Titel der Originalausgabe: THE ENGAGEMENT
Redaktion: Verlagsbüro Dr. Andreas Gößling und Oliver Neumann GbR Deutsche E...
25 downloads
1256 Views
848KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Titel der Originalausgabe: THE ENGAGEMENT
Redaktion: Verlagsbüro Dr. Andreas Gößling und Oliver Neumann GbR Deutsche Erstausgabe 11/2000 Copyright © 1996 by Lynda S. Robinson Published by arrangement with Bantam Books, a division of Random House, Inc. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in France 2000 http://www.heyne.de Umschlagillustration: Pino Daeni/Agentur Schluck Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Prechtl, Passau Druck und Bindung: Brodard & Taupin ISBN 3-453-17.699-5
Widmung Dieses Buch ist meiner Cousine Janice Knobles Morrel gewidmet. Jan, für mich warst du immer eine Heldin, der selbstbewussten, leidenschaftlichen Frau, über die ich schreibe, sehr ähnlich. Du kämpfst für deine Ziele und du betrachtest das Leben mit Humor und Fantasie. Diese Eigenschaften machen dich zu der eigenwilligsten, freisinnigsten und liebenswürdigsten Frau, deren Bekanntschaft zu machen ich jemals das Vergnügen hatte.
1 Texas Hill Country, 1860
Nick Ross war dem Elend und dem Gestank von Whitechapel entkommen und hatte trotz der mörderischen Zustände in den Gassen von St. Giles überlebt. Aber der August in Texas würde sein Ende bedeuten. Er lenkte sein Pferd den Pfad zum Guadalupe-Fluss hinunter und wischte sich mit seinem Halstuch den Schweiß aus dem Gesicht. Sogar unter dem Schatten spendenden Dach der riesigen Zypressen, Eichen und Zürgelbäume war es heiß und stickig. Die schwüle Luft umwaberte ihn, als würde er durch eine brodelnde Suppe reiten. Über seinem Kopf kreiste ein roter Habicht. Seine dunklen Schwingen hoben sich gegen den tiefblauen Himmel ab. Nick war seit über einem Jahr in Texas, auf Einladung seines engsten Freundes, Jocelin Marshal. In dieser Zeit hatte er im unzivilisierten Westen Amerikas zu überleben gelernt. Er konnte, den breiten Lederschutz vor die Beine gebunden, auf einem Texassattel mit hohe m Knauf reiten und das Lasso werfen, ohne durch das Gewicht der eingefangenen Kuh vom Pferd zu stürzen oder einen Finger zu verlieren, wenn sich das Seil unglücklich verfing. Der Alltag auf der Ranch war hart und forderte viele Stunden Arbeit, Tag für Tag, in Hitze, Schmutz und Gestank. Aber erniedrigend fand Nick dieses Leben nicht. Die Verhältnisse, in denen er im verwahrlosten Osten Londons aufgewachsen war, die waren erniedrigend gewesen. Dort lernte Nick, den Fausthieben seines Vaters auszuweichen und Abfalleimer nach Essbarem zu durchwühlen. Später übte er sich als Taschendieb und Einbrecher, um wenigstens das verschimmelte Brot und das verdorbene Fleisch bezahlen zu können, von dem er, seine Schwester und seine Mutter sich mehr schlecht als recht ernährten. Mutter
und Schwester waren gestorben, aber Nick war noch am Leben und war dem Elend von St. Giles entkommen – mit Jocelins Hilfe. Er hätte England jedoch nie verlassen, hätte er von den Klapperschlangen und Skorpionen gewusst. In London besaß er ein mit allen Annehmlichkeiten versehenes Stadthaus, in der Nähe des Grosvenor Square; außerdem gehörten ihm Landhäuser in mehreren Grafschaften, mit Dutzenden von Bediensteten, die ihn auf Schritt und Tritt umsorgten. Nick nahm seinen Hut ab, eine teure Neuerwerbung mit breiter Krempe und niedriger Krone, die ihn jetzt vor manchem Sonnenstich bewahrte. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und wandte sich an sein Pferd. »Zum Henker, Pounder. Es ist noch vor sieben Uhr und die Hitze kocht uns gar, ehe wir das Lager erreicht haben.« Er hatte kaum zu Ende gesprochen, als ein lautes Echo von den Kalkfelsen zu beiden Seiten des Flusses zurückgeworfen wurde – Schüsse. Er zog Pounder an den Zügeln. Geschickt und gehorsam beschrieb das an die Rancharbeit gewöhnte Tier einen engen Halbkreis und machte kehrt. Nick beugte sich nach vorn, über den Hals des Tieres, und ließ die Zügel schnalzen. Pounder stob in vollem Galopp los, auf dem gleichen Pfad, den sie zum Fluss hinunter geritten waren. Die Schüsse schienen vom Hauptgebäude der Ranch zu kommen. Von dort war er gerade losgeritten. Nach dem Rhythmus der Schüsse zu urteilen, handelte es sich um einen Kampf. Er brach zwischen den Bäumen hervor und galoppierte einen mit Büffelgras und Zypressen bestandenen Hügel hinauf. Als er auf der anderen Seite hinunterritt, kam das Haupthaus in Sicht, ein elegantes dreistöckiges Kalksteingebäude, dessen breite Vorderveranda von vier Säulen gestützt wurde. Zwischen dem Haupthaus und der Scheune lag eine Holzbaracke. Darin waren die Rancha rbeiter und eine Küche untergebracht. Zwischen den Schlafquartieren und der Küche verlief ein nach der Seite offener Gang, dessen Dach Schatten spendete. Nick sah drei Männer hinter dem Wassertrog im
Viehpferch liegen. Ein vierter taumelte zu dem schützenden Gang zwischen Küche und Schlafquartieren hinüber. Dort brach er, sich den Arm haltend, zusammen. Zwei weitere Cowboys kauerten in einem Wagen, den sie vor der Scheune auf die Seite gekippt hatten und feuerten auf einen Mann, der oben auf der Leiter des Windrads hockte. Pounder galoppierte auf daß Haupthaus zu, eine Staubwolke hinter sich aufwir belnd. An der Veranda angekommen riss Nick an den Zügeln, schwang das Bein über den Sattel, sprang ab und rannte los, ohne abzuwarten, bis Pounder zum Stehen gekommen war. Das Pferd stürmte an ihm vor bei, streifte im Lauf das Gatter des Viehpferchs und erreichte die schützende Scheune. Ruhig schritt es in den dunklen Innenraum. Zur gleichen Zeit sprang Nick die Stufen zur Veranda hinauf. Er war eben oben angekommen, als sich eine Kugel neben ihm in das weiß gestrichene Holz der Säule bohrte. Die Vordertür öffnete sich und Nick verschwand im Haus. Sofort rollte er sich auf den Boden und griff ein Gewehr, das ihm Jocelins Frau zuwarf. Liza Marshals aschblondes Haar war zerzaust. Ihre haselnussbraunen Augen funkelten vor Zorn und Angst. Eine Hand auf den gewölbten Bauch gelegt, wandte sie ihm ihr blasses ovales Gesicht zu. »Es ist Little Billy. Er ist wieder betrunken.« »Was machst du hier?«, schrie Nick und stieß Liza vom Fenster weg. »Du bringst dich und das Baby in Lebensgefahr.« »Schrei mich nicht an, Nick Ross. Jocelin ist angeschossen worden.« »Verdammt! Wo ist er?« Liza hob zitternd die Hand an die Lippen. »Er liegt draußen, ohne Deckung. Als Little Billy mit der Schießerei angefangen hat, ist Jocelin hinausgegangen, um ihn zur Rede zu stellen.« Bevor Nick sie aufhalten konnte, war Liza zum Fenster geeilt und hatte den Vorhang beiseite gezogen. Eine Kugel zersplitterte die Scheibe. Nick warf sich auf Liza und
presste sie gegen die Wand. »Du bleibst hier.« Nick ließ sich zu Boden fallen und spähte über den Fenstersims. Von seinem Platz auf dem Windrad aus hatte Little Billy die Scheune, die Schlafbaracke, die Küche und den Viehpferch im Visier. Er hielt alle Männer dort in Schach. Und auf dem Vorplatz zur Scheune, mindestens sechs Meter von dem Wagen entfernt, lag der Viscount von Radcliffe niedergestreckt am Boden: Jocelin Marshal, der Mann, der für Nick mehr Bruder als Freund war. Jocelin rührte sich nicht und neben seinem Bein war die Erde mit Blut aus der Wunde getränkt. Der heiße Wind, der den Staub im Viehpferch aufwirbeln ließ, fuhr ihm durch das schwarze Haar. Nick stieß derbe Flüche aus, in Cockney, der Sprache aus seinen früheren Tagen. Er betrachtete seinen Freund auf der Suche nach Lebenszeichen. Es sah Jocelin ähnlich, verhandeln zu wollen. Wirklich skrupellos zu sein, hatte Jos niemals gelernt – nicht im Krimkrieg und nicht auf seinem Kreuzzug gegen alle KinderSchänder dieser Welt. Little Billy war ein rücksichtsloser halbwüchsiger Raufbold, der vorsätzlich Streit anfing und jeden angriff, dessen Nase ihm nicht gefiel. Erst in der vergangenen Woche hatte Jocelin sich eingemischt, weil Nick diesem elenden Raufbold eine Lehre erteilen wollte, nachdem dieser den Sohn von Jocelins mexikanischem Koch verprügelt hatte. Jocelin vertraute auf die Macht der Worte. »Dallas wollte zu Jos hinausgehen, aber Little Billy hat ihm in den Arm geschossen«, berichtete Liza. »Nick, tu doch etwas! Schnell!« Wortlos wandte Nick sich um und rannte zur Treppe. Drei Stufen auf einmal nehmend, hastete er in den oberen Stock, dann stürmte er durch die schmale Tür am Ende des Korridors und eilte noch eine Treppe höher. Sie führte auf den glühend heißen Dachboden. In dem dunklen Raum hielt er inne, um Atem zu holen. Er konnte sich kein Zittern der Hand leisten. Nick ging zu dem Fenster an der Hof und Windmühle abgewandten Hausseite, betätigte den Hebel und kletterte hinaus. Das Gewehr in der Hand, kroch er die Dachschräge hinauf und spähte vorsichtig
über den First. Er konnte Jocelin sehen. Sein Freund lag auf dem Bauch, Arme und Beine von sich gestreckt, und hatte sich nicht bewegt. Vom überdachten Verbindungsgang zwischen Baracke und Küche feuerte Dallas Meredith linkshändig auf Little Billy, während die Rancharbeiter hinter dem Wassertrog nachluden. Poison, der Koch, rief Little Billy wüste Beschimpfungen zu und ballerte mit frisch gefülltem Magazin weiter. Diese neue Salve war für Nick das Zeichen. Er glitt an der anderen Seite des Daches hinunter bis zum gemauerten Kamin, richtete sich auf und legte sein Gewehr an. Little Billy feuerte noch immer und lud Munition aus den Satteltaschen über seiner Schulter nach. Billy war wie die meisten Cowboys jung und furchtlos und er konnte kaum lesen und schreiben. Wie die meisten seiner Kameraden wurde auch er nur bei seinem Spitzna men gerufen – sein eigentlicher Name war unbekannt. Doch im Gegensatz zu den anderen Rancharbeitern konnte Little Billy nicht von der Whiskeyflasche lassen. Schlimmer noch: Little Billy war mehr als einen Meter neunzig groß und liebte sein Gewehr über alles. Nick hätte den Burschen längst erschossen, wäre Jocelin nicht gewesen. In Billys Augen stand der gleiche bösartige, wilde Ausdruck, den Nick immer bei seinem gewalttätigen Vater gesehen hatte, bevor dieser ihn mit dem Lederriemen schlug. Er stützte das Gewehr am Kamin ab und blickte den Lauf entlang, sein Ziel anvisierend. Reden. Mit Betrunkenen konnte man nicht verhandeln. Er wartete, bis Little Billy sich zu ihm umdrehte. Der breite Oberkör per des betrunkenen Cowboys wurde sichtbar; er schoss zuerst auf Dallas und richtete sein Gewehr dann auf den am Boden liegenden Jocelin. Als Nick sah, wohin Little Billy zielte, ergriff ihn die Panik und ein stechender Schmerz fuhr ihm in die Brust. Im nächsten Moment kehrte die vertraute kühle Ruhe zurück. Er zielte mitten auf Little Billys Herz und drückte den Abzug. Der Schuss löste sic h und ein ohrenbetäubender Knall folgte. Ohne mit der Wimper zu zucken, hielt Nick den
Blick auf Little Billy gerichtet, der einen roten Overall trug. Der Cowboy zuckte zusammen und klammerte sich an die Windmühlenleiter. Dann ließ er sein Gewehr sinken, die Hand löste sich von der Leiter und er fiel zu Boden. Der Aufprall des großen Mannes ließ eine kleine Staubwolke aufsteigen. Nick verließ das Dach, Dallas und die anderen sprangen aus ihren Verstecken hervor und rannten zu Jocelin. Ohne die leisesten Gewissensbisse oder einen einzigen Gedanken an den getöteten Cowboy kletterte Nick durch das Fenster zurück ins Haus und ging nach unten, um zu helfen, Jocelin hineinzutragen. Sofort, nachdem Jocelin angeschossen worden war, hatte Liza einen Rancharbeiter nach San Antonio geschickt, um den Doktor zu holen, doch als der Arzt endlich die Kugel aus Jocelins Bein entfernt hatte, ging die Sonne bereits unter. Da auch Dallas Meredith einen Streifschuss erlitten hatte, übernahm Nick die Leitung der Ranch. Er befahl, Little Billy zu begraben, und schickte die Männer dann zurück an die Arbeit. Am nächsten Morgen war Nick gerade bei Dallas im Zimmer, als sie aus dem Schlafzimmer des Ranchbesitzers lautstarkes Fluchen hörten, gefolgt von einem Krachen. Beide Räume befande n sich auf derselben Etage. Dallas und Nick stürmten auf den Korridor und sahen gerade noch den Jungen, der die Post aus San Antonio gebracht hatte, die Treppe hinunterhasten. Nick war als Erster im Herrenschlafzimmer. Dort saß Jocelin aufrecht im Bett. Seine smaragdgrünen Augen funkelten vor zurückgehaltener Erregung. Das verwundete Bein war mit einem dicken Verband umwickelt, den Rücken hatte er mit Kissen abgestützt. Selbst im Bett behielt Jocelin die gewohnte, militärisch stramme Haltung bei. Seine Schultern waren straff und gerade, als würde er an einer Parade der Gardekavalle rie Ihrer Majestät teilnehmen, aber sein Gesicht unter dem dichten Schopf glatten schwarzen Haares war unnatürlich gerötet. Er hielt einen zerknitterten Brief in der Hand, mit dem er immer wieder auf die Matratze schlug. Liza stand, die Arme verschränkt und mit dem Fuß tappend, neben ihm.
Sie sah Nick an. »Er hat einen Brief von der Herzogin bekommen.« »Oh«, machte Nick. Mehr gab es kaum zu sagen. Jocelin war Erbe eines Herzogtitels, aber seine Familie bereitete ihm ebenso viel Kummer, wie Nick die seine bereitet hatte. »Zum Henker«, schimpfte Jocelin. »Jetzt muss ich doch nach Hause zurück. Pack unsere Sachen, Liza. Morgen reisen wir.« »Halt, langsam, Marshal.« Dallas war ebenfalls ins Zimmer getreten und hatte sich ans Fußende von Jocelins Bett gesetzt. »Sie werden nirgendwohin reisen.« »Da hat er verdammt Recht, der feine Herr«, bestätigte Nick. Neugierig betrachtete er Dallas, während er versuc hte, diese Bemerkung zu deuten. Dallas stammte aus dem tiefen Süden – aus welchem Staat genau, verriet er nicht – und verstand Nicks anstößige und ungepflegte Gossensprache nur mit Mühe. Nick erkannte sofort, ob er es mit einem Aristokraten zu tun hatte. In Dallas Merediths Adern floss Blut, so blau wie das von Jocelin. »Ich muss«, beharrte Jocelin und richtete den Oberkörper auf. Dabei verzerrte sich seine Miene zu einer Grimasse und er fluchte erneut. Liza drückte Jocelin zurück in die Kissen. »Du wirst nirgendwohin reisen.« »Ich bitte um Verzeihung, Madam«, sagte Dallas. »Aber Sie sollten ebenfalls nicht reisen.« »Ich weiß.« Jocelin schwenkte den Brief. »Ich muss zurück nach Hause.« Er warf sich unruhig im Bett umher. Blässe und Röte überzogen sein Gesicht abwechselnd und auf der Stirn und an der Oberlippe glänzten Schweißperlen. Nick schritt durch das Zimmer zum Bett, beugte sich über Jocelin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Maul halten, Kumpel. Und jetzt zeig mir den verfluchten Brief.« Die Herzogin pflegte einen weitschweifigen Stil. Ihr Brief war zehn Seiten lang, war jedoch reich an Wie derholungen. Georgina, Jocelins jüngere Schwester, hatte sich mit John Charles Hyde, dem Grafen von Threshfield, verlobt.
Nick stie ß einen leisen Pfiff aus und blickte vom Briefbogen auf. Liza trippelte mit verschränkten Armen auf und ab. Mit zusammengekniffenen Lippen und besorgter Miene beobachtete sie ihren Gemahl, der sich unruhig im Bett bewegte. »Doch nicht mit dem alten Threshf ield«, zweifelte Nick. Liza nickte und Jocelin sah Dallas an. »Doch, mit dem alten Threshfield«, bestätigte er barsch. »Threshfield, woher kenne ich den Namen nur?«, fragte Dallas unbeschwert. »John Charles Hyde, Graf von Threshfield«, erklärte Nick, »ist ein hinterhältiger, gemeiner Tattergreis, alt genug, um Jocelins Großvater zu sein.« Jocelin hatte Dallas die ganze Zeit angestarrt, der dem Blick jedoch auswich. Nick beobachtete das wortlose Spiel zwischen den beiden Männern mit wachsender Neugier; dann wurde er abgelenkt. Jocelin hatte sich zu rasch aufgerichtet, rang keuchend nach Luft und hielt sein Bein umklammert. »Sie hat es also tatsächlich getan«, sagte der verwundete Viscount von Radcliffe. »Ich hätte nie geglaubt, dass sie Ernst machen würde, aber nun ist es geschehen. Und wenn ich sie nicht davon abhalte, wird sie ihr Leben ruinieren.« »Du bleibst hier.« Liza sank entschlossen in einen Schaukelstuhl, als wollte sie sitzen bleiben, bis ihr Gemahl Vernunft annahm. »Du verstehst mich nicht. Vor ihrem Eintritt in die Gesellschaft hat Georgina mir gesagt, sie sei entschlossen, einen alten Mann zu heiraten, um so schnell wie möglich Witwe zu werden.« »Was für ein seltsamer Einfall«, bemerkte Dallas. Liza lächelte ihn an. »Georgina hat genaue Vorstellungen. Sie will auf keinen Fall einen jungen Mann, der ihr Vorschriften macht und ihr das Geld zuteilt. Sklaverei nennt sie so etwas.« Nick stand der Mund offen. Er kannte Lady Georgina nur oberflächlich, von gesellschaftlichen Ereignissen. Sie hatte auf ihn ebenso still, farblos und uninte ressant wie die meisten jungen Damen der adeligen Oberschicht gewirkt.
Für ihn verkörperte sie die schlimmsten Eigenschaften einer Dame der englischen Gesellschaft, die von mäßiger Bildung und verwöhnt war und ihre Zeit mit Nichtigkeiten vertändelte. Mädchen wie Georgina blieben bis mittags untätig im Bett. Seine Mutter dagegen hatte auf den Knien rutschend Kamine und Fußböden geschrubbt, um ihre Kinder zu ernähren. Nick hatte Respekt vor den Frauen aus seiner Schicht. Sie arbeiteten ihr Leben lang und gebaren ein Kind nach dem anderen. Frauen wie Jocelins Schwester hingegen waren nutzlose Geschöpfe. Und jetzt trieb Georgina mit diesem lächerlichen Vorhaben ihre Selbstsucht auf die Spitze. Nick erinnerte sich, wie besorgt Jocelin gewesen war, als er erfuhr, dass seine Schwester ihr Vermögen eigenmächtig verwalten wollte, entschlossen, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Nach Nicks Einschätzung war Georgina von ihrem gesellschaftlichen Debüt enttäuscht. Sie hatte zwar das gleiche tiefschwarze Haar wie Jocelin und ihre Augen leuchteten ebenso smaragdgrün wie die ihres Bruders, aber sie war auch genauso groß wie er. Sie überragte die meisten Männer. Mit ihrer goldgeränderten Brille sah sie aus wie ein Blaustrumpf. Und trotz der Schönheitswasser, die Georginas Mutter bei ihrer Tochter anwandte, waren ihre Nase und Wangen von hellbraunen Sommersprossen übersät. Bei ihrem ersten Erscheinen am Hof war Georgina über ihre Schleppe gestolpert, als sie sich rückwärts von der Königin entfernte. Dieses Missgeschick war das erste von vielen gewesen. Beim Tanzen gelang es ihr, dem Partner auf die Zehen zu treten, sie schüttete Tee über die Kleidung von Besuchern und nieste dem Prinzgemahl von Königin Victoria ins Gesicht. Ganz gleich, wen sie heiratete – Lady Georgina war in der Lage, jeden Mann zum Witwer zu machen. Aber Jocelin war krank vor Sorge um sie. »Ich warte noch eine Woche«, verkündete dieser jetzt. »Dann reise ich ab. Wenn ich länger warte, ist sie mit Threshfield verheiratet, bevor ich den Ozean zur Hälfte überquert habe.« »Von dieser Dummheit wird dein Vater sie abhalten«,
sagte Nick. »Du hast den Brief nicht zu Ende gelesen«, erklärte Liza von ihrem Schaukelstuhl aus. »Der Herzog ist mit der Verbindung einverstanden.« »Der Mann muss blind sein«, murmelte Nick. »In der Tat«, bestätigte Dallas, dem ein wenig unbehaglich zumute zu sein schien. Er räusperte sich. »Entschuldigen Sie die Offenheit, Madam. Aber mir scheint, wer eine solch ungleic he Ehe erlaubt, verrät einen Mangel an Ehrgefühl.« Liza legte Jocelin die Hand auf den Arm. »Weißt du, sie hat sich deine Tante zum Vorbild genommen. Geor gina bewundert Lady Lavinia und deine Tante wirkt als unverheiratete Frau recht glücklich.« »Georgina ist nicht Lavinia.« Jocelin starrte Dallas an. »Sie wird sich endlose Schwierigkeiten einhandeln. Du kennst Threshfield nicht. Für ihn gibt es kein größeres Vergnügen, als seiner Familie das Leben schwer zu machen. Ein beträchtlicher Teil seines Vermögens unterliegt nicht der gesetzlichen Erbfolge und er benutzt dieses Geld, um Druck auszuüben. Er tyrannisiert seine Familie mit der Drohung, das Geld Wildfremden zu vermachen. Außerdem ist Threshfield ein schrulliger Kauz. Er sammelt merkwürdige Kuns tgegenstände, aus Afrika, Australien und ich weiß nicht woher. Sein Haus ist voll gestopft mit antiken Statuen, mit Reliefs und Säulen, die man in Assyrien, Persien oder Ägypten gefunden hat.« »Ganz recht«, sagte Nick. »Außerdem ist sein Lachen gackernd und er fährt in einem quietschenden Rollstuhl durchs Haus. Und das, obwohl er mit seinen alten Knochen noch sehr flink sein kann, wenn er will. Aber er hat ein schwaches Herz. Lady Georgina könnte Witwe sein, kaum dass sie verheiratet ist.« Stöhnend sank Jocelin in die Kissen. Dallas stand vom Bett auf und auch Liza erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. Alle drei beugten sich über den Verwundeten. Jocelin Marshal begann zu keuchen und bedeckte mit dem Unterarm seine Augen. Liza blickte zu Nick auf. Die Tränen stiegen ihr hoch.
Seufzend legte Nick Jocelin die Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, Kumpel. Wenn die Sache dich derart aufregt, werde ich der Schande ein Ende bereiten.« Nick spürte, dass Liza ihre Hand in seine schob und drückte. Jocelin senkte den Arm und sah Nick an; dann blickte er fragend zu Dallas, als suchte er dessen Zustimmung. »Was sagen Sie dazu, alter Junge?« Dallas richtete seine blauen Augen träge auf Nick. »Nun, mein lieber Jocelin, wenn jemand in der Lage ist, die Heiratspläne der Lady zunichte zu machen, dann Nicholas.« »Was soll das heißen, feiner Herr?« Nick richtete sich auf und sandte Dallas einen warnenden Blick. Der Südstaatler verneigte sich. »Sir, ich möchte Ihnen damit nur ein Kompliment wegen ihrer Hartnäckigkeit und Intelligenz aussprechen. Auch ist mir nicht entgangen, mit welcher Mühelosigkeit Sie die Damenwelt zu bezaubern vermögen.« »Blödsinn«, widersprach Nick. »Ich soll der Schwester meines besten Freundes schöne Augen machen, was? Das können Sie vergessen. Zufällig weiß ich, dass Georgina eine verwöhnte Gans ist. Die braucht keinen Kavalier. Lieber sollte man ihr ordentlich den Hintern versohlen.« »Sir, achten Sie auf Ihre Sprache. Sie leben nicht mehr in der Gosse.« Nick starrte Dallas an, noch immer wütend. »Krie gen Sie das nicht in Ihren Schädel? Teiche mit blaublütigen Fischen sind nicht mein Angelrevier. Mich ekelt vor diesen blassen Geschöpfen, die beim ersten Sonnenstrahl entsetzt kreischend die Flucht ergreifen, weil ihr Teint in Gefahr ist. Ich reise nur, weil mein Freund mich braucht.« »Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt, Sir.« Nicks Zornesfalten verschwanden, um sofort wieder zu erscheinen, als er Liza und Jocelin grinsen sah. Liza stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Nick auf die Wange. »Du bist ein Schatz, Nick.« »Danke, alter Junge«, schloss sich Jocelin an. Nick zuckte mit den Schultern. »Bei dieser Gluthitze komme ich mir vor, als würde ich lebendig gekocht.
Außerdem fehlen mir meine Studien. Ich habe eine Menge Stoff nachzuholen.« »Ich kann mich darauf verlassen, dass du sie zur Vernunft bringen wirst?« Jocelin klang angespannt. »Ich liebe meine Schwester über alles und der Gedanke, sie könnte ihr Leben ruinieren, ist mir unerträglich.« »Keine Sorge. Threshfield und ich sind alte Freunde. Meine Erfahrungen waren ihm bei ein paar heiklen geschäftlichen Angelegenheiten nützlich. Für die Einla dung in sein Haus sorge ich schon selbst, verlass dich drauf. Ich werde die Hochzeit verhindern, und wenn er dafür ins Loch muss.« »Ins Loch?« fragte Dallas. »Ins Gefängnis, feiner Herr.« »Du wirst viel Entschlossenheit brauchen«, bemerkte Liza. »Georgina ist ebenso starrsinnig wie Jocelin.« »Ich kann Frauen mit Dickschädel nicht ausstehen. Aber sie soll ihr Glück nur versuchen. Ich werde schon mit ihr fertig.« »Hoffentlich bedeutet das, du lässt dich nicht von ihr einschüchtern«, sagte Jocelin. Nick schob die Daumen unter seinen Patronengürtel und marschierte zur Tür. »Das hat bis jetzt noch keine hingekriegt.« »Oh, oh«, sagte Dallas. »Ich wünschte, ich könnte dabei sein. Das Schauspiel möchte ich mit eigenen Augen sehen! Der Barbar zähmt die Lady.« »Barbar? Wen zum Teufel meint der feine Herr?«, fragte Nick. Er ahmte Jocelins militärische Haltung nach und wechselte bewusst zur schneidigen und gestochenen Ausdrucksweise eines Cambridge-Absolventen. »Ich bitte Sie. Wussten Sie denn nicht, dass man Sprache und Bene hmen der Gesellschaft anpasst, in der man sich befindet? Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten, Sir. Ich muss meine Reisevorbereitungen treffen. Dir einen angenehmen und erholsamen Tag, lieber Jocelin. Meine Verehrung, Mylady.« Er lächelte Dallas an, der ihn mit offenem Mund anstarrte. Dann schlenderte Nick aus dem Zimmer.
2 England, September 1860
In Sussex, weit draußen auf dem Land, befand sich der luxuriöse Familiensitz der Grafen von Threshfield, ein gebettet in endlose private Waldungen und einen riesigen Park. Die Bewohner von Threshfield House waren – neben dem Grafen – dessen Schwester und sein Neffe mit Gemahlin und Sohn. Allerdings legte der Graf von Threshfield auf deren Gesellschaft nicht den geringsten Wert. Das einzige menschliche Wesen innerhalb der Mauern des riesigen, im barocken Stil des achtzehnten Jahrhunderts erbauten Landsitzes, das Seine Lordschaft zum Lächeln brachte, befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer abgedunkelten Halle, in der turmhoch gestapelte Verpackungskisten lagerten. Die junge Frau war hochgewachsen. Gelegentlich vergaß sie ihre gute Erziehung und neigte sich beim Gehen nach vorn in dem Versuch, ihre Körpergröße zu verbergen. Auf der Nase trug sie eine Brille mit Goldrand, die ihre erstaunlich grünen Augen noch stärker zum Leuchten brachte. Andererseits verlieh die Brille ihr ein gelehrtes Aussehen und verhinderte auf diese Weise, dass andere die Verletzlichkeit erkannten, die sich oft in diesen edelsteinklaren Augen zeigte. Womöglich sollte die würdevolle Ausstrahlung sie vor Bloßstellung schützen. Durch den Spalt zwische n den schweren Samtportie ren, die an beiden Enden des Saales vor die großen Fenster gezogen waren, drang nur wenig Tageslicht. Lady Georgina blinzelte angestrengt, um in dem von Staubpartikeln erfüllten Lichtstab genug zu sehen. Ihre Arme verschwanden bis zu den Ellenbogen in einer Holzkiste, ordneten die darin befindlichen Gegenstände und legten dann den Deckel wieder auf. Sie wischte sich die Hände an ihrer bodenlangen Schürze sauber, hob die Kiste an und
schleppte sie ans andere Ende der Halle. Dabei kam sie an einem weiteren Turm aus Kisten vorbei. Daneben, dicht an der Wand, stand reglos und mit gespreizten Beinen eine Männerfigur mit Schakalkopf. Neben einem dritten Stapel Kisten stand hochkant und mit dem Fußende nach unten der Mumiensarg eines thebanischen Priesters. In dem Raum war es fast vollständig dunkel; dennoch erkannte Georgina die menschenförmigen Umrisse des vergoldeten Sarges mit der schwarzen Perücke und den lebensecht ausge malten Augen. Sie betrat die Galerie. An den Wänden standen Statuen von Pharaonen, von Sphinxen sowie von Wesen, die halb Mensch und halb Gott waren. Dazwischen gab es Altäre und Schaukästen. Georgina durchquerte den lang gestreckten Raum und ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden. Am Ende der Galerie schob sie mit der Fußspitze eine Tür auf und betrat die Werkstatt. Auf einem langen Tisch, auf dem sich neben Büchern, Tongefäßen und verschiedenen Kunstgegenständen weitere Kisten befanden, setzte sie ihre Last ab. »Haben Sie das Ding gefunden, Ludwig?«, fragte sie. Hinter dem Bücherstapel, auf dem zuoberst ein orientalischer Krummsäbel lag, erschien ein birnenför miger Kopf mit bereits gelichtetem Haupthaar. »Noch nicht. Oh, mein Herz, sie ist mir verloren gegangen. Das wird mir Großonkel nie verzeihen.« »Sie ist nicht verloren«, widersprach Georgina. »Noch vor einer knappen halben Stunde habe ich sie gesehen.« Hilflos blickte Ludwig auf den Säbel und breitete die Arme aus wie zum Schwimmen. Sein dicklicher Leib begann zu schwanken. Es fehlte nicht viel, und er wäre von dem Hocker, auf dem er saß, gestürzt. Dann fand Threshfields Neffe das Gleichgewicht jedoch wieder. Er zupfte an seinem dünnen Schnurrbart – ein Schnauzer, den er sich nach dem Vorbild der glanzvollen Dragoner und Husaren hatte stehen lassen, die in der Kavallerie Ihrer Majestät dienten. Voller Anteilnahme bot Georgina ihre Hilfe an. »Lassen Sie mich nachsehen, Ludwig.« Sie begann, zwischen den Büchern und Kästen auf dem
Tisch zu suchen, ging dann in die Knie und durchstöberte die um Ludwigs Hocker angesammelten Gegenstände. Schließlich verschwand sie unter der Arbeitsplatte und tauchte mit einem dünnen, in Leinen gewickelten Bündel wieder auf. Der Stoff zeigte gelb braune Altersspuren und bei dem Inhalt handelte es sich um ein röhrenförmiges Ding, das an einem Ende spitz zulief. Zwischen den einzelnen Schichten des Tuchs ruhten Skelette von Insekten und der Staub mehrerer Jahrtausende. Georgina hielt das Stoffbündel hoch und nieste. »Hier ist sie.« »Oh, mein Herz, Sie haben sie gefunden! Wie ist das Ding nur da unten hingelangt? Wissen Sie, es ist die einzige Babykrokodilmumie, die wir besitzen. Großonkel hat sie persönlich gekauft… lassen Sie mich nachsehen… 1824 in Kairo.« Ludwig nahm das winzige Krokodil, legte die Mumie auf den Tisch und griff nach einer Schreibfeder. Während Georgina sich wieder ihrer Kiste widmete, trug Ludwig kratzend etwas in das dicke ledergebundene Buch auf dem Tisch ein. »Diese Kiste enthält Fläschchen mit Khol, Salbentöpfe, eine Wagenpeitsche und Kanope -Tierkopfgefäße mit den Eingeweiden eines Montu-Hohepriesters aus der achtzehnten Dynastie.« Georgina hob ein Kosmetikfläschchen aus blauer ägyptischer Fayence hoch. »Erstaunlich. Diese Augenschminke ist tausende von Jahren alt.« Man hörte ein dünnes melodisches Klingeln. Ludw ig hielt den Atem an. Er ließ die Feder fallen, kramte in der Tasche seiner ärmellosen Weste und zog eine Uhr hervor. »Der Himmel steh mir bei! Schon zwei Uhr, und ich bin immer noch nicht mit meinen Eintragungen fertig!« Fahrig tasteten seine blassen Hände an seinem dicklichen, einem Straußenei ähnelnden Leib entlang, auf der Suche nach einem Taschentuch, mit dem er sich die Stirn abwischen könnte. »Liebste Georgina, würden Sie wohl so freundlich sein und die Lieferung entgegennehmen, die wir aus der Stadt erwarten? Sie sind so geschickt im Umgang mit der arbeitenden Bevölkerung. Und Sie wissen, diese Leute behändem den königlichen Sarkophag wie eine Büchse
Einmachfleisch.« »Natürlich, Ludwig. Seien Sie unbesorgt. Ich kümmere mich darum.« »Oh, vielen Dank. Die Fuhrleute haben Anweisung, am Hauptportal zu warten, weil ich dort mit ihnen sprechen will. Sie können auf deren Wagen steigen und dann mit ihnen zu diesem Flügel zurückfahren.« Georgina zog die Schürze aus, wischte sich die Hände an ihr sauber und begab sich auf den langen Weg vom ägyptischen Flügel zum Hauptportal von Threshfield House. Sie hatte ihr ganzes Leben in großen Häusern zugebracht, aber Threshfield war einzigartig. Vom Hauptgebäude des schlossähnlichen Landsitzes erstreckten sich wie Greifarme vier bogenförmige Korridore, die alle in einem Pavillon endeten, sodass der Grundriss Ähnlichkeit mit einer Krabbe aufwies. Georgina verließ den südwestlichen Pavillon, der auch als ägyptischer Flügel bezeichnet wurde, schritt durch den Korridor und betrat die Bibliothek. Dann durchquerte sie den riesigen Salon mit seinem gläsernen Kuppeldach. Dahinter lag die weitläufige Eingangshalle, erbaut im Stil eines römischen Atriums, versehen mit zwanzig kannelie rten Alabastersäulen. In Wandnischen standen griechische und römische Statuen und weiße Gipsfriese, die Zentauren, Siegeszeichen und Arabesken zeigten, zierten die Wände. Georgina schritt vorsichtig über den glatten Boden aus italienischem Marmor und gelangte schließlich durch de n korinthischen Säulengang hinaus auf die Freitreppe. Breite weiße Stufen führten auf beiden Seiten hinab zur Zufahrt. Die Fassade mit den Statuen von Venus, Ceres und Bacchus im Ziergiebel des Portikus sei nach dem Beispiel der Akropolis in Athen gebaut, hatte Ludwig ihr erklärt. Georgina blickte über den breiten Kiesweg und die große Rasenfläche. Ein mit vier Zugpferden bespannter Wagen ratterte auf der von alten Eichen bestandenen Allee heran. Am Ende der Zufahrt tauchte ein Reiter zwischen den Bäumen auf, die den Pferdepfad säumten. Georgina und ihre Tante Lavinia begrüßten sich winkend. Die Hände gefaltet erwartete Georgina unter dem Porti-
kus die Ankunft des Wagens. In einem Reifrock wäre der Weg durch das riesige Haus sehr viel beschwerlicher gewesen. Sie hätte das Gestell durch die Türen bugsieren und auf den Treppen vorsichtig anheben müssen. Doch heute war Werktag und sie trug ein Arbeitskleid. Sie besaß zwei Sorten von Kleidern: solche, die lang genug waren, um über eine Krinoline zu passen, und andere, deren Schnitt es erlaubte, ohne Reifrock getragen zu werden. Wenn Georgina im ägyptischen Flügel arbeitete, ließ sie die Förmlichkeit beiseite. Das war ein Luxus, der ihr zu Hause selten vergönnt gewesen war. Zum ersten Mal seit der Nachricht von Jocelins tragischem Unfall war Georgina wieder glücklich. Sie stand kurz vor ihrem Ziel: der Unabhängigkeit von ihrem Vater, für den sie kaum mehr als Verachtung empfand. Seit sie ihrer Mutter das Geheimnis um Jocelin entlockt hatte, hatte ihr Zorn beständig zugenommen. Jocelin war noch ein Junge gewesen, als sein Onkel ihn sexuell missbrauchte. Ihr Bruder hatte seine Eltern um Schutz angefleht – mit dem Ergebnis, dass man das arme Kind der Lüge bezichtigte. Der tapfere unglückliche Jocelin wurde auf dem Altar der Familienehre geopfert und von denjenigen, die ihn hätten schützen sollen, als verabscheuungswürdig verstoßen. Viele Jahre später erfuhr Georgina die Wahrheit; es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre mit einem von Tante Lavinias Gewehren auf Onkel Yale losgegangen. Tante Livy hinderte sie daran, indem sie erklärte, Onkel Yale müsse bald auf entsetzliche Weise für sein Verbrechen büßen; er werde unaufhaltsam von einer bösen Krankheit verzehrt, die Menschen mit einem sexuell ausschweifenden Lebenswandel befalle. Tante Livy weigerte sich, ausführlicher zu werden; doch mittlerweile ging es Onkel Yale sichtlich schlecht und die Krankheit zerfraß bereits sein Gehirn. Georgina spürte einen Stich in der Brust. Beim Geda nken an das Leid ihres Bruders traten ihr Tränen in die Augen. Sie hatte sich nie dem Schmerz des Mitgefühls verschließen können. Sie litt unter nächtlichen Albträumen,
in denen Jocelin die entsetzlichsten Dinge widerfuhren, während sie daneben stand, unfähig, ihm zu helfen. Georgina schluckte fest und zwang sich, an ange nehmere Dinge zu denken. Sie hatte mit ihrem Vater eine erfreuliche Übereinkunft erzielt. Im vergangenen Jahr war der Herzog in einen finanziellen Engpass geraten und ihm drohte die Gefahr, seinen aufwändigen Lebensstil, an den er gewöhnt war und der ihm als angestammtes Geburtsrecht erschien, aufgeben zu müssen. Als Gegenleistung für die Einwilligung des Herzogs zu der geplanten Hochzeit würde der Graf die gesamten Schulden Clairemonts begleichen. Georgina empfand große Sympathie für Threshfield. Sie waren Verbündete, denn Threshfield half ihr, sich dem eisernen Joch zu entziehen, mit dem die Familie ihr drohte – und er handelte uneigennützig. Mehr noch: Für Threshfield war Georgina eine Heilige, die das schwere Opfer brachte, ein paar Jahre ihres Lebens im Kreis seiner habgierigen und absonderlichen Familie zu verbringen. Bei dem Gedanken an Threshfields sarkastische Bemerkungen über die derzeitig in der Familienresidenz lebenden Hydes huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Inzwischen war der Wagen langsam vor die Freitreppe gerollt. Der Fahrer zog die Bremse und sprang auf den Kiesweg. Er zog die Mütze und verneigte sich. Georgina hörte seinem wortreichen Bericht zu, wie mühsam es gewesen sei, den roten Granit-Sarkophag unbeschädigt aus dem Eisenbahnwagon zu wuchten und auf den Wagen zu verladen. Sie schritt um das Gefährt herum, zog an den Vertäuungen und begutachtete die Schichten mehrfach übereinander gelegter wattierter Decken, die den schweren Holzbehälter vor Erschütterungen schützten. Sie hatte gerade ein Tauende entdeckt, das sich auf der Fahrt vom Bahnhof gelöst hatte, als einer der Gehilfen etwas rief und mit der Hand hinter sie wies. Sie drehte sich um und blickte auf die Eichenallee. Wie eine Erscheinung näherte sich ein Reiter auf einem riesigen Schwarzschimmel. Der Reiter musste sie gesehen haben, denn jetzt beugte er sich über den Hals des großen
Tieres und trieb es zu einem wilden Galopp an – in ihre Richtung. Das Pferd beschleunigte innerhalb kürzester Zeit und galoppie rte direkt auf Georgina zu. Die umstehenden Männer stoben zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen. Verärgert über die unerklärliche Feindseligkeit schob Georgina die Brille höher und hob das Kinn, ohne sich vom Fleck zu ruhen. Sie bereute ihre Entscheidung jedoch sofort. Durch die Schuhsohlen spürte sie, wie das Hufgetrappel den Boden erbeben ließ. Dieser rücksichtslose Unbekannte versuchte, ihr Angst einzujagen. Es gelang ihm und nun wurde Georgina wütend. Pferd und Reiter bogen in die kiesbedeckte Zufahrt ein und donnerten ihr in nicht gedrosseltem Tempo entgegen. Die Hufe bohrten sich bei jedem Schritt in den Boden, kleine Steinchen spritzten zur Seite. Plötzlich, im letzten Moment, wurde der Schwarzschimmel herumgerissen, der Reiter schwang ein Bein über den Sattel und hielt sich an dem noch immer im Galopp laufenden Tier fest. Als er Georgina fast erreicht hatte, sprang er ab und rannte weiter, um nicht zu stürzen. Eine Schrittlänge vor ihr kam er zum Stehen. Das Pferd trabte an Georgina vorbei. Sein Besitzer pfiff. Das Tier hielt sofort an, machte kehrt und kam langsam zu ihnen zurück. Georgina reckte das Kinn noch mehr in die Höhe und verengte die Augen zu Schlitzen, als sich der Fremde näherte. Er war fast so hoch gewachsen wie sein riesenhaftes Pferd, und dabei schlank wie jemand, der schwer arbeiten musste und wenig zu essen bekam. Der Fremde zog den Hut. Sein langes kastanienbraunes Haar wirkte struppig und ungepflegt und einige bernsteinfarbige Strähnen sahen aus wie von der Sonne gebleicht. Er warf den langen Mantel zurück; dabei wurde über seiner Hüfte ein Pistolengürtel sichtbar. Stiefel mit hohen Absätzen knirschten auf dem Kies. Der Fremde hakte den Daumen in seinen Gürtel und trat auf Georgina zu. Für einen Moment glaubte diese, eine gewisse Vertrautheit zu spüren – nicht, weil sie den Mann kannte, sondern weil Jocelin ihr erzählt hatte, wie ein amerikanischer Pionier aussah. Sie öffnete den Mund, um den Fremden zu fragen, ob
ihr Bruder ihn geschickt hatte, aber er kam ihr zuvor. Seine dunkelblauen Augen glitten genüsslich an ihr entlang, als wäre sie eine köstliche Süßspeise. Dann schien er sie zu erkennen. Um seine Augen erschienen Fältchen, aber nicht, weil er lächelte. Er wirkte vielmehr verärgert. »Wenn das nicht die gute alte George ist. Mädchen, nach Ihnen habe ich das halbe Königreich abgesucht. Ihr Papa wollte ums Verrecken nicht damit heraus, wohin Sie verschwunden waren. Aber jetzt habe ich Sie. Los, packen Sie Ihre Siebensachen, und dann los. Verstanden?« Georgina zog die Brauen zusammen und straffte ihre Schultern. »Wie bitte?« »Ja, da staunen Sie.« Er verzog den Mund zu einem halb verächtlichen und halb anerkennenden Grinsen. Nicht umsonst war Georgina die Tochter eines Herzogs. Sie speiste den unzivilisierten Eindringling mit einem kühlen Nicken ab, drehte auf dem Absatz und wandte sich an den auf Threshfield dienenden Butler, der bei der Ankunft des Reiters aus dem Haus getreten war. »Randall, schicken Sie diesen Menschen fort.« »Sehr wohl, Mylady.« »Warten Sie. Nicht so hastig.« Georgina blieb auf ihrem Weg um die Kutsche ste hen. »Wie es scheint, sind Sie auf der Suche nach einer Person mit dem Namen George, Sir. Auf Threshfield gibt es aber niemanden mit diesem Namen.« An der Hüfte des Fremden legte sich ein Lederhandschuh um den Griff des Revolvers. Georgina verbarg ihr Unbehagen hinter einem starren, maskenhaften Ausdruck. Dieser Mann sprach mit dem gleichen ge dehnten und nachlässigen Akzent wie Jocelin bei seiner Rückkehr aus Amerika. Aber nicht nur der Akzent war derb. Seine Stimme klang kehlig, dunkel drohend und mit einem Ton wissender Vertraulichkeit, den man als nahezu unverschämt bezeichnen konnte. »Sie hör’n mir jetzt zu, George. Jocelin hat mich geschickt, damit ich Sie hole. Und das werd ich auch tun. Also packen Sie Ihr Zeug und dann reiten wir los.«
Georgina war sicher gewesen, ihn nicht zu kennen. Die Haut des Fremden war sonnenverbrannt, er war verschwitzt und die schwarzen Stoppeln in seinem Gesicht verrieten, dass er sich seit mindestens zwei Tagen nicht mehr rasiert hatte. Sein Hemd stand offen, sodass sie seine Brust sehen konnte. Eine Männerbrust! Kein Gentleman mutete einer Dame diesen Anblick zu. Aber wieder hatte er sie George genannt und dieses unbestimmte Gefühl von Vertrautheit kehrte zur ück. Vor vielen Jahren hatte es jemanden gegeben, der sie George nannte. Es war dieser elegant gekleidete Prole tarier gewesen, der Protege ihres Bruders, bei dessen Anblick das Gesicht ihres Vaters dunkelrot angelaufen war. Prüfend sah Georgina in die tiefblauen Augen, die an manchen Stellen hell wie Saphire leuchteten. Ihr Blick glitt über die breiten Schultern, dann zu seinem Kinn. In der Mitte, zwischen den dunkelbraunen Bartstoppeln, erkannte sie eine leichte Kerbe. Erschroc ken stieß Georgina den Atem aus. »Lieber Himmel, Sie sind Mr. Ross!« »Klar, wer sonst?« »Mr. Ross«, wiederholte Georgina dumpf, bevor sie die Fassung zurückgewann. Dieser Gossenmensch zwang sie tatsächlich, sich mit ihm im Beisein der Dienstboten über private Dinge zu unterhalten; aber ins Haus, wo er allein mit ihr sprechen konnte, würde sie ihn nicht lassen. »Ich weiß, dass mein Bruder sich meinetwegen Sorgen macht. Ich habe ihm geschrieben und sicher ist der Brief längst bei ihm eingetroffen. Also haben Sie den weiten Weg völlig umsonst auf sich genommen. Es tut mir Leid, aber Jocelin handelt gern eigenmächtig. Ich werde bleiben, wo ich bin, und schon gar nicht mit einem Menschen fortgehen, den ich kaum kenne. Guten Tag, Mr. Ross.« Georgina kehrte ihm den Rücken zu. Als Nächstes hörte sie ein ungewohntes Geräusch. Metall rieb gegen Leder, dann folgte ein Klicken. Sie blieb stehen. Einer der Fuhrleute fluchte. Georgina warf einen Blick über die Schulter und blickte geradewegs in den dunklen Lauf eines Revolvers. Sie hob das Gesicht und begegnete dem unbeweglichen Blick des unangemeldeten Besuchers, den
sie als Mr. Ross erkannt hatte. Die Augen einer Schlange hätten nicht kälter starren können. »Los! Und stolpern Sie nicht über Ihren Rocksaum. Jos hat gesagt, dass Sie ein Dickkopf sind und ich Geduld mit Ihnen haben muss. Aber ich habe keine Lust, mich mit einem verwöhnten blaublütigen Geschöpf wie Ihnen herumzuärgern. Dazu bin ich nicht durch einen ganzen Kontinent geritten und habe den Ozean überquert. Jos liegt mit einer schweren Schussverletzung im Bett und es ist eine gottverdammte Gemeinheit, dass Sie ihm solchen Kummer machen. Am besten nehm ich Sie gleich mit nach Texas. Dann kann er sicher sein, dass Sie sich nicht in die Ehe mit diesem alte n Bock stürzen.« »Was fällt Ihnen ein, Sie rüpelhafter…« »Maul halten!« Nick fuhr herum und richtete den Revolver auf den Wagenkutscher und Randall, die beide auf ihn zukamen. »Und keiner rührt sich vom Fleck.« Wieder hörte man ein helles metallisches Klic ken. Als sich die um den Wagen Versammelten umwandten, sahen sie eine Frau mit einem Gewehr in der Hand näher treten. Georgina lächelte, Nicks Kinnlade sackte nach unten. Die Frau hatte silbriges Haar, aber bis auf die sehr zarte Andeutung einiger Alterslinien war ihr Gesicht frei von Falten. Sie trug weite Kniehosen, eine Reitjacke und Stiefel. »Tante Livy«, sagte Georgina. Lavinia nickte, den Blick und die Jagdflinte auf Nick gerichtet. »Ein schöner Nachmittag, meine Liebe, nicht wahr?« Langsam schob Nick seinen Revolver in das Halfter zurück und spreizte die Hände. Der Gewehrlauf senkte sich, bis die Mündung auf den Boden zeigte. Lavinia stieß einen dunklen anerkennenden Laut aus, den der Gegenstand ihrer Bewunderung mit einem Grinsen beantwortete. Sie bemerkte es und betrachtete ihn mit wachsender Neugier. »Wer sind Sie, junger Mann?« »Nicholas Ross, Madam. Ich komme aus Texas. Dort habe ich eine ganze Weile auf Jocelins Ranch verbracht.« »Das müssen Sie wohl, da sie sich in einen Revolverhel-
den verwandelt haben«, entgegnete Lavinia. »Jos schickt mich. Ich soll die gute alte George holen, damit sie ihr Leben nicht vollständig verpfuscht. Er wäre selbst gekommen, aber er liegt mit einer Verletzung im Bett. Ein besoffener Cowboy hat ihm eine Kugel ins Bein gejagt. Er ist furchtbar sauer auf seine Schwester und ich hab mir vorgenommen, das zu ändern.« »Wie interessant.« Lavinia wandte sich mit fragendem Blick an Georgina. Bis zu dem Zeitpunkt, als Nick sie vor Tante Lavinia mit George anredete, hatte Georgina ihre Wut nicht bemerkt. Ihre anfängliche Verstimmung hatte sich in rasenden Zorn verwandelt. »Eine Anmaßung! Ich gedenke nicht, mir noch mehr von diesem albernen Geschwätz anzuhören, und schon gar nicht, zu tun, was Sie verlangen.« Durch die goldumrandete Brille starrte sie ihren Peiniger an und bot sämtlichen Hochmut auf, dessen sie fähig war. »Sie besitzen weder ein Recht noch die Macht, über mich zu verfügen, Sir. Und ich habe nicht vor, mich weiter misshandeln zu lassen. Bitte richten Sie meinem Bruder die besten Grüße von mir aus, wenn Sie nach… Texas, so hieß die Gegend, nicht wahr?… zurückkehren.« »Halt«, sagte Nick scharf, als Georgina zur Vorderseite des Wagens gehen wollte. »Mr. Ross.« Sie war verzweifelt bemüht, ihre Verle genheit und ihren Zorn vor den Dienstboten kein zweites Mal zu offenbaren. »Sie verwechseln mich offenbar mit Ihrem Reitpferd.« »Kann schon sein, George. Aber für eine Stute stellen Sie sich verdammt störrisch an.« Georgina hörte das unterdrückte Kichern der Fuhrleute. Kichern! Röte stieg ihr ins Gesicht. Sie straffte den Rücken und fuhr herum, dass sich die Rockbahnen bauschten, streckte dem Rollkutscher ihre Hand entge gen und kletterte auf den Wagen. Der Kutscher erhob sich und rückte zur Seite. Von ihrem erhöhten Platz aus betrachtete sie den unerwünschten Besucher mit einem Gesicht, als hätte sie in ihrem Nähkasten eine Ratte entdeckt. »Um in gepflegter Gesellschaft zu verkehren, mangelt es
Ihnen an jeglichem Feingefühl, Sir. Ich fordere Sie auf, Threshfield auf der Stelle zu verlassen. Sollten Sie sich weigern, werde ich den Grafen benachrichtigen, damit er Befehl gibt, Sie von hier zu entfernen.« Nick Ross setzte seinen Hut wieder auf und schob ihn dann in den Nacken. Er grinste hinauf zu Georgina. »Ich hab schon gehört, wie eingebildet und hochfahrend Sie sind.« Nick warf einen Blick auf Lavinias Flin te. »Sieht so aus, als ob es länger dauert, bis die Dame Vernunft annimmt. Ich werde hier bleiben müssen und sehen, was ich tun kann, damit sie freiwillig mitkommt.« Zu Georginas Bestürzung schlenderte er zum Wagen, lehnte sich über die Kante und streckte den Arm aus, als wollte er sie packen. Georgina sprang zur Seite und stieß mit dem Kutscher zusammen. Mr. Ross grinste so unverschämt, dass sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Er fasste ihren Rock, dessen Zipfel über dem Vor derrad hängen geblieben war, und schob den Stoff in den Wagen. Seine ledernen Handschuhe verhinderten den Hautkontakt. Dennoch spürte sie, als er ihren Rocksaum in der Hand hielt, dass ihr glühend heiß wurde und ihre Sinne sich verwirrten. Von Nick schien eine sengende Hitze auszugehen, die durch den Stoff auf ihre Haut drang. Georginas Beklommenheit wuchs noch, denn jetzt beugte er sich vor und gewährte ihr damit einen tiefen Blick in den offenen Hemdkragen auf ein Stück sonnenverbrannter Männerbrust. »Aber Sie können mich auch sofort loswerden«, sagte er leise. »Sie müssen mir nur versprechen, dass Sie nach Hause zu Ihrem Vater zurückkehren.« »Gehen Sie, Sir. Sonst muss ich mit dem Grafen sprechen.« Er trat vom Wagen zurück, stemmte die Hände in die Hüften und blickte zu Georgina hinauf. Ein unverschä mtes, schmutziges Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Wird Ihnen nichts nützen. Ich bin eingeladen. Dafür hab ich selbst gesorgt. Threshfield und ich stehen auf gutem Fuß. Warum geben Sie nicht auf? Wär besser für Sie.« Mit zusammengepressten Lippen und glühenden Wangen
bedeutete Georgina dem Kutscher mit einem Nicken, den Wagen in Bewegung zu setzen. Nicks Schmunzeln versuchte sie zu ignorieren, obwohl ihr vor Zorn Schauer über den Rücken rieselten. »Bis nachher, George. Vielleicht haben Sie dann mehr an.« Der Wagen entfernte sich, und er rief laut: »Bei Ihrem Kleid fehlen die Unterröcke.« Diese letzte Demütigung raubte ihr endgültig die Fassung. Sie drehte sich auf dem Kutschbock um und blickte erbost zurück zu dem hoch gewachsenen, staubbedeckten Grobian. Zum ersten Mal in ihrem Leben schrie sie lauthals vor der Dienerschaft: »Der Teufel soll Sie holen, Nicholas Ross! Sie nichtswürdiges Ungeziefer! Ich werde mit höchster Genugtuung zusehen, wie Sie von hier entfernt werden. Mein Wort darauf!«
3 Nick verfolgte mit seinen Blicken den Wagen, der mit Georgina über die Kieszufahrt rollte, einen Bogen beschrieb und hinter dem nordwestlichen Flügel von Threshfield House verschwand. Er schob seinen Hut tiefer in die Stirn, ging hinüber zu Pounder und gab die Zügel einem der Lakaien, der mit Randall aus dem Haus gekommen war. Er war so sicher gewesen, dass seine Taktik, den Revolverhelden aus dem Wilden Westen zu spielen, erfolgreich sein würde. Jede andere junge Aristokratin hätte schreiend die Röcke gerafft und wäre zu ihrem Vater geflohen. Lady Georgina jedoch hatte ihm die Stirn geboten. Jetzt saß Nick in der Klemme und musste sich einen anderen Weg überlegen, um sie von Threshfield fortzulocken. Er hatte noch weitere Tricks auf Lager, auch einige ziemlich niederträchtige. Den wilden Revolverhelden zu spielen, war ihm als die wirksamste Methode erschienen. Er warf einen Blick auf den Butler und die Dame in Männerhosen. Beide starrten ihn an. Noch immer schweigend, tätschelte er
Pounders Flanke, nahm die Satteltaschen herunter und warf sie sich über die Schulter. Zum ersten Mal, seit er aufgebrochen war, um seinem Freund zu helfen, war er beunruhigt. Nein, nicht nur beunruhigt. Er war sogar verdammt nervös. Lady Georgina entsprach nicht dem Mädchen, das er erwartet hatte. In seiner Erinnerung war sie ein unbeholfenes halbwüchsiges Ding mit Brille und nun hatte er eine schwarzhaarige junge Dame vor sich, deren majestätisches Auftreten Königin Victoria in nichts nachstand. Auch ihre Körpergröße trug zu der Erhabenheit bei. Und diese junge Dame stolperte längst nicht mehr über ihre eigenen Füße. Aber niemand würde sie als große Schönheit be zeichnen. Nick war mit den Maßstäben vertraut, nach denen der Adel einer Dame Anmut bescheinigte. Geor gina war nicht zierlich genug und besaß einen zu entschlossenen Charakter; außerdem zierten unzählige Sommersprossen ihren Nasenrücken und die Wangen. Gegen seinen Willen musste er bei der Vorstellung lächeln, wie ihre Brille immer wieder die entzückende Nase herunterrutschte. Seine Wut auf sich selbst wurde dadurch nur noch größer – denn kaum war er vom Pferd gesprungen und hatte Lady Georgina gegenübergestanden, da wurde er von einer Begierde gepackt, die sich tief in sein Inneres bohrte. Früher hatte er immer nur wenige Minuten in ihrer Nähe verbracht, und zwar ohne diese lästigen Begleiterscheinungen. Doch in den zwei Jahren seit ihrer letzten Begegnung hatte sie sich verändert. Nick wusste nicht genau, in welcher Hinsicht. Seinen Körper schien diese Unwissenheit nicht zu stören. Er begehrte die Schwester des Mannes, den er wie einen Bruder liebte, heftig. Nick Ross, du bist ein widerwärtiger, nichtsnutziger Gauner, der es nicht verdient, am Leben zu sein. Jos ist der großherzigste Kerl der Welt und du glaubst im Ernst, er will, dass seine Schwester sich einem Dieb und Einbrecher aus Whitechapel hingibt? Du verdankst Jos dein Leben und wirst ihm seine Freundschaft kaum vergelten, indem du mit dem Mädchen etwas anfängst, das du in seinem Namen beschützen sollst. Himmel und
Hölle. Verkneif dir das Vergnügen. Halt dich zurück, Mann. Erledige deinen Auftrag, und dann nichts wie weg.
Immerhin, er hatte Glück. Lady Georginas Hass war ihm gewiss, wenn er versuchte, die Verlobung zwischen ihr und Threshfield zu zerstören. Und mit einer Frau, die ihn hasste, würde Nick nicht schlafen. Die Gefahr war also gebannt. Jos konnte beruhigt sein. Und die Dame ebenfalls. Zufrieden kehrte Nick zu der Frau mit der Jagdflinte zurück. Er warf einen bedächtigen Blick in die Richtung, in der der Wagen verschwunden war, und schüttelte den Kopf. »Verflucht, das kann heiter werden.« »In der Tat, junger Mann«, antwortete die bewaffne te Dame. Sie nahm das Gewehr in den anderen Arm und reichte ihm die Hand. »Ich bin Lavinia Stokes, Lady Georginas Tante.« Nick beugte sich über die ihm dargebotene Hand; die Satteltaschen rutschten ebenfalls nach unten. »Sehr erfreut, Madam.« Er warf einen verstohlenen Blick auf ihre Männerhose. Eine Frau in Männerkleidung war ihm noch nie begegnet, nicht einmal während der langen Zeit in Texas. Ein denkwürdiger Anblick. Jos hatte ihn gewarnt; Tante Lavinia sei Georginas großes Vorbild und Georginas Plan, ihre Freiheit zu gewinnen, gehe ganz sicher auf den Einfluss der Tante zurück. »Jetzt weiß ich, wer Sie sind«, fuhr Lavinia fort. »Ich erinnere mich, dass Jocelin von Ihnen gesprochen hat. Was ist in Sie gefahren, dass Sie meine Nichte mit Ihrem merkwürdigen Auftritt drangsalieren?« »Jos hat mich geschickt. Ich soll die Verlobung verhindern, Madam.« »Das ist Ihnen misslungen.« »Ganz und gar nicht. Ich habe noch mehr auf Lager.« Lavinia nickte ernst und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. »Warum?« »Wie, warum?« »Junger Mann, Ihr Gehör ist vollkommen in Ordnung. Ich frage, warum Sie als Außenstehender gewaltsam hier eindringen.«
»Ich tu es für Jos, Madam.« Lady Lavinia sah ihn scharf von der Seite an und Nick wusste, dass sie ihm nicht glaubte. Er überlegte, ob sie auch seine unschickliche Reaktion auf ihre Nichte bemerkt haben könnte. Was würde er tun, falls Tante Lavinia ihr Gewehr auf ihn richtete und ihm befahl, Threshfield auf der Stelle zu verlassen? Jetzt betrachtete sie ihn mit einem langen forschenden Blick, unter dem er beinahe errötete. »Sie dürfen bleiben, junger Mann, vorausgesetzt, Sie halten sich an eine Abmachung.« Verblüfft setzte Nick ein Lächeln auf, mit dem er Damen der Gesellschaft und Fabrikmädchen gleichermaßen gewann. »Und was für ‘ne Abmachung könnte das sein, Madam?« »Sie haben die Erlaubnis, alles zu versuchen, um meine Nichte von der geplanten Heirat mit Seiner Lordschaft abzubringen. Mit friedlichen Mitteln. Und keine unerquic klichen Auftritte mehr. Haben wir uns verstanden?« »Vollkommen, Madam«, sagte er leise und schob den Hut zurück. Eine Strähne seines kastanienbraunen Haares fiel ihm in die Stirn. Lady Lavinias Blick huschte zu der verirrten Haarlocke, dann sah sie ihm wieder in die Augen. »Seien Sie vorsichtig, Sir. Jocelin erwähnte auch, Sie besäßen den Charme Byrons, gepaart mit der Skrupellosigkeit eines Kosaken. Ich erinnere mich sogar, dass Jocelin mir eine recht lange Liste adeliger Damen nannte, die sich mit dem Teufel eingelassen haben. Obwohl sie es eigentlich besser hätten wissen müssen.« »Teufel, Madam? Ich protestiere.« Lavinia trat zu ihm heran. Ihre Stiefel knirschten auf dem Kies. »Georgina ist ein kluges Mädchen«, sagte sie leise. »Viel klüger, als Jocelin annimmt. Vergessen Sie das bitte bei Ihrem Unternehmen nicht, Mr. Ross. Ich vertraue Ihnen, weil mein Neffe Ihnen vertraut, offensichtlich sogar vollkommen. Und ich respektiere Jocelins Urteil. Also benehmen Sie sich.« »Ja, Miss Lavinia.« »Und hören Sie auf, in dieser unmöglichen amerika ni-
schen Sprache zu reden«, sagte Lavinia. Sie wandte sich dem monumentalen, von korinthischen Säulen getragenen Portikus zu. »Meine Nichte mögen Sie genarrt haben, aber mir können Sie nichts vormachen.« Nick lüftete seinen Hut, schwenkte ihn im Halbkreis und verneigte sich. »Ganz zu Ihren Diensten, Madam.« Er setzte den Hut wieder auf, rückte die Satteltaschen zurecht und winkte Randall, der sich diskret außer Hörweite begeben hatte. Er reichte dem Butler eine geprägte Visitenkarte und wechselte in die näseln de Sprechweise, die ihm seine Lehrer während der letzten Jahre eingedrillt hatten. »Hat Seine Lordschaft Sie von meinem Besuch in Kenntnis gesetzt?« Randall warf einen Blick auf die Karte. Seine Augen weiteten sich, aber er erholte sich rasch. »Natürlich, Sir. Ihr Kammerdiener ist soeben mit dem Gepäck eingetroffen. Darf ich Sie auf Ihr Zimmer führen?« »Gern.« Randall bot sich an, die Satteltaschen zu tragen, aber Nick lehnte ab und folgte dem würdevoll einherschreitenden Butler die Freitreppe hinauf ins Haus. Das Haus glich eher einem Palast als einer gewöhnlichen menschlichen Behausung. Der Saal, den Nick nun betrat, wirkte wie eine riesige Höhle in Merlins Zauberreich. Als Erstes fielen ihm die Wandnischen auf, in denen Statuen nackter Männer und Frauen standen. Einige Figuren erkannte er aus den Lektionen seines Kammerdieners, der gleichzeitig sein Lehrer war. Beim Anblick der reizvolle n Kurven Ariadnes verlangsamte er seinen Schritt. Randall hatte bereits die Halle durchquert, als Nick an einer Statue vorbeikam, die den David von Michelangelo darstellte. Neben den Rippen des schönen Jünglings entsprang ein zweiter Kopf. Er trug eine eng anliegende federgeschmückte Haube, unter der üppig ein Kranz blonder falscher Locken hervorquoll. Sie umrahmten ein gepudertes Gesicht voller Runzeln. »Ssst!« Nick blieb stehen. Die fremde Person kam aus ihrem
Versteck und gab ihm mit der Hand ein Zeichen, näher zu treten. Nach einem Blick zu Randall, der mit absichtlich unbeteiligter Miene die Decke betrachtete, ging Nick zu der Dame. Sie trug ein rosafarbenes Gewand aus leichtem Musselin mit hoher Taille, Puffärmeln und eng anliegenden langen Unterziehärmeln. Damen mit dieser Kleidermode kannte er von Gemälden, die vor einem halben Jahrhundert entstanden waren; im Gesicht dieser höchst lebendigen Dame jedoch fand sich die typische Adlernase der Hydes. Ihre ausgeprägten Züge bildeten einen merkwürdigen Kontrast zu ihrer zierlichen Erscheinung mit Löckchen, Hutfedern und rosafarbenem Musselin. Nick betrachtete ihre flachen Seidenpumps, die Brosche mit dem Bildnis des Prinzregenten an dem hohen Kragen und den fransenbesetzten seidenen Sonnenschirm. Mit rot geränderten, bohnenbraunen Augen blickte die Dame unruhig umher, als erwarte sie im nächsten Moment einen Angriff. Dann packte sie Nick mit behandschuhten Fingern am Arm und zog ihn mit in die Nische, bis sie eingezwängt zwischen Wand und Statue standen. »Ich habe Sie eintreffen sehen«, flüsterte sie verzweifelt und unterbrach sich, um einen misstrauischen Blick auf Randall zu werfen. »Kommen Sie von der Halbinsel?« »Von der Halbinsel?« »Von Wellesley«, sagte sie. Ihre Stimme war hoch und quietschend, eine unglückliche Eigenschaft, mit der sehr junge Damen gelegentlich geschlagen waren. »Es geht um die französische Spionin. Ich habe Ihre Auseinandersetzung mit ihr beobachtet. Sie müssen sehr vorsichtig zu Werke gehen, sonst werden Sie von ihr erledigt. Ich habe den Marquis schriftlich von ihrem Erscheinen unterrichtet und er hat versprochen, je manden zu schicken, der mir zu Hilfe kommt. Schsch!« Sie zog Nick näher zu sich heran und senkte die Stimme. »Napoleon hat sie geschickt, um die Botschaften abzufangen, die ich mit der Krone austausche. Ich bin die Vermittlerin zwischen dem Prinzregenten und Wellington, wie Sie wissen.« Sie schwieg und sah ihn voller Stolz an, als erwarte sie
eine Antwort. Nick bekämpfte den Drang, diese geschrumpfte Empireschönheit verständnislos anzustarren, und nickte stattdessen höchst ernsthaft. »Natürlich, Mylady.« Bei dem leisen Geräusch einer ins Schloss fallenden Tür fuhr seine Gesprächspartnerin zusammen und ließ ihren Schirm fallen. Nick hob ihn auf. »Ich muss gehen. Man darf uns nicht zusammen sehen. Ich bin froh, dass Wellington endlich geantwor tet hat, was ich bei meiner Stellung auch erwarten konnte. Aber jetzt werde ich über seine Säumigkeit kein Wort mehr verlieren.« Sie streckte den Kopf aus der Wandnische hervor, stellte fest, dass Randall sich umgewandt hatte, und ließ ihn allein. Er sah ihr nach. Unter dem knöchellangen Rocksaum des Empirekleides lugten kleine Seidenpumps hervor, mit denen sie über den Marmorboden trippelte. Dann verschwand die wunderliche Erscheinung aus seinem Blickfeld. Nick ging zu Randall, der mit erhobenem Haupt seinen Weg nach oben über die elegant geschwungene und mit einem dicken königsblauen Teppich belegte Treppe fortsetzte. »Hmm, Randall?«, begann Nick. »Ja, Sir.« »Diese Dame…« »Lady Augusta Hyde, Sir. Die unverheiratete Schwester des Grafen.« »Aha. Dachte ich’s mir doch.« Randall räusperte sich. »Ihre Ladyschaft besitzt ein etwas kapriziöses Erinnerungsvermögen, Sir.« »Aha. Ja, das würde die Sache erklären.« »So ist es, Sir.« »Lady Augusta hält Lady Georgina offenbar für eine französische Spionin.« »In der Tat, Sir. Eine nicht ungewöhnliche Neigung Ihrer Ladyschaft, auf das Erscheinen Fremder in die sem Haus zu reagieren. Der Graf hat mich mit der Auf gabe betraut, neue Gäste von den seltsamen kleinen Eigenarten Ihrer Ladyschaft in Kenntnis zu setzen. Unglücklicherweise
hatte ich bis jetzt keine Gelegenheit dazu, Sir.« »Macht nichts, Randall.« »Ich danke Ihnen, Sir.« Randall hielt vor einer weiß en, mit Goldornamenten verzierten Doppeltür und öffnete sie. »Ihr Zimmer ist die Charles-der-ZweiteSuite auf der Herrenseite des Haupthauses. Die Gemächer Seiner Lordschaft befinden sich am Ende des Saales. Lady Lavinia und Lady Georgina bewohnen die Räume auf der gegenüberliegenden Ostseite und die Familie ist im nordwestlichen Pavillon untergebracht.« Nick betrat die Suite und das helle Goldweiß der Möbel, Tapeten und Vorhänge blendete seine Augen. Hier gab es mehr Gold und Vergoldungen, als er seit Erwerb seines letzten Landschlosses vor fünf Jahren gesehen hatte. Er wartete, bis Randall den Raum verlassen hatte. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stürmte er durch den Salon. »Pertwee, wo sind Sie? Pertwee!« »Ich bin beim Kleiderschrank, Sir.« Sein Kammerdiener Pertwee hängte eine Anzughose in den vergoldeten Kleiderschrank. Sein orangerotes Haar war mit Öl geglättet und an seinem Jackett baumelte das Monokel. Pertwees Kleidung war wie immer tadellos sauber und gebügelt. Nick hatte nie verstanden, wie sein Kammerdiener dieses Kunststück be werkstelligte, denn sie reisten gemeinsam im Zugabteil, fuhren in derselben Kutsche über Land und legten zu Pferde die gleichen Strecken zurück. Vielleicht lag es daran, dass Theophrastus Pertwee dürr wie eine Heuschrecke war und kein Stäubchen an ihm hängen blieb; oder es lag an der Erziehung durch seinen Vater, einem pedantischen alten Schulmeister. »Pertwee, Beeilung, fix. Ich muss sofort ‘was anderes anziehen, damit ich mit diesem verfluchten Threshfield reden kann.« Pertwee schloss betont sorgfältig die Schranktür. »Sir, Sie haben darum gebeten, dass ich Sie darauf auf merksam mache, wenn Ihre Sprache oder Ihre Manie ren zu wünschen übrig lassen. Eben haben Sie sich ausgedrückt wie ein billiger Straßenverkäufer.«
»Lassen Sie doch meine verdammte Sprache.« Nick begann, sich selbst seiner Kleider zu entledigen. Pertwee rührte sich nicht von der Stelle, sondern polierte stattdessen das Monokel. Nick warf sein Hemd auf das riesige vierpfostige Himmelbett mit den weißen Vor hängen aus Seidendamast. »Also gut, verdammt.« Er atmete ein paar Mal tief durch und setzte zu einem zweiten Versuch an. Die Schultern gestrafft, das Kinn nach oben gereckt, fiel er in den Ton, der in Mayfair, am Grosvenor Square und in den königlichen Salons gepflegt wurde. »Würden Sie mir bitte ein Bad einlassen und meine Kleider zurechtlegen, Pertwee. Und bitte beeilen Sie sich, denn ich möchte unverzüglich eine Unterredung mit Seiner Lordschaft führen.« »Sofort, Sir.« Pertwee bewegte sich aus dem Raum, als glitte er auf geölten Rädern. Nick begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Es würde Pertwee verstimmen, wenn er selbst versuchte, sich saubere Kleider zusammenzusuchen. Ein Gentleman legte sich seine Garderobe nicht selbst zurecht und ließ sich nicht selbst ein Bad ein. Seit Jocelin ihn damals aus der Gosse rettete, hatte Nick gelernt, dass ein Gentleman verdammt wenig allein tat, wenn er jemanden finden konnte, der ihm die Dinge abnahm. Er ließ den Blick durch das Schlafzimmer schweifen. Im Zimmer standen zierliche Stühle im Louis-Quinze Stil, ein Barockschrank und eine Truhe; alle Möbel waren üppig mit goldenen Schnörkeln verziert. Sogar die Glockenkordel trug eine Goldstickerei. Während Nick die überladene Einrichtung betrachtete, überwältigte ihn erneut die Empfindung, mit der er bereits seit einer ganzen Weile lebte. Es war ein merkwürdiges Gefühl von Unverbunde nheit. Erst kürzlich hatte er entdeckt, woher dieses Gefühl rührte. Er führte hier in England das Leben eines reichen Gentleman. Seine Landschlösser waren größer als Threshfields Anwesen und sein Stadthaus brauchte den Vergleich mit einer herzoglichen Residenz nicht zu scheuen. Nick hatte sich an eine glanzvolle und prunkvoll goldene
Umgebung gewöhnt. Aber tief im Innern war die Erinnerung an die Slums im Osten Londons wach, mit ihrem Gestank nach Exkrementen, dem Kohlenstaub und dem verfaulenden Abfall. Der Gegensatz zwischen seiner jetzigen Umgebung und der üblen Schmutzschicht, die sein Herz umgab, nagte ständig an ihm. Aus diesem Grund hatte er Jocelins Einladung nach Texas angenommen. In dem rauen Land schien der Gegensatz nicht so überwältigend. Er genoss das blaue Blütenmeer der Lupinen, das auf den Hügeln wogte; er badete im klaren Wasser von Flüssen, die weiß schäumend über Stromschnellen rauschten; er ritt unter rie sigen Eichen, die von Weinranken und Moos beinahe erstickt wurden. Und nie drang ein Oberschichtakzent an sein Ohr, nie fuhr eine wappengeschmückte Kutsche vorbei – Dinge, die ihn daran erinnerten, dass er aus einer anderen Welt stammte. Nun war Nick wieder hier, in einem von einer Königin beherrschten Land. Es war eine Monarchie, keine Republik. Er war zurückgekehrt an den Ort, an dem er geboren wurde – als Sohn eines Kutschers, der sich mit seiner Trunksucht um jede Stellung brachte, die man ihm gab, und der Frau und Kinder für sein Versagen büßen ließ. Als Nick acht Jahre alt war, hatte sein Vater, um seine Frau zu schlagen, die Ausrede, wieder einmal seine Arbeit verloren zu haben, nicht länger gebraucht. Wenn sein Vater einen seiner Wutanfälle bekam, schic kte die Mutter Nick und seine Schwester Tessie jedes Mal aus der Einzimmerwohnung in St. Giles. Nick schlich jedoch regelmäßig zurück, horchte, wie seine Mutter verprügelt wurde, und weinte dabei – bis zu einem bestimmten Tag. An jenem Tag – mittlerweile war er fünfzehn Jahre alt – floh er mit Tessie zu den Nachbarn, ließ seine Schwester dort und schlich wie immer zurück. Doch dieses Mal ging er, statt wie bisher hinter der Tür zu hocken, hinein. Er nahm einen Knüppel und als sein Vater mit einem abgebrochenen Stuhlbein auf seine Mutter losging, versperrte Nick ihm den Weg. Der Anblick seines Sohnes steigerte die Wut des Vaters nur noch mehr. Nick sah das rote,
durch Trunksucht blutunterlaufene und von Gewalttätigkeit gezeichnete Gesicht noch heute vor sich. »Dreckiger Grünschnabel«, sagte sein Vater und Speichel rann ihm über die Lippen. »Ich werd dich lehren, mich herauszufordern. Du eingebildeter Dummkopf! Glaub bloß nicht, dass ich dich schone. Du kriegst keine Gnade, verlass dich drauf.« Sein Vater war beinahe doppelt so groß, doch Nick war auf der Straße aufgewachsen. Er hatte unter den Gaunern und Dieben von Whitechapel zu überle ben gelernt. Er schlug auf seinen Vater ein, bis dieser nahezu ohnmächtig am Boden lag. Dann sagte er ihm, er solle die Wohnung verlassen und, wenn ihm sein Leben lieb wäre, es niemals wagen, seinen Fuß noch mal über die Schwelle zu setzen. Danach waren er, Mam und Tessie ausgezeic hnet zurechtge kommen. Sein Vater war fort und konnte den Gewinn aus Nicks Diebstählen und Gaunereien nicht länger vertrinken. »Keine Gnade«, wiederholte Nick leise vor sich selbst. Seufzend ging er zu dem hölzernen Stiefelknecht und begann, sich die Stiefel auszuziehen. »Nick, du gehörst nicht hierher. Bring die Sache hinter dich, alter Kumpel, und dann nichts wie weg.« Während er stirnrunzelnd das hölzerne Gestell betrachtete, dachte er an Lady Georginas smaragdgrüne Augen und an die Art, wie sie von ihrem erhöhten Sitz auf dem Wagen auf ihn herabgeblickt hatte, als wäre er eine Fliege, die sich auf der französischen Klöppelspitze ihres Kleides niedergelassen hatte. Lady Georgina erinnerte ihn an eine der Statuen in dem Haus. Aber an welche? Ach, ja: an die Statue der Kriegsgöttin Athene. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie Lady Georgina mit ihrem majestätischen Wuchs aussehen würde, wenn sie einen Bronzehelm trug und ein Schwert führte. Ich wette, sie würde mir mit dem Schwert am liebsten den Kopf abschlagen, dachte er bei sich. Wahrhaft, ein göttliches Duell. Und wie würde sie aussehen, wenn sie, das Schwert in der Hand schwingend, in einem durchsichtigen weißen Nachthemd zu ihm käme? Mit
nackten, nur von den Riemen der Ledersandalen umwicke lten Beinen. Und unbedeckten Armen, die Brüste entblößt… »Hölle und Teufel, was mache ich da?« Nick griff nach dem Stiefel, den er eben ausgezogen hatte, und schleuderte ihn durch das Zimmer. Er prallte gegen die Wand neben der Tür, durch die Pertwee im gleichen Moment hereinkam. Der Kammerdiener schnappte nach Luft, fuhr sich mit der Hand an die Kehle und schloss die Augen. Nick sah, wie Pertwee stumm bis zehn zählte, die Augen wieder öffnete und dann vorwurfsvoll seinen Dienstherrn anstarrte. »Das Bad für den Gnädigen Herrn ist bereitet. Falls ich eintreten kann, ohne mein Leben aufs Spiel zu setzen, werde ich jetzt einen der Tagesanzüge für den Gnädigen Herrn bereitlegen. Ich denke, passend dazu wären die Manschettenknöpfe aus Sterlingsilber, zusammen mit einer silbernen Krawattennadel.« »Tut mir Leid, Pertwee.« »Sir, Sie bedürfen dringend eines beruhigenden Einflusses. Wenn Sie geruhen möchten, ein wenig aus dem Text von Plato zu rezitieren, den wir gestern Abend gelesen haben.« »Nein.« Pertwee schickte ihm einen seiner unnachgiebige n Blicke, die Nick zu fürchten gelernt hatte. »Wenn ich bitten darf, Sir. >Du lieber Pan, und all ihr anderen Götter…Lieber Pan du, und alle ihr andern Gottheiten dieser Stätte, möchtet ihr mir verleihen schön zu werden im Innern; und dass all mein äußerer Besitz den inneren Eigenschaften nicht widerstreite. Reich möge mir dünken, wer weise ist. An Goldes Last möge mir so viel zuteil werden, als nur der Verständige zu heben und zu tragen vermöchte« Nick versank einen Augenblick in Schweigen. Dann sah er hinüber zu seinem Kammerdiener. »Verdammt, Sie sind ein mieser alter Knochen, Pertwee.« »Ja, Sir.« »Warum ertragen Sie mich eigentlich?«
»Sir, ich betrachte Sie als eine Herausforderung.« »Weil Sie Jos versprochen haben, auf mich aufzupassen, stimmt’s?« »Der Marquis hat mich gebeten, diese Stellung anzutreten, aber ich würde nicht bei Ihnen bleiben, betrachtete ich die Situation als unehrenhaft.« »Danke, alter Freund.« »Keine Ursache, Sir.« Nick erhob sich, seinen Kammerdiener angrinsend. »Was glauben Sie, wie lange es dauert, einen roten GranitSarkophag zu entladen und ins Haus zu verfrachten?« »Einen was, Sir?« »Ach, vergessen Sie’s. Kümmern Sie sich nur darum, mich rasch in einen präsenta blen Zustand zu versetzen. Es gibt Arbeit für mich. Und wenn ich nicht schnell handle, setzt Lady Georgina mich vor die Tür.«
4 Georgina wünschte sich sehnlichst Jocelin herbei, um ihm zu sagen, was sie von seiner Selbstherrlichkeit hielt. Die Missbilligung ihrer Pläne hatte sie erwartet und sie hatte sogar damit gerechnet, dass ihr Bruder versuchen würde, sich ihr in den Weg zu stellen. Nie mals aber wäre ihr der Gedanke gekommen, dass er diesen ruchlosen Freund schicken könnte, der sie da bedrohte. Eine Frechheit! Georgina ging unter den sechs Metern cremeweißer Baregeseide in die Knie und wartete, dass die Zofe Rebecca ihr das Kleid am Rücken schloss. In den letzten zwei Stunden, während sie das Abladen und die Unterbringung des Sarkophags überwachte, hatte sie innerlich gekocht und wäre vor Wut beinahe geplatzt. Jetzt wollte sie sich ankleiden, damit sie Threshfield noch vor der Teezeit abpassen und ihn überreden konnte, Mr. Nicholas Ross des Hauses zu verweisen. Bei dem Geda nken an diesen unverschämten Wüstling, der seine Nase in ihre persönlichen Angelegenheiten steckte – und das als
ein beinahe Fremder –, hätte sie am liebsten ausgespuckt. Ihre Mutter hätte einen derartigen Verstoß gegen die Gesetze der Schicklichkeit niemals gebilligt. Georgina wurde bei dem Gedanken noch verdrießlicher, dass sich ein Mr. Ross die größten Unverschämtheiten leis ten konnte und kaum mehr als einen entsetzten Blick erntete, während sich keine Frau solche Freiheiten herausnehmen durfte – und schon gar nicht die Tochter eines Herzogs. Nein, sie durfte sich nicht selbst belügen. Ihre Wut richtete sich auf alle Männer, die Mr. Ross ähnelten. Ihre äußere Erscheinung und ihr Charme erlaubten es ihnen, sich in arglose Herzen einzuschmeicheln. Sie musste sich jedoch eingestehen: Auch wenn Mr. Ross die erlesensten Manieren bewiesen hätte, wäre ihre Geduld ihm gegenüber schnell erschöpft gewesen nach der Erfahrung mit Lord Silverstone war das gar nicht anders denkbar. Georgina war Lord Silverstone während ihrer ersten Ballsaison vorgestellt worden, zusammen mit Dutzenden anderen jungen Männern aus besten Kreisen, die alle auf eine Hochzeit mit einer Herzogstochter erpicht waren. Lord Silverstone war der Erbe eines bedeutenden Adelstitels und mit seiner blassen Haut und dem weichen, gerundeten Kinn hätte man ihn als gut aussehend bezeichnen können; er ähnelte in nichts dem ungehobelten Mr. Ross. Georgina war sofort hingerissen von Lord Silverstones künstlerischer Sensibilität, seinem gebildeten Wesen und den traurig blickenden, von schweren Lidern beschatteten braunen Augen. Dann, auf einem Ball, nachdem sie zusammen getanzt hatten, hielt Lord Silverstone bei ihrem Vater um ihre Hand an. Georgina war entzückt. Bei der Vorstellung, Lord Silverstones Gemahlin zu werden, war plötzlich jeder Gedanke an ein eigenes, unabhängiges Leben vergessen. Während der Herzog verschiedene Unterredungen mit Silverstone über die Höhe ihrer Mitgift führte, schritt sie umher, als würde sie auf Wolken schweben. Dieser traumartige Zustand sollte bis zu ihrem ersten wirklichen Gespräch mit Silverstone dauern. Nach einer
Verhandlung mit ihrem Vater, zu der Lord Silverstone in das Haus am Grosvenor Square gekommen war, traf sie im Salon mit ihm zusammen. Sie betrat den Raum leicht nach vorn gebeugt, um weniger groß zu wirken. Silverstone war kleiner als sie. Georgina wusste um ihre Mängel und ihr war klar, dass es genug Erbinnen gab, unter denen Silverstone die freie Wahl hatte. Sie brachte keinen Ton heraus. Allerdings hätte sie sich wegen ihrer Schweigsamkeit keine Sorgen machen müssen, denn Silverstone setzte sogleich zu einem Vortrag an. Er sei davon überzeugt, dass Georgina ihre Pflichten als Ehefrau kennen würde, und es würde ihn mit Befriedigung erfüllen, ein Mädchen mit bester Erziehung zu heiraten, das sich auf die Führung eines großen Haushalts verstehe. Dann nahm sie endlich ihren Mut zusammen und sprach von ihrem Plan, ein Kinderheim einzurichten. »Kaum eine schickliche Beschäftigung für eine junge Ehefrau«, bemerkte Silverstone. »Nein, für solche Dinge wird kaum genügend Zeit sein. Denken Sie an die Ballsaison und die vielen anderen Verpflichtungen, die auf Sie warten. Sie werden Ihre sämtlichen Kräfte brauchen, um eine führende Position in der Gesellschaft zu erobern.« »Aber ich möchte…« »Wie ich sehe, müssen wir an dieser Stelle ein offenes Wort miteinander sprechen«, setzte Silverstone an. »Ich rühme mich meiner Ehr lichkeit, Georgina. Die werden Sie bald an mir kennen lernen. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ihre Meinung für sich behalten. Schweigen führt zu Missverständnissen und Streit zwischen Ehele uten.« Silverstone rieb sich sein rundes Kinn und betrachtete Georgina mit ernster Miene. »Wir sollten gleich beginnen, ehrlich zu sein. Für meinen Heiratsantrag hat es einiger Selbstüberwindung bedurft, denn, ehrlich gesagt, Sie zu heiraten, das ist, wie einen Turm oder eine Kathedrale zu heiraten. Ich bin sicher, Sie kennen die Mängel Ihrer äußeren Erscheinung, aber ich bin bereit, diese großzügig zu übersehen. Die Verbindung mit einer vornehmen
Adelslinie wie der Ihren ist ein solches Opfer wert.« Damit schwieg er und eine selbstzufriedene Röte überzog sein Gesicht. Er bemerkte kaum, dass sie blass geworden war und sich aus ihrer leicht gebückten Haltung aufgerichtet hatte. »Ihr Opfer wird nicht nötig sein«, sagte sie. Lord Silverstone hatte aus dem Fenster und auf die vorbeifahrenden Kutschen auf dem P latz geschaut. Überrascht schoss sein Blick zu ihr herüber. Er schien keine andere Antwort als ein zustimmendes Kopfnicken zu erwarten. »Was wird nicht nötig sein?« »Ihr großherziges Opfer. Es wäre mir unerträglich, mitanzusehen, wie Sie Ihre Tage in meiner Gesellschaft vergeuden, Mylord. Leben Sie wohl.« »Georgina, Sie sind nicht bei Verstand. Ich lasse Sie jetzt allein und spreche morgen wieder vor, wenn Sie sich beruhigt haben.« Hinter ihrer Fassade der Selbstbeherrschung spürte Georgina den Schmerz der Demütigung. Warum sollte sie diesen kaltherzigen Menschen nach all diesen beleidigenden Worten einfach gehen lassen? »Ich werde Sie nicht heiraten, Silverstone. Und damit Sie in dieser Angelegenheit vollkommen klar sehen, erkläre ich Ihnen den Grund. Sie sind eine verlogene gemeine Kreatur und verbergen Ihre Lust an Grausamkeiten hinter der Maske angeblicher Wahrheitsliebe. Sie bewundern Ehrlichkeit? Gut, dann sollen Sie sie haben. Sie besitzen das Kinn eines Weichlings und sind von kleiner Statur. Weder das eine noch das andere hat mir etwas ausgemacht. Aber ich weigere mich, einen eingebildeten Esel zu heiraten.« Von der Tochter eines Herzogs erwartete man, dass sie ihren Verlobten weder als Esel noch als verlogene gemeine Kreatur bezeichnete. Aber der Anblick von Silverstones Gesicht, das vor Zorn und Empörung rot anlief, war den Verstoß gegen die Etikette wert. Auch der Herzog war erzürnt. Seit jenem Tag hatte Georgina sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, einen betagten Bewerber zu heiraten.
»Mylady?« Georgina fuhr hoch und erwachte aus ihrem unglücklichen Tagtraum. Rebecca hielt ihr das Mieder des Abendkleides hin. Erzürnt über sich selbst, weil sie Gedanken nachgehangen hatte, die Anlass zu Selbstmitleid geben konnten, murmelte sie eine Entschuldigung und schob die Hände in die engen Ärmel des Oberteils. Sie zupfte das spitz zulaufende Schößchen gerade, während Rebecca die Knöpfe schloss. Anschließend nahm Georgina vor dem Spiegel Platz und half der Zofe, das dichte lange Haar zu einem weichen Knoten am Hinterkopf zu winden. Ihre Hände zitterten vor Zorn. Wäre sie ein Mann, wie Jocelin, hätte sich niemand in ihre Angelegenheiten gemischt. Alles, was sie sich aufgebaut hatte, war nun in Gefahr. Georgina hatte jahrelang an ihrem Plan gearbeit. Eigentlich seit ihrer Kindheit, als sie mitansehen musste, was für eine Ehe ihre Eltern führten; allmählich hatte sie begriffen, in welch unerträglicher Situation sich eine verheiratete Frau in England befand. Georginas Entscheidung, sich der gesetzlich erlaubten Sklaverei zu entziehen, die die Ehe in ihren Augen war, ging weder auf einen bestimmten Vorfall noch auf ein bestimmtes Gespräch zurück. Es genügte, dass sie ihre Eltern beobachtete. Ihre Mutter besaß weitaus mehr Intelligenz und Einfühlungsvermögen als ihr Vater, aber dennoch bestimmte dieser als Mann allein über das Familienvermögen. Als Vater war er seinen Kindern auch alleiniger gesetzlicher Vormund. Und die rechtliche Ungleichbehandlung war noch weniger entwürdigend, als die vielen kleinen Dinge des täglichen Lebens, die eine Ehefrau auf die Stufe eines Kindes zurückverwiesen: Die Lektüre sämtlicher Zeitungen, Bücher und Zeitschriften, die ihre Mutter las, bedurfte der Genehmigung; das galt auch für die Kleider, die sie trug, und die Freundschaften, die sie einging. Wie ein Kind besaß ihre Mutter selten mehr als ein paar Pfund Bargeld. Ihr Vater unterhielt Konten bei den Händlern, die den Haushalt belieferten, und an ihn wurden die Rechnungen gesandt. Georgina würde nie vergessen, wie sie ihrer Mutter
einmal bei einem gemeinsamen Einkauf Geld leihen musste, damit diese sich ein paar Bänder leisten konnte, die sie bei einem Straßenhändler entdeckt hatte. Rebecca brachte verschiedene Haushauben, doch Georgina wählte ein Gebilde aus Seidenrosen und Spitze, das hinten auf ihrer Frisur befestigt wurde. Ja, Geor gina hatte sich ihre Meinung sehr langsam gebildet. Tante Livy, die ganz in der Nähe wohnte, führte ihr das genaue Gegenteil zur Mutter vor. Ihre Tante war mit einem jungen Mann verheiratet gewesen, der sich mehr für Pferde als für seine Ehefrau interessierte. Nach seinem Tod weigerte sich Tante Livy, erneut auf dem Altar der Ehe geopfert zu werden; seitdem lebte sie, wie es ihren eigenen Vorstellungen entsprach. Tante Livy wünschte die gute Gesellschaft dorthin, wo der Pfeffer wuchs, und begann, wie ihre Freundin George Sand, Hosen zu tragen. Sie hätte auch Zigarren geraucht, wenn sie ihr geschmeckt hätten. Ein Leben, wie ihre Tante es führte, schien Georgina ideal. Nichts war tödlicher für die Seele als die geistlosen und albernen Beschäftigungen, denen sich die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft hingaben. Tante Livy sagte, die Damen des Adels interessierten sich nur für Bälle, Kränzchen und ihre Garderobe. Georgina würde in ihrem Leben etwas Sinnvolles tun. Durch Jocelin hatte sie erfahren, wie viele Kinder kein Zuhause hatten oder in Elternhäusern leben mussten, die einer Hölle glichen und in denen furchtbare Gefahren drohten. Georgina würde diesen vernachlässigten Geschöpfen einen Hort der Geborgenheit schaffen, eine Zuflucht. Doch zuerst musste sie sich von der Vormundschaft ihrer Eltern befreien. Der Herzog und die Herzogin würden niemals einverstanden sein, dass ihre Tochter in einem Heim für solche Kinder arbeitete. In den Augen ihrer Eltern war es Georginas vornehmste Pflicht, eine vorteilhafte Ehe einzugehen und ihrem Gemahl Erben zu schenken. Sie wollten, dass Georgina ihr Leben mit einem kaltherzigen Narziss wie diesem Silverstone verbrachte. Aber Georgina würde lieber sterben. Und wenn Mr. Nicholas Ross glaubte, er brauchte nur zu
befehlen, damit sie ihren Plan aufgab, irrte er sich gewaltig. »Rebecca«, begann Georgina. »Ich vermute, Mr. Hyde und Lady Prudence sind nicht verspätet von ihrer Besuchsrunde zurückgekehrt?« »Ich bedaure. Leider nein, Mylady.« Bemüht, nicht vor Abscheu mit den Augen zu rollen, streckte Georgina den Fuß vor, damit Rebecca ihr die Stiefelette aus Glaceleder schnüren konnte. Der ehrenwerte Evelyn Hyde und seine Gemahlin Lady Prudence waren die Plagen von Threshfield. Beim Schmieden ihrer Unabhä ngigkeitspläne hatte sie dummerweise vergessen, die Hydes mit einzubeziehen. Sie hatte nicht gewusst, wie schwierig die Familie des Grafen war, bis sie zu diesem Verlobungsbesuch auf Threshfield erschien. Evelyn war Threshfields Neffe und Erbe und er war der Vater von Ludwig. Nach ihrer Ankunft vergingen keine vierundzwanzig Stunden, bis Evelyn Georgina im karmesinroten Salon zu verführen versuchte. Sie war nicht so töricht, zu gla uben, Evelyn sei von ihrer unbedeutenden Schönheit geblendet. Vielmehr hatte er es darauf abgesehen, dass sie beim Grafen in Ungnade fiel. Evelyn missfiel alles, was seine Erbschaft gefährdete. Eine junge Ehefrau, die Söhne gebären konnte, war das Letzte, was er seinem greisen Onkel wünschte. Und Prudence? Prudence hegte hochfliegende Pläne, die in einem Herzogtum für Evelyn gipfelten. Prudence sehnte sich danach, mit >Euer Gnaden< angesprochen zu werden. Sie war der lebendige Beweis dafür, dass man in Adel und Wohlstand geboren sein und sich dennoch vom Schicksal übel betrogen fühlen konnte. Meistens gelang es Georgina, sich im ägyptischen Flügel zu verkriechen. Auf diese Weise vermied sie allzu häufige Begegnungen mit Evelyn und Prudence. Der arme Ludwig suchte dort ebenfalls Zuflucht vor seinem gehässigen Großonkel und seinen Eltern. In den Räumen des ägyptischen Flügels katalogisierten und konservierten Georgina und er die vernachlässigten Besitztümer des Grafen. Ihre Liebe zur antiken Welt hatte Georgina die Freund-
schaft des Grafen eingetragen. Threshfield besaß einen brillanten Verstand und eine verblüffende Fantasie. Es betrübte Georgina, dass Bitterkeit die Seele des Grafen vergiftete, eine Bitterkeit, die lieblose Eltern in ihm gezeugt hatten und die er mit seiner Lust, über andere zu herrschen, noch nährte. Sie verdächtigte den Grafen, seinen seltsamen Heiratsantrag aus reiner Bos heit gestellt zu haben – um seine Familie zu quälen. Gleichzeitig wusste sie aber, dass Threshfield sie lieb gewonnen hatte, weil sie zu den wenigen Personen seiner Umgebung gehörte, die er nicht einschüchtern konnte. Rebecca hielt ihr ein Umschlagtuch aus Kaschmir hin und Georgina murmelte: »Der Besuch von Mr. Ross wird erstaunlich schnell beendet sein.« Sie wandte sich um, damit Rebecca ihr den Schal umlegen konnte, und sah in zwei weit aufgerissene Augen. »Stimmt etwas nicht, Rebecca?« »Ach, Mylady!« »Ja, bitte?« »Ach, Mylady.« Rebecca bückte sich zu ihr hinunter, um den Schal in Falten zu drapieren. »Sieht er wirklich so gut aus, wie alle sagen?« Georgina krauste die Stirn. »Er?« »Mr. Nicholas Ross. Hat er wirklich dunkelblaue Augen wie der Himmel beim Sonnenuntergang und sieht er wirklich aus wie einer dieser wilden amerikanischen Revolverhelden? Nellie, das Mädchen für die oberen Zimmer, hat ihn einmal kurz gesehen. Es heißt, dass über seiner Vergangenheit ein geheimnisvoller Schleier liegt und dass die Ladys und Herzoginnen vor Erregung bis in die Fußspitzen erbeben, wenn Mr. Ross durch den Hyde Park reitet.« Georgina starrte ihre Zofe an, der die pure Wollust ins Gesicht geschrieben stand. »Gütiger Himmel, Rebecca. Du weißt doch, wer Mr. Ross ist.« »Aber ich habe ihn nie gesehen, Mylady.« Rebecca zog Georgina den Schal über den Arm und plapperte weiter. »Ich habe gehört, wie Nellie der Haushälterin erzählt hat, dass Mr. Ross vor zwei Jahren auf dem Kontinent in ein
Duell verwickelt war. Ein Lord hatte ihn wegen seiner Gemahlin gefordert. Nellie sagt, Mr. Ross hätte sich zuerst geweigert, gegen den Mann anzutreten. Mit der Begründung, er wäre der Frau nie zu nahe getreten, und wenn der Lord seiner Frau gründlich beigewohnt hätte, brauchte er nun keinen Verdacht zu hegen, dass sie nach Ersatz Ausschau halte.« »Und er hat sic h wegen einer so unappetitlichen Geschichte duelliert?« »Der Lord hat Mr. Ross keine Ruhe gelassen. Am Ende blieb ihm keine Wahl, er musste die Forderung annehmen. Aber er war klug und hat den Lord nur verwundet.« »Wie gnädig.« Rebecca nickte energisch. »Und wie tapfer und edelmütig.« Georginas Stirnrunzeln verstärkte sich. Sie streckte die Hände aus, um sich die Handschuhe anziehen zu lassen. »Rebecca, Mr. Ross ist ein ungebildeter Wüstling, und nicht der galante Ritter aus dem Märchenland.« »Ja, Mylady.« Endlich war Georgina fertig angekleidet. Sie entließ die aufgeregte Rebecca und machte sich auf den Weg nach unten in die Bibliothek. Die Röcke flossen um ihre Beine und umschmeichelten sie beim Gehen, eine Empfindung, die ihre Stimmung besänftigte. Viele n Frauen unterliefen mit ihren Reifröcken peinliche Missgeschicke. Georgina hatte eine Lösung für das Problem gefunden: Sie trug weniger breite Gestelle, als die gegenwärtige Mode vorschrieb. Auf diese Weise kam sie beinahe mühelos durch die Türen und brauchte ihre Röcke nur mit einer Hand zu halten. Sie glitt die Treppe hinunter, durchquerte den Salon und klopfte an die Tür zur Bibliothek. Gewöhnlich widmete sich der Graf in den beiden Stunden vor der Teezeit seiner Lektüre oder blickte durch die hohen Fenster hinaus in den Park, der sich hinter Threshfield House erstreckte. Der Graf und seine Vorgänger hatten einen beinahe märche nhaft anmutenden Zaubergarten geschaffen, mit Teichen, einer Brücke im Palladio-Stil, kleinen Kopien von griechischen Tempeln, Grotten und verschwiegenen Lichtungen
als Standort für klassische Skulpturen. Der Graf hieß Georgina auf ihr Klopfen einzutreten und sie betrat die Bibliothek. John Charles Hyde, der Graf von Threshfield, wartete bei einer Sesselgruppe vor der zur Terrasse führenden Fensterfront. Er stand aufrecht neben seinem Rollstuhl, mit mehr als achtzig Jahren noch immer eine imposante Erscheinung. Der Graf lächelte Georgina an, wobei sein Mund unter der gewaltigen Nase der Hydes jedoch nur teilweise sichtbar war. Mit seinem dichten, an der Stirn gelichteten weißen Haar erinnerte er Georgina an den kahlköpfigen Amerikanischen Adler, den sie einmal auf einem Gemälde gesehen hatte. In seinen wässrigen Augen stand das nie erlöschende Glitzern, eine Mischung aus Schelmerei, Neugier und zynischer Belustigung. Der Graf schickte ihr ein bewunderndes Lächeln, nicht ganz so strahlend wie die Miene, die er bei der Begrüßung eines neuen Vermeers oder Reynolds in seiner Sammlung aufsetzte. »Georgina, meine Liebe. Anmutig wie immer, wie eine Sonate von Mozart. Ist es schon Zeit für den Tee?« »Noch nicht ganz. Ich möchte ungestört mit Ihnen sprechen.« Auf den Elfenbeingriff seines Gehstocks gestützt hob der Graf eine silberne Braue und sah sie fragend an. »Ungestört? Ein seltener Genuss, denn wann ist man in diesem Haus schon ungestört?« »Umso eher ein Grund, sofort mit Ihnen zu sprechen, Threshfield. Haben Sie diesen Wüstling Mr. Ross tatsächlich in diesem Haus willkommen geheißen? Mir ist bekannt, dass Sie von dem unsäglichen Auftritt bei seiner Ankunft wissen, und auch von seiner Rücksichtslosigkeit mir gegenüber.« »Sprechen Sie lauter, meine Liebe. Ich fürchte, meine Ohren sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Ich bin Mr. Ross seit längerem nicht mehr begegnet. Er hat einen ungünstigen Eindruck auf Sie gemacht, wenn ich Sie recht verstehe.« Georgina half dem Grafen in seinen Rollstuhl. »>Ungünstig< ist zu milde für diese Art von Betragen. Er ist mit seinem wild gewordenen Pferd direkt auf mich zugeritten
und hat mich beinahe zu Fall gebracht. Dann hat er mir in einer höchst unfeinen und beleidigenden Sprache befohlen, nach Hause zurückzukehren. Mr. Ross ist ein aufdringlicher, ungebildeter Grobian. Wäre er keine derart erbärmliche Kreatur, würde ich ihn verachten.« Georgina legte eine behandschuhte Hand auf den Arm des Grafen und beugte sich zu ihm hinab. »Sein Benehmen gegen mich war unerträglich. Bitte fordern Sie ihn zum Gehen auf, Threshfield.« Der Graf lächelte sie mit trüben Augen an und tätschelte ihre Hand. Dann blickte er zur Seite, auf einen ihr abgewandten Ohrensessel vor der Fensterfront. »Was meinen Sie, Sir?« Ein junger Gentleman erhob sich und ging auf Georgina zu, die nach Luft rang. Er war in einen Anzug aus der Bond Street gekleidet. Über dem Hemd aus makellos weißem Leinen trug er eine seidene Weste; die stilvolle und dezente Ausstattung hätte aus Jocelins Kleiderschrank stammen können. Hinter diesem Musterbild eines kultivierten Londoners war der ungehobelte Cowboy von heute Nachmittag kaum noch zu erkennen. Sein von Pomade glänzendes kastanienbraunes Haar war sauber geschnitten und zurückgekämmt und er war frisch rasiert. Georgina konnte die Sandelholzseife riechen. Aber noch mehr verblüffte sie die Sicherheit, mit der sich Nicholas Ross in dem Raum bewegte, als wäre er sein Zuhause. Er hatte sich in einen eleganten Aristokraten verwandelt und ähnelte Rebeccas Märchenprinzen mehr, als Georgina zugeben mochte. Sie verachtete ihn. »Was ich meine?«, entgegnete Ross auf die Frage. Georgina starrte ihn mit offenem Mund an und ihr Gesicht hatte sich tiefrosa verfärbt. »Ich würde sagen, Lady Georgina kennt eine Menge Wörter, die mit der Silbe >un< beginnen: unerträglich, unsäglich, ungehobelt, unfein. Ich dagegen bevorzuge Wörter wie selbstsüchtig, verzogen, verwöhnt.« Er hielt ihren Blick in ruhiger Herausforderung fest. Verschwunden war die gedehnte Sprechweise mit den verschluckten Endungen, der unschöne Satzbau und die nachlässige Kör perhaltung. »Gehässig.«
»Ach, Herrjeh.« Der Graf blickte von Ross zu Georgina. Georgina wandte sich zu ihm. »Threshfield, schämen Sie sich. Das war nicht anständig von Ihnen, überhaupt nicht anständig. Und was Sie betrifft« – sie fuhr zu dem Eindringling herum – »ist Ihr Auftreten das getreue Spiegelb ild Ihres Charakters.« Sie schwieg, denn plötzlich bewegte sich Ross von der Fensterfront weg und trat an die andere Seite von Threshfields Rollstuhl. Der Graf befand sich zwischen ihr und Ross, aber Georgina erschien der Abstand nicht groß genug. Aus einem seltsamen Grund brauchte sie bei diesem Mann mehr Distanz. Seine Nähe machte sie nervös und sie musste sich zwingen, nicht vor ihm zurückzuweichen, als fühlte sie sich bedroht. Aber nicht umsonst war sie in einem herzoglichen Haushalt aufgewachsen. Sie hielt stand. Von Kindesbeinen an hatte sie gelernt, zu Untergeordneten die nötige Distanz zu wahren. Denn das war Ross – ein Untergeordneter. Ein hoch gewachsener, muskulöser und unverschämter Kerl, der weit unter ihr stand. Aber dummerweise hatte er eine Art, sie zu mustern, als wäre sie ein dralles Zimmermä dchen und er der Herr des Hauses. Unter seinem starrenden Blick schien sich ihre Selbstbeherrschung Schicht um Schicht aufzulösen; als würde unter diesem Blick die äußere Hülle der Verfeinerung und Unerschütterlichkeit, mit der sie ihre Würde beschützte, wegbrennen. Jetzt grinste Mr. Ross und hielt dabei ihren Blick gefangen. Dieses Grinsen brachte sie noch mehr in Verlegenheit als sein dreistes Starren. Sie zwang sich, die Augen abzuwenden, und fuhr den Grafen ärgerlich an. »Threshfield, ich erwarte, dass Sie dieses Individuum vor die Tür setzen.« Die belustigte Miene des Grafen ließ sie zusammenzucken. »Es tut mir Leid, meine Liebe. Zu spät.« »Was meinen Sie damit?« Ross ging um den Rollstuhl herum auf Georginas Seite und sagte leise: »George, altes Haus. Er meint, Sie kommen zu spät.« »Nennen Sie mich nicht George, Sir.« Georgina warf
ihrem Verlobten einen misstrauischen Blick zu. »Threshfield, was führen Sie im Schilde?« »Meine Liebe, ich kann dem besten Freund Ihres Bruders nicht meine Gastfreundschaft anbieten und sie ihm dann entziehen. Das verbieten Ehre und Pflichtgefühl.« Georginas Wangen wurden glühend heiß . Ihr wurde klar, dass sie bereits verloren hatte, noch bevor sie den Raum betreten hatte. »Und was ist mit seinem Betragen mir gegenüber?« »Mr. Ross hat Besserung versprochen. Bei jemandem, der so lange in der Wildnis gelebt hat, müssen wir Zugeständnisse machen.« »Für sein unverschämtes und unhöfliches Verhalten gibt es keine Entschuldigung.« »George, Sie sollten wirklich darauf achten, nicht so viele Un-Worte zu benutzen.« »Ich sagte Ihnen bereits, dass Sie mich nicht so nennen sollen, Sie stinkendes Ungeziefer!« Der Graf stieß mit seinem Gehstock auf den Boden. Sie zuckte zusammen. »Genug. Mr. Ross ist gekommen, um uns seine Aufwartung zu machen, und er wird bleiben. Er muss sogar bleiben, denn ich gedenke, ein Gemälde von ihm zu erwerben.« »Was für ein Gemälde?«, fragte Georgina neugierig. Ross verschränkte die Hände hinter dem Rücken und hob den Kopf, die Decke betrachtend. »Zufällig befindet sich ein erstaunliches Porträt in meinem Besitz, das einen Ahnen der Threshfields darstellt. Es ist ein Gainsborough. Ein wahres Meisterwerk, wenn Sie mich fragen. Es wird das Glanzstück in Threshfields neuer Sammlung. Habe ich Recht, Sir?« Der Graf zuckte mit den Schultern und legte den Stock über seinen Schoß. »Wenn wir uns auf einen vernünftigen Preis einigen.« »Natürlich«, antwortete Nick mit einem hinterlistigen Lächeln in Georginas Richtung. »Und solche Verhandlungen brauchen ihre Zeit.« Georgina richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, als wollte sie ein Buch auf dem Kopf balancieren. »Aha. Ich
wusste gar nicht, dass Sie so habsüchtig sind, Threshfield.« »Natürlich wussten Sie es, meine Liebe. Wie wäre ich sonst zu meiner ägyptischen Sammlung gekommen, zu den Skulpturen aus der griechischen und römischen Antike und zu den vielen holländischen, italienischen und englischen Meistern?« In ihrer Würde gekränkt wich sie mit tanzenden Röcken vor den beiden grinsenden Männern zurück. »Ich weiß, was Sie vorhaben, Threshfield. Aber ich bezweifle, dass auch Mr. Ross Bescheid weiß.« »Und worüber sollte ich Bescheid wissen?«, erkundigte sich Ross, das selbstzufriedene Grinsen noch immer im Gesicht. »Neben seiner Kunstsammlung reitet der Graf noch andere Steckenpferde. Am allerliebsten reizt er seine empfindsame Familie. Threshfield kann die Teezeit kaum erwarten, so sehr freut er sich schon auf den apoplektischen Anfall seines Neffen, wenn dieser erfährt, dass der Graf jemanden von niedriger Herkunft und den Manieren eines Dockarbeiters als Gast beherbergt.« Georgina wartete. Das Grinsen im Gesicht von Mr. Ross verschwand und er runzelte die Stirn. Dann verbeugte sie sich leicht und verließ die Bibliothek. Sie durchquerte den Salon und ging nach draußen. Zum Glück wurde der Tee auf dem Rasen serviert, unter einem Stoffbaldachin, der sachte im Wind flatterte. Auf ihrem Weg die geschwungene Treppe hinunter, vorbei am italienischen Springbrunnen mit dem Einhorn in der Mitte, blieb ihr genügend Zeit, ihren Zorn zu bändigen. Threshfields störendste Eigenschaft war schon immer seine Widerspenstigkeit gewesen. Wenn er sich einmal in eine Sache verbissen hatte, ließ er nicht mehr von ihr ab. Dem Grafen war bewusst, dass Mr. Ross seine Heiratspläne nicht durchkreuzen konnte, und er hatte ihn nur eingeladen, um Evelyn und Prudence zu ärgern. Nun lag es an ihr, Ross den Aufenthalt in Threshfield House so zu vergällen, dass er unverrichteter Dinge abreiste. Diesem Augenblick sah sie mit der größten Wonne entgegen.
Als sie sich dem Baldachin näherte, zögerte sie, denn Evelyn und Prudence hatten bereits Platz genommen. Die beiden zu ertragen, würde ihre angegriffene Ge mütsruhe auf die Probe stellen. Sie konnte Prudences Ringe im Licht der Spätnachmittagssonne blitzen sehen. Die Lady war klein, darin ähnelte sie der Königin, und sie neigte zur Rundlichkeit. Ihre Gesichtszüge waren ebenfalls rundlich – Knopfaugen, Knollennase und ein kreisförmig zusamme ngeschobener, kleiner Mund. Mit einem Blick über die Schulter konnte Georgina erkennen, dass sich der niederträchtige Mr. Ross ebenfalls näherte. Er schritt neben dem Grafen, der im Rollstuhl saß und sich von seinem Diener über den Rasen schieben ließ. Vier kräftige Lakaien bildeten die Nachhut. Sie warteten stets in Rufweite, um ihren Herrn bei Bedarf im Rollstuhl die Treppe hinauf- oder hinabzubefördern. »Beeilen Sie sich, Georgina!«, rief Prudence in ihrem üblichen schnippischen Ton. »Ich habe Ihnen bereits Tee eingeschenkt. Sie wollen sicher nicht, dass er kalt wird.« Georgina setzte sich so weit wie möglich von Evelyn entfernt. Das brachte ihr den Platz neben der übel gelaunten Prudence ein. Prudence war sicher verstimmt, weil sie wusste, dass die Verlobung mit Geor gina den Erben des altehrwürdigen Grafentitels eine enorme Summe gekostet hatte. Obwohl jede Sympathie zwischen ihnen fehlte, tat Georgina diese plumpe kleine Person Leid, die mit dem gut aussehenden Evelyn verheiratet war. Georgina war sicher, dass Prudence Trost in dem Schmuck suchte, mit dem sie sich überlud. Vor allem trug sie kostbare Ringe und kleidete sich nach der neuesten Mode, immer in teure Stoffe. Das senffarbene Kleid, das sie heute gewählt hatte, ließ ihren Teint stumpf wirken und vertrug sich nicht mit dem gelbbraunen Ton ihres Haares. Der Graf und Mr. Ross erreichten den Teetisch. Es wurden viele Umstä nde gemacht, bis Threshfield bequem neben Georgina sitzen konnte. Sie war über die Ablenkung dankbar, denn Ross hatte wieder sein Grinsen aufgesetzt, wahrscheinlich wegen Evelyn und Prudence, die mittler-
weile wissen mussten, dass er Gast des Hauses war. Sie machten ein Gesicht, als hätten sie Seife geschluckt. Mr. Ross nahm auf einem schmiedeeisernen Gartenstuhl zwischen dem Grafen und Evelyn Platz. Evelyn, ein jüngeres und vitaleres Ebenbild des Grafen, saß steif da und nippte an seinem Tee, jedes überflüssige Gespräch mit dem neuen Gast vermeidend. Prudence war weniger zurückhaltend. »Mr. Ross, ich glaube, Ihre Familie ist mir nicht bekannt. Stammen Sie aus Schottland?« Georgina warf einen schnellen Blick von Prudence zu Ross. Die Frage war mit Bedacht gestellt. Prudence kannte die Lebensgeschichte von Mr. Ross. Ross nahm ein Gedeck von Lady Prudence entgegen und rührte ruhig seinen Tee um. Dann sah er seiner Gastgeberin direkt in die bohnenfarbenen Augen. »Wie Threshfield Ihnen sicher bereits erzählt hat, Lady Prudence, habe ich keine Familie mehr. Ich wurde in St. Giles geboren, im Zimmer einer schmutzigen Mietskaserne. Seit ich mein Glück gemacht habe und zu Geld gekommen bin, beschäftige ich mich damit, meine Bildung zu vertiefen und mich in der Welt umzusehen.« Ungläubig beobachtete Georgina, wie Ross aus Prudence eine albern lachende Gans machte, die ihn schüchtern und mit großen Augen anstarrte. Noch vor einem Augenblick war Prudence die empörte Gastge berin gewesen und jetzt saß sie kuhäugig und mit rotem Gesicht am Tisch. Der Graf schlürfte geräuschvoll seinen Tee. »Unser junger Freund war früher ein Dieb.« Als Prudence aufkreischte, gackerte er amüsiert. »Wie hieß das Wort, das Sie für >Dieb< verwendeten, Nick?« »Langfinger, Sir. Und als Heranwachsender habe ich kleinen Kindern aufgelauert, um ihnen das Geld abzunehmen, mit dem sie Besorgungen machen sollten. Ich hatte ein hübsch einträgliches Geschäft.« Evelyn hüstelte erstickt. Seine Tasse klapperte auf dem Unterteller und Nick fing das Gedeck auf, bevor es zu Boden fiel. Er schlug Evelyn auf den Rücken, während der Graf vor Vergnügen gluckste. Georgina saß regungslos. In
ihr machte sich ein Anflug von schlechtem Gewissen bemerkbar. Was immer auch die Missetaten von Nicholas Ross waren, er musste eine entsetzliche Kindheit erlebt haben. Sie selbst hatte nie mals Kinder bestehlen müssen, um etwas zum Essen zu haben. Sie schwor sich, diese Geschichte in ihrem Streit mit Ross niemals als Waffe zu verwenden. Georgina las, obwohl ihr das strikt verboten war, Ze itung und dadurch hatte sie das Elend entdeckt, in dem viele Menschen leben mussten – nur wenige Straßen von ihrem eigenen luxuriösen Zuhause entfernt. Sie übersah die Frauen nicht länger, die am Strand Veilchen verkauften, oder die Kinder, die sich als Gepäckträger anboten. Ihr Vater war erzürnt gewesen, dass sie ihr weniges Tasche ngeld für welke Blumensträuße vergeudete. Aber wie auch immer, Mr. Ross war ein erwachsener Mann und für sein unanständiges Betragen gab es keine Entschuldigung. Unanständiges Betragen. Gebrauchte sie tatsächlich zu viele Un-Wörter? Sie hatte nicht auf den Fortgang des Gesprächs geachtet. »Ich muss schon sagen, Onkel«, bemerkte Evelyn verächtlich. »Mit jemandem Geschäfte zu machen, ist eine Sache, aber eine andere ist es, die Anwesenheit eines Verbrechers zu dulden. Der sich noch dazu Ihrer Verlobten gegenüber in derart… erniedrigender Weise aufführt.« Die wasserblauen Augen des Grafen blitzten und er grinste Evelyn höhnisch an. »Ich wüsste nicht, dass dir Georginas Wohl bislang sonderlich am Herzen gelegen hätte. Eher hätte ich gedacht, du wärst froh, einen gut aussehenden jungen Mann in der Nähe zu wissen, der womöglich ihre Aufmerksamkeit weckt und mir den Rang abläuft.« »Was?«, rief Georgina und verschüttete beinahe den Tee auf ihr Kleid. Prudence gefror auf halbem Weg zum Mund die Teetasse in der Hand. Nick warf den Kopf in den Nacken und lachte, während Evelyn sich mit geballten Fäusten innen auf die Wangen biss. »Wirklich, Onkel. Sie sind höchst unfein.« Prudence setzte die Tasse ab und beschäftigte sich, Mr. Ross verliebte
Blicke zuwerfend, mit der Teekanne. Georgina bekam ihren Mund wieder zu. Zufällig wanderte ihr Blick in Evelyns Richtung, der sie mit einem seltsamen Ausdruck anstarrte. Die widersprüchliche Reaktion seiner Gemahlin auf Nick Ross war ihm entga ngen. Georgina erwiderte Evelyns Blick so kühl und hoheitsvoll wie nur irgend möglich. Damit weckte sie seine Neugier offenbar erst recht. Evelyn schien für einen Augenblick ins Leere zu starren, dann kräuselte er die Lippen zu einem höchst widerwärtigen, schlaffen Lächeln. Georgina war sicher, dass er an die Begegnung im Salon dachte. Damals waren Evelyns Hände schon über ihr Korsett hinauf zum Ausschnitt gewandert, bis sie ihm einen Fausthieb in den Magen versetzen konnte. Sie wendete sich abrupt ab und begegnete den forsche nden Augen von Mr. Nicholas Ross. Zweifellos dachte er das Schlimmste, falls er den Blick bemerkt hatte, den sie und Evelyn getauscht hatten. Sie streckte energisch das Kinn vor, nahm ein Sandwich von der Porzellan-Etagere, biss hinein und kaute wütend. Ihre Stimmung hob sich, als Mr. Ross verblüfft seinen Löffel fallen ließ und Ludwig anstarrte, der keuchend und schwitzend über den Rasen hastete. »Ich weiß, ich komme zu spät«, sagte Ludwig. »Entsetzlich spät. Oh, mein Herz. Aber ich habe mit der Übersetzung der Inschrift auf dem neuen Sarkophag angefangen und darüber alles andere vergessen.« Georgina lächelte ihren Freund an. Ludwig hatte tatsächlich alles um sich herum vergessen. Bei seiner Arbeit im ägyptischen Flügel hatte er sich einen Uräus aufgesetzt, ein Golddiadem mit einer Kobra an der Vorderseite. Das Diadem umschloss seinen halb kahlen Kopf und es sah aus, als würde ihm die Schla nge aus der Stirn wachsen. Außerdem hielt Ludwig eine Alabasterstatue von Thot, dem Gott der Weisheit, im Arm. Das Abbild eines Pavians, das Symboltier des Gottes, war lebensecht gestaltet, bis hin zu den intimsten anatomischen Teilen der Affenkreatur. Während der Graf Ludwig und Ross einander vorstellte, untersuchte dieser die Statue, gleichzeitig entsetzt und
fasziniert. Ludwig setzte sich und stellte die Figur neben seinem Stuhl ins Gras. »Kennen Sie sich in der Kultur des alten Ägyptens aus, Mr. Ross?« Nick betrachtete die Kobra an Ludwigs Stirn und schüttelte wortlos den Kopf. »Es würde mich freuen, Ihnen die Sammlung zu zeigen und Ihnen etwas darüber zu erzählen. Ich bin immer froh, die wunderbaren Dinge, die ich erfahre, mit anderen teilen zu können. Auch Georgina weiß eine ganze Menge. O ja, mein Herz, tatsächlich.« »Ich bin sicher, Mr. Ross hat kein Interesse«, beeilte sich Georgina zu sagen. Ross bedachte sie erneut mit seinem herausfordernden Grinsen. »Doch, ich habe Interesse, Lady Georgina. Jocelin ist begierig zu erfahren, was Sie treiben… ich meine, womit Sie sich beschäftigen. Darf ich Ihnen im ägyptischen Flügel einen Besuch abstatten, Mr. Hyde?« »Ich bitte darum, Sir«, erwiderte Ludwig. Der Kopfschmuck nahm seiner würdevollen Förmlichke it jedoch die Wirkung. »Ludwig«, sagte Georgina gepresst. »Bestimmt langweilen wir Mr. Ross.« Nick beugte sich herüber und tätschelte den Kopf des Pavians. »Ganz und gar nicht. Ich finde Studien dieser Art ungemein erheiternd.« Mit einem strahlenden Lächeln sah er zu Ludwig. »Wenn Sie mir die Ehre zuteil werden lassen, von Ihnen lernen zu dürfen, kann ich nur gewinnen.« »Da hören Sie es«, entgegnete Ludwig und sah Georgina triumphierend an. »Mr. Ross ist entzückt, mit uns die Geheimnisse der Ägypter zu teilen.« Georgina wusste, dass Mr. Nicholas Ross sich an ihrer Niederlage weidete. Wenn sie jetzt zu ihm hinsah, würde erneut dieses unverschämte Grinsen in seinem Gesicht erscheinen, das sie reizte, sich wie eine kreischende Furie auf ihn zu stürzen. Zum dritten Mal an diesem Tag fühlte sie sich überrumpelt, matt gesetzt. Sie setzte ihr Teegedeck ab und stand auf, wodurch die Herren genötigt waren, sich ebenfalls zu erheben.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden«, sagte sie ruhig. »Tante Lavinia ist nicht zum Tee erschienen und ich möchte mich nach ihrem Wohlergehen erkundigen.« »Oh, Georgina. Wenn Sie ins Haus gehen, würden Sie das hier bitte mitnehmen?« Ludwig nahm die Alabasterstatue und drückte sie Georgina in die Hand, bevor diese protestieren konnte. Wider Willen legte sie den Arm um den Paviangott, dessen anatomisch korrekt dargestellte Organe nach außen zeigten. Evelyn grinste anzüglich. Bei ihrem hastigen Rückzug stolperte Georgina über ein Stuhlbein und stieß mit jemandem zusammen, der hinter ihr stand. Sie fuhr herum. Ihr Blick traf mitten in das Gesicht von Mr. Ross. Er stützte sie mit einer Hand am Ellenbogen und ließ seine Augen wortlos von den intimsten Teilen des Paviangottes zu ihrem Gesicht wandern. Sie riss sich von ihm los, marschierte an ihm vorbei und zischte halblaut, sodass nur er es hören konnte. »Verlassen Sie Threshfield, Mr. Ross. Verpesten Sie mir nicht länger die Luft.« Er flüsterte ebenfalls und dehnte jedes Wort, weil er wusste, dass Georgina diese niedere Ausdrucksweise verabscheute. »Verdammt, George. Es sieht so aus, als sollte ich lieber hier bleiben und nachsehen, was für skandalöses Zeug Sie und Ludwig sonst noch im ägyptischen Flügel aufbewahren. Es war höchste Zeit, auf zukreuzen.«
5 Nick war Gast in einem Tollhaus. Er entflammte ein Streichholz und zündete sich eine Zigarre an, während der Butler umherging und den Herren Portwein anbot. Die Damen – Prudence, Georgina, Tante Lavinia und die Gespenster sehende Lady Augusta – hatten sich in den Salon zurückgezogen. Das Dinner war eine erstaunliche Veranstaltung gewesen. Niemand hatte etwas dabei
gefunden, dass Lady Augusta verschiede ne Speisen mit der Begründung zurückwies, Georgina hätte sie vergiftet. Georgina beteuerte ihre Unschuld, jedoch nicht sehr nachdrücklich. Zweifellos wusste sie, wie sinnlos Widerspruch war. Und es drohte Unfrieden. Der Übeltäter war nicht die arme Lady Augusta, auch nicht der gehässige Lord Threshfield, sondern Evelyn Hyde. Jedes Mal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, hatte dieser Mistkerl Georgina Blicke von schamloser Vertraulichkeit zugeworfen. Nick kannte solche Blicke. Er selbst bediente sich ihrer, wenn er hoffte, damit Erfolg zu haben. Und bei gewis sen Damen, denen die Zeit zwischen Plauderrunden im Salon und dem Gong, der zum Essen rief, zu lang wurde, war er erfolgreich. Evelyn allerdings war so feinfühlig wie ein Warzenschwein. Zwischen Georgina und ihm bestand eine unterschwellige Spannung. Es knisterte wie in einem Telegrafendraht. Nick trank einen kleinen Schluck Portwein aus dem schweren Kristallglas und lauschte einer Auseinandersetzung, die Evelyn mit seinem Sohn hatte. Evelyn tadelte Ludwig, er würde sich zu sehr seinen ägyptischen Studien widmen. »Als ein Hyde bist du verpflichtet, die altehrwür digen Familientraditionen weiterzuführen. Es ist Jagdsais on. Du hättest Freunde einladen sollen. Im nächsten Monat wird die Fasanenjagd eröffnet und ich bin sicher, du findest nicht einmal deine Gewehre.« Ludwig lümmelte sich auf seinem Stuhl und mur melte: »Ich mag nicht schießen. Warum soll ich vor Morgengrauen aufstehen und durch den Nebel stolpern, bis ich klatschnass und durchgefroren bin, und alles nur, um hunderte harmloser Vögel abzuschlachten?« Nick sah Evelyn mit ausdrucksloser Miene an. Er verbarg die tiefe Abneigung, die er für diesen Burschen seit der ersten Begegnung empfand. Die meisten Aristokraten konnte Nick ertragen, aber bei Hyde – mit seinem blasie rten Gehabe und dem Anspruch, durch adelige Geburt mehr wert zu sein als gewöhnliche Sterbliche –, verspürte er
den Drang, sich zu übergeben. Wenn dieser Kerl nicht aufhörte, mit lüsternen Blicken nach Georgina zu schielen, würde Nick dafür sorgen, dass Hyde erdrosselt zwischen den herrlichen korinthischen Säulen am Eingang von Threshfield House baumelte. Der Graf rollte mit seinem Gefährt zu Nicks Stuhl. »Wie finden Sie meine Familie, Ross?« »Einzigartig, Sir.« »Ein Haufen nichtsnutziger Blutsauger. Georgina ist hundertmal mehr wert als jeder Einzelne. Sie dürfen ihrem Bruder nicht zum Vorwurf machen, dass er ein Auge auf seine Schwester haben will. Aber Sie sind ein Narr, wenn Sie glauben, Sie könnten sie zur Aufgabe ihrer Pläne zwingen.« »Sie werden mir verzeihen, Sir, aber ich bin der Meinung, dass es sich um eine unpassende Verbindung handelt. Lady Georgina sollte einen geeigneteren Mann heiraten.« »Georginas und meine Gedanken über die Ehe sind erstaunlich ähnlich, Ross. Und Sie kennen Georgina nicht. Sie ist zwar in zarte Spitzen und Rüschen gekleidet, aber sie hat ein eisernes Rückgrat, wie ihre Tante.« Der Graf trank seinen Portwein in einem Zug und reichte Nick das leere Glas. »Ich werde mich zurückziehen. Abends lange aufzubleiben, das bekommt mir nicht. Evelyn und Ludwig zeigen Ihne n den Weg in den Salon. Gute Nacht, Ross. Meine Gemäldesammlung zeige ich Ihnen morgen.« Nick erhob sich, als der Diener den Rollstuhl wendete, um den Grafen aus dem Speisesaal zu schieben. »Ich danke Ihnen, Sir. Und ich wünsche ebenfalls eine gute Nacht.« Auf dem Weg zum Salon schritt Evelyn mit eisiger Höflichkeit voran. Nick stellte enttäuscht fest, dass auch Georgina sich bereits zurückgezogen hatte, unter dem Vorwand der Müdigkeit. Jetzt musste Nick für seine Schäkerei beim Tee büßen. Mit ihren beringten Wurstfingern fuchtelnd, fiel Prudence über ihn her und wollte alles über seine Freundschaft zu Jocelin wissen. Dabei gefiel sie sich darin, immer vom >Marquis< zu sprechen. Nick hätte Prudence nicht reizen sollen, aber es war zu verlockend,
Zeuge von Ge orginas Empörung zu sein, als er bei der Lady den Verführer spielte. Dummerweise gehörte Prudence zu den Frauen, die ihn zuerst mit Freundlichkeit überschütteten, um dann vor seiner gesellschaftlichen Minderwertigkeit zurückzuschrecken. Lady Lavinia war seine Rettung, doch fühlte Nick sich unter dem Schwall von eindringlichen Fragen, mit denen Lavinia ihn ihrerseits bestürmte, schnell unbehaglich. Die Grenze seiner Geduld war erreicht, als Lady Augusta zur Unterhaltung der Abendgesellschaft ein kleines Konzert am Pianoforte ankündigte. Sie verblüffte ihn aufs Neue durch ihre äußere Erscheinung. Sie war in ein mädchenhaftes Empirekleid aus weißer Seide gehüllt, dessen tiefer Halsausschnitt ein runzeliges Dekollete freigab. Der Rock des Kleides fiel lang herab und war am Saum mit Rüschen und winzigen blauen Girlanden verziert. Nick lauschte der Darbie tung von drei Volksliedern, dann schlüpfte er aus dem Salon. Die Folgen der langen Reise ließen sich nicht länger leugnen. Er brauchte unbedingt einen ungestör ten und ausgedehnten Erholungsschlaf. Zunächst wollte er die Zigarre zu Ende rauchen, die er sich im Speisesaal angezündet hatte. Aber Rauchen in Anwesenheit von Damen war nicht statthaft. Vielleicht fand er einen ruhigen Platz auf dem Balkon über der Terrasse, von dem aus man den Rasen sehen konnte, auf dem der Nachmittagstee serviert wurde. Nick ging nach oben, durchquerte einen Salon und trat auf den Balkon. Es war September und im Park der Grafschaft begannen sich die Blätter der Birken, Kastanien und Eichen zu verfärben. Für englische Verhältnisse herrschte tagsüber ruhiges und warmes Spätsommerwetter, aber nachts wurde es empfindlich kalt und gegen Morgen stieg Nebel auf. Nick atmete die kühle, nach modrigen Blättern riechende Nachtluft ein und war froh, der drückenden Hitze in Texas entronnen zu sein. Der Himmel war klar. Nick erkannte die Sternbilder wieder, über die er vor kurzem in einem von Pertwee empfohlenen Buch gelesen hatte. Bei einer Sternengruppe gelang es ihm, eine Linie zu
ziehen, die Georginas statuenhaften Umrissen entsprach. Georgina hatte sich heute Abend anmutig und gewandt wie eine Königin gezeigt. Mit ihren vollendeten Manieren hatte sie tatsächlich erreicht, Nick auf Abstand zu halten. Sie war fest entschlossen gewesen, ihm nicht in die Augen zu sehen. Stattdessen hielt sie ihren Blick auf sein Kinn gerichtet oder fixierte eine Stelle knapp über den Schultern. Diese Taktik war verdammt beunruhigend, vor allem auch ihr Geschick, ständig mit Ludwig oder Eve lyn im Gespräch zu bleiben, um nicht mit ihm reden zu müssen. Als der Gang mit dem Gänsebraten beendet war und sie auf die Waldschnepfen warteten, fing er einen Blick auf, den Georgina und Evelyn tauschten. Wäre Nick für Georgina verantwortlich gewesen, hätte er den Kerl wegen seiner schamlosen Lüsternheit zum Duell gefordert. Georgina hatte die stumme Botschaft wie eine wohlerzogene junge Dame übersehen. Ihr Blick ruhte auf Evelyns Raubvogelgesicht und wanderte weiter, als wäre ihr an seinem Verhalten nichts aufgefalle n. War sie daran gewöhnt? Bei Gott ja, wahrscheinlich. Warum sonst begegnete sie dem Vorfall mit solcher Gelassenheit? Nick blies den Rauch in die Luft und nahm einen weiteren Zug. Was folgte aus seinen Beobachtungen? Hatte Georgina möglicherweise sämtliche Beteiligten zum Narren gehalten? Vielleicht hatte sie es gar nicht auf den Grafen abgesehen, sondern war hinter seinem gottve rdammten Neffen her. Leise fluchend warf er seine Zigarre zu Boden und trat sie mit der Sohle seines glänzenden Abendschuhs aus. Er hatte die Hand auf den kristallenen Türknauf gelegt, im Begriff, den Balkon zu verlassen, da sah er im Augenwinkel etwas Weißes auf dem Rasen aufleuchten. Er ließ den Türknauf los, trat zur Balkonbrüstung und suchte im Schatten neben dem Springbrunnen. Der Mond stand am Himmel und sein silbernes Licht fiel auf eine in zartes Weiß gekleidete Frau. Augusta konnte es nicht sein. Sie saß noch am Klavier. Die einzige andere Frau, die an diesem Abend Weiß ge tragen hatte, war Georgina. Nick
beugte sich vor, um in der Dunkelheit besser sehen zu können. In die sem Moment wandte sich die Frau um und blickte zurück zum Haus. Nick erkannte ihr Gesicht. Es war Georgina. Er wich in den Schatten zurück. Selbst auf diese Entfernung war er sicher, dass es sich um Georgina handelte. Keine andere Frau hatte ihre Größe, keine ihren Gang. Sie schwebte über den Boden wie ein sanft vom Wind bewegter Nebelhauch. Während er dastand und ihr nachsah, zog sie einen Mantel an, drehte sich um und setzte ihren Weg über den Rasen fort. Er blieb stehen, bis er wusste, welchen Pfad sie wählte – es war der Weg, der zu einem auf einer Waldlichtung gelegenen griechischen Tempel führte, wie ihm der Graf gesagt hatte. »Verdammt, sie ist unterwegs zu einem Stelldichein«, murmelte er und verließ hastig den Balkon. »Ich hätt’s wissen sollen. Hinterhältig und falsch, die kleine Schla mpe. Mit Evelyn Hyde, diesem durchtriebenen Hundesohn. Erspart mir aber ‘ne Menge Arbeit, die Lady. Hat sich die Grube, in die sie fällt, selbst gegraben. Ha! Wenn der alte Threshfield das erfährt, setzt er sie hochkant vor die Tür.« Er rannte die Treppe hinunter und nach draußen, ohne jemandem zu begegnen. Als er die Terrasse verließ, hemmte die Dunkelheit seine Schritte. Der Pfad, über den Georgina verschwunden war, hatte einen Kiesbelag. Um nicht durch knirschende Schritte verraten zu werden, lief er neben dem Weg. Er musste überhängenden Ästen und Buschwerk ausweichen, das ihn behinderte. Schließlich erreichte er die Lichtung, auf der weiß im Mondlicht der kleine Tempel schimmerte. Nick näherte sich im Schatten dem Saum des Waldes und schlüpfte hinter eine der vier Säulen, die den Tempel an der Vorderfront stützten. Die Doppeltüren des Portals standen angelehnt und durch den Spalt drang ein schwacher goldener Lichtschein. Nick stahl sich hinein und blieb stehen. Er befand sich in einem Vor raum mit weißem Marmorboden. Sein Blick fiel auf eine altertümliche Eisenlampe, die seltsam geformt war und auf einem Dreifuß ruhte. Die Lampe war mit frischem Öl gefüllt.
Nick trat näher und hielt den Atem an, als eine unbe kle idete Frauengestalt vor ihm auftauchte. Dann fiel ihm die totenähnliche Starre auf; die Figur war kalkweiß und stand auf einem Sockel. Die Statue stand mitten in der Vorhalle und an den Wänden ringsum waren geheimnisvolle Ritualszenen abgebildet. Hinter der Statue öffnete sich ein Bogendurchgang. Aus der Kammer schimmerte ebenfalls schwachgoldenes Licht, aber es hüpfte unruhig über die Kacheln an den Wänden. Nicks Fantasie überschlug sich, als er mit vorsichtigen Schritten näher trat, um auf dem glatten Marmor kein Geräusch zu verursachen. Er blieb unter dem Bogen stehen und lauschte. Das hohle Geräusch von schwappendem Wasser drang aus der unsichtbaren Kammer nach oben. Auf den Wänden tanzte das Licht. Er atmete den Geruch von Jasmin und Wasser ein. Evelyn Hyde, dieser Mistkerl, hatte einen besonderen Platz für sein Rendezvous gewählt und dafür würde er ihn eigenhändig um eine dieser weißen Säulen wickeln. Er machte einen Schritt vorwärts. Es knisterte. Er war auf ein vertrocknetes Blatt getreten. Georginas Stimme drang zu ihm; sie summte, begleitet von Geräuschen, als würde sie im Wasser plätschern. Sie be gann ein Lied zu singen, über den Frühling und heidnische Bräuche. Sie wirkte glücklich; ihre Stimme klang traumverloren und war von Wärme erfüllt – ein seltsamer Gegensatz zu ihrem sonstigen reservierten und kühlen Tonfall. War dies das Ergebnis ihres Stelldicheins mit Hyde? Nick würde den Hundesohn nicht nur um die Säule wickeln, er würde ihm vorher das Fell über die Ohren ziehen. »Verfluchter Dreckskerl.« Er stürmte in die Kammer. Eine schmiedeeiserne Balustrade verhinderte, dass er kopfüber von der Empore stürzte. Verwirrt umklammerte er das Geländer, dann sah er unter sich ein ovales, mit Kacheln ausgekleidetes Wasserbecken, das von einem Kuppeldach überwölbt wurde. Im Becken, den Blick nach oben gerichtet und den Mund zu einem riesigen O geformt, stand Lady Georgina. Sie starrten einander an, bis beide gleichzeitig in Bewegung
gerieten. Nick zeigte auf Georgina. »Aha!« Im nächsten Moment sackten sein Arm und sein Kinn herunter. Lady Georgina war splitternackt. Im selben Augenblick kreischte sie auf, watete zum Rand des Beckens und streckte, gegen die Kacheln gelehnt, den Arm nach einem Stapel mit Kleidern und Handtüchern aus. Sie angelte sich das nächstbeste Kleidungsstück, ein hauchdünnes Morgengewand. Mit einer Hand raffte sie den weißen Stoff und hielt ihn der Länge nach vor sich; mit der anderen Hand griff sie in den Korb neben den Kleidungsstücken. Sie zog die Hand hervor und zielte mit einer Pistole auf Nick. »Verschwinden Sie!« Ohne ihr Beachtung zu schenken, suchte er den Raum nach Hyde ab, doch sie war offenbar allein. Er war zu früh gekommen. »Mr. Ross«, sagte Georgina. Die hohen Steinwände warfen das Echo zurück. »Könnte es sein, dass Sie meine Pistole übersehen haben?« Er blickte auf ihr dünnes Gewand, das sich mit Wasser vollsog und beinahe durchsichtig wurde. »Was?« »Das hier ist eine Derringer, Mr. Ross. Eine doppelläufige Remington, Kaliber einundvierzig, mit Perlmuttgriff und eingraviertem Blütenmuster an den Zwillingsläufen. Die Pistole ist ein Geschenk von Tante Livy und ich werde Sie damit erschießen, wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden.« Seine Aufmerksamkeit irrte wieder zu dem durchnässten Kleidungsstück ab. Ein sengender Feuersturm durchfuhr ihn. So etwas war ihm noch nie widerfahren. Eine halb nackte Frau im Tauchbecken eines Badetempels mit einer Pistole in der Hand. Ihr Haar war zu einer Hochfrisur getürmt, doch ein paar Strähnen hatten sich gelöst und feuchte wirre Locken umrahmten ihr Gesicht. Im tanze nden goldenen Licht konnte er schemenhaft ihre Rundungen erkennen. Kleine Wassertropfen rannen an ihrer Kehle entlang in das Tal zwischen ihren Brüsten. Und nun erwartete sie, dass er… Seine Lippen kräuselten sich zu einem boshaften Lä-
cheln. »Sieh an, sieh an. Ein hübsches Täubchen haben wir da. Verflucht, wenn das keine Verlockung ist!« Er ließ die Hand über das Geländer gleiten und schritt die geschwungene Treppe hinab, die zum Wasserbecken führte. »Sie bleiben oben!«, schrie Georgina und spannte den Pistolenhahn. Er blieb auf halbem Weg stehen und lehnte sich gegen das Gelä nder. Jetzt konnte er ihre langen Beine besser erkennen, obwohl sie durch das Wasser verzerrt wirkten. Wenn er noch näher trat, würde er ebenfalls einen peinlichen Anblick bieten. »Ich geh nicht eher weg, bis der verfluchte Evelyn Hyde aufgetaucht ist.« »Ev… Sie glauben… ich will mich hier mit ihm treffen?« Die Derringer-Pistole schwankte, dann war sie wieder auf ihn gerichtet. »Von allen üblen Verdächtigungen müssen Sie ausgerechnet mit dieser kommen! Sie sind ein verkommenes Subjekt, Mr. Ross.« Nick umkla mmerte das Geländer und beugte sich nach unten. »Verkommen? Ich stehe nicht nackt in einem Wasserbecken, nur mit einem dünnen Fetzen Stoff bekleidet, durch den ein halb blinder Frosch alles sehen könnte.« Georgina blickte an sich hinunter auf das feuchte Gewand und kreischte auf. Eine Hand sank auf ihre Brüste, die andere mit der Pistole verschwand unter Wasser, vor das dunkle Dreieck zwischen ihren Beinen. Sie holte tief Luft, riss die Pistole hoch und ließ sie gleich darauf fallen, um ihre Blöße zu bedecken. Nicks amüsiertes Glucksen hallte von den Wänden wider. Georgina stakste zur Beckenkante, packte ein Badetuch und presste es an sich. Das durchnässte Kleid trieb auf dem Wasser. Sie zischte ihn an: »Ich hätte Sie erschießen sollen.« Nick hörte auf zu la chen. »Wie viele Männer hast du bereits niedergestreckt?« »Seien Sie nicht albern. Keinen.« Etwas in seinem Gesicht schien sie zu warnen, denn sie wich zurück zur Mitte des Beckens. Er kam die letzten Stufen herab und schlenderte zum Beckenrand.
»Keinen«, wiederholte er leise. »Pass bloß auf, wem du die Pistole auf die Brust setzt. Wenn die Greifer wüssten, wie viele ich umgelegt habe, hätten sie mich längst kaltgemacht.« Georgina blickte verwirrt und Nick erklärte: »Die Polizei. Was glaubst du eigentlich? Dass ich in St. Giles Veilchen verkauft hätte?« Nick beobachtete, wie ihre Halsmuskeln arbeiteten. Sie schluckte. Und ihre Antwort nötigte ihm Respekt ab. »Meine Vorfahren haben die Spanische Armada vernic htet und mit Wellington der Belagerung durch Napoleon standgehalten. Mich können Sie nicht einschüchtern, Mr. Ross. Und jetzt gehen Sie, bevor ich um Hilfe rufe.« »Die ist viel zu weit weg.« Nick bückte sich und hob eine Kristallflasche hoch. Er zog den Stöpsel heraus und schnupperte. Die Flasche war leer, duftete aber nach Jasmin. »Sag mal, George, ist das Wasser kalt?« »Was soll das? Gehen Sie weg!« Er kniete nieder und tauchte die Finger ins Nass. »Muss nachträglich eine Dampfheizung eingebaut worden sein. Aber es wird langsam kalt.« »Gehen Sie jetzt endlich oder nicht?« »Tja, George, das kommt drauf an.« Ihre schmalen, geschwungenen Brauen schoben sich zusammen. »Worauf?« »Ob wir uns handelseinig werden, altes Mädchen.« »Sprechen Sie weiter«, fuhr sie ihn an und zog das Handtuch enger um ihre Hüften. »Ich verlasse dich, wenn du mir versprichst, diese alberne Verlobung zu lösen.« »Lieber verhexe ich Sie mit einem alten ägyptischen Fluch.« Nick steckte seine Hand erneut ins Wasser. »Es wird immer kälter. Natürlich könnte ich hineingehen und dich holen. Ist es das, worauf du wartest?« Georgina machte einen zu hastigen Schritt rückwärts, glitt aus und versank unter Wasser. Nick kniete lachend am Beckenrand. Sie tauchte auf, Wasser spuckend und fluchend. Sobald sie wieder Boden unter den Füssen hatte, knotete sie das Handtuch fester um die Hüften und watete
auf ihn zu. Sein Lachen erstarb, als sie ihn lauthals anschrie. »Bei Gott, Sir! Es wird Ihnen noch Leid tun, dass Sie St. Giles jemals verlassen haben!« Nick antwortete nicht sofort. Er hielt sie für nicht entschlossen genug, um ihre Drohung wahr zu machen. Aber als sie dem Becken entstieg, erkannte er seinen Irrtum. Georgina würde ihn angreifen. Wenn sie ihn anrührte, triefend nass und unbekleidet, würde ihm das Lachen schnell vergehen. Er konnte schlecht gegen Jocelins nackte Schwester kämpfen, solange er vor Erregung steif war und seine Gefühle Amok liefen. Er wich zurück, als sie drohend näher kam. »Aber George… Lady Georgina, denk an deine gute Erzie hung.« »Wagen Sie nicht, mir von guter Erziehung zu sprechen, Sie Scheusal.« Nick streckte eine Hand aus und schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Du weißt nicht, was du tust, Liebste.« Georgina war rasch bei ihm. Er schüttelte noch immer den Kopf, als sie ausholte und zuschlug. Ihre Hand war feucht, sodass die Faust an seiner Wange abglitt. Georgina schrie auf und hielt ihre Hand. Nick fluchte, mehr vor Überraschung als vor Schmerz, rieb sich die Wange und starrte sie an. Dann ging er auf sie zu. »Warum das, du falsches kle ines Luder?« Eine Stimme rief: »Ich habe die andere Flasche mit Badesalz gefunden, Mylady.« Er blieb stehen und drehte sich um. Eine Zofe in schwarzem Kleid und weißer Schürze eilte die Treppe herunter und wäre beim Anblick der beiden beinahe gestolpert. »Aber Sir!« Zwar war die Zofe klein und zart gebaut, aber sie stürzte zu ihrer Herrin und baute sich vor ihr auf wie eine wütend zischende Gans, die ihre Brut beschützte. »Sie sollten sich schämen, Sir. Und jetzt fort mit Ihnen. Gehen Sie!« »Nicht, bevor ich ein Versprechen von deiner Herrin
erhalten habe.« »Keine Ausreden, Sir.« Die Zofe hielt die Flasche mit dem Badesalz hoch und drohte wie mit einem Knüppel. Nick tauchte zur Seite weg, als das schwere Glasgefäß auf seinen Kopf zielte. Wieder lachte er. »Mädchen, ich flehe dich an, mich nicht umzubringen.« »Rebecca, sei vorsichtig.« Georgina beobachtete die Szene mit einem spöttischen Lächlen. »Pass auf, dass du dir nicht weh tust.« »Machen Sie sich bloß keine Sorgen, Mylady. Ich habe fünf Brüder, von denen keiner einen Eimer Kohlen wert ist. Ich weiß, wie ich mit nichtsnutzigen Kerlen umspringen muss.« Sie rannte drei Stufen herunter und warf die Flasche. Nick sprang zur Seite und landete mit einem Satz über das Treppengeländer auf halbem Weg nach oben. »Vie lleicht habe ich dich falsch eingeschätzt, George.« »Wenn Sie glauben, Sie wären mein Richter, sind Sie verrückt. Sobald ich Threshfield von Ihrem Auftritt hier erzählt habe, können Sie froh sein, wenn man Sie laufen lässt, ohne Ihnen die Polizei auf den Hals zu hetzen.« Nick sah grinsend zu ihr hinunter. »Vergiss es, Geor ge. Du verpfeifst mich, aber ich erzähl die Geschichte auf meine Weise. Willst du wissen, wie sich das anhört?« Sie erwiderte nichts. Ihre Blicke trafen sich, dann schüttelte sie langsam den Kopf. >»Liebste mein, nicht weil ich deiner müde war, scheid ich von dir.Ägyptisches TotenbuchOh, ein Kuss, so lang wie mein Exil und süß wie meine Rache!Nun gute Nacht! So süß ist Trennungswehe, ich rief wohl gute Nacht, bis ich den Morgen sähe.Die vollkomm’ne Braut, so herrlich gebaut, zu Liebe und Trost mir anvertraut«
Georgina griff das Seil und warf nach ihm. Es traf Nick ins Gesicht. Er stieß es achtlos beiseite, vollführte einen Kratzfuß und verneigte sich erneut. »Du magst Wordsworth nicht? Pertwee hat mich auch Byron gelehrt. >Keine von Aphrodites Töchtern bezaubert mich wie du; und als Feenmusik über den Wassern dringt mir deine süße Stimme ans Ohr.»Sie blickte mich an, als würde sie lieben, und süß stöhnte ihr Mund.Gute Manieren schmücken den Wissenden und ebnen seinen
Weg in der Welt.< Einen Gentleman erkennt man daran, dass er immer und überall Haltung bewahrt.« »Ein Idiot, dieser Lord Chesterfield«, erwiderte Nick und steckte den Kopf in den Schrank, zwischen die Jacketts und Westen. »Das können Sie ihm von mir bestellen.« »Glücklicherweise weilt Lord Chesterfield nicht mehr unter den Lebenden, Sir.« Mit zerzaustem Haar tauchte Nick aus dem Schrank auf, stapfte, die Arme voll beladen, zum Bett und warf eine Ladung Hemden in den Koffer. »Wir hauen ab von hier, Pertwee. Setzen Sie Ihren Hintern in Bewegung.« »Sir, vor dem Begräbnis können Sie kaum abreisen.« »O doch. Ich kann. Dieser trottelhafte Landarzt und der Leichenbeschauer haben Threshfield einen natürlichen Tod bescheinigt. Entweder sind beide blind oder sie machen mit Evelyn gemeinsame Sache. Auch egal. Ich bleibe jedenfalls nicht hier, um das herauszufinden. Und da es für Lady Georgina keinen Grund mehr zum Bleiben gibt, ist meine Aufgabe hier erledigt.« Er schloss den Koffer und hob ihn auf. »Ich habe Rebecca, die Kammerzofe der Lady, sagen hören, ihre Herrin beabsichtige, noch einige Wochen zu bleiben.« Nick ließ den Koffer fallen. »Wann?« »Vor wenigen Augenblicken.« Nick ging um den Koffer herum und setzte sich aufs Bett. »Ich habe ihr von meiner Vermutung erzählt, dass Threshfield vergiftet wurde.« »Und Lady Georgina hat gesagt, sie werde abreisen?« »Hmm. Nicht wörtlich.« Sie wisse, was sie zu tun habe, das hatte sie gesagt. Er hatte angenommen, sie wäre mit ihm der Meinung gewesen, dass sie beide Threshfield verlassen sollten. Nun erkannte er, was er hätte wissen müssen, als er ihr zum ersten Mal von seinem Verdacht berichtete. Geor gina Marshal mochte von Trauer gebeugt sein, aber sie verfolgte einen bestimmten Plan. Er hob den Blick zu seinem Kammerdiener. »Haben Sie
gehört, wie der Graf gestorben ist?« »Der Butler sagte, es sei ein Schlaganfall gewesen, Sir.« »Hören Sie zu, Pertwee. Sie wissen, wo ich herkomme und wie viel ich gesehen hab. Das war kein Schlaganfall, sage ich Ihnen. Threshfield litt an rasselndem Atem, Herzrasen und Sinnestäuschungen. Seine Haut war heiß, trocken und gerötet und man konnte seinen trommelnden Puls im ganzen Zimmer hören. Später wurde er angriffslustig, brach dann mit Fieber und Muskelkrämpfen zusammen und fiel schließlich in eine Starre.« »Wie furchtbar.« »Richtig. Wie furchtbar und wie vertraut.« Pertwee stellte die Reitstiefel ab und trat näher. Dabei blickte er sich im Raum um, als fürchte er, be lauscht zu werden. »Sir, wollen Sie damit andeuten, der Graf wä…« »Richtig.« »Dann müssen Sie die Behörden einschalten, Sir.« »Sicher, Pertwee. Ich marschier einfach ins Büro des Friedensrichters, ‘rein zu Sir Nigel Mainwaring. Er und Evelyn Hyde sind Internatskumpel, dicke Schulfreunde. Und diesem verdammten Mainwaring erzähl ich, dass der alte Threshfield vergiftet wurde. Tolle Geschichte, was? Wissen Sie, wen der als Ersten verdächtigt? Nein, nicht seinen alten Schulfreund, und keinen von diesen vorne hmen blaublütigen Schwachköpfen, die es nicht erwarten konnten, an seine Moneten zu kommen. Nein. Der Erste, auf den der Verdacht fällt, bin ich, weil ich keiner von ihnen bin. Ich war nicht in Oxford oder Cambridge und mein Blut hat eine ganz gewöhnliche Farbe, es ist nämlich rot.« Nick kaute auf seinen Lippen und blickte dann seitwärts zu Pertwee. »Sie sagen, Lady Georgina bleibt hier?« »Ja, Sir.« Leise fluchend fuhr sich Nick mit der Hand durchs Haar. Er hatte den wahren Grund nicht nennen wollen, weshalb er es so eilig hatte, Threshfield zu verlassen. Das Licht dieses strahlenden Herbsttages hatte ihm sein en gesunden Menschenverstand zurückgebracht.
Nick war einer Schwäche erlegen, niedriger blinder Wollust, und er hatte seinen besten Freund verraten. Jocelin war sein Retter gewesen; er hatte ihn aus einem Leben in finsterem Elend befreit, hatte ihn vor dem sicheren Tod durch den Strang bewahrt. Und Nicks einziger Dank war, die Tugend der jüngeren Schwester seines Freundes zu beschmutzen. Und um den Betrug vollständig zu machen, verliebte er sich auch noch in sie. Mit Georgina zu schlafen, war anders gewesen als alles, was er jemals zuvor erlebt hatte. Bisher bedeute te Geschlechtsverkehr für ihn immer ein Geschäft Vergnügen wurde mit Vergnügen vergolten, mit Geld oder einem anderen Tauschmittel. Früher verband er mit Sexualität die Erfahrung von Angst, vor allem in jener Nacht, als sein Vater ihn verkauft hatte, um seine Zechschulden in einer Schänke zu bezahlen. Nach diesem Erlebnis hatte Nick gelernt, sich entweder zu schützen, sich zu verstecken oder die Demütigung auszuhalten. Später, als er herangewachsen war, bestimmte er selbst über seinen Körper und gewährte seine Gunst nur selten. Nachdem er St. Giles verlassen und durch Jocelin Zugang zur höheren Gesellschaft gefunden hatte, trennte er zwischen Techtelmechtel und seinem neuen Leben unter den Reichen und Vor nehmen – wenigstens anfangs. Bald jedoch fand er heraus, dass bestimmte Damen recht verführerisch waren und nur allzu willig, ihren guten Ruf für eine Chance bei ihm aufs Spiel zu setzen. Für die besser gestellten Damen war er ein gefährlich aufregender und interessanter Mann; und die Affären amüsierten ihn, solange sie nicht ausuferten. Dann war er Georgina begegnet – der imposanten, würdevollen Georgina, die ihn zur Weißglut treiben konnte. Mit ihr war das Leben, als würde unter seiner Haut ein Bienenvolk wohnen. Es gelang ihm einfach nicht, sie dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte ein Problem, das er sonst nie bei Frauen hatte. Aber los lassen konnte er sie auch nicht. Sie trat in seine Gedanken, wenn er am wenigsten darauf vorbereitet war, und bewirkte, dass ihm sein Körper nicht mehr gehorchte. Abwechselnd
überliefen ihn heiße und kalte Schauer, er verzehrte sich nach ihr. Sie quälte ihn, sie reizte ihn, bis er die letzten Gewissensbisse verlor. Und das Zusammensein mit ihr war anders gewesen. Anders, weil sie nichts weiter gewollt hatte, als bei ihm zu sein. Die Vereinigung mit Georgina war kein Geschäft gewesen, kein Warenaustausch, kein wollüstiges Spiel einer gelangweilten Adelsdame. Zum ersten Mal in seinem Leben berührte er in einer flüchtigen Ahnung die Gefühlswelt, die von den großen Dichtern besungen wurde, deren Werke er bewunderte, aber nicht verstand und für unwahr hielt. »Pertwee, wo ist das Buch von diesem Burschen aus Schottland?« »Sir Walter Scott, Sir?« »Genau der.« Der Leibdiener reichte ihm das Buch. Nick öffnete es und begann darin zu blättern, während er von Bett und Koffer fortstrebte. »Ah, hier ist es.« Lesend wanderte er in den Salon. Wahre Liebe wird von Gott geschenkt, Nur den Menschen unter’m Himmelszelt: Nicht geboren aus der Fantasie hitzigem Feuer, Deren Wünsche verfliegen, sobald sie gewährt; Sie lebt nicht in brünstiger Gier, Erlischt das Verlangen, bleibt sie besteh’n; Liebe ist die geheime Zaubermacht, Silberner Reif und seidener Faden, Die Herz zu Herz und Geist zu Geist In Körper und Seele fiir immer vereint.
Nick hatte die Zeilen erst vor wenigen Wochen gelesen und nicht verstanden. Gestern Nacht hatte er sich an Georgina gesättigt, doch der Hunger und der Durst seiner Seele nach ihr waren geblieben. Bis jetzt war sein Interesse nach der Eroberung stets erloschen. Doch letzte Nacht hatte er in Georginas smaragdgrüne Augen geblickt und erkannt, dass er mit ihr zusammen sein wollte, nächste Woche, nächstes Jahr, soweit er in die Zukunft denken konnte. Aber Georgina war für ihn unerreichbar. Schließlich hatte er Vernunft angenommen und stundenlang über die Situation nachgegrübelt. Seine Gedanken
kreisten nicht mehr ständig um sie. Er hatte Georgina und Jocelin verletzt, ohne dass die beiden etwas davon ahnten. In seiner Familie hatte Jos genügend Verrat erlebt. Und Jos hatte ihm vertraut. Er ließ sich in einen Sessel fallen und drückte fest die Augenlider zu, als wollte er dem Anblick seiner eige nen Treulosigkeit entfliehen. Er hatte Jocelins Schwester entehrt. Das war genauso, wie Schande über Jocelin zu bringen. Wäre Georgina eine beliebige junge Frau, ließe sich das Vergehen durch Heirat sühnen. Aber er war nicht so dumm, sich einzureden, dass er diese Sünde auf diese Weise auslöschen konnte. Wenn er das tat, würde er sie und auch Jocelin beschämen. Eine Frau, die so weit unter ihrem Stand ge heiratet hatte, wurde nirgends empfangen. Sie wurde von der Gesellschaft ausgeschlossen. Der Herzog würde sie enterben. Jocelin mochte ein tapferes Gesicht aufsetzen, großherzig und mild, wie er war, aber der Schande würde auch er nicht entkommen. Nein, Nick hatte Georgina bereits in Gefahr gebracht. Nun wollte er ihre gesellschaftliche Stellung nicht völlig ruinieren. Sein Entschluss stand fest. Er würde abreisen und ihr später eine briefliche Entschuldigung schicken. Aber das war, bevor er erfuhr, dass sie Threshfield vorerst nicht verlassen würde. Georgina konnte nicht in einem Haus bleiben, in dem ein Mörder frei herumlief. Vielleicht hatte sie ihm nicht geglaubt, als er von einer Vergiftung sprach. Er würde dafür sorgen, dass sie ihm jetzt Glauben schenkte. Und er hoffte, sie verstand auch, dass sie beide in der vergangenen Nacht einen Fehler begangen hatten. Sicher würde sie das verstehen. Sie war eine Herzogstochter und wusste, dass die Verbindung mit einem Mann seiner Herkunft unmöglich war. Wirkliche Sorge bereitete ihm der Gedanke, sie könnte darauf bestehen, sich weiter ins geheim mit ihm zu treffen. Das war undenkbar, denn dann würde er dem Wahnsinn verfallen. Das musste er ihr unmissverständlich klarmachen. Mit diesem Selbstopfer und diesem edlen Ziel vor Augen
machte sich Nick auf die Suche nach Georgina. Er musste sie ohne Zeugen antreffen, um sich ihr zu erklären. Ja, so war es besser. Er konnte nicht einfach verduften, ohne wenigstens vorher mit ihr zu sprechen. Auf dem Treppe nabsatz hielt er ein Zimmermädchen auf und erfuhr, dass Georgina zusammen mit der Familie im Salon den Tee einnahm. Allmählich trafen die ersten Beileidsbesucher ein, die im Salon empfangen wurden. Nick rannte treppabwärts und ging in die Bibliothek, um unauffällig durch die Verbindungstür in den Salon zu gelangen. Er betrat den Raum mit den hohen, von Wand zu Wand reichenden und mit wuchtigen Zierleisten versehenen Bücherregalen. Als er sich der Tür zum Salon näherte, drang ein Klicken an sein Ohr. Es kam von einem Regal, das langsam nach innen schwenkte. Ein kleines zerknittertes, von einer Spitzenhaube umrahmtes Gesicht lugte hervor. »Ssst!«, wurde er angezischt. »Verflixt und zugenäht, Lady Augusta. Was machen Sie denn hier?« »Wellington, ich wusste, dass Sie kommen würden, nachdem Sie diese fürchterliche Nachricht erhalten haben. Kommen Sie hier herein. Rasch.« Sie packte ihn am Arm, zog ihn ins Dunkle und schob das Regal an seinen Platz zurück. Nick stand im düsteren Nichts, mit der Außenwelt nur durch Lady Augustas knochige Hand verbunden. Dann hörte er ein Schloss klicken; eine kleine Tür ging auf und durch den schmalen Spalt fiel ein dünnes Licht ein. Lang gestreckte blaugraue Wolken jagte n über den Himmel. Jetzt konnte Nick Lady Augusta erkennen. Ihr kindliches Gesicht war tränenüberströmt und sie suchte in ihrem Beutel nach einem Spitzentaschentuch, um sich die Augenwinkel zu betupfen. »Es tut mir Leid, dass Sie in Trauer sind, Lady Augusta.« »Sie mögen mich entschuldigen, Wellington. Aber all dies wäre nicht geschehen, hätten Sie die Spionin verhaftet, wie ich es Sie zu tun bat. Nun müssen Sie wirklich mehr
Entschlusskraft zeigen, und zwar rasch. Alle Welt glaubt, der Tod meines Bruders wäre durch einen Gehirnschaden verursacht worden, aber ich weiß, dass die französische Spionin ihn vergiftet hat. Sie müssen Sie sofort erschießen lassen.« »Mylady, ich bin nicht Wellington.« »Natürlich nicht. Nicht hier, unter den Narren und Spionen. Zweifellos halten sich Ihre Männer in den Wäldern versteckt. Wenn sie abreist, setzen Sie ihr nach. Still! Haben Sie das auch gehört?« Nick gelang es nicht sofort, sich an seine neue Identität zu gewöhnen. »Was? Nein.« »Sie entledigen sich ihrer, nicht wahr? Oder ziehen Sie vor, dass ich…« »Nein, nein. Darum kümmere ich mich selbst.« Er legte eine Hand auf den Arm der alten Dame. »Keine Sorge, Lady Augusta. Die französische Spionin erledige ich. Sie unternehmen gar nichts. Ich werde einige Tage brauchen, um die Sache einzufädeln. Napoleon soll keinen Verdacht schöpfen, dass wir dahinter stecken. Das wäre nicht gut, wissen Sie. Er könnte noch mehr Agenten schicken, und dann würden Sie in Gefahr geraten.« »Darüber zerbrechen Sie sich lieber nicht den Kopf«, sagte Lady Augusta. »Ich gebe auf mich selbst Acht. Nur der arme John Charles konnte das nicht.« Sie schniefte in ihr Taschentuch. »Seien Sie vorsichtig, Wellington. Sie ist sehr gerissen.« Augusta schlüpfte durch die Außentür und ließ ihn allein im Dunklen zurück. Er tastete die Wände ab, bis er den Schnapper fand, hob ihn an und zog. Das Bücherregal schwang auf und er befand sich wieder in der Bibliothek. Kopfschüttelnd schloss er das Regal und murmelte vor sich hin. »Jetzt hält Sie mich schon für Wellington. Der Tod des Grafen muss ihren Verstand angegriffen haben. Arme Lady.« Als er in den Salon schlüpfte, empfing ihn dort eine düstere Atmosphäre. Fenster und Türen waren mit Trauerflor drapiert. Prudence, Evelyn und die Gäste
trugen Schwarz. Mit schwarzem Stoff verhängt war auch das Porträt des Grafen an der Wand neben dem Kamin. Auf einem Sofa vor dem Kaminfeuer saß Lady Lavinia und tröstete Ludwig, der sich mit einem schwarz geränderten Taschentuch die Augen wischte, ein Buch über altägyptische Zauberkunst unter die Achsel geklemmt. Prudence und Evelyn berieten sich mit zwei Herren. Sie saßen über einen Folianten gebeugt, der geöffnet auf einem Tisch lag. Anscheinend handelte es sich um einen Katalog für Trauerbedarf. Nick stahl sich von hinten heran und warf einen Blick auf die Beschreibung der Trauerartikel – es gab alles, Kutschen, Federschmuck, schwarz gerahmte Trauerkarten bis hin zu Witwenbändern. Er schlich davon, bevor er entdeckt wurde, und trat zu Georgina, die aus einem Fenster starrte. Sie drehte sich zu ihm um, als er näher kam, und der Ernst in ihrem Gesicht verschwand. Wie Smaragde, die im Schein von tausend Kerzen funkelten, hellten sich ihre Augen auf, und sie begrüßte ihn mit einem engelhaft strahlenden Lächeln. In der vergangenen Nacht hatte sie ihn genauso angelächelt. Seine Beine wurden butterweich. Jetzt, im nüchternen Tageslicht, verstärkte das Strahlen sein Entsetzen und die Angst. Dieses Mal hatte er wirklich ganze Arbeit geleistet. Sie reichte ihm die Hand. Er nahm sie, beugte sich darüber und berührte sie leicht mit den Lippen. Sie begrüßte ihn mit dieser weichen Stimme, die er bisher nur vernommen hatte, wenn sie allein waren. »Ich muss mit dir reden«, sagte er, bevor sie etwas erwidern konnte, das sie später vielleicht bereuen sollte. »Ja?« »Nicht hier.« Wieder lächelte sie, als hätte sie die Bitte erwartet. »Ich dachte, du hättest mich verstanden. Es ist gefährlich hier. Du solltest Threshfield House verlassen.« »Ach, darum geht es. Wenn du so sic her bist, dass Threshfield vergiftet wurde, muss ich erst recht hier bleiben und seinen Mörder finden.«
»Verflixt und zugenäht!« »Schsch.« Nick sah sich um und entdeckte Lady Lavinia, die missbilligend die Stirn runzelte und ihn beobachtete. Er senkte die Stimme. »Wir müssen reden, und nicht nur über deine Abreise. Es gibt noch etwas anderes zu besprechen. Wegen gestern Nacht. Ich muss dir etwas sagen.« Er fing einen Blick von Evelyn auf, der zu ihnen herübersah. »Verdammt. Gleich kommt er zu uns. Sieh ihn dir an, ganz aufgeblasen ist er, der Wichtigtuer. Man könnte glauben, er hätte einen Heißluftballon verschluckt. Sag schnell, wo sollen wir uns treffen?« »In der Grotte. Nach dem Tee.« »Und du hältst dich von diesem verdammten Evelyn Hyde fern«, fuhr Nick sie an. Georgina wandte den Kopf zum Fenster und verbarg ein Lächeln. »Du bist eifersüchtig.« »Bin ich nicht.« »Ganz sicher bist du das.« Unter dunklen Wimpern und mit rosigen Wangen blickte sie zu ihm auf. »Der arme Threshfield ist kaum tot und ich habe schon solche Gefühle.« Nick sah die Röte in ihrem Gesicht und fluchte. »Hör gut zu, Liebes. Ich muss dich etwas fragen.« »Ich weiß.« »Du weißt was?« »Ich bin seit meinem achtzehnten Geburtstag in die Gesellschaft eingeführt, Nick.« »Was hat das mit meiner…« Evelyn hatte sich auf sie gestürzt. Er brabbelte etwas von Begräbnisvorbereitungen, von Briefen, die an Verwandte geschrieben werden müssten, und von der unentbehrlichen Hilfe Georginas. Nick schwieg. Er und Georgina wurden zu den Sesseln am Kamin geschleppt, wo Randall und zwei Lakaien mit frischem Tee eintrafen. Nick saß da, eine hauchdünne Porzellantasse in der Hand, und versuchte zu ergründen, wovon Georgina gesprochen hatte. Der Sinn ihrer Worte blieb ihm schleierhaft, also überlegte er
stattdessen, was er ihr in der Grotte sagen würde. Es gab keinen Grund, lange um den heißen Brei herumzureden. Sie war eine vernünftige Frau und dachte praktisch. Er würde ihr die Wahrheit sagen, jedenfalls einen Teil der Wahrheit. So war es am besten. Er hätte sich gar nicht erschrecken müssen, nur weil sie ihn soeben angelächelt hatte. Alles nur Einbildung. Sie würde verstehen, dass St. Giles und Grosvenor Square keine Ehe miteinander eingehen konnten. Vielleicht schnitt sie das Thema sogar als Erste an. Das war es. Kein Wunder, dass sie zu wissen glaubte, was er sagen würde. Die brennende Last des schlechten Gewissens hob sich von seinem Herzen. Er trank einen Schluck Tee und lehnte sich erleichtert in seinem Sessel zurück. Natürlich. Sie war eine Herzogstochter und verstand, wie die Dinge geregelt werden mussten. Er war ein Narr gewesen. Es gab nicht den geringsten Grund zur Sorge. Georgina Marshal war eine vernünftige, praktisch denkende junge Frau.
15 Nach dem Tee stahl sich Georgina aus dem Salon und zog ein schwarzes Reitkleid, Bowlerhut und einen zarten Schal an. Sie holte eine ruhige kleine Falbenstute aus dem Stall und bog auf den Pfad ein, der sich um das Parkgelände von Threshfield House wand. Um ihr wahres Ziel zu verheimlichen, gab sie vor, auf den schmalen Reitweg einzubiegen, der zu der Ruine des ehemaligen Witwensitzes führte. Sobald sie außer Sichtweite des Schlosses war, verließ sie den Pfad und lenkte das Pferd zum Waldrand. Die Grotte lag tief versteckt im Waldesinnern. Während des Ritts gestattete sich Georgina das Glücksgefühl, das sie in Anwesenheit der trauernden Familie nmitglieder zurückhalten musste. Ihre Empfindungen schwankten heftig zwischen dem bedrückenden Verlust Threshfields und jubelnder Glückseligkeit, Nick gefunden zu haben. Nun, wo sie Threshfields Zuhause und seine
Familie hinter sich ließ, konnte sie ihren Kummer und den Mordverdacht für eine Weile vergessen. Sie hatte gefunden, was sie niemals für möglich geha lten hätte – einen Menschen, den sie liebte und von dem sie wiedergeliebt wurde. Nick hatte mit seiner goldenen Schönheit und seinem respektlosen Humor all ihre Absichten zunichte gemacht und sie gleichzeitig auf das Wunderbarste beschenkt. Er hatte ihre alten Ängste verscheucht, so dass sie ihr mittlerweile töricht vorkamen. Die Berührung eines Mannes flößte ihr keine Furcht mehr ein; ja, sie wollte die Berührungen Nicks gern erwidern. Und sie entdeckte erstaunt, dass er sie genoss. Offensichtlich hatte ihm niemand eingeschärft, dass Damen von kleiner Gestalt, üppig gerundet und zart gebaut zu sein hatten. Er hatte ihr zugeflüstert, wie erregend er ihre langen Beine fand, und ihre Kraft. Aber Nick war so viel stärker und größer, dass sie sich neben ihm nie unbeholfen oder wie eine tölpelhafte Riesin vorkam. Das vertraute Gefühl, ein hässlicher Koloss zu sein, war in seiner Gegenwart einfach verschwunden. Sie konnte sich glücklich preisen. Einen jungen Mann gefunden zu haben, der sich nicht von ihrem hohen Rang einschüchtern ließ, in dessen Augen sie schön und begehrenswert war und dessen Charakter und gutes Aussehen sie ihrerseits bewunderte, all das war ein einziger Segen. Doch gleichzeitig erfüllte eine Unruhe sie. Denn der Antrag schien ihm große Schwie rigkeiten zu bereiten, obwohl er sich voller Verachtung über die gesellschaftlichen Konventionen stellte. Das hatte sie im Salon bemerkt. Er war tapfer, aber die Aussicht, eine Herzogstochter um ihre Hand zu bitten, würde wohl jeden Mann aus der Fassung bringen. Mehreren früheren Verehrern war es so gega ngen, wenn sie ihrem Vater glauben durfte. Es lag an ihr, ihm den Weg zu ebnen. Sie könnte einen Anfang machen, indem sie das Gespräch auf das Thema Gesellschaftsskandale lenkte. Es kam immer wieder vor, dass Mädchen aus der Aristokratie mit Männern unter ihrem Stand durchbrannten – mit mit tellosen jüngeren
Söhnen, Gardisten, Stallburschen und Lakaien. Sie würde darauf hinweisen, dass Katharina von Valois, die Witwe von Heinrich V, ihren Kammerherrn, Owen Tudor, geheiratet hatte. Und was war aus den Tudors geworden? Eine Linie, aus der die Königinnen und Könige Englands hervorgingen. Dann könnte sie sogar sagen, wie viel Glück sie hatte, nicht in der Lage von Königin Victoria zu sein, die als gekrönte Herrscherin gezwungen war, Prinz Albert den Heiratsantrag wegen des Rangunterschie des selbst zu machen. Nick wusste, dass Georgina sich nicht in dieser schwindelnden Höhe befand. Solche Beispiele würden ihm die Befangenheit nehmen und seine Bedenken aus dem Weg räumen. Mehr würde er nicht brauchen. Und falls alle Mittel versagten, würde sie sich ihm erklären. Sie könnte seine ungewohnte Schüchternheit vertreiben, indem sie vor ihm in die Knie sank und um seine Hand bat. Dann würden sie herzhaft über den Rollentausch lachen und alles wäre geklärt. Anschließend könnten sie sich ernsthaft an die Arbeit machen und die Umstände, unter denen der arme Threshfield zu Tode gekommen war, erforschen. Der Graf war ihr Freund gewesen – zwar ein verdrießlicher und reizbarer Freund, aber ein Freund. Er war bereit gewesen, ihr zu helfen, als sie Hilfe aufs Dringendste benötigte. Wenn er tatsächlich eines unnatürlichen Todes gestorben war, würde sie den Mörder nicht ungestraft davonkommen lassen. Sie kam bei der kleinen Bergschlucht an, in die der Graf die Grotte hatte bauen lassen. Ein winziger Bach mäanderte zwischen den Bäumen hindurch, sprang über eine Felskante und fiel weiter unten in den von Menschenhand geschaffenen Wasserlauf. Der Überhang war dicht mit Farnkraut bewachsen; die grünen Blattwedel hingen in Kaskaden herab und verdeckten teilweise den Eingang einer Höhle, in der eine Venus aus weißem Marmor ruhte. Unterhalb des Wasserfalls teilte sich der schmale Wasserlauf, und in der Mitte der rechten Abzweigung tanzte Bacchus auf einem Piedestal. Weitere Statuen von Göttern
der griechischen und römischen Mythologie bevölkerten die von den zwei Wasserarmen begrenzte Lichtung. Aus dichtem Waldfarn erhob sich Apoll und zwischen Efeuranken versteckt lauerte ein Cupido. Georgina band die Zügel ihres Pferdes fest und schritt die Stufen hinab, die in den Fels geschlagen waren. Auf ihrem Weg nach unten kam sie an Skulpturen von Ariadne und Merkur vorbei. Unten in der Felsmulde angekommen, hob sie den Blick und sah hinauf zu dem herbstlichen Laubdach aus Gold, Bronze und Sonnenuntergangsorange. Sie setzte sich auf eine Bank neben einer Fontäne. In der Mitte des Springbrunnens hockten drei Satyrn. Über sie hinweg zogen graue und purpurne Wolken, der Wind strich durch die Blätter und ließ sie tanzen. Eine Weile gab sich Geor gina der Betrachtung hin, dann wurde sie unruhig und begann, die Grotte zu erforschen. Sie warf gerade Kiesel ins Wasser, als sie das Rascheln von trockenem Laub hörte. Sie sah auf und suchte den oberen Rand der Schlucht ab, doch außer Bäumen war nichts zu sehen. Ein Windstoß wirbelte ein paar Blätter auf; sie segelten in den Felsgrund. Bei einem Geräusch wandte sie sich um, gerade noch rechtzeitig, um Nick die Treppe zur Grotte herunterkommen zu sehen. Seine Stiefel knirschten auf den Ste inen und mit verkrampftem Lächeln kam er näher. Georgina flog in seine Arme, stellte sich auf die Zehe nspitzen und küsste ihn, bevor er ein Wort sagen konnte. Er blieb stocksteif stehen und seine Lippen wurden hart. Aber sie ließ nicht von ihm ab und schließlich schlang er die Arme um sie und küsste sie so innig, dass sie Lust bekam, in seine Lippen zu beißen. Dann beendete er den Kuss unvermittelt. »Warte«, sagte er heiser. »Das ist unmöglich.« Georgina lächelte und drückte ihn an sich, sodass ihre Hüften einander berührten. Nicks Atem ging bereits schwer. Noch während er sie zu sich auf das Laubbett herabzog, hörte sie ihn mit den Zähnen knirschen. Auf Knien liegend, blickten sie einander in die Augen. Er zog sie heftig an sich und küsste sie. Sie vergrub die Finger in
seinem vollen Haar und presste ihn enger an sich. Wieder nahm er den Mund von ihren Lippen und dieses Mal sah er sie voller Verzweiflung an. »Ich kann das nicht«, sagte er. »Zuerst müssen wir reden, Liebes.« »Nick.« Er sprang auf und wich vor ihr zurück, die Hand nach vorn gestreckt, um sie daran zu hindern, ihm zu folgen. »O nein, das wirst du nicht tun. Du hast wieder einen deiner Tricks auf Lager. Ich höre nicht hin.« »Nicholas«, sagte sie atemlos. Er hielt sich die Ohren zu und begann zu summen. Lachend stand sie auf. »Also gut. Ich beherrsche mich. Vorerst.« Nick ließ die Hände sinken. »Was hast du gesagt?« »Ich verspreche, mich für den Augenblick zu benehmen.« »Gutes Mädchen. Und jetzt habe ich dir etwas zu sagen, Liebes. Du verstehst… du bist ein kluges Kind… eine vernünftige junge Dame. Praktisch denkend und sehr verständig.« »Es hat keinen Zweck«, sagte sie. Seufzend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Ich bin froh, dass du begreifst, wie unmöglich die Sache ist.« »Ich verlasse dieses Haus nicht eher, bis die Umstände von Threshfields Tod zu meiner Zufriedenheit geklärt sind.« Nick wollte sie unterbrechen, aber sie sprach hastig weiter. »Es hat keinen Zweck. Ich werde selbst Nachforschungen anstellen. Sonst wird es niemand tun und diesen Dienst bin ich Threshfield schuldig. Er mag ein alter Ränkeschmied gewesen sein, aber als ich in einer verzweifelten Lage war, hat er mir geholfen. Und wäre er noch am Leben, hätte er mich geheiratet, wie es mein Wunsch war. Das Ganze ist eine Frage von Ehre und Freundschaft.« Nick starrte sie unentwegt an, steile Falten zwischen den Brauen. Der Wind zerrte an seinem Mantel und sein Blick war schwarz wie die Wolkenmassen, die über den Himmel zogen. Er wirkte wie eine düster drohende Figur aus einem
Drama. »Du willst nich’ weg?« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen. In der Schlucht ohne Sonnenlicht waren sie von dunklem Indigoblau. »Bitte, Nick.« Aber er hörte nicht zu, sondern sprach leise mit sich selbst. »Ich könnte dich mit Gewalt wegbringen, aber dann wäre der Skandal komplett. Das ganze Königreich würde erfahren, dass ich mit dir durchgebrannt bin, und dein Ruf wäre ruiniert. Nein, das ist kein Ausweg.« »Um meinen Ruf sorge dich nicht. Hilf mir lieber herauszufinden, was wirklich auf Threshfield gesche hen ist. Du hast Recht, der Arzt ist ein Dummkopf. Er hat so viele Fälle von Gicht und Schwermut behandelt, dass er Gift nicht einmal erkennen würde, wenn er es selbst im Magen hätte.« »Hör zu, George. Jemand hat dem alten Tattergreis Belladonna gegeben.« »Bist du sicher?« »Klar bin ich sicher. Man lebt nicht in St. Giles, ohne Belladonna, Opium und andere Drogen kennen zu lernen. Die Hu… Ach, vergiss es.« »Aber Threshfield hat kein Belladonna genommen. Niemand im Haus nimmt Belladonna. Vermutlich hat nicht einmal die Haushälterin welches.« Er rieb sich das Kinn und betrachtete sie ernst. »Bist du fest entschlossen, das zu tun?« »Ja, und versuch nicht, mich abzuschrecken. Nach Threshfields Tod kann kein Mensch mehr Interesse daran haben, mich loszuwerden. Und wenn jemand glaubt, ich wäre von ihm schwanger, ist dennoch völlig klar, dass das Kind illegitim ist. Ich muss es tun, Nick.« »Dann müssen wir herausfinden, woher das Bella donna stammt. Gibt es hier irgendwo Tollkirschen? Sie enthalten die Droge nämlich.« »Der Wald ist vermutlich voll davon.« Georgina dachte einen Moment nach. »Weißt du, ich erinnere mich an ein Vorkommnis aus meiner Kindheit. Der Wildhüter auf einem Gut meines Vaters wurde krank, nachdem er
Kaninchenfleisch gegessen hatte. Er sagte, die Tiere würden manchmal von Tollkirschenpflanzen fressen, und dann nähme man mit ihrem Fleisch auch das Gift in sich auf.« »Und gestern Abend hat der alte Threshfield Kaninchenragout gegessen.« »Wir sollten im Wildlager nachsehen«, sagte Georgina. »Heute Abend, wenn alle zu Bett gegangen sind. Jemand könnte Belladonna in die frisch geschlachteten Kaninchen gegeben haben. Vielleicht sind noch vergiftete Tiere übrig.« »Oder das Gift wurde nachträglich unter das Ragout gemischt.« Sie schnippte mit den Fingern. »Du bist ein Dieb.« »Das hab ich nie abgestritten«, fuhr er sie an. »Nein, ich meine, du könntest unbemerkt die Räume sämtlicher Bewohner auf Threshfield durchsuchen. Um nachzusehen, ob jemand Belladonna besitzt.« »Das könnte ich wohl, wie’s aussieht.« »Und ich werde dir helfen.« »Nein, wirst du nicht.« »Ich sehe in der Küche nach, ob von dem Kaninchenragout noch Reste übrig sind. Das glaube ich allerdings nicht, weil das Personal immer die Reste isst, und dann wäre sicher jemand krank geworden.« »Du bringst deine Kammerzofe dazu, sich in der Küche umzuhören«, sagte Nick. »Wenn du selbst den Fuß in die untere Etage setzt, erregst du nur unnötig Aufsehen.« »Gut. In Ordnung. Ich kümmere mich um die Küche und durchsuche die Kaninchenställe. Sie sind in der Nähe der Stallungen. Danach können wir uns beim Wildlager treffen. Ich werde jetzt gehen und mit meiner Zofe sprechen.« Er fasste sie am Arm. »Warte. Ich habe dir noch etwas zu sagen.« Sie wartete, aber er sprach nicht weiter. Also legte sie eine Hand auf seine und begann an seiner statt. »Weißt du«, sagte sie munter. »Mir sind heute Mor gen die vielen Skandalgeschichten eingefallen, die ich gehört habe, über Mädchen, die mit Lakaien und Stallburschen durchgebrannt sind. Das geschieht ziemlich häufig. Und
weißt du, wen Katharina von Valois, die Witwe von Heinrich V. geheiratet hat? Ihren Kammer…« »Schweig still!« Ihre Augen wurden rund, als er sie fortstieß und sich erregt mit der Hand das Haar raufte. »Verdammt, Weib. Hör auf zu quasseln und lass mich zu Ende reden. Siehst du nicht, wie schwer es mir wird?« »Was ist los, Nick? Stimmt etwas nicht mit dir?« Er stand vor ihr und blickte sie finster an. »Mit uns. Mit uns stimmt etwas nicht. Wir haben einen Fehler gemacht. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dich nie anrühren dürfen.« Er sagte noch mehr, aber sie hörte nicht mehr hin. Sie verstand nur eines: Er wollte sie nicht. Er dachte überhaupt nicht daran, um ihre Hand anzuhalten. Wahrscheinlich war das auch nie seine Absicht gewesen. Sie erstarrte vor Schreck. Ihr Kopf wurde heiß, dann sackte das Blut wieder nach unten. Plötzlich fror sie und fühlte sich schwach. Nick sprach immer noch. Seine Stimme drang wie von Ferne zu ihr. Es war ein Segen, dass sie ihn nur undeutlich hörte. Denn angesichts seiner Ausflüchte wäre sie in Tränen ausgebrochen und hätte sich noch mehr gedemütigt, als er es bereits getan hatte. Der dumpfe Klang seiner Stimme umflutete sie und zum ersten Mal war sie für ihre Erziehung dankbar. Eine Herzogstochter weinte nicht in Anwesenheit anderer, und schon gar nicht vor Männern, die sie verführt hatten und dann sitzen ließen. Auch dann nicht, wenn die Herzogstochter lieber sterben würde, als dem Mann ins Gesicht zu sehen, der sie verschmähte. Sie hatte diese Demütigung schon einmal ertragen und überlebt und sie würde sie auch jetzt überleben. Sie zwang die Tränen zurück und setzte eine ausdruckslose Miene auf. Sie presste die Hände gegeneinander, damit sie nicht zitterten. Nick ging auf und ab. »Ich bin ein Betrüger und…« »Vergib mir«, sagte sie leichthin. Er würde das leichte Beben in ihrer Stimme sicherlich nicht bemerken. »Ich fürchte, ich war gerade abgelenkt, aber ich habe verstanden, was du meinst. Und ich bin dir dankbar, dass du
meine Lage begreifst.« Nick hielt mitten im Schritt inne und starrte sie an. »Geht es dir nicht gut?« »Doch, alles in Ordnung.« Georgina lächelte steif. »Ich versuche nur, dir begreiflich zu machen, dass viele Mädchen aus der Oberschicht Männer unter ihrem Stand lieben, sich auf sie einlassen und dann, sobald sie durch die Schande ruiniert sind, feststellen, dass die Zuneigung vergeht. Das will keiner von uns, oder?« Nick befeuchtete die Lippen und schüttelte den Kopf. Georgina sprach voller Ruhe weiter. »Hervorragend. Dann kehre ich zu meinem Plan zurück. Auf meiner Liste stehen noch mehr betagte Männer. Ich kümmere mich sofort darum, mit einem von ihnen handelseinig zu werden.« Dieser Schuft. Er hatte seine niederen Gelüste an ihr befriedigt und jetzt tat ihm die Affäre Leid. Zweifellos hatte er wissen wollen, ob die Tochter eines Herzogs ebenso gut im Bett war wie… die Flittchen, mit denen er es sonst trieb. Gott im Himmel, hatte er sie am Ende mit den flotten leichtlebigen Damen, die ihm nachlie fen, verglichen und für unpassend befunden? Vor Schmerz und Scham wurde ihr schwindlig. Sie nahm eine möglichst majestätische, aufrechte Haltung an. Dann nickte sie hoheitsvoll wie die Königin bei der Parade ihrer Berittenen Leibgarde. »Es freut mich, dass wir uns verstehen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und schritt zur Steintreppe. »Hölle und Teufel, verdammt. Das tun wir nicht!« Er eilte ihr nach und packte sie am Arm. »Du hast nicht verstanden, was ich gesagt habe.« »Das habe ich sehr wohl und es ist auch völlig be deutungslos.« Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. »Hör mir jetzt zu, George.« Beim Klang des vertrauten Namens war es beinahe um ihre Fassung geschehen. Sie biss sich von innen in die Wangen, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie starrte kalt auf die Hand, die ihrem Arm umfing, und hörte auf, ihn abzuwehren. Fluchend ließ er sie los. Sie musste fort von
hier, bevor sie den letzten Rest an Stolz und Würde verlor. »Ich halte es für das Beste, wenn du Threshfield verlässt«, sagte sie. Ihre Stimme brach fast, aber sie brachte ein Lächeln zustande und zuckte mit den Schultern. »Trotzdem darfst du stolz auf dich sein. Gestern Nacht hast du mir gezeigt, warum verheiratete Frauen sich einen Liebhaber nehmen. Von dieser Annehmlichkeit werde ich mit Sicherheit Gebrauch machen, sobald ich mein eheliches Gelübde abgelegt habe.« Seine Augen wurden groß und leuchteten wie tiefblaue Saphire. Allein sein Anblick versetzte ihr einen schmerzhaften Stich. Er schüttelte wortlos den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. Schweigend starrten sie einander an. Georgina wusste nicht, ob sie dafür, dass er auf seine Wortgewandtheit verzichtete, dankbar sein sollte oder nicht. Straff aufgerichtet und mit vorgestrecktem Kinn, hob sie ihren Rock und schritt die Treppe hinauf. Sie war beinahe oben angelangt, als sie ihn fluchen hörte. »Du bist eine kaltherzige Schlampe, Georgina Marshal.« Sie wirbelte herum und sah ihn an, glühend vor Zorn. »Lieber eine Schlampe als ein verlogener dreckiger Verführer, ein elender Feigling, ein hinterhältiger und intriganter Schuft. Du wirst deiner Herkunft in jeder Hinsicht gerecht, Nicholas Ross. St. Giles hat sich dir bis in die Tiefen deiner Seele eingebrannt.« Er stieß eine Verwünschung aus, dann sprang er zur Treppe. Sie sah seinen finsteren Blick und stürzte zum Pferd. Als er die oberste Stufe erreichte, saß sie im Sattel, trieb der Stute die Ferse in die Flanke und lenkte das Tier fort aus seiner Reichweite. Erst als das Pferd im Galopp ging, wagte sie es, sich umzudrehen. Über die Schulter sah sie Nick auf einem weißen Hengst. Den mächtigen Oberkörper über den Pferdehals ge beugt, ritt er hinter ihr her und holte rasch auf. Georgina tauchte durch die erste Baumreihe in den Wald. Sie duckte sich und schlug mit den Zügeln auf die Flanken der Stute ein. Sie schoss zwischen Bäumen hindurch, ritt riskante Wenden und schaffte es, an der Spitze zu bleiben, bis sie wieder aus dem Wald hervor bra-
chen. Sie gab der Stute die Sporen und galoppierte auf die Stallungen zu, mit Nick dicht auf den Fersen. Dann erreichte sie den Kiesweg. Unter den Hufen flogen kleine Steinchen hoch, als sie das Pferd zügelte. Eine Stalltür wurde geöffnet. Georgina riss die Stute herum und hielt an, sprang aus dem Sattel und reichte dem Knecht, der herausgekommen war, atemlos die Zügel. Entsetzt sah sie, wie sich der Hengst in vollem La uf den Stallungen näherte. Das Tier galoppierte immer noch, als Nick ein Bein über den Sattel schwang und absprang. Das Pferd rannte weiter, während Nick mit Georgina zusammenprallte. Sie schrie auf, raffte ihren Rock und begann zu rennen. Hände packten sie an Taille und Schulter. Sie verlor den Boden unter den Füßen; er hob sie rückwärts gegen seinen Oberkörper. »Lass mich los, du widerwärtiger Bastard!« Georgina wand sich unter seinem Griff und versuchte, ihn zu treten. Er wich ihren Füßen geschickt aus und hob sie dann in seine Arme. Sie wehrte sich und versuchte, mit der Faust sein Kinn zu treffen. Nick schritt mit der schimpfenden und Schläge austeilenden Georgina zum hinteren Teil des Rasens, vorbei an dem verblüfften Stallburschen. Dort, neben dem italienischen Brunnen, aus dem inmitten silbriger Wasserfontänen das Einhorn aufragte, setzte er sich auf eine Bank und zog sie auf seinen Schoß. »Dir hätte längst jemand eine ordentliche Tracht Prügel verabreichen müssen.« Vor Zorn rot im Gesicht, spürte Georgina, wie seine Hand an ihren Beinen hochglitt und den Rock bis zu den Hüften schob. Sie kreischte, fasste sich aber und wich seitlich aus, rutschte von seinem Schoß, fiel und landete mit dem Hinterteil im Gras, die Beine bis zu den Sche nkeln entblößt. Innerlich fluchend, starrte sie zu ihm hinauf. Er sah sogar noch gut aus, wenn er die Jacke ausgezogen hatte und sein schweißnasses Hemd am Körper klebte. Lachend lehnte er sich zurück und ließ den Blick über ihre kaum bedeckten Beine und Oberschenkel wandern. »Hölle und Teufel, verdammt. Du bist wirklich ein süßes Früchtchen. Und so heiß auf mich.«
»Ohh!« Sie riss den Rock nach unten, sprang auf die Füße und rannte los. »Lauf nicht weg, geliebte Georgina«, rief er. »Kehr um und dann wälzen wir uns noch mal ‘ne Runde. Ich treib’s sogar im Badetempel mit dir, wenn du willst!« Tränenblind tappte Georgina die Terrassenstufen hinauf. Sie riss eine Tür auf und hastete ins Innere, verfolgt von seinem höhnischen Gelächter. Noch während sie nach oben rannte, wusste sie, dass sie sich an diese klangvolle Erniedrigung den Rest ihres Lebens erinnern würde.
16 Nick beobachtete, wie Georgina im Haus verschwand; dann kehrte er zu den Stallungen zurück. Ein Reitknecht hatte Pounder den Sattel abgenommen und führte den Hengst zum Abkühlen im Hof umher. Nick nahm dem Mann die Zügel ab und entließ ihn. Seine Hände zitterten vor wildem, aus Schmerz entstandenem Zorn. Er fühlte sich schmutzig, als würde der Dreck von St. Giles durch seine Poren nach außen dringen und für alle die Gosse sichtbar machen, aus der er stammte, besonders für Georgina. »Eingebildete aristokratische Schlampe«, sagte er zu Pounder. »Am Schluss hat sie doch ihr wahres Gesicht gezeigt, alter Junge. Ihr Vergnügen will sie mit mir haben, aber sonst rührt sie mich nicht mal mit spitzen Fingern an.« Er führte das Pferd den Reitweg entlang und murmelte vor sich hin. »Ich sollte sie hier auf dem Trocknen sitzen lassen. Ja, genau das sollte ich tun. Soll sie doch einen dieser alten Knacker heiraten. Geschieht ihr ganz recht.« Es war ihr gleich, dass er sie liebte, dass er ihr sein Herz zu Füßen gelegt hatte, dass er bereit gewesen war, diese Liebe für ihr Wohlbefinden zu opfern. Sie hatte ihm kaum zugehört. Stattdessen trampelte sie auf seinem Verzicht herum. Trotz der edlen Worte dachte Georgina Marshal in ihrem Herzen nicht anders über ihn als Evelyn und
Prudence. Das kleine Flittchen wollte ihn nicht. Und er würde ihr niemals verzeihen, dass sie sein tiefstes und schmerzlichstes Geheimnis kannte – dass er für immer und ewig von St. Giles beschmutzt war und niemals gut genug für eine anständige Frau sein würde. Eine Dame von wahrem Adel hätte ihm seine Missetaten verziehen, oder? Aber konnte ein vornehm erzogenes Mädchen vergeben, was er getan hatte – das Stehlen, das Töten? Noch heute, nach all den Jahren, die vergangen waren, seit er die Slums verlassen hatte, konnte er mitleidlos einen Menschen töten, schnell, zuverlässig und ohne Zögern. Er hatte so gehandelt, als er Tessies Mörder fand, und wenn er und Jocelin einen dieser perversen Kinderschänder in die Finger bekamen. Vielleicht hatte Georgina seinen Mangel an Reue gespürt, ohne es zu wissen. Nick brachte Pounder zu den Stallungen zurück, band ihn fest und begann, das Fell mit einem Schwamm abzuwaschen. Er konnte Georginas Blick nicht vergessen, nachdem er sich gezwungen hatte, auf sie zu verzichten. Ihre Nasenflügel hatten gebebt, als würde sie die Ekel errege nden Wucherungen in ihm riechen; sie hatte ausgesehen, als müsste sie sich im nächsten Moment übergeben. Bei der Erinnerung zuckte er innerlich zusammen und hasste sich noch mehr. Sie hatte ihm das Gefühl vermittelt, nur ein Haufen dampfender Pferdeäpfel auf einem silbernen Tablett zu sein. Er legte die Wange an die Schulter des Tieres und murmelte: »Zur Hölle mit ihr, Pounder. Lass sie doch heiraten, wen sie will. Wir verschwinden von hier und kehren nach Texas zurück.« Und treten dort Jocelin gegenüber? Das kleine Flittchen schwebte noch immer in Gefahr, wegen Lady Augusta; und der arme Jos würde es ihm nie verzeihen, wenn sie ums Leben kam. Was also würde er jetzt tun? Er nahm eine Bürste, striegelte Pounders Rücken und machte Kreisbewegungen am Widerrist. Er wollte Georgina das gleic he Leid fühlen lassen, das sie ihm angetan hatte. Das konnte er nicht, wenn er Threshfield
verließ. Schmerz war ein hervorragender Nährboden für Rachsucht. Er würde bleiben und sie für das bezahlen lassen, was sie gesagt hatte: Dass er ihr gezeigt hätte, warum verheiratete Frauen sich einen Liebhaber nehmen, und dass sie mit Sicherheit Gebrauch von die ser Annehmlichkeit machen würde. Er würde sie verfolgen. Ganz gleich, welchen armen geschrumpften Narren sie als Nächstes zu ihrem Verlobten erkor, er würde sie finden und den Bräutigam vergraulen. Das Gleiche würde er beim nächsten Kandidaten machen, und so weiter, bis sie begriff, dass ihre einzige Rettung eine passende Partie war. Natürlich kümmerte ihn nicht, wer sie bekam, solange der Bewerber jung und kräftig war. Womöglich könnte er sogar die Ehe mit einem dieser selbstsüchtigen Kerle arrangieren, die sie so sehr verabscheute. Es gab immerhin genug von der Sorte, nur einen Titel musste er haben. Das Ziel war, sie von der Hochzeit mit irgendeinem alten Knacker abzuhalten, bis Jocelin gesund genug war, um sich selbst um die Angelegenheit zu kümmern. Der Stallknecht erschien wieder und Nick gab ihm die Bürste. Der Gedanke kam ihm, dass Threshfields Mörder noch immer frei herumlief und er ihn allein fin den musste. Als Erstes würde er während der Dinnerzeit die Räume der gräflichen Familie nach Belladonna durchsuchen. Er hatte ohnehin keinen Hunger. In seinem Zimmer angekommen bestellte er ein Bad und blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit im dampfend heißen Wasser liegen. Bevor er in sein dunkles Diebesgewand schlüpfte, sandte er eine Nachricht an Prudence, dass er indisponiert sei und nicht zum Dinner erscheinen würde. Als die gesamte Dienerschaft in Bewegung war, um das. beeindruckende Ritual eines standesgemäßen Abendessens zu inszenieren, glitt er aus dem Zimmer. Der größte Teil des Hauses lag im Dunklen, bis auf den schwachen Kerzenschein einiger Wandleuchter. Gaslicht hatte der Graf noch nicht installieren lassen. Nick schlich durch das Haus in den von Evelyn, Prudence und Ludwig bewohnten Flügel. Er entschied, zuerst Evelyns Zimmer zu durchsuchen,
denn nach seiner Einschätzung würde Evelyn sogar seine eigene Mutter umbringen, um Lord von Threshfield zu werden. Wie erwartet war die Tür zu Evelyns Räumen unverschlossen. Er drehte am Knauf und stahl sich in eine Art Vorzimmer. Der Raum diente als Salon; die Einrichtung bestand aus einem schweren, mit Schnitzereien verzierten Tisch und unbequem aussehenden Lehnsesseln. Leise durchsuchte er eine Schublade, als er im angrenzenden Schlafzimmer Schritte hörte. Er schloss die Lade, huschte lautlos zur Tür und öffnete sie. Im Licht einer einzelnen, am Boden stehenden Kerze erkannte er Georgina. Sie hockte auf Händen und Knien, das Hinterteil in die Luft gereckt, und suchte unter einem Bett. Nick trat ins Zimmer und schlich sich hinter sie. Die Hände vor der Brust verschränkt sagte er leise: »Dort würde er es nicht aufbewahren.« Georgina schrie auf und erhob sich; dabei stieß sie sich den Kopf an der Bettkante. »Hinterhältiger Schnüffler!«, schimpfte sie und warf ihm einen wütenden Blick zu. »Du mäßigst deinen Ton oder ich komme doch mit der Peitsche.« Aufrecht stellte sie sich vor ihn. »Wenn du das tust, schreie ich.« »Gut, tu das. Dann lä uft der ganze Haushalt zusammen und du darfst erklären, was du in Hydes Schlafzimmer suchst – bis dahin bin ich längst weg.« »Du niederträchtiger, gemeiner…« »Halt’s Maul, George. Hör auf mit der alten Leier.« Er drehte ihr den Rücken zu und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Dann ging er zum Kamin und drückte auf verschiedene Vorsprünge am Sims. »Warum betastest du den Marmor?«, fragte sie. »Weil es in diesen alten Häusern überall Verstecke gibt. Aber da du gerade vom Betasten sprichst. Wie wär’s mit einer Runde auf dem Bett, wenn du schon hier eingedrungen bist?« »Du bist einfach widerwärtig.« Er genoss es, sie purpurrot anlaufen und zischen zu
sehen, als wäre sie eine Lokomotive. Mit jähem Hüf tschwung stürzte sie davon und begann, einen Schrank zu durchwühlen. Als er mit der Untersuchung des Kamins fertig war, kam er nach. Er schob sie beiseite und strich mit der Hand über die Innenseiten, auf der Suche nach Geheimfächern. Nach einer weiteren abfälligen Bemerkung über seine Verworfenheit öffnete Georgina die Truhe am Fußende des Bettes. »Wenigstens stimmen wir in unserem Verdacht überein, wer den armen alten Threshfield ermordet haben könnte.« »Verzeihung?«, lautete die eisige Antwort. »Du hast dir als Erstes die Suite von Evelyn Hyde vorgenommen, diesem verfluchten Mistkerl. Also musst du ihn für den Hauptverdächtigen halten.« »Es wird dich wundern, aber du irrst«, sagte sie und nahm ein Laken aus der Truhe. »Ich habe mir einfach ein Zimmer ausgesucht. Schließlich kann jeder sehen, dass die arme Augusta vollkommen dem Wahnsinn verfallen ist. Ich bin sicher, sie hat Threshfield für einen Spion gehalten und ihn vergiftet. Dann ist sie zur Besinnung gekommen, hat ihren Fehler erkannt und sofort mich beschuldigt. Du hast gesagt, sie hätte behauptet, ich wäre die Mörderin von Threshfield.« »Warum sollte es ihr gelingen, ihren Bruder zu töten? Sie hat es nicht einmal geschafft, dich umzubringen.« Georgina stand über die Truhe gebeugt und holte Kopfkissenbezüge heraus. »Es könnte auch Prudence gewesen sein. Womöglich sah sie ihre Pläne bedroht, Gräfin oder irgendwann gar Herzogin zu werden.« »Du willst nur nicht glauben, dass dein allerliebster Evelyn seinen eigenen Onkel vergiftet haben könnte.« Sie reckte sich, wippte auf den Absätzen und sah ihn leicht belustigt an. »Nicholas Ross, Evelyn würde seine Hände nicht mit einem Mord beschmutzen. Wenn die beiden etwas mit der Sache zu tun haben, dann ist Prudence die treibende Kraft und die Täterin.« »Und dein Freund Ludwig kommt auch nicht infrage.« Sie sandte ihm einen angewiderten Blick und widmete sich wieder dem Inhalt der Truhe. »Sei nicht albern.
Ludwig interessiert sich nur für die ägyptische Sammlung.« »Und für dich.« Die Antwort kam aus den dunklen Tiefen der Holztruhe. »Diese anstöß ige Anspielung habe ich erwartet.« »Das war nicht anstößig, nur treffend, Kaiserliche Hoheit.« Nick sah sich um, verschiedene Möglichkeiten eines Verstecks ausschließend; dann fing er an, den Teppich aufzurollen. Er trat auf die Dielen und prüfte jede mit dem Fuß, sobald er ein hohles Quietschen hörte. Geor gina blickte von der Truhe auf und beobachtete ihn, wie er am Boden kniete und auf die Bretter klopfte. Er zog ein Messer aus dem Gürtel, schob die Schneide in den Spalt zwischen zwei Dielen und hob eine davon an. Ein quadratisches Stück Holz löste sich. Georgina schloss die Truhe, ging zu ihm hinüber und stellte sich neben ihn. Er schob die Hand in den Hohlraum und förderte eine Dose zutage; er öffnete sie und sah hinein, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Ohne Georgina zu beachten, ging er mit der Dose zum Nachttisch, auf den sie die Kerze gestellt hatte, öffnete die Dose ein zweites Mal und sah hinein. »Donnerwetter!« Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Lass mich sehen«, sagte Georgina. Er klappte den Deckel wieder zu. »Nichts Besonderes.« »Ich will es sehen.« Gebieterisch hob sie die Hand, eine Geste, die ihn reizte, ihr den Hintern zu versohlen. »Du willst bestimmt nicht sehen, was hier drin ist«, widersprach er. »Ich warte einfach, bis du fort bist, wenn du mir die Dose jetzt nicht zeigst.« Verdammte Prinzessinnenallüren. »Also gut, Königliche Hoheit. Du darfst einen Blick riskieren.« Er hielt ihr die Dose hin. Georgina öffnete das Blechgefäß und hielt es dicht an die Kerze. Darin lag ein Folioband. Sie klappte ihn auf und sah die Abbildung einer nackten Frau, die mit gespreizten Beinen auf dem Rücken lag und ihre intimsten Körperteile
zur Schau stellte. Kreischend schlug sie das Buch wieder zu. Ihr Griff lockerte sich; beinahe hätte sie die Dose fallen lassen. Nick fing sie auf und schloss den Deckel. »Kein Belladonna«, sagte er munter. »Hast du dir alles gründlich angesehen?« Sie wandte sich ab, bis sie ihm den Rücken zudrehte. Mit einem anzüglichen Grinsen setzte er die Durchsuchung des Zimmers fort. Er war beinahe fertig, als sie ihm wieder das Gesicht zuwandte. »Männer sind ekelhaft!« »Was weißt du denn davon, Majestät?« Nick überprüfte den Freiraum zwischen Vorhängen und Fensterrahmen. »Ich kenne Evelyn, und… und meinen Onkel«, sagte sie. Ihre Lippen kräuselten sich. »Und ich kenne dich.« Er ließ den Vorhang sinken und ging zu ihr hinüber. »Vor gar nicht langer Zeit hast du mich weniger ekelhaft gefunden. Wenn ich genau nachdenke, warst du sogar ziemlich heiß auf mich, hast gebettelt, gekeucht und gestöhnt und deine Hüften emporgehoben.« Georgina hielt sich die Ohren zu. »Schweig, schweig. Ich will nichts hören, du elender Schuft.« »Soll ich’s beweisen?« Er trat einen Schritt nach vorn und kam ihr so nah, dass sein Oberkörper ihre Brust berührte. Schreiend sprang sie rückwärts. »Bleib mir vom Leib!« Er machte noch einen Schritt und wieder sprang sie vor ihm weg. Belustigt setzte er das Spiel fort. Als sie einen weiteren Schritt nach hinten tat, ohne sich umzusehen, stieß sie mit der Truhe am Fußende des Bettes zusammen, verlor das Gleichgewicht und plumpste mit dem Hinterteil hart auf das Holz. Die Fäuste in die Hüften gestemmt, stellte er sich breitbeinig vor sie und lachte. »Du bist ganz durcheinander, weil du weißt, es is’ die Wahrheit. Du willst sie bloß nicht hören.« Er betrachtete sie genüsslich und plötzlich schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. »Weißt du was, Majestät?« »Lass mich gehen.« Sie versuc hte, seitlich zu entkommen, aber er versperrte
ihr den Weg. »Weißt du was?«, wiederholte er. »Wenn ich es nur will, wirst du wieder nach mir gieren. Gleich jetzt und hier auf der Truhe.« Sie richtete sich auf und hob die Nasenspitze. »Wie ich schon sagte, ich finde dich ekelhaft.« Nick beugte sich über sie. Er sprach deutlich, aber leise: »Ich will dir was sagen. Deine Ruhe kannst du haben. Ja, ich verschwinde von hier und geh zurück nach Texas. Dann kannst du heiraten, wen du willst, egal wie verkalkt der alte Knacker ist. Wenn…« »Wenn was?« »Wenn du mir noch einen Ritt gewährst.« »Noch einen Ritt?« Ihre Stimme klang gedehnt und ungläubig. »Du willst mit mir ausreiten?« Er brachte seine Lippen dicht an ihr Ohr. »Nein, Lie bes. Ich will dich reiten. Denk an die Abbildung.« Ihr Aufschrei zerriss ihm fast das Trommelfell. Er hielt den Atem an und bedeckte sich die Ohren. Sie stieß ihn zur Seite und rannte aus dem Zimmer. Er setzte ihr nach und holte sie an der Tür zum Salon ein. Einen Arm gegen das Holz gestemmt hielt er die Tür geschlossen, während sie am Knauf drehte. Ihre Brust hob und senkte sich und ihm gefiel der Anblick, wie ihre Blicke unruhig nach rechts und links gingen wie bei einem gefangenen Tier. Er wusste, dass sie mit aller Macht versuchte, einen letzten Rest an Haltung zu bewahren. Seine stolze gebieterische Georgina stand vor Empörung hell in Flammen. Es gab keine Zurückhaltung mehr; sie war nur noch pure, unverfälschte und hinreißende Leidenschaft. »Für dich gibt es kein Wort«, schmähte sie. »Du bist ein widerwärtiges Ungeheuer.« »Dann ist der Ritt abgeblasen?« »Ohh!« »Du hast deine Kerze vergessen«, sagte er und grinste bösartig. Er beobachtete, wie sie ins Schlafzimmer stolperte und mit dem Kerzenhalt er wiederkam. »Dann hat sich wohl nicht viel geändert, was?« Sie knirschte mit den Zähnen. »Geh mir aus dem Weg.«
»Tja, ich werde wohl bleiben müssen, um den Mör der zu finden und dich vor Lady Augusta und vor dir selbst zu beschützen. Woll’n wir wetten, wer von uns den richtigen Verdacht hat? Ich sage, es ist der verdammte Evelyn Hyde. Oder Ludwig.« Georgina hatte ihn böse angeblickt, doch jetzt war ihr Zorn wie weggeblasen. Sie war wieder ganz die kühle, überlegene Herzogstochter. »Ja, diese Wette gehe ich ein.« »Ach, du gehst sie ein?« »In der Tat. Wer den wahren Mörder nennt, gewinnt vom Verlierer ein Pfand. Ich setze auf Lady Augusta oder Prudence. Du bist ein Narr, wenn du glaubst, dass eine Frau die Tat nicht begangen haben könnte. Gewinne ich, musst du nach Texas zurückkehren und verlierst jedes Recht, dich mir wieder zu nähern.« Schmunzelnd verschränkte er die Arme und lehnte sich gegen die Tür. »Das nenn ich Hochmut, Gnädigs te. Königliche Hoheit sind sich wohl sehr sicher, wie?« »Unsinn. Wie du schon sagtest, bin ich eine vernünf tige und praktisch denkende junge Frau, Nicholas Ross. Gilt die Wette?« »Moment, Königliche Hoheit. Dein Einsatz fehlt noch.« Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern und beleidigend lange auf den Brüsten ruhen. »Wenn ich gewinne, heiratest du einen passenden Mann…« »In Ordnung.« »Und als Entschädigung für meine Mühe teilst du bis zur Verlobung das Bett mit mir.« »Keineswegs. Der Einsatz ist genannt. Und ich werde nicht einmal in die Nähe deines Bettes kommen.« »Nein? Auch gut. Dann begnüg ich mich damit, dir das Leben so sauer wie möglich zu machen, bis du Vernunft annimmst. Jetzt komm, Königliche Hoheit. Lass uns die Zimmer von Prudence durchsuchen und dabei beschreib ich dir die anderen Abbildungen aus Evelyns Büchlein. Auf einem Bild konnte man eine Dame sehen, die auf Händen und Knien hockte, und dieser Kerl mit seinem riesigen, wirklich riesigen… ähem… Glied, kniete hinter ihr und
war dabei…« Sie hielt sich die Ohren zu. »Sei still, du Vieh.« »Hör zu, das Beste kommt noch.« Er zog an ihren Händen. »Wenn du auf Händen und Knien hockst, kann der Kerl von hinten kommen und sein Ding in dich reinschieben. Soll ich’s dir zeigen?« »Einverstanden!« Georgina streckte die Hände aus, wie in Abwehr eines neuen Angriffs. »Hölle und Teufel, das ist deftig. Sieh mal an, du verblüffst mich. Komm auf den Boden, damit ich dir die Röcke über den Kopf schiebe.« Georgina verschluckte sich fast und hielt sich wieder die Ohren zu. »Nein, nein, nein. Du perverser Widerling! Ich habe nur die Wette gemeint. Damit bin ich einverstanden.« »Ach, und das weißt du ganz sicher?« »Ja, und nochmals ja. Und jetzt schweig!« »Zu dumm. Ich kenne so manche Dame, die es auf diese Weise besonders gern tat. Natürlich hab ich dafür gesorgt, dass sie währenddessen heiß und bereit blieb. Das ist die Kunst.« »Es gibt keinen Grund, weiter vulgär zu sein, Nicholas Ross. Ich habe deiner Wette zugestimmt.« Nick öffnete die Tür und verneigte sich. »Tut mir Leid, Majestät. Das sind die Nachwirkunge n von St. Giles in mir, wie du zu Recht behauptest. Hab den Dreck zu lange aufgestaut und jetzt muss er raus. Man weiß nie, wann’s so weit ist. Entweder hältst du es aus oder du machst dich allein auf die Suche.« »Und dann findest du den Mörder vor mir? Ich bin keine Närrin.« Draußen im Gang, auf dem Weg zu den Räumen von Prudence, sah er sich über die Schulter nach ihr um. »Wie du meinst. Aber wir haben gewettet und mich betrügt man nicht. Wenn ich gewinne, verlang ich meinen Lohn; und du zahlst.«
17 Georgina hatte sich noch nie so elend gefühlt. Dieser Abend war völlig anders verlaufen als geplant. Nick Ross hatte durch sein Auftauchen in Evelyns Suite alles verdorben. Wie ein Fluch war er über sie gekommen und hatte sie eingeschüchtert, bis sie ihre Zustimmung zu dieser sündigen widerwärtigen Wette gab. Wie hatte sie nur einwilligen können? Ohne seine verdorbenen lüsternen Anspielungen, mit denen er ihr den Verstand vernebelte, wäre es nie so weit gekommen. Lieber Gott, die Dinge, von denen er sprach, kannte sie nicht einmal in ihrer Vorste llung! Und er wusste das. Er hatte sie absichtlich in Verle genheit gebracht, damit sie sich auf diese furchtbare Wette einließ. Nun musste sie beweisen, dass ihr Verdacht in Bezug auf den Mord richtig war, sonst würde sie noch schlimmere Demütigungen erdulden müssen. Sie hatten die Wohnräume der Familie bereits durchsucht und nichts gefunden. Zumindest keinen Hinweis auf den Mörder oder die Mörderin. In Augustas Zimmern fanden sich Dutzende hochtaillierter Kleider, ebenso viele Taschenbeutel, und natürlich die Muskete. In Prudences Gemächem hatte Nick einen geheimen Wandtresor entdeckt, in dem die Lady ihre Juwelen aufbewahrte. Nick hatte, den Schmuck in der Hand, gezögert, bis Georgina entschieden die Kassette zuklappte und den Wandsafe schloss. Die Durchsuchung von Ludwigs Räumen hatte bis auf das Modell eines ägyptischen Begräbnisbootes keine finsteren Entdeckungen erbracht. Es erfüllte sie mit Genugtuung, dass Nick beim Anblick der le bensgroßen schwarzen Granitstatue von Ramses II. erschrocken zusammenfuhr. Er war von hinten an die Statue gestoßen und als er sich umdrehte, sah er dem Pharao direkt ins Gesicht; er hielt ihn für einen wirklichen Angreifer und duckte sich. Es war schon spät, als sie sich die Wohnräume der Dienerschaft vornahmen. Während dieser Durchsuchung
stellte Georgina erneut fest, dass vor Nick kein verschlossener Raum sicher war. Sie hatten bereits den Arbeitsraum des Butlers untersucht, die Räume, in denen Besteck, Geschirr und Lampen aufbewahrt wur den, den Weinkeller sowie die Vorratskammer. Mit die sen Räumen hielten sie sich jedoch nicht lange auf; keiner von ihnen hielt den Mörder oder die Mörderin für so dumm, Tollkirschen an einem für die Dienerschaft leicht zugänglichen Ort aufzubewahren. Nun waren sie in der Küche. Georgina hatte die Abfalleimer entdeckt und zeigte darauf. Nick kam herüber, um einen Blick hineinzuwerfen. Mit der Kerze in der Hand beleuchtete er den Inhalt. Er verneigte sich und schwenkte den Arm. »Myla dy.« Stirnrunzelnd trat Georgina näher und blickte in die übel riechende erste Tonne. Sie rümpfte die Nase, fasste mit spitzen Fingern hinein und zog eine Steingutscherbe heraus, an der noch Nahrungsreste klebten. »Das ist der richtige Abfalleimer, der für Essensreste«, sagte sie. »Du darfst weitermachen.« »Nein, mach ich nicht, verdammt. Essen ist Frauensache.« »Du bist ein verdorbenes Subjekt…« »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit, Euer Gnaden.« Er half ihr nicht einmal, sondern stand nur grinsend neben ihr. Sie wünschte, sie wäre ein Mann, dann hätte sie ihm das überhebliche Hohnlächeln aus dem Gesicht geohrfeigt. Stattdessen stocherte sie mit der Steingutscherbe in der verdorbenen Nahrung herum. Die minutenlange Arbeit im Übelkeit erregenden Gestank verlief ergebnislos. Georgina ließ die Scherbe in die Tonne fallen und wischte sich die Hände ab. »Wenn noch Ragout übrig war, ist es weg.« »So, so. Und was ist das?« Nick tippte an den Eimer daneben und der Geruch von verdorbenem Kaninchenragout stieg ihr in die Nase. Sie glaubte, der Kopf würde ihr vor Zorn zerspringen. »Du hast es die ganze Zeit gewusst und trotzdem hast du mich in dem verfaulten Zeug wühlen lassen!«
»Aber George, traust du mir etwa nicht?« »Ach, schweig lieber und hilf mir, eine Schüssel zu finden.« Grinsend holte er ein Gefäß hinter seinem Rücken hervor. »Das müsste taugen, Königliche Hausfrau.« Georgina entriss ihm die Schüssel, zog sie durch das klumpige Ragout, wandte sich um und ging in die Spülküche. Nick glitt an ihr vorbei, öffnete eine Tür und sie traten in die Nacht hinaus. Es ging schon auf den frühen Morgen zu. Eine eisige Kühle erfüllte die Luft und sie bedauerte sofort, keinen Umhang mitgenommen zu haben. Sie überlegte, ob sie umkehren sollte. Nein, Nick würde bestimmt nicht auf sie warten. Ihr nächstes Ziel war die Durchsuchung des Wildlagers. Sie würde wohl frieren müssen. Georgina ging voran, über den Küchenhof, vorbei an den Stallungen, schließlich einen kleinen Kiesweg hinunter bis zu einer Baumgruppe. In der Mitte stand das Wildlager, ein kleines, mit weißen Steinen verblendetes Gebäude. Es bestand zum großen Teil aus Luftschlitzen und vergitterten Fensteröffnungen. Nick machte mit dem Schloss kurzen Prozess. Er führte ein dünnes Werkzeug in das Schlüsselloch ein, drehte es einmal um und der Mechanismus schnappte auf. Der Boden war mit Schiefer bedeckt. Es gab zwei Räume. An der Decke des ersten Raumes befand sich ein Gestell mit Speichen, wie bei einem Wagenrad, von dem kleinere Tiere herabhingen. Schaudernd streckte Georgina den Arm hoch und drehte an dem Rad. »Da«, sagte sie und deutete auf einen Tierkadaver, der zwischen Enten hing. Nick grunzte und ging an ihr vorbei in den hinteren Raum. Hier hingen die großen Tiere an Haken hauptsächlich Schalenwild. Er sah auf den Marmorplatten in den Wandnischen nach, die als Kühllager dienten, und kehrte mit einem weiteren Kaninchen zurück. »Teufel verflucht«, sagte er und blickte sich in dem üppig mit frisch erlegtem Wild bestückten Vorratshaus um. »Wenn ich daran denke, wie viele Gören in London
hungrig zu Bett gehen müssen.« Georgina reckte die Hand nach dem Kaninchen, reichte aber nicht bis hin. »Genau. Deshalb wollen Tante Livy und ich auch einen Landsitz wie diesen kaufen. Mit einem riesigen Park und einem Wald, damit die Kinder verschiedene Berufe lernen können Wildhüter, Butler, Koch. « Sie sprang hoch, verfehlte ihr Ziel jedoch. Schnaubend nahm Nick das Kaninchen vom Haken. »Genau. Und versteht Unsere Majestät, Fräulein Hochwohlgeboren, was von solchen Sachen?« »Du scheinst den letzten Rest deiner gestelzten Bildungssprache vergessen zu haben, und den Revolverheldenakzent ebenfalls. Es tut mir Leid, deine Vorurteile enttäuschen zu müssen, aber ich verstehe eine ganze Menge von solchen Dingen. Wie, glaubst du, sollte eine Dame ohne genaue Kenntnis aller hauswirtschaftlichen Abläufe einem großen Anwesen wie diesem vorste hen?« Sie nickte Richtung Küche. »Weißt du, wie man eine Vorratskammer bestückt? Man lagert mehrmals jähr lich Lebensmittel ein, die man kauft, wenn sie zum günstigsten Preis angeboten werden. Reis bleibt länger als drei Jahre haltbar, wenn man ihn richtig lagert. Glä ser mit eingelegtem Gemüse und Einmachobst sollten immer mit dem Deckel nach unten aufbewahrt werden. Tee, Zucker und Gewürze müssen in verschlossenen Schränken stehen. Kaffee wird getrennt aufbewahrt, damit das Aroma nicht auf den Tee übergeht. Möchtest du auch noch wissen, welche Bürsten und Seifensorten man für die Wäscherinnen vorrätig haben sollte?« Nick ließ das Kaninchen von seinen Fingern baumeln. »Das beweist nur, dass du dich in nichts von den anderen verwöhnten Damen unterscheidest: Du verstehst es gut, fremde Leute für dich schuften zu lassen, Hochwohlgeborene Faulenzerin.« Er hielt ihr das tote Kaninchen unter die Nase. »Ich muss das Fleisch meinem Freund und Arzt in der Harley Street schicken. Nimm die Ragoutschüssel und komm mit, Hausfrau.« Vor Wut kochend, hob sie die Schüssel auf und folg te ihm. Als sie die Tür zum Wildhaus verschloss, klapperten
ihre Zähne vor Kälte. Dann stolperte sie hinter Nick her. Schnell waren sie wieder im Hauptgebäude und stiegen die gewundene Treppe hinauf. Als ihr bewusst wurde, dass sie auf Nicks Zimmer zusteuerten, beschlich sie ein Unbehagen. Sie blieb auf der Tür schwelle stehen, und Nick verschwand im Zimmer. Er kehrte mit leeren Händen und jenem wissenden, bösartigen Lächeln zurück, das sie mittlerweile gut kannte. »Angst? Du traust dir in meinem Schlafzimmer wohl selbst nicht, wie?« »Hier.« Sie hielt ihm die Schüssel hin und wandte sich zum Gehen. Er nahm die Schüssel. Im selben Moment schnellte sein anderer Arm vor, umschlang ihre Taille und schleppte sie ins Zimmer. Dann schloss er die Tür. »Nicholas Ross, du nimmst dir Frechheiten heraus.« Schmunzelnd stellte er die Schüssel ab, bevor er neben sie sprang, weil sie die Tür aufmachte. Er glitt an ihr vorbei und baute sich vor ihr auf, mit dem Rücken zum Eingang. »Zur Seite, Nicholas Ross.« Ohne ihr zu antworten, schlüpfte er aus der alten Jacke, die er getragen hatte. Georgina sah sie zu Boden fallen und richtete einen beklommenen Blick auf ihn. Sein Hemd stand am Ausschnitt offen und sie konnte die Bewegungen seiner angespannten Sehnen am Hals, sehen. Er hatte die tropfende Kerze auf einen Tisch im hinteren Teil des Zimmers gestellt, doch sein Gesicht lag im Dunkel. Er lächelte und sie sah seine Zähne blit zen. Erneut bewegte er sich und dieses Mal fiel ihr sein Hemd vor die Füße. Im schwachen Lichtschein erkannte sie einen nackten Arm, muskulös und braun gebrannt von der texanischen Sonne. »Komm schon, Liebes. Lass uns den Streit vergessen und Spaß zusammen haben. Du weißt doch, es gefällt dir. Hauptsache, niemand kriegt mit, dass du für einen Dieb aus St. Giles die Beine breit machst.« Ihr Mund arbeitete, aber die Zunge schien ihr nicht zu gehorchen. Aus dem Schatten tretend, kam er auf sie zu. Seine Hände waren mit den Knöpfen am Hosenbund beschäftigt. Ihr Blick fiel auf seinen straffen Bauch. Sie
blinzelte. Schlanke Finger teilten den Stoff und die glänzende, über harten Muskeln glatte Haut kam zum Vorschein. Sie kreischte. Er sprang vor, packte sie und hielt ihr den Mund zu. »Schsch!« Zornig und beschämt von dem Gefühl, das sie überkam, als er sich seiner Kleidung entledigte, stieß sie ihn mit dem Ellenbogen und biss ihn dann in die Hand. Nick schrie auf und ließ sie los, stemmte aber gleichzeitig mit einem Arm sein ganzes Gewicht gegen die Tür. Er schüttelte seine verletzte Hand. »Hölle und Teufel, Weib. Die Haut ist richtig aufgeplatzt.« »Ich wünschte, ich hätte dir die ganze Hand abgebissen, du bösartiges Scheusal. Und jetzt lässt du mich gehen, sonst… sonst stürze ich mich aus dem Fenster.« »Ein bisschen dramatisch, meinst du nicht? Na los!« »Ich zähle bis drei, Nicholas Ross. Eins…« »Du wirst vor Vergnügen schreien, immer wieder, das versprech ich dir. Und wir können ‘was von den Tricks auf Evelyns Bildern ausprobieren.« »Zwei…« »Das Hocken auf allen vieren magst du nich’, das wissen wir schon.« Er schnippte mit den Fingern. »Jetzt hab ich’s. Ich wette, du hast Spaß dran, wenn deine Arme und Beine an die Bettpfosten gebunden sind.« »Ich sagte >zweiOhne Wetteifer währt die Liebe nicht lang.< Stöhnend presste er die Wange gegen das kalte Fenster-
glas. »Das wird’s wohl sein. Liebe. Eine verfluchte ewige Hölle.« In der Nacht lag Nick, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Georginas Zimmertür von innen verschlossen war, vollständig angezogen auf seinem Bett. Er hatte außerdem gehört, wie sie die Tür mit Möbelstücken verbarrikadierte. Demnach konnte er beruhigt sein, sie befand sich in Sicherheit. Auf Threshfield konnte niemand außer ihm ein Türschloss aufbrechen, wenigstens nahm er das an. Kaninchenkadaver und Ragout hatte er an seinen Arztfreund nach London geschickt. Er hatte Georgina bei der Befragung der von ihr Verdächtigten belauscht und er war seinen eigenen Vermutungen nachgegangen und hatte Evelyn und Ludwig unter die Lupe genommen. Um nicht dauernd daran zu denken, wie sehr es ihn danach verlangte, Georgina zu zeigen, dass sie ihn noch immer begehrte, ging er noch einmal die Liste seiner Erkenntnisse durch. An Threshfields Todestag war Ludwig wie gewöhnlich mit seinen Altertümern beschäftigt gewesen. Er hätte leicht aus dem ägyptischen Flügel schlüpfen und ein Kaninchen vergiften können, ohne dass ihn jemand vermisste. Evelyn hatte einen langen Spazie rgang unternommen und wäre ebenfalls ungesehen an das Wild herangekommen. Er könnte auch die Kutsche bezahlt haben, die Georgina beim Einkauf in der Stadt überfahren sollte. Der Vorfall erschien ihm noch immer äußerst verdächtig, obwohl sie ihn als eine böswillige Attacke abtat, die auf das Konto von Lady Augusta ging. Georgina hatte keine weiteren Unfälle erdulden müssen. Vermutlich, weil Threshfield gestorben war, bevor er sein Testament ändern oder sie heiraten konnte. Georgina dagegen glaubte, Lady Augusta wäre zu sehr in Trauer versunken, um weitere Angriffe gegen sie zu richten. Wie auch immer, die Zeit wurde jedenfalls knapp. Er und auch Georgina würden Threshfield House bald verlassen und wenn sie den Mord nicht vor ihrer Abreise aufklärten, würde er womöglich für immer unentdeckt bleiben.
Er musste die Dienerschaft befragen, wo genau sich Evelyn und Ludwig an Threshfields Todestag aufge halten hatten. Allerdings wurden Neuigkeiten in hochherrschaftlichen Häusern von Dienstboten, Gästen und Familienmitgliedern schnell weitergegeben. Er brauchte nur eine m Hausdiener derartige Fragen stellen und sofort würde der Butler oder die Haushälterin Bescheid wissen, die ihrerseits Prudence davon berichten wür den. Wie Georgina musste auch er sich auf seinen Diener, auf Pertwee, verlassen. In Gedanken erstellte er eine Liste von Fragen, die sein Leibdiener stellen sollte, als leise und kurz an seine Salontür geklopft wurde. Es war dunkel, bis auf den kleinen Lichtkreis, den die Kerze an seinem Bett warf. Er nahm sie, ging zur Tür und öffnete. Auf dem Korridor war niemand. Hatte er sich das Geräusch nur eingebildet? Unwahrscheinlich. Als er die Tür wieder schloss, fühlte er etwas unter seinem Schuh. Es war ein Umschlag. Er bückte sich und hob ihn auf. Darin befand sich eine Notiz auf Briefpapier mit dem Wappen von Threshfield. Sie war in Druckbuchstaben statt in kursiver Schrift geschrieben und unten stand Georginas Namenszug. Sie bat ihn zu einem Treffen um zwei Uhr nachts in den ägyptischen Flügel. Nick steckte die Notiz zurück in den Umschlag. Ihre Königliche Reinheit musste ihn für einen halben Analphabeten halten, wenn sie die verdammte Nachricht in Druckbuchstaben schickte. Und sie musste wissen, wer den Mord begangen hatte! Warum sonst wollte sie ihn an diesem geheimen Ort sprechen, obwohl ihr seine Gesellschaft ganz offensichtlich zuwider war? »Mich laust der Affe«, murmelte er. »Wenn sie Recht hat, muss ich zurück nach Texas.« Er hatte versagt. Dann war wohl doch Prudence, die ihre gesellschaftliche Stellung sichern wollte, die Mörderin. Er fühlte sein Herz sinken, wie von hundert steinernen Sarkophagen in die Tiefe gezogen. Er würde sich Georginas triumphierendem Gespött stellen müssen. Nein, Ihre Gnaden war zu wohlerzogen, um ihn zu verhöhnen. Sie würde die Entdeckung in gezierten Wendungen
kundtun und verlangen, dass er sich über den Ozean begab und sie niemals wieder belästigte. Und er würde gehorchen müssen. Die Notiz glitt aus seinen Fingern und fiel zu Boden. Nick starrte blind auf die Kerze, die er noch immer in der Hand hielt. Warum hatte seine Liebe nicht sein können wie die von Jocelin und Liza? Seine dagegen ähnelte mehr der dieses Burschen namens Othello und seiner Desdemona – er war verdammt. Verdammt. Verdammt. Nur war Georgina nicht annähernd so treu ergeben, wie Desdemona es gewesen war. Stattdessen wollte sie, dass er ging. Aber er würde sich nicht davonschleichen wie ein geprügelter Hund. Er würde stilvoll und mit Würde gehen und ihr beweisen, dass es ihm gleichgültig war, wenn sie ihre Liebe als ein schmutziges Geheimnis betrachtete, das am besten in Vergessenheit geriet. Vielleicht sollte er ihr auch vor Augen führen, was sie da wegwarf. Ein wenig Zeit blieb ihm noch für die Entscheidung. Nur eines war klar: Georgina würde bereuen, was sie ihm angetan hatte. Obwohl Nick ganz mit seiner Rache beschäftigt war, verging die Zeit bis zwei Uhr nachts nur langsam. Als die Messinguhr in seinem Zimmer melodisch Viertel nach eins schlug, glitt er mit einer Lampe in der Hand durch den frostig kühlen geschwungenen Korridor, der zum ägyptischen Flügel führte. Statt der Aufforderung ihrer Königlichen Hoheit pünktlich Folge zu leisten, brach er viel zu früh auf. Er hatte vor, sich ein gutes Versteck zu suchen und ihr Eintreffen zu beobachten. Dann würde er sie eine Zeit lang zappeln lassen und plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Das Ausharren an diesem unheimlichen Ort der Toten würde ihre Nerven strapazieren und sie würde zornig auf ihn sein. Doch dann würde er den Gentleman spielen und mit gespieltem Erstaunen fragen, ob er sie hatte warten lassen. Beim Betreten der langen Halle des ägyptischen Flügels zögerte er. Sein Blick fiel auf einen großen Schaukasten auf der Seite, und auf das schwarzweiße Spie gelbild seiner eleganten Abendkleidung. Dann sah er eine Reihe umwickelter Bündel. Georgina hatte ihm erzählt, worum es
sich dabei handelte. Es waren die Mumien von einer Katze, zwei Falken, einem Hund und einem Pavian, alle unter dicken, vom Alter nachgedunkelten Bandagen für das Leben im Jenseits sorgfältig konserviert. Neben den Mumien stand ein mit Amuletten aus Karneol, Malachit, Alabaster und Lapis lazuli gefülltes Regal. Ägyptische Einbalsamierer legten die Amulette zwischen die einzelnen Schichten der Bandagen, damit sie den Toten auf seiner Reise in die Anderwelt beschützten. Nick hatte das Gefühl, bei seinem gegenwärtigen Schicksal ein paar hundert Amulette zu brauchen. Er ging weiter und suchte in der Dunkelheit nach einem geeigneten Platz, an dem er sich verbergen konnte. In einem Sarkophag mit menschlichen Umrissen würde er sich nicht auf die Lauer legen. Auch wenn er zornig auf Georgina war, Tränen und Angst wollte er bei ihr nicht sehen. Außerdem waren die meisten der aufgestellten Steinsärge für ihn zu klein. Und der vor nehm galante Auftritt würde nicht gelingen, wenn er wie ein Dämon aus der Kiste sprang. Vielleicht sollte er im Arbeitsraum auf sie warten. Nick schob die Tür auf und hielt seine Lampe hoch. Auf dem Tisch lagen archäologische Wälzer, außerdem kleine Statuetten und die Mumie eines Babykrokodils. Er schloss die Tür und drehte einen Lehnstuhl so, dass er mit der Vorderseite zum Eingang und zur Bibliothekstür stand. Dann stellte er die Lampe auf den Boden und ließ sich in den Sessel fallen. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass er noch gut zwanzig Minuten zu warten hatte. Er steckte die Uhr zurück und glättete sein Jackett. Es war aus glänzendem schwarzen Tuch gearbeitet, ein kräftiger Kontrast zu der weißen, mit Stickerei verzierten Weste. Die Diamanten auf seinen Manschettenknöpfen blitzten sogar im trüben Lampenlicht. Es war so still, dass er das Ticken seiner Uhr hören konnte. Er stand auf, holte ein Buch vom Tisch, hielt es in die Nähe der Lampe und versuchte zu lesen. Doch seine Anspannung war zu groß. Er legte das Buch auf den Boden.
Dieser Ort mit seinen vielen Toten begann, ihn nervös zu machen; die fremdartigen Gegenstände, hergestellt von Menschen, die vor tausenden von Jahren gelebt hatten; die Särge. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Etwas stimmte nicht. Er hob die Lampe auf und spazierte zurück zum Tisch. Nachdem er die Bücherstapel unte rsucht hatte, zögerte er. Um seinen Mund lag ein sorge nvoller Zug. Er fuhr herum und hielt die Lampe hoch. Das hatte er vorher nicht bemerkt. Der Platz am Boden, neben dem Tisch, war leer. Was war mit dem roten Granitsarkophag geschehen? Die Lampe auf Armeslänge entfernt, drang er tiefer in die Dunkelheit ein. Kein Sarkophag. Ein gedehntes lautes Quietschen ließ ihn herumfahren. Die Tür zur Bibliothek ging auf, Licht drang in den Raum. Stirnrunzelnd stellte er die Lampe ab und ging hinüber zu dem Neuankömmling, der einen Kandelaber trug. »Hölle und Teufel, verdammt. Was treiben Sie hier zu dieser nächtlichen Stunde?«
19 Georgina ging zeitig zu ihrem Treffen mit Nick. In der staubigen Dunkelheit bahnte sie sich einen Weg durch die vollgestellte Halle des ägyptischen Flügels. Die Brille war ihr den Nasenrücken heruntergerutscht und sie rückte das Gestell mit zitternder Hand zurecht. Sie kämpfte ge gen ihre Befürchtung an, dass Nick noch immer Evelyn für den Mörder hielt. Sie war ganz sicher, dass Prudence die Tat begangen hatte, und wollte keine Auseinandersetzungen mehr, vor allem keine, bei denen er sie verspottete und in Versuchung führte. War es nur die Aufregung, die sie zwang, sich abrupt umzudrehen und hinter sich zu blicken, oder hatte sie
tatsächlich Schritte gehört? Unsinn. Hinter ihr war nie mand. Als sie den riesigen Arbeitsraum erreichte, senkte sie die Kerze, denn heller Lichtschein flutete ihr von der Schwelle entgegen. Der Raum lag verlassen. Georgina trat ein und blieb stehen. Staunend sah sie die wie eine Allee in zwei Reihen aufgestellten Kandelaber, die beinahe so groß waren wie sie. Die Leuchterallee führte durch den Arbeitsraum in die Bibliothek. Georgina ging in der Mitte dieses Kerzenmeeres und stellte im Vorübergehen fest, dass der rote Granitsarkophag verschwunden war. Ludwig hatte vermutlich veranlasst, dass er hinausgebracht wurde. Aber Ludwig hätte nicht die vielen brennenden Kerzen zurückgelassen. Diese Inszenierung ging auf Nicks Konto. Mit erhobenem Kinn marschierte sie durch die goldene Allee in die Bibliothek. Dort war ein Regal mit würfelförmigen Fächern für die Aufbewahrung von Papyrusrollen von seinem Platz an der Wand abgerückt und die Doppelreihe von Kerzen setzte sich hinter einer Maueröffnung fort. Sie trat hinein und fand sich auf einem kleinen Treppenabsatz wieder. Mit wachsender Neugier und Verblüffung schritt sie die wenigen Stufen hinab; auch hier beleuchteten Kerzen auf hohen Kandelabern ihren Weg. Von unten hörte sie ein leise tappendes Geräusch. Am Fuß der Treppe stand eine Tür offen, durch die das Tappen zu ihr drang. Sie betrat eine rechteckige Kammer, die grellbunt leuchtete. An der Tür blieb sie, heftig blinzelnd, stehen: Muster und Farben der Wandbemalung waren einem altägyptischen Grabmal nachempfunden. Sie schob die Brille, die wieder heruntergerutscht war, hoch und entdeckte den einzigen Menschen, der sich in der Kammer aufhielt. Ganz hinten arbeitete Ludwig an einem der zu Dutzenden herumstehenden Särge. Der hölzerne Mumienbehälter ruhte auf dem roten Granitsarkophag. Ludwig stand auf einer Trittleiter, mit dem Rücken zu ihr, und schlug lange dünne Nägel in das Holz am Fußende des Sargs. Sprachlos blickte sie sich in der Kammer um. Neben dem Sarkophag, an dem er arbeitete, stand ein zweiter. Im Innern ruhten mehrere ineinander
gestellte Särge. Der Deckel war gegen eine Wand gelehnt. An mehreren Stellen befanden sich, ordentlich sortiert, ägyptische Grabbeigaben für ein Leben nach dem Tod. Gruppen magischer Uschebti warteten darauf, die von dem Verstorbenen verlangten Arbeiten zu übernehmen. Körbe und Kisten mit Nahrung sicherten das leibliche Wohl der dahingegangenen Seele. Ludwig hatte das Mobiliar eines wohl ausgestattenen Grabmals hinzugefügt – niedrige vergoldete Chaiselongues auf Löwenfüßen, Stühle aus Zedern- und Ebenholz, Gestelle für Weinkrüge und Juwelenkästen aus Alabaster. Nah bei den Särgen stand ein Schrein, in dem die Kanopen mit den inneren Organen der Toten aufbewahrt wurden. Sogar persönliche Besitztümer wie Spiegel, Rasiermesser, Krummsäbel und Bögen gehörten zur Grabausstattung. Georgina drehte sich staunend, dass Ludwig jede Einzelheit bedacht hatte, herum. »Ludwig, das ist wunderbar.« Mit einem Aufschrei ließ er den Hammer fallen. »Georgina, Sie sind zu früh!« »Sollte das eine Überraschung für mich sein? Dann tut es mir Leid.« Als sie näher trat, stieg Ludwig von der Trittleiter und lächelte sie scheu an. »Gefällt es Ihnen?« »Es ist fantastisch.« Sie blickte sich im Raum um und betrachtete die gemalten Szenen an den Wänden. »Sie haben ein paar der schönsten Grabmalszenen kopiert.« Eine Szene zeigte einen Mann, seine Diener bei der Getreideernte beobachtend; eine andere den Tag des Höchsten Gerichts in der Halle des Osiris, wo das Herz eines Toten gegen die Feder der Wahrheit aufgewogen wurde. Sämtliche Wandgemälde waren in leuchtendem Rot, Blau, Gelb und Grün ausgeführt. »Es ist alles so echt«, sagte Georgina atemlos. Dann erinnerte sie sich an den Grund ihres Kommens und runzelte die Stirn. »Haben Sie Mr. Ross gesehen? Ich sollte mit ihm im Arbeitszimmer zusammentreffen.« »Oh, mein Herz. Nein. Ich habe ihn nicht gesehen. Aus welchem Grund will er sich mit Ihnen treffen, zu dieser
unziemlichen Stunde, und noch dazu allein? Das schickt sich nicht, meine Liebe.« »Das ist eine private Angelegenheit. Ich nehme an, ich habe mich in der Zeit geirrt.« Ludwig zog eine Taschenuhr hervor. »O je. Es ist schon Viertel nach zwei.« Sie wandte sich zum Gehen. »Ich gehe zurück in den Arbeitsraum. Wahrscheinlich ist er mittlerweile gekommen.« »Warten Sie. Er wird uns durch die Kerzenleuchter finden. Wollen Sie nicht sehen, was ich geschaffen habe?« Damit ging er zu dem Tisch, der neben dem Sarg stand, den er repariert hatte, und hob eine Papyrusrolle hoch. »Ich habe eine exakte Kopie des ägyptischen Totenbuches erstellt.« Georgina wanderte zu dem Tisch hinüber. »Das ist wunderschön, aber im Augenblick bin ich ziemlich abgelenkt, Ludwig. Vielleicht zeigen Sie mir die Abschrift morgen.« »Es dauert nur einen Moment.« Er nahm eine bauchige Keramikflasche und goss Wein in einen Fayencebecher. »Ich habe auch für Wein gesorgt, wie er den Toten mitgegeben wird. Sehen Sie die Krüge dort drüben? Sie tragen alle das Siegel von Ramses II….« Während er weiterplauderte, überlegte Georgina, wie sie aus der Kammer herauskommen konnte, ohne seine Gefühle zu verletzen. Normalerweise wäre sie von seinen Nachbildungen begeistert gewesen, doch jetzt konnte sie nur daran denken, was Nick tun würde, wenn sie ihm eröffnete, dass sie von der Wette zurücktrat. In sorgenvolle Gedanken versunken wanderte ihr Blick von dem Wein, den Ludwig ihr angeboten hatte, zu dem Sarg. Der rote Granitsarkophag war geschlossen und der Holzsarg stand auf dem steinernen Deckel. Es war ein Sarg aus der anthropomorphen Periode des Neuen Reichs. Schwarz angemalt und mit Gold verziert trug er die Züge eines ägyptischen Adeligen, der vor tausenden von Jahren gestorben war. Seine Arme waren auf der Brust verschränkt und in den Händen hielt er ein Amulett, dem
magische Kräfte zugeschrieben wurden. Am entgegengesetzten Ende war das Holz zersplittert und Ludwig hatte versucht, den Schaden mit neuen Latten zu beheben, die den Sarg um wenigstens die Länge eines Fußes vergrößerten. Stirnrunzelnd trat sie näher. Sie hatte sich geirrt. Das Holz war nicht als Folge der Alterung gesplittert, sondern zeigte eine saubere Sägekante. Ludwig hatte den Sarg vergrößert, vor allem dort, wo sich die Beine befanden. Sie stellte den Becher auf den Boden und betastete das Holz. Ludwig hatte aufgehört zu plappern. »Was haben Sie mit dem Sarg gemacht?«, erkundigte sie sich. »Er drohte zu zerbrechen; daher dachte ich, wenn ich ihn schon reparieren muss, dann passend zum neuen Sarkophag.« »Passend?« Georgina starrte ihn an. »Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich, ein archäologisches Fundstück zu verfälschen. Dieser Sarg ist ein bedeutendes Beis piel aus dem Neuen Reich… was war das?« Ludwig trat von ihr weg und schritt um den anderen Sarkophag. »Was?« Sie blickte sich in der Kammer um. »Ich habe etwas gehört.« Als sie den Raum absuchte, hörte sie das Geräusch erneut. Dieses Mal kam es direkt aus dem Sarg. Ein kurzes Stöhnen drang heraus und Georgina starrte auf die Züge des Adeligen, die schwarzen Augen, den vollen Mund und die lange gerade Nase. Es folgte lautes Klopfen gegen das Holz. Dann schien das Gesicht sie anzuspringen. Atemlos machte sie einen Satz zur Seite und sah, wie der Sargdeckel krachend angehoben wurde und zu Boden polterte. Nick setzte sich auf, das Gesicht in den Händen vergraben. Georgina verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn wütend an. »Was für ein übler Trick, Nicholas Ross. Wenn der Sargdeckel Schaden genommen hat, wirst du dafür aufkommen.« Noch während sie ihn tadelte, hob Nick den Kopf, blickte sie finster an und betastete sich stöhnend den
Hinterkopf. Er starrte seine Hand an, die voller Blut war. Georgina verstummte. »Er wollte auch keinen Wein trinken. Deshalb musste ich ihn schlagen.« Ludwig kam um den zweiten Sarkophag herum, eine Pistole in der Hand. Mit offenem Mund rückte Georgina näher an Nick heran. Fluchend ging dieser im Sarg auf die Knie. »Dieser fette heimtückische Kerl hat mich in den Keller gelockt und zusammengeschlagen.« Sie machte einen Schritt auf Ludwig zu, der die Pistole anhob. Nick kam aus dem Sarg, packte Georgina am Arm und zog sie hinter sich. »Ludwig, sind Sie wahnsinnig geworden?«, fragte sie. Ludwig zog sein schwarz umrandetes Taschentuch aus der Jacke und wischte sich eine Träne aus dem Auge, die Pistole auf Georgina und Nick gerichtet. »Nein, ich bin nicht wahnsinnig. Oh, mein Herz, nein. Aber Sie beide haben sich geweigert, Großonkels Tod zu akzeptieren. Ich habe Sie Ihre Fragen stellen hören. Sogar das Wildhaus haben Sie durchsucht. Ich konnte Sie dabei beobachten.« »Sie sind uns gefolgt?«, fragte Georgina matt. »Ich hatte solche Angst, dass Sie mich entlarven könnten.« Ludwig schniefte in sein Taschentuch. »Bis ich auf die Idee kam, das Grabmal zu benutzen. Sie beide werden verschwinden, sich einfach in Luft auflösen. Kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, in den Särgen nachzusehen. Hierher kommt niemand mehr, nicht nach Großonkels Tod, und nicht nach dem Ihren.« Währenddessen hatte Nick sich samt Georgina vor sichtig um den Granitsarkophag geschoben. »Sie haben den alten Threshfield also vergiftet«, sagte er. Ludwig legte die Pistole an. »Ich bitte Sie, machen Sie keinen Schritt weiter, Ross.« Nick blieb stehen. »Warum haben Sie ihn abge murkst, Hyde, alter Knabe?« »Ja«, sagte Georgina verwundert. »Warum?« Eine Träne tropfte von Ludwigs Nasenspitze. »Ich
wollte es nicht tun, aber er sagte, er würde meine wunderbaren Artefakte Georgina überschreiben – und er hat ihre Ehre beschmutzt!« Georgina versuchte, hinter Nick hervorzutreten, aber der stieß sie zurück. »Hölle und Teufel«, fluchte Nick. »Georginas Ruf kümmert Sie einen Dreck. Sie hatten nur Angst um Ihre vermoderten Töpfe und Särge.« Ludwig hörte augenblicklich zu schniefen auf. »Das ist nicht wahr. Ich hätte um Georginas Hand angehalten, um ihre Ehre zu retten, aber Sie haben sie ruiniert.« »Was?«, schrie Georgina. Die Pistole zeigte auf Nick. »Alle glauben, ich wäre viel zu sehr in meine Studien vertieft, um etwas zu bemerken, aber ich habe die Blicke gesehen, die Sie ihr zuwarfen. Ich habe Sie beide zusammen gesehen – in der Grotte, und an jenem Tag auf dem Rasen, als Tante Augusta versucht hat, Sie zu erschießen.« Ludwig sah Georgina finster an. »Großonkel hat mir erzählt, was vor sich ging, aber ich wollte ihm erst glauben, nachdem ich es mit eigenen Augen gesehen hatte, und dann wurde mir klar, dass Sie unsere wunderbaren gemeinsamen Studien wegen eines ganz gewöhnlichen Diebes aufgeben würden.« Kopfschüttelnd versuchte Georgina, den Sinn von Ludwigs wirren Ausführungen zu erfassen. »Sie haben den armen guten Threshfield vergiftet, um die Sammlung zu behalten.« »Sie gehört mir!«, rief Ludwig. »Ich kümmere mich darum. Ich passe auf sie auf. Ich studiere die einzelnen Stücke. Er hatte kein Recht, mir zu drohen, dass er sie weggeben würde. Als er das tat, wurde mir klar, dass die Sammlung mir erst sicher sein würde, wenn er tot wäre.« Er stopfte das Taschentuch in die Jacke zurück. »Und ich dachte, wir beide wären Seelenverwandte in unserer Liebe zur wissenschaftlichen Forschung, aber jetzt haben Sie alles zerstört. Sie waren dabei, das Belladonna im Kaninchenragout nachzuweisen, und ich hätte des Mordes angeklagt werden können. Dann hätte ich mich nicht mehr um meine Sammlung kümmern können. Ich durfte
nicht von ihr getrennt werden. Oh, mein Herz. Nein.« Bei diesen Worten spürte Georgina, wie Nick ihre Hand umklammerte. Seine Hand fühlte sich warm und ruhig an, während ihre eigene kalt war und zitterte. Er hatte es geschafft, mit ihr an eine Ecke des Sarkophags zu gelangen. Sein linkes Bein war teilweise hinter dem Steinbehälter verborgen und sie spürte, dass er es ruckweise bewegte. Bei einem verstohlenen Blick nach unten sah sie ihn mit dem Schuh den liegen gelassenen Hammer zu sich schieben. »Ich möchte hier in der Kammer nicht schießen«, sagte Ludwig jetzt. »Die Kugeln könnten meine Grabmalszenen beschädigen. Aber ich nehme nicht an, dass einer von Ihnen den Wein trinken wird.« »Sie haben Belladonna hineingetan«, sagte Georgina. Ludwig nickte. »Ich war sicher, Sie hätten in dem ägyptischen Medizinbuch die Passage über die Verwendung von Tollkirschen gelesen. Und da Sie sich weigern, meinen Wein zu trinken, muss ich Sie jetzt beide erschießen. Niemand wird uns hören. Wir sind zu weit vom Haupthaus entfernt. Sie müssen nur nie derknien, damit ich auf sie zielen kann.« Sein Gesicht hellte sich auf und er lächelte. »Und dann werde ich die Möglichkeit haben, das Einbalsamierungsritual nachzuvollziehen. Die kohlensauren Natronsalze liegen bereit, um die Leichname auszutrocken, und das nötige Werkzeug ebenfalls.« »Zur Hölle mit ihm«, flüsterte Nick heiser. »Der verdammte Wahnsinnige will uns einwickeln wie diese Mumien und dann steckt er uns da hinein.« Er zeigte auf die hölzernen Särge. »Ja.« Georginas Stimme zitterte. »Deshalb musste er den Sarg verlängern. Damit du hineinpasst. Ein kluger Einfall.« Jetzt strahlte Ludwig. »Ich wusste, Sie würden meine Idee zu schätzen wissen. Bitte knien Sie nun nieder, alle beide.« Nick schob Georgina noch weiter hinter sich. »Lassen Sie Georgina in Ruhe. Sie wird schweigen.« »Ich bin nicht der Dummkopf, für den Sie mich halten«, sagte Ludwig. »Nach Ihrem Tod wird sie keine Ruhe geben, bis ich vernichtet bin.« Georgina entwand sich Nicks Griff und glitt an seine
Seite. »Sie haben Recht, Ludwig, mein Lieber. Aber Sie brauchen keinen von uns zu töten. Es gibt keinen Grund dafür. Wir werden Ihr Geheimnis nicht verraten.« »Es tut mir Leid, liebste Georgina, aber ich glaube Ihnen nicht. Bitte knien Sie nieder.« Während Ludwig weiter über seine Pläne schwadronierte, wurde Georginas Aufmerksamkeit von einem seltsam kratzenden Geräusch abgelenkt. Ludwig hörte offenbar nichts, da seine Stimme das Geräusch übertönte. Sie blickte zu Nick, dessen Augen auf die Urheberin der Kratzgeräusche gerichtet waren. In der Tür stand Lady Augusta, gekleidet in ein kostbares Kleid aus spitzenbesetztem Batist und einer Haube. Mit dem Ladestock stopfte sie Schießpulver in den Lauf ihrer Muskete. Dann hob sie die Waffe an und Nick hielt den Atem an. Ludwig richtete die Pistole direkt auf Nicks Herz. Georgina blickte auf den um den Abzug gekrümmten Finger. Sie sah, wie er sich bewegte. Nick schrie auf und versuc hte, Georgina zur Seite zu schieben. Im selben Moment warf sie sich zwischen Ludwig und Nick, sodass Nicks Arm, der sie aus dem Weg stoßen wollte, ins Leere ging. Der Knall raubte ihr fast das Gehör. Sie fiel zu Boden, einen Stich in der Seite spürend, der jedoch verschwand, bevor Nick auf sie niedersank. Er schlang den Arm um sie und rollte sie beide hinter den Sarkophag. Dort packte er den Hammer, schnellte hoch und spähte über den Rand. Georgina sprang auf die Füße und stellte sich neben ihn, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Ludwig herumfuhr und die Pistole auf Augusta richtete. Es folgte ein lautes Krachen. Rauch stieg aus dem Musketenlauf und Ludwig kippte mit einem Loch im Kopf um. Georgina sah nur noch Blut und zersplitterte Knochen. Ihre Knie wurden weich und sie hörte sich selbst wimmern. Nick legte den Arm um sie. Sie tauschten einen erstaunten Blick, bevor sie sich umwandten und vorsichtig Augusta ansahen. Die alte Dame klemmte den Arm um die Muskete und warf einen zornigen Blick auf Ludwigs Leiche. »Ich habe dir gesagt, dass du die Spionin umbringen sollst, aber nicht
Wellington.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte hinaus. »Verdammter junger Tunichtgut.« Nick legte den Arm um Georginas Taille und sie traten aus dem Schutz des Sarkophags hervor, um zu Ludwigs Leiche zu gehen. Beim Anblick des verspritzten Blutes wandte sie sich ab. Nick versperrte ihr die Sicht auf den Toten. Seine Finger hoben ihr Kinn an. Sie schlug die Lider auf und sah seinen verwundert zärtlichen Blick auf sich ruhen. Sein dunkelblondes, von bernsteinfarbenen Strähnen durchzogenes Haar glänzte im Kerzenschein, seine Augen leuchteten indigoblau. »Du hast dich einer Kugel in den Weg gestellt, die für mich bestimmt war.« Ihr Blick flackerte. »Herzogstöchter werden zur Tapferkeit erzogen.« »Setzen Herzogstöchter auch ihr Leben für gewöhnliche Diebe aufs Spiel?« Seine Stimme war noch weicher geworden, was ihre Unruhe verstärkte. »Ständig«, antwortete sie. »Ich glaube dir nicht.« Sie räusperte sich. »Der arme Ludwig.« »Idiotischer Ludwig. Er hat versucht, uns umzubringen.« Nick trat näher zu ihr. Sie wich ihm aus. »Glaubst du, der Wahnsinn ist bei den Threshfields erblich?« »Darauf gehe ich jede Wette ein.« So weit sie sich auch zurückzog, Nick folgte ihr. Georgina ging rückwärts, bis sie mit dem Kopf an die Wand stieß. Dann versuchte sie, seitwärts zu entkommen. Sein Arm hielt sie auf. Sie versuchte es in der entgegengesetzten Richtung, da verhinderte sein anderer Arm ihre Flucht. Er beugte sich herab, sodass seine Lip pen fast die ihren berührten. »Sag es, mein Schatz.« Seine Stimme war ein raues Hauchen. »Was?« »Sag mir, warum du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, um mich zu retten.« Sie war von ihm umgeben. Ihr Atem verschmolz mit
seinem und seine Hitze übertrug sich auf ihre Haut. »Warum?«, flüsterte er. Seine Zunge berührte ihr Ohrläppchen. Sie holte tief Luft, dann brach es aus ihr heraus: »Ich konnte dich nicht sterben lassen! Bitte, Nick, ich möchte weg von diesem furchtbaren Ort.« »Nicht, bevor du mir den Grund genannt hast.« Das Blut und der Gedanke, dass er hätte tot sein können, löste den Schrei in ihr. »Ich liebe dich! Das ist der Grund. Bist du nun zufrieden? Ich liebe dich und jetzt lass mich gehen.« Sie wehrte ihn heftig mit beiden Armen ab. In diesem Moment spürte sie den Schmerz. Sie schrie noch einmal und hielt sich die Seite. Nick trat zurück und beide sahen das Blut durch ihr Mieder sickern. Ihr Blick traf auf seine vor Schreck starren Augen. Sie lächelte schwach. »Oh, wie wird mir…« Die Beine knickten ihr weg, sie spürte sich fallen. Nick fing sie auf. Ein Schwindelgefühl zwang sie, die Augen zu schließen. Ihr Kopf sank auf seine Schulter; dann verließ er hastig die Grabkammer und sie hörte ihn fluchen. In weiter Entfernung, während sie durch einen unwirklichen Raum aus Schmerz und Übelkeit driftete, vernahm sie seine Stimme noc h immer. »Halt durch, Geliebte. Halt durch!«
20 Halt durch, halt durch. Die beiden Worte jagten Nick durch den Kopf, während er Georgina nach oben in den Arbeitsraum trug. Sie war von einer Kugel getroffen worden, die ihm gegolten hatte. Sie hatte absichtlich ihr Leben aufs Spiel gesetzt, hatte sein Leben über ihr eigenes gestellt. Noch nie war er so verwirrt, denn nie hatte jemand so etwas für ihn getan. In der Vergangenheit war er der Lebensretter gewesen – bei seiner Mutter, bei seiner
Schwester, und sogar bei Jocelin. Nun hatte Georgina ihn gerettet und er wusste nicht, wie er sich dabei vorkam. Er fegte Bücher und Dokumente von der Tischplatte im Arbeitsraum, legte Georgina vorsichtig hin und stellte einen Kandelaber neben sie. Sie lag reglos, die Augen geschlossen, biss sich auf die Unterlippe und hielt sich die Wunde. »Halt durch, Liebes. Nimm die Hand fort, damit ich etwas sehen kann.« Sanft löste er ihre Finger. Er schluckte die Angst vor dem Anblick, der sich ihm bieten könnte, hinunter und hob den zerfetzten Miederstoff an. Die Kugel war zwischen zwei Rippen ins Fleisch gedrungen, saß jedoch nicht tief. Die Blutung ließ bereits nach. Erleichterung durchflutete ihn; er holte sein Taschentuch heraus und legte es vorsichtig auf die Wunde. »Ist es sehr schlimm?« Georginas Stimme bebte. »Nein, Liebes. Nur ein kleiner Kratzer.« Er beugte sich herab und küsste sie. Sie hob die Lider. Tränen glit zerten in ihren Augen und ließen sie leuchten. Sie seufzte. »Nur ein kleiner Kratzer. Wie schön.« »Du bist blass. Ruh dich einen Moment aus, dann trage ich dich in dein Zimmer und wir lassen einen Arzt kommen.« Dass mit einem Mal alle Farbe aus ihrem Gesicht verschwand, gefiel ihm gar nicht. Leise fing sie zu weinen an und er geriet in Panik. »Was ist los?« »Der arme, arme Ludwig. Und der arme Threshfield. Wenn er nicht das Märchen verbreitet hätte, seine Sammlung weggeben zu wollen, dann wäre keiner… keiner von…« »Hölle und Teufel, verdammt, der verlogene alte Tattergreis hätte es besser wissen müssen und Ludwig hat uns beinahe erschossen!« »Wo ist Lady Augusta?« »Abgehauen, Liebes. Und jetzt sei still.« Sie hatte ihre Tränen besiegt, verzog aber beim Sprechen vor Schmerz das Gesicht. »Du hattest auf der ganzen Linie
Recht.« »Womit?« »Das Balkongeländer, die Kutsche in der Stadt. Das waren beides keine Unfälle.« »Richtig. Aber wir werden niemals wissen, ob Ludwig dabei seine Hände im Spiel hatte. Wenn du mich fragst, glaub ich noch immer, dass der verdammte Eve lyn Hyde für diese kleinen Vorfälle verantwortlich ist. Dann wäre die Gefahr jetzt gebannt, weil der elende Schurke seinen Titel bekommen hat.« Georgina biss sich auf die Lippen und kämpfte ein Schluchzen nieder. »Ja, die Gefahr ist gebannt.« »Still! Ich habe gesagt, du sollst nicht sprechen. Das regt dich nur auf.« Er drückte ihre Hand, ging zu einem Wasserkrug und kostete vom Inhalt – für den Fall, dass Ludwig nicht nur den Wein vergiftet hatte. Dann brachte er Georgina ein Glas, half ihr, den Kopf zu heben und zu trinken. Sie nahm ein paar Schlucke, stieß dann das Glas fort und schloss die Augen. »Sei unbesorgt, Nicholas. Ich werde keinen Vorteil aus der Sache ziehen. Du musst dich nicht opfern, nur weil ich dumm genug war, mich anschießen zu lassen.« Er zog die Brauen zusammen und stellte das Glas ab. »Ich muss mich nicht opfern? Was meinst du damit?« »Du musst mich nicht heiraten«, flüsterte sie. Er war sprachlos, während er diesen zweiten Schrecken verarbeitete. Sie glaubte, er wollte sie nicht. Hatte sie das die ganze Zeit geglaubt, und wenn ja, wie kam sie auf diese Idee? »Du dachtest doch, ich war nicht gut genug für dich, wegen St. Giles und meiner Vergangenheit.« Georgina riss die Augen auf. Erstaunen und Schmerz war darin zu lesen. Nick barg ihren Kopf in seinem Arm. Sie versuchte, sich aufzusetzen, sank aber schwer atmend zurück. »Du Narr«, sagte sie und verlor das Bewusstsein. Eine Woche, nachdem Ludwig zu Tode gekommen war,
ritt Nick zu den Hügeln an der Grenze des Geländes von Threshfield House. Pertwee begleitete ihn. Ihr Ziel war eine Rotunde, ein strahlend weißer, zu den Seiten hin offener Steinpavillon, der auf einer Anhöhe errichtet war und von dem aus man das Haus, den Park und die Waldungen überblicken konnte. Schlank aufstrebende Säulen stützten ein hohes Kuppeldach, das von einer Statue des geflügelten Merkur geziert wurde. Unter dem Dach war ein Teleskop aufgestellt, als Zeitvertreib für die Gäste des Grafen. Nick trieb sein Pferd die Steigung hinauf und warf einen mürrischen Blick nach hinten zu seinem Leibdie ner. Pertwee hatte ihn zu dem Ausflug überredet. Er war der Ansicht, sein Herr hätte die ganze Woche im Haus herumgelungert und würde nur noch mehr Trübsinn über die bereits geplagte Familie bringen. Schließlich hatte Nick lustlos zugestimmt. Das Ziel des Ausritts war ihm jedoch gleichgültig. Nachdem er Georgina auf ihr Zimmer gebracht und dafür gesorgt hatte, dass der Arzt von Threshfield sich um sie kümmerte, wurde er in den Strudel der Nachforschungen über Ludwigs Tod gerissen. Er hatte Polizeiinspektoren, Friedensrichtern, einem Leichenbeschauer, sogar einem königlichen Abgesandten und einem Staatssekretär aus dem Innenministerium Rede und Antwort gestanden. Während dieser Befragungen ging man wie selbstverständlich von der Annahme aus, dass er als Abkömmling der Unterschicht mit Sicherheit für Ludwigs Tod verantwortlich sei. Blass war dann Georgina vor dem königlichen Abgesandten im Salon erschienen und hatte höflich, aber entschieden vor allen Anwesenden den Sachverhalt richtig gestellt. Anschließend verschwand sie wieder in ihre Suite mit der Begründung, nach der Schussverletzung litte sie noch immer unter Schmerzen. Sie ließ weder Nick noch andere Besucher zu sich, bis auf Lady Lavinia. Von ihrem beunruhigten Vater trafen Nachrichten ein, er verlangte Erklärungen und die Rückkehr seiner Tochter. Lady Augusta wurde einer Schar von Pflegerinnen
unterstellt, deren einzige Aufgabe darin bestand, die alte Dame Tag und Nacht zu bewachen. Schließlich schickte der adelige königliche Abgesandte einen Wachtmeister niedrigsten Dienstgrades, der Nick mitteilte, dass Ludwigs Tod als Unfall eingestuft worden sei – um Lady Georgina, und Lady Augusta weiteren Kummer zu ersparen. Nicks Kummer dagegen interessierte niemanden. In all dem Durcheinander hätte Nick gern mit Georgina gesprochen, doch sie schien das nicht zu wollen. Er hatte mehrere Male angefragt, ob er sie besuchen dürfe, war aber abgewiesen worden. So blieb er mit seinen verwirrten Gefühlen allein. Er konnte noch immer nicht glauben, dass sie ihn liebte, so sehr liebte, dass sie der Gesellschaft die Stirn bieten und ihn heiraten würde. Und er wollte sie nicht seinerseits fragen, aus Angst vor der Antwort, die sie ihm würde geben müssen. Nichts hatte sich geändert. Er konnte Jocelin und seine Schwester nicht entehren. Sie waren auf dem Hügel angekommen. Nick sprang aus dem Sattel, reichte Pertwee die Zügel und ging langsam zur Rotunde. Unter dem Kuppeldach, in der Nähe des Teleskops, waren schmiedeeiserne Stühle und ein Tisch aufgestellt. Dort ließ er sich auf einen Stuhl fallen, legte die Füße auf den Tisch, verschränkte die Arme und ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Also gut«, sagte er zu Pertwee. »Ich bin hier. Und wo ist jetzt dieser Al?« »Al, Sir?«, fragte Pertwee und trug einen Korb in die Rotunde. »Sie sagten, wir würden mit einem Burschen namens Al, oder wie er hieß, dinieren.« Pertwees Nasenflügel bebten, als er den Korb auf den Tisch stellte. »Hier handelt es sich um einen Irrtum, Sir. Ich sagte, wir würden >al fresco< dinieren, das bedeutet an der frischen Luft.« »Warum haben Sie’s dann nicht so gesagt, verdammt?« Pertwee seufzte. »Vielleicht lenkt es Sie von Ihrem Kummer ab, Sir, wenn wir die Gedanken über die Tyrannei besprechen, die Platon in seinem >Staat< ausführt.« »Davon kriege ich nur Kopfschmerzen«, schnauzte Nick.
Pertwee zog ein blütenweißes Tischtuch aus dem Weidenkorb und schüttelte es. Der Leinenstoff knatterte, als der Wind das Tuch erfasste. Nick sah es mit fin sterem Blick und ging dann zum Teleskop. Pertwee hatte ihn bereits in den Gebrauch eingewiesen. Er schloss ein Auge, stellte das Instrument scharf und richtete es auf das Haus. Dort suchte er den Balkon von Georginas Suite. Er fand die Fensterfront, konnte aber nichts hinter den Scheiben erkennen. Die Herbstlandschaft um ihn herum war von der Nachmittagssonne in goldene Farben getaucht. Nick senkte das Teleskop ein wenig, um die Terrasse, die Rasenflächen, den Teich und den Wasserpavillon zu überblicken. Als er mit dem Fernrohr zum Wald hinter dem Teich schwenkte, blitzte etwas Schwarzes in seinem Blickfeld auf. Er richtete das Teleskop auf den Teich und die Brücke im Palladio-Stil. Rundbögen spiegelten sich in dem wie Glas schimmernden blauen Wasser. Über die Brücke schritt Georgina, und zwar nicht allein. Nick bewegte die Hand und verlor dadurch das Paar aus den Augen – und seine Anstandsdame, Lady Lavinia. Fluchend stellte er das Instrument wieder scharf und fokussierte sein Ziel erneut. Georgina befand sich jetzt in der Mitte der Linse, neben ihr ein hoch gewachsener, elegant gekleideter junger Mann mit goldblondem Haar. »Hölle und Teufel, das ist ja Dallas.« »Sir?« »Was macht der verfluchte Dallas Meredith hier?« »Ah, Mr. Meredith.« Nick fuhr herum und starrte seinen Leibdiener an. »Sie kennen Meredith?« »Wäre Ihre Stimmung in den vergangenen Tagen zugänglicher gewesen, hätte ich Sie von Mr. Merediths bevorstehender Ankunft informieren können, Sir.« »Dann sagen Sie’s mir eben jetzt, verflucht. Was macht er hier?« »Sir, Sie werden überrascht sein, zu erfahren, dass Mr. Meredith zur Familie gehört, zu den Hydes, wollte ich sagen. Mr. Merediths Großvater, der jüngere Bruder des alten Grafen, wurde vor langer Zeit in die Kolonien
strafversetzt. Er war in eine Sache verwickelt, die mit Glücksspiel zu tun hatte, änderte seinen Namen und machte in Amerika ein Vermögen. Nun, nach dem unglüc klichen Ableben von Ludwig Hyde, und weil es Lord Evelyn an weiterer Nachkommenschaft mangelt, ist er der nächste Erbe von Threshfield.« »Hölle und Teufel. Dieser verschwiegene Hund.« Nick wandte sich wieder dem Teleskop zu. Georgina und Dallas befanden sich noch immer auf der Brücke und Dallas stand dicht bei ihr. »Zum Henker, verdammt. Viel zu nah«, murmelte Nick, stieß das Teleskop beiseite und sah wieder seinen Diener an. »Vergessen Sie das Essen, Pertwee. Ich gehe…« Seine Worte erstarben, als er mehrere Männer zu Pferd den Hügel hinaufkommen sah. Fünf von ihnen sahen aus, als wäre ihnen nicht wohl im Sattel. Wie sie da hin und her schwankten, passten sie, trotz der kostspieligen Kleidung, eher in eine Hafenkneipe bei den Londoner Docks. Der sechste Reiter war der Herzog von Clairemont, Georginas Vater. Obwohl Nick dem Herzog nur selten begegnet war, erkannte er ihn an den smaragdgrünen Augen und der aufrechten militärischen Haltung, die Jocelin von ihm geerbt hatte. Der Herzog hatte seine Größe und die strahlenden Augen auch an Georgina weitergegeben, doch ihr Blick war warm, aufmerksam und mit fühlend. Der Herzog dagegen betrachtete die Welt mit kalter Gleichgültigkeit und stellte seine Erhabenheit vor jedem, der niedrigeren Ranges war, zur Schau. Als der Herzog vom Pferd stieg und die Zügel seines Vollblüters einem Gefolgsmann hinwarf, stieg Nick die Stufen der Rotunde hinunter, um Seine Gnaden zu begrüßen. Der Herzog schritt auf ihn zu, die Hände auf dem Rücken verschränkt und so stark an den breitbeinigen Gang Jocelins erinnernd, dass Nick staunte. »Ich habe Sie gesucht«, begann der Herzog ohne Vorrede. »Guten Tag, Euer Gnaden. Ich wusste nicht, dass Sie auf Threshfield weilen.«
»Das weiß niemand, Ross. Ich bin in meinem Privatwagon gereist und komme wegen eines Briefes, den mir der neue Graf gesandt hat.« »Ich verstehe. Die Sache mit dem alten Threshfield und mit Ludwig…« »Threshfield und Ludwig sind mir gleichgültig«, polterte der Herzog. »Was fällt Ihnen ein, sich an meiner Tochter zu vergreifen, Sir?« Nick setzte eine unbeteiligte Miene auf. »Ich weiß nicht, was Sie meinen. Was hat Evelyn denn gesagt?« »Dass Sie um meine Tochter herumschnüffeln wie ein Köter um eine läufige Hündin und dass Sie sogar mit ihr allein gewesen sind.« Nick entgegnete nichts. Der Herzog wandte sich um, reichte die Reitgerte einem Diener und zerrte die Handschuhe von den Fingern; dann nahm er die Gerte wieder in Empfang und ging um Nick herum, als würde er ein Pferd begutachten. »In der Vergangenheit habe ich ein paar Mal Ihre Anwesenheit in meinem Haus geduldet, weil ich Jocelin nicht dazu bewegen konnte, sich von Ihnen zu trennen. Aber Gott ist mein Zeuge, Sir. Ich werde nicht dulden, dass Sie um meine Tochter herumschleichen und ihren Ruf gefährden. Ich hätte angenommen, dass Lavinia Sie längst davongejagt hat, aber sobald von Ihnen die Rede ist, scheint sie den Verstand zu verlieren. Mit Lavinia beschäftige ich mich später. Aber Sie, Sir, werden England unverzüglich verlassen und nach Texas zurückkehren. Dort bei den Wilden befinden Sie sich zweifellos in bester Gesellschaft.« Über diese Möglichkeit hatte Nick bereits selbst nachgedacht, doch als er jetzt wie stinkender Abfall behandelt wurde, den man angewidert auf den Kompost warf, stieg unerwartet der Zorn in ihm hoch. Ob er für Georgina gut genug war, würde er, nicht der Herzog, entscheiden. »Ich gehe, wann ich will, Clairemont, alter Junge. Und ich treffe mich, mit wem ich will. Das gilt auch für Georgina.« Der Herzog lief rot an und kam näher. »Sie werden von meiner Tochter als Ihrer Ladyschaft sprechen, Sie wertlose
Kanalratte. Lord Evelyn sagt, Sie säßen auf dem hohen Ross und hätten sogar ihre schmutzigen Hände an…« Er unterbrach sich mit einem Blick auf sein Gefolge und senkte die Stimme. »Wenn Sie glauben, ich sehe tatenlos zu, während Sie meine Tochter mit Ihrem Samen zu besudeln versuchen, sind Sie ein Dummkopf.« »Hölle und Teufel, verflucht«, flüsterte Nick. »Sie sorgen sich gar nicht um Georgina, hab ich Recht? Sie machen sich bloß vor Angst ins Hemd, weil jemand wie ich, ein dahergelaufener Emporkömmling, ihr feines Blut verderben könnte. Ich hatte glatt vergessen, was für ein mieses Arschloch Sie sind. Sie denken nur an sich und Ihre Stellung. Evelyn und Sie passen gut zusammen. Erzählen Sie Ihren Schwachsinn doch jemand anderem, der vielleicht dafür zahlt.« Damit wollte er sich abwenden, als der Herzog sagte: »Mit Angehörigen der Unterschicht ein vernünftiges Gespräch führen zu wollen, war schon immer ein vergebliches Unterfangen.« Er hob die Reitgerte und ließ sie niederknallen. Der Schlag traf Nick am Hinterkopf. Er spürte einen stechenden Schmerz und seine Knie knickten ein. Pertwee schrie auf. Er stürzte von der Rotunde herbei, wurde aber von zwei Gefolgsleuten des Herzogs zurüc kgehalten. Der Herzog trat beiseite und reinigte die Gerte von Nicks Blut, indem er sie durch das Gras zog. »Snead, du hast deine Anweisungen.« Snead, ein Hüne mit gebrochenem Nasenbein und Fäusten, dicker als die Schultergelenke eines Bullen, zog eine Pistole aus dem Gürtel und setzte sich schwerfällig in Bewegung. Als er den Hünen herannahen sah, versuchte Nick, auf die Füße zu kommen, und drehte sich halb herum. Er hockte noch mit einem Knie am Boden, da schlug Snead zu. Der Hieb traf Nick am Kiefer und er glaubte, sein Gehirn würde vor Schmerz explodieren. Nicks Faust schnellte vor und landete einen Schlag in Sneads Magengrube. Snead grunzte, umschloss mit einer Hand Nicks Handgelenk und hob den Pistolenkolben über seinen Kopf. Nick versuchte, dem Hieb auszuweichen, aber
der Bulle raubte ihm das Gleichgewicht. Im nächsten Moment spürte er den Kolben auf seine Gehirnschale krachen. Ein unerträglicher Schmerz flutete vom Kopf bis in sein Herz. Bestimmt hatte es aufgehört zu schlagen, dachte er noch, bevor er zu Boden ging und das Bewusstsein verlor. Der Herzog hatte den Kampf keines Blickes gewürdigt, sondern war damit beschäftigt, seine Glacehandschuhe anzuziehen. Als alles vorbei war, beugte Snead sich über Nick, stand dann auf und sah hinüber zu seinem Herrn. Der Herzog ging auf das Teleskop zu und blickte hindurch. Snead folgte ihm. Die Linse auf eine Schar Enten in der Nähe des Teic hes richtend, sagte Clairemont: »Ich habe nachge dacht. Mr. Ross nach Texas zurückzuschicken, ist sinnlos. Er würde sofort umkehren und wiederkommen. Eine endgültige Lösung ist erforderlich.« »Soll ich ihn ausknipsen, bevor er wieder aufwacht, Euer Gnaden?« »Nein, du Dummkopf. Ich dulde keinen Mord, außerdem würde man einen wohlhabenden Mann wie unseren Freund vermissen.« Snead zog die buschigen Augenbrauen zusammen, während er angestrengt eine andere Lösung zu finden versuchte. Einfallsreichtum war nicht seine Stärke. Der Herzog richtete das Teleskop auf weit entfernte Hügelketten. »Mr. Ross sollte in die Gosse zurückkehren, aus der er gekommen ist. Finde eine ausreichend herunterge kommene Opiumhöhle in Whitechapel und bring ihn hin. Behalte ihn dort, bis er keine Stunde mehr ohne das Zeug auskommt. Dann lässt du ihn frei. Schick den Leibdiener los, damit er die Sachen seines Herrn packt. Er soll auf Threshfield die Nachricht hinterlassen, dass Ross das Land verlässt, und dann zum Eisenbahnwagon kommen. Mach ihm unmissverständlich klar, dass das Leben seines Herrn von seiner Kooperation abhängt. Du kannst Mr. Ross dann in einem Handelsschiff auf die Reise nach Indien oder
China schicken.« »Ja, Euer Gnaden.« Der Herzog hatte sich vom Fernrohr entfernt, nahm ein halb volles Weinglas vom Tisch und trank. In der Zwischenzeit warfen seine Gefolgsleute Nick über den Sattel seines Pferdes und banden ihn fest. Clairemont bestieg seinen eigenen Vollblüter und trieb das Tier zu Nick hinüber, der den Kopf zu bewegen begann. Der Herzog zog einen Fuß aus dem Steigbügel und trat zu. Der Kopf sank herab und wieder lag Nick schlaff am Boden. »Ein höchst ermüdendes Geschäft.« Clairemont seufzte und versetzte seinem Pferd einen Klaps mit der Reitgerte.
21 Georginas Kopf fühlte sich an wie zu doppelter Größe geschwollen. Krank war sie nicht – ihre Wunde heilte rasch und Ruhe hatte sie zur Genüge gehabt. Aber die Ereignisse des Tages waren mit der Wucht mehrerer Kanonenladungen auf sie niedergeprasselt. Als Erstes traf ohne jede Vorwarnung der neue Erbe von Threshfield ein. Dann erschien dieser Fremde mit seiner verblüffenden Nachricht. Als Nächstes war ihr wutentbrannter Vater angereist und jetzt war Nick verschwunden, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen. Sie saß an ihrem Ankleidetisch, verloren im Elend, während Rebecca nach einem schweren Bernsteincollier, passend zu ihrem schulterfreien Abendkleid, suchte. Meterweise wallte die glänzende Seide um sie. Der Farbton war satt und grenzte an tiefes Purpur. Wenn der Herzog von Clairemont das Haus mit seinem Besuch beehrte, kleidete man sich, als würde man bei Hofe erscheinen. Georgina hätte sich nicht mehr daran erinnert, aber Rebecca diente ihr schon so lange, dass die Fragen von Mode und Etikette reine Routine für die Zofe waren. Zum Glück, denn Georgina war zu aufge bracht, um sich über Kleide r Gedanken zu machen.
Sie hatte sich in Nick getäuscht. Die ganze Zeit über war sie sicher gewesen, dass er sie nicht wollte, und dann schien es, als sei er überzeugt, ihrer unwürdig zu sein. Seit ihrer Schussverletzung hatte sie eine verblüffende Entdeckung gemacht. Eine Zeit lang hatte sie mit ihrer Verwirrung gekämpft und versucht, die Einsicht zu verdrängen, dass Nick bei aller Zuneigung sein Leben sicher nicht mit einer unbeholfenen Riesin verbringen mochte. Noch mehr Zeit hatte sie gebraucht, um ihren ganzen Mut für eine Wiederbegegnung zu sammeln. Aber am Ende hatte sie beschlossen, ihm gegenüberzutreten und ihn zu fragen, ob das, was er im Arbeitsraum gesagt hatte, der Wahrheit entsprach oder eine ihrem Schmerz und Kummer entsprungene Täuschung war. Heute Morgen hatte sie ihre Abgeschiedenheit erst spät verlassen. Evelyn und Prudence waren von eifrig bemühter Förmlichkeit gewesen und Georgina wollte ihrer Gesellschaft soeben entkommen und sich auf die Suche nach Nick machen, als Mr. Dallas Meredith eintraf. Sie erfuhr zunächst von Mr. Merediths Verbindung mit der Familie. Erst anschließend kam seine Freundschaft mit Jocelin zur Sprache. Georgina brachte dem neuen Erben von Threshfield kein großes Interesse entgegen, aber dieser suchte hartnäckig ihre Gesellschaft, und bald befand sie sich auf einem Spa ziergang mit ihm und Tante Livy. Mit geschmeidigen, schwungvollen Schritten trat er neben sie. Sein sonnengoldenes Haar fing das Licht ein, seine Sprechweise war gedehnt und kultiviert. »Lady Georgina, Ma’am, wie Sie wissen, komme ich aus Amerika, wo sich meine Familie vor einiger Zeit niedergelassen hat. Aber Sie wissen noch nicht, dass ich dort ein paar gemeinsame Monate mit Ihrem Bruder verbracht habe.« Georgina blieb mitten auf der Brücke stehen und tauschte einen erstaunten Blick mit Tante Livy. »Tatsächlich?« »Ja, Ma’am.« »Mr. Meredith«, sagte Tante Livy. »Das alles klingt sehr seltsam. Ihr Familienname ist nicht Hyde, und doch sind Sie der Erbe von Threshfield. Und jetzt behaupten Sie, Sie
hätten meinen Neffen besucht.« »Nun, Ma’am, sagen wir so. Mein Großvater hatte vor einer Weile etwas Ärger in Georgia und beim Kauf der vielen Ländereien in Mississippi hat er einfach seinen Namen geändert.« Tante Livy hob die Brauen. »Junger Mann, bei uns spricht man die Königin mit Madam an.« Dallas lächelte träge. »Dann verwende ich die Anrede für zwei so königliche Damen, wie Sie es sind. Einfach als respektvolle Geste, Ma’am.« »Ihr Verhalten ist ziemlich rätselhaft, Mr. Meredith«, bemerkte Georgina. »Sie sprachen gerade von meinem Bruder?« Dallas schob die Hand in sein Jackett und zog einen Umschlag heraus. »Er hat mich gebeten, Ihnen das zu übergeben.« »Vielen Dank.« Sie machte jedoch keine Anstalten, den Brief zu öffnen. Daher sagte er: »Jocelin sprach davon, dass der Brief wichtig sei und Sie ihn sofort lesen sollten.« Während Tante Livy bei ihrem Gast blieb, trat Georgina mit einem Blick auf die reglose Miene von Dallas ein wenig beiseite, öffnete den Brief und begann zu lesen.
Meine liebste Georgie, Ich weiß, du bist zornig auf mich, weil ich versuche, deine Heirat mit Threshfield zu verhindern. Aber nun müssen wir unseren Streit beiseite legen. Nick hat mir in letzter Zeit mehrere aufgeregte Briefe geschrieben und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass du mehr über ihn erfahren solltest. Und so las sie über Nicks Leben – seinen trunksüchtigen gewalttätigen Vater, über seine Mutter, die bis zu ihrem Todestag Fußböden geschrubbt hatte, über die Todesumstände der kleinen Tessie, die sterben musste, weil sie hübsch und jung war. Jocelin berichtete sogar, wie Nick ihm auf seinem Kreuzzug geholfen hatte, um die Welt von den Perversen zu befreien, die sich an Kindern vergingen. Georgina hatte von Jocelins Taten gewusst, aber nicht geahnt, dass Nick ihn dabei geführt hatte. Nick hatte Jocelin beigebracht, sich in dem schmutzigen Labyrinth von
Whitechapel und in den Bordellen der Hafengegend zurechtzufinden. Ohne Nick hätte Jocelin leicht als Leiche in der Themse enden können. Ich bewundere Nick Ross mehr als alle anderen Männer, Georgie. Er besitzt meine allergrößte Zuneigung und nichts würde mir mehr Freude bereiten, als ihn meinen Bruder zu nennen.
In diesem Moment erkannte sie, dass Jocelin seinen Segen gab. Er musste gespürt haben, was zwischen ihr und Nick geschehen war. Die Mr. Meredith geschuldete Höflichkeit missachtend, war Georgina zum Haus zurüc kgerannt, um Nick zu suchen, aber Pertwee hatte sämtliche Sachen seines Herrn zusammengepackt und mit den Koffern das Haus verlassen. Nick war fort. Bei der Erinnerung an die Verzweiflung, die sie befiel, als sie von Nicks überstürzter Abreise erfuhr, traten ihr Tränen in die Augen. Warum, warum nur war er gegangen? War er müde geworden, darauf zu warten, dass sie zu ihm kam? Hatte er versucht, zu ihr zu gelangen, und war sie zu feige gewesen, ihn vorzulassen? Es war alles ihre Schuld und jetzt hatte sie ihn verloren. Wahrscheinlich hasste er sie. Rebecca erschien mit dem schweren Bernsteincollier und legte es ihr um den Hals. Georgina starrte aus dem Fenster in die schwarze sternenlose Nacht. Das weite Dunkel spiegelte ihre eigene innere Leere. Diese Leere entsprang Nicks Abwesenheit. Sie hörte seine Stimme nicht mehr, mit der er sie neckend >George< nannte; sie sehnte sich danach, zu sehen, wie er den Mund in leichtem Erstaunen öffnete, wenn sie von der Schönheit einer antiken Statue schwärmte, die einen menschlichen Leib und den Kopf eines Pavians hatte; die Leere wurde noch abgrundtiefer bei dem Gedanken, er könnte sich ihr gegenüber vielleicht nie wieder so geben wie in jener Nacht, als sie im Ankleidezimmer zusammenkamen. Warum hatte er nicht ein bisschen länger gewartet? Würde sie es wagen, ihm nachzureisen? Ihr Vater beobachtete jeden ihrer Schritte. Sie würde nichts offen unterneh-
men können. Ob sie Mr. Meredith überreden könnte, ihn für sie zu suchen? Zum ersten Mal, seit sie von Nicks Abreise erfahren hatte, hellte sich ihre Stimmung auf. Sie erhob sich und eilte nach unten, auf der Suche nach dem Amerikaner. Auf dem Weg in den Salon, wo sich die Familie vor dem Dinner versammelte, begegnete sie Tante Livy. Alle anderen Gäste waren abgereist, sodass die Gesellschaft sich auf die Threshfields, die Marshals und auf Dallas beschränkte. Als sie und Livy im Erdgeschoss ankamen, zog Georgina ihre Tante in die verhältnismäßig sichere Abgeschiedenheit unter dem Treppenaufgang. »Tante Livy, glaubst du, Mr. Meredith könnte Nick für mich suchen?«, flüs terte Georgina und wrang ihr schwarzes Spitzentaschentuch mit beiden Händen. »Ich wusste es!« Die Lautstärke, mit der ihre Tante sprach, ließ Geor gina zusammenfahren. Sie blickte über die Schulter zur Treppe hinauf. »Schsch, ich bitte dich, Tante.« »Ich wusste, dass du schließlich zur Besinnung kommen würdest.« Tante Livy klappte ihren Fächer auf und hielt ihn vor den Mund. »Mr. Ross ist doppelt so viel Edelmann wie die ganze Bande, die dein Vater um dich und dein Vermögen hat schleichen lassen. Du hast lange gebraucht, um das zu begreifen. Wusstest du eigentlich, wie schwer es war, euch aus dem Weg zu gehen, damit ihr miteina nder allein sein konntet?« »Tante Livy!« Georgina schrie bestürzt auf. »Warum hast du nichts gesagt, wenn du ihn so magst?« »Hättest du mir zugehört?« »Oh.« »Siehst du. Und ich denke, Mr. Meredith könnte jeden Menschen ausfindig machen, wenn er nur will. Komm jetzt endlich. Wir wollen die Threshfields bei der Begr üßung deines Vaters doch nicht allein lassen. Wer weiß, was für abscheuliche Lügen sie ihm erzählen.« Im schwarz verhangenen Salon verbrachten sie einige Minuten in gespannter Konversation mit Eveyln und Prudence. Prudence wirkte in dem gewaltigen Reifrock und ihrem Trauergewand wie ein kleiner schwarzer
Fußball. Sie strahlte in freudiger Erwartung, für den Herzog von Clairemont die Gastgeberin spie len zu dürfen. Sie hatte in ihren Gemächern lange um Ludwig getrauert, aber die Ankunft des hohen Gastes vertrieb jeden Kummer aus der mütterlichen Brust. Sie nahm kaum zur Kenntnis, dass Dallas den Salon betrat. Das verschaffte Georgina die Gelegenheit, den Amerikaner auf die Seite zu ziehen. »Mr. Meredith, ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten.« »Ich stehe stets zu Ihren Diensten, Ma’am.« »Ich muss sofort Mr. Ross finden und solange mein Vater in der Nähe ist, kann ich mich nicht selbst auf die Suche machen. Wäre es vielleicht möglich, dass Sie mir behilflich sind?« »Ich würde mich geehrt fühlen, einer so hübschen Dame behilflich zu sein.« Georgina schenkte ihm ein gequältes Lächeln. »Sie wissen anscheinend recht viel über meine Angelegenheiten, Sir. Daher halte ich Schmeichelein für unange bracht. Ich bin ganz bestimmt nicht die zierliche und grazile Lady.« »Ich pflege keine falschen Komplimente auszusprechen, Ma’am. Und was Ihren Mangel an Zierlichkeit angeht« – Dallas ließ seinen Blick mit einem seltsamen Ausdruck an ihr herabgleiten – »so vermute ich, dass der alte Nick glücklich ist, eine Dame gefunden zu haben, die er nicht hochheben muss, wenn er sich mit ihr unterhalten will.« »Wie bitte?« »Sie müssen wissen, Ma’am, Nick und ich haben ungefähr die gleiche Größe und keiner von uns be kommt gern während des Gesprächs mit einer Dame von niedrigem Wuchs einen steifen Hals.« »Wollen Sie mich aufziehen, Mr. Meredith?« »Vielleicht ein wenig, Ma’am.« Bevor sie antworten konnte, kündigte der Butler ihren Vater an und beim Eintreten des Herzogs wurde die Atmosphäre frostig. Clairemont nickte seinem Gastgeber und seiner Gastgeberin in eisiger Förmlichkeit zu. Anschließend begrüßte er seine Schwester. »Ich würde gern ein Wort mit dir wechseln, Lavinia.«
»Gern.« »Eine private Unterredung.« »Clairemont, mach nur so weiter. Du siehst aus wie ein Bischof, der gerade den Papst auf dem Nachttopf überrascht hat.« Der Herzog zog ein Gesicht, als würde er an schmerzhaften Verdauungsstörungen leiden. »Gut, gut. Über deine Versäumnisse als Anstandsdame werden wir uns später unterhalten.« Georgina seufzte und blickte Dallas an. »Jetzt ist es so weit.« »Clairemont«, gurrte Lavinia. »Ich mag Mr. Ross und ich habe nicht die Absicht, mit anzusehen, wie du Georginas Chancen bei ihm verdirbst. Benimm dich anständig oder ich gebe dir eine Ohrfeige, wie früher, als wir noch Kinder waren.« »Lavinia, du bist wirklich nicht die richtige Person für eine Unterhaltung über anständiges Benehmen. Ich werde dafür sorgen, dass Georgina an einen unseren Maßstäben entsprechenden jungen Mann vergeben wird.« »O nein«, murmelte Georgina. Die Ankündigung des Butlers, das Dinner sei serviert, verhinderte weiteren Streit. Im selben Augenblick war ein entferntes Knallen zu hören, das durch die Halle in den Salon drang. Es war ein Wunder, dass die antiken Statuen in ihren Wandnischen nicht zerschellten. »Was war das?«, fragte der Herzog. »Das klang wie die Vordertüren«, sagte Evelyn. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da hörte Georgina ein lautes Gebrüll, das vom Marmor und Alabaster der Halle verstärkt wurde. Aus dem Gebrüll wurde ein Donnern. »Clairrre-mont!« Georgina sprang auf. »Nick?« Die Türen zum Salon sprangen auf – Nicholas Ross hatte sie eingetreten. Er warf die Flügel zur Seite und marschie rte in den Raum. Als er den Herzog sah, blieb er stehen. Alle Versammelten starrten ihn wortlos an, einschließlich Georgina. Nick trug ein schmutziges, zerrissenes Hemd, eine mit Schlamm bespritzte Reithose und ebenso
verschmutzte Schuhe. Er war außer Atem und schwitzte, das Gesicht striemig von Dreck und Blut. Sein Haar war feucht und dunkel, bis auf die rotgoldenen, von der Sonne bleich gewordenen Strähnen. In der Hand hielt er eine Pistole. Georgina erholte sich als Erste von ihrer Verblüffung und eilte an seine Seite. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihm ins Gesicht, erschrocken über den Zorn, den sie darin entdeckte. »Nick?«, flüsterte sie. Der harte bedrohliche Ausdruck milderte sich für einen Moment. »Hallo, Liebes«, sagte er leise. Dann ging er auf den Herzog zu. Clairemont blickte ihm entgegen, die Hände auf dem Rücken. Nick sprach in seinem Gossenakzent. »Verfluchter Bastard, du wolltest mich umbringen.« Er sagte das mit einer Ruhe, die Georgina noch mehr erschreckte als sein Zorn. Der Herzog hob eine Braue. »Im Gegenteil. Hätte ich Sie umbringen wollen, wären Sie jetzt tot.« »Oh, nein. Du hättest dir deine Hände nicht mit dieser Arbeit dreckig gemacht. Aber derart dumme Kerle solltest du dir dafür nicht suchen.« Nick berührte die Pistole an seinem Gürtel. »Snead hat versucht, mir die Kehle durchzuschneiden. Er ist tot.« Bei diesen Worten fühlte sich Georgina mit einem Mal, als wäre sie Teil eines albhaften Tagtraums. Und je mehr Verletzungen sie an Nick erkannte, desto beunruhigter war sie. Sie berührte eine rotgoldene Haarsträhne und wandte den Blick ab, um das Blut in seinem Gesicht nicht sehen zu müssen. »Vater, wovon spricht er? Was ist mit ihm geschehen?« »Sag es ihr«, schnauzte Nick den Herzog an. Der Herzog zuckte mit den Achseln. »Ich hatte Mr. Ross festsetzen lassen.« »Er hat mich überfallen und zusammenschlagen lassen, der dreckige Feigling.« Georgina starrte ihren Vater an und schüttelte den Kopf. Der Herzog hatte keinen Blick von Nick gelassen. Bevor sie weitere Einzelheiten erfragen konnte, nahm Nick sanft ihre
Hand von seinem Arm. »Dieses Mal geht es nur um dich und mich, Clairemont.« Nick wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. »Zieh dein Jackett aus und gebrauch deine Fäuste.« »Ich schlage mich nicht mit Kanalratten.« »Vater!« »Zu dumm, alter Knabe«, sagte Nick mit einem Grinsen. »Denn genau das wirst du tun, ob es dir gefällt oder nicht.« Georgina legte ihm wieder die Hand auf den Arm und flüsterte: »Nick, nicht.« »Hölle und Teufel, Weib. Für Manieren und Verhandlungen ist es zu spät.« Jetzt ging Evelyn hinüber zu Nick. »Ich sage Ihnen, Ross, das geht zu weit.« Ohne ihm Beachtung zu schenken, blickte Nick sich im Raum um. Dann ging er zu einer Wanddekoration neben dem Kamin und entnahm ihr zwei Schwerter. Eines davon warf er dem Herzog zu. Er fing es auf. »Nein!«, schrie Georgina. Nun erhob Dallas zum ersten Mal die Stimme, über die Proteste von Prudence und Evelyn hinweg. »Ross, das ist nicht der richtige Weg.« »Um Sie kümmere ich mich, wenn ich mit Clairemont fertig bin«, sagte Nick. Dallas blickte überrascht drein. »Um mich?« »Sie können unbesorgt sein«, sagte der Herzog zu Dallas. »Ich werde ihn nicht umbringen.« Dallas zuckte die Achseln. »Ich mache mir Sorgen um Sie, Euer Gnaden.« »Ihr beide hört auf«, wies Georgina sie zurecht. »Vater, Sie nähern sich ihm nicht mit diesem Schwert!« Nick warf Dallas einen Blick zu. Der blonde Amerikaner nahm Georgina beim Arm und zog sie von den beiden Männern weg. »Lassen Sie mich los, Mr. Meredith.« »Tut mir Leid, Ma’am. Das kann ich nicht.« Georgina versuchte vergeblich, sich zu befreien. »Männer! Allesamt Wahnsinnige!«
Während Prudence nach Luft schnappte und ihre juwelengeschmückten Hände rang, begannen Nick und der Herzog im Salon umeinander zu kreisen. Evelyn, Tante Lavinia und der Butler schoben gemeinsam das Mobiliar beiseite. Der Herzog kam dicht an Nick heran. »Die Sache wird schnell entschieden sein«, sagte er. »Dann können Sie die Behörden benachrichtigen, damit dieses Individuum verhaftet wird, Threshfield. Es überrascht mich, dass Sie dies nicht längst getan haben.« Bei seinen letzten Worten hob Clairemont plötzlich die Schwertspitze gegen Nick. Georgina schrie auf. Nick tänzelte zur Seite und hieb auf ihren Vater ein. Der Herzog zog sich gerade noch rechtzeitig zurück, um Nicks Schneide zu entkommen. Verblüfft von Nicks Können, presste Georgina die Lippen zusammen, um ihn nicht durch Angstschreie abzulenken. Sie riskierte einen kurzen Blick hinüber zu Dallas. Er wirkte unbesorgt. In dem Moment, als sie zur Seite sah, hörte sie ihren Vater fluchen. Ein hohes zischendes Geräusch durchschnitt die Luft und Georgina sah Nicks Schwert mit der Waffe des Herzogs zusammenprallen. Immer wie der wirbelte es herum und durchbrach dann die Deckung. Dem Herzog flog das Schwert aus der Hand. Krachend wurde es gegen die Wand geschleudert. Im gleichen Moment hielt Nick Clairemont die Spitze seines Schwertes unters Kinn. Georgina konnte kaum atmen. Sogar Prudence war still geworden. Der Herzog ergab sich mit erhobenen Händen. Nick blickte an der Schneide entlang auf seinen Gegner. »Niemand tritt mir an den Kopf und kommt ungeschoren davon.« »Ich hätte geglaubt, daran sind Sie gewöhnt, wenn man Ihre niedrige Herkunft bedenkt«, gab der Herzog zurück. Georgina holte tief Luft und riss sich aus dem Griff von Dallas los. »Vater, Sie sollten sich schämen.« Kopfschüttelnd senkte Nick das Schwert. Er machte drei Schritte nach vorn und stieß dem Herzog die Faust in den Magen. Clairemont sank auf die Knie, keuchend und mit rotem Gesicht. Er hielt sich den Bauch und hustete. Nick versetzte ihm mit dem Fuß einen Tritt gegen die Schulter.
Der Herzog landete stöhnend auf seinem Allerwertesten. »Manche Leute lernen einfach nichts dazu, wenn man nicht nachhilft«, sagte Nick munter. »Und jetzt hör’n Sie gut zu, Hochwohlgeboren. Ich werde Georgina nicht heiraten, denn ich möchte ihr keine Schande bereiten. Und das nächste Mal, wenn Sie mir Übles woll’n, trete ich Ihnen die Eingeweide zu Brei.« »Heiraten?« Georginas Stimme war eine Oktave höher gestiegen. Sie stürmte zu Nick hinüber, am ganzen Leib bebend vor Beklemmung und Zorn. »Darf ich das so verstehen, dass ihr beide um mich gekämpft habt?« »Natürlich ging es um dich«, sagte Nick. »Ich… du… oh!« Georgina ballte die Fäuste und zählte bis zehn. Es half nichts. »Beim Allmächtigen im Himmel, wie konntest du es wagen, Nicholas Ross?« »Was?«, fragte Nick, während Georgina begann, zwischen ihm und ihrem stöhnenden Vater auf und ab zu gehen. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Ihre Haltung war herrisch. »Jetzt verstehe ich. Du hast ganz allein beschlossen, mich nicht zu heiraten, ohne zu fragen, was ich davon halte. Das ist der Gipfel der Arroganz. Du entscheidest über Ehre und Unehre. Du entscheidest, was für mich das Beste ist. Du entscheidest, wen ich heiraten soll. Du hast das letzte Wort, wenn es darum geht, ob ich die Missbilligung der Gesellschaft riskiere. Aber am meisten erzürnt mich deine Ansicht, ich besäße nicht genügend Charakter, um zu erkennen, dass Ehre, Tapferkeit, Liebenswürdigkeit und Ergebenheit in St. Giles ebenso gedeihen können wie am Grosvenor Square.« »Ich wollte nur…« »Du wolltest nur den weiteren Verlauf meines Lebens bestimmen, Nicholas Ross.« »Aber…« »Was ist, wenn ich nichts auf die Meinung der Gesellschaft oder meines Vaters oder wessen auch immer gebe? Aber du… du und ich, das ist mir wichtig. Ist dir bei deinen voreingenommenen Überlegungen jemals in den Sinn gekommen, auch mich nach meinen Gefühlen zu fragen?«
»Hmm. Nein.« »Das ist es!« Nick breitete bestürzt die Arme aus. »Ich dachte, ich kenne deine Gefühle.« »Glaub niemals, du könntest in den Herzen anderer Menschen lesen«, sagte Georgina. Plötzlich spürte sie Tränen in ihre Augen steigen. Sie blinzelte heftig und sprach leise weiter. »Hättest du dir die Mühe gemacht, mich zu fragen, ob ich dich heiraten will, Nicholas Ross, hätte ich Ja gesagt.« »Das hättest du?«, fragte er ungläubig. »Nein, das hätte sie nicht«, kam es von dem ge krümmt am Boden liegenden Herzog. »Weil ich meine Zustimmung verweigert hätte.« »Ach, halt den Mund, Clairemont«, sagte Lavinia. Georgina hörte nicht hin. Sie zwang die Tränen zurück und flüsterte: »Aber du hast mich nie gefragt, Nicholas Ross. Du glaubst mir auch jetzt nicht. Und du wirst mir wohl nie glauben, denn du hältst mich trotz allem immer noch für eine oberflächliche und einfältige Gans. Wie alle anderen jungen Damen der Gesellschaft. Du bist ein Snob, Nick. Ein hochnäsiger Snob.« Ohne jede Vorbereitung sah sie plötzlich ihr Leben vor sich, die vielen zukünftigen Jahre ohne Nick, allein, verzweifelt und vom Schmerz über den Verlust erfüllt. Mit einem leisen hoffnungslosen Aufschrei stürzte sie aus dem Zimmer. Sie hörte, wie Nick ihr hinterherrief, und fing blindlings an zu rennen. Sie hatte ihm ihre tiefsten Gefühle offenbart und jetzt bekam sie Angst. Sie durchquerte den Empfangsraum, stieß die Terrassentür auf und floh hinaus in die Nacht.
22 Nick wollte zur Terrassentür eilen, die Georgina eben zugeschlagen hatte, doch der Herzog erhob sich schwerfällig und riss ihn am Arm.
»Sie lassen meine Tochter in Ruhe.« Nick war im Begriff, Clairemont zur Seite zu stoßen, als Lady Lavinia ihn mit der Hand zurückhielt. »Junger Mann, Sie haben alles gründlich verdorben. Langsam drängt sich mir der Gedanke auf, dass ich Sie besser erschossen hätte, als Sie beim ersten Mal auf die Zufahrt galoppiert sind.« »Aber ich hatte nicht erwartet, dass…« Nick biss sich auf die Lippe. Der Schmerz von seiner Kopfwunde durchzuckte ihn und er stöhnte auf. Lady Lavinia trat zurück und wedelte nachdenklich mit ihrem schwarzen Fächer. »Sie abgründig dummer Narr. Wissen Sie denn nicht, dass dieses Mädchen Sie mehr liebt als ihr eigenes Leben?« Nick konnte die Schwester des Herzogs nur anstarren und heftig schlucken. »Glauben Sie im Ernst, eine Herzogstochter würde auch nur einen Tag freiwillig im gleichen Haus mit einem Mann bleiben, der sich ihr nähert und nach Belieben über ihre Tugend verfügt, wenn sie nicht hoffnungslos in ihn verliebt ist?« Nick hörte den Herzog, Evelyn und Prudence atemlos durcheinander reden. Vor ihm drehte sich alles und seine Augen fühlten sich an, als wären sie auf die Größe von Gänseeiern angewachsen. Ohne Vorwarnung baute sich der Herzog direkt vor ihm auf. »Wenn Sie ein Wort über Ihre Beziehungen zu Georgina verlauten lassen, setze ich einen Preis auf Ihren Kopf aus.« »Verschwinden Sie«, sagte Nick. Er schob Clairemont beiseite und stürmte aus dem Salon. Er hatte das Empfangszimmer bereits zur Hälfte durchquert, da hörte er, wie Meredith ihn rief. Dallas holte ihn bei den Terrassentüren ein. »Clairemont wollte Ihnen hinterherlaufen, aber ich habe ihn davon überzeugt, dass er sich nur einen weit eren Hieb in die Magengegend einhandeln würde. Aber bevor Sie zu Lady Georgina gehen, möchte ich mit Ihnen reden.« »Halten Sie sich von ihr fern, Meredith. Mit Ihnen werde ich nicht so freundlich verfahren wie mit dem Herzog.«
Dallas hob die Hände. »Bei meiner Ehre, Sir. Ich habe bezüglich Lady Georgina keinerlei Absichten.« »Dann passen Sie auf, dass das so bleibt.« Lächelnd zog Dallas einen Umschlag aus der Innentasche seines Jacketts und hielt ihn Nick hin. »Was glauben Sie, warum ich hier bin, Ross?« »Wie soll ich das wissen? Sie waren verdammt verschwiegen, was Ihre Verbindung zu Threshfield angeht. Und mich haben Sie den weiten Weg hierher machen lassen, obwohl die Angelegenheit Ihre eigene Familie betraf.« »Aber ich kenne die Familie nicht, Ross. Ich bin Amerikaner. Für mich waren diese Leute nichts als Namen und ich hatte nicht den geringsten Wunsch, mich als Abgesandter Jocelins vorzustellen, um dann als armer Verwandter abgetan zu werden, der nur Almosen will.« Dallas’ Blick glitt von Nick weg. »Und meine Vergangenheit wollte ich schon gar nicht erklären. Erst der Tod von Ludwig Hyde hat mich gezwungen, dieses Schweigen zu brechen.« »Passen Sie auf, Meredith. Mich interessieren Ihre piekfeinen adeligen Vorfahren verdammt wenig. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen…« »Noch nicht«, erwiderte Dallas und reichte ihm den Umschlag, den er noch immer in der Hand hielt. »Jocelin wollte, dass ich Ihnen das hier gebe.« Nick warf ihm einen misstrauischen Blick zu, bevor er den Brief öffnete. Ich lasse es darauf ankommen, alter Junge, aber Liza sagt, ich hätte Recht. Ich glaube, du hast Zuneigung zu meiner Schwester gefasst. Außerdem glaube ich, dass es dir unmöglich erscheint, deine Liebe einzugestehen, aus Angst vor Georginas Zurückweisung. Nick, ich kenne dich. Du leidest lieber stumm, als dass du mir ein Leid zufügst.
Nick spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Er hatte Recht gehabt – Jos wollte keine Verbindung zwischen ihm und Georgina. Mit zusammengepressten Kiefern las er weiter.
Es ist erstaunlich, dass du mit mir etwas teilen könntest und überhaupt nicht weißt, wie sehr ich mich geehrt fühlen würde, dich meinen Bruder zu nennen. Du könntest mir kein größeres Geschenk machen, als meine Georgie zu lieben und zu heiraten.
Es folgte noch mehr, aber Nick konnte schon das, was er gelesen hatte, kaum fassen. Er schob den Brief in den Umschlag zurück und räusperte sich. Dabe i sah er Dallas an. »Mich trifft der Schlag.« »Nach allem, was ich mitbekommen habe, ist das wohl auch notwendig. Sie haben sich benommen, als wären Sie blind und taub.« »Hören Sie auf damit.« Dallas fuhr auf dem Absatz herum und ging. »Meredith«, sagte Nick zögernd. »Ja?« »Danke.« »Keine Ursache, Sir«, sagte Dallas mit jener weichen Aussprache, jeden Konsonanten dehnend. »Vermutlich finden Sie Lady Georgina beim Teich. In der Zwischenzeit kümmere ich mich um den Herzog, um zu verhindern, dass er Sie zur Hölle fahren lässt.« Lächelnd kehrte er in den Salon zurück. Nick stopfte sich Jocelins Brief in den Hosenbund und eilte aus dem Haus. Die nächtliche Kühle ließ ihn erschauern, aber der Lauf zum Teich wärmte ihn. Georgina war weder dort noch im Wasserpavillon noch auf der Brücke. Er glaubte nicht, dass sie ohne Pferd zur Grotte aufbrechen würde. Er stand auf der Brücke und starrte dumpf das Mondlicht an, das auf dem Wasser tanzte, und überlegte, wohin sie gegangen sein könnte. Dann schnippte er mit den Fingern, rannte über die Brücke und verschwand im Wald. Keuchend erreichte er die letzte Baumreihe vor der Lichtung. Er verlangsamte sein Tempo und näherte sich dem kleinen griechischen Tempel. Zwischen einem Säulenpaar standen zwei dunkle Gestalten. Sie standen eng beieinander, trennten sich aber, als er auf sie zuging. »Mit wem triffst du dich hier um diese Zeit?«, schnapp-
te er und wurde rot, als die Zofe Rebecca vor ihm knickste, ihn einen Moment beäugte und dann auf dem Kiesweg Richtung Haus verschwand. Georgina wandte ihm den Rücken zu, den Kopf hocherhoben. Rebecca hatte ihr vermutlich einen Umhang gebracht. Nick kam sich wie ein Narr vor, als er die Treppen emporstieg und die königliche Frau be grüßte. »Tut mir Leid, Liebes.« Sie wendete unmerklich den Kopf. Das Mondlicht fiel auf ihre hohe Stirn und die gerundeten Wangen. Nick konnte kaum noch atmen, als er sie so sah. »Ich vermute, die Dunkelheit hat mich stark ge macht«, sagte sie. »Ganz deutlich erkenne ich Dinge, die ich vorher nicht sehen wollte.« »Was erkennst du?« »Alle deine galanten Beteuerungen, dass du mich nicht in Unehre stürzen willst, sind nur eine List zur Verschleierung der Wahrheit.« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Sie wandte sich um, sodass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Mag sein, dass du es nicht weißt. Aber ich bin eine beeindruckende Trophäe für dich«, sagte sie. »Der gewöhnliche Dieb aus Whitechapel hat eine Herzogs tochter ihrer Tugend beraubt. Behaupte nur nicht, dass du darauf nicht stolz wärst. Und was eine Heirat angeht, stehen dir alle Möglichkeiten offen, bei jeder Frau. Warum also dich mit einer schlaksigen Riesin begnügen, wenn du ein niedliches, üppig gebautes Mädchen aus bester Familie haben kannst? Ein Mädchen, das weder abseitigen Beschäftigungen nachgeht noch fremder Leute Kinder betreut, statt dir als Schmuckstück zu dienen?« Fluchend riss Nick sie herum. Er packte sie an den Armen und zwang sie, ihn anzusehen. Dabei wehte ihm ein Hauch von Lavendel in die Nase. »Ich frage dich, wer ist hier… wie hieß das Wort, mit dem du mich bezeichnet hast?« »Snob?« »Wer ist hier der Snob?« Er zog sie dicht an sich, um den
Ausdruck in ihrem Gesicht zu erkennen. Als er Tränen über ihre Wangen laufen sah, schalt er sich selbst. »Ich bin stolz.« Schmerz verzerrte ihr Gesicht. »Ich bin stolz, deine Liebe errungen zu haben, Geor ge. Und ich erbringe keine Opfer, die ich nicht erbringen will. Außerdem ist dich zu lieben kein Opfer, verdammt. Hölle und Teufel, Weib. Wir rennen beide voreinander weg, weil man uns in der Vergangenheit wehgetan hat. Es wird Zeit, dass wir damit aufhören. So, und was war das mit der Riesin?« »Ach, das ist ohne Bedeutung.« Sie ließ den Kopf hängen. »Richtig.« Er betrachtete sie einen Augenblick. Dann hob er sie mit einer schwungvollen Bewegung hoch. »Nicholas Ross!« Er grinste sie an und wirbelte sie im Kreis herum. »Hier gibt’s keine Riesen.« »Lass mich los.« Sie rang nach Atem, aber er drehte sie weiter im Kreis herum. Erst als sie schrie und herunter wollte, hielt er an und setzte sie ab. Sie schwankte und wäre beinahe gestürzt, woraufhin Nick sie erneut in die Luft hob. Verblüfft starrte sie ihn an. »Da hast du’s«, sagte er. »Wirbeln Riesen herum wie ein Kinderkreisel?« »Ich… Nick.« Der Klang durchfuhr ihn wie der heiße Wind in Texas und erhitzte sein Blut. Erregung glühte in seinen Adern. Sein Lächeln verschwand und er löste einen Arm von ihren Beinen. Mit dem anderen hielt er sie fest und ließ sie an sich hinuntergleiten, bis sie eng aneinander geschmiegt standen. »Du hast meinen Namen gesagt.« Die Hand flach auf ihren Rücken gelegt, zog er sie an sich und ihre Brüste hoben sich gegen seinen Oberkörper. »Ich hatte dich gewarnt.« Sie hob den Blick, sah ihn an und ihre Stimme klang klar: »Ich habe es nicht vergessen.«
Er hörte sie kaum. In seinen Ohren rauschte das Blut. Er stemmte die Handflächen gegen den kalten Stein und hielt sie zwischen sich und der Wand gefangen. Es war schon so lange her, dass er sie berührt hatte. Während er ihre Lippen erforschte, spürte er, wie sich ihre Nägel in seinen Rücken gruben. Dann berühr ten ihre Hände sein Haar. Sie wandte den Kopf. »Deine Verletzungen.« »Welche Verletzungen? Sprich noch einmal meinen Namen aus.« »Nick.« »Oh, ja.« »Nick.« Er fuhr mit den Zähnen über ihre nackte Schulter und begann, die Röcke hochzuschieben. »Nick.« »Himmel, sprich meinen Namen noch einmal aus, und du treibst mich…« »Nein«, wehrte sie ab und legte einen Finger auf seine Lippen. »Rebecca sagte, Tante Livy hätte ihr aufgetragen, für heute Abend das Badebecken im Tempel vorzubereiten.« Nick küsste ihre Finger und wiederholte ihre Worte gedankenlos. »Das Badebecken im Tempel.« Er hielt inne. »Das Badebecken?« Ohne ein weiteres Wort hob er sie hoch und trat mit raschen Schritten in das Tempelinnere. Auf den Stufen hinunter zum Becken wuchs die Hitze in ihm bei jedem Schritt, bis der Schmerz zwischen seinen Beinen zur Qual wurde. Er atmete den Jasminduft ein, aber das warmgoldene Licht, das von der Wasseroberfläche an die Wände geworfen wurde, nahm er kaum noch wahr. Vor Hast und Verlangen zerriss er die kostspielige teure Spitze. Mit zitternden Fingern zerrte er an Verschlüssen. Die Unterröcke fielen. Er nahm nur noch eine Fläche cremezarter nackter Haut wahr. Lediglich der milde Schreck, als plötzlich Wasser um ihn schwappte, konnte ihn kurz ablenken. Warme Flüssigkeit hüllte ihn ein und Georgina schlang die Arme um ihn. Erregung wühlte in
ihm, wild und süß zugle ich. Steif vor Begierde hob er sie zu sich und gemeinsam schwebten sie im Wasser; jede kleine Welle trieb sie sanft aneinander. Plötzlich lehnte sie sich zurück und lag, die Brüste aus dem Wasser erhoben, hingebreitet vor ihm. Die Beine um seine Hüften gehakt und den Rücken gebogen presste sie sich an ihn. Mit einem erstickten Schrei warf er sich auf sie und versank mit ihr. Unter Wasser sah er ihr Haar, das sie wie schwarze Seide umfloss. Dann zog er sie an den Handgelenken zu sich und tauchte mit ihr auf. Er drückte sie fest an sich, war aber darauf bedacht, die verheilende Schusswunde zu schonen. Kräftig stieß er sich ab und brachte sie zur Treppe, die ins Wasser führte. Auf der untersten Stufe ging er in die Knie. Georgina ließ sich mit dem Po ein paar Stufen höher nieder und schlang die Beine um ihn. Er stürzte sich auf sie. Sie stützte sich ab und hob ihm die Hüften entgegen. Er spürte, wie das Wasser ihn schä umend umspülte, während er sich an ihr bewegte. Seine Hände trafen auf empfindsame Stellen. Sein Mund folgte und bald tauchte er unter die Wasseroberfläche, zu diesen Stellen hin. Als er Atem schöpfen musste, kam er wieder herauf und knabberte an ihren Brüsten, die vor ihm im Wasser wogten. Er hätte unendlich lange mit ihnen spielen können, aber sie suchte seine Hände, drückte sie und zog ihn an sich. Er beantwortete ihr Drängen und stieß in die glühende Enge. In seinem Bewusstsein gab es nur noch sie, die ihn in sich aufnahm, und das Wasser, das sie wie ein wilder Wirbel umspülte. Große Wellen schwappten über den Beckenrand und verliefen am Boden. Sie klatschten schäumend übereinander, während Nicks Bewegungen immer heftiger wurden. Dann schrie Georgina auf und er wölbte den Rücken. Hart stieß er in sie hinein und ließ seinen Schrei mit ihrem verschmelzen. Im Wasser stehend, die Hüften fest gegen ihre stoßend, bedeckte er im Augenblick der Erfüllung ihre Lippen mit dem Mund. Sie hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen. Schließlich kam er wieder zur Besinnung, hielt sie fest umfasst und glitt rückwärts, um sich mit ihr auf dem
Bauch im Wasser treiben zu lassen. Dort schwammen sie, eine Insel aus zwei miteinander verbundenen Leibern, und ließen sich treiben im goldenen Traumnebel ihres Glücks. Georgina glitt durch die Armlöcher am Oberteil ihres Kleides und drehte sich um, damit Nick die zahllosen kleinen Knöpfe am Rücken schließen konnte. Ihre Haut prickelte noch immer von der Liebe und sie sah die Röte an ihren Armen und am Halsausschnitt. Er schob den letzten Knopf durch die Schlinge und küsste ihre nackte Schulter. Sie spürte die Glut seiner Lippen auf der Haut und tauchte aus ihrer Traumverlorenheit auf; das sinnliche Feuer der Leidenschaft ergriff erneut von ihr Besitz. Seine Stimme erreichte sie durch die Flammen der Begierde. »Du bist sicher, dass es das ist, was du willst, Lie bes?« »Ich verbiete dir, diese Frage zu stellen, nachdem du mit solcher Vollkommenheit bewiesen hast, wie genau du weißt, was du willst.« »Ich bin nur nicht sicher, ob du weißt, welche Konsequenzen es für dich hat, mich zu heiraten.« Sie drehte sich um, schlang den Arm um seinen Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Ach, du liebe Güte. Meinst du, ich müsste die Teilnahme an der Saison aufgeben, wo mir doch alle diese faszinierenden Bälle so viel bedeuten?« Entsetzt hob sie die Hände an die Wangen. »Um Himmels willen. Ich soll auf Besuche und Empfänge verzichten, und auf die vielen geistlosen Gespräche? Wie soll ich leben ohne diese Zerstreuungen?« »Warte, bis es so weit ist. Dann wirst du’s sehen.« »Ach, zum Kuckuck mit der Gesellschaft. Wir haben gar keine Zeit und auch kein Interesse, auf Bälle, Empfänge oder auf die Jagd zu gehen.« »Und was ist mit deinem Vater?« »Zum Henker mit meinem Vater!« Nick warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Hölle und Teufel, noch eine Woche, und du wirst genauso reden wie ich.« Er wurde ernst. »Wir müssen mit deinem Vater sprechen.« »Keine Sorge. Sobald er meine tiefe Verkommenheit und
Unmoral erkennt, schleift er den Erzbischof von Canterbury eigenhändig aus de m Bett, damit er uns traut. Nur um den äußeren Schein zu wahren.« Sie blickte ihm tief in die Augen und verlor sich fast in dem Funkeln aus Indigo und Blau. »Bist du sicher, in eine Familie einheiraten zu wollen, die nur aus seichten langweiligen Dummköpfen besteht?« Nick legte ihr den Umhang über die Schultern und murmelte: »Ich will dich heiraten und außer Jocelin und Liza brauchen wir keine Familie.« Georgina bückte sich und hob einen Umschlag auf. »Was ist das?« Nick nahm ihr das Papier aus der Hand. »J ocelins Vorstellung von Diplomatie. Es wird dich freuen, dass er unserer Hochzeit günstig gesonnen ist.« »Ach, dir hat er also auch geschrieben«, sagte Geor gina. »Ich vermute, dahinter steckt Liza.« »Das sieht Liza ähnlich, einen Brief zu schreiben und das Problem direkt anzusprechen«, bemerkte Nick. »Und Jocelin sieht es ähnlich, den Brief so diplomatisch abzufassen.« Nick rieb sich die Arme, als würde ihn frösteln, und Georgina warf ihm ihren Umhang über die Schultern. »Nein«, sagte er. »Du wirst dich erkälten.« »Du hast mich aufgeheizt und das weißt du genau.« Unvermittelt setzte er sich auf die oberste Stufe der Treppe, die ins Badebecken hinabführte. »Ich bin ein klein bisschen müde.« Georgina eilte zu ihm und untersuchte die Schnitte und Beulen an seinem Kopf. »Du hättest nicht mit meinem Vater kämpfen sollen. Sieh dir nur deinen armen Kopf an. Die Wunden müssen furchtbar wehtun.« »Du hast mich die Schmerzen vergessen lassen.« »Wir sollten zum Haus zurückkehren.« »Gleich«, sagte Nick. »Aber vorher will ich wissen, ob du dir über mich im Klaren bist, George. Du musst mich als den sehen, der ich bin.« »Das tue ich.« »Nein, das tust du nicht. Starr mich nicht an wie eine
läufige Katze, die einen Kater sucht. Mein Leben war die Hölle, George, und ich hab bis zu den Ohren in den schlimmsten Schwierigkeiten gesteckt.« Georgina nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und unterbrach ihn durch einen sanften Kuss. »Das weiß ich bereits. Von Jocelin. Er hat mir alles erzählt, was du mir verschwiegen hast.« »Und… und es macht dir nichts aus?« »Nicholas Ross, ich habe dir bereits gesagt, dass ich keine dummen Fragen mehr beantworte. Aber es gibt etwas, das du mir sagen kannst. Würdest du meinen Plan unterstützen, ein Heim für notleidende Kinder zu gründen?« »Ich war selbst eins von ihnen.« Er nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich könnte dir ein Haus zur Verfügung stellen.« »Das würdest du tun?« Er küsste die Innenfläche ihrer Hand. »Hmm, ja. Jos meint, das Haus wäre so riesig wie dieser russische Palast mit den vielen Gemälden.« »Die Eremitage?«, fragte Georgina matt. »Genau. Ich benutze das Schloss kaum. Es ist zu groß und ich bin nicht oft genug auf dem Land.« Plötzlich misstrauisch geworden, entzog sie ihm die Hand und ergriff ihrerseits die seine. »Wie viele Schlösser besitzt du eigentlich?« »Nun, sieben, vielleicht mittlerweile auch acht. Ich muss meinen Vermögensverwalter in London fragen. Eine Zeit lang habe ich die Häuser gesammelt. Es gibt ‘ne Menge feine Pinkel, die keinen Funken Geschäftssinn haben und jede Menge Bargeld brauchen. Ich hatte das Geld.« »Und du kannst deine Eremitage entbehren?«, fragte sie, noch immer wie vom Blitz getroffen. Er fuhr mit den Fingern ihre Schultern entlang und nickte abwesend. »Ich glaube, ich bin zu schwach, um sofort zum Haus zurückzukehren.« Georgina berührte seine Wange. »Du bist heiß. Hast du plötzlich Fieber bekommen?« Er legte den Kopf an ihre Brust. »Ja.« Sie schlang die Arme um ihn.
»Ich wusste, wir hätten nicht ins Badebecken gehen sollen. Ich hätte dich zum Haus bringen müssen.« Sie spürte, wie er sein Gesicht an ihre Brüste presste. Eine heiße Zunge tauchte zwischen die Wölbungen. Mit einem Aufschrei hob sie den Kopf und sah ihn an. In seinen Augenwinkeln hatten sich amüsierte Fältchen gebildet. »Du hinterhältiger Schuft.« Er legte den Handrücken an die Stirn. »Ich fühle mich so schwach.« Wieder sank sein Kopf an ihre Brust und er begann, an ihr zu knabbern. Kreischend schob sie ihn zurück. Er erlaubte ihr, seine Haltung zu ändern, stemmte die Ellenbogen auf eine Stufe und grinste. »Die alten Ägypter hatten mehrere Frauen, wie ich gehört habe.« »Nur ein paar Adelige und der König«, sagte Geor gina. Sie stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie und kam neben ihr auf die Füße, das hintergründige Lächeln noch immer im Gesicht. »Aber ich an deiner Stelle würde mir das gut überlegen.« »Warum?«, fragte er, als sie nach oben gingen. Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Weil sich oft ein paar dieser Frauen zusammentaten, um den Ehemann zu beseitigen, damit sie und ihre Söhne seine Reichtümer erbten.« »Hölle und Teufel, verflucht.« Georgina hakte sich bei ihm ein und lächelte in die belustigt blitzenden indigoblauen Augen. »Übrigens, glaubst du, deine Eremitage wäre groß genug, um auch e in paar meiner Altertümer aufzunehmen?« »Du meinst, diese Mumien, nackten Statuen und den ganzen Spuk? Donner und Blitz! Ich will nicht, dass bei mir zu Hause Geister herumschleichen.« »Komm schon, Nick.« »Nein.« Sie blieb stehen, legte ihm die Hände auf die Brust und stellte sich auf Zehenspitzen. Dann hauchte sie sanft in sein Ohr. »Nick.« Sie dehnte das Wort zu einem langen Seufzer. »Nick, Liebster. Nick, Süßer.«
»Also gut, vielleicht ein paar Statuen.« »Nick. Nick, Nicholas.« Er fluchte und hob sie hoch. »Verdammt, George. Du kannst in das Schloss stellen, was immer du willst.« Sie schlang die Arme um ihn und erlaubte ihm, sie aus dem Tempel zu tragen. »Tausend Dank, mein von Herzen Geliebter.« »Ich glaube, jetzt bin ich in Schwierigkeiten, George… wirklich in ernsten Schwierigkeiten.«
Über die Autorin Suzanne Robinson hat in Anthropologie mit dem Schwerpunkt antike Archäologie des Nahen und Mittleren Ostens promoviert. Heute gilt ihr Interesse der Erschaffung der faszinierenden Figuren ihrer unvergesslichen historischen Romane. Die Autorin lebt mit ihrem Ehemann und zwei englischen Springer-Spanieln in San Antonio. Sie verfasst sowohl historische Liebes- als auch Kriminalromane, die sie unter ihrem Vornamen Lynda veröffentlicht.