Jane Robinson
Gespensterreigen um Mitternacht Irrlicht Band 415
Gladys entdeckte einen Instrumentenwagen. Er stand g...
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Jane Robinson
Gespensterreigen um Mitternacht Irrlicht Band 415
Gladys entdeckte einen Instrumentenwagen. Er stand ganz in ihrer Nähe! Das ließ keinen Zweifel mehr darüber zu, was unter den weißen Tüchern auf den Tischen links und rechts von ihr verborgen war! Diese länglichen Hügel waren Tote, deren Ableben zweifelhaft waren und hier in diesem Raum geklärt werden sollte! Aber wenn das Tote sind, dachte sie, wieso bin ich dann hier? Ich lebe doch noch! Oder lebe ich nicht mehr? schoß es ihr durch den Sinn. Wer weiß schon, wie es ist, tot zu sein! Niemand! Vielleicht kann man sich nicht mehr bewegen, aber noch denken? Sie hatte diesen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als ein schauerliches Lachen durch den niedrigen Raum hallte und in tausendfachem Echo langsam verebbte. »Du bist nicht tot!« sagte eine unheimliche Stimme. »Du bist schön. Deshalb wollte ich dich lebend!«
»… damit hat die erfolgreiche Autorin Gladys Bower uns wieder einen spannenden Roman vorgelegt«, las Anne Fieldings aus einem Feuilleton vor. »Es ist zu erwarten, daß auch dieses Werk einen großen Leserkreis finden wird… Hört! Hört!« unterbrach Anne die Lektüre der Buchbesprechung und nickte ihrer Freundin schmunzelnd zu. »Wenn du mich fragst, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis man dich für einen Nobel-Preis nominieren wird«, scherzte sie. Gladys hob abwehrend die Hände. »Ich bitte dich, Anne, rede nicht so einen Unsinn. Spannend mögen meine Romane sein, doch für einen Nobelpreis ist ein ande…« Das Telefon läutete, und Gladys stockte gleich beim ersten Ton im Wort. Anne stellte verwundert fest, daß ihrer Freundin jäh das Blut aus dem Gesicht gewichen und sie so blaß geworden war, als würde sie im nächsten Moment in Ohnmacht sinken. »Großer Gott, was ist denn mit dir?« fragte sie betroffen. »Du siehst ja aus, als wäre dir soeben ein Gespenst begegnet. Wie kann man sich nur so erschrecken, nur weil das Telefon läutet!« Gladys konnte nicht gleich antworten. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie saß mit versteinerter Miene da und starrte mit weit aufgerissenen Augen voller Entsetzen zum Telefon hinüber. Doch sie machte keine Anstalten, den Hörer abzuheben. »Willst du denn nicht drangehen?« fragte Anne Fieldings verständnislos. »Es könnte doch dein Verleger sein, der dir für den neuen Roman den ersten dicken Scheck avisieren möchte. Diese Freude solltest du ihm nicht verderben.« Gladys öffnete die Lippen, doch nicht um etwas zu erwidern, sondern weil sie nach Luft rang. Es hatte ganz den Anschein, als hätte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, weil jemand ihr
die Kehle zudrückte. Dabei war außer ihnen beiden niemand im Zimmer! So seltsam hat Gladys sich noch nie verhalten! dachte Anne in wachsender Besorgnis. Da muß etwas passiert sein. Aber was?! »Wenn du willst, gehe ich ans Telefon«, erbot sie sich. Gladys hob entsetzt abwehrend die Hände. Sie bewegte die Lippen, als wollte sie etwas sagen, doch es wurde nur ein unartikuliertes Stöhnen. Ihre Stimme gehorchte einfach nicht. Anne begriff, daß das Verhalten der Freundin eine ernste Ursache haben mußte. Es mußte etwas vorgefallen sein, von dem sie keine Ahnung hatte. Und das mußte irgendwie mit dem Telefon zusammenhängen. »Nun sag schon, was ist passiert?« drang sie in sie. »Hast du etwa widerliche Anrufe bekommen und befürchtest nun, es könnte wieder so ein Schmutzfink sein? Mir kannst du es doch anvertrauen. Ich bin deine beste Freundin. Ich habe mir immer eingebildet, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.« Gladys wich dem forschenden Blick der Freundin aus. »Du würdest es doch nicht glauben«, stieß sie tonlos hervor. »Das solltest du auf einen Versuch ankommen lassen«, beharrte Anne. Das Telefon läutete noch immer. »Laß mich wenigstens den Hörer aufnehmen und wieder auflegen, damit dieses nervtötende Läuten aufhört«, bat Anne. »Das ist ja nicht zu ertragen!« Ehe Gladys darauf etwas erwidern konnte, hörte das Läuten unvermittelt auf – beinahe so, als hätte der Anrufer die letzte Bemerkung mithören können. »Na, Gott sei Dank!« stöhnte Anne erleichtert auf. »Gott, ist das eine wohltuende Stille! – Und nun erzähle mir bitte, was dein Verhalten zu bedeuten hat. Was ist passiert? Es ist doch nicht normal, einfach nicht ans Telefon zu gehen!«
Gladys wich dem forschenden Blick der Freundin aus und wandte das Gesicht ab. »Es ist nichts weiter«, versicherte sie. »Ich bin vielleicht ein bißchen mit den Nerven herunter, weil ich in den vergangenen Wochen zu wenig Schlaf bekommen habe. Wie du weißt, habe ich Tag und Nacht geschrieben, um das Manuskript rechtzeitig fertig zu bekommen.« Anne schüttelte zweifelnd den Kopf. »Das ist doch inzwischen schon eine ganze Weile her«, wandte sie ein. »Du kannst unmöglich deshalb noch so schreckhaft reagieren, wenn das Telefon mal unvermutet läutet – und vor allen Dingen erklärt das nicht deine Angst, den Hörer abzunehmen und nachzufragen, wer in der Leitung ist.« »Laß es gut sein!« wehrte Gladys gereizt ab. »Merkst du nicht, daß ich nicht darüber sprechen will?« »Also besteht mein Verdacht zurecht!« stellte Anne fest. »Aber wenn du nicht darüber sprechen willst?« Sie zuckte die Achseln und kräuselte die Lippen. »Wie du meinst! Ich kann dich nicht zwingen, dein finsteres Geheimnis preiszugeben.« Diese Bemerkung war nicht ganz ohne Spott, doch Gladys ließ sich nicht herausfordern. Sie ging nicht darauf ein, sondern wandte sogar noch das Gesicht ab, als sei sie zutiefst beleidigt. Anne zog die Unterlippe durch die Zahnreihen. Ihre harten Worte taten ihr leid. »Allerdings – besser wäre es schon, wenn du dich jemandem anvertrauen würdest«, bemühte sie sich, einzulenken. »Ich hoffe, du siehst wenigstens ein, daß dein Verhalten eben nicht normal war!« Gladys hatte sich wieder unter Kontrolle und wandte sich der Freundin wieder zu. »Da gibt es nichts anzuvertrauen«, behauptete sie. Doch ihre Versicherung klang so wenig überzeugend, daß ihr klar war, die Freundin würde ihr immer noch nicht glauben.
Immerhin konnte sie erleichtert feststellen, daß Anne sich zurückhielt und nicht weiter in sie drang. Allerdings stand Anne auf und verabschiedete sich überstürzt und weit weniger herzlich als sonst. Gladys hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengrube, als sie Anne zur Tür brachte, doch machte sie keinen Versuch, die Freundin zurückzuhalten. Dabei fürchtete sie sich unsagbar vor dem Alleinsein! Als Anne sie zum Abschied noch einmal umarmte, blickte sie sie forschend an, und es war wie eine letzte, stumme Aufforderung, sich ihr doch noch anzuvertrauen. Aber Gladys fand ganz einfach nicht den Mut. Unglücklich und verzweifelt blieb sie zurück. Es war nicht fair, Anne zu belügen, grübelte sie bekümmert, als sie in ihr Wohnzimmer zurückkehrte. Andererseits… mit welchen Worten hätte ich ihr von den beängstigenden Ereignissen berichten können, denen ich seit einiger Zeit immer wieder ausgesetzt bin? Das alles ist so absonderlich, daß kein normaler Mensch es für die Wahrheit halten würde. »Auch Anne hätte mir doch niemals geglaubt!« seufzte Gladys verzweifelt und ließ sich in einen Sessel sinken. Niemand würde mir glauben, wenn ich erzählen würde, was mir in den vergangenen Tagen passiert ist! dachte sie bekümmert. Wahrscheinlich würde man es für die überschäumende Phantasie einer Autorin halten, die versucht, sich interessant zu machen. Und doch entspringt das alles nicht meiner Phantasie! grübelte sie. Wahrscheinlich würde auch ich niemandem abnehmen, wenn er mir berichten würde, diese schockierenden Erlebnisse gehabt zu haben. Und deshalb habe ich keine Wahl, ich muß darüber schweigen und versuchen, allein mit diesen Dingen fertig zu werden!
Anne Fieldings war einerseits verärgert, weil ihre Freundin offenbar ein Geheimnis vor ihr hatte, und sich ihr nicht anvertrauen wollte. Das empfand sie schon fast wie eine persönliche Beleidigung, angesichts der Tatsache, daß sie seit den ersten gemeinsamen Schultagen befreundet waren und einander seither immer alles anvertraut hatten. Gladys’ heutiges Verhalten kam in ihren Augen einem Vertrauensbruch gleich! Andererseits, dachte Anne, wenn Gladys tatsächlich einer ernsten Bedrohung ausgesetzt ist und sie mich nicht einweihen will, könnte das natürlich auch bedeuten, daß sie mich zu schützen versucht, weil sie mich nicht auch noch in Gefahr bringen will. Gefahr!! Anne Fieldings war es, als fiele es ihr wie Schuppen von den Augen. »Natürlich!« ächzte sie. »Das ist es! Gladys weiß, daß sie in Gefahr ist, und will vermeiden, daß ich in diese schlimme Sache verwickelt werde!« »Oh, mein Gott!« stöhnte sie verzweifelt auf. »Wie konnte ich die Situation nur so sehr mißverstehen?« dachte sie. »Was heißt denn hier: Oh, mein Gott!« lachte eine sympathische Männerstimme dicht neben ihr, und im nächsten Moment legte ihr jemand impulsiv den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Anne schreckte aus ihren Gedanken auf und blickte in ein Gesicht, das sie mehr als jedes andere liebte. »Warren?« murmelte sie verdattert. »Du? Wieso bist du denn um diese Zeit hier auf der Straße?« fragte sie. »Muß ich mich vielleicht dafür rechtfertigen, daß ich die Frau, die ich liebe, während der Dienstzeit zufällig treffe und nicht grußlos an ihr vorübergehe?« fragt er und blickte ihr verliebt in die Augen.
»Nein, natürlich nicht«, murmelte Anne verlegen. »Ich… es… weißt du, ich…« Sie spürte, daß ihr das Blut ins Gesicht geschossen war, und stockte. »Mir scheint, da hat jemand so etwas wie ein schlechtes Gewissen!« neckte Warren sie. Er legte ihr den Zeigefinger unters Kinn und hob ihr Gesicht zu sich auf. »Du hast mich doch nicht etwa betrogen?« fragte er scherzend. »Du weißt, daß ich so etwas niemals tun würde, weil ich dich liebe und weil…« Sie hielt an. »Man wird bereits aufmerksam auf uns!« murmelte sie errötend. »Du hast recht«, witzelte Warren. »Schade, daß ich dich nicht in ein einsames Nest entführen kann. Leider habe ich die Faust meines Vorgesetzten im Nacken, für den ich recherchieren soll. Aber heute abend werde ich alles nachholen, was wir jetzt versäumen!« versprach er. »Und dann werde ich dich solange küssen, bis du mir freiwillig eingestehst, wer oder was jetzt durch deine Gedanken spukt.« Anne Fieldings ging nicht auf seine scherzhafte Bemerkung ein. Es wäre tatsächlich gut, wenn ich Warren die seltsame Geschichte von eben erzählen und ihn um Rat fragen könnte, dachte sie. Immerhin ist er trotz seiner Jugend schon ein erfahrener Kriminalbeamter, und ein sehr erfolgreicher dazu, wenn es darum geht, Verbrecher zu jagen, und sie dingfest zu machen. Warren wird mir bestimmt auch raten können, wie ich mich Gladys gegenüber richtig verhalte. Am liebsten hätte Anne sich ihre Sorgen um die Freundin auf der Stelle von der Leber geredet, doch Warren gab ihr keine Gelegenheit, dieses Thema noch anzuschneiden. Er drückte ihr einen flüchtigen kleinen Kuß auf die Schläfe und ging eilig weiter.
»Bis heute abend!« rief er ihr zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Aber es kann spät werden.« Anne Fieldings konnte nichts mehr erwidern, denn Warren stürmte im Laufschritt davon, so als müßte er die wenigen Sekunden, die er ihretwegen versäumt hatte, schnellstens ausgleichen. Dann werde ich mich eben bis heute abend gedulden müssen! dachte Anne enttäuscht und ging langsam weiter.
Gladys Bower hatte ihre Freundin kaum verabschiedet, als sich ihr Telefon erneut meldete. Wie immer in diesen Tagen zuckte sie unter diesem Geräusch wie elektrisiert zusammen und starrte den Apparat mit weit aufgerissenen Augen entsetzt an. Diesmal war sie besonders geschockt. Mein Gott, es ist ja gerade so, als wüßte dieser Tyrann, daß Anne eben meine Wohnung verlassen hat und ich jetzt wieder allein bin! durchfuhr es sie siedendheiß, und unwillkürlich kauerte sie sich wie schutzsuchend in ihren Lieblingssessel. Jedes Mal, wenn das schrille Signal des Telefons ertönte, zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch ihre Glieder, und sie duckte sich wie unter einem Peitschenhieb noch tiefer in den Sessel. Es hörte nicht auf zu läuten! Gequält preßte Gladys sich die Hände auf die Ohren. Vergebens! Das schrille Läuten des Telefons durchdrang alles! Verzweifelt flehte Gladys den Himmel an, er möge das Telefon zum Schweigen bringen, doch das nervtötende schrille Läuten wiederholte sich konstant und im rhythmischen Takt. Penetrant!
Gladys spürte, daß ihr vor Angst und Erregung Schweißperlen auf die Stirn traten und ihre Hände feucht wurden. Schließlich ertrug sie die ungeheuere innere Anspannung nicht länger. Sie sprang auf, stürzte sich verzweifelt auf das Telefon und riß den Hörer ans Ohr. »Aufhören!« schrie sie mit halberstickter Stimme in die Sprechmuschel. »Aufhören!« Dabei hätte es völlig ausgereicht, den Hörer aufzuheben und ihn gleich wieder auf die Gabel zu drücken! Doch in ihrer Fassungslosigkeit dachte sie nicht so weit! »Aber Miss Bower?« meldete sich die sonore Stimme ihres Verlegers. »Was ist denn mit Ihnen? Ich…« »Oh, mein Gott!« stöhnte Gladys betroffen auf. »Ich dachte… bitte, verzeihen Sie. Ich wußte nicht… wenn ich geahnt hätte, daß Sie… Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Ein unglückliches Mißverständnis«, stammelte sie verstört. »Ich glaube zu verstehen«, erwiderte Mr. Barnes. »Sie werden mit widerlichen Anrufen belästigt. Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt…« Er stockte und räusperte. »Nun… der Grund meines Anrufes ist ein überaus erfreulicher«, eröffnete er Gladys. »Die Vorabdrucke sind sehr gefragt, und es ist mit einer Auflage zu rechnen, die die letzte um einiges übersteigt.« »Das ist in der Tat sehr erfreulich«, sagte Gladys, aber es klang so trocken und unbeteiligt, als hätte Mr. Barnes von Dingen gesprochen, die sie gar nichts angingen. »Ich werde Ihnen in den nächsten Tagen einen weiteren Scheck zuschicken«, eröffnete Mr. Barnes ihr und erwartete natürlich, daß sie sich freuen würde, doch Gladys hatte den Sinn seiner Worte gar nicht erfaßt. »Einen Scheck?« wiederholte sie wie abwesend. »Vielen Dank.« Es hörte sich an, als hätte sie überhaupt nicht begriffen, was Mr. Barnes soeben gesagt hatte.
Der Verleger räusperte sich irritiert. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« erkundigte er sich besorgt. »Für mich tun?« fragte Gladys zerstreut. »Nein, wirklich nicht«, versicherte sie. »Tja, dann… es tut mir leid, daß mein Anruf Sie in einem so ungünstigen Augenblick erreicht hat«, versicherte Mr. Barnes zögernd. »O nein, das haben Sie ganz gewiß nicht«, beteuerte Gladys hastig. »Ich bin es, die sich… jedenfalls entschuldige ich mich noch einmal für mein Verhalten. Ich… es…« »Schon gut«, wehrte Mr. Barnes ab. »Mißverständnisse passieren nun einmal. Und sollten Sie tatsächlich mit unangenehmen Anrufen belästigt werden, bietet sich an, die Telefonnummer ändern zu lassen. Vielleicht wäre es überhaupt ratsam, eine Geheimnummer zu beantragen.« »Eine Geheimnummer?« Gladys horchte auf. »Ja, das ist eine gute Idee! Ich werde mich gleich darum kümmern. Vielen Dank für den Tip!« »Gern geschehen. Und wie gesagt, ein weiterer Scheck erreicht Sie in den nächsten Tagen.« Gladys bedankte sich noch einmal und legte auf. Vielleicht war der Anruf vorhin schon Mr. Barnes, und ich habe mich ganz umsonst geärgert? ging es ihr durch den Kopf. Ich hätte ihn danach fragen sollen. Nein, das hätte ich nicht! dachte sie. Es hätte einen ziemlich schlechten Eindruck gemacht! Nachdem ich mich so vergaloppiert habe, wäre es sogar eine Katastrophe gewesen. In Zukunft sollte ich etwas mehr Selbstbeherrschung an den Tag legen, wenn ich mich am Telefon melde! Sonst werde ich noch in den Ruf kommen, hysterisch zu sein. Gladys hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als ihr Telefon erneut läutete. Diesmal zuckte sie nicht erschrocken zusammen, sondern hob den Hörer gleich beim
ersten Ton ans Ohr, weil sie glaubte, es sei ihr Verleger, der ihr noch etwas zu sagen hatte. »Ja, Mr. Barnes? Gibt es noch etwas zu besprechen?« fragte sie. »Oh, hier ist nicht Mr. Barnes!« ächzte eine unheimliche verzerrte Stimme heiser. »I c h bin es! Und ich finde es gut, daß du mich nicht wieder vergebens hast anrufen lassen! Ich mag es nämlich überhaupt nicht, wenn du zu Hause bist und nicht sofort ans Telefon gehst! Es macht mich ärgerlich, und dafür mußt du natürlich büßen!« Schon beim ersten Ton dieser verzerrten Stimme rannen Gladys eisige Schauer durch alle Glieder, und vor Schreck war sie wie gelähmt. »Was wollen Sie von mir?« schrie sie mit dem Mut der Verzweiflung. »So lassen Sie mich doch endlich in Ruhe! Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben! Begreifen Sie das endlich!« Ein heiseres, unheimliches Lachen war die Antwort. »Aber ich will mit d i r zu tun haben!« erwiderte ihr Peiniger. »Und glaube mir, ich werde schon bald erreichen, daß du dich auch mit mir befassen willst, denn du und ich – wir sind auf eine schicksalhafte Weise miteinander verbunden.« Es folgte wieder dieses unheimliche, gespenstische hohle Lachen, das sich anhörte, als würde es von hohen Mauern widerhallen und in der Ferne allmählich verebben. Gladys war geschockt und wie von Sinnen vor Angst. Der Hörer sank ihr aus der Hand und polterte auf die Platte des Telefontisches und dann zu Boden. In ihren Ohren klangen die unheilvollen Drohungen und das hohle, unheimliche Lachen nach und versetzten sie regelrecht in Panik. Ohne zu bedenken, was sie tat, stürzte sie aus dem Zimmer, floh regelrecht vor dem Telefon, durch das sie während der vergangenen Tage immer wieder in Angst und Schrecken versetzt worden war, und hätte sicher im nächsten Moment die
Wohnungstür aufgerissen, um hinauszurennen, als gelte es, sich vor einer unmittelbaren Gefahr in Sicherheit zu bringen. Aber so weit kam sie nicht! In der Diele geriet sie unvermittelt in eine Wolke von merkwürdigen Düften, und sie hatte davon schon eingeatmet, ehe sie sich dessen bewußt geworden war. Erschrocken schnappte sie nach Luft, atmete dadurch aber erst recht von der eigenartigen Substanz ein, und stellte voller Entsetzen fest, daß es ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Mit einem Male schien sich plötzlich alles um sie zu drehen. Sie spürte, daß ihr die Knie weich wurden und einknickten. Mit letzter Kraft versuchte sie noch, sich an einem Türpfosten abzustützen. Vergebens! Sie sank zu Boden, und dann wurde es Nacht um sie her!
Anne Fieldings beschäftigte sich während des ganzen Nachmittags immer wieder mit der Frage, was ihre Freundin Gladys vor ihr zu verbergen trachtete. Ich kenne Gladys so gut, ich kann mich einfach nicht so sehr getäuscht haben! grübelte sie. Es muß etwas in ihr Leben getreten sein, was sie furchtbar ängstigt. Nein, schlimmer! Sie scheint geradezu Todesangst zu haben! Aber warum nur verschweigt sie es vor mir? In all den Jahren haben wir doch immer alle Geheimnisse miteinander geteilt! Die guten und auch die schlechten! Am liebsten hätte Anne die Freundin unter einem Vorwand angerufen, um ihr so Gelegenheit zu geben, sich ihr doch noch anzuvertrauen. Darüber hinaus drängte es sie, sich zu vergewissern, daß Gladys in Ordnung war. Aber letztlich verzichtete sie auf
diesen Anruf, weil sie befürchten mußte, Gladys würde sich, wenn ihr Telefon läutete, noch einmal so furchtbar erschrecken wie vorhin. Wahrscheinlich würde Gladys nicht einmal den Hörer abheben, überlegte Anne. Sie hat sich ja vorhin auch geweigert, den Ruf zu beantworten. Also hätte ich gar keine Chance, zu ihr durchzudringen. Wenn ich nur wüßte, weshalb sie so entsetzt reagiert hat, nur weil ihr Telefon läutete! grübelte sie. Ich sollte Warren davon erzählen, überlegte sie. Sicher weiß er, was zu tun ist. Wenn er doch nur schon da wäre, damit ich mit ihm darüber sprechen könnte! Aber Warren Mooney ließ mal wieder auf sich warten… wie schon so oft! Anne hatte es sich inzwischen längst abgewöhnt, sich über solche Verspätungen bei ihm zu beklagen. Er war mit Leib und Seele Kriminalbeamter, weil er an Recht und Ordnung glaubte. Er sah es als seine Lebensaufgabe an, friedliche Bürger vor Verbrechern zu schützen und Kriminelle dingfest zu machen. »Ich liebe dich sehr«, hatte Warren vor einigen Wochen gesagt, als sie eines Abends das Gespräch auf seine berufliche Situation gelenkt hatte. »Und du bedeutest mir mehr als irgendein anderer Mensch auf dieser Erde. Aber meinen Beruf werde ich auch deinetwegen niemals vernachlässigen, denn ich sehe es als meine Lebensaufgabe an, Verbrecher zu jagen und sie einer gerechten Strafe zuzuführen… sie nach Möglichkeit daran zu hindern, überhaupt erst straffällig zu werden. Das aber ist nur möglich, wenn ich meinen Dienst nicht nach der Stoppuhr beende.« Anne hatte sofort begriffen, daß ihr keine andere Wahl blieb, als sich mit seiner Einstellung abzufinden oder sich von ihm zu trennen.
»Ja, weißt du«, hatte sie zögernd erwidert. »Ich verstehe dich, und ich bewundere dich für deine Berufsauffassung. Aber wie soll ich wissen, ob ich stark genug bin, immer wieder hinter deinen beruflichen Verpflichtungen zurückzustehen?« Da hatte Warren ihre Hände genommen und ihr auf eine besondere Art in die Augen gesehen und gesagt: »Ich wünsche mir nichts mehr, als daß du Kraft genug findest, dieses Leben mit mir zu teilen, denn ich möchte, daß du eines Tages meine Frau wirst.« Dann hatte er ihr einen Ring an den Finger gesteckt und gesagt: »Wenn du es irgendwann nicht mehr ertragen können solltest, sage es mir nicht. Schicke mir nur diesen Ring zurück.« Anne war zutiefst bewegt, ja erschüttert gewesen und hatte keine Worte gefunden. Sie hatte nur stumm den Ring ein paarmal hin und her gedreht, als wollte sie ihn ganz tief und für alle Zeiten an ihrem Finger festschrauben und sich dann mit dem Handrücken verstohlen ein paar Tränen aus den Augen gewischt. Seit jenem Abend hatten sie nie wieder über diese Dinge gesprochen, und Anne hatte sich seit jener Stunde redlich bemüht, Warrens Erwartungen zu entsprechen. In Situationen wie der heutigen allerdings fiel es ihr schon sehr schwer, hinter Warrens dienstlichen Verpflichtungen zurückzustehen.
Für Gladys Bower hatte die Zeit aufgehört zu existieren. Und als sie wieder zu sich kam, hätte sie nicht zu sagen vermocht, wie lange sie ohne Bewußtsein in ihrer Wohnung gelegen hatte. Als sie die Augen wieder aufschlug, stellte sie betroffen fest, daß sie in ihrer Diele auf dem Boden lag. Was ist mit mir? War ich ohnmächtig? fragte sie sich besorgt. Es sieht fast so aus.
Verstört blickte sie um sich und versuchte sich zu erinnern, wie sie hierhergekommen und was kurz vorher geschehen war. Sie wußte es nicht zu sagen. Erst als ihr Blick durch die offene Wohnzimmertür auf den kleinen Telefontisch fiel, und sie sah, daß der Hörer heruntergefallen war und auf dem Teppich lag, weckte der Anblick ihre Erinnerung, und im selben Moment war es, als hätte jemand einen Schleier zerrissen. Ihr Erinnerungsvermögen kehrte schlagartig zurück. Der letzte Anruf! Einer dieser entsetzlichen bedrohlichen Anrufe, mit denen ein Fremder sie seit Tagen immer wieder peinigte, hatte sie so sehr erschreckt, daß sie in Panik geraten und aus dem Zimmer geflüchtet war. Aber dann – in der Diele – hatte sie wie schon mehrfach während der vergangenen Tage wieder diesen ekelhaften Geruch wahrgenommen, und plötzlich hatten die Füße ihr den Dienst versagt, und es war ihr schwarz vor den Augen geworden. »Oh, mein Gott, wohin soll das noch führen!« stöhnte sie verzweifelt. Hinter ihr – ganz in ihrer Nähe – antwortete das höhnische rauhe Lachen eines Mannes. Gladys schreckte auf, denn diese rostige Stimme hatte sie sofort erkannt: So lachte nur ihr Peiniger! Und jetzt hielt sie keinen Telefonhörer in der Hand – aber sie hörte ihn trotzdem! Das konnte doch nur bedeuten…??? Sie hatte das Gefühl, das Blut würde ihr in den Adern gefrieren, und vor Angst erzitterte sie an allen Gliedern. »Begreifst du es endlich?« fragte ganz in ihrer Nähe die rostige Stimme, die sie von den gefürchteten Anrufen her nur zu gut kannte. »Ich bin überall. Du kannst nicht fliehen vor
mir. Es gibt für dich kein Entrinnen vor mir! Finde dich damit ab!« Gladys erstarrte vor Entsetzen und konnte keinen Gedanken mehr zu Ende denken. Es drängte sie, sich umzudrehen, aber zugleich fürchtete sie sich auch davor, ihren schrecklichen Verdacht bestätigt zu finden. »Dreh dich ruhig um!« sagte hinter ihr die furchtbare Stimme, als hätte sie ihre Gedanken laut ausgesprochen. »Du wirst deinen Verdacht bestätigt finden. Ich bin tatsächlich hier! Wenn ich wollte, brauchte ich nur die Hand ein wenig auszustrecken, und ich könnte dich berühren! Oder ich könnte dich mit meinen Händen zerquetschen!« Wie unter einem inneren Zwang drehte Gladys sich zögernd um, und was sie sah, war so schaurig, daß sie aufschreien wollte. Aber ihre Stimme versagte vor Entsetzen. Etwas so Unheimliches hätte sie sich trotz all ihrer Phantasie nicht ausdenken können! Kaum zwei Meter vor ihr entfernt stand eine Gestalt, die in jedem Gruselfilm für eine Sensation gesorgt hätte. Nur hier handelte es sich nicht um die Ausgeburt eines phantasiebegabten Regisseurs, sondern um die Wirklichkeit! Mit weit aufgerissenen Augen starrte Gladys Bower auf den unheimlichen Besucher und fragte sich, wie er sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft haben könnte. Ein Alptraum hätte nicht schlimmer sein können! Riesengroß und wie der Abgesandte einer Welt, die das Licht des Tages scheute, lehnte die Gestalt neben ihrer Eingangstür. Der schlangenhafte überschlanke Körper steckte in ihrer engen silbrig schimmernden Lederrüstung, die glitzerte, als seien unzählige kleine Metallplättchen mit einem phosphoreszierenden Anstrich versehen. Aus den breiten Schultern wuchs ein Kopf mit gelblich fahlem Gesicht, das von
übergroßen längsgeschlitzten Augen beherrscht wurde. Und in diesen Augen flackerte ein bläuliches Licht, das der Unheimliche in kurzen Abständen wie Blitze versprühte. Gladys Blick hatte sich unversehens in den Augen des Eindringlings verfangen, und sie konnte ihn nicht wieder daraus lösen. Wie hypnotisiert starrte sie in diese fremdartigen senkrechten Augenschlitze und spürte, daß sie dem Eindringling hoffnungslos und auf Gedeih und Verderb preisgegeben war. Das alles kann doch nur ein furchtbarer Alptraum sein! dachte Gladys verzweifelt. So etwas Gespenstiges kann es in Wirklichkeit nicht geben! Also träume ich nur! Ich muß aufwachen, wirklich aufwachen, damit dieser Alptraum endet! »Es ist kein Traum, sondern Wirklichkeit!« sagte der Eindringling, als hätte Gladys ihre Gedanken ausgesprochen. Aber sie war ganz sicher, es war kein Wort über ihre Lippen gekommen! Also konnte dieses unmenschliche fremdartige Wesen ihre Gedanken lesen! Eine entsetzliche Vorstellung! Ihr unheimlicher Besucher stieß ein gellendes Lachen aus, das sich anhörte wie das Bellen eines Höllenhundes. Gladys duckte sich erschrocken gegen den Türpfosten und schob sich die Hand über die Augen, weil sie hoffte, der ganze Spuk könnte verschwinden, wenn sie die Hand wieder sinken ließ. »Keine Chance!« sagte die unheimliche krächzende Stimme, als hätte der ungebetene Gast ihre Gedanken lesen können. Gladys sackte die Hand herab. Sie starrte fassungslos auf ihren ungebetenen Gast, der wie ein Mensch sprach, aber aussah wie ein Außerirdischer.
»Natürlich kann ich Gedanken lesen!« sagte er mit seiner unheimlichen Stimme, und dabei trommelte er sich mit den Fäusten gegen den silbernen Panzer, daß es klirrte. Gladys war jeden Augenblick darauf gefaßt, daß er sich auf sie stürzen und zerquetschen würde. Doch das geschah nicht. Offenbar hatte er zuviel Freude daran, ihre Angst zu genießen. »Wie… wie kommen Sie… hier herein? Und was wollen Sie von mir?« wollte sie fragen, doch ihre Stimme gehorchte nicht. Alles, was sie zustande brachte war ein halbersticktes heiseres Krächzen. »Ich komme überall herein, wenn ich das will!« sagte das Monstrum, als hätte es Gladys Gedanken hören können, und dabei versprühten die unheimlichen Schlitzaugen einen regelrechten Funkenregen, der Gladys wie ein Schauer aus kleinen glitzernden Metallteilchen traf. Die junge Frau war vor Schreck wie erstarrt und konnte sich nicht mehr bewegen. Oder hatte das Monster sie hypnotisiert?
Es war bereits kurz vor Mitternacht, und Anne Fieldings hatte inzwischen längst die Hoffnung aufgegeben, daß ihr Verlobter noch kommen würde, doch da hörte sie plötzlich seinen Schritt draußen auf dem Laubengang. »Na, endlich!« murmelte sie erleichtert auf und sprang auf, um zur Wohnungstür zu eilen. Es war tatsächlich Warren, aber noch ehe er sie in die Arme ziehen oder sie etwas hätte sagen können, hatte sie voller Entsetzen entdeckt, daß auf seiner rechten Gesichtshälfte ein Pflasterverband klebte. »Großer Gott, Liebling, was ist mit dir passiert?« Anne sank ihm an die Brust. »Du bist verletzt worden! Was ist dir zugestoßen?«
Das seltsame Verhalten der Freundin spielte plötzlich keine Rolle mehr. All ihr Denken und Fühlen galt dem geliebten Mann. »Keine Aufregung! Es ist nichts weiter!« wehrte Warren beschwichtigend ab und fuhr ihr zärtlich über das Haar. »Es ist nur ein harmloser Kratzer.« Daß dieser »Kratzer« ein Streifschuß war, der ihn um Haaresbreite tödlich getroffen hätte, verschwieg er ihr. »Hast du Schmerzen?« forschte Anne besorgt. »Nichts besonderes«, wehrte Warren ab. »Es sieht schlimmer aus, als es ist!« versicherte er. Anne schob ihren Liebsten auf die Couch und setzte sich dicht neben ihn. Sie nahm seine Hände und begann sie zärtlich zu streicheln, und da sein Gesicht lädiert war und sicher sehr schmerzte, bedeckte sie statt dessen seine Hände mit kleinen zärtlichen Küssen. Warren genoß ihre Zärtlichkeiten. Es tat ihm gut, ihre Liebe zu spüren. Dieses Gefühl gab ihm immer wieder die Kraft, alle düsteren Seiten seines Berufes besser zu meistern. »Was wolltest du mir eigentlich heute Nachmittag erzählen?« fragte er unvermittelt. Anne schreckte auf. »Ich?« Sie blickte ihn verdattert an. »Aber wieso fragst du?« Warren fing ihren Blick auf. »Du willst doch nicht behaupten, ich hätte mich getäuscht?« Anne schüttelte den Kopf. »Nein, hast du nicht«, bestätigte sie. »Und was hast du auf dem Herzen?« fragte Warren nach, als Anne mit Rücksicht auf seinen Zustand nicht weitersprechen wollte. »Ach, es ging um Gladys. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig«, wehrte Anne ab. »Jetzt bist nur d u wichtig!«
»Was ist denn mit deiner Freundin? Hat sie etwas ausgefressen?« forschte Warren trotzdem. »Nein, ausgefressen hat sie sicher nichts«, winkte Anne ab. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gladys überhaupt jemals etwas Schlimmes ausheckt. Sie war schon früher immer die Besonnenere… die Bravere von uns beiden. Aber sie scheint sich vor etwas zu fürchten. Und das muß irgendwie mit dem Telefon zusammenhängen, denn als ich heute Nachmittag bei ihr war, und das Telefon läutete, hat sie sich furchtbar erschreckt und hatte offensichtlich solche Angst vor dem eventuellen Anrufer, daß sie nicht gewagt hat, den Hörer abzuheben.« »Das hört sich nach Telefonterror an!« meinte Warren sachlich. »Nein, das allein kann es bestimmt nicht gewesen sein«, widersprach Anne. »Denn wenn es nur das gewesen wäre, hätte Gladys mir bestimmt davon berichtet. Aber sie hat sich strikt geweigert, mir auch nur andeutungsweise den Grund für ihre Angst zu nennen.« Warren schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Du bist doch ihre beste Freundin! Und ich hatte stets den Eindruck, daß ihr beiden immer ein Herz und eine Seele wart und keine Geheimnisse voreinander hättet.« »Das ist es ja gerade, was mir solche Sorgen bereitet!« bekannte Anne. »In all den vielen Jahren, in denen wir nun schon eng befreundet sind, habe ich Gladys noch nie so erlebt! Glaube mir, ich versuche bestimmt nicht, den Teufel an die Wand zu malen, doch irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Ich bin überzeugt, daß sie tief in irgendeiner Patsche sitzt. Ja, ich befürchte sogar, daß ihr Leben bedroht ist!« »Na, na, na«, wehrte Warren beschwichtigend ab. »Ist das nicht ein wenig übertrieben?«
»Ganz gewiß nicht!« verteidigte Anne sich. »Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als das Telefon läutete! Sie wurde kreidebleich und erstarrte förmlich. Und sie weigerte sich strikt, den Hörer abzunehmen. Dabei hätte ihr doch überhaupt nichts passieren können, weil ich bei ihr war. Du wirst mir sicher zustimmen, daß so ein Verhalten nicht normal ist!« »Wenn sie widerliche Anrufe bekommt, ist ihr Verhalten eigentlich völlig normal!« widersprach Warren. »Wie auch immer sich die Sache verhält… man kann Gladys einfach nicht damit allein lassen«, beharrte Anne trotzig. »Aber ich bin ratlos und weiß nicht, was ich tun soll. Deshalb frage ich dich um Rat: Wie soll ich mich verhalten? Und was kann man für sie tun?« »Ich fürchte, solange sie dich nicht ins Vertrauen ziehen will, kannst du nicht viel für sie tun«, erwiderte Warren. Anne hatte plötzlich Tränen in den Augen, und Warren begriff, wie ernst es ihr war und daß es sich hier wahrscheinlich um mehr als um ein paar Widrigkeiten handelte. Er dachte da an einen anderen Fall, bei dem er vor kurzem zu Hilfe gerufen worden war. Man hatte die ganze Sache zunächst für die Ausgeburt einer phantasiebegabten Schauspielerin gehalten, die auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen bemüht war. Doch Kontrollen der Polizei waren sehr lasch gewesen. Zu oberflächlich für jene junge Schauspielerin, denn kurze Zeit später hatte man ihren toten Körper aus der Themse gefischt, und er war auf eine eigenartige Weise präpariert gewesen. Selbstmord hatte also ausgeschlossen werden können! Und auch jetzt sprach einiges dafür, daß es auch in diesem Fall um mehr ging, als um einfachen Telefonterror – so schlimm der auch im Einzelfall sein mochte.
»Ich gebe zu, daß alles hört sich nicht besonders gut an«, räumte Warren zögernd ein. »Es könnte leicht sein, daß Gladys einem Erpresser in die Hände gefallen ist. Immerhin ist sie seit kurzem eine bekannte Autorin, bei der man einiges Geld vermuten könnte.« »Eine Erpressung?« Anne schüttelte den Kopf. »Eine Erpressung halte ich für ausgeschlossen, denn davon hätte Gladys mir bestimmt sofort berichtet. Außerdem hätte sie längst die Polizei eingeschaltet.« »Nicht jeder, der erpreßt wird, schaltet die Polizei ein!« gab Warren zu bedenken. »Leider!« »Wie auch immer sich die Sache verhält, man muß etwas tun!« seufzte Anne unglücklich. »Gladys war so verzweifelt. Man kann sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen!« »Nein, da hast du recht, das kann man wirklich nicht!« pflichtete Warren ihr bei. Anne schmiegte ihren Kopf an Warrens Schulter. »Eigentlich hatte ich dich bitten wollen, mit mir zu ihr zu fahren, weil ich hoffte, du würdest sie zum Sprechen bringen«, bekannte sie. »Aber nun bist du verletzt und hast Schmerzen. Und außerdem ist es beinahe Mitternacht.« »Mitternacht oder nicht«, erwiderte Warren. »Und das mit den Schmerzen ist halb so schlimm. Sollte deine Freundin wirklich in Gefahr sein, würden wir uns ewig Vorwürfe machen, wenn wir jetzt etwas versäumten.« »Ich weiß nicht… wird dir das nicht zu viel werden?« zögerte Anne besorgt. »Ich bin hart im Nehmen«, wehrte Warren ab. »Fahren wir also zu ihr. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn deiner Freundin etwas zustieße, was ich vielleicht durch sofortiges Eingreifen doch hätte verhindern können.« Anne schaute ihn mit strahlenden Augen an. »Du bist einfach wunderbar!« seufzte sie beeindruckt.
Warren überhörte das. »Eine ganz andere Frage ist, ob Gladys uns um diese nachtschlafende Zeit überhaupt noch einlassen wird. Ich fürchte, wenn sie sich schon weigert, den Telefonhörer abzunehmen, wird sie auf unser Läuten erst recht nicht reagieren.« »Ich habe für Notfälle einen Schlüssel für ihre Wohnung«, sagte Anne. »Bisher habe ich ihn zwar noch nie benutzt, doch ich denke, dies ist ein echter Notfall, denn unter Umständen geht es für Gladys sogar um Leben und Tod!« »Na, na, nun übertreibe mal nicht, mein kleiner Watson!« scherzte Warren und küßte sie zärtlich auf die Schläfe.
Während der Fahrt zu Gladys Wohnung versuchte Warren von Anne Genaueres über all das zu erfahren, was sich während ihres Besuchs am Nachmittag abgespielt hatte. Anne schilderte ihm noch einmal in allen Einzelheiten das Verhalten ihrer Freundin. »Und glaube mir, ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, sie sei völlig außer sich gewesen vor Angst«, schloß sie ihren Bericht. »Und zu denken gibt mir vor allem die Tatsache, daß sie den Hörer nicht abgehoben hat, obwohl es ebenso gut ihr Verleger hätte sein können!« »Du hast recht, das ist in der Tat äußerst merkwürdig«, räumte Warren ein. »Andererseits kann es sich bei diesen unerwünschten Anrufen ebenso gut um einen lästigen Liebhaber gehandelt haben.« »So etwas kannst du von vornherein ausschließen!« wehrte Anne entschieden ab. »Dann hätte sie nämlich mich ans Telefon gehen lassen, um ihn abzuwimmeln. Doch als ich ihr angeboten habe, das Gespräch für sie anzunehmen, hat sie es mir strikt untersagt.«
»Na, wir werden ja gleich erfahren, was los ist«, meinte Warren. Doch als sie die Wohnung der Freundin erreichten und läuteten, wurde ihnen nicht geöffnet. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Gladys so spät noch unterwegs sein soll«, sagte Anne besorgt. »Nicht heute! Wenn du sie heute nachmittag gesehen hättest, würdest du mir beipflichten: Sie war kreidebleich und konnte sich kaum auf den Füßen halten. Sie war nur noch ein armseliges Nervenbündel. In so einem Zustand hat sie die Wohnung ganz bestimmt nicht verlassen.« »Vielleicht hat sie sich früh schlafen gelegt und die Klingel abgestellt, weil sie nicht gestört werden möchte«, gab Warren zu bedenken. »Das könnte natürlich sein«, räumte Anne ein. »Doch davon will ich mich selbst überzeugen!« Entschlossen sperrte sie mit ihrem Schlüssel die Haustür auf. Mit dem Lift fuhren sie in die zweite Etage hinauf. »Hoffentlich erschreckt Gladys sich nicht, wenn nachts jemand in ihre Wohnung eindringt!« wandte Warren besorgt ein, als Anne den Schlüssel in das Schloß der Wohnungstür stecken wollte. Anne ließ sich jedoch nicht mehr zurückhalten. Sie sperrte auf und öffnete die Tür. Überall brannte Licht! »Wenigstens schläft sie noch nicht!« meinte Warren. »Gladys!« rief Anne, ehe sie eintrat. »Bitte, erschrick nicht, Gladys! Ich bin es, Anne! Und Warren ist bei mir. Wir machen uns Sorgen um dich und wollen nach dir sehen. Ist alles in Ordnung?« Es kam keine Antwort! »Vielleicht hat sie ein Schlafmittel genommen«, meinte Warren. »Dann könnte sie so tief schlafen, daß sie nicht so leicht aufzuwecken ist.«
Anne hörte gar nicht auf das, was er sagte. »Ein Schlafmittel? Und wieso brennt dann überall das Licht?« Sie schnupperte irritiert. »Irgendwie riecht es hier seltsam!« stellte sie fest. »Riechst du es nicht auch?« Warren war an der Wohnungstür stehen geblieben, aber er ließ seine Blicke forschend umherschweifen. Und er schnüffelte skeptisch. »Ja, du hast recht«, nickte er. »Ich rieche es auch. Da stimmt etwas nicht!« pflichtete er Anne bei, und nun gab er seine Zurückhaltung auf und war auch er bereit, die Wohnung zu betreten, ohne daß Gladys ihn dazu aufgefordert hatte. Überall brannte Licht, doch von Gladys war nichts zu sehen. Das fand auch Warren eigenartig. Anne lief auf die Schlafzimmertür zu und riß sie auf. »Ich bin es – Anne!« sagte sie, während sie mit der Hand nach dem Lichtschalter tastete. »Bitte, Gladys, erschrick nicht!« Das Licht flammte auf, aber von Gladys war nichts zu sehen, und ihr Bett war unberührt! Warren war diskret in der Diele zurückgeblieben, weil er befürchtete, es könnte Gladys peinlich sein, wenn er – und sei es auch nur aus Sorge um sie – in ihr Schlafzimmer stürmen würde. Wie es in unklaren Situationen seine Gewohnheit war, ließ er auch jetzt seine Blicke forschend umherschweifen. Er war nun einmal Kriminalbeamter aus Leidenschaft! Als erstes entdeckte er an einem der Türpfosten einen merkwürdigen Flecken. War es Blut? Es sah beinahe so aus. Warren zog ein Taschentuch und rieb etwas von dem Flecken ab, um die Probe im Labor untersuchen zu lassen. Als nächstes entdeckte er auf dem hellen Dielenteppich eine dunkle Spur, die von einem schmutzigen Schuh zu stammen
schien, aber der Abdruck im Teppich paßte nicht zu einem normalen Schuh. Er war kreisrund, und er war nicht der einzige. Von diesen seltsamen Abdrücken, die aussahen, als stammten sie von hufähnlichen Gebilden, gab es einige! Nach diesem höchst rätselhaften Fund intensivierte Warren seine Nachforschungen und fand im Flor des Teppichbodens eine kurze Schleifspur, die zur Wohnungstür führte! Anne stand unter der Schlafzimmertür. »Gladys ist gar nicht da! Ihr Bett ist unberührt!« sagte sie verunsichert. Eigentlich hatte sie erwartet, daß Warren erwidern würde: Ich habe dir doch gleich gesagt, daß alles in Ordnung ist, aber er nickte und sagte: »Ich weiß! Und ich befürchte, die Sorge um deine Freundin war mehr als begründet. Ich bin froh, daß du mich hergebracht hast. Wo ist das Telefon?« Anne begriff sofort, was diese Frage zu bedeuten hatte, und wurde um einen Schein blasser. »Dann bist du also jetzt auch davon überzeugt, daß sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte?« fragte sie tonlos. Warren deutete mit einer kleinen Geste an, er halte alles für möglich. »Wo ist das Telefon?« fragte er noch einmal, ohne Annes Frage zu beantworten. Sie zeigte stumm auf die Tür zum Wohnzimmer. Warren verständigte seine Dienststelle und bat dringend um Unterstützung. »Meine Kollegen werden gleich hier sein«, sagte er, als er sich Anne wieder zuwandte. »Versuche dich an alles zu erinnern, was zur Aufklärung des Falles beitragen könnte.«
Gladys Bower spürte einen unangenehmen Druck in den Schläfen, und um sich Linderung zu verschaffen, wollte sie sich instinktiv an den Kopf greifen, um die Verspannung mit
kleinen kreisenden Bewegungen zu lockern, wie sie es immer zu tun pflegte, wenn sich diese Beschwerden einstellten. Doch als sie ihre Hände an die Schläfen zu heben versuchte, wurde ihre Bewegung schon im Ansatz abgeblockt. Das fühlt sich ja an wie eine Fessel! dachte sie verstört. Eine Fessel? Nein, das kann doch nicht sein! Wieso sollte ich gefesselt sein? fragte sie sich. Sie versuchte es gleich noch einmal und mußte betroffen feststellen, daß sie sich nicht geirrt hatte. Sie konnte die Hände tatsächlich nicht bewegen, weil sie gefesselt war! An beiden Händen! Diese Erkenntnis war wie ein Schock, aber der Schock mobilisierte zugleich schlagartig ihre Lebensgeister! Es ist nur ein Traum… ein Alptraum! versuchte sie sich zu beruhigen. Ich muß meine Augen öffnen, dann ist der Spuk vorbei! Gladys versuchte die Lider aufzuschlagen und hatte ganz den Eindruck, daß es ihr gelungen sei. Aber trotzdem konnte sie nichts sehen. Es war noch immer stockfinster um sie her. Rabenschwarze Nacht! So sehr Gladys sich auch bemühte, dieses Dunkel zu durchdringen und wenigstens den Schein eines Scheins zu erkennen… es gelang ihr nicht! Also bin ich noch immer gefangen in diesem entsetzlichen Alptraum! dachte sie verzweifelt. Was kann ich nur tun, um ihm zu entkommen? Wie um alles in der Welt kann ich aufwachen? Sie lauschte auf ihren Atem. Er ging schwer und keuchend und so, als laste ein Ziegelstein auf ihrer Brust. Sie unternahm einen erneuten Versuch, ihre Hände anzuheben, um sich von der Last zu befreien, die ihr die Luft abzuschnüren drohte, doch es war nicht möglich. Die Fesseln
an ihren Handgelenken machten jede Bewegung ihrer Hände unmöglich. Eines jedoch begriff Gladys in diesem Moment ganz klar: Sie träumte nicht! Sie war tatsächlich aufgewacht! Und ihre Hände waren neben ihrem Körper mit Bändern fixiert! Sie zerrte heftiger an ihren Fesseln, aber sie konnte sich nicht von ihnen befreien. Sie schnitten sich vielmehr schmerzhaft in ihre Haut. Gladys gab auf – wenigstens für den Augenblick. Durch die ungeheuere physische Anstrengung war sie kurzatmig geworden. Abgesehen davon hatten sich die harten Riemen mit jeder Bewegung schmerzhaft tiefer in die Haut an den Handgelenken geschnitten. Und dieser Schmerz nahm ihr schließlich die letzten Zweifel: Sie hatte keinen Alptraum, sondern war inzwischen hellwach geworden! Und sie war an beiden Händen gefesselt! Diese Erkenntnis verursachte ihr einen solchen Schock, daß ihr der Atem stockte. Das kann doch nicht die Wirklichkeit sein! grübelte sie verzweifelt. Das kann nur ein Alptraum sein! Schlafe ich am Ende doch noch? Drei, vier mühsame Atemzüge lang wartete sie ab, was sich ereignen würde, doch es änderte sich nichts. An ihren Handgelenken brannte der Schmerz, und der Druck, der auf ihrem Brustkorb lastete, schien mit jedem Atemzug zuzunehmen. In einer Reflexbewegung versuchte Gladys die Füße anzuziehen und sich auf die Seite zu drehen, weil sie hoffte, es dann etwas bequemer zu haben. Es ging nicht!! Ihre Fußgelenke waren ebenso fixiert wie ihre Handgelenke und ließen sich nicht bewegen!
»Oh, mein Gott!« stöhnte sie verzweifelt auf. »Wo bin ich hier? Und was ist mit mir?« Als sie ihre eigene Stimme hörte, war ihr endgültig klar, daß sie nicht mehr schlief und nur einen schlechten Traum hatte, sondern dieser Alptraum grauenvolle Wirklichkeit war! Sie versuchte sich zu erinnern, wie sie in diese schreckliche Lage gekommen war, doch ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Nichts! Aber auch nicht der geringste Anhaltspunkt ließ sich aus ihrem Gedächtnis abrufen! Oder gab es da vielleicht doch etwas? Wie durch einen Blitz erhellt, tauchte unvermittelt eine Szene aus dem Dunkel des Vergessens auf: Sie sah, wie sie ihr Wohnzimmer verließ. In Panik! Denn der unheimliche Anrufer hatte sie wieder bedroht. In der Diele war es ihr plötzlich schwindelig geworden, und ihre Füße hatten ihr den Dienst versagt, und dann…? Dann war nichts mehr! Nur noch Finsternis!! Und so sehr Gladys Bower sich auch das Hirn zermarterte, um mehr Licht in dieses mysteriöse Geschehen zu bringen, es gelang ihr nicht!
Die Beamten von Scotland Yard ließen ihren Kollegen nicht lange warten. »Gut, daß Sie kommen!« empfing Warren Mooney sie. »Hier ist zweifellos ein Verbrechen geschehen. Wenn Sie mich fragen, handelt es sich um eine Entführung… vielleicht sogar um einen Mord. – Eine Leiche habe ich bisher allerdings noch nicht gefunden.« O Gott, ein Mord! dachte Anne entsetzt und preßte sich die Faust auf die Lippen, um nicht laut aufzuschreien, denn die
Vorstellung, ihre beste Freundin könnte ermordet worden sein, erschreckte sie bis ins Mark. »Gibt es Spuren?« forschte der Leiter der kleinen Kommission sachlich und zückte sein Notizbuch und seinen Kugelschreiber. »Ich habe erste Spuren sicherstellen können«, referierte Warren Mooney. »Meine Freundin ist bedroht worden!« warf Anne erregt ein. »Massiv bedroht! Ich war heute Nachmittag Zeuge eines Anrufs. Das heißt… Gladys hat den Hörer vor lauter Angst erst gar nicht abgenommen!« »Von wem und in welcher Art wurde sie bedroht?« fragte der Beamte sachlich nach. »Das weiß ich nicht«, bekannte Anne unglücklich. »Gladys… ich meine, Miss Bower, wollte es mir nicht sagen. Aber ich habe miterlebt, wie seltsam sie reagierte, nur weil das Telefon läutete: Sie war bleich vor Schreck, und in ihren Augen stand das blanke Entsetzen. Und obwohl sie heute nachmittag einen wichtigen Anruf ihres Verlegers erwartete, hat sie sich nicht getraut, den Hörer abzunehmen.« »Das ist alles?« Der Beamte verzog die Mundwinkel und schob sein Notizbuch in die Tasche zurück. »Und dafür machen Sie die Pferde scheu? Um diese Zeit?« wandte er sich Warren Mooney ärgerlich zu. »Nein, das ist längst nicht alles!« entgegnete Warren. »Und natürlich hätte ich Sie dafür allein bestimmt nicht alarmiert. Miss Bower ist nicht nur verschwunden, man muß auch davon ausgehen, daß sie die Wohnung nicht freiwillig verlassen hat, sondern unter Zwang… und wahrscheinlich nicht im Besitz ihres Bewußtseins.« Er deutete auf die Spuren, die er inzwischen aufgespürt hatte. »Sehen Sie, da ist Blut! Und dort im Teppich ist eine deutliche Schleifspur! Außerdem gibt es
noch diese beiden merkwürdigen Abdrücke, die mit Sicherheit nicht von dem Opfer stammen können. Sehen Sie mal!« Warren deutete auf die beiden eigenartigen Abdrücke, die er während seiner Recherche entdeckt hatte. »Das sieht ja aus, als handelte es sich um den Abdruck eines Pferdehufes!« sagte sein Vorgesetzter wie aus der Pistole geschossen. Anne hatte seine Bemerkung aufgefangen. »Eines Pferdehufes?« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte denn der Abdruck eines Pferdehufes hier in der Diele entstehen? Meine Freundin ist nicht einmal Reiterin! Abgesehen davon… wie könnte ein Pferd in die zweite Etage gelangen? Mit dem Lift ganz sicher nicht!« Der Mann von Scotland Yard rieb sich das Kinn und wich den fragenden Blicken der anderen aus. Warren trat ganz dicht neben ihn. »Denken Sie das, was ich annehme?« raunte er ihm zu. Sein Vorgesetzter zuckte leicht die Achseln, wiegte den Kopf und meinte dann: »Zumindest kann man es nicht ganz ausschließen.« »Ich finde, die Spuren sind absolut identisch zu denen, die wir neulich in der Wohnung des Mordopfers aus der Themse ge…« Warren brach ab, weil ihm sein Vorgesetzter mit eindringlichen Blicken zu verstehen gab, diese Sache nicht hier und nicht jetzt zur Sprache zu bringen. »Es gäbe da schon eine Erklärung«, meldete sich der andere Kollege zu Wort. Er war für die offizielle Spurensicherung verantwortlich. Sein Vorgesetzter begriff sofort, worauf er anspielte und warf auch ihm einen warnenden Blick zu. »Keine voreiligen Rückschlüsse, Benson!« schnitt er ihm das Wort ab. »Warten wir ab, was die Laboruntersuchungen ergeben.«
»Gewiß, Sir«, murmelte Benson, aber als er einen schnellen Blick mit Warren Mooney tauschte, erkannte er, daß der genauso dachte wie er selbst, es jedoch nur nicht ausgesprochen hatte. Wahrscheinlich hielt er sich mit Rücksicht auf die Freundin des Opfers zurück. Der Mann von Scotland Yard hatte eine Lupe gezogen und untersuchte den Flecken am Pfosten der Wohnzimmertür. »Hmm…« Er rieb sich das Kinn, »das sieht tatsächlich aus wie Blut«, räumte er ein. Und nachdem er auch noch die Schleifspur auf dem Teppich untersucht hatte, machte er ein bedenkliches Gesicht. »Das sind tatsächlich ähnliche Spuren wie…« Er stockte, räusperte sich und wandte sich dann Anne zu. »Ist Ihnen inzwischen noch etwas eingefallen?« fragte er. »Denken Sie gut nach. Jede Kleinigkeit könnte wichtig sein und zur Aufklärung des Falles beitragen.« »Ich weiß!« nickte Anne unglücklich. »Ich habe mir schon die ganze Zeit über den Kopf zerbrochen, doch ich kann Ihnen keinen weiteren Anhaltspunkt liefern. Ich habe heute nachmittag vergebens versucht, mit meiner Freundin über ihr merkwürdiges Verhalten zu sprechen. Sie hat einfach gemauert. – Immer haben wir uns alles anvertraut, schon seit wir Kinder waren, aber heute war nichts aus ihr herauszubringen. Sie wollte einfach nicht mit mir über diese üble Sache sprechen!« »Wissen Sie, ob hier in der Wohnung Ihrer Freundin etwas fehlt?« fragte der Beamte nach. »Soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen kann, fehlt nichts«, antwortete Anne zögernd. »Allerdings habe ich natürlich nicht in ihren Schränken und Schubladen nachgesehen«, gab sie zu bedenken.
»Dann bleibt uns nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, daß die Routine-Recherche uns weiterbringt!« beendete der Mann von Scotland Yard das Gespräch. »Sie können jetzt gehen. Aber wenn Ihnen noch wichtige Fakten einfallen sollten, teilen Sie sie uns bitte mit!« »Natürlich!« murmelte Anne betreten. »Ich hoffe, Sie können meine Freundin schnell aufspüren… lebend!« Der Beamte ließ seine buschigen Augenbrauen, anzüglich auf die Stirn schnellen. »Wir hatten, schon schwierigere Fälle zu lösen«, konterte er, und Anne begriff, daß er sich von ihrer Sorge um die Vermißte ziemlich genervt fühlte. Warren legte Anne mitfühlend den Arm um die Schultern. »Ich bringe dich nach Hause, Liebling. Du und ich können hier jetzt doch nichts mehr bewirken. Lassen wir die Experten ihre Arbeit tun.« Diese Bemerkung versöhnte seinen Vorgesetzten. »Wir tun unser Bestes!« versicherte er noch einmal.
Gladys Bower hatte die Lider weit aufgerissen und ließ ihre Blicke forschend umherschweifen, doch zunächst war alles schwarz in Schwarz. Aber dann wurde sie ganz unvermittelt auf einen merkwürdigen hellen Flecken aufmerksam, der sich an der Wand gegenüber abzuzeichnen begann. Diese Stelle war etwa so groß wie ein Fenster, und die Umrisse wurden allmählich immer deutlicher sichtbar. Offenbar nahm die Helligkeit langsam, aber stetig zu. Gladys starrte zunächst wie gebannt nur auf die heller werdende Fläche. Aber weil ihre Augen an die absolute Dunkelheit gewöhnt waren, konnte sie bald im Schein der sich verstärkenden Helligkeit auch erste Umrisse in ihrer Umgebung erkennen.
Fassungslos stellte sie fest, daß sie sich in einem großen hallenartigen Raum befand. Über ihr war eine niedrige Gewölbedecke, und in eine der Seitenwände waren zwei schmale Nischen eingelassen, in denen sich kleine vergitterte Fenster befanden. Kellerfenster! durchfuhr es Gladys. Befinde ich mich hier in einem Kellergewölbe? fragte sie sich. Aber wieso? Und wie bin ich hierher gekommen? Hält man mich etwa gefangen? Sie zermarterte sich das Hirn, doch sie konnte sich nicht erinnern, wie und weshalb man sie hierher gebracht hatte. Voller Unbehagen ließ sie ihre Blicke durch den Raum schweifen. Ein beklemmender Anblick bot sich ihr dar: Links und rechts von ihr standen einige sehr lange Tische, die sämtlich mit großen weißen Tüchern abgedeckt waren. Und unter diesen Tüchern wölbten sich längliche Gegenstände. Auf einem dieser länglichen Tische lag sie selbst, und auch sie war mit einem großen weißen Tuch abgedeckt. Nur war ihr Tuch wahrscheinlich infolge einer ihrer heftigen Kopfbewegungen verrutscht und hatte ihr Gesicht und vor allem ihren Blick freigegeben. Was für ein furchterregender Raum! dachte Gladys erschaudernd. Wenn es nicht so absurd wäre, könnte man dieses Gewölbe für eine Totenhalle halten. Nein! dachte sie. Es ist keine Totenhalle, es könnte eher ein Sezierraum einer Pathologie sein!! Der Gedanke, in einer Pathologie zu liegen, jagte ihr einen eisigen Schrecken durch alle Glieder und ließ sie erstarren.
Ich bin doch gar nicht tot! dachte sie verzweifelt. Mein Hiersein kann doch nur auf einem entsetzlichen Irrtum beruhen. Ich muß fort von hier! Ich muß fliehen, ehe es für mich zu spät sein wird! Im selben Moment wurde ihr bewußt, daß sie an Armen und Beinen gefesselt war und sich nicht befreien… sie also auch nicht fliehen konnte! Verzweifelt schloß sie für einen Moment die Augen, in der Hoffnung, der ganze furchtbare Spuk könnte auf wundersame Weise verschwunden sein, wenn sie die Augen wieder öffnen würde. Das war er nicht! Ganz im Gegenteil! Der Fleck an der gegenüberliegenden Wand hatte sich inzwischen nicht nur vergrößert, er war auch viel heller geworden, so daß Gladys nur noch mehr erkennen konnte, als zuvor – viel mehr, als ihr lieb war! Sie entdeckte einen Instrumentenwagen! Er stand ganz in ihrer Nähe! Das ließ keinen Zweifel mehr darüber zu, was unter den weißen Tüchern auf den Tischen links und rechts von ihr verborgen war! Diese länglichen Hügel waren Tote, deren Ableben zweifelhaft war und hier in diesem Raum geklärt werden sollte! Aber wenn das Tote sind, dachte sie, wieso bin dann ich hier? Ich lebe doch noch! Oder lebe ich nicht mehr? schoß es ihr durch den Sinn. Wer weiß schon, wie es ist, tot zu sein! Doch niemand! Vielleicht kann man sich nicht mehr bewegen, aber noch denken?
Sie hatte diesen Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, als ein schauerliches Lachen durch den niedrigen Raum hallte und in tausendfachem Echo langsam verebbte. »Du bist nicht tot!« sagte eine unheimliche Stimme. »Du bist schön. Deshalb wollte ich dich lebend!« Die Stimme schien von der Wand gegenüber zu kommen, aber zu sehen war dort niemand! Gladys liefen eisige Schauer durch alle Glieder, und sie duckte sich in panischem Schrecken fester an den lisch, auf dem sie lag. Diese Stimme! dachte sie. Das ist ja die entsetzliche Stimme meines Peinigers! Wie, wenn er mich hierher gebracht hätte? Wie, wenn ich hier in seiner Gewalt wäre? Plötzlich erinnerte sie sich wieder an die unheimliche Gestalt, die in ihrer Diele gestanden hatte, als sie aus ihrer Ohnmacht erwacht war. Ein Monstrum war es gewesen, das keinerlei menschliche Züge gehabt hatte. War sie hier in seiner Gewalt?! »O nein!« stöhnte sie verzweifelt auf. »Etwas so Grausames kann doch der Himmel nicht zulassen!« Sie schloß die Augen, riß sie jedoch gleich wieder auf und starrte voller Angst auf den hellen Flecken an der gegenüberliegenden Wand. Dort zeichnete sich inzwischen das spiegelnde Fenster ganz deutlich ab, und in seinem Rahmen war die furchterregende Gestalt aufgetaucht, die in ihrer Wohnung gestanden hatte, als sie aus einer Ohnmacht aufgewacht war: Aus den breiten Schultern wuchs ein Kopf mit gelblich fahlem Gesicht, das von übergroßen längsgeschlitzten Augen beherrscht wurde. In diesen Augen flackerte ein bläuliches Licht, das sich in kurzen Abständen zu Blitzen bündelte, die in ihre Richtung zielten. Sie bohrten sich schmerzhaft in ihre Augen, so daß Gladys geblendet die Lider schließen mußte.
»Nun siehst du mich noch einmal von Angesicht zu Angesicht!« sagte der Unheimliche mit einer Stimme, die so hohl klang, als würde sie aus Grabestiefe kommen. »Schau mich nur ganz genau an. Ich bin von jetzt ab dein Herrscher, denn du bist hier in meiner Gewalt, und nichts und niemand kann dich daraus erlösen, wenn ich es nicht will! Und ich will es nicht!!« Großer Gott, was für eine grauenvolle Situation! dachte Gladys und hätte sich am liebsten das Laken über den Kopf gezogen, doch sie konnte ihre Hände ja nicht bewegen. Warum passiert gerade mir so etwas? grübelte sie verzweifelt. Was habe ich getan, um dieser Marter ausgesetzt zu sein? Bestimmt wird man mich suchen und auch finden, wollte sie trotzig einwenden, doch ihre Stimmbänder gehorchten einfach nicht. Das Monstrum schien ihre Worte trotzdem aufgenommen zu haben, so als könnte es Gedanken lesen, denn es erwiderte mit vor Erregung verzerrter Stimme: »Niemand wird dich an diesem geheimen Ort suchen. Also wird dich auch niemand hier finden können. Nicht einmal Scotland Yard!« Nach diesen Worten verblaßte die Erscheinung an der Wand sehr rasch, bis sie schließlich ganz verschwunden war und zu hören war nur noch ein unartikuliertes schauerliches Lachen, das in der Ferne verebbte. Gladys kannte dieses unheimliche Lachen nur zu gut von den bedrohlichen Anrufen. Wie sehr hatte sie sich stets davor geängstigt! Aber jetzt war sie diesem Monster völlig ausgeliefert! Wie wird das alles enden? grübelte sie verzweifelt. Niemand ahnt, in welcher Gefahr ich mich befinde! Also wird man auch nicht nach mir suchen!
Ist das mein Ende? Hätte ich doch nur Anne ins Vertrauen gezogen! haderte sie mit sich. Aber das zu bedenken ist jetzt viel zu spät! Als das unheimliche Lachen völlig verklungen war, war auch der helle Fleck an der Wand gegenüber nicht mehr zu erkennen, und in dem unheimlichen Kellergewölbe herrschte wieder undurchdringliche Finsternis. Vergeblich heftete Gladys ihren Blick auf die gegenüberliegende Wand. Es war nichts mehr zu sehen. Der helle Fleck blieb verschwunden! Verzweifelt spürte sie, daß die Kräfte sie wieder verlassen wollten und ihr die Sinne wieder schwanden. Sie bot ihren ganzen Willen auf, um das zu verhindern. Vergebens! Das letzte, was sie noch bewußt wahrnahm, war dieser widerliche, süßliche Geruch, der ihr mit dem nächsten Atemzug lähmend in die Lungen drang. Dann war ihr Bewußtsein wieder ausgelöscht. In der entsetzlichen Situation, in der sie sich befand, war die erneute Ohmacht beinahe eine Gnade!
Dr. James Foster pflegte jeden Morgen einen schnellen Blick in die Zeitung zu werfen, ehe er mit seiner Sprechstunde begann. Er war gern informiert, ehe er seine Patienten empfing. Als er an diesem Morgen die Zeitung zur Hand nahm, fiel sein erster Blick auf das Foto einer Frau, das auf der Titelseite abgedruckt war. Er stutzte, und im ersten Moment glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können. Unwillkürlich zog er die Zeitung näher zu sich heran. Er hatte sich nicht geirrt!
»Gladys Bower, die bekannte Autorin, wird vermißt«, stand unter dem Foto. »Ein Verbrechen kann nicht ausgeschlossen werden. Deshalb bittet Scotland Yard um sachdienliche Hinweise, die zur Aufklärung dieses Falles beitragen können.« Dr. Foster schüttelte betroffen den Kopf. »Das kann doch gar nicht sein!« murmelte er verstört. »Ich habe doch gestern morgen noch mit ihr gesprochen! Wer um alles in der Welt könnte dieser zauberhaften Frau etwas so Entsetzliches antun? Unfaßbar!« Alles in ihm wehrte sich dagegen, die Zeitungsmeldung als Tatsache zu akzeptieren. Vielleicht ist alles nur ein furchtbarer Irrtum, überlegte er. Es wäre nicht die erste Zeitungsente, die für Wirbel sorgt. Und es wäre vor allen Dingen auch nicht das erste Mal, daß ein Verleger oder ein Musikproduzent durch eine geschickt lancierte Horrormeldung einen verkaufsfördernden Effekt zu erreichen versucht. Dann würde sich alles in Wohlgefallen auflösen, sobald die Nachfrage nach ihrem neuesten Roman… Nein! unterbrach der junge Arzt seinen Gedankengang. Diese Version kommt nicht in Betracht! So etwas würde eine Gladys Bower doch nicht mit sich machen lassen! Dazu ist sie viel zu gradlinig und zu aufrichtig. Dr. Foster war persönlich zu sehr betroffen, als daß er diese Zeitungsmeldung einfach auf sich hätte beruhen lassen können. Einerseits hatte sie ihn in große Besorgnis um seine Patientin gestürzt, und andererseits würde es ihn furchtbar enttäuschen, wenn diese Sensationsmeldung der Morgenzeitung sich doch nur als Werbetrick entpuppen würde. Ich muß der Sache auf den Grund gehen! dachte er. Sofort! Entschlossen griff er zum Telefon, wählte die Nummer an, die er auf Gladys Bowers Karteikarte fand und lauschte mit angehaltenem Atem auf das Rufzeichen.
Es läutete dreimal… viermal, und mit jedem Male steigerte sich seine Unruhe noch. Doch gerade als er resignieren und auflegen wollte, wurde am anderen Ende der Leitung der Hörer doch noch abgehoben, und eine knarrende Männerstimme fragte: »Ja… wen möchten Sie sprechen?« Eine Männerstimme hatte James Foster ganz und gar nicht erwartet, und er fragte sich, ob er vielleicht eine falsche Nummer eingegeben hätte! »Oh, verzeihen Sie, ich glaube, ich habe mich verwählt«, entschuldigte er sich betroffen und wollte auflegen. »Sie versuchen, Gladys Bower zu erreichen?« fragte sein Gesprächsteilnehmer. James stockte der Atem. »Ja, allerdings«, bestätigte er zögernd. »Und wer sind Sie?« »Scotland Yard«, kam die Antwort, die James geheime Hoffnung zerstörte, Gladys könnte o.k. sein, weil es sich bei der Zeitungsmeldung um einen Irrtum handelte oder vielleicht doch nur um einen Werbetrick. »Dann… dann stimmt das also, was in der Zeitung…?« murmelte er bestürzt. Sein Gesprächspartner ging darauf nicht ein, sondern sagte: »Wenn Sie Kontakt zu Frau Bower hatten und zur Person Angaben machen können, die uns helfen würden, ihre Spur zu finden, melden Sie sich bitte im Yard. Jeder noch so kleine Hinweis könnte wichtig sein.« »Ich… nähere Angaben… leider nein«, stammelte Dr. Foster. »Einen so engen Kontakt hatte ich nicht zu Frau Bower, daß ich über ihre Gepflogenheiten im Bilde gewesen wäre«, sagte er zögernd. »Sie war meine Patientin, und darüber hinaus habe ich ihr gelegentlich mit einigen Fachkenntnissen ausgeholfen, wenn es in ihren Roman um ein medizinisches Problem ging.«
»Sie sind also Arzt?« hielt der Kriminalbeamte fest. »Und hat Miss Bower sich Ihnen gelegentlich auch in privaten Angelegenheiten anvertraut?« »Wie darf ich das verstehen?« fragte Dr. Foster reserviert zurück. »Sie erwarten doch nicht von mir, daß ich gegen das Gebot der ärztlichen Schweigepflicht verstoße?« Der Beamte räusperte sich unwillig, dann sagte er: »So begreifen Sie doch! Wir tappen im Augenblick noch völlig im Dunkeln. Wir hatten Grund zu der Annahme, daß ein Verbrechen vorliegt – eine Entführung vielleicht. Jeder noch so geringe Hinweis könnte uns vielleicht auf eine Spur bringen. Und je schneller wir Miss Bower auffinden, desto eher besteht die Chance, daß wir sie lebend finden.« James Foster zog vor Schreck die Luft mit offenem Mund in die Lungen. Sein Gesprächsteilnehmer überhörte es nicht und deutete diese Reaktion auf seine Weise. »Also noch einmal! Wenn Sie etwas dazu beitragen können, diesen Fall aufzuklären… wie gesagt… Scotland Yard bearbeitet die Sache und ist für jeden Hinweis dankbar. Guten Tag!« Es knackte in der Leitung. Das Gespräch war beendet. James Foster hielt den Hörer umklammert und drückte ihn erregt an die Brust. »Großer Gott, sie darf nicht tot sein!« murmelte er fassungslos. »Der Himmel kann doch nicht zulassen, daß ein so bezauberndes Wesen wie sie auf so grausame Weise zerstört wird!« Er legte den Hörer zurück auf die Gabel und schob sich die Hand über die Augen. Vor sich sah er das Bild der jungen Frau so deutlich, als betrachtete er ihr Foto oder stehe ihr gegenüber. Und wie von ungefähr stellte sich die Erinnerung an ihre erste Begegnung wieder ein.
Es war vor einigen Monaten gewesen. Gladys Bower hatte wegen einer kleinen Verletzung an der Hand seine Sprechstunde aufgesucht, um sich behandeln zu lassen. Er war von ihrer Erscheinung gleich so fasziniert gewesen, daß er sie um einiges zu lange angestarrt hatte, statt sich um ihre verletzte Hand zu kümmern. Zunächst hatte er nicht geahnt, daß sie die Gladys Bower war. Wer diese junge Frau war, die da zu ihm gekommen war, hatte er erst im Verlauf der Behandlung ganz nebenbei erfahren. »Eigentlich ist meine Verletzung lächerlich unbedeutend, und ich hätte sie ganz gut allein versorgen können«, hatte Gladys wie entschuldigend gesagt und dabei leicht verlegen gelächelt. »Aber wenn ich ehrlich sein darf, ich sah es als einen Wink des Himmels an, als mir vorher das Messer ausgerutscht ist, denn ich brauche dringend den Kontakt zu einem Mediziner, um einiges…« Sie hatte angehalten und verlegen die Zähne in die Unterlippe gebohrt. »Sprechen Sie nur weiter«, hatte er sie lächelnd aufgefordert. Er war von ihrer Art wie verzaubert gewesen und hatte Mühe gehabt, sich das nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Sie müssen wissen, ich schreibe… Geschichten und Romane, und gelegentlich kommen auch Ärzte als handelnde Personen vor«, hatte sie ihm offenbart. »Und wenn es um Medizinisches geht, werde ich immer unsicher. Da ich keinen Fehler machen möchte und andererseits nicht weiß, ob nicht auch gelegentlich Krankenschwestern und andere Leser, die sich mit medizinischen Gegebenheiten auskennen…« Sie hatte wieder verlegen angehalten. James Foster hatte kaum auf das gehört, was sie sagte, sondern wie selbstvergessen in ihre großen hellen Augen geschaut.
Kein Zweifel, Gladys Bower hatte sich von ihm einen gewissen Beistand in Fachfragen erhofft, und er war nur zu gern bereit gewesen, ihr diesen Beistand zu gewähren. Mehr noch! Er hatte dem Himmel gedankt für diese Fügung, denn auf diese Weise war ein Wiedersehen mit ihr vorprogrammiert! »Ach, wie interessant!« hatte er gesagt und ihr sofort begeistert angeboten, die Passagen, in denen medizinisches Wissen gefragt war, gegenzulesen, um sie auf eventuelle Unstimmigkeiten aufmerksam zu machen. Für ein Wiedersehen mit ihr hätte er vieles getan! »Damit wäre mir wirklich sehr geholfen!« hatte Gladys Bower hocherfreut bekannt, und ihm, noch während er ihre Hand verbunden hatte, gleich eine entsprechende RomanSituation geschildert. Durch diesen Umstand hatte sie gut eine halbe Stunde in seiner Ordination verbracht. Die Zeit war einfach wie im Fluge vergangen, denn er war so fasziniert von der jungen Frau, die der Zufall ihm da zugeführt hatte, daß er alle übrigen Patienten vorübergehend glatt vergessen hatte. So etwas war bis dahin noch nie vorgekommen! Noch nachdem er Gladys Bower längst verabschiedet hatte, war der bezaubernde Duft ihres Parfüms um ihn gewesen und hatte ihn ihre Nähe spüren lassen. Seit jener Begegnung vor einigen Monaten hatte es keinen Tag gegeben, an dem er nicht an Gladys Bower gedacht und sich gewünscht hatte, wieder in ihre leuchtendblauen Augen schauen zu dürfen – ihr helles Lachen zu hören und die Wärme ihrer schmalen Hand zu spüren. Zuerst hatte sie ein paar Mal angerufen und nachgefragt, ob sein Beistand gefragt sei, und er hatte stets den Eindruck gehabt, daß sie sich sehr über diese Anrufe freute. Schließlich hatte er sich ein Herz gefaßt und sie zum Essen eingeladen. Zu seiner großen Freude hatte Gladys gleich akzeptiert. Es war ein wundervoller Abend gewesen, und Gladys hatte kein
Geheimnis daraus gemacht, daß auch sie seine Gesellschaft genoß. Noch zweimal hatte James die junge Frau zum Essen ausgeführt, und sie waren einander in langen interessanten Gesprächen sehr nahe gekommen. Von Liebe war zwar nie die Rede gewesen, doch wenn ihre Blicke sich ineinander verfangen hatten, hatte er es deutlich gespürt: Er war ihr nicht gleichgültig! Und dieses Bewußtsein hatte ihn beflügelt und unsagbar glücklich gemacht. Er wußte längst, daß Gladys Bower sein Schicksal war, doch hatte er bisher nicht gewagt, ihr seine Liebe zu gestehen und sie zu bitten, seine Frau zu werden. Was hätte er ihr zu bieten gehabt? Sie war eine erfolgreiche Autorin mit schnell wachsendem Ruhm, er hingegen ein Arzt, der erst vor einem halben Jahr seine Praxis eröffnet und einen riesigen Berg von Schulden für die Einrichtung abzuzahlen hatte. An eine Heirat konnte er also noch lange nicht denken! Deshalb hatte er Gladys auch nicht gezeigt, daß er inzwischen viel mehr für sie empfand als Freundschaft. Denn die Lösung, von ihrem Geld zu leben, bis seine Praxis Gewinn abwarf und ihnen den Lebensunterhalt sicherte, war für ihn völlig undenkbar! Doch nun, da Gladys sich möglicherweise in Lebensgefahr befand, waren die Schranken eingerissen, die er sich selbst auferlegt hatte. Bei der Vorstellung, Gladys einem ungewissen, vielleicht sogar grausamen Schicksal ausgeliefert zu wissen, empfand er geradezu physische Schmerzen. Und dieses Brennen in seiner Brust machte ihm klar, daß Äußerlichkeiten jetzt keine Rolle mehr spielen durften. Es konnte jetzt für ihn nichts Wichtigeres geben, als nach Gladys zu suchen!
Und er mußte sie finden! Lebend! Weil sonst auch sein Leben nur noch ein Schatten sein würde!
Gladys Bower hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Ihre Ohnmacht war in eine Art Dämmerschlaf übergegangen, aus dem sie aufgeschreckt wurde, weil ein eiskalter Luftzug ihr Gesicht traf. Als sie die Augen aufschlug, wußte sie im ersten Moment nicht, wo sie sich befand, denn es war stockfinster um sie her. Erst als sie den eigenartigen Geruch wieder bewußt wahrnahm, stürzte die Erinnerung auf sie ein, und sie erinnerte sich wieder daran, wo sie sich befand. Man hatte sie verschleppt und hielt sie in einem Kellergewölbe gefangen, das offenbar einer Pathologie als Sezierraum diente! Als erstes versuchte sie ihre Hände zu bewegen. Vergebens! Sie war noch immer wie eine Gefangene gefesselt und konnte weder Hände noch Füße bewegen! Welches Schicksal mag mich hier erwarten! grübelte sie. Wenn mich das Monstrum in seine Gewalt gebracht hat, ist wahrscheinlich mein Leben in Gefahr! Ein gespenstisches Kraken und Quietschen drängte sich in ihre Gedanken. Es hörte sich an, als würde eine Tür geöffnet, deren Angeln seit langer Zeit nicht mehr geölt worden waren. Sekunden später folgte das Geräusch einer Tür, die unsanft ins Schloß geschlagen wurde! Gladys zuckte erschrocken zusammen. Es ist jemand hereingekommen! durchfuhr es sie. Unwillkürlich hielt sie den Atem an und lauschte in das Dunkel. Sie nahm ein seltsam schlurfendes Geräusch wahr, das sich anhörte, als schrappten Füße in Schuhen mit schweren
Metallsohlen über einen steinernen Boden. Und mit jedem Schlurfen kam das unheimliche Geräusch näher heran! Gladys war auf einmal hellwach, und die Erinnerung an das Monster, das in ihre Wohnung eingedrungen war, war wieder ganz gegenwärtig. Dieses fremdartige Wesen, das plötzlich in ihrer Diele gestanden hatte, hatte seltsam runde Füße gehabt, die beinahe wie die Hufe eines Pferdes ausgesehen hatten. Lähmendes Entsetzen ließ die junge Frau erschauern. Ihr Atem war blockiert! Vielleicht erlebe ich doch nur einen Alptraum? grübelte sie verzweifelt, denn alles andere wäre doch einfach zu schrecklich! Noch bevor Gladys diesen Gedanken ganz zu Ende gedacht hatte, traf sie erneut ein kalter Luftzug, und als sie daraufhin erschrocken die Augen aufriß, stand die fremdartige Kreatur bereits dicht neben ihr. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es war jenes Monstrum, das in ihre Wohnung eingedrungen war. Es verbreitete ein phosphoreszierendes grünliches Licht um sich, was in der Dunkelheit des Kellergewölbes besonders unheimlich wirkte. Der breite flache Kopf wippte wie auf einem zu dünnen Hals hin und her, und die längsgeschlitzten Augen sprühten grelle Blitze, die das Gewölbe in ein unwirkliches Licht tauchten. Gladys blickte ängstlich nach links und rechts in der geheimen Hoffnung, es könnte sich ihr auf wundersame Weise eine Fluchtmöglichkeit bieten. Dem Monstrum entging es nicht, und es lachte ein hartes bellendes Lachen. »Keine Chance zu entkommen!« hörte Gladys es sagen, dabei hatte es die kleine eckige Öffnung, die sein Mund war, nicht bewegt, und nur die unheimlichen Augen sprühten zuckende Blitze im Takt seiner Sprache, fast wie bei einem elektrisch betriebenen Roboter eines Horrorfilms.
Was wollen Sie von mir? wollte Gladys fragen, doch noch bevor sie Luft geholt hatte, traf sie erneut ein eisiger Luftzug, und vor Angst erstickten ihr die Worte in der Kehle. Erschrocken schweifte ihr Blick zur Tür. Aber nicht sie hatte sich geöffnet, sondern jenes Mauerstück, das sich zuvor in einen leuchtenden Flecken verwandelt gehabt hatte. Und noch bevor Gladys das ganze erfaßt hatte, schwebten auch schon Gestalten in langen weißen Gewändern herein, den Kopf, und vor allem die Gesichter unter eckigen weißen Kapuzen verborgen. Und jede dieser Gestalten hielt eine dicke brennende Kerze in der Hand, die einen ekelhaften süßlichen Geruch verströmte. Die Gestalten schwebten geradewegs auf Gladys zu. Dabei gaben sie fiepsende, sehr hohe Töne von sich, daß Gladys sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, weil sie das Gefühl hatte, ihre Trommelfelle würden zerbersten. Die Gestalten schwebten in ihren weißen Gewändern um den Tisch herum, auf dem Gladys lag und berührten dabei immer wieder mit ihren eiskalten Händen ihr Gesicht, ohne daß sie sich dagegen wehren konnte. Gladys wollte vor Angst und Widerwillen gequält aufschreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt, und sie bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt drückte sie sich ganz fest an die Tischplatte, auf der sie lag und hoffte, der Spuk würde schnell vorübergehen. Vergebens! Es stand ihr noch viel Schlimmeres bevor, denn nachdem die unheimlichen Gestalten sie einige Male tanzend umkreist hatten, zogen sie plötzlich den Tisch, auf dem Gladys festgebunden war, auf seinen Rollen in die Mitte des Gewölbes und begannen ihn hin und her zu schwenken, daß Gladys das Gefühl hatte, ihr Gehirn sei in eine Zentrifuge geraten. Es wurde ihr so schwindelig, daß ihr Blick sich trübte.
Nur undeutlich nahm sie noch wahr, daß sich die Gestalten zu einer gespenstigen Kette formierten, um sie regelrecht einzukreisen. Sie tanzten in ihren weißen Gewändern schwebend um sie herum, – schneller und immer schneller werdend. Dabei beugten sie sich abwechselnd immer wieder tief über sie und berührten mit ihren langen klebrigen Fingern ihr Gesicht. Verzweifelt drehte Gladys den Kopf hin und her, um ihnen auszuweichen. Es gelang ihr nicht! Ihr Herz schlug vor panischer Angst viel zu schnell und so hart gegen die Rippen, daß es unter ihrer Schädeldecke eine Resonanz gab wie von einem Hammerwerk in nächster Nachbarschaft. Aufhören! wollte Gladys betteln, doch dazu kam sie nicht mehr. Es legte sich etwas Schwarzes, Feuchtes auf ihr Gesicht, ein Tuch oder etwas Ähnliches, das ihr ganzes Gesicht abdeckte und ihr vor allen Dingen jede Sicht nahm! Als Gladys in Panik erschrocken nach Luft schnappte, saugte sich dieses Tuch auf ihrem Mund fest und drang in ihre Nasenlöcher, daß sie das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Dann schwanden ihr erneut die Sinne. Im letzten Augenblick hörte sie noch eine Stimme triumphierend sagen: »Jetzt ist sie soweit!« Dann war es Nacht um sie!
James Foster war mit Leib und Seele Arzt. Kranken Menschen zu helfen und ihnen in beängstigenden oder hoffnungslosen Situationen beizustehen, hatte er seit frühester Jugend als seinen Lebenszweck betrachtet. Seit er jedoch erfahren hatte, daß Gladys Bower verschwunden… wahrscheinlich auf verbrecherische Weise entführt worden war, fiel es ihm schwer, sich auf seine Arbeit
zu konzentrieren, und er hatte Mühe, seine Patienten nicht spüren zu lassen, unter welchem seelischen Druck er stand. Er mußte seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um das Gesicht zu wahren und seine Pflicht zu tun. Am liebsten hätte er die Praxis einfach vorübergehend geschlossen und sich ganz auf die Suche nach Gladys konzentriert. Immer wieder zermarterte er sich das Gehirn nach einer Lösung oder einem Ausweg. Er wollte sich nicht damit abfinden, machtlos zu sein und nichts für die heimlich geliebte Frau tun zu können. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, daß den jungen Arzt die Sorgen und Ängste bis in den Schlaf hinein verfolgten und er immer wieder unter regelrechten Alpträumen litt. Immer wieder schreckte er aus diesen bedrückenden Träumen auf und versuchte dann verzweifelt, sie zu deuten, in der Hoffnung, einen Fingerzeig seines Unterbewußtseins zur Lösung des Problems zu bekommen. Aber seine Träume waren wirr und ungereimt, und nichts erwies sich als brauchbaren Hinweis, wo er nach Gladys suchen mußte… wie er sie finden konnte. Auch in dieser Nacht schreckte er wieder aus einem dieser entsetzlichen Alpträume auf und fuhr entsetzt hoch, noch bevor er die Augen geöffnet hatte. Sein Herz raste und schlug hart gegen die Rippen, und er war in Schweiß gebadet. Zielsicher griff seine Hand zur Seite. Sein Zeigefinger drückte auf den Knopf der Nachttischlampe, und es wurde hell im Zimmer. Der Spuk war verschwunden! Ein Alptraum! stellte er erleichtert fest. Es war wieder nur ein furchtbarer Alptraum! Diese Träume werden mich nicht eher loslassen, als bis Gladys gefunden ist! dachte er. Wie könnten sie auch! Ich
grübele Tag und Nacht darüber nach, was mit ihr geschehen sein könnte – frage mich hundertmal am Tag, was ich tun könnte, um sie zu finden und zu retten! So etwas muß ja die Phantasie anregen! Und daß mich diese Phantasien bis in den Schlaf hinein verfolgen, ist auch nicht verwunderlich. Es ist die Stimme meines Gewissens, die mich nicht zur Ruhe kommen läßt! Ich fühle mich für ihr Schicksal irgendwie mit verantwortlich, obgleich ich diese Entführung wahrscheinlich nicht hätte verhindern können. Oder vielleicht doch? Auf keinen Fall darf ich den Dingen einfach ihren Lauf lassen! sagte er sich. Ich sollte einfach mit der konkreten Suche beginnen und darauf vertrauen, daß mein Herz mir den Weg zu ihr zeigt. Oder ist meine Liebe am Ende nicht stark genug? fragte er sich. Er lauschte in sich hinein und spürte den Schmerz in seinem Herzen. Nein, dachte er, meine Liebe zu Gladys könnte nicht stärker sein, als sie ist! Keine Anstrengung und keine Gefahr würden mich davon abhalten, mich für sie einzusetzen, um sie zu retten! Aber wie soll ich das anstellen, solange ich nicht weiß, wo ich sie suchen muß? Wieso läßt mich ausgerechnet in einer so wichtigen Angelegenheit die Stimme meines Unterbewußtseins im Stich? haderte er mit sich. Habe ich mich nicht immer auf diese unbewußten Eingebungen verlassen können? Dabei war es für mich noch nie so wichtig, wie gerade jetzt, zu wissen, was das Richtige ist! Der junge Mediziner ließ sich aufstöhnend auf sein Kopfkissen zurücksinken und schloß die Augen.
Er dachte noch einmal über den furchtbaren Traum nach, aus dem er eben aufgeschreckt war, und plötzlich erschien er ihm gar nicht mehr so wirr und sinnlos zu sein wie eben noch. »Wie, wenn dieser rätselhafte Traum bereits ein Fingerzeig meines Unterbewußtseins gewesen wäre?« murmelte er erregt. Er schluckte, strich sich mit beiden Händen das Haar aus der Stirn und bohrte die Zähne in die Unterlippe. Der Traum war zwar äußerst verwirrend gewesen und schien im ersten Moment aus unzusammenhängenden Passagen zu bestehen, die überhaupt keinen Sinn machten. Andererseits waren ihm deutliche Bilder in Erinnerung geblieben. Er hatte sich in einem merkwürdigen Kellerraum befunden, der ihn entfernt an jenen Sezierraum erinnert hatte, in dem er während seiner Studienzeit einem seiner Professoren assistiert hatte. Und Gladys war auch in seinem Traum vorgekommen! Er hatte ihr Gesicht deutlich vor sich gesehen. Sie hatte ihm bittend die Hände entgegengestreckt und ihn angeblickt, als erhoffte sie sich von ihm die Rettung aus ihrer schrecklichen Zwangslage. So ein Unsinn! schalt James Foster sich. Meine Phantasie geht mit mir durch! Ein Traum ist ein Traum, und nichts weiter als ein Traum! Es wäre gescheiter, noch ein paar Stunden zu schlafen, damit ich morgen früh nicht übermüdet in der Praxis erscheine und meine Patienten in Gefahr bringe, weil ich vor Müdigkeit die Augen nicht aufhalten und keinen klaren Gedanken fassen kann! Der junge Arzt löschte das Licht, zog sich die Steppdecke bis ans Kinn und schloß die Augen. Doch so leicht ließen ihn die Gedanken nicht los. James schlief zwar schließlich wieder ein, doch nur, um den merkwürdigen Traum erneut zu erleben – in kurzen Sequenzen
mehrmals hintereinander, bis der Wecker ihn am frühen Morgen aufschreckte, und es Zeit war, aufzustehen. So eine merkwürdige Nacht habe ich noch nicht erlebt! grübelte der junge Arzt, während er mit heißen und kalten Duschen die Morgenmüdigkeit zu vertreiben suchte. Eigenartige Träume hatte ich ja schon öfter, dachte er. Aber zum ersten Male habe ich immer wieder dasselbe geträumt. Das muß doch einen Sinn haben!
Auch Anne Fieldings konnte in diesen Tagen an nichts anderes denken als an ihre Freundin Gladys Bower, und immer wieder fragte sie sich, ob vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn sie Gladys an jenem verhängnisvollen Nachmittag nicht verlassen hätte, sondern bei ihr geblieben wäre, bis sie sich einigermaßen beruhigt gehabt hätte. Schließlich war ihr die furchtbare Angst der Freundin nicht verborgen geblieben! Dem jungen Polizeibeamten Warren Mooney konnte nicht verborgen bleiben, daß seine Liebste sich im Wesen völlig verändert hatte, seit ihre Freundin entführt worden war. Er wußte, daß ihre Sorgen völlig zurecht bestanden, doch er durfte es ihr nicht bestätigen. Er war von seinem Vorgesetzten angehalten worden, die Angelegenheit zu bagatellisieren. Nur wenige besonders vertrauenswürdige Beamten waren in das interne Wissen von Scotland Yard eingeweiht worden. Und ihn selbst hatte man nur in diesen Kreis einbezogen, weil er durch einen Zufall mit der Entführung befaßt gewesen war. »Ich habe von einem guten Freund einen Tip bekommen«, eröffnete er Anne, um sie auf andere Gedanken zu bringen. »Am Strand hat ein neues Restaurant eröffnet. Sie sollen eine fabelhafte Küche haben. Wenn du mir ein Lächeln schenkst, lade ich dich zum Essen ein.«
Anne blickte ihn verständnislos an. »Wie kannst du nur an Essen und Vergnügen denken, solange Gladys vermißt wird und wir nicht wissen, was mit ihr ist… ob sie überhaupt noch lebt!« Sie hatte plötzlich dicke Tränen in den Augen. Warren zog sie mitleidig in die Arme und schmiegte sein Gesicht an ihr Haar. »Ich wollte nicht gefühllos sein«, versicherte er. »Glaube mir, der Yard unternimmt alles, um deine Freundin aufzuspüren. Doch London ist groß. Und man weiß nicht einmal, ob sie noch hier in der Stadt lebt! Es könnte sein, daß der Entführer sie…« »Wenn ich sie nicht verlassen hätte, wäre bestimmt alles anders gekommen!« fiel Anne ihm aufschluchzend ins Wort. »Ich bitte dich, Liebling, quäle dich nicht mit solchen Gedanken. Hast du mir nicht erzählt, daß Gladys sich, obwohl sie sich vor den Anrufen fürchtete, sie nicht mit dir über die Sache sprechen wollte?« »Das stimmt schon«, schluchzte Anne. »Aber vielleicht habe ich nur nicht hartnäckig genug nachgefragt!« schluchzte Anne verzweifelt. »Vielleicht hat sie auch bemerkt, daß ich ihre Angst übertrieben fand, und hat deshalb nichts sagen wollen. – Aber wie hätte ich denn ahnen können, daß es so entsetzlich ernst war?!« Warren strich ihr zärtlich über das Haar. »Glaube mir, Liebling, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß Gladys eine Entführung bevorstand!« versicherte er. »Auch ich nicht – ein Beamter von Scotland Yard!« Anne blickte mit Tränen in den Augen zu ihm auf. »Du versuchst mich zu trösten. Das ist gut gemeint. Aber es entbindet mich nicht von der Schuld, die ich auf mich geladen habe.« »Du hast dein Bestes getan, mein Schatz«, versicherte Warren. »Vor allen Dingen hast du mich informiert und
überredet, trotz der späten Stunde noch zur Wohnung deiner Freundin zu fahren. Vielleicht hätte Soctland Yard bis heute noch nicht erfahren, daß man Gladys Bower verschleppt hat, wenn du dich nicht von der Stimme deines Herzens hättest leiten lassen.« Anne seufzte und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Aber wir sind zu spät gekommen!« beharrte sie verzweifelt. »Wir sind zu spät gekommen, weil ich wieder einmal dienstlich aufgehalten worden bin«, erinnerte Warren Mooney. »Und weil du in einer Auseinandersetzung mit einem dieser Strauchdiebe verletzt worden bist!« erinnerte Anne. »Und ich kann dir gar nicht genug dafür danken, daß du trotz deiner Verletzung gleich bereit warst, mit zu Gladys Wohnung zu kommen!« Sie schlang ihm die Arme um den Nacken und küßte ihn zärtlich. »Das werde ich dir nie vergessen! Ich stehe tief in deiner Schuld.« Warren küßte ihr die Worte zärtlich von den Lippen. »Und wie wäre es, wenn du ein kleines bißchen von dieser Schuld abtragen würdest, indem du mit einem ausgehungerten Kripobeamten essen gehst?« fragte er schmunzelnd. Da stahl sich ein erstes kleines Lächeln auf Annes Lippen. »Du hast recht, ich schulde dir dieses Essen«, räumte sie ein. »Und da wir Gladys nicht helfen, wenn wir hungrig bleiben, sollten wir uns gleich auf den Weg machen!« schlug Warren vor, und Anne brachte keine weiteren Einwände vor.
Je länger Dr. Foster über seinen immer wiederkehrenden Traum der vergangenen Nacht nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, daß dieser Traum ihm etwas hatte sagen wollen. Eines erkannte er jedoch gleich: Allein und ohne die Unterstützung der Polizei würde er nichts mit seinem Wissen
anfangen können. Er glaubte zwar jetzt zu ahnen, was in etwa mit Gladys passiert war und in welcher Richtung man suchen mußte, doch waren seine Kenntnisse über die örtlichen Gegebenheiten viel zu mangelhaft, als daß eine Spur auf eigene Faust ihn zum Erfolg hätte führen können. Er brauchte die Hilfe der Polizei! Und hatte man ihn nicht während seines Anrufes am Morgen nach Gladys Verschwinden geradezu gedrängt, sich nach besten Kräften an der Suche zu beteiligen und Scotland Yard alles wissen zu lassen, was seiner Meinung nach zur Aufklärung des Falles beitragen konnte?! Glücklicherweise war die Morgensprechstunde nicht so gut besucht wie üblich, so daß Dr. Foster die Praxis pünktlich gegen halb zwölf verlassen konnte. Er hatte noch zwei Hausbesuche zu machen, und danach fuhr er auf direktem Wege zum Yard und bat an der Pforte, den ermittelnden Beamten im Falle Bower sprechen zu können. »Werden Sie erwartet?« fragte der Sergeant mit schnarrender Stimme. »Nein, nicht direkt?« räumte Dr. Foster zögernd ein. »Indirekt allerdings schon. Man hat mich aufgefordert, alles zu melden, was zur Auffindung Gladys Bowers…« »Verstehe!« nickte der Sergeant, tippte eine Telefonnummer ein und berichtete in kurzen Worten, was Sache war. »Verstehe, Sir«, sagte er. »Sofort, Sir!« Er legte auf und wandte sich James Foster zu. »Zweite Etage, Zimmer 7!« schnarrte er. »Der Lift ist außer Betrieb«, fügte er im selben Atemzug an. »Ich bin gut zu Fuß!« versicherte James Foster und eilte von dannen. Er jagte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und atemlos erreichte er das Zimmer mit der Sieben. Aber atemlos war er keineswegs nur vom Treppensteigen, sondern vor allem vor Erregung.
Würde sein Traum dazu beitragen, daß man Gladys Bower aufspüren konnte? Er klopfte an, und von drinnen kam ein militärisch gebelltes »Come in, please!« James Foster drückte entschlossen die Klinke herunter und öffnete die Tür. Sein erster Blick fiel auf einen mit Akten beladenen großen Schreibtisch. Dahinter saß ein Mann mit mürrischem Gesicht, eine goldgeränderte Brille tief auf die Nase geschoben, damit er sowohl nahebei als auch in der Ferne gut sehen konnte. »Dr. Foster«, stellte James sich vor. Der Beamte zeigte einladend auf den Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. »Ich erinnere mich an Ihren Namen. Sie haben am Morgen nach dem Verschwinden Frau Bowers in deren Wohnung angerufen!« »Das stimmt!« bestätigte James. »Und Sie oder einer Ihrer Herren Kollegen haben mich aufgefordert, Sie zu informieren, falls ich mich an etwas erinnern würde, was Ihnen bei der Aufklärung des Falles helfen könnte.« Der Mann von Scotland Yard hob das Kinn leicht an und schloß die Lider zu einem schmalen Spalt. »Ich nehme an, Sie sind hier, weil Ihnen etwas Wichtiges eingefallen ist?« »Das leider nicht«, bekannte James. »Aber ich hatte heute nacht einen seltsamen Traum, der immer wiederkehrte. Und in diesem Traum ging es um Miss Bower. Ich…« »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« fiel ihm der Beamte aufgebracht ins Wort. »Sie kommen hierher, um mich mit Ihren Traumphantasien zu langweilen? Was stellen Sie sich eigentlich vor? Wir leisten hier ernsthafte Arbeit. Außerdem geht es im Fall Bower allem Anschein nach um Leben und Tod. Und da haben Sie die Stirn, hier zu erscheinen und mir Ihre Träume als Lösung anzubieten?«
James Foster hob beschwichtigend die Hände und machte einen Versuch, seinem Gegenüber zu erklären, daß er schon wiederholt Träume gehabt hätte, die ihm bei der Bewältigung schwieriger unlösbar scheinender Aufgaben geholfen hatten. Doch er kam nicht mehr zu Wort. Der Beamte von Scotland Yard sprang erbost auf, zeigte gebieterisch auf die Tür und brüllte: »Scheren Sie sich zum Teufel, wenn Sie nicht riskieren wollen, daß ich Sie wegen groben Unfugs und Verhöhnung der Polizei verhaften und einsperren lasse!« Nach diesem Ausbruch blieb James Foster nichts weiter übrig, als sich zu fügen. Enttäuscht und verzweifelt, weil man seine Absicht so sehr verkannt hatte, verließ er den Yard.
Weder der Beamte noch Scotland Yard, noch Dr. Foster ahnten, daß Gladys Bower eben in diesem Moment wahre Höllenängste durchleben mußte und den Himmel verzweifelt um Errettung anflehte. Von all den schrecklichen Erlebnissen, die die junge Frau seit ihrer Entführung hatte über sich ergehen lassen müssen, war sie inzwischen so zermürbt und geschwächt, daß sie kaum noch Hoffnung auf Rettung hatte. Gladys war sich inzwischen völlig klar darüber, daß es schon eines Wunders bedurft hätte, um sie aus ihrem furchtbaren Gefängnis zu befreien. Und Wunder waren so selten! Ihr Verstand sagte ihr, daß sie auf das Allerschlimmste gefaßt sein mußte. Zwar war sie immer eine Kämpferin gewesen und hatte durch persönlichen Einsatz vieles erreicht, was beinahe unmöglich erschienen war. Und unter anderen Umständen hätte sie mit aller Kraft um ihr Leben gekämpft. Aber wie hätte sie in dieser
Situation um ihr Leben kämpfen können? Sie war an Händen und Füßen gefesselt und konnte sich so gut wie gar nicht bewegen. Außerdem war sie inzwischen sehr geschwächt, weil sie seit ihrer Entführung weder zu essen, noch zu trinken bekommen hatte! Sie hatte bereits Schwierigkeiten, die Augen offenzuhalten und sank immer wieder in einen Zustand, der einer Ohnmacht nahe kam. Und längst hatte sie auch jedes Gefühl für Zeit verloren, denn seit man sie hier in diesem Kellergewölbe gefangen hielt, gab es weder Tag noch Nacht für sie. Als Gladys die Augen nach einer Ewigkeit; wie es ihr vorkam, wieder einmal aufschlug, herrschte in ihrem Gefängnis ein dämmeriges Licht, in dessen Schein kaum mehr als schattenhafte Umrisse zu erkennen waren. Es hatte sich inzwischen nichts für sie verändert. Noch immer lag sie in dem unheimlichen Kellergewölbe, und links und rechts von ihr standen noch immer jene anderen Tische, auf denen unter großen weißen Tüchern etwas verborgen lag, das aussah wie langgestreckte reglose Körper. Wie lange wird es dauern, bis ich so sein werde wie jene dort! Ging es Gladys durch den Sinn. »Nicht mehr lange! Es ist schon bald soweit«, schreckte eine heisere Stimme sie aus ihren Grübeleien auf, als hätte Gladys ihre Gedanken laut ausgesprochen und jemand habe sie mithören können. Als sie entsetzt die Augen aufriß, fiel ihr erster Blick auf die Wand ihr gegenüber. Dort zeichnete sich wieder einmal ein helles Viereck ab, und diesmal zeigte sich in ihm der Kopf jenes Monsters, das sie in ihrer Wohnung überfallen und gekidnappt hatte. Noch bevor Gladys das ganz erfaßt hatte, lenkte ein Geräusch rechts von ihr ihre Aufmerksamkeit auf sich, und voller Entsetzen entdeckte sie ein anderes Monster, das zielstrebig
auf sie zusteuerte. Es sah aus wie der unheimliche Star des Urzeitfilms, den sie vor kurzem gesehen hatte. Es näherte sich mit schwerfälligen, schlurfenden Schritten dem Tisch, auf dem Gladys angekettet lag. Dabei öffnete und schloß es lüstern sein riesiges Maul wie eine Art Krokodil, das seine Beute ausgemacht hat und sich nun darauf vorbereitet, im nächsten Moment zuzuschnappen und sie zu verschlingen. Und daß niemand anders als die angekettete junge Frau sein Opfer sein sollte, verrieten die langen, affenartigen Arme, die das fremdartige Wesen erschreckend zielstrebig und verlangend in ihre Richtung gestreckt hatte. Dabei öffnete und schloß es die übergroßen Krallenhände, als könnte es gar nicht mehr erwarten, endlich zugreifen und sein Opfer verschlingen zu können! Gladys erstarrte vor Entsetzen. Verzweifelt drückte sie sich gegen die Tischplatte, auf der sie lag, und wußte doch, daß es für sie kein Entkommen gab und sie ihrem Schicksal wehrlos ausgeliefert war. Sobald das Ungeheuer nahe genug herangekommen war, beugte es sich über sein Opfer und spreizte gierig die unförmigen Krallenhände. Dabei schmatzte es mit aufgequollenen Lippen, daß Gladys voller Entsetzen der Atem aussetzte. In diesem Augenblick wünschte sie sich nichts mehr als unsichtbar zu sein! »Guter Gott im Himmel, wenn es dich gibt, dann hab Erbarmen mit mir!« flehte sie stumm. Sie wußte, daß sie auf das Schlimmste gefaßt sein mußte. Voller Verzweiflung schweifte ihr Blick zur gegenüberliegenden Wand hinüber, obwohl sie sicher war, daß sie von diesem Monster weder Erbarmen noch ihre Rettung erwarten durfte. Das Monster schien ihre Gedanken zu erahnen. »Sieh dich um!« forderte es Gladys auf, und dabei sprach es wieder, ohne
seinen kleinen quadratischen Mund zu bewegen. Nur der Kopf auf dem viel zu dünnen Hals wackelte heftig hin und her, und aus seinen gespenstischen grünlichen Augen zuckten grelle Blitze, die Gladys blendete. »Bald wirst du ohnedies nichts mehr sehen können und so stumm und steif daliegen, wie die anderen hier!« Diese Androhung war einfach zu viel für Gladys. Sie sank erneut in Ohnmacht!
Dr. Foster war verzweifelt, weil alle Hoffnungen, die er auf die Unterredung mit einem Beamten von Scotland Yard gesetzt hatte, sich ins Gegenteil verkehrt hatten. Und darüber hinaus hatte man ihn wie einen Scharlatan behandelt, der nur versuchen wollte, sich wichtig zu machen, und ihn mit Schimpf und Schande verjagt! Am liebsten wäre der junge Arzt in einen der nahegelegenen Pubs eingekehrt, um seinen Ärger und seine Enttäuschung mit einem Stout herunterzuspülen, doch das mußte er sich versagen. Noch stand ihm die Nachmittagssprechstunde bevor, und es wäre völlig unmöglich gewesen, mit einer Alkoholfahne in der Praxis zu erscheinen! Und auch sonst durfte er sich weder von seiner Sprechstundenhilfe, noch vor den Patienten anmerken lassen, was ihn bedrängte und bekümmerte. Er mußte seine Angst um Gladys und seine Sorge in seiner Brust verschließen. Es blieb ihm nur zu hoffen, daß sein Unterbewußtsein ihm einen deutlicheren Fingerzeig geben würde als in der vergangenen Nacht! Gleich zu Beginn der Sprechstunde betrat eine einfache Frau mittleren Alters seine Ordination, und auch ein weniger engagierter Arzt hätte ihr sofort angemerkt, wie bedrückt sie war. Als Dr. Foster sie bat, Platz zu nehmen, setzte sie sich
schüchtern auf die vorderste Kante des Patientenstuhls, so als sei sie darauf gefaßt, gleich wieder aufspringen und hinauslaufen zu müssen. Ihre Mimik spiegelte ihre innere Erregung deutlich wieder, und ihre eingeklemmten Lippen verrieten dem Arzt, wie schwer sie sich tun würde, über das zu sprechen, was sie hergeführt hatte. Ein weiteres verräterisches Zeichen für ihre seelische Verfassung waren die im Schoß verkrampften gefalteten Hände und der Blick, den sie starr vor sich auf den Boden gerichtet hielt. »Sie machen sich Sorgen um Ihre Gesundheit?« bemühte Dr. Foster sich, seine neue Patientin zum Sprechen zu bewegen. Sie streifte ihn mit einem schnellen unglücklichen Blick und schüttelte den Kopf. »Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, daß Sie nicht hergekommen sind, weil Sie eine Untersuchung möchten?« fragte Dr. Foster verständnislos nach. »Es ist doch wegen… wegen der…«, stieß seine neue Patientin verzweifelt heraus und brach in Tränen aus. »Ich wollte es ja gar nicht tun! Aber sie haben mich dazu gezwungen!« schluchzte sie. »Ich hatte entsetzliche Angst vor dem, was sie mit mir gemacht hätten, wenn ich mich geweigert hätte. Und ich dachte, daß so ein paar Tropfen… die könnten doch nicht so schlimm sein.« Dr. Foster versuchte die unzusammenhängend gestammelten Worte einzuordnen und ihnen einen Sinn abzugewinnen, doch konnte er nicht viel mit dieser Aussage anfangen. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie gewisse Tropfen genommen, die Ihnen nicht bekommen sind?« Er blickte sein Gegenüber forschend an. »Aber nein! Doch nicht ich!« begehrte seine neue Patientin auf. »Die Tropfen waren doch nicht für mich, sondern für
sie… für… Miss Bower!« schluchzte sie verzweifelt. »Ich habe sie ihr immer in den Tee geben müssen!« Dr. Foster war wie elektrisiert. »Miss… Bower?« fragte er und wehrte sich verzweifelt gegen die Erkenntnis, daß es sich um Gladys handelte. »Sie meinen doch nicht etwa Miss Gladys Bower?« fragte er tonlos nach. »Doch!« nickte sein Gegenüber heftig. »Ich war doch ihre Zugehfrau… und ich habe von morgens bis mittags alle Arbeiten gemacht, die angefallen sind. Das fing mit dem Frühstück an.« Vielleicht will sie sich nur wichtig machen! wehrte Dr. Foster die entsetzlichen Gedanken ab, die ihm jetzt durch den Kopf jagten. »Sie behaupten also allen Ernstes, Sie haben Miss Bower Tropfen… in den Tee gegeben, von denen Sie wußten, daß sie ihr schaden würden?« fragte er gepreßt und versuchte den Blick der Frau einzufangen. Sein Gegenüber wich dem durchdringenden Blick des jungen Arztes aus und biß sich auf die Lippen. »Ich bin hergekommen, weil ich weiß, daß Miss Bower doch Ihre Patientin war, und weil ich nicht weiß, was ich sonst tun könnte… und ich habe doch gar nicht ahnen können, was es mit den Tropfen auf sich hatte.« Ihre Stimme erstickte endgültig in verzweifeltem Schluchzen. James Foster brauchte ein paar Atemzüge lang, ehe er ganz begriffen hatte, was ihm diese Frau da soeben mitgeteilt hatte. »Das ist ja unglaublich!« ächzte er außer sich. »Und wieso haben Sie das nicht gleich der Polizei gemeldet?« »Sie haben mich ja nicht gefragt«, schluchzte sie. »Und ich habe ja auch nicht gewußt, daß Sie es wissen müßten. Und deshalb bin ich doch jetzt zu Ihnen gekommen, weil ich weiß, daß Sie bestimmt das Richtige tun werden.«
James Foster hatte das Gefühl, sie packen und in den Boden stampfen zu müssen, doch er beherrschte sich. »Haben Sie wenigstens die Tropfen mitgebracht?« fragte er. »Die hat doch der Mann wieder abgeholt«, schluchzte sein Gegenüber. »Und gesagt hat er, daß ich nun nie mehr zu Miß Bower kommen brauche, weil sie nicht wiederkommt. Und… und… und das hat er so komisch gesagt… und als er gegangen war…« »Wann war das?« unterbrach Dr. Foster sie erregt. »Heute morgen!« schluchzte sie, und nun war es mit ihrer Fassung endgültig vorbei, und sie brach in Tränen aus. »Nehmen Sie sich zusammen!« fuhr Dr. Foster sie unwillig an. »Sie haben eine Menge gutzumachen! Und wahrscheinlich sind Sie der einzige Mensch, der Näheres über den Entführer weiß. Also heraus damit! Ich will alles wissen! Jede Kleinigkeit!« Sein Gegenüber schaute ihn verzweifelt an. »Das ist schon alles!« schluchzte sie. »Wirklich alles!« »Und können Sie den Mann beschreiben?« fragte Dr. Foster trotzdem nach. »Ein Mann eben«, antwortete die Frau achselzuckend. »Es war kein besonderer Mann… einfach ein Mann.« Dr. Foster hätte sich am liebsten auf sie gestürzt und geschüttelt, aber er begriff, daß sie in ihrer Einfalt das Opfer eines gerissenen Verbrechers geworden war, und beherrschte sich. »Gehen Sie jetzt«, sagte er, nachdem er sich mit zwei, drei tiefen Atemzügen wieder unter Kontrolle gebracht hatte. »Und erzählen Sie niemandem, daß Sie bei mir waren und was Sie mir anvertraut haben.« »Ich weiß«, schluchzte die arme Seele. »Ich werde sowieso nie wieder jemandem vertrauen!«
Dr. Foster hatte eine heftige Erwiderung auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. Hätte ich das alles vorhin schon gewußt, hätte mich dieser arrogante Typ von Scotland Yard sicher nicht aus seinem Büro geworfen! dachte er. Aber leider hat es überhaupt keinen Sinn, ihn noch einmal aufzusuchen. Er würde mich gar nicht zu Wort kommen lassen!
Anne Fieldings holte ihren Liebsten gelegentlich am Yard ab, und an diesem Abend hatte sie Glück. Sie wartete nicht vergebens. »Das sollten wir mit einem Essen feiern«, meinte sie. Sie hakte sich bei Warren ein und schmiegte sich verliebt an ihn. »Du hast recht, mein Schatz«, nickte Warren Mooney. »Ich lade dich ein. Und ich weiß auch schon, wohin wir gehen. Es gibt gleich hier in der Nähe ein neues Lokal, und wie ich gehört habe, soll das Essen hervorragend sein.« Es stellte sich heraus, daß sich diese Tatsache bereits herumgesprochen hatte. Das Lokal war mehr als gut besucht. »Es tut mir leid«, bedauerte der Wirt. »Im Augenblick sind wir besetzt. Es ist kein einziger Stuhl mehr frei. Aber in etwa einer halben Stunde werde ich bestimmt einen Tisch für Sie haben. Wenn Sie sich die Zeit so lange mit einem Drink an der Bar vertreiben würden?« »Sicher«, nickte Warren. »Das machen wir. Aber vergessen Sie uns nicht!« »Natürlich nicht!« versicherte der Wirt. Der junge Kriminalbeamte hatte gerade den Aperitif bestellt, als ein Herr hereinkam und sich auf den unbesetzten Barhocker neben ihm schob. Zunächst saß man desinteressiert nebeneinander, bis Anne den Namen Gladys erwähnte und Warren daraufhin sagte: »Ich kann dir versichern, mein Schatz,
im Yard geschieht alles, um ihre Spur zu finden! Ich wünschte nur, man könnte die Presse aus dieser Sache heraushalten. Aber bei einer so bekannten Autorin ist das so gut wie unmöglich.« James Foster schreckte wie elektrisiert auf. »Sie sprechen von Gladys Bower?« platzte er erregt heraus. Warren blickte ihn abweisend an. »Wenn Sie schon unser Gespräch belauschen, sollten Sie wenigstens so taktvoll sein, es uns nicht merken zu lassen.« »Sie mißverstehen mich völlig!« versicherte Dr. Foster leidenschaftlich. »Ich bin ihr Arzt. Aber ich bin nicht nur ihr Arzt. Wir hatten einen sehr freundschaftlichen Kontakt… gelegentlich«, schränkte er ein, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Anne Fieldings spitzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. »Dann müssen Sie dieser… dieser…« »Foster!« stellte James sich vor. »Dr. James Foster.« Anne und Warren tauschten einen schnellen verständigen Blick. »Ich habe heute vergebens versucht, Kontakt zum Yard zu bekommen«, berichtete Dr. Foster erregt. »Aber der Beamte, der diesen Fall bearbeitet, hatte offenbar den Eindruck, ich wollte mich nur wichtig machen. Er hat mich buchstäblich hinausgeworfen. Inzwischen habe ich allerdings Grund zu der Annahme, daß ich doch Fakten kenne, die zur Aufklärung dieses Falles…« Warren war längst klar geworden, daß sein Nachbar ihn nicht aus Sensationslust angesprochen hatte, und lenkte ein. »Verzeihen Sie meine ruppige Art«, entschuldigte er sich. »Aber schließlich konnte ich nicht wissen, daß Sie sich in dieser Angelegenheit so sehr engagieren. Ich bin übrigens Beamter im Yard, und ich bin mit dem Fall Bower befaßt, wenn auch nicht in leitender Funktion.
Mein Name ist Mooney, Warren Mooney«, stellte er sich vor. »Und diese junge Dame heißt Anne Fieldings und ist die engste Freundin der Vermißten. Ihrer Intuition ist es zu verdanken, daß Scotland Yard noch am Abend ihres Verschwindens die Suche aufnehmen konnte.« »Dann habe ich heute nicht nur Pech!« James streckte den beiden mit herzlicher Geste die Hand entgegen. »Ich bin versucht, unsere Begegnung nicht als einen Zufall zu betrachten, sondern als Schicksal. Wir sollten dringend miteinander reden. Aber bitte nicht hier. Ich schlage vor, wir suchen uns ein Plätzchen, an dem man sich ungestörter unterhalten kann als hier.« »Das ist ein hervorragender Vorschlag!« stimmte Warren Mooney ihm sofort zu. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir zu mir«, schlug Dr. Foster vor. »Es ist gleich hier um die Ecke.« Warren und Anne vergaßen das geplante Abendessen und willigten sofort ein.
James Foster führte seine neuen Bekannten in seine Wohnung. »Es ist alles noch ein wenig einfach«, entschuldigte er sich. »Aber ein junger Arzt wie ich, steckt zunächst all sein Geld in die Praxis.« »Ich finde es sehr behaglich hier«, versicherte Anne. Zu dritt saß man im Wohnzimmer des jungen Arztes. An das geplante Abendessen dachte niemand mehr. Zuerst berichtete Anne Fieldings, wie sie auf das seltsame Verhalten ihrer Freundin aufmerksam geworden war. »Und aus lauter Sorge um Gladys sind wir dann nachts noch zu ihrer Wohnung gefahren«, berichtete Warren. »Aber sie war nicht da!« sagte Anne bekümmert.
»Und es fanden sich gewisse Spuren, die mich bewogen haben, sofort Scotland Yard zu verständigen«, berichtete Warren. »Leider ergaben sich untrügliche Anzeichen, die meinen schlimmen Verdacht bestätigten. Aber Gladys war nicht einfach nur verschwunden. Es handelte sich offensichtlich um eine Entführung!« Er hielt seine Schilderung absichtlich allgemein und erwähnte weder den eigenartigen runden Abdruck, den man in der Diele der jungen Frau gefunden hatte, noch die Blutspur an einem der Türpfosten. Zwar mißtraute er dem jungen Arzt nicht, doch er wollte ihn aus der Reserve locken. »Ich habe inzwischen Näheres erfahren«, bekannte James Foster. »Heute Nachmittag erschien nämlich die Haushälterin in meiner Sprechstunde und beichtete unter Tränen, sie habe Gladys seit einer geraumen Weise gewisse Tropfen in den Tee gegeben.« »Tropfen… in den Tee?« Anne schüttelte verständnislos den Kopf. »Wozu denn das?« »Sie ist von einem Mann, dessen Name sie nicht wußte, mit Erpressungen und Drohungen eingeschüchtert worden«, berichtete der Arzt. »Und offenbar haben diese Tropfen bei Miss Bower die Angstzustände bewirkt, von denen Sie eben gesprochen haben.« »Das könnte sein«, räumte Anne zögernd ein. »Gladys hat sich wirklich äußerst merkwürdig verhalten. So habe ich sie noch nicht erlebt!« »Durch Ihre Schilderung erhält mein Verdacht neue Nahrung«, bekannte Warren. »Leider wird meine Theorie bisher von meinem Vorgesetzten nicht in Betracht gezogen.« Er zuckte die Achseln. »Sie ist nicht von ihm, also taugt sie nichts! Dabei bin ich nach Ihrem Bericht fest davon überzeugt, daß diese Sekte hinter der Entführung steckt.«
»Eine Sekte?« James rieb sich zögernd das Kinn. »Das würde allerdings ganz in das Bild passen, das ich mir inzwischen von der Sache gemacht habe!« murmelte er. »Wie bitte?« fragte Warren, weil James zu leise gesprochen hatte. James zog die Unterlippe zögernd durch die Zähne. »Um ehrlich zu sein, ich getraue mich nicht, Ihnen von meiner absonderlichen Theorie zu berichten, nachdem ich bei Ihrem Vorgesetzen heute Mittag so aufgelaufen bin.« Warren beugte sich erregt vor. »Sprechen Sie trotzdem! Gleichgültig, wie absurd das, was Sie zu sagen haben, auch sein mag! Wenn ein Prozeß so festgefahren ist, wie die Suche nach Gladys Bower, sind es manchmal die ungewöhnlichen Ideen, die einen weiterbringen, weil sich einem plötzlich eine ganz neue Perspektive eröffnet.« »Und schließlich wissen wir, daß Sie es nur aus Liebe zu Gladys sagen«, mischte Anne sich ein. »Und für Ihre zukünftige Frau sollten Sie wirklich alles wagen, denke ich!« »Soweit ist unsere Beziehung noch nicht gediehen«, wehrte James Foster verlegen ab. »Bisher ist es nur eine ganz platonische Liebe, denn ein junger Arzt, wie ich, dem die Einrichtung der eigenen Praxis einen beachtlichen Schuldenberg beschert hat, kann nicht daran denken, eine Frau wie Gladys Bower zu heiraten.« Er zuckte bedauernd die Achseln und seufzte melancholisch. »Und so lange muß eben alles nur ein Traum bleiben.« »Gladys hat mir nichts von Ihrer Beziehung erzählt«, sagte Anne. »Aber ich habe trotzdem so etwas vermutet, denn an manchen Tagen benahm sie sich ganz so, wie eben nur verliebte Frauen sich benehmen.« »Lassen wir das auf sich beruhen«, mischte Warren sich ein, um das Gespräch auf die sachliche Ebene zurückzuführen. »Jetzt geht es nur darum, eine Spur zu finden, die zu Gladys
führt. Und so, wie die Dinge liegen, können wir nur beten, daß wir nicht zu spät kommen!« »Sie haben recht«, pflichtete James ihm bei und berichtete von seinen immer wiederkehrenden Träumen während der vergangenen Nacht. Warren Mooney reagierte zunächst äußerst skeptisch. »Höchst ungewöhnlich – dieser Traum!« stellte er fest, als James schwieg. »Kein Wunder, daß mein Boß Sie hinausgeworfen hat!« »Er hat mich ja meinen Traum gar nicht erst erzählen lassen!« verteidigte James sich. »Und abgesehen davon habe ich schon wiederholt seltsame Eingebungen gehabt, die sich wenig später als…« Warren hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut! Schon gut! Ich wollte Sie nicht beleidigen«, versicherte er. »Im übrigen verstehe ich von diesen Dingen nicht viel«, bekannte er. »Aber da Ihre Hinweise alles sind, was wir als Anhaltspunkt haben, und Ihre Theorie zusammen mit diesem Menschen, von dem die Haushälterin gesprochen hat, genau in das Bild paßt, das man sich von dieser neuen Sekte gemacht hat…?« Er zuckte die Achseln. »Und was ist das für eine Sekte?« wollte James wissen. Warren machte nur eine Geste mit den Händen und schwieg. James wollte sich damit nicht zufrieden geben. Er glaubte zu wissen, daß die Zeit drängte. »Nach allem, was ich jetzt weiß, hielte ich es für unverantwortlich, wenn wir uns mit verbalen Spitzfindigkeiten aufhalten würden. Wir müssen handeln! Sofort! Denn keiner von uns würde es sich je verzeihen, wenn wir zu spät kommen würden.« »Sie haben ganz recht!« pflichtete Anne bei.
»Bitte, Liebling!« Sie nahm Warrens Hände und schaute ihn bittend an. »Es muß etwas geschehen! Wie sollte ich je wieder froh werden, wenn Gladys…« Sie brach ab und hatte plötzlich dicke Tränen in den Augen. »Gladys darf nicht sterben!« schluchzte sie verzweifelt. Warren schloß sie in die Arme. »Gladys wird nicht sterben«, versprach er. »Aber Sie werden mir zugeben, daß es nichts bringen würde, wenn wir überstürzt und ohne Plan und Ziel handeln würden«, wandte er sich James zu. James nickte. »In diesem Punkt kann ich Ihnen nicht widersprechen«, gab er zu. »Ich schlage vor, ich bringe dich jetzt zuerst nach Hause«, wandte Warren sich seiner Freundin wieder zu. »Danach fahre ich in den Yard zurück und werde heute nacht alle Fakten sammeln, die uns auf die Spur dieser Verbrecherbande führen könnten.« »Aber Sie melden sich wieder bei mir, sobald Sie etwas herausgefunden haben?« James Foster blickte Warren bittend an. »Darauf können Sie sich verlassen«, versicherte Warren. »Ich bin ziemlich sicher, daß ich bei der Rettungsaktion auf den Beistand eines Arztes angewiesen sein werde.« »Ich bin bereit, was immer Sie von mir erwarten!« Der junge Arzt schüttelte ihm herzlich die Hand. Als er die Wohnungstür hinter seinen Besuchern schloß, hatte er das Gefühl, neue Freunde gewonnen zu haben.
Dr. Foster hatte am nächsten Morgen kaum mit der Sprechstunde begonnen, als seine Sprechstundenhilfe aufgeregt in die Ordination platzte.
»Zwei Herren von Scotland Yard!« flüsterte sie ihrem Chef fassungslos zu. »Sie lassen sich nicht aufhalten und verlangen, Sie sofort zu sprechen.« Jasmine Hunter hatte es noch nicht ganz ausgesprochen, als sich die Tür der Ordination erneut öffnete und zwei Herren unaufgefordert das Behandlungszimmer betraten. Dr. Foster sprang auf. »Ich muß doch sehr bitten, meine Herren!« ereiferte er sich. »Auch Scotland Yard sollte sich an die ungeschriebenen Gesetze von Respekt und Höflichkeit halten.« »Nicht, wenn Gefahr im Verzug ist!« konterte der eine der beiden Beamten. Dr. Foster hatte Mühe, Haltung zu bewahren. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Mrs. Weber«, wandte er sich seiner Patientin zu. »Wenn Sie sich bitte einen Augenblick gedulden würden? Sie sehen ja, diese beiden Herren machen Gebrauch von ihrer Staatsgewalt. Ich bin gleich wieder für Sie da«, versprach er. »Das geht schon in Ordnung, Herr Doktor. Ich…« Die alte Dame erhob sich mühsam. »Ich habe es nicht eilig.« Sie nickte ihm freundlich zu und verließ die Ordination nicht, ohne den beiden Eindringlingen einen mißbilligenden Blick zugeworfen zu haben. »Wir haben in der Wohnung der vermißten Gladys Bower Spuren eines Betäubungsmittels gefunden«, eröffnete man dem jungen Arzt, kaum daß sich die Tür hinter seiner Patientin geschlossen hatte. »Sie waren mit ihr liiert. Also hat sie Ihnen vertraut, und kaum jemand anders hätte eine bessere Möglichkeit gehabt, ihr dieses Mittel beizubringen.« »Aber was reden Sie denn da?« begehrte James Foster auf. »Ich war niemals in Miss Bowers Wohnung. Ich habe sie zwar ein paar Mal zum Essen ausgeführt, aber im übrigen war sie nur meine Patientin.«
»Zum Essen ausgeführt!« griff der zweite Beamte seine Bemerkung auf. »Eine bessere Gelegenheit konnten Sie gar nicht finden, um der jungen Frau das Gift beizubringen. Außerdem stimmt das mit dem ›nur zum Essen ausgeführt‹ nicht. Wir wissen aus sicherer Quelle, daß Sie mit Miss Bower liiert waren.« »Eine Frau mit Erfolg und Vermögen! Und ein armer Schlucker von Arzt, den seine Schulden nachts um den Schlaf bringen!« unterstützte sein Kollege ihn. »Aber Sie hatten offenbar kein Glück bei ihr und haben sich auf Ihre Weise gerächt!« »Denn jemand wie Sie erträgt es nicht, abgewiesen zu werden«, sagte der andere. Sie warfen sich quasi gegenseitig die Stichworte zu. James Foster fühlte sich von der gut vorbereiteten Attacke der beiden Beamten zunächst regelrecht ausgepunktet. »Aber ich habe doch erst aus der Zeitung erfahren, daß Miss Bower vermißt wird«, verteidigte er sich verzweifelt. »Diese Behauptung ist nichts weiter als eine clevere Tarnung«, hielt ihm der Wortführer entgegen. Der andere hatte urplötzlich Handschellen hervorgezogen, und noch bevor James Foster wußte, wie ihm geschah, schnappte sie um seine Handgelenke und setzten ihn matt. »James Foster, Sie sind verhaftet!« schnarrte die Stimme des anderen. »Sie haben das Recht zu schweigen, aber alles was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden.« »Ich bitte Sie, meine Herren, Sie müssen etwas völlig mißverstanden haben«, versuchte James Foster sich zu wehren, doch es nützte ihm nichts. Man hörte überhaupt nicht mehr auf das, was er sagte. »Gehen wir!« Die beiden Beamten drängten ihn zur Tür. Daß er noch seinen Arztkittel trug, störte sie nicht.
James hatte das Gefühl, einen Alptraum zu erleben, aber so sehr er sich auch mühte, er wachte nicht auf. »Kann ich nicht wenigstens noch meinen Anwalt verständigen?« wandte er ein. »Das hat Zeit bis später«, schmetterte der Wortführer ihn ab. Der andere faßte den jungen Arzt beim Arm und führte ihn ab wie einen Schwerverbrecher. Natürlich waren die wartenden Patienten inzwischen aufmerksam geworden. Mit verstörten Gesichtern beobachteten sie, daß der von ihnen so bewunderte Arzt von der Polizei abgeführt wurde. James hätte ihnen gern erklärt, daß es sich um einen furchtbaren Irrtum handelte, der sich bald aufklären würde, doch gab man ihm keine Gelegenheit. »Es wird sich alles aufklären«, versicherte er seiner Sprechstundenhilfe. »Bitte, kümmern Sie sich inzwischen um die Praxis.« Sie wollte ihm versichern, er könne sich ganz auf sie verlassen, doch dazu blieb ihr keine Zeit mehr. Man hatte ihren Chef schon hinausgeführt. Was für ein Glück, daß ich gestern abend Warren Mooney kennengelernt habe! dachte James Foster. Er wird mir glauben, und er wird für mich bürgen. Dann wird man mich wieder freilassen.
Ausgerechnet an diesem Morgen war Warren Mooney nicht erreichbar. Er hatte einen freien Tag, und nachdem er die ganze Nacht über in den Unterlagen von Scotland Yard gewühlt und alles zusammengetragen hatte, was er über Sekten finden konnte, war er in der Morgendämmerung enttäuscht und völlig erschöpft heimgefahren. Nichts von alle dem, was er aufgespürt hatte, hätte in irgend einer Weise Licht in den Fall Bower bringen können.
Jetzt wollte er nur noch schlafen! Deshalb stellte er das Telefon und die Türglocke ab, um nicht gestört zu werden. Wie hätte er auch ahnen können, daß seine Kollegen ausgerechnet den Mann verhaften würden, der seiner Meinung nach am unverdächtigsten war! Dr. Foster wurde gleich zum Verhör geführt. »Wer hätte gedacht, daß wir uns so schnell wiedersehen würden!« empfing ihn ausgerechnet jener Beamte, der ihn gestern wütend aus dem Büro geworfen hatte. »Sie müssen schon früher aufstehen, wenn Sie einem Beamten von Scotland Yard Sand in die Augen streuen wollen!« James mußte im Verlauf dieses Morgens einige hochnotpeinliche Verhöre über sich ergehen lassen, doch dann stellte sich heraus, daß der Verdacht gegen ihn völlig unbegründet war, und man mußte ihn wieder auf freien Fuß setzen. »Ich kriege Sie schon noch!« drohte ihm der Leiter der Fahndungskommission, als er James verabschiedete. »Und dann nagele ich Sie fest! Darauf können Sie sich verlassen!« Warren erfuhr von dieser Verhaftung erst, als er sich gegen Abend telefonisch bei James Foster meldete, um ihm von seiner vergeblichen nächtlichen Suche nach Anhaltspunkten zu berichten. »Es tut mir leid, daß ich nicht zu erreichen war«, versicherte er. »Aber ich fürchte, ich hätte ohnedies nicht viel für Sie tun können, denn dieser Mensch ist auch mir nicht gerade freundlich gesonnen. Ich bin ihm einfach zu unkonventionell. Dabei ist es mir schon ein paarmal gelungen, mit eben diesen unkonventionellen Methoden einen Fall aufzuklären, bei dem er völlig im Dunkeln tappte.« »Dann ist mir alles klar!« versicherte James Foster. »Typen wie dieser Mann können es einfach nicht verkraften, wenn sie nicht immer und überall der Beste sind.«
»Ich hoffe, wir bleiben trotzdem in Verbindung?« fragte Warren Mooney. »Ich bitte sogar darum«, erwiderte James Foster. »Ich bin jetzt mehr denn je davon überzeugt, daß wir es nur zusammen schaffen können.« »Danke für Ihr Vertrauen«, sagte Warren. »Wir bleiben in Verbindung.« »Und bitte verständigen Sie mich, wenn es in diesem Fall neue Erkenntnisse gibt«, bat James Foster. »Darauf können Sie sich verlassen!« versicherte Warren. Dann legte er auf.
Dr. Foster hatte den Hörer gerade aus der Hand gelegt, als sein Telefon erneut läutete. Er glaubte nicht anders, als daß Warren Mooney ihm noch etwas zu sagen haben würde, und hob den Hörer wieder auf. »Ja?« meldete er sich nur. »Spreche ich mit Herrn Dr. Foster?« fragte eine fremde weibliche Stimme. Sie zitterte so sehr, daß James gleich begriff, es ging um einen Notfall. »Ja, am Apparat«, bestätigte er. »Kann ich etwas für Sie tun?« erkundigte er sich freundlich. »Es geht um meinen Bruder«, antwortete die Anruferin und nannte noch immer keinen Namen. »Und es ist sehr dringend. Er läßt Sie bitten, sofort herzukommen.« »Ich nehme an, es handelt sich um einen meiner Patienten?« forschte Dr. Foster. Er pflegte in solchen Fällen die Patientenkarte einzusehen, um vorbereitet zu sein. »Kommen Sie schnell!« drängte ihn die Frau, statt zu antworten. »Die Adresse ist Bakerstreet 20, erster Stock. Bitte, kommen Sie schnell!« wiederholte sie eindringlich. »Ich fürchte, meinem Bruder bleibt nicht mehr viel Zeit, und er will Ihnen unbedingt noch etwas sagen.«
Ehe Dr. Foster darauf etwas erwidern oder weitere Fragen stellen konnte, knackte es in der Leitung. Für Dr. Foster waren Hilferufe nicht ganz ungewöhnlich, wenngleich sie auch selten so dramatisch vorgetragen wurden. Er überlegte nicht lange, griff seine Bereitschaftstasche auf und lief zum Auto. Erst unterwegs machte er sich bewußt, daß die Baker Street außerhalb seines Einzugsbereichs lag. Vielleicht haben sie keinen Kollegen angetroffen, der näher bei praktiziert, dachte er. Das Haus seines Notfallpatienten war leicht zu finden. Die Haustür war zwar nur angelehnt, doch er läutete trotzdem. Daraufhin erschien eine nicht mehr ganz junge Dame in der Diele. Sie war ihm zwar nie zuvor begegnet, doch sie identifizierte ihn offenbar anhand seines Notfallkoffers. »Danke, daß Sie gleich gekommen sind, Doktor!« begrüßte sie ihn. »Helfen werden Sie meinem Bruder nicht mehr können, doch es liegt ihm sehr viel daran, mit Ihnen zu sprechen, ehe er…« Ihre Stimme erstickte, und über ihre Wange kullerten dicke Tränen. Sie wies stumm auf eine der Türen. Als der junge Arzt das Zimmer betrat, sah er trotz des herrschenden Dämmerlichts, daß der Mann dem Tode sehr nahe war. »Ich bin Dr. Foster«, stellte er sich vor. Der Mann nannte seinen Namen nicht. Er winkte ihn nur stumm näher zu sich heran und bedeutete ihm mit einer matten Handbewegung, er möge sich zu ihm auf die Bettkante setzen. Dr. Foster wollte seine Bereitschaftstasche öffnen, um das Stethoskop herauszunehmen, doch sein Patient winkte müde ab.
»Lassen Sie das, Doktor«, hechelte er atemlos. »Und hören Sie mir zu. Ich bin vielleicht der einzige Mensch, der Miss Bower noch retten kann.« James glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. »Miss Bower?« fragte er kopfschüttelnd. »Sie wissen, daß sie entführt worden ist?« fragte sein Patient mit matter Stimme zurück. »Verantwortlich dafür ist die Sekte…« Ein Hustenanfall hinderte ihn daran, den Namen zu nennen. »Oh, mein Gott!!« Dr. Foster legte ihm beschwörend die Hände auf die Schultern. »Ich flehe Sie an, wenn Sie etwas wissen, bitte sprechen Sie!« Der Sterbende verdrehte die Augen vor Qual. Seine Lippen zitterten. In seiner Brust röchelte es. Kein Zweifel, seine Lebensspanne war auf wenige Sekunden zusammengeschrumpft! »Die Adresse! Nennen Sie mir irgendeinen Anhaltspunkt!« bedrängte James Foster ihn verzweifelt. »Bitte, helfen Sie mir diese junge Frau zu retten! Sie darf nicht sterben! Ich liebe sie so sehr!« »Cottenbrix«, kam es tonlos und verzögert von den blutleeren Lippen. Dann fielen ihm die Augen zu, und ein abgrundtiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, ehe sein Gesicht und sein Körper sich entspannten. Dr. Foster überprüfte Herz- und Pulsschlag. Keine Reaktion! Er leuchtete mit seiner Stablampe die Pupillen des Mannes an. Keine Reaktion! Der Tod hatte seine Lippen verschlossen! Wenige Sekunden zu früh! Nun hatte er sein Geheimnis mit ins Grab genommen!
»Warum?« ächzte Dr. Foster. »Warum hat der Himmel das zugelassen?!« Er schob sich verzweifelt die Hände über das Gesicht. Warum nur hat sich alles gegen mich verschworen? grübelte er. Und warum muß eine so wundervolle Frau wie Gladys dieses Schicksal erdulden? Warum um alles in der Welt hat der Himmel ihre Rettung verhindert?! Als der junge Arzt sich erhob und sich umdrehte, stand die Schwester des Toten im Zimmer. »Es tut mir leid, ich konnte nichts mehr für ihn tun«, sagte Dr. Foster bedauernd. »Ich weiß«, nickte sie. »Mein Bruder wollte es auch gar nicht anders. Ich habe ihn heute morgen dazu bringen können, etwas aufzuschreiben, was für Sie von Wert sein könnte.« Sie reichte dem Mediziner einen Umschlag. »Ich hoffe von ganzem Herzen, daß Sie nicht zu spät kommen, um…« Sie stockte und bohrte die Zähne in die Unterlippe, als hätte sie bereits zuviel gesagt. Und ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ das Zimmer. Von Trauer keine Spur! Dabei war er doch ihr Bruder! dachte Dr. Foster. Gedankenverloren kehrte er zu seinem Wagen zurück und fuhr heim. Als er zu Hause die Aufzeichnungen des Toten sichtete, stellte er bekümmert fest, daß er nicht viel damit anfangen konnte. Es blieb ihm nur zu hoffen, daß Warren wußte, was der verschlüsselte Text zu bedeuten hatte.
Es war beinahe Mitternacht, als Dr. Foster seinen Mitstreiter Warren Mooney anrief. »Ich hoffe, Sie haben noch nicht
geschlafen«, entschuldigte er sich. »Aber es sieht so aus, als hätte ich aufregende Neuigkeiten.« »Oh, wenn es so ist, sollten wir das besser nicht am Telefon besprechen«, warnte Warren Mooney ihn. Er war auf einmal wieder hellwach. »Ich komme zu Ihnen, wenn es recht ist.« »Immer!« versicherte James Foster. »Ich erwarte Sie.« Warren Mooney erschien nach einer Rekordzeit. »Wenn ich Pech habe, erwarten mich morgen früh diverse Strafzettel«, sagte er. »Aber Sie haben mich neugierig gemacht. Was ist passiert?« Er blickte den jungen Arzt erwartungsvoll an. »Ihre Andeutung vorhin läßt darauf schließen, daß…« »Ich habe nicht übertrieben!« versicherte Dr. Foster und berichtete von dem Anruf der Fremden und schilderte dann, was sich im Haus dieses Kranken abgespielt hatte. »Das Stichwort lautet Cottonbrix«, schloß er. »Wissen Sie, was das zu bedeuten hat?« »Cottenbrix!« Warren nickte heftig. »Und ob! Wir haben schon seit einiger Zeit die Vermutung, daß es eine neue Sekte mit makabren Praktiken gibt. Aber wir hatten keinen wirklichen Anhaltspunkt.« »Den haben wir jetzt!« James händigte ihm das Schriftstück aus, das ihm die Schwester des Toten anvertraut hatte. Der junge Beamte von Scotland Yard überflog das Vermächtnis des Toten. Er hatte einige Schwierigkeiten, den Text zu entziffern, doch als er zu Ende gekommen war, nickte er. »Phantastisch!« ächzte er. »Das ist die Lösung! Ich kann zwar nicht mit Bestimmtheit sagen, ob wir Gladys Bower dort finden werden, aber immerhin haben wir eine gute Chance.« »Und es ist unsere einzige Chance!« fügte Dr. Foster hinzu. »Sie sagen es!« nickte Warren. »Und wir sollten uns sofort auf den Weg machen. Jede Sekunde kann für Gladys die Entscheidung über Leben und Tod bedeuten.«
James Foster stimmte ihm zu, und wenige Minuten später saßen sie bereits im Auto und fuhren in Richtung Norden. Für Gladys Bower hatte die Zeit längst aufgehört zu existieren. Sie wachte ab und zu aus ihrer Bewußtlosigkeit auf, ohne sagen zu können, wie lange ihr Wahrnehmungsvermögen ausgeschaltet war. – Ja, in manchen Augenblicken fragte sie sich sogar, ob sie noch lebte, oder bereits wie alle die anderen, die in diesem grauenhaften Gewölbe gefangen gehalten wurden, gestorben sei. Inzwischen war sie so geschwächt, daß ihr nicht einmal mehr die Kraft geblieben war, verzweifelt zu sein oder sich zu fürchten. Sie war in Apathie gefallen und hatte sich in ihr unabwendbares Schicksal gefügt. Was auch immer auf sie zukommen mochte, sie war auf alles gefaßt. Als nach einer langen Periode der absoluten Dunkelheit plötzlich ein grelles Licht in ihrem Gefängnis aufflammte, glaubte sie im ersten Moment, eine Höllenglut zu erleben. Schmerzgepeinigt kniff sie die Lider zusammen und wandte das Gesicht ab, aber das nützte nicht viel, denn diesmal war es überall hell. »Gladys!« hörte sie wie von weit her jemanden ihren Namen rufen, aber es war ihr unmöglich, die Stimme zu identifizieren. Sie zitterte vor Angst wie Espenlaub, denn sie glaubte nicht anders, als daß sie die Hölle erreicht habe und nun aufgerufen wurde, weil man sich mit ihr befassen wollte. »Gladys!« wiederholte die Stimme, und eine Hand legte sich ihr auf die Schulter. »Ich flehe Sie an, schlagen Sie die Augen auf, Gladys! Und sehen Sie mich an!« Gladys lauschte der Stimme nach. Sie hörte sich gar nicht furchterregend böse an, sondern eher besorgt, geradezu liebevoll.
Vielleicht bin ich doch nicht in der Hölle? zweifelte Gladys. Wie, wenn alles nur ein entsetzlicher Alptraum gewesen wäre, aus dem mich jemand aufwecken möchte? Oder ist vielleicht ein Wunder geschehen, und jemand ist gekommen, um mich zu retten? Sie blinzelte vorsichtig und blickte in ein Gesicht, das ganz besorgt ausschaute und nur Liebe widerspiegelte. »Gladys! Erkennen Sie mich?« fragte der Mann. Gladys hatte zwar den Eindruck, dieses Gesicht zu kennen, doch konnte sie es nicht einordnen. James Foster sah es ihr an. »Mein Name ist Foster«, half er ihrem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge. »Dr. James Foster. Ihr Arzt.« Während er es sagte, war neben seinem ein zweites Gesicht aufgetaucht. »Und ich bin Warren… Warren Mooney«, sagte der Kriminalbeamte. »Erinnern Sie sich an mich?« »Warren?« murmelte Gladys verloren. Hinter ihrer Stirn herrschte gähnende Leere. Aber soviel hatte sie erfaßt: Diese beiden Männer meinten es gut mit ihr. Sie waren ihre Rettung! »Was ist mit mir?« stöhnte sie verzweifelt und blickte unsicher von einem zum anderen. »Es wird alles wieder gut«, versicherte James Foster. »Der Krankenwagen wird gleich hier sein. Dem Himmel sei Dank, daß wir nicht zu spät gekommen sind!« Gladys erkannte allmählich, daß sie ihren Sinnen wieder trauen konnte, und begriff, daß ein Wunder, um das sie den Himmel angefleht hatte, tatsächlich geschehen war: Diese beiden Männer waren gekommen, um sie zu befreien! Sie wollte ihnen die Hände glücklich und dankbar entgegenstrecken, wollte nach ihnen greifen, um zu spüren, daß sie keine Hirngespinste waren, die ihre angegriffenen Sinne ihr vorgaukelten, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, doch die Fesseln hinderten sie daran, sich zu bewegen.
»Meine Hände!« stöhnte sie. »Und meine Füße!« James schlug das Laken zurück und entdeckte die Fesseln. »Oh, mein Gott!« ächzte er erschüttert, denn die Ketten hatten bereits zu Verletzungen geführt. Als versierter Kriminalbeamter hatte Warren Mooney stets einen Bund mit Dietrichen dabei, und ihm gelang es, die Schlösser der Fesseln zu öffnen. Dann war Gladys frei! Endlich! James Foster ließ es sich nicht nehmen, sie auf seinen Armen zum Krankenwagen zu tragen, und er begleitete sie auch zur Klinik. Selbst als sie bereits versorgt war und in einem behaglichen Zimmer der Genesung entgegenschlief, trennte er sich noch immer nicht von ihr. Wie ein Wächter saß er an ihrem Bett und ließ keinen Blick von ihrem Gesicht! Erst als gegen Morgen Warren Mooney erschien, und sich erbot, während der nächsten Stunden die Wache zu übernehmen, entschloß James Foster sich schweren Herzens, heimzufahren. In der Obhut versierter Ärzte erholte Gladys Bower sich verhältnismäßig schnell von der furchtbaren Tortur, die man ihr in Cottenbrix zugefügt hatte. Mit jedem Tag gelang es ihr ein wenig mehr, all die schrecklichen Erinnerungen zu verdrängen und sich auf die Zukunft zu freuen, denn seit ihrer wunderbaren Errettung wußte sie, daß sie von treuen Freunden umgeben war, die sich gerade in der Not so sehr bewährt hatten. Mehr noch! Der Mann, dem sie insgeheim seit einigen Monaten sehr zugetan war, und der ihr während dieser Zeit zwar seine Sympathie gezeigt, sich im übrigen aber sehr reserviert verhalten hatte, hatte ohne zu zögern sein Leben für sie eingesetzt, um sie aus einer dramatischen Notlage zu retten! Wieviel mußte sie ihm bedeuten!
Hätte das Schicksal sie für all die ausgestandenen Ängste und Qualen besser belohnen können als mit dieser Erkenntnis?
In den folgenden Wochen verging kein Tag, an dem Dr. Foster nicht in der Klinik erschienen wäre, um sich persönlich nach Gladys Befinden zu erkundigen und sich von ihren Fortschritten zu überzeugen. Und jedesmal brachte er ihr Blumen. Von Mal zu Mal hoffte Gladys mehr, es würden Rosen sein, doch es waren Veilchen und Vergißmeinnicht, Tulpen und Maiglöckchen, aber Rosen waren es nie! Dabei glaubte Gladys immer wieder deutliche Zeichen zu entdecken, die ihr verrieten, daß er nicht nur als Arzt und Freund zu ihr kam, sondern sehr viel mehr für sie empfand. Drei Wochen nach ihrer Befreiung konnte Gladys Bower aus der Klinik entlassen werden. Die Sektenanhänger, die sie so sehr gepeinigt hatten, saßen inzwischen allesamt hinter Schloß und Riegel und erwarteten ihren Prozeß. Doch verschonte man Gladys weitgehend mit einschlägigen Nachrichten, um nicht durch die Erinnerung an die furchtbarste Zeit ihres Lebens ihre Genesung zu gefährden. Aus demselben Grund hatten ihre Freunde sich in der Zwischenzeit um ein neues Zuhause für Gladys gekümmert, damit sie bei ihrer Entlassung nicht in ihre alte Wohnung zurückkehren mußte, wo alles sie immer wieder an den Beginn der schrecklichsten Zeit ihres Lebens erinnert hätte. Anne Fieldings hatte in Gladys Namen ein Haus gemietet und es nach ihren Wünschen weitgehend für sie eingerichtet. Dorthin brachten die Freunde Gladys. »Ihr seid wunderbar!« rief sie nach einer ersten schnellen Besichtigung aus. »Wer kann schon solche Freunde sein eigen nennen? Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll!«
»Ich bitte dich, Gladys, was sagst du denn da?« wehrte Anne ab. »Unser schönster Dank ist doch, daß du wieder gesund bist! Wenn wir dich verloren hätten…« Ein warnender Blick des jungen Arztes ließ sie stocken. »Wie wäre es, wenn du bei unserer Hochzeit Annes Brautjungfer wärst?« lenkte Warren Mooney ab. Gladys schaute ihn überrascht und erfreut an. »Ihr werdet heiraten? Das ist eine wunderbare Nachricht!« freute sie sich und wandte sich Anne zu. »Selbstverständlich wird es mir eine Ehre sein, deine Brautjungfer…« Sie stockte, denn unversehens war ihr Blick abgeschweift und hatte sich in dem des jungen Arztes verfangen. Rosen hatte er ihr noch immer nicht gebracht. Und von Liebe gesprochen hatte er auch noch nicht. Gladys dachte in diesem Augenblick an Warrens Warnung. »Er liebt dich abgöttisch«, hatte er ihr vor einigen Tagen versichert. »Aber eben deswegen wird er dich noch in Jahren nicht fragen, ob du seine Frau werden willst, – und das nur, weil du die berühmte Schriftstellerin bist und ein dickes Bankkonto hast, während er noch viele Jahre lang die Schulden für seine Praxiseinrichtung abbezahlen muß.« Warren hat recht, dachte sie. Und wenn ich diesen besonderen Augenblick nicht nutze, werde ich bis zum Sankt Nimmerleinstag auf mein Glück warten müssen! Sie atmete tief ein, als wollte sie sich voll Mut pumpen, und dann sagte sie: »Ich glaube, ich hätte da noch eine bessere Idee! Wie wäre es, wenn wir vier eine Doppelhochzeit feiern würden?« »Das wäre großartig!« rief Anne und klatschte freudig überrascht in die Hände. »Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen.« Warren dachte: Na, endlich! Er streifte den Freund mit einem schnellen Blick. Hoffentlich begreift er, daß das seine einzige
Chance ist, glücklich zu werden, und springt jetzt über seinen Schatten! »Ich muß schon sagen, ich ehrlich gesagt auch nicht«, schloß er sich Anne an. »Immerhin sind wir durch die brisanten Ereignisse der jüngsten Vergangenheit auf eine ganz besondere Weise miteinander verbunden.« Aller Augen richteten sich forschend auf James Foster. Würde er endlich die entscheidende Frage stellen? Gladys wartete mit klopfendem Herzen darauf und konnte vor Erregung kaum noch atmen. James machte eine kleine verlorene Geste mit den Händen. »Ich würde jederzeit wieder mein Leben für dich einsetzen«, versicherte er Gladys. »Aber heiraten werde ich dich noch lange nicht können, weil die Umstände mir keine Möglichkeit…« Er brach ab und senkte den Kopf. Man sah ihm an, wie verzweifelt er war, und wieviel Kraft ihn diese Entscheidung kostete. In diesem Moment begriff Gladys endgültig, daß sie noch viele Jahre auf ihr Glück würde warten müssen, wenn sie nicht auf Warrens Rat hörte und jetzt die Initiative ergriff! Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, trat dich vor James hin und legte ihm die Hände auf die Brust. Sie blickte zu ihm auf und fing seinen Blick ein. »Und wenn ich dich von ganzem Herzen bitten würde, mein Mann zu werden, Freud und Leid mit mir zu teilen… bis an das Ende unserer Tage… würdest du einwilligen?« In den Augen des engagierten jungen Arztes leuchtete es auf. »Ja!« seufzte er überwältigt vor Glück. »O ja! Das würde ich lieber als irgend etwas sonst! Und ich würde dich auf Händen tragen, dich behüten und beschützen, und nichts wäre mir wichtiger, als dich glücklich zu machen.«
»Na, endlich!« seufzte Warren. Er legte Anne den Arm um die Schultern. »Ich glaube, im Augenblick sind wir hier völlig überflüssig«, raunte er ihr zu und führte sie hinaus.