Helen D. Boylston Carol – Gewagt und gewonnen
Man hat nie ausgelernt, das erfährt Carol als junge Schauspielerin am Bro...
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Helen D. Boylston Carol – Gewagt und gewonnen
Man hat nie ausgelernt, das erfährt Carol als junge Schauspielerin am Broadway. Das Schwierigste jedoch ist, mit dem eigenen Leben fertig zu werden. Mike steht Carol zur Seite: zusammen wagen und gewinnen sie.
Berechtigte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Edith Gradmann Der Titel der Originalausgabe lautet: »Carol on Tour« Little, Brown and Company, Boston Umschlag von Sita Jucker Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten © Benziger Verlag Zürich, Köln 1972/1977 ISBN 3 545 32.139 8 Gesamtherstellung: Salzer – Ueberreuter, Wien Printed in Austria
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1 Das Mädchen war eingekeilt in der Menschenmenge, die aus dem Theater strömte. Kein Mensch bemerkte die Aufregung in dem runden Gesicht oder die Begeisterung in den kindlichen Augen. Sie war zu klein, um über die Schultern der andern Leute blicken zu können, und zu rundlich, um sich durch eine Lücke zu drängen. Gerade als sie beschloß, sich mit Gewalt durch die Menge zu boxen, hörte sie eine Männerstimme sagen: »Großartiges Stück. Ich bin froh, daß wir hergekommen sind. Die Marlowe lohnt sich doch immer. Und die hübsche Kleine, welche die Hazel spielt, ist wirklich gut. Ich glaube, Carol Page heißt sie.« Im Nu entspannte sich das Mädchen und unterließ jede weitere Anstrengung, der Menge zu entkommen. Geduldig, mit gespitzten Ohren, ließ sie sich aufs Trottoir hinausschieben. Als sie endlich draußen im kalten Novemberwind stand, lief sie, so rasch sie konnte, um das Theater herum bis zum Bühneneingang. Sie öffnete die Tür – doch weiter kam sie nicht. Ein dicker Mann mit einer Zeitung in der Hand versperrte ihr den Weg. Er lehnte mit seinem Stuhl gegen die Wand und blickte sie gleichgültig an. »Guten Abend«, sagte das Mädchen und spähte an ihm vorbei in den leeren, hellerleuchteten Gang, der hinter die Bühne führte. »Darf ich hinein? Ich muß Carol Page sprechen.« Der Portier rührte sich nicht, musterte sie jedoch mit einem schlauen Blick. Dieses Mädchen sah ganz wie eine eisern entschlossene Autogrammjägerin aus, und die kannten sämtliche Tricks. »Tut mir leid«, sagte er, »aber ich darf niemand hineinlassen. Miss Marlowe will nach der Vorstellung ihre Ruhe haben.« »Aber ich will ja gar nicht zu Miss Marlowe«, protestierte das Mädchen. »Ich will zu Carol Page.« Der Portier verzog keine Miene. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß Miss Marlowe niemanden sehen will.« »Ich weiß. Aber ich will doch zu Carol Page.« »Was wollen Sie von ihr?« »Du lieber Himmel! Wir wohnen zusammen, und ich will sie überraschen.« Der Portier grunzte. »Ach so. Das ist eine neue Masche. Sie wohnen mit ihr zusammen, und das wird sie überraschen? Das glaube ich gern.« 3
»Aber es ist wirklich eine Überraschung. Sie verstehen das nicht.« »Ich verstehe nur, daß Sie nicht in Miss Marlowes Garderobe können.« Er schwieg und blickte sie über den Rand der Zeitung hämisch an. »Wenn Sie mit ihr zusammenwohnen, warum sind Sie dann nicht schon längst hergekommen? Wir proben hier seit drei Wochen.« »Weil ich sechs Wochen auf Tournee war«, trumpfte das Mädchen auf. »Und gerade heute abend bin ich zurückgekommen.« Der Portier wurde unsicher. War dieses mollige, junge Ding mit der glänzenden Nase tatsächlich eine Schauspielerin? Eine komische Geschichte. Aber vielleicht doch wahr. »Schön«, sagte er eine Spur weniger brummig, »meinetwegen können Sie hier warten, bis Miss Page herauskommt.« »Wenn Sie mich schon nicht hineinlassen wollen, richten Sie ihr doch bitte aus, daß Ellen Gregg auf sie wartet.« »Nein, das geht nicht. Aber beruhigen Sie sich, Miss Page kommt sicher bald.« Als das Mädchen mit gerunzelter Stirn nach weiteren Argumenten suchte, tauchte ein finsterblickender junger Mann im Korridor auf. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, große Ohren und ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen. »Mike!« jubelte das Mädchen. Der junge Mann blieb stehen, erkannte sie und kam mit ausgestreckter Hand näher. »Ellen!« rief er. »Ich denke, du bist noch unterwegs.« Ellen ergriff dankbar seine große Hand. »Ich bin gerade angekommen, Mike. Und ich habe das Stück gesehen. Ich wäre so gern bei der Premiere dabeigewesen, aber es reichte zeitlich nicht. Du, Mike, das ist ja ein bezauberndes Stück – und Carol war großartig. Alle haben gesagt –« »Halt, halt, nicht so schnell«, unterbrach sie Mike. »Schön eins nach dem andern.« Grinsend wandte er sich dem verblüfften Portier zu. »Charlie, für wen haben Sie sie gehalten? Sie ist tatsächlich die beste Freundin von Miss Page. Wetten, daß sie Ihnen verdächtig vorgekommen ist?« »Es tut mir leid, Mr. Horodinsky«, erwiderte der Portier betroffen. »Macht nichts, Charlie. Sie sieht wirklich verdächtig aus. Ich hätte sie auch nicht hineingelassen. Komm, Ellen! Steh nicht mit offe4
nem Mund hier herum. Komm herein in die Wärme.« Ohne sich durch Mikes Grobheit stören zu lassen, trat Ellen dankbar ein. Sie wußte genau, daß er sich über das Wiedersehen freute. Als Carol und sie ihn kennengelernt hatten, war er ein Rauhbein gewesen – damals, als sie alle Eleven in Miss Marlowes Theater waren. Auch später war er ein Rauhbein geblieben, und er war es auch heute noch. Und nach Ellens Meinung würde er es sein Leben lang bleiben. Doch das störte sie nicht. Allerdings hatte er sie nie so schlecht wie Carol behandelt. Ellen litt unter diesem ständigen Streit. Aber sobald Carol Schwierigkeiten hatte, wandte sie sich trotzdem immer an Mike. Und auf ihre seltsame Art waren die beiden wirklich Freunde. Besonders nach der Spielzeit im Sommertheater letztes Jahr. Da war es Carol gewesen, die Mike getröstet hatte, als er sich in diese gräßliche Wynton verliebt hatte. Guter, verschrobener Mike. Und heute war er Inspizient bei einem Broadway-Hit – ein Schritt auf dem Weg zum Regisseur. Beglückt trabte Ellen neben ihm den hellgrünen Korridor entlang, auf die breite Treppe zu, die zu den Garderoben der weniger wichtigen Schauspieler führte. Miss Marlowes Garderobe lag selbstverständlich im Parterre. Wie üblich, die Hände in den Hosentaschen, schlurfte Mike an ihrer Seite. »Na, wie war die Tournee, Mädchen?« »Ach, die Herumreiserei wäre ja gar nicht so schlimm. Aber das Stück ist eine Niete.« »Schon etwas Neues in Aussicht?« »Nein. Ich hatte so gehofft – aber jetzt fängt die ganze Geschichte wieder von vorne an… Du kennst das ja: Es tut mir leid, meine Liebe, aber Sie sind nicht der Typ, den wir suchen.« Mike nickte mitfühlend, und Ellen fuhr fort: »Ich bin ja so froh für dich, Mike. Und für Carol, daß sie diese großartige Rolle bekommen hat.« Mike grunzte. »Nur keine Übertreibungen, Ellen. Das Stück ist großartig und Miss Marlowe natürlich auch – aber nicht die Page. Und hoffentlich ist ihr das auch klar.« Sie erreichten die Treppe, und Ellen blickte ihn rasch an. Was war jetzt wieder los mit ihm? Aber es hatte ja keinen Sinn zu fragen. Er würde ja doch nur brummen. Schweigend stiegen sie zum ersten Stock hinauf und gingen an einer Reihe von Türen entlang. Man hörte Stimmen und Lachen, und im Gang roch es nach Schminke. Schließlich blieb Mike vor einer 5
der Türen stehen. »Hier ist ihre Garderobe«, sagte er. »Aber Carol ist unten. Miss Marlowe hat sie rufen lassen. Geh hinein und warte. Und laß dich nicht durch das lächerliche Frauenzimmer stören, mit dem sie die Garderobe teilt. Sie heißt Sherry Kaye.« Er hatte sich nicht bemüht, seine Stimme zu dämpfen, und klopfte jetzt an die Tür. »Hier ist eine Freundin von der Page«, rief er, machte kehrt und ließ Ellen allein vor der geschlossenen Tür. Nach einer kleinen Weile rief eine verschleierte Stimme: »Herein!« Ellen öffnete die Tür. Die Garderobe war ein grell beleuchteter kleiner Raum, möbliert mit zwei steifen Stühlen, einem Sessel und zwei Schminktischen, auf denen ein Sammelsurium von Tuben und Dosen, Bürsten und Papiertüchern lag. Die Spiegel wurden von Neonröhren umrahmt. Komfortabel, dachte Ellen. Vor einem der Spiegel saß ein Mädchen in einem seidenen Morgenrock. Sie hatte einen langen, schlanken Rücken und schmale Schultern. Ihr dunkelrot gefärbtes Haar war prächtig gelockt und im Moment mit einer weißen Leinenbinde zurückgebunden. Aufmerksam betrachtete sie ihr mit einer dicken Schicht Cold Cream bedecktes Gesicht. »Guten Abend«, murmelte Ellen scheu. »Ich bin Ellen Gregg – Carols Freundin.« »Guten Abend«, erwiderte das Mädchen uninteressiert und fuhr fort, ihre Cold-Cream-Maske zu studieren. »Stört es Sie, wenn ich hier auf Carol warte?« »Aber nein.« Weder drehte sich Sherry Kaye um, noch bot sie Ellen einen Stuhl an. Statt dessen nahm sie ein paar Papiertüchlein und entfernte sorgfältig die Creme von ihrem Gesicht. Langsam konnte man ihre Züge erkennen. Und Ellen stellte fest, daß Miss Kaye älter war, als es auf den ersten Blick geschienen hatte. Mindestens dreißig, dachte Ellen, aber sie sieht blendend aus. Nun ging Miss Kaye – Ellen noch immer ignorierend – dazu über, frisches Make-up aufzulegen. Staunend sah Ellen ihr dabei zu. Sie kam sich keineswegs ungezogen dabei vor, denn Miss Kaye schien für nichts anderes Interesse zu haben als für ihre eigene Person. Sie war gerade dabei, ihre Haare zu bürsten, als Ellen draußen leichte Schritte hörte. Die Tür flog auf, und Carol Page, noch im Kostüm des letzten Aktes, einem Kleid voll weißer Rüschen, kam herein. Sie war 6
schlank und dunkelhaarig, und ihre grünen Augen leuchteten unter den langen, angeklebten Wimpern. »Ellen!« »Carol!« »Warum hast du mir nicht geschrieben?« »Ich hatte keine Zeit.« Als Carol ihre Hand losließ, trat Ellen einen Schritt zurück und sagte vorwurfsvoll: »Du hast unser ganzes Zimmer neu möbliert. Und…« »Gefällt es dir?« Carol war begeistert. »Wenn ich gewußt hätte, daß du so früh kommst, hätte ich…« Sie wurde von der gezierten Stimme Sherrys unterbrochen. »Wenn Carol alle ihre Pläne ausgeführt hätte, wäre das Zimmer ein Möbelmagazin geworden.« Carol lachte sorglos und wandte sich mit einer graziösen Bewegung Miss Kaye zu. »Hat euch eigentlich jemand miteinander bekannt gemacht?« Sherry Kaye nickte vage. Sie war in ein schwarzes Kleid geschlüpft und steckte noch eine Brosche fest. Ihr Gesicht sah aus wie emailliert. Ellen blickte von einem Mädchen zum andern, verblüfft vom Kontrast zwischen Sherry Kayes lackierter Langweiligkeit und Carols warmer Vitalität. Carol dachte nicht an solche Dinge. Sie war glücklich. Aufgeregt begann sie am Reißverschluß ihres Kleides zu nesteln. »Komm«, sagte Ellen, »ich helfe dir. Dreh dich um.« Carol gehorchte, während Sherry ein Silberfuchscape über die Schultern warf, nach ihrer Tasche griff und auf die Tür zuging. »Ich muß mich beeilen«, sagte sie. »Auf Wiedersehen, Miss –, Miss –« Die Tür fiel hinter ihr zu, und Ellen explodierte. »Was für eine gräßliche Person!« »Ach, vielleicht ist sie gar nicht so schlimm. Ich kenne sie nur oberflächlich. Auf jeden Fall ist sie eine gute Schauspielerin.« »Ja«, bestätigte Ellen, noch immer mit dem Reißverschluß beschäftigt, »das weiß ich. Ich habe sie heute abend gesehen.« Carol fuhr herum. »Oh, Ellen, du warst in der Vorstellung? Ist das nicht ein blendendes Stück? Und wie bin ich gewesen?« »Es ist ein wunderbares Stück, und Miss Marlowe ist einfach unglaublich. Ich verstehe nicht, wie sie das macht. Sie…« »Ellen Gregg!« Carol ließ das Kleid auf den Boden fallen. »Hör endlich auf! Natürlich ist Miss Marlowe unbeschreiblich gut – das 7
weiß ich auch. Was ich wissen will, ist…« Als sie Ellens Grinsen sah, hielt sie inne. »Na ja«, sagte sie, zog ihren weißen Bademantel über und setzte sich gekränkt an ihren Schminktisch. »Du warst großartig«, sagte Ellen trocken. »Mike hält nicht so viel von mir.« Carol schmierte Cold Cream aufs Gesicht. »Was soll das heißen? Er findet es auch.« »Ach, er behauptet, die Hazel sei eine ganz einfache Rolle, und man brauche keine große Technik dafür. Nicht mehr, als ich besitze – und nach seiner Meinung ist das nicht sehr viel. Er sagt, einen Wutausbruch haben und auf der Bühne herumschreien, das sei keine Kunst. Das könne jeder.« Ellen nickte. Die Hazel war zwar eine große, aber im Grunde genommen keine schwierige Rolle für einen Menschen wie Carol, mit ihrer Vitalität und ihrem Talent. Man brauchte keine spezielle Technik dafür. »Aber das ist doch ganz egal«, erklärte die getreue Ellen. »Das Publikum sagt, du seiest prima. Ich habe beim Hinausgehen aufgepaßt wie ein Luchs. Sie waren alle ganz begeistert von dir.« »Ellen, du bist ein Schatz! Was haben sie gesagt?« Carol griff nach einem Handtuch, wischte sich das Gesicht ab und drehte sich erwartungsvoll um. »Ja –«, wollte Ellen gerade beginnen, als höflich an die Tür geklopft wurde. Erstaunt stellte sie fest, daß Carol plötzlich errötete. »Ein Reporter«, stammelte sie. »Ich – herein!« Auf der Schwelle erschien ein schlaksiger junger Mann, der liebenswürdig sagte: »Mein Name ist Greely. Ich komme von der Times. Ich habe heute nachmittag bei Ihnen angerufen.« Carol schaute ihn an, als stände ein Eisbär vor ihr. »O – hm – ja – ich –« Ellen erhob sich schnell. »Ich warte draußen«, sagte sie. »Nein, o nein!« Es lag Angst in Carols Stimme. »Bitte, Ellen, bleib!« Doch schon war Ellen auf dem Korridor draußen und machte sich auf die Suche nach Mike. Sie fand ihn auf der Bühne, wo er ein Versatzstück des letzten Aktes überprüfte. »Mike«, rief Ellen, »ein Reporter von der Times will Carol interviewen. Er…« »Kipp nur nicht aus den Pantinen, Ellen«, sagte Mike gelassen. 8
»Das hat unser Presseagent arrangiert. Das solltest du doch eigentlich wissen. Jeder Darsteller in einem Hit wird interviewt – außer den Statisten. Hoffentlich holt er eine gute Story aus der Page heraus. Seit drei Wochen ist sie völlig übergeschnappt.« »Aber es ist ja auch so aufregend. Und Carol ist prima in der Rolle.« Mike wischte sich den Staub von den Händen und drehte sich stirnrunzelnd um. »Ja, sie ist ganz ordentlich«, gab er brummig zu. Ellen war erstaunt. »Aber Mike, tu doch nicht so. Du weißt genau, daß sie unerhört talentiert ist – und du weißt auch, daß du sie magst.« »Ja, das stimmt. Und ich habe auch noch nie etwas anderes behauptet.« »Und warum dann dieses ganze Getue?« Mürrisch trat Mike nach dem nächsten Stuhlbein. »Laß schon«, sagte er. »Ich mag diesen ganzen Rummel nicht.« »Aber warum denn? Weshalb denn nicht? Ich finde ihn wundervoll.« »Ja, du. Streng doch dein Hirn einmal ein bißchen an. Die Page ist erst neunzehn. Sie war Elevin. Dann ist sie eine Saison lang in einem Sommertheater gewesen, und später hatte sie eine Nebenrolle in einem minderwertigen Stück. Was sie braucht, sind fünf Jahre solide Arbeit in kleinen Rollen bei einer Wanderbühne.« »Aber, Mike, wenn Carol diese Rolle nicht rechtzeitig bekommen hätte, hätte sie die Bühne aufgeben und zu ihren Eltern heimkehren müssen. Sie hat ihrem Vater versprochen, wenn sie diesen Herbst nicht ihr Leben beim Theater verdiene, könne sie –« »Das ist mir alles bekannt. Sie hat’s mir erzählt. Bevor dieses Stück hier herauskam, hatte ich eine winzige Rolle für sie gefunden. Da setzte Marlowe Schwingen auf den Spielplan – nur gerade für eine Woche –, und ich dachte mir, da könnte die Page etwas lernen. Deshalb habe ich mit der Marlowe über sie gesprochen. Damals hatte ich der Page noch gar nichts von der anderen Rolle gesagt, weil ich annahm, das hätte ja noch Zeit. Und ich ließ mir auch nicht träumen, daß Schwingen ein solcher Erfolg würde und an den Broadway käme.« »Aber es ist eine solche Chance für sie.« »Unsinn. Sie ist noch nicht reif dafür.« Bestürzt starrte Ellen ihn an. »Die Sache verhält sich folgendermaßen«, fuhr Mike fort. »Eine 9
talentierte Anfängerin gerät durch puren Zufall in einen Hit. Die Leute beginnen, sich um sie zu reißen, und laden sie ständig ein und machen ihr Komplimente, bis sie schließlich selber daran glaubt. Sie läßt sich also einfach treiben. Das ist verdammt bequem und macht dazu noch Spaß. Aber bevor sie noch auf drei zählen kann, ist sie schon erledigt. Und wenn das der Page passiert, bin ich verantwortlich dafür. Ich habe ihr die Rolle in dem Hit verschafft.« »Aber so ist doch Carol nicht«, sagte Ellen zögernd. »Die Schauspielerei geht ihr doch über alles. Und schließlich ist sie ja auch kein Idiot.« »Natürlich nicht. Das weiß ich. Aber sie ist fast noch ein Kind. Und sie kann das Richtige nicht vom Falschen unterscheiden. Was sie braucht, ist Arbeit und Studium und Lernen, Lernen, Lernen. Dieser rasche Erfolg ist völlig falsch für sie.« »Er wird Carol nicht verderben, wirklich nicht.« »Vielleicht – wer kann das wissen«, erwiderte Mike.
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2 Ellen berichtete Carol nicht von ihrem Gespräch mit Mike, doch sie dachte während der nächsten Tage gründlich darüber nach. Mike kannte nur die dunklen Seiten des Lebens. Er war in der New Yorker East Side aufgewachsen, wo sein Vater eine kleine Schneiderei betrieb. Er konnte ein Mädchen wie Carol nicht verstehen, das sein ganzes Leben lang nur Ruhe und Sicherheit gekannt hatte. Und Carol? Sie schien einfach überwältigt von ihrem großen Glück. Sonst war sie genau wie früher – warm, großherzig, heiter und voller Lebensfreude. Wenn Mike sie nur an dem Sonntag hätte sehen können, an dem das Interview mit der Times erschien. Dann hätte er sich, Ellens Meinung nach, keine Sorgen mehr gemacht. Das Zimmer der Mädchen in Mrs. Garretts Pension war groß und sonnig, und sie hatten es noch mit ein paar hübschen Bildern und bunten Möbelbezügen aufgeheitert. Meistens war das Zimmer ordentlich aufgeräumt, doch an diesem Sonntagmorgen schien ein Orkan darüber weggefegt zu sein. Überall lagen Blätter der Times herum, während Carol und Ellen mit untergeschlagenen Beinen mitten in dem Chaos auf dem Teppich saßen und fieberhaft die Theaterseiten durchstöberten. Beide waren im Bademantel, und die Frühstücksreste standen noch auf dem Tisch. Ellen hielt die Zeitung mit beiden Händen fest. »Hier steht es!« rief sie. »Hier, Carol, auf der Mitte der Seite. Lies nur, lies doch! Die Überschrift heißt: So jung und hübsch. Wenn das nicht aufregend ist!« Carols Bemühungen, gleichgültig zu scheinen, waren wenig überzeugend. »Was für ein Blödsinn«, sagte sie. »Ach, hör doch auf! Ich weiß doch, daß du umkommst vor Neugier – und ich übrigens auch. Jetzt sei still und hör zu.« Ellen begann vorzulesen. »Die meisten jungen Schauspielerinnen, die einen plötzlichen Erfolg verbuchen konnten, haben dem Berichterstatter bescheiden versichert, daß sie keine Ahnung hätten, wie es dazu gekommen sei. Und in der Mehrzahl der Fälle hat sich der Berichterstatter dem allgemeinen Erstaunen anschließen müssen.« Carol schluckte unbehaglich. »So ein Ekel. Und dabei schien er so nett.« Sie versuchte, das Blatt an sich zu reißen. »Warte doch!« Ellen rutschte außer Greifweite und fuhr fort: »Die erfreuliche Ausnahme dieser Saison bildet Carol Page, die 11
mit Phyllis Marlowe zusammen in der Aufführung von Schwingen unter Arthur Sweetser spielt. Miss Page hat natürliches Talent, eine strahlende Ehrlichkeit und ist, wie viele Leute feststellen, noch so jung und außerdem hübsch.« Carol fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Wahrscheinlich hat das unser Presseagent selber geschrieben.« »Nein, nicht für die Times. Und hör nur, da steht noch viel mehr. Er schreibt, daß du Elevin bei Miss Marlowe gewesen bist und dann an einem Sommertheater gespielt hast. Und daß dein Vater gegen deine Bühnenlaufbahn war. Und was für eine schwere Zeit du im letzten Winter hattest. Aber sei nicht so blasiert und lies gefälligst selbst.« Carol, die die ganze Zeit versucht hatte, die Zeitung zu erwischen, riß sie nun aus Ellens Hand und vertiefte sich in die Lektüre. Sie steckte noch mittendrin, als es an die Tür klopfte. »Herein«, rief Carol zerstreut. Die Tür öffnete sich langsam, und eine große, ältere Frau mit knochigem, langem Gesicht und vorstehenden Zähnen kam herein. Sie trug ein grünes Seidenkleid, mit weißen Mondsicheln, Kometen und Sternen bedruckt, und dazu einen Türkisanhänger, der bis zum Gürtel herabbaumelte. Die beiden Mädchen wunderten sich keineswegs bei dem erstaunlichen Anblick, sondern sprangen hocherfreut vom Boden auf. »Hallo, Miss Iverson!« Carol fegte die Zeitungen von einem der Sessel herunter. »Bitte, setzen Sie sich.« Doch Miss Iverson rauschte durch das Zimmer und zog Carol an die knochige Brust. »Schauen Sie sich dieses gute Kind an«, sagte sie zu Ellen, »umschwebt von der Gloriole des ersten Erfolgs. Ihr erstes Interview, meine Kleine. Oh, dieser Glanz!« Strahlend hielt sie Carol in den Armen. Ellen mußte sich sehr zusammennehmen, um nicht laut herauszuplatzen. Doch Carols Erfahrungen mit Miss Iverson waren älter, und sie hatte sich schon an den hochtrabenden Stil gewöhnt. Nun schob sie Miss Iverson zu dem Sessel. »Setzen Sie sich, und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns.« Miss Iversons langes, eckiges Gesicht bebte. »Gutes Kind«, sagte sie. »Immer großzügig. Immer mit schenkenden Händen. Aber ich kann nicht bleiben. Ich bin nur schnell hereingekommen, um Ihnen zu sagen, wie ich mich über diesen wundervollen Artikel freue. Wie oft kann doch so ein Reporter ein 12
Aasgeier sein.« »Ja«, sagte Carol glücklich, »aber dieser war es nicht. Mr. Dickerson hat mir gesagt, daß ich mich in acht nehmen soll – worauf man natürlich Hemmungen bekommt. Ich hatte schreckliche Angst. Aber, Miss Iverson, Sie müßten doch eigentlich sämtliche Kritiker der ganzen Stadt ins Herz geschlossen haben. Nach dem, was man über Sie geschrieben hat.« Sie wandte sich an Ellen. »Ist es nicht unerhört? Du hast ja im Zuschauerraum gesessen und es selber gesehen.« »Sie sind eine phantastische Komikerin«, sagte Ellen. »Ich begreife gar nicht, wie Sie das fertigbringen.« Ellens Erstaunen war echt. Es war kaum zu verstehen, daß ein Mensch wie Miss Iverson mit ihrer schwülstigen Sprache und ihrem übertriebenen Gehabe auf der Bühne eine solche präzise Technik entwickeln konnte. Carol und Ellen wußten beide, daß das Fach einer Komikerin eine perfekte Sprachtechnik, eine scharfe Intelligenz und ein ausgesprochenes Gefühl für Timing verlangt. Wenn Miss Iverson nicht auf der Bühne stand, war sie vage und höchst sonderlich. Doch im Rampenlicht war sie ausgezeichnet. Die beiden Mädchen blickten sie mit aufrichtiger Bewunderung an. Miss Iverson errötete vor Freude. »Das werde ich Ihnen nie vergessen, Carol, daß ich Ihnen mein Glück zu verdanken habe – daß Sie mir dazu verholfen haben, wieder auf der Bühne zu stehen.« »Dann vergessen Sie aber auch nicht«, erwiderte Carol, »wie furchtbar nett Sie zu mir gewesen sind. Ich werde es bestimmt niemals vergessen. Und Miss Marlowe hat sich ja auch sofort an Sie erinnert. Sie wußte genau, wie gut Sie diese Rolle spielen würden.« »Ach«, sagte Miss Iverson, »Phyllis Marlowe. Damals war sie ja noch ein Kind – so wie Sie heute. Und doch spürte man damals schon die knospende Größe. Und es ist wahr: Sie hat mich nicht vergessen. Das Leben mit seinen Überraschungen. Aber jetzt ade, meine Lieben. Ade, kleine Ellen, auch Ihre glorreiche Stunde naht.« Sie rauschte aus dem Zimmer. »Ehrlich gestanden«, sagte Ellen, »ich kapiere es immer noch nicht. Erinnere dich, den ganzen letzten Winter dachten wir doch, sie sei völlig verrückt. Und jetzt auf einmal erweist sie sich als eine hervorragende Schauspielerin.« »Und dazu ist sie noch ein ganz wunderbarer Mensch«, sagte Carol. »Ich weiß. Allmählich fange ich an, sie zu verstehen. Aber wie 13
hast du’s herausgefunden?« Carol lachte. »Ich merkte es, sobald ich mich nicht mehr an ihren Worten stieß, sondern aufpaßte, was sie meinte. Letzten Sommer, als du weg warst, hat sie mir enorm geholfen. Ich versuchte, ganz für mich allein zu üben und zu studieren, und dabei«, fügte sie trocken hinzu, »hatte ich ja von Tuten und Blasen keine Ahnung.« »Und was geschah dann?« »Miss Iverson hörte, wie ich mich abquälte, und da kam sie mir zu Hilfe. Wenn du wüßtest, was sie mich alles lehrte. Du lieber Himmel, Ellen, was sie nicht alles weiß. Sie ließ mich schuften wie ein Sklave. Wenn sie nicht mit mir gearbeitet hätte, wäre ich nie imstande gewesen, die Hazel zu spielen. Und als ich mit der Rolle begann, ließ sie mich stundenlang immer wieder einen einzigen Satz wiederholen. Sie wich mir nicht von der Seite. Und das hätte sie bestimmt nicht nötig gehabt. Sie wollte mir einfach helfen.« »Das war wirklich reizend von ihr. Aber was soll das heißen, du hättest ihr die Rolle in dem Stück verschafft? Davon hast du mir kein Sterbenswörtchen gesagt.« »Ach – das.« Carol kuschelte sich auf ihrem Bett zusammen. »Das ist überhaupt nicht der Rede wert. Miss Marlowe konnte und konnte keine richtige Besetzung für die Millicent finden, und da fiel mir die Iverson ein. Ich wußte, daß die beiden vor langer Zeit einmal zusammen gespielt hatten. Daher fragte ich die Marlowe, ob sie sich an eine Schauspielerin namens Eloise Iverson erinnere. Und sie erinnerte sich. Das war alles.« »Das klingt ja wie ein Wunder«, meinte die gutmütige Ellen. »Ja, aber zum Klappen kam die Sache nur, weil Miss Marlowe sich noch an das Spiel der Iverson erinnerte. Es ist alles Miss Iversons eigenes Verdienst.« Carol rutschte vom Bett herunter, um ins Badezimmer zu gehen. Sie war sehr glücklich und aufgekratzt. Und als sie nun genießerisch in dem nach Badesalz duftenden Wasser lag, stellte sie sich den Eindruck des Times-Artikels auf ihre Familie und die Freunde daheim vor. Der Gedanke war so begeisternd, daß sie plötzlich aus der Wanne sprang und zu Ellen ins Zimmer stürmte. »Miss Gregg, meine liebe Miss Gregg, darf ich Sie für heute abend zu Sardi einladen? Lauf hinunter ans Telefon und laß einen Tisch für uns reservieren. Ich ginge ja selber, wenn ich angezogen wäre.« Carols Hochstimmung hielt den ganzen Tag an und war auch 14
noch beim Aufwachen am nächsten Morgen vorhanden. Sie freute sich sogar auf die Probe des zweiten Aktes, die für elf Uhr angesetzt war. Am Bühneneingang traf sie mit Mr. Dickerson, dem Presseagenten zusammen. »Fein, fein«, begrüßte er sie anerkennend. »Bei diesem Interview haben Sie sich großartig gehalten.« Mike grinste sie von einem Sitz in der ersten Reihe aus an, und Mr. Scott, der Hazels Vater spielte, kniff sie in die Wange und sagte: »Gut gemacht, Kind.« Ohne zuerst in ihre Garderobe zu gehen, lief Carol sofort in die Kulissen. Nur die Arbeitslichter brannten, und der Zuschauerraum war leer, bis auf ein paar vereinzelte, ganz verloren wirkende Kollegen. Miss Iverson war schon auf der Bühne. Sie stand am Telefon. Und einige Augenblicke später erschien Mr. Scott und setzte sich auf das Sofa im Hintergrund. Miss Marlowe, die im Orchestergraben gestanden hatte, trat näher und stützte die Ellbogen auf die Rampe. Sie war mittelgroß, nicht mehr jung und trug das glatte schwarze Haar schlicht aus dem Gesicht gebürstet. Sie hatte leuchtend blaue, durchdringende Augen. »Alle bereit?« fragte sie. »Dann wollen wir mit Szene eins anfangen.« Sie waren alle bereit. Mit einem plötzlich schmerzverzerrten Gesicht beugte Mr. Scott sich auf seinem Sofa vor und faßte mit beiden Händen an die Schläfen. Miss Iverson – jetzt Millicent – griff nach dem Telefon. »Ja, Mama. Nein, Mama. Ich spiele heute Bridge. Aber ich muß! Wir haben doch Turnier. Also gut, Mama, wenn es nicht anders geht.« Millicents fade, weinerliche Stimme unterschied sich so auffallend von Miss Iversons üblicher Sprache, daß sich Miss Marlowe ein Lächeln nicht verkneifen konnte. Dann blickte sie nach oben und sagte: »Nur eine Minute, bitte.« Sie kam schnell auf die Bühne herauf und eilte zur Hinterbühne, wo Carol sie mit dem Elektriker verhandeln hörte. Einen Augenblick später war sie wieder da und stand jetzt neben Carol in den Kulissen. »Es tut mir leid«, sagte sie zu Miss Iverson. »Wollen Sie bitte noch einmal anfangen.« Miss Iverson war gerade bei »Nein, Mama« angekommen, als sie zu jedermanns Erstaunen das Telefon fallen ließ, über die Bühne raste und mit einem Satz auf das Sofa sprang, wo sie den völlig verblüfften Mr. Scott mit der einen Hand am Kragen packte, während sie mit der andern entsetzt auf den Bühnenboden wies. Miss Iversons 15
Augen quollen hervor, ihr Mund stand offen, doch brachte sie keinen Ton heraus. Carol und Miss Marlowe spähten auf die Stelle, sahen jedoch nichts als die Bühnenbretter. Dann zuckte es plötzlich in Carols Gesicht. »Schauen Sie doch nur dort«, kicherte sie. Miss Marlowe schaute, sah und begann, sich vor Lachen zu schütteln. Mr. Scott sah ebenfalls und prustete laut heraus. Das Theater war alt, und mitten durch die Bühne ging ein Riß von ungefähr drei Zentimetern. Diesem Riß entlang bewegte sich hurtig ein steil emporgehobenes Schwänzchen. Miss Iverson fand ihre Stimme wieder. »Eine – Maus!« zeterte sie. Das Schwänzchen setzte seinen Weg fort – sehr geschäftig, sichtlich auf einer Einkaufstour. »Ii – ii!« japste Miss Iverson. Carol und Miss Marlowe lehnten sich gegen die Wand und wußten sich nicht zu helfen vor Lachen. Mr. Scott ächzte vom Sofa her, und aus der Kulisse dröhnte Mikes schallendes Gelächter. Mr. Scott erholte sich schließlich so weit, daß er seinen Kragen aus Miss Iversons Zugriff befreien konnte. Da sie sich aber weigerte, vom Sofa herabzusteigen, stieg er ritterlich zu ihr hinauf und legte beruhigend seinen Arm um ihre Schultern. Verzweifelt klammerte sie sich an ihm fest, und wieder brachen alle in Lachen aus. Als das Schwänzchen endlich verschwand und man sich wieder verständlich machen konnte, erklärte Miss Iverson empört: »Sollte das heute abend wieder passieren, so springe ich in den Orchestergraben. Ich ertrage Mäuse einfach nicht, und vor allem keine Mäuseschwänze.« Dann etwas liebenswürdiger zu Mr. Scott: »Habe ich Ihnen wehgetan, Henry? Ich bitte um Verzeihung. Aber wenn dieser Mäuseschwanz –« »Machen Sie sich keine Sorgen, Eloise.« Miss Marlowe wischte sich die Augen. »Mike ist schon unterwegs und holt etwas, um die Ritze zuzudecken.« Dann flüsterte sie Carol zu: »Ich möchte es ihm aber auch geraten haben, sonst ist’s heute Essig mit der Probe.« Carol, noch ganz schwach vom vielen Lachen, nickte. »Aber Miss Marlowe«, sagte sie, »es war so ein niedliches Schwänzchen.« »Ich weiß. Und so geschäftig.« Beide lachten sie wieder, und mit einem Blick auf Carols glückliches Gesicht sagte Miss Marlowe plötzlich: »Ich bin sehr zufrieden 16
mit Ihrer Hazel, Carol. Sie ist ausgezeichnet. Das wollte ich Ihnen schon lange sagen.« Sie gab Carol einen leichten Klaps auf die Schulter und huschte auf die Bühne hinaus, bevor Carol noch ihren Dank hervorstammeln konnte. Weder Miss Marlowe noch Carol hatten Sherry Kaye bemerkt, die in den Kulissen stand und die freundliche Szene und den Klaps auf die Schulter nachdenklich beobachtet hatte. Mike hatte die Ritze mit einem Stück Sackleinwand überdeckt. Miss Iverson und Mr. Scott waren vom Sofa heruntergeklettert und Miss Marlowe in den Zuschauerraum zurückgekehrt. Die Probe ging weiter. Carol blieb in den Kulissen stehen, und ein wenig später hörte sie hinter sich Sherrys Stimme. »Wie fein für Sie, meine Liebe.« »Wie bitte?« fragte Carol zerstreut. Das weiche Oval von Sherrys Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. »Ich habe nur sagen wollen, daß – hm – daß ich gar nicht wußte, wie gut Sie Miss Marlowe kennen.« Leider war Carol noch viel zu benommen von Miss Marlowes Lob, sonst hätte sie sofort erwidert, daß sie nur eine von Miss Marlowes vielen Elevinnen gewesen sei und sie nicht besser kenne, als man seinen Klassenlehrer kennt. Außerdem verstand sie Sherrys Worte gar nicht genau, sondern hatte nur den verschwommenen Eindruck, daß Sherry ganz allgemein Miss Marlowes Freundlichkeit lobe. »O ja«, sagte Carol, »sie ist immer so.« Sherry antwortete nicht, sondern verfolgte eine Weile schweigend die Probe. Dann sagte sie beiläufig: »Hätten Sie übrigens Lust, nachher mit mir zu essen?« Carol war verblüfft. Carol hatte sie mehr als einmal mit Bühnenstars und Produzenten dinieren sehen und hatte sich auch schon mit Mike darüber unterhalten. Der hatte damals gebrummt, daß es Leute gebe, die sich sogar mit einem dressierten Seehund einlassen würden, falls sie sich etwas davon versprächen. Aber das war Mike mit seinem üblichen Gemecker. Allerdings hatte Sherry sich bis jetzt kaum um Carol gekümmert. Weshalb fing sie ausgerechnet jetzt damit an? Vielleicht findet sie mich mit der Zeit doch noch ganz nett, dachte Carol und ging sofort auf den Vorschlag ein. »Aber natürlich, Sherry«, sagte sie, »schrecklich gern. Das ist reizend von Ihnen.« »Also abgemacht«, erwiderte Sherry. 17
3 Das Mittagessen war vergnüglich. Sherry war unterhaltend und interessant und spielte absolut nicht die Überlegene. Im Restaurant saßen viele Theaterleute, und Sherry erzählte in einer amüsanten Art Anekdoten und ein bißchen Klatsch. »Die dort drüben mit dem geschmacklosen Kleid, das ist Elsa Arnold. Ich spielte einmal mit ihr im gleichen Stück – na, da konnte man was erleben. Sie war damals mit dem Produzenten verheiratet, und sie stritten sich die ganze Zeit. Und das ganze Ensemble stand um sie herum, während sie sich nichts, aber auch gar nichts ersparten. Das Stück war natürlich verheerend. Wir kamen nie bis New York.« »Mein Gott, und was haben Sie gemacht?« »Mir ein anderes Engagement gesucht.« »Einfach so? Sie haben mir nichts, dir nichts ein anderes Engagement bekommen? Wie macht man so was?« »Ach, ich kannte einen Mann, der wieder einen andern Mann kannte. Wenn Sie einmal so lang wie ich beim Bau sind, werden Sie schon merken, daß man nie genug Leute aus der Branche kennen kann.« Carol nickte ernüchtert. »Ja, das habe ich letzten Winter gemerkt, wie wichtig Beziehungen sind.« Sherry lachte. »Wichtig, du lieber Himmel. Sie sind das einzige, was zählt. Was glauben Sie, wie man beim Theater sonst etwas erreicht?« »Na ja«, erwiderte Carol etwas spitz, »vielleicht bin ich verrückt, aber ich bilde mir immer noch ein, daß Arbeit und Talent auch noch etwas gelten – und Glück natürlich«, fügte sie hinzu. Sherry lächelte belustigt. »Meine Liebe«, sagte sie, »jeder ist seines Glückes Schmied. Sie müssen sich bemühen, Leute kennenzulernen, die Ihnen ein Engagement verschaffen können. Beim Theater kann man nie wissen. Schauen Sie mich an. Ich habe praktisch immer ein Engagement. Und wissen Sie warum? Nicht weil ich ein Genie bin, o nein, sondern weil ich mir alle Mühe gebe, nett mit den Leuten zu sein, die mir eine Rolle verschaffen können. Diese Rolle in Schwingen habe ich bekommen, weil ich mich stundenlang von einem Langweiler, der bei Sweetser arbeitet, anöden ließ. Ich war die reinste Klagemauer.« 18
»Das klingt aber gräßlich«, protestierte Carol. »Meinetwegen. Na und Sie? Sie haben doch die Hazel bekommen, weil Sie Mike Horodinsky kennen und die Marlowe. Und wie man sagt, waren Sie es, die der Iverson das Engagement verschafft hat.« »Das stimmt nicht ganz«, entgegnete Carol. »Aber ich verstehe, was Sie meinen.« Sherrys Gesichtspunkt schien ihr billig, doch war es im Grunde genommen tatsächlich nur die zynische Pointierung einer Wahrheit, die sie alle kannten. Beim Theater waren Beziehungen äußerst wichtig. Sie waren mit dem Nachtisch fertig, und Sherry verlangte die Rechnung. Ein paar Minuten später verabschiedeten sich die beiden an der nächsten Untergrundbahnstation. Durch dieses Mittagessen waren sie einander nähergekommen, und obgleich sie sich erst nach einigen Wochen wieder einmal außerhalb des Theaters trafen, war Sherry doch immer kameradschaftlich, manchmal sogar herzlich. »Weißt du«, sagte Carol an einem Abend während der zweiten Aufführungswoche zu Ellen, »Sherry ist furchtbar nett zu mir. Und ich bin froh darüber. Es ist kein Vergnügen, mit jemandem die Garderobe zu teilen, der kaum ein Wort mit einem spricht.« Ellen nickte unsicher, mit einem abschätzigen Blick auf die unzähligen Tuben und Fläschchen auf Sherrys Schminktisch. Ellen war gekommen, um Carol abzuholen, und hatte vorsichtig draußen im Gang auf Sherrys Verschwinden gewartet. »Ist immer noch alles so hektisch?« fragte sie. Carol nahm das Handtuch von ihrem Kopf und griff nach ihrer Bluse. »Mehr als hektisch«, bestätigte sie. Immer wieder wurde etwas am Text geändert, es gab Extraproben, Umgruppierungen im Bühnenbild und tausend Kleinigkeiten, die jedermann zur Verzweiflung brachten. »Na«, sagte Ellen tröstend, »das dauert nicht mehr lange.« Und sie hatte recht. Gegen Ende der dritten Woche wurde das Leben hinter der Bühne allmählich zur Routine, und Anfang Dezember spürte Carol mit einiger Belustigung, daß sie alles bis zu ihrem ersten Auftritt fast schon automatisch machte. Sie kam ins Theater, zog ihre Straßenkleider aus, schlüpfte in den Bademantel, schminkte und kostümierte sich für die erste Szene des ersten Akts. Dann entspannte sie sich. Manchmal dachte sie dabei noch ein wenig über ihre Rolle nach, manchmal plauderte sie mit Sherry. 19
Wenn dann Freddy Larson, der rothaarige, sommersprossige Hilfsinspizient, draußen im Korridor Fünf Minuten rief, stieg Carol die Treppe hinunter und trat in die Kulissen. Dort gab es immer eine kurze Wartezeit, bis Mike mit leiser Stimme Hauslichter befahl und dann, einen Augenblick später, Vorhang auf. Carol war immer wieder fasziniert vom Hochgehen des Vorhangs und dem erwartungsvollen Schweigen draußen im Zuschauerraum – eine Erwartung, die man auf und hinter der Bühne ganz deutlich spürte. In den ersten Minuten wußte man überhaupt nichts über das Publikum, doch im Verlauf des Spieles empfand man es immer mehr als eine Einheit – einmal verständnisvoll mit raschem Gelächter oder Schluchzen reagierend, dann wieder dumpf und schwerfällig wie ein großer Klumpen, der wie ein Gewichtstein an Stück und Schauspielern hing. Manchmal war es aber auch gar keine Einheit, sondern eine Anzahl Gruppen, die sich ganz verschieden verhielten – gefleckt nannten die Kollegen das. Und hin und wieder war es zum Verzweifeln unruhig. Jedes Publikum machte das Stück zu einem neuen Stück, und jede Aufführung unterschied sich von der andern. In den Pausen ging Carol entweder in ihre Garderobe, oder sie unterhielt sich mit ihren Kollegen. Gesprächsstoff gab es immer in Hülle und Fülle – wie das Stück sich heute anließ – oder persönliche Schwierigkeiten in dieser oder jener Szene –, und immer wieder galt es, unerwartete Zwischenfälle zu meistern. Einmal hatte Harry Stewart, Sherrys Partner, sein Stichwort überhört, und Sherry mußte verzweifelt irgend etwas improvisieren, bis er endlich auf der Bühne zu erscheinen geruhte. Ein andermal war Miss Iverson an einem Nagel hängengeblieben und hatte ihr Kleid zerrissen, so daß sie sich für den Rest der Szene den Zuschauern nur von vorne zeigen konnte. Das Ensemble genoß diese Zwischenfälle, und hinterher wurde in den Kulissen weidlich gelacht. Meistens kamen sie alle gut miteinander aus, und niemand machte sich die Arbeit leicht. Kurz vor Weihnachten kamen Carols Eltern für ein paar Tage nach New York und besuchten vier Aufführungen von Schwingen. Carol war stolz, aber auf der Bühne schrecklich nervös. Ihre Eltern waren ebenfalls stolz und absolut nicht nervös. Richter Page war sichtlich erleichtert, daß das Ensemble nicht aus lauter Irrsinnigen, sondern aus hart arbeitenden Männern und Frauen bestand. 20
»Du hast recht gehabt, Kindchen«, sagte er, »es sind nette Leute, und du bist eine gute Schauspielerin. Und ich freue mich, daß du deinen Kopf durchgesetzt hast.« Sherry Kaye allerdings war weniger nach seinem Geschmack, und er runzelte einige Male die Augenbrauen in einer Art, die Carol nur zu gut kannte. Mrs. Page, elegant und gepflegt wie immer, nahm wie gewöhnlich alles von der heiteren Seite. Während Mrs. Pages Anwesenheit nahm sich Mike – zu Carols höchster Belustigung – unerhört zusammen. Mrs. Page mochte ihn von jeher gern, schon seit Carols Elevenzeit. Allerdings war sie nach Carols Meinung auch der einzige Mensch, zu dem Mike unentwegt höflich und liebenswürdig war. »Ehrenwort«, sagte Carol zu Ellen, »er hat sich fast für sie zerrissen. Es hat nur noch gefehlt, daß er seinen Mantel über eine Pfütze breitet, damit sie trocknen Fußes hinüberschreiten kann.« »Da sieht man mal wieder seinen guten Kern«, erwiderte Ellen. »Und deine Mutter wirkt nun mal so auf die Leute. Wobei ich sagen muß, daß ich keine Ahnung hatte, wie amüsant er sein kann. Bei uns ist er das nie.« »Mike kann wirklich nett sein, wenn er will«, sagte Carol, »wenn er nur ein bißchen öfter wollte.« Als ihre Eltern wieder abgereist waren, fiel Carol wieder in die bekannte Routine zurück. Sie genoß ihr Leben. Wenn sie Zeit hatte, schaute sie sich mit Ellen zusammen andere Theaterstücke an. Manchmal kamen auch Freddy und Mike mit. Ab und zu gingen sie auch ins Kino. Gelegentlich luden die Scotts sie zum Abendessen ein. Oder man versammelte sich in Mrs. Garretts Küche, um die raffiniertesten Gerichte zusammenzubrauen und bis in die frühen Morgenstunden zu plaudern. Einmal, als Carol und Freddy sich mit dem Waffeleisen abmühten, hörte sie zu ihrem Erstaunen, wie Ellen leise zu Mike sagte: »Machst du dir denn immer noch Sorgen um sie?« Und Mikes Antwort: »Natürlich. Sie hat ja noch immer nicht begriffen, wie schwer das Leben sein kann.« Einen Augenblick fragte sich Carol zweifelnd, ob die beiden wohl von ihr gesprochen hätten. Aber dann sagte sie sich, daß es sich wahrscheinlich um irgendeinen von Mikes zahlreicher Verwandtschaft handelte. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Im übrigen zankten sie und Mike sich freundschaftlich weiter wie eh und je. An den Vormittagen machte Ellen immer wieder die bekannte Runde in 21
den verschiedenen Produzentenbüros. Mit immer weniger Hoffnung, je weiter die Saison vorrückte. Immerhin bekam sie einen Zuschuß von daheim. Daher blieb sie wenigstens von Geldsorgen verschont. »Wie ist es eigentlich«, fragte sie eines Abends nachdenklich, als sie wieder einmal Carol abholte, »so tagtäglich im gleichen Theater zu arbeiten? Ich bin ja nur auf Tournee gewesen, und das ist ja etwas ganz anderes.« Carol, die auf Anregung ihres Agenten am Mittag in einem Frauenclub gegessen hatte, fühlte sich höchst zufrieden mit sich und der Welt. »Ach«, sagte sie, »mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. In der Türklinke meiner Garderobe ist eine Kerbe, und irgendwie beginnt meine ganze Theaterroutine in dem Augenblick, in dem meine Hand diese Kerbe berührt.« Sie hielt inne und blickte lachend auf eine gerahmte Karikatur von sich selbst, die an der Wand hing. »Unter dieser Zeichnung ist ein abscheulicher Riß – in der Wand natürlich. Irgendwie sah er so lebendig aus, und ich haßte ihn. Diese Karikatur hat mich gerettet. Und dann die Kollegen. Ich mag sie wirklich alle schrecklich gern. Aber es gibt Kleinigkeiten, die einem auf die Nerven gehen. Mr. Scott, zum Beispiel. Er ist reizend, aber er gurgelt.« »Was tut er?« »Er gurgelt. Jeden Abend. Man hört ihn im ganzen Haus, und alle hoffen, daß er einmal erstickt. Und dann Joe Rosebury.« »Was tut denn der? Schnupft er Tabak?« »Nein, er liebt Hot Jazz. Er hat ein Grammofon in seiner Garderobe, und wenn er es laufen läßt, klingt es wie ein Dutzend Kater im Februar. Einfach gräßlich. Wir alle könnten«, sagte Carol vergnügt, »den lieben Joe erwürgen.« »Und sonst – rein persönlich – abgesehen von den Geräuschen – gibt es nichts?« »Ach doch«, sagte Carol grinsend. »Sherry und Harry Stewart sprechen nicht mehr miteinander, weil Sherry ekelhaft zu ihm war, als er sein Stichwort verpaßte. Und dabei haben sie diese Liebesszene im zweiten Akt, wo sie sich küssen müssen. Wenn du sie nur nachher einmal hören könntest. Sie behauptet, er rasiere sich absichtlich schlecht, um ihr mit seinen Bartstoppeln die Haut zu zerkratzen, und er sagt, jedesmal, wenn sie ihm durchs Haar fährt, versucht sie, ihm das Ohr abzureißen.« »Eine einzige glückliche Familie«, stellte Ellen fest. 22
»Genau.« Carol gähnte. »Wenn Mike und Freddy nicht bald kommen, gehen wir allein. Ich bin am Verhungern.« »Du wirst’s überleben«, sagte Mikes rauhe Stimme unter der Tür. »Eigentlich solltest du doch ganz schön gesättigt sein von deinem Mittagessen im Damenclub. Wie war’s denn überhaupt?« »Gar nicht so schlimm. Mr. Scott hielt einen Vortrag über Modeströmungen im Theater. Ich machte auf wohlerzogen und sagte, daß ich meine Rolle liebe und daß sie hoffentlich alle einmal kämen, um sich das Stück anzusehen. Mr. Dickerson hat mir beigebracht, was ich sagen soll, und anscheinend kam es an, denn eine Menge Damen streichelten mir die Wangen und sagten, ich sähe aus wie ihre Enkelin.« »Du bist also jetzt unser Reklamepferd«, grinste Mike. »Ich bin gespannt, was Dickerson diesmal für dich ausgetüftelt hat.« Sie entdeckte es bereits am nächsten Morgen. Mr. Dickerson wartete im Gang hinter der Bühne auf sie. Er war ein dicker, freundlicher, kleiner Mann, der sich ständig die Glatze rieb. Und er rieb sie auch diesmal, als er zu reden begann. »Carol, haben Sie Montag nachmittag etwas vor?« »Nein, eigentlich nicht«, sagte Carol zerstreut. »Warum?« »Wären Sie einverstanden, als Schiedsrichter bei einem Babykrabbelwettbewerb zu fungieren?« »Bei was?« Mr. Dickerson strich sich wieder über die Glatze. »Es ist für die Manhatten-Lebertranfabrik. Die Firma läßt die Babies krabbeln, und Sie verteilen die Preise. Das gibt Reklame für die Firma und für uns.« »Und was gibt’s für die Babies, außer einem Schnupfen?« »Irgendeinen Becher oder so etwas. Selbstverständlich wollte die Firma die Marlowe haben, aber ich habe Sie vorschieben können.« »Meinen innigsten Dank«, sagte Carol höhnisch. »Es klingt scheußlich.« Und es war auch scheußlich. Der Wettbewerb fand in der Turnhalle einer Knabenschule statt – kalt und zugig und ächzend im Januarwind. Die Turnhalle war überfüllt, und es gab zwanzig widerstrebende Babies, die nicht die geringste Lust hatten, die fünf Meter zwischen den beiden Kreidelinien entlangzukriechen. Die meisten von ihnen krabbelten über die Linien hinaus oder blieben einfach sitzen, wo sie saßen, trotz dem Drängen der ehrgeizigen Mütter. Schließlich und endlich gelangte doch eines der Kinder ans Ziel, und 23
während ringsum Blitzlichter aufzuckten, überreichte Carol – mit vor lauter Lächeln bereits ganz steifem Gesicht – ihm den silbernen Becher. Als das Baby dann mit seinen stolzen Eltern fotografiert wurde, blickte Carol sich gelangweilt um. Die meisten Kinder waren schon in die mütterliche Obhut zurückgeholt worden. Nur ein kleiner Flachskopf saß noch allein mitten auf dem Boden. Es war ein vergnügtes Kind mit einem Clowngesicht und verschmitzten Augen. Einem Impuls folgend, ging Carol zu ihm hin. Das gefiel dem Kleinen. Sie redete mit ihm, und er war entzückt. Total vergessend, wo sie war, nahm Carol es auf und schwang es hoch in die Luft. Das Baby schaute herunter, und Carol schaute hinauf – beide strahlend vor Lebenslust. Weder Carol noch die Zuschauer bemerkten den Mann, der ganz in der Nähe der Turnhallenwand eine kleine Kamera zückte. Der Sieger im Babyrennen wurde am nächsten Tag mit drei Zeilen in der Quartierpresse bedacht, zusammen mit einer unscharfen Foto von ihm und Carol bei der Übergabe des Bechers. Die ganze Sache wurde kaum beachtet. Dann aber, am Ende der Woche, brachte Today, eine grosse Illustrierte, ein ganzseitiges Bild von Carol und dem in der Luft jauchzenden Kleinen. Der Fotograf hatte das begeisterte Kind und das selbstvergessene Mädchen in einer Haltung erwischt, wie sie bei stundenlangem Posieren niemals hätte erreicht werden können. Today wurde in den ganzen Vereinigten Staaten gelesen, und Carols Name stand in der Legende unter dem Bild. Ihre Kollegen waren tief beeindruckt, nur Mike versicherte ihr, daß sie sich alle zehn Finger abschlecken könne, wenn sie so aussähe wie auf dem Bild. »Das weiß ich, Mike. Aber mußt du mir denn immer alle Freude verderben?« »Das war ja gar nicht meine Absicht«, erwiderte Mike und fügte überraschenderweise hinzu: »Im Grunde genommen finde ich es nämlich prima.« »Nein, wirklich, Mike?« Carol war verblüfft. »Du lieber Himmel, schließlich kann ich auch noch eine gute Fotografie von einer schlechten unterscheiden. Und dieser Bursche hat ein glänzendes Bild von dir gemacht.« Mit diesen Worten schlurfte er davon. Carol ging in ihre Garderobe. »Hallo«, sagte Sherry, »Sie werden noch berühmt. Kennen Sie zufällig Wilbur Arlington?« 24
»Nein. Warum?« »Er hat heute morgen im Today das Bild von Ihnen gesehen und mich daraufhin sofort angerufen. Ich soll Sie am Sonntag zu seiner Party mitbringen.« Carol machte große Augen. »Sie meinen – nur weil er mein Bild gesehen hat?« Sherry nickte. »Ja, so ist er nun einmal. Verrückt auf Berühmtheiten. Er fing an, mich einzuladen, als ich meine erste große Rolle bekam.« »Aber ich bin keine Berühmtheit.« »Sie spielen in Schwingen mit Phyllis Marlowe zusammen. Man hat sie in den Kritiken erwähnt. Und Sie sind das Bild der Woche in Today. Das genügt für Wilbur.« »Aber wer ist er? Was tut er?« »Er tut gar nichts. Er hat einen Haufen Geld, und sein Psychiater hat ihm geraten, sich ein Hobby zuzulegen. So gibt er also Parties – hauptsächlich für Theaterleute, mit ein paar Schriftstellern und Künstlern untermischt. Manchmal ist es ganz amüsant.« »Aber sind Sie denn ganz sicher, daß er mich auch wirklich einladen will? Wo er mich doch gar nicht kennt. Mir kommt die Sache komisch vor.« »Liebes Kind«, sagte Sherry mitleidig, »dreiviertel der Leute, die zu Wilburs Parties gehen, hat er noch nie vorher gesehen. Man weiß nie, wen man dort trifft. Und wie gesagt, manchmal kann es ganz unterhaltend sein.« »Ja, wenn Sie denken, daß es das richtige sei.«
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4 Am Sonntag abend um halb zehn Uhr hielt ein Taxi vor der Tür, und kurz darauf rief Mrs. Garrett dröhnend die Treppe hinauf: »Carol, ein junger Mann für Sie.« Carol wäre es lieber gewesen, wenn ihr Begleiter etwas formeller angekündigt worden wäre, doch hoffte sie durch ihr würdevolles Hinabrauschen alles wieder auszugleichen. Es war ein spektakuläres Hinabrauschen, denn Carol trug ihr bestes Abendkleid – Silberlamé mit langen Ärmeln und einem tiefen Rückenausschnitt. Es war das eleganteste Kleid, das sie je besessen hatte, und sie fühlte sich höchst raffiniert. Und sah blutjung aus. »Hui!« sagte der nette junge Mann am Fuß der Treppe. »Das übertrifft meine kühnsten Erwartungen.« Er trug keinen Smoking sondern einen gut geschnittenen dunklen Anzug. Und er schien nett. Carol lächelte ihm zu. »Ich heiße Jerry Caldwell«, sagte er. »Sherry und Ed warten im Taxi.« Und überraschend fügte er hinzu: »Wissen Sie, daß ich bis über die Ohren verliebt in Sie bin?« Carol, an die Extravaganzen der Theaterkonversation gewöhnt, erwiderte schlagfertig: »Wer weiß, vielleicht verliebe ich mich auch noch in Sie. Es kommt ganz darauf an, wie Ihr Charakter sich entwickelt.« »Ich habe noch gar keinen. Aber für Sie lege ich mir einen zu«, versprach er und half ihr in den Mantel. Dann gingen sie zu dem wartenden Taxi hinaus. »Carol, das ist Ed«, sagte Sherry aus den Tiefen ihres Pelzmantels. Und Carol wechselte einen Händedruck mit einer massigen Gestalt, deren Züge verschwommen, doch deren Stimme angenehm war. Das Taxi brachte sie zu Wilburs Haus. Aus allen Fenstern strahlte festliches Licht. »Wie schön«, sagte Carol. Jerry lachte. »Warten Sie erst, bis Sie Wilburs Wohnung sehen. Sie ist überwältigend.« Dies war, wie Carol fünf Minuten später Jerry versicherte, eine Untertreibung. Wilburs Wohnung bestand aus Gold und schwarzem Glas. Das riesige Wohnzimmer, in dem sich eine Menge Menschen um ein kaltes Büffet drängten, war mit einem marineblauen Spannteppich ausgelegt. Wilbur war weniger eindrucksvoll. Er war groß, bleich, mit spärlichen Haaren und einem leicht verblödeten Blick. 26
»Meine Liebe! Wie reizend!« begrüßte er Carol. »Ich finde Sie bewundernswert – einfach bewundernswert. Und war für ein charmantes Interview mit der Times. So, ihr Kinder, und jetzt unterhaltet euch recht gut. Heute abend sind ein paar besonders nette Leute hier.« Das war das Letzte, was Carol von Wilbur sah. Sherry stellte sie in aller Eile einer ganzen Reihe Leute vor, einschließlich einer bekannten Fernsehdarstellerin und verschiedener Personen, die behaupteten, beim Film zu sein und sich momentan ein wenig in New York ausruhen zu wollen. Auch ein Produzent, namens Martin Long, war da, von dem Carol noch nie etwas gehört hatte. Und Lorraine Holt, eine Schauspielerin, deren Anwesenheit Carol erstaunte, denn Miss Holt war kürzlich in einen höchst unerquicklichen Skandal verwickelt gewesen. Dann war Sherry von einem Ehepaar mit Beschlag belegt worden, und Carol, die gefürchtet hatte, verlassen in einer Ecke stehen zu müssen, stellte fest, daß sie plötzlich der Mittelpunkt eines äußerst angeregten Grüppchens war. Sie war zu jung und unerfahren und zu begeistert, eine solche Party mitmachen zu können, um die Dinge zu merken, die einer erfahreneren Person sofort aufgefallen wären. Sie merkte nicht, daß die Unterhaltung zu laut war, und daß sich niemand recht wohl fühlte. Sie spürte die unruhigen Augen nicht, die ständig jemanden suchten, auf den man Eindruck machen konnte. Die Männer waren zu blaß, und die Frauengesichter zu maskenhaft. Doch das Licht war merkwürdig, und Carol glaubte, in dieser Beleuchtung ebenso auszusehen. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sie die einzige frische, gesunde und natürliche Person in der ganzen Wohnung war – außer dem jungen Jerry Caldwell. Sie hörte nicht, wie sich die Leute über Wilbur lustig machten. Nach einiger Zeit kam der Produzent Martin Long auf sie zu, nahm sie am Ellbogen und schob sich mit ihr durch die Menge zum Büffet. »Wie darf man ein so reizendes junges Mädchen hungern lassen?« fragte er und schnaufte ihr ins Gesicht. Sein Blick war ihr unangenehm, aber sie wußte nicht, wie sie sich dagegen wehren sollte. Da sie ihn aber auch nicht verletzen wollte, nahm sie den Teller Hummersalat, den er ihr reichte. Er drückte ihren Arm, schnaufte wieder und entfernte sich in Richtung Punschterrine. 27
Plötzlich merkte Carol, daß Jerry Caldwell neben ihr stand. »Hören Sie«, sagte er, »Sherry will weg. Sie langweilt sich. Wir gehen irgendwohin tanzen.« »Fein. Das ist mir sehr recht.« Irgendwie war Carol erleichtert. »O. K. Essen Sie noch den Rest auf ihrem Teller auf. Inzwischen hole ich Ihren Mantel.« Er verschwand und tauchte gerade als sie mit ihrem Hummer fertig war mit dem Mantel wieder auf. »Jetzt aber nichts wie los!« verkündete Ed. Carol wollte sich zuerst noch von Wilbur verabschieden und sich bei ihm bedanken, doch die andern blickten sie derart erstaunt und belustigt an, daß sie verwirrt und gehorsam mit Sherry hinausging. Erst in der Morgendämmerung kam sie heim. »Na«, sagte sie zu Ellen, die erwachte und sofort alles wissen wollte, »die Party war ziemlich enttäuschend – ungefähr wie die Parties in den Filmen. Nachher war es viel lustiger.« »Nachher?« »Ja. Wir blieben nicht lange. Sherry wollte tanzen, und wir waren in allerhand Lokalen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Und ich lernte einen Mann kennen, der mein Agent werden will – anstatt George. Er begleitete Sherry und war furchtbar nett.« »Was ist Nettes daran, daß er George zu verdrängen sucht? Das wirst du doch nicht machen? Oder?« »Natürlich nicht. Aber das Angebot fand ich so reizend.« »Wieso reizend? Du meine Güte, Carol, ich glaube, du bist verrückt.« »Ach, ich weiß nicht. Ich bin ganz einfach müde. Ich könnte eine Woche lang schlafen.« Sie schlief bis drei Uhr nachmittags. Und da Ellen um sechs nicht heimkam, aß sie allein zu abend. Kurz nach sieben nahm sie ihren Mantel und ging zum Theater. Auf dem Weg in ihre Garderobe sah sie Mike gerade hinter der Bühne verschwinden und rief ihm zu. Er drehte sich um und blickte sie an. Dann winkte er. Carol folgte ihm bis zu einer der Korridorlampen. Dort zog er eine Zeitung aus der Tasche und fragte: »Hast du das schon gesehen?« »Dieses gräßliche Blatt? So was rühr ich doch nicht an.« »Es steht aber etwas drin, das dich vielleicht interessieren dürfte.« Er drückte ihr die Seite mit der Klatschspalte in die Hand. Befremdet las Carol zwei Abschnitte über Jet-Set-Skandale, ü28
bersprang einen dritten und entdeckte dann ihren eigenen Namen. Dort stand: »Bei Wilbur Arlington war es gestern abend wieder einmal sehr festlich. Selbstverständlich hatten sich wieder sämtliche Stammgäste eingefunden – die Broadway-Leute, die keine Party bei Arlington versäumen – hauptsächlich, wenn sie schon eine Weile nichts gegessen haben. Man sah Lorraine Holt in schwarzem Satin mit Goldquasten. Martin Long, der Produzent, war ebenfalls anwesend und höchst interessiert an der hübschen kleinen Carol Page, die in Schwingen mitspielt. In ihrem Silberlamékleid mit dem tiefen Rückenausschnitt sah sie bezaubernd aus. Vorsicht, kleine Carol!« »Was für ein Quatsch!« explodierte Carol. »Ich habe diesen Menschen doch kaum gesehen. Er drückte mir einen Teller Hummersalat in die Hand und war im nächsten Moment verschwunden.« »So?« sagte Mike. »Und was hast du bei einer solchen Party zu suchen?« »Was soll das heißen, Mike?« Mike schnaubte. »Aber Mike, hast du dich vielleicht aufgeregt, als wir im Pinguin-Club waren, und die Bilder davon in allen Zeitungen erschienen?« »Stell dich doch nicht dümmer, als du bist, Page«, sagte Mike kurz. »Das war doch nur eine ganz seriöse Reklame für den Club und für uns. Die Parties bei Arlington sind etwas ganz anderes. Kein anständiger Mensch geht dorthin. Er lädt alles ein, vom windigsten Hochstapler bis zum abgefeimtesten Halunken. Und merkt’s nicht einmal.« »Aber Mike.« »Wer hat dich dort eingeführt?« tobte Mike. »Diese Kaye natürlich. Ich bin überzeugt davon.« »Mike, bitte hör auf. Sherry ist –« »Ich weiß, was sie ist: eine schamlose Ausnützerin. Hinter allem her, was ihr irgendwie nützlich sein kann. Jetzt hat sie’s auf dich abgesehen, weil sie sich einbildet, daß die Marlowe dich mag – weil sie erfahren hat, wie die Iverson zu ihrer Rolle gekommen ist – weil sie glaubt, du wärst ein angehender Star und könntest ihr vielleicht nächstes Jahr nützlich werden – oder auch in fünf Jahren erst.« »Mike!« Carols Wangen waren gerötet, und ihre Augen funkelten. »Schweig! Ich will das nicht hören. Sherry ist meine Freundin und –« 29
»Paß auf!« brüllte Mike. »Du hältst dich gefälligst aus diesem Haufen Stinktiere heraus, die sich an Arlington hängen, weil der alte Simpel Geld hat. Hat dich irgend jemand eingeladen?« »Ja«, antwortete Carol unwillkürlich, »ein Mr.…« »Daß du mir nicht mit ihm gehst!« Eine kühle Stimme unterbrach Mikes hitzigen Erguß. »Aber Mr. Horodinsky, wie lange wollen Sie Carol noch am Gängelband führen?« Beide fuhren herum und sahen Sherry, die überlegen lächelnd hinter ihnen stand. »Hören Sie«, schrie Mike sie an, »lassen Sie gefälligst dieses Mädchen in Ruhe!« Sherry ignorierte ihn und lächelte Carol zu. »Es tut mir schrecklich leid, Carol. Ich wollte Sie nicht in Schwierigkeiten mit dem Herrn hier bringen. Ich habe nicht gewußt, daß…« »Aber Sherry«, sagte Carol, »wo kommen Sie denn her? Ich merkte gar nicht…« »Wie lange ich schon hier bin? Was macht das für einen Unterschied? Wenn man niederträchtige Dinge über mich sagt, so möchte ich gern alle Einzelheiten wissen.« »Wenn Sie alle Einzelheiten wissen wollen«, knurrte Mike, »so besteht absolut keine Notwendigkeit zu lauschen. Die sage ich Ihnen auch so. Die Page ist ein anständiger Kerl. Und das wissen Sie, und Sie zerren sie in den Dreck. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen ihre Finger von ihr lassen, so ist das mein Ernst.« Sherry ignorierte ihn noch immer. »O. K. meine Liebe«, sagte sie freundlich zu Carol, »regen Sie sich nur ja nicht auf. Ich werde Sie nie mehr zum Ausgehen auffordern, wenn Sie sich jedesmal hinterher eine solche Szene gefallen lassen müssen…« Carol hatte ihre Stimme wiedergefunden. »Mike«, sagte sie nachdrücklich, »ich glaube, wir wollen jetzt ein für allemal reinen Tisch machen. Ich habe die Absicht, mein eigenes Leben zu leben und mir meine Freunde selber auszusuchen. Was ich tue, geht dich nichts an und ist dich auch nie etwas angegangen. Bitte, Sherry, wollen Sie nach der Vorstellung mit mir essen?« »Mit dem größten Vergnügen.« »Gut«, sagte Carol und dann, im Gefühl, daß das der passende Abgang sei, machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte in ihre Garderobe hinauf. Allein gelassen, standen sich Mike und Sherry einen Augenblick 30
schweigend gegenüber. Jetzt lag keine Freundlichkeit mehr in Sherrys Augen, obgleich ihre Stimme, als sie nun zu sprechen begann, sehr, sehr sanft klang und ihr Mund lächelte. »Ich weiß etwas von Ihnen«, sagte sie noch immer lächelnd und hielt dann einen Moment inne. »Sie sind in Carol verliebt.« An Mikes Hals traten plötzlich die Adern hervor, doch Sherry wartete seine Antwort nicht ab. »Ich glaube«, sagte sie, »daß es mir einen Mordsspaß machen würde, Ihnen dazwischenzufunken. Auf jeden Fall könnte man’s mal versuchen.«
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5 »Aber stimmt das denn wirklich?« fragte Carol. »Waren tatsächlich so viele anrüchige Leute auf dieser Party? Von Lorraine Holt wußte ich’s ja, aber sonst –« »Liebes Kind«, sagte Sherry und legte ihren Lippenstift weg, »wo sind denn keine anrüchigen Leute? Und diese Lorraine Holt – zugegeben, sie hat reichlich Staub aufgewirbelt, aber hat sie Ihnen vielleicht etwas zuleide getan?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte Carol unbehaglich. Einen Augenblick starrte sie ihren Schminkkasten an. Dann fuhr sie fort: »Aber wer ist dieser Produzent? Er – er drängte sich an mich heran, und er war – ich mochte ihn nicht.« Sherry lachte. »Ach, kümmern Sie sich doch nicht weiter um den. Der ist sowieso pleite.« »Nja«, sagte Carol unsicher. »Ich wollte ihn nicht kränken oder ungezogen sein.« »Du lieber Himmel«, lachte Sherry, »Sie sind tatsächlich noch sehr jung.« Sie drehte sich auf ihrem Stuhl nach Carol um. »Sie müssen sich wirklich von niemandem etwas gefallen lassen. Und Sie brauchen auch mit niemandem zu reden, den Sie nicht mögen. Sagen Sie einfach, Sie seien mit jemand anderem verabredet, und dann lassen Sie ihn stehen. Schließlich geht man zu einer Party, um sich zu amüsieren und um Leute kennenzulernen, die einem nützlich sein können.« Sie wandte sich wieder dem Spiegel zu. Carol überlegte schweigend, während sie sich zu schminken begann. Sie hoffte, sich mit der Zeit an Sherrys Zynismus zu gewöhnen. Auf jeden Fall war Sherry eine vernünftige Person, die konstruktive Vorschläge machte. Und sie regte sich nicht über jede Kleinigkeit auf. Sie hatte Haltung. Wenn ich nur halb so überlegen wäre wie sie, dachte Carol. Es sagt sich leicht, einen Langweiler stehen zu lassen, aber ich zweifle, ob ich es kann. Während Carol noch nachdenklich trödelte, hatte Sherry ihr Make-up beendet, und während sie in ihr Kostüm schlüpfte, sagte sie liebenswürdig: »Sie müssen aus diesem einförmigen Trott heraus, Carol.« »Aus welchem Trott?« fragte Carol erstaunt. »Aus welchem Trott! Du lieber Himmel, da haben Sie eine Bombenrolle in einer Marlowe-Inszenierung – in einem Hit –, und was 32
tun Sie? Nach der Vorstellung essen Sie und die kleine Gregg mit Mike und Freddy zusammen ein billiges Nachtessen in irgendeinem obskuren Lokal, und dann gehen Sie schlafen. Sie sehen niemanden, und Sie unternehmen nichts. Und ich bin überzeugt, daß Sie am Sonntag daheim auf Ihrer Bude sitzen.« Carol war gerade dabei, ihre Lider zu schminken. Jetzt hielt sie inne, um sich gegen diese Feststellung zu wehren. »Aber wir gehen doch öfters aus«, sagte sie. »Wir haben Freunde in der Stadt – junge Leute, die wir im letzten und vorletzten Jahr kennenlernten.« »Das meine ich ja gerade. Junge Leute! Können die Ihnen eine Rolle verschaffen?« »N-n-nein. Aber da sind auch noch die Scotts. Und Miss Marlowe wird bestimmt an mich denken. Und mit Jane Sefton bin ich auch ein wenig bekannt.« »Jane Sefton?« Selbst Sherry staunte bei dem Namen der weltbekannten Schauspielerin, und Carol mußte innerlich grinsen. Sherry war jedoch nicht der Mensch, um lange zu staunen. »Jane Sefton ist in England«, sagte sie. »Die Marlowe ist in Ordnung, und Henry Scott ist ein netter Kerl und ein guter Schauspieler, aber diese drei Bekanntschaften werden kaum genügen, Ihnen bis in alle Ewigkeit Rollen zu verschaffen. Vergessen Sie die schlimme Zeit nicht, die Sie letztes Jahr hatten.« »Die werde ich bestimmt nicht vergessen.« »Schön, wenn Sie so etwas nicht wieder erleben wollen, dann sollten Sie sich mehr bei Parties sehen lassen und möglichst viele Leute kennenlernen, die Ihnen im kommenden Jahr behilflich sein können. Ganz gleich, was Mike dazu sagt.« »Aber er hat nicht wirklich –« »Mißverstehen Sie mich nicht«, unterbrach Sherry sie, »Mike meint es gut mit Ihnen, das weiß ich. Aber Sie verplempern Ihre Zeit, wenn Sie immer nur mit ihm in billigen Cafés herumsitzen. Er hat einen beschränkten Horizont. Und er ist so daran gewöhnt, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen, und wann und wo Sie es tun sollen, daß er gar nicht merkt, daß Sie ein erwachsener Mensch sind, der für sich selber entscheiden sollte.« Carol dachte nach. Mike hatte sie immer angebrüllt, immer mit ihr gestritten und sie immer wie ein einfältiges Kind behandelt – aber er war ein guter Freund. Er hatte ihr schon in vielen schwierigen Situationen beigestanden – er hatte ihr diese phantastische Rolle verschafft – und man konnte sich blind auf ihn verlassen. Dieser 33
Streit hatte gar nichts zu bedeuten – ganz sicher nicht. Er würde keine Woche dauern. Aber trotzdem hatte er kein Recht, sie zu schulmeistern – und das versuchte er. Warum sollte sie eigentlich nicht öfter ausgehen? Sherry hatte nicht nur recht, sie war sogar unglaublich anständig in bezug auf Mike – nach all dem, was er ihr ins Gesicht gesagt hatte. »Ich verstehe, was Sie meinen«, erklärte Carol. Sie beugte sich zum Spiegel vor, setzte einen winzigen roten Punkt in jeden Augenwinkel und betrachtete das Resultat. »Wahrscheinlich sollte ich wirklich mehr Leute kennenlernen«, gab sie zu. »Aber ich bin mir nicht ganz klar, wie man so etwas macht.« »Da könnte ich Ihnen behilflich sein – wenn Sie wollen«, erwiderte Sherry. »Ich kenne die halbe Stadt. Und ich will gern dafür sorgen, daß Sie ein paar Leute kennenlernen, bei denen es sich lohnt. Ich kann Ihnen versichern, sie beißen nicht. Und ich will nur hoffen, daß Mike es auch nicht tut.« »Der soll sich nur unterstehen!« sagte Carol energisch und begann, Rouge aufzulegen. »Gut, dann wollen wir weiter sehen.« Sherrys Ton war verständnisvoll, freundlich und warm. »O Sherry, das ist reizend von Ihnen.« »Ich freue mich schon darauf«, sagte Sherry. »Aber jetzt wird es Zeit, Kindchen. Hören Sie, der Fünf-Minuten-Ruf.« »Ach, du meine Güte!« Carol fuhr sich mit der Puderquaste über das Gesicht und nahm ihr Kostüm. Sie bezweifelte nicht, daß Sherry damit beginnen würde, sie in eine aufregende neue Welt einzuführen. Zwei Abende später überbrachte Sherry ihre erste Einladung zu einem großen, und wie sich erwies, faszinierenden Bankett am Sonntagabend. Es war eine Party, die ein Produzent zu Ehren einer englischen Schauspielerin gab. Darauf folgten einige kleinere, intimere Essen bei Agenten und Direktoren. Niemand dort war überwältigend wichtig, aber alle hatten einen guten Namen in der Theaterwelt, und jeder von ihnen konnte, wie Sherry bemerkte, Carol für eine spätere Rolle empfehlen. Falls sie ihnen gefiel, und sie sie in Schwingen gesehen hatten. Die meisten hatten sie in Schwingen gesehen. Und Carol hoffte, ihnen zu gefallen – auf der Bühne und auch privat. Sherry war bei diesen Parties weder versnobt noch affektiert, sondern amüsant und witzig, und sie wußte genug, um überall mitreden zu können. Sie war charmant zu den Männern und respektvoll in 34
der Unterhaltung mit älteren Kolleginnen. Kein Wunder, dachte Carol, daß sie überall eingeladen wird und immer in irgendeinem Stück eine Rolle bekommt. Je öfter sie Sherry sah, desto empörender fand sie Mikes Benehmen. Übrigens war er noch immer verletzt. Carol hatte erwartet, daß er ausfällig und grob sein werde. Doch er benahm sich übertrieben höflich. Carol verhielt sich ebenso höflich, und nach zwei Wochen begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie hatte ihren Streit nicht ernst genommen. Sie hatte sich nur gegen diese ständige Bevormundung gewehrt. Aber irgend etwas war schiefgegangen. Der Streit war nicht nur ernst gewesen, er blieb es auch. Und er schien sich nicht beilegen zu lassen. Mike mied sie im Theater, und nach der Vorstellung fand Carol vor lauter Verabredungen buchstäblich keine Zeit mehr, ihn zu sehen. Nach wie vor traf er sich mit Ellen. Doch Carol war zu stolz, um selbst ihre beste Freundin um Vermittlung zu bitten. Inzwischen begannen ihre neuen Bekannten, sie zum Ausgehen einzuladen, entweder mit Sherry zusammen oder auch ohne sie. Und während der zweiten Februarhälfte und im ganzen März kam Carol fast nie vor der Morgendämmerung nach Hause. Und obgleich sie fast den ganzen Tag lang schlief, wurde sie allmählich doch ein bißchen müde. Es fiel ihr schwer, an Tagen mit Nachmittags- und Abendvorstellungen zu spielen und dann noch die ganze Nacht munter und angeregt zu sein. Ellen war noch immer arbeitslos, und Carol versuchte, sie zu überreden, zu den großen Empfängen mitzukommen. »Du solltest dich auch um Kontakte bemühen«, sagte Carol. »Aber ich passe nicht auf diese mondänen Parties. Ich – ich sehe so spießig aus, und ich bin nicht die Spur interessant.« »Ich glaube, du spinnst. Bitte, komm mit.« Also kam Ellen einige Male mit, obgleich sie sich immer weigerte, wenn Sherry dabei war. Sie sagte klipp und klar, daß sie sich in Sherrys Gegenwart unbehaglich fühle und daß dies auch Sherrys Absicht sei. Und ebenso eindeutig sprach sie sich über einige Parties aus, zu denen Carol sie in den letzten Märzwochen mitgeschleppt hatte. »Wo hast du diese Carltons kennengelernt?« fragte sie eines Abends, als Carol gerade ins Theater gehen wollte. »Warum? Ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich glaube, bei den Davidsons.« 35
»Weil sie meiner Meinung nach madig sind. Und ihre Party war eine Volksversammlung. Die ersten Parties, zu denen du mich mitgenommen hast, waren wirklich ganz nett, aber diese fand ich fürchterlich, und ich habe das Gefühl, sie werden immer schlimmer.« »Tu doch nicht so blöd«, erwiderte Carol und ahmte unwillkürlich Sherrys affektierte Sprache nach. Ellen preßte die Lippen zusammen. »Meinetwegen«, sagte sie, »aber ich mag dieses ganze Affentheater nicht, und wenn es dir gleich ist, will ich lieber wieder mit Mike und Freddy Rühreier essen.« »Aber Ellen«, sagte Carol konsterniert. »Und außerdem«, fuhr Ellen fort, »solltest du dich vielleicht auch wieder einmal ein bißchen um Mike kümmern.« »Wie kann ich denn? Wenn er mich hinter der Bühne trifft, schaut er mich ja kaum an. Ein Wunder, daß er nicht den Kopf abwendet. Aber das ist auch alles.« »Du könntest dich mit ihm versöhnen, wenn du nur wolltest.« »Aber ich kann nicht. Ich verstehe ihn nicht. Es sieht ihm so gar nicht ähnlich, wochenlang den Beleidigten zu spielen.« »Den Beleidigten«. Ellen schwieg. Dann sagte sie langsam: »Das stimmt nicht, Carol.« »Aber was ist es denn?« Ellen lachte. Dann erwiderte sie im tiefsten Baß – einer perfekten Imitation von Mike: »Page, tu doch nicht dümmer als du unbedingt mußt.« Carol lachte bei dem Klang der wohlbekannten Worte, aber sie kam sich plötzlich verlassen vor. Ellen wurde ernst. »Schau«, sagte sie, »da haben wir jetzt fast drei Jahre lang alle zusammengehalten und einander beigestanden. Du weißt, was Mike von Sherry Kaye hält. Er ist zu anständig und ein viel zu guter Freund, um es dir nicht aufrichtig zu sagen. Ich glaube, daß er schrecklich verletzt ist. Er fühlt sich vor den Kopf gestossen – und das alles, nur weil er dir zu helfen versuchte.« »Aber er war abscheulich zu ihr.« »Das möchte ich bezweifeln«, sagte Ellen kurz. »Und selbst wenn er es gewesen wäre – du weißt, daß er prima ist. Und von ihr weißt du gar nichts. Nicht einmal, wo sie wohnt. Oder sonst etwas. Aber du hast für sie Partei ergriffen.« Die Hand auf der Klinke, blieb Carol wie angewurzelt stehen. Sie hatte das Gefühl, sich sorglos an eine Wand gelehnt zu haben, und 36
nun brach diese Wand – nein das ganze Haus – plötzlich über ihr zusammen. Sie versuchte, den Klumpen in der Kehle zu schlucken. Aber als sie zu sprechen begann, wußte sie, daß sie kein Verständnis finden würde. »Aber das habe ich doch nicht gewollt«, sagte Carol schmerzlich. »Ich glaube, ich weiß überhaupt nicht mehr, wie das alles ist – außer daß sogar auch du jetzt noch gegen mich bist.« Sie öffnete die Tür und rannte die Treppe hinunter. Und Ellen starrte ihr nach.
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6 Carol wußte später selbst nicht mehr, wie sie ins Theater gekommen war. Nie mehr wollte sie zu Mrs. Garrett zurück, wo sie sich mit Ellen gestritten hatte. Und vor dem Theater fürchtete sie sich auch, weil sie dort mit Mike zusammentreffen mußte. Als sie endlich die Tür zum Bühneneingang öffnete, wartete dort noch ein viel stärkerer Schock auf sie. Charlie, der Portier, teilte ihr die Nachricht mit. »Wissen Sie schon von Miss Marlowe?« fragte er, noch bevor Carol ganz drinnen war. »Nein. Was ist?« »Sie hat den Knöchel gebrochen.« »Aber nein!« Carols persönlicher Kummer war wie ausgelöscht. »Jawohl. Sie scheint zu spät dran gewesen zu sein und wollte ein Taxi nehmen. Wahrscheinlich hat sie nicht aufgepaßt. Oder sie ist am Randstein abgerutscht. Knöchelbruch. Es heißt, daß sie mindestens zwei Monate lang nicht spielen kann. Heute abend übernimmt Miss Tracy die Rolle.« Carol eilte zum Schwarzen Brett am andern Ende des Ganges, wo schon ein paar Kollegen standen – alle mehr oder minder aufgeregt. »Und was wird jetzt?« fragte sie Mr. Scott. Der zuckte die Achseln. »Bedeutet das, daß wir schließen müssen?« »Keine Ahnung. Auf jeden Fall ist Margret Tracy nicht der geeignete Ersatz. Sie ist nicht bekannt genug, und es fehlt ihr auch an Routine. Es hängt alles davon ab, ob Sweetser einen neuen Star findet, der gewillt ist, die Rolle für ein paar Monate zu übernehmen.« Mr. Scott ging in seine Garderobe, während die andern sich gegenseitig zu beruhigen suchten. Das Stück war ein Erfolg, und Sweetser kein Idiot, versicherte man einander. Er würde das Stück bestimmt nicht absetzen. Andererseits konnte beim Theater alles passieren. Trotz aller Angst vor der unsicheren Zukunft hatten sie tiefstes Mitleid mit Miss Marlowe. Aber schließlich waren sie auch nur Menschen. Und wenn das Stück abgesetzt wurde, bedeutete das Arbeitslosigkeit und Sorgen ums tägliche Brot. Und was das Schlimmste war: man konnte nicht mehr auf der Bühne stehen. An diesem Abend – so viel war einmal sicher – würde das ganze 38
Ensemble Miss Marlowes Stellvertreterin unterstützen. Niemand kannte sie sehr gut, denn sie hatte immer nur bis zum Eintreffen von Miss Marlowe im Theater zu bleiben. Dann konnte sie gehen. Bei den Proben hatte sie so gut es ging Miss Marlowes Gesten und Tonfall imitiert, und das schien gar nicht so übel. Aber eine Probe ist keine Vorstellung. Auf alle Fälle würde sie nervös sein. Als sich der Vorhang vor einem enttäuschten Publikum hob, standen Mr. Scott und Miss Iverson der zitternden Miss Tracy mit allen Kräften bei. Sherry war präzis und routiniert, und Carol gab ihr möglichstes, die eigenen Sorgen ganz vergessend. Der Rest des Ensembles hielt sich ebenso tapfer. Miss Tracy selber beherrschte ihre Rolle fast fehlerlos. Aber trotz allem war sich das gesamte Ensemble der Hohlheit der Aufführung bewußt. Szenen, die lebendig und mitreißend gewesen waren, fielen ins Leere. Scherzworte kamen nicht an. Im zweiten Akt stimmte das Timing nicht. Carol spürte den Unterschied im eigenen Spiel. Sie wußte, daß es eine achtbare Leistung gewesen war, doch der innere Funke hatte gefehlt. Das Eingehen auf Miss Marlowes sprühende Vitalität, auf ihr mitreißendes Timing und die unnachahmlichen Nuancen in Stimme und Spiel. Wenn ich eine wirkliche Schauspielerin wäre, dachte Carol erschrocken, müßte ich die Rolle allein tragen können. Ich dürfte nicht von jemand anderem abhängig sein. Am Ende der Vorstellung versammelte sich das Ensemble um Miss Tracy, um ihr kameradschaftlich zu gratulieren, aber alle wußten… Und Miss Tracy wußte es auch. Und alle beeilten sich, dem Theater so schnell wie möglich zu entfliehen, um sich nicht von der Niedergeschlagenheit der Kollegen anstecken zu lassen. Für den nächsten Morgen war eine Probe unter Mikes Regie angesetzt. Und das bedeutete, daß das Stück noch ein wenig länger laufen würde – eine Woche vielleicht. Was dann kam, wußte keiner. An diesem Abend war Carol zu einer Party eingeladen, und nach ihrem Streit mit Ellen hatte sie sich verzweifelt vorgenommen, nicht nur unbedingt zu der Party zu gehen, sondern auch die ganze Nacht aufzubleiben, um nur ja nicht zu Mrs. Garrett zurück zu müssen. Aber jetzt sah alles ganz anders aus. Schon beim Gedanke an die Party wurde ihr übel, und sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, um Ellen alles zu erzählen. Ellen lag lesend im Bett, als Carol atemlos ins Zimmer stürmte. »Ellen, Miss Marlowe hat den Knöchel gebrochen!« Ellen reagierte, als sei vorher überhaupt nichts zwischen ihnen vorgefallen. 39
»Wie schrecklich!« rief sie und fuhr in die Höhe. »Wie ist das denn passiert? Erzähl mir alles.« Im Zimmer auf und abgehend, berichtete Carol. »Vielleicht«, sagte Ellen zögernd, nachdem Carol geendet hatte, »vielleicht könnten wir zusammen – Arbeit in einem Repertoiretheater bekommen?« Carols Miene hellte sich auf – nicht wegen der unsicheren Aussicht auf ein Repertoiretheater, sondern wegen dem Wort zusammen, und sie stimmte rasch zu. Dann meinte sie: »Wie wär’s, wenn wir beide Miss Marlowe ein paar Blumen schicken würden? Ich weiß, das Ensemble tut natürlich auch irgendwas, aber wir wollen das doch von uns aus machen.« »Selbstverständlich. Ich besorge das gleich morgen früh. Du wirst ja doch keine Zeit haben, wenn Probe ist.« »Wahrscheinlich nicht. Wenn ich nur wüßte, wie es weitergeht. Diese Ungewißheit ist entsetzlich.« Nach einer Woche wurde diese Qual beendet. Eine Notiz am Schwarzen Brett besagte, daß Miss Ardys Miln Miss Marlowes Platz einnehmen werde. Wegen anderweitiger Verpflichtungen von Miss Miln würde man am 15. Juni schließen, doch irgendwann im September sollte das Theater wieder eröffnet werden. Die Proben mit Miss Miln sollten am nächsten Tag um zwei Uhr beginnen. Unter Miss Marlowes Regie. Das Ensemble – Carol ausgenommen – atmete erleichtert auf. So war ihnen also eine weitere Saison sicher. Das war herrlich. Ebenso herrlich war der Gedanke an Sommerferien, an deren Ende wieder Arbeit in Aussicht stand. Sie bedauerten alle, Miss Marlowe zu verlieren. Doch Miss Miln war eine ausgezeichnete Schauspielerin, und die routinierteren Mitglieder der Truppe – an Unsicherheit und Wechsel gewöhnt – nahmen diese neueste Entwicklung philosophisch auf. Carol war nicht philosophisch. Sie fürchtete sich entsetzlich und hatte keine Ahnung, wie sie die Abendvorstellung überstand. Sie wußte nur, daß ihre Hazel nicht mehr gut war. Miss Tracy hatte sie die ganze Woche aus dem Gleichgewicht gebracht – einfach dadurch, daß sie Miss Tracy und nicht Hazels Großmutter war, daß sie alles ein wenig anders spielte. Carol hatte schwer zu kämpfen gehabt, und sie wußte es. Ihre Stimme war dadurch unfrei geworden, und ihre Füße schienen am Boden zu kleben. Nach dem letzten Vorhang flüchtete sie in ihre Garderobe. Die Angst saß ihr im Magen. 40
Beim Umkleiden zitterten ihr die Hände, und ihre Unterlippe bebte trotz der zusammengebissenen Zähne. Sie murmelte ein paar Worte zu Sherry und eilte noch einmal zum Schwarzen Brett. Es stimmte. Miss Marlowe spielte nicht mehr. Und wenn Carol schon nicht genug Technik besaß, die Schwierigkeiten mit Miss Tracy zu meistern, wie würde das erst mit einer neuen, womöglich noch irritierenderen Partnerin werden? Du wirst deine Rolle verlieren, prophezeite ihr eine innere Stimme. Du bist eine lausige Schauspielerin. Nur jetzt nicht heulen, sagte sie zu sich selbst. Und es gelang ihr, sich einigermaßen zu beherrschen. »Was ist los, kleine Carol?« sagte eine bekannte Stimme hinter ihr. Und ohne eine Antwort abzuwarten, mit einem Blick auf das weiße junge Gesicht, führte Miss Iverson Carol ins Freie, wo ihr Taxi auf sie wartete. »So, Kindchen«, sagte Miss Iverson, als das Taxi anrollte, »und jetzt erzählen Sie mir einmal, was ist passiert?« Und da brach der Damm. Carol hörte ihre eigene Stimme, schrill und stammelnd und merkwürdig atemlos. »Ich kann nichts. Ohne Miss Marlowe bin ich verloren.« Schluchzend schmiegte sie den Kopf an Miss Iversons Schulter. Miss Iverson war voller Mitleid und tiefstem Verständnis. »Wie ich das kenne«, sagte sie, »die Angst, diese Zweifel an sich selbst. Das habe ich kommen, sehen, Kindchen. Aber das geht wieder vorbei. Nur keine Angst, kleine Carol.« »Aber – was soll – ich tun?« »Ich möchte Ihnen am liebsten viele Tatsachen erzählen, Tatsachen, die Sie freuen und Ihr Selbstbewußtsein heben würden. Aber statt dessen will ich Ihnen nur eines sagen – und das dürfen Sie niemals vergessen.« Carols Hysterie begann abzuklingen. Miss Iverson war so stark und sicher. »Ja, Miss Iverson?« »Versuchen Sie immer, ehrlich und wahr zu sein. Das ist alles.« »Aber ich –« »Pscht. Jetzt hören Sie mir einmal gut zu. Man braucht Jahre und Jahre, um eine Technik zu entwickeln, bei der einem nichts mehr passieren kann. Aber Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit das ist Ihnen jetzt schon möglich. Und das hilft Ihnen über alles weg. Vergessen Sie das Wie und die Tricks. Spielen Sie einfach und echt.« 41
Carol begann zu verstehen. Ja, natürlich, das war der Fehler. Sie kannte die Hazel so genau, aber sie hatte vergessen, die Hazel zu sein, sondern war Carol gewesen, die sich an Miss Tracy wundgerieben hatte. Wäre sie nur einfach die Hazel gewesen und hätte an nichts anderes gedacht! »Ardys Miln«, fuhr Miss Iverson fort, »ist eine hervorragende Schauspielerin. Sie wird aus der Großmutter eine Persönlichkeit machen, wie Sie eine aus der Hazel gemacht haben. Spielen Sie wieder die Hazel. Spielen Sie sie einfach und ehrlich, und dann wird Sie die neue Großmutter, die bestimmt anders als Miss Marlowe sein wird, auch nicht mehr stören. Die Hazel bleibt die Hazel.« »Danke«, sagte Carol schwach. »Das werde ich nie vergessen, was Sie mir jetzt gesagt haben, Miss Iverson, und nun habe ich auch keine Angst mehr.«
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7 Miss Ardys Miln war eine sehr elegante, sehr routinierte Schauspielerin. Sie mußte ungefähr vierzig sein, und vor der ersten Probe musterte sie die junge, hübsche Carol kritisch von Kopf bis Fuß. Carols Mut sank. An die Altersfrage hatte sie überhaupt noch nicht gedacht. Die Großmutter stellte man sich als eine charmante alte Dame vor, und Miss Miln fürchtete womöglich eine Konkurrenz. Aber schließlich war ja immer noch Miss Marlowe da, um Regie zu führen – auf Krücken zwar, und den Fuß in Gips – aber immerhin, sie war da. Carol fühlte sich viel sicherer bei dem Gedanken, daß sie diesmal die Hazel sein würde – die richtige Hazel und nicht Carol Page. Die Probe verlief gut. Miss Miln konnte ihre Rolle schon auswendig und bewegte sich gewandt zwischen den vielen Möbeln auf der Bühne. Das Ensemble respektierte sie, und nur einmal sagte sie etwas zu nachdrücklich: »Ich glaube, Miss Page, wenn Sie diese Szene ein wenig weiter hinten spielen würden, wäre es einfacher.« Carol und die andern mußten innerlich grinsen. Miss Milns Beweggrund war zu offensichtlich – sie fürchtete, das Publikum würde während dieser langen Szene zu viel von Carols Gesicht und zu wenig von ihrem eigenen sehen. »Meinen Sie nicht auch, Phyllis?« fragte Miss Miln. »Ich glaube, Sie können ein paar Schritte zurücktreten, Carol«, sagte Miss Marlowe zu Carols Überraschung. Diese Änderung beunruhigte Carol. Wenn sie es während der Vorstellung vergessen sollte, konnte das zu Schwierigkeiten mit Miss Miln führen. Aber am Abend erinnerte sie sich, und alles war in bester Ordnung. Sonst gab es keinerlei Klippen. Carol fühlte sich jetzt wieder wohl als Hazel, denn sie dachte nur noch an die Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung. Außerdem half ihr auch Miss Milns Spiel. Sie war anders, natürlich, aber sie war echt. Sie spielte mit Wärme und Humor und einer ruhigen, klaren Sicherheit. Carol hatte ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen. Und so blieb es bis zur Mittwochnachmittagsvorstellung, als Charlie, der Portier, sie nach dem letzten Vorhang in den Kulissen anhielt. »Miss Page«, sagte er, »Mr. Sweetser läßt Sie bitten, gleich jetzt in Miss Marlowes Wohnung zu kommen.« 43
»In Miss Marlowes Wohnung? Aber warum?« »Woher soll ich das wissen? Ich richte Ihnen nur seinen Auftrag aus.« Carol beeilte sich mit dem Abschminken, wechselte rasch ihre Kleider, murmelte etwas von einer Verabredung zu Sherry und lief hinaus. Zwischen Furcht und Erwartung hin- und hergerissen, hielt sie aufgeregt ein Taxi an. Miss Marlowes Wohnung lag gegenüber dem Central Park. Sie war hübsch und sonnig, und es roch nach Frühling. Miss Marlowe lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, die Krücken neben sich, und Mr. Sweetser lehnte bequem in einem Sessel am Fenster. Er nickte Carol – wie es ihr vorkam – freundlich zu. Aber sie war nicht sicher. Miss Marlowe lächelte. »Kommen Sie, Kindchen. Und vielen Dank auch für die Blumen, die Sie und Ellen mir sandten. Ich liebe Flieder.« »Das freut mich, Miss Marlowe. Hoffentlich geht es Ihnen besser.« »Viel besser, danke. Im Juli fahre ich in die Berge, aber bis dahin gibt es noch eine Menge zu tun. Etwas, was Sie vielleicht interessieren dürfte.« Sie warf Mr. Sweetser einen Blick zu und nickte. »Carol«, sagte Mr. Sweetser abrupt, »hätten Sie Lust, im September bei einer Wanderbühne mitzuspielen? Der Kaufmann von Venedig. Gage: 500 Dollar die Woche.« »Der Kaufmann von Venedig«, sagte Carol erstaunt. »Ja. Miss Marlowe wird die Portia spielen, und wir dachten, vielleicht macht Ihnen die Nerissa, Portias Zofe, Spaß.« »Oh«, rief Carol mit glänzenden Augen, »und wie!« »Schön«, sagte Mr. Sweetser. »Sie müssen sich nicht gleich jetzt entscheiden. Falls Sie in der nächsten Saison lieber noch die Hazel spielen wollen, ist es mir auch recht. Ich kann jederzeit«, fügte er trocken hinzu, »eine andere Nerissa finden.« Er konnte auch eine andere Hazel finden – wie Carol sehr wohl wußte. »Überlegen Sie sich’s«, fuhr Mr. Sweetser fort. »Gehen Sie heim, und studieren Sie die Rolle. Sollten Sie sie mir vorlesen wollen, dann rufen Sie am Freitagvormittag meine Sekretärin an. Die macht dann ein Rendezvous mit Ihnen aus.« »Oh, ja, ja«, stotterte Carol. Und Miss Marlowe zwinkerte mit den Augen. »Die Nerissa«, sagte sie, »ist eine schöne Rolle. Aber denken Sie 44
daran, daß Shakespeare nicht leicht zu spielen ist. Sie müssen schwer arbeiten, aber Sie werden auch viel lernen – besonders von Hilton Walworth, der den Shylock übernommen hat.« »Das klingt wundervoll.« Carol errötete vor Aufregung. Hilton Walworth war ein berühmter englischer Schauspieler. Sie stand auf, um sich zu verabschieden. Eine Frage brannte ihr auf der Zunge, und Miss Marlowe merkte es ihr an. »Was ist, Kindchen?« fragte sie. Carol zögerte. »Ich – ich habe an Ellen gedacht.« »Ellen? Oh, ich verstehe. Sie hatte schon immer Talent für die Komödie. Aber im Kaufmann von Venedig ist keine Rolle für sie. Oder würde sie sich auch mit einer Statistenrolle begnügen?« »Ellen würde alles nehmen, Miss Marlowe.« Carol wartete atemlos. Miss Marlowe wandte sich an Mr. Sweetser: »Arthur, was denken Sie?« »Ich brauche noch zwei Mädchen«, sagte Mr. Sweetser nachdenklich. »Und wenn Sie glauben, daß sie es machen will –« Miss Marlowe schien sich etwas zu überlegen, und Carol hätte viel darum gegeben, zu wissen, was es war. Schließlich sagte sie: »Ich glaube, das macht sie sicher gut. Bringen Sie sie mit, Carol, wenn Sie zum Vorlesen kommen.« Carol wußte später nicht mehr, wie sie aus dem Haus gelangt war. Sie erinnerte sich nur noch dunkel, Hunderte von Stufen hinabgerannt zu sein, weil sie nicht die Geduld aufbrachte, auf den Lift zu warten. Dann stürzte sie in die nächste Telefonkabine. »Hallo. Mrs. Garrett? Rufen Sie doch bitte Ellen. Schnell! Schnell!« Nach einer Ewigkeit hörte sie Ellens Stimme. »Ellen, Ellen, willst du bei Miss Marlowes Tourneetheater mitmachen? Kaufmann von Venedig mit Hilton Walworth. Wärst du zufrieden mit einer Statistenrolle? Ja, sie hat’s gesagt. Ich –? Die Nerissa. Ich soll ihnen vorlesen und dich mitbringen. Ja, ja, ja. Treffen wir uns zum Nachtessen bei Kazani? Nimm ein Taxi, und hör zu heulen auf. Bis nachher dann.« Carol hängte den Hörer ein, ging hinaus und rief ein Taxi. Sie hatte das Gefühl, zu Fuß Kazani niemals zu erreichen, so benommen war sie. War es tatsächlich wahr, daß sie in Miss Marlowes Ensemble mit Hilton Walworth zusammen Shakespeare spielen würde? Natürlich hatte sie noch nicht vorgesprochen. Aber sie konnte die Nerissa spielen. Und wie sie arbeiten würde! 45
Bei Kazani angekommen, hatte sie sich ein wenig beruhigt. Es war ein nettes, kleines Lokal in der Nähe des Theaters, und meistens traf man jemand aus dem eigenen Ensemble dort. Carol sah Sherry, und da Ellen noch nicht da war, setzte sie sich zu ihr. Es bestand keinerlei Grund, Sherry nicht von ihrem Glück zu erzählen. Sobald Mr. Sweetser anfing, die Rollen zu besetzen, würde ja doch alles bekannt. Eine Shakespeare-Aufführung braucht Zeit und kann kaum geheimgehalten werden. »Sherry«, rief Carol, »Sie ahnen ja nicht, was sich ereignet hat. Miss Marlowe macht im Herbst eine Tournee mit dem Kaufmann von Venedig und Hilton Walworth als Shylock.« »Ich weiß«, sagte Sherry gelassen. »Ein Freund, der in Mr. Sweetsers Büro arbeitet, hat es mir gestern abend erzählt.« Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich. »Es tut mir leid, aber ich muß jetzt gehen.« Dann blieb sie noch einen Augenblick am Tisch stehen. »Soviel ich hörte, geht Ihr Tugendwächter Horodinsky als Inspizient mit.« Das war eine Neuigkeit. Aber Carol hatte auch Neuigkeiten zu erzählen. »Haben Sie auch schon von mir gehört?« »Nein. Was ist?« »Wenn ich will, kann ich als Hazel bleiben, aber sie glauben, ich könnte die Nerissa spielen.« Sherry zog die Augenbrauen hoch. »Nein, das habe ich noch nicht gehört.« »Ist es nicht herrlich?« »Aber natürlich, meine Liebe«, erwiderte Sherry geziert. »Aber hoffentlich sind Sie nicht so verrückt, daß Sie daran denken, mitzugehen.«
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8 Ohne diese überraschende Bemerkung noch näher zu erklären, war Sherry davongerauscht. Und da im nächsten Augenblick Ellen in der Tür auftauchte, der Carol sofort alles haargenau berichten mußte, was bei Miss Marlowe besprochen worden war, hatte sie Sherrys Worte schnell vergessen. Erst nach der Abendvorstellung fielen sie ihr wieder ein, und während des Abschminkens fragte sie Sherry, was sie damit gemeint habe. Sherry lachte. »Kommen Sie, wir essen eine Kleinigkeit zusammen. Ich habe zwar später noch eine Verabredung, aber für einen Käsetoast reicht es gerade noch.« »Gern. Das wäre nett.« Aber dann war es gar nicht so nett. Es war verwirrend. »Sagen Sie mir, Kind«, fragte Sherry, als sie wieder bei Kazani saßen, »haben Sie tatsächlich die Absicht, diesen Broadway-Hit zu verlassen, um mit irgendeinem Shakespeare-Stück durch die Staaten zu ziehen?« So betrachtet, sah es nun wirklich nicht sehr verlockend aus. Aber Carol war Sherrys Ausdrucksweise gewohnt. »Natürlich will ich. Es wird bestimmt wundervoll.« »Was sind Sie doch für ein harmloses Wesen.« Sherry lächelte ironisch. »Was ist denn so Wundervolles daran, eine sichere Sache für ein Risiko aufzugeben? Haben Sie sich schon überlegt, daß die Tournee auch ein Reinfall werden kann?« Carol ließ ihre Gabel sinken. »Das ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen«, sagte sie, fuhr dann aber gleich entschieden fort: »Aber es wird bestimmt kein Reinfall. Namen wie Marlowe und Walworth ziehen bestimmt.« »Möglich. Aber die Provinzstädte werden mit Shakespeare überfüttert. Einmal hängt’s ihnen vielleicht auch zum Hals heraus.« »Aber Sherry, der Kaufmann von Venedig zieht doch immer. Und was finden Sie eigentlich so Harmloses daran, einen Job mit einer besseren Gage anzunehmen? Wenn ich die Rolle kriege, bekomme ich wöchentlich 100 Dollar mehr.« »Das will ich auch schwer hoffen«, sagte Sherry mitleidig. »Wissen Sie nicht, warum man bei Gastspielreisen mehr Gage zahlen muß? Das Leben ist nämlich doppelt so teuer. Sweetser müßte Ihnen eigentlich viel mehr auf den Tisch des Hauses legen. Aber das 47
kommt davon, wenn man zwei Berühmtheiten in der Truppe hat. Das, was Sie eigentlich mehr bekommen müßten, steckt Walworth ein. Wenn Sie alles zusammenrechnen: Hotelzimmer, Essen im Restaurant oder Speisewagen, Taxis, Gepäck und Schlafwagenkarten und Trinkgelder vor allen Dingen, werden Sie schon merken, daß Sie bedeutend weniger als am Broadway verdienen.« Carol machte sich keine Gedanken über die Gage. »Das ist mir gleich«, sagte sie. »Es ist Shakespeare und Miss Marlowes Ensemble und Hilton Walworth. Ich werde bei dieser Tournee mehr lernen, als wenn ich fünf Jahre lang die Hazel spiele. Und ich kann ja auch nicht ewig die Hazel spielen.« »Kaum. Schwingen läuft höchstens noch die nächste Saison. Aber die neuen Rollen findet man in New York. Sie haben diesen Winter eine Menge Leute kennengelernt, und wenn Sie jetzt aus der Stadt verschwinden, war das alles umsonst. Man ist sehr rasch vergessen.« »Meinetwegen«, erwiderte Carol rebellisch. »Wenn die Tournee ein Erfolg ist, habe ich einen Job, und wenn sie durchfällt, bin ich rechtzeitig wieder in New York. Man kann nicht alles auf einmal haben.« »Sie können hier noch eine ganze Saison spielen und inzwischen die Leute noch besser kennenlernen, anstatt sie aus den Augen zu verlieren.« Sherry zuckte die Achseln. »Ich will Sie nicht überreden, Kind. Aber ich habe das Gefühl, daß Sie sich doch alles sehr genau überlegen sollten. Sie haben doch sicher keine Lust, mitten in der Saison ohne Engagement dazusitzen und womöglich ein Jahr warten zu müssen, bevor Sie wieder eines finden.« Bei diesen Worten spürte Carol wieder die nur allzu bekannte Panik in sich aufsteigen, doch tapfer focht sie dagegen an. »So wird es bestimmt nicht werden«, protestierte sie. »Ich habe eine gute Rolle in einem Hit, und ich habe eine Menge gespart, indem ich bei Mrs. Garrett geblieben bin.« »Na, bei der Tournee werden Sie bestimmt nichts sparen. Aber ich möchte Ihnen ja wirklich nur helfen.« »Das weiß ich, Sherry, und ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.« Carol war ehrlich dankbar. Sie spürte vage, daß es Einwände gegen Sherrys Argumente gab, doch hatte sie im Grunde genommen nicht recht mit ihrer Behauptung, daß Carol mit dieser Tournee ein Risiko auf sich nahm? Und konnte sie sich das jetzt schon leisten? 48
Denn es war ja leider nur zu wahr, daß beim Theater alles passieren konnte. Zurück von der Tournee, mochte sie vielleicht sofort eine Bombenrolle bekommen – aber ebensogut auch überhaupt keine. Und natürlich waren ihre Chancen besser, wenn sie in New York blieb. Aber konnte sie sich’s leisten, eine solche Gelegenheit zu verpassen – bei der man so viel lernen konnte? Als sie sich schließlich von Sherry verabschiedet hatte und durch die Aprilnacht nach Hause ging, dachte sie hin und her gerissen über die Lage nach. Gefühlsmäßig war sie Feuer und Flamme, die Rolle der Nerissa anzunehmen. Aber trotzdem konnte sie Sherrys Ansicht über das Ohne-Engagement-Sein gut verstehen. »Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll«, sagte sie oben in ihrem Zimmer zu Ellen und berichtete ihr ausführlich über ihr Problem. »Ich weiß, du magst Sherry nicht«, schloß Carol, »aber du mußt zugeben: In manchem hat sie recht.« »Ja«, erwiderte Ellen, »das stimmt. Jetzt hast du mich tatsächlich auch noch unsicher gemacht.« Sie zögerte. »Aber es wäre doch zu schön, wenn wir zusammen auf Tournee gehen könnten. Ich glaube, ich bin nicht objektiv genug, um dir richtig zu raten. Ich bin einfach dafür, daß wir’s tun.« »Ich ja auch«, sagte Carol niedergeschlagen. »Das solltest du doch wissen. Aber es spricht doch auch so vieles dagegen.« »Weißt du was, frag doch einmal Miss Iverson. Ich weiß, daß sie noch auf ist. Sie kam kurz vor dir erst heim.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee. Zieh dir rasch deinen Bademantel an und komm mit.« »Ja?« rief Miss Iverson, als sie an ihre Tür klopften. »Ich bin’s«, sagte Carol. »Kommen Sie nur herein.« Miss Iverson saß in ihrem grünen Lehnstuhl, ein Buch in der Hand. »Wie lieb von Ihnen«, sagte sie mit strahlendem Gesicht. »Sie machen mir eine solche Freude mit Ihrem Besuch. Und ich glaube, ich weiß auch schon, weshalb Sie kommen. Gute Nachrichten haben manchmal Flügel. Sie spielen also mit in Phyllis’ neuem Stück? Was für ein Glück. Shakespeare! Er ist doch immer noch der Größte. Setzt euch, Kinder.« Die Mädchen setzten sich, und Carols Unsicherheit nahm zu. Diese Erklärung würde nicht so einfach werden, wie sie gedacht hatte. 49
»Ja«, sagte sie unbehaglich, »ich habe am Vormittag mit Miss Marlowe gesprochen. Sie hat mir von der Tournee mit dem Kaufmann von Venedig erzählt und mich gefragt, ob ich die Nerissa einmal vorsprechen möchte. Ich habe also die Rolle noch nicht in der Tasche.« »Aber Sie bekommen sie, Kind. Sonst hätte Phyllis Sie gar nicht gefragt. Sie ist viel zu vernünftig, um in jungen Menschen falsche Hoffnungen zu erwecken.« Carol, der es immer peinlicher wurde, vom wahren Grund ihres Besuches zu sprechen, erzählte Miss Iverson, daß Ellen eine Statistenrolle in dem Stück bekäme. Mit ein paar überschwenglichen Worten gratulierte sie Ellen. »Ach«, fuhr sie fort, »leider habe ich nie die Portia spielen dürfen. Immer nur die Jessika.« Carol holte tief Luft und gab sich einen Ruck. »Miss Iverson«, begann sie, »ich brauche Ihren Rat. Wissen Sie, ich bin nämlich noch gar nicht so fest entschlossen.« »Noch nicht?« »Nein. Es ist nämlich so –« Und so sachlich wie möglich erklärte Carol ihren Zwiespalt. Als sie geendet hatte, verharrte Miss Iverson längere Zeit in Schweigen, die Hände im Schoß, das lange Gesicht noch sorgenvoller als sonst. Schließlich begann sie zu sprechen. »Ich weiß, ich bin eine alte und dumme Frau. Aber es gibt verschiedene Befriedigungen, die das Theater zu bieten hat. Berühmtheit – eine Seifenblase – ist die eine, und die andere ist Geld. Aber die größte von allen ist Spielendürfen – auf den Brettern stehen –, und das ist eine Befriedigung, vor der Unsicherheit, Vergessenheit und Armut verblassen.« Sie seufzte, streckte sich und blickte Carol tief in die Augen. Fast wie anklagend, dachte Carol. »Sie, mein Kind«, sagte Miss Iverson, »haben das, was man den göttlichen Funken nennt.« Beißend fügte sie hinzu: »Heutzutage spricht man von Talent. Pflegen Sie ihn, und er nährt Ihre Seele. Lassen Sie ihn verkümmern, so wird ewig ein Wurm an Ihnen nagen.« »Aber Miss Iverson«, protestierte Carol, »ich will doch das Theater nicht verlassen. Ich habe mir nur überlegt, ob es nicht vernünftiger wäre, weiter die Hazel zu spielen.« »Vernünftig! Hazel!« Miss Iverson runzelte die Stirn. »Carol, Sie sind jung, und je mehr Rollen Sie jetzt spielen, desto besser. Die 50
Hazel ist eine einfache Rolle, und Sie spielen sie gut. Aber die Nerissa ist etwas ganz anderes. Es wird Ihnen bestimmt schwerfallen, diese Fügsamkeit zu verstehen und dem Publikum verständlich zu machen, und diesen beherrschten Witz. Sie werden Ihren ganzen Verstand für das Studium der Nerissa brauchen.« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Carol. »Aber was geschieht, wenn die Tournee ein Reinfall wird?« »Ach, Kind«, sagte Miss Iverson, »wir Schauspieler leben doch immer nur von Hoffnungen.« Wieder in ihrem Zimmer, versuchten die Mädchen, Miss Iversons Worte zusammenzufassen. »Es ist ganz einfach«, erklärte Ellen. »Alles, was sie meint, ist, entweder willst du eine Schauspielerin sein oder nicht.« »Sie hat gut reden. Die Hazel ist eine einfache, und die Nerissa eine schwierige Rolle, und ich müßte schuften wie noch nie. Und es wäre wundervoll. Aber sie hat gut von Hoffnungen reden. Ich bin diejenige, die das Risiko auf sich nehmen muß.« »Na, ich glaube, sie hat zu ihrer Zeit auch allerhand auf sich genommen.« »Ja, und wie weit hat sie’s gebracht? Erinnere dich, wie übel sie letztes Jahr dran war und welches Mitleid wir mit ihr hatten. Und das, obschon sie eine hervorragende Schauspielerin ist. Ich weiß, daß eine ganze Menge für ihre Meinung spricht. Aber auch Sherrys Meinung hat vieles für sich. Es tut mir leid, Ellen, daß ich so schwierig bin, aber ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll.« »Na, schlaf zuerst mal eine Nacht darüber. Das hilft manchmal.« Aber es half nicht. Carol erwachte noch genauso unsicher wie am Tag zuvor. Sie verbrachte ihre Zeit damit, immer und immer wieder den Kaufmann von Venedig zu lesen, um sich dann in die Rolle der Nerissa zu vertiefen. Als sie sich schließlich anzog, um ins Theater zu gehen, war sie müde und niedergeschlagen. Nach der Vorstellung, in ihrer gemeinsamen Garderobe, sagte Sherry freundschaftlich: »Ich bin heute abend mit einem tollen Mann verabredet. Er hat irgendwas mit einem Filmstudio in Hollywood zu tun und möchte sich hier einmal ein bißchen von dem Rummel erholen. Sie würden ihm bestimmt gefallen, Carol. Kommen Sie doch mit. Ich rufe Ed oder irgendeinen von den Burschen an, damit wir zu viert sind.« Es fiel Carol plötzlich ein, daß sie seit vierzehn Tagen nicht mehr ausgegangen war und nichts anderes als ihre Arbeit im Kopf gehabt 51
hatte – seit Miss Marlowes Unfall. Welche Wohltat, wieder einmal auszugehen. Vielleicht hörte sie dann auch einmal für eine Weile auf, immer nur im Kreis zu denken. »Wie lieb von Ihnen, Sherry«, sagte sie herzlich. »Vielen Dank.« Sie waren gerade mit Umkleiden fertig, als es an die Tür klopfte. Gleichgültig rief Carol: »Herein!« Als die Tür sich öffnete, schauten die beiden Mädchen automatisch auf. »Nein, so was, Mike!« Carol ließ die Puderquaste fallen. Mikes breite Schultern sprengten beinahe die kleine Garderobe. Er nickte Sherry kurz zu, um sich dann an Carol zu wenden, die ihn immer noch erstaunt anstarrte. »Ich habe gerade mit Miss Iverson gesprochen, Page. Sie hat mir gesagt, daß du mit dem Gedanken spielst, nicht mit auf die Tournee zu gehen. Nein, setzen Sie sich, Miss Kaye. Die Sache geht auch Sie an, und ich möchte, daß Sie hierbleiben.« Seine Stimme war merkwürdig ruhig – ganz anders als sonst. Und von Grobheit war weder im Ton noch im Benehmen das geringste zu spüren. Dennoch setzte sich Sherry wieder auf ihren Stuhl. »Ich weiß, es klingt blöd«, sagte Carol höflich, »aber ich kann mich noch immer nicht entschließen. Ich kann einfach nicht…« Noch immer mit beherrschter Stimme erwiderte Mike: »Hat vielleicht Miss Kaye etwas mit deiner Entschlußunfähigkeit zu tun? Ich möchte das gerne wissen. Es ist wichtig.« Carols erster Impuls war, ihm ins Gesicht zu sagen, das gehe ihn überhaupt nichts an, doch lag etwas so Drängendes in Mikes Benehmen, daß sie sich zu ihrer eigenen Überraschung etwas ausweichend, aber immer noch höflich sagen hörte: »Ja und nein. Sherry war mir eine große Hilfe in vielen Dingen.« »Ich verstehe«, erwiderte Mike kühl. »Gut, Page, es ist nicht meine Sache, was du tust. Wenn du keine neue Rolle, sondern immer weiter nur die Hazel spielen willst, bis du als Hazel abgestempelt bist und das Publikum von dir genug hat, so ist das deine Angelegenheit. Aber es gibt etwas, was du wissen solltest.« Sherry griff nach ihrer Tasche und stand auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte sie, »so werde ich draußen auf Carol warten. Ich spiele nicht gern den Lauscher an der Wand, wenn der väterliche Freund seinem dummen, jungen Schützling Ratschläge gibt.« Zum erstenmal hob Mike die Stimme. »Sie bleiben hier.« 52
Sherry setzte sich wieder. Die Hände in den Hosentaschen, fuhr Mike jetzt wieder ruhig fort: »Ich kann mir vorstellen, daß Miss Kaye dir allerhand erzählt hat – manches mag wahr sein und manches nicht. Aber ich möchte wetten, daß sie dir nicht verraten hat, daß sie uns beide um jeden Preis auseinanderbringen will. Was glaubst du, warum sie sich derart bemüht, ein kleines Mädchen wie dich Nacht für Nacht in New York herumzuschleppen? Dein Vater ist ja schließlich kein Produzent.« Carol starrte ihn an. »Natürlich«, sagte Mike, »erinnerst du dich noch an unseren Krach wegen der Party bei Arlington – wo du mich einfach hast stehenlassen. Seit diesem Tag begann sie, dich überallhin mitzuschleifen. Oder nicht? Und jetzt will ich dir auch sagen, warum. Nachdem du damals gegangen warst, erklärte sie mir, ich sei verliebt in dich, und es würde ihr einen Mordsspaß machen dazwischenzufunken. Dies ist ein wörtliches Zitat.« Carol drehte sich auf ihrem Stuhl, um Sherry fragend anzublicken. »Wirklich?« forschte sie. »Wirklich?« Ein leichtes Flackern von Unsicherheit huschte über Sherrys Gesicht, das aber sofort wieder ausdruckslos wurde. »Natürlich nicht«, sagte sie ruhig. »Die ganze Geschichte ist eine alberne Lüge.« Langsam stand Carol auf, die Augen plötzlich hart und klar. »Es ist nicht albern«, sagte sie messerscharf. »So eine Sache gibt es nicht – nur daß es sie eben doch gegeben hat. Ich weiß das, weil Mike niemals lügt. Nie im Leben. Nicht einmal, um einem Mitmenschen etwas zu ersparen.« Sherry lachte. »Gut, wenn Sie kindisch genug sind, das zu glauben – was wollen Sie dann noch von mir? Sein Wort steht gegen meines.« »Nichts mehr will ich, Sherry«, erwiderte Carol. »Ich glaube, jetzt können Sie gehen.« Es herrschte tiefes Schweigen, während Sherry einen Blick in den Spiegel warf, sich glättend mit der Hand über die Haare strich, aufstand und die Garderobe verließ. Dann setzte sich Carol wieder. Sie war ganz weiß im Gesicht und sah so jung und so angeekelt aus, daß Mike die Lippen zusammenpreßte und die Hände in den Hosentaschen zu Fäusten ballte. »Aber warum?« fragte Carol. »Warum gibt sich ein Mensch eine 53
solche Mühe?« »Schau, Page«, sagte Mike sanft, »diese Sorte Leute gibt es nun einmal. Schlau in gewisser Beziehung – aber nicht wirklich gescheit. Und voller Eitelkeit und Niedertracht. Man kommt ganz gut mit ihnen aus, bis man ihnen einmal aufs Füßchen tritt. Oder sie bei irgend etwas ertappt. Oder ihre Eitelkeit verletzt. Dann kämpfen sie mit allen Mitteln.« »Ich verstehe«, sagte Carol niedergeschlagen. »Ich glaube, ich habe mich gründlich blamiert.« Mike lächelte eines seiner seltenen charmanten Lächeln. »Na, es könnte noch schlimmer sein.« Carol lachte unsicher. Mikes Ehrlichkeit war wie ein sauberer, frischer Wind, der alle Bedenken und Zweifel zerstreute. Dankbar blickte sie zu ihm auf und wurde dann vor Verlegenheit ganz rot. Er hatte Sherrys Behauptung, in sie verliebt zu sein, nicht geleugnet. Mike – in sie verliebt? Seine klugen Augen lasen ihre Gedanken so leicht, als ob sie gesprochen hätte. »Was das betrifft«, sagte er kühl, »so geht dich das vorläufig gar nichts an. Wenn es soweit ist, werde ich’s dich wissen lassen.« Er zog die eine Hand aus der Tasche, um eine kleine besänftigende Geste zu machen. Dann öffnete er die Garderobentür und war im nächsten Augenblick verschwunden.
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9 Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, stand Carol in einem gelben, gesteppten Morgenrock am Fenster. Ellen lag bäuchlings auf dem Bett, das Kinn in die Hände gestützt und einen geöffneten Band Shakespeare auf dem Kissen. Die blonden Haare hingen ihr über die Stirn, und ihre Lippen bewegten sich. »Südlicher Segen«, sagte Carol träumerisch. »Wenn du den Baum dort draußen meinst«, sagte Ellen ohne sich umzudrehen, »dann hast du recht.« »Aber den meine ich ja gar nicht. Du weißt doch, daß die ersten Zeilen, die ich zu sprechen habe, so voller S sind, daß ich zische wie eine Schlange und meine Aussprache jedesmal schlechter wird. Du machst das großartig. Wenn ich nur wüßte wie.« »Ich kann es, weil ich nicht muß. Deine Aussprache ist ganz in Ordnung. Du bist einfach nervös.« »Das brauchst du mir nicht zu sagen. Das weiß ich allein.« »Vielleicht mußt du diese Sätze nicht sprechen.« »Vielleicht, vielleicht! Ich könnte ihnen ja gleich ins Gesicht springen und fragen: ›Wollen wir nicht die ersten Zeilen der Nerissa streichen? Ich bringe sie einfach nicht heraus.‹« »Das wäre genau das richtige«, erwiderte Ellen begeistert. »Wenn du’s genau wissen willst, so habe ich im Moment daran gedacht, Sweetser zu fragen, warum er Hilton Walworth das viele Geld zahlen will. Ich würde ihm den Shylock für die Hälfte der Gage hinlegen.« Lachend wandte sich Carol um und warf sich in einen Sessel. »Willst du mich noch einmal hören?« »Nein, ich will nicht. Laß die Rolle einmal ein bißchen ruhen. Seit drei Tagen kniest du dich jetzt schon hinein. Du solltest Abstand davon bekommen, bevor du sie vorsprechen mußt. Denk einmal an etwas ganz anderes. Wollen wir auswärts essen?« »Nein. Kochen wir uns doch hier etwas.« »Meinetwegen.« Ellen schloß das Buch und richtete sich auf. »Ist das Leben nicht wundervoll? Ich habe eine Rolle für den nächsten Herbst, und wir gehen zusammen auf Tournee, und…« »Falls sie mich engagieren…« »Sei doch nicht so blöd. Aber etwas verstehe ich nicht. Wieso hast du dich entschlossen mitzumachen, nachdem du die Geschichte 55
über Sherry erfahren hast. Ich meine, alles, was sie einzuwenden hatte, ist jetzt ja noch genau so wahr wie vorher.« »Das weiß ich.« Carol sah verblüfft aus. »Wenn ich’s mir genau überlege, so habe ich wahrscheinlich gar nicht selber entschieden. Wenigstens nicht aus irgendeinem Grund, der dafür oder dagegen spräche. Ich war nur von der ganzen Sache derartig angewidert, daß ich’s nicht ertragen konnte, irgend etwas zu tun, das Sherry mir geraten hatte. Kennst du den Zustand nicht?« »Natürlich kenne ich ihn. Aber damals war’s nicht so dramatisch.« Es entstand eine Pause. Ellen ließ die Füße über den Bettrand baumeln. Dann fragte sie interessiert: »Was hat Sherry eigentlich gesagt, als sie Freitag abend in die Garderobe kam?« »Kein Wort. Wir schminkten uns. Dann spielten wir. Und später fragte sie mich, ob ich ihr ein paar Kleenex leihen könne, und ich sagte: ›Gern.‹ Das ist die Art Unterhaltung, die wir seither führen.« »Und du hast ihr nie mitgeteilt, was du von ihr hältst?« »Weshalb denn? Sie weiß es ohnehin, und ich muß noch fünf Wochen lang die Garderobe mit ihr teilen. Es ist einfacher, nicht von meiner Meinung über sie zu sprechen.« »Wieso kommt sie darauf, daß Mike in dich verliebt sei?« Carol rutschte nervös auf ihrem Sessel. »Ich habe keine Ahnung«, sagte sie schließlich. »Glaubst du eigentlich, daß er es wirklich ist?« »Sei doch nicht so blöd«, sagte Carol lächelnd und überlegte, wie sie Ellen von diesem Thema abbringen könne. »Das ist nur so eine verrückte Idee, die Sherry in einem schwachen Moment ausgebrütet hat. Aber sie glaubt selber felsenfest daran, und das macht die ganze Sache so gemein. Und ich war so grenzenlos naiv, nichts davon zu merken.« Ellen war erfolgreich abgelenkt. »Nein«, protestierte sie loyal, »das wäre jeder andern genauso passiert. Glaubst du übrigens, daß wir nachher einen Mantel anziehen müssen?« Doch ein Mantel war nicht nötig, als sie sich um halb zwei auf den Weg zu Miss Marlowes Wohnung machten. Die Luft war warm wie im Juni. Sie waren auf zwei Uhr bestellt. Und als sie zehn Minuten zu früh dort ankamen, wurden sie von Irlene, dem Hausmädchen, in die Bibliothek geführt. Sie war gleichzeitig Miss Marlowes Garderobiere 56
und kannte die beiden Freundinnen seit ihrer Elevenzeit. »Nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Sie werden bald an die Reihe kommen, Miss Mead. Sie müssen sich auch noch ein wenig gedulden.« Ein zierliches, kraushaariges Mädchen saß auf dem äußersten Rand seines Stuhls. Beim Eintritt der beiden andern war sie mit nervösem Eifer aufgesprungen. Jetzt setzte sie sich völlig zermürbt wieder hin. »Guten Tag«, sagte Carol. »Guten Tag«, erwiderte das Mädchen. »Sind Sie auch zum Vorsprechen gekommen? Ist es nicht gräßlich? Man hat mich auf Viertel vor zwei bestellt, und ich bin bestimmt noch nicht lange hier, und doch habe ich das Gefühl, seit Jahren hier zu sitzen.« »Da kann ich Sie beruhigen«, versicherte Carol. »Das Gefühl kenne ich gut. Übrigens, meine Freundin hier heißt Ellen Gregg, und ich bin Carol Page.« »Carol Page!« Ehrfurchtsvoll schaute das Mädchen Carol an. »Wissen Sie, daß ich Sie zweimal in Schwingen gesehen habe? Ich freue mich schrecklich, Sie kennenzulernen. Machen Sie auch beim Kaufmann von Venedig mit?« »Wenn sie mich nehmen«, antwortete Carol. Es klang nicht sehr überzeugt. »Ich soll die Nerissa vorsprechen.« »Sie? Ich auch. Ist das nicht…« Sie wurde durch Irlene unterbrochen, die plötzlich auf der Schwelle stand. »Wenn Sie bitte kommen wollen, Miss Mead.« Wie von der Tarantel gestochen, sprang das Mädchen auf und folgte Irlene hinaus. Carol und Ellen blickten einander erschrocken an. Carol hatte das Gefühl, als sei ihr der Magen in die Knie gerutscht, und Ellens Gesichtsausdruck wirkte keineswegs beruhigend. »Du lieber Himmel«, meinte Ellen, »ich dachte, es sei alles abgemacht.« »Das dachte ich auch. Glaubst du, daß ich irgend etwas mißverstanden habe?« »Nein. Das ist doch nicht möglich. Aber beim Theater geht alles so schnell.« »Es ist merkwürdig.« Carol stand auf und begann, im Zimmer auf und abzulaufen, wie immer, wenn sie nervös oder beunruhigt war. Nach einer Weile fragte Ellen: »Muß das sein?« »Nein«, sagte Carol und wollte sich gerade wieder setzen, als Ir57
lene zum zweitenmal in der Tür auftauchte. »Wollen die Damen bitte mit mir kommen.« Gehorsam folgten ihr die beiden Mädchen, Carol mit schwankenden Knien. Miss Marlowe und Mr. Sweetser bildeten wieder die gleiche Gruppe wie am Mittwoch zuvor, nur daß diesmal noch eine dritte Person dabei war – Mike, der hinter einem zierlichen Schreibtischchen saß und eifrig in einem kleinen Notizbuch kritzelte. »Setzen Sie sich, meine Damen«, sagte Miss Marlowe. »Ich freue mich, Sie wieder einmal zu sehen, Ellen. Miss Gregg – Mr. Sweetser.« »Freut mich«, sagte Mr. Sweetser, der sich beim Eintritt der Mädchen erhoben hatte und nun wieder setzte. »So, Carol, und jetzt lassen Sie einmal hören, was Sie aus der Nerissa machen.« Er beugte sich zu ihr und drückte ihr ein paar Blätter in die Hand, auf denen in Maschinenschrift ihre Rolle mit den entsprechenden Stichworten stand. »Fangen Sie mit ihrem ersten Auftritt an«, sagte er. »Miss Marlowe wird Ihnen die Stichworte geben.« Klopfenden Herzens ergriff Carol die Blätter. Diese gräßlichen ersten Sätze. Natürlich. Das war ja zu erwarten gewesen. Und noch bevor sie sich sammeln konnte, begann Miss Marlowe mit ihrer schönen, klangvollen Stimme: »Auf mein Wort, Nerissa, meine kleine Person ist dieser großen Welt ganz überdrüssig.« Carol holte tief Luft, nahm sich zusammen, so gut sie konnte, und stürzte sich in das Meer von Zischlauten, die Wörter, die sie sich daheim unterstrichen hatte, überbetonend. »Was würdet Ihr sein, liebes Fräulein, wenn Ihr so großen Überfluß an Unglück hättet als an Glück…« Sie beendete ihre Sätze, ohne ein einziges Mal gezischt zu haben. Sie wußte, daß die witzigen, manchmal impertinenten Sätze mit ihren Wortspielen rasch gesprochen werden mußten, um Nerissas flinken Verstand anzuzeigen. Sie hatte sie rasch gesprochen, doch war sie sich nicht klar, ob sie auch Nerissas Persönlichkeit angedeutet hatte. Der Rest ging besser. Carol hatte schon immer den Dialog zwischen Portia und Nerissa geliebt, in welchem die beiden unschmeichelhafte Bemerkungen über Portias Bewerber austauschten. Natürlich hatte Portia die witzigeren Sätze zu sprechen, doch konnte Nerissa ihre Meinung durch die ironische Betonung der betreffenden 58
Namen zum Ausdruck bringen. Am Ende blickte sie erwartungsvoll auf und sah Mikes breites Grinsen. »Ich glaube, das genügt«, sagte Mr. Sweetser. »Sie können die Rolle sicherlich gestalten.« Erleichtert seufzte Carol auf und schaute zu Miss Marlowe hinüber, die so ruhig dasaß. Ihre gescheiten blauen Augen blickten voller Interesse. »Ihre Auffassung gefällt mir, Carol«, sagte sie. »Wenn die Nerissa nur einfach ein Echo der Portia ist, wird die Sache langweilig.« Sie wandte sich an Mr. Sweetser. »Vitalität«, sagte sie. »Sie haben recht mit Katherine, Arthur. Wir machen besser eine Umbesetzung.« Carol wartete höflich, doch Ellen, die Miss Marlowe beobachtete, war wachsam und eifrig wie ein Hund. Miss Marlowe bemerkte ihren Blick. »Ellen«, sagte sie, »kennen Sie die Rolle der Nerissa auch?« »Aber natürlich«, erwiderte Ellen erstaunt. »Ich meine, ich habe mit Carol daran gearbeitet, aber…« »Na, dann sprechen Sie sie uns doch auch einmal vor.« Carol reichte ihr die Blätter. Ellen war ein wenig blaß, doch ihre Stimme blieb ganz ruhig. »Soll ich die gleichen Szenen lesen?« »Ja. Das wäre recht.« Carol war von der Lesung beeindruckt. Sie wußte nicht, wie sie sich zu ihrer eigenen verhielt, doch merkte sie, daß es etwas anderes war. Ellen sah die Nerissa mehr als Dienerin und weniger als Gefährtin. Mr. Sweetser war der gleichen Meinung. »Ja«, sagte er, »ich verstehe Sie, Phyllis. Zuwenig Vitalität. Sie soll die zweite Besetzung für die Jessika studieren.« Carol und Ellen blickten ihn verblüfft an. Und Mike hinter seinem Schreibtisch unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen. Mr. Sweetser blickte zuerst zu Mike und dann zu den Mädchen, und dann begann auch er zu lachen. »Oh«, sagte er, »jetzt verstehe ich. Wir haben die junge Dame gemeint, die gerade vor Ihnen hier war. Miss Gregg, würden Sie gern die zweite Besetzung für die Nerissa studieren?« »Natürlich!« »Gut, dann können Sie in vierzehn Tagen Ihre Verträge unterschreiben. Mr. Horodinsky soll sich Ihre Namen und Adressen notieren.« »Die kenne ich«, sagte Mike belustigt. 59
Die Mädchen standen auf, und Miss Marlowe reichte ihnen die Hand. »Auf Wiedersehen. Wegen der Proben werden wir Ihnen Nachricht geben. Und ich wünsche Ihnen einen schönen Sommer.« Carol wäre ihr am liebsten um den Hals gefallen. »Vielen Dank, Miss Marlowe. Hoffentlich haben Sie schöne Ferien – und – und – wir sind schrecklich glücklich.« Draußen im Gang blickten sich die beiden atemlos an. »Das war also die Sache mit der kleinen Mead«, sagte Carol. »Die sollte eigentlich die zweite Besetzung für die Nerissa studieren. Oh, und ich hatte eine solche Angst – und alles ganz unnötig.« »Denk nicht mehr daran. Komm, jetzt gehen wir irgendwo schrecklich teuer essen.« Sie galoppierten die vielen Treppen hinunter. »Ist das wirklich zu glauben?« rief Ellen. »Ich werde deine zweite Besetzung sein. Himmel, wie werden wir zusammen an der Rolle schaffen!« »Und unterwegs werde ich krank, und du springst für mich ein…« »Und ich bezaubere das Publikum…« »Und die Kritiker singen Lobeshymnen auf dich…« »Und du bekommst eine Wut auf mich…« »Und versuche, dich bei der Direktion anzuschwärzen…« Lachend traten sie auf die sonnige Straße hinaus. Das Leben war wundervoll. Es war wundervoll, Carol und Ellen zu sein – wundervoll, zum Theater zu gehören.
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10 In den letzten Wochen vor der Absetzung des Stückes bekam das Leben hinter der Bühne etwas leicht Wehmütiges. Carols Beziehungen zu Sherry waren freundlich und ausgesucht höflich. Ihre Beziehungen zu Mike waren ebenfalls freundlich, aber bedeutend weniger höflich. Er war genau, wie er von jeher gewesen war, und Carol begann sich zu fragen, ob sie die ganze Szene in ihrer Garderobe vielleicht doch nur geträumt habe. Als schließlich die letzte Vorstellung zu Ende war, alles Packen erledigt, und man Abschied voneinander genommen hatte, fühlten Carol und Ellen sich richtig flau und fuhren in ihre kleine Heimatstadt nach Connecticut zurück. Aber dann war es doch sehr schön, wieder daheim in der Familie zu sein, zu essen, zu schlafen, zu reden und sich in der Sonne braten zu lassen. Geduldig erklärte Carol ihren Schulkameradinnen und den alten Familienfreunden, daß sie kein Star sei, daß sie nicht erfolgreich sei, ja noch nicht einmal anerkannt. Keiner wollte es glauben. »Mach dir nichts draus«, sagte Carols Mutter, »du bist einfach der Stolz deiner Heimatstadt – wie das Pionierdenkmal vor dem Rathaus. Sogar dein Vater ist stolz auf dich.« »Sag ihm doch, ich sei noch weit davon entfernt, daß man stolz auf mich sein könnte.« »Siehst du«, lächelte Mrs. Page, »daß du das sagst, macht nun wieder mich stolz auf dich.« Einen Augenblick kämpfte Carol mit den Tränen, dann aber lächelte sie. »Nein«, erwiderte sie, »auch du hast keinen Grund dazu, denn ich habe dir noch nicht gebeichtet, wie entsetzlich blöd ich mich den ganzen Winter benommen habe.« Und sie erzählte ihr die Geschichte mit Sherry und Mike. »Und dann«, schloß sie, »hat er gesagt, seine Liebe zu mir ginge mich überhaupt nichts an. Er würde es mir schon sagen, wenn es soweit sei.« Mrs. Page lachte. »Oh, Carol, weißt du, daß du ein Glückspilz bist?« »Wieso?« fragte Carol erstaunt. »Sehr wenige Mädchen in deinem Alter haben das Glück, einen solchen Mann anzuziehen, der talentiert, brillant und ganz offensichtlich ein Gentleman ist.« »Meinst du Mike? Ein Gentleman?« 61
»Natürlich«, sagte Mrs. Page gelassen, »natürlich meine ich Mike. Ach, wie jung du doch noch bist.« »Weißt du«, seufzte Carol, »manchmal verstehe ich dich wirklich nicht.« Aber nachdem sie sich ein wenig erholt und die Freuden des Sommers genossen hatte, begann sie, unter eifriger Anteilnahme der ganzen Familie, mit der Arbeit am Kaufmann von Venedig. Eleanor, Carols ältere Schwester, wußte nicht, ob sie sich über all das weit erhaben fühlen oder ihrer ehrlichen Bewunderung Ausdruck geben solle. Carols Bruder, Phil, hingegen machte mit Begeisterung mit. Er las die Rolle des Shylock, und Carol versicherte ihm, daß er Hervorragendes leiste. »Danke für das Lob«, erwiderte er. »Aber versuch nicht, einen Schauspieler aus mir zu machen. Ich habe nicht deinen Durchhaltewillen.« »Was für ein Glück«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »daß wenigstens eines meiner Kinder noch über gesunden Menschenverstand verfügt. Aber mach nur weiter, Carol. Wenn du schon unbedingt eine Schauspielerin sein mußt, dann möchte ich doch wenigstens auch etwas davon haben.« »Natürlich, Vater. Soll ich dir einmal die erste Szene vorsprechen?« Als sie damit zu Ende war, räusperte sich Richter Page. »Wer weiß, ob es nicht vielleicht ein Segen ist. Du hättest womöglich sonst Jura studiert, und das ist ein Hundeleben.« Und dann plötzlich: »Das war wunderschön, Kind.« Er küßte sie schnell auf die Wange und verschwand dann im Haus. »Das war aber allerhand«, sagte Carol. »Lob vom Caesaren. So stolz habe ich den alten Knaben in meinem ganzen Leben noch nie gesehen«, grinste Phil. Es war wirklich ein guter Sommer für Carol. Doch als der August heranrückte, begann sie sich nach dem Theater zu sehnen, nach dem heißen Rampenlicht und dem Surren des hochgehenden Vorhangs. Der schönste Sommer vermochte ihr die Theateratmosphäre nicht zu ersetzen. Und als sie die Nachricht erhielt, daß die Proben am 12. August begännen, war sie so glücklich, wie sie es in all den geruhsamen Ferientagen im Elternhaus nicht gewesen war. Am 8. August, während einer mörderischen Hitzewelle, kehrten 62
sie und Ellen nach New York zurück. Aber die Hitze störte sie nicht. Sie bekamen zwar nicht mehr ihr altes Zimmer, doch konnte Mrs. Garrett sie in einem anderen, gerade frei gewordenen, unterbringen. Die Pensionsinhaberin begrüßte sie herzlich, und im Haus schien sich nichts verändert zu haben, außer daß Miss Iverson auf dem Land, bei ihrer Schwester, war. Die Mädchen schauten sich ein paar Filme und Theaterstücke an, machten verschiedene Einkäufe und warteten auf den großen Tag. Schließlich brach er an – heiß und feucht. Der Asphalt klebte an den Schuhen. Doch Carol und Ellen spürten weder Hitze noch Unbehagen. Sie waren auf dem Weg zu ihrer ersten Probe für den Kaufmann von Venedig. »Am liebsten würde ich einen Luftsprung machen«, sagte Ellen. »Glaubst du, daß man später, nach vielen Jahren, immer noch das gleiche Gefühl bei der ersten Probe hat?« »Wahrscheinlich wird es nur schlimmer, weil man immer mehr am Theater hängt. Ich bin überzeugt, Miss Marlowe ist im Moment noch viel aufgeregter als wir.« Ellen dachte eine Weile nach. »Eigentlich ist das gar nicht möglich, aber ich verstehe, was du meinst. So ungefähr anderthalb Jahre lang denkst du, das Theater ist zauberhaft, und wenn du dann merkst, daß das nicht stimmt, ist es schon zu spät. Da hat’s dich schon erwischt.« Mit klopfendem Herzen traten sie durch den Bühneneingang. Miss Marlowes neuer Hilfsinspizient stand gerade drinnen, ein frischer Bursche mit freundlichen grauen Augen und einem aufmunternden Grinsen. Die Mädchen nannten ihre Namen, Adresse und Telefonnummer und gingen den Korridor zur Bühne entlang, wo sie verblüfft stehenblieben. Die Bühne war voll von Männern, viele von ihnen nicht mehr ganz jung. Sie schienen einander gut zu kennen, und man hörte sofort, daß sie Engländer waren. Ein paar jüngere saßen im Hintergrund und studierten gelassen ihre Rollen. Doch Carols erster Eindruck war, in einen Klub älterer Engländer geraten zu sein. »Du lieber Himmel!« japste sie. »Ja, und dazu sehen sie auch noch aus, als gehöre ihnen das ganze Theater. Ich möchte wissen, wo…« Sie wurde durch eine ihnen bekannt erscheinende Stimme unterbrochen. Als sie sich umwandten, erkannten sie das junge Mädchen, das sie in Miss Marlowes Bibliothek getroffen hatten. 63
»Ich bin Katherine Mead«, sagte sie. »Wir haben uns bei Miss Marlowe getroffen. Ich freue mich so, ein paar Menschen zu sehen, die ich kenne – selbst wenn ich sie eigentlich nicht kenne. Ich bin einfach sprachlos. Ist eine Probe immer so wie das hier?« Ihre Worte schienen sich fast zu überstürzen, was – wie die Mädchen später feststellten – ihre übliche Redeweise war. »Nein, eigentlich nicht«, sagte Carol. »Es ist ein schrecklich großes Ensemble, es müssen beinahe dreißig Personen sein. Wenn Miss Marlowe erst einmal da ist, kommt schon Ordnung hinein.« »Sie ist wundervoll, nicht wahr?« sagte Katherine Mead. »Es ist einfach phantastisch, hier mitmachen zu dürfen. Ich habe bisher noch nirgends gespielt.« Sie war nicht jünger als Carol und Ellen, doch angesichts ihres kindlichen Überschwangs fühlten sich die beiden alt und erfahren. Ellens Stimme klang fast mütterlich, als sie fragte: »Was werden Sie spielen?« »Ich gehöre nur zu ferner liefen und bin die zweite Besetzung für die Jessika. Zuerst wollten sie mir die zweite Besetzung für die Nerissa geben, doch dann haben sie ihre Meinung geändert. Aber das ist mir ganz egal. Ich hätte auch die Hinterbeine eines Pferdes gespielt, nur um mit dabeisein zu können. Es ist eine himmlische Abwechslung.« »Ach, erzählen Sie uns doch«, bat Carol, die sich immer für die verschlungenen Schicksalswege der Theaterleute interessierte. »Reinste Protektion«, gestand Katherine Mead vergnügt. »Reinste, offenkundigste Protektion, kombiniert mit absoluter Schamlosigkeit. Wissen Sie, Mr. Sweetser ist ein guter Freund meines Vaters. Ich bin in der Schauspielschule von Sarah Lawrence gewesen und brachte meinen Vater dazu, Onkel Arthur – ich meine Mr. Sweetser – zu überreden, sich unsere Aufführung anzusehen. Onkel Arthur sagte, seiner Meinung nach sei ich ganz gut. Und von da an ließ ich ihm keine ruhige Minute mehr. Ich quälte ihn dauernd, mir ein Engagement zu verschaffen. Schließlich wußte er sich nicht mehr zu helfen. Er gab nach und sagte, falls ich Miss Marlowe gefalle, dürfe ich eine zweite Besetzung im Kaufmann von Venedig studieren. Und dann steckte Vater noch ein bißchen Geld in die Produktion – und das half mit. Die ganze Sache scheint schrecklich unfair – ich meine, eigentlich hätte ich für meine Kunst hungern und leiden sollen, aber dieser Weg schien mir vernünftiger.« Miss Meads Ehrlichkeit war entwaffnend, und Carol grinste. »Ich 64
glaube, Sie hatten völlig recht. Niemand mit gesundem Menschenverstand würde sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen.« »Ich bin schrecklich froh, daß Sie so denken«, erwiderte Miss Mead erleichtert. »Jetzt muß ich nur noch lernen, wie man spielt. Im Grund genommen habe ich keinen blassen Schimmer davon. Schauspielschule und Bühne sind zwei grundverschiedene Dinge.« »Ja«, sagte Carol und lächelte nicht mehr. »Es ist nicht ganz dasselbe, aber es hilft.« Sie hielt inne, und plötzlich fiel ihr Miss Marlowes Bemerkung ein über Katherines Mangel an Vitalität. Und dabei schien sie eines der vitalsten Wesen, denen Carol jemals begegnet war. Aber man kannte sich ja nie mit seinen Mitmenschen aus. Carols Überlegungen wurden durch Miss Marlowes Eintritt unterbrochen. Augenblicklich wurde alles still. Miss Marlowe sah gut aus, dachte Carol. Ihr sonst so blasses Gesicht hatte Farbe. Ihre klaren Augen waren noch klarer und durchdringender, als Carol sie in Erinnerung hatte. Und sie bewegte sich leichtfüßig auf der Bühne mit einem sichtlich völlig geheilten Knöchel. Es war schön, sie wiederzusehen, aktiv, ausgeglichen und sicher. Carol seufzte beglückt. Miss Marlowe blickte sich in dem Halbkreis der Gesichter unter dem Arbeitslicht um. »Wollen Sie sich bitte alle setzen.« Dann, als das Scharren der Stühle verstummte, fuhr sie fort: »Ich glaube, wir lesen am besten zuerst einmal das ganze Stück zusammen durch. Mr. Walworth wird gleich hier sein. Mike?« Mike trat aus den Kulissen – das erste Mal, daß Carol ihn sah. »Mike, Mr. Walworth und ich haben uns bis jetzt noch nicht über die Streichungen besprochen, außer daß wir den alten Gobbo wegfallen lassen. Ich möchte, daß Sie diese Lesung kontrollieren.« Dann wandte sie sich an das gesamte Ensemble: »Dies hier ist Mr. Horodinsky, unser Regie-Assistent.« »Hui!« flüsterte Ellen, und Carol blickte erfreut auf. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen Mikes Augen die ihren, und dann erschien Mr. Walworth in den Kulissen. Trotz seines unauffälligen Auftretens zog er alle Blicke auf sich. Carol hatte ihn erst einmal gesehen, in einem Stück, in dem seine aalglatte Schuftigkeit zwei Menschenleben ruinierte. Er war ihr damals wie die Verkörperung alles Bösen vorgekommen. Nun sah sie einen schmächtigen, verbindlich wirkenden Herrn vor sich, mit lan65
ger Oberlippe und erstaunlich blaß. »Es tut mir leid, Phyllis, daß Sie warten mußten«, sagte er mit seiner angenehmen englischen Stimme. »Ich bin auch gerade erst gekommen, Hilton. Aber ich glaube, wir sind alle bereit. In Ordnung, Mr. Allston? Auftritt von Salanio und Salarino.« Mr. Allston, der den Antonio spielte, nickte. Er war ein großer breitschultriger Mann, so um die fünfzig, und offensichtlich ein routinierter Schauspieler. Er hatte genau das richtige Aussehen für den melancholischen Antonio. »Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig stimmt«, begann er. Seine Stimme war angenehm, und er las gekonnt. Dann folgte Salarinos Antwort, weitschweifig, energisch, bilderreich. Der Schauspieler, der diesen eleganten jungen Lebemann spielte, war überraschenderweise ein ruhiger, nicht mehr ganz junger Mann, der langsam und liebevoll an seiner Pfeife sog und nach seinen langen, komplizierten Sätzen wieder in träumerisches Nachdenken versank. Salanio war zierlich und schlank, doch stellte Carol fest, daß er schon angegraute Schläfen hatte. Sein Text war so einfach, wie der von Salarino verzwickt gewesen war, doch seine Bin-ich-froh-daßich-nicht-du-bin-Haltung rief bei allen ein Lächeln hervor. Antonio war nicht aus seiner Schwermut herauszureißen, und die beiden jungen Männer bemühten sich erfolglos, ihn aufzuheitern, bis Bassanio, Lorenzo und Graziano auftraten, und die beiden ersten Abschied nahmen. Miss Marlowe an ihrem kleinen Tisch unter dem Arbeitslicht machte nicht die geringste Bemerkung, mit halb geschlossenen Augen auf die Worte der Darsteller lauschend. Bald kam Carols Auftritt. »Sei nur jetzt nicht nervös«, mahnte sie sich. Aber sie war nervös. Eine Hörerschaft von Schauspielern ist die kritischste Hörerschaft der Welt. Und Carol war sich noch nie so unerfahren vorgekommen. Die erste Szene war beendet. Miss Marlowe blickte Carol an. Die nickte, und eine Sekunde später erklang Portias Stimme, voll von Überdruß. Carol kannte ihre Rolle auswendig, trotzdem las sie ab. Sie hörte ihre eigene Stimme, überraschend sicher bei den schwierigen Alliterationen. Erst ganz zum Schluß stolperte sie über das Wort Genügsamkeit. Unwillkürlich murmelte sie: »Ach, verflixt, nachdem ich 66
die ganzen schwierigen S hinter mir habe.« Alle lachten verständnisvoll, und Mr. Walworth sagte: »Das ist aber auch fast wie Fischers Fritze.« Wieder lachten alle, und voller Dankbarkeit begann Carol sich freier zu fühlen und imstande, die ganze privilegierte Vorwitzigkeit – nicht zu vorwitzig – der Nerissa in ihre Verse zu legen, dieser Zofe, die gleichzeitig Gesellschafterin und Freundin ist. Schließlich war die Szene beendet, und Shylocks Auftritt kam. Selbstverständlich würde Mr. Walworth nicht spielen. Er würde seine Verse nur lesen, aber auch so mußte seine Auffassung des Shylock bis zu einem gewissen Grad sichtbar werden. Für Carol war der Shylock immer der Inbegriff der Grausamkeit, der Rachsucht und des absichtlich Niederträchtigen gewesen – der große Bösewicht aller Zeiten. Doch als Mr. Walworth eine Szene nach der andern las, spürte sie aus seinen Worten weder berechnende Gemeinheit noch hysterischen Haß. Er steigerte sich langsam, beginnend mit Mäßigung und zurückgestauter Bitterkeit. Der PfundFleisch-Vertrag schien Carol nun nicht ein heimtückischer Racheplan, sondern nur eine ausgeklügelte Form der Verhöhnung. Shylock, ein aus der Gesellschaft Ausgestoßener, war von jeher die Zielscheibe von Spott und Beleidigungen gewesen, an denen Antonio sich reichlich beteiligt hatte. Und nie war dem Juden eine Rache möglich gewesen. Er konnte beleidigt werden, doch er war außerstande zu beleidigen. Wenn Mr. Walworth diesen Eindruck nur allein schon beim Lesen erweckte, wie würde es erst werden, wenn er zu spielen begann? Carol fühlte sich klein und unbedeutend. Wieviel gehörte doch dazu, ein großer Schauspieler zu sein! Nicht nur Talent und Bühnengewandheit und Beherrschung von Stimme und Gliedern, nein, auch Intelligenz, Einsicht, Erfahrung und Weisheit. Und da – dachte Carol – halten die Leute daheim mich für erfolgreich. Als die Gerichtsszene endete und die beherrschte Stimme schloß: »Gebt mir Erlaubnis heimzugehen. Mir ist nicht wohl –«, saß Carol erschüttert auf ihrem Stuhl. Auf der Bühne herrschte tiefes Schweigen – die höchste Anerkennung, die eine Schauspielergemeinschaft einem der Ihren zollen kann. Mr. Walworth blickte sich um und lächelte bescheiden. »Danke«, sagte er schlicht. »Wollen wir weitermachen?«
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11 Die nächsten drei Wochen waren anstrengend, beunruhigend, entnervend und gleichzeitig reinste Wonne. Manchmal glaubte Carol zu spüren, wie die einzelnen Teile des Stückes zu einem Ganzen zusammenwuchsen. Doch an anderen Tagen wieder schien alles ein einziger Wirrwarr zu sein, und Carol wunderte sich, daß weder Mike noch Miss Marlowe die Geduld verloren. Weder schienen sie sich aufzuregen, noch wurden sie irritiert. Mindestens ließen sie es nicht merken. Carol war viel zu sehr mit den Schwierigkeiten ihrer Rolle beschäftigt, um außer den Kollegen, die in ihren eigenen Szenen mitspielten, noch andere Mitglieder des großen Ensembles kennenzulernen. Das Leben in Portias Haus mußte etwas Märchenhaftes haben, wenn aber Nerissa zu keck oder zu vorlaut war, zerstörte sie diesen Zauber. Spielte sie jedoch nur einfach Portias Echo, so wurden die Auftritte langweilig. Nun schlug Mike eines Tages eine kleine Pantomime vor. Nerissa sollte jedesmal, wenn sie den Namen eines der drei Freier aussprach, die Portia umschwärmten, den Betreffenden leicht karikieren. Carol war von der Anregung begeistert und glaubte, das würde ein leichtes für sie sein. Doch wollte es ihr trotz aller Mühe nicht recht gelingen. Das eine Mal waren ihre Bewegungen zu unkontrolliert und fahrig, das andere Mal so gehemmt, daß der ganze Witz verlorenging. Grimmig entschlossen arbeitete sie daheim an der Szene und war entsetzt zu sehen, mit welcher Leichtigkeit Ellen die Freier karikieren konnte. Doch Ellen konnte ihr nicht erklären, wie sie es machte. Miss Marlowe, die jedem Schauspieler Zeit ließ, seine eigene Auffassung einer Rolle zu gestalten, wartete zehn Tage. Dann griff sie ein. »Carol«, sagte sie, »stehen Sie einmal ganz still. So, und jetzt heben Sie die Rippen und machen Ihr Zwerchfell ganz steif, wie ein Soldat in Habt-acht-Stellung.« Verwundert gehorchte Carol. »Jetzt bleiben Sie so, und wir probieren die Szene noch einmal.« Es wirkte. Carol spürte, daß sie ihre Bewegungen, obgleich steif und leicht übertrieben, unter Kontrolle hatte. Miss Marlowe erklärte es ihr. »Durch das Anheben des Brustkorbes und die Zwerchfellver68
steifung verlagern Sie den Schwerpunkt, und das verhilft Ihnen zu einem besseren Gleichgewicht und zu größerer Muskelkontrolle. Natürlich können Sie die Sache nicht so steif spielen, aber sobald Sie einmal genau wissen, was Sie machen wollen, entspannen Sie sich schon von selbst.« Langsam gewann der Auftritt die Heiterkeit und den Charme, die er haben mußte, und Carol bekam von Tag zu Tag mehr Freude daran. Mike, der ihr zuschaute, lächelte zufrieden. Er war in diesen Tagen viel weniger grob und überraschend taktvoll mit allen. Obgleich Carol ihn gelegentlich vor sich hinmurmeln sah, bevor er das Wort an jemanden richtete. »Was ist eigentlich los mit dir, daß du so friedlich bist?« erkundigte sie sich eines Tages. Dann kamen ihr aber auch schon Zweifel, ob es richtig gewesen sei, diese Frage an ihn zu stellen. Sie war Mike gegenüber noch immer ein wenig befangen. Mike hingegen war alles andere als befangen. Er sah ehrlich zufrieden aus. »Wenn du’s noch nicht gemerkt haben solltest«, erwiderte er, »ich glaube, daß ich auf dem richtigen Weg bin.« »Auf dem Weg zu was?« »Zu etwas, das ich nach Miss Marlowes Behauptung noch lernen muß, bevor ein richtiger Regisseur aus mir wird.« Die Hände in den Taschen, lehnte er sich gegen ein Versatzstück. »Sie meint, daß Schauspieler besser arbeiten«, fuhr er fort, »wenn sie zufrieden und nicht verärgert sind.« »Und hat sie nicht recht?« stimmte Carol eifrig bei. »Es ist ein gräßlicher Zustand, wenn man glaubt, daß der Regisseur eine schlechte Meinung von einem hat. Man kann nicht arbeiten, wenn einem ein Hornissenschwarm um den Kopf surrt.« »Aber viele von euch scheinen gar nicht zu wissen, was sie tun.« »Möglich. Aber das bedeutet meistens, daß wir warten.« »Warten?« »Natürlich. Wenn wir eine Weile herumstehen und warten, dann wissen wir plötzlich, wie die Rolle gespielt werden muß. Aber dieses Wissen stellt sich viel langsamer ein, wenn der Regisseur dich mit Schimpfworten traktiert.« »Einverstanden«, sagte Mike trocken. »Wenn aber der arme Kerl einen Termin für seine Probe hat? Vielleicht kann er sich’s nicht gestatten, wochenlang zu warten, bis einem seiner Darsteller eine Eingebung kommt.« Carol lachte. »So habe ich’s auch nicht gemeint. Miss Marlowe 69
geht ganz zügig vorwärts mit ihren Proben, wenn sie aber merkt, daß irgend jemand etwas auszuarbeiten versucht, dann läßt sie ihn in Ruhe. Mindestens gibt sie ihm eine Chance.« »Das weiß ich. Schließlich habe ich ja selbst schon ein paar Proben erlebt. Aber du arbeitest nicht so. Du denkst zuerst über deine Rolle nach. Du personifizierst dich sozusagen mit ihr. Und dann fängst du an, sie zu verkörpern.« »Nanu, Mike?« »Ach, hör schon auf.« »Ja, ja«, erwiderte Carol ungeduldig. »Weißt du, ich wollte damit nur sagen, daß alle eigene Initiative zerstört wird, wenn jemand ständig an einem herumnörgelt. Am Schluß ist man dann so wütend, daß man es genau so macht, wie der Regisseur es will – möglichst sogar noch besser –, nur damit er einen endlich in Ruhe läßt.« »Woher weißt du das?« »Weil es mir selber so geht. Aber ich bewähre mich viel mehr und mache größere Fortschritte, wenn ich nicht dauernd angeödet werde. Man verliert etwas vom Besten, wenn die ganze Sache zu einem persönlichen Kampf zwischen Schauspieler und Regisseur ausartet.« Mike dachte einen Augenblick nach. Dann sagte er trocken: »Vielen Dank, Carol«, drehte sich um und verschwand in der Dämmerung hinter der Bühne. Es war das erste Mal, daß er sie nicht Page genannt hatte. Allerdings fiel ihr das erst später auf. Sie dachte: Da habe ich ihm anscheinend tatsächlich geholfen. Und dieser Gedanke machte sie froh. Da sie jetzt längere Zeit nichts auf der Bühne zu tun hatte, ging sie ins Konversationszimmer, wo sie Ellen und Katherine Mead bei Kaffee und Sandwiches traf. »Komm, bedien dich. Es ist genug da. Wir haben gerade über Miss Hardy gesprochen.« Genevieve Hardy spielte die Jessika. Im Privatleben war sie eine nicht mehr ganz junge, etwas fade Blondine, sehr liebenswürdig und freundlich. Auf der Bühne ging eine merkwürdige Verwandlung mit ihr vor. Ihr Gesicht blühte auf, und ihre Bewegungen wurden so leicht und graziös, daß sie über die Bühne zu schweben schien. »Wie macht sie das nur?« fragte Ellen. »Und dabei ist sie noch nicht einmal geschminkt.« »Das weiß kein Mensch«, antwortete Katherine. »Onkel Arthur hat gesagt, auf der Bühne sei sie immer so – zerbrechlich und ir70
gendwie elfenhaft. Niemand kann es erklären. Sie sagt, sie weiß es selber nicht. Es geschieht einfach mit ihr.« »Auf jeden Fall«, meinte Ellen, »ist sie eine wundervolle Jessika. Ich habe noch niemand so verliebt gesehen.« »Kein Wunder, bei diesem Partner. Wenn jemand wie dieser Lorenzo so mit mir spräche, würde ich auch vor Liebe vergehen. Das ist kein Kunststück. Er sieht großartig aus und hat eine wunderbare Stimme.« »Er ist Engländer, nicht wahr?« sagte Ellen. »Wie heißt er eigentlich?« »Wayne Prescott«, antwortete Carol. »Und das ist alles, was ich von ihm weiß. Ist es nicht komisch, daß man eigentlich niemand von dem ganzen Ensemble kennt? Aber es ist so groß, und hinter der Bühne kommt es manchmal zu einem richtigen Verkehrschaos.« Als die Mädchen mit ihren Sandwiches fertig waren, fragte Katherine plötzlich: »Warum haben sie eigentlich Shylocks Haus abgebaut?« Shylocks Haus war das einzige Versatzstück, das bei den Proben benutzt wurde, weil Miss Hardy eine Szene auf dem Balkon hatte. »Sie verladen die Kulissen«, erwiderte Ellen. »Sie werden schon nach Boston geschafft.« Erstaunt blickten die beiden andern sie an. »In einer Woche gehen wir ja auch«, erinnerte Ellen sie. »Habt ihr’s denn nicht am Schwarzen Brett gesehen?« »Nein. Was denn?« »Eine Hotelliste von Boston mit den Preisen. Einzelzimmer, Doppelzimmer, mit oder ohne Bad. Jeder soll einschreiben, was er haben will.« Ellen blickte Carol fragend an. »Hoffentlich ist es dir recht. Ich konnte dich nirgends finden, und da habe ich ein Doppelzimmer für uns gebucht. Es wäre nett, wenn du auch in unserem Hotel wohnen würdest, Katherine.« In diesem Augenblick kam Miss Hardy herein. Die Mädchen sprangen auf. »Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Miss Hardy?« fragte Carol. »Wir sind ein bißchen aufgeregt, weil die Tournee schon so bald losgehen soll. Könnten Sie uns ein wenig erzählen, wie es bei so einer Tournee ist?« Miss Hardy setzte sich aufs Sofa und zog ein Strickzeug aus ihrer Handtasche. Sie lächelte mütterlich. »Manche Leute genießen es, andere finden es gräßlich. Mir persönlich ist es ganz egal. Deshalb kann ich Ihnen auch nicht sagen, ob es mir gefällt oder nicht. Aber 71
so viel kann ich Ihnen verraten, daß es vier wichtige Dinge dabei gibt: die Post, das Essen, die Kleider in Ordnung zu halten – am besten nehmen Sie ein Bügeleisen mit – und das Leben aus der Reisetasche. Obgleich ich nicht glaube, daß es bei dieser Tournee so wird. Es ist alles sehr gut vorbereitet. Und wenn Sie Ihren Namen deutlich sichtbar auf dem Koffer haben, finden Sie ihn bestimmt immer auf Ihrem Zimmer vor. Aber wenn es nach der Vorstellung immer gleich in die nächste Stadt weitergeht, wird es manchmal schwierig. Darauf sollte man gefaßt sein.« Carol blickte zweifelnd, Ellen unbekümmert, und Katherine war begeistert. »Oh«, rief sie, »das gefällt mir bestimmt.« Miss Hardy lächelte wieder. »Vielleicht werden Sie ganz anders reagieren, als Sie jetzt meinen. Es kommt natürlich ganz auf die Einstellung an.«
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12 Es war an einem Septembermorgen, als Carol und Ellen um neun Uhr auf einem Bahnsteig der Grand Central Station standen. Und es würde Frühling sein, wenn sie wieder nach New York zurückkehrten. Der Gedanke stimmte sie ein wenig traurig. Immerhin: sie wagten ja nicht allein den Sprung ins Unbekannte. Ungefähr fünfundzwanzig Kollegen, Mike, die Bühnenarbeiter, die Garderobieren – sie alle fuhren mit. »Dort kommt Mr. Walworth«, sagte Ellen. Mr. Walworth war von seinem Garderobier und einem Gepäckträger begleitet. Sie hörten ihn vorwurfsvoll sagen: »Es ist doch Unsinn, Lester, zu behaupten, das Essen im Speisewagen sei gut. Schon durch das frühe Aufstehen habe ich eine Magenverstimmung riskiert.« Jetzt erblickte er die Mädchen, und ein Lächeln flog über sein scharf geschnittenes Gesicht. »Guten Morgen, meine Damen«, begrüßte er sie höflich. »Wie geht es Ihnen zu dieser nachtschlafenden Zeit?« »Ich bin schrecklich aufgeregt«, sagte Carol. »Eigentlich bin ich noch nie weit über New York hinausgekommen. Nicht einmal bis Boston.« »Boston«, wiederholte er. »Der letzte Vorposten der Zivilisation. Und dann werden wir in die Wildnis zu den Cowboys und Büffeln verschleppt. Ah, dort steht ja unser Zug, und da ist auch unser guter Mr. Daley. Wahrscheinlich will er sich überzeugen, ob wir auch alle vollzählig sind und keiner noch in letzter Minute abgesprungen ist.« Der Tourneeleiter machte ein Kreuzchen auf das Blatt in seiner Hand und sagte liebenswürdig: »Ihr Abteil, Mr. Walworth, ist im fünften Wagen.« »Vielen Dank, Daley.« Mr. Walworth wandte sich wieder an die Mädchen, um sich höflich von ihnen zu verabschieden. Carol dachte: Wirklich ein Gentleman – und ein großer Schauspieler. »Netter Kerl«, bemerkte Mr. Daley. »Warten Sie – Page und Gregg? Sie sind mit verschiedenen anderen zusammen in Wagen sieben.« Auf dem Weg zu ihrem Wagen sagte Ellen: »Das ist das Nette an einer Tournee: Man lernt die Leute alle näher kennen.« Die Wahrheit dieser Bemerkung erwies sich schon innerhalb der 73
nächsten Stunde, denn kaum hatte der Zug den Bahnhof verlassen, begannen sich schon kleine Cliquen zu bilden. Als man durch die Vororte fuhr, saßen die älteren Herren bereits beim Bridge. Ein Großteil der jüngeren wanderte paarweise den Wagengang auf und ab, hier und dort Gespräche anknüpfend. Oder sie standen gestikulierend und lachend in Grüppchen beisammen. Einige saßen auch ganz für sich allein, lasen, dösten oder schauten aus dem Fenster. Carol sah Mike zuerst bei den jungen Leuten, später – in ein Buch vertieft – am andern Ende des Wagens. Miss Hardy saß gottergeben neben ihrem Vetter Jefferson, der den Leonardo, Bassanios Diener, spielte. Er war ein Mann in mittleren Jahren, der unsympathisch und nicht übertrieben intelligent aussah. Offensichtlich betrachtete Miss Hardy ihn als eine Bürde, die man auf sich nehmen mußte und strickte an ihrem Schal. Sie ließ sich auch nicht stören, als Neil Morse, der den Gratiano spielte, den Gang herunterkam und sich auf den freien Platz ihr gegenüber fallen ließ. Neil Morse gehörte zu den wenigen Mitgliedern der Truppe, die Carol mit der Zeit näher kennengelernt hatte. Und als Katherine ihr einen Rippenstoß gab und »Arme Miss Hardy, auch das noch!« murmelte, nickte Carol mitleidig. Neil Morse kannte nur ein einziges Gesprächsthema – sich selbst. Er besaß eine Menge bemerkenswerter Eigenschaften: Intelligenz, einen reichen Wortschatz und Talent. Sein Gratiano war alles, was man von der Rolle verlangen konnte – lebhaft, zielstrebig, ordinär, und in der Gerichtsszene war er von einer wilden Rachsucht besessen. Doch wenn Neil nicht auf der Bühne stand, war er unerträglich, denn er brauchte ständig ein Publikum. Er konnte sich an keiner Unterhaltung beteiligen, in der nicht er der Mittelpunkt war. Am zweiten Tag der Proben hatte er Carol hinter der Bühne angesprochen, um ihr zu erzählen, daß seine Frau ihn nach dreijähriger Ehe verlassen habe, um mit einem Säufer auf und davon zu gehen. »Nicht daß es mir etwas ausmacht«, hatte er gesagt. »Ich hatte sie längst schon satt.« Als er mit seiner Rede endlich fertig war, stand Carol eindeutig auf Seiten seiner Frau. Nach drei Jahren Neil mußte das Leben mit einem Säufer geradezu paradiesisch sein. Nun tönte seine Stimme durch den ganzen Wagen. »Ich habe in Harvard Dramaturgie studiert, und dann war ich Regieassistent bei einem Sommertheater. Ich habe eine Menge dabei gelernt…« Die 74
beiden Mädchen flohen. Sie schlenderten den Wagen hinunter, um sich mit einigen Kollegen zu unterhalten. Dabei verflog die Zeit so schnell, daß sie ganz überrascht waren, als der Speisewagenkellner zum Mittagessen gongte. Wayne und Dick hatten Plätze für sie freigehalten, und man kam sich schon wie in einer großen Familie vor. Kurz darauf gesellten sich auch noch Mike und Harris Nichols zu ihnen. Nichols spielte den Dogen von Venedig. Er war ungefähr dreißig und hatte auffallend regelmäßige Züge. Doch waren seine Haare und sein Teint so hell, daß sie fast farblos wirkten. Auf der Bühne störte das nicht, da er eine dunkle Perücke trug und ein Makeup, das ihn fünfzehn Jahre älter erscheinen ließ. Er war ein gewissenhafter, zuverlässiger Schauspieler, mit einer tiefen Stimme, die gut zu dem gebieterischen Dogen paßte. Während der Proben schien er immer sehr verschlossen, und Carol hatte ihn in die Gattung Stille Wasser eingestuft. Doch als er jetzt im Speisewagen neben ihr saß, fragte sie sich, ob dieses Urteil stimme. Sein Benehmen war ruhig und sein Gesicht ziemlich ausdruckslos, doch in seinen Augen lag etwas Unstetes, Nichtzufassendes, und sie glitzerten zu stark. Carol spürte, daß er sie mochte, denn obgleich er wenig redete, lächelte er ihr öfter auf eine scheue Weise freundlich zu. Er benimmt sich, dachte sie, als ob ich seine Schwester wäre. Zwar sah sie sich noch nicht ganz in dieser Rolle, doch gefiel er ihr mit der Zeit immer besser. An allen Tischen wurde viel gelacht, und überall entdeckte man gemeinsame Bekannte. Wayne Prescott gewann Carols Sympathie mit den Worten: »Wie ich hörte, haben Sie in der letzten Saison die Garderobe mit Sherry Kaye geteilt. Da werden Sie allerhand erlebt haben.« »Das kann man wohl sagen.« »Ich werde die Geschichte nie vergessen«, fuhr Wayne in seinem angenehmen Englisch fort, »als ich mit ihr in Früchte des Zorns spielte. Die Kaye hatte nur eine kleine Rolle und wollte unbedingt eine größere haben. Wie sie dem Produzenten damals zusetzte, das war einmalig.« »Wieso, Wayne?« wollte Ellen wissen. Doch wurde sie durch Dick Kenyon unterbrochen, der über ihren Kopf weg zum Ende des Wagens blickte. »Was soll denn dieser Krawall bedeuten?« fragte er. Der Krawall war die empörte Stimme Lesters – Mr. Walworth’ Garderobier –, der an der Tür zum Speisewagen stand. 75
»Mr. Walworth hat ausdrücklich Suppenhuhn bestellt und nicht Chicken à la King. Mr. Walworth verträgt keine Peperoni.« Der Kellner eilte den Gang hinunter. »Es tut mir schrecklich leid«, sagte er, »aber das ist alles, was wir an Poulets haben.« »Dann«, schnaubte Lester, »machen Sie zwei Rühreier mit Milch für Mr. Walworth. Ohne Fett. Und bringen Sie ihm dünnen, hellen Toast, ganz leicht gebuttert. Und Tee. Aber er trinkt nur seine eigene Mischung. Es ist am besten, ich mache ihn selbst.« »Wäre es nicht das Gescheiteste, Sie würden das ganze Essen selber kochen?« fragte eine ironische Stimme. Der Sarkasmus des Küchenchefs fiel ins Leere. »Eine großartige Idee«, versicherte Lester. »Vielen Dank. Und jetzt, wenn Sie erlauben…« Die weiteren Geräusche aus der Küche waren nicht mehr auszumachen, und die Reisenden warteten in amüsiertem Schweigen, bis sie Lester wieder herauskommen sahen, gefolgt von einem schwitzenden Kellner, der ein Tablett für Mr. Walworth trug. Lesters breiter Rücken verschwand, und die Gespräche im Wagen nahmen ihren Fortgang. Keinem Menschen fiel auch nur im entferntesten ein, sich über diese Szene lustig zu machen. Mr. Walworth war einer der Ihren. Auch an Carols Tisch war man schweigend über den Vorfall hinweggegangen. Um so eifriger sagte Katherine jetzt: »Wenn man denkt, daß heute abend Kostümprobe ist! Das wird bestimmt ein Riesenspaß.« »Sie armer Unschuldsengel«, lächelte Dick. Carol schauderte. »Nur nicht daran denken. Die ganze Zeit bemühe ich mich, es zu verdrängen.« »Aber warum?« fragte Katherine erstaunt. »Das werden Sie schon bald genug merken«, erwiderte Harris Nichols und blickte Carol Unterstützung heischend an. Carol versuchte, es zu erklären. »Jede Kostümprobe ist an sich schon ein Alpdruck, Katherine. Doch diese hier mit dem enormen Ensemble und der Spezialbeleuchtung und den vielen Kostümen wird bestimmt grauenhaft.« Und es war grauenhaft. Kaum in Boston angekommen, verteilte sich die Truppe auf die verschiedenen Hotels, und eine Stunde später schon waren alle im Theater versammelt. Die Kostümprobe sollte um halb sechs beginnen, doch entstanden Schwierigkeiten mit der Beleuchtung und den Kulissen. Die Gondel, in der Jessika und Lo76
renzo entfliehen, ließ sich nicht von der Stelle bewegen. Es gab Beratungen zwischen Miss Marlowe und Mike, zwischen Mike und dem Chefelektriker sowie dem Chef der Bühnenarbeiter und zwischen Miss Marlowe und praktisch jedermann. Das ganze Ensemble, kostümiert und geschminkt, wanderte ruhelos umher. Es war fast sieben, als die Probe endlich begann – langsam, harzig und mit vielen Wiederholungen. Die Lampen wurden heißer und heißer. Die Kostüme wurden zu schwer und zu eng. Schweißtropfen glitzerten auf dem Make-up. Endlich war der erste Akt beendet. Der zweite Akt schloß gegen elf, und Ellen drückte Carol eine Thermosflasche mit Kaffee und ein Sandwich in die Hand. Das half. Doch um ein Uhr hatte sie bereits wieder Hunger. Der Kopf schmerzte von den Scheinwerfern, die ständig neu eingestellt werden mußten. Die Füße waren müde, und die Beine zitterten vom langen Stehen in der Gerichtsszene, die noch immer weiterging und immer noch einmal wiederholt werden mußte. Wieder und wieder erklang Miss Marlowes höflich bittende Stimme: »Wollen Sie das bitte nochmals wiederholen.« Carol erinnerte sich dunkel, daß sie im nächsten Akt heiter und sprühend zu sein hatte – wie Portia auch. Aber Portia würde es sein. Carol blickte Miss Marlowe bewundernd an. Wenn sie nicht spielte, führte sie Regie. Seit Beginn der Probe hatte sie sich noch keine Minute ausgeruht. Du wirst es schaffen, sagte Carol grimmig zu sich selbst. Schließlich hast du dich dazwischen immer wieder ausruhen können und hast nicht unentwegt reden müssen. Und irgendwie brachte sie’s auch zustande. Und irgendwie fand sogar die Probe ein Ende. Daheim, im Hotel, taumelte Carol ins Bett.
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13 Katherine war glücklich und angeregt. Carol war verschwitzt und verkrampft und außerstande, einen Bissen hinunterzuwürgen. Und Ellen, obgleich nur zweite Besetzung, war fast ebenso schlimm wie Carol dran. »Denkt doch nur«, plapperte Katherine, »daß wir jetzt wenigstens endlich Premiere haben.« »Aber ich will ja gar nicht daran denken«, explodierte die sonst so ruhige Ellen. Katherine sah sie verdutzt an. »Was ist denn los mit euch beiden? Ich dachte, ihr seid wild vor Begeisterung.« Carol öffnete den Mund, um ihn dann aber sofort wieder zu schließen. Was hatte es für einen Sinn? Man mußte schon eine Weile beim Theater gewesen sein, um etwas über Premieren zu wissen. »Schau, Katherine«, sagte Ellen, »es ist ja – gut und schön, daß du so glücklich und begeistert bist, und du solltest das, so lange du kannst, genießen. Denn wenn du beim Theater bleibst, hast du dieses Gefühl nur noch kurze Zeit. Und dann noch etwas«, fügte sie freundschaftlich hinzu. »Ich warne dich: rede heute abend im Theater keinen Menschen an – mindestens nicht bis nach der Vorstellung.« »Aber warum denn?« Ellen atmete tief. »Weil man dich vielleicht in der Luft zerreißen könnte. Du darfst mir’s glauben. Bei einer Premiere sind die Schauspieler völlig durchgedreht. Sie möchten laut losbrüllen. Ihr Magen revoltiert. Am liebsten wären sie tot. Rede kein Wort. Sei so still wie möglich und geh allen aus dem Weg.« Katherine errötete gekränkt und begriff nichts von allem. »Selbstverständlich, wenn du meinst«, sagte sie steif. Schweigend beendeten die Mädchen ihr Essen. Oder besser: Katherine beendete es. Carol und Ellen zerkrümelten ihre Brötchen, bis es Zeit war, zum Theater zu gehen. Da es sehr wenig weibliche Mitglieder im Ensemble gab, hatte Carol eine Garderobe für sich allein. Und es war eine Wohltat, sich schminken und umziehen zu können, ohne daß jemand das Zittern ihrer Hände bemerkte. Das Kostüm, das sie im ersten Akt zu tragen hatte, glich dem der Portia, nur daß es einfacher war. Ein vorn und hinten spitz zulaufendes Mieder mit einem Viereckausschnitt und engen Ärmeln. Dazu einen weiten Rock, der bei der Nerissa aus rotweinfarbener Seide und der Portia aus meergrünem Brokat bestand. Außerdem war Ca78
rols Rock kürzer. Das Haar fiel ihr lose auf die Schultern. Miss Marlowe trug eine raffinierte blonde Perücke, und ihre Hände waren von Ringen bedeckt. Die Nerissa hingegen trug nur einen einzigen an jeder Hand. Beide hatten weiche Wildlederpumps an den Füssen. Während Carol wartend in ihrer Garderobe saß, versuchte sie an Miss Marlowes unbequemes Kostüm zu denken – und musterte ihre Hände. Ja, sie hatte die Ringe nicht vergessen. Sie tastete nach ihrem Gürtel, ob der Nähbeutel auch an der richtigen Stelle hing. Sie blickte auf den ansehnlichen Stoß von Glückwunschtelegrammen, auf dem das ihrer Eltern zuoberst lag. Draußen auf dem Korridor konnte sie die aufgeregten Stimmen der Mittelschüler hören, die die Statisten für die Volksszenen spielten. Wenn sie nur weggehen würden. Nur weg von ihrer Tür. Irgend jemand klopfte leise, und Carol sprang erschrocken auf. »Fünfzehn Minuten«, sagte die Stimme des Hilfsinspizienten. »Danke«, hauchte Carol. Ihre Hände waren feucht. Fünfzehn Minuten, und dann noch die ganze erste Szene. Wenn es nur nicht… »Carol«, flüsterte Ellen draußen im Gang. »Komm nur.« Ellen trat ein, ähnlich wie Carol gekleidet, nur weniger wirkungsvoll. »Du siehst reizend aus«, sagte sie. Gestern bei der Kostümprobe hatte sie das gleiche gesagt, doch da war es Carol nicht wichtig gewesen. Heute war sie von Herzen dankbar dafür. »Das Haus ist ausverkauft«, fuhr Ellen fort. »Und alles geht bestens. Und Mike ist so ruhig wie ein Fels.« Carol wußte, daß Ellen sie beruhigen wollte, und auch dafür dankte sie ihr im stillen. Sie sehnte sich danach, beruhigt zu werden. Ellen blieb bei ihr und erzählte unwichtige, alltägliche Dinge bis nach dem Fünf-Minuten-Ruf. Dann stand sie auf und sagte: »Halsund Beinbruch, Carol.« »Danke. Dir auch.« Als Ellen gegangen war, saß Carol noch ein paar Minuten ganz still und versuchte, sich zu entspannen. Dann streckte Katherine den Kopf durch die Tür. »Hallo!« rief sie mit einer Herzlichkeit, die wie ein Molotow-Cocktail auf Carols strapazierte Nerven wirkte. »Ich komme nicht herein. Ellen hat mir zwar eingebleut, nur ja nicht mit jemandem zu reden, aber ich wollte dir doch noch alles Gute wünschen. Was ist denn mit deinem Haar los? Es kommt mir so komisch 79
vor. Aber jetzt gehe ich wieder. Sonst bringt Ellen mich noch um.« Entsetzt betrachtete sich Carol im Spiegel. Nein, ihr Haar war ganz in Ordnung. Aber warum hatte Katherine gesagt, es sähe so komisch aus? Einen Augenblick lang ballte sie verzweifelt die Hände. Dann stand sie auf und ging hinaus. Als sie an Mike vorbei in die Kulissen schlüpfte, rauschte der Vorhang hinauf. »Hals- und Beinbruch«, murmelte er. Carol nickte. Mr. Allston, Mr. Emmet und Mr. Andrews, ganz fremd in ihren ungewohnten Seidenmänteln und Wämsern, spielten bereits vor dem Zwischenvorhang, der das Zimmer in Portias Haus verbarg. Carol stand regungslos. Sie hörte gar nicht zu, in Gedanken einzig mit der Nerissa beschäftigt. Die Szene näherte sich ihrem Ende. Carol glitt zur Mittelkulisse, eine lange Wachskerze, die sie zu ihrem Auftritt brauchte, in der eiskalten Hand, und wartete. Hinter sich vernahm sie ein leises Geräusch und trat beiseite, um für Miss Marlowe Platz zu machen. Sie nickten einander zu, doch keine von ihnen sprach ein Wort, bis sich der Vorhang über der zweiten Szene hob. Dann lächelte Miss Marlowe. »Hals- und Beinbruch, Carol.« »Ihnen auch, Miss Marlowe.« Portia glitt ins Licht hinaus und wurde von einer Beifallssalve begrüßt. Gut, dachte Carol automatisch. Dann – als Portia sich auf das rotsamtene Liegebett fallen ließ – trat auch sie in die spannungsgeladene Helligkeit hinaus. Der Beifall verklang, und Portia begann zu sprechen. »Auf mein Wort, Nerissa, meine kleine Person ist dieser großen Welt ganz überdrüssig.« Die süße Stimme war müde, ein wenig traurig, ein wenig bitter – alles in einem langen Ausatmen ausgedrückt. Carol hörte ihre eigene Stimme – fröhlich und keck. »Das würdet Ihr sein, Fräulein, wenn Ihr so großen Überfluß an Unglück hättet als an Glück.« Und plötzlich wußte sie: alles war in Ordnung.
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14 Die Kritiken in den Bostoner Zeitungen waren äußerst schmeichelhaft, und der Vorverkauf über Erwarten gut. Als Carol ein paar Abende später nach beendeter Vorstellung beim Umziehen war, streckte Ellen den Kopf durch die Tür. »Möchtest du mit zu Katherines Tante kommen? Sie wohnt draußen in einem Vorort, gar nicht weit.« »Ach, Ellen«, sagte Carol ablehnend. »Glaubst du, sie wird’s mir übelnehmen, wenn ich nicht mitgehe?« »Natürlich nicht, du Schäfchen. Ich werde ihr erklären, daß du zu müde bist.« Und damit war Ellen auch schon wieder verschwunden. Carol seufzte erleichtert. Wie herrlich, einmal ganz allein beim Essen zu sein und nicht immer reden zu müssen. Und dann ins Hotel zurückzugehen und vor dem Einschlafen noch ein bißchen zu lesen. Sie zog ihren Mantel an, nahm ihre Tasche und trat beschwingt auf den Gang hinaus, wo sie ziemlich heftig mit Mr. Walworth zusammenstieß. »Entschuldigen Sie vielmals«, sagte Mr. Walworth, obwohl es gar nicht sein Fehler war. »Wie geht es Ihnen?« fragte er. »Danke, ausgezeichnet.« »Sie Glückliche! Gar keine Magenbeschwerden? Das ist die Jugend. Als ich so alt war wie Sie, hatte ich auch noch keine Ahnung, wie so ein Magen sich aufführen kann. Jetzt setzen diese Tournees mir immer grauenhaft zu. Ich lebe nur noch von gekochtem Huhn. Langweilig bis dorthinaus, glauben Sie’s mir. Aber jetzt muß ich weiter.« Er verbeugte sich höflich und ging den Korridor hinab. Carol blickte ihm voller Hochachtung nach. Kein Wunder, daß er Magenbeschwerden hatte. Abend für Abend stand er auf der Bühne, wurde verbittert, rachsüchtig, rasend und verzweifelt – und das alles mit einer unglaublichen Selbstzucht in Bewegung und Sprache. Und das würde er noch monatelang fortsetzen müssen. Lieber Himmel, dachte Carol, wenn ich nur einen Bruchteil von dem könnte, was dieser Mann kann – sogar die Magenbeschwerden würde ich in Kauf nehmen. Das wäre es wert. So stand sie eine kleine Weile. Es war schön, nichts vorzuhaben und nirgends hinzumüssen. Aus den verschiedenen Garderoben klang Lachen und Reden, und ein Geruch von Cold Cream lag über dem Korridor. Es war alles so vertraut und richtig. Komisch, wie die 81
Welt außerhalb des Theaters ein wenig unwirklich wurde. Als sie endlich weiterging, sah sie die Tür einer Herrengarderobe ein wenig offenstehen. Gerade wollte sie ein fröhliches »Gute Nacht« hineinrufen, als sie plötzlich innehielt. Harris Nichols saß im Mantel vor seinem Toilettentisch, den Kopf in den Armen vergraben. Du lieber Himmel, war er womöglich krank? »Harris!« rief Carol. »Ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Er fuhr heftig zusammen und hob den Kopf. Doch er schien sie gar nicht zu sehen. Sein Gesicht war weiß, und seine Augen hatten wieder dieses merkwürdige Glitzern, das Carol schon auf der Reise aufgefallen war. Sein Dogenkostüm lag achtlos auf dem Boden. Carol trat in die Garderobe, hob das Kostüm auf und hängte es an den Kleiderständer. Dann schloß sie die Tür. »Wollen Sie mir nicht sagen, was los ist?« fragte sie. »Bitte, ich glaube, Sie sollten mit jemandem reden.« Ihre Stimme war warm und voller Mitleid. »Bitte, Harris, haben Sie doch Vertrauen.« Schweigend schob Harris ihr einen Stuhl hin. Carol setzte sich. Das Schweigen dauerte an. Schließlich atmete Harris tief und begann zu sprechen. »Ich – ich möchte Sie nicht – mit meinen Sorgen langweilen«, sagte er zögernd. »Sie langweilen mich nicht.« Einen Augenblick starrte er auf die Wand. Dann sagte er mit zitternder Stimme etwas für Carols Begriffe völlig Unsinniges. »Es ist so schrecklich, glücklich zu sein.« Carols grüne Augen wurden vor Staunen ganz groß. »Aber man sollte doch meinen, das wäre wundervoll.« »Es ist zu wundervoll. Es frißt einen auf. Und wenn man es dann verliert, bleibt nichts mehr übrig – gar nichts mehr.« »Ja, haben Sie es denn verloren?« »Ich weiß es nicht.« »Könnten Sie mir das nicht ein wenig erklären?« fragte Carol tröstend. »Doch. Es ist folgendermaßen: Ich lernte Edna kennen, und es war bei uns beiden Liebe auf den ersten Blick. Ich glaube, ich war völlig verrückt vor Seligkeit.« »Sind Sie verlobt?« »Ja, ja.« »Und warum dann der Kummer?« Er verkrampfte die Finger. »Es gibt da einen Arzt. Sie ist Nacht82
schwester in Philadelphia – und dort gibt es einen Arzt, der sie heiraten will. Er hat ihr schon einmal einen Antrag gemacht – bevor wir uns kennenlernten. Sie liebt ihn nicht. Aber ein Schauspielerleben ist etwas so Unsicheres. Und ein Arzt kann ihr ein Heim und echte Sicherheit bieten. Sie wäre geschützt.« »Geschützt?« »Ja. Sie hat eine schreckliche Kindheit gehabt. Als sie noch ein Baby war, kamen ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben. Sie wuchs in einem Waisenhaus auf. Und schon damals trachtete sie immer nur nach Sicherheit. Nicht daß man dort nicht nett mit ihr gewesen wäre. Aber diese Angst verfolgte sie ihr ganzes Leben lang. Sie weiß selber nicht, warum. Sie versteckte Brot und Lebensmittel unter ihrer Matratze, weil sie fürchtete, durch irgendeinen Umstand Hunger leiden zu müssen.« »Wie schrecklich! Die Arme!« »Ich weiß. Eine Weile ging alles gut. Aber dann hatte ich längere Zeit kein Engagement, und sie begann, die Unsicherheit des Theaterlebens zu erkennen. Da fing die Angst wieder an. Deshalb habe ich das Nächstbeste angenommen, was sich mir bot. Nur daß wir nun so lange getrennt sein müssen. Ich schreibe ihr jeden Tag. Aber das ist nicht das gleiche, als wenn ich bei ihr wäre. Und ihre Briefe werden immer kürzer und immer seltener. Das bedeutet nichts Gutes. Ich kenne sie.« »Aber sie hat doch einen guten Job. Ist das nicht Sicherheit genug?« »Für die meisten Leute, ja. Aber verstehen Sie, diese Klinik ist wieder so eine Art Waisenhaus für sie. Und sie sehnt sich doch derart nach einem eigenen Heim und einem Familienleben. Das ist wie eine Manie bei ihr.« »Könnten Sie denn keinen anderen Beruf ergreifen? Ich meine, müssen Sie unbedingt Schauspieler sein?« »Ich habe nichts anderes gelernt.« Carol fühlte sich hilflos und ohnmächtig. Aber sie versuchte ihr möglichstes. »Geben Sie dem Mädchen eine Chance, Harris«, bat sie. »Diese Tournee dauert ja nur ein paar Monate – und Sie wissen doch, daß sie Sie liebt.« Er schwieg eine Weile. Dann sagte er plötzlich heftig: »Irgend etwas wird passieren. Ich weiß es genau.« »Sie wissen gar nichts. Kommen Sie, jetzt machen wir zuerst 83
einmal einen Bummel durch die Stadt. Es ist ein herrlicher Abend. Und dabei können Sie mir alles von ihr erzählen.« »Darf ich wirklich?« »Natürlich. Ich möchte gern alles wissen.« Über eine Stunde schlenderten sie durch die Straßen, während Harris, der ihren Arm umklammert hielt, sich alles von der Seele redete. Carol versuchte, ihn zu beruhigen, doch merkte sie immer deutlicher, daß er sich in einer schweren Nervenkrise befand. Dieser stille Mensch war viel zu sensibel. Das gefällt mir gar nicht, dachte Carol. Er ist ja völlig außer sich. Als sie die Hotelhalle betraten, umklammerte er noch immer ihren Arm. Und der erste Mensch, auf den sie stießen, war Mike. Carol führte Harris zum Lift wie ein Kind. »Ich möchte noch mit Mike sprechen«, sagte sie. »Sie schlafen sich jetzt erst einmal gründlich aus. Und vergessen Sie nicht, es ist ja alles in bester Ordnung.« Er blickte sie dankbar an. »Vielen Dank, Carol.« Die Lifttür schloß sich, und Carol kehrte zu Mike zurück, der sich gerade ein Päckchen Zigaretten kaufte. Sie wartete. Trotz ihres guten Gewissens hatte sie das Gefühl, sich verteidigen zu müssen. Mike zahlte die Zigaretten und wandte sich um. »Hallo!« sagte er. »Mike«, begann sie unsicher. »Ich – hm – Harris Nichols ist völlig daneben. Ich kann dir den Grund nicht nennen. Das ist seine eigene Sache.« Mike nickte. »Eine seelische Störung, wahrscheinlich?« »Schrecklich! Und er schien so ruhig.« »Ja, das ist der Typ, der dann plötzlich explodiert.« Mike blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Komische Leute, diese Schauspieler«, murmelte er. »Viele von ihnen sind so labil. Aber dann gibt es auch wieder genau das Gegenteil. Ein guter Schauspieler muß nicht unbedingt labil sein. Aber, wie gesagt, viele sind’s. Komm, setzen wir uns noch ein paar Minuten.« Sie setzten sich in zwei große Ledersessel. Schweigend lehnte sich Carol zurück. Ihr ruhiger Abend war alles andere als ruhig gewesen. Sie war müder, als sie glaubte, und sie war überrascht und ein wenig erstaunt über Mike. Sonst hatte er doch immer alles, was sie tat, so schnell mißbilligt, immer bereit, alles für falsch und dumm zu halten. Es war ihr rätselhaft, warum er in sie verliebt sein sollte. Aber er war es, obgleich er es noch mit keinem Wort erwähnt hatte. Von einem Verliebten erwartet man Argwohn und Eifersucht. Aber 84
Mike hatte sie Arm in Arm mit einem andern ins Hotel kommen sehen und hatte ihre Erklärung ohne ein Wort des Zweifels angenommen. Scheinbar völlig uninteressiert. Ich werde nicht klug aus ihm, dachte sie. Mike hatte sich’s in seinem Sessel bequem gemacht. Die Augen auf sie gerichtet, sagte er jetzt: »Was denkst du, Carol?« »Ich – ich habe mich gefragt…« Sie zögerte. »Wieso bist du so sicher, daß das, was ich über Harris sagte, auch stimmt? Ich meine…« »Ich weiß, was du meinst«, erwiderte Mike. »Natürlich hätte ich denken können, er sei in dich verknallt, und du hättest gelogen.« Er lächelte ihr zu. »Schau her«, fuhr er fort, »es gibt ein paar Leute, die in Ordnung sind. Ich halte vielleicht das, was sie tun, für verrückt oder für einen Fehler oder für eine blöde Idee, aber wenn ich Vertrauen habe, dann habe ich Vertrauen.« Carol erinnerte sich an Orchid Wynton, die Mike einmal hatte heiraten wollen. Auch ihr hatte er so vertraut. Armer Mike. Leise sagte sie: »Damit lädt man dem andern eine schreckliche Verantwortung auf.« Erstaunt blickte Mike sie an. »Wirklich? Vielleicht hast du recht. Aber ich erwarte nichts, was ich nicht jederzeit auch selber zu geben bereit bin.« »Ja«, stimmte Carol ihm bei, »das tust du auch wirklich.« Mikes Art, seine Liebe zu erklären, war, ihrer Meinung nach, wirklich höchst originell. Da saß er seelenruhig in seinem Sessel und machte ihr mit trocknen Worten ein Riesengeschenk: Vertrauen, Wahrheit und Verständnis. Sie stand auf. Mike blieb sitzen – auch wieder echt Mike. »Gute Nacht, Mike«, sagte Carol. »Das hat mir gutgetan.«
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15 Es war an einem regnerischen Sonntagnachmittag in einem Hotel in Cleveland. Die zwei Wochen Boston schienen längst vorbei und vergessen. Ebenso der kurze Aufenthalt in Buffalo. Die Mädchen hatten sich Kaffee und Sandwiches in Katherines Wohnzimmer kommen lassen. Katherine konnte sich ein Wohn- und ein Schlafzimmer leisten. Und sie liebte Komfort. Carol und Ellen dachten nicht daran, Geld zu verschwenden. Sie sparten für die Zeit, wenn sie wieder einmal ohne Engagement sein würden. Man lauschte auf den Regen, der gegen die Fenster trommelte, und unterhielt sich ein wenig über die Ereignisse der vergangenen Wochen. Als Carol schließlich zu gähnen begann, beschlossen Carol und Ellen, wieder in ihr eigenes Zimmer zurückzugehen. Man konnte jetzt ja doch nichts anderes tun als lesen oder ein Mittagsschläfchen halten. »Es ist komisch«, sagte Carol, als sie sich ins Bett kuschelte, »aber ich habe überhaupt kein Gefühl für diese Stadt. Für Buffalo übrigens auch nicht.« »Weißt du, diese großen Städte östlich vom Mississippi sind eigentlich nicht anders als die Städte, die wir kennen, und die Theater gleichen sich wie ein Ei dem andern. Aber ich glaube, hinter St. Louis sieht alles ganz anders aus.« »Das sagt Miss Hardy auch. Sie behauptet, wenn wir diese Stadt hier hinter uns hätten, wären wir erst richtig unterwegs.« In den nächsten Tagen erwies sich Miss Hardys Behauptung als richtig. Detroit bot auch noch keine große Abwechslung – mit Ausnahme des Eriesees, der kanadischen Grenze und der Fordwerke, die Carol mit Mike besichtigte. Sie und Ellen und Katherine gingen oft ins Kino, manchmal in größerer Gesellschaft, manchmal nur zu dritt. Sie probierten die verschiedensten Eßlokale aus, bis fast jede Unterhaltung mit »jetzt habe ich aber das beste Restaurant gefunden« begann. Oder sie sagten: »Geht ja nicht in die Beiz an der nächsten Ecke. Das Essen ist unter aller Kritik.« Harris Nichols hielt sich noch immer abseits von den andern, aber im Theater gab er sich fröhlicher, und Carol vermutete, daß die Briefe von Edna befriedigender waren. Tatsächlich begann sie die 86
ganze Sache als einen einmaligen Ausbruch anzusehen, der abgeklungen war. Bis sie nach Chicago kamen und sie ihren Irrtum erkannte. Seit dem Beginn der Tournee war Carol auf Chicago gespannt gewesen. Die zweitgrößte Stadt des Landes. Sie würde den Michigansee zu sehen bekommen. Sie würde Konzerte und Theateraufführungen von anderen Ensembles besuchen können. Außerdem würde man einen ganzen Monat lang bleiben, und Chicago war als gute Theaterstadt bekannt. Die Premiere in Chicago galt als die wichtigste der ganzen Tournee, mit Empfängen, Kritikern und Berühmtheiten. Wahrscheinlich war es ganz ähnlich wie in New York. Als der Zug sich Chicago näherte, drückte Carol die Nase gegen das Coupéfenster wie ein Kind. Und bald sah sie auch den Michigansee, graugrün und uferlos wie das Meer. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Carol ihn an. Das konnte doch kein See sein. Chicagos Architektur war grandios. Doch auf den Wind war Carol nicht gefaßt, der wie mit eisigen Nadeln stach und durch alle Kleider ging. Jedesmal wenn sie in den nächsten vier Wochen auf die Straße trat, brauste und tobte er und blies ihr Staub in die Augen und Papierfetzen ins Gesicht. Die Premiere übertraf auch die hochgespanntesten Erwartungen. Ein solches Publikum hatte Carol noch nie erlebt. Noch nie war sie so elektrisiert gewesen. Nach dem Ende des letzten Aktes war der Applaus geradezu ohrenbetäubend, und er blieb es bis zum vierzehnten Vorhang. Die Zeitungskritiken am nächsten Tag waren ebenso enthusiastisch, und sie spielten Tag für Tag vor einem ausverkauften Haus. Das Ensemble schwamm in Wonne, und wenn es kein New York gegeben hätte, wären sie am liebsten ihr Leben lang in Chicago geblieben. Die Mädchen unternahmen all die Dinge, die sie sich vorgenommen hatten, und genossen ihr Dasein. Alles verlief zufriedenstellend, bis zu einem Abend in der letzten Woche, als Mike Carol kurz vor ihrem Auftritt in der Gerichtsszene hinter den Kulissen abfing und ihr zuflüsterte: »Mit deinem Freund Nichols stimmt etwas nicht.« »Um Himmels willen, wieso?« »Schau ihn doch einmal an.« Als Schreiber des Anwalts hat Nerissa im Gerichtssaal nicht viel anderes zu tun, als mit gespannter Anteilnahme der Verhandlung zu folgen. Carol hatte sich vorgenommen, immer mit größter Aufmerk87
samkeit bei der Sache zu sein, denn Miss Hardy hatte kürzlich einmal gesagt, junge Schauspieler verstünden nicht, richtig zuzuhören. Carol war überzeugt, immer richtig zugehört zu haben. Jedenfalls hatte sich noch nie jemand über sie beklagt. Doch von da an war sie immer ganz Ohr. Sie erlaubte sich kein Abschweifen der Gedanken, sondern versuchte, jeder Gerichtsszene zu lauschen, als höre sie sie zum erstenmal. Und sie lernte eine ganze Menge dabei. An diesem Abend lauschte sie allerdings nicht als Nerissa, sondern als Carol. Harris war ein guter Schauspieler. Er hatte Würde und Kraft, und sein tiefer Bariton besaß eine Eindrücklichkeit, die seinem Dogen zu großer Wirkung verhalf. Aber diese Eigenschaft fehlte heute. Es war das erste, was Carol auffiel. Seine Stimme klang zu hoch und gepreßt. Zweimal stockte er in seiner Rede. Mein Gott, dachte Carol. Nach der Vorstellung eilte sie sofort zu seiner Garderobe, die er mit Ed Carter teilte. Carol klopfte. »Harris«, rief sie, »ich bin’s, Carol. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« Er kam sofort heraus. »Ist irgendwas passiert?« keuchte Carol. »Sagen Sie mir, was?« Er nickte. Seine Züge waren wie erstarrt. »Seit drei Wochen habe ich nichts mehr von ihr gehört. Gestern abend habe ich telegrafiert, und sie hat nicht geantwortet. Machen Sie sich keine Sorgen um mich, Carol.« Er wandte sich um und ging wieder in die Garderobe zurück und schloß mit erschreckender Nachdrücklichkeit hinter sich die Tür.
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16 Wenn eine Tür so demonstrativ geschlossen wird, kann man nichts tun. Carol wußte, daß Harris nicht ungezogen sein wollte, daß er ihr in einer hoffnungslosen, verzweifelten Weise sogar dankbar war. Aber sie konnte ihm nicht helfen. Sie fragte sich, ob sie ihm, wenn sie älter wäre, vielleicht eine bessere Stütze sein könnte. Es schien unwahrscheinlich. Am nächsten Abend spielte er besser. Doch Carol war froh, als die Truppe nach St. Louis aufbrach. Danach sollten die eintägigen Gastspiele und aufgeteilten Wochen beginnen, und das riß Harris vielleicht aus seinem Brüten heraus. Auf jeden Fall würde er nicht viel Zeit zum Grübeln haben. St. Louis präsentierte sich in einem kalten Novemberregen. Es sah deprimierend und unbehaglich aus. Und es war auch unbehaglich, aber keineswegs deprimierend. Im Gegenteil, es war eine fröhliche Stadt, sorglos und unbekümmert, trotz Regen und Kälte und einem Wald von Fabrikschloten. Als Theaterstadt war es freundlich und verständnisvoll, wenn auch nicht so überschwenglich wie Chicago. Hier erlebten sie zum erstenmal, daß ihre Post nicht sortiert und in ein persönliches Fach gesteckt wurde. Kunterbunt kam alles in einen großen Kasten, und um die eigenen Briefe herauszufinden, mußte jeder einzelne den ganzen Stoß durchsuchen. Da jeden Morgen immer ein ganzer Haufen dalag, lösten sich die Mädchen bei dieser Arbeit ab. Am letzten Tag ihrer Woche in St. Louis war Carol an der Reihe. Da sie erst spät eingeschlafen war, lockte sie das Aufstehen gar nicht. Schließlich krabbelte sie dann doch – wenn auch brummend – zum Bett heraus und ging ins Theater hinüber. Sie hatte schon zwei Briefe für Katherine, einen für Ellen und einen für sich selbst gefunden, als sie den länglichen Umschlag mit Harris Nichols’ Adresse sah. Er war in Philadelphia aufgegeben. Gott sei Dank, dachte Carol, als sie interessiert die Handschrift betrachtete. Eine merkwürdige Schrift für eine erwachsene Frau – groß, stark nach rückwärts geneigt, schwankend und unentschieden. Nun ja, nach Harris’ Schilderung schien diese Edna ja auch schwankend und unentschieden zu sein. Carol blätterte noch die restlichen Briefe durch und öffnete dann ihren eigenen. Er stammte 89
von George Jacobson, ihrem Agenten in New York, und lautete folgendermaßen: Liebe Carol, hätten Sie Lust, während Ihres Aufenthaltes in Los Angeles einen Filmtest machen zu lassen? Ein internationaler Kinomann hat Sie in Schwingen gesehen. Vor Abschluß der Tournee können Sie allerdings keinen Kontrakt mit ihm unterzeichnen. Aber wenn der Filmtest günstig ausfällt, wird man Ihnen später die Reise New York-Los Angeles vergüten. Das bedeutet einen Kontrakt mit einer Option von sechs Monaten und einer Gage von 1000 Dollar die Woche. Wenn Sie wieder hier sind, werden wir das alles besprechen. Mein Rat wäre, die Probeaufnahmen zu machen. Bitte telegrafieren Sie mir Ihren Entschluß. Herzlichst Ihr George Mit zitternden Knien lehnte sich Carol gegen die Wand. Hollywood, Mike, Filmtest, die Bühne und Optionen, das alles wirbelte ihr nur so im Kopf. Sie ließ es wirbeln, da sie es doch nicht stoppen konnte. Mit der Zeit gelang es ihr dann schließlich, ihre Gedanken zu ordnen. Was würde Mike dazu sagen? Wollte sie denn überhaupt zum Film? Auf keinen Fall, wenn sie ihre Bühnenkarriere dafür opfern mußte. Aber den Test würde sie doch machen lassen, da George ihr dazu riet. Sie würde ja noch nichts zu unterschreiben haben, bevor sie mit ihm gesprochen und erfahren hatte, was das alles für Konsequenzen nach sich zog. Langsam ging sie zum Hotel zurück, telegrafierte zusagend an George und fuhr dann hinauf. Sie nahm sich vor, mit keinem Menschen darüber zu reden – außer mit Mike und Ellen. Womöglich ging alles schief, und dann hatte man sich nur blamiert. Ellen lag noch im Bett, aber sie war schon wach. Wortlos drückte Carol ihr den Brief in die Hand und wartete. Ellen wollte gerade fragen: »Was…« Da sah sie Carols Gesicht. Sie richtete sich im Bett auf und las den Brief zweimal hintereinander. Dann starrte sie Carol mit weit aufgerissenen Augen an. »Oh, Carol, Hollywood! Das ist einfach phantastisch!« Sie sprang so aufgeregt aus dem Bett, als gelte das Hollywood-Angebot ihr. »Das wird eine tolle Zeit für dich!« »Einen Augenblick bitte«, sagte Carol. »Der Filmtest kann eine 90
totale Pleite sein. Und selbst wenn er gut wird, weiß ich noch gar nicht, ob ich gehen will. Ich muß zuerst mit George sprechen, bevor ich irgend etwas entscheide.« »Na, du wärst schön blöd, wenn du nicht gingest. Wie kann man nur so ruhig bleiben?« »Ich bin gar nicht ruhig. Ich komme mir vor wie eine Wetterfahne. Und bitte, behalt’s für dich. Ich sage es Mike. Aber der ist auch der einzige.« Am Abend erzählte sie es Mike und wußte, sein Rat würde vernünftig und selbstlos sein. Und das war er auch. »Den Test mußt du unbedingt machen«, sagte er. »Wenn du’s nicht tust, nimmt George dir’s ewig übel. Aber ich halte es für falsch, als unbekannte Naive nach Hollywood zu gehen. Du wirst nur herumgeschubst werden. Warte noch fünf Jahre, bis du einen Namen hast. Bis jetzt bist du erst in zwei Stücken aufgetreten. Das will noch gar nichts heißen. Das reicht einfach nicht.« »Nein. Aber in Hollywood ist alles möglich.« Mike zuckte die Achseln. »Die Entscheidung liegt bei dir.« Carol schwieg. Der Frühling war noch weit. Der Filmtest schien nicht nur unwirklich, sondern er würde sie auch – wenn sie ihn bestand – noch zu nichts verpflichten. Bis dahin war man weiter auf Tournee… Eine halbe Woche in Kansas City und dann je drei Nächte in Wichita, Oklahoma und Amarillo. Das echte Wandertheater begann erst jetzt. Und auch der echte Westen, den Carol noch nie gesehen hatte. Als der Zug am Morgen St. Louis verließ, kam Nichols ins Abteil, um sich neben Carol zu setzen. »Wahrscheinlich wird doch noch alles gut«, sagte er. »Ach, wie mich das freut, Harris.« »Danke.« Zusammen sahen sie die Landschaft vorübergleiten – einsame Farmen, bewaldete Hügel und kleine Städte –, alles in einen blauen Dunstschleier gehüllt. »Schön, diese Pflaumenfarbe«, bemerkte Harris, zu Carols Überraschung, plötzlich. Es war das erste Mal, daß er für irgend etwas anderes Interesse zeigte als für das Theater und seine Post. »Sie sollten die Ozarks sehen«, fuhr er fort. »Ich habe in Springfield und Joplin gespielt und die größten Wanderungen dort in der Gegend gemacht, obgleich ich sonst gar nicht so fürs Wandern bin. Aber 91
diese Berge hatten es mir angetan. Sie sind auch pflaumenfarben und so einsam. Es riecht nach Rinde und Walderdbeeren, und überall gibt es verborgene kleine Bäche, die man nicht sehen kann. Man hört sie nur in den Felsenhöhlen rauschen und spürt die Feuchtigkeit im Gesicht, kühl und erfrischend.« »Aber Harris«, rief Carol, »ich wußte gar nicht, daß Sie Sinn für solche Dinge haben.« »Natürlich habe ich Sinn dafür. Manchmal glaube ich sogar, daß das das einzig Wichtige im Leben ist.« In kameradschaftlichem Schweigen blickten sie weiter zum Fenster hinaus. Jede kleine Stadt, so stellte Carol fest, war um einen von Bäumen beschatteten Grasplatz herum gebaut. Und mit der Zeit zeigten sich auch immer mehr Reiter in der Nähe der Bahn. Wenn es auch noch nicht der echte Westen war, so ahnte man ihn doch bereits, und gelegentlich konnte man auch schon einen überdimensionierten Männerhut entdecken. Kansas City war ebenfalls eine Überraschung. Wenn Carol auch nicht genau wußte, was sie eigentlich erwartet hatte, so war sie doch keinesfalls auf diese lebhafte und heitere Stadt gefaßt – betriebsam und hochmodern. Schon der Bahnhof setzte sie in Erstaunen, so riesig war er. Und fast noch erstaunlicher war das Theater. Ein enormer weißer Bau, derartig luxuriös, daß die Schauspieler ungläubig und wie benommen durch die Räume schweiften. Die Garderoben waren mit behaglichen Sesseln ausgestattet, Spiegelrahmen und Tische bestanden aus glänzendem Chrom. Carol, die wie alle andern staunend umherschlenderte, traf auf der großen Bühne mit Mike zusammen, der dort die Anordnung der Sitzgelegenheiten überwachte. Er war viel zu beschäftigt, um sie zu bemerken, denn wie jedesmal, wenn sie wieder in einem andern Theater auftraten, mußte er die Höhe, Breite und Tiefe der Bühne sowie die Entfernung von den Kulissen neu berechnen. Er mußte wissen, wo sich die verschiedenen Schaltbretter befanden und ob er alle Versatzstücke unterbringen konnte oder nur einen Teil. Beleuchter, Bühnenarbeiter und Handwerker scharten sich um ihn und warteten auf seine Anordnungen. Er hatte sehr wenig Zeit für andere Dinge. Die Gesellschaft spielte drei Tage in Kansas City, und am letzten Abend mußte jeder seine Kostüme persönlich zur Obergarderobiere bringen, die das Einpacken überwachte. Bei so kurzen Gastspielen fehlte ihr die Zeit, die Kostüme aus den verschiedenen Garderoben einzusammeln. 92
Als der fünfte Akt begann, hätten die Bühnenarbeiter, die die Szenerie des vierten abbauen wollten, Carol fast über den Haufen gerannt. Alles sollte möglichst schnell nach Wichita weitertransportiert werden, und während sich nach dem Schlußvorhang die Akteure noch verbeugten, wurde hinter ihrem Rücken Portias Garten bereits abgebrochen. Ein Versatzstück fiel direkt neben Carol zu Boden. Als sie erschrocken beiseite sprang, stieß sie beinahe mit Harris Nichols zusammen, der sie gerade noch festhalten und vor dem Hinfallen bewahren konnte. Sich entschuldigend, wandte Carol sich zu ihm um, doch er schaute sie nur mit verzweifelten, hoffnungslosen Augen an und ließ sie einfach stehen. Du lieber Himmel, dachte Carol erbittert, da haben wir’s wieder. Was kann man nur mit so einem Menschen machen? Ein Brief, und die ganze Welt ist eine Seligkeit, kein Brief, und schon ist die Hölle los. Nicht daß er viel Wesens machte oder dramatisch wurde. Das war ja gerade das Schlimme. Alles war wahr und echt. Harris litt entsetzlich und war am Ende seiner Kraft. Was war nun wieder los mit ihm? Wie konnte man nur in einen solchen Geisteszustand geraten? Sie versuchte, sich Mike in einer ähnlichen Situation vorzustellen. Doch das mißlang. Obgleich er Orchid Wynton sehr geliebt hatte – sogar lange nach der Entlobung noch. Er war unglücklich gewesen, doch sein Beruf hatte nicht eine Sekunde darunter gelitten. Damals war er sechsundzwanzig gewesen – und Harris mußte mindestens dreißig sein. Aber Harris war noch ein solches Kind. Und Mike – das war es ja eben. Mike war erwachsen. Mike war ein reifer Mensch. Carol spürte, daß hier die Wurzel des Problems steckte. Doch jetzt war nicht die Zeit, über die Verschiedenheiten der Charaktere nachzudenken. Morgen in aller Frühe ging es weiter, nach Wichita. Und sie brauchte jetzt ihren Schlaf. Auf dem Weg ins Hotel erinnerte sie sich lächelnd an die Zeit, in der sie Schlafen für eine Zeitvergeudung gehalten hatte. Das war nun anders. Jetzt war schlafen etwas Herrliches. Kaum hatte Carol – ihrer Meinung nach – die Augen geschlossen, als Ellen sie auch schon wieder weckte. »Schnell, Carol, aufstehen! Beeil dich!« Rasch stopften sie ihre Habseligkeiten in die Reisetasche, frühstückten hastig im Hotelrestaurant und eilten zum Bahnhof, wo schon der Zug nach Wichita bereitstand. Carol fühlte sich noch ganz ver93
schlafen und spürte eine merkwürdige Leere im Magen. Sie begrüßte die Kollegen mit einem schwachen Gemurmel, das mit einem ebenso unausgeschlafenen Gebrumm beantwortet wurde. Als die Wagen den Bahnhof verließen, herrschte völliges Schweigen in den verschiedenen Abteilen. Carol und Ellen nahmen kaum Notiz von der vorbeifliegenden Landschaft, bis sich nach einiger Zeit die aufmunternde Wirkung des Frühstückskaffees einstellte. Nun fiel ihnen auf, daß es im Verlauf der Fahrt immer weniger Bäume zu sehen gab. Und schließlich rief Ellen, plötzlich hellwach: »Carol, schau nur, die Prärie!« Carol fuhr in die Höhe und starrte, bis ihr die Augen schmerzten, auf das braungelbe wellige Grasland hinaus, das sich meilenweit unter dem endlosen blauen Himmel dehnte. Schon in Missouri waren ihr die Farmen einsam vorgekommen, doch verglichen mit diesem Anblick hier, schien die Gegend dort übervölkert. Hier lagen die Farmen zehn und zwanzig Kilometer voneinander entfernt – saubere weiße Flecken in einem Meer von Prärie. Carol war überwältigt und begeistert. Wie lebte sich’s wohl unter dem ständig wehenden Wind und zwischen den wogenden Halmen? Wie war es im Winter hier? Und während der Sommerstürme? Jetzt waren das Gras und die Getreidefelder braun. Aber der Frühling mit seinem frischen Grün mußte zauberhaft sein. Während Carol versonnen hinausschaute, rollte der Zug immer weiter dem Süden zu. Die Sonne wurde wärmer und die Abteile stickiger. Miss Hardy, die sich eine Flasche Wasser geholt hatte, lächelte der nachdenklichen Carol zu und setzte sich mit ihrem Strickzeug auf den Platz gegenüber. »Schön ist das, nicht wahr?« sagte sie. »Besonders beim ersten Mal.« »So etwas habe ich noch nie gesehen«, erwiderte Carol aufrichtig. »Ich komme mir vor, als wäre ich mein Leben lang in einem Schrank eingeschlossen gewesen. Wissen Sie, Miss Hardy, wahrscheinlich werde ich zu den Leuten gehören, die das Wandertheater lieben. Aber es ist nicht nur das, was man alles zu sehen bekommt. Auch das Publikum ist so herrlich. Die Leute hier sind ja direkt verrückt mit uns.« Miss Hardy nickte. »Das ist die größte Befriedigung bei einer Tournee. Sie lieben uns – aber es gibt auch andere. Nehmen Sie nur den Bahnbeamten in St. Louis, der sich einfach unverschämt gegen mich benommen hat.« Miss Hardys Stimme war plötzlich hart ge94
worden. »Der hat sie bestimmt nicht auf der Bühne gesehen«, besänftigte Carol sie. Der Gedanke amüsierte Miss Hardy, und sie lächelte wieder. »Übrigens«, sagte sie, »wird Ihre Begeisterung bald nachlassen.« »Aber warum?« »Hauptsächlich weil wir so schnell reisen, daß man mit der Zeit all die neuen Eindrücke gar nicht mehr aufnehmen kann. Und schließlich wird man müde – sogar in Ihrem Alter.« Miss Hardy hielt inne, hob zwei Maschen ab und begann eine neue Reihe. »Unterwegs«, sagte sie, »wird das Leben zu einer ständigen Wiederholung von bekannten Mustern: große Städte und kleine, gute Theater und schlechte, behagliche Hotels und unangenehme. Das Ensemble wird zu einer isolierten Gruppe, die nirgends mehr hingehört.« »Aber wir haben doch unser Stück«, meinte Carol. »Selbstverständlich, Kindchen. Das wissen wir ja beide, daß das jeweilige Stück der Mittelpunkt unseres Lebens ist. Und unterwegs ist das noch viel stärker der Fall, weil es sonst nichts mehr anderes gibt – nichts, was wirklich zählt.« Als Miss Hardy in ihr eigenes Abteil zurückgekehrt war, sagte Ellen, die der Unterhaltung schweigend gefolgt war, plötzlich: »Aber wir nicht.« »Was nicht? Du klingst wie das Orakel von Delphi.« »Wir werden diese Tournee niemals langweilig finden. Niemals. Ich bin ja jetzt schon so gespannt auf Wichita.« »Ich auch«, erwiderte Carol und fügte ganz automatisch hinzu: »Das Publikum dort soll primissima sein.« Worauf sie beide in Lachen ausbrachen.
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17 Carol verliebte sich auf Anhieb in Wichita. Es sah so sauber aus mitten im Herbstbraun der Prärie. Und der Wind war nicht, wie sie erwartet hatte, böig oder scharf, sondern kam weich und schmeichelnd über die weiten Grasflächen daher. Er wehte ständig und brachte einen süßen Grasduft mit. Beim Verlassen des Bahnhofs hatte Carol das Gefühl, daß dieser Wind ihr alle Flausen aus dem Kopf blasen müsse. Ellen, die Genießerin, zog ihn in tiefen Zügen ein, doch Katherine erklärte nachdrücklich, daß sie Wind nicht möge. Er mache sie nervös, behauptete sie. »Und was für eine unheimliche Stadt, so mitten im Garnichts.« »Du hast einfach das Wanderleben satt«, meinte Carol. »Vielleicht«, stimmte Katherine ihr bei. »Und eigentlich ist das komisch, weil ich doch dachte, ich sei ganz verrückt darauf.« Carol ließ sich auf keine weitere Unterhaltung ein, da sie vor der Vorstellung kaum Zeit zum Essen hatten. Das ganze Ensemble wohnte im gleichen Hotel. Und Carol und Ellen stellten fest, daß Mr. Walworths Appartement ihrem Zimmer direkt gegenüber lag. Lester allerdings war im Augenblick außer Dienst, denn er hatte eine Erkältung, mit der er Mr. Walworth auf keinen Fall anstecken durfte. Ein schnüffelnder Shylock. Nein, das war nicht auszudenken! Die Mädchen packten ihre Reisetaschen aus und gingen dann hinunter in den Speisesaal. Heute abend war keine Zeit, um nach einem Restaurant zu suchen. In der Halle trafen sie Harris, die Haare vom Wind zerzaust. »Hallo«, sagte er schüchtern. »Haben Sie den Sonnenuntergang gesehen? Hier draußen glüht der ganze Himmel – alles rosa und gold und dann – ganz plötzlich – ist es Nacht. Die Sterne sehen aus, als hingen sie an Drähten herunter. Man glaubt, sie sind zum Berühren nah.« Anscheinend ging es ihm wieder besser. Allerdings wußte Carol nicht, ob diese Besserung Edna oder dem Wind zuzuschreiben war. Noch bevor sie antworten konnte, fragte Ellen, was für eine Art Publikum wohl zu erwarten sei. Leicht ernüchtert erwiderte Harris: »Ausverkauft. Wichita ist eine gute Theaterstadt.« 96
Wichita war mehr als das. Es war unglaublich. Das Theater war gestopft voll. Und der Gedanke, daß mindestens die Hälfte der Zuschauer eine weite Fahrt gemacht hatten, um die Aufführung zu sehen, wirkte so anregend auf die Truppe, daß sie ihre Chicagoer Leistung noch übertraf. Als die Vorstellung zu Ende und der letzte Beifall verklungen war, fühlten sich alle viel zu aufgepulvert, um sofort schlafen zu gehen. Aber kleine Städte bieten nach Mitternacht nicht mehr viel Unterhaltung, und außerdem mußte man am nächsten Morgen pünktlich am Bahnhof sein. Deshalb gingen Carol und Ellen direkt ins Hotel zurück, wo sie mit einer Münze um das erste Bad knobelten. Ellen gewann und verschwand im Badezimmer. Carol, auf dem Bett sitzend, war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen, als plötzlich ein Wutgebrüll erscholl, das den ganzen Gang erfüllte. Der Urheber verfügte über eine tragende, sonore Männerstimme, die eine erstklassige Sprachtechnik erkennen ließ. Aus dem reichen Wortschatz kristallisierte sich als Grundthema heraus, daß irgendein widerwärtiges Dreckszeug verhext sein müsse. Carol verlor keine Zeit. Gerade als sie die Tür öffnete, trat aus dem gegenüberliegenden Zimmer ein schäumender Mr. Walworth heraus. Er trug eine blau-weiß karierte Schürze und hielt eine kleine Pfanne in der Hand. Der erste Blick, den er Carol zuwarf, hätte einem gereizten Tiger alle Ehre gemacht. Der zweite war schon etwas milder. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er. »Ich fürchte, ich habe die Beherrschung verloren.« Seine Stimme bekam einen verzweifelten Klang. »Sie haben wahrscheinlich auch keine Ahnung vom Kochen?« »Aber doch«, erwiderte Carol. Mr. Walworth sah sie flehend an. »Dann können Sie mir vielleicht sagen, was mit diesem niederträchtigen Gemengsel schiefgegangen ist? Es ist schon das dritte.« Er streckte ihr den kleinen Topf entgegen, in dem sich ein trauriger Rest von geronnener weißer Sauce befand. »Der Speisesaal unten ist geschlossen«, erklärte er, »und nach der Vorstellung muß ich immer eine Stunde mit dem Essen warten. Vorher habe ich mich noch nicht genügend entspannt. Unglücklicherweise gibt es die einzige Huhnin-weißer-Sauce-Konserve, die ich vertrage, westlich vom Missis97
sippi nicht. Deshalb bereitet es Lester immer eigenhändig für mich zu. Doch jetzt ist der arme Kerl krank. Aber ich habe alle Zutaten, und man hat mir gesagt, sogar ein Kind brächte eine weiße Sauce zustande. Meine Selbstachtung hat schwer gelitten.« »Ich glaube, Sie haben sie nur zu schnell gekocht, Mr. Walworth. Soll ich’s einmal probieren?« »Meine liebe Miss Page, ich wäre Ihnen ewig dankbar dafür. Aber sind Sie auch sicher, daß es Ihnen nicht zuviel Mühe bereitet?« »Bestimmt nicht. Es ist mir ein Vergnügen.« »Ach, dann würden Sie mir vielleicht die Freude machen, das Essen mit mir zu teilen? Wenn Ihnen ein so frugales Mahl nicht zu gering ist.« »Ich wüßte nicht, was ich lieber täte.« Er drückte ihr den Topf in die Hand, offensichtlich froh, ihn loszuwerden. »Dieses Mistzeug verwandelt sich dauernd in Käse«, sagte er, als sie ihm ins Wohnzimmer folgte, wo eine elektrische Platte angenehme Wärme ausstrahlte. Carol bereitete eine weiße Sauce zu, und Mr. Walworth sah ihr mit schmeichelhafter Aufmerksamkeit dabei zu. »Ich verstehe nicht, wie Sie das machen.« »Sie müssen nur ständig rühren, und die Milch nicht zu schnell zuschütten.« »Sie sind eine gottbegnadete Künstlerin«, versicherte er ihr und begann das Brot zu toasten. »Wenigstens das kann ich selber machen«, sagte er stolz. Vergnügt setzten sie sich zusammen an den kleinen Tisch, und ihn anschauend, dachte Carol, welch ein reizender Mensch er doch sei – und ein so großer Schauspieler dabei. »Es schmeckt fabelhaft, meine Liebe«, sagte er. »Es war wirklich rührend von Ihnen, mir aus dieser Patsche zu helfen. Wie dumm man sich doch anstellen kann.« Carol lachte. »Ganz ehrlich, Mr. Walworth«, sagte sie, »es wäre ja ungerecht, wenn jemand wie Sie, der so viel von Schauspielkunst versteht, auch noch etwas vom Kochen verstünde.« Dankbar für das aufrichtige Kompliment, blickte er Carol erfreut an. »Wenn Sie erst einmal so lange beim Theater sind wie ich, dann werden Sie genausoviel von der Schauspielkunst verstehen – und hoffentlich hat Ihr hübsches Köpfchen bis dahin auch noch nichts von seiner Kochkunst vergessen. Und im übrigen haben Sie doch schon eine Menge dazugelernt, seit Sie die Nerissa spielen.« 98
»Ich? Wirklich?« Carol war ehrlich erstaunt. Sie war sich bewußt, manches beim Spiel der andern beobachtet zu haben, doch hatte sie keine Ahnung von der Wandlung ihres eigenen Spiels. »O ja. Sie leben immer in Ihrer Rolle. Der Umfang Ihrer Stimme hat sich enorm vergrößert. Ihre Pantomime ist gewandt. Und Sie verstehen sich auszudrücken. Das Publikum glaubt Ihnen.« »Vielen, vielen Dank«, stammelte Carol. Am liebsten hätte sie gesungen – getanzt. Ein großer Shakespeare-Darsteller hatte das zu ihr gesagt. Vielleicht würde er ihr, wenn sie ihn darum bat, sogar auch sagen, was sie noch besser machen konnte. Sie schwieg einen Augenblick. Dann stammelte sie zögernd: »Wäre es – zu viel verlangt – ich meine – könnten Sie mir sagen, was mir noch fehlt? Ich weiß, es fehlt mir noch so vieles.« Mr. Walworth schaute sie an, und Carol hielt seinem Blick tapfer stand. »Die Wahrheit?« fragte er. »Ja, bitte.« »Nun, mein liebes Kind, ein reifes Talent braucht Jahre und Jahre bis zur vollen Entfaltung. Natürlich sind Sie noch unausgeglichen, doch Sie übertreiben wenigstens nicht. Was Sie noch brauchen, ist mehr Gelassenheit – mehr Kontrolle. Sie müssen lernen, zu unterspielen – wissen, wann eine gezügelte Bewegung besonders wirkungsvoll ist. Und Sie müssen auf Ihre Pausen achten.« Er lächelte ihr ein wenig wehmütig zu. »All dies«, sagte er, »bedeutet nichts anderes als daß Sie noch mehr Reife und Erkenntnis brauchen – und das dauert lange – bei uns allen.« Carol schwieg nachdenklich. Endlich sagte sie: »Mr. Walworth, was bedeutet Reife eigentlich wirklich?« »Meine Liebe, das ist eine Frage, mit der sich die Menschheit seit Urzeiten herumgeschlagen hat. Ich bezweifle, daß es zwei gleiche Meinungen darüber gibt. Aber auf keinen Fall hat es etwas mit dem Alter zu tun. Manch ein hochgeehrter Zittergreis ist nie über die geistige und seelische Entwicklung eines Fünfjährigen hinausgekommen.« »Aber was ist seelische und geistige Entwicklung?« Mr. Walworth fuhr sich über die Haare. »Was für ein hartnäckiges junges Wesen Sie doch sind. Jetzt haben Sie mich richtig in die Enge getrieben.« »Hoffentlich«, erwiderte Carol ernst. »Ja, in dem Fall muß ich versuchen, meinen Verstand anzustren99
gen. Aber bitte bedenken Sie, auch ich bin nicht allwissend. Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit.« Er runzelte die Stirn, fuhr sich wieder übers Haar. »Hm«, sagte er schließlich, »seelische Entwicklung. Aus dem Stegreif würde ich sagen, da gehören zwei ganz wichtige Dinge dazu. Das eine ist Selbstbeherrschung. Das andere ist zu wissen, daß das Handeln wichtiger ist als das Gefühl.« Er hielt inne, doch als Carol etwas erwidern wollte, fuhr er rasch fort: »Einen Augenblick noch, meine Liebe. Wir müssen zuerst noch die zweite Frage behandeln, bevor ich mich unrettbar in den Wirrwarr meiner eigenen Gedanken verstricke.« Carol lachte, doch erinnerte sie sich an verschiedene Situationen ihres Lebens, in denen sie rein gefühlsmäßig gehandelt hatte. Und alle diese Episoden waren wenig schmeichelhaft. »Geistige Entwicklung«, fuhr Mr. Walworth fort, »ist zweifellos schwieriger – denn ich glaube, daß man, um sie zu erreichen, den wahren Wert der Dinge kennen muß. Man muß lernen, sich selbst zu sein, seine Verantwortung auf sich zu nehmen und sein Leben vernunftgemäß zu führen.« »Du lieber Himmel, Mr. Walworth«, stöhnte Carol, »gibt es denn irgend jemand, der das tut?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete Mr. Walworth elegisch. Sie lachten beide. Doch Carol ließ noch immer nicht locker. »Woher will man denn wissen, ob man auch wirklich den wahren Wert der Dinge erkennt?« »Meiner Meinung nach müssen Sie sich im Zweifelsfall immer nur fragen, ob Ihr Entschluß womöglich jemandem schaden kann. Einem Mitmenschen oder Ihnen selbst. Schädlichkeit ist ein guter Maßstab, meine Liebe. Obgleich auch das Ihnen nicht immer bei der Entscheidung helfen wird, ob etwas wichtig ist oder nicht. Solche Entscheidungen sind, wie Sie wissen, je nach Persönlichkeit und Erfahrung verschieden. Sehen Sie, ich zum Beispiel bin der Ansicht, daß ein Hühnchen in weißer Sauce etwas von allerhöchster Wichtigkeit ist. Und ich bin überzeugt, daß Sie das bestimmt nicht finden.« Carol lachte. »Da haben Sie recht. Aber für mich sind gut sitzende Strümpfe äußerst wichtig, und ich wette, das ist nun wieder Ihnen ganz egal.« »Da irren Sie sich aber gewaltig, die halte auch ich für wichtig – an schlanken Mädchenbeinen.« Doch Carol ließ sich durch den Scherz nicht ablenken. »Sie – Sie haben mir noch nicht erklärt, wie man es fertigbringt, sich selber zu 100
sein. Ich weiß bis heute noch nicht, was für ein Mensch ich eigentlich bin.« »Natürlich nicht, Kindchen. Nicht in Ihrem Alter. Aber wenn Sie von Zeit zu Zeit Ihr Leben überdenken, werden Sie anfangen, klarer zu sehen. Und wenn Sie wissen, daß Sie sich selber annehmen müssen, so wie Sie sind, dann können Sie das Beste daraus machen. Nichts ist schlimmer«, sagte er und widmete sich wieder seinem Hühnchen, »als die Leute, die jahraus, jahrein mit sich selber leben und sich für einen ganz anderen halten.« »Glauben Sie…« begann Carol und stockte dann. Mr. Walworth zwinkerte ihr zu. »Nun«, sagte er, »nehmen wir doch nur einmal den Menschen, der meinem Herzen am nächsten steht – nämlich mich selbst. Ich bin ein guter Schauspieler mit einem höchst cholerischen Temperament. Ich bemühe mich, das Beste aus meinen Fähigkeiten zu machen, und zügle mein Temperament; doch ich leugne nicht, daß ich es habe. Aber wäre ich nicht ein kompletter Idiot, wenn ich mir einbilden würde, ein drittklassiger Schmierenkomödiant mit dem Gemüt eines Engels zu sein? Und doch kenne ich Menschen, die ihr Leben auf solchen Fehleinschätzungen aufzubauen suchten.« »Ich wahrscheinlich auch«, stimmte Carol ihm bei. »Aber es ist schwer, alles über sich selbst zu wissen. Ich meine, man will sich ja gar nicht eingestehen, daß man anders ist.« »Richtig. Deshalb ist es ja so wichtig für junge Leute, möglichst rasch reif zu werden, bevor sie irreparable Fehler begehen. Ein Leben braucht Kontrolle und Führung, und diese beiden Dinge sind unmöglich, bevor man weiß, was man kontrollieren und führen muß.« Plötzlich klang seine Stimme müde und erschöpft, und Carol erhob sich sofort. »Sie sind ganz reizend zu mir gewesen«, sagte sie. »Vielen, vielen Dank, daß Sie sich so lange mit mir abgegeben haben.« Er begleitete sie zur Tür, verbeugte sich in seiner charmanten, altmodischen Art und sagte ernst: »Ich glaube, Sie sind es wert, daß man sich mit Ihnen abgibt, mein Kind.«
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18 Man ist nicht so leicht stundenlang deprimiert, wenn man jung ist und arbeitet und die Welt kennenlernt – alles zur gleichen Zeit. Doch stets wenn Carol Gelegenheit zum Nachdenken fand, war sie deprimiert. Und ihre Depression wuchs, obwohl sie durch ihren Beruf und ihre verschiedenen Interessen ständig abgelenkt wurde. Es war wunderbar, von einem großen Schauspieler gesagt zu bekommen, daß man Talent habe, daß man Fortschritte mache, und daß man es wert sei, sich mit einem abzugeben. Es war weniger wunderbar, das enorme Ausmaß der eigenen Unreife zu erkennen, die Carol jetzt immer deutlicher wurde. Und je länger sie darüber nachdachte, desto mehr bedrückte es sie. Inzwischen setzte das Ensemble seine Reise fort, und die Prärie von Kansas wurde von den sandigen Straßen und den Bohrtürmen Oklahomas abgelöst. Und immer weiter fuhr der Zug nach Süden. Die Truppe erreichte Oklahoma City während eines Sandsturms und fand, daß die Stadt einen viel westlicheren Eindruck als Wichita mache. Sie spielten vor einem gleichgültigen Publikum und brachen am nächsten Morgen nach Amarillo auf, das in einer der flachsten Gegenden von Texas liegt. Carol war fasziniert von der Landschaft. Noch nie hatte sie so etwas Flaches gesehen. Das riesige Rund des Horizonts dehnte sich wie eine einzige ungebrochene Linie, und das Wetter war, zu Carols Überraschung, kalt. Die Kälte verstärkte sich immer mehr, bis es plötzlich zu schneien begann. Als der Zug endlich Amarillo erreichte, tobte ein Schneesturm über der Stadt. Carol ließ sich durch das Naturereignis nicht aus der Ruhe bringen, doch Katherine schimpfte erbost. Später ließ sie sich allerdings durch den warmen Empfang, den die Texaner dem Stück bereiteten, etwas beruhigen. Texas war, nach der Meinung aller, ein wundervoller Staat. Am frühen Morgen brachen sie nach El Paso auf – eine lange Reise. Die Kurzaufenthalte hatten die Truppe zusammengeschweißt. Miss Hardys Prophezeiung bewahrheitete sich: man fühlte sich isoliert, und die Tournee wurde langsam zur Routine. Das Leben richtete sich nach den Abfahrtszeiten der Züge, und wichtiggenommen wurde nur noch die Post, das Essen und der Zustand der Betten. Carol jedoch fühlte sich noch immer als Touristin. Ellen gefiel al102
les, und Katherine gefiel nichts. Mr. Allston machte nach wie vor seine langen Wanderungen und beobachtete durch seinen Feldstecher die Vogelwelt. Wayne Prescott war ein begeisterter Fotograf. Harris liebte die Landschaften – sie waren das einzige, was ihn beruhigte. Mike arbeitete und Miss Marlowe ebenfalls. Dick Kenyon hörte Musik. Mr. Andrews las. Miss Hardy hatte ihr Strickzeug, und Mr. Walworth seine Magenverstimmung. Carol war froh, Touristin zu sein. Sie freute sich bereits auf die Wüstenstaaten: Kalifornien, Montana und die beiden Dakotas – und jetzt zuerst einmal auf die mexikanische Grenze. El Paso war ein Kurort und um diese Zeit überfüllt. Der Kaufmann von Venedig fand eine begeisterte Aufnahme bei Einheimischen und Touristen. Doch was Carol den größten Eindruck machte, waren die Wolken. Sie hatte immer geglaubt, die Wolken in den mexikanischen Filmen seien eingeblendet. Doch sie waren es nicht. Die Wolken über Mexiko waren etwas ganz Besonderes. Hochgetürmt, massig und gelblich-weiß an einem tiefblauen Himmel. Arizona war völlig anders. Eine braun-grüne Wüste mit Salbeiund Mimosenbüschen und gigantischen Kakteen. Die ausgetrockneten Flußbetten waren von Baumwollsträuchern gesäumt. Es ist eine lange Reise von El Paso nach Tuscon, und sogar Carol konnte nicht ständig aus dem Fenster schauen. Ihre Augen begannen zu schmerzen. Als sie sie endlich schloß, versank sie sofort wieder in die Depression, die sie bereits zu fürchten begann. Diesmal war sie schlimmer als gewöhnlich. Immer wieder drehten sich Carols Gedanken um den gleichen Punkt. Sie kannte ihre Möglichkeiten nicht. Sie hatte keine Ahnung von ihren Grenzen. Hatte sie nicht immer mehr nach ihren Gefühlen gehandelt als nach ihrem Verstand? Also schien ihr der Sinn für das Wichtige zu fehlen. Und das bedeutete, daß es um ihre Urteilskraft schlecht bestellt sein mußte. Und jetzt lag diese Hollywood-Geschichte vor ihr. Und sie wußte nicht, was sie wollte. Mr. Walworth hatte von Leuten gesprochen, die nicht-wieder-gut-zu-machende Fehler begingen, weil sie nicht wußten, was sie wollten – genau wie sie in diesem Fall. Schön, diese Hollywood-Geschichte war nicht so tragisch. Aber konnte sie nicht vielleicht auch andere Entscheidungen treffen, die nicht mehr rückgängig zu machen waren? Nicht einmal das Engagement zu dieser Tournee hatte sie aus einem vernünftigen Grund angenommen – einfach nur weil sie wütend auf Sherry gewesen war. »Aber immerhin«, sagte sie laut vor sich hin, ohne es zu merken, 103
»daß ich Schauspielerin geworden bin, das war kein Fehler. Das wenigstens war richtig.« »Wer hat denn etwas anderes behauptet?« Mike ließ sich auf den Platz neben ihr fallen. »Niemand. Ich habe mit mir selbst gesprochen. Damit fängt’s ja immer an. Bald werde ich weiße Mäuse sehen.« »Denk jetzt nicht an weiße Mäuse. Versuch einmal, mir zuzuhören. Ich bin hier hereingekommen, um dich zu fragen, ob du mich heiraten willst. Willst du?« Es war töricht, überrascht zu sein. Carol hatte gewußt, daß das eines Tages kommen würde. Und dennoch war sie so verwirrt und erschrocken, daß sie ihn nur sprachlos anstarren konnte. »Schau mich doch nicht so verstört an. Wenn du nicht willst, dann brauchst du’s nur zu sagen.« Carol hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. »Mike«, murmelte sie, »ich weiß es nicht – ich weiß es wirklich nicht.« Die Verzweiflung schien ihr ins Gesicht geschrieben, denn Mike sagte freundlich: »Reg dich doch nicht so auf. Liebst du mich?« »Ja«, hörte Carol sich selber sagen. »Ja, Mike, wirklich.« Erleichtert atmete er auf, doch konnte er sie nicht recht verstehen. »Warum denn dann die ganze Aufregung. Ich verlange ja nicht, daß du das Theater aufgeben sollst. Meinetwegen kannst du auch nach Hollywood gehen. Bei Schauspielerehen muß man ohnehin mit langen Trennungen rechnen. Aber irgendwann einmal bin ich Produzent, und dann arbeiten wir zusammen.« »Ach, darum handelt es sich ja gar nicht, Mike. Es ist nur, daß ich mich noch so schrecklich unsicher fühle. Ich bin noch keine Persönlichkeit. Ich wage es noch nicht, eine solche Entscheidung zu treffen.« »Hör mal«, sagte Mike, »was soll denn das alles bedeuten? Was nagt an dir?« Schweigend hörte er ihr zu, als sie ihm von Mr. Walworth erzählte. »Sicher«, sagte er, als sie geendet hatte, »das weiß doch jeder. Was ist schon dabei? Man wird nicht im Handumdrehen erwachsen. Und wenn du meine Meinung wissen willst, so bist du schon bedeutend reifer als du glaubst. Du bist schon in Ordnung, Carol.« »Aber Mike – Lieber – verstehst du denn nicht, daß ich das zuerst einmal selber spüren muß?« »Schon gut. Es hat ja doch keinen Sinn, wenn ich dir jetzt deine sämtlichen Vorzüge aufzähle. Hast du etwas dagegen, wenn ich auf 104
dich warte?« Erstaunt blickte Carol ihn an. »Du lieber Himmel, Mike, ich wüßte nicht, was ich ohne dich anfangen soll. Ich fühle mich scheußlich, wenn du nicht in meiner Nähe bist.« Sie hielt inne, von einem entsetzlichen Gedanken geplagt. »Mike, du weißt doch, daß das alles unsagbar wichtig für mich ist? Du denkst doch nicht, daß ich dich nur einfach aufs Eis legen will?« »Nein«, sagte er mit einem Grinsen. »Dazu bist du bestimmt nicht raffiniert genug.« Carol schnitt ihm eine Grimasse, und er stand auf und fuhr ihr leicht über die Wange. »Ich bleibe in deiner Nähe«, sagte er. »Und laß mich’s wissen, wenn du die Kinderschuhe endgültig ausgewachsen hast.«
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19 Tucson war eine bezaubernde Stadt, in der trotz aller Entwicklung noch etwas von der Atmosphäre der Pionierzeit zu spüren war. Auf der einen Seite erstreckte sich grenzenlose Wüste, auf der andern, dicht am Stadtrand, ragten purpurfarbene zerklüftete Berge auf. Die Truppe spielte in einem richtigen Theater und nicht, wie so oft, in einem Kino. Die Hotels waren behaglich und das Publikum sympathisch. Die Tage waren heiß und sonnig, doch in der Dämmerung atmete die Wüste eine Kühle aus, die an das Meer erinnerte. Carol hatte das Gefühl, den Aufenthalt in dieser Stadt niemals zu vergessen. Und sie vergaß ihn auch nicht. Allerdings aus einem andern Grund, als sie angenommen hatte. Es passierte in der zweiten Nacht und seltsamerweise ohne jegliche Warnung. Alles schien wie sonst. Es gab keinerlei Schnitzer bei der Vorstellung, und nach Schluß trennten sich die Kollegen um zu essen oder zu schlafen oder noch ein wenig Unterhaltung zu suchen. Katherine und Ellen besuchten die Nachtaufführung eines Films, den Carol schon kannte. Und im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als ein ausgiebiges warmes Bad. Dick und Wayne saßen in der Hotelhalle und baten sie, ihnen noch ein wenig Gesellschaft zu leisten. Doch sie entschuldigte sich mit unüberwindlicher Müdigkeit und ging zum Lift. In diesem Augenblick betrat Harris die Halle. Sein und Carols Zimmer lagen im gleichen Stock. Sie fuhren also zusammen hinauf. Und schon im Lift hatte Carol das Gefühl, etwas sei nicht in Ordnung. Nicht daß Harris sich irgendwie auffällig benahm. Im Gegenteil, er schien fast zu normal. Vielleicht war es das? Sein Gesicht schien zu ruhig, seine Augen zu gleichmütig. Es war kein Aufruhr in ihm, sondern etwas, das wie Friede aussah – und es doch nicht war. Ein kalter Schauer lief Carol über den Rücken. Sie bekam eine Gänsehaut. Oben angelangt, verabschiedete sich Harris höflich von ihr und ging auf sein Zimmer zu. »Eine Minute noch, Harris«, rief Carol ihm nach. »Wollen Sie mir nicht erzählen, was geschehen ist? Irgend etwas ist doch geschehen, oder nicht?« Er kam wieder zu ihr zurück und blickte sie mit seltsamer Gleichgültigkeit an. »Ja«, erwiderte er, »Edna hat am Sonntag gehei106
ratet. Heute nachmittag kam der Brief. Es ist alles erledigt.« Er hielt inne. »Sie sind mir eine gute Freundin gewesen, Carol. Ich danke Ihnen.« Er wandte sich um und ging schnell den Korridor hinunter. Carol sagte nichts, weil es nichts zu sagen gab. Sie trat in ihr Zimmer und ließ sich durch das Haustelefon mit Mike verbinden. »Könntest du eine Minute zu mir heraufkommen, Mike? Es ist etwas passiert. Und ich habe Angst.« Kaum daß sie aufgehängt hatte, war er schon da. »Was ist los, Carol?« Carol berichtete. »Aber du kannst ihm nicht helfen«, sagte Mike. »Es ist schlimm, aber er muß selber damit fertig werden. Der Bursche ist doch alt genug, um ein bißchen Vernunft aufzubringen.« »Ich glaube nicht, daß sich da mit Vernunft etwas machen läßt. Du hast ja selber gesagt, er sei so labil. Ach, Mike, mir hat sein Benehmen gar nicht gefallen. Er war zu ruhig und zu gefaßt. Irgendwie war mir das schrecklich. Bitte, glaub mir’s, ich bilde mir das nicht ein. Wie könnte man ihm denn helfen?« »Ich wüßte nicht, wie. Mit der Zeit wird er sich schon zusammenreißen und sein Gleichgewicht wiederfinden.« Carol gab es auf. Mike war zu stark, zu beherrscht. Er konnte Harris nicht verstehen. Als er gegangen war, nahm sie ihr Bad und kroch ins Bett, wo sie mit offenen Augen noch lange wach lag. Gegen ein Uhr kam Ellen heim, und ungefähr eine Stunde später fiel Carol in einen leichten, unruhigen Schlaf, aus dem sie durch ihr eigenes Herzklopfen aufgeschreckt wurde. Oder war es ein Geräusch auf dem Gang draußen gewesen? Sie schaute auf die Leuchtziffern ihres Weckers. Fünf Uhr. Es begann schon zu dämmern. Carol schlüpfte aus dem Bett und zog sich im Finstern an, um Ellen nicht zu stören. Ihre Hände waren eiskalt, und sie zitterte. Sie verließ das Zimmer und schlich leise den Gang hinunter. Harris Tür stand weit offen, und sein Zimmer war leer – das Bett unberührt. Da der Lift um diese Zeit außer Betrieb war, rannte Carol, von Angst getrieben, die vier Treppen hinunter. Das Klappern ihrer Absätze weckte den Nachtportier, der sie mit der Interesselosigkeit eines abgebrühten Hotelangestellten anschaute, den nichts mehr erschüttern kann. »Haben Sie Mr. Nichols, Zimmer 417, gesehen?« fragte Carol. 107
»Der Hellblonde? Ja, natürlich. Vor zwanzig Minuten ungefähr. Er ist ausgegangen.« »Können Sie mir sagen, wohin?« »Er fragte nach dem kürzesten Weg in die Wüste. Er sagte, daß er…« Auf der Treppe wurden Schritte laut. Mike, atemlos. »Ich dachte mir, daß du’s bist, als ich jemand die Treppe hinunterrennen hörte«, sagte er zu Carol. »Bist du verrückt geworden?« »Mike – Harris ist fort. Er ist in die Wüste gegangen.« »Na wenn schon? Das ist seine Sache.« »Vielleicht – aber…« »Du bist ja völlig außer dir. Nimm’s doch nicht so tragisch. Du bist nicht seine Mutter.« Er wandte sich an den Nachtportier: »Haben Sie eine Ahnung, was er draußen in der Wüste will?« »Ja. Kaninchen schießen.« Das paßte so gar nicht zu Harris, daß selbst Mike erstaunte. »Kaninchen«, murmelte er. »Ja. Er hat sich meinen Revolver ausgeborgt. Ich sagte ihm, daß zu diesem Zweck ein Gewehr besser sei, aber er wollte unbedingt meinen Colt.« »O. K.«, erwiderte Mike. »Welchen Weg ist er gegangen? Schnell!« Der Nachtportier wiederholte, was er schon Harris gesagt hatte, und Carol und Mike rannten in die aufziehende Dämmerung hinaus. »Du solltest lieber zurückgehen«, sagte Mike. »Ich werde schon allein mit ihm fertig.« »Nein.« Unter rauschenden Palmen liefen sie schweigend eine Gartenstraße entlang und dann in die Wüste hinaus, die sich bis zum dämmernden Horizont hin erstreckte. Kritisch betrachtete Mike die hüfthohen Salbei- und Mimosenbüsche. »Es wird allmählich hell«, sagte er. »Wenn er aufrecht stünde, müßten wir ihn schon sehen können.« »Wenn er nicht…« Carol beendete den Satz nicht laut. Doch in Gedanken fügte sie hinzu: Wenn er nicht schon hinter einer dieser hohen Stauden liegt. »Ich glaube«, murmelte Mike, »man mag vorhaben, was man will, wahrscheinlich setzt man sich doch zuerst einmal irgendwo hin. Ich wenigstens würde das tun. Aber nicht hier zwischen diese Büsche.« 108
»Was meinst du zu den Baumwollsträuchern dort am Fluß?« »Möglich.« Sie rannten, bis sie die Blätter der Baumwollbüsche im Wind rauschen hörten. Ihre Füße machten auf dem Wüstenboden kein Geräusch. Dann sahen sie ihn. Er saß auf einem Felsblock und blickte in die Berge. Etwas metallisch Glänzendes lag auf seinen Knien. Er rauchte. »Warte hier«, sagte Mike zu Carol und lief weiter. »Nichols!« rief er scharf. »Seien Sie doch kein Narr. Geben Sie mir den Revolver, und kommen Sie herunter.« Harris sprang auf, plötzlich eine wilde Verzweiflung auf dem Gesicht. »Lassen Sie mich in Ruhe!« antwortete er. »Lassen Sie mich in Ruhe, und verschwinden Sie!« Langsam schritt Mike vorwärts. »Halten Sie den Mund, und geben Sie mir das Schießeisen, bevor ich’s Ihnen aus der Hand hauen muß«, sagte er, und Carol dachte: Um Himmels willen, Mike, nicht so. Harris hob den Revolver, um die Mündung an die Schläfe zu setzen. »Noch einen Schritt«, sagte er, »und ich mache Schluß.« Mike blieb stehen. »Was wißt ihr denn, ihr Dickhäuter?« sagte Harris. »Was wißt denn ihr von Schmerzen oder vom Frieden? Scheren Sie sich zum Teufel, und lassen Sie mich in Ruhe.« »Seien Sie doch kein Narr«, wiederholte Mike. »Ich bleibe hier stehen, da können Sie reden, was Sie wollen.« Harris blickte Mike völlig gleichgültig an. Und plötzlich hatte Carol das Verlangen zu rennen – oder zu schreien –, um diesem entsetzlichen Erlebnis zu entfliehen. Ganz bestimmt war Mike der richtige Mann, um die Situation zu meistern… Und doch wußte sie, daß Mike es nicht konnte. »Harris, warten Sie!« rief sie. Er drehte sich zu ihr um. »Mußten Sie mir das antun, Carol?« sagte er. »Gehen Sie doch weg.« »Bitte, Harris!« flehte sie und kletterte über die Felsen auf ihn zu. Einige Schritte entfernt blieb sie stehen. »Niemand wird Ihnen zu nahe kommen. Nur, darf ich Ihnen etwas sagen?« »Meinetwegen«, erwiderte er teilnahmslos und senkte den Arm mit dem Revolver. »Aber es macht keinen Unterschied.« Wenigstens hatte er auf sie gehört. Aber vermochte sie seine 109
Aufmerksamkeit noch länger zu fesseln? Sie mußte. Und es hatte keinen Sinn, ihm Vernunft zu predigen. Man mußte ihm einen Grund zum Leben geben. Und zwar jetzt, sofort. Wozu war sie schließlich Schauspielerin? Jetzt hieß es spielen. »Harris«, sagte Carol, »Sie wollen sich ja gar nicht das Leben nehmen. Und ich kann Ihnen auch sagen, warum.« Ihre Stimme war sachlich, fast unbeteiligt. (Eine gute Schauspielerin weiß, wann sie einmal etwas unterspielen muß.) »Ich will nichts wissen.« »Bitte… Hören Sie mir doch einmal zu.« (Ein wenig eindringlicher jetzt, aber nicht zu sehr.) »Haben Sie eigentlich daran gedacht, auf was Sie alles verzichten wollen?« »Mir liegt nichts mehr daran.« »Soll das heißen, daß Sie nie mehr den Geruch der heißen Rampenlichter riechen wollen? Nie mehr Schminke auf dem Gesicht spüren? Sich noch einmal vor dem Vorhang verbeugen? Wollen Sie wirklich nie mehr vor einer Premiere Lampenfieber haben?« Er antwortete nicht. Vielleicht hatte sie ihn erreicht? Vielleicht aber hatte er tatsächlich alles Interesse verloren. (Eine Schauspielerin muß fähig sein, eine Stimmung heraufzubeschwören.) »Harris, erinnern Sie sich an das Rauschen, wenn der Vorhang hochgeht? Wollen Sie nie mehr hören, wenn der Inspizient Vorhang hoch ruft?« (Jetzt kam der Höhepunkt – alle Hemmungen fallenlassen – Stimme warm, weich, musikalisch.) »Und die pflaumenfarbenen Berge, Harris? Und die kleinen, unsichtbaren Bäche? Niemals mehr die kühle Feuchtigkeit auf den Wangen? Der Duft der Wüste? Wie frische Chrysanthemen, nicht wahr? Schauen Sie hinter sich. Dort stehen goldgesäumte Berge schwarz gegen den Himmel. Es ist die Morgendämmerung, Harris. Und der Wind vor Sonnenaufgang.« (Wo hatte sie diese Zeilen schon gehört?) »Harris, wenn Sie sich erschießen, werden Sie diesen Sonnenaufgang nicht mehr sehen.« Sie hielt inne. Atemlose Stille. Dann warf Harris den Revolver auf die Erde und schlug mit einem trockenen Seufzer die Hände vors Gesicht. Carol trat zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern. Es dauerte eine kleine Weile, bis er sich aufrichtete, um sie anzu110
sehen. Dann bückte er sich, hob den Revolver auf und drückte ihn ihr in die Hand. »Nehmen Sie«, sagte er. Carol blickte ihn an. »Ich komme bald«, sagte Harris. »Ich möchte nur noch den Sonnenaufgang sehen.« Kühl wehte der Wind über die Wüste, als Carol und Mike erschöpft zur Stadt zurückgingen. Kühl wehte er über Carols heiße Wangen, doch sie merkte es gar nicht. Sie weinte. Sie hatten schon ungefähr einen Kilometer zurückgelegt, bevor Mike zu sprechen begann. »Hoffentlich begegnet uns niemand«, murmelte er. »Man könnte glauben, ich hätte dich verprügelt.« Carol lächelte mühsam. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, sagte sie. »Hör mal, das war aber auch allerhand. Mir schlottern jetzt noch die Knie.« »Aber nun ist doch alles in Ordnung.« »Dank dir. Ich hätte den schönsten Mist gemacht. Weißt du, du bist wirklich ein großartiges Frauenzimmer.« Plötzlich blieb er stehen, packte sie bei den Schultern, daß sie ihm ins Gesicht schauen mußte. »Carol«, stieß er lachend hervor, »Carol – wenn du mich heiraten willst – jetzt kannst du dich entscheiden.« »Wieso?« »Verstehst du denn nicht? Am liebsten wärst du doch davongerannt. Aber du bist geblieben. Du hast gemerkt, daß ich nicht mit ihm fertig werde. Also hast du die Sache in die Hand genommen. Und wie du’s gemacht hast! Ich bin doch kein Idiot. Um ihn am Leben zu halten, hast du ihn an seine Arbeit erinnert. Das war Vernunft gegen Gefühl. Du hast deinen Verstand sprechen lassen, ohne Rücksicht auf deine Gefühle. Du hast genau gewußt, was du tust, und du hast es geschafft. Wenn man das nicht Kontrolle nennt? Das beweist einen Sinn für Verantwortung – und all das andere Zeug, das Walworth dir gepredigt hat. Du hast dich wirklich schon sehr gut kennen müssen, um die Sache so großartig zu schmeißen. Was willst du eigentlich noch mehr? Schließlich ging es um Leben oder Tod.« Carol konnte ihm kaum glauben, und doch wußte sie, er hatte recht. Die Entscheidung war an sie herangetreten, und sie hatte sich weder gefühlsmäßig noch egoistisch, noch dumm benommen. Sie 111
konnte reif sein. Und sie war es gewesen. »Du lieber Himmel«, seufzte sie matt. »Du lieber Himmel.« Und plötzlich fühlte sie sich stark, zuversichtlich und frei von jeder Furcht. Sie würde mit dem Leben fertig werden. Natürlich würde sie sich auch irren und Fehler machen, aber es würden ihre Fehler sein, weil sie die Entscheidungen getroffen hatte. Nie mehr würde sie, so wie früher, die Dinge einfach laufenlassen. »Du lieber Himmel!« sagte sie noch einmal. »Das hast du bereits dreimal gesagt«, bemerkte Mike. »Weißt du«, meinte Carol nachdenklich, »ich werde auf jeden Fall den Filmtest machen lassen. Und wenn es klappt, gehe ich auch nach Hollywood. Es kann falsch sein. Aber wenn ich nicht gehe, werde ich mein Leben lang glauben, ich hätte etwas versäumt. Ich muß es ausprobieren.« »Ach hör doch endlich damit auf«, stöhnte Mike. »Mir ist es doch völlig egal, ob du nach Hollywood gehst oder nicht. Meinetwegen kannst du nach Timbuktu gehen, wenn’s dir Spaß macht. Ich habe dich etwas gefragt, und ich möchte gern eine Antwort haben. Willst du mich heiraten – Carol Page?« Sie blickte ihn erstaunt an. Die Antwort war jetzt doch so selbstverständlich, und sie fühlte sich ihm so nahe, daß sie fast erwartet hatte, er müsse ihre Gedanken lesen können. »Aber natürlich will ich, Mike.«
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