Tatjana Schönwälder-Kuntze · Katrin Wille · Thomas Hölscher George Spencer Brown
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Tatjana Schönwälder-Kuntze · Katrin Wille · Thomas Hölscher George Spencer Brown
Tatjana Schönwälder-Kuntze Katrin Wille · Thomas Hölscher
George Spencer Brown Eine Einführung in die „Laws of Form“ 2., überarbeitete Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 1998 1. Auflage November 2000 (erschienen im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden) 2., überarbeitete Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16105-1
Vorwort zur zweiten Auflage
Es sind ein wenig mehr als vier Jahre vergangen , seit wir die erste Auflage fertiggestellt haben, urn mit einem ersten detaillierten Textkommentar die Laws of Form einem breiteren Publikum zuganglich zu machen. Dass uns das gelungen ist, zeigen sowohl die zahlreichen Reaktionen von Kollegen aus verschiedenen Disziplinen, als auch der Urnstand, dass die hohe erste Auflage bereits vergriffen ist. Wir haben aile Teile des Buches einer kritischen Prilfung unterzogen, wobei sowohl die einleitenden Texte als auch die Kommentare im Wesentlichen denen der ersten Auflage entsprechen. Bei der Uberarbeitung haben wir darauf geachtet, den (Lehrbuch-)Charakter des Buches zu erhalten , so dass wir vor allem stilistische Mangel behoben und - wo notig - minimale Erganzungen hinzugefugt haben. 1m Gegensatz dazu haben wir den letzten Teil - IV. Anwendungen und Deutungen - erheblich erweitert : Nicht nur wurden die Artikel I V.C Philosophie und I V.D Niklas Luhmanns Systemtheorie umfassend liberarbeitet und erganzt, sondem es ist auch ein neuer Artikel: IV.E Form und Geschl echterunterscheidung hinzugekommen. Daran lasst sich im wahrsten Sinne des Wortes ablesen, dass die Arbeit an den Laws ofForm mit der Erstellung der ersten Auflage fur uns keinesfalls beendet war, sondem dass die intensive Auseinandersetzung den Grundstein fur Anwendungen in unseren eigenen Forschungen gelegt hat. Leider konnten wir fur die zweite Auflage die neue Ausgabe der Laws of Form, die Ende 2008 erscheint, nicht mehr angemessen berlicksichtigen, so dass sich unsere Referenzen im Text auf die englische Ausgabe von 1994 beziehen. An dieser Stelle sei Galia Assadi fur viele kritische und konstruktive Anmerkungen bei der Uberarbeitung gedankt. Ebenso gilt ihr und Kathrin Schlierkamp unser Dank fur die tatkraftige Unterstlitzung bei der Erstellung eines druckreifen Typoskripts - wie immer ware es ohne Hilfe nicht gegangen! Auch danken wir wiederum der Ludwig-Maximilians-Universitat Munchen , die im Rahmen des Mentorinnen-Programms Gelder zur Erstellung der zweiten Auflage zur Verfugung gestellt hat. Munchen im Oktober 2008
Tatjana Schonwalder, Katrin Wille und Thomas Holscher
Danksagung der ersten Auflage
Das vorliegende Buch ist das Ergebnis langjahriger, intensiver, manchmal auch notwendigerweise ruhender Forschungen des AutorInnenteams zu den Laws of Form Spencer Browns. Dem geistigen Austausch, den vie len Anregungen, den Ansatzen zum Weiterdenken und den kritischen Erwagungen haben wir es zu verdanken, dass wir diese Arbeit auf den Weg und zu einem vorlaufigen Ende .bringen konnten. Fur die Initialzundung unserer Forschung und fllr viele, viele Interpretationsvorschlage, Handreichungen und Bruckenschlage zu anderen philosophischen Denkem des 20. Jahrhunderts danken wir vor allem Matthias Varga von Kibed. Unter dessen Leitung fand ein sechsjahriges, interdisziplinar besetztes Forschungscolloquium zu den Laws ofForm statt, an dem neben unserem Team der Mathematiker Peter Schuster, die Mathematikerin und Logikerin Julia Zink , der Theologe und Philosoph Holm von Egidy und die Philosophin Susanne Kessler regelmafiig teilgenommen sowie intensiv und kontrovers diskutiert haben. Ihnen allen danken wir von ganzem Herzen fur die tiefgehenden Diskussionen und zahlreichen Klarungen. Fur die undogmatische Haltung seinen Schulem gegenuber und die Aufforderung, mit Spencer Brown eigene und neue Wege zu gehen, wollen wir Matthias Varga von Kibed ganz besonders danken. Gerustet mit vielen Einsichten aus diesem Munchener Kreis haben Tatjana Schonwalder und Katrin Wille im Sommer 2002 ein Proseminar zu Spencer Brown angeboten, das sich zu einem funfsemestrigen Textexegese-Serninar entwickelt hat, an dem hoch engagierte und vielfaltig interessierte Studierende vieler Disziplinen teilgenommen haben. Auch diesen wollen wir fur ihre Geduld und ihre Bereitschaft, mit dem AutorInnenteam sogar ein Wochenende im Kloster auf der Fraueninsel (Chiemsee), abgeschieden von allen storenden Einflussen, zu verbringen, unseren tiefen und aufrichtigen Dank aussprechen. Dieser gilt insbesondere Christine Bruckmeier, lise Daiber, Volker Krux, Stephan Packard, Florian Prittwitz und Mechthild Schreiber fur ihren unermudlichen Einsatz und die unzahligen, sehr guten Beitrage, Hinweise und Denkanregungen. Stephan Packard haben wir nicht nur fur engagiertes Mitdenken bei der Entstehung der Interpretation zu danken, sondem insbesondere auch fur seine kritische Lekture des Manuskriptes, die wiederum mit vielen Anregungen - und Zuspruch - einher ging. SchlieBlich gilt unser Dank Karl-Georg Niebergall, der an vielen Stellen zur Klarung der Gedankengange beigetragen hat. Zuletzt sei
7
noch der Ludwig-Maximilians-Universitat Mtmchen fur die finanzielle Unterstutzung gedankt.
Mtmchen im August 2004 Thomas Holscher, Tatjana Schonwalder, Katrin Wille
Inhalt
Vorwort zur zweiten Auflage
5
Danksagung der ersten Auflage
6
I. Einleitung
11
II. Kontexte und Architektur der Laws of Form
23
II.A Kontexte der Laws of Form
23
Katrin Wille und Thomas HOlscher
n .B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
.45
Tatjana Schonwdlder-Kuntze
III. Kommentar zu den Laws of Form O. Kapitel : Womit der Anfang gemacht wird
63 64
Katrin Wille
Das erste Kapitel: THEFORM Tatjana Schonwdlder-Kuntze und Katrin Wille
67
Inhalt
9
Das zweite Kapitel : FORMS TAKEN OUT OFTHE FORM
87
Katrin Wille und Thomas Holscher
Das dritte Kapitel : THECONCEPTION OFCALCULATION
113
Tatjana Schonwiilder-Kuntze
Das vierte Kapitel: THEPRIMARY ARITHMETIC
120
Tatjana Schonwdlder-Kuntze
Das ftinfte Kapitel: A CALCULUS TAKEN OUT OFTHE CALCULUS
133
Tatjana Schonwdlder-Kuntze
Das sechste Kapitel : THEPRIMARY ALGEBRA
140
Tatjana Schonwalder-Kuntze
Das siebte Kapitel: THEOREMS OFTHE SECOND ORDER
149
Tatjana Schonwdlder-Kuntz e
Das achte Kapitel: RE-UNITING THE TWO ORDERS
154
Tatjana Schonwdlder-Kuntze
Das neunte Kapitel: COMPLETENESS
166
Katrin Wille
Das zehnte Kapitel : INDEPENDENCE
171
Katrin Wille
Das elfte Kapitel: EQUATIONS OFTHE SECOND DEGREE
174
Katrin Wille
Das zwolfte Kapitel : RE-ENTRY INTO THE FORM
194
Tatjana Schonwdlder-Kuntze
IV. Anwendungen und Deutungen IV.A Appendizes zu den Laws of Form
207 211
Tatjana Schbnwdlder-Kuntze
IV .B Mathematik, Logik, Naturwissenschaft Thomas HOlscher und Katrin Wille
223
10
Inhalt
IV.C Philo sophie
235
Tatjana Schonwdlder-Kunt ze
IV.D Niklas Luhmanns Systemtheorie
257
Thomas HOlscher
IV.E Form und Geschlechterunterscheidung
273
Katrin Wille
IV.F Praxis der Unterscheidung
287
Katrin Wille
V. Literaturverzeichnis
301
VI. Register
315
Sachregister
315
Namen sregister
320
Angaben zu den AutorInnen
323
I. Einleitung
Die Laws of Form haben vor allem durch zwei Wendungen in vielen verschiedenen Disziplinen ,Bertihmtheit' erlangt: Durch die Anweisung: Draw a distinction und durch den Ausdruck Re-entry bzw. durch das, was er - vermeintlich bedeutet. Weniger bekannt als diese Wendungen sind aber der Text und vor allem die Gedankengange der Laws of Form selbst. Deshalb ist es an der Zeit, den gesamten Text vorzustellen und damit den gedanklichen Kontext zu liefem, in den die vielzitierten Wendungen eingebettet sind. Das Kernstuck dieser Einfiihrung ist ein Kommentar aller zwolf Kapitel der Laws of Form, mit dem wir das Ziel verfolgen, den Gedankengang des Textes durchsichtig zu machen, indem wir ihn kommentieren und kontextualisieren. Die Perspektive, aus der unser AutorInnenteam diese Einfuhrung schreibt, ist eine philosophische. Unser Hauptinteresse liegt darin, die Laws of Form als begriffliche Arbeit am Unterscheidungsbegriff und dem daraus resultierenden Formbegriffzu analysieren, urn so ein angemessenes Verstandnis fur den Kalkul des Hinweisens zu entwickeln. Das heiBt nicht, dass damit die Laws of Form, die von Spencer Brown seiber als Mathematik beschrieben worden sind, einfach in eine andere Disziplin versetzt werden sollen. Vielmehr befragen wir philosophisch beispielsweise die besondere Gestalt der Mathematik, die Spencer Brown mit den Laws of Form ins Leben gerufen hat. Unsere Aufmerksamkeit liegt dabei auf der begrifflichen Entwicklung und darauf, den Spencer Brownschen Ansatz in moglichst immanenter Gedankenentwicklung aufzuzeigen. Inwieweit dieser den Ansprtichen von Einzeldisziplinen, wie der Technik, der Mathematik, der Logik, der Soziologie gerecht wird, konnen und wollen wir in diesem Rahmen nicht beurteilen . Das bleibe den LeserInnen uberlassen . I. Aufbau des Einfiihrungsbuches Diese Einftihrung in die Laws ofForm besteht aus funf Teilen. Irn ersten einleitenden Teil werden neben dem Uberblick tiber den Aufbau dieses Buches die anderen Werke Spencer Browns, eine kommentierte Chronologie der diversen Einleitungen und Vorworte Spencer Browns zu den Laws ofForm sowie wichtige Stationen der Rezeptionsgeschichte vorgestellt. Der zweite Teil ist den Kontexten und der Architektur der Laws of Form gewidmet. Es werden die fur die Entstehung wichtigsten Kontexte skizziert : Technik, Mathematik, Logik und ostasiatische Philosophie. AuBerdem wird ein
12
Einleitung
Uberblick tiber den inneren Aufbau der Laws ofForm, also den Zusammenhang der einzelnen Kapitel und ihr Auseinanderhervorgehen gegeben. Den dritten Teil bildet der Kommentar zu den zwolf Kapiteln der Laws of Form, mit dem wir ein Novum in der Rezeptionsgeschichte vorlegen . Durch die strenge Orientierung am Text der Laws of Form wird nicht nur sichtbar, wie verschiedene Formulierungen, die in der Rezeption oft aus dem Textzusammenhang gelost worden sind, in die Gedankenentwicklung des Textes eingebettet sind, sondem auch der Aufbau kann Schritt fur Schritt nachverfolgt und eingeholt werden . Damit ist die Grundlage fur den vierten Teil gelegt, in dem wichtige Interpretationen bzw. Anwendungsgebiete der Laws of Form dargestellt und eingeschatzt werden konnen. Den Abschluss bildet eine Ubersicht tiber die bisher bestehende Literatur zu Spencer Brown. I 2. Weitere Werke Spencer Browns Die Beschaftigung mit den veroffentlichten Arbeiten Spencer Browns zeigt, dass sein Denken und Arbeiten interdisziplinar und ,interstilistisch' angelegt ist. Seine Texte erstrecken sich von der Statistik, Wissenschaftstheorie und Philosophie tiber Technik , Mathematik und Logik bis zur Poesie. Im folgenden seien die Werke Spencer Browns, die chronologisch vor und nach den Laws ofForm entstanden sind, kurz nacheinander skizziert. Zu der Zeit als ,Research Lecturer of Christ Church' in Oxford hat Spencer Brown sich mit wissenschaftstheoretischen Fragen nach statistischer Signifikanz, Methoden der Randomisierung und dem Begriff der Wahrscheinlichkeit beschaftigt. 1953 erschien ein Aufsatz mit einer Kritik an der statistischen Signifikanz von Experimenten zu Formen tibersinnlicher Wahrnehmung". Spencer Brown vertritt dort die allgemeinere These, dass experimentalpsychologische Forschungsresultate dem Versagen der Randomisierungsverfahren geschuldet sind und stellt eine ausfuhrlichere Studie zum Begriff des Zufalls, der Wahrscheinlichkeit und zum ublichen Verfahren der Randomisierung in Aussicht. Diese folgt 1957 mit der Monographie Probability and Scientific Inferen ce. Darin stellt Spencer Brown seine Kritik an Zufallsgeneratoren und dem Randomisierungsverfahren in den weiteren Kontext einer grundsatzlichen Kritik der Wahrscheinlichkeitstheorie. Aus dem Vorwort wird deutlich, dass Spencer Brown dieses Buch als philosophische Kritik am Begriff der Wahrscheinlichkeit verstanden wissen will. Zunachst geht er den Voraussetzungen nach, die dem gewohnlichen Begriff der Wahrscheinlichkeit zugrunde Iiegen, kritisiert das Konzept .Realitat' als Erwartbarkeit von Phanomenen , sowie das Bestreben der Die einzelnen Beitr age sind namentlich gekennzeichnet, urn zurn Ausdruck zu bringen , wer von uns rnaBgeblich fur welchen Text verantwortlich ist. Spencer Brown 1953
Einleitung
13
Wissenschaft, Veranderungen auf unabanderliche Formeln zu bringen. Ein Kennzeichen unserer Welt, die kein ,Nichts-Universum' ist, in dem wir nicht vorkommen und kein ,Alles-Universum', in dem wir keine Unterscheidungen treffen konnten, liegt in einer Art Parallelentwicklung zwischen Beobachter und Beobachtetem, denn unsere Beobachtungen hangen von unserer eigenen Veranderbarkeit abo Nach diesen und weiteren kritischen Analysen zu den Begriffen ,Induktion' und ,Wahrheit' stellt Spencer Brown innere Widerspruche und Antinomien der Wahrscheinlichkeitstheorie dar . Urn den Begriff der Wahrscheinlichkeit weiter verwenden zu konnen und die Paradoxien der Wahrscheinlichkeit aufzulosen, unterscheidet er zwischen primarer und sekundarer Zufalligkeit. Als wesentliches Kriterium der Zufalligkeit gilt das Fehlen eines Musters und die prim are Zufalligkeit bezieht sich nur auf ein individuelles Ereignis, die sekundare Zufalligkeit auf eine ganze Folge. Spencer Brown zeigt, dass der Zufallsbegriff nur in Bezug auf einen Beobachter sinnvoll ist.' Ein Zufallsgenerator konne deshalb nicht sich selbst iiberlassen bleiben, sondem bekomme Feedback vom Bediener oder Beobachter, urn ein Ubermaf an bekannten Mustem zu verhindern." In einer im Appendix abgedruckten wissenschaftlichen Diskussion mit einem Kritiker bekraftigt Spencer Brown seine These, dass ein Experimentator je nach verfolgten Zielen dazu beitragen kann, allein durch die Art, wie er seine Daten darstellt (ohne zu betriigen), die Signifikanz spezieller Trends zu maximieren oder zu minimieren. In Bezug auf die Laws ofForm ist wichtig festzuhalten, dass in diesem Buch eine Kritik an der wissenschaftlichen Praxis geiibt wird, die Veranderungen in Konstanten fixieren und kontrollieren will und dies mit selbstimmunisierenden Strategien durchfuhrt. Diese Kritik findet sich auch in den Vorworten zu den Laws of Form wieder, z.B. durch die Aufnahme der kritischen Unterscheidung von Ronald Laing zwischen vermeintlichen Data (von datum: gegeben) und Capta (von captum: genommen). AuBerdem ist ein Vergleich der wissenschaftlichen Stile auBerst aufschlussreich: Wahrend in der Monographie von 1957 die Fulle von alltagssprachlichen Uberlegungen, Analysen des Sprachgebrauchs als Ausgangspunkt fur die Argumentation, der kleinschrittige Autbau der Argumentation und die Fiille von Gedankenexperimenten stilbildend sind, kennzeichnet die Laws ofForm ein auBerst verdichteter Stil. Diese kondensierte Darstellungsform fordert die LeserInnen gewissermaBen dazu auf, die kleinschrittige Argumentation, die Anbindung an alltagssprachliche Plausibilitaten selbst zu leisten. Seine These tiber Zufallsgeneratoren besteht darin, dass die Reihen eines sieh selbst uberlasscnen Zufallsgenerators nadi jedem gewahlten Staidard hochst signifikant verzerrt sein werden . Damit konnen zwar die Paradoxien des Wahrscheinlichkeitsbegriffes, nicht aber dessen starke Vagheit gelost werden. Von starker Vagheit 5011 dann gesproehen werden, wenn cine Bcsonderheit oder cine Variable erklart werden soli, die sich aufgrund der Beobachtung verandert, Und eine solehe Variable ist eben der Wahrscheinlichkeitsbegriff.
14
Einleitung
Darin liegt eine Stilahnlichkeit zu der kondensierten Textform von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus, ein Werk, auf das sich Spencer Brown in Probability and Scientifi c Inferen ce und in den Laws ofForm an mehreren Stellen bezieht. FUr das Entstehen der Laws ofForm von 1969 sind zum einen Einflusse aus der Elektroingenieurspraxis Spencer Browns aufserst wichtig. Wirksam war zudem der Austausch mit dem Psychiater Ronald Laing, der auch fur die Bewegung der Antipsychiatrie steht. In den Laws of Form und in den Arbeiten aus den 70er Jahren sind viele Spuren dieser Einflusse nachweisbar. Zeitlich kurz auf die Laws of Form folgen zwei unter dem Pseudonym ,James Keys' veroffentlichte Gedichtbande, 1970 erscheint 23 Degrees of Paradise und 1971 erscheint Only two can play this game. In dem Gedichtband 23 Degrees of Paradise' lasst sich Spencer Brown von Gedichten englischer Dichter wie Blake und Chaucer, von gesellschaftlichen Verhaltnissen, Regeln und Verboten , von mythischen Stoffen , von Beziehungsthemen zwischen Frau und Mann fur seine eigenen Gedichte anregen. Das Kemsttick bildet eine Art Ballade , in der nicht nur ritterliche Welten und modeme medizinische Szenarien verschrankt werden, sondem auch alltagliche, phantastische und verzerrte Realitaten ineinander geblendet werden. Diese Verschiebung von Realitaten und die Darstellung von verzerrten Operationsszenen in Krankenhausern erinnert an den Text von Ronald Laing Birds of Paradise von 1967. Andere Spuren des Einflusses von dem Kontakt zu dem Psychiater Ronald Laing finden sich in einem lyrischen Spiel mit der schon erwahnten kritischen Unterscheidung zwischen Data und Capta und in dem Zitat einer Stelle aus dem Thomas-Evangelium, die Laing den Birds ofParadise als Motto vorangestellt hat. Der Eintritt ins Konigreich wird dort an das Verschwinden von Unterscheidungen gebunden, z.B. : " When you make the two one, and when you make the inner as the outer and the outer as the inner and the above as the below, and when you make the male and the female into a single one ... " .6 An die Laws of Form direkt erinnert die Wiederholung eines Zitats von William Blake: "Reason, or the ratio of all we have already known, is not the same that it shall be when we know more."? Dem Gedichtband Only two can play this game" ist ein kurzes Vorwort von Ronald Laing vorangestellt. Der Band umfasst Gedichte, Darstellungen eigener Erfahrungen, theoretische Reflexionen und eine Art kommentierte Bibliographie, in der Spencer Brown intentionsverwandte BUcher vor allem anderer AuIn der Anzeige seiner Werke in der Ausgabe der Laws ofForm von 1994 findet sich hierfur die Beschreibung : ,Transcendental verse'. Spencer Brown 1970:66 Spencer Brown 1970:82 In der Anzeige seiner Werke in der Ausgabe der Laws ofForm von 1994 findet sich hierfur die Beschreibung : ,The psychology of male-female relation s' .
Einleitung
15
toren vorstellt, aber auch seine Laws of Form, sowie umfangliche .Notes'. In seinem eigenen Vorwort macht Spencer Brown deutlich, dass dieser Band auch als westliche Kulturkritik verstanden werden soli, deren judische und griechische Hauptwurzeln beide die ,weibliche Seite' abgewertet hatten und frauenfeindlich seien. Mit diesem Gedichtband solie die Kluft zwischen der .weiblichen' und der .mannlichen' Seite uberbrnckt werden. Die poetische Form ist fur Spencer Brown ein angemessener Ausdruck dessen, was er die ,weibliche Seite' nennt. Spencer Brown beschreibt das Charakteristische dieses Buches so: "In this book I break two unwritten rules . In the first place I try to say something positive. In the second, I speak from my own experience.?" In vielen der Reflexionen in Only two can play this game finden sich Wortspiele, in denen Grundbegriffe der Laws ofForm wie z.B. .form', .calling', .laws' auftauchen. Auf3erdem werden eine ganze Reihe von Motiven aufgenommen und .erfahrungsgesattigter' verwendet, wie das Motiv der Einsicht in innere (und das sind mathematische) Strukturen durch den Blick nach Innen. Es wird immer wieder dazu aufgefordert, die Unterscheidungen zu erinnern, mit denen wir unsere Wirklichkeit(en) konstruiert haben und dazu, gegen den ,c1everen Trick' anzugehen, der uns das Tun vergessen lasst, durch das wir die Realitat so gemacht haben, wie wir sie nun vorfinden. In der ersten Anmerkung, einem kleinen Essay fur sich, parallelisiert Spencer Brown die grundlegenden Elemente des mathematischen Entwurfs der Laws of Form mit verschiedenen westlichen und ostlichen religiosen und mythologischen Schopfungsentwurfen, Aufgabe des Dichters sei es, den/die LeserIn oder Zuhorerln auf eine Reise zu dem Ort mitzunehmen, der ihnen beiden gemeinsam ist. Das Motiv der Reise, bei der der/die LeserIn begleitet ist und doch ihre eigenen Erfahrungen mit ganz neuen Raumen und Gegenden macht, durchzieht die Reflexionen tiber die Arbeit eines Dichters (der hier zugleich immer auch fur den Mathematiker steht) . Dazu heiBt es: "In short , a well-constructed work of art will pick you up, transport you, show the secrets of your being, return you, and plant you back on your feet again ... ,,10 Die letzten beiden Stationen nennt Spencer Brown auch ,Re-entry' und gibt damit der formalen Figur aus den Laws ofForm eine Deutung innerhalb des Reisemotivs. Die zweisprachig erschienene Geschichtensammlung von 1995 A Lion's Teeth. The Tales ofOne Who Came Thus l l umfasst kurze Geschichten vor allem aus den fruhen 60er, 70er und 90er Jahren sowie einen Essay tiber die ,Laws of Time' und autobiographisch untermischte Erlauterungen. Zu den Geschichten bemerkt Spencer Brown, dass sie ohne Moral seien und j e nach LeserIn Unterschiedliches bedeuteten, das selbst wieder wandelbar sei. Vor allem die Kom9
10 II
Spencer Brown 1971:13 Spencer Brown 1971:37 In der Anzeige seiner Werke in der Ausgabe der Laws of Form von 1994 findet sich hierfur die Beschreibung: ,Fabulous fables, together with 1I1 essay on the Laws of Time' .
Einleitung
16
mentare aus den 90er Jahren sind durchdrungen von der Rezeption buddhistischer Philosophie und Weltanschauung. In den Bezugen auf die Laws of Form stehen zwei neue Grundbegriffe im Vordergrund: das ,Nichts' und die ,konditionierte Koproduktion'. In den Laws of Form sei zwar gezeigt, wie das Universum entstehen muss, wenn die Moglichkeit der Unterscheidung gegeben ist, die neue entscheidende Frage ist aber vielmehr die, wie es jemals zur ersten Unterscheidung kommen kann. Die neue Antwort ist, dass nur Nichts nichts verwandeln kann." Es kann also nur die selbstreferentielle Struktur des Nichts zur ersten Unterscheidung fuhren. Die buddhistische Idee der ,konditionierten Koproduktion' findet Eingang in die neuen Vorworte und Einleitungen, die Spencer Brown fur die Ausgaben der Laws ofForm von 1995 und 1997 verfasst hat - wir kommen darauf zuruck, 3. Die verschiedenen Ausgaben der Laws ofForm Der Text der Laws ofForm ist zehnmal an neun verschiedenen Orten aufgelegt worden. In funf Zyklen, in der ersten Ausgabe 1969, in der dritten Ausgabe (der ersten amerikanischen) 1972, in der achten Ausgabe 1979, in der neunten Ausgabe 1994 und in der zehnten, der ersten deutschen Ausgabe 1997, hat Spencer Brown den Haupttext mit neuen Vorworten oder Einleitungen versehen, die jeweils verschiedene Schichten der Laws of Form in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit heben. Durch jeden dieser einleitenden Texte wird der Haupttext vor einen anderen Horizont gestellt. Diese Horizonte schichten sich mit jeder neuen veranderten Auflage hintereinander, so dass der Haupttext schon vor seinem eigentlichen Beginnen zu ,irisieren', also seine Farbe zu verandern anfangt." Im ersten Zyklus, also der ersten Ausgabe der Laws of Form 1969, sind ein Vorwort (Preface), eine Einleitung (Introduction) und eine Anmerkung zum mathematischen Zugang (A note on the mathematical approach) entstanden. Dieses Vorwort (Preface) hat den Charakter einer Danksagung an viele derer, die die Entstehung der Laws ofForm unterstiltzt und begleitet haben ." Die Einleitung (Introduction) bringt den mathematischen Anspruch zum Ausdruck, es werden die Motivation und das besondere Profil der Laws of Form dargestellt, Platzierungen derselben zu andem mathematischen und logischen Projekten, Anschlussmoglichkeiten an andere Systeme. In diesem Zusammenhang wird die Leistungskraft und Rolle der beiden Appendizes skizziert, durch die die vereinfachende und klarende Kraft der Laws of Form gegenuber mathematischen 12
13 14
Spencer Brown 1995:151 Derzeit erscheint gerade die elfte Auflage im Bohmeier Verlag in englischer Sprache mit einem neuen Vorwort sowie drei neuen Appendices 7-9 und einer Erganzung zu Appendix 5. Erwahnt werden so verschiedene Personen wie z.B. Bertrand Russell und Mr. 1. V. Idelson, General Manager of Simon-MEL Distribution Engineering , der Chef der Firma, bei der Spencer Brown als Ingenieur angestellt war.
Einleitung
17
Fragen (den Beweisen der Shefferschen Postulate als einem theoretischen Erfolg) und der symbolischen Logik ausgefuhrt werden soil. Mit den Laws of Form wird ein Indikationenkalkul vorgelegt, der das Potential hat, einen Punkt der Einfachheit zu erreichen, der erlaubt , die Form zu betrachten, aus der die Erfahrungen des Common Sense wie auch die verschiedenen Wissenschaften hervorgehen. Die Anmerkung zum mathematischen Zugang (A note on the mathematical approach) zieht erkenntnistheoretische Konsequenzen aus der in der Einleitung skizzierten Art, die Rolle der Mathematik zu betrachten. Denn beginnen wir wirklich mit dem Anfang, also dem ursprunglichen Akt der Trennung (severance) und sehen, wie daraus aile moglichen Bereiche hervorgehen, dann wird deutlich, dass es auf dieser anfanglichen Stufe keinen Unterschied gibt zwischen dem Universum und der Art, wie wir auf es einwirken (act upon it). 1m zweiten Zyklus, also der dritten Ausgabe der Laws ofForm 1972, ist ein Vorwort zu dieser ersten amerikanischen Ausgabe (Preface to the fir st american edition) dazugekommen. Hier wird eine andere Qualitat des Textes deutlich starker herausgehoben, als es im ersten Zyklus der Fall war, namlich die Leistung im Umgang mit selbstbezuglichen Paradoxa. Als signifikantester mathematischer Anspruch wird skizziert, wie eine Analogie zur Verwendung der imaginaren bzw . komplexen Zahlen in der mathematischen Theorie ublicher algebraischer Gleichungen hergestellt und produktiv fllr selbstbezugliche Paradoxa genutzt werden kann. 1m dritten Zyklus, der achten Ausgabe der Laws ofForm 1979, ist ein weiteres Vorwort fur diese Ausgabe hinzugekommen (Preface to the 1979 Edition) . Ahnlich wie in der Einleitung zur ersten Ausgabe zehn Jahre fruher wird die (neue) Verhaltnisbestimmung zwischen Mathematik und Logik vorgenommen. AuBerdem wird auf einen weiteren theoretischen Erfolg hingewiesen, denn mit dem Indikationenkalkul 2. Ordnung konnte nach Spencer Brown das VierFarben-Theorem gelost werden. 1m vierten Zyklus, der neunten Ausgabe der Laws ofForm 1994 ist wiederurn ein neues Vorwort hinzugekommen (Preface to the 1994 limited edition) . Dort wird nicht nur eine weitere Schicht des Textes in den Vordergrund geruckt, sondem es wird auch eine wirkliche Neukontextualisierung der Laws of Form vorgenommen. Es wird namlich der Gedanke der abhangigen Koproduktion aus dem Buddhismus aufgenommen und gezeigt, wo dieser Gedanke im Indikationenkalkul ganz elementar und an der Basis (im ersten Kapitel) angewandt worden ist. Es wird also eine Art nachtraglich aufgefundene Geistesverwandtschaft zum Ausdruck gebracht, die die Laws ofForm nunmehr verstarkt mit einer ganz anderen Weltanschauung in Beruhrung bringen. 1m funften Zyklus ist die zehnte Ausgabe der Laws ofForm 1997, die erste deutsche Ausgabe, urn die beiden einfuhrenden Texte ,Vorstellung der intemationalen Ausgabe' und eine neue ,Einleitung' erganzt worden. Die ,Vorstellung
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Einleitung
der intemationalen Ausgabe' ist ein Text, der schon 1985 fur eine geplante deutsche Ausgabe geschrieben wurde und hier erstmals abgedruckt ist. Dort ist die fur den vierten Zyklus beschriebene Neukontextualisierung thematisch schon durchgefuhrt, die Einfuhrung der Ausdriicke ,Koproduktion' und ,konditionierte Struktur des Nichts' bilden einen Schwerpunkt dieses Textes. Die Koproduktion wird als das eine Prinzip beschrieben, auf das der ganze Text der Laws ofForm reduzierbar ware. Einen zweiten Schwerpunkt bildet die Beschaftigung mit der Moglichkeit wirklichen Wissens im Unterschied zu bloBem Meinen und Glauben, das nur durch den Weg von ,Befehl und Betrachtung' gewonnen werden kann . Dies ist an einem Beispiel vorgefuhrt. In diesem TextstUck fallt ein Stilunterschied auf, denn an einigen Stellen wird der/die LeserIn direkt angesprochen. In der neuen Einleitung wird der Unterschied zwischen der Spencer Brownschen und der Booleschen Algebra erstmals ausdriicklich ausgefuhrt. Die Laws of Form werden als ein kreatives Werk beschrieben, das ein Schaffensfeld eroffnet, das sich selbst zu korrigieren vermag. Zu der deutschen Ausgabe sind vier neue Appendizes hinzugekommen, damnter die schon 1979 angekiindigte Losung des Vier-Farben-Theorems und eine ,Algebra fur die natUrlichen Zahlen', von 1961 stammend. 4. Wichtige Station en der Rezeptionsgeschichte der Laws ofForm Der wichtigste Multiplikator fur die Ideen der Laws of Form war eine privat organisierte Konferenz, die mit ausgewahlten amerikanischen Geistesgrossen aus allen Denkrichtungen und Disziplinen zusammen mit Spencer Brown fur einige Tage am Esalen-Institut in Kalifomien stattfand, einem damals schon bekannten Zentmm fur innovative Therapie, Psychologie und Spiritualitat, Diese Konferenz war die Femwirkung einer brillanten und wirksamen Rezension, die Heinz v. Foerster, damals Direktor des Biological Computer Lab der Universitat Urbana/Illinois, 1969 im Whole Earth Catalog veroffentlicht hatte. lm selben Jahr war zwar in Nature die iiberaus respektvolle Besprechung des beriihmten englischen Management-Kybemetikers Stafford Beer erschienen, aber ohne sichtbaren Erfolg. Stewart Brant, der Herausgeber der Zeitschrift, sparer Leiter des Media-Lab am MIT, hatte zuvor Gregory Bateson, den Anthropologen und Biologen, sowie John Lilly, den Delphinforscher, urn eine Rezension gebeten, die sie aber an v. Foerster weitergereicht hatten . Dessen Besprechung schuf augenblicklich eine umfassende Resonanz. Eine neue amerikanische Ausgabe des Buches ging schnell in die zweite Auflage. Alan Watts, Religionswissenschaftler, Philosoph, Zenmeister und Griinder der ,Society of Comparative Philosophy' war sogleich ,elektrisiert' und beschloss, mit Brand, Bateson und Lilly, seine Lieblingsidee einer ,American University of the Masters' (AUM oder OM, dem Mantra gemals) ins Leben zu mfen, mit Spencer Brown als erster Session. In Esalen trafen Mathematiker, Kybemetiker, Computerwissenschaftler, Anthropologen und Sozialforscher, Kommunikationsfor-
Einlcitung
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scher, Biologen, Psychiater und Psychotherapeuten sowie praktizierende Experimentatoren diverser religioser bzw. spiritueller Traditionen zusammen . Aile waren interessiert an einer grenziiberschreitenden Betrachtung der westlichen wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die Mehrzahl in strenger Erweiterung bzw. Revision der Grundlagen ihrer Disziplinen und das sowohl in praktischer wie theoretischer Hinsicht. Ein Teil liebaugelte auch im damaligen herrschenden Trend mit esoterischer ,Bewusstseinserweiterung' . Hier bildete sich das Grundmuster einer unerwartet breiten, interdiszipl inaren, stets aber auch zwiespaltigen Rezeption Spencer Browns . Die meisten Zuhorer waren uberfordert, aber das stand einer langfristigen tieferen Wirkung nicht entgegen. Spencer Brown schenkte ihnen nichts, vor allem was die mathematischen Grundlagen seiner Ideen betraf. Er bot eine souverane, luzide Darstellung seiner Gedanken anhand detaillierter und origineller Erlauterungen zu den Laws of Form wie zu zentralen theoretischen Passagen von Only two can play this game. Thematisiert wurde die gesamte Breite und Tiefe seines Ansatzes : Von der radikalen Reduktion auf die Unterscheidung als einen einfachsten Ausgangspunkt bis zu den mehrfachen Windungen der selbstreferentiellen, rekursiven Formen; von der mathematischen Sprache des Calculus of indications bis zu sprachkritisch-methodologischen Erlauterungen religioser Sprachen. Anhand der Transkripte" wird deutlich, dass er Spezifizierungen, Erganzungen und auch Alternativmoglichkeiten zum ,kanonischen' Text der Laws ofForm gegeben hat. Diversen Angeboten der Fragesteller in die esoterische Richtung verschliel3t er sich aber konsequent, im Dialog jedoch z.B, mit Bateson tiber Mensch- versus Tierkommunikation wird etwas von den wesentlichen Grundlagen deutlich. Heinz v. Foerster bleibt die Integrationsfigur fur die weitere Rezeption. Aus seinem Biological Computer Lab, das von 1958 bis 1976 existierte, verstand er es, in seltener Vielfalt und zugleich philosophisch-epistemologischer Reflektiertheit, einen interdisziplinaren Sammelpunkt der Kognitionsforschung zu schaffen, an dem eine Fulle innovativer Logiker, Mathematiker, Elektrotechniker, Informatiker, Biologen, Neurophysiologen und Sozialwissenschaftler zusammenwirkten. Aile orientiert an v. Foersters wissenschaftlichem Kernparadigma, der Erforschung zirkularer, rekursiver, selbstreferentieller und selbstorganisierender Prozesse im Ubergangsfeld von Maschinen zu Organism en, mit dem Ziel, eine ,Kybemetik der Kybernetik ' bzw. ,2nd Order Cybernetics' zu entwickeln . Hier findet, direkt inspiriert durch Spencer Brown, die wichtige Ablosung der maschinellen, elektrotechnischen Sicht des ,computings' und der Kybernetik (das Paradigma v. Neumanns und Wieners) durch das Paradigma lebender, spater auch sozialer Prozesse bis hin zu Organisationen statt, die durch eine entsprechende andere Mathematik moglich geworden war. Hierfur stehen vor allem Humberto Maturana und Francisco Varela mit ihrer Theorie der AuIS
Die Transkripte der Esalen-Konferenz sind unter ,AUM-Protokollc' im Internet abrufbar.
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Einleitung
topoiesis bzw . der Principles of Biological Autonomy", Die im Biological Computer Lab gesaten Ideen wirken bis heute weiter, in den vielfaltigen Konsequenzen aus einer ,General Systems Theory' und der ,2nd Order Cybernetics' als ihrer inharenten Reflexionsgestalt. An dieser Entwicklung hat einen nicht zu unterschatzenden Anteil der Chicagoer Spencer Brown Zirkel urn den Mathematiker Louis Kauffman. Von 1975 an, ein Jahr nach seiner Begegnung mit den Laws of Form, die, nach seiner eigenen Aussage, sein gesamtes mathematisch-theoretisch-philosophisches Weltbild auf den Kopf stellten, versammelt er eine Anzahl von Wissenschaftlern wiederum der unterschiedlichsten Disziplinen fur drei Jahre urn sich. Hier wird vielleicht zum ersten Mal eine systematische Lektiire der Laws of Form von vorne bis hinten, in allen ihren Kapiteln vorgenommen, gegenuber dem bis dahin - und bis heute vorwiegend - wohl weitgehend liblichen selektiven bis impressionistischen Lektiireverhalten . Kauffman hatte Kontakt zu v. Foerster und hat zusammen mit Varela die wichtige Arbeit Form Dynamics'? auf der Basis von Spencer Browns Calculus of indications verfasst. Er arbeitet in der Perspektive einer mathematischen Fundierung der ,2nd order Cybernetics', aber nicht nur an einer Mathematik selbstreferentieller Grundprozesse, sondern zugleich, ganz im Geiste der Laws of Form, an einer mathematischkonzeptuellen Formuli erung der Interrelation von Einfachheit und Komplexitat. Mithilfe der von ihm neu adaptierten ,Knoten' -Theorie fuhrt er dies in die Grundlagen der Quantenphysik welter." In Deutschland konnte man ein Rezeptionszentrum mit ,Bielefeld' umschreiben. Gemeint ist die systemtheoretisch angelegte Soziologie bzw. Soziologische Theorie von Niklas Luhmann, die beispielsweise von Elena Esposito, Dirk Baecker oder Armin Nassehi und anderen fortgefuhrt wird. Luhmann hat das Verdienst, die Laws of Form und somit auch ihren Autor George Spencer Brown fur die deutsche Diskussion entdeckt und eingefuhrt zu haben. Gesellschaft ist fur Luhmann ein komplexes System unabzahlbarer bestandig iterierter, unterschiedlicher und in Rekursionsschleifen prozessierter, beobachtungs- und damit handlungsgenerierter wie -generierender Unterscheidungsbildungen. Durch einen Hinweis von dem Philosophen und Psychotherapeuten Paul Watzlawick , der seinerseits vermutlich durch die Diskussionen urn die EsalenKonferenz auf die Laws of Form aufmerksam gemacht wurde, 1980 an den Heidelberger Psychiater Fritz Simon, sind die Laws of Form zu einem Bezugspunkt fur die Arbeiten des Heidelberger Forschungskreises zur systemischen Therapie geworden. Pragend fur diese Rezption wurde 1988 das Buch von Fritz 16 17 18
Varela 1979b Kauffm an! Varela 1980 Damit folgt Kauffman einer Perspektive der Laws ofForm als einem " account of the emergence of physical archetypes , presented as a rigorous essay in mathematics", Spencer Brown 1971:109.
Einleitung
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Simon: Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie: Grundlagen einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik, durch das erstmals Auszuge der Laws ofForm auf deutsch zuganglich wurden. SchlieBlich verdient Erwahnung der Miinchner Logiker Matthias Varga v. Kibed vom Seminar fur Philosophie, Logik und Wissenschaftstheorie der Ludwig-Maximilians-Universitat. Varga v. Kibed hat sich in seiner Habilitation und einer Reihe von Aufsatzen und Vortragen mit den tiefgreifenden Einsichten Spencer Browns in die zeichentheoretischen und paradoxientheoretischen Grundlagen der modemen Logik beschaftigt, die er in einem gross angelegten Forschungsprogramm, das kritische Einsichten von Wittgenstein und Peirce mit Spencer Brown zusammenspannt, fur eine entscheidende Revision der modernen Logik fruchtbar machen mochte. Dieser Ansatz einer ,Logik der Logik' verspricht vor allem wichtige konzeptuelle Klarungen in den Grundlagen der modernen Logik und Sprachtheorie. 5. Zur Lesehaltung - ein Vorschlag Spencer Brown beschreibt an verschiedenen Stellen, dass zur Entwicklung der Laws of Form ein Prozess des Verlernens gehort, ein Verlernen von iiblichen Denkmustem und gewohnten Komplexitaten, So, wie er selbst den Ansatz der Laws of Form durch einen Prozess des Verlemens ge- und erfunden hat , sieht auch die Leseanweisung fur uns InterpretInnen und Leserlnnen aus : die Laws of Form im Interpretieren und Lesen immer wieder neu zu finden und zu erfinden, bedarf eines fortschreitenden Prozesses des Veriem ens von Beschreibungsmustern der eigenen Disziplin, von vorschnellen kritischen Urteilen nach iiblichen Malistaben und vor allem Geduld. Die Laws of Form fordem in besonderem MaBe, sich auf sie einzulassen, mit ihnen und durch sie zuruckzugehen zu dem Treffen einer Unterscheidung, durch die zwei unterschiedene Zustande hervorgebracht werden. Fragen danach, wie sich diese beiden Zustande zu Raum und Zeit, zum Subjekt und zur Wirklichkeit verhalten, sind zunachst zu verlemen. Ohne Ubung in Langsamkeit und ohne Offenheit fur Unvertrautes ist den Laws ofForm kaum zu folgen . Neben der Bereitschaft zum Veriernen stellen wir uns fur die Lektiire dieser Einfuhrung folgende Lesehaltung vor: Unsere Interpretationsvorschlage und den (englischen) Text der Laws ofForm nebeneinander zu legen und be ides in einer Hin- und Her- Bewegung zu lesen, Text, Kommentar, Text usw. Dadurch wird unser Text, der aus einem jahrelangen Dialog mit dem Text der Laws of Form und untereinander entstanden ist, durch jede/n Leserln wiederum variiert und in vielerlei neue mogliche Dialoge mit den Laws ofForm gebracht. Wir zitieren die Laws of Form und andere Texte Spencer Browns im Original, d.h . auf Englisch, kommentieren den Text aber auf Deutsch. 19 Damit wer19
Hinweis : Wir zitieren die Laws ofForm nach der Ausgabe von 1994, im Foigenden LoF.
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Einleitung
den zwei Sprachstile zusammengebracht, die Spencer Brown seiber so beschrieben hat: ,,[D]as, was ich das Irisieren englischer Worte nennen will - ihre Fahigkeit, jeden Augenblick die Farbe zu verandern, die unserer Prosa und Poesie solche Magie verleiht - [geht] im Deutschen verloren, wo fur jedes Wort cine exakte Farbe gewahlt werden muss, [weil es] die meisten verschiedenen Worte fur Bedeutungsnuancen enthalt, welche im Englischen durch ein und dasselbe Wort ausgedriickt werden, und der Unterschied dabei durch den Kontext festgelegt wird.,.20
Da zur Form einer Unterscheidung nach Spencer Brown immer auch ein Kontext gehort, beginnen wir den Hauptteil mit einer Kontextualisierung der Laws of Form, also gleichsam mit einer Definition des auferen Rahmens, in dem sie spielen. AnschlieBend wird der Text in seiner inneren Architektur vorgestellt.
20 Vgl. die Vorstellung der irtemationalen Ausgabe, Spencer Brown 1997:ix.
II. Kontexte und Architektur der Laws ofForm
II.A Kontexte der Laws of Form Katrin Wille und Thomas Holscher FUr die Entstehung und das Selbstverstandnis der Laws of Form sind vor al1em vier Kontexte wichtig - Technik, Mathematik, Logik und ostasiatische Philosophie . Im Folgenden werden die Laws of Form nacheinander in diese Kontexte gestel1t. Laut eigener Darstel1ungen Spencer Browns wurde die Entwicklung der Laws of Form angestoBen durch Anwendungsprobleme in technischen Zusammenhangen, Zu dem Kontext ,Technik' (1) gehort deshalb auch eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Verhaltnis von Theorie und Anwendung. Der Kontext ,Mathematik' (2) ist deshalb zentral, weil Spencer Brown seine Laws ofForm als Mathematik versteht und seine Auffassung von Mathematik in Anknupfung und Kritik an Boole an vielen Stel1en beschreibt. Durch seine akademischen Studien und die Gesprache mit Bertrand Russel1 und Ludwig Wittgenste in ist der Kontext ,Logik' (3) prasent. Spencer Brown fuhrt aus, inwiefern die formale Aussagenlogik eine von verschiedenen moglichen Interpretationen der Laws ofForm ist. Der Kontext ,ostasiatische Philosophie' (4) ist fur Spencer Brown als ein Horizont seines Denkens von Anfang an deutlich. Dies zeigt sich durch das vorangestel1te Zitat aus dem Daodejing und in spateren Anmerkungen und Vorworten dann in zunehmendem MaBe an Bezugen auf buddhistisches Denken . In diesem Kapitel orientieren wir uns vor al1em an AuBerungen uber diese vier Kontexte in Texten von Spencer Brown, die eher Oberblickscharakter haben. Wir fuhren hier zusammen und kommentieren, was Spencer Brown in den diversen Vorworten und Einleitungen und auch in der AUM-Konferenz, auf der er vor einem offentlichen Publikum die Laws ofForm erlauterte, dargestel1t hat. AuBerdem nehmen wir auf wichtige Passagen der Selbstkommentierung in den beiden Texten Only two can play this game und A Lion's Teeth Bezug .
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1. Technik Einen Hintergrund fur die Laws of Form bildet ein technisches Anwendungsproblem'. Spencer Brown wurde in technischen Untemehmen' eingestellt, urn als ausgebildeter Logiker an der Entwicklung von Schaltkreisen fur Transistorenelemente bei speziellen Computeranwendungen mitzuwirken.' Eine der Aufgaben ist, Zahlmaschinen von Wagenradern vor und nach der Einfahrt von Zugen in einen Tunnel zu entwickeln. Diese Maschinen mtlssen zum einen vorwarts und ruckwarts zahlen und zum anderen die verschiedenen Zahlergebnisse abgleichen konnen. Der Rahmen der akademischen Logik erweist sich den technischen Anforderungen gegenuber als unzureichend: zum einen wegen mangelnder Moglichkeiten, mit der erforderlichen technischen Komplexitat umzugehen, zum anderen darin, den Sicherheits- und Effizienzanforderungen gerecht zu werden. Die Losung fur diese praktischen Anforderungen, die erst einmal ohne theoretische Fundierung bleibt, liegt in dem, was Spencer Brown sparer als .imaginare Werte' bestimmt. Er ubertragt die Theorie der imaginaren oder komplexen Zahlen i aus der Mathematik systematisch und nicht nur in ad hoc- Verwendungen auf die Arbeit mit Schaltsystemen." Dies fuhrt zu einfacheren Vorrichtungen als bisher ublich und ist deswegen okonomisch gunstiger und effizienter. In Schaltsystemen wird die Schaltalgebra technisch umgesetzt. Die Schaltalgebra ist eine mogliche Interpretation der Theorie der Booleschen Algebren. Den Booleschen AusdrUcken ,1' und ,0' konnen als Werte die beiden Zustande eines Schaltkreises ,Energie fliel3t' oder ,Energie fliel3t nicht' zugeordnet werden. Den Operationen der Booleschen Algebren lassen sich verschiedene Kreislaufe im Schaltkreis zuordnen. Bestimmte Transistoren (ubersetzt: Ubertragungswiderstand) fuhren den Output eines Kreislaufes wieder in den Kreislauf zuruck, was als eine logische Verknnpfung zwischen den Eingangssignalen und den Ausgangssignalen dargestellt werden kann . "The techniques here recorded being first developed not in respect of questions oflogic, but in response to certain unsolved problems in engineering ." LoF:xvii. Spencer Brown nennt im Vorwort zur ersten Ausgabe der Laws of Form die Firma ,SimonMEL Distribution Engineering' (LoF:xvii) und in den Transkripten der AUM-Konferenz die Firma ,Mullard Equipment , Ltd., a branch of the Phillips organization' , AUM 1,1. (Die erste Ziffer steht fur das AUM-Transkript der jeweiligen Sitzung, die zweite fur die Seitenzahl.) Vgl. AUM 1,1. Vgl. zu den komplexen Zahlen : ,,[Die komplexen Zahlen gehoren] seit langem zum gesicherten Bestand der Analysis . Da es unter den reellen Zahlen kein Element c mit c2 + 1 = 0 gibt (auf Grund der Ordnungsbeziehung in R ist jede solche Quadratsumme positiv), und da dies eine Unvollkommenheit der reellen Zahlen zum Ausdruck bringt, die sich haufig in Rechnungen storend auswirkt, wird durch cine nochmalige Erweiterung des Zahlenbereichs die Existenz eines Elementes mit dieser Eigenschaft (das dann natUrlich auBerhalb von R liegt) erzwungen.", Remmert 1964:348. Vgl. auBerdem zur Kritik an Ublichen ad hoc-Verwendungen imaginarer Werte von Ingenieuren LoF:xxiv.
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Theoretisch konnen diese praktischen Losungen aber innerhalb der bestehenden logischen und technischen Erklarungsmuster zunachst nicht angemessen beschrieben und erfasst werden . Die Innovation einer theoretischen Beschreibung dieses technischen Phanomens der in sich selbst zurucklaufenden Schaltkreise besteht nach Spencer Brown darin, diese durch Gleichungen mit ,imaginaren Werten' zu beschreiben. Spencer Brown untemimmt mit dem elften Kapitel der Laws of Form den Versuch, die Primate Algebra durch die Einfuhrung von ,Gleichungen zweiten Grades' mit .imaginaren Werten' zu erweitem und damit die technischen Anwendungen theoretisch zu fundieren . Dieser Entstehungshintergrund der Laws of Form, aus dem Geiste des Praktischen' ist aber nicht nur aus biographischen Grunden interessant, sondem auch in Bezug darauf, wie Spencer Brown auf der Basis dieser Erfahrung das Verhaltnis zwischen theoretischer Grundlagenarbeit und Praxis bestimmt. Der Austausch und das Zusammenspiel zwischen Theorie und Praxis laufen nicht nur in die eine Richtung, namlich von der Theorie zur Anwendung, sondem auch in die andere Richtung, also von der Praxis zuruck zur Theorie. Aus der praktischen Arbeit gehen neue theoretische Impulse hervor, die einen langeren Suchprozess einleiten konnen, urn etwas, das praktisch funktioniert, theoretisch beschreiben und begrunden zu konnen . Dieser Suchprozess verlauft nicht deduktiv, sondem eher wie ein Prozess des Vertrautwerdens mit dem neuen Boden, durch den dann plotzlich ein neuer theoretischer Zusammenhang aufscheinen kann, der die Bildung eines theoretischen Gebaudes einleitet. Durch praktische Experimente und die Entwicklung von praktischem Konnen fokussiert sich nicht-intendiert die Aufmerksamkeit auf bisher ungewohnte Zusammenhange, die die Voraussetzung fur Erkenntnis und eigentiiches Wissen ist. Spencer Brown macht das Verhaltnis zwischen Theorie und Praxis produktiv, indem er eine neue Form von ,praktisch fundierter Theorie' einfuhrt, die sich von Theorie als reiner Beschreibung auf der einen Seite und Praxis als blol3erAnwendung auf der anderen Seite unterscheidet. Kennzeichen sind": a) dass aus der Entwicklung von Konnen und dem Vertrautwerden mit neuen Formen erst die Moglichkeit von Wissen und Begrundung erwachst". Hierzu Dieser Versuch einer neuen Verhaltnisbestimmung zwischen einer Theorie und ihren Gebrauchskontexten kann in den Horizont einer ganzen Reihe von Ansatzen gestellt werden , die das Verhaltnis zwischen logischer Form und praktischem Gebrauch nicht extern und auberlich denken, sondern intern und konstitutiv . Erwahnt sei die konstitutive Rolle der Anwendung im ,angewandten Satz' in Wittgensteins Tractatus, die Spencer Brown sicher bekannt war. Andere Neubestimmungen des Verhaltnisses zwischen Logik und Anwendung finden sich z.B. bei expliziten Versuchen einer ,pragmatischen Logik' : z.B. Brandom 2008, Putnam 2002, Dewey 2002, Quine 1975, v. Weizsacker 1977. Vgl. dazu z.B. die Notes zum dritten Kapitel LoF:84f. Der Prozess des .Sich-Vertraut-Machens' (familiarize) wird in Only two can play this game sogar als Erinnerung an Verlorengegangenes bestimmt, vgl. Spencer Brown 1971:37 sowie AUM 2,1Of.
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gehoren z.B. die praktischen Experimente fur die Entwicklung neuer technischer Anwendungen. b) dass (theoretisches) Wissen nicht durch die Mitteilung und Beschreibung von Tatsachen gewonnen wird, sondem nur durch die Ausfuhrung von Anweisungen zu verschiedenen gedanklichen Handlungen, die in dem /der LeserIn eine eigene (theoretische) Erfahrung erzeugt (vgl. die Ausfuhrungen zur ,injunktiven Methode' im nachsten Abschnitt). FUr die Entwicklung eines derartigen Theorieentwurfs, in dem die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis unterlaufen werden soli, verwendet Spencer Brown ein differenziertes Vokabular fur verschiedene Akzentuierungen der praktischen Dimension, wie z.B. Praxis als Konnen und Knowing-how (knowing-how), als innertheoretische und auBertheoretische Anwendung (application), als Interpretation (interpretation), als Illustration (illustration), als Reprasentation (representation), als Gebrauch (use), als Anweisung (injunction). Der Leitbegriff fur die in den Laws of Form entwickelte ,praktisch fundierte Theorie', die fur ibn zur Mathematik gehort, ist der der Anweisung (injunction). 2. Mathematik Urn die pragmatische Arbeit mit den imaginaren Werten theoretisch zu fundieren, geht Spencer Brown den Weg eines sich immer weiter fortsetzenden Prozesses der Vereinfachung von Strukturen bis auf den einfachsten Grund: das Treffen einer Unterscheidung. Das definierende Moment einer Unterscheidung besteht darin , voneinander unterschiedene Zustande zu schaffen. Aus den Eigenschaften der einfachen Idee der Unterscheidung soli dann ein mathematischer Kalkul mit zwe i Zustanden (Werten) aufgebaut werden. Die Erweiterung des Kalkuls urn einen dritten , den .imaginaren Zustand' , ermoglicht dann den direkten Ubergang zu schaltalgebraischen Anwendungen. Der Ausgangspunkt ist ,Unterscheidung' und nicht .Identitat' . Dass .Identitat' kein Ausgangspunkt einer Theorie sein kann, zeigt sich einfach daran, dass mit jedem Grundelement, das fur eine Theorie gewahlt wird, (meist imp lizit) eine Unterscheidung getroffen wird zwischen dem jeweiligen Grundelement auf der einen und allen anderen moglichen auf der anderen Seite. Urn die Bewegung der Vereinfachung und des Absehens von gewohnten Bestimmungen (mit) zu vollziehen, ist ein ,Verlemprozess' notig . Zu verlemen sind aile konkreten Bestimmungen, Regeln, Qualifizierungen, Unterscheidungen bestimmter Art, Werte, Normen, Verbote, selbstverstandliche Voraussetzungen.' Hinter all das ist zuruck zu gehen bis hin zu dem einfachen Gedanken einer Unterscheidung zwischen zwei Zustanden. Nicht mehr und nicht weniger." In dem Reduktionsprozess gehen wir auch hinter das isolierte Subjekt zuruck , es wird gerade nicht von einem eigens unterschiedenen Bcobachter ausgeg angen . Vgl. dazu in der Note on the
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Dieser Verlemprozess hat in Spencer Browns Verstandnis eine theoretischstrukturelle und eine gesellschaftlich-moralische Ebene, und die .SelbstAnalyse ' bis hin zur einfachsten Form kann mathematisch und auch psychologisch verstanden werden.? Einfach eine Unterscheidung getroffen zu haben und zwei Zustande zu haben, nennt Spencer Brown .mit der Form zu beginnen' ." Dabei zeigt sich, dass die Form gleichzeitig der .Ort' maximaler Entleerung und maximaler Verdichtung ist. Ohne jede konkrete Bestimmung (und in diesem Sinne vollig leer) liegt in der Form ein gemeinsamer Vorlaufer fur aIle strukturellen Moglichkeiten, die erst durch schrittweise Differenzierungen auseinander treten . Zu den Moglichkeiten, die dieser Ruckgang zur Form birgt, schreibt der Interpret Louis Kauffman : "Once we follow a structure back into what seems to be its essential simplicity, there is a new and wider view available, and this view compounded with what we already knew, leads to a new way to hold the entire matter and more possibility to move into even deeper simplicity . ... By moving into simplicity , we make room for a wcrld with even greater complexity'.1I
Und tiber dieses Wagnis, die Grenze zwischen Einfachheit (simplicity) und Auflosung (vanishing) zu erkunden, heil3t es anderswo : "As things nearly vanish, we reach regions where apparently distinct domains touch , join and become one ."12
Spencer Brown versteht die Laws of Form als ein mathematisches Werk, nicht als ein philosophisches oder logisches. Inhaltlich besteht sein Anspruch darin, die Theorie der Booleschen Algebren einerseits mit einer zugehorigen Arithmetik zu fundieren und andererseits mit Gleichungen hoheren Grades unter Verwendung irnaginarer Werte zu erweitern . Methodisch wahlt er eine Form der Darstellung, die er in Beweisverfahren der akademischen Disziplin Mathematik
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Mathematical Approach: "The act is itself already remembered, even if unconsciously, as our first attempt to distinguish different things in a world where, in the first place, the boundaries can be drawn anywhere we please . At this stage the universe cannot be distinguished from how we act upon it, and the world may seem like shifting sand beneath our feet." LoF:xxix. Der Prozess des Verlemens, des weitest rnoglichen Zuruckgehens hinter Voraussetzungen, erinnert an das philosophische Verfahren des methodischen Zweifels, wie es vor allem von Descartes bekannt ist. Spencer Brown fuhrt dieser Weg aber gerade nicht zum .cogito ', sondem zu der selbstreferentiellen Form, wie im Kommentar zum zweiten Kapitel gezeigt wird . Vgl. ADM 1,3 und 1,9: "no quality other than being states" , " ...we defined states without any concept of distance , size, shape --only ofdifference ." Damit ist auch nicht gemeint, dass die Zustande irgendeine Grobe oder irgendeine Dauer haben sollen, es sollen all diese Bestimmungen hintergangen, unterschritten werden, vgl. ADM 1,10. Vgl. ADM 1,3 sowie : "One has to break every law, every rule, that we are taught in our upbringing. And why it is so difficult to break them, is that there is no overt rule that you may not do this, why it is so powerful is that the rule is covert .", ADM 1,13. ADM 1,6 Kauffman 2000b :92 Kauffman 1998a:63
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vorgepragt findet. Das Charakteristische seines Vorgehens nennt er ,injunktiv', wodurch die LeserInnen zu mitvollziehenden Denkhandlungen aufgefordert werden und die Darstellung aus dem Wechselspiel zwischen Aufforderung , Ausfuhrung und Betrachtung ihren theoretischen Autbau gewinnt. 13 Der inhaltliche Anspruch: Die Primdre Arithmetik und die Theorie imagindrer Werte
Mit den Laws of Form will Spencer Brown eine Fundierung und eine Erweiterung der Theorie" der Booleschen Algebren vorlegen. Beide Projekte haugen zusammen: Eine Erweiterung der Theorie der Booleschen Algebren urn einen dritten, .imaginaren' Term neben den Termen ,I' und ,0' kann nach Spencer Brown nur dann hinreichend motiviert sein, wenn das theoretische Interesse sich auch auf die Moglichkeiten der Ableitung der beiden Ublichen Terme der Booleschen Algebren ,0' und ,I ' richtet. Damit wird eine ,protoboolesche' Forschungsperspektive eingenommen, die nicht mit den Termen und Operatoren der Theorie der Booleschen Algebren einsetzt, sondem die nach Moglichkeiten fragt, diese Theorie aus nur einer einzigen Idee abzuleiten und damit maximal einfach und hinreichend komplex in der KalkUlentwicklung einzusetzen. Diese Bedingungen maximaler Einfachheit und hinreichender Komplexitat werden durch die Form der Unterscheidung erfullt, die entsteht, wenn eine Unterscheidung getroffen wird, deren Resultat zwei Zustande sind. Die einfachste Art, die Beziehung zwischen diesen beiden Zustanden zu denken und formal darzustellen, besteht in einem anderen ,Differenzmodus' als dem der Ublichen binaren Differenz zwischen und 1 oder - im Modell der Aussagenlogik - wahr und falsch. 1m zweiten Kapitel der Laws of Form wird entwickelt, dass der einfachste semiotische Ausdruck dieser beiden Zustande in der Markierung des einen Zustandes und der Nicht-Markierung des anderen Zustandes liegt. In der semiotischen Nutzung der Nicht-Markierung, des, leeren Raumes ' , die die RUckbeziehung auf die Form der Unterscheidung erlaubt, liegt eine wesentliche Vereinfachung. Die andere wichtige Vereinfachung besteht darin, dass das Markierungszeichen fur den einen Zustand gleichzeitig als Zeichen fur das, auf das operiert wird (den Operanden, also den Zustand) wie als Operationszeichen (als Operator) verwendet werden kann. Die dritte wesentliche Vereinfachung bezieht sich auf die Eigenschaften des Zeichens in seiner Funktion als Operationszeichen. Denn der dadurch ausgedruckte Operator ist nicht auf einen einstelligen oder binaren Geltungsbereich eingeschrankt. Die vierte Vereinfachung ist die, dass bei Kombination verschiedener Vorkommnisse des formalen
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Vgl. AUM 4,6. Mit der Theorie Boolescher Aigebren sind Satze uber die Booleschen Aigebren geme int, die in allen Modellen, Interpretationen der Booleschen Algebren geIten.
ILA Kontexte der Laws ofForm
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Zeichens zu einem komplexen Ausdruck die Reihenfolge der Zeichen keine Relevanz hat. Die Notation ist nicht linear, sondem zweidimensional." Mit diesem ,Minimalinventar' an Zeichen kann auf die beiden verschiedenen Zustande der Form der Unterscheidung hingewiesen werden. Aus der Form der Unterscheidung ergeben sich zwei Grundregeln, Hinweise auf diese beiden Zustande zu kombinieren. Dies fuhrt zur Entwicklung einer (Primaren) Arithmetik, die Spencer Brown als Wissenschaft von Konstanten und deren Beziehungen bestimmt. 16 Metaphorisch spricht Spencer Brown fur seine Primare Arithmetik auch von ,Individuenforschung' , wahrend die Prim are Algebra Wissenschaft von den Beziehungen von Variablen ist, urn in der Metapher zu bleiben: eher ,soziologische Forschung'." Seine These ist, dass es zu jeder Algebra, der Ebene der Variablen, d.h. des Generellen, eine Arithmetik, die Ebene der Konstanten, d.h. des Individuellen geben muss. Und diese Ebene ergibt sich eben durch die Ableitung von zwei verschiedenen Zustanden aus der Form der Unterscheidung. Damit fallt Spencer Brown aber nicht hinter eine Entwicklung innerhalb der Mathematik zuruck, in der Mathematisierbarkeit und Quantifizierbarkeit auseinander getreten sind und Mathematik sich gerade von dem Gegenstandsbereich der Zahlen und Grolien gelost hat. In An Investigation of the Laws of Thought von George Boole heiBt es z.B i: ,,[Die] Natur des Mathematischen fist] nicht dadurch bestimmt, dass [sie] von Zahl und Quantitat handelr". Mathematik und genauer die abstrakte symbolische Algebra kann dann vier allgemeiner als Wissenschaft von symbolischen Operationen verstanden werden. Dieses algebraische System symbolischer Operationen kann fur die verschiedensten Bereiche interpretiert werden, einer ist der Bereich der Eigenschaften der Zahlen, mogliche andere waren geometrische Probleme oder elektrotechnische Schaltkreise . Spencer Browns Entwicklung einer neuen Arithmetik fur die abstrakte symbolische Algebra soli erklartermalsen eine nicht-numerische Arithmetik sein. Mathematik im Sinne Spencer Browns ist nicht die Wissenschaft von Grofien, sondem die Wissenschaft der Unterscheidungen bzw. der Hinweise auf Unterscheidungen. Die algebraischen symbolischen Operationen mussen also an die
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Spencer Brown spricht bei den beiden letzten Punkten von verdeckten Verboten, die mit unseren linearen Notierungsgewohnheiten zusammenhangen und die wir uns als Voraussetzungen meist gar nicht mehr bewusst machen. Darin liegt ihre Verdecktheit und scheinbare Selbstverstllndlichkeit. Vgl. dazu Spencer Brown 1997:xv und LoF:88-89, 92. Vgl. zu diesem Punkt auch Varga! Matzka 1993 sowie den Kommentar zumzweiten Kapitei. VgI. AUM 2,3. VgI. AUM 2,2. Boole 1854:12
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Form der Unterscheidung zuruck gebunden werden, und genau das will die nicht-numerische, Primare Arithmetik leisten ." Dieser allgemeinere Begriff von Arithmetik zeigt, dass diese Wissenschaft nicht auf die Elemente des Rechnens mit Zahlen festgelegt ist, wie es durch die Schulmathematik nahe gelegt wird. Die ,Konstanten' und ,Individuen', urn die es in der Arithmetik geht, konnen, mussen aber keine Zahlen sein . Die Primate Arithmetik versteht sich als eine der ublichen Zahlenarithmetik vorangehende Arithmetik, eine Art ,Protoarithmetik', in der die Konstanten (Individuen) durch den einfachen Prozess der Unterscheidung gewonnen werden. In der Arithmetik zeigt sich, ,wie sich die Konstanten verhalten' (how they perform") und wie ihre Beziehungen zu bestimmen sind." Die maximale Vereinfachung in der Primaren Arithmetik fuhrt zu Ergebnissen, die so simpel und einfach sind, dass sie ,gesehen' werden konnen. Dies ist ein Kennzeichen fur diese Ebene von ,Protomathematik' . Auf der Basis der Lehre von diesen einfachsten Konstanten, der .Primaren Arithmetik', wird die .Primare Algebra' errichtet, die Relationen und Beziehungen zwischen Variablen betrachtet, unabhangig von bestimmten Gegenstandsbereichen. Spencer Brown legt mit den Laws ofForm einen Indikationenkalkul (calculus of indications) VOL Dies ist ein Aquivalenzenkalkiil, in dem Schemata fur die Transformation von Aquivalenzbezlehungen entwickelt werden. Die Bezeichnung des Kalkiils als Indikationenkalkiil ist uberraschend und wirft die Frage auf, ob fur diesen Typ von Kalkiil das entscheidende Merkmal modemer Kalkulisierung", namlich Formalitat uberhaupt, erfullt ist. Der Kalkul ist formal, wenn die verwendeten Symbole fur nichts stehen, interpretationsfrei sind, also keine extrasymbolische Bedeutung haben . Die Symbole des Indikationenkalkuls stehen fur nichts und sind interpretationsfrei. Sie sind aber Hinweise auf die Zustande der Form der Unterscheidung. Die Symbole des Kalkuls weisen gewissermaBen auf das hin, was sie selbst sind: Unterscheidungen. Damit ist aber kein bestimmter Gegenstandsbereich aufgerufen und keine Interpretation gegeben, sondem vielmehr die Moglichkeit von Formen und Formalitat iiberhaupt beruhrt.
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Kauffman fuhrt aus, dass die Primare Arithmetik der geschlossenen Formen ein fundamentales Muster sei, das der ,First Order Logic' unterliege . Die ,First Order Logic ' gehe daraus hervor. Das sei ein Gedanke , an den man sich erst zu gewohnen habe und der einen sehr anderen Blickpunkt auf Logik gabc, denn Logik sei nicht mehr als die Eigenschaften des Aktes der Unterscheidung, vgl. Kauffman 2001b:90. AUM2,3 Vgl. AUM 2,3 : .Not just to find the constants, because that would be, in terms of arithmetic of numbers, only to find the number . But to find out how they combine, and how they relate - and that is the arithmetic ." Vgl. zu einer Typologie von Merkmalen modemer Kalkulisierung Kramer 1988:176ff.
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Aus der Form der Unterscheidung werden auch die beiden Axiome des ersten Kapitels der Laws of Form gewonnen. Die Axiome bilden also nicht den Ausgangspunkt, vielmehr gilt es von der Form der Unterscheidung her zu sehen, wann und unter welch en Bedingungen es uberhaupt Sinn macht, von der Geltung von Grundsatzen (und dann der Grundgleichungen) zu sprechen. Vorausgesetzt sein mussen die Moglichkeiten des Prozesses der Unterscheidung. Dies ist der Rahmen, innerhalb dessen Prozesse wiederholt werden konnen und erst auf der Ebene, auf der Wiederholung denkbar wird, konnen Grundsatze, hier zwei Axiome, uberhaupt gelten. 1m Anschluss an die beiden Axiome und durch die Bildungs- und Transformationsregeln fur Ausdriicke konnen dann Theoreme abgeleitet und bewiesen werden . Hierunter fallen nach Spencer Brown auch Satze, die in ublichen Systemen den Status von Postulaten bzw. Axiomen ha-
ben." Spencer Brown entwickelt die drei Teile der Laws of Form, die Primare Arithmetik, die Primare Algebra und die erweiterte Algebra, wie gezeigt bewusst in Absetzung zur nblichen Arithmetik und Algebra, zur Theorie der Booleschen Algebren und zu gangigen Versuchen, mit selbstreferentiellen und paradoxen Ausdrucken umzugehen, wie z.B. der Russellschen Typentheorie . Die Gleichungen ersten Grades in der Primaren Arithmetik und der Primaren Algebra arbeiten im Rahmen der beiden Zustande der Form der Unterscheidung. Die Gleichungen zweiten Grades der erweiterten Algebra entstehen durch das Hinzukommen einer anderen Dimension. Diese neue Dimension interpretiert Spencer Brown als selbstreferentielle Figur und spricht bei Gleichungen dann von Selbstreferentialitat, wenn der Ausdruck, der bestimmt werden solI (,x'), in dem Ausdruck, durch den er bestimmt werden soil, selbst vorkommt oder, anders gesagt, wenn der Ausdruck, der bestimmt werden solI, in den, durch den er bestimmt werden solI, ,wieder eintritt' . Die Figur des Wieder-Eintritts oder ,Re-entry' charakterisiert die verschiedenen Gleichungen zweiten Grades der erweiterten Algebra. Ein Typ von Gleichungen zweiten Grades notigt zur Erweiterung der beiden bisherigen Zustande urn einen dritten, imagindr genannten Zustand (imaginary state)." Dieser dritte Zustand ergibt sich durch die Oszillation zwischen den beiden anderen Zustanden, ist also eine Art Zwischenzustand, der das, was er ist, auch nicht ist.
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Vgl. im Unterschied dazu die Rolle von Axiomen in der Logik : .A xiorne gelten als ,evidente' Prinzipien, welche als cines Beweises nicht bedurftig an den Anfang gesetzt werden. Es sci betont, dass diese Axiome lediglich in Bezug auf den bestimmten Kalkul und in der Theorie T keines Beweises bedurfen; es bedeutet nicht, dass die Axiome nicht anderweitig gerechtfertigt werden mussten. FOr jemanden, der z.B. keine unendlichen Mengen zulassen will, besitzt das Unendlichkeitsaxiom keine Rechtfertigung, auch wenn es ein Axiom von ZF ist." Link/Nieberga1l2003 :II9. Vgl. den Kommentar zum elften Kapiel,
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Spencer Brown deutet an, mit der Idee der imaginaren Werte in der erweiterten Algebra auch einen Weg fur den Umgang mit Paradoxien in der Logik gefunden zu haben, wie z.B. dem Satz ,Dieser Satz ist falsch.', der dann wahr ist, wenn er falsch ist oder dann falsch ist, wenn er wahr ist. Denn zwischen den G1eichungen zweiten Grades mit ungeradzahligen ,Re-entries' in seinem erweiterten Kalkul und den paradoxen -Satzen besteht nach Spencer Brown eine Analogie. In allen diesen Fallen findet sich eine selbstreferentielle Struktur mit Negation. Die Losung paradoxer Satze" kann nach Spencer Brown genau wie die Losung von G1eichungen zweiten Grades mit ungeradzahligen ,Re-entries' in einem dritten, oszillierenden Zustand Iiegen. Dadurch besteht die Moglichkeit , den eigenen theoretischen Rahmen zu erweitem, ohne solche Strukturen in einer Art Praventivverfahren verbieten zu mussen, wie es z.B. die Typentheorie von Russell und Whitehead versucht. Injunktive Methode In der Mathematik, wie Spencer Brown sie versteht, wird keine Aussage uber das gemacht, was ist." Dies ist eine Konsequenz aus dem oben beschriebenen Reduktionsprozess, den Spencer Brown auch als einen von Existenz auf Wahrheit, Wahrheit auf Bezeichnung, Bezeichnung auf Form und Form auf Leere bestimmr". Es werden keine Existenzaussagen getroffen. Dies heif3t aber nicht nur, sich der Existenzaussagen zu enthalten, sondem auch, die Idee der Existenz auf ihre Vorlauferin zu reduzieren, also die Idee von (selbstandig) Bestehendem fallen zu lassen. In diesem Prozess begegnen wir der Idee der Wahrheit , also der Ubereinstimmung zwischen Reprasentation und Wirklichkeit. Aber auch diese Idee der Wahrheit fallt in der Bewegung der Reduktion, da es ohne die Idee einer existierenden Wirklichkeit auch keinen Sinn mehr macht, von der Ubereinstimmung zwischen Reprasentation und Wirklichkeit zu reden. Es bleibt die Idee des Hinweisens, die aber auf die Idee der Form reduziert werden muss, wei! das, worauf hingewiesen werden kann, nicht einfach so vorhanden ist (das ist die Idee der Reprasentation, die wahr oder falsch sein kann) , sondem als komplexe Form generiert wird. Diese Form hat aber keinen Bestand , sie hat keine Existenz, sondem muss in immer neuen Akten generiert und aufrechter25
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Paradoxien konnen nach einem Grundmuster folgender Art gebildet werden: Verbindung vo n Inform ation uber die Welt mit scmantischer Information in einem Satz . , druckt aus, dass IjI wahr ist.'; Negation , druckt aus, dass IjI falsch (nicht wahr) ist. ' ; Reflexive Verwendung des Schemas , druckt aus, dass wahr ist.' Diese Funktion, etwas von sich selbst auszusagen, konnen indexikalische Ausdrucke ubernehmen. (Indikatoren = sprachlichc Zcichcn, die abhangig von der A uBerungssituation, in der sie verwendet werden , auf einen Gegenstand verweisen .) Nehmen wir aile Bcdingungen zusammen, ergibt sich das Schema: , druckt aus, dass falsch ist.' vgl. Link/NicbcrgaIl2003 :I09. Vgl. Spencer Brown 1997:x. Vgl. die Notes zum elften Kapit el Iof' :101.
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halten werden , sie beruhrt die Grenze zum Verschwinden und lost sich auf, wenn kein Hinweis mehr erfolgt - so kann sie letztlich auf die Leere reduziert werden. Dies sagt uns etwas tiber den Typ mathematischer Satze und auch tiber die Methode, mathematische Satze zu lesen und zu verstehen . Mathematische Satze drucken aus, was erscheinen wurde, wenn es konnte, Moglichkeiten, die sich im Reduktionsprozess erschlielien. " Es gehort zum Charakter der in den Laws of Form vorgenommenen Reduktionsbewegung, dass auch Raum und Zeit nicht als bestehende Strukturen vorausgesetzt werden, sondem der Ort ihrer Entstehung und damit die Moglichkeit ihrer mathematischen Verwendung markiert wird. Spencer Brown spricht von einem ersten Raum (first space), der durch die erste Unterscheidung (first distinction) zwischen Zustanden gemessen wird. Raum ist das, was ware, wenn es eine Unterscheidung geben konnte." Die erste Zeit (first time) wird durch die Bewegung der Oszillation zwischen den Zustanden bestimmt und hat keine Dauer. Zeit ist das, was ware, wenn es eine Oszillation zwischen Zustanden geben konnte." Beschreiben wir die Ebene der ersten Unterscheidung in der normal en Sprache, dann stehen wir vor dem grol3en Problem, dass die Qualitaten der Beschreibung nicht zu den Qualitaten dessen, was beschrieben wird, gehoren, Deshalb braucht es eine Notation, bei der die Beschreibung und das Beschriebene strukturanalog sind." Die Notation aus der Alltagssprache heraus zu verstehen, ist sehr schwierig und gelingt nur, wenn man ,gesehen hat', worum es dort geht. Die Satze der Mathematik nach Spencer Browns Verstandnis sind als Aufforderungen zu verstehen, als lnjunktionen, theoretische Prozesse selbst zu vollziehen. Denn der spezifisch mathematische Reduktionsprozess ist nur zu verstehen, wenn er realisiert wird, da ,Form' ja nichts fur sich Bestehendes, sondem nur als Generationsprozess zuganglich ist. Spencer Brown entwirft damit in konsequenter Form einen eigenen Erkenntnismodus, er sei ,inj unktiver Erkenntnismodus' genannt.
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AUM 1,12: " We represent what doesn 't actually happen but might happen , if it could" und AUM 4,3: "The universe is simply what would appear if it could" sowie "Its laws are the laws of the possible , called by Sakyamuni ..., called by me the calculus of indications . Each teaches exactly the same teaching , how what cannot possibly be anything comes to appear as if it were something ", LoF 1994:viii. Der ,first space', der einfach durch die Unterscheidung entsteht, hat noch keine GrOBe und daher keine Mabstabe . Deshalb kann es auf dieser Ebene (vgl. AUM 2,4) noch kcine Geometrie geben , hier sind Primare Arithmetik und Geometric noch kondensiert . Vgl. AUM 1,9. "And in talking about the system , the qualities in the description do not belong to what we are describing" (AUM 1,10). Es gilt also eine Sprache zu entwickeln, die, mit Wittgenstein gesagt , die richtige ,logisehe Mannigfaltigkeit' hat.
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Dieser ,injunktive Erkenntnismodus' ist uns nicht ohne weiteres zuganglich und will geubt sein . Dazu gehort, alle Verwendungen von ,ist' durch: ,lasst uns so tun, als ob' zu ersetzen. AuBerdem gehort zur Realisierung des ,injunktiven Erkenntnismodus' ein systematisches Verlemen von Unterscheidungskomplexitaten, die in unserer naturlichen Sprache immer schon vorausgesetzt scheinen. Befolgen wir namlich einfach nur die Aufforderungen, die in den Laws ofForm zu Beginn des Kalkuls fur die Konstitution der ersten Unterscheidung gegeben werden, dann konnen wir dabei auch ubliche Ebenen von Unterscheidungskomplexitaten uber- und unterschreiten, bis die Form der Unterscheidung selbst gesehen werden kann." Zu verstehen (understanding") heiBt, Ebenen tiefer gehen zu konnen, sich ,unter etwas Bisheriges, Gewohntes stel1en zu konnen' (standing under) und damit die Kompetenz zu entwickeln, zwischen verschiedenen Ebenen hin und her zu gehen." Dies kann aber nicht in der Sprache ausgesprochen, also deskriptiv beschrieben werden, sondem es muss eine (theoretische) Erfahrung vermittelt werden, durch die etwas gesehen werden kann, erst dann ist Verstehen moglich." Zu Spencer Browns Theorieaufbau gehort demnach wesentlich das Verfahren der Injunktion, das die Beschranktheiten der deskriptiven Alltagssprache, aber auch al1er Formen von deskriptiver Kunstsprache zu Uberwinden vermag. Dies Verfahren ist ein quasi praktisches Gehen und damit Erschaffen eines theo32
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Vgl. vor allern das zweite Kapitel der Laws ofForm. "Because understanding means literally what it says: You go into another level and stand under." AUM 4,4. Vgl. AUM 4,4 . Oort wird ausgefilhrt, dass dann, wenn alles nur auf einer Ebene gesehen wird, Widerspriiche auftauchen . Unsere Sprache ist nicht so gemacht, dass wir verschiedene Ebenen hin- und riickiiberschreiten konnen, es braucht Training. Oer injunktive Gebrauch der Sprache steht dem deskriptiven entgegen und transportiert keine Meinungen (AUM 4,5). Fiir die Idee von Ebenen (levels) und Ebenenwechsel bezieht sich Spencer Brown auf das Buch von Rolt (Ubersetzung und Einfilhrung. 1920) iiber die Engelshierarchien und die Heiligen Namen von Oionysios Areopagita, einem spatantiken mystischen Theologen. Oass dies eine wichtige Anregung fur Spencer Brown war, hauptsachlich die Fundierung seiner nicht-numerischen , formalen Mathematik betreffend , geht aus den akzentuierten Hinweisen in AUM (1,IOf. und 4,2 und 4,4) und aus den Biicherempfehlungen von Only tWo can play this game hervor, wo es als eigener Titel angefuhrt ist. Oort heisst es: "Much of what is in this book is confirmed , with a very different method, in the next book lund das ist: Laws of Form seiber]. The reader's attention may be drawn , for example , to the parallel accounts of the emergence of time...'', Spencer Brown 1971:108f. Oenn in der Sprache, die physikalische Verhaltnisse beschreibt, werden immer schon sehr komplexe , nach Spencer Browns Beschreibung mehrfach in sich selbst wieder eingetretene Unterscheidungen verwendet, auf die innerhalb der Sprache nicht verzichtet werden kann. Vgl. zum Wechsel von ,seeing' , ,being' und ,doing' AUM 4,2. Vgl. auch das Verhaltnis der Formen des Verstehens ,communion ' und ,communication' . Je mehr gemeinsame Erfahrung (communion) da ist, desto weniger Kommunikation in der Wortsprache (communication) ist notig. Je weniger gemeinsame Erfahrung da ist, desto mehr Kommunikation in der Wortsprache ist notig, vgl. dazu AUM 3,2.
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retischen Weges, der eben dadurch entsteht und gewusst werden kann. Die Injunktion, die diese Erfahrung vennittelt, unterschreitet die Differenz zwischen der aktiven Handlung eines Akteurs, der sich aIs Ursache versteht, auf der einen Seite und eines passiven Ereignisses auf der anderen Seite . Auf diese Weise werden die ublichen Grenzen zwischen experimenteller und deduktiver Methode und zwischen Theorie und Praxis eigentumlich verschoben." Der Typ der mathematischen Satze und der ihm angemessene injunktive Erkenntnismodus haben erkenntnistheoretische Implikationen. Diejenige Erkenntnis ist adaquat, die den Generationsprozess von Unterscheidungen (mit)voHzieht. Durch das Treffen von Unterscheidungen entstehen Welten, die je nach Ebene und Unterscheidungskomplexitat je andere sind." 3. Logik Spencer Brown versteht die Laws of Form aIs zur Mathematik und nicht zur Logik gehorig, Denn eine Untersuchung tiber die Gesetze der Form Iiefert den elementaren Rahmen, innerhalb dessen z.B. die Aussagenlogik arbeitet. Er versteht Mathematik wie die Grundlagenwissenschaft, Logik wie eine Anwendung dieser mathematischen Grundlagen. Dieses Grundlagen-Anwendungsverhaltnis bezieht er vor allem auf seine Laws ofForm auf der einen und die Aussagenlogik auf der anderen Seite." Spencer Brown bestimmt die Aussagenlogik als Interpretation des Indikationenkalkuls aus den Laws ofForm?" Dies gilt genauso fur die Schaltalgebra, die auch aIs Interpretation des Indikationenkalkuls beschrieben wird: "The same mathematics underlie both, but it is not the same as anyone of its interpretations. ,,40 Der zentrale Begriff fur die Verhaltnisbestimrnung zwischen mathematischem Indikationenkalkiil und Aussagenlogik, der der Interpretation, hat in Spencer Browns Verwendung folgende Kontur. Mit Interpretation ist nicht nur 36
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Die Grenzen, die Wittgenstein der Sprache in Satz 7 des Tractatus zieht, gelten nach Spencer Brown nur fur die deskriptive Sprache und werden seines Erachtens durch das injunktive Verfahren aufgehoben, vgl. Notes zum zweiten Kapitel LoF:77. Das Konzept der Injunktivitat versteht sich ausdrucklich als Alternative zu Wittgensteins Tractatus . Allerdings hat Wittgenstein selbst mit diesen beiden Sprachmodi gearbeitet, vgl. z.B.: ,,Jede Vorschrift kann als Beschreibung ,jede Beschreibung als Vorschrift aufgefasst werden ." Philosophische Bemerkungen, 59. Zu den erkenntnistheoretischen Implikationen vgl. Spencer Brown 1994a :34. Dort kritisiert er einen ,Trick', der .xlazu dient, uns das Tun vergessen zu lassen , mit dem wir sie [die physische Welt] so gemacht haben , wie wir sie nun vorfinden," ,,[L]og ic is not , and never has been, a fundamental discipline", LoF :xi . Vgl. auch die Notes zum elften Kapitel : "Thus the relation of logic to mathematics is seen to be that ofan applied science to its pure ground ...'', LoF:102. Hierzu wieder tiber den Unterschied in der , Introduction' von 1967: " Thus the subject matter of logic , however symbolically treated, is not ... a mathematical study.", xxviii. (Hvhb. K.W . und T.H.) AUM 1,2
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wie sonst fur Kalkule ublich die Zuordnung von Werten zu Ausdrucken gemeint, sondem der Zusammenhang zwischen einer Theorie mit einer einfacheren und einer mit einer komplexeren Syntax. Die Theorie mit der einfacheren Syntax kann deshalb grundlegender genannt werden, weil gezeigt werden kann, wie die komplexeren Theorien sich auf der Basis der einfacheren aufbauen lassen. In diesem Sinne konnen die komplexeren Theorien als lnterpretationen der einfacheren verstanden werden . Die hohere Komplexitat der Aussagen- und Pradikatenlogik zeigt sich an ihrer aus Spencer Browns Sicht viel zu komplizierten Syntax, wodurch verschiedene theoretische Moglichkeiten eher verbaut als ermoglicht werden. Die Sprache der Aussagen- und Pradikatenlogik enthalt Symbole verschiedenen Typs, solche fur Satze (p, q) oder Dinge (x, y), Symbole fur Eigenschaften (G, F), solche fur Beziehungen wie Symbole fur Relationen (R) und solche fur Operatoren wie Symbole fur Zusammenfassungen (\::1,3) und Symbole fur Verknupfungsoperationen (--" /\, v, ~ , B). In der mathematischen Sprache des Indikationenkalkiils dagegen sind all diese Unterscheidungen zwischen Formeln, Relationszeichen, Termen und Operatoren in dem Zeichen I kondensiert. Damit entwickelt Spencer Brown eine moglichst einfache Syntax (soweit hier uberhaupt von Syntax im Unterschied zu Pragmatik und Semantik gesprochen werden kann), in der verschiedene Funktionen nicht durch je eigene Symboltypen, sondem durch verschiedene Gebrauchsweisen im Kontext ausgedriickt werden konnen." Der Ort der Aussagen- und Pradikatenlogik ist aus der Sicht Spencer Browns nah an der Grammatik, nah an der natnrlichen Sprache. Wie die Grammatik die Analyse der sprachlichen Konstruktionen ist, so sind Aussagen- und Pradikatenlogik die Analyse und die Formulierung der Strukturen und Regeln, die in Argumenten verwendet werden . Damit ist die Sprache der Aussagen- und Pradikatenlogik wie die der Grammatik aber eben zu komplex, urn die Ebene der ersten Unterscheidung ausdrucken zu konnen." Spencer Brown sucht in den Laws of Form eine Begrundung fur die Wahl seiner Syntax, die nicht auf die Alltagssprache zuruckgreift und auch nicht (nachtraglich) durch die Resultate und die Leistungskraft des Kalkiils gegeben wird. Diese Begrundung findet er in der Form der Unterscheidung. Zu dem Interpretationsverhaltnis zwischen mathematischem Indikationenkalkul und Aussagen- und Pradikatenlogik gehort die Moglichkeit der Ubersetzung der Ausdrucke der Theorie mit der einfacheren Syntax in die Ausdrucke 41
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Bei dieser Kondensation geht es nicht nur darum, dass sich ein vollstandiges formales System auf nur einem Operator aufbauen lasst , Dies ist z.B . durch den Sheffer-Strich und den PeircePfeil schon anderweitig nachgewiesen. Das Besondere ist, dass die verschiedenen Symboltypen kondensiert werden. Dadurch wird eine formale Sprache entwickelt, die keine scharf individuierten Objekte, fur die es einen eigenen Symboltyp braicht, voraussetzt. Vgl. ADM I ,ll.
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der Theorie mit der komplexeren Syntax. 1m Appendix 2 ,The calculus interpreted for logic'? legt Spencer Brown eine solche Ubersetzungsmoglichkeit vor. Die genauen Zuordnungen zwischen den Ausdrucken der versch iedenen Sprachen sind nicht festgelegt, sondem lassen Spielraum ftlr konventionelle Entscheidungen. Die Zuordnung von ,marked state' zu Wahrheit (W) oder ,unmarked state' zu Falschheit (F) lieBesich z.B. auch vertauschen. Jede Theorie mit komplexerer Syntax, die in diesem Sinne als Interpretation der Theorie mit der einfacheren Syntax verstanden werden kann, ist nach Spencer Brown in ihrem Anwendungsbereich eingeschrankter als die Theorie mit der einfacheren Syntax. Die Theorie mit der einfacheren Syntax ,unterliegt' denen mit komplexerer Syntax und liefert fur diese gewissermaBen einen gemeinsamen Vorlaufer. Dies eroffnet auch die Moglichkeit, die Interrelationen zwischen den verschiedenen Symboltypen in komplexeren Sprachen als verschiedene Aspekte von Unterscheidungen und Hinweisen zu betrachten. Bei der Interpretation des Indikationenkalkuls bleibt so immer ein Ebenenunterschied bestehen , es wird also nicht nur eine Ubersetzung in gleichwertige Sprachen vorgenommen. Dies zeigt sich an der Ubersetzung bzw. Interpretation des ,cross' des Indikationenkalkuls als non-Operator in der Aussagenlogik. Es wird durch diese Interpretation eine von verschiedenen moglichen Gebrauchsweisen des ,cross' herausgegriffen, namlich die, invertierender Operator zu sein. Dadurch, dass diese Gebrauchsweise von den anderen Gebrauchsweisen getrennt wird, entsteht eine andere Sprache als die, in der das ,cross' einfach ,Uberschreite' heiBt. Diese Interpretation ist eine Reprasentationsentscheidung, die den Moglichkeitsspielraum des ,cross ' einschrankt." 4. Daoismus , Buddhismus Spencer Brown hat die Laws ofForm von der ersten Auflage an in den Kontext ostasiatischer Kulturen gestellt. Das Motto stammt aus einem Basistext des philosophischen und religiosen Daoismus, dem Daodejing'". In den spateren Vorworten nimmt Spencer Brown zunehmend auf den Buddhismus Bezug." 1m Vordergrund stehen dabei die Themen ,Nichts' und ,Leere', die in ihrem kosmologischen Aspekt (Entstehung aus dem Nichts) und in ihrem semiotischen Aspekt (Zeichenlosigkeit und Namenlosigkeit) anklingen. Aus der weitverzweigten Tradition des Buddhismus nimmt Spencer Brown den zentralen Gedanken der .abhangigen Koproduktion' (Pratityasamutpiidai auf und konzent-
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Vgl. IV.A Appendizes. "We have only made it representative of ' not' for the purpose of interpretat ion ...", AUM 1,12. Vgl. Kommentar zum ,0. Kapitel'. Vgl. Vorstellung der intemationalen Ausgab e von 1985 in LoF:1997, Vorwort von LoF:1994 sowie in Spencer Brown 1971 und vor allem 1995.
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riert sich dabei auf dessen methodische Moglichkeiten als eine Art von Relationalitat. Spencer Brown ruckt die Laws ofForm durch diese Bezuge auf ostasiatische Traditionen in Kontexte, die fur die westliche mathematische, wie auch logische und philosophische Theoriebildung immer noch ungewohnlich sind (trotz Ausnahmen wie Leibniz oder Smullyan). Diese Kontexte sind nicht nur durch Sprachen gekennzeichnet, die zum Teil grundsatzlich anders funktionieren als die westlichen (das gilt vor allem fur das Chinesische") und deren Traditionen ganz andere Begriffsbildungen (falls sich davon sprechen lasst) entwickelt haben . In diesen Traditionen findet sich meist auch eine andere Vorstellung von Theorie, die Ethik, Ontologie, Logik, Epistemologie und Soteriologie" umfasst und nicht als ,Disziplinen der Philosophie' und als ,Theologie' oder .Religion"" voneinander isoliert werden. Die theoretische Betrachtung der Wirklichkeit und die Erkenntnis von ,Objekten' wird immer mit Selbsterkenntnis und Transformation seiner selbst in Zusammenhang gebracht. Spencer Brown fuhrt die Zusammenhange, die er zwischen den Laws of Form und den ostasiatischen Traditionen sieht, nicht genau aus, sondem beschrankt sich auf (zahlreiche) Andeutungen. Dadurch scheint er auf einen als geistesverwandt empfundenen Hintergrund hinzudeuten, auf dem entscheidende Gedanken der Laws of Form durchsichtiger werden konnten, Das spezifische Interesse Spencer Browns ist primar kognitiv, wie die Frage nach dem Entstehen von Unterscheidungen und die Frage nach Grenzen und Moglichkeiten der Sprache , auch einer religios-spirituellen, zeigen .
Nichts, Leere Das erste Wort, mit dem die Laws of Form beginnen, ist das chinesische Wort ,wu' - Nichts, nicht, ohne. Dieses fur den philosophischen und religiosen Daoismus zentrale Wort bildet nicht nur den Anfang der Laws of Form, sondem wirkt auch in den Text hinein und wird von Spencer Brown in den verschiedenen Selbstkommentierungen mehr und mehr zum Thema gemacht. Wahrend das Vorkommen von ,wu' zu Beginn der Laws of Form zuerst eher fur den Anfang ohne Namen zu stehen scheint", treten die verschiedenen Bedeutungen von 47
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Spencer Brown sagt selbst iiber die chinesische Sprache in seiner Empfehlung des Daodejing: ,,[Die] chinesische Sprache fist] so kraftvoll ... , dassjede .Ubersetzung' in eine westlich e Sprache nur jeweils eine der viclen moglichen Interpretationen des Originals abdeckt. Chinesisch ist eine Bilder spraehe, sehr poetisch und mathematisch .. .", 1994a:104. ,Lehre von der Befreiung vom Ieiden'. Fiir den buddhistischen Kontext sind beide Ausdriicke problematisch , da der Buddh ismus gerade keinen Gott, keine Offenb arung und keinen Glauben an beides kennt. Zentral ist dafur eine Form von Einsicht , die gleichermallen als Wissen und als Erfahrung beschrieben werden kann. Vgl. dazu z.B. Elberfeld 2004:69ff. Vgl. den Kommentar zum ,0. Kapitel' .
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,Nichts' mit der Frage nach dem ,Woraus' der ersten Unterscheidung mehr und mehr in den Vordergrund, die Spencer Brown vor allem in A Lion's Teeth und dann auch in dem Vorwort zu den Laws ofForm von 1994 nachdrucklich stellt. Die Spuren der Wirksamkeit der ostasiatischen Konzepte von ,wu' (Nichts, Leere, Losigkeit) erschlieBen sich leichter, wenn einige Bedeutungen von ,wu' unterschieden werden." Es seien vier verschiedene Bedeutungsrichtungen voneinander abgesetzt, die sich aus einer Kombination von etymologischen Uberlegungen und der Zusammenschau zentraler Verwendungen im Daodejing ergeben. • Jlff, wu ' als Prozess des Entstehens und Vergehens Eine etymologische Moglichkeit ist es, das Schriftzeichen ~ ,wu' auf eine Kombination der Zeichen ,Wald' und ,Feuer' zuruckzufuhren, ,wu' also bildlich als niedergebrannten Wald zu verstehen . "AIs gedankliches Substrat des Begriffs ,wu' ist offenbar der Zustand des Noch-Nicht-Seins oder Nicht-MehrSeins wie auch der Prozess, durch welchen dieser Zustand hervorgerufen wurde, zu verstehen."? 1m Daodejing finden sich zwei Varianten von .prozessualelrj (Interjdependenz?" zwischen Sein und Nichtsein. Dort geht es urn ein Hervorgehen und Vergehen, urn ein Ineinanderubergehen, Im zweiten Kapitel des Daodejing heiBt es nber den Zusammenhang zwischen ,wu' (nicht, Nichts) und ,you' (sein, haben) : "Sein und Nichtsein erzeugen einander.'?' Im 40. Kapitel des Daodejing wird die Beziehung anders beschrieben: .Das Sein entsteht im Nichtsein.v" • Jlff, wu ' als geformte Leere Im Daodejing kommt ,wu ' in zentraler Funktion im elften Kapitel vor, dort steht ,wu' fur den Leerraum z.B. bei der Radnabe, bei einem Gefaf und bei einem Haus, durch den all diese erst gebraucht werden konnen. Im elften Kapitel finden sich ,wu' (nicht, Nichts) und ,you' (sein, haben) in unmittelbarer Juxtaposition ,wu you' . .Das Rad, das GefaB und das Haus gewinnen ihre Brauchbarkeit durch die Leerstellen in ihnen. Diese .Gegenstande' sind eben nicht als blol3e Gegenstande beschrieben, sondem als ,funktionale Prozesse' .,,56
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Die Basis dafur ist die Studie von Wohlfart 2001b. Ein interessanter Versuch im Anschluss an Spencer Browns Appendix 4 iiber die natiirlichen Zahlen mit verschiedcnen Aspekten von Nichts im Bereich westlicher Mathem atik umzugehen, findet sich bei Kauffman in seinem Versuch tiber ,Zero numbers ' : ,,1 shall also discuss ,zero numbers ', a concept grounded in ordinary numbers that opens up the powers of zero so that 0, OxO, OxOxO, ... are all distinct forms of the void." Kaufman 2000c : 83. Schwarz, zitiert nach Wohlfart 2001b:66. Wohlfart 2001b :63 Uber setzt von Wilhelm , zitiert rach Wohlfart 2OOlb:62. Obersetzt von Wilhelm , zitiert mch Wohlfart 2001b:63. Moller, zitiert nech Wohlfart 200Ib:64.
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• f!!f, WU' in der Zusammenstellung von Gegenlaufigem In den Kapiteln 13, 38, 46 und 79 des Daodejing findet sich ,wu' im Zusammenhang mit einer Zusammenstellung gegenlaufiger Gegebenheiten zum Zwecke eines Vergleichs bzw. einer Valuierung, ,haben Korper/Selbst - nicht (haben) Korper/Selbst' (13), ,haben Tun - ohne Tun' (38), ,haben dao (Weg) nicht haben dao (Weg)' (46), ,haben de (Tugend) - nicht haben de (Tugend)' (79)57. • f!!f, wu ' als Ritus, ,Etwas ins Sein zu rufen ' Eine andere etymologische Moglichkeit ist es, das Schriftzeichen f!lIi ,wu' auf eine fruhe Schreibweise zuruckzufuhren, die eher ,tanzen' bedeutet und mit einer Form rituellen Tanzes in Verbindung steht. Diese Rituale "beziehen sich auf Zustande, die vor dem sichtbaren Erscheinen empirischer Dinge liegen und die gleichzeitig eine mit magischer Bedeutung verknupfte Voraussetzung fur das Entstehen dieser Dinge bilden.?" Die Wirksamkeit des .wu' bzw. der verschiedenen Bedeutungsebenen zeigt sich an verschiedenen Stellen in den Laws of Form. ,Leere' und ,Nichts' sind zum Einen wichtig bei dem radikal durchgefiihrten Reduktionsprozess" von Existenz aufWahrheit, Wahrheit auf Bezeichnung, Bezeichnung auf Form und Form auf Leere . In diesem Verfahren wirkt ,wu' als Prozess des Vergehens, urn von einer elementareren Basis her, quasi aus der Leere den Kalkul neu aufzubauen. (Hier wirkt ,wu' als Prozess des Entstehens - im Bild gesprochen: aus den Wurzeln des abgebrannten oder abgerodeten Waldes.) ,Wu' in dieser Bedeutung realisiert sich im Prozess des ,unlearning', des ,Verlernens' von gewohnten, als unhintergehbar ,seiend' angenommenen Unterscheidungen." Die spateren Vorworte und vor allem A Lion 's Teeth von 1971 zeigen, dass Spencer Brown immer mehr Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet hat, wie die erste Unterscheidung aus Nichts entstehen kann und wie ,Nichts' als wirksames ,Nichts', aus dem etwas folgen kann, gedacht werden kann ."
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Nach Wohlfart 200Ib :64f Ommerbom, zitiert nach Wohlfart 200Ib:67. Die .Logik' dieses Prozesses einer radikalen Reduktion tiber eine Folge von Ebenen (levels) fand Spencer Brown auch in Rolts Dionysios-Buch, allerdings stammt die Verlangerung in das ,void ', als das ,unnamable Tao' , aus dem Daodejing. Spencer Brown 1971:124. Vgl. zum ,unlearning' ADM 1,10. "AIl I teach is the consequence of there being nothing. The perennial mistake of western philosophers has been to suppose, with no justification whatever , that nothing cannot have any consequences .", LoF:ix sowie: "The idea that the creation must be a consequence of 'something' is moronic. No thing can have any consequence whatever ....Ifthere were originally something, it would poison the whole creative process. Only nothing is unstable enough to give origin to endless concatenations of different appearances." LoF:ix/Anm 5.
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Die Bedeutungsebene von ,wu' als gefonnte Leere wirkt in die Wahl der Grundstrukturen hinein , wenn Spencer Brown im zweiten Kapitel den ,marked state' und den ,unmarked state' als die beiden Grundzustande wahlt und dem leeren Raum eine Funktion im Kalkul zuschreibt. Die dritte Bedeutungsebene von ,wu' in der Zusammenstellung von GegenIaufigem wirkt hinein in die Verfahrensweise Spencer Browns, im Kalkul die beiden gegenlaufigen Operationsrichtungen zu betrachten, wie im sechsten KapiteI.
Abhangige oder konditionierte Koproduktion Spencer Brown kontextualisiert die Laws of Form in den spateren Vorworten und Einleitungen immer deutlicher in den Denkrahmen buddhistischer Philosophie". Im Vordergrund steht der zentrale Gedanke der ,konditionierten Koproduktion ?" , Den Sinn der Pratityasamutpiidd" (sanskrit), also der ,konditionierten Koproduktion' oder des ,Entstehens in gegenseitiger Abhangigkeit', soli nach vielen Uberlieferungen Buddha kurz nach seinem Erwachen erfasst haben. In praktisch allen buddhistischen Traditionen wird es zur Analyse der Entstehung und zur Ubung der Aujhebung von Leid verwendet. Ublich geworden ist eine Kausalkette von zwolf Gliedem, die in Abhangigkeit voneinander stehen und Leid verursachen ." Spencer Brown konzentriert sich dagegen auf die methodischen Moglichkeiten eines bestimmten Typs von Relationalitat, die auch mit dem Gedanken der ,konditionierten Koproduktion' verbunden werden konnen. An dem Gedanken des abhangigen oder konditionierten Entstehens aller Aspekte eines Systems, sei es eines mathematischen Systems , seien es Alltagsliberzeugungen uber die Welt und sei es unsere Stellung darin, lassen sich verschiedene Struktunnomente unterscheiden, die Spencer Brown als intentionsverwandt mit dem Vorgehen in 62 63
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Dieser ,Denkrahmen' ist keinesfalls einheitlich, sondem hoch komplex und vielfaltig. Z.B. "The universe is simply what would appear ifit could . Its laws are the laws of the possible, called by Sakyamuni the links of conditioned coproduction, called by me the calculus of indications.", LoF:viii : Oder auch : .Kanon Null . Koproduktion : Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch , gleich. .. . [W]enn eine Unterscheidung ,in' nichts getroffen werden konnte, dann [wurde] das Ganze der konditionierten Koproduktion , deren Operation unentrinnbar ist und vollstandig sichtbar, unvermeidlich stattfinden .. ., und das erkennbare Universum unvermeidlich erscheinen .. ., ganz genau gernaf den Gesetzen ,seiner' Form." in der Vorstellung der internationalen Ausgabe Spencer Brown I997:ix-x. Zur Etymologie vgl. die Ruckfuhrung auf den ursprlinglichen Pali-Ausdruck: .Paticca Samuppada ' bei Macy 1991: .Uppada' bedeutet ,Entstehen', ,sam' bedeutet ,mit, zusammen ', .Paticca' bedeutet .Bezogen-Sein-auf Begrundet-Sein-von' , In der englischen Literatur sind fur .Pratrtyasamutpada' die beiden Obersetzungen : ,dependent co-originati on' (Streng 1967) und ,conditioned co-production' (Conze 1962) gelaufig. Waldenfels (1976) findet die Umschreibung ,reine Relationalitat', ,das reine Existieren aus/in Beziehung ' . Vgl. Elberfeld 2004 :65-74.
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den Laws of Form erkannt und deshalb explizit aufgenommen hat. In der Art, wie Spencer Brown diesen Gedanken des abhangigen oder konditionierten Entstehens aufnimmt, kann er folgendermaBen profiliert werden: 1) Einheiten entstehen nie isoliert, sondem mindestens als triadische Struktur. Daraus ergibt sieh, dass ein moglicher Anfang fur eine Theorieentwieklung in einer triadischen Struktur und nicht in einer daraus abstrahierten Einheit Iiegt. Am Anfang steht bei Spencer Brown die triadische Struktur Unterscheidung. Dazu heiBt es in dem Vorwort von 1994: "Any indication implies duality, we cannot produce a thing without coproducing what it is not, and every duality implies triplicity : what a thing is, what it isn't, and the boundary between thern. v' ? 2) In der Form der Unterscheidung sind unendlich viele Moglichkeiten angelegt, komplexe Ausdriicke zu bilden. Spencer Brown verweist auf den Zusammenhang zwischen der buddhistischen Idee der konditionierten Koproduktion und dem, was im Indikationenkalkiil die Erweiterung der Referenz (,Expansion of Reference', Kanon 5 im dritten Kapitel) genannt wird. Dort heiBt es: "Thus, in general, let any form of reference be divisible without limit." 67 Beide Ideen zeigen, wie aus Einfachem beliebige Komplexitaten generiert, aber auch wieder reduziert werden konnen. 3) Es ist ein ublicher, aber inadaquater Umgang, einzelne Elemente aus den Bezugen zu den anderen Elementen und also aus der sie ermoglichenden Struktur herauszulosen und die Elemente als voneinander getrennte aufzufassen . AuBerhalb der konditioniert koproduzierten Struktur ,gibt' es niehts, und da auch diese Struktur sich nicht wie ein einzelnes Element benennen lasst, ,gibt' es nichts. Dazu Spencer Brown: "None of these exists in reality, or separately from the others. In reality there never was, never could be, and never will be anything at all.?" In diesen Zusammenhang gehort Spencer Browns Verwendung des Moglichkeitsbegriffs. Mit .Moglichkeit' ist keine Vorstufe von Existenz gemeint, sondem die Weise, wie die Struktur konditionierter Koproduktion angemessen zu bestimmen ist. Die Rede von ,Existenz ' dagegen geht von dem Bestehen von Trennungen aus und ist damit als verkurzendes Modell zu kritisieren. .Moglichkeit' und ,Existenz ' erscheinen so als zwei Betrachtungsweisen von Wirklichkeit. Die Untrennbarkeit von Betrachtungsweise und Wirklichkeit
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An dieser Stelle geht es weiter in Bezug auf das erste Kapitel der Laws of Form : "Thus, as explained in the Chapter 1 of the Laws, you cannot indicate anything without defin ing two states, and you cannot define two states without creating three elements." , LoF :ix. All dies versteht Spencer Brown als Neufassung des Buddha zugeschriebenen Wortes : "Ex istence is duality : nonexistence is nonduality. " (ebd.) . Vgl. zu der triadischen Struktur auch schon Spencer Brown 1971:125-126. Spencer Brown 1995:151. Vgl. zu Kanon 5 LoF:10 sowie den Komrrentar zum dritten Kapitel. LoF:ix
II.A Kontexte der Laws ofForm
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nimmt Spencer Brown in seiner Idee der ,triple identity' im Wechselspiel von ,reality, appearance and awareness' auf." 4) Ein wichtiges Strukturmoment im Gedanken der konditionierten Koproduktion betrifft die Art der Beziehung zwischen den Aspekten des entstandenen Strukturgefuges (hier z.B, des triadischen). Die Aspekte oder Elemente entstehen simultan durch einander ohne weitere Ordnungsbeziehungen wie Reihenfolge oder Rangfolge . Spencer Brown arbeitet auch in seinem Indikationenkalkill nur mit der Beziehung der Unterschiedenheit (und nicht Getrenntheit) der Aspekte, die zusammen mit anderen Aspekten entstehen. Dafur muss von allen anderen Beziehungen wie Reihenfolge, ZweistelIigkeit, Wertrangfolge abgesehen werden, da dies vieI komplexere und nur fur bestimmte Bereiche angemessene Beziehungen sind." Im Denkrahmen der konditionierten Koproduktion, wie Spencer Brown sie aufnimmt, wird die Verwendung verschiedener grundlegender Konzepte, wie sie z.B. in der Pradikatenlogik eingesetzt werden, problematisch, da sie in der Theorieentwicklung, wie Spencer Brown sie versteht und durchfiihrt, nicht vorausgesetzt oder gar nicht gebraucht werden konnen. Allen problematischen Konzepten ist gemeinsam, dass Elemente und ihr (triadisches) Strukturgefuge so gedacht werden, dass sie voneinander trennbar sind (buddhistisch formuliert : ein Eigensein haben") und erst nachtraglich aufeinander bezogen werden. Dazu gehoren neben dem schon genannten Konzept der ,Existenz' noch: ,Individuen' (isolierbare Elemente), .Pradikation' (wir schreiben einem isolierbaren Etwas eine Eigenschaft zu), der Begriff ,Referenz' (wir beziehen einen isolierbaren Begriff auf ein isolierbares Objekt oder einen isolierbaren Satz auf eine isolierbare Tatsache), ,(exteme) Relation' (isolierbare Elemente sind aufeinander beziehbar) . Im ersten und zweiten Kapitel der Laws of Form wird versucht, innerhalb der Form Altemativen zu den Konzepten Individuum, Pradikation, Referenz und (extemer) Relation zu denken, die den Typ von Relationalitat realisieren, der mit den vier Kriterien der ,konditionierten Koproduktion' bestimmt ist.
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Vgl. LoF:vii sowie den Ansatz einer Beobachtungstheorie, in der die Laws of Form mit der buddhistischen Madhyamika-Philosophie in einen Dialog gebracht werden : "Die Wirklichkeit wird im Bezug zur Beobachtung gesehen und kann auch nur so erkannt werden . ... [Wirklichkeit] wird genau dann [erfahren], wenn die Beobachtung der Wirklichkeit bis auf den Grund ihrer Konstitution durchschaut wird." Von Egidy 2003 :9. Vgl. dazu in Anmerkung I in Only two can play this Game : "In a qualityless order, to make any distinction at all is at once to construct all things in embryo . Thus the First Thing , and with it the First Space and the Fist Existence and the First Being, are all created explosively together." Spencer Brown 1971:124. Sanskrit ,svabhiiva' .
H.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form Tatjana Schonwalder-Kuntze
Die Laws of Form von George Spencer Brown sind ein kryptisches, schwer zu durchdringendes und noch viel schwerer zu fassendes Buch - zumindest auf die ersten zehn Blicke. Das liegt an Spencer Browns reduktionistischem Stil, an seiner vollkommen neuen und andersartigen Notation gegenuber anderen logischen Kalkulen und an seiner teilweise eigentiimlichen Verwendung der englischen Begriffe , bei der er grof3en Wert auf deren Etymologie legt, sowie an den von ihm selbst vorgeschlagenen Deutungen und Anwendungen, die von philosophischen Grundfragen bis zu elektromagnetischen Schalttafeln fiihren. Das wurde reichen, um das Buch als ,wunderlich' abzutun und es nicht weiter zu beachten . Zudem verweist uns dieses Buch immer auch explizit auf uns selbst als Lesende, Rezipierende und Nach-Vollziehende, so dass die Schwierigkeiten bei den Durchdringungsversuchen auch daran liegen konnten, dass wir versuchen, vollbeladen mit allerlei ,Werkzeug' aus den Disziplinen Mathematik, Philosophie und Logik dieses Buch zu verstehen. Spencer Brown selbst empfiehlt uns aber, diese ,Werkzeuge' moglichst erst einmal zu vergessen, sonst konne man sich den Kalkul nicht erschlief3en, sich seiner Schonheit nicht nahern . Die genannte Empfehlung ist leichter ausgesprochen als in die Tat umgesetzt - denn schlief3lich sind es diese ,Werkzeuge', anhand derer wir gelemt haben, die Welt oder zumindest unsere Forschungsgegenstande zu erfassen. Einige der Fragen, die sich dem ,Forschungsreisenden' in die Laws ofForm stellen, konnten moglicherweise so lauten: Lohnt sich das? Was habe ich davon, alles (vieles) von dem, was ich gelemt habe, zunachst zu vergessen? Wird es wirklich neue Einsichten geben, oder handelt es sich um alten Wein in neuen Schlauchen? Wofiir kann ich diese Einsichten, sofem ich sie gewinnen sollte, denn brauchen? Was interessieren mich ein weiterer ,logischer Kalkul' , Schaltkreise oder die angekundigte Moglichkeit, eine elegante Losung fur Paradoxien zu finden? Es ist wohl nicht ubertrieben zu behaupten, dass solche Fragen am Anfang jeder Entdeckungsgeschichte der Laws of Form stehen - eine Ausnahme bilden die Leserlnnen, die bereits auf den ersten Blick die .Schonheit' und .Einfachheit' zu entdecken vermogen, von denen auch Spencer Brown selbst spricht. Auch wir haben uns im Laufe der Beschaftigung mit den Laws of Form diese Fragen immer wieder gestellt und hatten dennoch nie das Gefiihl, etwas Oberflussiges oder gar Unsinniges zu tun. 1m Gegenteil, die nicht - primar - inten-
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dierten Effekte der langjahrigen Beschaftigung lagen zum Beispiel darin, dass die Aufforderung, bereits bewahrte Denkwege und -muster wieder zu ,vergessen' und sich andere, unbekannte vorfiihren zu lassen und nach zu vollziehen, auch in ganz anderen Themen und Lebensbereichen zum Verlassen erstarrter Denk- und Rezeptionsmuster gefiihrt hat. Auch die Einsicht, dass Exaktheit und Formalisierbarkeit nicht notwendig an das Vorhandensein von Entitaten gebunden ist, sondem auch komplex ere Zusammenhange und Prozesse die Grundlage der Mathematik bzw . der Formalen Logik bilden konnten, hat so manchen 10sungsverstellenden Blick entschleiert. SchlieBlich zeigt auch die Rezeptionsgeschichte , dass die Kenntnis der Gesetze der Form nach Spencer Brown bereits in vielen wissenschaftlichen Disziplinen zu erstaunlichen Perspektivwechseln gefuhrt hat. I Wir haben die Zweiteilung des in die Laws of Form einleitenden Kapitels in diesem Buch gewahlt, weil wir so einen ,ersten Zugang' aus zwei sehr verschiedenen Blickwinkeln ermoglichen konnen : Einmal ,von auBen', d.h. in seinem historischen Zusammenhang und seinem systematischen Umfeld. Die zweite, gleichwertige Perspektive versucht die Laws of Form aus sich selbst heraus in ihrem inneren Zusammenhang darzustellen. Diese verschiedenen, immer auch bedeutungsbestimmenden Perspektiven wirken sich nattirlich auf den dargestellten Inhalt aus, der so in zwei seiner zahlreichen Facetten prasentiert werden kann.' SchlieBlich sei noch eine Anmerkung zum Vorgehen in diesem Teil der Einleitung hinzugefiigt: Urn nicht immer wieder und schon von vomeherein ausschliej3lich auf die Konnotationen der logischen Zweiwertigkeit aufmerksam zu machen , und weil dieser Zusammenhang bereits ausfiihrlich im ersten Einleitungsteil behandelt wurde, erlaube ich mir in diesem zweiten Teil bei der Nachzeichnung der Argumentation auf aile Begriffe zu verzichten, die auf bestimmte Werte (wahr/falsch ; richtiglfalsch) abzielen . Das Faktum, dass in den Laws of Form von drei verschiedenen Zustanden - dem markierten, dem unmarkierten und dem imaginaren - die Rede ist, berechtigt meines Erachtens dazu, nicht unmittelbar davon auszugehen, es handle sich hier urn einen logisch zweiwertigen Kalkul . Es wird sich zeigen , dass auch eine Rekonstruktion, die auf solche impliziten Be-Wertungen und damit Engfiihrungen verzichtet, Zusammenhange darstellen kann, die nichts mit diesem Teil klassischer Logik und Boolescher Algebra zu tun haben.
Vgl. IV. Anwendungen und Deutungen. Eine weitere Facette lage z.B. in dcm Vorschlag von Stephan Packard , der den Text als grundlegend semiotischen Text liest, der Aussagen uber den Unterschied von Signifikanten und Signifikat mache .
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws ofForm
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Die Architektur der Laws of Form wird im Foigenden anhand der Leitfrage: "Wie hangen die einzelnen Kapitel der Laws of Form zusammen?" dargestellt. In einem ersten Schritt wird eine Deutung der Entwicklung des Buches gegeben, die einen Uberblick iiber die Struktur des Werks vermittelt. In einem zweiten Schritt werden die einzelnen Kapitel inhaltlich zusammengefasst sowie deren Zusammenhang dargelegt. Einige Anmerkungen zur Genese der Begriffe ,step' und ,form ' sowie zum Gleichheitszeichen beschliessen das einleitende KapiteI. 1. Deutung der Entwicklung des Buches Die Laws of Form sind in zwolf Kapitel mit je eigenen Oberschriften und je eigenen Anmerkungen (Notes) , die am Ende des Haupttextes stehen, untergliedert. Das Augenrnerk Iiegt im Foigenden auf dem Haupttext, d.h. dass die Appendizes hier nicht beriicksichtigt werden. Die Reihenfolge der Kapitel ist meines Erachtens weder dadurch motiviert, dass das jeweils nachste aus dem vorhergehenden im logischen Sinne ableitbar ware, noch entspricht sie einer Komposition mit Vor- und Riickgriffen. Vielmehr lasst sich zeigen, dass jedes Kapitel als je Vorhergehendes die Nachfolgenden insofem vorbereitet, als zunachst prozessual ,vollzogen wird' , was anschliessend reflektiert und begrifflich gefasst wird und auch erst dann deskriptiv dargestellt werden kann . Die nachfolgenden Kapitel reflekt ieren, explizieren und formalisieren Teile der Prozesse, die in den vorhergehenden Kapiteln durchgefiihrt werden. Aber sie schranken zugleich auch aufscheinende Moglichkeiten per Festlegung wieder ein. Ein Zusammenhang besteht also darin, bereits ,Vollzogenem' eine Form zu geben . Eine weitere Verbindung zwischen den Kapiteln ist darin zu sehen , dass nachfolgende Kapitel jeweils eine oder mehrere der potentiellen Entwicklungsmoglichkeiten, die vorlaufig angelegt worden sind, tatsachlich realisieren, und somit auch durchgehend Neues entstehen lassen. Eine Besonderheit bilden das erste, das achte und das zwolfte Kapitel, weil sie aufje spezifische Weise die Gesetze der Form, von auften' in den Blick nehmen : Das erste Kapitel als Bereitstellung der Voraussetzungen und Deskription der Form schlechthin; das achte als verallgemeinerte Reflexion auf den Zusammenhang der vollstandigen Darstellung der Form der ersten Unterscheidung (Primare Arithmetik) einerseits und der in dieser Darstellung wiederum sichtbar gewordenen Zusammenhange zwischen darstellenden Hinweisen (Primare Algebra) andererseits. Das zwolfte Kapitel kann als (semiotische) Variation des zweiten Kapitels gelesen werden und dam it als andere Darstellung der Form der ersten Unterscheidung. Die Abfolge innerhalb des ersten Kapitels spiegelt das beschriebene Vorgehen we iter Teile des Buches ,in nuce' wider: Es beginnt mit der expliziten Voraus-Setzung zweier Ideen durch Spencer Brown, der ,idea of distinction' und der ,idea of indication'. Die erste der beiden Ideen wird anschlieBend definiert,
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d.h. begrifJlich festgelegt und anhand eines Beispiels erlautert. Es folgen zwei Axiome, die Gesetze formulieren, die fur die Wiederholung der zweiten, bis dahin noch nicht definierten Voraussetzung - die Idee des Hinweises - gelten sollen. Hier wird das Hinweisen gleichsam tiber seine Verwendung definiert, die mit den Axiomen bzw. mit den Gesetzen erlaubt bzw. ermoglicht wird. Zugleich wird im Text des ersten Kapitels deutlich, dass die Unterscheidung der beiden Ideen ,distinction' und ,indication ' einer bestimmten ausdifferenzierenden Perspektive geschuldet ist, dass sie also auch als zwei ,Eigenschaften' eines einzigen Aktes gedeutet werden konnten. Jeder Hinweis gebende Akt ist zugleich eine Unterscheidung und jeder unterscheidende Akt ist auch ein Hinweis an und aufsich selbst. Dieses Auffachern verschiedener Facetten eines Prozesses, mit der daraus entstehenden moglichen Unterscheidung verschiedener Aspekte eines Prozesses einerseits und dem gleichzeitigen Blick auf die ,Undifferenziertheit' andererseits, ist ein wesentliches methodisches Moment der Laws of Form . Das Fortschreiten des Buches in den ersten Kapiteln lasst sich analog beschreiben: Erst wird ,gemacht', dann werden verschiedene Aspekte ge- und benannt und so auch als verschieden eingeflihrt. In der Weiterverwendung zeigt sich dann, dass die Verschiedenheit auf der basalen Ebene, auf der die Laws of Form spielen, noch gar keinen Sinn ergibt, und so werden die Differenzen zwischen den Aspekten teilweise wieder eingezogen. Auf der anderen Seite erweist es sich jedoch als sinnvoll , bestimmte Differenzen zu stabilisieren - je nachdem , welchern Zweck sie dienen, was mit ihnen gezeigt werden soil. Auf diese Weise wird deutlich, dass scheinbar neu Eingeftihrtes aus der stabilisierenden Verwendung einer moglichen Differenzierung des schon Vorhandenen heraus entstanden ist. Das Darstellungsschema, dem das Buch folgt, lasst sich als variierende Wiederholung folgender Etappen beschreiben, wobei manche Etappen oft nur implizit mitzudenken sind: (1) Positionierung oder Konstatierung einer Verschiedenheit beispielsweise durch die Verwendung unterschiedlicher Begriffe. (2 a) Gefolgt von einer Aufhebung der Differenz durch explizite Aufforderungen, das Benannte (wieder) gleichzusetzen. (2 b) Gefolgt von einer Explizierung der eingefuhrten Unterscheidung durch eine Aufforderung, sie nach-zu-machen, oder durch eine Definition, die anschliel3end formalisiert wird. (3 a) 1m Anschlul3 daran ergehen explizite Aufforderungen an den Leser, das Vorgefuhrte gemafi aufgestellter Gesetze oder Regeln, d.h. auch in der formalisierten Form, zu verwenden. (3 b) Formulierung von Regeln, bereits gemachte Unterscheidungen wieder einzuziehen, Unterschiede wieder aufzuheben.
II.B Bemerkungen zur Arch itektur der La ws ofForm
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(4) Implizite Aufforderung an den Exegeten: Schau, was alles entsteht oder entstehen kann, wenn es zur Verwendung kommt und wie und was sich dabei veran dert und welche Unterschiede an welcher Stelle relevant sind. (5) bzw. wieder (1) Auswahl , Benennung, Explizierung und Verwendung weiterer im jeweiligen Kont ext relevanter Unterschiede. Eine strenge Zuordnung der einzelnen Kapitel zu den verschiedenen Etappen ist aus folgenden Grunden nicht moglich: Umso weiter ,hinten' im Buch das Kapitel steht, umso komplexere Inhalte und Formen werden durch einzelne Zeichen dargestellt bei gleichzeitiger Speziali sierung auf gan z bestimmte, in den jeweiligen Kont exten relevante Aspekte. Parallel dazu werden aber auch imm er mehr Differenzen als nicht (mehr) rele vant wieder eingezogen. Es werden zunehmend mehrere dieser Etappen von Teilen der Kapitelinhalte parallel durchlaufen. Die Zwi schentitel in den Laws of Form haben beispielsweise die Funktion, den neuen Aspekt explizit zu nennen, auch wenn es in dem Kanon, der Regel oder dem Theorem urn Eigenschaften geht, die schon langer bekannt oder auch schon anders aufgetaucht sind . 2. Inhaltliche Entwicklung bis zur Primaren Algebra (Kapitel I - 5) Das erste Kapitel THE FORM beginnt also mit der Setzung zweier Ideen: die Idee der Unterscheidung und die Idee des Hinweisens. Weil jedem Hinweis notwendig eine Unterscheidung zu Grunde liegt und weil jede Untersch eidung durch ihre verschiedenen Aspekte die .aufsere' Form jedes Unterschiedenen bildet, wird die Idee der Unterscheidung als die Form eingefuhrt. Daran schli el3t sich die einzige explizit auch so benannte Definition des Buches: "Definition: Distinction is perfec t continence" (LoF:I ) an . Es folgt ein Beispiel fur eine Unterscheidung, woraus sich vier logisch gleichwertige Aspekte ableiten lassen , die fur Spencer Bro wn zur Form der Unterscheidung gehoren: zwei Unterschiedene, die Grenze zwischen ihnen und ein Kontext, in dem die Unterscheidung einen Untersch ied im Sinne Spencer Browns macht. Schliel3lich werden noch zwei Axiome bzw. Gesetze vorgestellt, die festlegen, auf welche Weisen auf die durch die Unterscheidung hervorgebrachten, unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann : das Axiom I . Law of calling und das Axiom 2. Law of crossing. Die beiden Axiome bestimmen, welche Gesetzmalsigkeiten fur die wiederholte Verwendung der jeweiligen Hinweisart gelten sollen und ermoglichen durch ihre Verschiedenheit, auf die unterschiedenen Seiten der entstandenen Form hinzuweisen. Die beiden Voraussetzungen ,Unterscheidung' und ,Hinweis' tauchen demnach sofort als zu Definierendes (Definiendum) und als durch zwei verschiedene Verwendungsarten Expli ziertes wieder auf. Wahrend die Definition der Unterscheidung das enthalt, was der Akt des Unterscheidens gleichsam anal ytisch
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hervorbringt (die Aspekte der Unterscheidung), wird die Idee des Hinweises tiber Verwendungsgesetze expliziert . 1m ersten Kapitel finden wir demnach explizit Etappe (1) und (2 b) unseres Schemas wieder.' Die Etappen (3) und (4) erscheinen erst im zweiten Kapitel: Die von Spencer Brown zur Niederschrift des ersten Kapitels verwendeten oder gebrauchten Worter und Begriffe, die im ersten Kapitel in Bezug auf die beiden vorausgesetzten Ideen explikativen bzw . dejinierenden Charakter haben, werden im zweiten Kapitel selbst explizit eingefUhrt und defmiert . Das zweite Kapitel FORMS TAKEN OUT OF THE FORM beginnt mit der beriihmt gewordenen Aufforderung: "Draw a distinction." (LoF:3) . Hier wird also die Unterscheidung, die im ersten Kapitel lediglich deskriptiv vor- und dargestellt wurde, vorgefuhrt, indem dazu aufgefordert wird, eine Unterscheidung zu treffen, den Prozess nach-zu-machen . Daran anschlieBend werden einerseits relevante Begriffe des ersten Kapitels wie ,content', ,intent' , ,form', ,name', ,value' definiert, indem Entstandenes mit ihnen bezeichnet wird: «Mache dies und nenne das Resuitat Deiner Handlung dann so!». Andererseits werden auch neue Begriffe wie ,expression', ,equivalence', ,equation' oder ,relation' eingefUhrt, die Eigenschaften des schon Verwendeten bezeichnen, also schon implizit ,vorhanden waren' . Der Leser lemt die Grundbegriffe im ,learning by doing"Verfahren, indem er das, was sie bezeichnen, macht, und dann dem (Nach-) Gemachten den bereit gestellten Namen gibt. 1m zweiten Kapitel werden aber nicht nur die im ersten Kapitel verwendeten Begriffe in handelnder Weise vom Leser (re-)konstruiert, sondem Spencer Brown fUhrt auch das formale Zeichen ein - den Haken I -, das als Markierung einer Unterscheidung fungieren wird. Damit ist das Dejiniendum des ersten Kapitels nicht nur formuliert , sondem auch formalisiert: Der Haken als das Zeichen, das zunachst auf die gesamte Form der Unterscheidung hinweist. 1m nachsten Schritt wird dazu aufgefordert, eine andere Form entstehen zu lassen, in der dann Kopien (Plural!) des Hakens als Namen auf einen Zustand hinweisen. Durch die explizit erlaubte Moglichkeit, Kopien anzufertigen, wird zugleich die Moglichkeit fur Gleichungen eroffnet. Denn jetzt sind bereits vielfaltige Hakenkopien als hinweisender Name auf denselben Zustand oder die gleiche Seite moglich. Hinweise, Namen, die auf dasselbe hinweisen , sind dquivalent . Zur Formalisierung der beiden Axiome, und das heiBt zur Ermoglichung von formalen Hinweisen auf beide entstandenen Seiten, ist es allerdings noch notig, die Bedeutung der Hakenkopien zu erweitem - sofem und wei! kein neues Zeichen fur die zweite Seite in Anspruch genommen werden solI. So sind die Hakenkopien im Folgenden nicht mehr nur einfache Namen fur einen Zustand, Inwiefem auch (2 b) Teil des ersten Kapitels ist, wird im Kommentar gezeigt.
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sondem sie stehen auch fur eine Anweisung (instruction) - dann heif3en sie allerdings .cross' . Die Kopien des ersten Hakens stehen so fur zwei Funktionen zugleich : sie konnen ein hinweisender ,name' und ein zu einer Handlung auffordemdes ,cross' sein, sie sind mithin zugleich Operator und Operand. Damit sind aile Bedingungen erfllllt, urn mit einem einzigen Zeichen die beiden Axiome zu formalisieren und zugleich Gleichungen ins Leben zu rufen . Im zweiten Kapitel finden sich dem Schema gemals mindestens die ersten drei Etappen : Der Begriff ,name' hat das Schema bis zu seiner formalisierten Darstellung durchlaufen, kann so im Folgenden ,rein formal ' verwendet werden und hat durch die Bedeutungserweiterung der Hakenkopie und durch die Formalisierung des zweiten Axioms zwei formale Erscheinungsformen: als einfaches Zeichen und als Doppelcross - und eine Nicht-Erscheinungsform als leerer Ausdruck . Zudem sind andere Begriffe wie ,value' , ,state ', ,content' etc. in den formalen Zeichen in ,kondensierter' Weise aufgehoben. Im dritten Kapitel THE CONCEPTION OF CALCULATION - wortlich etwa ,die Ersinnung oder die Konzeption der Berechnung' - werden die letzten Voraussetzungen fur das folgende Kapitel, die Prim are Arithmetik, dargelegt: Wie kann oder soli ,gerechnet' werden? Das Kapitel beginnt wieder mit der Aufforderung, etwas bereits Eingefuhrtes nach zu machen, das im zweiten Kapitel nur postulierend eingefuhrt worden war: Es soli ein ,cross' konstruiert, markiert , benannt und angezeigt werden. Anschlief3end wird deutlich gemacht, was man mit der Aquivalenz der formalisierten Namen , d.h. mit der Aquivalenz zweier Hinweise anfangen kann: Es wird dazu aufgefordert, die Hakenkopien durch aquivalente Hakenkopien (oder den leeren Ausdruck) zu ersetzen. Jede Handlung, die dieser Aufforderung folgt, erhalt einen eigenen Namen: ,step' . Mit ,steps ' ist es nun moglich, gemals den zwei Axiomen und den Aquivalenzgleichungen jede beliebige Ansammlung von Hakenkopien durch Ersetzung auf einen einzigen, leeren Haken oder den leeren Ausdruck zu vereinfachen. Umgekehrt lasst sich aus jedem einzelnen Haken oder aus jedem leeren Ausdruck durch mehrere Ersetzungsschritte eine komplexe Ansammlung von Hakenko pien, ein ,arrangement' machen, das dem Ausgangszeichen - der einzelnen Hakenkopie oder dem leeren Ausdruck - aquivalent bleibt. Die ,calculation' oder das Rechnen besteht nun genau in dieser Ersetzungsoder A ustauschtatigkeit von formalen Hinweiszeichen durch andere aquivalente Hinweiszeichen. Rechnen ist also der Prozess regelhaften Hinzufllgens und Reduzierens von Hakenkopien. Da es gemaf3 der ersten Unterscheidung und der (formalisierten) Axiome zwei verschiedene Klassen von Namen, Zeichen oder Hinweisen gibt, gibt es auch zwei verschiedene Ersetzungsmuster, die Spencer Brown die Initialgleichungen der primaren Arithmetik nennt : die ,forms of step' , d.h. die Formen der Aquivalenz, Der daran anschlief3ende ,Dritte Kanon' formuliert explizit die Verfahrensweise der ,primitive equations' des zweiten
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Kapitels, d.h. der beiden fonnalen Darstellungen der Axiome, indem dazu aufgefordert wird , die Ausdriicke durch aquivalente Ausdriicke zu ersetzen. Die beiden Axiome haben also an dieser Stelle auch das Schema einmal durchlaufen: 1m ersten Kapitel wurden sie eingefiihrt oder fonnuliert; im zwei ten expliziert und formalisiert und im dritten schlieBlich so zur Anwendung gebracht, dass die Moglichkeiten der Hinweisiteration, die sie formulieren, in ein allgemeines Ersetzungsschema transformiert werden. Aus den beiden Aquivalenzgrundformen bzw . Initialgleichungen und der Moglichkeit des (Teil-)Austausches durch ,steps' w ird im folgenden vierten Kapitel die Primare Arithmetik entwickelt, in der aile Formen, d.h. Zusammenstellungen von Hakenkopien, die direkt und unmittelbar aus den beiden genannten Initialgleichungen gefolgert werden konnen, zusammen gefasst werden . Das vierte Kapitel THE PRIMARY ARITHMETIC beginnt mit der Einfiihrung eines neuen Begriffs: ,theorem'. Theoreme sind - so die Beschreibung in den Laws of Form - unterschiedliche, aber allgemeine Muster, die durch fonnale Betrachtungen an den Initialgleichungen erkannt werden konnen, Die Theoreme der Primaren Arithmetik stellen verschiedene Zeicheneigenschaften vor, die den Zeichen einerseits im zweiten Kapitel ,zugeschrieben' wurden und die andererseits erst durch ihre Verwendung im Austauschprozess entstehen. 1m vierten Kapitel werden diese Theoreme nach ihrer Funktion klassifiziert. So nennt Spencer Brown die ersten vier Theoreme .Reprasentationstheorerne', da sie den Gebrauch der Primaren Arithmetik als System von Hinweisen auf die unterschiedenen Seiten der ersten Unterscheidung rechtfertigen. Die Theoreme Tl , T3 und T4 der Laws ofForm explizieren und beweisen, dass jede beliebige endliche Anzahl von Hakenkopien als Ausdruck, d.h. als Hinweiszeichen verwendet werden kann, dass die Reduzierung auf ein ,cross ' einen bestimmten Inhalt meint , und dass das Hinzufiigen und das Reduzieren eindeutig ist. Diese drei Theoreme formulieren die Gultigkeit der Festlegungen des zweiten Kapi tels, die im dritten Kapitel ausgefiihrt bzw. nachgemacht werden. Die restlichen arithmetischen Theoreme explizieren hingegen Muster, die sich durch den geregelten Austausch ergeben und eroffnen somit weitere Optionen. Hier geht es ganz explizit nicht (mehr) urn die Aquivalenz von je zwei Hinweiszeichen auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung, sondem urn die Moglichkeit, ganz verschiedene Hinweiszeichen auf je eine der beiden Seiten mit ,steps' zu generieren. Die Zeichenveranderungsanleitung unter Beibehaltung der Valenz, die im dritten Kapitel durch die explizite Einfuhrung der ,steps' ermoglicht wurde, erhalt in den ersten vier Theoremen der Primaren Arithmetik ihre festlegende Formulierung. Die ,Prozesstheoreme' 5 bis 7 erlautem bestimmte Prozessvereinfachungen. Die Theoreme 8 und 9 heif3en Anschlusstheoreme, weil sie von der Arithmetik
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in die Algebra iiberleiten und die Verwurzelung der Algebra in der Arithmetik bzw. Teile ihres Zusammenhanges aufzeigen. Das anschliel3ende funfte , sechste und siebte Kapitel der Laws ofForm ge horen zur Prim aren Algebra, insofem im fiinften Kapitel ihre Synta x, aus Resultaten bzw. Folgerungen der Primdren Arithmetik bestehend, festgelegt wird und insofern das sechste Kap itel verschiedene mogliche Folgerungen oder Ableitungen aus den Initialgleichungen gem all den explizierten Substitutionsregeln vorfiihrt und das siebte Kapitel bereits wieder - ahn lich wie am Schluss des vierten Kapi tels - den Blick von den reinen ,Transformations' auf bestimmte allgemeine Muster richtet, die bei diesen algebraischen Umwandlungen sichtbar werden. Das funfte Kapitel A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS ist einerseits das Obergangskapitel von der Primaren Arithmetik zur Primaren Algebra, in dem das im vierten Kapitel vorgestellte, d.i, die Einfuhrung von neuen Zeichen fur Ausdriicke (variables), die Reduktion der Funktion der Hakenkopie auf die Darstellung von Verhaltnissen von Variablen und die Bedeutungsverschiebung in Bezug auf die Aquivalenz, explizit genannt und festgel egt werden . Andererseits wird so aber auch die Syntax der primaren Algebra formuliert und festge legt. Durch die Erweiterung der formalen Sprache urn operative Variablen, verliert die Hakenkopie (scheinbar) ihre Funktion als Operand, insofem sie in kom plexen Ausdriicken bzw . Gefiigen nur noch als ,cross' fungiert." Als ,cross' oder Operator ist sie ein Zeichen fur das Verhaltnis zwischen Vari abl en, eine Verkniipfungskonstante. Die implizit im Gleichhe itszeichen vollzogene Bedeu tungsverschiebung der Aqui valenz von bestimmten Wert enl Seitenl Referenzen hin zu Verhaltnissen von Vari ablen, die durch Operatoren verkniipft sind , wird in einer Substitutions- und einer Ersetzun gsregel expliziert. Damit sind aile Komponenten der Synta x der Primaren Algebra aufgezahlt: Variablen, Verkniipfungskonstante (cross), Gleichheitszeichen sow ie die algebraischen Regeln , nach denen ersetzt oder umgewandelt, d.h . wiederum: gerechnet werden darf. An dieser Stelle sei ein zusarnmenfassender Riickblick unter Verwendung des Schemas erlaubt: (I) Zunachst erfahren wir im ersten Kapitel, aus welchen Komponenten die Form der Unterscheidung besteht, und wie auf ihre unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann . Anschliel3end werden wir aufge ,Scheinbar' ist hier in Klammem gesetzt, weil auch in der Primaren Algebra ein einzcln stehender Haken sowohl als ,cross ' als auch als ,name' interpretiert werden kann, es sich also urn keine scma ntische Veranderung handclt.
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fordert, eine Unterscheidung zu treffen und die Hinweise auf ihre Seiten auf die angegebene Art darzustellen (2 b) und zu verwenden (3 b). Die Moglichkeit des Austauschens bzw . der geregelten Generierung der je verschiedenen Hinweisforrnen fur die zwei Seiten entspricht (3 b) des Schemas und zugleich wieder Teil (I). Die Theoreme verdeutlichen ihrerseits bestimmte Resultate des Austauschprozesses und legen beispielsweise fest, was iiberhaupt als Hinweis gelten soil oder wie Austauschprozesse verkurzt werden diirfen . Die dabei zum Vorschein kommenden Aquivalenzen zwischen den Ausdriicken explizieren einerseits Zusarnrnenhange und sind andererseits eine Aufforderung, diese weiter zu verwenden und schliel3lich zu sehen, was dabei Neues entsteht (5) - so z.B. die Einsicht, dass bestimmte Anordnungen von Ausdriicken mit anderen bestimmten Ausdriicken immer aquivalent sind, unabhangig von den Werten ihrer (Teil)Ausdriicke. Mit dem funften Kapitel ist die Entwicklung der Prirnaren Algebra aus der Primaren Arithmetik abgeschlossen, und obwohl die Kapitel funf bis zehn zur Primaren Algebra gehoren, beginnt hier etwas Neues : Nach der Darstellung der Genese der Primdren Algebra kann sie die Primate Arithmetik als Feld, in dem gearbeitet wird, ablosen, und wird dadurch auch selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Es beginnt die algebraische Art des Austauschens oder Rechnens das Folgern -, es werden ,Muster' der Algebra expliziert und dann im siebten Kapitel Theoreme 2. Grades, d.h. Theoreme der Algebra aufgestellt. 1m achten Kapitel werden diverse Aspekte des Verhaltnisses der Primaren Algebra zur Prirnaren Arithmetik expliziert. Das neunte und zehnte Kapitel forrnulieren allgemeine Eigenschaften der Algebra: ihre Vollstandigkeit und die Unabhangigkeit ihrer Initiale . Damit wird die Verwendung, Explizierung, Forrnulierung und Betrachtung der Primaren Algebra abgeschlossen. 3. Bemerkungen zur Primaren Algebra und zum ,Re-entry' (Kapitel 6 - 12) Das sechste Kapitel THE PRIMARY ALGEBRA beginnt mit der Aufforderung, mit der Musterunterscheidung fortzufahren . Diesmal handelt es sich jedoch urn besondere - und nicht urn allgemeine - Muster, die aufgefunden werden konnen durch ,sequentielle Manipulationen der Initialgleichungen' der Primaren Algebra. Die hier gesuchten Muster sind nichts anderes als Folgerungen - sie heiBen ,consequences' -, die sich daraus ergeben, dass die Basisgleichungen der Algebra entsprechend den Regeln und den bereits angefUhrten Theoremen umgewandelt, d.h. in aquivalente Forrnen durch Ersetzung von Teilausdriicken umgeformt werden. Dieses Umforrnen wird im Folgenden algebraisches Rechnen genannt.
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Im siebten Kapitel THEOREMS OF THE SECOND ORDER werden Einsichten in bzw. allgemeine Muster algebraischer Rechnungen, d.h. Folgerungen expliziert. Die ersten drei Theoreme der 2. Ordnung stellen eine Art iteratives Erweiterungsmuster fur komplexe Ausdrticke oder Gefuge dar, das sich durch Austausch aus dem ersten algebraischen Initial und einiger ,consequences' ergibt. Die noch fehlenden zwei Theoreme des siebten Kapitels haben eine entgegengesetzte Intention, da sie die Moglichkeit der Reduktion komplexer Ausdrticke auf ein allgemeines Schema explizieren. Das achte Kapitel RE-UNITING THE TWO ORDERS hat einen Sonderstatus, insofem in ihm zunachst aus einer extemen Perspektive das Verhaltnis zwischen einem variablen Ausdruck und seinem unter einem Haken stehenden sowie unter zwei Haken stehenden Pendant erortert wird. Die Betrachtung dieses Verhaltnisses nennt Spencer Brown ,reflexion' und weist damit zugleich den Weg fllr eine Interpretation der ersten ,consequence' aus dem sechsten Kapitel. AnschlieBend wird die Reflexionsbewegung, die von einem Ausdruck (,Inhalt') zu seinem Pendant unter einem Haken (,Abbild') und zuri.ick geht, auf das Verhaltnis der Primaren Algebra zur Primaren Arithmetik i.ibertragen. Hier werden beispielsweise ihre verschiedenen Rechenprozesse zueinander in Beziehung gesetzt oder ihr Verhaltnis als das eines Abbildes (image) zu seinem Inhalt (content) beschrieben. Die ,consequences' der Prirnaren Algebra erscheinen hier als Theoreme der Primaren Arithmetik und sind insofem algebraische BUder mit arithmetischem lnhalt. Ebenso konnen die ,sturen' Austauschprozesse (demonstrations) der Primaren Algebra als Beweise (proofs) der Theoreme der Prirnaren Arithmetik aufgefasst werden, ,j e nachdem, auf welchen Standpunkt man sich stellt'. Im Anschluss daran wird diese Art des gedanklichen Wechsels zwischen verschiedenen Ebenen der Laws ofForm - der Ebene der Prozesse und der Ebene ihrer reflexiven Beschreibung - wieder in die formale Darstellung rucktransferiert und ein weiteres Prinzip entdeckt: das Transmissionsprinzip, das allgemeine Muster der Werti.ibertragung oder der Wertverdeckung bei bestimmter Variablenbelegung expliziert. Im achten Kapitel finden also Gedankenbewegungen auf und zwischen verschiedenen Ebenen statt, deren Transferrnoglichkeit jedoch nicht begrundet, sondem still vorausgesetzt und in der Durchfuhrung bestatigt wird. Die anschlieBenden zwei Kapitel erlautern zwei Zusammenhange zwischen der Primaren Arithmetik und der Primaren Algebra: Das neunte Kapitel COMPLETENESS widmet sich der Vollstandigkeit. Wahrend in der formalen Logik mit der Vollstandigkeit eines Kalki.ils die Tatsache gemeint ist, dass jeder wahre Satz des Kalki.ils auch in ihm beweisbar ist (sofem man seine Syntax
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erweitem dart), bedeutet Vollstandigkeit hier, dass aBe beweisbaren Theoreme der Arithmetik als Folgerungen in der Algebra demonstrierbar sind. Das wird uber einen Induktionsbeweis gezeigt. Das zehnte Kapitel INDEPENDENCE postuliert die Unabhangigkeit der beiden Initialgleichungen der Primaren Algebra, d.h. dass sie nicht auseinander ableitbar sind . Mit dem elften Kapitel EQUATIONS OF THE SECOND DEGREE beginnt verglichen mit der Primaren Algebra etwas partiell Neues, das aber zugleich an die Primare Arithmetik anknupft und in einem gewissen Widerspruch zu ihr steht, insofem die Gleichungen hier einerseits wieder mit konkreten Werten belegt werden und andererseits die Anzahl der vollzogenen .steps' nber eine bestimmbare, endliche Anzahl hinausgeht. Hier wird eine andere Art von Verallgemeinerung produktiv als in der Primaren Algebra, ein weiterer Strang bzw . Ast expliziert, der aus den Hinweismoglichkeiten auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung und dem arithmetischen Stamm hervorgehen kann . Das elfte Kapitel ermoglicht es durch , mit und tiber das ,Re-entry ' die Zweiwertigkeit zu verlassen: Es lasst einen dritten ,imaginary value ' zu, der auf einen ,imaginary state' hinweist und der dadurch entsteht, dass nicht immer das gleiche iteriert wird, sondem die Wiederholung abwechselnd auf eine der beiden Seiten hinweist. Der Ubergang von der einen zur anderen Seite und zuruck generiert Zeit, die benotigt wird, urn abwechselnd auf die beiden Seiten hinzuweisen . So imaginieren wir Zeit, wenn wir zwei Unterschiedene in ihrer sie unterscheidenden Form nacheinander betrachten. Spencer Brown ftihrt anhand von drei ,Re-entry' -Ausdrucken drei konkrete Anwendungen vor : Ausdrucke mit nur einem ungeradzahligen ,Re-entry' sind Oszillationsfunktionen; Ausdriicke mit nur einem geradzahligen ,Re-entry' sind Gedachtnisfunktionen und Ausdrueke mit mehreren ,Re-entries' sind Modulationsfunktionen. Das zwolfte und letzte Kapitel RE-ENTRY INTO THE FORM kann einerseits als Variation des zweiten Kapitels gelesen werden, wei! dort unter Verwendung anderer Notationssysteme auf die zwei Seiten einer vollzogenen Unterscheidung bzw . auf sie selbst hingewiesen wird . Andererseits wird in den vorgefiihrten Experimenten eine (weitere) Eigenschaft jedes Zeichens explizit, die bereits in der Voraussetzung des ersten Kapitels steckt, dort aber noch nicht zum Tragen kommt: Jedes Zeichen weist nicht nur auf das Resultat einer beliebigen Unterscheidung hin, es ist auch an sich selbst immer das Resultat einer Unterscheidung. SchlieBlich erfahren wir im letzten Kapitel auch noch, dass wir selbst als Beobachter ein Zeichen und damit eine Unterscheidung in unserer eigenen Form sind .
II.B Bemerkungen zur Architcktur dcr Laws ofForm
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An dieser Stelle endet der Uberblick uber die einzelnen Kapitel und es wird fur die genaue Textexegese auf den Kommentar verwiesen. Ziel dieser Zusammenfassung war es, den Zusammenhang der Kapitel herauszustellen und damit einige Aspekte der Entwicklung der Laws of Form deutlich zu machen. Sie zeigt sich auch in der Bedeutungswandlung bestimmter Namen fur Prozessresultate, die sich daraus ergibt, dass wir ,Etwas' z.B. in verschiedenen Zusammenhangen oder auf verschiedenen Komplexitatsstufen betrachten konnen: "a word may have different, but related, meanings at different, but related, levels of consideration" (LoF :91). Im Folgenden werden die Bedeutungen zweier Begriffe und des Gleichheitszeichens vorgestellt, mit denen je andere Aspekte des Kalkiils bezeichnet werden. ,Step' kennzeichnet diverse Vorgange der Austauschprozesse; das ,Gleichheitszeichen' steht fur verschiedene Arten von Aquivalenzen und driickt diverse Resultate der Austauschprozesse aus; und der Begriff ,form ' steht fur einen der Grundgedanken der Laws ofForm schlechthin. 4. Bemerkungen zum Begriff ,step' Der Begriff ,step' steht in den Laws of Form als Name fur Austausch- oder Rechenschritte, mit denen gleichwertige hinweisende Ausdriicke ersetzt werden dnrfen . Die Austauschschritte werden unter verschiedenen Perspektiven thematisiert : Was wird ausgetauscht? Was passiert bei wiederholten ,steps' ? Ist die Richtung des Austausches relevant? Und: welcher Unterschied besteht zwischen arithmetischen und algebraischen ,steps '? Eingefuhrt wird der Begriff ,step' im dritten Kapitel: Jede Hakenansammlung kann gemals den arithmetischen Initialgleichungen durch eine aquivalente Hakenansammlung ausgetauscht werden. Weiterhin konnen mit ,steps' Hakenkopien zu anderen gultig hinzugefugt oder auch weggestrichen werden. Keiner dieser Schritte andert etwas daran, worauf der Hinweis gerichtet ist, d.h . jeder Schritt verandert nur die Hinweisform, ohne dabei die Funktion, auf je eine bestimmte Seite der ersten Unterscheidung hinzuweisen, zu beeintrachtigen. FUr einen ,step' gilt demnach, dass er nur die (aufsere) Form des Hinweises verandert, nicht aber die Bedeutung des Hinweises , d.h. auf welchen Wert, welche Seite hingewiesen wird . ,Steps' bezeichnen so erstens iterative Generierungsprozesse, die keine qualitative, keine inhaltliche, keine Wertveranderung mit sich bringen, sondem nur an der Quantitat in der Form etwas verandern. Sie sind Generatoren, mit denen unendlich viele Hinweisformen auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung hergestellt werden konnen. In diesem Sinne sind die ,steps' vom gleichen Typ wie das ,calling' aus dem ersten Kapitel: Durch wiederholte ,steps' verandert sich ebenso wenig an der spezifischen Referenz der jeweiligen Hinweisformen,
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wie die Wiederholung des Namens etwas am ,Worauf des Namens andert. ,Steps ' beschreiben demnach einen Prozess, mit dem keine Valenz- oder Qualitatsveranderung einhergeht. Das dritte Kapitel legt fest, dass sowohl die Reihenfolge und die Richtung als auch die Anzahl bei wiederholten ,steps' irrelevant sind. Das arithmetische Rechnen besteht darin, durch ,steps' die Ausdriicke unter Beibehaltung ihrer Bedeutung beliebig zu erweitem bzw. zu vermehren oder zu reduzieren , gleichgultig, in welcher Reihenfolge oder Richtung der Austausch vorgenommen wird. Die arithmetischen Initialgleichungen sind ,forms of step allowed' (LoF:II), in denen die allgemeinen Reduzierungs- und Erweiterungsmuster formalisiert sind . Die ,steps ' der primaren Algebra werden nicht explizit eingeftihrt, aber das formale Zeichen fur ,steps' aus der Vorbereitung der Arithmetik wird zur Bezeichnung der Umwandlungsprozesse in den ,consequences' weiterhin verwendet. In der Algebra verandert sich die Bedeutung der ,steps' insofem, als sie nicht mehr die konkreten Hinweisformen austauschen, sondem unbestimmte algebraische Ausdrucke, d.h. die Relationen, Gefuge oder Verhaltnisse der Variablen zueinander, die durch Manipulation im Rahmen der algebraischen Substitutions- und Ersetzungsregeln aus den Formen der Initialgleichungen entstanden sind. Da die Ausdriicke in den algebraischen Gleichungen auf keine bestimmte Seite referieren, drucken die Gleichungen nur noch die Aquivalenz von Gefugen im Allgemeinen aus. Damit werden mit den ,steps ' nur noch aquivalente Hinweise ausgetauscht, die aber - im Gegensatz zu den Haken - keiner konkreten Seite mehr zug eordnet werden konnen. So erhalten sie zwar weiterhin die Valenz eines Ausdruckes, aber nicht mehr einen spezifischen Wert. Auch in der Algebra gilt, dass es auf die Anzahl der Veranderungsschritte nicht ankommt - solange aus der einen Relation in einer endlichen Anzahl von Schritten die andere gefolgert werden kann. So besteht das algebraische Rechnen in regelhaften Veranderungen von aquivalenten Verhaltnissen von Variablen und Operatoren, d.h. die algebraischen ,steps' sind verschiedene, stetige und regelhafte Umformungen der algebraischen Initialgleichungen und ihrer Folgerungen. Mit dem Fortschreiten des Kalkuls werden immer mehr ,steps' in einer einzigen Gleichung zusammengefasst, wie z.B. in den algebraischen ,consequences' Cl bis C9. Durch den Nachweis , dass die beiden Terme der Gleichungen aquivalent sind, konnen sie gegeneinander ausgetauscht werden , ohne sdmtliche Austauschschritte sowohl aufjeder Seite fur sich als auch von der einen zur anderen Seite der Gleichung nachvollziehen zu mussen. Damit wird eine Anzahl von ,steps' in einem einzigen Austauschschritt kondensiert und dies wird mit den Gleichungen dargestellt. Zu beachten ist, dass es hier urn die Anzahl der rechnerischen ,steps' selbst geht, die einer Reduktion unterzogen werden. Damit diese Reduzierung nicht zu Inkonsistenzen fuhrt, wird festgelegt , dass die Re-
II.B Bemerkungen zur Architektur der Laws of Form
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duktion immer zum gleichen Resultat fuhrt: "in any calculation, we regard any number of steps, including zero, as a step." (LoF:37). Bis zum elften Kapitel werden die ,steps' in den arithmetischen Beweisen bzw. in den algebraischen Folgerungen angewendet, spielen aber selbst keine exponierte Rolle. Das andert sich im elften Kapitel grundlegend, weil sie hier derart erweitert werden , dass der Nachvollzug nicht mehr moglich ist: 1m elften Kapitel wird eine ,step-sequence' generiert , in der ein algebraischer Ausdruck derart verandert wird , dass er die Form eines ,Echelons' erhalt , d.h. eine Form , deren Teilausdruck wiederholt wird. Da diese Folgerungs- bzw . Umwandlungsschritte unendlich oft wiederholt werden konnen , lassen sich endlo s viele ,Echelons ' generieren, die mit dem urspriinglichen Ausdruck aquivalent sind. Das Neue im elften Kapitel besteht nun darin , eine unendlich e Anzahl ,steps' - mithin keine ,number of steps ' - in einem Ausdruck zu kondensieren, d.h. sich ein ,Echelon' mit endlos vielen gleichen Teilausdriicken vorzustellen. Von einer notwendigen Aquivalenz zwischen dem ursprunglichen Ausdruck und seinem unendlich oft iterierten ,Bruder' kann dann jedoch nicht mehr die Rede sein, da der Nachweis der Aquivalenz tiber die endliche, d.h . nachvollziehbare Anzahl der Veranderungsschritte zu laufen hat. Spencer Brown ermoglicht dennoch durch den Kunstgriff des ,Re-entry' den Nachweis der Aquivalenz zwischen dem urspriinglichen Ausdruck und ,seinem' Echelon. An den neu entstandenen Gleichungen lasst sich durch Einsetzung zeigen , dass bei einer bestimmten Belegung der Variablen der Wert des ,Echelon' und seines Re-entry variiert , d.h . dass die Gleichung zwei verschiedene Losungen hat bzw. dass mit einer Gleichung zugleich auf beide Seiten hingewiesen wird , oder dass bei der Aufhebung der Beschrankung der Schritte auf eine endliche Anzahl auf eine andere Art quasi-algebraische Gleichungen, die zwei Losungen haben , hergestellt werden konnen. Mit der unbestimmten Anzahl der Wiederholungen der ,steps ' geht aber die Eindeutigkeit der Gleichungen verloren . Die unendliche Iterierbarkeit der ,steps ' erlaubt es daher, ,Gleichungen' zwischen hinweisenden Ausdriicken aufzustellen, die auf etwas anderes als eine der beiden Seiten referieren , namlich auf die Oszi/lation von Hinweisen auf beide Seiten der ersten Unterscheidung. Die reine Iteration oder die reine Wiederholung von ,names' , von Teilausdrucken oder von ,steps' ftihrt nicht zu qualitativen Veranderungen, solange sie im wortlichen Sinne nachvollziehbar, also ,step by step' durchftihrbar bleiben . Wird aber der Raum des faktisch Moglichen verlassen und eine unendliche Schrittfolge vorgestellt, ,imaginiert' , dann passiert etwas Neues, dann kommt es zu einem ,qualitativen Sprung' , der tiber das real Machbare hinausgeht: Darin besteht das Imaginate der Form , die erlosende Illusion, die ganze Form zugleich in den Blick nehmen zu konnen,
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5. Das Gleichheitszeichen Das Gleichheitszeichen wird im zweiten Kapitel eingefiihrt als "sign = of equivalence be written between equivalent expressions." (LoF :5). Es besagt die Wertgleichheit zweier Ausdriicke. Sis zur Primaren Algebra konnte man dieses Verhaltnis oder die Relation der Gleichwertigkeit zweier Hinweiszeichen selbst als Hinweis auf eine der beiden Seiten lesen, da es jede arithmetische Gleichung immer nur mit Hinweisen auf eine der beiden Seiten der ersten Unterscheidung zu tun hat, mithin auf diese Weise selbst implizit Hinweis auf eine der beiden Seiten ist. In der Primaren Algebra verlieren Gleichungen dann diese implizite Hinweisfunktion, weil die Gleichheit, die sie beschreiben, von einer anderen Art ist. Es geht nicht mehr urn die je spezifische Seite der ersten Unterscheidung, auf die mit den Hinweiszeichen hingewiesen wird, sondem nur noch urn das Verhdltnis der Hinweiszeichen zueinander an sich. Dass von der Spezifitat der Hinweiszeichen in der Algebra abgesehen werden kann, zeigt sich auch darin, dass Variablen eingefuhrt werden konnen. So verschiebt sich der Fokus der Aufmerksamkeit: In der Arithmetik wurde die Gleichheitsrelation eingefiihrt tiber aquivalente Hinweisformen oder -zeichen, die in ihrer Gestalt verschieden, aber in ihrer Bedeutung bzw. Funktion gleich waren. In der Algebra ist nur noch die Aqufvalenz-Relation an sich von Interesse: nicht was sie gleich setzt, sondem dass sie gleich setzt, wird thematisiert. Das Gleichheitszeichen in den algebraischen Gleichungen sagt demnach etwas tiber die Aquivalenz der Verhaltnisse: Rechts und links des Gleichheitszeichens stehen Gefuge, d.h. verschiedene komplexe Ausdriicke, in denen sich Hinweiszeichen - Variablen oder ,crosses' - zueinander befinden. Algebraisch aquivalent sind sie, insofem der eine Ausdruck durch ,steps' zum anderen Ausdruck gemacht werden kann, insofem sie durch Austausch ineinander uberfuhrbar sind. Sowohl die arithmetischen als auch die algebraischen Gleichungen stellen kondensierte Austauschprozesse dar, die werterhaltend sind und die notfalls ,step by step' nachvollzogen werden konnten. Die Gleichungen ,zweiten Grades ' im elften Kapitel hingegen verlieren auch diese Bestimmtheit, denn mit ihnen ist die endliche Anzahl der Austauschschritte nicht mehr implizit mitgemeint. So ,passiert ' den Austauschschritten hier etwas ahnliches wie den Ausdrucken, die durch Variablen ersetzt werden: Es wird nur noch dargestellt, dass ausgetauscht wurde , aber nicht mehr , wie oft; ebenso wie eine Variable nur noch darstellt, dass sie fur einen Wert steht, aber nicht mehr fur welchen. Das Gleichheitszeichen wird also mit zunehmender Komplexitat immer weniger spezifisch, es weist immer weniger auf konkrete Aquivalenzen hin und immer mehr auf die Aquivalenz komplexer Strukturen oder Zusammenhange. Im zwolften Kapitel schlieBlich werden mit dem Gleichheitszeichen Konfusionen angezeigt zwischen den Hinweiszeichen fur oder auf eine vollzogene
II.B Bcmcrkungenzur Architekturder Laws ofForm
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Unterscheidung einerseits und einer vollzogenen Unterscheidung andererseits. So expliziert hier das Gleichheitszeichen die doppelte Eigenschaft jedes Zeichens, eine Unterscheidung zu sein und zugleich auf etwas Unterschiedenes in seiner Form hinzuweisen. 6. Die Bedeutung des Begriffes ,form' Die Form einer Unterscheidung besteht aus den vier Aspekten, die simultan entstehen, wenn eine Unterscheidung getroffen wird: Die Grenze, die unterschiedenen Seiten, der ,Hintergrund' oder Kontext, vor dem unterschieden wird. Damit bildet die Form eine Einheit, die aus einer Differenz besteht: eine Form mit einem Inhalt, der von anderem unterschieden wurde . Die Betonung liegt hier aber nicht auf der Frage, inwiefern sich die zwei unterschiedenen Seiten unterscheiden , sondem darauf, dass es uberhaupt eine Ungleichheit gibt. Durch die Unterscheidung werden sie als verschieden voneinander zueinander in Beziehung gesetzt und bilden als solche eine Einheit. Damit gehort zur Form jedes ,Inhalts' im weitesten Sinne immer auch das, was er nicht ist, die andere Seite seiner Form . In dieser Hinsicht unterscheidet sich der grundlegende Form-Begriff von Spencer Brown wesentlich von anderen, philosophiegeschichtlichen Gebrauchen, in denen beispielsweise die Form dem Inhalt oder der Materie gegenubergestellt wird. In diesen Fallen bezeichnet die Form nur die eine, unterschiedene Seite, nicht aber die simultan mitentstehenden anderen Aspekte . Bei den ,Formen, die aus der Form genommen werden' des zweiten Kapitels handelt es sich auch nicht urn den gebrauchlichen Formbegriff, obwohl es hier urn Hinweis-Formen geht, die je nur auf eine der beiden Seiten referieren . Auch die wiederholte Verwendung als ,form of cancellation' fur die erste Initialgleichung der Primaren Arithmetik oder der ,form of transposition ' fur die zweite Initialgleichung der Primaren Algebra, oder die Rede von den ,forms of step allowed' oder von den ,forms of reference' bezeichnen immer Hinweis-Formen, mit denen entweder auf die eine Seite oder auf die andere Seite der ersten Unterscheidung, nie aber auf beide Seiten zugleich hingewiesen werden kann. An sich selbst sind diese Hinweisformen oder Ausdrucke Formen im Spencer Brownschen Sinne, was im ersten Theorem im vierten Kapitel, das den Namen ,Form' tragt, ausdrucklich expliziert wird: Hinweise gelten als Ausdrucke, wenn sie in einer abgeschlossenen Form stehen, wenn sie gemeinsam eine Form im Sinne der Form der Unterscheidung bilden . Die Form als grundlegender Begriff bezeichnet also alle Aspekte einer Unterscheidung zusammen; die Gesetze der Form entstehen hingegen aus den verschiedenen Moglichkeiten auf zwei der Aspekte , d.h. auf die beiden entstandenen Seiten der Form hinzuweisen. Es handelt sich urn allgemeine Gesetze, die fur den Gebrauch von Hinweisformen auf die zwei Seiten einer Unterscheidung gelten. Der Begriff ,Gesetz' aus dem Titel, der im Haupttext im ersten Kapitel
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bei der Formulierung der beiden Axiome wieder aufgenommen wird, bezieht sich auf den iterierten Gebrauch der zwei Hinweisarten. In der Arithmetik geht es urn vielfaltige Generierungsmoglichkeiten von aquivalenten Hinweisen aufje eine der beiden Seiten; in der Algebra urn die Aqulvalenz von Hinweisgefugen oder von Verhaltnissen von Hinweismoglichkeiten auf beide Seiten, und mit dem ,Re-entry' wird eine Hinweismoglichkeit auf die gesamte Form, d.h. auf beide Seiten und ihre Unterschiedenheit zugleich , eingefuhrt. Die oszillierende Gleichung, die durch das ,Re-entry' ermoglicht wird, stellt formal die Form in ihrer differenzierten Einheit dar. Sie ist fur Spencer Brown der Schltissel zum Verstandnis fur Paradoxien. Aus dieser Perspektive konnte gesagt werden, dass Paradoxien den Versuch kennzeichnen, zugleich auf die beiden Seiten einer Unterscheidung hinzuweisen, was nur als Hinweis auf die Oszillation moglich ist, die das abwechselnde Nacheinander ausdruckt, So entstehen Paradoxien, weil wir versuchen, das simultane Entstehen der Aspekte im Akt der Unterscheidung im Akt des Hinweisens zu kopieren - das geht aber nur, indem wir oszillierend Zeit generieren. Zeit entsteht so nicht durch endlose Wiederholungen ein und desselben, sondem durch iterierte Abwechslung oder Veranderung, Paradoxien und ungeradzahlige ,Re-entries' waren in dieser Hinsicht Darstellungsform en der Zeit. Mit dem in den Laws of Form dargelegten Kalkul wird explizit auf die beiden Seiten der ersten Untersche idung hingewiesen, und weil jeder Hinweis an sich selbst eine Unterscheidung ist, weist der Kalkul so auch auf seine eigene abstrakte Form hin, ist er eine Darstellung der Form der Unterscheidung jedes Hinweises schlechthin. Die kurzen Einblicke in den Bedeutungswandel einzelner Begriffe oder Namen fur Prozesse oder Prozessresultate, die in den Laws ofForm expliziert und verwendet werden, beenden die Bemerkungen zur Architektur. Mit dem Schema wird ein Leitfaden angeboten, der die Orientierung in dem zunachst vielleicht kryptisch anmutenden Buch erleichtem kann. Die Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel bieten eine - zugegebenermaBen interpretierende - Obersicht und sind ebenfalls als Orientierungshilfe gedacht. Die abschlieBende Skizzierung der drei Begriffe fungiert einerseits als Erklarung, andererseits jedoch auch als Hinweis auf die ,architektonische Schonheit' und die Rekursivitat der Laws ofForm, als AnstoB, sich weitere innere Bedeutungslinien und -zusammenhange klar zu machen. Im Folgenden wird der Text der Laws ofForm Kapitel fur Kapitel kommentiert. Wir empfehlen dazu den Text im Original mitzulesen .
III. Kommentar zu den Laws ofForm
Nachdem die Laws of Form im letzten Teil in verschiedene Kontexte gestellt und in ihrem architektonischen Aufbau vorgestellt worden sind, werden in diesem Teil die zwolf Kapitel der Laws of Form kommentiert. Der Kommentar orientiert sich streng am Text und vollzieht damit die Entwicklung des Gedankengangs und des Kalkuls Schritt fur Schritt mit. Der StH der Kommentierung ist den Erfordemissen der einzelnen Kapitel angemessen und daher nicht immer einheitlich. Wir haben vor allem in den Kommentaren zu den ersten Kapiteln drei Ebenen unterschieden: (B) Hinweise zur Etymologie und zum Gebrauch wichtiger Begriffe. Es sollen die von Spencer Brown bewusst erinnerten lateinischen Wortwurzeln sowie Eigentumlichkeiten des Englischen offengelegt werden. Damit tritt manchmal eine Bedeutungsvielfalt zu tage, der das gesprochene, zeitgenossische Englisch zuweilen nicht (mehr) entspricht. (SK) und (ADM) Selbst-Komrnentierungen und AUM-Konferenz. Die Bemerkungen Spencer Browns zu den Laws of Form auBerhalb des Haupttextes werden einbezogen. Dazu gehoren die verschiedenen Vorworte, Einleitungen und der Anmerkungsapparat, sowie die vier Transkripte der AUM-Konferenz von 1973. (I) Von diesen beiden Ebenen wird die Interpretation gestutzt, die auch Vorund Ruckgriffe beinhalten wird, sofem sie sich nicht vermeiden lassen. 1m Kommentar zum zweiten Kapitel ist vor allem auf den injunktiven Aspekt Wert gelegt worden, weshalb hier eine andere Form der Darstellung gewahlt wurde . Auf die Appendizes wird im vierten Teil der vorliegenden Einfuhrung eingegangen.
o. Kapitel: Womit der Anfang gemacht wird Katrin Wille
Oem Haupttext der Laws of Form ist eine Reihe von Schriftzeichen vorangestellt. Den meisten westlichen LeserInnen tritt damit zu Beginn des Textes ein fremde s Schriftbild entgegen, unubersetzt und unkommentiert. Die dieser Sprache unkundigen LeserInnen werden im Dunkeln gelassen tiber Bedeutung, Sinn, genauen Ort.' Es liegen vor allem drei Wege nahe, mit dieser Situation umzuge hen: Ein erster Weg ist, die fremdart ige Zeichenreihe asthetisch als Kalligraphie aufzufassen und nach kurzer Betrachtung in den ,eigentlichen' Text einzutreten. Ein zweiter Weg ist, sich auf der Suche nach Sinn, Art und dem genauen Ort des Textes ein paar Schritte weit in eine fremde Welt zu begeben. Ein dritter Weg ist, sich zu fragen, wieso diese Zeichen unmittelbar vor dem ersten Kapitel stehen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen ihrer Bedeutung, dem Ort, an dem sie stehen und dem Inhalt der Laws of Form? Wir wollen den ersten Weg wiederum unseren LeserInnen uberlassen und die beiden anderen Wege nacheinander einschlagen. Der zweite Weg fuhrt uns in die altchinesische Welt des Daodej ing (Tao-Te-King) .
Der Satz und sein Kontext im ,Daodej ing' Die chinesische Zeichenreihe ist der dritte Vers aus dem ersten Kapitel des Daodejing von Laozi (Lao-tse)": ~ Wu Nicht, Ohne , Nichts
~ ming Name Bezeichnung
7(. tian Himmel
ttl! di Erde
Z.
zhi von des, deren
fJi3
shi Anfang
Am Ende des Vorworts von 1968 dankt Spencer Brown fur die Erlaubnis, einen Teil einer alten Faksimile-Kopie vorn Daodejing photographiert haben zu diirfen, vgl. LoF:xviii. Wir erfahren also im Vorfeld , dass die Schriftzeichen aus dem Daodejing stammen, nicht aber den genauen Ort oder die Bedeutung. Es werden die chinesischen Schriftzeichen, die Pinyin-Transk ription und deutsche Ubersetzungsmog licbkeiten angegeben.
III. Kommentar- O. Kapitel : Womit der Anfang gemacht wird
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Da das Chinesische eine isolierende und keine flektierende Sprache ist, gehort zu dem chinesischen Satz eine Ambiguitat, die in den westlichen Sprachen durch die Entscheidung fur eine Wortart verloren geht.' Die Ambiguitat hangt an der grammatischen Rolle des ersten Wortes wu: nicht, ohne, Nichts . Moglichst wortlich ubersetzt lauten die beiden Varianten: (1) Ohne Name ist der Anfang des Himmels und der Erde . (2) ,Nichts' ist Name des Anfangs von Himmel und Erde. In der Mehrzahl der englischen und deutschen Obersetzungen wird die erste Variante gewahlt, es findet sich aber auch eine ganze Zahl englischer, deutscher und franzosischer Ubersetzungen, die der zweiten Variante folgen." In den beiden zentralen klassischen Kommentaren des philosophischen und des religiosen Daoismus, dem des Wang Bi und dem des Heshanggong, wird die Ambiguitat dieser Stelle deutlich: Wang Bi: "All being originated from nonbeing. The time before physical forms and names appeared was the beginning of the myriad
things.?' Heshanggong:
"The nameless designates the Tao . Tao is without form . Therefore it cannot be named."
Die Ambiguitat richtet sich also auf die Art des Anfangs. 1st der Anfang ohne Namen oder ist der Name des Anfangs ,Nichts' oder, wie in manchen Ubersetzungen zusammengezogen wird, ist der Anfang Nichts? Oder ist der Anfang eben dieses Vexierbild? Der Vers gehort zu einer Einheit von vier Versen, mit denen das erste Kapitel beginnt. Die vier Verse lauten in einer moglichen Ubersetzung: I Der Weg, der wirklich Weg ist, ist ein anderer als der unwandelbare Weg . 2 Die Namen, die wirklich Namen sind, sind andere als unwandelbare Namen.? 3 NamenloslNichts ist der Anfang von Himmel und Erde . 4 Der Name ist die Mutter der zehntausend Dinge."
FUrdiese und aile folgenden sinologischen Hinweise danken wir Rolf Elberfeld. Duyvendak mit Bezug auf Ma Hsu-lun, Chu, Thomas Cleary, Gu, Man-Ho-Kwok, Martin Pohner, Jay Ramsey, Kwok. Wang Pi 1979:1. Es ist vor allen Dingen Wang Bi, der durch seinen Kommentar dem Nichts im Daodejing eine herausgehobene philosophische Bedeutung gegeben hat, die dann fur die Rezeption des Buddhismus bedeutsam geworden ist. Erkes 1950:13 Nach der franzosischen Obersetzung von Duyvendak: " La Voie vraiment Voie est autre qu 'une voie constante. Les Termes vraiment Termes sont autres que des termes constants. (Le terme Non-etre indique Ie commencement du ciel et de la terre ; Ie terme Etre indique la mere des dix mille choses .).", Duyvendak 1987:3. Versuch nach den oben genannten Uberlegungen,
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Katrin Wille
Der Satz vom Anfang bei Spencer Brown Richtet man nun die Aufmerksamkeit auf den Ort, an dem der chinesische Vers in den Laws of Form auftaucht, dann zeigen sich einige Ubereinstimmungen zwischen Spencer Browns Umgang mit dem Vers und seinem Inhalt. Denn zum einen wird ein Satz tiber den Anfang an den Anfang der Laws of Form gestellt. Zum anderen geschieht den meisten LeserInnen des englischen Textes der Laws of Form wohl das, worub er der Vers spricht: die chines ischen Zeichen am Anfang bleiben den meisten ein semantisches Nichts und ohne Nam en, namenlos . Spencer Brown wah It aus dem ersten Kapitel des Daodejing diesen Vers und lasst die anderen ungenannt. In den drei nicht zitierten Versen ist vom Weg und vom Namen die Rede, namlich zusammenfassend gesagt vom VerIaufscharakter des Weges und des Namens? und von dem, was aus dem Namen entstehen kann (, die zehntausend Dinge '). Wir konnen mutmaBen, dass Spencer Brown hier ungenannt lasst, was er in den Laws of Form auf seine Weise auszufuhren gedenkt. Wir konnen erwarten , etwas tiber das Verhaltnis von Nichts , NamenIosigkeit und Namen, das angemessene Verstandnis des Namens und die Entstehung von Komplexitat aus dem Namen zu erfahren. Machen wir den Anfang mit dem ersten Kapitel : THE F ORM.
Vgl. Wohlfart 200 1a:27-54.
Das erste KapiteI: THE FORM
Tatjana Schonwalder-Kuntze und Katrin Wille
I. Titel Der Titel des ersten Kapitels lautet: The Form. Es geht urn die Form schlechthin, darum, wie sie entsteht, und was alles zu ihr gehort. Es werden also keine bestimmten Formen und Formbildungsprozesse untersucht, sondem vieImehr die GrundIagen fur Formbildungsprozesse verschiedenster Art. Die Form wird als Form der Unterscheidung bestimmt und es werden Moglichkeiten aufgezeigt, wie auf Aspekte/Teile dieser Form hingewiesen werden kann. 2. Voraussetzungen Die Form der Unterscheidung als die Form zu nehmen, ist das Ergebnis der dreigliedrigen Voraussetzung, mit der das erste Kapitel beginnt: "We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction . We take, therefore , the form of distinction for the form ."!
(I) Ais gegeben angenommen werden die ,Idee der Unterscheidung' und die ,Idee des Hinweisens'. Die Art der Beziehung dieser beiden Ideen lasst zwei Deutungen zu : Nach der ersten Deutung werden die beiden Ideen des Unterscheidens und des Hinweisens so miteinander verkniipft, dass die Moglichkeit, einen Hinweis zu geben, von dem Treffen einer Unterscheidung abhangig ist, weil es sonst nichts gabe , worauf hingewiesen werden konnte . Da also der Prozess des Hinweisens den Prozess des Unterscheidens erfordert, kann die Form der Unterscheidung zur Form schlechthin erhoben werden. Nach der zweiten Deutung zeigt sich, dass die beiden Ideen des Unterscheidens und des Hinweisens urspriinglich zwei Momente eines einzigen Prozesses bezeichnen, die nicht separierbar sind, insofem jeder Hinweis immer zugleich und ,an sich selbst' auch eine Unterscheidung ist: als Hinweis unterscheidet er sich von anderem. Auch deshalb kann die Form der Unterscheidung als die Form gelten. Beide Deutungen tauchen im Aufbau der Laws of Form auf, an manchen Stellen ist die Differenzierung zwischen zwei Prozessen Unterscheidung und Hinweis relevant, an anderen gerade die Authebung dieser Differenzierung.' LoF: I. Solange kein erneuter Hinweis erfolgt, stehen die anschlieBenden Zitate ebd.
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Tatjana Schonwalder-Kuntze und Katrin Wille
1m weiteren Verlauf des ersten Kapitels werden die beiden Prozesse einzeln analysiert. Da die Form der Unterscheidung zur Form schlechthin erklart werden kann, wird zunachst der Prozess des Unterscheidens herausgenommen. Er wird als das betrachtet, was Form(en) generiert. Dies bildet den Ausgangspunkt fur aile weiteren Uberlegungen. Dann wird die Moglichkeit gezeigt, dass und wie auf bestimmte Teile/Aspekte der Form durch verschiedene Prozesse Hinweise erfolgen konnen . Die dreigliedrige Voraussetzung kann also wie ein Keirn aufgefasst werden, in dem angelegt ist, was im Folgenden entwickelt wird. Das erste Kapitel liel3e sich so als ein Differenzierungsprozess auffassen, der an einem einzigen Akt : Unterscheidendes Hinweisen oder hinweisendes Unterscheiden immer mehr Aspekte hervortreten lasst und in ein Verhaltnis zueinander setzt. Dafur ist es wichtig, die Begriffe ,distinction' , ,indication' und ,idea' naher zu betrachten. (B) ,distinction' . Der spezifische Gebrauch von ,distinction' wird deutIich, wenn man den hier nicht verwendeten Begriff ,difference' dagegen halt. Wahrend letzterer sowohl im Lateinischen (differentia) als auch im Englischen eher fur bereits bestehende, vorfindliche, existierende Unterschiede steht, wird ,distinction' (distinctio) eher fur eine unterscheidende Handlung gebraucht. So weist die englische Redewendung: ,a distinction without a difference' darauf hin, dass es eine unterscheidende Handlung geben kann, die auf keinem wirklichen Unterschied beruht. ,Distinction' kann beides bedeuten: die Herstellung von Unterschiedenen und von Differenzen und die hergestellten Unterschiede, die Resultate von Unterscheidungen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass ,distinction' hier verwendet wird, urn primar auf den unterscheidenden Vollzug , den Unterscheidungsprozess selbst aufmerksam zu machen, der den Unterschied als ,difference' , als Resultat erzeugt. ,indication' . Der Gebrauch von ,indication' kann an dieser Stelle durch seine beiden Bedeutungen motiviert werden, zum einen im Sinne von Zeichen (,sign') und zum anderen im Sinne von Wink (,suggestion'). Wenn ,indication' als Zeichenfiir etwas verwendet wird, dann in dem Sinn, wie ein Signifikant auf ein Signifikat oder wie ein Wegweiser auf etwas hinweist. Wird ,indication' im Dieses Vorgehen ist kennzeichnend fur den Stil und den Inhalt der Laws of Form. Es wird gezeigt, wie aus einem einzig en Prozess Differenzierungen generi ert und wieder zuruckgenommen werden konnen - je nach Standpunkt und Kontext. FOr solche und andere rnethodologische Mehrdeuti gkeiten verwenden wir hier und im Foigenden den Terminus ,systematische Ambiguitat' . Damit sind intendierte Mehrdeutigkeiten gemein t, durch die verschiedene md zum Teil auch gegenlaufige Bedeutungen in einem geme insamen Vorlaufer verdichtet sind. So konnen an einigen Stellen gezielt verschi edene Moglichkeiten auftauchen , die an anderen Stellen bei Bedarf auseinander genommen werden konnen, Dieser Ausdruck stammt von Matthias Varga von Kibed und spielt fur unsere Deutung eine wichtige Rolle .
III. Kommentar- Das crstc Kapitel: THE FORM
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Sinne von ,suggestion' gebraucht, dann ist es selbst eine Andeutung, ein Ankundiger von etwas, wie etwa das Wetterleuchten von weitem ein Unwetter ankundigt, weil es ein Ausdruck ist, der zum Ausgedruckten selbst gehort. Urn beide Bedeutungen einzuschlieBen, scheint die deutsche Ubersetzung ,Hinweis' angemessener als die haufig verwendete Ubersetzung ,Bezeichnung' , die den ersten Bedeutungsaspekt betont und den zweiten verloren gehen lasst. ,idea' . Der spezifische Gebrauch des philosophiegeschichtlich aufgeladenen Begriffs ,idea' an dieser Stelle lasst sich motivieren durch eine Uberlegung, die Spencer Brown auf der AUM-Konferenz angestellt hat. (AUM) Der Beginn der Laws ofForm ist das Ergebnis eines Reduktionsprozesses auf das Denken von Unterscheidung ohne weitere Qualifikationen der Unterscheidung durch GroBe, Gestalt, Abstand oder andere Qualitaten, Urn diesen Beginn nachzuvollziehen, mussen wir also absehen von allen konkreten Bestimmungen, die wir immer schon mit Unterscheidungen verbinden. Anders gesagt , wir mussen unsere Gewohnheiten der Qualifizierung verlemen und alles beiseite lassen, was nicht nur die ,Idee' der Unterscheidung ist (vgI. AUM 1,9). Das Ergebnis, die ,Idee der Unterscheidung', ist aber nicht wie eine mentale Entitat zu verstehen, sondem wie eine zunachst nicht weiter qualifizierte Beziehung zwischen Unterschiedenen (vgI. AUM 4,1). (I) Mit der Voraussetzung der ,Idee der Unterscheidung' wird dazu aufgefordert, sich auf den Nachvollzug des Prozesses ,distinction' einzulassen. Hier ist der reine Prozess des Unterscheidens gemeint, ohne ihm schon bestimmte Qualitaten zuzuschreiben, sowie das, was dieser Prozess mit sich bringt: die ,Form der Unterscheidung' . Diese ist nicht wie eine abstrakte Entitat zu verstehen, sondem eher wie der Generierungsprozess eines Beziehungsgefuges. Das bedeutet, dass an dieser Stelle nicht nur von allen standortbezogenen, besonderen Bedingungen dessen, der unterscheidet, sondem yom Beobachter uberhaupt abgesehen wird. 3. Definition Nach der Aufzahlung der Voraussetzungen wird der Prozess der Unterscheidung erst genauer bestimmt, denn die anschlieBende Zwischenuberschrift lautet : Definition . Ihr folgt eine explizite Defmition des Begriffes ,distinction': "Distinction is perfect continence ."
(B) ,perfect'. Das lateinische Verb ,perficere' hat mehrere Bedeutungsnuancen: Neben ,vollenden', ,beendigen', ,beschlieBen', steht es fur ,verfertigen', .ausfuhren' , ,zustande bringen ' , ,vollziehen', aber auch fur ,ausarbeiten' und .ver-
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fassen' bzw. ,durchsetzen' und ,bewirken'. Als Adjektiv kommen noch die Bedeutungen ,vollkommen' und ,tiichtig' hinzu. Irn Englischen steht es auch noch fur .vollstandig', ,exakt' und ,akkurat' . ,continence'. Im englischen Sprachgebrauch kommt ,continence' in zwei sehr verschiedenen Bedeutungsfeldem vor. Zum einen steht es fur die generelle Fahigkeit zur Selbstkontrolle, aber auch Selbstgenugsamkeit ohne spezifischen Bezug zu einem Etwas, dessen man sich enthielte, anders als das deutsche Wort ,Enthaltsamkeit' . Zum anderen kommt es in einem spezifischen Geometer- bzw. Ingenieursgebrauch vor und meint hier den raumlichen Zusammenhalt im Sinne der Zentripetalkraft und im Sinne des Zusammenhalts fester Kerper.' Die erste Verwendung entspricht exakt dem substantivischen Gebrauch im Lateinischen (continentia); betrachtet man allerdings das abgeleitete Adjektiv (continens), kommen noch weitere Bedeutungen hinzu. Das waren ,angrenzend' , .anstoBend' und ,unmittelbar folgend', aber auch .zusammenhangend' , .ununterbrochen', ,fortlaufend', ,anhaltend'. Das Verb (continere) halt aber auch die geometrische Verwendung bereit im Sinne von ,zusammenhalten' sowie .enthalten', ,einen Inhalt bilden', ,einschlieBen', ,umfassen', ,in sich tragen ', .festhalten' und ,begrenzen'. Damit ist fast die gesamte Bedeutungsvielfalt, die in der Definition steckt und im folgenden Text ausflihrlicher erlautert wird, bereits angesprochen. ,is' bzw. ,to be' (SK) Spencer Brown betont in einer der verschiedenen Vorbemerkungen zum Haupttext der Laws ofForm, dass bei der Verwendung von ,sein' in Definitionen keine Aussage daruber getroffen werden soll, was und wie etwas ist, sondem dass eine Regel in einem Spiel ausgedruckt werden solI. Das Vorkommen von ,ist' oder ,sein' in Defmitionen kann als ,lasst uns so tun, als ob' verstanden werden. Durch die Definition sind wir also aufgefordert, Unterscheidung zunachst in der vorgeschlagenen Weise aufzufassen."
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An dieser Stelle sei Stephan Packard fur viele Hinweise auf den englischen Sprachgebrauch sowie auf etymologische Wurzeln herzlich gedaikt. Vgl. Vorstellung der internationalen Ausgabe Spencer Brown 1997:X: .Es sollte beachtet werden, dass es in diesem Text nirgendwo einen einzigen Satz gibt, welcher besagt, was oder wie irgendetwas ist" In der Anmerkung dazu hei6t es: .Eine Definition, wie ,Unterscheidung ist perfekte Be-Inhaltung' sagt nicht, was sie ist, sondern weist den Leser an diesem Punkt nur an, wie er sie zu definieren hat. Spater werden wir, wie wir sehen werden , diese Definition zum Tei! aufheben oder auf andere Weise definieren... wenn sie eine Definition gemacht haben, ailes, was sie taten war, die Regeln fur ein Spiel ,Lasst uns so tun, als ob' festzulegen."
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(I) Mogliche Ubersetzungen konnten daher lauten: Unterscheidung ist vollkommene Enthaltsamkeit oder Unterscheidung ist vollzogener Zusammenhang' . Die Definition scheint zunachst widerspruchlich: Unterscheidung ist ... Zusammenhang, da unter Unterscheidung etwas Trennendes, Scheidendes und unter Zusammenhang im Gegenteil etwas Verbindendes, Vereinendes verstanden wird. Setzen wir diese vorlaufigen Ubersetzungen ein, dann lautet die Definition : Trennung ist (sein Gegenteil) Verbindung. Es ist also erlauterungsbedurftig, was hier wie enthalten ist, und wessen sich enthalten wird, worin der Zusammenhang besteht und was iiberhaupt zusammenhangt. Wenn ,ist' fur die Aufforderung steht: ,Lasst uns so tun, als ob', werden die Leserlnnen durch die Definition aufgefordert, so zu tun, als ob Unterscheidung vollzogener oder voIlkommener Zusammenhang ware, bzw. dazu, Unterscheidung als Zusammenhang aufzufassen . Betrachten wir also Unterscheidung als vollzogenen Zusammenhang, legen sich zunachst zwei Bedeutungen nahe: Zusammenhang I : Durch eine Unterscheidung wird etwas hervorgehoben oder zusammengehalten. Es wird ein Inhalt oder ein Bereich geschaffen, der zusammengehalten wird . Dies hat eine Entsprechung im Ingenieursgebrauch des Begriffes .continence' .? Zusammenhang 2: Wird etwas hervorgehoben oder zusammengehalten, setzt es sich damit gleichzeitig abo Ein innerer Zusammenhang bildet zugleich eine Grenze nach auBen. Durch eine Unterscheidung bleibt etwas auBen vor, wird gewissermaBen ausgeschlossen. Gerade dadurch , dass das Ausgeschlossene von etwas ausgeschlossen wird, hangt es mit dem hervorgehobenen Inhalt aber zusammen, ohne dass dieser dadurch vollstandig bestimmt ware.' Diese Bedeutung entspricht eher der Verwendung in Bezug auf den menschlichen Kerper und seiner Selbstkontrolle bzw. Enthaltsamkeit. Ein dritter Sinn von Zusammenhang erschlieBt sich, wenn die beiden ersten Bedeutungen zusammengenommen und aufeinander bezogen werden: Zusammenhang 3: Der zusammenhangende Inhalt (Zusammenhang I) und der Zusammenhang mit seinem AuBen (Zusammenhang 2) bewirken gemein-
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Vgl. fur andere Ubersetzungen die etymologischen Uberlegungen von Matthias Varga von Kibed und Rudolf Matzka in Varga! Matzka 1993:60. Dieser Sinn von ,continence' wird besonders betont, wenn Spencer Brown in den Notes zum ersten Kapitel schreibt: "Although it says somewhat more, all that the reader needs to take with him from Chapter 1 are the definit ion of distinction as a form of closure ...", LoF:77. In der Tradition von Spinoza und Hegel konntcn wir vorschnell dazu neigen , den Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Seite als Negationsverhaltnis zu betrachten: etwas ist etwas , weil cs alles andere nicht ist. Spencer Brown versteht die Negation hingegen als Teil des komplexen Unterscheidungsspiels ,Logik' . Das Unterscheidungskalkul kann in die formale Logik ubersetzt werden , das sagt aber nichts tiber das ,Wesen ' der Grenze als Negationsform. Insgesamt kritisiert er eine Uberbetonung der Rolle der Negation in unseren ublichen Sprachspielen: "We take so seriously the not-boundary." AUM 3,5.
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sam etwas Neues und damit einen weiteren Sinn von Zusammenhang, durch den Inhalt und Auf3en iiberhaupt erst unterscheidbar sind. Hierfur kann an die Bedeutung von ,perficere', ,bewirken' erinnert werden. 4. Die expliziten Aspekte der Form der Unterscheidung Im anschlief3enden Textstuck werden die Definition und die verschiedenen moglichen Bedeutungen von ,continence' naher bestimmt. Dort sind verschiedene Aspekte erwahnt, die mit einer Unterscheidung entstehen und zu ihrer Form gehoren . Diese Aspekte konnen auch als Komponenten einer komplexen zusammenhangenden Form verstanden werden, die der Prozess der Unterscheidung mit sich bringt. "That is to say, a distinction is drawn by arranging a boundary with separate sides so that a point on one side cannot reach the other side without crossing the boundary."
(B) ,boundary' . Im Englischen kann damit zum einen eine Linie gemeint sein, die ein Limit im Sinne einer unuberschreitbaren Grenze anzeigt oder markiert. Andererseits meint ,boundary' aber auch eine trennende, spaltende Linie zwischen Verschiedenem. (I) Eine Unterscheidung im Sinne der Laws of Form wird nur dann getroffen, wenn durch das Errichten einer Grenze zwei getrennte Seiten entstehen, so dass ein Punkt auf einer Seite die andere Seite nicht erreichen kann, ohne die Grenze zu uberschreiten. Was als eine Grenze gelten kann, wird durch die Punktmetapher veranschaulicht. An der Grenze wird der Unterschied oder die Differenz zwischen zwei unterschiedenen Bereichen deutlich. Durch sie wird markiert, wo der Ubergang von einem Bereich, Zustand oder Inhalt zum anderen stattfindet; sie halt die zwei Unterschiedenen auseinander, tiber die hier nicht mehr gesagt werden kann, als dass sie nicht identisch sind und nicht ineinander ubergehen aber eine gemeinsame Grenze haben." In diesem Textstiick treten also zunachst drei Aspekte einer Unterscheidung auf: (1) Das Unterschiedene, die eine Seite, (2) das Ubrige, die andere Seite, (3) die Grenze zwischen den beiden Seiten. Diese drei Aspekte der Unterscheidung haben keine logische oder gar zeitliche Reihenfolge, sondem stehen in einem Verhaltnis der abhangigen Koproduktion Dieser Grenzbegriff ist noch ganz unbestimmt: Etwas kann beispielsweise in Bezug auf seine aubere Form von etwas anderem unterschieden werden oder in Bezug aufseinen Wert oder in Bezug auf seine Eigenschaften etc.
III. Kommentar - Das erst e Kap itel: THE FORl\1
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oder Koerzeugung. Damit ist eine logische Gleichursprunglichkeit und auch Gleichwerti gkeit der Aspekte gemeint, nicht aber ihre Funktionsgleichheit. (SK) Zu diesem Gedanken der Koerzeugung von Aspekten heil3t es im Vorwort zur Autlage von 1994 in Bezug auf den Hinweis: "Any indication impl ies duality, we cannot produce a thing without copro ducing what it is not, and every du ality implies triplicity: what the thing is, what it isn' t, and the boundary between them . Thus, as explained in the Chapter I of the Laws, you cannot indicate anything without defining two states, and you cannot define two states without creating three cleme nts. No ne of these exists in real ity, or separately from the others.,,9
5. Das Beispiel oder der implizite Aspekt 1m Beispiel taucht der vierte Aspekt der Form der Unterscheidung auf, der von anderer Qualitat ist als die anderen drei bisher explizierten Aspekte . " For example, in a plane space a circle draws a distinction".
(B) ,exam pie'. Die lateinische Wurzel lautet ,exemplum' , was wiederum eine Ableitung von ,exemlum', das Herausgenommene, ist. Hier wird also etwas herausgenommen. 1m Sinne von Zusammenhang 1 ist das Beispiel an sich selbst eine Untersch eidung und weist auch als solche auf die Unterscheidung hin. (I) Spencer Brown lasst den vierten Aspekt der Unterscheidung in einem Beispie l auftauchen (in a plane space). Betrachtet man die Etymologie von ,example' , kann man sehen, dass die Funktion eines Beispiels darin bestehen kann, etwas heraus zu nehmen: Hier wird der implizite Kontext, der den Kreis erst zu einer Unterscheidung macht, aus der Latenz gehoben, heraus genommen.
Eine Unterscheidung treffen bedeutet also vier Aspekte simultan hervorzubr ingen oder kozuproduzieren: zwei Seiten, eine Grenze zwischen ihnen und einen Kontext oder Raum, der die drei anderen Aspekte erst zu Aspekten der Unterscheidung macht. Der vierte Aspekt lautet demnach: (4) der Kontext, der die beiden Seiten unterscheidbar bzw. zu verschiedenen macht. Die ersten drei sind explizite Aspekte ; der letzte, vierte Aspekt ist implizit durch die anderen drei mitgegeben und bestimmt diese seinerseits erst zu Aspekten der Unterscheidung." Denn jeder der vier Aspekte entsteht durch und 9
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LoF:ix. Vgl. auch in der Vorstellung der internationalen Ausga be: .Kanon Null. Koprodu ktion." , Spencer Brown 1997 :ix. Die A ufteil ung der vie r Aspekte in drei explizite und einen impliz iten haben wir vo n Matthias Varga von Kibed ubern omm en.
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mit den anderen, keiner kann ohne die anderen entstehen und vollstandig verstanden werden. (AUM) Der implizite Charakter des vierten Aspektes kann durch eine Uberlegung Spencer Browns aus den AUM-Transkripten erlautert werden: Wir neigen dazu, zu denken und zu sagen, dass eine Unterscheidung, wie z.B. der geometrische Kreis, in einem Raum stattfindet. Bei solcher Redeweise entsteht der Eindruck, als sei der Raum vor der Unterscheidung gegeben und konnte auch ohne die Unterscheidung weiter bestehen . Spencer Brown versucht die Beziehung zwischen Unterscheidung und Raum anders als ublich zu denken: der Raum ist nicht vor der ersten Unterscheidung da, er entsteht mit der ersten Unterscheidung (AUM 1,9). In den Notes zu den Laws of Form weist Spencer Brown auf die Wichtigkeit des 4. Aspektes hin, denn nicht jeder Kontext generiert eine Unterscheidung im Sinne der hier vorgelegten Definition. So ist auch nicht jeder Kreis ein Beispiel fur eine Unterscheidung. Wird beispielsweise ein Kreis auf einen Torus, einen dreidimensionalen Ring gezeichnet, gibt es die Moglichkeit, von der einen Seite auf die andere Seite zu kommen, ohne die Grenze, die durch den Kreis gezogen wird, zu uberschreiten." (I) Es ist namlich auf einem Torus moglich, einen Strich von der ,einen' Seite des Kreises - der scheinbaren ,Grenze' - zur ,anderen' zu zeichnen , ohne die Kreislini e zu beruhren, indem man einfach ,hintenherum' zeichnet. " Hier lage keine Unterscheidung vor, denn ein beweglicher Punkt konnte von der einen auf die andere Seite gelangen , ohne die Grenze zu liberschreiten . Deshalb lassen sich auf einem Torus nicht zwei Seiten unterscheiden, es gibt keine echte Grenze und damit keine Unterscheidung. Damit ein Kreis eine Unterscheidung darstellt, muss er in geeigneten Kontexten , wie z.B. in einer Ebene gezogen werden . Die Ebene stellt also in diesem Beispiel den vierten ,Aspekt' dar, ohne den mit dem Zeichnen eines Kreises keine Form der Unterscheidung hergestellt wird. Oder nochmals anders formuliert: wenn ein Kreis eine Unterscheidung im genannten Sinne sein soli, dann ist ein Kontext notwendig, der die drei expliziten Aspekte der Form der Unterscheidung auch tatsachlich zwei Seiten und eine Grenze zwischen ihnen sein
lasst, Den impliziten Kontext , in diesem Fall die Ebene , eigens zu benennen, bedeutete streng genommen, eine neue Unterscheidung zu treffen, denn damit wurde dieser Kontext, die Ebene, zum Inhalt gemacht und gegenliber allen moglichen anderen Kontexten herausgehoben. Durch die Benennung und d.h. Explizierung des Kontextes verschiebt sich die Zuordnung der Aspekte der UnterII 12
LoF:79 Beispielsweise haben Donuts, die suben amerikanischen Schmalzkringel, die Form eines Torus .
III. Kommentar - Das erste Kapitel: THEFORM
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scheidung, die Ebene wird zum neuen ersten Aspekt . Mit dem Beispiel befinden wir uns gewissermal3en schon im Ubergang von einer Unterscheidung zu einer anderen . Dem Beispiel kommt deshalb eine wichtige und gleichzeitig ,grenzwertige' Rolle zu, denn es lasst einen impliziten Aspekt aufscheinen , der bei genauerer Betrachtung seinen impliziten Charakter verliert. Deshalb bleibt dieser Aspekt aul3erhalb des Beispiels implizit und bildet nur den Kontext, den Hintergrund , der in dem Prozess des Unterscheidens mit hervorgebracht wird. Das Beispiel von dem Kreis in der Ebene zeigt eine Moglichk eit, den Aspekt der Grenze raumlich zu bestimmen. In anderen Bereichen hat aber der Aspekt ,Grenze' einen anderen Charakter, denn die Abgeschlo ssenheit der beiden Seiten voneinander bezieht sich haufig nicht auf eine raumliche Trennung . In der Biologie beispielsweise sprechen Humberto Maturana und Francisco Varela in Bezug auf autopoietische Organisationsformen von der Membran als "hllutchenllhnliche[m] Rand ... . In bezug auf die Relationen von chemischen Tra nsformationen haben wir hier eine gan z besondere Situation vor uns: Auf der einen Seite sehen wir ein dynamisches Netzwerk von Transform ationen ..., das die Bedingun g der Moglichkeit eines Randes ist. Auf der anderen Seite sehen wir einen Rand, der die Bedingun g der Moglichkeit des Operierens eines Netzwe rkes von Transformationen ist, welch es das Netzwerk als Einheit erzeugt. ... Wohlgemerkt: Dies sind keine sequentiellen Prozesse, sondem zwei Aspekte eines einheitlichen Phanornens. Es ist nicht so, daB es zuerst einen Rand und dann eine Dynamik gibt und dann cinen Rand und so weiter. Wir sprec hen von einer Art Phanornen, bei der die Moglichk eit, Etwas von dem Ganze n zu unterscheiden ..., von der Ganzheitl ichkeit der Prozesse abhangt , die dieses Etwas moglich machen . Unterbrechen wir ... das ... Netz , und wir werden nach einiger Zei t keine Einheit mehr haben, die wir als solche bezeic lne n kOnnten.,,13
Der geschlossene Funktionszusammenhang ist damit ebenso eine Grenze im Spencer Brownschen Sinne, da der Zusammenhang, der die Grenze eine Grenze sein lasst, also der Kontex t, eben in deren Funktion besteht. 14 Grenzen sind also in vielen Zusammenhangen ein Komplex von Kriterien, die erst gemeinsam die
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Maturanal Varela 1987:53f. Von Luhmann wird dies dann mit der Rede von der funkt ionalen Gesc hlossenheit von Orgaiis men gcgc nuber ihrer Umwelt wieder auf genommen. Ober das Verhaltnis von Maturanas und Spencer Browns Verstandnis von Grenze ging es in einem personlichen Gesprlich zwisc hen den Autorinnen und Humb erto Maturana am 15.1.2002 in MOnchen. Maturana hatte in diesem Gesprach vehement bestritten, dass sei n Verstandn is von Grcnze etwas mit dem Spencer Brownschen gemein habe, da sich eine funktionale Abgrenzung, wie sic in der Biologie vorkommt, gerade dadurch auszeichne, dass sie den ,Teilchenaustausch ' der einen Seite mit der anderen nicht nur crrnogliche, sondern sogar notwendig rnache, wie das Beispiel der Haut als Membran zeige . Wir hingegen versuchten filr einen geme insamen Grenzbegri ff zu argumentieren, der Membr an und Kreis in der Ebene als Beispiele umfassen kann. Keiner der beiden Grenztypen darf unseres Erachtens verallgerneinert werden. Vie lmehr gehort es zu dem allgemeinen Grenzbegriff, dass eine Grenze immer zugleich mitdefiniert, was fur sie Abgesch lossenheit bzw. Undurchlassigkeit bedeutet und welche Art Inhalt sie dadurch abgrenzt bzw. hervorbrin gt oder ,am Leben erhalt' .
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eine Seite zur einen, die andere Seite zur anderen machen , und damit entscheiden, was auf die eine Seite und was auf die andere gehort. Bis hierhin ist die Darstellung abgeschlossen, wie die Form der Unterscheidung hergestellt wird. Im nachsten Schritt geht es urn das Aufrechterhalten einer Unterscheidung. 6. Aufrechterhalten der Form der Unterscheidung "Once a distinction is drawn , the spaces, states, or contents on each side of the boundary, being distinct, can be indicated."
Ist einmal eine Unterscheidung getroffen, also die Form der Unterscheidung mit den vier Aspekten generiert, dann kann auf die beiden ersten Aspekte (die beiden unterschiedenen Seiten) hingewiesen werden . (B) ,spaces' , ,states', ,contents'. Damit werden drei Moglichkeiten flir verschiedene Bestimmungen der beiden Seiten einer Unterscheidung aufgezahlt, Durch sie werden verschiedene Kontexte impliziert: Raume, Zustande und Inhalte. (ADM) Wird eine Unterscheidung getroffen, entstehen durch die zwei Seiten Raume, Zustande oder Inhalte, ohne jede weitere Qualifizierung. Es gibt deshalb zunachst auch kein Innen oder Aul3en, dies suggeriert vielleicht das geometrische Beispiel vom Kreis, das nur eine mogliche Illustration der Unterscheidung ist, die zunachst einfach nur zwei verschiedene Zustande hat (AUM 1,13) . (B) ,can' . Spencer Brown wahlt haufig den Modus der Moglichkeit und schreibt nicht ,muss', ,soli' , oder ,ist ' , sondem ,kann' . Darin spiegelt sich das Selbstverstandnis des ganzes Werkes: "We represent what doesn 't really happen but might happen , ifit could ." (AUM 1,12). (I) Die Prozesse, die zur Aufrechterhaltung der Form der Unterscheidung nctig sind, werden im Modus der Moglichkeit formuliert. Der Prozess der Unterscheidung, der die Form der Unterscheidung mit den vier Aspekten generiert, 'war in der dreigliedrigen Voraussetzung zu Beginn als notwendiges Erfordemis fur den Prozess des Hinweisens genannt worden. Hier wird die anfangliche Reihenfolge wieder aufgenommen: erst durch das Unterscheiden ist die Moglichkeit des Hinweisens geschaffen worden . Es ist wichtig zu bemerken, dass ein Hinweis aufjede der beiden unterschiedenen Seiten, seien es Raume, Zustande oder Inhalte, erfolgen kann. In Bezug auf die Moglichkeit des Hinweisens sind die beiden Seiten symmetrisch.
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Die Moglichkeit des Hinweisens auf die Resultate des Unterscheidungsprozesses erfordert weitere Bedingungen, die in den anschIiel3enden Zeilen erortert werden: "There can be no distinction without motive , and there can be no motive unless contents are seen to differ in value ." (Hvhb. T.S. und K.W.)
(I) Der Prozess, eine Unterscheidung zu trefJen und das Resultat, diese (Form einer) Unterscheidung zu sein" oder sie aufrechtzuerhalten, werden unterschieden. An dieser Stelle geht es urn die Bedingungen des Aufrechterhaltens einer Unterscheidung, die erfiillt sein mussen, damit auf die unterschiedenen Seiten hingewiesen werden kann. Dafur ist ein Motiv notig, eine gerichtete Bewegung oder ein ,Woflir', ein ,Umzu ' der Unterscheidung , das aus der Unterscheidung ein stabiles Unterscheidungsergebnis macht. Ein Motiv entsteht da, wo Inhalte ,als von verschiedenem Wert gesehen werden '. Zwei Eigenheiten des Textes verdienen besondere Aufmerksamkeit: Erstens ist zu bemerken , dass auf der Ebene der Wertigkeit, oder auch NutzIichkeit, Brauchbarkeit, Verwendbarkeit oder Funktion von lnhalten, und nicht mehr von Raumen oder Zustanden die Rede ist. Dort, wo verschiedene Seiten auf ihre Wert- oder Funktionsdifferenz hin betrachtet werden, handelt es sich urn Inhalte. Hatten die Inhalte den gleichen Wert oder die gleiche Funktion, wurde die Unterscheidung zusammenfallen. Das ,Umzu' macht auch die Unterscheidung insgesamt wertvoll, sie ist fur etwas gut, sie hat einen Zweck. Zweitens ist wichtig, dass hier auf der Ebene der Wert- oder Funktionsverschiedenheit der angemessene Ort ist, den Begriff .Differenzen" zu verwenden. Das Kriterium fur das ,Bestehen' verschiedener Inhalte, also fur das Bestehen von ,Differenzen' ist eben eine Wert- oder Funktionsverschiedenheit. Erst auf der Ebene ,motivierter Funktionsdifferenz' als komplexe Bedingung fur die Aufrechterhaltung einer Unterscheidung kann auf einen der beiden Werte hingewiesen werden . 7. Zwei Arten des Hinweisens und ihre Verwendung Es werden zwei Arten vorgestellt, mit denen ein Hinweis auf Werte erfolgen kann: Auf der einen Seite ist das tiber die Nennung eines Namens moglich , die mit dem Wert des Inhalts identifizierbar ist; auf der anderen Seite tiber die Absicht, die Grenze zwischen den beiden unterschiedenen Inhalten zu uberschreiten.
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An dieser Stell e sci noch einmal an die oben zitierte Ubersetzungsregel erinn ert, Vorkommnisse von .sein' durch ,Lasst uns so tun, als ob ' zu substituieren. Vgl. zu dem Unterschied zwischen ,distinction' (Unterscheidung) und ,difference' (Differenz) die o.g. Hinweise.
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Tatjana Schonwalder-Kuntze und Katrin Wille "If a content is of value, a name can be taken to indicate this value , Thus the calling of the name can be identified with the value of the content. .., Equally, if the content is of value, a motive or an intention or instruction to cross the boundary into the content can be taken to indicate this value, Thus , also, the crossing of the boundary can be identified with the value of tile content.,,17
(B) ,identify' heif3t einerseits, ,die Gleichheit einer Sache feststellen', ,erkennen ' oder auch ,entdecken'. Andererseits wird es aber auch als ,gleichsetzen' verwendet, also in einem eher konstruktiven Sinne. Das englische Verb ist aus den beiden lateinischen Wurzeln ,idem' und ,fingere' zusammengesetzt. ,Idem' heif3t ,derselbe', der ,gleiche' und ,fingere' bedeutet neben ,formen ' , ,gestalten' , ,darstellen' und ,sich vorstellen' , ,sich denken' , ,annehmen' auch .erlugen' oder ,vorgeben' . (I) Die beiden Textstucke, in denen zwei Arten von Hinweisen vorgestellt werden, sind parallel angelegt. Beide Arten, der Hinweis durch die Nennung eines Namens und der Hinweis durch eine Absicht, die Grenze zu uberschreiten, haben zur Voraussetzung, dass die unterschiedenen Inhalte von Wert sind. Dies wiederum erfordert die ganze Form der Unterscheidung und es ist zu sehen, dass die Moglichkeit des Hinweisens den gesamten Prozess der Unterscheidung notig hat. Hingewiesen werden kann auf den Wert eines Inhalts, auf das, was ihn zu einem unterschiedenen Inhalt macht, nicht auf die Inhalte selbst oder die Seiten der Unterscheidung. Bei der Formulierung ,if a content is of value' ist es wichtig, den Ubergang von dem Sehen einer Wertdifferenz zwischen Inhalten (contents are seen to differ in value) zu .von-Wert-Sein' (if a content is of value) eines Inhaltes zu beachten. Durch die Ubersetzungsregel, die Spencer Brown fur ,sein' als ,lasst-uns-so-tun-als-ob' gegeben hat, wird der Zusammenhang zwischen ,sehen von' und ,sein ' deutlich. Die erste Hinweisart ist wiederum zweigliedrig : Sie besteht darin, einen ,Namen zu nehmen' , mit dem auf den Wert eines Inhalts hingewiesen wird. Ein Name kann gewahlt werden, urn als Hinweis auf den Wert eines Inhalts zu dienen . Davon unterschieden wird die Verwendung des Namens, die Operation des ,calling ', also das Nennen des Namens. Erst die Verwendung des Namens realisiert tatsachlich die Moglichkeit des Hinweisens. Wenn nun ein Inhalt von Wert ist, kann mit einem Namen (,Wert') darauf hingewiesen werden. Deshalb (thus) ist das Nennen des Namens ,Wert' mit dem Wert des Inhalts identifizierbar, d.h. die Identifikation zwischen der Verwendung des Namens ,Wert' und dem Wert des Inhalts ist moglich." Der Name steht auf dieser elementaren Ebene fur das, 17 Das Zitat nach der Auslassung findet sich in den LoF:2, Die beiden Stellen werden hier zusammengezogen , da sie strukturell und gedanklich eine Einheit bilden, 18 Das gleiche gilt auch fur die anderen elementaren Begriffe wie ,Name' oder ,Inhalt' . .Name', ,Inhalt' und .Wert' bezeichnen auf dieser elementaren Ebene der Form dasselbe: das, was durch
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was den Inhalt zusammen halt. Der Inhalt muss ein unterschiedener sein, sonst ware er kein Inhalt, und dass er unterschieden ist, macht seinen Wert aus. Deshalb ist der Wert das, was den Inhalt zu einem solchen macht, so wie es oben als Zusammenhang 1 erlautert worden ist. Auch die zweite Hinweisart ist zweigliedrig: Sie besteht einerseits in einem Motiv oder einer Intention oder einer Anweisung zur Grenziiberschreitung und andererseits in der Tatigkeit, die Grenze in den Inhalt hinein zu iiberschreiten. Welchen genauen Charakter die Absicht zur Grenziiberschreitung hat - sei sie ein mehr an Zwecken orientiertes Motiv oder eine mehr aus einer inneren Einstellung erfolgende Intention oder die Befolgung einer Anweisung - ist hier nicht relevant." Von der Absicht zur Grenziiberschreitung ist die ausgefiihrte Oberschreitung selbst zu unterscheiden. Ebenso wie erst die Namensnennung den Hinweis realisiert, realisiert erst die Absichtsausfiihrung, also die Grenziiberschreitung den Hinweis. Die Absicht zur Grenziiberschreitung ,iiberschreite die Grenze' indiziert den Wert des Inhalts, insofem dieser Inhalt be-grenzt ist. Deshalb (thus) kann die Grenziiberschreitung mit dem Wert des Inhalts identifiziert werden: denn die Moglichkeit der Grenziiberschreitung macht die Begrenzung deutlich, die schlieI31ich den Inhalt zum unterschiedenen, d.h. zum werthaften Inhalt macht. Die Absicht zur Grenziiberschreitung zeigt also die reine Verschiedenheit der beiden Inhalte an, d.h. dass der eine Inhalt vorn anderen verschieden ist und nicht inwiefem, so wie es oben als Zusammenhang 2 erlautert worden ist. Der Akt der Grenziiberschreitung ist mit dem Wert .be-grenzt', der der einzige offensichtliche Unterschied ist, den es bisher gibt, identifizierbar. Die Unterscheidung zwischen der Ebene dessen, auf das hingewiesen werden kann (Wert des lnhalts) und der Ebene dessen, durch das darauf hingewiesen werden kann (,Name' oder ,Absicht zur Grenziiberschreitung') und der Ebene der Verwendung oder Realisierung der Moglichkeit des Hinweisens (,calling' oder ,cros-
das Treffen einer Unterscheidung cntstanden ist. Die drei Begriffe stehen hier nicht fur einen spezifischen Unterschied, wie in der Alltagssprache. Wenn ,Etwas' durch eine Unterscheidung zu einem Inhalt geworden ist, kann mit einem Namen ,Inhalt' auf es hingewiesen werden. 1m Akt des Nennens wird dann ,Inhalt' mit Inhalt identifiziert. Ebenso ist etwas durch den Akt der Unterscheidung zu einem verschiederen Wert geworden , der mit dem Namen ,Wert' bezeichnet werden kann. Hier haben wir es also mit einem parallelen Vorgehen zu tun, wie oben mit den Voraussetzungen: die Momente der beiden Seiten einer Form der Unterscheidung - Inhalt zu sein, Wert zu haben, einen Namen zu haben -, werden von uns als verschiedene aufgefasst, obwohl sic auf dieser elementaren Ebene noch in eins fallen . 19 Wir konnen auch dieses Vorgehen, bestimmte Differenzierungen aufzuheben oder bewusst zu verlernen, als Teil der Gesamtbewegung verstehen, einen gemeinsamen Typus von verschiedenen moglichen Prozessen des Hinweisens zu entwickeln. FOr dieses Prozedere ist es gleichermaben wichtig , zu zeigen, was fur den gemeinsamen Typus relevant ist, wie auch zu zeigen , was dafur nicht relevant ist und .verlernt' werden muss .
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sing') ist in den beiden parallel konstruierten Textpassagen gleichennaf3en zu finden. Auf dieser Basis werden im nachsten Schritt jeweils Regeln genannt, die fur die Iteration der beiden verschiedenen Moglichkeiten von Hinweisprozessen gelten. Damit wird auch der Modus gewechselt: Wir bewegen uns von der Beschreibung von Moglichkeiten auf die Ebene notwendiger Regelsetzung/-befolgung. Erst durch die Iteration macht es nberhaupt Sinn, von Gesetzen im Sinne von Gesetzmalsigkeiten zu sprechen . Wenn die beiden Hinweise wiederholt verwendet werden, dann gelten die folgenden zwei Axiome, die Gesetze fur die Wiederholung der Hinweisprozesse angeben. Sie werden unter den Titeln ,Axiom I. The law of calling' und ,Axiom 2. The law of crossing' vorgestellt. 8. Die beiden Axiome als Gesetze der Wiederholung von Hinweisen Mit den Axiomen werden einerseits elementare Einsichten tiber die iterative Verwendung der beiden Hinweisarten ,calling a name' und ,crossing a boundary' fonnuliert. Andererseits werden diese Einsichten als Gesetze bezeichnet, da sie gelten rnussen, urn die Form der Unterscheidung aufrecht zu erhalten . Dies ist nur dann gewahrleistet, wenn klar und eindeutig fonnuliert wird, wie auf die eine und wie auf die verschiedene, andere der beiden Seiten der Unterscheidung hingewiesen werden kann. In der Regel weisen wir auf zwei verschiedene Bereiche, Inhalte oder Werte mit zwei verschiedenen Namen hin, wir verwenden also die gleiche Hinweisart und machen den Unterschied durch eine Variation der Namen deutlich . 1m ersten Kapitel der Laws ofForm werden nicht die Namen variiert, sondern es werden zwei verschiedene Hinweisarten verwendet, urn auf die verschiedenen Seiten hinzuweisen. Dass mit diesen beiden verschiedenen Hinweisarten oder prozessen eindeutig auf je eine der beiden Seiten hingewiesen werden kann, wird deutlich, wenn sie wiederholt werden." (SK) Axiome stehen nach Spencer Browns Verstandnis auf3erhalb des Kalkuls, da durch sie eine allgemeinere Einsicht ausgedruckt wird, deren Geltungsbereich viel weiter ist als der des Kalkuls. Axiome legen elementare Zusammenhange offen, die in der naturlichen Sprache latent sind und deren Voraussetzung
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So gibt es keine notwendige Reihenfolg e der beiden Axiome. Beide Axiome betreffen die Wiederholung von Hinweisakten auf eine vollzogene und aufrechterhaltene Unterscheidung und sind voneinander unabhdngig, so dass es gleichgUltig ist, welches der beiden Axiome zuerst im Text erwahnt wird. Erst die Festlegung, welche Hinweisart fur welche Seite der Unterscheidung verwendet werden soli, setzt die beiden Hinweisarten in ein Verhdltnis zueinander: wenn fur den Hinweis auf die eine Seite die ,Namensnennung' verwcndet wird, crgibt sich, dass fur die andere Seite nur noch die ,GrenzUberschreitung' ubrig bleibt
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in der allgemeinen Fahigkeit des Nachdenkens und Rechn ens besteht." Axiome werden verstanden, wenn ihre Relevanz und der Kontext, aus dem sie Sinn erhalten, eingesehen werd en. "Axiom I. The law of calli ng. The value of a call made again is the value of the call. That is to say, if a name is called and then is called again, the value indicated by the two calls taken together is the value indicated by one of them. Tha t is to say, for any name, to recall is to call."
(I) Bisher ist klar, dass mit der Namensnennung auf eine der beiden Seiten der Unterscheidung hingewiesen werden kann - welche ist hier irrelev ant, es gibt dafur auch noch gar kein Unte rscheidungskr iterium. Das gilt auch dann, wenn der Hinweis durch emeutes ,calling' wiederholt wird. Das Geset z tiber die Wiederholung garantiert, dass eine Wiederholung die Eind eutigkeit des Hinweises nicht andert. Es wird ausge schlossen, dass durch die wiederholte Namensnennung plotzlich auf die andere Seite der Unterscheidung hingewiesen wird . Mit dieser Einsicht in das Geset z der Wiederholung im Faile des ,calling' wird der Definition der Unterscheidung Rechnung getragen. Die Gesetzmaliigkeit fur die Wiederholung von Namensnennungen besteht genauer betrachtet darin , dass der Wert einer wiederholten Nennung der gleiche ist wie der Wert der Nennung, negativ formuliert: dass sich der Wert der Nennung durch die Wiederholung nicht andert, Mit dem Gesetz des Nennens wird also neben dem Wert des Inhalts auch vom Wert der Nennung eines Nam ens, d.h. vom Wert des Hinweisaktes selbst gesprochen. Damit expliziert das Ax iom, inwief ern die Namensnennun g und der Wert des Inhalts identifiziert werden konn en: in Bezug auf ihren Wert. In der zitierten Erlauterung zum ersten Axiom wird gezeigt, was die Wertgleichheit bei Wied erholung der Nennung fur die Funkt ion des Hinweisens bedeutet. Dass der Wert einer wiederholten Nennung der Wert der Nennung ist, heil3t, dass der Wert , auf den durch die beiden Nennungen zusammengenommen hingewiesen wird, gleich dem Wert ist, auf den nur durch eine (beli ebig welche) Nennun g hingewiesen wird . Die Wiederholun g und die in ihr liegende Vervielfachung andert, verdoppelt oder erweitert den Wert nicht. Ftir aile drei Moglichkeiten, auf den Wert des Inhalts hinzuweisen, die durch wiederholte Namensnennung entsteh en, also die einfache Namensnennung, die wiederholte Namensnennung und diese beiden zusammengenommen, gilt: Aile weisen auf den gleichen Wert hin. ,Inhalt', ,Inhalt' , ,Inh alt' meint immer nur wieder den Inhalt. Zwischen den Namensnennungen besteht also kein Wertun-
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Vgl. LoF:94fT.
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terschied und damit kein hier relevanter Unterschied ." Zusammenfassend gilt also fur jeden Namen: ,to recall is to call' . Das Wortspiel mit dem englischen Ausdruck ,recall' als ,wiedemennen' und ,erinnem' betont, dass beliebiges Hin- und Hergehen zwischen .fruheren' und .spateren' Wiederholungen moglich ist und keinen qualitativen Wertunterschied macht. ,FrUher' und .spater' macht hier noch keinen Unterschied , die Moglichkeit, Zeit in der Form zu generieren, ist noch nicht entwickelt. Der Hinweis auf den Wert eines Inhalts durch eine Namensnennung erfolgt demnach unabhangig davon, ob bereits vorher der gleiche Hinweis gegeben worden ist oder nicht. Genau wie mit der Namensnennung kann auch mit der GrenzUberschreitung auf eine der beiden Seiten hingewiesen werden . Auch hier ist offen, auf welche der beiden Seiten. Mit der ersten Hinweisart ,Namensnennung' kann auf einen der beiden Inhalte hingewiesen werden - also gilt es jetzt zu zeigen, wie mit der anderen Hinweisart auf die (je) andere Seite hingewiesen werden kann. "Axiom 2. The law of crossing. The value ofa cross ing made again is not the value ofthe crossing. That is to say, if it is intended to cross a boundary and then it is intended to cross it again , the value indicated by the two intentions taken together is the value indicated by none of them . That is to say , for any boundary , to recross is not to crosS.,,23
(I) Mit dem Gesetz fur die Wiederholung des ,crossing' wird zunachst einfach eine Differenz ausgedruckt: der Wert des wiederholten ,crossing' ist nicht der des einfachen ,crossing'. Eine GrenzUberschreitung kann von beiden Seiten einer Grenze aus vorgenommen werden. Die Grenze steht fur einen Unterschied zwischen den beiden Seiten und die Grenzuberschreitung ist mit dem Wert des Inhalts, in den sie hinein geht, identifizierbar. Daraus folgt, dass die wiederholte Uberschre itung einen anderen Wert hat als die einfache Uberschreitung. Wahrend das erste Axiom die Hinweisart thematisiert, mit der auch in der Wiederholung immer nur auf eine Seite - gleichgUltig welche - der Form der Unterscheidung hingewiesen werden kann, thematisiert das zweite Axiom eine Hinweisart, mit der durch die Wiederholung abwechselnd auf beide Seiten hingewiesen werden kann : mit einer Uberschreitung auf die eine Seite und mit ihrer Wiederholung auf die Ge) andere. Die Absicht zur GrenzUberschreitung gibt einen Hinweis auf eine (beliebige) Seite, die Absicht, die Grenziiberschreitung zu wiederholen, weist somit auf die andere Seite hin. Damit ist hier die 22 (SK) Den hier entwickeIten Differenztyp einer wertindifferenten Vermehrung nennt Spencer Brown in den Notes zum funften Kapitel "division" (LoF :87). Damit ist die Moglichkeit beliebig er VervielfliItigung gemeint, die keine qualitative Verschiedenheit erzeugt. Dieser Differenztyp taucht wieder auf in den .steps' und in diversen Theoremen. Erst durch , im und mit dem .Re-entry' im elften Kapitel erzeugt sie eine Qualitatsvcranderung - und Zeit. 23 Der Ausdruck ,recross' ist ein von Spencer Brown gebildeter Neologismus.
III. Komm entar - Das erste Kapitel : T HE FORM
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Moglichkeit eroffnet, die Absicht auf eine wiederholte Grenziiberschreitung als Hinweis auf die andere Seite der Unterscheidung zu verwenden, ohne eine weitere Differenzierung vomehmen zu mussen. Genauer betrachtet zeigt sich im Text, dass neben dem Wert des Inhalts auch vom Wert der Grenzuberschreitung selbst gesprochen wird. Hier wird analog zu oben deutlich, dass die Grenzuberschreitung selbst und der Wert des Inhalts in Bezug auf ihren Wert identifiziert werden konnen. In Bezug auf die Werte von Grenzuberschreitungen tut sich hier aber ein entscheidender Unterschied auf: Die Wiederholung von Grenzuberschreitungen ist nicht werterhaltend, sondem wertverandernd, denn der Wert eines wiederholten Uberschreitens ist nicht gleich dem Wert des Uberschreitens. In der zitierten Erlauterung zum zweiten Axiom wird gezeigt, was die Wertverschiedenheit bei Wiederholung des Uberschreitens fur die Funktion des Hinweisens bedeutet. Dabei wird wieder die Absicht zur Grenzuberschreitung aufgenommen (Motiv, Intention, Anweisung) , die eine Hinweisart fur Werte darstellt. Es gilt folgender Zusammenhang: Wird eine Grenzuberschreitung beabsichtigt und wird beabsichtigt, die Grenze noch einmal zu uberschreiten, dann weisen diese beiden Absichten zusammengenommen nicht auf einen der Werte hin, auf den die beiden Absichten fur sich genommen hinweisen . FUr aile drei Moglichkeiten dieser Hinweisart, die durch die Wiederholung der beabsichtigten Grenzuberschreitung entstehen, also die beabsichtigte einfache GrenzUberschreitung, die beabsichtigte wiederholte Grenzuberschreitung und diese beiden zusammengenommen, gilt: Keine weist auf den gleichen Wert hin, auf den die anderen hinweisen. Durch die Wiederholung verandert sich der Wert, auf den hingewiesen wird: Jede der Absichten ist ein Hinweis auf einen anderen Wert. Zwischen den Varianten der intendierten Grenziiberschreitungen besteht also ein Wertunterschied und damit ein hier relevanter Unterschied ." Zusammenfassend gilt also fur jede Grenze: ,to recross is not to cross' . Wichtig ist zudem, dass die Ruckuberschreitung nicht unabhangig von der Hinuberschreitung moglich ist - das ,recross ' kann nicht als isolierter Prozess aufgefasst werden . Es besteht gleichsam ein innerer Zusammenhang zwischen den wiederholten Hinweisen, der zweite weist auf etwas anderes als der erste hin, weil er der folgende ist, wei! bereits eine Grenzuberschreitung vorhergegangen ist. Diese Gesetzrnafiigkeit fur die Uberschreitung gilt zunachst ganz unabhangig von der Richtung der Uberschreitung . BerUcksichtigen wir aber die Moglichkeiten der Richtung der Uberschreitung, dann ergibt sich folgendes Bild: 24
(SK) Den hier entwickelten Differenztyp einer wertv eranderlichen Vervielfaltigung durch Wiederholung nennt Spencer Brown "severance or cleavage" (LoF :87) , d.h. Spaltung. Damit ist eine qualitative Verschiedenheit gemeint, die bei der Wiederholung dieser Hinweisart zu tage tritt .
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Wird die Oberschreitung einer Grenze in einen Inhalt hinein mit dem Wert des Inhalts identifiziert, wird ein je anderer Wert angezeigt , je nachdem , in welche Richtung iiberschritten wird - jede Oberschreitung entspricht dem Wert des Inhalts, in den sie hineingeht. Deshalb ist der Wert der wiederholten Uberschreitung in verschiedene Richtungen nicht der Wert der Uberschreitung. Die genaue Textanalyse der Erlauterung des Axioms zeigt , dass die Differenz zwischen ,crossing' und ,recross' nicht nur die Moglichkeit eroffnet - und hier in keiner Weise festlegt - das doppelte Uberschreiten, also das ,recross ' mit dem Wert der anderen Seite zu identifizieren bzw. die Absicht zum ,recross' als Hinweis auf die andere Seite zu verwenden . Es taucht auch noch eine weitere Moglichkeit auf: Wenn beide Absichten , die Grenze einmal zu iiberschreiten und die Grenze nochmal zu tiberschreiten ,zusammen genomm en werden', dann weist dies auf einen Wert hin, der weder der Wert der Oberschreitung noch der der Rtickiiberschreitung ist, sondem ein Wert, auf den durch keine von beiden hingewiesen wird (the value indicated by none of them). An dieser Stelle bleibt offen, ob aile drei Optionen genutzt werden, oder ob sie auf zwei oder gar nur einen Wert verdichtet werden und auch, wie diese drei moglichen Werte bestimmt werden. Seide Axiome formulieren Gesetze, die fur die Wiederholung von Hinweisen auf den/die Wertle des Inhalts/der Inhalte der Unterscheidung gelten sollen , d.h. sie sagen nur etwas aus tiber elementare Werte oder Inhalte .an-sich' , die durch die Unterscheidung unterschieden wurden. Insbesondere besagen sie, dass diese Werte mit den entstandenen Inhalten identifiziert werden konnen , auf welche Weisen auf diese Inhalte bzw. Werte hingewiesen werden kann und dass fur die Wiederholung der Hinweisakte verschiedene Gesetzrnalsigkeiten gelten. Ruck- und Ausblick: Ein Hinweis erfordert einen unterscheidenden Prozess, der die Form einer Unterscheidung generiert. Die zwei Seiten, die Grenze und der implizite Kontext werden beim Unterscheiden hergestellt. Es kann auf je eine der beiden unterschiedenen Seiten , d.h. auf zwei der vier Aspekte, hingewiesen werden , wenn die Unterscheidung als Resultat des Unterscheidungsprozesses durch ein Motiv aufrechterhalten wird und wenn die beiden Inhalte als von verschiedenem Wert seiend gesehen werden . Das Motiv und der Wert sind so notwendige BestandteiIe des Hinweisprozesses, mit dem die Unterscheidung erhalten oder stabilisiert werden kann . Ais Hinweise konnen Namen und Absichten zur Grenztiberschreitung dienen. Die die Hinweise realisierenden Hinweisakte konnen auf verschiedene Weisen erfolgen: entweder durch Namensnennung oder durch Grenzuberschreitungen. Mit einer Grenztiberschreitung oder mit einer Namensnennung kann immer nur auf eine der beiden Seiten hingewiesen werden; die wiederholte Grenztiberschreitung weist ebenfalls immer nur auf die Seite hin, und zwar auf
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diejenige , von der aus die einmalige Grenzuberschreitung vorgenommen wird. Nimmt man nun einen Namen fur die eine Seite A, lasst sich durch doppeltes Oberschreiten von der anderen Seite B aus auch auf diese andere Seite B selbst hinweisen. Anders gesagt: Nur wenn ein ,recross' vollzogen wird, wird auf die Seite, von der ausgegangen worden ist, hingewiesen , ohne dafiir einen zweiten Namen ins Spiel bringen oder eine weitere Unterscheidung eirfu hren zu milssen. So zeigt sich, dass das unterschiedliche Referenzverhalten der beiden Hinweisprozesse - das erst in der Wiederholung deutlich wird - dazu verwendet werden kann, urn auf die beiden Seiten einer Form der Unterscheidung hinzuweisen. Es ist also nicht ausreichend, nur zwei verschiedene Hinweisarten zu wahlen , da durch die einfache Verwendung der Hinweise nicht eindeutig auf die beiden verschiedenen Seiten hingewiesen wird, deshalb formulieren die Axiome Gesetze, die fur die Wiederholung gelten . Sowohl der Name als auch die Grenzuberschreitung konnen mit einem Wert identifiziert werden ; nirgendwo steht, dass der Name mit der einen Seite und die Grenziiberschreitung mit der anderen Seite identifiziert wird. Erst durch die Wiederholung der zweiten Hinweisart wird es moglich , auch auf die andere, unterschiedene Seite hinzuweisen, weil hier die beiden Hinweise - ,cross' und ,recross' - aufeinander bezogen werden. Weil aber die erste Hinweisart und die zweite Hinweisart in der einfachen Verwendung auf den gleichen Inhalt referieren konnten , kann die einfache Nennung mit der einfachen Absicht identifiziert werden und es lassen sich so auch die beiden Hinweisarten aufeinander beziehen. So zeigen die beiden Axiome , dass mit den beiden verschiedenen Hinweisarten, sofem sie wiederholt werden , eindeutig, d.h. ohne Verwech slungsgefahr auf die beiden Seiten der Form der Unterscheidung hingewiesen werden kann. Dies tragt der Definition der Unterscheidung Rechnung und erhalt die Form der Unterscheidung aufrecht. Wichtig ist zudem festzuhalten , dass es keine Bestimmung dafur gibt, welche Seite durch den Namen und welche Seite durch die Absicht zur (zweifachen) Grenziiberschreitung bezeichnet wird. Auf beide Seiten einer Form der Unterscheidung konnte mit beiden Hinweisarten hingewiesen werden . Auf welche der beiden Seiten durch Namensnennung oder Grenzliberschreitung hingewiesen wird, ist allerdings offen. Das zweite Kapitel wird mit der Aufforderung, eine Unterscheidung zu treffen , d.h. eine Form der Unterscheidung zu generieren, beginnen. Dies ist der art, an dem im Text entschieden wird, welche Seite durch welche Hinweisart bezeichnet sein soil. 1m elften Kapitel wird der dritte, im ersten Kapitel nur angedeutete Wert virulent - er wird dort als .imaginary value' wieder auftauchen. Bis dahin allerdings bestehen die Laws of Form in einer Explizierung und Verwendung der
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beiden Wiederholungsgesetze; in einem Aufzeigen dessen, was man mit den Hinweisen auf die zwei unterschiedenen Seiten einer Form der Unterscheidung alles machen kann, was alles aus ihnen ableitbar sein kann.
Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM Katrin Wille und Thomas Holscher
1m Ubergang vom ersten Kapitel ,The Form' zum zweiten Kapitel ,Forms taken out of the Form' andert sich der Modus der Darstellung. 1m ersten Kapitel sind die Prozesse der Bildung und Aufrechterhaltung einer Unterscheidung beschrieben worden , im zweiten Kapitel wird ein Konstruktionsprozess vollzogen, der die Voraussetzungen aus dem ersten Kapitel konstruktivaufbaut, bestimmt und in eine eigene formale Sprache umsetzt. Dieser Konstruktionsprozess bewegt sich systematisch an den Schnittstellen zwischen Semiotik, Pragmatik, Syntax und Semantik. Bei der Entwicklung einer der Form (aus dem ersten Kapitel) angemessenen Notation werden Zeichen eingefiihrt, dabei neue Moglichkeiten fur die Bildung und Funktionsweise von Zeichen iiberhaupt eroffnet (Semiotik) . Zeichen werden als Anweisungen zu Handlungen konzipiert (Pragmatik), Grundregeln fur deren Verkniipfung abgeleitet (Syntax) und die Basis fur die Zuordnung von Zeichen und Werten gelegt (Semantik). Der Aufbau der Syntax und Semantik des Indikationenkalkuls insgesamt greift tiber das zweite Kapitel hinaus und wird im dritten und vierten Kapitel fortgesetzt. Spencer Brown setzt sich implizit und explizit von der ublichen Aussagenund Pradikatenlogik abo Es ist aufschlussreich, diese impliziten kritischen Absetzungen an einigen Stellen des folgenden Kommentars zu explizieren, urn die charakteristische Transformation im Aufbau und in der konkreten Entwicklung der Laws of Form zu bemerken. Ein wichtiger Unterschied zur ublichen Logik ist die Betonung des konstruktiven Bildungs- und Aufbauprozesses der Grundlagen des Kalkuls, den Spencer Brown im zweiten Kapitel kleinschrittig voIlzieht. Weil dieser Bildungsprozess nur als wirklich vollzogener Bildungsprozess verstandlich wird, ist er in einer Reihe von Anweisungen formuliert, die zur selbstandigen Nachbildung auffordern. Die Uberschrift des zweiten Kapitels gibt dafur eine Richtung . Es wird die Form konstruiert, urn dann aus dieser Form Formen zu entnehmen : Forms taken out ofthe form. Wichtig ist zum einen das Verhaltnis von Singular und Plural in der Uberschrift: aus der (einen) Form werden (mehrere) Formen moglich. Zum anderen weist die Formulierung ,taken out' auf den Prozess des Nehmens oder Entnehmens der Mehreren aus der Einen hin. Die Uberschriften des ersten, zweiten und zwolften Kapitels : ,The form', ,Forms taken out of the form' und .Re-entry into the form' stehen durch das Vorkommen des zentralen Ausdrucks ,form' in Beziehung zueinander. Diese
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drei Kapitel bilden einen allgemeineren Rahmen fur den Indikationenkalklil, der in den Kapiteln drei bis elf dargestellt wird. Aus der Zusammenstellung dieser drei Oberschriften lasst sich die Dynamik dieses Rahmens ersehen : von dem Ausgangspunkt der Form werden komplexere Formen aufgebaut (out of), die letzte Bewegung fuhrt uns wieder zurlick zum Ausgangspunkt (into). Die Verwandtschaft der Oberschrift des zweiten Kapitels ,Forms taken out of the form ' mit der Oberschrift des fUnften Kapitels ,A calculus taken out of the calculus ' akzentuiert das zweite Kap itel als Ubergang von der Form an der Basis zum Autbau eines Kalkuls , wie das ftinfte Kapitel den Uberg ang von einem Kalkul (der Prirnaren Arithmetik) zum nachsten (der Primaren Algebra) markiert. 1m Text des zweiten Kapitels finden sich zwanzig Zwischenliberschriften, die hier wie zwanzig Schritt e aufgefasst werden sollen , zu deren Nach- und Mitvollzug wir aufgefordert werden. I. Schritt : Konstruktion (Construction)
Draw a distinction - im ersten Schritt wird die Anweisung formuliert, eine Unterscheidung zu treffen. Die elementare mathematische Form ist nach Spencer Brown nicht die der Beschreibung eines Theorieautbaus, sondern die der Anleitung zu einem Theorieautbau und dessen Verwendung. Theorie (und fur Spencer Brown vor allem mathematische Theorie ) zu betreiben heiBt, eine Reihe von Anweisungen zu geben , durch die die Theorie erschaffen wird. Wichtig dabei ist die Modalitat der Anweisung als Aufforderung zu einer Handlung, nicht so sehr die genaue Reihenfolge der verschiedenen Anweisungen, die kann variiert werden. Hier fordert Spencer Brown sogar zu selbstandigen Handlungen auf, indem er in den Notes zum zweiten Kapitel den/die Leserln dazu ermuntert, eigene Wanderungen durch den Text zu unternehmen und eigene IlIustrationen zu finden, mogen sie nun mit dem Text libereinstimmen oder auch nicht.' Hier haben wir es mit einer Konstruktion sanweisung zu tun, durch die etwas erzeugt werden soll.' Damit wirklich eine Unters cheidung getroffen wird, musVgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:79. Spencer Brown nennt diesen Typ von Injunktion ,co mmand', durch den etwas ins Sein gerufen, also erschaffen wird. Die Injunktion Triff eine Unterscheidung soll an dieser Stelle wie ein gemeinsamer Vorlaufer von ein er aktiven Form wie z.B. Finde eine Unterscheidung oder Definie re eine Unterscheidung und einer passiven Form wie Lass eine Unterscheidung getrofJen sein verstand en werden. Es geht also an dieser Stelle urn eine Art von Konstruktion, die nicht in das Unterscheidungsspiel zwischen aktiver Kreation auf der einen Seite und passiver Rezeption auf der anderen Seite gehort, sondem dieser Unterscheidung gewissermaBen noch voran geht Daraus entwickeln sich im Laufe des Prozesses erst andere Typen von Injunkti onen, die hier noch konden siert sind. Genau wie das Gegensatzpaar ,aktiv' und ,passiv ' sollen auch andere Gegensatzpaare ,unterschritten' werden. Dies gilt an dieser Stelle sogar selbst fur den Gegensatz von Aufforderung und Beschreibung. Dazu heiBt es in den Notes zum zweiten Kapitel: " ... that the ideas of description, indication, name and instruction can amount to the same thing." LoF:8 Iff.
III. Kommentar - Das zweite Kapitel : FORMS TAKENOUT OFTHE FORM
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sen zwei Seiten durch eine Grenze SO unterschieden sein, dass die eine Seite von der anderen aus nur erreicht werden kann, wenn die Grenze zwischen ihnen iiberschritten wird.' Urn nun die Konstruktionsanweisung TrifJ eine Unterscheidung umzusetzen, muss irgendeine Art von Illustration der Unterscheidung gewahlt werden, irgendein Material oder Kontext, in dem eine Unterscheidung, die die Bedingungen erfullt, geschaffen wird. Dazu gibt es unendlich viele Meglichkeiten. Eine nennt Spencer Brown in seinem Beispiel im ersten Kapitel, namlich den Kreis in einem ebenen Raum . Konkret konnten Blatt und Bleistift oder Sandflache und Finger" gewahlt werden , urn in einer ebenen Flache einen Kreis oder ein Rechteck oder irgendeine andere geometrische Figur zu zeichnen, die geschlossen ist, also zwei Seiten klar und ohne Liicke voneinander unterscheidet. Nicht jedes Material und jeder Kontext eignen sich fur die Illustration einer Unterscheidung, Kreise in einem dreidimensionalen Raum auf der Oberflache eines Ringes oder Torus erfiillen die Bedingungen einer Unterscheidung z.B. nicht .' Es sei dem/der Leserln empfohlen, sich ein leeres Blatt und einen Bleistift zur Hand zu nehmen und die Konstruktionsanweisung auf eine der vielen moglichen Arten zu befolgen: TrifJ eine Unterscheidung! 2. Schritt: Inhalt (Content) Durch das Treffen einer Unterscheidung ist ein Gefuge entstanden, das aus verschiedenen Aspekten besteht. Die englische Zwischeniiberschrift ,content' erinnert dabei sowohl an die Entstehung von Inhalten (content = Inhalt) als auch an die Erfiillung der im ersten Kapitel aufgestellten Bedingungen (content = befriedigt, zufrieden). In diesem zweiten Schritt sollen den Aspekten der Unterscheidung Benennungen gegeben werden, damit sie als Referenzpunkte dienen konnen.? Benannt werden soli der im ersten Schritt vollzogene Prozess der Unterscheidung selbst, er soli die erste Unterscheidung genannt werden . Der Raum , in dem die Unterscheidung getroffen worden ist, also z.B. das Blatt Papier oder die Sandflache Vgl. den Kommentar zum ersten Kaptcl. Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel LoF:79. Es sei zugleich auf die Notwendigkeit und die Grenzen von IIIustrationen hingewiesen . Illustration ist zum einen namlich die notwendige Realisienng von Anweisungen. Andererseits konnen lIIustrationen nicht immer die gegenseitige Abhangigkeit der Aspekte der Form ausdriicken , denn der Raum als ein Aspekt der Form entsteht erst zusammen mit der Unterscheidung und ist nicht, wie z.B. ein Blatt Papier , schon vorher unabhangig von der Unterscheidung da. Neben dem Typ von Injunktion , durch den etwas ins Sein gerufen , also erschaffen wird und den Spencer Brown Command nennt, entsteht hier ein zweiter Typ von Injunktion , der zum Vergeben von Benennungen auffordert, die als Referenzpunkte fur das Foigende verwendet werden konnen , Dieser Typ von Injunktion aubert sich im Text in der Form: .call-so-and-so-such-andsuch', vgl. Notes zum zweiten Kapitel LoF:80.
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oder was auch immer zur Illustration der Unterscheidung gewahlt worden ist, solI durch die Unterscheidung gespaltener Raum genannt werden . Die Teile des Raums, die durch Spaltung gestaltet worden sind, sollen Seiten der Unterscheidung genannt werden , oder altemativ durch die Unterscheidung unterschi edene Raume, Zustdnde oder Inhalt e. Spencer Brown wahlt hier mit Bedacht die Formulierung ,Spaltung' (cleavage), urn eine Unterscheidung von Zustanden (oder Raumen oder Inhalten) aufverschiedenen Ebenen auszudrucken.? Diese Anweisung, Benennungen zu vergeben, kann zum Beispiel durch die Beschriftung der im ersten Schritt geschaffenen Skizze iIIustriert werden . Diese Skizze kann insgesamt erste Unterscheidung genannt und so betitelt werden . Der Raum, in dem die Unterscheidung getroffen ist, heiBt gespaltener Raum . Die Teile, die durch die geschlos sene Grenze (wie z.B. bei den geometrischen Figuren ,Kreis' oder ,Viereck') entstehen, konnen mit Benennungen versehen werden, wie Seit en, Rdume, Zustdnde, Inhalte . Durch die Angabe verschiedener Worter Seiten, Rdum e, Zustande, Inhalte wird deutlich , dass wir hier noch auf der sehr elementaren Ebene sind, auf der verschiedene mogliche Qualifizi erungen kondensiert, verdichtet sind . Immer da, wo solche Reihungen im Text auftauchen, wird an die implizite Anweisung erinnert: Verleme die verschiedenen Qualitaten und Kategorien und die komplexen Unterscheidungen und Ausdifferenzierungen und geh zuruck zu den einfachen Bestimmungen, die allen moglichen Qualitaten und Kategorien gemeinsam sind! 3. Schritt: Gebrauchszweck (Intent) Mit dem nachsten Schritt beginnt eine Reihe von Anweisungen fur den Prozess der Zeichenbildung. Es solI irgende ine Markierung , ein ,token' oder ein Zeichen mit der Unterscheidung oder mit irgendeinem Bezug auf die Unterscheidung als Signal gewahlt werden . Ein Zeichen , eine Markierung oder ein ,token' werden dann als Signal aufg efasst, wenn das Zeichen (die Marki erung, das ,token') eine bestimmte Funktion der Informationsvermittlung bekommt, die auf Verabredung beruht. Es kann also zur Illustration dieser Anweisung irgendeine beliebige Art von optischem oder akustischem Zeichen als Signal mit der oder mit Bezug auf die geschaffene Unterscheidung herangezogen oder erfunden werden . Auch hier ist wieder die implizite Anweisung gegeben , Gewohnheiten tiber das, was als Signal verwendet werden kann, zu verlemen. Das Zeichen braucht nicht einem bekannten Zeichensystem zu entstammen, sondem kann irgendetwas sein, das die Funktion eines Signals in Bezug auf die Unterscheidung erhalten solI. FOr die Unterscheidung von Zustanden auf der gleichen Ebene fuhrt Spencer Brown in den Notes zum vierten Kapitel die Formulierung ,division' ein, vg l. Kommentar zum vie rten Kapit el sowie LoF:87.
III. Kommentar- Das zweite Kapitel: FORMS TAKE N OUT OFTHE FORM
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Das Signal erhalt seine Funktion, Information zu venn itteln, durch seinen Gebrauch. Dieser soll der Gebrauchszweck (intent) des Signals genannt werden, das Signal erwei st sich so als Trager eines Gebrauchszwecks (intent), durch das zu Handlungen aufgefordert wird." Der Zeichenbildungsprozess, der in den folgenden Schritten fortgesetzt wird, hat also eine pragmatische Basis. 4. Schritt: Erster Canon. Die Konvention der Intention (First Canon . Convention of Intention) Der Gebrauch szweck eine s Signals ist nicht beliebig. Es wird dazu aufgefordert, den Gebrauch szweck eines Signals auf den Gebrauch , der ihm erlaubt ist, beschrankt sein zu lassen. Mit der in diesem Schritt ,Kanon' genannten Anweisun g wird auf alle bisherigen und aile folgenden Anweisungen Bezug genommen. Diese Art von Anweisung steht auBerhalb des Systems, das erschaffen wird und fonn uliert eine allgemeine Vorschrift.? Diese soli ,convention of intention ' genannt werden . Allgemeiner ist damit die Vorschrift gemeint, dass das, was nicht erlaubt ist, verboten ist. Der Gebrauchszweck eines Signals ist damit nicht nur mit seinem Gebrauch gleichzusetzen, sondern scharfer ist sein Gebrauchszweck auch auf den zugelassenen Gebrauch beschrankt. Uber das hinaus, was mit einem Signal gemacht werden soli, darf es keine Verwendung haben. Verwendungen , die vielleicht in anderen Kontexten und Systemen gewohnt und ublich sein mogen, sind nicht in den Konte xt hier zu ubertragen, wenn diese Verwendung nicht explizit erlaubt worden ist. Auch in den Transkripten zur AUM-Konferenz heiBt es dazu: Es darf nur verwendet werden, was eingeftihrt worden ist." Dieser Kanon ist damit eine Art ,Metaanweisung' , die bei j edem konkr eten Schritt mit zu beachten und zu befolgen ist. In diesem Kanan wird explizit aufgenommen, was im zweiten und dritten Schritt als implizite Anweisung zum Verlernen von gewohnten Kornplexitaten
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Zu dem Bedeutun gsfeld des Ausd rucks ,intent' gehort nicht nur Zweck (eines Gegenstandes), son dem auch Absicht (einer Person) oder als Adjektiv beabsichtigend, begierig (etwas bestirnmtes zu tun). Hier fallt die Bedeutungsverwa ndtschaft, aber auch der Unterschied zu dem viel verwe ndeten Ausdruck intention (vgl. im ersten Kapitel und auch im nachsten Schritt dieses Kapitels) auf. Spencer Brown bezieht sich an vielen Stellen explizit und an vielen Stellen eher implizit auf Wittge nsteins Tractatus log ico-ph ilosophicus. Ab Satz 2.1 entwic kelt Wittgenstein dort die sogenannte Bildtheorie und analysiert zu Beginn die semiotischen Bedingungen von Sprache. Ein wichtiges Moment dieser Analyse ist der Gebrauch von Zeichen. Dazu heiBt es z.B. in den Satzen 3.326 und 3.327 : " Um das Symbol am Zeichen zu erkennen, muB man aufseinen sinnvollen Gebrauch achten." und .Das Ze ichen bestimmt erst mit seiner logisch-syntaktischen Verwendung zusammen eine logische Form.". Vgl. dazu die Notes zum zweiten Kapitel: "A canon is an order, or set of orders, to permit or allow, but not to construct or create." LoF:80. Vgl. AUM 1,8 und 3,6.
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und Kategorien erwahnt worden ist. Diese Aufforderung zum Verlemen schlagt sich bei Spencer Brown stilistisch immer wieder in der Reihung von Wortern nieder, durch die eben ausgedrtickt werden soli, dass hier der Unterschied zwischen diesen Ausdrticken zu ,unterschreiten' oder zu ,verlemen' ist. Nur ein strenges Einhalten dieser Anweisung errnoglicht auch den theoretischen Reduktionsprozess der Laws ofForm insgesamt, den Spencer Brown in den Transkrip ten zur AUM-Konferenz als ,journey backwards ' und als ,taking farther and farther back to the simplest ground' bestimmt. II Wenden wir diese Anweisung gleich an und fragen, was uns bisher erlaubt worden ist: Bisher haben wir die Konstruktion einer Unterscheidung, die Benennung des Konstruktionsprozesses (als ,erste Unterscheidung') und der erschaffenen Aspekte der Unterscheidung (als ,gespaltener Raum' und ,Seiten' ), sowie ein beliebiges Zeichen, das als Signal mit einer oder mit Bezug auf eine Unterscheidung verwendet werden kann und in diesem Gebrauch seinen Gebrauchszweck hat, eingeflihrt. All dies darf nicht verwendet werden, urn etwas tiber verschiedene Qualitaten oder Wertigkeiten der Seiten zu sagen, nicht dazu, spezielle Zeichen vor anderen als mehr oder weniger geeignet auszuzeichnen. All dies widersprache der ,Metaanweisung'. Es ist eine gute Ubung, sich die Metaanweisung immer wieder dadurch zu illustrieren, dass man zusammenfasst, was bisher eingeflihrt worden ist, welcher Gebrauch erlaubt ist und welcher nicht. Mit einem etwas anderen Akzent konnte die ,convention of intention' auch als Transparenz- und Exaktheitsprinzip fur die Entwicklung von (wissenschaftlichen) Systemen seiber verstanden werden. In der Entwicklung eines mathematischen Systems wie hier des Indikationenkalkuls z.B. soli es keine verdeckten Konventionen geben." Vielmehr soli alles offen und explizit eingeflihrt sein (und nur die Alltagsfahigkeiten, die Sprache zu verstehen und zahlen zu konnen , werden vorausgesetzt, keinerlei Sprach- oder Zahlentheorie). Aber genau in diesem Transparenz- und Exaktheitsprinzip liegt auch die Schwierigkeit von Mathematik, denn man muss in der Lage sein, nur das zu lesen und aufzunehmen, was gesagt wird und dies mit keinen weiteren Annahmen zu vermischen ." 5. Schritt: Wissen (Knowledge) Im filnften Schritt wird die Anweisung gegeben, eine Markierung mit einem bestimmten Gebrauch einzufuhren . Durch die Markierung I der Unterscheidung (mark of distinction) soli ein durch die Unterscheidung unterschiedener
II
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Vgl. AUM 1,9. Vgl. AUM 3,6. Vgl. dazu AUM3 ,6-7 und die Notes zum zweiten Kapitel LoF:81.
III. Kommentar - Das zweite Kapitel : FO RMS TAK EN OUT OF THE FORM
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Zustand" markiert werden. Der Gebrauchszweck der Markierung liegt darin, den Zustand (vom anderen) zu unterscheiden und wieder zu erkennen." Dieser Zustand solI markierter Zustand genannt werden. Auf dem von uns als LeserInnen angefertigten Skizzenblatt konnen wir die gewahlte Markierung I neben die Skizze schreiben. Dadurch solI einer der moglichen Zustande der Unterscheidung von dem anderen unterschieden und markiert werden - welcher , ist hier offen gelassen . Der durch die Markierung unterschiedene Zustand hat keine weiteren Qualitaten, als dass er durch die Markierung der Unterscheidung (mark of distinction) unterschieden und durch die Markierung wieder erkannt werden soIl. Die unterschiedenen Zustande sind unterschieden, aber durch keinerlei Charakteristika, die ihnen inharent waren, unterscheidbar. Solche Charakteristika gibt es nicht (convention of intention! Mehr konnen wir nicht tiber ihn sagen!) . Die Unterscheidbarkeit wird geschaffen, indem einer der durch die Markierung unterschiedenen Zustande ,markierter Zustand' genannt wird. Durch diese Benennung ist ein Referenzpunkt geschaffen, der wieder erkannt und wieder verwendet werden kann. Die Markierung wird von Anfang an nicht als Reprasentation von Zustanden eingefuhrt, sondem als Moglichkeit der Unterscheidung und Wiederverwendung. Damit gehort sie seIber zur Form, die im nachsten Schritt als das, was aIle bisherigen Aspekte umfasst, eingefiihrt wird. 6. Schritt: Form (Form) Der durch die Unterscheidung gespaltene Raum zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raumes soli die Form der Unterscheidung genannt werden . Und die Form der ersten Unterscheidung soli die Form genannt werden . Mit der Ebene der Form (der ersten Unterscheidung) ist die Ebene gemeint, auf der von allen raumlichen Qualitaten wie GroBe, Gestalt, Abstand und allen zeitlichen Qualitaten wie vorher, nachher und allen anderen Qualitaten wie Farbe oder Wertigkeit abgesehen worden ist. Bei der ersten Unterscheidung soli nur Differenz gedacht werden, Differenz zweier Zustande in einem durch die Unterscheidung gespaltenen Raum. Es ist keine bestimmte und auch nicht die eine Ur-Unterscheidung, es ist keinerlei ,Was' einer Unterscheidung, sondem leeres ,Dass ' einer Unterscheidung gemeint. Unterscheidbar werden diese unterschiedenen Zustande eben nicht aus sich heraus, sondem durch die Moglichkeit der Markierung.
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Hier wird aus den moglichen Bestimmungen der Raumt eile , die durch die Untersch eidung gesehaffen werden, die Bezeichnung Zustand und nicht Seite , Inhalt , Raum gewahlt, Zu dem breiten Bedeutungsfeld von ,knowing' und ,to be known by ' gchort neben ,wissen ', .erkcnnen' , ,erfahren', ,verstehen' , ,bekannt sein durch' auch ,einen vom anderen unters cheiden' und ,wieder erkennen ' .
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Die Differenz zwischen den Zustanden, die Zustande und der durch die Unterscheidung gespaltene Raum entstehen gleichzeitig und in Abhangigkeit voneinander. Von einem Zustand oder einem Raum unabhangig von oder vor der Unterscheidung kann nicht gesprochen werden , scharfer sogar: es kann keinen Zustand und keinen Raum vor, aul3erhalb oder nach der ersten Unterscheidung geben." Was entsteht, wenn etwas entstehen kann , ist die Form . Alles , was im Folgenden entwickelt werden kann , ist in der Form kondensiert, verdichtet. Diese Zusammenfuhrung kann in der Skizze durch einen Obertitel illustriert werden: Die Form. 7. Schritt: Name (Name) Auf der Basis der Form und der Moglichkeit, einen unterschiedenen Zustand zu markieren, kann nun die Entwicklung einer der Form angemessenen Notation und damit der Sprache des Kalkiils vorgenommen werden. Die Moglichkeit von Zeichen liegt in der Vervielfaltigung, der Replikation der Form, zuerst muss eine von der Form unterschiedene Form geschaffen werden. Diese Anweisung konnte z.B. so illustriert werden, dass ein neues Stuck Papier oder ein weiteres Areal Sand dazu genommen wird ." Durch die Erschaffung einer unterschiedenen Form wird aber keine zweite Form hergestellt, denn es geht bei diesem Vorgang nicht urn numerische Unterscheidungen, sondem vielmehr urn eine semiotische DifJerenz zwischen der Form der ersten Unterscheidung und der aus ihr entnommenen Form fur die Zeichenbildung. Die Markierung der Unterscheidung (mark of distinction),"} , soll aus der Form (also z.B. dem bisherigen Stuck Papier, auf das sie notiert worden ist) in die andere Form kopiert werden. Erst durch diese Kopie , die Replikation der Markierung in einer anderen Form ist die Moglichkeit eines Zeichens realisiert. Die kopierte Markierung ist zugleich Unterscheidung der Zustande, ermoglicht die Wiedererkennung und Wiederverwendung wie auch die Vervielfaltigung von Markierungen. Die kopierte Markierung soll, als Referenzpunkt fur das Folgende, Zeichen (token) der Markierung genannt werden. Jedes Zeichen (token) der Markierung soll als Name des markierten Zustandes genannt bzw. gebraucht werden . IS Durch die nachste Konstruktionsanweisung wird der Gebrauch des Namens bestimmt, der Name soll auf den Zustand hinweisen (indicate). Hier wird deutlich, wie die semiotischen Protostrukturen der Form aufgenommen und zu einer Zeichenverwendung ausgearbeitet werden. Aus der Markierung wird in der 16
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AUM 1,9: "The first state or space is measured by a distinction between states. There is no state for a distinction to be made in. If a distinction could be made, then it would create a space." Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:79. Es ist wichtig , zwischen dem Benennen von Aspekten, durch das Referenzpunkte erschaffen werden , und dem Gebrau ch von Namen , durch den auf Zustande hingewiesen wird, zu unterscheiden.
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Replikation (Kopie) der Name. Das Zeichen "I kann also als Name fur den markierten Zustand verwendet werden . Die Hinweisfunktion (indication) des Namens ist aber genau wie bei der Markierung nicht als Reprasentation des Zustandes durch den Namen verstanden. Zum Hinweis auf einen Zustand durch den Namen gehort seine Unterscheidung, Wiedererkennung und Wiederverwendung . Der Leitbegriff des Indikationenkalkiils, Indikation oder Hinweis ruht in der pragmatischen Dimension der Form. Die graphische Gestalt des Zeichens "I hat auch die Funktion eines ,icons ' , eines Bildes der Unterscheidung von Zustanden im Raum. Die ikonische Funktion wird zum einen daran deutiich, dass Spencer Brown in den Notes immer wieder an eine alternative Notation mit Kreisen im Raum erinnert, und zum anderen durch die Moglichkeit, die gewahlte graphische Gestalt "I zu einem Rechteck, zu einer vollstandig begrenzten Figur im Raum, die nach Definition einen Unterschied in der Ebene macht, zu erweitern: 0 .19 Die Entwicklung einer der Form angemessen en Notation ist ein zentraler Punkt in den Laws of Form. Die Angemessenheit zeigt sich darin, dass die Notation die formalen Eigenschaften selbst aufweist, fur die sie stehen soll." Zu einem Zeichen gehort etwas, auf das es hinweist (indicate). Das, worauf es hinweist, muss aber nicht von ihm unterschieden sein, es steht also die Maglichkeit offen , dass ein Zeichen auf sich selbst hinweist. Ein ikonisches Zeichen, das das, worauf es hinweisen soli, seiber ist (wie der Kreis eine Unterscheidung), erhalt seine Funktion , Zeichen fur zu sein, vor allem durch den Kontext der Verwendung zusammen mit anderen .token ' ." , Das Vokabular der forma/en Sprache besteht bisher aus dem Symbol I das als Name , der auf den markierten Zustand hinweist, verwendet werden kann.
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Vgl. ahnli ch Engstrom 1999:37 "So we need a symbol that creates a new space. A box is a natural enough symbol of a distinction, and creates a new space inside itself; but a circle or any closed curve will do." Engstroms Ziel istes, nachzuzeiehnen, dass die Notation Spencer Brown s nieht wie iiblicherwei se arbitr ar, sondern durch pre-notationelle Ebenen fundiert ist. In Engstrom 200 I :29ff. unterscheidet er zwischen iiblicher typograph ischer Notation, die in linear geordneter Sequenz notiert und von links nach rechts gelesen wird , und graphischer Notation, die wie Graphen und Diagramme zweidimensional notiert wird und keine bestimmte Reihenfol ge hat , so dass die line are Ordnun g verloren gehen kann. Peirce und Spencer Brown entwickeln cine graphische Notation mit vcrbluffcnd vielen Ahnlidikeiten. Es ist ein zentrales Anliegen, eine Notation mit der angemessenen ,Iogischen Mannigfaltigkeit' (Wittgenstein, Tractatus 4.04) zu entwickeln. Vgl. dazu z.B . Kauffman 2001b:92: "The circle refers to itself, but that self is a Sign in a context of Signs , and so the circle can refer to other Signs individuall y indistinct from itself and yet distinguished from the original circle by the context of this community of Signs."
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8. Schritt: Zusammenstellung (Arrangement) Der nachste Schritt in der Entwicklung der formalen Sprache ist die Anweisung dazu, wie Zeichenzusammenstellungen gebildet werden konnen . Jede Ansammlung von Zeichen (token) , die als zu einer Form gehorig betrachtet werden , bilden das, was nach Spencer Brown ein ,arrangement', eine Zusamm enstellung genannt werden soil. Die Bildung eines ,arrangement' kann durch eine beliebige Foige von Zeichen (l ), die zusammen gehoren sollen, auf einem Blatt Papier illustriert werden. 9. Schritt: Ausdruck (Expression) Aus Zusammenstellungen von Zeichen werden ,expressions' , wenn die Zusammenstellung als Indikator, Hinweis auf etwas verwendet wird. ,Arrangements' bilden das blol3e Zeichenmaterial, ,expressions' dagegen sind Zeichen, die gebraucht werden sollen und durch die ein Hinweis gemacht werden kann." Wir konnen die Anweisung, einen Ausdruck (expression) zu bilden , in unserer Skizze z.B, dadurch illustrieren , dass wir die Zusammenstellung von Zeichen aus dem achten Schritt als Hinweis auf einen Zustand verwenden. " 10. Schritt: Wert (Value) Urn den Leitbegriff des Indikation enkalkiils, Indikation bzw. Hinweis, weiter zu entwickeln, soli der Zustand , auf den durch einen Ausdruck (expression) hingewiesen wird, der Wert des Ausdrucks genannt werden." Dem Ausdruck soli also ein Wert zugeordnet werden, der mit dern Zustand , auf den hingewiesen wird, identifiziert wird. An dieser Stelle geht es noch nicht urn die Art und Anzahl der Zustande und darnit auch noch nicht urn die Qual itat und Anzahl der Werte. Bisher ist ein unterscheidbarer Zustand , namlich der markiert e Zustand eingefiihrt und damit auch ein Wert. Ob und wenn ja welche anderen Zustande und Werte ,aus der Form entnommen ' werden konnen , ist an dieser Stelle noch offen. 22
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Wittge nstein nennt diesen Unterschied im Tractatus den zwischen Zeichen und Symbol, z.B. in Satz 3.326 : "U m das Symbol am Zeichen zu erkennen , muB man auf den sinnvollen Gebrauch achten." Ein Vergleich waren hier Satze, die in kommunikativen Situationen gebraucht werden . 1m Aufbau der Syntax der Aussagen logik wurde hier von ,Formeln' gesprochen. Wahrend es allerdings in der Syntax der Aussagenlogik induktive Definition en und Bildungsregeln braucht , urn aus einem Ausdruck eine Formcl zu machen, ist hier nur die Verwendun g der Zeichenansarnmlung als hinweisende ,expression' nofig. Der Begriff Wert kommt zum ersten Mal im ersten Kapitel vor, vgl. den Komment ar zum ersten Kapitel. Es ist weder dort noch hier ein ethischer, asthetischer oder okonomischer Wert gemeint.
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Mit der Anweisung, den Zustand, auf den ein Ausdruck hinweist, seinen Wert zu nennen, wird die Basis fur die Semantik des Indikationenkalkuls gelegt, bei der es urn die Zuordnung von Werten zu Ausdriicken (expressions) geht. " Dieser Schritt kann in der Skizze so illustriert werden, dass dem Ausdruck (expression) in der Vorstellung ein Wert zugeordnet wird, ahnlich wie einem komplexen Funktionsausdruck x ein Wert y zugeordnet wird . Und bei dieser Illustration in der Vorstellung geht es darum, dass ein Wert zugeordnet wird, nicht was fur ein Wert das ist. 11. Schritt: Aquivalenz (Equivalence) Zwischen Ausdrucken (expressions) konnen tiber ihre Werte Beziehungen hergestellt werden. Haben Ausdriicke (expressions) denselben Wert, sollen sie aquivalent, also eben von gleichem Wert genannt werden. Urn Wertgleichheit zwischen Ausdriicken (expressions) auszudriicken, soli ein Zeichen fiir diese Aquivalenz, namlich das Zeichen , =' , zwischen die beiden wertgleichen Ausdriicke geschrieben werden. Damit sind die syntaktischen und semantischen Voraussetzungen geschaffen, urn das erste Axiom aus dem ersten Kapitel in die bisher entwickelte formaIe Sprache zu ubersetzen, Im ersten Axiom wurde die Ununterschiedenheit zwischen der wiederholten und der einmaligen Verwendung eines Namens ausgesprochen. Die einmalige Verwendung eines Namens (der auf einen Zustand hinweist und einen Wert hat) auf der einen Seite (der rechten Seite der Aquivalenzbeziehung, formal ausgedruckt: I) und die wiederholte Verwendung dieses Namens auf der anderen Seite (der linken Seite der Aquivalenzbeziehung, formal ausgedriickt: I I ) bilden zwei verschiedene Ausdriicke (expressions), die den gleichen Wert haben. Also gilt formal ausgedriickt: 11=1 . Mit dem Zeichen ,= ' wird eine semantische Behauptung tiber die beiden Ausdriicke, also tiber ihre Wertgleichheit gemacht und es wird nicht (syntaktisch) zur Herstellung eines neuen Ausdrucks (expression) verwendet. Diese Aquivalenzbeziehung soli die Form der Kondensation (form of condensation)" genannt werden . Kondensation, Verdichtung steht hier fur die Moglichkeit, eine wiederholte Namensverwendung, also einen komplexeren Ausdruck (expression) und eine einfache Namensnennung, also einen einfachen 25
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Spencer Browns Wertbegriffist ein anderer als der der Wahrheitswerte ,wahr' und ,falsch', die in der Semantik der (mathematischen) Logik verwendet werden. Durch die Identifikation von Wert mit dem Zustand, auf den ein Ausdruck hinweist, realisiert Spencer Brown einen weiteren Schritt in der Kette von konzeptuellen Reduktionen, die er in den Notes zum elften Kapitel so beschreibt: ,,[W]e must abandon existence to truth, truth to indication , indication to form, and form to void .", LoF:101. Moglicherweise sollen in der ,form of condensation' und auch in der im zwolften Schritt entwickelten ,form of cancellation' die Funktion von Axiomen und die Funktion von Schlussregeln zusammengefasst sein, die bei sonst Ublichem axiomatischem Aufbau unterschieden werden .
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Ausdruck (expression) vennittels ihrer Werte gleich zu setzen. Auf3erdem deutet die Bezeichnung Kondensation an, wie diese Form im weiteren Aufbau verwendet werden kann, namlich auch zur Substitution zwecks Kondensation von Ausdriicken (expressions)." Die Form der Kondensation kann als die erste Regel in dem ,Spiel mit Hinweisen', dem Indikationenkalkiil, gelten. Es wird hier schon deutlich, dass es in diesem ,Spiel' urn Aquivalenzbeziehungen geht. 12. Schritt: Aufforderung (Instruction) Der zwolfte Schritt ist ein Komplex aus verschiedenen Anweisungen, die die fonnale Sprache wesentlich erganzen, Urn die erste Anweisung ausfuhren zu konnen, ist es wichtig, sich ins Gedachtnis zu rufen, dass zur Form der Unterscheidung die Teile oder Zustande (Plural!) gehoren, die durch die Unterscheidung unterschieden werden. Einer der unterschiedenen Zustande wurde durch die Markierung I markiert und markierter Zustand genannt. Es erfolgt nun die Anweisung, den Zustand, der nicht mit der Markierung markiert worden ist, den unmarkierten Zustand zu nennen. Damit sind beide Zustande durch verschiedene Benennungen voneinander unterscheidbar, der eine Zustand heif3t der markierte Zustand, der andere heif3t der unmarkiertei" Mit der nachsten Anweisung wird der Gebrauch des Zeichens der Markierung (token of the mark) erweitert: Jedes Zeichen der Markierung (token of the mark) soli so gesehen werden, dass es den Raum, in den es hinein kopiert ist, spaltet. Jedes Zeichen der Markierung I soli seiber eine Unterscheidung in seiner eigenen Form sein. Damit ist das Zeichen der Markierung zum einen Name des markierten Zustandes (nach Schritt sieben) und zum anderen eine Unterscheidung in seiner eigenen Form. Durch jedes ,token' - als Unterscheidung betrachtet - wird eine ,eigene Form' aufgespannt, wird ein Raum gespalten und werden Zustande (Inhalte, Seiten) unterschieden. Die konkave Seite des Zeichens I soli seine Innenseite oder Innen genannt werden. Durch diese Anweisung, eine weitere Benennung einzufiihren, wird ein
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Der Terminus .condensation' ist zentral filr die Laws of Form: In der Formulierung ,form of condensation' als terminus technicus und als Prozess der Verdichtung , durch den ein Zeichen grobere Wirksamkeit (power) erhalt, da viele Bedeutungsebenen ,hineingefaltet' werden . Zu letzterem heiBt es in den Notes zum zweiten Kapitel : " We may also refer to it ... as a place where ideas condense in one symbol. It is this condensation which gives the symbol its power ... which is achieved by condensing as much as is needed into as little as is needed ." LoF:8I. Engstrom zeigt , dass Peirce in seinen ,existential graphs' auch mit geschlossenen Formen und mit notationellen Leerstellen arbeitet, vgl. Engstrom 2001:43. Anders als Spencer Brown ist Peirce von der Frage geleitet , welche raumliche Darstellung filr die logische Beziehung der Implikation angemessen ist, vgl. Engstrom 2001 :46f. Spencer Brown arbeitet dagegen nur mit Gleichungen, nicht mit Implikationsverhaltnissen, Ein wichtiger Grund dafilr liegt darin, dass das Irnplikationsverhaltnis eine bestimmte Richtung hat, wahrend Gleichungen beide Richnmgen erlauben, vgl. Engstrom 200 1:52.
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neuer Referenzpunkt innerhalb der Form des Zeichens (token) als Unterscheidung selbst geschaffen. Mit der nachsten Anweisung wird der Gebrauch des Zeichens (token) noch einmal erweitert: Jedes Zeichen (token) soll als Aufforderung (instruction) aufgefasst werden , die Grenze der ersten Unterscheidung zu iiberschreiten. Die erste Unterscheidung ist die, deren Aspekte ein gespaltener Raum und Teile, Seiten oder Zustande sind, die durch eine Grenze voneinander unterschieden sind, so dass man nur von einer Seite auf die andere Seite gelangen kann, wenn die Grenze iiberschritten wird. Mit dieser Aufforderung, die Grenze zu uberschreiten, haben wir es im zweiten Kapitel mit einem neuen Typ von Anweisung zu tun, durch den eine Operation mit einer Richtung von einem Zustand zu einem anderen Zustand ausgefuhrt werden soll." Der erste Typ waren Konstruktionsanweisungen, durch die Formen erzeugt werden, der zweite Typ Anweisungen, urn durch Benennungen Referenzpunkte fur das Folgende zu schaffen, der dritte Typ Kanones, durch die Metaanweisungen gegeben werden. Dieser hier eingefuhrte vierte Typ von Aufforderungen oder lnstruktionen fordert innerhalb der formalen Sprache (des Kalkiils) zu Operationen auf, bei denen die Richtung eine entscheidende Rolle spielt (dies gilt fur den Typ zwei dagegen nicht). Die Aufforderung (instruction) ist also dann vollstandig und ausfiihrbar, wenn die Richtung angegeben wird, von wo und wohin die Bewegung gehen soIl. Urn also iiberhaupt die Grobe ,Richtung' einfuhren zu konnen, braucht es mindestens einen Bezugspunkt im Raum, von dem aus eine Richtung eingeschlagen werden kann. Der Referenzpunkt, von dem aus der Prozess des Uberschreitens beginnt , soli die oben benannte lnnenseite sein. Der Prozess soli damit von dem Zustand ausgehen, auf den auf der Innenseite des Zeichens (token) - als Unterscheidung gedacht - hingewiesen wird. Von dart soIl die Uberschreitung zu dem Zustand gehen, auf den durch das Zeichen (token) hingewiesen wird. Wird das Zeichen (token) als eine Aufforderung zum Uberschreiten genommen, wird es also als Operator verstanden, dann sind in den Gebrauchsregeln fur diesen Crossing-Operator sein Gebrauch als Name (fur den markierten Zustand) und sein Gebrauch als Unterscheidung kondensiert. Der Zustand, von dem der Prozess des Uberschreitens beginnt, also der auf der lnnenseite indizierte Zustand, zeigt sich durch den Gebrauch des Zeichens (token) als Unterscheidung. Der Zustand, in den der Prozess des Uberschreitens hineingeht, also der Zustand, auf den durch das Zeichen (token) hingewiesen wird, zeigt sich durch den Gebrauch als Name. Die Koinzidenz oder Kondensation von Operation des Uberschreitens, Unterscheidung und Name wird in diesem zwolften Schritt systematisch voIlzogen.
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Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel, LoF:80.
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Das Zeichen I ist also systemati sch mehrdeutig" zwischen drei versch iedenen Gebrau chsweisen und Deutungen . Es stellt sich die Frage nach dem Wozu dieser Kondensation , die das Verstandnis davon, wie das Zeichen I verstanden werden soli, erheblich zu erschweren scheint. Warum, so liel3e sich fragen, wird nicht auch auf der Zeichen ebene zwischen den drei Funktionen differenziert , indem die Verschiedenheit durch Indizes oder neue Zeichen angezeig t wird? Ein Grund liegt darin : Wiirden diese Bedeutungsschicht en des Zeichens I derart auseinande r genommen, wiirde der innere Zusammenhang zwischen ihnen verloren gehen und nicht mehr deutlich sein, wie diese Aspekte in Abhangigkeit voneinander entstehen und sich gegenseitig stiitzen. ,Unterscheidung', ,crossing' und ,calling' sind Prozesse, die durch einander entsteh en und nur in Bezug aufeinander moglich sind. Eine Aufgliederung in verschiedene Zeichen fur die Unterscheidung, fur die Operation des ,crossing' und fur die Verwendung des Namens beim ,calling ' wiirde suggerieren, dass dies selbstandige Aspekte sind, die erst nachtraglich aufeinander zu beziehen und deren Beziehungen also wieder neu aufzubauen sind . Die methodologische Entscheidung, aile drei in einem Zeichen zu kondensieren, gibt den konstitutiven Beziehungen zwischen ihnen den Vorrang . Zusammengenommen heil3t dies, dass das Zeichen fur einen Zustand zugleich das Treffen einer Unterscheidung ist, die zugleich die Aufforderung ist, die Grenze von innen her zu iiberschreiten zu dem Zustand, fur den das Zeichen eben steht. 3 1 Es wird deutlich , wie hier selbst wieder eine Kreisbewegung vollzogen wird , die dahin zuruckfllhrt, wo begonnen worden ist, durch die das, mit dem begonnen worden ist, seinerseits aber wieder ermoglicht ist." 30
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Farnilienahnlich zur Idee der systematischen Arnbiguitat (vgl. dazu den Kommen tar zum ersten Kapitel) spricht Kauffman 200 Ib :82ff. von ,portmanteau signs' und von ,pivot duality' . Unter eine m ,portm anteau sign ' versteht er ein Zeiche n, das eine Kombination von verschiedene n Bedeutungen ist, so dass diese in dem Zeiehen zusammengesetzt oder kondensiert werden. Unter ,pivot duality' versteht er ein Zeic hen, dass in mehr als einer Weise interpretiert werden kann; diese Multiplizitat der Interpretation fuhrt zu einem Drehpunkt zwischen den versc hiedenen Kontexte n, der auf eine tiefe re gemeinsame Ebene hinweist. Beide Formen sind nach Kauffman zentral fur Ze ichen und vor allem fur formale Ze ichen. Dagegen steht der Wunsch, Zeic hen so zu bilden, dass je des Zeiehen eine einzige ihm zugewiesene Bedeutun g hat. Dies ist nach Kauffman nicht moglich und verstobt gegen die Idee von Sprache. Kauffman will in einer Analyse der Notationen von Peirce, Nico d und Spencer Brown zeigen, dass die formale Operation der Implikation nicht einfach ist und so nicht als Ausgangspunkt genommen werden kann. Deshalb ist dafur auch ein Ze ichen adaquat, das selbst ein komplexes Zeichen ist, zusammengesetzt aus anderen logischen Zeichcn also ein ,portmanteau sign' . Oder auchso herum : dass das Treffen einer Unterscheidung zugleich die Aufforderung ist, die Grenze von innen zu iiberschreiten hin zu dem Zustand, auf den das Zeic hen der Unterscheidung zugleich hinwei st, den markierten Zustand. An dieser Kreisbewe gung mit drei Prozessen wird deutl ich, dass die Unterscheidung zwische n ,Sache' und ,Zeichen fur die Sache' keine absolute ist, sondern immer wieder neu erschaffen und iiberschritten wird . Die semiotische Differenz ist also keine, die immer und selbstve rstandlich gilt
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Es ist wichtig, auch hier die Metaanweisung aus dem vierten Schritt (convention of intention) zu beachten. FUr die Operation des ,crossing' ist ein Ausgangspunkt bestimmt, das Innen, und eine Richtung, also uber die Grenze hin zu dem Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird. Auf dem Hintergrund unserer begrifflichen Gewohnheiten ist die Versu chung groli, komplementar zu der Innenseite eine Aulienseite zu bilden und das ,crossing' von dem Innen in das Aulien gehen zu lassen. Da es aber keine Anwe isung zur Bildung des komplem entaren Begriffes ,AuBen' gibt, ist dies hier auch nicht erlaubt. In den Transkripten zur AUM-Konferenz heiBt es dazu, dass es bei der ersten Untersch eidung kein Aullen und kein Innen gibt, da seien die graphi schen Illustrationen irrefuhrend. Die Qualifizierung als .Aufsen' und ,Innen' hangt namlich davon ab, wo man sich als BetrachterIn befindet, dies ist aber fur die erste Unterscheidung noch nicht relevant. 33 Nachdem die kondensierte Komplexitat des Zeichens I entwickelt worden ist, schlielst die nachste Anweisung dort an, wo dieser zwoltte Schritt begonnen hat: Ein Raum ohne Zeichen soli auf den unmarkierten Zustand hinwei sen. So, wie das Zeichen der Markierung auf den markierten Zustand hinweist, weist der nicht markierte Raum auf den unmarkierten Zustand hin. Das klingt konsequent und symmetrisch. Es besteht aber ein wichtiger Unterschied zwischen dem Zeichen der Markierung und dem nicht markierten Raum. Nur das Zeichen der Markierung kann als Name (im Sinne des siebten Schritts) verwendet werden , nicht aber der Raum ohne Zeichen . In den Transkripten zur AUM-Konferenz betont Spencer Brown diesen Punkt: "We did away with the second name . This is essential. It' s the fear of doing away with the second name, that has left logic so complic ated . If you don't do away with the second name, you can't make the magic reduction. '?" Oem Anspruch der grobtrnoglichen Reduk tion und Einfachheit gemaf reicht es, bei der ersten Unterscheidung eine Seite zu markieren. Wo die Markierung gefunden wird, wird auf die markierte Seite hingewiesen. Wo keine Markierung gefund en wird, weist dies auf die andere Seite hin, die nicht markiert worden ist.35
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Vgl. AUM 1,13. Der Grund dafur, dass in der Literatur Oblicherwei se von der Innenseite und von der Aufsenseite gespro chen wird, liegt wohl darin, dass Spencer Brown in den Notes zu dem zweiten Kapitel eine ander e Art der Ableitung fur die beiden einfachen Gleichungen gibt. Diese illustriert er mit Kre isen und verwendet die Rede von der Innen- und AujJenseite der Kreise. Vgl. die Notes zum zweiten Kapitel LoF:82-83 sowie z.B. Simon 1999:59: "G rundlage einer je den Bezeichnung ist eine Unterscheidun g zwischen innen und au6en, die der Beobachter vornimmt ." Es ist bei Spencer Brown im Aujbau des Kalkuls weder von der Untersche idung zwischen innen und au6en, noch von dem Beobachter die Rede. Auf die Kornplement aritat zwischen Innen- und Au6ense ite greift auch Kauffman in seiner eindrucksvollen Rekonstruktion des Ind ikationenkalkul s zuruck. Vgl. z.B. Kauffman 1998a. AUM 1,12 Vgl. AUM 1, 13. Der Raum ohne Markierung konnte als .Quasi-Indikator' bezeichnet we rden.
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Dies ist die einfachste Art, zwei Zustande zu bestimmen und nur einen Namen zu brauchen, urn auf jeden der Zustande hinweisen zu konnen, einmal, indem der Name verwendet wird, und zum anderen, indem er nicht verwendet wird. Und die Nicht-Verwendung des Namens ist selbst kein Name ." Die Moglichkeit, einen Hinweis zu machen, besteht nicht nur durch einen Namen oder durch die Operation des ,crossing' (wie auch im ersten Kapitel ausgeflihrt), sondem auch durch einen Raum ohne Zeichen. Was sich ergibt, wenn die Operation des Uberschreitens wiederholt wird, ist im 2. Axiom des ersten Kapitels ausgedriickt und kann mit den geschaffenen syntaktischen Mitteln so formalisiert werden: '= . Die Operation des ,crossing' geht, wie ausgefuhrt, von dem Zustand , auf den auf der Innenseite des Zeichens hingewiesen wird, tiber die Grenze in den Zustand , auf den durch das Zeichen hingewiesen wird. Wird die Operation wiederholt und die Grenze von dem einen Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird, also dem markierten Zustand, wieder zuruck uberschritten in den anderen Zustand, auf den auf der Innenseite hingewiesen wird, kommen wir zu dem Zustand zuruck, von dem wir ausgegangen sind, und das ist der unmarkierte. Das, was fur den Ausgangspunkt des Oberschreitens offen als ,der Zustand, auf den auf der Innenseite des Zeichens hingewiesen wird' vorgestellt werden solite, erweist sich in der Wiederholung und im Zusammennehmen der beiden Uberschreitungen (bzw. wie es in Axiom 2 heiJ3t, der beiden Absichten zu Uberschreitungen) als der unmarkierte Zustand . Es ist allerdings nicht erlaubt (nach dem vierten Schritt) zu sagen, dass die Innenseite des Zeichens fur den unmarkierten Zustand stehe. Nicht die Innenseite ist als Name eingefuhrt worden, sondem nur das Zeichen der Markierung (token of the mark) . Erst mit der Wiederholung des Oberschreitens wird der Ausgangspunkt des ersten Uberschreitens als unmarkierter Zustand zuganglich, In den Notesbetont Spencer Brown, dass mit jeder Aufforderung (instruction), und das heillt mit jeder Aufforderung, die Grenze zu iiberschreiten, der Zustand gewechselt wird." Auf das Oberschreiten in den markierten Zustand hinein folgt das wiederholte Oberschreiten mit der umgekehrten Ausrichtung in den anderen Zustand hinein, also hier den unmarkierten Zustand. Die wiederholte Uberschreitung der Grenze wird durch zwei ineinander geschriebene Zeichen in der formalen Sprache ausgedruckt. Die doppelte Oberschreitung, die zum unmarkierten Zustand fuhrt, kann als wertgleich angesehen werden (, =' nach dem elften Schritt) zu dem Wert, der durch nichts (von alldem) angezeigt wird . Wie im elften Schritt handelt es sich hier urn die Aquiva-
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Vgl. dazu sehr deutlich Kauffman 1981:254: "T here are no blank symbols ; there is only the empty space of the plane .... But a blank is not a symbol , it is ju st a place where no symbol has been drawn ." Vgl. die Notes zum zweit en Kapitel, LoF:80.
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lenz von zwei verschiedenen Ausdrticken,1I und , die den gleichen Wert haben . Spencer Brown nennt diese Aquivalenz die Form der Aufhebung (form of cancellation). Wird die Uberschreitung wiederholt und werden die beiden Uberschreitungen zusammengenommen, dann wird das Zeichen der Markierung aufgehoben, geloscht, und es entsteht ein Raum ohne Zeichen, der auf den unmarkierten Zustand hinweist. Die Form der Aufhebung kann als die zweite Regel in dem ,Spiel mit Hinweisen', dem Indikationenkalkiil, gelten. 13. Schritt: Gleichung (Equation) Es legt sich eine Reihe von Moglichkeiten nahe, an den wichtigen zwolften Schritt anzuschIiel3en. Eine Moglichkeit ware, die eingefllhrten Formen, die ,form of condensation' und die ,form of cancellation' und die in ihnen verwendeten Ausdriicke naher zu bestimmen . Eine andere Moglichkeit Iiegt darin, die systematische Mehrdeutigkeit des Zeichens (token) als Name, Unterscheidung und Instruktion aufzunehmen. In den Schritten 13-I5 wahlt Spencer Brown die erste Moglichkeit, in Schritt 16 wird die zweite aufgegriffen. 1m elften und zwolften Schritt wurden Aquivalenzen zwischen wertgleichen Ausdrucken vorgestellt. Es soIl nun der Hinweis auf aquivalente Ausdriicke eine Gleichung genannt werden. Spencer Brown unterscheidet damit zwischen Aquivalenzen und Gleichungen. Aquivalenzen sind Wertgleichheiten von Ausdrncken, Gleichungen sind Hinweise auf diese, also gewissermal3en .Satze' iiber aquivalente Ausdriicke. Die Funktion von Gleichungen bleibt an dieser Stelle beschrankt auf den Hinweis auf die Aquivalenz von Ausdrucken. Es ist hier noch nicht die Erlaubnis gegeben , Gleichungen wie in der Gleichungslehre iiblich durch Aquivalenzumformungen zu vereinfachen und dadurch eine Losungsmenge der Gleichung zu bestimmen. Diese Erlaubnis muss explizit gegeben werden und dies wird kleinschrittig im dritten Kapitel entwickelt." 14. Schritt: Einfache Gleichung (Primitive equation) Unter den Moglichkeiten fur Gleichungen wird in diesem Schritt ein bestimmter Typ von Gleichungen hervorgehoben, die einfachen oder primitiven Gleichungen (primitive equation). Darunter sollen die Form der Kondensation (form of 38
In den Erlauterungcn zu dem fruhen Such tiber Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft macht Spencer Brown sich Gedanken tiber Gleichungen: ,,[It] prompts me to consider in what way mathematical propositions are c1ucidatory. What use is it to say that one expression is equal to another different-looking expression? I think the answer lies in their different forms stressing different aspects of what we want to consider.. .. In other words , the different ways of saying the same thing emphazise different aspects of it. When we use a mathematical formula containing the equality sign, we do so in order to couple together certain ideas we wish to emphazise on either side of it " Spencer Brown 1957:141.
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condensation) und die Form der Aufhebung (form of cancellation) fallen. Auf3er diesen beiden soIl es keine weiteren einfachen bzw. primiti ven Gleichungen geben . Die Bezeichnung der beiden Gleichungen als ,primitiv' erinnert an ,primitive Symbole' , die in der Logik oft als Zeichen bestimmt werden, deren Bedeutung als bekannt vorausgesetzt wird. Zu Spencer Browns Verwendung von ,primitiv' gehoren unbedingt die Bedeutungsschichten ,elementar' und .ublichen Differenzierungen voraus liegend '" . Damit ist aber entgegen ublicher Verwendungen nicht gemeint, dass das als ,primitiv' oder ,elementar' Qual ifizierte einfach gegeben oder vorausgesetzt wird. ,Elementar' oder ,primitiv' ist das, was aus der Idee der Unterscheidung ohne weitere Qualifizi erung abgeleitet werden und als Grundlage fur andere Verwendungen dienen kann . Mit den beiden einfachen bzw. primitiven Gleichungen werden demgemaf Hinweise auf aquivalente Ausdrlicke gegeben , die im Folgenden als bekannt vorausgesetzt werden und auf denen die weitere Entwicklung (von Differenzierungen) aufbauen kann . 15. Schritt: Einfacher Ausdruck (Simple expression) Die drei verschiedenen Formen von Zusammenstellungen (arran gements) , die in den beiden einfach en bzw . primitiven Gleichungen vorkommen, sollen, wie im neunten Schritt festgelegt, Ausdriicke heif3en, also : 11 ,11 ,I und dazu noch die Abwesenheit von Form . Jeder Ausdruck , der aus einem leeren Zeichen besteht, also aus I , soIl einfach genannt werden . Jeder Ausdruck, der aus einem leeren Raum besteht , also aus , soli einf ach genannt werden. Nur diese beiden Ausdrlicke sollen einfache Ausdriicke heilsen." Durch diese Bestimmung der beiden einfachen Ausdrucke als ,Ieeres Zeichen' und ,Ieerer Raum' wird eine terminologische Parallelit at zwischen den beiden hergesteIlt, die den weiteren Aufbau eines zwe iwertigen Systems (bis zum zehnten Kapitel) ermoglicht. Die beiden einfachen Ausdrucke weisen auf die beiden Zustande, Werte hin, mit denen gearbe itet wird . Es ist wichtig zu beachten , dass diese Parallelitat der beiden Werte hier gesc hafJen und bewusst eingefiihrt wird und nicht die Voraussetzung ist, auf der das System beruht. 1m zwolften Schritt wurde deutlich , dass die Beziehung der beiden einfachen Hinweise auf die beiden Zustande, den markierten und den unmarkierten, keine von zwei Namen ist, seien es einfach zwei verschiedene Namen a und b oder ein Name a und sein komplernentarer Name ~a . Hier wird vielmehr, wie dargesteIlt , die einfachste Form gewahlt, in der nur ein Name verwendet wird, urn auf zwei Zustande hinzuweisen, eben durch die Verwendung und die Nicht-Verwendung
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Vgl. diese Verwendun g z.B. in den Notes zum zweiten Kapite\, Lcf:84. Streng genom men sind die beiden einfachen Ausdriicke vor diesem 15. Schritt noch gar nicht eingefuhrt; als Ausdriicke explizit cingcfuhrt sind im achten und neunten Schritt nur (mehrere) ,token' in Beziehun g aufeinander.
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des Namens. Der Hinweis auf den unmarkierten Zustand ohne Verwendung einer Markierung, also eines Zeichens und damit eines Namens, nutzt die einfachste Differenz von Prasenz und Absenz, metaphysisch aufgeladen formuliert von Sein und Nichts. Es liegt aber alles daran, wie diese Differenz, wie dieser Differenzmodus bestimmt wird. Dabei wird die Prasenz, ,das Sein' , als Zeichen , als Markierung verstanden, die Absenz, ,das Nichts ', als Nicht-Vorhandensein einer Markierung. Damit wird die Absenz nicht zu einer Art ,negativer Prasenz' , die komplementar zu der Prasenz bestimmt werden kann . Absenz, das NichtVorhandensein, kann als Hinweis fungieren, nicht aber als Name. 1m Anschluss an diesen Schritt legt sich die Frage nahe , wie auf der Basis der einfachen Ausdrticke andere Ausdrlicke, moglicherweise komplexe Ausdrueke, gebildet werden konnen." 16. Schritt: Operation (Operation) In diesem Schritt wird inhaltlich zum zwolften Schritt zurlickgegangen und es wird an die intendierte, systematische Mehrdeutigkeit des Zeichens I (token) angeknlipft. Es werden zwei der Gebrauchsweisen des Zeichens (token) explizit zusammengefuhrt: der Gebrauch als Name und der Gebrauch als Aufforderung (instruction) gemaf Vereinbarung. Durch beide Gebrauchsweisen kann auf einen Zustand hingewiesen werden . 1m siebten Schritt wurde deutlich, dass ein Name auf einen Zustand hinweisen kann. Und genauso kann dies, wie im zwolften Schritt vorbereitet, die Aufforderung, die Grenze zu liberschreiten. Diese hat eine Richtung , namlich die Grenze hin zu dem Zustand, auf den durch das Zeichen hingewiesen wird, zu liberschreiten. So kann hier der Schritt gemacht werden, dass auch durch die Verwendung des Zeichens als Aufforderung, die Grenze zu liberschreiten, auf einen Zustand hingewiesen werden kann . Dies ist in der Vereinbarung im zwolften Schritt vorbereitet und wird hier explizit erlaubt. Daraus folgt, dass jedes Zeichen als Aufforderung (instruction) zur Durchfuhrung (operation) einer Absicht zur Grenzliberschreitung aufgefasst werden kann. Dem Zeichen (token) kann so verstanden der Name ,liberschreite' (cross) gegeben werden, urn darauf hinzuweisen , worin die Absicht besteht. Dadurch werden die Vorbereitungen aus Axiom 2 des ersten Kapitels aufgenommen, wo die Absicht (intention), die Grenze zu liberschreiten, schon als Hinweis auf den Wert des Inhalts bestimmt wird. Dies ist die Basis fur die Formulierung von Axiom 2, welches wiederum die Grundlage fur die ,form of condensation' aus dem zwolften Schritt bietet.
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In anderen formalen Systemen warden die einfaehen Ausdriieke die Funktion von ,atomaren Formeln' haben, auf deren Basis dann rekursive (Bildungs-)Regeln fur wohlgeformte Ausdriieke entwiekelt wiirden. 1m weiteren Aufbau des Indikationenkalkiils werden sieh Untersehiede und Ahnli chkeiten zu diesem Verfahren zeigen.
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An dieser Stelle werden die Namensfunktion und die Anweisungsfunktion zu einer Operation systematisch miteinander verschrankt. In dem Zeichen l ist beides verdichtet, konden siert. Der Name ist selbst nichts als die Anweisung, in den markierten Zustand hinein zu uberschreiten, die Anweisung zu uberschreiten ist selbst nichts als der Name fur den markierten Zustand." Dadurch werden zwei Typen von Injunktionen, die zunachst unterschieden word en sind, eng auf einander bezogen, so dass sie nur in Abhangigkeit voneinander moglich sind, namlich der zweite Typ, durch Benennungen Referenzpunkte zu schaffen und der vierte Typ, Instruktion en in eine vereinbarte Richtung auszufuhren." Einer der im 15. Schritt gebildeten einfachen Ausdrucke, das leere Zeichen, ist gleichzeitig (der einzig e) Operator: ,cross'. Mit diesem 16. Schritt wird der einzige Operator erzeugt, der zur Sprache des mathemat ischen Systems des Indikationenkalkuls gehort. Die Besonderheit gegenuber anderen formal en Sprachen liegt allerdings nicht nur darin, dass es nur einen Operator gibt, durch den Sheffer-Strich und den Peirce-Pfeil ist schon anderweitig nachg ewiesen , dass sich ein vollstandiges formales System auf nur einem Operator aufbauen lasst. Besonders ist, dass Oper and und Operator gezielt und in allen Kontexten zusammenfallen'" und dadurch eine selbstreferentielle Struktur haben ." Das ,cross' ist ein Ausdruck, auf den eine Operation angewandt werden kann, und Aufforderung zu einer Operation zugleich. Es wird im Autbau des Kalklils gezeigt, dass dies keinerlei Verwirrung stiftet und genauso leistungsstark ist wie nbliche formale Systeme , die hier eine strikte Unterscheidung von Operator(en) und Operanden fordem. 17. Schritt: Relation (Relation) Es ist noch offen , wie das einzige Symbol bzw. der einzige Name, der wie ausgefuhrt verschiedene Gebrauchsweisen vereinigt, mit Kopien seiner selbst in Beziehung treten kann, also wie die Zusammenst ellung (arrangement) von Zeichen und komplexe Ausdrlick e gebildet werden durfen, Was, so ist hier die
'2
'3
"
'5
Vgl. "Na me and act have condensed. The name is nothing but the act of crossing from the absence of name." Kauffman 1998a:65. Dies druckt Spencer Brown auch in den Notes zum zweiten Kapitel aus, wenn Namen "in relation with the operation of instru ctions" eingefuhrt werden, LoF:80. Kauffman zeigt z.B. wie ublich es in der mathematischen Praxis ist, Ze ichen in verschiedenen Kontexten mal als Operand und mal als Operator zu verwend en. Es hangt dabei immer vom Standpunkt ab, was der Akteur ist und was dasjenige ist, auf das operiert wird, vgl. Kauffman 1981:253. 1m Unterschied dazu haben Zeichen bei Spencer Brown in allen Kontext en beide Funktionen. Nehmen wir noch die dritte Funktion des Zeichens hinzu, selbst eine Unterscheidung (in seiner eigenen Form) zu sein, dann ist das Ze ichen selbst das, worauf es hinweist und weist somit auf sich selbst hin. "Hence, the mark is its own name. We have found a sign that stands for itself." Kauffman 1998c:64.
III. Kommentar- Das zweite Kapitel : FORMS TAKEN OUTOFTilE FORM
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Frage, die nicht explizit beantwortet ist, sind (syntaktische) Regeln fiir ,wohlgefonnte ' Ausdri.icke? Zur Beantwortung dieser Frage nimmt Spencer Brown eine Entscheidung zur Bestimmung der Form aus der Definition im ersten Kapitel auf: Distinction is perfect continence. Die Art und Weise, wie ,crosses' in Beziehung treten konnen, wird von dieser Definition abgeleitet. Die einzige Beziehung, die zwischen ,crosses' zugelassen ist, ist ,continence', Enthaltensein. Ein ,cross' solI das enthalten, was auf seiner Innenseite ist und das nicht enthalten, was nicht auf seiner Innenseite ist. Weitere Relationen zwischen ,crosses' sind nicht eingeftihrt, ,nebeneinander', ,untereinander' oder auch ,einander liberlappend' gelten z.B . nicht als Relationen zwischen .crosses'." Durch die ,fonn of condensation' und die ,fonn of cancellation' wird ja auch gerade gezeigt, dass die Vervielfaltigung von ,crosses' (ob nebeneinander, untereinander ist eine reine Konvention der Schreibweise) keinen Unterschied erzeugt, wohl aber die Schreibung ineinander (als Ausdruck der Relation ,continence'). In den nachsten Schritten wird diese einzige Art der Relation zwischen ineinander stehenden Vorkommnissen des einzigen Symbols weiter entwickelt, so dass deutlich wird, was eigentlich ein wohlgefonnter Ausdruck ist. An dieser Stelle im Prozess beginnt die Beschaftigung mit der Anordnung der ,crosses'. Wie sollen eine Zusammenstellung (arrangement) und ein Ausdruck (expression) geschrieben werden? Der Raum, der durch die Art der Anordnung der ,crosses' aufgespannt wird und entsteht, wird betrachtet und mit ihm die Frage, was fiir ein Raum sich bei dieser Notation ergibt. Der Raum , der sich bei dieser Notation ergibt, ist einer, bei dem nur die raumliche Beziehung enthalten - nicht enthalten gelten solI. Der Raum, der hier entsteht, ist ein Raum ohne die Unterscheidungen rechts und links, oben und unten , nebeneinander und entfemt voneinander. Das einzige, was einen Unterschied macht, ist die Beziehung des Enthaltenseins. Ob in einem ,arrangement' die verschiedenen ,crosses ' , die entweder andere enthalten oder nicht enthalten, in einer Reihe nebeneinander stehen oder nicht, ist gleichgiiltig und eine reine drucktechnische Frage. Diese Notation ist also nicht linear und nicht an die libliche Schreibung in der Linie gebunden. Ein wohlgefonnter Ausdruck kann also sowohl in einer Zeile geschrieben werden11111111 , aber auch so:
I
11 I
11 I
Zwischen beiden Ausdrlicken besteht kein relevanter Unterschied. Es gelten bei dieser Notation also nicht die Einschrankungen, die bei sonstigen linear ge46
Hierin liegt einer der zentralen Unterschiede zu den Venn-Diagrammen, an die man sich bei der ikoni schen Notation Spencer Browns, die auch mit geschlossenen Formen wie Kreisen oder Boxen darge stellt werden kann , erinnert fuhlen konnte, vgl. II.A Kontexte der Laws of Form.
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schriebenen formalen Sprachen bestehen. Da es keinen Unterschied macht, ob die ,crosses' untereinander, ubereinander, weit voneinander entfemt und nah beieinander geschrieben werden, ist diese Notation auch reihenfolgeunabhangig, Nehmen wir die erste Version von oben, so macht es keinen Unterschied, ob die Reihenfolge der ,crosses' so 11111111 oder so 11111111 angeordnet ist. Die einzige Relation des Enthaltenseins ist auch nicht eingeschrankt auf die Beziehung zwischen zwei ,crosses ' , Enthaltensein ist keine binare Relation und hat keine Stelligkeit. Es konnen beliebig viele ,crosses' in anderen ,crosses' enthalten sein, z.B
,
Diese Notation kommt also mit der Relation ,continence' aus, durch die eine klare Zusammenfassung gegeben wird, durch die keine gesonderten Klammersymbole, wie bei ein- oder zweistelligen Relationen notig, gebraucht werden . Der Vergleich dieser Notation mit der in der Aussagenlogik ublichen z.B. zeigt, dass die eingeschrankte Stelligkeit und die Reihenfolgeabhangigkeit Eigenschaften der Iinearen Notation sind, also Eigenschaften der Zeichen und des durch und mit ihnen entstehenden Raurns." Diese werden dann durch die zusatzliche Einfuhrung von Klammersymbolen und die Einfuhrung des Kommutativgesetzes fur Konjunktion und Adjunktion teilweise wieder aufgehoben. All dieser formale Aufwand , urn Wirkungen der gewahlten Notation auszugleichen, kann bei einer Notation wie der hier entwickelten wegfallen . 18. Schritt: Tiefe (Depth) Die Relation ,continence' hat verschiedene Tiefen, denn es gibt keine Beschrankung auf Quantitat und Ebenenvielfalt der ,crosses' . Ein Ausdruck kann aus mehrfach gestaffelten Raumen bestehen , deren Tiefe mit Zahlenindizes unterschieden werden kann. In einer Zusammenstellung (arrangement) a, die in einem Raum s steht, soli die Anzahl der ,crosses' , die uberschritten werden mussen , urn einen Raum s, von s aus zu erreichen, die Tiefe von s, in Bezug auf s genannt werden.
';JIs 47
Spencer Brown wirft der ublichen mathematischen Notation vor, die Freiheit der zuslitzlichen Dimension zu verfehl en, die sich ergibt, wenn wir von der gesproch enen zur geschriebenen Sprache wechseln . Die Fixierung des Skopus von Junktoren wie ,und' und ,oder' ist wichtig fur die gesprochene Sprache, nicht aber fur die geschriebene, die zwei Dimensionen zur Verfugung hat, die diese Einschrlinkung des Skopus aufzwei uberflussig macht. Vgl. die Noles zum zweiten Kapitel, LoF: 88-89,92 sowie Spencer Brown 1997:xv.
III. Kommentar- Das zweite Kapitel: FORMS TAKEN OUT OF THE FORM
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Der Raum, der durch die grofste Anzahl von Uberschreitungen nach innen erreicht wird, soli der tiefste Raum in der Zusammenstellung a genannt werden. Der Raum, der ohne jede Uberschreitung erreicht wird, soli der jlachste Raum in a genannt werden. Also ist der flachste Raum So gleich dem Raum , in dem die Zusammenstellung steht, es gilt somit: So = s = flachster Raum Sn = tiefster Raum
Jedes ,cross', das in irgendeinem Raum beliebiger Tiefe unter einem ,cross' c steht, soli in diesem enthalten genannt werden . In der folgenden Skizze sind die beiden inneren ,crosses' in dem aufseren ,cross' c enthalten. Jedes ,cross' , das im flachsten Raum von c steht, soli unter diesem stehend oder von diesem bedeckt genannt werden . In der folgenden Skizze ist das im ,cross' c enthaltene ,cross' von diesem bedeckt. Die Relation des Enthaltenseins wird hier in den ihr eigenen Beziehungsmoglichkeiten entwickelt. Anordnungen im Unterscheidungsmuster enthalten nicht-enthalten haben einen flachsten Raum , einen tiefsten Raum und je nach Ausdruck verschiedene mogliche Tiefen. Die Anordnungseigenschaft der Tiefe ermoglicht die Bildung von wohlgeformten komplexen Zusammenstellungen (arrangements) und Ausdriicken (expressions). Welche Transformationsregeln fur komplexe Ausdriicke verschiedener Tiefe gelten, durch die in einer endlichen Sequenz von Schritten ein eindeutiger Wert errechnet werden kann, wird im dritten und vierten Kapitel (Beweis zu Theorem 3) gezeigt. 19. Schritt: Ungeschriebenes ,cross' (Unwritten cross) Eine Zusammenstellung (arrangement) war im achten Schritt bestimmt als eine Anzahl von Zeichen, die in Bezug auf einander betrachtet werden oder anders gesagt , die als in derselben Form angesehen werden. Diese Zusammengehorigkeit von Zeichen oder ,crosses' zu einer Zusammenstellung wird durch ein ungeschriebenes ,cross' (unwritten cross) vorgestellt. Es soli angenommen werden, dass jeder flachste Raum so, also der Raum, in dem die Zusammenstellung steht, von einem ungeschriebenen ,cross' umgeben ist. Die ,crosses', die unter einem ,cross' c stehen , die also in s\ stehen, wenn c in So steht, sei es geschrieben oder nicht geschrieben, sollen die ,crosses', die von dem flachsten Raum in c durchdrungen werden , genannt werden . Zu der Anordnungseigenschaft der Tiefe gehort also auch noch das Umgebensein jedes Ausdrucks durch ein ungeschriebenes ,cross' und die Moglichkeit, dass ,crosses' durch sie umgebende Raume durchdrungen werden . Dadurch wird die Zusammengehorigkeit von ,crosses' in einer gemeinsamen Tiefe mog-
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lich (deren Reihenfolge zum Beispiel vertauscht werden kann, ohne dass das einen Unterschied machen wurde) . 20. Schritt: Durchdringender Raum (Pervasive Space) Die Anordnungseigenschaft des Durchdrungenwerdens von ,crosses' durch Raume bezieht sich aber nicht nur auf einen zusammengehorigen Ausschnitt, sondem auch auf ganze Zusammenstellungen (arrangements). Jedes ,arrangement' soli von seinem flachsten Raum Sn durchdrungen sein . Der Raum s, der ein ,arrangement' a durchdringt, egal, ob noch andere ,arrangements' als a von dem Raum durchdrungen werden , soli der durchdringende Raum von a genannt werden . Vermittels der Durchdringung der Zusammenstellungen durch den Raum, in dem sie stehen und den sie erzeugen , wird sparer die Moglichkeit eroffnet, in dem Raum Transformationen vorzunehmen, zu erweitem, zu verdichten , den Wert zu ermitteln" und vom tiefsten in den flachsten Raum hinein Signale zu senden", Mit diesem zwanzigsten Schritt endet der schrittweise Aufbau des zweiten Kapitels. 21. Schritt: Rtickblick - Eine der Form der Unterscheidung angemessene Notation In der im zweiten Kapitel vorgelegten Entwicklung einer der Form der Unterscheidung angemessenen Notation beruhren sich Semiotik , Pragmatik , Syntax und Semantik. Die semiot ischen Entscheidungen haben direkte pragmatische, syntaktische (und semantische) Konsequenzen . Tragen wir die wichtigsten Punkte zusammen: Es gibt in der formalen Sprache keine unabhangigen identifizierbaren Elemente, sondem die Form als komplexes Gebilde , aus der Operand und Operator gleichzeitig und in Abhangigkeit voneinander entstehen. Das Zeichen (token) list systematisch mehrdeutig zwischen Name , Unterscheidung und Instruktion. Durch den Prozess der Kondensation ist die grofstmogliche Verdichtung von Zeichen erreicht, durch die die gegenseitige Abhangigkeit verschiedener Gebrauchsweisen deutlich wird. Das Zeichen ist nicht rein arbitrar, sondem eine ikonische Reprasentation der Unterscheidung (die es selbst ist).
48 49
Vgl. z.B. Theorem 2 im vierten Kapt el. Dazu z.B. in der ,rule of dominance' im vierten, achten und elft en Kapitel.
III. Kommentar - Das zweite Kapitel : FORMS TAKENOUTOFTHE FORM
III
Das Nicht-Vorhandensein eines Zeichens (der leere Raum) fungiert als Hinweis (nicht als Name) auf den zweiten Zustand, d.h. es braucht zur Arbeit mit zwei Zustanden (zwei Werten) nicht mehr als einen Namen . Zwischen den Zeichen gibt es eine Art von Relation . Darin zeigen sich fur die Gebrauchsweise des Zeichens als Operator die Eigenschaften der Reihenfolgeunabhangigkeit und Nichtstelligkeit. Wie durfen wir die Notation verwenden? Wie wird mit Hilfe dieser Notation der Indikationenkalktil aufgebaut? - Lesen wir dazu - nach einer kleinen Schleife im 22. Schritt - weiter im dritten bis elften Kapitel. 22. Schritt: Variationen Spencer Brown fordert die LeserInnen in den Notes zum zweiten Kapitel dazu auf, die Anweisungen des zweiten Kapitels zu variieren und eigene und andere Wege und IIIustrationen auszuprobieren als die vorgeschlagenen." Zwei Variationen deutet Spencer Brown seIber an. In den Notes zum zweiten Kapitel schlagt Spencer Brown eine andere, weniger elegante, aber moglicherweise zuganglichere Ableitung der beiden einfachen (primitiven) Gleichungen vor. Weniger elegant daran ist, dass in zweierlei Hinsicht gegen die Metaanwei sung, die convention ofintention, verstoBen wird. Es wird namlich mit Substitution und mit der Unterscheidung zwischen innen und auBen gearbeitet, die beide in der strengen Entwicklung noch nicht eingefuhrt sind, mit denen wir aber durch alltagssprachliche Verwendungen vertraut sind. Spencer Brown skizziert zwei Wege. Den ersten gibt er fur eine andere Ableitung der zweiten Gleichung an: Es sei ein Zeichen ,m ' verwendet , urn auf den markierten Zustand hinzuweisen, die Absenz eines Zeichens soli wie oben auch auf den unmarkierten Zustand hinweisen. Ein Kreis urn einen der beiden Indikatoren, also m oder die Absenz eines Zeichens, soli auf den jeweils anderen Wert als den innerhalb des Kreises hinweisen, der dann auBerhalb des Kreises geschrieben werden soIl. Substitution des Zeichens m durch den Kreis ergibt dann die zweite einfache (primitive) Gleichung. " FUr den zweiten Weg, die alternative Ableitung der ersten einfachen (primitiven) Gleichung, wird die Innen-AuBen-Unterscheidung verwendet und sonst keine weitere Unterscheidung von Raurnverhaltnissen. Urn das zu garantieren, sei ein blindes Tier nur mit dieser Unterscheidungsfahigkeit vorgestellt. Wenn nur dieses Unterscheidungsmuster zur Verfugung steht, dann kann nicht zwischen verschiedenen Anzahlen von innen unterschieden werden, wie es uns
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Es heiBt dort : " It is not necessary for the reader to confine his illustrations to the commands in
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the text. He may wander at will , inventing his own illustrations, either consistent or inconsistent with the textual commands." LoF :79 . Vgl. Notes zum zweiten Kapitel , LoF : 82f. und die Variationen des zwolften Kapitels.
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erscheinen mag, wenn wir zwei Kreise nebeneinander sehen. Das Tier kennt nur zwei Zustande, innen und auBen. So konnen zwei Kreise nicht von einem unterschieden werden und es gilt die erste einfache (primitive) Gleichung. Die zweite Variation deutet Spencer Brown in der Vorstellung der internationalen Ausgabe an. Dort heiBt es, dass der gesamte Text der Laws ofForm auf ein Prinzip reduziert werden konnte, namlich : .Kanon Null. Koproduktion. Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich. " Dazu erlautert Spencer Brown, dass die Unterscheidung aIs Grenze das Ding aIs auch das, was es nicht ist, erzeuge ." Der Hinweis , der dadurch gegeben wird, geht dahin, den Aufbau der Laws of Form uber die gegenseitige Abhangigkeit und die gIeichzeitige Entstehung von Etwas und dem , was es nicht ist, zu entwickeln . Ein solches Vorgehen baut auf das auf, was Spencer Brown die Operation der konditionierten Koproduktion nennt und auf die Umdeutung von ,nichts' . Daher kommen die vielen Bezuge auf ostasiatisches Denken."
52 53
Vgl. Vorstellung der intem ationalen Ausgabe , Spencer Brown 1997:ix. Vgl. ILA Kont exte der Laws a/Form.
Das dritte Kapitel: THE CONCEPTIO N OF CALCULATION
Tatjana Schonwalder-Kuntze
I. Titel (B) ,conception' . Das lateinische ,concipere' weist folgende Bedeutungen auf: ,Zusammenfassen' im Sinne von ,in eine Formel fassen ' oder aussprechen' bzw. ,ansagen' . Zudem kann es aufnehmen' , ,empfangen' , ,erkennen ' ,begreifen' oder ,sich vorstellen' heiBen. 1m Englischen hat es auch die Bedeutung ,ersinnen' und ,entwerfen' . ,calculation' meint sowohl die Tatigkeit des Rechnens selbst als auch das Resultat dieser Tatigkeit im Sinne einer abgeschlossenen Kalkulation. Der Titel des dritten Kapitels weist auf eine neue Tatigkeit hin, die in diesem Kapitel vorbereitet wird: es geht urn das Entwerfen des Berechnens. Dieser Entwurf besteht in einer Explikation des Prozesses, der notwendig ist, urn mit den beiden Gleichungen des zweiten Kapitels, die die Hinweismoglichkeiten auf die zwei Seiten der Form der Unterscheidung des ersten Kapitels formal darstellen, rechnen zu konnen, 2.lnhalt Das Hauptthema des dritten Kapitels ist die Tatigkeit, die beim Rechnen vollzogen wird: Der Prozes s des Austauschens (von aquivalenten Hinweisformen), der zusammen mit festgelegten Regeln den grundlegenden, operativen Aspekt der Berechnung bildet - die zweite Komponente des Rechnens bilden die dafur verwendbaren und dabei neu entstehenden Operanden. Die Regeln fur den Austausch und wie durch das Austauschen von Hinweisen neue Hinweiszeichen generiert werden durfen, wird in den vier Kanones dieses Kapitels festgelegt. 3. Die Schritte des Austauschens Die Aquivalenz von ,einfachen Ausdriicken', die als Hinweis auf eine der beiden Seiten der Form der Unterscheidung dienen , eroffnet die Moglichkeit fur den Austausch von ,arrangements ' mit aquivalenten ,arrangements '. Jeder Austausch solI, ein Schritt, ,a step' (LoF:8), genannt werden. Die ,steps' werden unter zweierlei Perspektiven betrachtet: nach der Art (kind) des Ausdrucks, der
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Tatjana Schonwalder-Kuntze
ausgetauscht wird und der so die Art des Austauschs selbst bestimrnt' und nach der Richtung, in der der Austausch vorgenommen wird . Die erste Perspektive betrachtet den ,step ' als Austauschprozess, in dem aquivalente ,arrangements' ersetzt werden . Hier liegt die Betonung auf dem, was ausgetauscht wird. Die zweite Perspektive legt hingegen die Betonung auf den Austauschprozess selbst, insofem dieser eine Richtung haben kann. Durch einen Austausch wird eine Reihenfo/ge hergestellt zwischen dem (dann) Ausgetauschten und dem Auszutauschenden, die als Darstellung auf einem Blatt Papier deutlich als Richtung gesehen werden kann. Je nachdem, welcher Ausdruck ausgetauscht wird, wird die Reihenfolge bzw. die Richtung verandert. Auf einem Blatt Papier soli "a barb in the sign indicate the direction of the change" (LoF :8). Beim Lesen so eines Austauschs vollziehen wir die Richtungsanderung wahrhaft mit, indem wir die Augen einmal von links nach rechts bewegen und einmal von rechts nach links. ,Step ' bezeichnet also den Austausch von wertgleichen Objekten oder Operanden in verschiedenen Richtungen, mithin den Prozess, aquivalente Ausdrueke oder ,arrangements' in einer von zwei Richtungen auszutauschen. 4. Die Kanones des Austauschens Der dritte Kanon "Convention of substitution" (LoF :8) expliziert, verallgemeinert und erweitert die Festlegung des zweiten Kapitels in Bezug auf aquivalente ,arrangements' : sie durfen gegeneinander ausgetauscht werden . Diese Art von Austausch ist keine neue Art, denn sie wiederholt nur die Festlegungen des ersten und zweiten Kapitels in Bezug auf aquivalente Hinweise . Aber mit der Konvention wird sein Anwendungsbereich verallgemeinert bzw. erweitert, weil jetzt die Ersetzung in jedem Ausdruck erlaubt wird. Der vierte Kanon "Hypothesis of simplification" (LoF:9) formuliert die Annahme oder Hypothese, dass der Wert eines ,arrangements' dem Wert eines einfachen Ausdrucks entspricht, durch den es ersetzt werden kann. Dadurch , dass es zwei verschiedene Arten von ,steps' gibt - je nachdem , welchen Wert die ausgetauschten Objekte anzeigen - , sind auch verschiedene Vereinfachungswege moglich , abhangig davon, mit welchem ,arrangement' der Austausch beginnt, und davon , durch welchen gleichwertigen, einf achen oder simp/en Ausdruck in einem ,arrangement' ausgetauscht wird. (SK) Notes, Chapter 3: "The hypothesis of simplification is the first overt convention that is put to use before it has been justified." (LoF:84) .
Die ,Art' eines ,steps' wird danach bcstimmt, ob durch ihn Ausdrucke ausgetauscht werden, die nach dem ersten odernach dem zwciten Axiom gebildet verden , vgl. LoF:9.
III. Kommentar - Das dritte Kapite1 : THECONCEPTION OFCALCULATION
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Dass tiber die verschiedenen Wege der Vereinfachung das gleiche ,arrangement' immer - letztlich - gegen den gleichen simp len Ausdruck ausgetauscht wird, wird erst im vierten Kapitel unter Theorem 3 bewiesen. Auch die Formulierung ,,In any expression, let any arrangement be changed ..." (LoF:8) des dritten Kanon und das Beispi el des vierten Kanon sind Vorgriffe auf die arithmetischen Moglichkeiten der beliebigen Erweiterung von ,arrangements' in und zu einem Ausdruck, die dann in Theorem I festgelegt werden. 5. Die Kanones der austauschbaren Hinweise oder Referenzen Der zweite und der funfte Kanon werden hier zusammengefasst erlautert, weil sie beide vorn Umgang mit Rejerenzen handeln. Der zweite Kanon , der am Anfang des dritten Kapitels steht, heif3t "Contraction of reference" (LoF:8); der funfte Kanon in der Mitte desselben Kapitels tragt den Titel " Expansion of reference" (LoF: 10). (B) ,reference' . Das englische ,reference' kann im Deutschen fur eine Empfehlung, ein Zeugnis, eine Verweisung, eine Anspielung, den Akt der Bezugnahme selbst, aber auch fur eine Beziehung, eine Auskunft oder fur einen Auskunftgeber stehen. Zusatzlich meint ,reference' auch dasjenige, worauf Bezug genommen wird, das Relatum . Das lateinische ,referre' tragt noch weitere Bedeutungen wie .uberliefem' , ,berichten', aber auch ,abliefem' oder ,unter etwas rechnen'. ,contraction' heif3t ,Zusammenziehung' ; in Bezug auf grammatische Phanomene bedeutet es auch ,Kurzform'. ,expa nsion' meint die ,Ausdehnung' im aktiven wie im passiven Sinne , d.h. ,sich aktiv ausbreiten' oder auch ,Weite' oder .Raumlichkeit' . Das lateinische ,expandere' meint neben ,ausbreiten' auch ,klar darlegen ' und .verkunden' . (I) Die Ubersetzung des Titels des zweiten Kanon konnte also etwa ,Kurzform der Verweisung' lauten. Er legt fest, dass die vier verschiedenen Aufforderungen, ein ,cross' zu konstruieren , es mit einem ,c ' zu markieren, ,c' seinen Namen sein zu lassen und dieses ,c' auf das ,cross' hinweisen zu lassen, in einer einzigen Aufforderung kondensiert werden sollen: "Take any cross c." (LoF:8). Dieses Zusammenziehen verschiedener Aufforderungen wird dahingehend verallgemeinert, dass aile Aufforderungen, etwas zu tun, soweit zusammengefasst werden sollen, dass es weiterhin moglich bleibt, sie nach zu vollziehen. Es geht also urn den Austausch von vielen Hinweisen gegen eine Kurzjorm, die ein zusammengezogener Hinweis ist, mit dem zu einem mehrteiligen Vollzug aufgejordert wird. Der funfte Kanon, dessen Titel zunachst ganz analog ,Ausdehnung der Verweisung' lauten konnte , meint aber die Moglichkeiten, durch den Austausch in
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,arrangements' immer neue Hinweise in Form von Ausdrucken herzustellen. Die neu entstehenden Ausdriicke bleiben aber eindeutige Hinweise, die immer nur auf eine der beiden Seiten hinweisen - seien sie als ,mark' oder als ,cross ' aufgefasst , d.h. als Name fur den ,markierten Zustand ' oder als Aufforderung, die Grenze in den markierten Zustand hinein zu uberschreiten. Die Moglichkeit, eine Kurzform als Referenz auf bestimmte Anweisungen zu schaffen , und die Moglichkeit, den Ref erenzcharakter auf viele Hinweiszeichen ausdehnen zu konnen , sind aber nicht einfach Umkehrprozesse: 1m ersten Fall werden verschiedene AufJorderungen derart zusammengezogen, dass in der Kurzform diese Verschiedenen in ihrer Bestimmth eit aujbewahrt bleiben. 1m FalIe der Generierung weiterer Hinweise wird die Referenz ausgedehnt, weil es zwar immer mehr, aber qualitativ gleichwertige Hinweise geben kann. Die beiden Kanones und der Begriff ,reference' beziehen sich demnach auf zwei verschiedene Objekte : auf Aufforderungen, etwas zu tun, und auf Hinweise auf einen der beiden Werte . D.h. ,reference' wird in zwei Bedeutungen verwendet: einmal wird mit einem Hinweis auf verschiedene Handlungsaufforderungen zugleich hingewiesen; und einmal wird mit vielen Hinweisen auf denselben Wert hingewiesen. 6. Vier Referenzformen aufzwei Werte Die ,form of condensation' und die ,form of cancelIation ' sind bereits als Formalisierung der Axiome aus dem zweiten Kapitel bekannt. Die beide zusammenfassende "form of reference" (LoF: 10) wird durch zwei neu hinzukommende erweitert, die sich aus der Moglichkeit der Richtung(sumkehr) der Austauschschritte ergeben : Zur Formalisierung des ersten Axioms kommt als Umkehrung die ,form of confi rmation" (LoF:10) hinzu. D.h., dass sowohl die austauschbaren ,einfachen Ausdriicke ' (simple expressions) als auch die beiden Austausch-Formen als Hinweis auf den markierten Raum dienen konnen, Sie werden unter ,number' zusammengefasst. Mit ,number' werden diejenigen Hinweise bezeichnet, deren Wiederholung nur immer wieder den gleichen Wert bezeichnet. Die Anzahl der Hinweisformen verandert sich zwar, aber das bedeutet nicht, dass deswegen ein anderer Wert bezeichnet wurde - so wie etwa jede beliebige Anzahl von Synonymen dennoch immer nur ein und dasselbe bezeichnet. Zur anderen Referenzform, die das zweite Axiom formalisiert, kommt als Umkehrung die ,form of compensation" (LoF:lO) hinzu . Beide betreffen die anderen Hinweise, die sich auf den ,unmarkierten Raum' beziehen. Sie werden mit ,order' bezeichnet. (B) ,order' heiBt ,Ordnung', ,Anordnung', aber auch ,Reihenfolge' und ,Befehl' , ,Regel' oder ,Vorschrift' .
III. Kommentar - Das dritte Kapitel: THECONCEPTIONOF CALCULATION
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(I) Mit ,order' werden diejenigen Hinweise bezeichnet, mit denen im Wiederho-
lungsakt auf etwas anderes hingewiesen wird als durch den der Wiederholung vorhergehenden Akt, also auf die zweite Seite des Unterscheidungsprozesses: Das einfache ,cross' kann sowohl als Name fur eine Seite als auch als Aufforderung zur Grenzliberschreitung gedeutet werden; das Doppelcross ist der Hinweis auf die wiederholte Grenzliberschreitung und damit auf die andere, nicht markierte oder nicht benannte Seite. Dafur bedarf es aber einer Reihenfolge der Grenzliberschreitungen: hinein in den (benannten oder markierten) Inhalt und wieder hinaus. Dann ,bezeichnet' die zweifache Uberschreitung den unmarkierten Zustand. Wegen der impliziten, aber notwendigen Reihenfolge wird die zweite Art von Hinweisformen ,order' genannt. 7. Austausch von Formen als Rechnen und als Gleichung "Call calculation a procedure by which, as a consequence of steps, a form is changed for another, and call a system of constructions and conventions which allows calculation a calculus." (LoF:11). Der geregelte Austausch von Formenseien es simple Formen oder Referenzformen - heiBt ,a calculation'; und ein System, das so einen Austausch erlaubt, wird ein Kalkul (calculus) genannt. (B) Mit ,calculus' wird im Englischen auch der zweiteilige Ast der Mathematik bezeichnet, der es mit variablen Quantitaten zu tun hat: die differenziale und die integrale Algebra, d.i. die Analysis. Mit dem Abschnitt ,calculus' ist das eigentliche Thema des dritten Kapitels beendet: das Austauschen von aquivalenten ,arrangements' in je einer von zwei moglichen Richtungen ist die prozessuale Tatigkeit, die Rechnen heiBt. 1m folgenden Abschnitt ,Initial' werden dann die Basisgleichungen aus dem zweiten Kapitel und das geregelte Austauschen zusammengefuhrt, indem die vier verschiedenen Referenzformen, die sich aus den verschiedenen Austauschmoglichkeiten eines ,steps' ergeben haben (zwei Werte / zwei Richtungen), als Formen definiert werden , die in einem gegebenen "set of equations" (LoF:II) gesehen werden konnen. D.h., die bereits im zweiten Kapitel entwickelten Referenzformen bestimmen, welche Art Austausch eriaubt ist - der Austausch nicht aquivalenter ,arrangements' ist nicht erlaubt. Die Referenzformen bzw. Gleichungen, die verwendet werden, urn die erlaubten Austauschformen zu bestirnmen, werden lnitialgleichungen des Kalkuls genannt. Der Kalktil, der aus den beiden primitiven Basisgleichungen durch den geregelten Austausch ihrer Operanden entsteht, soli Kalkul der Hinweise heiBen;die unmittelbaren Ableitungen aus diesen Initialgleichungen bilden die Primare Arithmetik der Laws ofForm .
liS
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Ruck- und Ausblick: Das dritte Kapitelsteuert die zweite notwendige Grundkomponente zum Rechnen bei : den Prozess des Austauschens. Rechnen besteht so aus zwei Tei!en: aus dem, womit gerechnet wird und aus dem, wie gerechnet werden dar! Spencer Brown leitet das ,wie' aus den formalisierten Axiomen als Hinweisformen ab, indem er die Aquivalenz zweier ,arrangements' als Moglichkeit, sie gegeneinander auszutauschen, deutet. Die Initialgleichungen haben daher einen erweiterten Charakter gegenuber den Referenzformen: sie ,beinhalten' je zwei Referenzformen und drucken damit die Irrelevanz der Reihenfolge des Austausches aus.' Das Gleichheitszeichen in den Initialgleichungen hat somit eine weitere Funktion hinzugewonnen: es zeigt nicht nur die Wertgleichheit seiner beiden Seiten an - unabhangig yom je spezifischen Wert -, sondem in ihm sind auch die erlaubten Austauschprozesse ,zusammengezogen' - damit stellt es selbst einen Anwendungsfall des zweiten Kanons dar. Der erlaubte Austauschprozess, der in diesem Kapitel vorgestellt wird, ist zudem eine Explikation der beiden Axiome . Diese bestimmen, welche Regeln gelten solien, wenn Hinweisarten iteriert, d.h. wiederholt werden . Durch die Werterhaltung trotz Wiederholung im ,law of calling' wird die Moglichkeit geschaffen, zwei oder mehrere Hinweise an sich selbst als aquivalent zu betrachten, wei! sie die gleiche Bedeutung haben . Wenn zwei Hinweise aber auf ein und dasselbe hinweisen bzw. die gleiche Bedeutung haben, dann konnen sie beide gleichermafien verwendet werden - und sind daher austauschbar. In Bezug auf das erste Axiom scheint das auf den ersten Blick trivial, insofern graphisch wie sprachlich identische Zeichen oder Namen in der Regel auch dieselbe Bedeutung aufweisen . Es gibt jedoch ausreichend Beispiele, bei denen aus der graphisch fixierten Wiederholung des Zeichens eine andere Bedeutung erwachst: So ist , I l' keineswegs dasselbe wie ,1 ' - was sich durch die phonetische Unterscheidung auch zeigt.' Die Formalisierung des ersten Axioms in der ,form of condensation' formuliert demnach , dass durch die Wiederholung oder das ,recall' ein aquivalentes Hinweiszeichen generiert wird ." Die Wiederholung wird so als innerer, aber irrelevanter Zusammenhang zwischen den beiden gleichwertigen Namen formalisiert. Daraus ergibt sich die Moglichkeit , sie gegeneinander auszutauschen. Das zweite Axiom hingegen legt fur die zweite Hinweisart fest, dass mit der ,Wiederholung' des Hinweises keine Werterhaltung einhergeht, sondem dass das zweite ,crossing' eine andere Bedeutung haben soli als das erste, auch wei! Vgl. LoF:12. Ich danke Stephan Packard fur das Beispiel. Das hieBc fur o.g. Beispiel, dass die Wiederholung formal wic folgt wieder gegeben werdcn musste: , 1' , 1' oder auch I, I. In jedem Fall musste die Notation deutlich machen, dass cs sich urn die Wiederholung des Hinweises handclt und damit die Bezeichnung eines anderen Wcrtc s ausgeschlossen ist.
III. Kommentar - Das dritte Kapitel : THE CONCEPTION OF CALCULATION
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es auf einen anderen Zustand hinweist. 1m Gegensatz zum ersten Axiom besteht also kein irrelevanter Zusammenhang zwischen den beiden Hinweisen, d.i. ,crossings' . Die Formalisierung des zweiten Axioms in der ,form of cancellation' formuliert aber - ebenfalls im Gegensatz zum ersten - nicht den durch Wiederholung hergestellten inneren Zusammenhang zwischen den beiden ,crossings' , sondern hier wird formal dargestellt, dass mit dem Doppelcross auf etwas anderes hingewiesen wird; dass das Doppelcross als Hinweis an sich selbst einen anderen Wert hat, mit einem anderen Ausdruck aquivalent ist.' Da dieses andere aber nur die Seite in einer Form der Unterscheidung sein kann, von der zunachst ausgegangen wurde, von der aus die erste Uberschreitung vorgenommen wurde, weisen Doppelcross oder ,void' immer auf die Seite hin, auf die die erste oder einfache Oberschreitung nicht hinweist. Das arithmetische Rechnen bestelit so in der Erlaubnis , Hinweiszeichen, die auf das gleiche hinweisen (Namen und einfache Uberschreitungen oder Doppelliberschreitungen und ,kein Zeichen') und die deshalb auch aquivalent sind, untereinander auszutauschen. Die Initialgleichungen drucken aus, welche Hinweiszeichen durch die Axiome als aquivalent bestimmt wurden.
Zur Erinnerung: Zu den ,simple expressions' zailt auch "the one absence ofform", LoF:6.
Das vierte Kapitel: THE PRIMARY ARITHMETIC
Tatjana Schonwalder-Kuntze
I. Titel (B) ,primary' bezeichnet im Englischen einen Vorrang in verschiedenen Hinsichten: zeitlich, strukturell oder auf Entwicklung bezogen. So ist mit dem ,primary meaning of a word ' seine erste und urspriingliche Bedeutung - nicht seine haufigste - gemeint. Die drei Grundfarben, rot, gelb und blau , heil3en ,primary colours' . ,arithmetic' ist die Rechenkunst, sie bezeichnet die Wissenschaft der Zahlen und das Arbeiten mit Zahlen. Das lateinische ,arithmetica' ist aus dem griechischen upl8/lTJttKU libemommen und heil3t dort auch Reihe(nfolge). So konnen anstelle der Zahlen auch Nummem gemeint sein, die blol3 eine Anzahl von Gleichwertigem meinen und nichtje verschiedene Werte , wie die Zahlen. (I) Mit dem gewahlten Namen Primdre Arithm etik fur den ersten Kalkul wird sowohl auf seine eigene Entwicklun g hingewiesen, als auch darauf, dass dieser Kalklil die urspriinglichste Bedeutung des Begriffes ,Arithmetik' zum Ausdruck zu bringen vermag: Durch ,Berechnung' kann eine Anzahl oder Quantitat qualitativ gleichwertiger Hinweisformen generiert werden, so dass es hier nicht urn die Generierung von Zahlen geht - wie das erste Theorem dieses Kapitels zeigt.
2. Inhalt Die Grundkomponenten der Primaren Arithmetik sind in den letzten Kapiteln vorgestellt worden: das, wornit gerechnet werden darf, die Operanden, und die Art und Weise, wie gerechnet werden darf, der geregelte Austauschprozess. Die stellen den Zusammenhang Initialgleichungen 11: I I = l u n d 12:11 = der beiden Komponenten formal dar. Die Operanden der Basisgleichungen stehen in der Primaren Arithmetik fur konkrete Werte, so dass die austauschbaren ,arrangements' in den Gleichungen nach wie vor auf eine der beiden Seiten der ersten Unterscheidung hinweisen. Die Berechnungen der Primaren Arithmetik bestehen in den durch die Kanones erlaubten, unmittelbar ableitbaren, d.h. durch Austausch generierten, erweiterten oder verringerten Ausdriicken ihrer Initial- bzw . Basisgleichungen.
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Diese Berechnungen vorzuftihren oder darzustellen ist aber nicht das Anliegen des vierten Kapitels; vielmehr werden allgemeine Muster herausgestellt, die als Theoreme formuliert werden. Diese Muster betreffen bestimmte Eigenschaften derides formalen Zeichen(s), insofem sie Hinweiszeichen im Austauschprozess und Operand sowie Resultat des Austauschprozesses sind , insofem also mit Zeichen und an ihnen ein Austausch vollzogen wird, d.h. mit ihnen gerechnet wird. 3. Eigenschaften der Zeichen als Theoreme Das vierte Kapitel beginnt mit folgender Aufforderung: "We shall proceed to distinguish general pattems, called theorems, which can be seen through formal considerations of these initials ." (LoF :12). Theoreme bezeichnen allgemeine Muster, die durch formale Betrachtungen an den Initialgleichungen erkannt werden konnen. Hier werden latente Eigenschaften der verwendeten Zeichen in Gleichungen explizit formuliert, insofem die Zeichen als Ausdrticke einmal die Funktion haben, auf die Seiten einer Form der Unterscheidung hinzuweisen; insofem sie zum zweiten Operanden des Austauschprozesses sind; und insofem sie drittens Resultate von Austauschprozessen sind. Theoreme werden also nicht aus den Axiomen abgeleitet, sondem sie formulieren, was mit den Zeichen in einem Rechenprozess passiert, was sich an ihnen zeigt, wenn mit ihnen Austauschschritte vollzogen werden. Da die beiden Initialgleichungen die erlaubten Rechenprozesse darstellen - Austausch der Zeichen oder Ausdrucke unter Beibehaltung des Wertes , auf den sie hinweisen, den sie haben - sprechen Theoreme allgemeine Muster aus, die ,an den lnitialgleichungen' erkannt werden konnen. Sie sind allgemeine Muster der verwendeten Zeichen im Austauschprozess, wei! sie jeden erlaubten Rechenprozess immer begleiten : denn ohne Zeichen konnte gar kein Rechnen statt finden . Die Theoreme gehoren also zu einem metasprachlichen Diskurs tiber die verwendeten Ze ichen in einem Rechenprozess und somit nicht zum Rechnen selbst. 4. Die Klassifikation der Theorerne' Die neun Theoreme der Primaren Arithmetik werden nach ihrer Funktion klassifiziert: So heil3en die ersten vier Theoreme Reprasentationstheoreme, da sie den Gebrauch der Primaren Arithmetik als System von Hinweisen auf die unterschiedenen Seiten der ersten Unterscheidung rechtfertigen und festlegen. Die Theoreme 5 bis 7, die Prozessualen Theoreme, bestatigen einerseits die Regeln des Austauschprozesses, die sich durch das Gleichheitszeichen zusammengefasst darstellen lassen . Andererseits werden die Eigenschaften der Zeichen oder Ausdrucke hervorgehoben, die aus ihrem Operandendasein folgen . Vgl. den Abschnitt ,A classification of theorems ' am Ende des vierten Kapitcls, LoF:24.
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Mit den Reprasentations- und den Prozesstheoremen wird expliziert und ex post bewiesen, was im ersten , zweiten und dritten Kapitel gemacht oder vorgefiihrt wurde. Das ist zum einen die Verwendung von verschiedenen Hinweisformen als Hinweise auf die zwei Seiten der ersten Unterscheidung und sind zum anderen die Moglichkeiten, die durch die Austauschbarkeit solcher Formen, sofem sie dquivalent sind, geboten werden . Die Theoreme 8 und 9 heil3en Anschlusstheoreme, weil sie das Spezifikum der Algebra, mit Variablen rechnen zu konnen, aus den Anordnungsmustem arithmetischer Ausdriicke, die durch Rechenprozesse generiert werden, vorbereiten. Sie leiten damit von der Arithmetik in die Algebra tiber und bezeugen das stetige Hervorgehen der Algebra aus der Arithmetik. 5. Die Reprasentationstheoreme Mit den ersten zwei Reprasentationstheoremen werden zwei grundsatzliche, allgemeine Eigenschaften der verwendeten formalen Zeichen, also des Hakens' und der aus ihm generierbaren Ausdriicke, expliziert und nachgewiesen: we/che Hakenanordnungen tiberhaupt als Ausdruck oder Hinweis gelten , und war auf ein einzelner Haken hinweist. Die Theoreme 3 und 4 explizieren und beweisen hingegen zwei spezifische Eigenschaften, die erst durch die Verwendung im Austauschprozess virulent werden, d.i. die Moglichkeit der Vereinfachung eines Ausdruckes - bis sein spezifischer Wert sichtbar wird - sowie die Werterhaltung im Austauschprozess. Die ,Eigenschaften', die die Theoreme formulieren und die bewiesen werden, sind solche, die den Zeichen dadurch zukommen , dass sie so verwendet werden , wie es im zweiten Kapitel bestimmt worden ist. Dort wird diese Verwendung aber lediglich eingefuhrt, wahrend sie hier als konsistent bewiesen und allgemein erlaubt wird. "Theorem l. Form" (LoF: 12) formuliert, dass jede beliebige endliche Anzahl von ,crosses' als ein Ausdruck gelten kann. In diesem Theorem wird expliziert, was mit einem Ausdruck passiert, wenn von einem simp/en Ausdruck ausgehend gerechnet wird, d.h. wenn durch den Austausch gleichwertiger ,arrangements' neue Ausdrucksformen generiert werden . Der Ausdruck verandert seine aujJere Form. Jede solchermal3en veranderte Form eines Ausdrucks darf dann als Ausdruck verwendet werden . So wird hier theoremhaft erlaubt, wow im zweiten Kapitel unter ,arrangement' in Bezug auf ,token' und unter ,Relation' in Bezug auf ,crosses' aufgefordert wurde: die Wenn im Foigenden statt der in den Laws of Form verwendeten Bezeichnung .mark' oder .cross' von .Haken' die Rede ist, dann urn darauf hinzuweisen , dass die Eigenschaften, die in den Theoremen formuliert werden, fur beide Verwendungsweisen des Hakcns gelten.
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Zusammenstellung von Zeichen als einen zusammenhangenden Ausdruck, als eine Form zu betrachten. In der Formulierung "The form ofany finite cardinal number ofcrosses ..." (ebd. Hvhb . T.S.) steckt der Hinweis, dass mit ,Arithmetik' hier nicht das Rechnen mit Zahlen, sondem mit einer Anzahl von Hinweisen gemeint ist, die aber zusammengenommen aile auf den selben Wert hinweisen. Beispielsweise unterscheidet sich der erste Baum in einer StraBe von dem dritten Baum nicht in Bezug auf sein Baum-sein, sondem nur in der Reihenfolge. Diese wird hier aber nicht als relevanter Unterschied gesehen .'
(I) Der Name des Theorems Form ist damit motivierbar, dass jede Kombination des formalen Zeichens als eine Form, als zusammenhangend betrachtet werden soil und dam it, dass dies fur die Hinweise auf beide Seiten der Form der ersten Unterscheidung gilt. Schliel3lich ist hier auch der vierte, implizite Aspekt mitgemeint, insofem ein Ausdruck einer aulseren Begrenzung bedarf, durch die eine Ansammlung von Haken als ein Ausdruck definiert wird. Auf einem Wilrfel musste man beispielsweise noch deutlich machen, ob er auf jeder Seite beschriftet werden darf oder nicht.' Das Theorem macht also die vier Aspekte der Form der Unterscheidung an den verwendeten Hinweiszeichen explizit: ihren inneren Zusammenhang, die beiden Seiten, auf die sie hinweisen konnen, und den notwendigen impliziten Kontext, durch den sie als ein Zeichen gesehen werden konnen, Auf diese Weise zeigt sich, dass die verwendeten Zeichen - als Ausdrucke - auch den Charakter einer Form der Unterscheidung haben. Der Beweis des ersten Theorems verwendet das bisher explizit Erlaubte: jedes denkbare ,arrangement ' aus jeder Anzahl von ,crosses' kann aus einem ,einfachen Ausdruck' durch ,steps' unter Verwendung der Initialgleichungen generiert werden. Bewiesen wird das tiber eine Vereinfachungsprozedur, d.h . unter Zuhilfenahme der ,hypothesis of simplification' aus dem dritten Kapitel: Wenn eine beliebige Zusammenstellung auf einen einfachen Ausdruck reduziert werIn der Mengentheorie werden Kardinalzahlen von Ordinalzahlen unterschieden: wahrend Ordinalzahlen die genaueAnordnung oder Reihenfolge der Elemente in einer Menge angeben, geben Kardinalzahlen die Anzahl der Elemente einer Menge an. Der Unterschied zwischen beiden kommt allerdings erst im indefiniten Bereich zum Tragen , im definiten Bereich sind sie gleich. Kardinal- und Ordinalzahlen bezeichnen demnach verschiedene Ordnungsmuster, die zur Beschreibung von Mengeneigenschaften dienen. Ich danke Karl-Georg Niebergall fur diesen Hinweis. (SK) In den Notes weist Spencer Brown daraufhin, dass das Theorem nicht wahr ist, wenn die Au sdrucke nicht auf einer flachen Oberflache geschrieben stehen . Urn es auf anderen Unterlagen wahr zu machen, musste man expliziter sein , vgI. LcF:85.
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den kann, dann kann auch eine beliebige Zusammenstellung aus einem einfachen Ausdruck generiert werden. Die Prozedur (procedure) der Vereinfachung wird dann in allgemeiner Form beschrieben: In einem beliebigen ,arrangement ' a sollen vom tiefsten Raum aus die ,initialen' Austausch-Schritte zum Zwecke der Vereinfachung des Ausdrucks angewendet werden, bis die Prozedur zu einem einfachen Ausdruck fUhrt. Dies wird fur aile moglichen Typen von Fallen durch Fallunterscheidung vorgefuhrt. Das folgende "Theorem 2. Content" (LoF: 13) formuliert eine weitere, bereits im zweiten Kapitel unter ,Operation' angesprochene ,Eigenschaft' des Zeichens: dass der Wert des Raumes oder der Form, in dem das ,cross' steht, der markierte Zustand ist. 5 (I) In diesem Theorem wird die Semantik des ,cross' expliziert und damit werden die beiden Bedeutungen des einen formalen Zeichens zusammengeflihrt: als Mark hat der Haken die Funktion, auf eine der beiden Seiten hinzuweisen ohne Festiegung auf welche ." Als ,cross' hat der Haken die Bedeutung einer Aufforderung oder einer Absicht in diesen Ausdruck hinein die Grenze zu uberschreiten. Das Theorem heif3t lnhalt, wei I hier das Muster herausgestellt wird, dass der Haken auch als ,cross' die Funktion eines Namens hat , d.h . immer auf den Inhalt, in dem es steht, hinweist - bisher war das ,cross' nur als Zeichen fur eine Aufforderung, d.h. als Operator und nicht als Operand bestimmt worden. Die folgenden zwei Theoreme gelten den Eigenschaften des Rechenprozesses, die in der Vereinfachungshypothese des vierten Kanons vorgeschlagen wurden: der konsistenten Vereinfachung und Erweiterung. Aus den Notes geht hervor, dass die gewahlte Reihenfolge, in der sie in den Laws of Form dargestellt werden , gleichgiiltig ist, wei! sie "symmetrical" (LoF:86) sind, denn sie zeigen beide die Konsistenz des Kalklils, einmal im Sinne der Vereinfachung (Theorem 3) und zum anderen im Sinne des Aufbaus komplexer Ausdriicke aus einfachen (Theorem 4) .
In "Theorem 3. Agreement" (LoF: 14) wird expliziert, dass der simplifizierende Austausch, d.h . der Prozess der Vereinfachung immer eindeutig ist, dass also die Reduktion eines Ausgangsausdruckes immer zu ein und demselben simplen
1mzweiten Kapitel heiBtes unter .Operation' , dass ein Zustand sowohl mit einem namenhaften als aueh mit einem aufforderungshaften .token' markiert werden kann. Hier wird gezeigt, dass das auch gemacht werden dar! Festgelegt wird im zweiten Kapitel nur, dass "a space with no token indieate[s] the unmarked state.", LoF:5.
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Ausdruck fiihrt: entweder zum leeren Haken (empty token) oder zum leeren Ausdruck . (I) Der Name des Theorems lautet ,agreement', denn es macht auf verschiedene Ubereinstimmungen aufmerksam: Erstens die Ubereinstimmung der Werte, aufgrund derer der Austausch stattfinden darf. Zweiten s kommt man iiberein, den Austausch so und nicht anders stattfinden zu lassen : Zusammenfassungen oder Reduzierungen miissen eindeutig sein, d.h. sie diirfen nur vorgenommen werden , wenn sie immer zum gleichen Resultat fiihren, wenn vor und nach der Reduzierung der gleiche Wert angezeigt wird. Das Allgemeine der Vereinfachung besteht sowohl darin, dass sie, je nach Ausgan gs- ,arrangement' , zu beiden simplen Ausdriicken ftihren kann als auch darin, dass beliebige Ausdriicke simplifizierbar sind. "Theorem 4. Distinction" (LoF :18) formuliert gleich zwei Eigenschaften des Rechnens . Einerseits steckt im Titel eine Geltungsbedingung der Vereinfachung : Wenn die Simplifizierung ftir zwei Moglichkeiten auf einen Wert hinzuweisen gilt, muss auch garanti ert werden , dass es nicht zu Verwechslungen kommt, d.h. dass die Untersche idung auch erhalten bleibt , wenn die Hinweise zu Operanden in einem Austauschsystem werden. Es muss garantiert werden , dass durch den Austausch - egal in welche Richtung - keine Verwechslung der zwei Seiten der ersten Unterscheidung zustande kommt. 7 Andererseits wird hier die gegenla ufige Richtung des Austausches hervor gehoben: die (Komplexitats-)Erweiterung von Ausdriicken , als weitere Unterscheidungen innerhalb der ersten Unterscheidung, muss ebenfalls eindeutig sein. Die ersten vier Theoreme der Laws ofForm formulieren und weisen nach , dass jede beliebige, endlich e Anzahl des formalen Zeichens - des Hakens - als Ausdruck verwendet werden kann, dass sie eine Form bildet; dass ein ,empty cross ' auf den markierten Zustand hinweist und dass die Austauschprozesse eindeutig sind, d.h. nicht zu Konfu sionen fuhren. Damit zeigen sie auf, dass mit den Ausdriicken, die durch die Austauschprozesse generiert werden konnen, auf die beiden Seiten der ersten Unterscheidung vollstandig und konsistent hingewiesen werden kann. Die erste Unterscheidung ist auf diese Weise reprdsenti erbar. Die folgenden drei Theoreme explizieren die Eigenschaften der Austauschprozesse, insofern aquivalente Hinweise ausgetauscht werden diirfen.
Vgl. Abschnitt "Consistency", LoF :19.
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6. Die Prozessualen Theoreme Die Theoreme 5, 6 und 7 zeigen weitere Muster , die sich erst durch die Verwendung von Zeichen im Austauschprozess ergeben. Der ambige Gebrauch des Gleichheitszeich ens bringt sie zum Ausdruck , da zwei A usdriicke sowohl in Bezug auf ihre iiuj3ere Form als auch in Bezug auf die Werte, auf die sie hinweisen , gleichgesetzt werden konnen. Das siebte Theorem fasst diese beiden Aspekte des Gleichheitszeichens als Folgerung zusammen. In "Theorem 5. Identity" (LoF:20) wird gezeigt , dass ikonographisch identische Ausdrucke, d.h. dass sie die selbe auliere Form haben , den gleichen Wert anzeigen - im Gegensatz zum zweiten Kapitel, in dem Ausdrucke aquivalent genannt werden, die von identischem Wert sind.' Der Beweis? des Theorems geht tiber die bislang explizierte Verwendung der Aquivalenz, d.h. der Wertgleichheit hinaus: wenn ein Ausdruck ausgetauscht wird, verandert er seine auBere Form, aber nicht seinen Wert. Durch einen Richtungswechsel im Austauschprozess kann ein Ausdruck gleicher bzw. identischer Form generiert werden, der ebenfalls den gleichen Wert anzeigt. Das bedeutet, dass auch formgleiche bzw. identische Ausdrucke wertgleich sind. Diese Aquivalenz zweier identisch er Ausdrucke ist eine Eigenschaft der Zeichen, die sich aus ihrer spezifischen Verwendung im erlaubten Rechenprozess erst ergibt. (I) Mit diesem Theorem wird eine Eigenschaft des Gleichheitszeichens herausgestellt , die' nicht selbstverstandlich ist. Ein Beispiel aus der Linguistik soli das ilIustrieren: Wahrend im zweiten Kapitel die Verwendung des Gleichheitszeichens durch den Wert bestimmt wird, denn es zeigt eine Aquivalenz an - so wie der bezeichnete Gegenstand die Synonymie der beiden Namen ,Orange' und ,Apfelsine' bestimmt " -, wird in diesem Theorem hervorgehoben, dass durch den erweitemden oder simplifizierenden Austausch von Zeichen die Gleichheit auch in Bezug auf auBerlich identische Formen gilt. Damit wird eine Doppeldeutigkeit als mogliche Eigenschaft identischer Formen ausgeschlossen. Zugleich bestatigt dieses Theorem auch die lrrelevanz einer wiederholten Namensnennung in Bezug auf den angezeigten Wert: Die wiederholte Verwendung eines Namens, d.i. einer identischen iiuj3eren Form, weist nur immer wie-
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Vgl. Abschnitt "Equivalence", LoF:5. In den Laws of Form wird zwischen Beweisen (proofs) und anschaulichen oder nachahmbaren Darstellungen (demonstrations) unterschieden . Der Unterschied besteh darin, dass .proofs ' eine Einsicht fordem , die nicht durch stures Nachmachen generierbar ist; sie haben etwas Heurekahaftes, und wer sie nicht sieht, dem kann in gewisser Weise auch nicht dabei geholfen werden , vgl. ausfuhrlicher dazu den Komment ar zum sechsten Kapitel. Der Gegenb egriff ware Homon ym: Hier ist die Gestalt gleich, aber der Inhalt bzw. der Sinn verschieden: Das Wort .Bai k' hat die Bedeutung ,Sitzgelegcnheit' und ,Geldinstitut' _
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der auf denselben Wert hin. Wobei zu beachten ist, dass mit ,eine identische aufsere Form haben' eine identische Form gemeint ist. Die Identitat bezieht sich auf die Formgleichheit: ,2 ' als Name ware also identisch mit ,2 ' ; nicht aber mit ,22' , da hier eine andere Form , d.h. ein anderer Wert und damit ein anderer Name im Spiel ist. Die Wiederholung bezieht sich auf den angezeigten Wert , nicht auf das Zeichen an sich: die Wiederholung von ,2 ' ware also schriftlich mit ,2, 2' wiederzugeben, da jede ,2' als ein Name wiederholt wird , wahrend ,22' ein anderer Name ist, der zufallig aus zwei gleichen graphischen Zeichen besteht. Kurz: Theorem 5 besagt, dass Formgleichheit Wertgleichheit bedeutet. "Theorem 6. Value" (LoF:20) expliziert und bestatigt hingegen, dass auch Ausdrucke, die nur denselben Wert ausdrticken, identifizierbar sind, d.h . fureinander stehen konnen . Der Beweis verlauft wiederum tiber die Durchftihrung zweier Austauschprozesse, die beide zum selben simplen Ausdruck fuhren, der ja immer nur einen Wert anzeigt. Da beide Ausdrticke diesen Wert reprasentieren, konnen sie, obwohl sie verschiedene Formen haben, miteinander identifiziert werden . Der Wert wird so als Identifikationskriterium bestatigt, "Theorem 7. Consequence" (LoF:21) formuliert eine Foigerung aus den beiden vorhergehenden Theoremen: wenn zwei Ausdrucke mit einem dritten, (mit sich) identischen Ausdruck aquivalent sind, dann sind sie es auch untereinander.
(I) Der Beweis zeigt, inwiefem hier nicht nur tiber Foigerungen gesprochen wird - wie der Titel vermuten liefle - , sondem dass auch eine Foigerung formuliert ist: Wenn Ausdruck x mit Ausdruck v wertgleich ist (nach T6) und wenn Ausdruck y mit Ausdruck v wertgleich ist (nach T6) , dann reprasentieren beide Ausdrticke v in beiden Pramissen den selben Wert (nach T5) und daraus folgt , dass Ausdruck x mit Ausdruck y wertgleich ist (T7). Die drei prozessualen Theoreme explizieren ebenso wie die erst en vier Theoreme allgemeine Muster, also weitere Eigenschaften der Hinweiszeichen, insofem diese in einem Austauschprozess verwendet werden. Das betrifft erstens den Nachweis, dass aufgrund der Austauschregeln Formgleichheit bzw . Identitat auch Wertgleichheit bzw . Aquivalenz bedeutet; dass zweitens bei vorliegender Wertgleichheit auch formverschiedene Ausdrucke identifizierbar sind; und dass drittens daraus das Transitivgesetz gefolgert werden kann . Das Transitivgesetz, das in Theorem 7 formuliert wird, ist daher eine durch den Austauschprozess erworbene Zeicheneigenschaft, die aus T5 und T6 gefo lgert werden kann: Die Aquivalenz zweier Ausdrticke mit einem dritten Ausdruck zeigt nach T6, dass sie beide mit diesem dritten identifizierbar sind; da der dritte Ausdruck in beiden Austauschprozessen formgleich, d.h. mit sich identisch ist, ist er auch mit sich wertgleich und daher sind es auch die beiden
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anderen. Folgerichtig konnen also zwei fonnverschiedene Ausdriicke iiber die Wertgleichheit mit demselben dritten Ausdruck mittelbar identifiziert werden, obwohl sie nicht direkt auseinander generiert werden. In den folgenden zwei Anschlusstheoremen werden allgemeine Muster der durch Austauschprozesse generierten Ausdrucke, d.h, in den Rechenresultaten vorgestellt. 7. Die Anschlusstheoreme Die Theoreme 8 und 9 explizieren Eigenschaften oder Muster der beiden arithmetischen Initialgleichungen, die sich nicht auf die verwendeten Zeichen als Hinweisfonnen und auch nicht als Operanden des Austauschpro zesses beziehen , sondem auf Eigenschaften, die sie als Resultate eines Austauschprozesses ausweisen. Das achte Theorem thematisiert eine bestimmte Form oder eine Anordnung, die immer auf den ,unmarked state' hinweist. Das neunte Theorem expliziert keinen spezifischen Wert einer bestimmten Anordnung, sondem (nur noch) eine allgemeine Aquivalenz zweier Anordnungen - unabhangig davon, welchen gleichen Wert sie bei einer konkreten Belegung der Buchstaben reprasentieren wiirden. Da beide Theoreme (Anordnungs- )Aquivalenzen explizieren, sind sie als Gleichungen darstellbar. Die Allgemeinheit dieser beiden Muster liegt in der Jrrelevanz der konkreten Werte, die die (Teil-LAusdrucke haben - weshalb diese (Teil-)Ausdriicke durch Buchstaben dargestellt werden konnen. Relevant ist hingegen die spezifische Anordnung oder der innere Zusammenhang der Teilausdriicke in den hier vorgestellten Formen. "Theorem 8. Invariance " (LoF:22) besagt, daB die Anordnung der Ausdriicke p in der Form J)lpl in jedem Fall aquivalent ist mit dem Hinweis auf eine bestimmte Seite, d.h. mit dem leeren Ausdruck, gleichgiiltig ob p fur einen Ausdruck steht, der durch einen leeren Ausdruck, oder fur einen, der durch ein ,empty cross' ersetzt werden kann. Das Muster, das durch die Gleichung ausgedruckt wird, besteht also darin, dass eine bestimmte Anordnung von Teilausdrucken dazu fuhrt, dass der gesamte Ausdruck aquivalent ist mit dem Hinweis auf den unmarkierten Zustand. (I) Durch den geregelten Austausch im Rechenprozess ergeben sich demnach Ordnungsmuster zwischen einzelnen Teilausdriicken eines Ausdrucks, durch die der Wert des Teilausdrucks irrelevant wird. Die Variabilitat der Teilausdriicke ist somit eine Eigenschaft bestimmter Rechenresultate, die aus dem geregelten Austausch aquivalenter Hinweiszeichen generiert werden . Theorem 8 fonnuliert ein Muster, das dem ,leeren Ausdruck' aquivalent ist, das daher auch als Hinweis auf eine bestimmte Seite gewertet werden kann.
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Der Name des Theorems IiH3t sich durch folgende Uberlegungen motivieren: Wenn innerhalb eines Kontextes (s.) etwas (Sn+2) von etwas (Sn+l) unterschieden wird, obwohl beide ,denselben Raum durchdringen', also Hinweis auf dieselbe Seite sind , dann - konnte man sagen - entspricht der Wert dieser Unterscheidung dem Wert des leeren Ausdrucks. Mit ,invariance' wird hervorgehoben, dass das Verhaltnis, oder die Anordnung, oder der Zusammenhang auf der einen Seite der Gleichung invariant ist, weil er immer dem ,Ieeren Ausdruck' aquivalent bleibt. Das gilt unabhangig von dem Wert des Ausdrucks, fur den der Buchstabe verwendet wurde . Das Anordnungsmuster, das "Theorem 9. Variance" (LoF:22) zeigt formal , dass die Anordnung zweier variabler Ausdriicke mit einem dritten variablen Ausdruck mit einer anderen Anordnung aquivalent ist:
prJ qrll = p1 qll r Es gibt also eine bestimmte Anordnung dreier Ausdriicke p, q und r, bei denen der Wert der Anordnungen selbst, abhangig vom Wert der angeordneten (Teil-) Ausdrucke, immer derselbe bleibt. (I) Der Name , Varianc e' laBt sich aus der Moglichkeit ableiten , dass beide Anordnungen entweder Hinweise auf die eine Seite oder auf die andere Seite der ersten Unterscheidung sein konnen - abhangig von der jeweiligen Teilbelegung ihrer Buchstaben. Invariant ist nur, dass beide Anordnungsmuster aquivalent sind. Das wird durch die Gleichung dargestellt.
8. Die Dominanz des markierten Zustandes Neben den neun Theoremen wird im vierten Kapitel der sechste Kanon formuliert, der Theorem 2 und 3 zusammenfasst: die ,ru le of dominance' (vgl. LoF: 15). Diese besagt, dass der Wert eines Ausdrucks der markierte Zustand ist, wenn wenigstens einer seiner Teilausdriicke, die im ,shallowest space ' stehen mussen , durch Austausch zu einem ,empty cross ' vereinfacht wird (T2 und T3) . Die Dominanz ergibt sich aus Theorem 3, das die Eindeutigkeit der Simplifizierung festlegt: wenn (Teil-)AusdrUcke bei der Simplifizierung zum ,Ieeren Ausdruck' fuhren , der auf den unmarkierten Zustand hinweist und andere (Teil-) Ausdrucke zum ,empty cross' fuhren, das auf den markierten Zustand hinweist (T2), dann soli das ,cross ' der dominante Hinweisgeber sein, d.h. der ganze Ausdruck soli auf den markierten Zustand hinweisen . 1m sechsten Kanon wird diese Regel expliziert, und es wird festgelegt , dass somit der Wert des ganzen Ausdrucks der markierte Zustand ist.
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9. Wertneutrale Buchstaben als Hinweiszeichen In der Beweisfuhrung des dritten und vierten Reprasentationstheorems sowie in der formalen Darstellung der Prozessualen- und der Anschlusstheoreme werden Buchstaben verwendet. In den Reprasentationstheoremen stehen diese fur konkrete Ausdrucke, die auf den markierten Zustand (m) und auf den unmarkierten Zustand (n) hinweisen. " In den drei Prozessualen Theoremen haben die Buchstaben hingegen die Bedeutung von ,Protovariablen', da sie zur Darstellung bestimmter Eigenschaften der verwendeten Zeichen oder Ausdrucke, wie z.B. Formgleichheit, dienen, die fur die Hinweise auf beide Zustande oder Seiten der ersten Unterscheidung gelten. In den Anschlusstheoremen werden fur die (Teil-)Ausdriicke Buchstaben verwendet, deren Konstellation mit anderen (Teil-)Ausdrucken als allgemeines An ordnungsmuster deutlich werden soil. Wenn Ze ichen, die als Hinweis auf einen Wert ,genommen werden', in geregelten Austauschprozessen verwendet werden, dann erwerben sie bestimmte, aIle in dem Verwendungsprozess geschuldete Eigenschaften, die mit den konkreten Werten, fur die sie stehen, nichts mehr zu tun haben. Das Zeichen emanzipiert sich gleichsam wieder von der Identifikationsmoglichkeit mit dem Wert des Inhalts einer Seite einer Form der Unterscheidung durch seine Verwendung im Austauschprozess zum wertneutralen Ausdruck. Die Buchstaben konnen also verwendet werden, wei! die konkreten Werte , auf die die Ausdriicke hinweisen, fur die Explizierung allgemeiner Zeicheneigenschaften in Rechenprozessen irrelevant geworden sind. Zwar stehen die Buchstaben fur einen Wert , doch ist dieser variab el. Damit wird die Eigenschaft der Primaren Algebra, mit Variablen zu rechnen, die fur verschiedene konkrete Werte stehen konnen, aus der Betrachtung der Anordnung von (Teil-)Ausdrucken arithmetischer Rechenresultate gewonnen. Ruck- und Ausblick:
1m vierten Kapitel werden die Eigenschaften der als Operanden verwendbaren Zeichen, die im zweiten Kapitel festgelegt wurden, als Theoreme formuliert und als allgemein gultig bewiesen. Dies geschieht unter drei verschiedenen Perspektiven : Die Reprasentationstheoreme explizieren Zeicheneigenschaften und legen fest, dass die Formveranderung der Zeichen im Austauschprozess keine Wertveranderung bedeutet; die Prozessualen Theoreme heben Zeicheneigenschaften hervor, die durch ihre Verwendung im Austauschprozess sichtbar bzw. erworben werden, und die Anschlusstheoreme weisen auf Anordnungsmuster hin, durch die die konkreten Werte der Zeichen, die fur Teilausdriicke stehen, irrelevant werden.
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Vgl. LoF:14.
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Zugleich zeigen die vier Reprasentationstheoreme, dass das ,cross' und das ,void' zusammen mit dem geregelten Austauschprozess, d.h . die im zweiten und dritten Kapitel vorgestellten Komponenten des arithmetischen Rechnens, ausreichend sind, urn ein vollstandiges und konsistentes System von Hinweisen auf die beiden Seiten einer Unterscheidung zu generieren. Die drei Prozessualen Theoreme sind zudem Austauschprozessverktirzungstheoreme, weiI sie den Geltungsbereich der Aquivalenz zweier Ausdrticke sichtbar machen. So kann auch die Geltung des Transitivgesetzes gezeigt werden, das die Identifikation zweier wertgleicher, aber formverschiedener Ausdrticke erlaubt. SchlieBIich bilden die Anschlusstheoreme durch den Nachweis, dass in bestimmten Konstellationen oder Anordnungen davon abgesehen werden kann, fur welche konkreten Werte die operativen Zeichen stehen, den Ubergang zur Primdren Algebra. Allerdings sei darauf hingewiesen, dass die Buchstaben in der Arithmetik (noch) fur einen bestimmten Ausdruck, d.h. fur die in TI-T7 festgelegten, durch Austausch generierbaren Formen stehen . Die neun Theoreme der Prirnaren Arithmetik lassen sich auch in Bezug auf den Bedeutungswandel oder besser auf die Bedeutungserweiterung von Gleich heit betrachten: Mit den zwei Axiomen wird Gleichheit erstens als Identifikationsmoglichkeit zwischen den hinweisenden Prozessen (Namensnennung oder Grenztiberschreitung) und dem Wert des jeweiligen Inhalts eingefiihrt; im zweiten Kapitel wird ein Zeichen eingefuhrt, das zwischen aquivalenten, d.h. konkreten Ausdrucken stehen soli: das Gleichheitszeichen. Diese Funktion, Wertgleichheit anzuzeigen, behalt das Gleichheitszeichen bis zum elften Kapitel bei. Allerdings verandern sich die Terme oder Relata, deren Gleichwertigkeit es anzeigt: Zunachst sind es Zeichen, die auf konkrete Werte hinweisen (Tl bis T7) - diese konnen auchJormgleich sein (T5) -, dann sind es Anordnungen von (Teil-)Ausdrticken, die einen bestimmten Wert haben (T8), und schlieBIich sind es Anordnungen von (Teil-)Ausdrticken, die mit anderen Anordnungen von (Teil-)Ausdrticken wertgleich sind, unabhangig davon , welchen Wert sie anzeigen. Eine Gleichung zeigt also nicht mehr an, welche Zeichen gleichwertig sind, sondem nur noch, dass bestimmte Anordnungen oder Konstellationen in Ausdrucken wertgleich sind. Erst die Aquivalenz zweier ZeichengeJiige macht den Ubergang zur Algebra perfekt, weil die Werte, fur die die Buchstaben stehen, nicht mehr bekannt sein mtissen : Variablen konnen daher als von unbekanntem Wert eingefiihrt werden. 1m Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht dann nur noch die Struktur, die innere Anordnung, die Relation, in der die Variablen zueinander stehen, und dass aquivalente Gebilde bzw . Formen - wiederum durch geregelten Austausch - generierbar sind . 12 12
Zur Vcrwcndung dcr Bcgriffc .Primare Arithmetik' und .Primare Algebra' vgl. Juan Caramuel: "So entstand also die Notwendigkeit, dcr gemeinen Arithmetik, die es mit bcstimmten Zahlen zu tun hat, eine weitcrc Arithmetik hinzuzufilgen , die es mit unbestimmten Zahlen zu tun hat."
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Im folgenden fiinften Kapitel werden u.a. die Zeicheneigenschaften, die sich an den Resultaten der arithmetischen Austauschprozesse gezeigt haben, als semantische und syntaktische Grundkomponenten der Primaren Algebra explizit formuliert und festgelegt. Sowohl die spezifische Variabilitat der algebraischen Operanden als auch die beiden algebraischen lnitialgleichungen, die die Wertgleichheit verschiedener Anordnungsmuster ausdrucken, gehen so aus dem arithmetischen Zeichenaustausch hervor und werden nicht einfach (voraus-) gesetzt. Die Grundkomponenten der Spencer Brownschen Algebra lassen sich gleichsam am arithmetischen Rechenprozess ablesen.
(Caramuel 1670/1977), zitierl nach Glasersfeld 1997:181. Glasersfeld nennt diese .z weite Arithmetik, die es mit Abstraktionen zu tun hat," (ebd .) Algebra. In den Laws of Form wird hingegen gezeigt, dass die algebraische Moglichkeit, Variablen zu verwenden, aus der rechn erischen Verwendung von Ausdrucken hervorgehen kann. Damit wird von den konkreten Werten nicht einfach durch Abstraktion abgesehen, sondem bestimmte Konstellationenzeigen, dass die konkreten Werle hier irrelevant (geworden) sind.
Das fiinfte Kapitel: A CALCULUS TAKEN OUT OF THE CALCULUS Tatjana Schonwalder-Kuntze
I. Titel Ein Kalktil ist ein System von AnweisungenlKonstruktionen und Ubereinkunften, das geregelte Austauschprozesse von Hinweisformen, d.h. von Ausdrticken erlaubt. Der Kalktil, aus dem in diesem Kapitel ein weiterer Kalktil ,herausgenommen' wird , ist die Primare Arithmetik. Der neue, aus dem arithmetischen Kalktil herausgenommene algebraische Kalktil meint eben falls ein Generierungssystem. Allerdings bezieht es sich nicht mehr auf die beiden Seiten der Form der Unterscheidung als Referenzpunkt, sondem auf die Resultate der Arithmetik. Der neue Kalktil wird ,aus dem (alten) Kalktil herausgenommen' , wei! in ihm erstens der Austauschprozess aus der Arithmetik tibemommen und als algebraisches Berechnen (um-)formuliert wird. Zweitens werden die beiden arithmetischen Gleichungen aus T8 und T9 aus ihrem Entstehungskontext herausgenommen und zu den Initialgleichungen des neuen, algebraischen Systems gemacht. 2.Inhalt Der Inhalt des fiinften Kapitels besteht einerseits darin, aus den Resultaten des arithmetischen Rechnens die Ausdriicke, d.h. die Operanden, die in der Prirnaren Algebra verwendet werden sollen , zu explizieren und festzuschreiben . Dafiir werden die verschiedenen Funktionen, die bislang mit Kopien oder ,token' des einen verwendeten Zeichens, also des Hakens, darstellbar waren , ausdifferenziert : die Operanden von unbekanntem Wert und der Operator werden graphisch unterschieden. Andererseits werden die Regeln des arithmetischen Austauschprozesses in algebraische Regeln umformuliert und so ihre Syntax festgelegt. Schliel3lich werden die beiden Gleichungen aus den Theoremen 8 und 9 als Initialgleichungen des neuen Kalktils bestimmt. Das fiinfte Kapitel beschreibt also die Transformation bestimmter Ergebnisse des arithmetischen Kalktils in die Ausgangskomponenten des algebraischen Kalktils. 3. Operanden als Variablen Durch das Entdecken der Aquivalenz zweier Zeichengefuge oder Anordnungen (T9), deren Aquivalenz gerade darin besteht, unabhangig von den Werten der (Teil-LAusdrucke zu sein, die durch den Austauschprozess eine spezifische An-
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ordnung erfahren , wird die Moglichkeit eroffnet, auf die Operanden, d.h. die Ausdriicke der Arithmetik durch "token of variable form" (LoF:25) hinzuweisen. In der Algebra konnen also zusatzlich zum Haken oder zu einem Ausdruck, der aus einer finiten Anzahl von Haken besteht, Buchstaben von unbekanntem Wert zum Rechnen verwendet werden. Wobei ,unbekannt' nur bedeutet, dass sie entweder den Wert des einen Inhalts oder den Wert des anderen Inhalts der Form der Unterscheidung anzeigen - weitere Werte sind bisher nicht erlaubt worden . Die einzig verbleibende, wertbezogene Eigenschaft der Variablen besteht darin, dass sie einen Wert anzeigen, und dass identische Variablen, d.h. formgleiche Token oder Buchstaben dengleichen Wert anzeigen (nach T5). Zudem gibt es nicht nur eine Form, die einen variablen Wert anzeigen kann, sondem aile Buchstaben konnen als Variable auftreten: deshalb sind die Variablen auch von variabler Form . Variablen sind also in zweifacher Hinsicht variabel: in Bezug auf den Wert, den sie anzeigen, und in Bezug auf die Form (den Buchstaben), die sie annehmen . 4. Der Operator als Konstante In einer algebraischen Gleichung haben der Haken oder mehrere Haken immer noch die Doppelfunktion, zugleich Operatoren und Operanden zu sein: im Gegensatz zu den Variablen handelt es sich aber bei jedem Token des Hakens urn eine "constant form" (LoF:25). Es soIl weiterhin ,cross ' heiBen und behalt weiterhin die Funktion, Aufforderungen zur Grenzuberschreitung anzuzeigen . Haken haben in der Algebra vor allem die Funktion eines Anordnungs- oder Relationsanzeigers fur das Gefuge. I 5. Initialgleichungen und Anordnungsaquivalenzen als Hinweisformen Die Gleichung, die Theorem 8 formal beschreibt, wird ,aus ihrem (Enistehungs-)Kontext genommen' und "form of position" (LoF:25) genannt: J)lp = . Das bedeutet erstens, dass sie ihrer arithmetischen Funktion entiedigt wird, formale Darstellung einer bestimmten Anordnung von (Teil-)Ausdrucken zu sein, die einen bestimmten oder bekannten Wert anzeigen. In der Primaren Algebra sind die in der ,form of position' verwendeten Buchstaben Variablen von unbekanntem Wert und der Haken zeigt die Relation oder das Gefuge zwischen ihnen an. Dieses (Teil-j.Ausdrucksgefuge ist weiterhin dem ,void' aquivalent, es hat also noch die arithmetische Eigenschaft, als Gefuge bzw. Variablenanordnung einen bestimmten Wert anzuzeigen bzw. auf eine Seite hinzuweisen. Der Name konnte motiviert werden mit dem Faktum, dass diese Anordnung der Setzung Man konnte Operator mit ,Unterschied-Macher' oder ,Unterscheider' ubersetzen. Dann HeBe sich formulieren, dass der Haken seine Bedeutung als Wertanzeiger verliert und lediglich seine Bedeutung als Unterscheider beibehalt.
Ill. Kommentar - Das funfte Kapite l: A CALCULUS TAKEN OUT OF TH E CA LCULUS
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eines Wertes entspricht und dass jeder leere Ausdruck SO aufgefasst werden kann, dass er ein Hinweis auf den unrnarkierten Zustand ist und daher dieses Variablengefuge dart hingesetzt werden kann. SchlieBlich liel3e sich auch sagen, dass der Ausdruck auf der linken Seite zu jedem beliebigen Ausdruck einfach dazu gesetzt werden darf, ohne dass das Gleichungsgefuge aus dem Gleichgewicht gerat . FUr die Gleichung, die Theorem 9 formal beschreibt, gilt in Bezug auf die verwendeten Zeichen das glei,che. Sie wird in der Algebra "form of transposition" (LoF :26) genannt: prrqrJ = plqll r Sie unterscheidet sich von der ,form of position' dadurch, dass sie nicht auf den Wert eines Variablengefuges hinweist, sondem darauf, dass zwei verschie dene Variablengefuge aquivalent sind, unabhangig davon , we/chen konkreten Wert die Gefiige se/bst anzeigen . Die ,form of transposition' ist damit nur noch ein Hinweis darauf, dass eine Aquivalenz zwischen zwei Gefligen besteht, unabhangig davon, welcher Wert von ihnen angezeigt wird. Ihr Name konnte dadurch motiviert sein, dass er ein Hinweis auf die neu entstandene Moglichkeit ist, Variablengeflige zu ubersetzen, d.h. nur die auliere Form , nicht aber den Bedeutungsinhalt zu verandern, Zugleich weist der Name auf eine Umsetzung hin - insofem diese Gleichung ein Hinweis auf eine Hand lungsmoglichkeit ist, ein Hinweis darauf, was mit solchen Variablengefugen gemacht werden kann : sie konnen durch einen Austauschprozess, der unabhangig ist von konkreten Werten, umgesetzt werden . So steht der Name auch fur den algebraischen Rechenprozess schlechthin. Und schlieBlich kann der Name auch anzeigen, dass die Variable r einfach innerhalb des Gefliges in der angegebenen Weise umgesetzt werden darf. 6. Aigebraische Rechenregeln als Extrakt der Verwendung des Gleichheitszeichens Zur Festlegung des algebraischen Austauschs oder Rechnens werden zwei Rege/n angegeben, die fur Spencer Brown als "commonly accepted in the use of the sign = " (LoF:26) gelten. Zudem wird in den Notes (SK) darauf verwiesen, dass "rules I and 2 ... say nothing that has not, in the text , already been said" (LoF :87), so dass diese Regeln beanspruchen, keine neuen oder von aul3en hinzukommenden Ideen mit ein zu beziehen. Regel I betrifft die Moglichkeit, aus einem Gefuge durch Ersetzung aquivalenter Variablen einformg/eiches und aquivalentes zweites Gefuge herzustellen. Regel 2 betrifft zwei Gefuge , die nicht formgleich , aber dafur wertgleich sind und deren formgleiche Variablen gegen andere formgleiche Variablen ausgetauscht werden durfen , ohne die Aquivalenz der Gefuge zu gefahrden,
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Rule 1. Substitution Wenn zwei Variablen aquivalent sind, d.h. nicht notwendig (fonn-)identisch, aber wertgleich, dann diirfen sie gegeneinander ausgetauscht werden , dann kann jedes Vorkommnis der Variable e durch die Variable f ersetzt werden. Wenn eine der beiden Variablen in einem Gefiige oder (algebraischem) Ausdruck steht und wenn sie durch die andere ersetzt wird , so dass ein form- bzw . strukturgleiches, aber variablenverschiedenes Gefuge gebildet wird, dann entsteht ein in Bezug auf die Anordnung der Variablenformidentischer Ausdruck, der mit dem ersten aquivalent ist. Regel 1 besagt also, dass auch die beiden Gefiige, also der Ausdruck oder das Gefiige g und der aus g durch Substitution von Variablen entstandene zweite Ausdruck bzw. das zweite Gefuge h aquivalent sind : Aus e = ffolgt g = h, wobei e und fVariablen, und g und fGeflige sind.' Mit der Substitutionsregel wird die Moglichkeit geschaffen, durch den Austausch aquivalenter Variablen in einem Ausdruck ein formgleiches, aber variablenv erschi edenes Gefuge herzustellen (constructed by substituting), das mit dem Ausgangsgeflige aquivalent ist. Zugleich expliziert sie eine stillschweigende algebraische Anwendungsregel des Gleichheitszeichens, die besagt, dass unabhangig von den Variablen ein Gefuge seinen Wert behalt, Das heil3t, die identische Anordnung der Variablen ist ausreichend fur die Wertgleichheit zweier Gefuge ; die Formgleichheit zweier Geflige muss sich nicht auch auf die Variablen erstrecken, soli Wertgleichheit angezeigt werden .' Damit wird auch eine Verschiebung des Geltungsbereiches der Aquivalenz, die durch das Gleichheitszeichen ausgedriickt wird, herausgestellt: Aquivalenz ist auch dann gegeben, wenn die Identitat zweier Gefuge allein in der identischen Anordnung der Konstanten oder ,crosses' besteht, unabhangig yom arithmetischen Wert der Variablen, wie in Theorem 8 nachgewiesen wurde , und unabhangig von der Form der Variablen , die durch die Verwendung von Buchstaben ebenfalls variabel geworden ist. Deshalb sind aquivalente Variablen in einem anordnungsidentischen Gefuge oder Ausdruck ohne Wertveranderung substituierbar. Diese Regel wird nicht bewiesen, sondem unter Rekurs auf die arithmetische Substitutionsiibereinkunft und die Reprasentationstheoreme begriindet (vgl.
Wobei folglich naturlich jede Variable auch fur ein ganze s Gefuge stehen kann. Die Substitutionsregel druckt den Sonder fall aus, dass aile Vorkommnisse eines Ausdrucks oder einer Variable e durch einen wert gleichen anderen Ausdruck f inf ormidentischen Gefugen ausgetau scht werden durfen , und zwar, wei! diese formidentischen Gefuge erst dur ch den Austau sch der Variablen entstehen . Sie besagt also nichts uber den Austausch wertverschiedener Variablen in formid entischen Gefu gcn.
III. Kommentar - Das funfte Kapitel : A CALCULUS TAK EN OUT OF THE CALCULUS
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,,Justification" LoF:26).4 Die Begriindung der Substitutionsregel bezieht sich also auf die arithmetische Austauschbarkeit von wertgleichen ,arrangements' in Ausdriicken einerseits und die Eindeutigkeit von Ausdriicken in Bezug auf den Wert, den sie reprasentieren, andererseits . Beide zusammen bilden sie die ,Geltungsbedingung' dieser Regel. Mit Regel I lassen sich also formgleiche Gefiige herstelIen , die sich nur durch die auJ3ere Form ihrer Variablen unterscheiden. Rule 2. Replacement Wenn zwei Gefiige aquivalent sind (e = t) und wenn es ein oder mehrere v in der Gleichung e = f gibt, die durch den Ausdruck w ersetzt werden , dann bleibt die Wertgleichheit von e und f erhalten , auch wenn w nicht wertgleich mit v ist, oder selbst unabhangig oder variabel (kann also auch o&r sein) . Wenn in dem Gefiige e die Variable v durch w ersetzt, so dass ein Gefiige j entsteht, und wenn in dem aquivalenten Gefiige f j edes vorkommende v ebenfalIs durch w ersetzt wird, so dass das Gefuge k entsteht, dann gilt j = k. Die Ersetzungsregel formuliert die Moglichkeit, Variablen auch in nichtidentischen, aber wertgleichen Ausdriicken oder Anordnungsgefugen durch arithrnetische Zeichen oder algebraische Variablen ersetzen zu konnen. Damit zeigt das Gleichheitszeichen die Wertgleichheit zweier Gefiige auch dann noch an, wenn gar keine konkreten Werte mehr im Spiel sind. Auch diese Regel wird nicht bewiesen, sondem unter Rekurs auf die Anschlusstheoreme begrundet.' In T8 und in T9 ist nachgewiesen worden, dass die Aquivalenz unabhangig von der Belegung der Buchstaben besteht - hier wird expliziert, dass das auch fur Variablen von unbekanntem Wert gilt, die das ganze Gefuge in arithmetischer Hinsicht unenthiillt lassen: "we can find equivalent expressions, not identical, which ... are not wholIy revealed." (LoF :26). Das einzige , was das Gleichheitszeichen so noch ausdriickt, ist, dass auch Ausdriieke, die mit unbekannten Variablen gebildet werden, mit anderen ebensowenig vollstandig enthiillten Ausdriicken wertgleich sind - aber mehr nicht. Die beiden algebraischen Regeln bestimmen den Austausch von variablen und nicht-variablen Ausdriicken in algebraischen Gefugen , so dass das algebrai-
1m Text heiBt es: Die arithmetische Substitutionsiibereinkunft werde hier nur wieder (ein-)gesetzt, allerdings zusammen mit einer Folgerung, einem Schluss (,inference ' , nicht .consequence') , der aus den Reprasentationstheorernen gezogen werden kann. Die Substitution siibereinkunft (LoF:8) besagt , dass wertgleiche Arrangemen ts in Ausdriicken ausgetauscht werden diirfen. Reprasentationstheorcmc heiBen die Theoreme 1 mit 4, die nachweisen , dass fur aile erlaubten Zeichen die Eindeutigkeit ihres Hinweischarakters, d.h. auf welche der beiden Seiten der ersten Untersch eidung sie hinweisen , gegeben ist. Anschlusstheoreme heiBen die Theoreme 8 und 9, in denen bereits (arithmetische) Buchstaben verwcndet werden , weil sie die Aquivalenz zweier Gefuge unabhdngig von den konkreten Werten, die sie anzeigen, hcrausstellen .
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sche Rechnen, d.h . die geregelte Transformation von algebraischen Ausdriicken in andere algebraische Ausdriicke, beginnen kann. Unter "Indexing" (LoF:27) erfolgt noch eine Regel, die etwas uber die Verwendung der Zeichen festlegt, mit denen das Buch geschrieben ist. Es geht also nicht direkt urn die Inhalte der Laws of Form, sondem urn die Erlaubnis, einen abkurzenden Darstellungsmodus zu verwenden - und dam it wird das bislang Vorgetragene rekursiv auch auf die Darstellung selbst angewendet: ,consequences' durfen mit ,C' abgekurzt werden, die ,initials' der Arithmetik mit ,I', die der Algebra mit ,1', ,rules' mit ,R' und ,theorems' mit ,T'. Sie alle konnen mit einer Nummer versehen werden, die auf die Reihenfolge ihres Auftauchens hinweist. Aul3erdem sind diese abkiirzenden Namen im Folgenden immer ein Hinweis auf das, wofUr sie stehen. Anders soli das mit dem Buchstaben ,E' fur ,equations' gehandhabt werden: er meint in jedem Kapitel andere Gleichungen, ist also nicht immer ein Hinweis auf den gleichen Inhalt und hat daher als einziger den Zeichencharakter einer algebraischen Variable. 7. Das Verhaltnis der beiden Kalkule Das fUnfte Kapitel hat die Funktion, die Operatoren und die Syntax der Primaren Algebra vorzustellen und das bedeutet, die Regeln fur den Austausch, d.h . fur den Rechenprozess festzulegen - die beiden Initialgleichungen der Primaren Algebra stell en den Zusammenhang der drei Komponenten zusammengefasst dar. Wahrend die Operanden - seien es Buchstaben, Haken oder der ,void' - der Primaren Arithmetik immer bestimmte Werte anzeigen, zeigen die Buchstaben der Primaren Algebra lediglich an, dass sie fur einen Wert stehen, aber nicht mehr fur welch en. Mit der EinfUhrung der Variablen haben die (Teil- )Ausdriicke die arithmetische Eigenschaft verloren, auf bestimmte Werte zu referieren." Es konnen nur noch Aussagen daruber gemacht werden, welchen Wert bestimmte ganze GefUge haben (aus T8) und inwiefem verschiedene Anordnungen oder Verhaltnisse wertvariabler Zeichen zu anderen solchen Verhaltnissen aquivalent sind (T9) . Die arithmetische Konzeption der Berechnung als System zur Generierung formversch iedener, aber wertgleicher Ausdriicke, wird in der Algebra beibehalten, da auch hier formverschiedene, aber wertgleiche Ausdriicke durch Substitution bzw . Ersetzung der Variablen generiert werden. Der Unterschied besteht 6
(SK) In der Einfuhrung zur ersten Ausgabe schrcibt Spencer Brown : "A point of interest ... is the development of the ideaofa variable solely from that of the operative constant. This comes from the fact , that the algebra represents our ability to consider the form of an arithm etical equation irresp ective of the appearance, or otherwise, of this constant in certain spec ified places.", LoF :xxii .
III. Kommentar - Das filnfte Kapitel: A CALCULUS TAKE N OUT OF THE CALCU LUS
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darin , dass die durch den Rechenprozess entstehenden arithmetischen Ausdrueke auf eine Seite der ersten Unterscheidung hinweisen; wahrend das algebraische Rechnen nur noch in dem Hinweis auf die Aquivaienz zwischen zwe i verschiedenen algebraischen Ausdrucken, d.h. Variablengefiigen besteht. Dieser Hinweis besteht in den algebraischen Gleichungen, die ihrerseits Folgerungen aus Austauschprozessen sind. Die Wertdifferenz der beiden Seiten der ersten Unterscheidung wird in der Primaren Algebra irrelevant - es geht nur noch urn die Gleichwertigkeit verschiedener Anordnungsmuster, d.h. urn die Darstellung der Aquivalenz von Ausdrticken, die sich in ihrer nichtidentischen Form wegen ihren Variablen und/oder ihrer Gefiigeanordnung voneinander unterscheiden. Mit dem Ubergang zur Algebra findet also in Bezug auf die konkreten Werte eine Loslosung von der Form der ersten Unterscheidung statt. Die Prim are Algebra soli als "calculus for the primary arithmetic" (LoF :26) betrachtet werden, weil sie etwas aussagt tiber die Gleichwertigkeit formverschiedener Ausdrticke, die in der Primaren Arithmetik generiert werden konnen, Damit ist sie selbst ein System, das auf bestimmte Eigenschaften der Primaren Arithmetik hinweist: Wahrend beispielsweise in der Primaren Arithmetik das Gleichheitszeichen verwendet wird, urn auf die Aquivalenz zweier Ausdriicke hinzuweisen, expliziert undformuliert die Prim are Algebra, was diese Verwendung selbst bedeutet, auf welche Zusamrnenhange sie ihrerseits hinweist. Die Moglichkeit, die Grundkomponenten der Algebra, d.i. ihre Operanden als Variablen - in zweifacher Hinsicht - , ihren Operator als Zusammenhangsoder Gefiigedarsteller und ihre Austauschregeln aus der Primaren Arithmetik hervorgehen zu lassen, zeigt ihrerseits den inneren Zusammenhang zwischen beiden Kalktilen. Man che der im arithmetischen Austausch entstehenden Muster werden zur Grundlage der Algebra gemacht, indem sie exp liziert und bezeichnet werden und so einer weiteren Verwendung zur Verfiigung stehen. Ausblick: Das folgende sechste Kapitel stellt algebraische Gleichungen vor, die wiederum Resultate geregeiter algebraischer Austauschprozesse sind. Aus algebraischen Ausdriicken, d.h. Variablengefligen, konnen durch Austausch oder Ersetzung ihrer (Teil-l.Ausdriicke und unter Verwendung der beiden initialgleichungen andere, neue Ausdriicke gefolgert werden, die mit den Ausgangsausdrticken aquivalent sind - weshalb ihr Zusammenhang als Gleichung, d.h . als Aquivalenz dargestellt werden kann.
Das sechste Kapitel:
THE PRIMARY ALGEBRA
Tatjana Schonwalder-Kuntze
1. Titel (B) ,primary' (vgl. die etymologischen Hinweise im Kommentar zum vierten Kapitel). ,algebra' heiBt der Zweig der Mathematik, in dem arithmetische Operationen und formale Manipulationen statt auf einzelne Quantitaten auf abstrakte Symbole angewendet werden. Sie bezeichnet die Lehre von den Beziehungen zwischen mathematischen Grolsen und den Regeln, denen sie unterliegen, und ist das Gebiet der Mathematik, das sich mit der Losung von Gleichungen und Gleichungssystemen befasst. Der Name selbst stammt aus dem Titel eines arabischen Lehrbuches aus dem 9. Jhdt. I Mit dem gewahlten Namen Primare Algebra fur den zweiten, aus der Primaren Arithmetik ,genommenen ' Kalkul wird sowohl auf ihre eigene Entwicklung hingewiesen, als auch darauf, dass dieser Kalkul eine der ursprtmglichen Bedeutungen des Begriffes ,Algebra' zum Ausdruck zu bringen vermag, wenn auch nicht historisch, so doch genealogisch gesehen.'
Vgl. ,Algebra' in: Brockhaus sowie in: Encyclopaedia Britannica, zit. am 15.08.2008, Encyclopeedia Britannica Premium Service (http://www.britannica.com/eb/article?eu=120643). Dass diese allgemein gehaltene Definition moglicherweise Mathematiker nicht bedenkenlos akzeptieren werden, ist vor dem Hintergrund ihrer Spezialdisziplin vollkommen einsichtig. Die oben genannte Definition erhebt aber auch nicht diesen Anspruch . Eine exakte Begriffsbestimmung forderte zudem die Auseinandersetzung mit einem historisch bedingten Bedeutungswandel, wie der Eintrag in der Encyclopaedia Britannica zeigt: "The notion that there exists such a distinct subdiscipline of mathematics , as well as the term algebra to denote it, resulted from a slow historical development." (lch danke Stephan Packard fur seine Recherche.) Vergleicht man den Entwicklungsprozess der Algebra in den Laws of Form beispielsweise mit einem Lemma in einem beliebigen Lexikon, wird der Unterschied der Herkunftsdeutung deutlich. .Der ProzeB, der von der verbal en Form der Aufgabenstellung zur symbolischen algebraischen Schreibweise (Variablen , Platzhalter) fuhrte, war erst am Ende des 17. J. beendet, obgleich bereits in der indischen Mathematik abstrakte Zeichen bekannt waren ." dtv Brockhaus Bd.l: III ,Algebra' . Wahrend normalerweise ein Abstraktionsprozess vom konkreten Sachverhalt zur abstrakten Darstellung ihren Entstehungsprozess begrundet, ein Prozess also, der nicht genuin mathematisch ist, wird die Algebra in den Laws ofForm aus den Eigenschaften der verwendeten Zeichen im Rechenprozess selbst generiert . (SK) In den Notes ist von "revelation and incorporation of its own origin" (LoF:87) die Rede.
III. Kommentar- Das sechste Kapitel:THE PRIMARY ALGEBRA
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2.Inhalt Das sechste Kapitel beginnt - wie das vierte - mit der Vorstellung der beiden, nun algebraischen Basisgleichungen und der Aufforderung, mit der Musterunterscheidung fortzufahren . Die beiden Muster der Anschlusstheoreme im vierten Kapitel sind als Explikation latenter Eigenschaften der verwendeten Zeichen vorgestellt worden, insofem diese Resultate von Austauschprozessen sind . Theorem 8 weist als Gleichung daraufhin, dass ein bestimmtes Geflige, unabhangig von der Variablenbelegung, immer dem ,void' aquivalent ist. Theorem 9 weist als Gleichung darauf hin, dass es bestimmte Formen von Ausdrticken bzw. deren Anordnungen gibt, die mit anderen aquivalent sind - eben falls unabhangig von der Variablenbelegung. Die beiden Gleichungen werden als Initialgleichungen der Primaren Algebra verwendet. Die Muster, die in diesem Kapitel unterschieden werden, ergeben sich aus ,sequentiellen Manipulationen' der Initialgleichungen. Sie werden ,consequences' genannt und sind Gleichungen, die eine Folgerung aus zwei Umwandlungswegen im algebraischen Austauschprozess darstellen. Gefolgert wird die Aquivalenz zweier formverschiedener, aber eben durch geregelten Austausch als aquivalent nachgewiesener Geflige . Diese Aqulvalenzen werden als Gleichung dargestellt - eben so wie bei den Theoremen 8 und 9. Das neue in diesem Kapitel besteht darin, dass nicht mehr alle algebraischen Austauschprozesse nachvollzogen werden mussen, sondem dass gefolgert werden darf, und das bedeutet: Prozesse durfen ubersprungen bzw . in wenige Schritte kondensiert werden. Dabei wird eine Eigenschaft des Austauschprozesses sichtbar: die Irrelevanz der Richtung, in der der Austausch vorgenommen wird, und dam it die Aquivalenz richtungsverschiedener ,steps' . Zuletzt erfolgt eine weitere allgemeine Einteilung von Ausdrucken in solche, die den markierten Zustand, solche, die den unmarkierten Zustand und solche, die, je nach Belegung, entweder den einen oder den anderen Zustand anzeigen. 3. Die Initialgleichungen der Algebra Die beiden Initialgleichungen der Algebra entsprechen der Formalisierung der arithmetischen Theoreme 8 und 9. Beide werden im flinften Kap itel ,aus ihrem (Entstehungs-)Kontext genommen' und erhalten die Namen ,form of position' und ,form of transposition' . Als Initialgleichungen der Algebra heiBen sie nur noch "Initial 1. Position" und "Initial 2. Transposition" (LoF :28) . 11: -plq! =
und
J2:
prlqr11
= -plCjllr
Mit der ersten Initialgleichung wird es moglich, an beliebigen leeren Stellen in einem Ausdruck bzw. Geflige den Ausdruck der linken Seite der Gleichung 11 einzusetzen; diese Eintauschrichtung heiBt "put in" (ebd.). Die Gegenrichtung, also das Herausnehmen dieses oder strukturidentischer Gefuge wird "take out" (ebd.), also ,herausnehmen' genannt.
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Die Richtungen des Austausches in der zweiten Initialgleichung heil3en von links nach rechts gelesen ,sammeln' (collect) und in der anderen Richtung ,verteilen' (distribute). Diese Gleichung stellt eine Art Distributivmuster dar, da hier eine zweimal vorkommende Variable aus der gleichen Tiefe ,ausgeklammert' bzw. umgekehrt ,verteilt' werden dare (SK) In den Notes wird daraufhingewiesen, dass Peirce der algebraischen Gleichung, die Initial 1 darstellt, den Namen ,erasure', d.h. ,Ausradierer' gegeben habe . Mit ,position' verweist Spencer Brown auf die ebenso erlaubte Gegenrichtung der ,Setzung' . 4. Konsequenzen und ihre Namen "We shall proceed to distinguish particular patterns, called consequences, which can be found in sequential manipulations of these initials." (LoF:28) . (B) ,consequence' kann neben der Bedeutung ,Ergebnis oder Effekt von etwas' im Englischen auch synonym fur ,importance', d.h. ,Wichtigkeit' verwendet werden. Das lateinische ,consequens' meint eine Folge oder Folgerung, aber das dazugehorige Deponens ,consequeri' hat auch die Bedeutung von ,gleichkommen' , .vollstandig erfassen' oder ,ausdriicken' . ,sequential' heil3t ,folgend' in zeitlicher oder raumlicher Hinsicht , aber auch im Sinne eines Resultates . Das zugrundeliegende lateinische Deponens ,sequeri' bezieht sich einerseits enger auf das Subjekt, denn es bedeutet urspriinglich ,mit den Augen folgen', ,begleiten' , ,verfolgen' . Andererseits kann es auch ,sich (von selbst) einstellen' heil3en. ,manipulation ' meint ,operieren ', ,mit Geschicklichkeit oder Fertigkeit mit etwas umgehen', aber auch ,fUhren' oder ,leiten' und ,kontrollieren' . Die lateinische Wurzel ,manipulus' heil3t vor allem ,dicht' im Sinne von .gedrangt' und kommt urspriinglich von ,in einer Hand (,manus') zusammen fassen' . (I) Die hier Konsequenzen genannten Muster bezeichnen eine Folgerung, die eine nachvollziehbare Verdichtung der Austauschschritte, der Austauschwege und der Austauschrichtung darstellen. Unter Verwendung der beiden lnitialgleichungen wird in zwei Gefugen derart ausgetauscht, dass sie beide einem dritten, identischen Ausdruck aquivalent werden und folglich auch miteinander gleichgesetzt werden diirfen. In den so entstehenden Gleichungen sind sowohl die beiden Rechenwege oder Austauschprozesse in den beiden Termen der Gleichung als auch die Folgerung nach T7, sie gleichsetzen zu diirfen, enthalten . Die ,consequences' genannten Gleichungen stellen diese verschiedenen Prozesse - Austausch und Folgerung - wiederum abgekurzt dar. 3
Vgl. hierzu die wortliche Beschreibun g von Theorem 9, LoF:22.
III. Komment ar - Das sechste Kapitel : TilE PRIMARY ALGEBRA
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Die ausftihrliche Vorfuhrung der beiden Austauschwege, die die erste .consequence ' errnoglicht, zeigt, dass beide algebraischen Initiale verwendet werden, dass die Resultate mehrmaliger Ersetzungen aufbeiden Wegen irgendwann zu einer identischen Form fuhren und dass daraus nach T7 gefolgert werden kann, dass die beiden Terme, Ausdrucke bzw. GefUge der Gleichung aquivalent sind." Diese Interpretation der ,consequences' wird auch dadurch gestutzt, dass Theorem 7, in dem zwei Rechenwege in einer Gleichung verkurzt darstellbar werden und das eine Art Transitivgesetz formuliert, im vierten Kapitel der Laws ofForm ,consequence' genannt wird. (SK) In den Notes wird darauf hingewiesen, dass die Benennung der .consequences' eine angemessene Beschreibung des benannten Prozesses sein solI, so wie er in der Algebra erscheint, ohne seinem arithmetischen Ursprung Gewalt an zu tun (vgl. LoF:87f.). Zudem steckt in den Gleichungen die Erlaubnis weiterer, neuer Austauschmoglichkeiten der beiden Terme, die rechts und links des Gleichheitszeichens stehen, die, je nachdem in welcher Richtung man sie vomimmt, jeweils verschieden gekennzeichnet und benannt werden: "When the step allowed by this equation is taken from the former to the latter expression, it is called ..., and when taken in reverse it is called ..." (LoF:91 hier beispielhaft fur C9). Algebraische Gleichungen, d.h. hier ,consequences', die bereits von anderen Mathematikem aufgestellt wurden, bezeichnen mit ihrem Namen - so Spencer Brown - meist nur eine Austauschrichtung, wahrend die Benennung beider Austauschrichtungen in den hier vorgestellten Folgerungen beiden Richtungen gerecht werden will (vgl. LoF:90). Die folgenden Gleichungen weisen also nicht nur auf verschiedene Austauschwege hin, die unter Verwendung der beiden Initiale und der algebraischen Rechenregeln vorgenommen werden konnen, sondem es werden auch zwei Rechenarten - Austausch und Folgerung, d.h. die Verkurzung mehrerer Austauschprozesse - in ihnen zusammen gefasst. Die Benennung der ,consequences' hat die Funktion, auf deren Herkunft zu verweisen, d.h. sie beziehen sich auf verschiedene Verkurzungsaspekte, die in den Gleichungen implizit mit ausgedruckt werden. Manche Namen bezeichnen "a part of the consequence" (LoF:35), andere "may include reflex ions" (LoF:36), und wieder andere "may indicate a crosstransposed form" (ebd.).
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Nach " We first find ... by JI " (LoF:28) wird erst gezeigt, wie von dem Initial ausgehend durch Ersetzung der linke Term der Konsequenz errechnet wird. AnschlieBend wird von 12 ausgegangen unter "We next find ..." (LoF:29). Ab "We then find ..." (ebd.) wird gezeigt, dass das gewonnene Resultat des Austauschprozesses, der von 12 ausgegangen war, mit dem Resultat des ersten Prozesses aquivalent ist, usw.
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5. Neun algebraische Folgerungen "Consequence I. Reflexion" (LoF:28): al1 = a In CI werden beide Austauschrichtungen ,reflektieren' genannt , was sie zur Ausnahme macht. Das deutet bereits an, dass ,reflexion' in den Laws of Form ein unterschiedsIoses Hin- und Her meint und nicht etwa den philosophischen Begriff der (SeIbst-)Refle xion oder ahnliches .' (B) ,Reflexion' heillt ,Widerschein ' und ,Spiegelbild' , aber auch .Uberlegung' , ,Gedanke' und ,to reflect' .zuruckwerfen', ,zum Ausdruck bringen ' ; im lateinischen ,reflectere' ist auch .zuruckbeugen ' , ,drehen', ,wenden ' , ,abwenden' und .zuruckdenken' gemeint. (I) Das Doppelcross steht als formales Zeichen fur die zusammen genommene,
zweifache Absicht zur Grenzilberschreitung. Gleichgultig woftir die Variable steht - von der Seite, die sie bezeichnet, wird die zweifache Grenzilberschreitung wieder zu ihr zuruckfuhren, da es nur diese zwei Seiten gibt. So ist der Wert, den die Variable anzeigt, und der Wert, den sie zusammen mit dem Doppelcross anzeigt, derselbe. In "Consequence 2. Generation" (LoF:32): ab1 = a1 b wird ein Generierungsmuster sichtbar : Eine aul3erhalb eines ,cross', d.h. in der Tiefe So stehende Variable kann nochmals in dem ,cross' stehen; sie kann also ohne Wertveranderung (nochmals) ,generiert' werden . Von links nach rechts gelesen ,degeneriert' das Gefuge , weil die Anzahl der Vorkommnisse der Variable abnimmt ; von rechts nach links findet eine ,Regenerierung' statt. Als Differenz zu C1 sei noch erwahnt, dass in C2 nur noch die Initialgleichungen manipuliert werden , wahrend die beiden Regeln und dam it auch T7 nur noch implizit durch die Verwendung von CI zur Anwendung kommen , so dass es sich bei der Gleichung nur noch urn eine Austau schschritte zusammenfassende Folgerung handelt - das gilt fur aile anschliessenden Folgerungen. (SK) In den Notes wird auf Proklos (410-485), einen der letzten athenischen Neuplatoniker, verwiesen. Es sei interessant zu sehen, dass die Transformationen dieser Folgerung unmittelbare Bilder dessen seien, was Proklos , 1r p60 8 0 ~' in englischer Ubersetzung ,procession' und ,EmcrTpo