja, die durch die Vertragsfigur sogar eher verdeckt als veranschaulicht wird. Für sie argumentieren Pogge und Beitz im Grunde einfach dafür, dass »der Zweck des Vertrags […] in einer zwischenmenschlichen Verbundenheit und Achtung liegen« (ebd.: 270) sollte. Sie nutzen die Vertragstheorie lediglich als Gewand für eine moralische Gerechtigkeitskonzeption, die sich nicht an den Ergebnissen fingierter Verträge, sondern bereits vorgängig an der Idee der universalen Menschenwürde orientiert. Wenn der Vertragsansatz aber nur eine Darstellungsund keine Begründungsfunktion hat, dann können wir auch, so Nussbaum, gleich auf ihn verzichten und die zugrundeliegende Gerechtigkeitskonzeption auf direktem Wege ausformulieren.
Der Fähigkeiten-Ansatz als kosmopolitische Gerechtigkeitskonzeption Nachdem sich Nussbaum des kontraktualistischen Gewandes entledigt hat, geht sie dazu über, ihren Fähigkeiten-Ansatz als eine kosmopolitische Gerechtigkeitskonzeption einzuführen und Möglichkeiten zu ihrer politischen Institutionalisierung auszukundschaften. In ihrer Definition ist eine Gesellschaft gerecht, die allen Menschen den gleichen Zugang zu grundlegenden Fähigkeiten eröffnet. Das bedeutet zunächst, dass ihre Gerechtigkeitskonzeption nicht prozeduralistisch, sondern konsequentialistisch verfährt. Es geht nicht darum, faire Kooperationsregeln einzuführen, sondern darum, dass jedem Menschen die für ein würdevolles Leben notwendigen Fähigkeiten auch faktisch zur Verfügung stehen. Denn faire Kooperationsregeln garantieren nicht, dass alle Menschen gleichermaßen profitieren. Sie helfen mitunter nur denjenigen, die diese Regeln besonders vorteil-
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haft anzuwenden verstehen, schaden unter Umständen aber gerade benachteiligte Personen, denen es schlechter gelingt, gleiche Beteiligungschancen zu ihrem Vorteil zu nutzen. Darum, so Nussbaum, ist der Fähigkeiten-Ansatz »ein ergebnisorientierter Ansatz, der eine parteiische Interpretation elementarer sozialer Gerechtigkeit bereitstellt. Mit anderen Worten sagt er, dass eine Welt, in der Menschen alle die auf der Liste genannten Fähigkeiten haben, eine minimal gerechte und achtbare Welt ist« (ebd.: 274). Diese mit der Idee eines guten Lebens verbundene Vision einer gerechten Welt steht auf vergleichsweise starken Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist die grundsätzliche Geselligkeit (sociability) des Menschen, die Nussbaum der Hobbes’schen Anthropologie entgegensetzt. In Anlehnung an Aristoteles, Cicero und Grotius sieht sie den Menschen als ein Wesen, das von Natur aus nach einem Zusammenleben mit anderen strebt, nach einem politischen Leben, in dem seine ›ethische Vernunft‹ (ethical reason) zum Ausdruck kommt. Diese ethische Vernunft drückt sich für Nussbaum darin aus, »dass wir – insofern wir darüber übereinstimmen, dass wir unter anständigen und respektvollen Bedingungen miteinander leben wollen – eine Welt einrichten und in ihr leben müssen, die moralisch anständig ist, eine Welt, in der alle Menschen haben, was sie brauchen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen« (ebd.: 274). Nussbaum traut dem Menschen zu, dass er eine würdesichernde politische Ordnung nicht nur für sein eigenes Gemeinwesen, sondern für alle Menschen anstrebt. Der Würdebegriff macht die Quintessenz ihrer kosmopolitischen Moralkonzeption aus. Worin ein würdevolles Leben genau besteht, versucht sie in einer Liste von Grundfähigkeiten zusammenzufassen. Die Grundfähigkeiten stehen einerseits mit der sozialen Natur und andererseits mit der biologischen Bedürfnisstruktur des Menschen im Zusammenhang und sollen ihn in die Lage versetzen, an genuin menschlichen Betätigungsformen in Politik, Kunst oder Spiel teilzunehmen. Die Auswahl dieser Fähigkeiten erfolgt nicht aufgrund tatsächlicher Präferenzen, sondern resultiert aus einem Prozess, den Nussbaum als »freistehende reflektierende Intuition« (freestanding reflective intution; ebd.: 279) bezeichnet. Fähigkeiten, die unabdingbar für ein Leben in Würde sind, spiegeln nicht notwendig die tatsächlichen Präferenzen von Menschen wider. Denn was
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sich einzelne Menschen tatsächlich für ihr Leben wünschen, ist weltanschaulich geprägt – und mitunter das Ergebnis gesellschaftlicher Manipulationen. Wenn etwa Frauen in bestimmten Ländern keinen Wunsch nach einer höheren Schulbildung entwickelt haben, ist dies als ein Ergebnis fehlgeleiteter Präferenzen (deformed preferences) zu betrachten. Fehlgeleitet sind sie zunächst in dem Sinne, als es intuitiv zu einem vollen menschlichen Leben dazugehört, wichtige Kulturtechniken wie Schreiben und Rechnen zu beherrschen. In einem zweiten Schritt lässt sich diese Intuition aber auch reflexiv abstützen, etwa durch Berichte von Frauen, die ihre mangelnde Schulbildung später bereut haben. Das Gedankenexperiment, welche Wünsche diese Frauen hätten, wenn sie über alle Konsequenzen Bescheid wüssten und keiner Diskriminierung ausgesetzt wären, führt Nussbaum zu einem äußerst gehaltvollen Würdebegriff.62 Damit ein Mensch ein im vollen Sinne menschenwürdiges Leben führen kann, benötigt er nicht nur Freiheits- und Grundrechte, sondern eine Gesellschaft, die ihn effektiv dazu befähigt, ein gesundes, selbstbestimmtes und öffentliches Leben zu führen. Um die Fähigkeiten zu bestimmen, die jeder Mensch als soziales und biologisches Wesen benötigt, hat Nussbaum einen umfassenden Kulturvergleich erstellt. Mit den Methoden einer interkulturellen Hermeneutik hat sie Mythen und Erzählungen unterschiedlichster Epochen und Kulturkreise durchkämmt und nach Gemeinsamkeiten geforscht. Das Ergebnis ist eine Liste von zehn Grundfähigkeiten, die einen interkulturellen Konsens über eine menschenwürdige Existenz und implizit auch über einen globalen Gerechtigkeitssinn ergeben und die ich hier in gekürzter Form wiedergebe (ebd.: 76–78): 1. Leben: Die Fähigkeit, ein menschliches Leben bis zum natürlichen Ende zu leben. 2. Körperliche Gesundheit: Die Fähigkeit, sich ausreichend zu ernähren, sich zu schützen, sich medizinisch zu versorgen und unter hygienischen Verhältnissen zu leben.
—————— 62 Nussbaum folgt einer Methode, die sie als »best informed desire approach« bezeichnet (ebd.: 279).
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3. Körperliche Integrität: Die Fähigkeit, sich freizügig zu bewegen, sich häuslicher Gewalt zu entziehen, ein befriedigendes Sexualleben zu entwickeln und über seine Fortpflanzung selbst zu bestimmen. 4. Sinn, Vorstellung und Denken: Die Fähigkeit, seine Sinne, Vorstellungskraft und Vernunft auf menschliche Weise zu nutzen. Dazu gehören der Zugang zu höherer Bildung, sowie die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks, der Rede und der Religionsausübung. 5. Gefühle: Die Fähigkeit, Zuneigung zu anderen zu entwickeln und Gefühle wie Liebe oder Trauer zwanglos auszuleben. 6. Praktische Vernunft: Die Fähigkeit, eine eigene Konzeption des Guten zu entwickeln und sich kritisch mit seiner Lebensgestaltung auseinanderzusetzen. 7. Beziehungen: a) Die Fähigkeit, soziale Beziehungen zu entwickeln, Respekt und Anerkennung auszubilden und sich in die Situation von anderen hineinzuversetzen. b) Die Fähigkeit, sich als ein gleichberechtigtes und würdevolles Wesen zu verstehen, ein soziales Selbstwertgefühl zu entwickeln und sich gegen Diskriminierung zur Wehr zu setzen. 8. Beziehungen zu anderen Spezies: Die Fähigkeit, sorgfältig mit Tieren, Pflanzen und der Natur umzugehen. 9. Spiel: Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und sich erholsamen Tätigkeiten hinzugeben. 10. Kontrolle über die Umgebung: a) politisch: Die Fähigkeit, aktiv an politischen Entscheidungen teilzunehmen, politische Überzeugungen frei zu artikulieren und sich politisch zu organisieren. b) materiell: Die Fähigkeit, Eigentum zu erwerben, vor willkürlicher Festnahme geschützt zu werden und einer menschenwürdigen Arbeit nachzugehen.
Ein kosmopolitischer Menschenrechtsansatz Es ist kein Zufall, dass sich diese Auflistung grundlegender Fähigkeiten bis in die Einzelheiten mit Menschenrechtskatalogen wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte überschneidet. Denn Nussbaum
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bezeichnet ihre Gerechtigkeitstheorie selbst als einen Menschenrechtsansatz.63 Indem sie aber Menschenrechte als grundsätzliche Fähigkeiten interpretiert, setzt sie einen viel stärkeren Akzent auf die soziale Situierung eines würdevollen Lebens. Es ist beispielsweise ein gewaltiger Unterschied, ob eine Gesellschaft ihren Bürgern ein Recht auf politische Beteiligung einräumt oder ob sie sich verpflichtet sieht, sie auch in einem gehaltvollen Sinne »in eine Position zu versetzen, in der sie die Fähigkeit haben, in diesem Bereich tätig zu werden« (ebd.: 287). Zu den Ermöglichungsbedingungen politischer Partizipation würde nämlich auch gehören, dass jeder Bürger einen Zugang zu Information hat, die entsprechenden Medien und Kommunikationstechniken beherrscht, vor öffentlicher Diskriminierung geschützt wird und insgesamt ein starkes soziales Selbstbewusstsein ausbilden kann. Da die Umstellung von Rechten auf Fähigkeiten von einem ganzen Paket derartiger positiver Maßnahmen begleitet werden müsste, erweist sich Nussbaum als eine Autorin, die auch auf globaler Ebene eine ausgesprochen ›dicke‹, also sozialpolitisch gehaltvolle Gerechtigkeitskonzeption vertritt. Kosmopolitisch ist diese Konzeption schon deswegen, weil sie, wie Nussbaum selbst hervorhebt, »auf die Person als ultimativem Subjekt der Gerechtigkeit gerichtet ist« (ebd.: 295). Ihre Vision einer gerechten Gesellschaft gleicht aber keinesfalls einer kosmopolitischen Utopie. Ähnlich wie im sozialen Liberalismus vertritt sie ein Modell menschenrechtssichernder Nationalstaaten. Ihr Fähigkeiten-Ansatz definiert »Gerechtigkeit […] in Bezug zum Vermögen einer Nation, ihren Bürgern eine Liste von zentralen Fähigkeiten zu sichern« (ebd.: 281). Trotzdem hat ihre Gerechtigkeitskonzeption eine globale Tragweite. Die grundlegenden Fähigkeiten auf Nussbaums Liste stehen prinzipiell allen Menschen zu – die Frage ist nur, wem im Einzelnen die Pflicht obliegt, diese Fähigkeiten zu fördern. Auf diese Frage gibt Nussbaum eine institutionalistische Antwort. Erstens argumentiert sie, dass die Zuschreibung von Gerechtigkeitspflichten spezifisch kollektive Handlungen erfordert, die wie die
—————— 63 »Der Fähigkeiten-Ansatz ist auf Rechte bezogen [rights-centered], in dem Sinne, dass die auf Menschenwürde gegründeten Anspruchsrechte von Personen den Kern der Konzeption ausmachen.« (Ebd.: 313)
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Durchführung strafrechtlicher Verfahren nur von Institutionen ausgeführt werden können; zweitens können nur Institutionen (etwa über die Steuergesetzgebung) sicherstellen, dass jeder einen fairen Anteil an den gesellschaftlichen Gerechtigkeitsaufgaben übernimmt; drittens verfügen Institutionen über Expertenwissen und Macht, die nötig sind, um komplexe Gerechtigkeitsprobleme zu analysieren und wirksam zu beeinflussen; und viertens tragen Institutionen dazu bei, Individuen von politischen Zwängen zu entlasten. Politische Institutionen, betont sie, richten eine »Sphäre persönlicher Entscheidungsfreiheit« (ebd.: 310) ein, in der sich eine Person nicht permanent fragen muss, ob sie ihren Gerechtigkeitspflichten in ausreichendem Maße nachkommt. Insgesamt versteht Nussbaum ihren FähigkeitenAnsatz als eine Variante des politischen Liberalismus, der die Sphäre privater Lebensführung klar von der Sphäre gerechtigkeitssichernder Institutionen abtrennt. Damit umgeht sie das Problem moralischer Überforderung, das wir oben im Zusammenhang mit der utilitaristischen Verantwortungskonzeption Peter Singers behandelt haben (Kap. 2.1). Wenn Gerechtigkeitspflichten vorrangig an Institutionen zu richten sind, tritt die Frage in den Vordergrund, welche institutionelle Grundstruktur am besten mit dem Fähigkeiten-Ansatz korrespondiert. Diesbezüglich distanziert sich auch Nussbaum von der Idee eines Weltstaats, weil sie im expliziten Rekurs auf Kant die Gefahr sieht, dass er in einen unkontrollierbaren Leviathan ausarten und die für ein blühendes menschliches Leben wertvolle kulturelle Vielfalt nivellieren könnte. Als Alternative bewegt sich Nussbaum zwar ein Stück weit auf den sozialen Liberalismus zu; allerdings in kosmopolitischer Absicht. Denn wenn sie fordert, »dass bestimmte Kernrechte weltweit in die Verfassung der einzelnen Staaten aufgenommen werden sollten« (ebd.: 314), dann bezieht sie diese verfassungsrechtliche Verankerung nicht nur auf die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern, sondern auf die Beziehung zwischen einem Staat und allen Menschen auf seinem Territorium und zudem auf alle Men-
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schen, die durch seine außenpolitischen Handlungen beeinflusst werden.64 Jeder Staat soll die Menschenrechte für sich verfassungsrechtlich verankern und für ihre Durchsetzung sorgen. Im Ergebnis wären die Menschenrechte weltweit gesichert, aber nicht wie bei Rawls, bei dem Gerechtigkeit eine interne Angelegenheit einzelner Völker bleibt, sondern dadurch, dass sich jeder einzelne Staat als Teil eines globalen Menschenrechtsregimes konstituiert. Die Innovation Nussbaums liegt zusammengefasst darin, dass sie Rawls’ Modell einer Gemeinschaft weitgehend unabhängiger Nationalstaaten mit der kosmopolitischen Idee zusammenführt, dass Nationen sich nicht nur für ihre Bürger, sondern für die Sicherung der Grundfähigkeiten aller Menschen zuständig erklären. Zusätzlich ist ihr Fähigkeiten-Ansatz mit einer besonders starken Interpretation der Menschenrechte verbunden, die auch sozioökonomische Ansprüche einschließt. Deswegen sind reiche Nationalstaaten, die sich in ihren Verfassungen zu den Menschenrechten im kosmopolitischen Umfang bekennen, nach Nussbaum dazu verpflichtet, einen Teil ihres Wohlstands international umzuverteilen. Während Nussbaum die Errichtung eines globalen Menschenrechtsregimes auf den Schultern einzelner Nationalstaaten für möglich hält, anerkennt sie auch, dass sich auf transnationaler Ebene eine institutionelle Grundstruktur entwickelt hat. Gerechtigkeitspflichten fallen daher nicht nur an Staaten, sondern auch an transnationale Institutionen wie die UNO, Nichtregierungsorganisationen oder multinationale Unternehmen. Im Gegensatz zum legalen bzw. institutionellen Kosmopolitismus traut sie transnationalen Institutionen aber lediglich eine ergänzende Koordinierungsfunktion zu. Denn
—————— 64 Der Nationalstaat spielt bei Nussbaum eine herausragende Rolle, aber nicht, weil er der faktische Entscheidungsträger in internationalen Abkommen ist oder selbst eine moralisch relevante Person darstellt, sondern weil er moralische Signifikanz für den Menschen hat. Unter Berufung auf Grotius (1624) betont sie, dass »das Vermögen, sich mit anderen zu verbinden und sich wechselseitig Gesetze zu geben, zu den fundamentalen Aspekten der menschlichen Freiheit gehört« (ebd.: 257). Die besondere Bedeutung der Institution des Nationalstaats ist darauf zurückzuführen, dass er zu den Verwirklichungsbedingungen persönlicher Autonomie gehört, nicht aber darauf, dass die Fähigkeiten der eigenen Mitbürger einen moralischen Vorrang vor anderen Menschen haben.
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ohne Sanktionsmacht bleiben die Anforderungen an globale Institutionen moralischer Natur. So verläuft der Weg zu einer gerechten globalen Ordnung notwendig über ein von liberalen Nationalstaaten getragenes Menschenrechtsregime und nur flankierend über die Reform internationaler Organisationen. Nichtsdestotrotz ist der Reformbedarf der gegenwärtigen Weltordnung immens. Im Rahmen des Fähigkeiten-Ansatzes sollte sich ihre Neuordnung an zehn Leitsätzen orientieren (vgl. ebd.: 315–323): 1. Die Verantwortung für die Fähigkeiten von Bürgern liegt nicht nur bei den einzelnen Staaten, sondern zugleich bei der Weltgemeinschaft. 2. Die nationale Souveränität soll garantiert werden; diese Garantie wird aber an der legitimationsstiftenden Funktion des Staates, nämlich der Förderung menschlicher Grundfähigkeiten, eingeschränkt. 3. Wohlhabende Nationen stehen in der Verantwortung, einen substantiellen Anteil ihres Bruttosozialprodukts an ärmere Nationen abzugeben. 4. Multinationale Unternehmen stehen in der Verantwortung, menschliche Grundfähigkeiten in den Regionen zu fördern, in denen sie operieren. 5. Die wichtigsten Strukturen der globalen ökonomischen Ordnung sollen so gestaltet werden, dass sie den besonderen Bedürfnissen armer Länder gerecht werden. 6. Der Einfluss der globalen Öffentlichkeit soll gestärkt werden. 7. Alle Institutionen und (die meisten) Individuen sollten sich auch um Benachteiligte in anderen Nationen und Regionen kümmern. 8. Die Sorge für Kranke, Alte, Kinder und Behinderte sollte im Mittelpunkt der Anstrengungen der Weltgemeinschaft stehen. 9. Die Familie sollte als eine Sphäre behandelt werden, die zwar wertvoll, aber nicht ›privat‹ im Sinne eines rechtsfreien Raumes ist. 10. Alle Institutionen und Individuen stehen in der Verantwortung, die Befähigung (empowerment) und das heißt vor allem die Bildung benachteiligter Menschen zu unterstützen.
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Begründungsprobleme Nussbaums Bruch mit dem kontraktualistischen Paradigma und ihr Versuch, globale Gerechtigkeit aus der naturrechtlichen Tradition heraus neu zu begründen, ist auf breite Kritik gestoßen. Die naturrechtliche Verankerung ihrer eigenen Gerechtigkeitskonzeption lässt sich freilich nur im übertragenen Sinne verstehen. Ihr Rückbezug auf Aristoteles, Pufendorf und Grotius täuscht darüber hinweg, dass sie mit der Konzeption einer »freistehenden reflektierten Intuition« eine nachmetaphysische – und im Übrigen stark an Rawls’ Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium; 1975: 38) erinnernde – Begründungsfigur einführt. Ob sich mit dieser Methode aber tatsächlich ein Kriterium für einen qualifizierten interkulturellen Konsens gewinnen und eine gehaltvolle Liste allgemeinmenschlicher Fähigkeiten begründen ließe, bleibt für viele Autoren zweifelhaft, die wie Rawls einen sehr viel engeren globalen Wertekonsens erwarten. Weiter lässt sich gegen Nussbaums Ansatz anführen, dass ihre äußerst optimistische politische Anthropologie letztlich dazu führt, dass sie das erste Ziel des internationalen Kontraktualismus, nämlich die Friedenssicherung, gar nicht mehr im Blick hat. Ihr Bild von Nationen, die sich aus allgemeinmenschlicher Verbundenheit (human fellowship) freiwillig als einen Teil eines globalen Menschenrechtsregimes konstituieren, ist aus machtrealistischer Perspektive zu optimistisch. Auch geht ihre kursorische Kritik am Weltstaat nicht auf die Vorschläge ein, die insbesondere Höffe mit der Konzeption einer föderalen, subsidiären und komplementären Weltrepublik vorgelegt hat, und die ihre an Kant festhaltenden Einwände weitgehend entkräften. Und schließlich ist zu monieren, dass nicht immer deutlich erkennbar ist, in welchem Verhältnis ihr Modell eines auf Nationalstaaten aufruhenden Menschenrechtsregimes zur transnationalen Grundstruktur steht. Ein Teil der Probleme in Nussbaums Theorie globaler Gerechtigkeit lassen sich darauf zurückführen, dass sie einen moralischen Kosmopolitismus vertritt, der in einem ersten Schritt nach einem globalen Wertesystem fragt und in einem zweiten Schritt nach politischen Lösungen sucht, diese Werte zu realisieren. Die Begründung von Werten erfolgt unabhängig von der politischen Wirklichkeit. Dies ist im
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politischen Kosmopolitismus anders. Der politische Kosmopolitismus, wie er zuletzt vor allem im Umfeld der kritischen Theorie entwickelt worden ist, analysiert, wie Pflichten der Gerechtigkeit in Auseinandersetzungen mit konkreten Problemen, Machtstrukturen und Institutionen zur Wirklichkeit kommen. Er bildet insofern eine Sonderstellung, als er die kosmopolitische Moralkonzeption, dass jeder Mensch Subjekt der Gerechtigkeit sein soll, mit einer politischen Gerechtigkeitskonzeption verbindet, wonach sich soziale Gerechtigkeitsansprüche nur innerhalb einer politischen Grundstruktur stellen. Während der legale Kosmopolitismus die Einrichtung einer globalen Rechtsordnung fordert und sich der moralische Kosmopolitismus indifferent gegenüber der politisch-juridischen Konstruktion verhält, erhebt der politische Kosmopolitismus seine Gerechtigkeitsforderungen in Relation zu wirklich bestehenden Institutionen und Praktiken und präsentiert daher als einziger eine wahrhaft realistische Utopie. Wenn etwa Thomas Pogge darauf hinweist, dass globale Institutionen ihre negativen Gerechtigkeitspflichten verletzen (Kap. 2.2), dann argumentiert er ebenso im Rahmen eines politischen Kosmopolitismus, wie Seylah Benhabib (Kap. 4.4) und Rainer Forst (Kap. 4.5), die soziale Gerechtigkeit weitgehend auf den Staat beschränken, weil nur hier die politischen Bedingungen für Forderungen der Gerechtigkeit gegeben sind. Die zentrale Frage des politischen Kosmopolitismus wird aber von Jürgen Habermas aufgeworfen. Es ist die Frage danach, welche Gerechtigkeitsansprüche durch neuartige politische Bindungen jenseits des Nationalstaats entstehen, und damit die Frage nach einer gerechten Beteiligung an der Weltinnenpolitik.
4.3 Weltinnenpolitik ohne Weltrepublik: Jürgen Habermas Eine diskursethische Gerechtigkeitstheorie Der 1929 geborene Sozialphilosoph Jürgen Habermas personifiziert die zweite Generation der Frankfurter Schule. Gegenüber der ersten Generation, repräsentiert durch Theodor Adorno und Max Hork-
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heimer, stellt Habermas die kritische Gesellschaftstheorie auf eine neue, nämlich diskursethische Grundlage (1983; 1991). Während seine enorme philosophische Wirkung unzertrennbar mit der Entwicklung der Diskursethik verbunden ist, ist seine Rolle als politischer Intellektueller nicht weniger bemerkenswert. Mit seinen hintergründigen Kommentaren mischt er sich gleichermaßen in den öffentlichen wie in den wissenschaftlichen Diskurs ein (1996; 1998; 2004; 2005); und wie zu allen wichtigen Debatten der praktischen Philosophie hat sich Habermas auch zu Problemen globaler (bzw. in seiner Terminologie: supranationaler) Gerechtigkeit geäußert (1998; 2004; 2007). Viele seiner Arbeiten auf diesem Gebiet münden in Anmerkungen zur Tagespolitik. So hat er sich ausgiebig zum EU-Verfassungsprozess oder zum Völkerrechtsbruch der USA im zweiten Irakkrieg geäußert. Nichtsdestotrotz lässt sich aus dem Konvolut von Artikeln, Vorträgen und Essays der letzten Jahrzehnte eine geschlossene Position herausarbeiten. In erster Annäherung lässt sich Habermas’ diskursethisch fundierte Gerechtigkeitstheorie als eine Alternative zum Kontraktualismus verstehen. Mit Blick auf Rawls’ Vertragsszenario kritisiert Habermas explizit, dass hier Gerechtigkeitsprinzipien hinter dem Vorhang der Unwissenheit in einer einmaligen und abstrakten Vernunftoperation ›herausgefunden‹ werden sollen. Aus Sicht seiner diskursivprozeduralen Gerechtigkeitstheorie sind hingegen »genau die Prinzipien gültig […], die unter Diskursbedingungen eine ungezwungene intersubjektive Anerkennung finden können« (1996: 450). Was Gerechtigkeit bedeutet, lässt sich für Habermas nicht in einem abstrakten Konstruktionsverfahren ermitteln, sondern muss in tatsächlichen politischen Rechtfertigungsprozessen, die Habermas als öffentliche Vernunft bezeichnet, stets aufs Neue erschlossen werden.65
—————— 65 In seiner Abgrenzung zum kosmopolitischen Kontraktualismus, wie ihn Beitz, Höffe oder Pogge vertreten haben, ist sich Habermas aber durchaus mit Rawls einig. Auch er betont, dass zwischen einem innerstaatlichen Natur- und einem globalen Urzustand fundamentale Unterschiede bestehen. Während die Individuen im Naturzustand das Interesse haben, in einen staatsbürgerlichen Rechtszustand einzutreten, begegnen sie sich im weltbürgerlichen Urzustand bereits als Bürger von Rechtsstaaten, deren Interesse primär der völkerrechtliche Schutz gegenüber gewaltsamer Einmischung und Menschenrechtsverletzungen ist.
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Ein verständigungsorientierter Diskurs, wie ihn Habermas im Sinn hat, kann freilich nur unter idealisierten Bedingungen stattfinden. Das bedeutet, dass alle Beteiligten in einen gleichberechtigten, auf vernünftigen Gründen beruhenden und öffentlich geführten Rechtfertigungsprozess einbezogen werden. Gerechtigkeitsgrundsätze, die aus diesem Diskurs resultieren, spiegeln nicht einfach die Machtinteressen der stärksten Parteien wider. Denn wer bereit ist, sich auf den Diskurs einzulassen, macht sich empfänglich für die Kraft moralischer Argumente. Im öffentlichen Rechtfertigungsprozess wird jeder Teilnehmer dazu verpflichtet, seine Argumente in wechselseitiger Anerkennung aller beteiligten Interessen zu wählen und sich an vernünftige Regeln und Ergebnisse des Diskurses zu halten. In diesem prozeduralen Sinne gibt es keine letztgültige Bestimmung der Gerechtigkeit; denn der öffentliche Diskurs hält den Anspruch auf Verrechtlichung bestimmter Konfliktfelder und die Interpretation von Verfassungsprinzipien offen für zukünftige Prüfungen. In Abgrenzung zum Kontraktualismus geht es Habermas weniger um die moralische Begründung globaler Gerechtigkeitsprinzipien als um die Frage, unter welchen Bedingungen eine fortschreitende Verrechtlichung internationaler Beziehungen zugleich möglich und legitim wäre. Auf eine Formel gebracht, tritt Habermas für eine Verrechtlichung ohne Verstaatlichung ein, für eine Konstitutionalisierung der globalen Arena, die sich auch ohne einen Weltstaat politisch stabilisieren lassen soll. Seine Theorie lässt sich daher auch als eine Ausweitung des Multi-Level Governance-Ansatzes deuten, der entwickelt wurde, um das politische Mehrebenensystem der Europäischen Union zu beschreiben (vgl. Benz 2004). Habermas geht es darum, Wege zur politischen Beherrschung globaler Probleme und supranationaler Gerechtigkeitsdefizite aufzuzeigen, ohne der Vision einer Weltrepublik zu folgen. Eine solche Vision kann sich nach Habermas Einschätzung, »vor der assymetrischen Machtverteilung und der unbeherrschten Komplexität einer Weltgesellschaft von großem sozialen Gefälle nur blamieren« (2004: 125).
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Ein postnationales Mehrebenenmodell Habermas eigene Position hat insbesondere in einer längeren Auseinandersetzung mit Kants Friedensschrift Gestalt angenommen, in der er sich der Frage widmet: »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?« (2004; vgl. auch 1996c). Den zeitgeschichtlichen Hintergrund dieser Frage bildet der Zusammenbruch des sowjetischen Reiches und mit ihm die Aussicht auf eine unipolare Weltordnung, in der die USA als einzig verbleibende Weltmacht eine »Ethisierung der Weltpolitik« (ebd.: 115) betreiben kann. Während das Kantische Projekt einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts vor dem Hintergrund einer multipolaren Weltordnung entwickelt wurde, haben insbesondere neokonservative Denker die neu gewonnene Ausnahmestellung der USA als eine ethische Verantwortung interpretiert, universelle Werte wie Demokratie und Freiheit nun auch auf dem Wege außenpolitischer Machtpolitik durchzusetzen. Aber weil sich damit von Anfang an handfeste geostrategische und ökonomische Interessen vermischt haben, hat die USA die Glaubwürdigkeitsbasis für eine weltpolitische Vorherrschaft bereits wieder verloren. Angesichts dieser gescheiterten Alternative stellt sich nun für Habermas die Frage, wie der supranationale Konstitutionalisierungsprozess wiederbelebt werden könnte.66 In einem ersten Schritt geht es Habermas darum, Kants »Idee des weltbürgerlichen Zustandes aus der begrifflichen Verklammerung mit der konkreten Gestalt einer Weltrepublik zu lösen« (ebd.: 116). Im einzelnen kritisiert er an Kant, dass diesem das Konstitutionalisierungsgebot lediglich dazu dient, eine globale Rechtsordnung zu errichten, statt dazu, einen globalen politischen Körper zu formen. Für Habermas ist das zu einseitig gedacht. Er kritisiert, dass ein Völkerund Weltbürgerrecht, das nicht zugleich durch eine politische Öffentlichkeit getragen wird, eben nur durch einen Souverän durchge-
—————— 66 Habermas verwendet die Begriffe »supranational« und »transnational« in eigentümlicher Weise, die sich auch von der in der Theorie der internationalen Beziehungen eingebürgerten Begriffssetzung unterscheidet. Die supranationale Ebene ist die allen Nationen übergeordnete, in meiner Diktion also »globale« Ebene, während die transnationalen Beziehungen die politische Ebene zwischen einzelnen Nationen bezeichnet, in meiner Diktion also die »internationale« Ebene.
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setzt werden könnte, eine Autorität, die Kants loser Staatenföderation ja gerade fehlt. Ohne eine zusätzliche politische Substanz, so Habermas, bräuchte es schon einen Weltstaat, um eine kosmopolitische Rechtsordnung zu garantieren. Und auch wenn sich Kant selbst von der Idee einer Weltrepublik distanziert hat, läuft doch seine ganze Argumentation auf die Vision dieser Weltrepublik hinaus.67 Im Grunde bleibt Otfried Höffe der kantischen Logik treuer als Kant, wenn er auch auf globaler Ebene für zwangsbewährte Institutionen und somit für die Weltrepublik argumentiert. Was eine Weltrepublik bräuchte, in Habermas’ Augen aber fehlt, ist ein Machtzentrum, »eine supranationale Macht jenseits rivalisierender Staaten, welche der völkerrechtlich konstituierten Staatengemeinschaft die zur Durchsetzung ihrer Regeln erforderlichen Sanktionsmöglichkeiten und Handlungskapazitäten verschafft« (ebd.: 131). Solange es keine Weltregierung gibt, ist es für Habermas müßig, über ihre moralische Legitimität zu räsonieren. Das Völkerrecht, wie es schon heute besteht, übt keine herrschaftskonstituierende, sondern lediglich eine gewaltenformierende Funktion aus. Das bedeutet, es begründet nicht den Weltstaat, sondern es steckt der Weltgesellschaft einen Rahmen, innerhalb dessen sich alle Akteure öffentlich rechtfertigen müssen. So sieht sich auch ein Diktator in der Öffentlichkeit gezwungen, seine Ansprüche nach Maßgabe des Völkerrechts zu formulieren. Entscheidend aber ist, dass das Völkerrecht nicht nur eine Richtschnur für die öffentliche Rechtfertigung, sondern auch für die Sanktionspraxis der Staatengemeinschaft eingeführt hat. Entsprechende Sanktionen gehen mittlerweile weit über öffentliche Bloßstellungen hinaus. Sie sind mit politischen, wirtschaftlichen und militärischen Drohpotentialen ausgestattet, das heißt sie reichen bis zur humanitären Intervention. Fernab jeglicher Weltstaatsutopie lässt sich
—————— 67 Kants Idee einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts in Gestalt einer Weltrepublik fasst Habermas folgendermaßen zusammen: »Die souveränen Staaten, die sich zu einem ›großen Staatskörper‹ vereinigen, erkaufen die Autorisierung ihrer Staatsbürger zu Weltbürgern um den Preis der eigenen Mediatisierung. Indem sie den Status von Mitgliedern in einer Republik von Republiken einnehmen, verzichten sie auf die Option, im Verkehr mit anderen Mitgliedstaaten Recht durch Politik zu ersetzen. Die Verstaatlichung der internationalen Beziehungen bedeutet, dass das Recht die politische Macht auch im äußeren Staatenverhältnis vollständig durchdringt und transformiert.« (Ebd.: 123)
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schon heute beobachten, wie das Völkerrecht zum festen Bezugspunkt internationaler Politik geworden ist. Es legitimiert die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten und erweitert damit den Raum politischer Auseinandersetzungen vom Staat auf die Weltgesellschaft. Das bedeutet aber nicht, dass die staatliche Ebene vollständig durch die weltpolitische Ebene ersetzt wird. Vielmehr sieht Habermas ein Mehrebenenmodell vor, das in Sachen Friedens- und Gerechtigkeitssicherung eine Arbeitsteilung zwischen Staaten, Staatenbünden und der Weltgesellschaft vorsieht:68 »Im Lichte der Kantischen Idee kann man sich eine politische Verfassung der dezentrierten Weltgesellschaft […] als ein Mehrebenensystem vorstellen, dem im Ganzen der staatliche Charakter fehlt. Nach dieser Vorstellung würde auf supranationaler Ebene eine angemessen reformierte Weltorganisation die lebenswichtigen, aber genau spezifizierten Funktionen der Friedenssicherung und der Menschenrechtspolitik wirksam und nicht selektiv erfüllen können, ohne die staatliche Gestalt einer Weltrepublik annehmen zu müssen. Auf einer mittleren, transnationalen Ebene würden die großen global handlungsfähigen Aktoren die schwierigen Probleme einer nicht nur koordinierenden, sondern gestaltenden Weltinnenpolitik, insbesondere die Probleme der Weltwirtschaft und der Ökologie im Rahmen von ständigen Konferenzen und Verhandlungssystemen bearbeiten.« (Ebd.: 134)
Deutlich setzt Habermas’ Mehrebenenmodell bei realpolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an.69 Eine Gesellschaft politisch zu integrieren und nach Prinzipien sozialer Gerechtigkeit zu reglementieren, bleibt weiter Sache des Staates. Da aber transnationale Gerechtigkeitsprobleme die Regelungskompetenz einzelner Nationen überfordern, machen sie eine Weltinnenpolitik erforderlich, in der die »großen global handlungsfähigen Aktoren« wechselseitige Verträge aushandeln – zu denken ist an die jüngste Einrichtung einer G20, an der die Supermacht USA, Großmächte wie Russland und China, führende Industriestaaten und Schwellenländer wie Brasilien und
—————— 68 In der Summe sieht Habermas die Möglichkeit und Legitimität eines politischen Mehrebenensystems gegeben, »dass im Ganzen keine staatliche Qualität annimmt, aber auf der supranationalen Ebene auch ohne eine gewaltmonopolisierende Weltregierung Frieden und Menschenrechte sichern sowie auf transnationaler Ebene Probleme einer Weltinnenpolitik bearbeiten kann.« (Ebd.: 143) 69 Eine Konkretisierung und Erläuterung seines Mehrebenenmodells gibt Habermas in Herborth/Niesen (2007: 450ff.).
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Indien teilnehmen, die aber aufgrund der Auswahl ihrer Zusammensetzung und ihrer der Öffentlichkeit entzogenen Sitzungen kein im Sinne Habermas legitimes Organ der Weltinnenpolitik ist. Die oberste Ebene bildet schließlich eine supranationale Weltorganisation, ein »sanktioniertes Friedens- und Menschenrechtsregime« (ebd.: 159), dessen Befugnisse globale Geltung haben sollen. An der Spitze dieses Regimes sieht Habermas die Vereinten Nationen, deren Charta für ihn durchaus schon Verfassungscharakter besitzt. Diese Interpretation der Charta der Vereinten Nationen als virtuelle Weltverfassung begründet er darin, dass sie bereits a) das Ziel der internationalen Friedenssicherung mit dem Ziel eines globalen Menschenrechtsschutzes verbindet, b) den UN-Sicherheitsrat mit robusten Sanktionsinstrumenten ausstattet und c) Staaten aus unterschiedlichsten Kulturkreisen und mit unterschiedlichsten Interessen in einem Gremium vereint.70
Derivative Legitimation Habermas’ Mehrebenenmodell teilt unterschiedlichen politischen Ebenen unterschiedliche Gerechtigkeitsaufgaben zu. Angesichts der postnationalen Konstellation und ihrer Probleme erkennt er, dass eine Ausweitung politischer Herrschaft auf die trans- und supranationale Ebene ein alternativloses Unternehmen ist. Durch eine solche Ausweitung wird aber seine eigene Theorie legitimer Herrschaft vor ein großes Problem gestellt. Denn für ihn ist Herrschaft nur dann legitim, wenn sie unter direkter öffentlicher Kontrolle steht. Inner-
—————— 70 Reformbedürftig ist diese Verfassung allerdings in Hinsicht auf a) die Zusammensetzung des Sicherheitsrats und den Beschlussmodus; b) die Einrichtung einer unabhängigen rechtlichen Instanz, die entscheidet, »wann die UNO zum Eingreifen berechtigt und verpflichtet ist« (ebd.: 172); c) die Verbesserung der Finanzausstattung der Exekutive; d) die Anerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs und die Umsetzung des humanitären Interventionsrechts; e) die Repräsentationsmöglichkeiten der Weltöffentlichkeit; und f) die klare Definition ihrer Aufgaben als Instrument der Friedens- und Menschenrechtssicherung.
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halb einer Republik ist die Legitimität politischer Herrschaft an die Praxis der deliberativen Demokratie zurückgebunden. Mit einer deliberativen (von lat. deliberare: beratschlagen) oder auch partizipatorischen Demokratie ist die aktive Teilnahme aller Bürger an der politischen Meinungsbildung und Gesetzgebung gemeint. Ganz im Sinne seines diskursethischen Ansatzes ist Herrschaft nur dann legitim, wenn sich alle Bürger als gleichberechtigte Organe eines gesellschaftlichen Diskurses verstehen können. Auf der supranationalen Ebene, also auf der Ebene eines globalen Sicherheits- und Menschenrechtsregimes, fehlt es aber ganz offensichtlich an den entsprechenden Mitbestimmungsmöglichkeiten. Demokratische Legitimität kann auch nicht, wie Habermas gegen Nussbaum unterstreicht, einfach durch die Berufung auf Menschenrechte ersetzt werden. Für ihn ist der Schutz der Menschenrechte kein hinreichender Legitimationsgrund für politische Herrschaft, weil Menschenrechte ohne demokratische Kontrolle und Interpretation für alle möglichen Zwecke instrumentalisiert werden können. Nur wenn demokratische Verfahren die Bildung und Interpretation von Menschenrechten begleiten, sind Menschenrechte der legitime Ausdruck einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung. Und genau diese »legitimationsnotwendige« (ebd.: 139) Verkopplung von Menschenrechten und demokratischen Verfahren lässt sich mit Blick auf eine supranationale Verfassung wie die Charta der Vereinten Nationen nicht erkennen.71 Immerhin aber, so Habermas, kann eine supranationale Verfassung eine, wie ich es nenne, derivative Legitimation für sich in Anspruch
—————— 71 »Politische Macht«, so Habermas, »konstituiert sich in Formen des Rechts. Indem es Verhaltenserwartungen stabilisiert (und damit seine eigene Funktion erfüllt), stellt das Recht der Macht eine Regelstruktur zur Verfügung. Insoweit dient das Recht der Macht als Organisationsmittel. Gleichzeitig hält es eine Gerechtigkeitsressource bereit, aus der sich Macht zugleich legitimieren kann. Während so die politische Macht von der Bindungskraft des Rechts zehrt, verdankt das Recht umgekehrt seinen zwingenden Charakter der staatlichen Sanktionsgewalt« (ebd.: 129). Diese legitimationssichernde Symmetrie zwischen Recht und Macht lässt sich nicht auf das Völkerrecht übertragen. Hier ist das Recht ohnmächtig; es bleibt abhängig von der freiwilligen Selbstverpflichtung der Staaten und spiegelt faktisch deren reale Machtverhältnisse wider. Vgl. dazu Herborth/Niesen (2007: 20f).
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nehmen, eine Legitimation, die daraus abgeleitet wird, dass sich die Menschenrechte in ihrer jetzigen Fassung zunächst innerhalb von »demokratischen Lernprozessen« (ebd.: 139) herauskristallisiert haben. Der Menschenrechtsbezug der Charta der Vereinten Nationen ist für sich selbst kein hinreichendes Legitimationskriterium, aber insofern die Menschenrechte ursprünglich selbst aus demokratischen Verfahren hervorgegangen sind, aus Verfahren also, die ein Stück weit exemplarisch für alle Menschen durchlaufen worden sind, erscheinen sie in ihrer jetzigen Form immerhin an die legitimationsstiftende Kraft demokratischer Beteiligung zurückgebunden zu sein. »Die globale Menschenrechtspolitik«, so bringt es Peter Niesen auf den Punkt, »wahrt den Anschluss, nicht nur weil sie über gewählte Vertreter autorisiert ist, sondern auch, weil sie an die Lernprozesse erinnert, die im Kampfe um gleiche Rechte sozusagen stellvertretend bereits in nationalstaatlichen Demokratien abgelaufen sind« (Herborth/Niesen 2007: 21). Auf supranationaler Ebene ist das Menschenrechtsregime nicht darüber legitimiert, dass die Menschenrechte ›richtig‹ sind, sondern darüber, dass die Menschenrechte zunächst innerhalb einzelner Staaten in demokratischen Verfahren gewonnen wurden. Auf transnationaler Ebene, also auf der Ebene, auf der Probleme der Weltinnenpolitik über internationale Abkommen geregelt werden, greift ebenfalls eine derivative Legitimation. Allerdings wird die demokratische Legitimation hier aus der Beteiligung der Weltöffentlichkeit und einer globalen Zivilgesellschaft abgeleitet. In »Die postnationale Konstellation« (1998) geht Habermas dazu über, demokratische Legitimation nicht nur über rechtlich geregelte Wahl- und Repräsentationsverfahren zu begründen, sondern mit der »allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses« (ebd.: 166). Anders gesagt, eine aus deliberativer Mitbestimmung hervorgehende Legitimation muss zunächst nicht auf rechtsstaatlich formalisierten Entscheidungsverfahren basieren; es ist bereits hinreichend, dass es eine Weltöffentlichkeit gibt, die Informationen verbreiten, Aufmerksamkeit herstellen und Meinungsbildung im globalen Massstab organisieren kann. In Anknüpfung an Hauke Brunkhorst (2002; 2002a) sieht Habermas eine solche Weltöffentlichkeit und globale Zivilgesellschaft bereits im
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Aufbau begriffen.72 Er meint, dass eine »Beteiligung von Nicht-Regierungsorganisationen an den Beratungen Internationaler Verhandlungssysteme« globale Herrschaft in dem Maße legitimieren, »wie es auf diesem Wege gelingt, transnationale Entscheidungsprozesse der mittleren Ebene für nationale Öffentlichkeiten transparent zu machen und mit Entscheidungsprozessen dieser unteren Ebene zu koppeln« (ebd.: 167). Noch einmal zusammengefasst leitet Habermas die Legitimität eines supranationalen Menschenrechtsregimes daraus ab, dass die Menschenrechte ursprünglich in demokratischen Prozessen errungen wurden, während die Legitimität transnationaler Abkommen davon abhängt, dass sie unter Mitsprache der Weltöffentlichkeit zustande kommen und auch weiterhin unter zivilgesellschaftlicher Kontrolle stehen.73 An dieser Stelle sind erste kritische Fragen an Habermas zu richten. Mit Blick auf die Vereinten Nationen, in der echte Demokratien in der Minderheit sind, steht eine »mittelbare ›Rückendeckung‹ durch demokratische Meinungs- und Willensbildung« (ebd.: 140) wohl in weiter Ferne.74 Und wenn Habermas meint, dass die Legitimation transnationaler Herrschaft über zivilgesellschaftliche Beteiligung abgesichert werden könnte, ist zu fragen, ob das wild wuchernde Netz von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) tatsächlich die Funktion einer demokratisch organisierten Zivilgesellschaft erfüllen kann. Die Tatsache, dass NGOs bestimmte Themen globaler Ungerechtigkeit in die öffentliche Aufmerksamkeit tragen, bedeutet nämlich nicht, dass sie allen Anforderungen an eine demokratische Weltöffentlichkeit genügen. Möglich ist auch, dass NGOs dazu beitragen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit ungerecht verteilt wird. Das hat damit zu tun, dass NGOs im Gegensatz zu politischen Parteien keine umfassende Gerechtigkeitsvorstellung für alle gesellschaftlichen Probleme vertreten, sondern eher als Lobbygruppen funktionieren, die in sich
—————— 72 Vgl. zur Idee einer globalen Zivilgesellschaft auch Nida-Rümelin (1998). 73 Habermas präzisiert diesen Gedanken in Herborth/Brunkhorst (2007: 448). 74 Diesem Defizit versucht Habermas in einem weiteren Nachtrag dadurch zu begegnen, dass die Rechtsauslegung der Generalversammlung der Vereinten Nationen einer, wenn auch ›weichen‹ Kontrolle der Weltöffentlichkeit obliegt und zusätzlich durch ein internes System von Einspruchs- und Klagerechten aufgefangen wird (2007: 454).
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oft nicht demokratisch organisiert sind und die in der Regel sehr spezielle Interessen verfolgen. Ob die zivilgesellschaftlich erzeugte Aufmerksamkeit hinreicht, um transnationale Herrschaft zu legitimieren, bleibt damit eher zweifelhaft.
Weltbürgerlicher Verfassungspatriotismus Wenden wir uns nun Habermas’ Antwort auf Rousseau und die sogenannten Neoaristoteliker um Martha Nussbaum zu. Diese weisen zu Recht darauf hin, dass eine gerechte Gesellschaft nicht nur Fragen der politischen Organisation und der moralischen Begründung aufwirft, sondern dass sie ganz wesentlich von einem Gemeinschaftsgefühl getragen werden muss. Auch Habermas räumt ein, dass eine gerechte Verfassung für sich noch keine Gesellschaft integriert. Sie kann lediglich eine vorgängige Vergesellschaftung stabilisieren, eine Vergesellschaftung, die ursprünglich über eine gemeinsame Identität, beispielsweise ein gemeinsames Nationalgefühl, erzeugt wurde. Aber was könnte die Bindekräfte eines gemeinsamen Nationalgefühls auf globaler Ebene ersetzen? Nussbaums Antwort einer allgemeinmenschlichen Disposition zur Vergesellschaftung reicht Habermas nicht aus. Für ihn ist eine Ausweitung des Zusammengehörigkeitsgefühls auf eine Weltgesellschaft solange skeptisch zu beurteilen, wie sich keine der Nationalkultur vergleichbare Identität – etwa eine einheitliche Sprache oder Geschichte – entwickelt hat: »Im Kontext einer gemeinsamen politischen Kultur können die Verhandlungspartner auch auf gemeinsame Wertorientierungen und Gerechtigkeitsvorstellungen rekurrieren, die eine über zweckrationale Vereinbarungen hinausgehende Verständigung ermöglichen. Aber auf der internationalen Ebene fehlt diese ›dichte‹ kommunikative Einbettung. Und eine ›nackte‹ Kompromissbildung, die wesentlich Züge der klassischen Machtpolitik widerspiegelt, reicht nicht aus für die Initiierung einer Weltinnenpolitik.« (1998: 164)
Während nationale Identitäten im Zuge der Globalisierung an Bedeutung verlieren, lautet die entscheidende Frage, »ob sich in den Zivilgesellschaften und in den politischen Öffentlichkeiten der großräumig zusammenwachsenden Regime […] ein weltbürgerliches Be-
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wusstsein gewissermaßen ein Bewusstsein kosmopolitischer Zwangssolidarität ausbilden wird« (ebd.: 167). Habermas’ Antwort auf diese Frage lässt sich als die Idee eines kosmopolitischen Verfassungspatriotismus deuten. Schon mit Blick auf pluralistische Gesellschaften schlägt er vor, »die geschichtliche Symbiose des Republikanismus mit dem Nationalismus aufzulösen und die republikanische Gesinnung der Bevölkerung auf die Grundlage eines Verfassungspatriotismus umzustellen« (1998: 116). Grundlage gesellschaftlicher Solidarität ist dann nicht mehr die gemeinsame Herkunft, Sprache oder Geschichte, sondern die Identifikation mit einem in der Verfassung ausgedrückten Sittlichkeitskern. Im Übertrag von pluralistischen Gesellschaften zur Weltinnenpolitik könnte ein solcher Sittlichkeitskern in den Menschenrechten gefunden werden und ein Reservoir allgemeinmenschlicher Solidarität erschließen. Die Identifikation mit den Menschenrechten und einer auf sie gründenden Weltverfassung müsste sich zunächst im öffentlichen Diskurs weiter verfestigen. Indem die Weltöffentlichkeit fortlaufend vor die Frage gestellt wird, welche Ansprüche als Menschenrechte gelten, wie die einzelnen Menschenrechte zu interpretieren sind oder wie mit Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern umzugehen ist, dringen die Menschenrechte in das Selbstverständnis der Diskursteilnehmer ein. Neben den Differenzen treten dabei auch die Übereinstimmungen zu Tage. Allerdings ist sich Habermas ähnlich wie Rawls sicher, dass sich ein solcher interkultureller Konsens in einem sehr bescheidenen Menschenrechtskatalog niederschlagen würde: »Im Vergleich zur aktiven Solidarität von Staatsbürgern, die u.a. die redistributiven Politiken des Wohlfahrtsstaates zumutbar gemacht hat, behält die Solidarität der Weltbürger insofern einen reaktiven Charakter als sie den kosmopolitischen Zusammenhalt in erster Linie durch Affekte der Empörung über Rechtsverletzungen d.h. über staatliche Repression und Verstöße gegen die Menschenrechte sichert.« (1998: 163)
Auf die Frage, ob es denkbar ist, eine allgemeinmenschliche Solidarität zu erzeugen, antwortet Habermas also prinzipiell mit ›Ja‹. Allerdings ist ihr Sittlichkeitskern eng begrenzt; er kommt aus der Empörung gegenüber ungerechten Kriegen und gegen schwere Menschenrechtsverletzungen zustande. Diese negative Solidarität reicht aus, um
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eine weltbürgerliche Gesellschaft zumindest soweit zu integrieren, dass sie einem auf schwere Menschenrechtsverletzungen fokussierten Strafgerichtshof Legitimität verschafft. Für eine echte kosmopolitische Gesellschaft von Weltbürgern aber, eine Gesellschaft also, in der es nicht nur um Menschenrechte und Frieden, sondern auch um soziale Gerechtigkeit geht, fehlt es nach Habermas an den ethischen Voraussetzungen. Was fehlt, ist eine positive Solidarität, die lediglich eine gemeinsame kulturelle Identität bereitstellen kann. Insgesamt vertritt Habermas daher eine zurückhaltende Sicht auf den Regelungsbereich globaler bzw. supranationaler Gerechtigkeit. Ein Problem dieser Zurückhaltung ist darin zu sehen, dass sie der neuartigen Qualität globaler Probleme nicht immer gerecht wird, Probleme, die Habermas selbst unter dem Begriff der postnationalen Konstellation diagnostiziert hat. In einer »ökologisch, wirtschaftlich und kulturell immer dichter verflochtenen Welt« decken sich, so Habermas, die Entscheidungen von Staaten »immer seltener mit den Personen und den Gebieten, die von den Folgen dieser Entscheidungen potentiell betroffen sind« (1998: 108). Diese Diskrepanz zwischen lokalen politischen Entscheidungen und globalen Auswirkungen gilt aber auch für soziale Gerechtigkeit. Für strukturschwache Länder hängt die Sicherung sozialer Gerechtigkeit schon heute von transnationaler Solidarität ab. Und auch in strukturstarken Ländern zeichnen sich Schwierigkeiten ab, Chancengleichheit oder Verteilungsgerechtigkeit autark herzustellen. Aus diesem Grund hat Höffe die Überzeugung vertreten, dass sich die Weltinnenpolitik in Zukunft nicht nur mit Frieden und Menschenrechten auseinandersetzen muss, sondern dass sich eine echte »Schicksalsgemeinschaft« (1999: 20) abzuzeichnen beginnt, die auf einen wesentlich umfangreicheren globalen Gerechtigkeitssinn angewiesen sein wird. Im Prinzip aber wäre Habermas’ deliberative Theorie durchaus anschlussfähig für eine Theorie globaler sozialer Gerechtigkeit. Denn erstens entstehen immer mehr NGOs, die unfairen Handel anprangern und damit Fragen sozialer Gerechtigkeit, wie gerechte Löhne oder Arbeitnehmerrechte, in den öffentlichen Diskurs hineinziehen. Zweitens sind es nicht nur schwere Menschenrechtsverletzungen, die weltweite Entrüstung verursachen. Auch das maßlose Wohlstandsgefälle zwischen dem Süden und dem Norden, versinnbildlicht in den
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Flüchtlingsdramen vor der Festung Europas, stoßen auf weltweite Empörung. Und drittens sorgt die postnationale Konstellation zunehmend dafür, dass auch auf der nationalen Ebene soziale Gerechtigkeit von globalen Regeln abhängt, die zunehmend von globalen Institutionen umgesetzt werden. Daher gilt: Selbst wenn sich globale Solidarität nur reaktiv auf globale Probleme herausbildet, könnte sie nichtsdestotrotz in absehbarer Zeit eine kosmopolitische Verfassung tragen, die neben den Menschenrechten und der Friedenssicherung auch Elemente der distributiven, politischen und intergenerativen, kurz, der sozialen Gerechtigkeit beinhaltet.
Rechtsdurchsetzung ohne Zwang? Ein letzter Kritikpunkt stellt sich vor dem Hintergrund von Hobbes machtrealistischer Herausforderung. Insgesamt hat Habermas ein normativ bescheidenes, politisch praktikables und an die reale Entwicklung des Völkerrechts anschließendes Modell vorgeschlagen. Trotzdem würde das von ihm vertretene Reformprogramm der Vereinten Nationen eine nicht unmaßgebliche Souveränitätsabgabe von Seiten der Mitgliederstaaten erfordern, die aus realpolitischer Perspektive immer noch utopisch erscheint. Weder wird Großbritannien sein Veto-Recht aufgeben, noch wird sich die USA in absehbarer Zeit der Rechtssprechung eines unabhängigen Strafgerichtshofs unterstellen. Wie also ließe sich Habermas’ Modell realisieren? Habermas setzt auf einen Lernprozess. Je mehr Staaten die Erfahrung machen, dass sie in ihren Entscheidungen von anderen Staaten abhängig sind, desto eher beginnen sie sich »als Mitglieder größerer politischer Gemeinschaften zu verstehen« (1998: 176). Das bedeutet aber nicht, dass sie ihre Souveränität bereitwillig an trans- und supranationale Organisationen abgeben. Unter der postnationalen Konstellation sind diese ergänzenden politischen Ebenen gerade ein Mittel, um die Souveränität zu erhalten. Weltinnenpolitik steht nicht im Widerspruch zur Realpolitik. Vielmehr ist sie ein Ausdruck realpolitischer Erfordernisse, die mit einem starren Nationalismus nicht mehr zu beantworten sind.
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Aus Hobbes’ Perspektive bleibt aber immer noch zu fragen, wie sich globale Normen ohne einen globalen Souverän durchsetzen ließen. Der legale Kosmopolitismus, gegenüber dem sich Habermas so ausdrücklich absetzt, hatte mit der Vision einer Weltrepublik eine starke Antwort auf diese Frage gegeben: Ein Recht muss, wie es Kant ausgedrückt hat, mit der Befugnis zu zwingen verbunden sein, damit es die Bindekräfte entwickeln und garantieren kann, die wir uns von einer stabilen und nachhaltigen Verrechtlichung der globalen Arena versprechen. »Das Projekt einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung«, räumt Habermas in einer späteren Summe ein, »lässt die wichtigste Frage offen, wer denn die hochherzig vereinbarten Grundsätze und Normen durchsetzen soll, wenn die Staaten ihren nationalstaatlichen Charakter, also auch ihr Gewaltmonopol behalten« (2007: 452). Die Frage nach der Durchsetzung stellt sich in Habermas’ Mehrebenenmodell vor allem mit Blick auf die supranationale Verfassung und die transnationalen Vereinbarungen. Die Weltverfassung regelt den Menschenrechtsschutz und die Friedenssicherung. Um diese Grundsätze durchzusetzen, muss die UNO zu Gewaltmitteln greifen, »die sie sich bei potenten und willigen Mitgliedern ›ausleiht‹« (ebd.: 452). Schon hier ist bedenklich, dass sich ein solcher ›Verleih‹ nicht zuverlässig einrichten lässt. Die Unfähigkeit, Menschenrechtsverletzungen von Großmächten zu sanktionieren, und die Unwilligkeit, selbst bei schwerem Völkermord wie in Ruanda einzugreifen, haben die Grenzen einer freiwilligen Machtabgabe an die UNO deutlich vor Augen geführt. Und mit Blick auf transnationale Abkommen sieht die Situation keineswegs besser aus. Nach Habermas’ eigener Einschätzung fehlt es auch hier an »Institutionen und Verfahren, die nötig wären, um in genuin weltpolitischen Fragen Programme sowohl zu beschließen wie weiträumig zu implementieren« (ebd.: 453). So sehen sich etwa die USA trotz eines erheblichen öffentlichen Drucks bislang nicht genötigt, internationale Umwelt-, Abrüstungs- oder Finanzabkommen zu ratifizieren. Im Ergebnis ist die Durchsetzung transnationaler Verpflichtungen durch zivilgesellschaftlichen Druck daher ebenfalls skeptisch zu beurteilen. Es zeigt sich, dass Habermas’ Projekt einer Weltinnenpolitik ohne Weltregierung zwar von einem realistischen Mehrebenenmodell ausgeht, dass er in der Frage der Rechtsdurchsetzung aber
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seinerseits optimistischere Antworten geben muss als sie im Rahmen einer Weltrepublik nötig wären. Darum stelle ich ausblickend die Frage, ob Habermas’ politischer Kosmopolitismus wirklich als Alternative und nicht vielmehr als notwendige Ergänzung zum legalen Kosmopolitismus verstanden werden sollte. Wenn wir uns mit Habermas eine Welt vorstellen, in der alle Menschen eine Menschenrechtserklärung als gemeinsame Verfassung anerkennen und in der eine Weltbürgergesellschaft Weltinnenpolitik betreibt, dann ist der Schritt zu einer komplementären Weltrepublik, wie sie Höffe beschreibt, alles andere als weit. Die Weltrepublik ist nur solange eine Utopie, wie es keine globalen Herrschaftsformen, keinen Verfassungskonsens, keine globalen Gerechtigkeitsprobleme, keine Weltöffentlichkeit und keine Weltinnenpolitik gibt. Im Kern sind all diese Voraussetzungen in Habermas’ politischem Kosmopolitismus gegeben. Während er also einerseits sehr zu Recht die politischen Voraussetzungen globaler Gerechtigkeit betont und die Schwächen des legalen Kosmopolitismus benennt, erweist sich die Organisationsform einer Weltrepublik im Prinzip gar nicht als Gegensatz zum politischen Kosmopolitismus, sondern vielleicht sogar als seine zukünftige institutionelle Konsequenz.
4.4 Vom Staatsbürger- zum Weltbürgerrecht: Seylah Benhabib Diskursethischer Kosmopolitismus Die an der Universität Yale unterrichtende Politikwissenschaftlerin und Sozialphilosophin Seylah Benhabib zählt wie James Bohman, Daniele Archibugi, Rainer Forst, Nancy Fraser oder David Held zu einer Reihe von Autoren, die mit den Mitteln der kritischen Theorie an einer politischen Konzeption des Kosmopolitismus arbeiten. In ihren jüngsten Arbeiten hat sich Benhabib die Frage nach der moralischen Signifikanz politischer Grenzen vorgenommen und einen ›anderen Kosmopolitismus‹ (Another Cosmopolitanism; 2006) zu entwi-
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ckeln begonnen.75 Für sie ist der Kosmopolitismus »eine normative Philosophie, die diskursethische universalistische Normen über die Grenzen des Nationalstaats hinausträgt« (2008: 24). Im Vergleich zu moralischen Konzeptionen ist ihr Kosmopolitismus insofern anders, als er nach neuen politischen Wegen der Vermittlung zwischen Universalismus und Partikularismus, zwischen Menschenrechten und Demokratie und nicht zuletzt zwischen Nationalstaaten und kosmopolitischen Normen sucht. Benhabib versteht die Diskursethik als eine genuin kosmopolitische Moralkonzeption, weil sie jeden Menschen als ein gleichberechtigtes Subjekt der Gerechtigkeit betrachtet. Im Prinzip endet die moralische Pflicht, Gerechtigkeitsgrundsätze vor anderen zu rechtfertigen, nicht an der Staatsgrenze, sondern erstreckt sich auf die gesamte Menschheit. Daher ist eine Ausgrenzung von Menschen aus dem Gerechtigkeitsdiskurs in sich rechtfertigungsbedürftig – und im Grunde überhaupt nicht zu rechtfertigen, wenn es sich um den Ausschluss unmittelbar betroffener Personen handelt. Diese Moralkonzeption gründet in dem Gebot, den Anderen als eine Person anzuerkennen, die ein, um einen Ausdruck Rainer Forsts vorwegzunehmen, universelles Recht auf Rechtfertigung besitzt, ein moralisches Recht, dass man sie betreffende Entscheidungen nicht ohne einsehbare Gründe trifft. Dieses moralische Recht versteht Benhabib aber nicht als ein vorpolitisches Recht. Es ist ein Recht, das selbst aus einem politischen Prozess hervorgeht, und zwar aus öffentlichen Diskursen, in denen ein kosmopolitisches Selbstverständnis eingeübt wird und dann in die Gesetzgebung einfließt. Vor dem Hintergrund dieser diskursethischen Moralkonzeption gerät die Praxis, Gerechtigkeit auf Staaten zu beschränken, selbst unter Rechtfertigungsdruck – zumal von einer solchen Abgrenzung nicht nur die Staatsbürger, sondern auch die Menschen betroffen sind, die ausgeschlossen werden. Während sich Benhabib mittlerweile der Frage zugewandt hat, wie kosmopolitische Rechte Eingang in das internationale Recht finden, hat sie sich in den vorliegenden Arbeiten auf das Staatsbürgerrecht konzentriert. Darin versucht sie nachzu-
—————— 75 Dt.: Kosmopolitismus und Demokratie (2008). Vgl. zum selben Thema auch Benhabib 2007; 2008a.
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vollziehen, ob und auf welchen Wegen das Staatsbürgerrecht eine kosmopolitische Gestalt annimmt. Hatte das Staatsbürgerrecht vormals die exklusive Funktion, eine ethnische Gemeinschaft nach außen abzugrenzen, übernimmt es nach ihrer Beobachtung mittlerweile immer mehr die Aufgabe, unterschiedliche Ethnien in die politische Gemeinschaft zu integrieren. In dieser Entwicklung tritt für Benhabib auf exemplarische Weise zutage, dass die Idee eines Weltbürgerrechts in lokalen Rechtsordnungen Wirklichkeit zu werden beginnt. »Mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948« sind wir nach Benhabib bereits »in eine Entwicklungsphase der globalen Zivilgesellschaft eingetreten, die durch den Übergang von internationalen zu kosmopolitischen Gerechtigkeitsnormen gekennzeichnet ist« (ebd.: 21f.).76
Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts Kosmopolitische Rechtsnormen bestimmen zunehmend das Verhältnis zwischen Individuen und Staaten, was sich einerseits in der beschriebenen Funktionswandlung des Staatsbürgerrechts niederschlägt, andererseits in neuartigen Straftatbeständen des internationalen Rechts wie dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass ein kosmopolitisches Menschenrechtsregime immer weiter um sich greift, ist für Benhabib also keine in der Luft hängende moralische Forderung, sondern ein empirischer Tatbestand: »Die Entwicklung kosmopolitischer Rechtsnormen« hat vor allem die liberalen Demokratien in ein Netzwerk von Verpflichtungen eingebunden, die eine »internationale Ordnung der Menschenrechte« (ebd.: 33) haben entstehen lassen. Zu diesem im Entstehen begriffenen Menschenrechtsregime zählt sie »eine Reihe von miteinander in Beziehung stehenden und sich überlappenden globalen und regionalen Ordnungen, die Menschenrechtsabkommen ebenso einschließen wie überkommenes oder faktisches internationales Recht« (ebd.).
—————— 76 Die Einzigartigkeit vieler Menschenrechtsabkommen ist nach Benhabib darin zu sehen, dass sie »letztendlich einen Übergang anzeigen von einem auf Verträge zwischen Staaten basierenden Völkerrechtsmodell zu einem internationalen Zivilrecht, das den Willen souveräner Staaten bindet und beugt.« (Ebd.: 16)
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Innerhalb einzelner Staaten sind es das Asyl- und Staatsbürgerrecht, die ganz entscheidend zur Wirklichkeit des globalen Menschenrechtsregimes beitragen. Vor allem das Asylrecht übernimmt die lokale Gewährleistung. Es garantiert, dass die Menschenrechte universell gesichert sind – zwar nicht überall, aber für jeden Flüchtling gleichermaßen. So hat die reale Entwicklung weltbürgerlicher Rechtsnormen Kants innovatives Vorhaben längst überholt, der das Weltbürgerrecht auf die bloße Duldung von Flüchtlingen beschränkt haben wollte. Mittlerweile gehört zu diesen kosmopolitischen Rechtsnormen nicht einfach nur der Schutz des nackten Lebens gegen staatliche Willkür, sondern auch der Schutz gegen Entrechtung und gegen den Ausschluss aus der politischen Gemeinschaft. Diese Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts ist für Benhabib damit verbunden, dass Einwanderer nicht nur fundamentale Menschen-, sondern in zunehmendem Maße auch Bürgerrechte genießen. Das bedeutet, dass auch Einwanderer und Flüchtlinge in ihrem Gastland einen Rechtsstatus als Bürger dieses Landes beanspruchen, der es ihnen erlaubt, gleichberechtigt an den sie betreffenden politischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen. In diesem Sinne verläuft die Konfliktlinie zwischen kosmopolitischen Normen und partikularen Gerechtigkeitsdomänen mitten durch den Nationalstaat hindurch.
Demokratische Iteration In liberalen Demokratien trifft dieser Konflikt auf das, wie es Benhabib nennt, »Paradox demokratischer Legitimität« (ebd.: 38). Gemeint ist der Widerstreit zwischen republikanischer Selbstbestimmung und den moralisch-konstitutionellen Leitplanken dieser Selbstbestimmung, kurz, der Widerstreit zwischen Demokratie und Menschenrechten. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Asylpolitik ist ein Paradebeispiel für diesen Widerstreit. Auf der einen Seite artikuliert sich der Wille demokratischer Mehrheiten, der oft darin motiviert ist, die eigenen Privilegien zu verteidigen. Auf der anderen Seite steht das kosmopolitische Gebot, für Menschenrechte einzustehen – und zwar für alle Menschen oder zumindest für alle Menschen, die sich im politischen Einflussbereich aufhalten. Im Gegen-
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satz zum Menschenrechtsansatz Martha Nussbaums geht es in Benhabibs Ansatz aber nicht darum, die Spannung zwischen Menschenrechten und Demokratie zugunsten der Menschenrechte aufzulösen. Wie Habermas sucht sie statt dessen nach Indizien für eine echte deliberative Vermittlung. Dazu untersucht sie, auf welche Weise weltbürgerliche Rechtsnormen in das nationale Selbstverständnis eingehen und schließlich im Gesetzgebungsprozess Resonanz finden. Um diese deliberativen Prozesse besser zu verstehen, greift sie auf eine Konzeption zurück, die sie als demokratische Iteration bezeichnet. Eine solche Iteration (wörtl.: Wiederholung) findet dann statt, wenn sich das Selbstverständnis einer Gesellschaft mit jedem öffentlich geführten Diskurs ein Stück weit verschiebt. Gerade die Verständigung darüber, welche Verantwortung eine Gesellschaft gegenüber den Menschenrechten von Emigranten hat, ist ein unabgeschlossener Prozess, der sich immer wieder an neuen Einzelfällen entzündet und für jeden Fall aufs Neue ausgetragen werden muss. Dass dies zur schleichenden Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts führt, liegt daran, dass die Menschenrechte mittlerweile einen unhintergehbaren Referenzpunkt im öffentlichen Diskurs einnehmen. Sie haben sich so tief im Selbstverständnis der Gesellschaft verankert, dass sie eine rechtswirksame (jurisgenerative) Dynamik in Richtung Weltbürgerrecht entfalten. Diese Anpassung des Staatsbürgerrechts an das Weltbürgerrecht über demokratische Iterationen ist im vollen Gange. Das macht Benhabib an spezifischen Fällen wie dem kommunalen Stimmrecht für EU-Bürger und eingesessene Ausländer in Deutschland fest. Für sie zeugt dieses Beispiel von einer fortlaufenden Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts, da es zeigt, wie die ursprüngliche Einheit von ethnos und demos in Auflösung begriffen ist. Unter demos (von gr.: démos: Staatsvolk) versteht sie das politische Subjekt der Demokratie, also alle Personen, die wählen und sich an der politischen Willensbildung beteiligen dürfen. Dieses demos ist im klassischen Nationalstaat identisch mit dem ethnos (von gr. éthnos: Volkszugehörige), der biologisch und kulturell definierten Nation. Eine Ethnie teilt eine gemeinsame Tradition, Sprache und Geschichte, kurz, eine ethnische Identität. Unter dem Druck kosmopolitischer Normen wird diese Einheit aber immer weiter aufgebrochen. Beispielsweise werden orts-
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ansässige Fremde zunehmend in das politische demos integriert, ohne im kulturellen ethnos aufzugehen. Einwanderergruppen finden einen Zugang zum Staatsbürgerrecht, ohne eine nationale Leitkultur anzunehmen. Aber auch dort, wo die demokratische Iteration aus Benhabibs Sicht zunächst scheitert, wie im deutschen Fall des Kopftuchverbots für eine türkischstämmige Lehrerin, dokumentiert sich für sie eine kontinuierliche Kosmopolitisierung der Rechtfertigungsfiguren und damit einhergehend eine immer weiter in die Defensive geratene Selbstverständlichkeit, Staatsbürgerschaft mit dem ethnos zu identifizieren. So gehört auch die Kopftuchdebatte zu den Kontroversen, die kosmopolitische Rechtsnormen in der Praxis nachvollziehen: »Universalistische Normen sind mit dem Selbstverständnis lokaler Gemeinschaften zu vermitteln. Die Verfügbarkeit kosmopolitischer Normen allerdings erhöht die Rechtfertigungsschwelle für traditionelle Praktiken des Ausschlusses. Exklusion findet statt, doch besteht nun ein höherer Anspruch der Rechtfertigung« (ebd.: 71). Je mehr Einwanderergruppen sich staatsbürgerliche Rechte aneignen, indem sie sie in Richtung weltbürgerlicher Rechte reinterpretieren, je schneller wird sich die Verklammerung von Staatsbürgerrecht und nationaler Identität auflösen. In diesem Prozess demokratischer Iterationen wird sich, so Benhabib, die demokratische Selbstbestimmung letztlich nicht als Gegensatz, sondern als ein Katalysator kosmopolitischer Rechtsnormen erweisen, als ein Prozess also, in dem nicht nur neue Ethnien in das demos integriert werden, sondern in dem fremde Ethnien auch zugleich ein weltbürgerliches Bewusstsein entwickeln.
Staatszentrierter Kosmopolitismus Welche politische Vision ist mit der von Benhabib beobachteten Ausweitung des Weltbürgerrechts verbunden? Benhabibs Antwort auf diese Frage lässt sich zunächst als Präzisierung von Nussbaums Projekt begreifen, ein globales Menschenrechtsregime über die Verfassungen einzelner Staaten zu etablieren. So läuft auch Benhabibs Vorschlag zur institutionellen Umsetzung des Weltbürgerrechts auf eine Neudefinition des Staatsbürgerrechts innerhalb einer Gesellschaft
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souveräner Staaten hinaus. Eine Garantie kosmopolitischer Normen kann realistisch nur über die Verfassung einzelner Rechtsstaaten erwirkt werden. Anders gesagt sind die Rechte von Flüchtlingen nur in einem mit dem kosmopolitischen Menschenrechtsideal harmonisierten Asylrecht zu realisieren. Kant hatte das Weltbürgerrecht auf ein Recht auf Hospitalität beschränkt, was auf eine unbefristete Aufenthalterlaubnis für alle Flüchtlinge hinauslief, die von schweren Menschenrechtsverletzungen bedroht sind. Benhabib geht deutlich darüber hinaus. Für sie hat jeder Emigrant das Recht, in das demos integriert zu werden, also gleichberechtigt an der Volkssouveränität teilzunehmen, ohne dass er die Pflicht hat, sich als Vorleistung in das ethnos, also in die nationale Kultur zu assimilieren. So verwirklicht sich das Weltbürgerrecht über eine fortschreitende Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts ohne Weltstaat. In diesem Modell bleibt der einzelne Staat »der Verteiler und Garant der Menschenrechte« (ebd.: 175). Es gibt keine globale Behörde, die einen Pass an Weltbürger verteilt, dafür aber eine Gemeinschaft souveräner Staaten, die ihr Staatsbürgerrecht zum Baustein eines real existierenden Weltbürgerrechts fortentwickeln. Bemerkenswert ist, dass Benhabib weder einer moralischen, noch einer legalen Utopie anhängt. Sie lässt die Souveränität einzelner Staaten bestehen und konkretisiert Wege, auf denen weltbürgerliche Normen in das System nationalstaatlicher Rechtssysteme eindringen. Allein, sowohl ihre Einschätzung der unaufhaltsamen Fortentwicklung dieser Normen als auch der Macht demokratischer Iteration fällt ausgesprochen optimistisch aus. Augenfällig ist, dass sie selbst eine Reihe gesellschaftlicher Debatten bespricht, in denen die Ablösung des demos vom ethnos scheitert. Selbst wenn sich das Staatsbürgerrecht innerhalb der EU einen Spalt weit für ortsansässige Ausländer geöffnet hat, ist darin noch lange kein Indiz für eine allgemeine Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts zu sehen. Angesichts der Schreckensszenarien von afrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen, welche die Festung Europas belagern, könnte die demokratische Meinungsbildung in den nächsten Jahren genauso gut zu einer weiteren Beschränkung des Asylrechts führen. Fraglich ist auch, ob die Entzweiung von ethnos und demos auf dem Weg zur Kosmopolitisierung des Staatsbürgerrechts nicht die Bindekräfte zerstört, die maßgeblich für
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den Zusammenhalt einer Gesellschaft sind. Das demos führt immerhin eingreifende politische Entscheidungen herbei, deren Konsequenzen innerhalb eines ethnos, also aufgrund einer gemeinschaftlichen Identität, viel eher akzeptiert werden. Worauf eine kosmopolitische Solidarität gründen könnte, bleibt aber bei Benhabib letztlich offen.
4.5 Ein globales Grundrecht auf Rechtfertigung: Rainer Forst Politischer Kosmopolitismus Rainer Forst, seinerseits Habermas’ Schüler, lehrt in Frankfurt politische Theorie. Vor allem in jüngeren Arbeiten zeichnen sich in seinem Werk die Konturen »einer kritischen und politischen Diskurstheorie transnationaler Gerechtigkeit« (2007: 255) ab. Ähnlich wie Habermas und Benhabib vertritt Forst einen diskursethischen Ansatz, der sich dem politischen Kosmopolitismus zuordnen lässt. Einerseits hat er mit dem Recht auf Rechtfertigung eine genuin kosmopolitische Moralkonzeption erarbeitet; andererseits folgt er einer genuin politischen Gerechtigkeitskonzeption, die sich endgültig von den »politikvergessenen« (ebd.: 255) Konstruktionsverfahren des moralischen Kosmopolitismus abwendet. Gerechtigkeit ist bei Forst das, was dabei herauskommt, wenn Menschen ihr Recht auf Rechtfertigung in gesellschaftlichen Verteilungs- und Mitbestimmungskämpfen realisieren. Voraussetzung einer gerechten Gesellschaft ist daher, dass alle Menschen als Gleiche am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen. Für Forst ist die erste Frage der Gerechtigkeit die Frage nach der Macht. Wenn wir von globaler Gerechtigkeit sprechen, müssen wir zunächst den Nachweis führen, dass es auf dieser Ebene überhaupt gerechtigkeitsrelevante Machtstrukturen gibt, also einen »Kontext sozialer Beziehungen, der durch sich widerstreitende Ansprüche gekennzeichnet ist, die nach einer Beurteilung im Lichte von Gerechtigkeitsprinzipien verlangen« (ebd.: 357). Darum ist zunächst auf empirischem Boden zu klären, wie sich transnationale normative Ordnungen herausbilden und welche Formen der Ungerechtigkeit –
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der Entrechtung, der politischen Ohnmacht und der Diskriminierung – sie erzeugen. Weil eine Konzeption globaler Gerechtigkeit ohne die Machtanalyse gegenstandslos, ohne die Anleitung einer normativen Gerechtigkeitstheorie aber unkritisch bliebe, sucht Forst nach einem »Überlegungsgleichgewicht« (ebd.: 256), nach einer politischen Vermittlung zwischen Macht und Moral. Gerechtigkeitsansprüche entstehen in gesellschaftlichen Konflikten. Forst weist darauf hin, dass das Vokabular von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in diesen Konflikten dazu dient, bestehende Machtverhältnisse in Frage zu stellen und individuelle Erfahrungen von Diskriminierung, Ausbeutung oder Entrechtung in öffentliche Ansprüche zu verwandeln. In der individuellen Unrechtserfahrung findet Forst aber auch einen normativen Kern, den er unter der Formel des Rechts auf Rechtfertigung zusammenfasst. Dieses fundamentale moralische Recht bezeichnet bereits die Kehrseite gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Macht wird von einer Person als eine Einschränkung ihrer Freiheit erlebt. Ohne eine sie berücksichtigende Rechtfertigung erfährt sie eine solche Einschränkung als fremdbestimmt und ungerecht. Entsprechend stellt Forst fest, dass »niemand Normen, Regeln oder Institutionen unterworfen werden darf, die ihm oder ihr gegenüber nicht wechselseitig und allgemein ausweis- und begründbar sind« (ebd.: 265). Im politischen Kontext wird das Recht auf Rechtfertigung zum Recht auf politische Partizipation. Hier können Machtverhältnisse nur dann gerechtfertigt sein, wenn eine Person an der Herrschaft beteiligt ist, die über die Verteilung von Gütern und die Regeln ihres Zusammenlebens entscheidet. Kurz, politische Herrschaft ist nur dann gerechtfertigt bzw. gerecht, wenn sie als ein Ausdruck der politischen Autonomie aller Personen verstanden werden kann.
Gerechtigkeit als politische Subjektwerdung Politische Herrschaftsverhältnisse müssen gegenüber jedem Menschen gerechtfertigt werden, und zwar, indem jeder Mensch ein Mitbestimmungsrecht und gegebenenfalls sogar ein Vetorecht geltend machen kann. Auch Forst vertritt mit anderen Worten einen legitimatorischen Individualismus. Hatte Höffe aber darunter die prinzipielle Zu-
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stimmungswürdigkeit zu Gerechtigkeitsgrundsätzen verstanden, zeichnet es Forsts politischen Kosmopolitismus aus, dass er die Zustimmung nicht in der praktischen Vernunft, sondern in der praktischen Politik, genauer in demokratischen Verständigungsverfahren ansiedelt. Eine Gesellschaft ist nicht dann gerecht, wenn ihre Grundsätze – wie bei Nussbaum – aus einem moralischen Prinzip abgeleitet oder – wie bei Rawls – in einem hypothetischen Vertrag konstruiert werden.77 Gerecht ist eine Gesellschaft vielmehr dann, wenn sie jedem ihrer Mitglieder ermöglicht, gleichberechtigt an allen politischen Diskursen teilzunehmen, in denen sich eine Gesellschaft über die Festschreibung, Interpretation und Anwendung ihrer Regeln verständigt. Forsts Recht auf Rechtfertigung drückt eine genuin kosmopolitische Moralkonzeption aus, insofern jede Person als ein gleichberechtigtes »Subjekt der Gerechtigkeit« (ebd.: 262) zählt. Allerdings gibt er auch diesem Ausdruck eine politische Bedeutung. Es geht ihm darum, dass alle Menschen politische Subjekte der Gerechtigkeit werden, und das wiederum bedeutet, dass sie sich als konstitutive Organe der Grundstruktur ihrer Gesellschaft verstehen und die sie betreffenden Machtverhältnisse mitgestalten können. Gerechtigkeit heißt, dass Personen den Status politischer Subjekte genießen. Dieses Verständnis veranschaulicht Forst in einem Gedankenexperiment: Ein südamerikanischer Minenarbeiter arbeitet unter gesundheitsschädlichen und ausbeuterischen Bedingungen. Sein Einkommen reicht gerade zum Überleben; für eine Krankenversicherung oder die Ausbildung seiner Kinder ist hingegen kein Geld übrig. Aufgrund seiner schlechten Ausbildung sieht er zu seiner Tagelöhnerexistenz keine Alternative. Seine Lebenserwartung ist relativ niedrig. Da erreicht ihn eines Tages Post vom »Gerichtshof für globale distributive Gerechtigkeit« (ebd. 257), die ihm ein Klagerecht für alle ihm widerfahrenen Ungerechtigkeiten zuerkennt. Um ihn im Prozess zu unterstützen, stehen ihm führende
—————— 77 Mit Blick auf Höffe und Rawls und im Anschluss an Habermas kritisiert Forst, dass deren mehrstufige Vertragsmodelle nur eine bereits vorhandene Vorstellung moralischer Grundrechte explizit machen können, und dass »die Mehrstufigkeit des Vertrages angesichts des […] Zusammenhangs von nationaler und transnationaler Ungerechtigkeit einer diskursiven, moralisch-politischen Konstruktion gleichursprünglicher Prinzipien lokaler und globaler Gerechtigkeit weichen« (ebd.: 342) muss.
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Gesellschafts- und Gerechtigkeitstheoretiker zur Verfügung, unter deren Anwaltschaft er im Einzelnen deutlich machen soll, worin die Ungerechtigkeit gegenüber seiner Person überhaupt besteht, wen er deswegen anklagt und welche Kompensationsleistungen oder gesellschaftlichen Veränderungen er einfordert. Unter diesen Anwälten finden sich vor allem solche Theoretiker, deren Gerechtigkeitskonzeptionen wir bereits kennengelernt haben und die hier noch einmal in ihren Kerngedanken vorgeführt werden. Hinter dem ersten Anwalt stehen Peter Singer (1972) und Peter Unger (1996). Sie beschreiben den Anspruch ihres Mandanten als »ein humanitäres Anliegen« (Forst 2007: 258) und plädieren dafür, dass jedes menschliche Wesen in der unbestreitbaren moralischen Pflicht steht, dem Minenarbeiter ein erträglicheres Leben zu sichern oder ihm zumindest einen minimalen Lebensstandard zu garantieren. Für Forst geht dieser Anwalt allerdings vollständig über die Gerechtigkeitsansprüche des Minenarbeiters hinweg. Denn weder bringen Singer und Unger die politische Ohnmacht des Minenarbeiters zur Sprache noch plädieren sie dafür, die machtpolitischen Hintergründe zu verändern, die zu seiner Situation geführt haben. Deswegen rät Forst dem Minenarbeiter, sich einem zweiten Anwalt zuzuwenden, genauer gesagt einer Anwältin, hinter der sich Martha Nussbaum verbirgt. Nussbaum spricht im Gegensatz zu Singer ausdrücklich von Gerechtigkeit. Ihrem Menschenrechtsansatz zufolge ist eine Welt ungerecht, die dem Minenarbeiter nicht die nötigen Möglichkeiten für ein würdevolles Leben einräumt. Aber auch hier wendet Forst ein, dass Nussbaum zwar einige grundlegende Interessen des Minenarbeiters vertritt, letztlich aber nicht an die machtpolitischen Ursachen herangeht, aus denen heraus er sich ungerecht behandelt fühlt. Ungerecht ist seine Situation nämlich nicht nur, weil er bestimmte Fähigkeiten nicht verwirklichen kann, sondern vor allem deswegen, weil er in einer strukturell ungerechten Welt lebt, die ihn systematisch unterdrückt und ihm effektive politische Mitbestimmungsmöglichkeiten versagt. Der dritte Anwalt, gemeint ist John Rawls, stattet den Minenarbeiter deswegen nicht nur mit moralischen Ansprüchen, sondern mit Rechten aus, die er gegenüber seiner Regierung einklagen kann. Aber die systematische Diskriminierung des Minenarbeiters hat nicht nur
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staatsinterne Hintergründe, sondern resultiert ebenso aus einer ungerechten Weltordnung, bestehend aus internationalen Unternehmen, unfairen Handelsabkommen, etc. Für den Minenarbeiter, so Forst, greift es daher zu kurz, wenn sein Anwalt den Kontext der Gerechtigkeit auf den Nationalstaat beschränkt, ohne eine Analyse transnationaler Machtkonstellationen einzubeziehen. Die Einbeziehung globaler Herrschaftsverhältnisse fällt in das Gebiet des vierten Anwalts, der Thomas Pogge oder Charles Beitz personifiziert. Dieser Anwalt legt den Finger ausdrücklich auf internationale Machtassymetrien und fordert von Staaten, die von diesem Missverhältnis profitieren, dass sie sich an einer globalen Umverteilung von Ressourcen beteiligen. Auf diese Weise ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, dem Minenarbeiter zumindest einen minimalen Lebensstandard zu sichern. Aber auch hier meint Forst, dass sich der Minenarbeiter nicht recht in seinem Unrechtsempfinden anerkannt fühlt. Denn im Grunde geht es ihm eben darum, »ein handelndes Subjekt der Gerechtigkeit zu werden, nicht bloß ein Objekt oder Empfänger von Gerechtigkeit« (ebd.: 261). Dazu aber bedarf es nicht der Umverteilung von Ressourcen, sondern der Ermächtigung des Minenarbeiters in einer gerechten politischen Grundstruktur. Der fünfte Anwalt ist schließlich ein erklärter Egalitarist, der, wie in Deutschland Stefan Gosepath (2004), Gerechtigkeit als Gleichheit auffasst. Dem Minenarbeiter, argumentiert dieser Anwalt, stehen nicht nur die Mittel zu einem minimalen Lebensstandard zu, sondern er hat Anspruch auf eine Gleichverteilung aller Güter – zumindest solange keine Argumente für eine Ungleichverteilung geltend gemacht werden können. Aber auch dieser Anwalt vertritt den Minenarbeiter nicht in dem, was Forst als dessen eigentlichen Gerechtigkeitsanspruch ausmacht. Denn selbst wenn sich der Gerichtshof entschlösse, eine egalitäre Wohlstandsverteilung umzusetzen, hat diese »Umverteilungsmaschinerie« (ebd.: 262) immer noch nicht die machtpolitischen Ursachen der Ungleichheit korrigiert. Im Gegenteil, die Konzentration auf Umverteilung trägt eher noch dazu bei, dass Machtassymetrien verschleiert oder stabilisiert werden. Darum ist der gerechtigkeitsrelevante Sinn von Gleichheit nach Forst nicht die sozioökonomische, sondern die politische Gleichheit des Minenarbeiters. An erster Stelle ist der Minenarbeiter als ein gleiches Subjekt der
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Gerechtigkeit zu behandeln, »das heißt als autonomes und gleichberechtigtes Subjekt in Bezug auf die Hervorbringung von Gütern und die politischen Institutionen, die Verhältnisse der Produktion und Verteilung beeinflussen können« (ebd.: 262). Gesetzt, dass der Minenarbeiter dieses politische Verständnis von Gerechtigkeit teilt, wäre er gut beraten, sich Rainer Forst zum Anwalt zu nehmen. Wenn wir das Gedankenexperiment also weiter treiben, plädiert nun Forst dafür, dass der Gerechtigkeit erst dann genüge getan ist, wenn sich nicht nur der Zustand des Minenarbeiters verbessert, sondern wenn bestehende Machtverhältnisse so verändert werden, dass der Minenarbeiter ein politisch autonomes Subjekt sein kann. Im Einzelnen schlägt Forst dem Gericht vor, in einer groß angelegten sozialwissenschaftlichen Studie zu untersuchen, auf welche Weise der Minenarbeiter in ein System ökonomischer Zwänge eingebunden ist, welche Akteure von diesem System profitieren, durch welche Interessen es zustande gekommen ist und welche Herrschaftsverhältnisse sich hinter diesem System verbergen. Anhand dieser Analyse müssen dann Wege gefunden werden, auf denen der Minenarbeiter wieder zu einem gestaltenden Subjekt der Gerechtigkeit werden kann. Im Vorgriff auf die Ergebnisse einer solchen Studie mündet Forsts Plädoyer darin, dass dem Minenarbeiter nur unter der Voraussetzung einer national und global gerechten Grundstruktur Gerechtigkeit widerfahren kann: »Denn das Recht der Rechtfertigung bildet den Kern einer gerechtfertigten nationalen wie auch einer gerechtfertigten transnationalen Grundstruktur, ohne die eine auf die andere zu reduzieren. So gibt es einen moralisch kosmopolitischen Ausgangspunkt, der eine angemessene Betrachtung der verschiedenen Kontexte der Gerechtigkeit als Kontexte der Rechtfertigung und der Selbstbestimmung erfordert, vom Lokalen bis zum Globalen.« (Ebd.: 371)
Die kritische Nachfrage lautet hier, ob sich der Minenarbeiter, der sich Forsts Plädoyer anhört, tatsächlich in allen seinen Ansprüchen, Sorgen und Unrechtserfahrungen repräsentiert fühlt. Er wird zwar in seinem politischen Anspruch auf Gleichberechtigung und Autonomie ernst genommen, aber möglicherweise ist die Aussicht, wieder ein Subjekt der Gerechtigkeit zu werden, nicht seine primäre Sorge. Was für ihn in Forsts Plädoyer zu kurz kommt, sind seine konkreten An-
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sprüche auf bessere Bezahlung, Gesundheitsfürsorge und Arbeitnehmerrechte. Ein wenig beschleicht ihn das Gefühl, dass sein Anwalt, anstatt seine unmittelbaren Interessen zu vertreten, ein sehr weitreichendes Reformprogramm entwickelt, das ihn irgendwann einmal in die Lage versetzen soll, sein eigener Anwalt zu werden. So verlockend diese Aussicht aber für den Minenarbeiter ist, so wenig hilft sie ihm kurzfristig und so wenig Hoffnung hat er, dass er jemals in seinem korrupten Land ein gleichberechtigtes Mitspracherecht erhält. Zumindest ein Teil seines Gerechtigkeitsempfindens, denkt er, wäre mit einer kurzfristigen Umverteilung von Ressourcen durchaus gut bedient. Vielleicht würde er sich etwa von Nancy Fraser (1997; 2005; 2007) besser vertreten fühlen, die politische und ökonomische Selbständigkeit als gleichberechtigte und nicht aufeinander reduzierbare Ansprüche ansieht. Oder er wendet sich doch an Martha Nussbaum, die ihm nicht nur (aber auch) Möglichkeiten zur politischen Partizipation einräumen wollte, sondern darüber hinaus auch seinen mannigfachen Bedürfnissen gerecht zu werden versuchte.
Globaler politischer Konstruktivismus Trotz dieser Kritik weist Forsts politischer Kosmopolitismus einen gangbaren dritten Weg zwischen moralischem Kosmopolitismus und Partikularismus auf. Im Gegensatz zum moralischen Kosmopolitismus anerkennt er die Eigenberechtigung abgegrenzter Gerechtigkeitskontexte. Denn ein Subjekt von Gerechtigkeit zu sein, hängt für ihn notwendig mit der Zugehörigkeit zu einer politischen Ordnung zusammen, auf die sich ein Recht auf Beteiligung beziehen kann. Die inhaltliche Bestimmung dieses Rechts muss in Relation zu vorhandenen Herrschaftsverhältnissen gewonnen werden. Forst nennt diese Methode einen politischen Konstruktivismus (ebd.: 314). Gemeint ist, dass Gerechtigkeitsprinzipien überhaupt »nur in partikularen politischen Kontexten konkret interpretiert, institutionalisiert und garantiert werden« (ebd.: 374) können.
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Vor diesem Hintergrund bezeichnet Forst den Staat als den primären Kontext der Gerechtigkeit.78 Im Gegensatz zum Partikularismus ist es für ihn aber auch unbestreitbar, »dass gegenwärtig das Ausmaß globalisierter Interdependenz einen Punkt erreicht hat, an dem es unmöglich geworden ist, diesen Kontext nicht als einen der Gerechtigkeit anzusehen« (ebd.: 364). Mit Blick auf globale Machtassymetrien macht Forst einen »Kontext von Zwang und Beherrschung« bzw. einen »globalen Kontext der Ungerechtigkeit« (ebd.: 365) aus. In diesem Kontext tritt eine Reihe von Akteuren neben den Nationalstaat und übt eine »mehrfache Beherrschung« (ebd.: 366) auf den Einzelnen aus. Das Primat des staatlichen Gerechtigkeitskontextes bedeutet daher ausdrücklich keine »normative Priorität« (ebd.: 376). Diese genießt in kosmopolitischer Perspektive nur der einzelne Mensch. Deswegen ist es auch für Forst ungerecht, wenn sich privilegierte Staaten soziale Gerechtigkeit auf einem relativ hohen Niveau leisten können, während das Niveau sozialer Gerechtigkeit strukturell benachteiligter Staaten deutlich geringer ausfällt. Im Einklang mit Pogges Analyse, dass sich interne und externe Gerechtigkeit wechselseitig bedingen, schlägt er darum ein Prinzip fundamentaler transnationaler Gerechtigkeit vor: »Diesem Prinzip zufolge haben die Mitglieder von mehrfach beherrschten Gesellschaften den berechtigten Anspruch auf die Ressourcen, die zur Errichtung einer (fundamental) gerechten demokratischen Ordnung in ihrem Staat notwendig sind, und darauf, dass dieser Staat ein gleichberechtigter Teilnehmer des globalen und ökonomischen Systems wird.« (Ebd.: 377)
Dieser Grundsatz erinnert an Rawls’ Hilfspflicht, wonach die Staatengemeinschaft verpflichtet ist, belasteten Staaten bei der Errichtung einer gerechtigkeitssichernden Grundstruktur Unterstützung zu leisten. Ähnlich wie Benhabib, Nussbaum oder Rawls visiert Forst eine
—————— 78 Der Staat markiert für Forst den Kontext einer besonderen, nämlich »der ›eigenen‹ Gesellschaft und ihrer Grundstruktur« (ebd.: 374), für die sich Menschen in besonderer Weise verantwortlich fühlen, weil sie sich als Bürger verstehen, deren »gemeinsames ›Projekt‹« es ist, »eine gerechte Grundstruktur in diesem Rahmen zu entwickeln und zu erhalten« (ebd.). Entsprechend konzentrieren sich die meisten politischen Auseinandersetzungen um Gerechtigkeit auf die Beteiligung an staatlichen Entscheidungsprozessen und auf staatsinterne Verteilungspraktiken.
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Gemeinschaft gerechtigkeitssouveräner Staaten an. Zu den Voraussetzungen dieser Vision gehört aber immer schon, dass es eine globale Grundstruktur gibt, die für Umverteilung und gleichberechtigte Teilnahme sorgt. Für Forst ist es zudem unzureichend, wenn diese Grundstruktur nicht selbst demokratisch eingerichtet oder zumindest offen für eine Praxis der Rechtfertigung wäre.79 Es gilt, so Forst, auch »im globalen Rahmen ausreichende Strukturen der Rechtfertigung zu etablieren, die gegebene Machtassymetrien in Frage stellen können« (ebd.: 267). Allerdings stellt er sich unter globalen Rechtfertigungsprozessen kein weltbürgerliches Parlamentswesen vor. Ihm geht es darum, dass einzelne Staaten gleichberechtigt an der Weltpolitik beteiligt werden, indem sie über internationale Regeln und Praktiken als Gleiche mitentscheiden und gleichberechtigt in internationalen Institutionen repräsentiert werden.80 Forsts politische Vision besteht mit anderen Worten nicht darin, jeden Menschen zum Subjekt der Weltinnenpolitik zu machen, sondern lediglich jeden Staat. Forsts Theorie einer demokratischen Gemeinschaft demokratischer Staaten wird aber dadurch unterlaufen, dass faktisch nicht alle Machtverhältnisse in der Beziehung Bürger zu Staat und Staat zu Staat aufgehen. Wie verhält sich beispielsweise seine Theorie, wenn einzelne
—————— 79 Dem Prinzip liegt nämlich Forsts Unterscheidung zwischen fundamentaler und maximaler Gerechtigkeit zugrunde. Fundamentale Gerechtigkeit hat es mit der »Schaffung einer Praxis der Rechtfertigung« (ebd.: 369) zu tun, also mit den grundrechtlichen und institutionellen Bedingungen, die eine Ausübung des Rechts auf Rechtfertigung erst ermöglichen. Gemeint sind einerseits Freiheitsrechte, Partizipationsrechte und soziale Rechte, andererseits Institutionen, die die politische Partizipation ermöglichen, wie Parlamente, Wahlen, Parteien oder Medien. Auf Grundlage dieser gerechten Grundstruktur soll sich ein freier Diskurs entfalten, in dem sich die Gesellschaft über konkrete Gerechtigkeitsfragen verständigt. Das Resultat dieses freien Diskurses nennt Forst die maximale Gerechtigkeit, die alle normativen Regelungen und Gesetzesinterpretationen umfasst, die in den öffentlichen Diskurs Eingang gefunden haben. Zusammengefasst zielt fundamentale Gerechtigkeit »auf eine Grundstruktur der Rechtfertigung ab, maximale Gerechtigkeit auf eine vollständig gerechtfertigte Grundstruktur.« (Ebd.: 375) 80 Dazu gehören unter anderem eine aufklärende Öffentlichkeit, vor der er seinen Zustand als Ausbeutung erkennen kann, politische Strukturen, mit deren Hilfe er sich öffentlich wirksam artikulieren kann sowie Institutionen, bei denen er ein Beschwerderecht wahrnehmen und Anklage erheben kann. Letztlich womöglich ein ›Gerichtshof für distributive Gerechtigkeit‹ selbst.
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Personen oder Gruppen in einem Staat diskriminiert und unterdrückt werden? Und was ist mit den Akteuren, die sich der Staatskontrolle längst entzogen haben, wie transnationale Unternehmen? Wie lässt sich mit Bezug auf postnationale Machtassymetrien die politische Autonomie des Menschen zurückgewinnen? Und wie ist mit ungerechten Staaten zu verfahren? Zumindest einigen dieser Fragen begegnet Forst mit einem Menschenrechtsansatz. In der »Rolle als moralische Personen und als ›Weltbürger‹« (ebd. 318) schulden Menschen nicht nur ihren Mitbürgern, sondern allen Menschen ein Recht auf Rechtfertigung. Dieses universelle (moralische) Recht kommt zum Tragen, wenn partikulare Staaten darin versagen, ihren Bürgern Menschenrechte zu garantieren. In diesen Fällen fällt der Staatengemeinschaft, der globalen Zivilgesellschaft und internationalen Institutionen die positive Pflicht zu … a) »Institutionen zu errichten, die effektiv garantieren, dass […] Rechtsverletzungen registriert, bekämpft und verhindert werden« (ebd.: 321); b) Angriffskriege zu verurteilen und einseitige Aggressionen zu sanktionieren; c) im Falle von Menschenrechtsverletzungen ein Recht auf Asyl zu gewähren; d) die Einrichtung von »demokratisch kontrollierten Institutionen zur Bewältigung globaler Probleme« (ebd.: 323) zu unterstützen; und e) jedem Menschen einen minimalen Lebensstandard zu ermöglichen. Die Funktion der Menschenrechte besteht bei Forst darin, den Menschen in seinen fundamentalen Bedürfnissen zu schützen. Diese Funktion ist für ihn aber nicht mit Gerechtigkeit gleichzusetzen. Die Errichtung eines Menschenrechtsregimes ist bestenfalls der zweitbeste Weg in Richtung globaler Gerechtigkeit. Eine im vollen Sinne gerechte Welt benötigt hingegen Institutionen, die nicht nur eine minimale Grundsicherung, sondern eine relative Gleichheit garantieren, und zwar sowohl in Bezug auf politische Mitbestimmung als auch in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit.
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Insgesamt bleibt Forst zögerlich, ob seine Argumentation auf eine Weltrepublik zulaufen sollte oder nicht. Diese Unentschiedenheit ist zum Teil seiner Forderung geschuldet, dass eine genauere globale Machtanalyse noch aussteht. Zum Teil hat sie aber auch mit einem Paradox zu tun, das dann entsteht, wenn der Staat in einer globalisierten Welt wieder als primärer Kontext der Gerechtigkeit eingesetzt werden soll. Denn faktisch würde das institutionelle Gefüge, das dazu nötig wäre, die Regelungskompetenz des Staates zurückzugewinnen, den Staat immer weiter in eine globale Grundstruktur einfassen. Wenn diese globale Grundstruktur auch noch demokratisch einzurichten ist, stellt sich die Frage, ob diese anspruchsvolle Gerechtigkeitskonzeption nicht einen globalen Apparat von Regeln und Institutionen erfordert, der vielleicht nur in einer Weltrepublik koordiniert werden könnte.81 In letzter Konsequenz, räumt daher auch Forst ein, könnte die globale Arena selbst zu einem Kontext werden, »in dem Forderungen nach Rechten und Gerechtigkeit in einem umfassenden Sinne erhoben werden. Dies macht eine internationale Grundstruktur notwendig und möglicherweise sogar einen ›Weltstaat‹« (ebd.: 319).
—————— 81 So resümiert Forst: »Ob die Institutionalisierung fundamentaler Gerechtigkeit oder die Resultate der Diskurse mit dem Ziel einer Maximierung der Gerechtigkeit zu einer Staatenföderation in einer subsidiären ›Weltrepublik‹ oder zu einem ›Weltstaat‹ führen werden, lässt sich nicht vorhersagen […]. Ohne Zweifel setzt jedoch bereits die Verwirklichung des Minimums ein weit höheres Maß an Institutionalisierung voraus, als es gegenwärtig gegeben ist.« (Ebd.: 379)
5. Gerechtigkeitstheoretischer Partikularismus
Die moralische Signifikanz von Grenzen Neben dem Kosmopolitismus in all seinen Variationen versammelt der gerechtigkeitstheoretische Partikularismus die zweite Hauptgruppe von Theorien zur globalen Gerechtigkeit. Auf den ersten Blick beziehen partikularistische Autoren sogar die direkte Gegenposition zum Kosmopolitismus. Während Kosmopolitisten einen moralischen Universalismus vertreten, wonach im Prinzip alle Menschen gleichermaßen Subjekte der Gerechtigkeit sind, grenzen Partikularisten die Subjekte von Gerechtigkeit auf die Mitglieder bestimmter Gemeinschaften ein. Grund ist, dass nur ein bestimmter Personenkreis in einer für Gerechtigkeitsansprüche konstitutiven Beziehungsform zusammenlebt. Daher entstehen Gerechtigkeitsansprüche nur innerhalb bestimmter Gemeinschaften, und diese Gemeinschaften werden wesentlich enger definiert als im Kosmopolitismus.82 Im Vordergrund der Auseinandersetzung zwischen Kosmopolitisten und Partikularisten steht die Frage nach der moralischen Bedeutung von Grenzen. Endet der Anspruch auf (soziale) Gerechtigkeit an den Grenzen eines Staates, oder geht er darüber hinaus? Bedarf die Abgrenzung eines Gerechtigkeitskontextes einer universellen Rechtfertigung oder ist die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft erst die Voraussetzung für einen Anspruch auf Rechtfertigung? In der Auseinandersetzung über diese Fragen setzt sich die Debatte zwischen Liberalisten und Kommunitaristen fort. Kommunitaristen
—————— 82 Zur Debatte um die moralische Signifikanz von Grenzen vgl. Beitz (2003), Brock (2002), Buchanan (1998), Caney (1996), Cohen (1996), Goodin (1998), Kersting (2001), Kymlicka (2001), Mason (2000), Miller (1988), Nussbaum (1996), O’Neill (1998), Scheffler (2001), Tan (2004), Walzer (1994).
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betonen darin, dass sich die Frage nach Gerechtigkeit nicht in abstrakter Weise stellen lässt, sondern dass Menschen in konkreten Gemeinschaften (communities) leben, in denen sich bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen kultivieren. Diese Vorstellungen lassen sich nicht universalisieren, da sie von einer kulturspezifischen Idee des Guten getragen werden. Mit Blick auf Verteilungsgerechtigkeit hat Michael Walzer (1983) diese gemeinschaftliche Einbettung der Gerechtigkeit folgendermaßen auf den Punkt gebracht: »Die Idee distributiver Gerechtigkeit setzt eine begrenzte Welt voraus, in der Verteilung vonstatten geht: eine Gruppe von Menschen, die sich verpflichtet, soziale Güter zu teilen, auszutauschen und gemeinsam zu nutzen […] Das erste Gut, dass wir untereinander aufteilen, ist die Mitgliedschaft in einer menschlichen Gemeinschaft. Und was wir in Hinsicht auf die Mitgliedschaft entscheiden, strukturiert alle unsere distributiven Entscheidungen: es bestimmt, mit wem wir Entscheidungen fällen, von wem wir Folgsamkeit verlangen und Steuern einziehen und zu wem wir Güter und Leistungen verteilen.« (1983: 31)
Gerechtigkeit ist an die Mitgliedschaft in bestimmten Gemeinschaften gebunden und für Walzer gehört es zum moralischen Recht jeder Gemeinschaft, die Bedingungen dieser Mitgliedschaft selbst zu regeln. Denn nur so kann eine, wie Walzer es ausdrückt, Charaktergemeinschaft (community of characters; ebd.: 62) entstehen, also eine gemeinsame Identität, die für die Stabilität und für die wechselseitige Anerkennung besonderer Verpflichtungen in einer Gesellschaft unumgänglich ist. Dass Kommunitaristen besondere soziale Verpflichtungen auf die Mitglieder partikularer Gemeinschaften beschränken, schließt aber nicht aus, dass sie humanitäre oder moralische Pflichten gegenüber der gesamten Menschheit anerkennen. Insbesondere liberale Kommunitaristen orientieren sich ausdrücklich an einer universalistischen Moral wechselseitiger Achtung.83 Für den liberalen Kommunitarismus sind alle Menschen zwar als Angehörige einer Gemeinschaft, aber ungeachtet von Hautfarbe, Geschlecht oder Alter als gleiche Subjekte
—————— 83 Zum liberalen Kommunitarismus zählen neben Walzer auch Alasdair MacIntyre (1981), Will Kymlicka (1989), Michael Sandel (1982) und Charles Taylor (1996). Vgl. für eine einführende Textzusammenstellung zum Kommunitarismus Axel Honneth (1995).
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der Gerechtigkeit anzusehen (gerechtigkeitstheoretischer Universalismus) und in ihren Interessen bei allen sie betreffenden Grundsatzentscheidungen zu berücksichtigen (legitimatorischer Individualismus). So vertritt der liberale Kommunitarismus eine kosmopolitische Moralkonzeption, ohne sie mit dem Anspruch auf globale Gerechtigkeitspflichten zu verknüpfen. Dass alle Menschen Subjekte der Gerechtigkeit sind, bedeutet nicht, dass es alle Menschen überall sind. Sie sind es nur auf lokal begrenzter Ebene. Der liberale Kommunitarismus unterscheidet mit anderen Worten den Modus der Rechtfertigung von der Domäne, auf die dieser Modus angewendet wird. Mit dem Modus der Rechtfertigung ist in diesem Fall der moralische Universalismus gemeint, der uns anleitet, alle moralischen Fragen, die in unsere Zuständigkeit fallen, nach Maßgabe der Unparteilichkeit zu regeln. Die Frage aber, für wen wir zuständig sind, wird dadurch beantwortet, dass wir die Domäne der Gerechtigkeit, also den Geltungsbereich dieser in unparteiischen Verfahren gewonnenen Normen bestimmen. Die Grenzziehung der Gerechtigkeitsdomäne hängt ganz offensichtlich von der Frage ab, welche Beziehungen gerechtigkeitsrelevant sind und welche nicht. Je nach Theorieansatz wird anders nach der Gerechtigkeitsrelevanz gefragt: Ist etwa die Macht innerhalb eines politischen Systems gerecht verteilt? Werden alle Kooperationspartner fair am erwirtschafteten Reichtum beteiligt? Gehorchen die Institutionen und Praktiken, die das Miteinander von Menschen koordinieren, dem Grundsatz der Unparteilichkeit? Diese Fragen, so die Auffassung partikularistischer Autoren, führen in der Summe dazu, dass wir die Domäne der Gerechtigkeit auf bestimmte Kollektive einschränken, und zwar in der Regel auf Staaten, in denen die Beteiligung an Wohlstand, Macht oder Öffentlichkeit über gemeinsame Institutionen, Gesetze und Praktiken geregelt wird. Im Ergebnis zeigt sich, dass der gerechtigkeitstheoretische Partikularismus nicht unbedingt eine Gegenposition zum moralischen Universalismus bezieht. Auch herrscht zwischen partikularistischen Autoren keineswegs Einigkeit, ob es nicht auch eine globale Gerechtigkeitsdomäne gibt, einen über ein Set globaler Institutionen, Regeln und Praktiken geschaffenen Kontext gerechtigkeitsrelevanter Beziehungen. Da dies einige Partikularisten zumindest mit Blick auf funda-
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mentale Menschenrechte zugestehen, liegt die eigentliche Differenz zum Kosmopolitismus letztlich darin, dass der Partikularismus den Verpflichtungszusammenhang in einzelnen Gemeinschaften enger definiert. Der Partikularismus begründet eine Rangordnung zwischen unterschiedlichen Domänen der Gerechtigkeit. Er vertritt die bereits oben diskutierte partikularistische Prioritätsthese (vgl. Kap. 4). Sein »compatriots take priority« (Shue 1980: 132) folgt dabei der Logik einer assoziativen Verantwortungskonzeption. Mitbürger haben eine übergeordnete Verantwortung füreinander, weil sie in besonders engen sozialen Beziehungen zueinander stehen, die sie nicht mit allen Menschen teilen. Das exemplarische Beispiel für ein assoziatives Verantwortungsverhältnis bildet die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Eltern sind spezielle Fürsorgepflichten auferlegt, auf die fremde Kinder schlicht und ergreifend keinen Anspruch haben – und zwar auch dann nicht, wenn sie bedürftig oder verwaist sind. Übertragen auf das Feld der Gerechtigkeit ließe sich sagen, dass es zwar formal richtig ist, dass jeder einzelne Mensch einen unüberbietbaren Wert darstellt, dass es damit aber durchaus vereinbar ist, wenn Mitbürger eine besondere Verantwortung füreinander tragen und einen Vorrang gegenüber anderen Menschen beanspruchen.84
—————— 84 Ein anderer Weg, die Priorität partikularer Gerechtigkeitskontexte zu rechtfertigen, liegt darin, für eine moralische Arbeitsteilung zu argumentieren. Dazu müsste allerdings der Nachweis geführt werden, dass Gerechtigkeit am effektivsten über eine Parzellierung der Gerechtigkeitsdomänen erreicht werden könnte, eine These, die angesichts der fortschreitenden Vernetzung unserer Lebenswelt an Plausibilität verloren hat. Zumindest wäre es widersprüchlich, aufgrund dieser moralischen Arbeitsteilung für die Abschottung einzelner Gerechtigkeitsdomänen zu argumentieren. Denn die Idee einer moralischen Arbeitsteilung impliziert bereits, dass es ein übergeordnetes Gerechtigkeitsziel gibt. So hängt das Argument für eine moralische Arbeitsteilung in letzter Konsequenz von einer kosmopolitischen Gerechtigkeitskonzeption ab, da die Aufteilung in partikulare Gerechtigkeitsdomänen in Hinsicht auf die maximale oder hinreichende Gerechtigkeitssicherung für alle Menschen gerechtfertigt werden soll.
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Gerechtigkeitskonstitutive Beziehungen Der Streit zwischen Kosmopolitisten und Partikularisten dreht sich also im Kern darum, ob die staatliche oder die globale Domäne der primäre Kontext der Gerechtigkeit ist. Kosmopolitisten sehen es als kontingent, also als einen moralisch irrelevanten Zufall an, dass Menschen in verschiedene Staaten hineingeboren werden. Es ist daher ungerecht, wenn sie aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit schlechtere Lebenschancen vorfinden. Demgegenüber betont der Partikularismus, dass sich die Frage nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit erst mit Blick auf besondere Beziehungsformen stellt, Beziehungsformen, die für den Staat konstitutiv sind und sich daher nicht, oder zumindest nicht in vergleichbarer Weise, auf internationaler oder globaler Ebene herausgebildet haben. Die Leitfrage in unserem Durchgang durch den Partikularismus lautet daher: Welche besonderen Beziehungen sind es, die eine Abgrenzung einzelstaatlicher Gerechtigkeitsdomänen legitimieren? Warum ist es nicht ungerecht, wenn der Staat seine Sozialleistungen auf Mitbürger einschränkt? Und aus welchem Grund kann der globale Gerechtigkeitskontext keine oder nur vergleichsweise schwache Ansprüche auf soziale Gerechtigkeit begründen? Diese Fragen werden von Partikularisten mit ganz unterschiedlicher Gewichtung beantwortet. Zur Übersicht lassen sich jedoch vier wesentliche Kriterien zusammenfassen, die den Staat als primären Kontext sozialer Gerechtigkeit ausweisen: a) Sicherheitsbeziehungen: Die Funktion des Staates liegt in der Herstellung von Sicherheit; er fungiert als Sicherheitsgemeinschaft. Zur Erfüllung dieser Funktion vereinigt er das Gewaltmonopol auf sich und bildet ein System von Institutionen, die für die Durchsetzung von Sicherheit erforderlich sind. Mitglieder dieser Sicherheitsgemeinschaften haben besondere Pflichten, aber eben auch besondere Rechte. Dazu zählen Mitspracherechte sowie Schutz- und Abwehrrechte gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol. b) Politische Beziehungen: Aufgabe des Staates ist die Koordination und Kontrolle der Macht zum Zwecke des Allgemeinwohls; der Staat ist eine Gemeinschaft politischer Herrschaft. Zur Ausübung von Herrschaft bedarf es eines Systems von Institutionen und Praktiken,
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denen gegenüber Staatsbürger besondere Partizipations- und Bürgerrechte geltend machen. c) Kooperationsbeziehungen: Der Staat ist eine gemeinsame Praxis zum wechselseitigen Vorteil aller Mitglieder; er funktioniert als Wohlfahrtsgemeinschaft. Im Kontext des Staates entstehen daher bestimmte Ansprüche auf Teilhabe am gemeinsamen Wohlstand, sprich auf distributive Gerechtigkeit. d) Kulturelle Beziehungen: Der Staat ist Ausdruck und zugleich Schutzherr einer gemeinsamen Identität; er integriert eine nationale oder patriotische Gemeinschaft. Mitglieder können daher ein privilegiertes Recht auf ihre Sprache, Religionsausübung oder Feiertage geltend machen. Ihre gemeinsame Identität bildet zudem die Grundlage für besondere Verantwortungsverhältnisse, die insgesamt eine Begrenzung assoziativer Gerechtigkeitspflichten auf den Staat begründet. In diesen vier Beziehungsformen ist die Grundlage zu einer partikularistischen Begründung sozialer Gerechtigkeit zu suchen. Unterschiedliche partikularistische Theorien lassen sich danach untergliedern, welche dieser Beziehungsformen sie als gerechtigkeitskonstitutiv bestimmen. Wie gesehen, legt der Kommunitarismus den Akzent auf kulturelle Verbindungen. Voraussetzung für die Bestimmung und Akzeptanz gemeinsamer Gerechtigkeitsprinzipien soll eine homogene Kulturgemeinschaft und eine gemeinsame Idee des Guten sein. Daneben sind in den letzten Jahren drei partikularistische Hauptströmungen in den Vordergrund getreten, die in diesem Kapitel wiederum anhand ihrer wichtigsten Protagonisten vorgestellt werden. Zunächst wird der Realismus als eine Theorie eingeführt, für die Gerechtigkeitsfragen ganz entscheidend vom staatlichen Gewaltmonopol abhängen (Kap. 5.1). Solange die internationale Arena kein vergleichbares Gewaltmonopol aufweisen kann, wäre es im Sinne des Machtrealismus sinnlos, überhaupt von internationaler Gerechtigkeit zu sprechen. Dagegen betont der Nationalismus David Millers die gerechtigkeitskonstitutive Bedeutung nationaler Beziehungsformen. Für Miller sind nationale Gemeinschaften dadurch gekennzeichnet, dass sie auf eine einzigartige Weise ihre kulturelle Identität mit dem Anspruch, eine selbstbestimmte Domäne sozialer Gerechtigkeit zu bilden, verbinden (Kap. 5.2). Und schließlich unterstreicht Thomas Nagels Etatismus, dass
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Staatsbürger in einer besonderen Beziehung zueinander stehen, die macht- und identitätspolitische Aspekte umfasst. Nach Nagel ist es diese spezifisch staatsbürgerliche Beziehungsform, die für soziale Gerechtigkeitspflichten konstitutiv ist (Kap. 5.3).
5.1 Von der Ohnmacht globaler Gerechtigkeit: Hans J. Morgenthau und Kenneth N. Waltz Realistischer Antimachiavellismus Theorien globaler Gerechtigkeit sehen sich häufig der Kritik ausgesetzt, dass sie ›das Wesen des Politischen‹ verfehlen. Während es die Moralphilosophie mit der Ableitung oder der Konstruktion vernünftiger Prinzipien zu tun hat, gehorcht das Politische einer anderen Logik. Hier geht es darum, einen stabilen gesellschaftlichen Frieden zu erzielen. Im Wesentlichen ist Politik daher eine Praxis der Machtkontrolle, nicht der Gerechtigkeit. Die entsprechende Grundposition lässt sich als Machtrealismus bezeichnen. Der Machtrealismus interpretiert das Politische als einen Ort, in dem es wesentlich um den Erwerb, Erhalt und Gebrauch von Macht geht. Theoriegeschichtlich entsteht der moderne Realismus in Reaktion auf die Idee eines Völkerbundes, wie ihn etwa der amerikanische Präsident Woodrow Wilson (1856–1924) nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges vorangetrieben hat. Aber schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg weicht der Traum von einer internationalen Friedensordnung der Realpolitik des Kalten Krieges. Es setzt sich die Erkenntnis durch, dass die internationale Arena kein Ort für moralische Ideale ist, sondern ein Konfliktfeld nationaler aber auch ideologischer Machtinteressen. Für die nüchternste Variante des Machtrealismus, den Machiavellismus, ist die politische Praxis überhaupt nicht für moralische Erwägungen zugänglich. Politik ist für ihn ausschließlich Interessenspolitik – eine Engführung, die im Übrigen mit Machiavellis Republikanismus schwer zu vereinbaren ist (Machiavelli 1986/1532). Von der These, dass Gerechtigkeit und Politik zwei unverträgliche normative Ordnungen darstellen, ist eine moderate machtrealistische These
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zu unterscheiden. Diese besagt zwar ebenfalls, dass Macht der eigentliche Stoff des Politischen ist, sie räumt aber die Möglichkeit ein, dass Gerechtigkeit eine durchführbare und sogar vorteilhafte Weise der Machtkontrolle sein kann. Dieser moderate Theoriestrang hat zwei Vorzüge. Gegenüber dem Machiavellismus kann er die innerstaatliche Geltung von Gerechtigkeitsprinzipien erklären, ohne dahinter gleich eine rhetorische Fassade zu vermuten. Anstatt die Rede von Gerechtigkeit nur als machtpolitisches Instrument wahrzunehmen, anerkennt der moderate Machtrealismus, dass es gerechte Gesellschaftsordnungen gibt. Voraussetzung für deren Existenz ist aber, dass eine bestimmte Form politischer Herrschaft in Geltung ist. Die Wirklichkeit einer gerechten Gesellschaft hängt maßgeblich davon ab, dass ein System von sich wechselseitig kontrollierenden Institutionen zum Zwecke des Allgemeinwohls arbeitet. Ein zweiter Vorzug des moderaten Machtrealismus ist dann, dass er erklären kann, warum Gerechtigkeitsprinzipien auf staatlicher, nicht aber auf internationaler Ebene gelten. Innerhalb einzelner Staaten hat sich im Laufe der Zeit ein machtbalancierendes System herausgebildet, das auf globaler Ebene einfach nicht existiert. Auf dieser Ebene ist der primäre Stabilisationsfaktor nicht Gerechtigkeit, sondern Friedwilligkeit: Jeder Staat hat das Interesse, die humanitären Kosten eines Krieges gering zu halten und vor Eingriffen in seine innere Souveränität geschützt zu werden. Im Ergebnis verfügt der moderate Machtrealismus gegenüber dem Machiavellismus über eine eigene Gerechtigkeitstheorie; gegenüber dem Kosmopolitismus erweist sich diese allerdings als partikularistisch. Gerechtigkeit entsteht nicht auf dem Boden einer universalistischen Moral, sondern auf dem Terrain einer staatsinternen Machtkonstellation. Sie ist deswegen nur als institutionalisierte Gerechtigkeit denkbar, als Ausdruck einer bestimmten Form des Zusammenlebens unter einem effektiven Herrschaftsapparat.
Morgenthaus klassischer Realismus Vom machtrealistischen Standpunkt aus gesehen bildet die globale Arena ein anarchisches System, das, wie schon Hobbes erklärt hat,
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eher einem Kriegszustand denn einem Gerechtigkeitskontext ähnelt. Diese Einschätzung wird bis heute von führenden Realisten geteilt. Allen voran hat Hans J. Morgenthau in seinem Standardwerk Politics Among Nations (1948) die Grundlegung zu einer realistischen Theorie internationaler Politik erarbeitet, die er in sechs Grundsätzen zusammenfasst (ebd.: 4–15). In verdichteter Form lauten sie: 1. Anthropologische Grundlage: Die Natur des Menschen bildet die Basis politischer Gesetze. Diese Natur besteht im Streben nach Macht, das sich im Machtkampf zwischen den Nationen fortsetzt. 2. Definition des Politischen: Die Politik ist eine autonome Handlungssphäre, in der es wesentlich um die Durchsetzung von Interessen im Sinne von Macht geht. 3. Nationales Interesse: In der gegenwärtigen Konstellation ist die internationale Arena durch Konflikte zwischen nationalen Interessen gekennzeichnet. 4. Nationale Selbsterhaltung vs. universelle Moral: Für den Realisten haben universelle moralische Grundsätze zwar prinzipielle Gültigkeit, sie müssen aber über Klugheitsabwägungen gefiltert werden. In letzter Konsequenz wird dabei der Bestand des Nationalstaats höher gewichtet als moralische Prinzipien. 5. Gegen eine Moralisierung der Außenpolitik: Keine Nation ist berechtigt, ihr eigenes Moralsystem anderen Nationen aufzuzwingen. Vielmehr sollte sie ihre Interessen auf eine Weise verfolgen, die mit den Interessen anderer Nationen übereinstimmt. 6. Autonomie des Politischen: Die Sphäre des Politischen verfolgt eine gegenüber anderen Seinsbereichen eigenständige, am Machtbegriff orientierte Logik. In politischer Hinsicht handelt ein Nationalstaat erfolgreich, wenn er seine Macht stabilisiert oder ausbaut. Dagegen spielen religiöse, moralische oder ökonomische Maßstäbe bei der politischen Bewertung keine Rolle. Morgenthaus realistischer Position liegt eine bestimmte Sicht auf den Menschen zugrunde. Demnach ist der Mensch ein Wesen, das nach immer mehr Macht strebt. In dieser politischen Anthropologie verbinden sich rationale Elemente, die den Menschen als Nutzenmaximierer kalkulierbar machen, mit Elementen einer Nietzscheanischen Machtmetaphysik, wonach sich im Kampf um die Macht das Prinzip
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alles Lebendigen offenbart. Unter modernen Bedingungen setzt sich der natürliche Machtkampf zwischen den Individuen im Machtkampf zwischen den Nationen fort. Er lässt sich zwar vorübergehend in einem Gleichgewicht der Mächte befrieden, nicht aber endgültig überwinden.
Globale Gerechtigkeit als eine realistische Idee? Auf den ersten Blick scheidet Morgenthau die Behandlung internationaler Beziehungen weitgehend von der Frage nach Gerechtigkeit ab. Auf internationaler Ebene und unter politischer Perspektive stehen sich Einzelstaaten gegenüber, in deren Machtinteresse die Stabilisierung der internationalen Ordnung, nicht aber die Einführung globaler Gerechtigkeitsprinzipien liegt. Allerdings verschließt sich auch Morgenthau nicht vor der Möglichkeit einer machtrealistischen Begründung von Gerechtigkeit – und bei näherem Hinsehen sogar von globaler Gerechtigkeit. Dass sich auf globaler Ebene nationalstaatliche Interessen gegenüberstehen, zählt für ihn zu den unwiderruflichen historischen Gegebenheiten des zwanzigsten Jahrhunderts – Gegebenheiten, die für stabile Machtverhältnisse nicht eben günstig sind. Dennoch, so Morgenthau, »nichts in der realistischen Position widerstreitet der Annahme, dass die gegenwärtige Aufteilung der Welt in Nationalstaaten durch größere Einheiten einer ganz anderen Qualität ersetzt werden wird« (1948: 10). Allerdings kommt eine solche Transformation der politischen Einheiten nicht dadurch zustande, dass man »die politische Realität, die ihre eigenen Gesetze hat, mit abstrakten Idealen konfrontiert, die sich weigern, diesen Gesetzen Rechnung zu tragen« (ebd.: 10). Eine in nationale Interessen zerfallende Weltordnung ließe sich für Morgenthau durchaus in eine gerechte globale Ordnung verwandeln – allerdings nur dann, wenn sich die reale Machtkonstellation nach machtpolitischen Gesetzen zugunsten eines Weltstaats verändert. Denn in machtrealistischer Perspektive ist Gerechtigkeit notwendig an den Staat gekoppelt. Der Staat ist zugleich Entstehungsort und Garant sozialer Gerechtigkeit.
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Soziale Gerechtigkeit definiert Morgenthau als den Preis, den die mächtigsten Gruppen in einem Staat für den sozialen Frieden zu zahlen bereit sind. Gerechtigkeit ist aber nur dann die kostengünstigere Lösung, wenn ein handfester Kampf droht. In diesem Kampf werden Gerechtigkeitsansprüche zur Realität. Denn indem benachteiligte Gruppen ihren Kampf im Namen von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit oder Redefreiheit führen, werden diese Grundsätze zu »gefährlichen Waffen« (ebd.: 483), die die öffentliche Ordnung gefährden. Zwar kann ein System diese Forderungen eine Zeit lang unterdrücken; »trotzdem kann eine Gesellschaft es sich nicht leisten, Gerechtigkeitsansprüchen von großen und potentiell mächtigen Gruppen gegenüber taub zu bleiben, ohne das Risiko einer Revolution oder eines Bürgerkriegs einzugehen, das heißt, ohne den Frieden zu gefährden und sogar sein Überleben als ein integriertes Ganzes« (ebd.: 483). Mit einer hegelianischen Wendung ausgedrückt: Die Wahrheit sozialer Gerechtigkeit erweist sich erst in der Wirklichkeit sozialer Machtkämpfe. Ein vergleichbarer Kampf um globale soziale Gerechtigkeit, der den globalen sozialen Frieden gefährden könnte, ist vorerst nicht zu erkennen. Hinzu kommt, dass die globale Arena keine staatsanaloge Machtkonstellation aufweist, in der sich minderprivilegierte Gruppen organisieren und an die sie ihre Forderungen richten könnten. Aber auch wenn sich der Beginn eines globalen Widerstands in Form neuartiger politischer Bewegungen und sogar in Form eines neuartigen Terrorismus beobachten lässt, herrscht große Uneinigkeit darüber, gegen wen oder was sich der Widerstand eigentlich richtet, gegen den Kapitalismus, den Liberalismus, die amerikanische Hegemonie oder die industrialisierte Umweltzerstörung. Im Gegensatz zum Staat sind die Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf globaler Ebene sehr uneinheitlich, ebenso wie die Motive, aus denen globale Gerechtigkeitsansprüche erhoben werden. Da es unter den gegebenen Verhältnissen zumindest nicht im Interesse der mächtigsten Nationalstaaten liegt, globale soziale Gerechtigkeitsprinzipien einzuführen, ist aus realistischer Perspektive kein Weltstaat in Sicht. Schon gar nicht kann er aber über Nacht oder allein durch guten Willen entstehen. Trotzdem gibt es für Morgenthau ein fundamentales Interesse, das den Weltstaat selbst aus der Sicht heutiger Großmächte wün-
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schenswert machen könnte, nämlich ihr Sicherheitsinteresse, das im Atomzeitalter mehr denn je global verbindliche Regeln erfordert: »Es gibt keine Ausflucht vor der Konsequenz, dass internationaler Friede ohne einen Weltstaat nicht dauerhaft sein kann, und dass ein Weltstaat nicht unter den gegenwärtigen moralischen, sozialen und politischen Bedingungen auf der Welt geschaffen werden kann. […] es gibt auch keine Ausflucht vor der weiteren Konsequenz, dass zu keiner Zeit in der modernen Geschichte die Zivilisation mehr eines permanenten Friedens und somit eines Weltstaats bedurfte […]. Es gibt, schließlich, keine Ausflucht vor der Konsequenz, dass es keinen Staat ohne eine Gesellschaft geben kann, die ihn unterstützen kann und will, und dass es daher auch keinen Weltstaat ohne eine Weltgemeinschaft geben kann […]« (Ebd.: 491)
Das Dilemma, dass der Weltstaat zwar im übergeordneten Interesse aller Nationen liegt, dass aber eine entsprechende Weltgemeinschaft (world community) bestenfalls im Aufbau begriffen ist, versucht Morgenthau ausblickend mit der Idee einer Politik der wechselseitigen Annäherung zu lösen. Für eine solche Politik sind die moralischen, sozialen und politischen Bedingungen heute freundlicher einzuschätzen, als es Morgenthau unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Krieges für möglich gehalten hat. Wie fern die Entstehung eines Weltstaates auch liegt, so ist aus machtrealistischer Sicht festzuhalten, dass die gemeinsamen Interessen an Sicherheit und Stabilität nicht kleiner geworden sind, und dass daher nicht nur rechtsmoralische, sondern auch interessenspolitische Gründe für eine Weltinnenpolitik sprechen.
Zur Selbstorganisation des Mächtegleichgewichts im Neorealismus Morgenthaus Theorie läuft darauf hinaus, dass Staaten ein reales Interesse an einer globalen politischen Ordnung entwickeln, ja, dass ihr wesentliches Sicherheitsinteresse nachhaltig nur innerhalb eines Weltstaats gesichert werden könnte. In Fortführung von Morgenthaus machtrealistischer Perspektive, aber auch im Gegensatz zu seiner anthropologischen Grundlegung, hat der Neorealismus eine systemtheoretische Beschreibung internationaler Beziehungen entwickelt. Insbesondere Kenneth N. Waltz beschreibt in Theory of Interna-
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tional Politics (1979), wie sich das System internationaler Beziehungen immer wieder von selbst stabilisiert. In diesem System bilden Staaten die zentralen Einheiten. Ihr Verhalten ist dadurch bestimmt, dass sie ihre Souveränität im System internationaler Beziehungen zu sichern suchen, in einem System also, das im Gegensatz zum Staat dezentral und anarchisch organisiert ist. Das System internationaler Beziehungen hat kein Machtzentrum. Und im Gegensatz zu Morgenthau vertritt Waltz die Auffassung, dass die Errichtung eines solchen Machtzentrums auch nicht im sicherheitspolitischen Interesse der einzelnen Staaten liegt. Wie sich die einzelnen Einheiten innerhalb des Systems internationaler Beziehungen konfigurieren, hängt maßgeblich davon ab, wie mächtig die einzelnen Staaten sind. Die Struktur des Systems kommt dadurch zustande, dass schwächere Staaten ihre politischen Ziele in Allianzen mit mächtigen Nationen abzusichern versuchen und sich daher wie Satelliten um Machtzentren herumgruppieren. Offensichtlich schöpft auch dieses 1979 entworfene Bild noch aus der Erfahrung des Kalten Krieges, in dem sich um die Ordnungsmächte Sowjetunion und USA herum eine bipolare Weltordnung gruppiert hat. Waltz hebt aber hervor, dass sich das System internationaler Beziehungen ebenso in multipolaren oder hegemonialen Strukturen stabilisieren könnte, etwa dann, wenn sich, wie im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, eine einzige Großmacht als dominant erweist, oder wenn sich, wie zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, mehrere Großmachtsräume etablieren. Eigentümlich in Waltz systemtheoretischem Zugang ist, dass sich diese Machtbalance zwischen den Staaten quasi von selbst einstellt. Jede Veränderung im internationalen Machtgefüge führt zu einem systeminternen Umbau. Kann die Sowjetunion nicht mehr die Funktion eines Sicherheitsgaranten für ihre Satellitenstaaten erfüllen, spalten sich diese ab, um sich in Machtallianzen mit der EU oder den USA zu reorganisieren. Die Frage ist nun, ob sich nicht angesichts zunehmender wirtschaftlicher und machtpolitischer Abhängigkeiten eine neue Art von systemischer Stabilität einstellen könnte, eine globale Ordnung, in der sich nicht mehr machtpolitische Blöcke gegenüberstehen, sondern alle Staaten ihre Politik miteinander koordinieren müssen? Grund für diese Annäherung läge in der zunehmenden Interdependenz interna-
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tionaler Beziehungen, die Waltz als eine Situation beschreibt, »in der alles, was irgendwo in der Welt passiert, jemanden, oder jeden, anderswo betrifft« (ebd.: 139). In diesem globalen Aufeinander-Angewiesen-Sein müsste sich theoretisch eine symmetrische Machtbalance herausbilden, eine Machtbalance, in der sich die Einheiten als Gleiche begegnen. Gegen diese Vision einer ineinandergreifenden Weltordnung weist Waltz aber auf die Existenz bestehender Machtassymetrien hin. Faktisch sind Großmächte wie die USA nicht in derselben Weise von anderen Staaten abhängig wie diese von ihnen. Zwar sind auch die USA sicherheits- oder wirtschaftspolitisch in ein sich globalisierendes Interaktionsfeld eingebunden, sie können in ihm aber viel selbstbestimmter agieren als etwa ein Entwicklungsland. Deswegen gilt zwar, dass die Souveränität kleiner Staaten im Zuge der Globalisierung zu erodieren begonnen hat; deren Machtverlust hat aber eher zu einer Stärkung der Großmächte geführt. Der Idee, dass staatliche Einheiten im Zuge der Globalisierung in einen Superstaat verschmelzen könnten, erteilt Waltz daher eine klare Absage.
Autonomie des Politischen? Insbesondere aus der gerechtigkeitstheoretischen Perspektive, wie wir sie in diesem Band verfolgen, drängen sich eine ganze Reihe von Einwänden gegenüber der realistischen Position auf. Die meisten dieser Einwände kulminieren in der Frage, ob es gerechtfertigt ist, die Domäne internationaler Politik aus dem Bewertungsmaßstab der Gerechtigkeit herauszunehmen. Worin ließe sich die Autonomie des Politischen begründen? Morgenthau selbst liefert eine moralische Begründung; er vertritt in den Worten Otfried Höffes (1999: 268) einen normativen Realismus; das bedeutet, dass er die Ausblendung der Gerechtigkeitsfrage mit moralischen Gründen verteidigt. Wie Habermas will Morgenthau eine Ethisierung der Außenpolitik verhindern. Eine größere Herausforderung liefert dagegen Waltz’ systemtheoretischer Realismus. Sein, wie Höffe (ebd.) es nennt, explanatorischer Realismus enthält sich jeglicher moralischer Rechtfertigung. Waltz geht es lediglich darum, das Verhalten von Staaten zu erklären und prognostizierbar zu machen. Gegenüber diesem Anspruch ist kritisch zurückzu-
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fragen, ob sein Erklärungsansatz in sich richtig ist und ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Erklärung internationaler Beziehungen unabhängig von normativen Erwägungen zu entwickeln. Schon hinter die Frage, ob Waltz’ Beschreibungsmodell überhaupt empirisch überzeugen kann, ist ein Fragezeichen zu setzen. Ein Beispiel, mit dem er nur schwer umgehen kann, ist der europäische Vereinigungsprozess. An der freiwilligen Souveränitätsaufgabe der EU-Mitgliedstaaten wird deutlich, dass die Ebene des Politischen nicht einfach auf die Begriffe Macht, Selbstbestimmung und Sicherheit verkürzt werden kann. Auch wenn diese Begriffe fraglos zentral sind, lässt sich das außenpolitische Verhalten von Staaten nur vollständig erklären, wenn wir auch wirtschaftliche, kulturelle und ethische Kategorien hinzunehmen, Kategorien also, die in Waltz’ reduktionistischer Definition des Politischen eine untergeordnete Rolle spielen. Auch ist ihm darin zu widersprechen, dass Großmächte weitgehend unabhängig von neuen Risiken der Globalisierung bleiben. Fraglos wird es diesen Ländern besser gelingen, die Folgen neuartiger Risiken wie dem Klimawandel von sich fernzuhalten oder auszugleichen. Das bedeutet aber nicht, dass sie unabhängig von diesen Problemen sind. Vielmehr drohen im Zuge einer deregulierten Globalisierung politische Kosten aufzulaufen, die in zunehmendem Maße auch die Unabhängigkeit von Großmächten einschränken. Während sich also Vorbehalte dagegen erhärten lassen, dass die Autonomie des Politischen eine realistische Annahme ist, müssen wir uns zum Schluss der Frage zuwenden, wie sinnvoll eine Theorie der internationalen Beziehungen eigentlich ist, die Gerechtigkeitserwägungen von vornherein ausklammert. Der Sinn einer Theorie ist einerseits, Vorgänge verstehbar zu machen, andererseits, Handlungen anzuleiten. In Hinsicht auf den zweiten Aspekt ist der explanatorische Realismus lediglich eine unvollständige Theorie. Er zeigt zwar Funktionsmechanismen auf, liefert aber keine Grundlage politischen Handelns. Um im Sinne des Realismus außenpolitische Entschlüsse zu fassen, bedarf es einer zusätzlichen Theorie darüber, welche Handlungen angesichts der gegebenen Machtkonstellation richtig oder falsch sind. Kurz, der explanatorische Realismus muss notwendig um eine normative Theorie ergänzt werden. Dass er die Gerechtigkeitsfrage nicht stellt, bedeutet nicht, dass politische Akteure sie
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nicht stellen müssen. Was der Realismus also leistet, ist, dass er anregt, sich vertiefend mit der Frage politischer Macht auseinanderzusetzen und die Verwirklichungsbedingungen von Gerechtigkeit realistisch einzuschätzen. Die normative Frage aber, was eine Stabilität aus den richtigen Gründen wäre, kann er der Theorie globaler Gerechtigkeit nicht abnehmen.
5.2 Liberaler Nationalismus: David Miller Universalistischer Nationalismus Das Zeitalter der Nationalstaaten erlebte seine Blüte im 18. und 19. Jahrhundert und feiert heute ein erstaunliches Comeback. Während auf der einen Seite die globalen Einflüsse zunehmen, wächst auf der anderen Seite die Rückbesinnung auf gemeinschaftliche Wurzeln und lokale Zugehörigkeiten. Dieses Wiedererstarken des Nationalismus kann durchaus als Abwehrreaktion auf eine neue Unübersichtlichkeit gedeutet werden. Im anbrechenden 21. Jahrhundert schöpft der Nationalismus paradoxerweise vor allem aus solchen Ängsten, die aus der zunehmenden Gestaltungsohnmacht der Nationalstaaten herrühren. Positiv ausgedrückt offenbart sich in den neuen nationalistischen Bewegungen ein gemeinsamer Wunsch, die politische Gestaltungskraft im Zeitalter der Globalisierung zurückzugewinnen. Der Begriff der Nation wird umgangssprachlich häufig mit dem Staat oder auch mit der ethnischen Gemeinschaft gleichgesetzt. Wenn eine Person sagt, ›ich bin Amerikanerin‹ oder ›ich bin Kurdin‹, will sie aber nicht einfach ihre Staatszugehörigkeit zum Ausdruck bringen. Was den Begriff der Nation vom Staat unterscheidet, ist, dass man sich mit einer Nation identifizieren kann und diese nationale Identität ist ein bedeutender Teil der personalen Identität. So wird das Selbst- und Weltverständnis einer Person ganz wesentlich über die öffentliche Kultur ihrer Nation geprägt. Sie ist mit ihren Gründungsmythen und Symbolen vertraut, feiert gemeinsame Nationalfeiertage, fiebert mit ihrem Nationalteam und spricht in der Regel eine gemeinsame Sprache, in der sich eine gemeinsame Geschichte, aber auch
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eine gemeinsame Erzähltradition und damit eine gemeinsame Weise, sich selbst in der Welt zu sehen, mitteilt. Ganz entscheidend aber ist, dass sich eine Nation als politische Gemeinschaft versteht. Darin grenzt sich der Begriff der Nation wiederum gegenüber der ethnischen Gemeinschaft ab. Eine Ethnie (von gr.: éthnos: Volkszugehörigkeit; im Gegensatz zu demos: Staatszugehörigkeit) ist zwar ebenfalls durch eine gemeinsame kulturelle Identität verbunden, also durch eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Wertvorstellungen und gemeinsame Handlungen, aber zum Begriff der Nation kommt die politische Selbstbestimmung als identitätsstiftendes Element hinzu. Entsprechend gibt es multiethnische Nationen, die wie im Fall der USA über einen politischen Patriotismus verbunden sind, einen Patriotismus, der sich zwar auch an einem gemeinsamen Traum vom Wohlstand und nationalen Gründungsmythen orientiert, aber maßgeblich eben auch an den Verfassungsgrundsätzen und den integrativen Leistungen der politischen Nation. Das bedeutet zwar nicht, dass jede Nation ihren eigenen Staat benötigt, wohl aber, dass jede Nation einen gewissen Grad an politischer Autonomie anstrebt. In der politischen Theorie hat der Nationalismus in den letzten Jahrzehnten ebenso an Kontur gewonnen. Als eine entschiedene Gegenposition zum Kosmopolitismus vertritt der gerechtigkeitstheoretische Nationalismus die These, dass es legitim ist, Mitbürgern (präziser wäre: co-nationals) Priorität gegenüber den Angehörigen anderer Nationen einzuräumen. Mitbürger gelten als privilegierte Subjekte der Gerechtigkeit. Diese These wird sowohl vom partikularistischen als auch vom universalistischen Nationalismus geteilt. Der partikularistische Nationalismus ist mit dem Bekenntnis verbunden, dass eine Nation auserwählt oder überlegen ist und dass deren Angehörige qua Nationalität einen höheren moralischen Wert beanspruchen können (vgl. Mandle 2006: 36f.). Während diese chauvinistische Variante gar nicht allgemein begründungsfähig ist und sich als Gerechtigkeitstheorie von selbst disqualifiziert, behauptet der universalistische Nationalismus lediglich, dass Nationen schützenswerte ethische Gemeinschaften darstellen und dass Angehörige dieser besonderen ethischen Gemeinschaft besondere Verpflichtungen füreinander eingehen. Diese ausgesprochen anschlussfähige Version eines universalistischen Nationalismus vertritt der Gerechtigkeitstheoretiker David Miller, mit dessen
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Beitrag wir uns zu weiten Teilen bereits oben in der Frage nach unserer Verantwortung für globale Armut auseinandergesetzt haben (vgl. Kap. 2.3). Im Grundsatz vertritt Miller einen ›moderaten Nationalismus‹: »Die Pflichten, die wir unseren Mitbürgern [fellow nationals] schulden«, sind für Miller zwar »verschieden von und weitgehender als die Pflichten, die wir Menschen als solchen schulden. Das bedeutet aber nicht«, setzt er gleich hinzu, »dass wir Menschen als solchen keine Pflichten schulden« (1995: 111).
Ethischer Partikularismus Für Miller ist es das zentrale Definitionsmerkmal des Nationalismus, dass Nationen Gemeinschaften sind, die einen eigenberechtigten Kontext wechselseitiger Gerechtigkeitspflichten bilden: »Indem ich eine nationale Identität annehme, anerkenne ich auch, dass ich Mitgliedern meiner Nation spezielle Verpflichtungen schulde, die ich anderen Menschen nicht schulde« (ebd.: 49). Die Frage an Miller lautet nun, worin es moralisch gerechtfertigt ist, einigen Menschen Priorität einzuräumen, nur weil sie derselben Nation angehören. Seine Antwort gründet in einem ethischen Partikularismus. Im Gegensatz zum Kosmopolitismus ruft Millers Partikularismus »ein ganz anderes Bild des ethischen Universums auf, eins, in dem Akteure immer schon eingebettet sind in unterschiedliche Bindungen und Verpflichtungen gegenüber partikularen Akteuren, Gruppen oder Kollektiven und in dem ihr Nachdenken über ethische Prinzipien bei diesen Verpflichtungen ansetzt« (ebd.: 50). Aus Sicht des ethischen Partikularismus existieren gar keine universellen Pflichten, jedenfalls keine, die unabhängig von zwischenmenschlichen Beziehungen entspringen. Verpflichtungen ergeben sich erst im Zusammenhang konkreter Beziehungen. Beispielsweise sind Gerechtigkeitspflichten ganz besondere Pflichten, die nur innerhalb ganz bestimmter Beziehungssysteme zustande kommen. Vor allem begründen Gerechtigkeitspflichten öffentliche Sanktionen innerhalb dieses Beziehungssystems und vor diesem Hintergrund begreift Miller die Gerechtigkeitspflichten, die die Angehörigen einer Nation füreinander haben, gar nicht als Bevorzugung oder Abgrenzung einer
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bestimmten Gruppe, sondern als die schlichte Konsequenz besonderer Verpflichtungen, wie sie überhaupt nur innerhalb von Nationen entstehen, gegenüber anderen Menschen aber gar nicht erst bestanden haben. Ein Vorteil des ethischen Partikularismus liegt darin, dass er mühelos erklären kann, warum Menschen motiviert sind, ihre Pflichten der Gerechtigkeit zu erfüllen: »Indem ich mich selbst als ein Mitglied betrachte«, erläutert Miller, »fühle ich eine Loyalität gegenüber der Gruppe, und die äußert sich neben anderen Dingen darin, dass ich den Interessen der anderen Mitglieder ein besonderes Gewicht einräume« (ebd.: 65). Wer als Vater, als Polizist oder als Franzose auf die Welt blickt, muss nicht eigens über seine Loyalität aufgeklärt und zu seinen besonderen Pflichten gezwungen werden. Dass ein Vater sein Kind zu beaufsichtigen hat, fällt, wie eingangs gesagt, einfach in seine assoziative Verantwortung, eine Verantwortung, die an konkrete Beziehungsformen gebunden ist und die er in der Regel als Teil seiner Identität von selbst erfüllen will. Kommunitaristen wie Michael Walzer (1983: 71–78) haben entsprechend argumentiert, dass solche Verbindlichkeiten auf Gemeinschaften beschränkt sein müssen, die einen gemeinsamen Wertehorizont und eine Lebensform (einen way of living) teilen. Zum Vorbild dieses Arguments dient häufig die antike Polis, in der sich die Bürger von Auge zu Auge gegenüberstehen und eine Scham- bzw. Sittlichkeitsgemeinschaft bilden. Mit Blick auf übersichtlich organisierte Stadtstaaten greift die Konstruktion assoziativer Verantwortlichkeiten in Analogie zur Familie noch problemlos. Ein gemeinsamer Kultus und geteilte Sympathien sorgen dafür, dass die Bürger ein korporatives Selbstverständnis entwickeln. Sie anerkennen sich selbst als ein Teil eines größeren Ganzen, von dessen Existenz sie abhängen und dessen Ziele auch ihre Ziele sind. Wäre die Welt in solche Gemeinschaften geschnitten, würden Personen ausschließlich Interessen ausbilden, die mit dem Wohl und den Werten dieser Gemeinschaft verknüpft sind. Im Gegensatz zur Familie oder Polis handelt es sich
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bei einer modernen Nation aber in der Regel um eine pluralistische und multiethnische Gesellschaft.85 Trifft es, so die zentrale Frage, unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch zu, dass die Bürger das Wohl ihrer Nation in einem vergleichbaren Sinne zu ihrem eigenen Wohl machen? Was die Nation vereint und die nationale Identität so bedeutend macht, ist nach Miller nichts anderes als die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Dabei stellt die Nation nicht einfach einen möglichen Kontext sozialer Gerechtigkeit dar; vielmehr markiert sie die einzige Domäne zu ihrer Realisierung. Die Nation organisiert ein einzigartiges Beziehungssystem, das einerseits für die Entstehung sozialer Gerechtigkeitspflichten konstitutiv ist, und das andererseits wiederum über seine Funktion, soziale Gerechtigkeit herzustellen, zusammengehalten wird. Was die Nation als Beziehungssystem so einzigartig für die Entstehung sozialer Gerechtigkeitspflichten macht, ist ihre Kombination aus kulturellen und politischen Aspekten.86 Zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit bedarf es für Miller zunächst einer gemeinsamen Nationalkultur, in der die Angehörigen einer Nation eine gemeinsame Einstellung zur Gerechtigkeit erwerben, bevor sie überhaupt Ansprüche auf sie erheben können. Darin erhält der Gerechtigkeitsbegriff sowohl seine inhaltliche Bestimmung als auch seine verbindliche Anerkennung als ein gemeinschaftlicher Grundwert. Zweitens braucht es ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl, damit die Gebote sozialer Gerechtigkeit nicht als äußerliche Einschränkungen an den Einzelnen herantreten, sondern als ein Ausdruck seiner eigenen
—————— 85 Dass die Nation dennoch ein Ort besonderer Loyalitäten ist, macht Miller daran fest, dass immer wieder Menschen ihr Leben für die Unabhängigkeit ihrer Nation opfern: »Die Qualität der Nation als einer Quelle personaler Identität bedeutet, dass die Verpflichtungen stark gefühlt werden und eventuell sehr weitreichend sind – Menschen sind bereit, sich auf eine Weise für ihr Land aufzuopfern, wie sie es nicht für andere Gruppen oder Verbindungen tun würden.« (Ebd.: 70) 86 Miller definiert eine Nation über insgesamt fünf Merkmale. Sie wird durch geteilte Überzeugungen und wechselseitige Verbindlichkeiten zusammengehalten (1); sie hat historische Beständigkeit (2); organisiert gemeinsame Handlungen (3); ist an einen bestimmten geographischen Ort gebunden (4) und unterscheidet sich von anderen Gemeinschaften durch ihre besondere öffentliche Kultur (5) (ebd.: 23–27). Die Zusammengehörigkeit einer Nation muss sich, wie Miller mit Renan ausdrückt, in einem »täglichen Plebiszit« (ebd.: 23) erweisen.
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Identität. Die Identifikation mit der Nation ist nicht nur darin motiviert, dass sie ihren Mitgliedern soziale Sicherheit garantiert, sondern vor allem darin, dass sie den Einzelnen in eine politische Solidargemeinschaft integriert, in der soziale Gerechtigkeit keine abstrakte Forderung ist, sondern als ein Ausdruck seiner selbst verstanden werden kann. Und drittens sorgt die territoriale und politische Einheit einer Nation dafür, dass Ansprüche sozialer Gerechtigkeit institutionell organisiert und durchgesetzt werden können. Darum ist für Miller die Nation der einzige Ort, an dem sich soziale Gerechtigkeitsansprüche überhaupt ergeben, auf Akzeptanz stoßen und in kollektive Handlungen verwandelt werden.
Liberaler Nationalismus In ihrer Kritik am Nationalismus übersehen Kosmopolitisten leicht, dass Millers Theorie einen weitreichenden Menschenrechtsansatz beinhaltet. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen nationaler und globaler Gerechtigkeit vertritt Miller einen sozialen Liberalismus, wie wir ihm schon bei Rawls, Benhabib oder Forst begegnet sind. Nach Beitz bezeichnet der soziale Liberalismus ein zweistufiges Modell, in dem partikulare Gerechtigkeitsdomänen für das Wohlergehen der Bevölkerung zuständig sind, während die Weltgemeinschaft die Aufgabe hat, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen »gerechte heimische Gesellschaften sich entwickeln und florieren können« (1999: 215). In National Responsibility and Global Justice (2007) bezeichnet Miller seine Version dieses zweistufigen Modells als liberalen Nationalismus. Damit ist ebenfalls die Vorstellung verbunden, »dass das Streben nach Gerechtigkeit eine Arbeitsteilung zwischen der inländischen und der internationalen Sphäre beinhaltet, wobei Staaten die primäre Verantwortung dafür tragen, gegenüber ihren Bürgern für soziale Gerechtigkeit zu sorgen, während die hauptsächliche Aufgabe der internationalen Gemeinschaft darin besteht, die Bedingungen zu erschaffen, unter denen diese Verantwortung ausgeübt werden kann.« (Ebd.: 21) Während soziale Gerechtigkeit auf die Domäne der Nation beschränkt ist, schreibt Miller der internationalen Arena die Funktion
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zu, den Frieden zwischen den Nationen zu sichern, strukturschwachen Nationen zu helfen und die Menschenrechte zu garantieren. In diesen Punkten stimmt er fast wörtlich mit Rawls überein. Ein Unterschied besteht allerdings darin, dass Miller positive Gerechtigkeitspflichten gegenüber Armut in anderen Ländern viel offensiver anerkennt: »Wir haben Verpflichtungen, die Rechte anderer zu achten, die nur aus unserer gemeinsamen Humanität herrühren; zum größten Teil sind dies Unterlassungspflichten verschiedener Art – das Recht, in Ruhe gelassen und nicht auf irgend eine Art verletzt zu werden, etc. – aber sie können durchaus auch Fürsorgerechte enthalten, zum Beispiel in Fällen, wenn Menschen aufgrund einer natürlichen Ressourcenknappheit verhungern oder körperlich leiden müssten, wenn andere Menschen diese Ressourcen nicht zur Verfügung stellen würden.« (Ebd.: 74)
Miller beschränkt zwar soziale Gerechtigkeit auf Nationen, aber anerkennt doch zugleich, dass es globale Gerechtigkeitspflichten gegenüber fundamentalen Menschenrechten gibt und zählt sozioökonomische Menschenrechte ausdrücklich dazu. Dieser Zusatz verändert den sozialen Liberalismus von Grund auf, weil dadurch globale mit nationalen Gerechtigkeitspflichten in Konkurrenz geraten. Hatte Rawls die Pflichten gegenüber Menschenrechten eher auf negative Pflichten, also auf die Unterlassung von Schädigungen, beschränkt, sieht Miller wohlhabende Nationen prinzipiell auch in der positiven Pflicht, einen minimalen Lebensstandard in anderen Nationen zu sichern. Im Angesicht globaler Armut und unter den Bedingungen knapper Ressourcen tut sich ein erhebliches Konfliktpotential auf. Sind wir verpflichtet, mehr Geld in unser Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssystem zu stecken, oder steht dieses Geld eher denen zu, denen das Menschenrecht auf einen minimalen Lebensstandard versagt wird? Von neuem vor die Prioritätsfrage gestellt, klingt Millers grundsätzliche Antwort ganz und gar nicht nationalistisch: »Unsere globale Pflicht, Menschenrechte zu achten, hat«, betont Miller, »Vorrang vor Pflichten der Verteilungsgerechtigkeit gegenüber unseren Mitbürgern« (ebd.: 44). Wie schon oben kritisch diskutiert wurde, relativiert Miller diese Priorität für Menschenrechte allerdings erheblich, indem er die meisten Armutsprobleme in die kollektive Verantwortung der betroffenen Nationen verweist (vgl. Kap. 2.3). Wenn diese Nationen ihrer Eigen-
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verantwortung für soziale Mindeststandards nicht gerecht werden – sei es aufgrund von Misswirtschaft, sei es aufgrund von Ungleichverteilung –, dann bleibt den unbeteiligte Nationen das Recht unbenommen, ihren eigenen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit Priorität einzuräumen, im Übrigen auch dann, wenn das eigene Niveau sozialer Gerechtigkeit sehr hoch ist, und wenn in anderen Ländern dramatische Hungersnöte herrschen. Wenn aber die betroffene Nation ihrer kollektiven Verantwortung gar nicht nachkommen kann – sei es aufgrund von Kriegen, sei es aufgrund von Naturkatastrophen –, dann räumt Miller der globalen Katastrophenhilfe den Vorrang vor nationaler sozialer Gerechtigkeit ein. Eine Nation dürfte ihr Gesundheits- oder Bildungssystem nicht auf Kosten der Armutsbekämpfung verbessern, wenn diese Armut gravierend ist und ihre Ursachen nicht in die Eigenverantwortung der betroffenen Nation fallen. Vor allem aber wäre es für Miller illegitim, Fragen sozialer Gerechtigkeit einen Vorrang gegenüber negativen Pflichten einzuräumen. »Nehmen wir an«, so Miller, »dass die Weltarmut gänzlich in die (verursachende) Verantwortung reicher Gesellschaften und ihrer Regierungen fällt. Dann würden die Bürger dieser Gesellschaften aushelfende Gerechtigkeitspflichten haben, die durchaus die internen Pflichten sozialer Gerechtigkeit übertrumpfen könnten (wie etwa ihre Pflicht, einen weitgehenden Sozialstaat einzurichten).« (Ebd.: 261) 87
—————— 87 Insgesamt unterscheidet Miller vier Verpflichtungen mit sehr unterschiedlichen Verpflichtungsgraden: a) Die negative Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu unterlassen. Der innerstaatliche Wohlstand darf beispielsweise nicht auf Ausbeutung anderer Länder basieren. b) Die positive Pflicht, die Grundrechte für die Personen zu sichern, für die wir verantwortlich zeichnen, beispielsweise für behinderte Mitbürger oder die Katastrophenopfer in anderen Ländern. c) Die positive Pflicht, Menschenrechtsverletzungen durch dritte Parteien zu verhindern, etwa eine Pflicht, bei Genozid zu intervenieren. d) Die positive Pflicht, die Grundrechte anderer zu sichern, wenn die zuständigen Parteien ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind, zum Beispiel die Spende von Lebensmitteln an Länder, die ihre Armut selbst verursacht haben. (Ebd.: 47)
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5.3 Der Staat als Domäne sozialer Gerechtigkeit: Thomas Nagel Gerechtigkeitstheoretischer Etatismus Der in New York lehrende Rechtsphilosoph Thomas Nagel (geboren 1937) hat sich in den letzten Jahrzehnten auf allen Feldern der praktischen und theoretischen Philosophie einen Namen gemacht. Wie kaum ein anderer Denker unserer Zeit gelingt es ihm, philosophische Debatten auf den Punkt zu bringen und ihnen mit kurzen, aber äußerst scharfsinnigen Beiträgen eine neue Wendung zu geben. Eine solche Wirkung lässt sich schon jetzt für seine 2005 erschienene Vorlesung »The Problem of Global Justice« feststellen. Darin bilanziert er die bisherige Debatte, wendet sich gegen die kosmopolitische Entgrenzung von Gerechtigkeitspflichten und skizziert die Grundzüge einer partikularistischen Gerechtigkeitstheorie. Gerechtigkeit, hier immer im engeren Sinne von sozialer Gerechtigkeit, ist für Nagel notwendig auf den Staat beschränkt. Daher lässt sich sein Ansatz als gerechtigkeitstheoretischer Etatismus verstehen, als eine Position, in der Ansprüche auf gleiche Bürgerrechte, politische Beteiligung und ökonomische Verteilung nur dort berechtigt sind, wo Menschen in einem souveränen Staat zusammenleben.88 Was den Staat für Nagel so besonders macht, ist, dass er auf einzigartige Weise kollektives Handeln mit machtpolitischer Souveränität verbindet. Um diesen Zusammenhang zwischen Souveränität, kollektivem Handeln und sozialer Gerechtigkeit zu verdeutlichen, verknüpft Nagel drei Theorieelemente, die wir unabhängig voneinander bereits bei Thomas Hobbes, John Rawls und Jean-Jacques Rousseau kennengelernt haben. Von Hobbes übernimmt er die machtrealistische Einsicht, dass Gerechtigkeit und Souveränität in konstitutiver Beziehung zueinander stehen. Gerechtigkeit ohne Souveränität ist utopisch, Souveränität ohne Gerechtigkeit illegitim. Das bedeutet, dass Gerechtigkeit auf eine zentrale politische Macht angewiesen ist, gegenüber der Gerechtigkeitsansprüche überhaupt erst entstehen, an die sie adressiert und mit der sie vor allem auch durchgesetzt werden können:
—————— 88 Eine ähnliche Position vertreten Blake (2002) und Sangiovanni (2007).
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»Was die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Souveränität hervorruft, ist etwas, das viele Gerechtigkeitskonzeptionen gemein haben: sie alle hängen von der Verhaltenskoordination einer großen Zahl von Menschen ab, die ohne das durch ein Gewaltmonopol unterstützte Recht nicht zustande kommen kann. […] Diese Absicherung erfordert die externe Motivation durch einen Souverän, der dafür sorgt, dass individuelles und kollektives Eigeninteresse zusammentreffen.« (Ebd.: 115)
Die Notwendigkeit einer Absicherung (need for assurance) der Gerechtigkeit durch einen Souverän hat auch dann Bestand, wenn wir ein freundlicheres Bild der menschlichen Natur zugrundelegen als Hobbes oder Morgenthau. Denn selbst wenn wir von einer einigermaßen optimistischen politischen Anthropologie ausgehen und uns den Menschen mit Grotius und Nussbaum als ein zur Vergesellschaftung neigendes Wesen denken, bedarf es nach Nagel nichtsdestotrotz eines zentralen Gewaltmonopols, das normenkonformes Verhalten garantiert und die Erwartungsstabilität erzeugt, auf die moderne Gesellschaften dringend angewiesen sind. Kurz, die Verwirklichung von Gerechtigkeit ist an eine souveräne Institution gebunden, für die der Rechtsstaat ein bereits vorhandenes und bewährtes Modell abgibt. Ein zweites Element für seine etatistische Theorie findet Nagel bei Rawls. Es ist dessen politische Gerechtigkeitskonzeption, über die sich Nagel zugleich auch gegenüber dem moralischen Kosmopolitismus abgrenzt. Was die politische gegenüber der moralischen Gerechtigkeitskonzeption auszeichnet, macht Nagel in einem Rekurs auf Liam Murphy deutlich. Murphy (1998) unterscheidet zwischen monistischen und dualistischen Gerechtigkeitskonzeptionen. Der Monismus legt ein und dasselbe moralische Prinzip zugrunde, ganz gleich, ob es um die Bewertung menschlicher Handlungen oder um die Gerechtigkeit von Institutionen geht. In diesem Sinne vertreten moralische Kosmopolitisten wie Höffe oder Nussbaum einen gerechtigkeitstheoretischen Monismus. Das heißt, sie beurteilen politische Institutionen mit ein und demselben Maßstab, mit dem sie auch intersubjektives Verhalten bewerten – etwa nach Maßgabe der universellen Würde des Menschen. Für den gerechtigkeitstheoretischen Dualismus hingegen sind es zwei grundverschiedene Fragen, ob sich ein Individuum moralisch verhält oder ob politische Institutionen gerecht sind. Um dies zu
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beurteilen, braucht es, so Nagel, »auf der grundlegenden Ebene zwei verschiedene Arten praktischer Prinzipien« (ebd.: 122). Moralische Kosmopolitisten begehen für Nagel einen Kategorienfehler, wenn sie politische Institutionen mit universellen moralischen Prinzipien bewerten. Insbesondere soziale Gerechtigkeit hat für ihn gar keine universalistische, sondern einzig eine politische Bedeutung. Pflichten sozialer Gerechtigkeit lassen sich nicht als vorpolitische Ansprüche verstehen; vielmehr treten sie erst in ganz bestimmten politischen Konstellationen auf, in denen Personengruppen an der Macht oder am Wohlstand beteiligt werden wollen. Wo diese Beziehungen fehlen, macht es für Nagel von vornherein keinen Sinn, von sozialer Gerechtigkeit zu sprechen: »Unter der politischen Konzeption fungieren souveräne Staaten nicht einfach als Instrumente, um den vorinstitutionellen Wert von Gerechtigkeit unter den Menschen zu realisieren. Statt dessen ist es gerade ihre Existenz [die Existenz sozialer Institutionen, HH], die dem Wert der Gerechtigkeit sein Anwendungsgebiet gibt, indem sie Mitbürger eines souveränen Staates in eine Beziehung setzen, die sie nicht mit der restlichen Menschheit teilen, eine institutionelle Beziehung, die dann mit den besonderen Standards von Fairness und Gleichheit bewertet werden muss, die den Inhalt der Gerechtigkeit ausfüllen.« (Ebd.: 120)
In Nagels etatistischer Sichtweise stellen sich soziale Gerechtigkeitsfragen ausschließlich in Bezug auf staatliche Institutionen, und zwar nicht nur, weil der souveräne Staat die faktische Durchsetzungsmacht besitzt, sondern auch, weil Gerechtigkeit bereits konzeptionell als eine politische Verpflichtung verstanden wird. Entsprechend bezeichnet er Gerechtigkeit auch als eine assoziative Verbindlichkeit (associatice obligation; ebd.: 121), eine Verbindlichkeit, die aus bestimmten Beziehungen resultiert und nur im Kontext dieser Beziehungen Gültigkeit hat. Dass soziale Gerechtigkeitsansprüche »ganz und gar assoziativ« sind, hat für ihn damit zu tun, dass wir dabei bestimmte Rechte einfordern: »Rechte entstehen nur dadurch, dass wir mit anderen in einer politischen Gesellschaft unter einer starken zentralisierten Herrschaft verbunden sind. Einzig und allein gegenüber solch einem System und gegenüber den anderen Mitgliedern können wir ein Recht auf Demokratie, gleiche Bürgerrechte,
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Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit und die […] Verteilung von sozialen und ökonomischen Gütern einfordern.« (Ebd.: 127)
Was aber macht die Beziehungen zwischen Staatsbürgern so besonders, dass sich an ihnen und nur an ihnen weitgehende Ansprüche auf Gleichheit und soziale Gerechtigkeit rechtfertigen lassen? An dieser Stelle fügt Nagel seinem gerechtigkeitstheoretischen Etatismus ein drittes Theorieelement hinzu. Zunächst wendet er sich gegen Rawls, der soziale Gerechtigkeitsansprüche darüber begründet, dass der Staat eine Vereinigung zum wechselseitigen Vorteil darstellt und dass soziale Gerechtigkeit die Voraussetzung dafür ist, dass alle Bürger in ein System wechselseitiger Zwänge einwilligen. Dagegen betont Nagel, dass sich Menschen nicht freiwillig für ihre Staatszugehörigkeit entscheiden, sondern zufällig in einen Staat hineingeboren werden. Sie fordern nicht, für ihren freiwilligen Beitritt, sondern für ihre unfreiwillige Mitgliedschaft kompensiert zu werden. Hinzu kommt, dass die staatsbürgerliche Mitgliedschaft eine besondere Form der sozialen Verbindlichkeit mit sich führt, die ein besonderes moralisches Gewicht trägt. Dies liegt, wie Nagel es mit Rousseau ausdrückt, an einer besonderen Einbindung des Willens in einer politischen Gesellschaft. Denn als Staatsbürger sind wir zugleich Untertanen der Gesellschaft und Teil der Autorität, die »in unserem Namen« (ebd.: 128) ausgeübt wird. »Man könnte sogar sagen«, so Nagel »dass wir alle Teilnehmer am Allgemeinwillen sind« (ebd.: 128). Unsere besondere Rolle als Staatsbürger verlangt nicht nur, dass wir uns mit dem Rechtsstaat arrangieren, sondern sie macht uns selbst zu Organen des Rechtsstaats, die seine Entscheidungen verantworten müssen – selbst dann, wenn wir sie nicht teilen. Obwohl wir einzelnen Entscheidungen und Handlungen nicht zustimmen, werden sie in unserem Namen ausgeführt. Und während unsere staatsbürgerliche Mitgliedschaft diesen vereinnahmenden Zwang mit sich führt, steht es uns nicht einmal frei, über unseren Beitritt selbst zu entscheiden. Dieser doppelte Zwang, so Nagel, kann nur über die strukturelle Fairness der Mitgliedschaft gerechtfertigt werden; das heißt, die staatsbürgerliche Zwangsmitgliedschaft ist nur unter der Voraussetzung zu legitimieren, dass alle Mitglieder an den politischen Entscheidungen teilnehmen und am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben:
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»In Kürze, der Staat stellt einzigartige Forderungen an den Willen seiner Mitglieder – oder die Mitglieder stellen über staatliche Institutionen einzigartige Forderungen aneinander – und diese außergewöhnlichen Forderungen führen außergewöhnliche Verpflichtungen mit sich, nämlich positive Gerechtigkeitspflichten.« (Ebd.: 130)
Wenn wir die drei Theorieelemente in Nagels gerechtigkeitstheoretischem Etatismus kurz rekapitulieren, dann braucht soziale Gerechtigkeit zu ihrer Durchsetzung souveräne Macht, zu ihrer Entstehung aber überhaupt eine politische Gesellschaft. Und da die Mitgliedschaft im Staat unfreiwillig ist, die Staatsbürger aber trotzdem in der kollektiven Verantwortung für staatliche Handlungen stehen, unterliegt der Staat und nur der Staat ganz spezifischen Legitimationskriterien, die sich als politische, wirtschaftliche und bürgerliche Grundrechte ausbuchstabieren lassen. Zumindest in absehbarer Zeit, so zeigt sich Nagel überzeugt, wird nur die Institution des Staates dieses Zusammenspiel von Macht, politischer Koordination und Einbindung in einen Allgemeinwillen organisieren können.
Übergang zum politischen Kosmopolitismus Wie Nagel selbst bemerkt, könnte ein Kosmopolitist seine Argumentation bis zu dieser Stelle teilen und trotzdem seine etatistischen Konsequenzen verwerfen. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Nagel und Vertretern des politischen Kosmopolitismus ist nämlich letztlich nicht in der Argumentationslinie zu suchen, sondern in der Analyse der Globalisierung. Politische Kosmopolitisten wie Habermas oder Forst teilen die Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit und rechtsstaatliche Souveränität konstitutiv aufeinander bezogen sind, sie sehen aber auch, dass die Souveränität einzelner Staaten im Zuge der Globalisierung zu erodieren beginnt und dass sich Souveränität faktisch zwischen Staaten und transnationalen Institutionen aufstaffelt. Im Gegensatz zum moralischen Kosmopolitismus anerkennt der politische Kosmopolitismus, dass bestimmte Ansprüche auf Verteilungsgerechtigkeit und Beteiligung aus bestimmten politischen Beziehungen resultieren. Eine politische Gerechtigkeitskonzeption muss aber nicht unbedingt in einem partikularistischen Weltbild münden.
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Thomas Pogges Forderung nach globaler sozialer Gerechtigkeit setzt beispielsweise ausdrücklich an einer Analyse der politischen Globalisierung an. Weil globale Institutionen, Regeln und Praktiken einen erheblichen Einfluss auf die internen Angelegenheiten von Staaten und das Leben von Staatsbürgern ausüben, markieren sie mittlerweile einen wirkmächtigen politischen Kontext, gegenüber dem sich nicht nur moralische, sondern auch politische Ansprüche auf Demokratisierung oder Gleichheit anbringen lassen. Vorausgesetzt also, dass die politische Globalisierung weiter voranschreitet, wären wir auch im Rahmen der Nagelschen Argumentation berechtigt, globale soziale Gerechtigkeit zu fordern.89 Was also hat Nagel dieser Position entgegenzusetzen? Zunächst kann es für ihn schon deswegen keine Analogie zwischen nationalen und internationalen Institutionen geben, weil er internationale Institutionen als freiwillige Vereinbarungen begreift, aus denen souveräne Staaten jederzeit austreten könnten. »Gerechtigkeit«, meint Nagel, »findet mit anderen Worten nur bei einer Organisationsform Anwendung, die politische Legitimität beansprucht sowie das Recht, Entscheidungen mit Gewalt aufzuzwingen, nicht aber bei freiwilligen Vereinigungen oder Verträgen zwischen unabhängigen Parteien, die nur ihre gemeinsamen Interessen befördern wollen« (ebd.: 140). Denn einzig und allein »eine Institution, zu der man nicht freiwillig beigetreten ist, muss Mitgliedschaftsbedingungen anbieten, die einen höheren Standard erfüllen« (ebd.: 133). Gegen diese Unterscheidung in freiwillige und unfreiwillige Mitgliedschaft ist jedoch einzuwenden, dass sich die Mitgliedschaft in internationalen Institutionen für viele Entwicklungsländer als faktisch ebenso alternativlos darstellt wie die Staatsbürgerschaft für einzelne Personen.90 So ist nahezu jedes Land den Entscheidungen des UN-
—————— 89 So fordert auch Nagel mit Blick auf Agrarsubventionen in reichen Staaten, dass »eigennützige Verhandlungen zwischen Staaten durch humanitäre Gesichtspunkte gemäßigt werden« (ebd.: 143) sollen und nennt es eine »sekundäre Gerechtigkeitsverletzung« (ebd.: 143), wenn sich ein Staat zum Komplizen eines internationalen Unrechtssystems macht. 90 David Jacobs (2007: 44–47) hat in diesem Zusammenhang ausführlich gezeigt, dass die internationale Arena längst eine föderale Struktur angenommen hat, der die meisten Länder faktisch gerade nicht souverän gegenüberstehen, weil sie entweder völkerrechtlich oder machtpolitisch nicht in der Lage sind, ein Ausstiegs-
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Sicherheitsrats unterworfen, der in seine äußere wie innere Souveränität eingreift. Ebenso ist jedes einzelne Land von den Entscheidungen der Welthandelsorganisation und der G8/G20 betroffen, ganz gleich, ob es Mitglied ist oder nicht. Unfreiwillige Verpflichtungen bringt auch die Mitgliedschaft bei der Weltbank mit sich, die für viele Entwicklungsländer alternativlos ist. Wenn sich aber die Mitgliedschaft in internationalen Institutionen zumindest aus Sicht von Entwicklungsländern als ähnlich unfreiwillig erweist wie die individuelle Staatsbürgerschaft, müssten diese, so die Entgegnung aus Sicht des politischen Kosmopolitisten, auch ähnlich hohen Legitimitätsstandards unterstehen. Aber auch wenn die Unterscheidung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Mitgliedschaft schwerlich in dieser Deutlichkeit aufrechtzuerhalten ist, kann Nagel immer noch darauf abstellen, dass internationale Institutionen keine mit staatlichen Institutionen vergleichbare Rechtssicherheit garantieren. Ihnen fehlt schlicht die Eigenschaft souveräner Institutionen, Gerechtigkeitsstandards allgemein und zwingend durchzusetzen. Fakt ist, dass globale Rechtsprinzipien gerechtigkeitskonformes Verhalten nur unzureichend gewährleisten und dass soziale Gerechtigkeit nicht als internationaler Rechtsgrund gilt. Anzumerken bleibt trotzdem, dass Nagel auch hier von einer klaren Opposition von souveräner Staatlichkeit und fehlender globaler Souveränität ausgeht, die in dieser Deutlichkeit nirgends zu erkennen ist. Nicht nur bringen Mitgliedschaften in transnationalen Institutionen wie der EU, der NATO oder dem Weltsicherheitsrat ganz erhebliche Souveränitätsabgaben mit sich, auch gerät die Fähigkeit einzelner Staaten, politische Probleme in den eigenen Grenzen zu lösen, immer mehr in Abhängigkeit zu anderen Staaten. Und schließlich muss auch Nagels drittes Unterscheidungskriterium unter den Vorbehalt gestellt werden, dass sich die politische Struktur von Staaten nicht in der von ihm behaupteten Deutlichkeit von der politischen Struktur globaler Institutionen abhebt. Auch wenn Nagel zugibt, dass sich globale Herrschaftsformen herauszubil-
—————— oder Vetorecht wahrzunehmen. Eine in diesem Sinne zwangsweise verpflichtende Föderation bilden der UN-Sicherheitsrat (außer für die fünf Vetomächte), die Weltbank und der Weltwährungsfond (außer für die USA, die nach Jacobs ein faktisches Vetorecht geltend machen können).
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den begonnen haben, meint er doch, dass die Ebene globaler Politik nur eine »indirekte Beziehung zu individuellen Bürgern« aufweist und daher nicht dieselbe moralische Bedeutung aufweist, wie der Staat. »Individuen«, stellt er fest, »gehören nicht zur Wählerschaft [constituents] solcher Institutionen« (ebd.: 140), sie repräsentieren daher nicht den Bürgerwillen und fallen auch nicht in dieselbe politische Verantwortung einzelner Personen. Aber auch hier ließe sich aus der Sicht eines politischen Kosmopolitismus einwenden, dass sich eine Mentalitätsveränderung einzustellen beginnt. In der kritischen Globalisierungsbewegung zeigt sich, dass es schon heute Menschen gibt, die sich als Weltbürger verstehen und sich in der Verantwortung für internationale Institutionen und Verträge sehen, die ihre Repräsentanten ebenfalls in ihrem Namen eingehen.
6. Ausblick: Politischer Kosmopolitismus ohne Alternative?
Globale Gerechtigkeit als Resultat einer List der Geschichte? Ausblickend möchte ich einen Gedanken skizzieren, der mit Nagel über Nagel hinausführt. Zusammengefasst vertritt er eine politische Gerechtigkeitskonzeption, nach der rechtsstaatliche Beziehungen konstitutiv für die Ausbildung und Rechtfertigung sozialer Gerechtigkeitsansprüche sind. Die politische Globalisierung zeigt sich dagegen zu weiten Teilen als viel zu unverbindlich, um dem souveränen Staat den Rang abzulaufen. Nach wie vor gilt: Der Staat ist die Wirklichkeit sozialer Gerechtigkeit. Im Grunde beruht Nagels Etatismus auf der klaren Abgrenzbarkeit zwischen staatlicher Souveränität und politischer Weltordnung. Trotzdem muss er selbst einräumen, dass die eine immer mehr zur Voraussetzung für die andere wird. Das heißt, wie Miller vertritt auch Nagel einen sozialen Liberalismus, wonach der Staat nur vor dem Hintergrund einer globalen Grundstruktur als Domäne sozialer Gerechtigkeit funktionieren kann. Und wie Miller anerkennt auch er, dass es auf globaler Ebene ein moralisches Minimum geben muss, »das nicht von der Existenz irgendeiner institutionellen Verbindung zwischen uns und anderen Personen abhängt« (ebd.: 131). Anders gesagt vertritt auch er mit Bezug auf globale Gerechtigkeit einen moralischen Menschenrechtsansatz. Dabei handelt es sich in der Hauptsache um negative Grundrechte wie die Freiheit von Gewalt, Sklaverei und Zwang sowie der Schutz der Rede- und Religionsfreiheit. Und auch er anerkennt eine fundamentale positive Hilfspflicht bei unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben. Als wünschenswert bezeichnet Nagel sogar die Einführung einer globalen Sozialsteuer, mittels der »Ressourcen für Entwicklungs- und Nothilfe« (ebd.: 144)
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effektiver und gerechter gesammelt werden könnten als im gegenwärtigen System. Nagels Menschenrechtskatalog dient dazu, die Legitimität staatlicher Souveränität völkerrechtlich zu qualifizieren. Das Selbstbestimmungsrecht eines Staates ist davon abhängig, ob er diese fundamentalen Menschenrechte anerkennt und auf seinem Territorium durchsetzen kann. Entscheidend ist, dass diese Minimalkonzeption globaler Gerechtigkeit mit einem universellen Verrechtlichungs- und Institutionalisierungsgebot verbunden ist. Es müssen nach Nagel Institutionen geschaffen werden, um Menschenrechte zu überwachen, zu standardisieren, zu beurteilen und ultimativ auch zu sanktionieren. Kurz, allein der effektive Rechtsschutz dieses bescheidenen Menschenrechtskatalogs würde eine globale Grundstruktur erfordern, die weit über das bisherige System hinausgeht. Die Einrichtung eines globalen Menschenrechtsregimes hat zunächst nichts mit sozialer Gerechtigkeit im Sinne von relativer Chancengleichheit, politischer Teilnahme und fairer Teilhabe am globalen Wohlstand zu tun. Aber der erste Teil einer List der Geschichte besteht darin, dass menschenrechtssichernde Institutionen rückwirkend Forderungen globaler sozialer Gerechtigkeit begründen. Denn in dem Moment, in dem sich ein Menschenrechtsregime institutionalisiert hat – wie es alle führenden Partikularisten von Rawls, über Miller bis eben Nagel für geboten halten –, erheben sich auch begründete Ansprüche auf politische Teilhabe an diesem Regime. Denn wenn ein Staat dem Menschenrechtsregime unterworfen wird, ohne gleichberechtigt an seiner Beratung, Ratifizierung und Umsetzung teilzunehmen, entstünde eine erste soziale Ungerechtigkeit auf globaler Ebene, gegen die er mit all seinen Mitteln anzugehen berechtigt ist. Ein zweiter Teil der List globaler sozialer Gerechtigkeit entsteht im Zusammenhang mit den Erfordernissen einer Weltinnenpolitik, die Nagel selbst als das eigentliche Dilemma seiner Theorie betrachtet. Dieses Dilemma rührt daher, dass wir es in der Politik nicht nur mit der Sicherung fundamentaler Menschenrechte, sondern zunehmend mit transnationalen Problemen zu tun haben, die effektiv nur durch eine Kompetenz- und Machterweiterung globaler Institutionen zu koordinieren sind. Ausdrücklich nennt Nagel ökonomische Regeln wie ein internationales Eigentums-, Vertrags-, Kredit-, Kartell-, Han-
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dels-, Patent- oder Subventionsrecht. Hinzu kommen Vereinbarungen zur Kontrolle globaler Finanzregeln, Umweltstandards und Massenvernichtungswaffen. Im Dickicht der entsprechenden Institutionen, Verträge, Netzwerke und Verrechtlichungsschritte entstehen globale Machtstrukturen, die es dann wiederum nötig machen, sie politisch zu kontrollieren und die Teilhabe an der politischen Macht gerecht zu verteilen. Zusammengefasst wird die Verrechtlichung der globalen Arena dadurch vorangetrieben, dass die Institutionalisierung eines fundamentalen Menschenrechtsregimes moralisch und die Institutionalisierung globaler Wirtschafts- und Finanzregeln praktisch geboten sind. So beginnt sich auf globaler Ebene eine politische Grundstruktur zu verfestigen, die den Boden für den Anspruch auf politische Mitspracherechte bereitet. Der dritte Teil in der List globaler sozialer Gerechtigkeit setzt nun daran an, dass diese Ansprüche keine moralischen Ansprüche, sondern Gerechtigkeitsansprüche sind. Realisten äußern zu Recht ihren Zweifel daran, dass moralische Appelle etwas gegen handfeste Machtinteressen ausrichten können. Politische Gerechtigkeitsansprüche sind aber etwas anderes als moralische Appelle. Sie formieren sich in konkreten Auseinandersetzungen mit vorhandenen politischen Machtstrukturen. Historisch gesehen ist soziale Gerechtigkeit nicht mit dem Staat zusammen erfunden worden. Sie ist ihm in einem Kampf um soziale Gerechtigkeit abgerungen worden, der als Reaktion auf unerträgliche Verhältnisse geführt wurde. Nagel stellt diese Abfolge wie folgt dar: »Erst gibt es eine Konzentration von Macht; dann, graduell, kommt es zu einer wachsenden Forderung, die Interessen der Beherrschten zu berücksichtigen und ihnen eine stärkere Stimme in der Machtausübung zu geben« (ebd.: 157). Deswegen ist er überzeugt, dass der »wahrscheinlichste Weg zu einer Version globaler Gerechtigkeit über die Erschaffung einer offenkundig illegitimen globalen Machtstruktur« führt, »die im vertretbaren Interesse der derzeit mächtigsten Nationalstaaten liegt« (ebd.: 146). Gemeint ist eine Art pervertierte G8 oder G20, eine Allianz der führenden Nationen, die sich über globale Regeln verständigt, regionale Herrschaftsclaims absteckt und dadurch eine eigennützige Weltherrschaft ausüben könnte.
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Das Szenario auf dem Weg zur globalen Gerechtigkeit lautet zusammengefasst wie folgt: Nachdem eine politische Grundstruktur auf globaler Ebene entstanden ist, beginnen einige mächtige Staaten damit, sich dieser Grundstruktur zu bemächtigen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Wenn sich auf diesem Weg eine globale politische Herrschaft herausgebildet hat, dann formiert sich auch der Kampf gegen diese Herrschaft von Seiten derer, die sich von den globalen Machtverhältnissen zu Unrecht ausgegrenzt oder ausgebeutet fühlen. Nicht anders als im Staat wäre globale soziale Gerechtigkeit der Preis, den die mächtigen Nationen für den sozialen Frieden zu zahlen bereit wären. Und nicht anders als im Staat gäbe es bereits eine politische Grundstruktur, die die entsprechenden Rechte koordinieren und durchsetzen könnte. Für Nagel ist es zwar unwahrscheinlich, dass globale Gerechtigkeit aus der Überwindung globaler Anarchie entsteht, aber immerhin denkbar, dass sie als Korrektur globaler Ungerechtigkeit erkämpft wird – und er sieht auch, dass wir es längst mit Vorformen dieser Ungerechtigkeit und mit Vorformen dieser Auseinandersetzung zu tun haben: »Der Pfad von Anarchie zu Gerechtigkeit muss über Ungerechtigkeit führen. […] Wenn wir die politische Konzeption akzeptieren, wird sich der Geltungsbereich von Gerechtigkeit nur durch Entwicklungen global ausbreiten, die zunächst die Ungerechtigkeit in der Welt verbreitet, indem sie wirksame aber illegitime Institutionen einführt, an die die Gerechtigkeitsstandards angelegt werden können […]. Ein Beispiel, vielleicht, für die List der Geschichte.« (Ebd.: 147)
Globale strukturelle Ungerechtigkeit Bevor wir aber weit vorausgreifend von einer globalen Domäne sozialer Gerechtigkeit sprechen können, müssen wir auf eine offensichtliche Disanalogie zwischen dem historischen Kampf um innerstaatliche Gerechtigkeit und der Auseinandersetzung um globale soziale Gerechtigkeit eingehen. Während eine staatliche Zentralgewalt massive Formen der Unterdrückung und Diskriminierung durchsetzen kann, gegen die sich soziale Gerechtigkeitsbewegungen
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aufstellen und zur Wehr setzen, stellt sich das Ungerechtigkeitsgeschehen in der globalen Arena wesentlich unübersichtlicher dar. Defizite einer gerechten Beteiligung lassen sich zwar an einzelnen Institutionen festmachen wie etwa am Veto-Privileg einiger Großmächte im UN-Sicherheitsrat oder der Besetzung der Präsidien von WTO und Weltbank. Vereinzelt lässt sich auch nachweisen, dass bestehende Institutionen, Regeln und Praktiken verheerende Effekte nach sich ziehen wie die bis vor kurzem unerbittlich antiprotektionistische Haltung der Weltbank oder die von Thomas Pogge herausgearbeiteten Anreize des internationalen Ressourcen- und Kreditprivilegs (vgl. Kap. 2.2). Das eigentliche Problem globaler Ungerechtigkeit liegt aber darin, dass sie nicht auf eine Zentralgewalt und häufig genug auch nicht auf eine einzelne Institution, Praxis oder Regel zurückgeführt werden kann. Auch griffe es sicher zu kurz, globale Herrschaft nur in Form einer Diktatur mächtiger Staaten zu erwarten. Die Wirkmechanismen globaler Ungerechtigkeit verlaufen bereits heute wesentlich subtiler und sind daher auch wesentlich schwieriger zu lokalisieren.91 Wenn der ›Protest gegen die Globalisierung‹ oft ziel- und hilflos wirkt, dann deshalb, weil es ein klar zu identifizierendes Ziel gar nicht gibt. Dass bedeutet aber wiederum nicht, dass in der globalen Arena keine Ungerechtigkeit herrscht. Nur funktioniert ihr Machtmechanismus so, dass benachteiligte Gruppen systematisch ausgegrenzt werden – und zwar ausgegrenzt in jeglicher Hinsicht: aus dem Markt, aus
—————— 91 Teile des globalen Unrechtsgeschehens müssten systemisch analysiert werden, da es aus einem komplexen Zusammenspiel von Staaten, Regeln, Praktiken, internationalen Institutionen, Netzwerken und Konzernen resultiert. Stellvertretend für eine solche systemische Analyse wird oft die Arbeit von Michael Hardt und Antonio Negri angeführt, die in Empire (2002) eine neomarxistische Kritik des modernen Kapitalismus vorgelegt haben. Demnach beherrscht der globale Kapitalismus ein Weltreich ohne Zentrum, ein Reich, in dem politische Gestaltungsmöglichkeiten außer Kraft gesetzt werden und das dabei gewaltige Unrechtseffekte freisetzt. Die Analyse von Hardt/Negri steht exemplarisch für ein strukturelles Verständnis von globaler Herrschaft. Solange ein solches Verständnis fehlt, richtet sich der globale Kampf um soziale Gerechtigkeit entweder gegen Strohpuppen, als die abwechselnd Israel, die USA, die Weltbank oder die Vereinten Nationen herhalten müssen, oder aber der Kampf um soziale Gerechtigkeit bleibt gleich ganz aus, weil es ohne ein sichtbares Unrechtsregime auch keine Wahrnehmung von Ungerechtigkeit geben kann.
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dem Territorium, aus dem Rechtssystem, aus globalen Institutionen, aus der medialen Wahrnehmung und nicht zuletzt auch aus dem Gerechtigkeitsdiskurs selbst.92 Diesen Gruppen Gehör zu verschaffen und die Diskursmacht fairer zu verteilen, ist deswegen ein zentraler, wenn auch nicht der einzige Ansatz zu globaler Gerechtigkeit.93 Während sich der soziale Widerstand im Nationalstaat gegen konkrete Repressionen und Regierungen organisieren kann, muss sich die Globalisierungsbewegung mit struktureller Ungerechtigkeit anlegen, die gegenwärtig mit teils diffusen, teils ideologisch verbrämten Vorstellungen als Liberalismus oder Kapitalismus etikettiert wird. Sich gegen strukturelle Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen, ist schon deswegen problematisch, weil die Verantwortung für Ungerechtigkeit häufig nicht an einzelnen Akteuren, Institutionen oder Regeln festgemacht werden kann. Hinzu kommt, dass der Protest nicht von den benachteiligten Gruppen selbst geführt wird. Der Protest gegen die falsche Globalisierung wird in Stellvertretung der Entrechteten, Hungernden oder Vertriebenen geführt, und dass bedeutet auch, mit geringerer Priorität. Ob die kritische Globalisierungsbewegung die Erfolgsgeschichte nationaler sozialer Bewegungen wiederholen kann, ist deswegen solange unwahrscheinlich, wie sich mächtige Staaten nicht selbst zum Anwalt globaler Gerechtigkeit machen.
—————— 92 Merkwürdigerweise besteht die Globalisierungsbewegung zum größten Teil aus den Regionen und Schichten, die zu den Gewinnern der Globalisierung zu zählen sind. Verlierer der Globalisierung finden dagegen kaum Zugang zu den Orten oder den Medien des Protests. Während Bauernaufstände im 18. und Proletarieraufstände im 19. Jahrhundert von Gruppen begangen wurden, die im Lande waren und Teil der Wohlstandsproduktion waren, haben abgehängte Gruppen weder die Macht, den sozialen Frieden in den Wohlstandsregionen dieser Welt zu stören, noch spielen sie in den globalen Produktionsabläufen eine Rolle. Ihr Kampf um globale Gerechtigkeit verfügt über keinen Hebel und entartet auch deswegen im Terrorismus. 93 Denn mit der Teilhabe am weltpolitischen Diskurs allein werden die unterschiedlichen Probleme globaler Gerechtigkeit nicht gelöst. Dazu ist das Diskursfeld, in den Worten Habermas’, zu vermachtet. Trotzdem hat ein interkultureller Diskurs über Gerechtigkeit seinen Sinn, und sei es nur der, dass sich die Menschen, wie Kwame Anthony Appiah bemerkt, aneinander gewöhnen (2006). Was Appiah lehrt, ist pragmatische Nüchternheit in Bezug auf die Praxis globaler Gerechtigkeit. Für ihn hängt »unsere politische Koexistenz« im Wesentlichen von unserer Fähigkeit ab, uns »über Praktiken zu einigen, während wir über ihre Begründung unterschiedlicher Meinung sind.« (Ebd.: 70; ähnlich Rorty 1996)
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Erzwungene Kosmopolitisierung Trotzdem ist festzustellen, dass sich die oben beschriebene List globaler Gerechtigkeit im Zuge einer fortschreitenden politischen Globalisierung bereits ein Stück weit zu realisieren begonnen hat. Dies gilt gleichermaßen für die Institutionalisierung des Menschenrechtsregimes, für die Institutionalisierung globaler Konflikt- und Interessensfelder und für den Kampf gegen die Ausbreitung globaler Ungerechtigkeit. Das Menschenrechtsregime ist heute nicht mehr als eine rein moralische Idee zu betrachten, sondern als ein realpolitisch wirksames und völkerrechtlich ratifiziertes Bindegewebe der globalen Gesellschaft, zu dessen Schutz sich eine Reihe globaler Institutionen herausgebildet haben und auf deren Grundlage faktisch Interventionen in staatliche Souveränität stattfinden.94 Ganz im Sinne Nagels hat das politische Menschenrechtsregime bereits den ersten Schritt innerhalb der List globaler Gerechtigkeit vollzogen. Dies gilt auch dafür, dass mächtige Staaten das politische Menschenrechtsregime dominieren und in ihrem Sinne zu instrumentalisieren versuchen – eine Praxis, an der die Kritik wächst. Ebenso ist es eine Tatsache, dass Modernisierung und Globalisierung Probleme erzeugen, die bereits heute zu einer institutionellen Verflechtung der globalen Arena geführt haben. Wir leben in einer, wie es der Münchener Soziologe Ulrich Beck (2007) nennt, Weltrisikogesellschaft, aus der es kein Absondern gibt und die die Einrichtung einer globalen Weltordnung vorantreibt. Beck prägt in diesem Zusammenhang den Ausdruck von der erzwungenen Kosmopolitisierung. Im Gegensatz zum moralischen Kosmopolitismus beschreibt er, wie die »weltrisikogesellschaftliche Dynamik« von Problemen wie dem Klimawandel ein »kosmopolitisches Moment« (ebd.: 96) freisetzt. Diese Probleme bringen einen neuen Risikotypus zum Tragen, dessen Ursachen und Auswirkungen nicht auf einen Ort eingeschränkt werden können, dessen Folgen sich nicht mit Sicherheit abschätzen lassen und der irreparable Schäden anzurichten droht. Die Ursachen für das Ozonloch lassen sich beispielsweise weder in einer einzelnen
—————— 94 Vgl. für eine Rechtfertigung des Menschenrechtsregimes aus realistischer Perspektive Terry Nardin (1998).
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Fabrik, noch in einem einzelnen Land verorten, die Folgen für das Krebsrisiko sind nur näherungsweise zu prognostizieren und kein Geld der Welt kann die einmal zerstörte Ozonschicht wiederherstellen. Unter diesen schwer greifbaren, aber nichtsdestoweniger ernsten Risiken für die Menschheit eröffnet sich – auch Beck setzt hier ausdrücklich auf eine »List der Geschichte« (ebd.: 109) – ein ganz realer Kosmopolitisierungsdruck: »Die Weltrisikogesellschaft erzwingt den Blick auf die Pluralität der Welt, die der nationale Blick ignorieren konnte. Globale Risiken eröffnen einen moralischen und politischen Raum, aus dem eine über Grenzen und Gegensätze hinweggreifende zivile Kultur der Verantwortung hervorgehen kann. Die traumatische Erfahrung der Verwundbarkeit aller und der daraus entstehenden Verantwortung für Andere, auch um des eigenen Überlebens willen, sind die zwei Seiten des geglaubten Weltrisikos.« (Ebd.: 111)
Becks Beobachtung, dass die Erfahrung global dimensionierter Risiken eine kosmopolitische Realpolitik vorantreibt, lässt sich in drei Punkten zusammenfassen. Erstens verdichtet sich für Beck die Erfahrung, dass keine Nation ihre Probleme allein bewältigen kann. Zweitens schaffen transnationale Abhängigkeiten nicht nur transnationale Probleme und Risiken, sondern auch Gemeinsamkeiten und neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. In Reaktion auf gemeinsame Risiken kommt es daher drittens zur Gründung internationaler Organisationen, die für Beck nicht die Fortsetzungsinstrumente nationaler Interessenspolitik sind, sondern die eigenständige Machtund Gestaltungsräume etablieren und rückwirkend eine Erweiterung nationaler Interessen in Richtung auf einen »kosmopolitischen Mehrwert« (ebd.: 369) erzeugen. Eine realistische Einschätzung der gegenwärtigen Weltlage ist die, dass globale Gerechtigkeit weder im sozialen Kampf gegen den Willen mächtiger Staaten erstritten werden kann, noch dass diese Staaten eine moralische Motivation entwickeln werden, ihre Souveränität zugunsten globaler Gerechtigkeit einzuschränken. Die realistische Hoffnung kann nur darauf gehen, dass die Erhaltung staatlicher Souveränität immer mehr in Abhängigkeit zu einer gerechten Weltordnung gerät. »Das ist«, wie Beck betont, »kein Wunschdenken, im Gegenteil, es ist der Ausdruck einer kosmopolitischen Realpolitik. In einem Zeitalter globaler Krisen und Risiken ist eine Politik ›goldener
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Handschellen‹ – die Schaffung eines dichten Netzwerkes transnationaler gegenseitiger Abhängigkeiten – nötig, um nationale Autonomie wiederzugewinnen« (ebd.: 128). Dass diese Dialektik zwischen nationaler Autonomie und transnationaler Weltordnung allerdings auf eine neue Stufe globaler Gerechtigkeit führt und dann auch dort endet, ist kein Automatismus. Es gibt keine weltbürgerliche Absicht der Geschichte, die über weltpolitische Krisen auf eine globale Rechtsordnung zuläuft. Die Diskrepanz zwischen Moral und Praxis lässt sich nicht einfach geschichtsphilosophisch aus der Welt schaffen. Vielmehr erweist sich globale Gerechtigkeit als eine Aufgabe, zu der die Theorie zwar neue Denkund Handlungsräume erschließt, die aber genausowenig auf individuelles Engagement verzichten kann, wie auf kluge Politik und effektive Institutionen.
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Demokratie 45, 63, 72f., 75 f . , 8 2 , 8 4 , 129, 133–135, 142–145, 169, 184 Differenzprinzip 87f., 92, 104, 106, 112 Diskursethik 127, 142 Etatismus, gerechtigkeitstheoretischer 164, 182–186, 190 Ethik, globale 18 Fähigkeiten-Ansatz 102, 113f., 117, 121–124 Ferrara, Alessandro 102 Forst, Rainer 102, 126, 141, 148–158, 179, 186 Fraser, Nancy 12, 141, 154 Freiheit 68f., 71, 77f., 91, 120, 123, 129, 149, 190 – bürgerliche vs. natürliche, 67ff., 81 Handlungsfreiheit 78, 81 – negative vs. positive 77f. – politische 47 – vs. Gerechtigkeit 29, 39ff., Freiheitsprinzip 87f., 104f. Freiheitsrechte 78f., 119, 156 Gerechtigkeit 11–30 – globale 11–14 – internationale 12–14
REGISTER
–
politische 14 – 16, 101, 104, 108, 183, 186, 190, – soziale 20, 24–29, 35, 76, 92, 126, 138f. 155, 159, 163, 165, 169, 178ff., 184 – 188, 192ff. Generationengerechtigkeit 25, 27 Strafgerechtigkeit 25, 27 Tauschgerechtigkeit 25f. Verteilungsgerechtigkeit 24 f f . , 86, 92, 98, 102–106, 109, 112, 116, 138, 157, 160, 180, 186 Gerechtigkeitskonzeption – moralische 14 , 1 7 , 23, 38, 54, 108, 111, 117 – politische 14 , 104, 108, 183, 186, 190 Gerechtigkeitspflicht 18–23, 34 f f . , 43, 47, 49f., 52–55, 59f f . , 9 4 , 121ff., 164f., 176, 178, 180 f f . , 186 – assoziative 20–23 – universelle 20–23 Gerechtigkeitssinn 23f., 29, 80, 99, 119, 138 Gerhardt, Volker 70 Globalisierung 11ff., 17, 29, 40, 76, 84, 96, 102, 136, 172ff., 186– 190, 194ff. Globalisierungsbewegung 23, 189, 195 Goodin, Robert E. 159 Gosepath, Stefan 85, 152 Governance without government 84 Grotius, Hugo 118, 123, 125, 183 Habermas, Jürgen 21, 70, 102, 126–141, 145, 148, 150, 172, 186, 195 Hahn, Henning 79 Hardt, Michael 194 Health Impact Fund 27, 110
211
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 68 Held, David 141 Herborth, Benjamin 133–135 Herrschaft 25, 27, 45f., 65 – 68, 76, 82, 84, 93, 132–136, 141, 149, 152ff., 163, 166, 169, 184, 188, 192ff. Hobbes, Thomas 65 – 69, 75, 84, 93, 118, 139f., 166, 182f. Höffe, Otfried 28f., 69f., 75 – 85, 87, 92f., 111, 115, 125, 127, 130, 138, 141, 149f., 172, 183 Honneth, Axel 26, 80, 160 Horn, Christoph 85 Huntington, Samuel 96 Individualismus, legitimatorischer 77, 101, 105, 115, 149, 161 Jacobs, David 187f. Kant, Immanuel 21, 23, 69–77, 79, 81, 84f., 88, 92f., 107, 122, 125, 129ff., 140, 141, 147 Kapitalismus 169, 194f. Kersting, Wolfgang 159 Kleingeld, Pauline 70, 95 Koller, Peter 24f., 30 Kommunitarismus 97, 160f., 164 Kontraktualismus, s. Vertragstheorie Korsgaard, Christine 79 Kosmopolitismus 77, 95 – 160, 162, 166, 175f., 183, 191, 196 – Definition 97–101 – kultureller 95f. – legaler 102, 126, 141 – moralischer 59, 102, 108, 111, 125f., 144, 154 – politischer 102, 108, 112, 126, 141, 148, 150, 154, 186–189 Kymlicka, Will 159f.
212
GLOBALE GERECHTIGKEIT
Liberalismus 69, 169, 195 – politischer 108, 122 – sozialer 106, 121f., 179f., 190 Lutz-Bachmann, Matthias 85
Nussbaum, Martha 52, 102, 113– 126, 133, 136, 145f., 150f., 154f., 159, 183 O’Neill, Onora 33, 37, 57, 159
Machiavelli, Niccollò 165f. Macht 27, 61, 66, 133, 147–158, 165 – 174, 182 MacIntyre, Alasdair 160 Menschenrechte 17, 22, 28, 46 f f . , 50, 53ff., 74f., 80f., 86, 89–93, 101, 106, 116, 120 – 123, 131, 133–139, 142–147, 157, 162, 180, 191 – Menschenrechtsansatz 34, 47, 52, 54f., 102, 111, 120f., 145, 151, 157, 179, 190 – Menschenrechtsregime 47, 113, 123 f f . , 132–135, 143 – 146, 157, 191f., 196 Menschenwürde 117, 121 Merle, Jean-Christoph 85 Miller, David 13, 20, 50 – 55, 174 – 181 Moellendorf, Darrel 95 Morgenthau, Hans J. 165 – 172, 183 Murphy, Liam 183 Nagel, Thomas 12f., 39, 106, 164f., 182–193, 196 Nardin, Terry 196 Nationalismus 44, 50f., 137, 139 164, 174 – 181 – liberaler 179f. – partikularistischer vs. universalistischer 175f. Negri, Antonio 194 Nida-Rümelin, Julian 135 Niesen, Peter 131, 133f. Nozick, Robert 19
Partikularismus 59, 99f., 142, 154, 159–189 – ethischer 176–178 Patriotismus 136f., 175 Pogge, Thomas 27, 33, 36, 43 – 64, 92f., 97, 103 – 117, 126f., 152, 155, 187, 194 Rawls, John 12f., 15, 44f., 69, 74f., 85 – 94, 102, 104 – 109, 111, 115f., 123, 125, 127, 137, 150f., 155, 179–185, 191 Realismus 30, 164 – 174 Recht auf Rechtfertigung 142, 148ff., 157 Ressourcendividende 110 Rorty, Richard 195 Rousseau, Jean-Jacques 65, 67– 69, 82, 93, 136, 182, 185 Sandel, Michael 160 Sangiovanni, Andrea 182 Sassen, Saskia 76 Schaber, Peter 33 Scheffler, Samuel 35, 39, 57, 95f., 159 Schmitt, Carl 96 Sen, Amartya 45, 51, 91, 113 Singer, Peter 35, 36– 44, 48, 50, 54, 59, 64, 122, 151 Solidarität 23, 41, 69, 137f., 148 Souveränität 12, 45, 70, 74, 83, 93, 124, 139, 147, 166, 171ff., 182f., 186–188, 190f. 196f. Steinvorth, Ulrich 37, 44 Stiglitz, Joseph E. 26, 76 Subsidiarität 82f.
REGISTER
Tamir, Yael 50 Tan, Kok Chor 70, 98f., 111, 159 Taylor, Charles 160 Überforderung 39f., 122 Unger, Peter 37, 151 Ungerechtigkeit, strukturelle 37, 55 – 62, 193 – 195 Universalismus 30, 97, 101, 142, 159, 161 Urzustand 88, 104, 109, 127 Utilitarismus 37–40, 97 Utopie, realistische 74–76, 86, 93, 126 Verantwortung 17f., 23, 33 – 37, 44, 46–64, 98, 100, 106, 122, 124, 129, 145, 164, 176, 179f., 181, 195, 197 – assoziative 35, 41, 162, 177 – kollektive 42, 47, 51, 53, 59, 180f., 186 – politische 34, 59– 64, 189 – Folgeverantwortung 34 – 36, 42ff., 47f., 50f., 57, 60 – Hilfsverantwortung 34 – 36, 41, 43, 50, 54f. Verfassungspatriotismus 136f.
213
Vertragstheorie 65 – 67, 69, 77f., 85, 102, 104, 111, 115 , 117 Villiez, Carola Freiin von 108, 111 Walzer, Michael 159f., 177 Waltz, Kenneth N. 170 – 173 Weltbürger 49, 73, 130, 136ff., 141, 147, 157, 189 Weltbürgerrecht, 70–75, 80, 88, 129, 141–147 Weltinnenpolitik 102, 126, 131– 141, 156, 170, 191 Weltöffentlichkeit 27, 29, 54, 132, 134f., 137, 141 Weltrepublik/Weltstaat 67, 69, 71– 86, 101f., 125–131, 140f., 147, 158, 168ff. Weltrisikogesellschaft 196f. Weltsozialsteuer 111f. Weltverfassung 132, 137, 140 Wenar, Leif 46 Williams, Bernard 39 Wohltätigkeit 38, 116 Young, Iris M. 37, 55 – 64 Zivilgesellschaft, globale 134f., 143, 157