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Endlich gelangen Alex und Cam auf die geheimnisvolle Insel Coventry Island, dem mystischen Ort ihrer Geburt. Aber is...
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Endlich gelangen Alex und Cam auf die geheimnisvolle Insel Coventry Island, dem mystischen Ort ihrer Geburt. Aber ist dies wirklich ihre Heimat? Eine Gruppe gleichaltriger Hexen und Zauberer stellt ihnen nach und immer wieder werden sie in lebensgefährliche Situationen verwickelt. Und auch ihre Mutter Miranda scheint Geheimnisse vor ihnen zu haben.
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H. B. Gilmour & Randi Reisfeld
Band 7
Geister der Vergangenheit
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karlheinz Dürr
Ravensburger Buchverlag Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Thomas Schluck GmbH, Garbsen. Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. 1 2 3 06 05 04 © 2004 der deutschen Ausgabe Ravensburger Buchverlag Otto Maier GmbH Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »T'Witches - Kindred Spirits« bei Scholastic Inc. New York © 2003 by H. B. Gilmour und Randi Reisfeld Umschlagillustration - Scholastic Inc. Lektorat - Eva Issing Printed in Germany ISBN 3-473-34944-5
www.ravensburger.de
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KAPITEL 1 REISE NACH COVENTRY
Karsh war tot - der alte Hexer, der die Hexengirls ihr ganzes Leben lang begleitet und beschützt hatte. Und Ileana, die schöne Hexe, ihr Vormund, hatte sich von Trauer überwältigen lassen und ihre magischen Kräfte verloren. Miranda, ihre leibliche Mutter, die sie erst vor wenigen Wochen kennen gelernt hatten, war praktisch von ihrem Onkel abhängig, den sie für gemeingefährlich hielten und dem sie nie im Leben vertrauen würden. Keine Frage - die Hexengirls hatten niemanden mehr, auf den sie sich verlassen konnten. Nur noch sich selbst. Und jetzt ließen sie alles hinter sich zurück, was ihnen lieb und vertraut erschienen war, um zu einem winzigen Eiland zu reisen, auf dem nur Hexen und Hexer lebten. Sie kannten dort kaum jemanden und auf der Insel lebten nicht wenige, die die Zwillinge lieber tot gesehen hätten. Das waren die Tatsachen, mit denen die Hexengirls konfrontiert waren - und die der fünfzehnjährigen Camryn Barnes nicht einmal jetzt aus dem Kopf gingen, als sie im Flughafen 5
Minzbonbons für sich und Kaugummi für ihre Schwester Alex kaufte. Es war früher Morgen, 5.45 Uhr. In einer Viertelstunde würden sie ihr Flugzeug nach Wisconsin besteigen, der ersten Zwischenstation auf ihrem Weg nach Coventry Island. Alex schien die Ruhe selbst. Wunschlos glücklich wartete sie am Gate, wenn man von ihrem ständigen Verlangen nach Kaugummi absah -vorzugsweise zuckerfrei. Sie blätterte in einer Musikzeitschrift, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Cam und Alex waren Zwillinge. Angeblich fast identische, eineiige Zwillinge. Das ließ sich kaum abstreiten, wenn man sie nebeneinander sah. Aber sie waren auch Hexen - Zwillingshexen gewissermaßen , und das ließ sich absolut nicht leugnen. Cam stieß einen kleinen Schrei aus, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legte. Der Duft von Aftershave waberte um ihre Nase. „Hey, bleib cool, Mann. Ich bin's doch nur." Zwei Hände drehten sie sanft herum und Cam blickte in das Gesicht von Jason Weissman, der sie mit strahlendem Lächeln ansah, absolut glücklich, sie zu sehen. „Super, dass du extra gekommen bist, um dich von mir zu verabschieden!", freute er sich. Natürlich Jasons verlängertes Wochenende mit seinen Freunden ! Flogen sie etwa heute schon ? Cam blickte sich um und sah Rick und Mike, Jasons Kumpels, an einem der Check-in-Schalter warten. Das hatte sie total vergessen. Sie schob die Sonnenbrille vor die Augen, die sie hochgeschoben hatte, um 6
ihr langes kastanienbraunes Haar zurückzuhalten, und bemühte sich krampfhaft, Jasons offenes Lächeln genauso offen zu erwidern - was ihr unter normalen Umständen auch überhaupt nicht schwer gefallen wäre. Jason war der Star des Basketballteams ihrer Schule - einen Kopf größer als Cam, schlank und sehnig, mit breiten Schultern, dichtem schwarzem Haar und dunkelbraunen Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden - so unverschämt seidig und lang, wie sie bei einem Jungen eigentlich verboten sein sollten. Alles war dunkel an diesem Siebzehnjährigen, nur sein Charakter nicht: Jason war der typische amerikanische Sonnyboy - was heute durch sein ärmelloses gelbes Tennisshirt noch betont wurde, das den Blick auf seine beachtliche Oberarmmuskulatur freigab. Aber Jason war auch eine der wenigen Personen in Cams Leben, denen sie nichts vormachen konnte. Ihr Flirten wirkte bei ihm nur bis zu einem gewissen Punkt. Cam mochte Jase. Und er hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er total auf sie abfuhr. Seit einem Jahr war ihre Freundschaft immer enger geworden. Cam gefiel der Gedanke, ihn vielleicht bald als ihren Freund zu bezeichnen. Sie wusste, dass er sich nicht mit Halbwahrheiten zufrieden geben würde. Und mit irgendwelchen lächelnd hingeworfenen Ausreden erst recht nicht. „Du siehst ein bisschen geschockt aus", bemerkte Jason. „Und das heißt wohl, du hattest es total vergessen." Offenbar konnte er in ihr lesen wie in einem offenen Buch. Er seufzte und zuckte die Schultern. „Okay, ich werd's überleben. Aber was machst du dann hier am Flughafen ? Was ist eigentlich los, 7
Cam ? Du siehst aus, als ob du gleich zu weinen anfangen wolltest. Oder davonlaufen ..." Cam musste feststellen, dass der Trick mit der Sonnenbrille nicht funktioniert hatte. Sie starrte ihn durch die dunklen Gläser an, während sie krampfhaft nach einer guten Ausrede suchte - nach einer halbwegs anständigen Ausrede, die keinen bleibenden Schaden anrichtete. Ich fliege auf eine Insel, um mich von einem meiner ältesten freunde zu verabschieden, hätte sie sagen können. Von einem alten Hexer, der versucht hatte, mir und Alex das Leben zu retten, und dabei selbst ums Leben gekommen ist. Umgebracht v°n zwei Psychotypen, die zufällig sogar unsere Cousins sind. Oder wie wär's damit: Ups, Jase - ich hab's total verschwitzt. Wollte es dir eigentlich schon immer mal sagen und hoffe, dass wir trotzdem gute Freunde bleiben, aber, äh, verstehst du, Alex und ich sind, na ja, Hexen. „Jetzt aber im Ernst, Cam: Steckst du wieder mal in irgendwelchen Problemen?", unterbrach Jason ihre Überlegungen. Der Junge hatte längst bemerkt, dass sie und Alex von Gefahren angezogen wurden wie Fliegen vom Licht. Schnell warf er einen Blick über die Schulter und signalisierte seinen Kumpels, dass er gleich kommen würde. „Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst, Cami. Also - was ist hier los ?" „Absolut gar nichts", gab Cam mit lahmem Lächeln zurück. Ihr Blick blieb auf dem kleinen orangefarbenen BasketballAnhänger haften, den er um den Hals trug. Den hatte sie ihm selbst gekauft, als Glücksbringer zur Liga-Meisterschaft. „Warum bist du dann so total daneben, bloß weil wir uns hier 8
zufällig über den Weg laufen? Ich hab dir doch gesagt, dass ich mit Mike und Rick übers Wochenende wegfahre ..." Jason schob beide Hände in die Hosentaschen, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm die Sache rätselhaft und nicht ganz geheuer war. „Ich bin nicht total daneben, Jase. Bei mir ist alles okay, ich hab nur ... Momentan geht mir ziemlich viel durch den Kopf." Es sollte eher beiläufig klingen, stattdessen klang es recht gestresst. „Ich weiß genau, wann du lügst und wann nicht, und die Sonnenbrille hilft dir wenig. Komm schon, Barnes, erzähl es mir. Ich kenne dich zu gut." Das tust du eben nicht, wäre ihr beinahe entfahren. Du kennst nur eine Seite von mir. Die andere kennst du nicht und ich kann sie dir auch nicht erklären. Und wenn ich es versuchen würde? Dann würdest du wahrscheinlich kein Wort davon glauben. „Cami", versuchte es Jason noch einmal mit Engelsgeduld und legte ihr die Hand auf die Schulter. Zu seiner totalen Verblüffung wich sie ihm aus. „Was ...? Verdammt, es tut mir Leid. Aber jetzt mach ich mir wirklich Sorgen." Ein gezwungenes Grinsen erschien auf seinem Gesicht, ein Versuch, die Stimmung zwischen ihnen zu entspannen. „Okay, okay. Du bist gar nicht hier, um dich von mir zu verabschieden. Du freust dich nicht mal, mich zu sehen. Warum bist du überhaupt hier am Flughafen ? Wo fliegst du hin ? Oder täusch ich mich und du bist eigentlich gar nicht da?" Cam wagte nicht ihn anzusehen. Sie murmelte leise: „Ach, äh, irgendwo in den mittleren Westen."
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„Mittlerer Westen? Der ist ungefähr so groß wie halb Europa. In welchen Staat fliegst du denn ?" In einen Staat namens Verwirrung, hätte sie beinahe gesagt. Er starrte sie immer noch an, halb verunsichert und halb wütend, einen drängenden, fragenden Blick in den intelligenten braunen Augen, aber sein Lächeln hatte er eine Stufe heruntergefahren. An der linken Schläfe pochte eine Ader, vielleicht ein Zeichen dafür, wie verstört er war. Sie räusperte sich. „Wir ... wir haben in letzter Minute gebucht, verstehst du ..." Wenigstens das stimmte. Cam ließ den Blick durch die Terminalhalle schweifen, als stünde der Rest ihres Satzes dort irgendwo geschrieben. „Eine Familienangelegenheit." »Dann sind deine Eltern auch hier?", fragte Jason verwundert und blickte sich um. »Nein, sie sind ... äh, sie kommen später nach, vielleicht." Aber natürlich war das nicht der Fall. David und Emily Barnes würden nicht nachkommen, und sie waren die einzigen Eltern, die Jason kannte. Emily, Cams Adoptivmutter, glaubte, dass sich Alex und Cam auf einem kurzfristig arrangierten Wochenendtrip nach Washington DC., befanden. Und sie hatte es David überlassen, die inverständniserklärung für die Flugbuchung der Zwillinge zu unterschreiben. David hatte die Zwillinge auch zum Flughafen gefahren. Er wusste, wohin sie flogen und warum. Er hatte Karsh, den alten Hexer, gekannt und gemocht, denn er war ihm auf eine ziemlich außergewöhnliche Art vor fünfzehn Jahren begegnet. 10
Karsh hatte ihn damals genau ausgefragt - über seinen Beruf, seine Frau, ihren bis dahin unerfüllten Kinderwunsch. Und am nächsten Tag hatte ihm Karsh ein Baby gebracht, ein winziges Mädchen, das David und Emily adoptiert und aufgezogen hatten. Und das sie Camryn getauft hatten. Nein, David, der die Wahrheit kannte, und Emily, die keine Ahnung hatte, würden nicht mit nach Coventry fliegen. Trotzdem war es eine Familienangelegenheit, denn Cam und Alex hatten auch auf Coventry Island Verwandte - die Frau, die sie geboren hatte, den geliebten alten Mann, der sie beschützt hatte. Die eine wartete darauf, ihre Töchter endlich richtig kennen zu lernen, der andere wartete auf seine Beerdigung.
Alex Fielding hatte nur die letzten Minuten von Cams peinlicher Begegnung mit Jason mitbekommen. Jetzt beobachtete sie ihre Schwester, die sich unter Jasons forschendem Blick förmlich zu winden schien - die Schwester, von deren Existenz sie vor einem Jahr noch keinen blassen Schimmer gehabt hatte. Und dennoch kam es ihr so vor, als kannte sie sie schon ihr ganzes Leben lang. Ähnlich vertraut war ihr Karsh gewesen - denn auch für Alex hatte Karsh eine Adoptivmutter gesucht und gefunden: Sara Fielding, eine liebevolle und fürsorgliche Frau, die in einem alten, verkommenen Wohnwagen in einem winzigen Dorf in Montana lebte und mit einem trunksüchtigen Nichtsnutz verheiratet war. Vor einem Jahr war Sara gestorben und Karsh hatte Alex quer durch das Land nach Marble Bay gebracht einer kleinen, vornehmen Gemeinde in Massachusetts an der 11
Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika - und hatte sie einfach vor der Tür des Hauses abgesetzt, in dem ihre Zwillingsschwester Cam (die sie zu diesem Zeitpunkt kaum kannte) mit ihren Adoptiveltern lebte. Alex' Magen verkrampfte sich, als ob sie und nicht ihre Zwillingsschwester sich den bohrenden Fragen des besorgten Jason stellen müsste, ausgerechnet in diesem unangenehmen Augenblick. Sie wünschte, sie könnte Cam helfen, ihr telepathisch irgendeine plausible Ausrede senden, die Jason schlucken würde. Aber nichts fiel ihr ein. Alex' Stärke waren schlagfertige und ziemlich bissige Bemerkungen, und nicht mal die kamen ihr jetzt in den Sinn. Jason tat ihr Leid. Der Junge stand total auf Cam, tappte jetzt völlig im Dunkeln und machte mit seinen Fragen alles nur noch schlimmer. Alex hätte ihm am liebsten zugeflüstert, den geordneten Rückzug anzutreten und Cam in Ruhe zu lassen. Eigentlich hatte sie gar nicht hören wollen, was zwischen ihrer Schwester und deren Freund abging. Sie hatte sogar ernsthaft versucht, ihre Zeitschrift zu lesen, aber die Wartesessel waren einfach zu unbequem - ihre Hand wurde immer wieder magisch zu ihrem Medaillon gezogen, einem aus Silber gehämmerten Halbmond, der an einer goldenen Kette um ihren Hals hing, und ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, schweiften zu Karsh, der ihr das Medaillon gegeben und ihr so viel beigebracht hatte. Und der das jetzt nie wieder tun würde. Gegen ihren Willen drängte sich die furchtbare Szene im Wald v°n Salem in Alex' Gedanken. Sie hörte noch immer das grauenhafte Geräusch, als der faustgroße Stein Karshs Kopf traf, Und sah, wie der alte Mann zu Boden stürzte. 12
Maßlose Wut senkte sich wie ein Vorhang vor Alex' Blick, eine rasende Wut auf seine Mörder, ihre eigenen Cousins Tsuris und Vey, die fast genauso verrückt waren wie ihr irrer Vater. Sie sah, wie die Brüder aus dem Unterholz auf die Lichtung brachen, sich auf Ileana stürzen wollten, die sie in ihrer Unwissenheit und Idiotie für alles verantwortlich machten, sah sich und Cam mit ihnen kämpfen, sah, wie sich Karsh dazwischen warf. Und wie die Brüder, rasend vor Wut, den alten Hexer erschlagen hatten. Doch der alte Hexer hatte gewusst, was ihm bevorstand. Er hatte es immer als seine Pflicht angesehen, die Zwillinge und sein Mündel Ileana zu beschützen. Er hatte die Gefahr geahnt, die ihm in diesem Wald drohte, hatte gewusst, dass er zwar auch dieses Mal Cam und Alex beschützen konnte, aber nur um den Preis seines eigenen Lebens. Und so hatten Tsuris und Vey die letzten Reste ihres kümmerlichen Verstands verloren und den alten Hexer umgebracht. Ileana hatte den Zwillingen später erzählt, wie umsichtig sich Karsh auf diese letzte Aufgabe vorbereitet hatte. Der Mord an Karsh war der Anstoß für diese grauenhafte Reise, die sie jetzt vor sich hatten, der Grund, dass sie und Cam nach Coventry Island fliegen mussten, um Karshs Beerdigung beizuwohnen. Ihr Flug wurde aufgerufen. Alex öffnete die Augen, erleichtert, den furchtbaren Erinnerungen zu entkommen. Ihr Blick schweifte zu Jason hinüber. An jenem Schicksalstag hatte er sie zum Wald von Salem gefahren und sie Stunden später wieder nach Hause gebracht zwei völlig verängstigte und verzweifelte Mädchen mit Kratzwunden und Blutergüssen im Gesicht. Zwei Mädchen, 13
die auf keine seiner Fragen eine plausible Antwort gegeben hatten. Was mochte er sich gedacht haben? Was dachte er jetzt? Kein Wunder, dass er sich um Cam Sorgen machte. Jason war nicht nur nett, sondern auch ziemlich clever, ein rundum prima Kumpel - wenn man auf hoch gewachsenen, athletischen Prachtburschen stand, die immer in Designerklamotten herumliefen. Alex' Typ war er nicht. Auf Jasons T-Shirt stand gewissermaßen ständig in riesigen Blockbuchstaben zu lesen: Präsident des Camryn-Barnes-Fanclubs. Im Augenblick jedenfalls bemühte er sich verzweifelt, sich zu beherrschen; er hatte die Fäuste in die Taschen seiner Cargohose gerammt und redete ruhig auf Cam ein. Aber im Innern war er kurz vor dem Ausrasten. Alex hörte Jasons rasenden Herzschlag. Als Hexe hatte sie nicht nur ein hypersensibles Gehör, sondern konnte auch die Gedanken anderer Menschen hören. Jason wusste zwar, dass ihm Cam etwas verschwieg, aber er ahnte auch, dass sie es ihm verschweigen musste. Nervös und unsicher starrte er sie an. Sein Verstand suchte fieberhaft nach einer Erklärung, was eigentlich los war - und plötzlich kam er auf die idiotische Idee, dass Cam mit ihm Schluss machen wollte. Mann, das hat doch nichts mit dir zu tun.', wollte Alex ihm zurufen. Ihre Schwester war völlig aufgelöst und ihre Gefühle für Jason gingen längst über das hinaus, was sie für eine gut aussehende Schaufensterpuppe empfinden würde. Nein, Alex wusste, dass Jason Cam unter die Haut ging. Aber im Moment gab es absolut gar nichts, was er für sie tun konnte. Aber das hieß natürlich nicht, dass sich Jason keine Sorgen machen 14
würde. Schließlich hatte er keine Ahnung, was in Cam vorging. Alex hörte ihn sagen: „Das ist irgendeine große Sache, stimmt's? Ich kann's in deinen Augen lesen!" Cams Augen! Genau. Cams außergewöhnliche, in die Zukunft blickende Hexenaugen, kleine Flammenwerfer, mit denen sie Dinge abfackeln und Menschen ziemlich ins Schwitzen bringen konnte. Diese wunderbaren grauen Augen, die Dinge sahen, die nicht einmal ihr eineiiger Zwilling sehen konnte. Aber gerade jetzt herrschte wohl Bodennebel. Jedenfalls hatte das Mädchen mit den Superaugen im Moment absolut null Durchblick. Wohl auch was Jasons Gefühle für sie betraf. Soll ich ihr eine Denkmail schicken ?, fragte sich Alex. Würde das die Sache verbessern oder verschlimmern ? Verschlimmern!, kam sofort Cams Antwort. Noch eine Denkmail aus deiner Richtung, und ich raste aus! Mein Kopf explodiert gleich! Auch Cam hatte gehört, dass ihr Flug aufgerufen worden war. Boston nach Green Bay, einsteigebereit. Und das war wohl eine Nachricht zu viel. Cam hielt ihr Versprechen. Sie rastete aus. Mitten in der Abflughalle, zwischen den Gates 20 und 21A, brach sie plötzlich in heftiges Schluchzen aus. Alex sprang auf und raste hinüber, und bevor der fassungslos dastehende Jason auch nur reagieren konnte, legte sie ihrer Schwester den Arm um die Schultern. Sie brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorstellen zu können, dass Jason sich die Schuld an Cams Tränen gab. „Hey, Jasi", sagte sie leise, „alles okay mit Cam. Das alles ist nur ein bisschen zu viel für sie." 15
Auf seinem Gesicht las sie eine Mischung aus totaler Verwirrung, Angst und Panik. Sie zuckte mit den Schultern. „Zu viel für uns beide. Wir müssen nämlich zu einer Beerdigung."
Gut möglich, dass Jasons Verwirrung nach dieser letzten Bemerkung noch größer wurde, dachte sie, als sie Cam zum Gate führte. Aber jedenfalls hatte er keine weiteren Anstalten gemacht, mehr zu erfahren. Außerdem war es wenigstens nicht gelogen. Bevor sie den Zugang zum Flugzeug betrat, blickte Alex noch einmal zurück, um den verwirrten Jungen mit einem Winken aufzumuntern. Aber er war schon verschwunden. Am übernächsten Gate standen Rick und Mike, die verblüfft in eine andere Richtung starrten. Alex folgte ihren Blicken - und sah Jason, der gerade auf den Ticketschalter zuraste.
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KAPITEL 2
HEIMKEHR
Grün. Wunderbar lebhaftes, sanftes, frisches Grün. Ihre düstere Stimmung hob sich allmählich und sie spürte neue Kraft und Energie. Hier war sie geboren, hier hatte ihre Familie gelebt. Sie gehörte hierher, sie spürte es: Alex Fielding alias Artemis von Coventry Island. Liebe auf den ersten Blick. So schnell, so einfach. Genauso schnell und so einfach wie Cams Reaktion, als sie die Insel sah. Nur genau das Gegenteil. Fremd. Einsam und abgeschieden, mit dunklen, düsteren Bäumen bewachsen, umsäumt von steilen Felsenklippen, offenbar völlig menschenleer, nur von ein paar Möwen und Muscheln bewohnt. Camryn Barnes betrat ihre Geburtsinsel und fühlte sich so fehl am Platz, als betrete sie den Mars. Völlig unerwartet wurde sie von Dankbarkeit überwältigt Dankbarkeit dafür, dass sie und Alex von dieser Insel weggebracht worden waren und irgendwo auf dem Festland getrennt voneinander aufgewachsen waren. Dieser Ort hier, diese Insel, bot Hexen und Hexern eine sichere Heimat, aber den Zwillingen schon damals keine Sicherheit. Und auch jetzt konnten sie sich hier nicht sicher fühlen. Cam sehnte sich danach, an lrgendeinem anderen Ort der Welt zu sein. Sogar 17
die Sahara wäre ihr im Augenblick lieber gewesen als diese Insel. Coventry war nur schwer zu erreichen. Man konnte nur mit einer Fähre auf die Insel gelangen, aber vom Festland wagte sich kaum jemand hierher. Es war fast unmöglich zu sehen, was hinter dem Wald lag, der dicht an das Ufer reichte, und niemand erwartete, dass sich hinter dem Wald irgendetwas Interessantes verbarg. Es war schließlich nur eine von vielen kleinen Inseln, die vor der Küste Wisconsins im See lagen. Und sie schien unbewohnbar. Und genau so sollte es auch bleiben, wenn es nach den Bewohnern der Insel ging. Die Inselbevölkerung von Coventry war glücklich und zufrieden, solange niemand wusste, dass hier eine blühende, geschäftige und vielfältige Gemeinschaft lebte. Eine langlebige, gebildete, friedliche Gemeinschaft, die stolz auf ihre Unabhängigkeit war. Tatsächlich war die Insel schon viel länger bewohnt als die Orte, die auf dem nahen Festland gegründet worden waren. Auf dem Festland gab es nur einen einzigen Mann, einen alten Fischer namens Burton „Bump" Rogers, der wusste, wie man zur Insel gelangen konnte. Er betrieb eine Fähre zu den nahe gelegenen Inseln und war auch bereit, bei Bedarf Coventry anzulaufen. Trotzdem zog er immer eine große Show ab, wenn jemand verlangte, nach Coventry übergesetzt zu werden. „Zu welcher Insel?" hatte Bump denn auch Cam und Alex mit ungläubigem Lachen gefragt. „Ihr Mädchen habt wohl 'ne Schraube locker? Habt ihr euch das auch gut überlegt? Kein Strom, kein 18
Telefon, kein Fernsehen. Nich' mal Autos dürfen dort fahren. Falls da Leute leben, reiten sie wahrscheinlich aufm Besenstiel durch die Gegend." Seine Augen wurden schmal und warnend. „Man sagt, dass manche Leute nie zurückgekommen sind ..." Dann hatte er Alex anzüglich angegrinst, ihren rabenschwarz gefärbten Bürstenhaarschnitt mit den rosaroten Haarspitzen und ihre uralte, ausgefranste Jeansjacke betrachtet, ,,'türlich gibt's immer welche, die dorthin gehören - Hexen, Hexer und so. Du siehst ja auch aus wie eine von denen. Willst wohl deinen Hexenmeister besuchen, was?" Er hatte sich über den schlechten Scherz halb totgelacht. Alex hatte ihn mit ihren ungewöhnlichen grauen Augen halb warnend, halb drohend angeblickt. „Seien Sie vorsichtig. Ich kann ziemlich gut hexen und alte Männer verhexe ich besonders gern." Bump hatte darauf geschwiegen, und als er sie später auf der Insel abgesetzt hatte, hatte er es plötzlich sehr eilig, wendete die Fähre und tuckerte jetzt über den See davon. Die Zwillinge standen allein am Ufer und blickten sich um. „Wir sind nur auf Besuch hier", erinnerte Cam ihre Schwester. „Keine Angst, Apolla. Niemand zwingt dich, hier zu leben." Cam und Alex fuhren erschrocken herum. Die Stimme schien aus dem Wald zu kommen. Sie kam ihnen bekannt vor, aber es fehlte ihr etwas - normalerweise klang sie nämlich ziemlich schnippisch. »Ileana?", rief Cam ängstlich. „Bist du das?" „Wen hast du denn erwartet? Britney? Madonna? Die heilige Hexe von
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Hollywood?" Die Frage war sarkastisch gemeint gewesen, klang aber einfach nur lahm. Cam seufzte erleichtert auf und lief schnell zum Waldrand hinüber, froh, dass Ileana da war, wenigstens eine Person auf dieser Insel, die ihr vertraut und bekannt war. Am Tag ihrer Geburt war Aron, der Vater der Zwillinge, ermordet worden.Ihre Mutter Miranda hatte rasend vor Schmerz den Verstand verloren und war verschwunden. Ileana, damals selbst noch ein Teenager, war zum Vormund der Zwillinge bestimmt worden - jedenfalls was die Welt der Hexen betraf. All die Jahre hatte sie sich nach besten Kräften bemüht, die beiden Mädchen vor allen zu schützen, die ihnen Böses antun wollten, vor allem vor dem mächtigen Hexer Lord Thantos DuBaer, ihrem Onkel, von dem man bis vor kurzem geglaubt hatte, dass er seinen eigenen Bruder Aron ermordet habe. Alex lächelte, als sie Ileanas Stimme hörte. Aber ihr Lächeln wurde starr wie eine Maske, als sie sie erblickte. Cam zog hörbar die Luft ein. War das Hexenwerk? Sahen sie Ileana durch einen Zerrspiegel wie auf einem Jahrmarkt ? Es war doch unmöglich, dass diese magere, zerlumpte Gestalt dieselbe unbeherrschte, hochmütige, wunderschöne und über alle Maßen eitle Hexe war, die man zu ihrem Vormund bestimmt hatte! Die Frau, die früher immer in den allerneuesten Designerklamotten und am Arm eines berühmten Filmstars durch die Welt gejettet war, gab es nicht mehr. Hier vor ihnen stand ein armseliger, trauriger Abklatsch - eine gebrechliche, magere Frau mit mattem, fettigem und ungepflegtem Haar und dumpfem Blick. Doch am traurigsten und schockierendsten schien den Zwillingen das 20
mitternachtsblaue Cape zu sein, das Ileana früher immer mit unnachahmlicher Eleganz getragen hatte und das ihr jetzt fleckig und ungewaschen von den Schultern hing. Alex war nicht sicher, was für Flecken es waren, aber Cam traf es wie der Schlag: Blut. Ilena hatte das Cape getragen, als Karsh starb. Hatte sie es seither nicht mehr abgelegt? Sie sieht so ... hilflos aus, denkmailte Alex ihrer Schwester. „Hilflos? Ich sehe hilflos aus?" Normalerweise hätte diese Bemerkung genügt, um einen Wutanfall bei Ileana auszulösen, vielleicht hätte sie die Zwillinge sogar vor Wut in irgendwelche kriecherischen zweiköpfigen Kreaturen verwandelt. Jetzt brachte sie nur ein müdes Schulterzucken zu Stande. „Wenn ich so hilflos bin, wie ich angeblich aussehe, braucht ihr mich ja nicht mehr. Ich zeige euch eure Unterkunft, dann verschwinde ich wieder." „Tut uns Leid, wir wollten nicht ... wir haben es nicht so gemeint ..." entschuldigte sich Cam. „Eine Beleidigung reicht, ihr braucht mich nicht auch noch anzulügen", gab Ileana müde zurück. „Folgt mir und haltet den Mund." Sie folgten ihr einen Waldweg entlang. Alex, die ihre uralte Leinen-Reisetasche über die Schulter geworfen hatte, hielt mühelos Schritt, zumal Ileana einen eigenartig langsamen Gang hatte. Aber Cams Reisekoffer war mit seinen kleinen Rädern für diesen Pfad völlig ungeeignet. Er holperte über Felsen und Wurzeln und kippte bei jedem zweiten Schritt um, sodass sie Mühe hatte, den Anschluss nicht zu verlieren. Nicht einmal der schockierende Anblick, den Ileana bot, 21
konnte Alex davon abhalten, die betörenden Düfte des Inselwalds zu genießen. Sie spürte sofort, dass sie von neuer Energie durchflutet wurde, fast überwältigt von den Eindrücken, die auf sie einströmten. Der mit Piniennadeln gespickte Sand wich einem mit dichtem Laub bedeckten Waldboden, als sie tiefer in den Wald eindrangen. Zwischen den vielen Varianten von Grün blühten rosafarbene Azaleen, schimmerte die weiße Rinde der Birken und leuchteten Kirschblüten von den Bäumen. Es gab weiße und dunkelrosa Lilien und goldene Forsythien. Von Staunen überwältigt blickte Alex um sich. Sie kannte jeden Duft und lang vergessene Erinnerungen wurden plötzlich wieder wach. Das war ihr Land - ihre sanfte, tröstende Heimat. Die Eindrücke, die Alex begierig in sich aufsog, wirkten auf Cam abstoßend, ohne dass sie es wollte. Keinen Augenblick blieb sie stehen, um den Duft der Rosen einzuatmen oder sich umzuschauen. Die einzige Person, die ihr hier in dieser fremden Welt Sicherheit und Zuversicht hätte bieten können, hatte sich so verändert, dass sie kaum noch wiederzuerkennen war, eine Person, die ihre eigene Hilflosigkeit offen zugab und Cam damit erst recht in Panik versetzte. Deshalb plapperte sie unaufhörlich daher, nur um die eigene Stimme zu hören und um ganz sicher zu sein, dass wenigstens sie selbst dieselbe geblieben war, die immer optimistische, stets energiegeladene Person aus Marble Bay - wo sie im Moment sowieso zehntausendmal lieber gewesen wäre als hier! „Wohin gehen wir eigentlich? Wo übernachten wir? Gibt's hier ein Hotel oder so was? Vielleicht ein Landhotel? Ich brauche 22
unbedingt eine heiße Dusche. Ich meine, es gibt doch wenigstens fließendes Wasser, oder?" Ileana beachtete sie nicht. Cam machte weiter. „Funktionieren Handys hier eigentlich?" Sie musste unbedingt und sofort zu Hause anrufen, musste dringend ihrer besten Freundin Beth und den anderen von ihrer Clique eine SMS schicken, die genauso wenig von diesem Teil ihres Lebens ahnten wie Jason und keine Ahnung hatten, dass sie verreist war. Alex fragte per Denkmail: Was quatscht du jetzt wieder daher? Wir sind hier nicht in den Pfingstferien, du Disko-Tussi! Hotel ? Dusche? Handy? Freundinnen? Hast du sonst noch Wünsche? Vielleicht eine Fete mit Wahl der Disko-Queen ? Laut sagte sie: „Übernachten wir bei unserer ... bei Miranda? Wie geht es ihr überhaupt?" „Frage eins: nein. Frage zwei: schlecht", antwortete Ileana, ohne sich umzudrehen. „Sie vertraut Thantos immer noch. Sie wohnt sogar bei ihm auf Crailmore." „Crailmore?" wiederholte Alex. „Was ist das? Die CoventryVersion einer Klapsmühle ?" Sofort bereute sie die Frage. Ihre Mutter, die so lange vermisst gewesen war, hatte all die Jahre in einer Art Klinik in Kalifornien gelebt. Ileana wirbelte plötzlich herum. Ein Funke ihres früheren unbeherrschten Hochmuts kam zum Vorschein. „Ihr wisst gar nichts! Crailmore ist der Sitz des DuBaer-Clans. Gehört seit Generationen der Familie!" „Können wir dort hingehen und mit Miranda sprechen?" fragte Cam nervös. Sie war nicht sicher, ob sie das überhaupt wollte. 23
„Ihr seid hier keine Gefangenen, ihr könnt gehen, wohin ihr wollt. Ihr werdet mit Sicherheit nach Crailmore eingeladen. Thantos weiß, dass ihr auf der Insel seid." „Und dieses Crailmore - haben dort auch unsere Eltern gewohnt ? Wurden wir dort geboren ?" „Aber wir sind doch bestimmt in einer privaten Geburtsklinik zur Welt gekommen ...?", begann Cam, aber als sie ihren Blick durch den menschenleeren Wald um sich herum schweifen ließ, fügte sie lahm hinzu: „Oder vielleicht doch nicht." Ileana seufzte müde. „Ihr hattet nur fünf Fragen. Die habt ihr jetzt aufgebraucht." Aber ein paar Minuten später gab sie doch wieder nach, vielleicht nur, um Cam endlich zum Schweigen zu bringen, die wieder vor sich hin plapperte. „Als Aron und Miranda verheiratet waren, bauten sie sich ein eigenes Haus und nannten es LunaSoleil", erklärte Ileana. »Mond und Sonne. Dort wurdet ihr geboren." „Und dort können wir uns in die Koje hauen ?", fragte Alex. »Die Höchstzahl der Fragen ist längst überschritten", gab Ileana zurück. „Außerdem sind wir jetzt da." Sie waren plötzlich zu einer Lichtung gekommen, auf der ein kleines Steincottage stand. Sie wussten sofort, dass dies Ileanas Haus sein musste. Doch dieses Häuschen war weder vornehm noch elegant noch modern. Wer einen Palast mit der Aufschrift »Hier residiert eine Göttin" erwartet hatte, wurde bitter enttäuscht.
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Ausgenommen der Kräutergarten! Um das Haus herum breitete sich ein farbenprächtiges, duftendes, hoch im Wind wogendes Blütenmeer aus, das genauso erstaunlich war wie das seltsame Hexenhäuschen. Alex war am Gartentor stehen geblieben und blickte überwältigt auf den Garten. „Das ist echt super. Haben alle hier auf Coventry solche Gärten? In denen die Sachen wachsen, die man ... äh, braucht, um ... äh, gewisse Sachen zu machen ?" „Gewisse Sachen?" Ileana schüttelte verächtlich den Kopf. „Klar, deshalb pflanzen wir ja all die Kräuter an. Um gewisse Sachen zu machen." Alex war zerknirscht und Cam kam ihr zu Hilfe. „Ich kenne ein paar von den Kräutern", warf sie ein. „Lavendel ... Rosmarin. Das dort drüben ist Myrte." Sie deutete auf eine Pflanze mit spärlichen Blättern. „Ist das dort nicht das Kraut, das Karsh Helmkraut genannt hat? Davon wird man müde, stimmt's? Und hier haben wir ja auch Beifuß, den man für den Zauberspruch ,Der Reisende' braucht." Ileanas düstere Stimmung hellte sich ein wenig auf. Karsh wäre ja so stolz auf die beiden! Sie konnte es gar nicht erwarten, ihm zu erzählen ... Doch dann erinnerte sie sich und ihre Miene wurde wieder düster. Scharf zischte sie: „Biologiestunde ist vorbei. Hier sind die Schlüssel." „Bleibst du nicht bei uns?", fragte Cam, die sofort wieder nervös wurde. 25
Jetzt nicht. Jedenfalls nicht heute Nacht. Ich kann dieses Haus im Moment nicht ertragen, hörte Alex Ileanas Gedanken. „Wo übernachtest du?", fragte sie. „Bei Karsh ... in Lord Karshs Haus. Ich hab da noch einiges zu erledigen." „Ist er dort..." begann Cam. „... aufgebahrt ?", vollendete Alex ihren Satz. Ileana zuckte zusammen, hob aber dann mit einer hochmütigen Bewegung den Kopf. „Natürlich nicht! Als erhabener Ältester wird Lord Karsh selbstverständlich in der Großen Einheitshalle aufgebahrt. Und dort wird morgen auch die Zeremonie stattfinden." Sie schien noch mehr sagen zu wollen, doch dann biss sie sich auf die zitternden Lippen, wandte sich abrupt um und ging grußlos davon. Cams Atem ging schneller. Eine unangenehme Erinnerung stieg auf. Früher einmal, als sie ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein mochte, hatte sie ihre Mutter in einem großen Kaufhaus aus den Augen verloren. Cam war in wilde Panik geraten, weil sie glaubte, ihre Mutter habe sie verlassen. Die Suche hatte zwar nicht lange gedauert, aber doch lange genug, um die Angst vor dem Verlassenwerden auf ewige Zeiten in ihr Unterbewusstsein einzubrennen. Genau dieses Gefühl kam auch jetzt wieder hoch. Alex spürte die Angst ihrer Schwester und sagte schnell: „Sie geht nicht lange weg. Unsere Ileana kann nur im Moment ihr 26
eigenes Haus nicht ertragen. Komm, melden wir uns mal bei der Rezeption von Casa Ileana, dann werden wir schon herausfinden, warum sie davonläuft." Drei Schieferstufen führten zur Haustür. Alex sprang mit einem übertrieben fröhlichen Sprung hinauf. Cam trödelte hinter ihr her, wobei sie sich die Umgebung genau einprägte, für den Fall, dass sie sich verirrte. Oder dergleichen. Jedenfalls hatte sie es nicht im Geringsten eilig, das Haus der Hexencousine Ileana zu betreten. Alex schloss die Tür auf und trat ein. Es dauerte eine Minute, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Sonnenstrahl, der durch die geöffnete Tür fiel, war die einzige Lichtquelle in dem dunklen, kühlen Raum. Wahrscheinlich hatte das Haus ein paar Tage lang leer gestanden. Sie zog die Vorhänge zurück. Und erstarrte. Jemand war hier gewesen. Jemand hatte Casa Ileana in einen Müllhaufen verwandelt. Alex sah, dass dieser Jemand mit blinder Zerstörungswut durch das Haus getobt war. Ileanas Wohnzimmer war ein einziges Chaos; die Möbel waren hervorgezerrt und umgestürzt worden, Andenken, Lampen, Fotos, Vasen waren zerbrochen, zerrissen oder zerschmettert und lagen über den ganzen Boden verstreut. Selbst die Dachfenster waren eingeschlagen worden. Deshalb war es in dem Haus so feucht und kalt. Kein Wunder, dass Ileana diesen Anblick nicht ertragen konnte!, dachte Alex.
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Inzwischen war auch Cam eingetreten und blickte sich ungläubig um. „Wer tut denn so was?", fragte sie entsetzt. „Wer hasst sie so sehr?" Die Antwort lag auf der Hand. Tsuris und Vey, diese Halbirren, die auch noch die Cousins der Zwillinge waren, gaben Ileana die Schuld, dass ihr Vater Fredo jetzt im Gefängnis saß - und es interessierte sie nicht im Geringsten, dass er tatsächlich schuldig war! Sie wollten Ileanas Blut und hatten sich nur vorläufig damit zufrieden gegeben, ihr Haus zu zerstören. Alex kochte vor Wut. Wenn sie sich auf Coventry nur gut genug auskennen würde! Sie würde sich sofort diese ekligen mörderischen Typen vornehmen und ihnen zeigen, aus welchen Buchstaben sich das Wort Rache zusammensetzte. Wortlos betrachteten sie die Zerstörung. „Meinst du wirklich?", fragte Cam nach einer Weile unsicher. Sie hatte wieder einmal die Gedanken ihrer Schwester gehört. „Ja, ich meine", sagte Alex grimmig entschlossen. Ileanas zerstörtes Haus war wie ein Spiegel des äußeren und inneren Zustands ihrer Cousine. Welche Wahl hatten sie überhaupt ? Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als die Ärmel hochzukrempeln und das Chaos wieder in Ordnung zu bringen. Stück für Stück würden sie die Scherben von Ileanas Leben wieder zusammensetzen. Alex setzte ihre telekinetischen Kräfte ein, um Ileanas Besitztümer, ihre Kleider und Andenken wieder an ihre Plätze zurückzuräumen - oder jedenfalls dorthin, wo sie vermutlich früher 28
gestanden oder gelegen hatten. Cam dagegen arbeitete sich systematisch und auf völlig traditionelle Art und Weise vor. Sie räumte die Gegenstände eigenhändig in die Schränke und Schubladen zurück. An einem Bild mit Goldrahmen blieb ihr Blick hängen. Sie betrachtete es lächelnd. Eine erstaunlich schöne Frau - so viel strahlender und lebhafter als die Frau, die sie und Alex letzte Woche kennen gelernt hatten - blickte sie an. Ihr Haar war lang und kastanienbraun, und ihre grauen Augen glänzten lebhaft. Schützend hatte sie den Arm um die Schultern eines hübschen blonden Mädchens mit strahlendem Lächeln gelegt. Miranda und Ileana. Cam rief Alex zu sich. „Schau mal. Miranda sah damals super aus, findest du nicht?" „Eine Traumfrau", bestätigte Alex. Tränen traten in ihre Augen, die sie hastig wegwischte. „Hat Karsh ja auch gesagt." „Warum war sie nicht da, als wir ankamen ? Glaubst du wirklich, dass sie in diesem Crailmore-Dings ist?" »Ganz bestimmt. Unter dem wachsamen und heilenden Auge unseres lieben Onkels Thantos!" antwortete Alex sarkastisch. »Worauf warten wir dann noch? Das finden wir schnell heraus." Cam klappte ihr Handy auf. Alex kicherte. „Du willst sie anrufen ? Wie denn ? Warte mal, ich kann mir das Gespräch gut vorstellen." Sie ahmte eine Computerstimme nach. „Telefon-Auskunft. Für nationale Auskünfte wählen Sie die Eins ..." Dann fuhr sie in Cams vornehmnäselnden Tonfall fort: „Ich hätte gern die Nummer von Crail-more auf Coventry Island, bitte ... Nein, die genaue Anschrift kenne ich nicht ... Crailmore hat keine Postanschrift, es ist schließlich ein Schloss ... Können Sie mir nicht endlich die Nummer geben?!" 29
Cam runzelte die Stirn. Es nervte sie, dass Alex wahrscheinlich Recht hatte. „Aber irgendwo in diesem Durcheinander wird's ja wohl ein Telefonbuch geben", sagte sie stur. Alex verschränkte die Arme. „Ja klar. Ganz bestimmt funktioniert hier alles genauso wie in Marble Bay. Neben dem Hexenrathaus findest du sicher eine Filiale von deiner Lieblingspizze-ria." Sie grinste spöttisch. „Gib schon auf, Barnes. Wenn wir hier mit unserer Mutter Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir ihr wahrscheinlich eine Denkmail schicken. Nicht Telefonie, Schwester, sondern Telepathie. Schon mal gehört?" Cam warf ihr einen wütenden Blick zu. „Affig", bemerkte sie. „Aber okay. Und wenn unsere Mut... wenn Miranda gesund und munter wäre, hätte sie wahrscheinlich längst mit uns Kontakt aufgenommen." Wenn sie uns überhaupt sehen will, dachte sie für sich, aber Alex hörte den Gedanken und gab ihr widerwillig Recht. Cam musste sich ständig beschäftigen, um diese Gedanken zu vertreiben. Sie machte sich wieder an die Arbeit, suchte und fand Gegenstände, wobei sie ihre übernatürlichen Sehfähigkeiten nutzte, um alles aufzuspüren, was für Ileana wertvoll sein mochte. Und unter einem besonders hohen Scherbenhaufen erspähte sie auf diese Weise ein Gemälde. Die Leinwand war mit wilden Messerschnitten zerfetzt worden, aber es war noch genügend vorhanden, um zu erkennen, dass es ein Porträt von Karsh gewesen war. Der weise alte Hexer, der den Zwillingen wie ein Großvater gewesen war: sein freundliches Lächeln, seine glitzernden Augen - er wirkte so lebendig! Aus irgendeinem dummen Grund wurde das Bild plötzlich zu schwer und glitt aus Cams Händen. 30
Alex bückte sich und hob es auf. „Du machst dir nicht nur Sorgen, weil er tot ist", sagte sie leise, „sondern auch wegen der Beerdigung, nicht wahr?" Cam schüttelte heftig den Kopf. „Jason hat Recht", sagte Alex. „Du bist eine miserable Lügnerin. Gib schon auf, Barnes." „Ich war noch nie auf einer Beerdigung." Jetzt war es endlich heraus, was sie sich selbst nicht hatte eingestehen wollen. Alex wurde plötzlich von einem zärtlichen Gefühl überwältigt. Sie merkte, dass sie sich schon sehr stark verändert hatte. Vielleicht war es auch nur, weil sie sich hier auf Coventry Island befand. Statt ihrer normalen Reaktion - „Ach du armes verwöhntes, verzärteltes Ding! Jetzt wirst du zum ersten Mal mit dem wirklichen Leben konfrontiert!" - hörte sie sich Cam trösten: „Das schaffen wir schon. Du wirst sehen - es wird nicht so schlimm. Wir sind zusammen. Drück einfach meine Hand, wenn du Angst bekommst. Ich beschütze dich." Damit hatte sie Cams melancholische Stimmung durchbrochen. „Ach, wirst du das? Und wer, bitte schön, beschützt dich? Lass mal sehen, wer da noch in Frage kommt - durch Tod, Zerstörung, Magieverlust haben wir nämlich einen Totalausfall des Cam-Alex-Bodyguard-Teams: Karsh, Ileana und Miranda sind jedenfalls dazu nicht mehr in der Lage." Alex hob stolz und trotzig das Kinn. „Ich bin zäh. Ich brauche keine Beschützer." Im selben Augenblick hörten sie ein Geräusch vor dem Cottage. Beide zuckten zusammen. Fußschritte. Jemand kam näher.
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Cam spürte die Gefahr und richtete ihren starken Blick auf die Tür. Jeder Eindringling würde von ihrem Blick geblendet und wie erstarrt stehen bleiben. Alex streckte die Hand aus und ließ telekinetisch ein abgebrochenes Stuhlbein herbeifliegen. Mit dieser Waffe in der Hand hoffte sie, dass es Tsuris und Vey waren, die so blöd waren, hierher zum Schauplatz ihres fiesen Verbrechens zurückzukommen. Dieses Mal waren die Hexengirls vorbereitet.
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KAPITEL 3
WALDSPAZIERGANG
„Was für ein freundlicher Empfang!" rief der Besucher, der in der Tür stand und sich mit zwei äußerst kriegerischen Hexen konfrontiert sah - Cam mit ihrem elektrisch strahlenden Blick und Alex mit erhobenem Stuhlbein. „Du siehst ein bisschen geschockt aus", sagte er zu Cam. Erleichtert und doch irgendwie enttäuscht ließ Alex das Stuhlbein sinken. Das ist das zweite Mal heute, dass jemand das zu dir sagt, denkmailte sie ihrer Schwester. „Wirklich? Jemand anders hat dich also ebenfalls erschreckt?" Um seine Lippen spielte etwas, das halb Lächeln, halb spöttisches Grinsen sein mochte. Cams Herz machte einen Hüpfer. Shane - Shane Wright! Hexer, Gedankenleser, absoluter Traummann. Früher hatte sie ihn verachtet, ihm misstraut. Als Spion ihres Onkels Thantos hatte er sich bei den Zwillingen eingeschlichen, war dann aber sozusagen mitten im Einsatz zum „Feind" übergelaufen und hatte sich gegen ihren bösartigen Onkel gewandt. »Wo... woher weißt du, dass wir hier sind?", stotterte Cam, in der Hoffnung, dass er ihren heftigen Herzschlag nicht hören würde. Sie hatte total vergessen, wie super der sonnengebräunte Junge aussah. 33
Er grinste und fuhr mit der Hand durch sein welliges Haar, das sie viel kürzer und dunkler in Erinnerung hatte. Jetzt war es von blonden Strähnen durchzogen und reichte ihm bis auf die Schultern. „Hier auf der Insel wissen alle über euch Bescheid und sie wissen auch, dass ihr wieder zurückgekommen seid." Stimmt. Wir sind wieder zurück, dachte Alex. Aber wir bleiben nicht lange, dachte Cam. Shane hob leicht spöttisch eine Augenbraue. „Wer gleich aussieht, denkt nicht unbedingt dasselbe." Die Zwillinge bedachten sich gegenseitig mit verärgerten Blicken. Alex wandte sich wieder misstrauisch an Shane: „Und als was bist du hier? Empfangskomitee der Hexer?" Sie mochte ihn nicht besonders und es war ihr auch völlig egal, ob er das merkte oder nicht. Nur weil er sich geweigert hatte, auf Thantos' Befehl zu töten, bedeutete das noch lange nicht, dass sie ihm vertrauen konnte. „Volltreffer", gab er freimütig zu, „und zwar beides - was du gesagt und was du gedacht hast. Ich wollte euch tatsächlich begrüßen und ich wünsche mir, dass ihr mir vertraut." „Das ist aber ganz arg lieb", gab Alex mit süßlicher Stimme zurück. „Nur ist dein Timing total daneben. Warum, kannst du selbst begutachten." Sie wedelte mit der Hand in Richtung des Zimmers hinter ihr. „Chaos und Zerstörung, so weit das Auge blickt. Karthago ist nichts im Vergleich dazu." „Mit freundlichen Grüßen von den Wandalen", fügte Cam hinzu, „auch bekannt unter den Namen unserer lieben Cousins Tsuris und Vey."
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„Das haben Fredos Söhne angerichtet?" Shane hatte einen Blick über die Köpfe der Mädchen in Ileanas Wohnzimmer geworfen und schien zum ersten Mal die Zerstörung zu bemerken. Er runzelte die Stirn und schüttelte mitleidig den Kopf. „Ich helfe euch beim Aufräumen", bot er an. „Nein danke", sagte Alex schnell. „Das möchten wir allein tun. Schließlich ist Ileana unsere Cousine." Cam konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Alex hatte Shane praktisch die Tür gewiesen. Dabei war er kaum drei Minuten hier gewesen. Alex gab ein wenig nach. „Du kannst ja deine Begrüßungsshow mit Cam als Publikum durchziehen", schlug sie vor. „Ich bleibe hier und räume auf." „Und es macht dir wirklich nichts aus?", fragten Cam und Shane wie aus einem Mund. Alex hoffte nur, dass sie nicht mit verhakten kleinen Fingern durch die Gegend liefen oder sonst etwas ähnlich Megapeinliches taten. Sie schickte sie mit lässiger Handbewegung weg. „Haut schon ab. Mami räumt für euch auf. Und kommt nicht zu spät nach Hause, Kinder." Cam grinste verlegen und folgte Shane mit gemischten Gefühlen nach draußen. Abgesehen von seinem sagenhaften Aussehen, war der junge Hexer auch in anderer Hinsicht für Cam sehr wichtig: Er war eine Art Bindeglied zwischen ihren beiden Welten. Sie hatte ihn in Marble Bay kennen gelernt. Hier auf dieser unheimlichen Insel gab er ihr wenigstens das 35
Gefühl, die Verbindung zu ihrem Zuhause nicht völlig zu verlieren. Sie empfand für Marble Bay ungefähr das, was Alex offenbar für Coventry Island empfand. Bisher hatte sie nur einen dringlichen Wunsch gehabt: so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Bis Shane aufgetaucht war ... „Ich wollte wirklich der Erste sein, der euch hier begrüßt", sagte Shane, als sie auf den Wald zugingen, der Ileanas Häuschen umgab. Cam konnte ein erfreutes Lächeln nicht ganz unterdrücken, genauso wenig wie das schmetterlingshafte Flattern in ihrem Magen, das sich ganz von allein eingestellt hatte. Wie Magnete hatten sie und Shane sich zueinander gezogen gefühlt, als sie sich vor Monaten kennen gelernt hatten. Seither hatte sie dieses Gefühl nie mehr völlig verdrängen können. Und wie er sie jetzt ansah, machte die Sache auch nicht leichter. Und da drängte sich ihr ein anderer unerwünschter Gedanke auf, den sie nicht mehr loswerden konnte: Jason - der liebe, prächtige, besorgte Junge, den sie am Flughafen zurückgelassen hatte und der alles für sie tun würde, alles! Hatte sie ihm gegenüber andere Gefühle als für Shane? Shane lächelte wieder sein Halblächeln. Hatte er ihre Gedanken gehört? Als sie seinen Arm um ihre Schultern spürte, redete sie sich ein, dass es nur eine freundschaftliche, tröstende Geste sei, nichts weiter. Sie wehrte sich nicht, genoss es nur einfach, mit ihm zusammen durch den Wald zu streifen. „Wohin gehen wir eigentlich?", fragte sie nach einer Weile. „Wohnst du hier irgendwo in der Nähe?" 36
Er zuckte die Schultern und wich ihrem Blick aus. „Früher hab ich mal ungefähr zwei Kilometer von hier entfernt gewohnt. Meine Familie wohnt immer noch dort." „Du bist ausgezogen ?", fragte sie. „Na ja, nicht ganz so freiwillig." „Wirklich? Sie haben dich hinausgeworfen?", fragte sie ungläubig. Was mochte wohl der Grund dafür gewesen sein? „Unterschiedliche Lebensauffassungen", erklärte er schnell, noch bevor sie hatte fragen können. „Sie haben mich genau nach ihren eigenen Überzeugungen großgezogen. Es gefiel ihnen überhaupt nicht, als ich dann anfing, ihre ... äh ... Loyalitäten in Frage zu stellen." Es sollte wohl gleichgültig klingen, aber Cam spürte, dass ihm die Sache tief unter die Haut ging. „Hatte es etwas mit Thantos zu tun ?", fragte sie vorsichtig. „Sie sind Thantos treu ergeben. Und sie glauben, dass ich es nicht bin." „Ist die ganze Gemeinde hier gespalten?" stieß Cam ohne nachzudenken hervor. „Geht es nur darum, wer für oder gegen Thantos ist? Kann ein Mann wirklich so viel Einfluss haben? Schließlich ist er doch nicht Präsident oder so." Shane wandte sich abrupt zu ihr um. „Cam, du musst eins begreifen: Der DuBaer-Clan ist hier so etwas wie die königliche Familie. Er hat gewaltigen Einfluss - im Guten und im Schlechten. Und die Leute - ja, man kann sagen, dass sie entweder für oder gegen die DuBaers sind. Aber davon abgesehen, gibt es hier genauso viel Streit wie anderswo auf der Welt, wenn es um Neid, Eifersucht oder Gier geht. Oder um Liebe." Ein seltsam 37
unangenehmes Gefühl breitete sich in Cams Innern aus. „Und wo lebst du jetzt ? Auf der anderen Straßenseite oder wo ?" Wich Shane ihr aus oder bildete sie sich das nur ein? Jedenfalls gab er ihr eine sehr vage Antwort. „Ich hab mich bei einem alten Freund einquartiert", murmelte er, und es war ziemlich offensichtlich, dass er krampfhaft versuchte, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln. Aber er musste sich gar keine große Mühe geben. Das Thema wechselte von selbst. Cam spürte keine Brise und trotzdem rann ihr ein kalter Schauder über den Rücken. Die feinen Härchen auf ihrem Nacken sträubten sich. Dieses Mal hatte sie keine Vorahnung, keine Vision, aber alle ihre Sinne schienen plötzlich geschärft. Sie fühlte sich wie ein Tier, das durch den Wald gejagt wird. Sie wusste ... Jemand beobachtete sie. Schnell warf sie einen Blick über die Schulter, aber bevor sie ihren Blick durch das dichte Gebüsch, das Unterholz und das Laub der Bäume fokussieren konnte, fragte Shane: „Stimmt etwas nicht?" Cam drehte sich verlegen zu ihm um. Es wäre ihr wirklich zu kindisch und absurd vorgekommen zu sagen: Jemand schleicht hinter uns her. „Nein, alles okay", log sie und fuhr schnell fort: „Erzähl mir, was hier auf der Insel los ist."
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Sie halten sich im Wald versteckt. Sie warten auf Apolla und Artemis, auf Camryn und Alexandra. Die Zwillinge müssen vorsichtig sein. Vorsichtig bei der Wahl der Leute, mit denen sie im Wald spazieren gehen. Wirklich? Und woher willst du das wissen?, fragte sich Ileana sarkastisch. Schließlich war sie Zeugin gewesen, als Karsh ermordet wurde, und hatte es nicht verhindern können. Und im Wald von Salem hatte sie auch zum ersten Mal ihren Schutzbefohlenen nicht helfen können. Aber das waren nicht die Gründe dafür, dass sie jetzt am Boden lag, zerstört, erniedrigt, vollkommen erledigt. Kurz bevor Karsh starb, hatte sie das endlich erreicht, wovon sie ihr ganzes Leben geträumt hatte: Sie hatte erfahren, wer ihr Vater war. Karsh hatte ihr immer wieder versprochen, es ihr eines Tages mitzuteilen. Aber bevor er dazu gekommen war, hatte sie es selbst herausgefunden. Die eine Person auf der Welt, die sie mehr als alles andere hasste - ihr Erzfeind, der durch und durch böse Lord Thantos: Er war ihr Vater. Und in diesem Augenblick der Wahrheit hatte sie alles verloren, hatte aufgehört, sie selbst zu sein. Wenn es nur das gewesen wäre! Denn sie schien auch alle übersinnlichen Kräfte verloren zu haben, ihre übernatürlich scharfen Sinne, die sie zu einer ganz außergewöhnlichen Hexe hatten werden lassen. Es war also nur mehr als wahrscheinlich, dass sie sich die Ahnung jetzt einbildete, dass Cam - oder Alex - direkt auf ein gefährliches, ein vermintes Gelände zusteuerte. Vielleicht war die Ahnung völlig falsch. Absurd. Eine Angst, die nur dadurch entstand, dass sie sich schuldig fühlte. 39
Ileana hätte den Zwillingen eigentlich Coventry zeigen und sie auf der Insel herumführen sollen. Schließlich war sie ihr Vormund. Sie hätte die Mädchen all jenen Hexen und Hexern vorstellen sollen, die zwar viel von ihnen gehört, sie aber noch nicht kennen gelernt hatten: den erhabenen Ältesten vom Großen Einheitsrat, Karshs vielen Freunden und dankbaren Schülern, den gescheitesten und besten Junghexen der Insel... Stattdessen lief sie in Karshs Cottage unruhig auf dem mit Schieferplatten belegten Boden hin und her, folgte praktisch den Spuren des alten Mannes, denn auch er hatte die Gewohnheit gehabt, tief in Gedanken im Wohnzimmer hin und her zu gehen. Ihr getigerter Kater Boris lag in einer Ecke. Sein wacher Katzenblick folgte jedem ihrer Schritte. Ileanas einst so makelloses, glänzendes Haar war nur noch ein verfilztes Chaos aus verknoteten Locken. Die rostroten Flecken hatte sie noch nicht aus ihrem Samtüberhang gewaschen, den sie schon viel zu lange trug. Blutflecken. Karshs Blut. Ihre nackten Füße waren rau und staubig. Abgesehen von der Tatsache, dass sie ihre magischen Kräfte verloren hatte und weder andere Wesen verwandeln noch sich selbst an einen weit entfernten Ort hinzaubern konnte, schien sie auch ihre Körperpflege völlig vernachlässigt zu haben. Seit sie mit der Leiche ihres Vormunds und Ziehvaters auf die Insel zurückgekehrt war, hatte sie absolut gar nichts mehr unternommen. Ruhelos ging sie vor Karshs Sessel auf und ab und warf immer wieder einen Blick auf das Buch Vergebung oder Rache. Sie vermied es, den hohen Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch anzusehen. Fast glaubte sie ihn zu sehen, wie er hinter dem mit Schnitzereien verzierten Ungetüm von einem 40
Schreibtisch saß, die Ellbogen auf die Tischplatte gestützt und die knochigen Finger zeltähnlich unter der Kinnspitze zusammengelegt, und Ileana mit enttäuschtem Blick musterte. In seinem unnachahmlichen Tonfall - halb befehlend, halb empfehlend - hätte er ihr sicherlich nahe gelegt, die Zeit sinnvoll zu nutzen und die Zwillinge auf der Insel herumzuführen. Und normalerweise hätte sie das auch getan. Aber es war eben nichts mehr normal. Denn Karsh, der ihr immer Vater und Mutter zugleich gewesen war, war tot. Die Mutter der Zwillinge, Miranda, war nach vierzehn Jahren Abwesenheit wieder auf die Insel zurückgekehrt. Und dann natürlich diese entsetzliche Enthüllung, die Ileanas Selbstvertrauen völlig zerstört hatte, dass sie Thantos' Tochter war ... Sie hatte nicht die geringste Absicht, diesen Ort aufzusuchen, wo er wohnte. Sie blieb vor dem Schreibtisch stehen und nahm den Band in die Hände, in dem Karshs Aufzeichnungen versteckt waren. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, das Buch die wenigen Schritte zu dem Armsessel zu tragen, der vor dem Kamin stand. Im Sterben hatte Karsh von einem Fluch gesprochen. Ileana fragte sich allmählich, ob der Fluch etwas mit einer mysteriösen Schlafkrankheit zu tun haben mochte. Denn wann immer sie das Buch Vergebung oder Rache in die Hand nahm, wurden ihre Arme schwer. Sobald sie anfing zu lesen, sanken ihre Lider herab, und sosehr sie sich auch dagegen wehrte, der Schlaf gewann immer die Oberhand. Deshalb war sie bisher nicht über die beiden ersten Kapitel hinausgekommen, die Karsh ihr mit dem letzten Atemzug zu lesen befohlen hatte. Ileana, liebste Göttin, Beschützerin von Apolla und Artemis, meine Zukunft wurde mir aufgezeigt und die Zeit wird knapp. Ich schreibe 41
diese Zeilen in höchster Eile. Aber sei versichert: Was ich auch tue, geschieht nicht aus Furcht, sondern aus Zuneigung und Wahrheitsliebe. Inzwischen hast du erfahren, dass Lord Thantos DuBaer dein Vater ist und dass Arons und Mirandas Zwillinge deine Cousinen sind. Dir und den Zwillingen ist eines gemein: die Größe und die Gefahr, DuBaers zu sein. Was du jedoch nicht weißt, ist, dass du auch das Blut einer anderen edlen Familie in dir trägst, des Antayus-Clans.
An dieser Stelle hielt Ileana stets verworren und müde inne. Wie konnte das sein, dass sie dem Antayus-Clan angehörte? Das war unmöglich. Sie wusste, dass Karsh dem Antayus-Clan entstammte. Aber Karsh selbst hatte in seinem Tagebuch eingestanden, dass Ileana eine DuBaer war. Und der Geburtsname ihrer Mutter hatte Beatrice Hazlitt gelautet. Die Hazlitts waren, wie jedermann auf der Insel wusste, weder eine noble noch eine sonderlich angesehene Familie. Tatsächlich war sogar Beatrices niedrige Herkunft die Ursache dafür gewesen, dass sich Leila, Thantos' Mutter, gegen die Heirat ihres Sohnes mit Beatrice ausgesprochen hatte. Wenn Ileanas Vater ein stolzer DuBaer war und ihre Mutter eine gewöhnliche Hazlitt gewesen war, wie konnte es dann sein, dass in Ileanas Adern auch zugleich das Blut des mächtigen Antayus-Clans floss?
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Ileana ließ sich in den abgenutzten Ledersessel zurücksinken. Karshs angenehmer Duft - Pfefferminze und Thymian - hing noch immer in den Polstern. Sie sehnte sich danach, in seinem Tagebuch weiterzulesen und endlich seinen letzten Wunsch zu erfüllen. Aber wieder wurden ihre Augen schwer. Das dämm-rige Abendlicht, das noch durch die kleinen Fenster drang, schläferte sie ein. »Helft mir, Karsh", flüsterte sie, als sich ihre Augen schlossen. Helft mir, Karsh. Diese drei Wörter hatte sie so lange geflüstert, gerufen, gebrüllt, wie ihre Erinnerung zurückreichte. Eine Gewohnheit, die sie nicht von heute auf morgen ablegen konnte. Offenbar nicht einmal jetzt, wo Karsh tot war. Vor dem schwarzen Vorhang ihrer geschlossenen Augenlider traten farbige Wirbel hervor. Rot. Orange. Violett. Abendsonne. Doch davor sah sie seltsame schwarze Linien - dicke, vom Alter geschwärzte Eisenstangen ... Der Blick durch ein Gefängnisfenster! Ileana wurde plötzlich von tiefer, tödlicher Kälte geschüttelt, der bis auf die Knochen dringenden feuchten Kälte eines modrigen Verlieses. Unvermittelt wurde ihr klar: Der Sonnenuntergang, den sie durch das Zellenfenster sah, war der letzte, den sie jemals sehen würde. Sie war zum Untergang verurteilt, und es war völlig unwichtig, wer sie war und wo sie lebte. Ihre Hinrichtung würde bei Sonnenaufgang stattfinden. Ileana kämpfte, um aufwachen zu können, und spürte, dass irgendetwas sie hinderte, sich aufzurichten. Sie war an einen kalten 43
Steinboden gekettet, schwere Eisenketten schnitten tief in ihre Knöchel und Handgelenke. „Gestehe!", befahl ihr eine schrille Stimme. „Bereue!", kreischte eine andere erbarmungslose Stimme. Und eine dritte sich überschlagende Stimme rief: „Ich klage Abigail Antayus an!" Und schließlich eine Mädchenstimme, kindlich und weinerlich: „Die da war es! Sie hat mich verhext!" Ileana wachte mit einem Ruck auf. Sie war in Schweiß gebadet, ihr Herz raste. Abrupt setzte sie sich in Karshs Sessel auf und versuchte, die Erinnerung an den entsetzlichen Alptraum zu vertreiben. Auch ihre Hand war eingeschlafen, sie kribbelte wie ein Ameisenhaufen. Mühsam versuchte sie, die Hand von dem Buch zu heben, auf dem sie ruhte. Und darunter kam Karshs präzise, klare Handschrift zum Vorschein: Es begann in Salem im Jahre 1692 ...
KAPITEL 4
WIE ALLES BEGANN
Ileana, liebstes Kind, es folgt die Geschichte, wie sie mir erzählt wurde. Was hier geschrieben steht, ist historisch verbürgt: Der Wahn von Salem brach aus, als zwei Mädchen, die neunjährige Elizabeth Parris und die elf jährige Abigail Williams, sich plötzlich sehr seltsam seltsam benahmen - sie fluchten, bekamen Krämpfe oder Anfälle oder fielen plötzlich in Trance. Freundinnen der beiden 44
Mädchen verhielten sich ähnlich. Die Kinder hatten den Gruselgeschichten zugehört, die ihnen Tituba, eine Sklavin der Familie Parris, erzählt hatte. Elizabeth, Abigail und ihre Freundinnen wurden von verschiedenen Salemer Ärzten untersucht, darunter auch von dem berühmten Arzt Jacob DuBaer. Man kam zu dem Ergebnis, dass die Kinder vom Teufel besessen seien. Die Kinder wurden daraufhin furchtbarem Druck ausgesetzt und mit entsetzlichen Arzneimischungen behandelt, um ihnen zu „helfen", in Wahrheit jedoch, damit sie die Namen anderer Gefolgsleute des Satans verrieten, nämlich der Hexen, die für die Leiden der Kinder verantwortlich seien. Die völlig verängstigen Kinder nannten Tituba und zwei weitere Frauen, von denen eine stets übel gelaunt und im Dorf verhasst war, während es sich bei der anderen um eine hilflose und möglicherweise geistesgestörte Bettlerin handelte. Und so begann es. Bald wurden auch andere „Hexen" entdeckt. Sie wurden in den Kerker geworfen, vor Gericht gestellt und -mit wenigen Ausnahmen - für schuldig befunden und hingerichtet. Viele von denen, die als Hexen angeklagt wurden, waren Frauen, deren Verhalten oder deren finanzielle Situation von dem abwichen, was man von Frauen am Beginn des 17. Jahrhunderts gemeinhin erwartete. Mit anderen Worten: Sie waren unabhängiger und selbstbewusster als ihre Geschlechtsgenossinnen. Zu diesen Frauen gehörte auch unsere große Ahnin Abigail Antayus Stetson. Abigail unterschied sich gleich in mehrfacher Hinsicht von den anderen Frauen von Salem. Sie war eine hervorragende Ärztin, auch wenn sie nur Frauen behandeln durfte. Zwar war sie verheiratet, 45
aber sie war nur unter ihrem Geburtsnamen bekannt und wurde auch so angeredet. Ihr Mann, Samuel Stetson, war Schiffskapitän; er behandelte sie in jeder Hinsicht als ihm ebenbürtig. Außerdem hatte Abigail eine hübsche Mitgift bekommen, und Kapitän Stetson hatte ihr erlaubt, das Geld zu behalten und nach eigenem Gutdünken damit umzugehen. Und so lebte Abigail als gebildete, finanziell unabhängige und von ihrem Mann hoch angesehene Frau. Das widersprach allem, was man in der Kolonie Salem für richtig, angemessen und sittlich hielt. Viele meinten, Samuel lasse seiner jungen Frau viel zu viel Freiheit und habe sich zu sehr von ihrer Schönheit und ihrer Klugheit betören lassen. Sie munkelten, Abigail habe den angesehenen Kapitän mit ihren Heilkräutern und Zaubertränken verhext. Würde er ihr sonst erlauben, zu jeder Tagesund Nachtzeit im Ort nach den Kranken und Bedürftigen zu sehen, statt zu verlangen, dass sie sich im eigenen Haus um ihre Familie kümmerte? Einer der Rädelsführer der Ankläger war Dr. Jacob DuBaer. Der schwarzbärtige Arzt setzte in seiner Praxis vor allem Blutegel, Aderlass und ziemlich starke Tränke ein. Voller Wut musste er mit ansehen, dass viele seiner weiblichen Patienten - und zu viele seiner männlichen - Abigails Methoden seinen eigenen vorzogen. Im Jahr 1690 kam Samuel Stetson bei einem Sturm auf See ums Leben. Er hinterließ Abigail, die mit 17 geheiratet hatte und nun mit 25 zur Witwe geworden war, und ihre drei kleinen Kinder. Doch Abigail verfügte über ein hübsches kleines Vermögen, das so mancher im Ort gerne mit ihr geteilt hätte. Und unter den Männern, die sich eifrig bemühten, die „arme Witwe" Abigail zu heiraten, war auch Jacob DuBaer. Doch Abigail wies sein Werben ab. Wie dein eigener Vater, meine liebe Ileana, war auch Jacob DuBaer ein eifersüchtiger und nachtragender Mann. 1692, also zwei Jahre 46
später, nahm er Rache. Er beschuldigte Abigail, eine der Hexen von Salem zu sein. Damit hatte er nicht einmal völlig Unrecht. Abigail war tatsächlich eine Hexe. Ihr Glaube - wie auch der unsrige - beruhte darauf, alle Geschöpfe Gaias, unserer Mutter Erde, zu ehren und zu pflegen. Sie praktizierte ihre Heilkunst in völliger Übereinstimmung mit unseren heutigen Zielen, nämlich „dass alles zu höchster Blüte und Vollendung gelangen möge". Der Spruch wird dir bekannt vorkommen. Denn so ähnlich lautet auch die Inschrift, die als eine unserer wichtigsten Prinzipien in der Kuppel der Großen Einheitshalle angebracht ist.
Natürlich!, dachte Ileana, plötzlich und völlig unerklärlich von einer neuen Welle der Müdigkeit überrollt. Schon als kleines Kind hatte sie, auf Karshs Schoß sitzend und gegen seine Samtweste gelehnt, immer wieder zu dieser magischen Inschrift hinaufgestarrt. Erneut wurde sie von Erinnerungen überwältigt. Ein Strom nicht vergossener Tränen schien sich hinter ihren Augen zu stauen. Ihr Kopf wurde schwer und das Kinn sank auf ihre Brust. Und während Karshs Aufzeichnungen von ihrem Schoß zu Boden glitten und Ileana in einen tiefen Schlaf fiel, hörte eine andere junge Hexe zum ersten Mal diesen Spruch.
„Dass alles zu höchster Blüte und Vollendung gelangen möge", wiederholte Cam und horchte dem Klang der Worte 47
nach. „Hast du den Spruch noch nie gehört?", fragte Shane erstaunt, während er sie durch einen von Farnen überwachsenen Sumpf im Wald führte. „Er ist eine der Inschriften in der Großen Einheitshalle." „Ich war ja noch nie dort", erklärte sie und ihre Stimme klang unsicher. Der feste Griff, mit dem er ihre Hand hielt, seine durchdringenden, glitzernden Augen verwirrten sie. Da half es auch nicht viel, dass er es ganz offensichtlich genoss, sie auf der Insel herumzuführen und ihr alles zu erzählen, was sie über dieses seltsame Eiland wissen musste. Doch immer wieder drängte sich Jasons Gesicht dazwischen. Sie konnte einfach nicht anders, als an seine liebevolle, besorgte Miene zu denken, seine Verwirrung, die inneren Qualen, die er auf dem Flughafen durchlitten haben musste. Keine Frage, dass Jason besser aussah als Shane-aber so eigenartig wie jetzt hatte sie sich in Jasons Gegenwart noch nie gefühlt. „Ich war noch nie in der Großen Einheitshalle", wiederholte sie überflüssigerweise, nur um überhaupt etwas zu sagen und ihre Verwirrung zu verbergen. „Dort soll ja die ... Trauerfeier stattfinden." „Karshs Totenfeier." Cam nickte und versuchte, Shane von diesem Thema ab- und zu der Geschichte der Insel zurückzubringen, die er ihr gerade erzählt hatte. „Dann wurde Coventry erst im 18. Jahrhundert besiedelt?" fragte sie erstaunt. Shane nickte. „Die Insel wurde zum Zufluchtsort für die Menschen, die auf dem Festland unter all den Verfolgungen und dem Blutvergießen zu leiden hatten", erklärte er. „Die ersten 48
Siedler waren Leute, die vor den Hexenprozessen geflohen waren. Außerdem Sklaven und befreite Sklaven afrikanischer und karibischer Herkunft. Sie brachten ihre Zauberrituale aus Afrika und den Voodoo-Zauber der Karibik auf die Insel. Zu ihnen gehörten auch Lord Karshs Ahnen. Später trafen weiße Siedler vom Grenzland im Westen ein, die über besondere Gaben verfügten - Heiler, Regenmacher, Rutengänger -, und auch Schamanen, Medizinmänner und weise Frauen der indianischen Urbevölkerung. Am Schluss kamen noch chinesische Einwanderer dazu, vor allem Wahrsager. Zu ihnen gehört Lady Fans Familie - das ist eine der erhabenen Ältesten, die du morgen bei der Trauerfeier kennen lernen wirst. Ihre Familie kam irgendwann im 19. Jahrhundert auf die Insel, als die interkontinentale Eisenbahn gebaut wurde." Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: „Sie alle fanden ihren Weg auf die Insel. In die Freiheit." „Du scheinst ja eine Menge über Coventry zu wissen", sagte Cam und sah mit großen, bewundernden Augen zu ihm auf. „Und du wirst es noch lernen", versicherte er ihr, „bevor du die Weihen empfangen wirst." Wenn ich jemals die Weihen empfange, dachte Cam und wechselte schnell das Thema. „Liegt Crailmore hier in der Nähe?" »Crailmore liegt im Nordwesten, am äußersten Zipfel der Insel. Dahinter liegt nichts als Wasser." „Meine ... Miranda lebt dort", sagte Cam zögernd. ..Ich weiß", antwortete er leise. „Shane." Cam blieb abrupt stehen und berührte seinen Arm. »Du würdest es mir doch nicht verschweigen, wenn sie in Gefahr wäre? Wenn du den Verdacht hättest, dass Thantos ihr 49
irgendetwas ... antut, nicht wahr?" Sie blickte ihn erwartungsvoll und ängstlich zugleich an. Er starrte mit seltsamem Gesichtsausdruck zurück. „Natürlich nicht. Aber du bist schließlich ihre Tochter. Du würdest es spüren, wenn sie in Gefahr wäre." Cam senkte den Blick. Das wollte sie nur zu gern glauben. Und dann spürte sie es plötzlich wieder. Sie spürte mit absoluter Gewissheit, dass sie verfolgt und beobachtet wurden. Sie wirbelte herum und ließ ihren teleskopischen Blick so weit durch den dichten Wald schweifen wie sie konnte. Ihr Blick ging sehr weit, drang wie ein Fernrohr durch das dichte Unterholz. Nichts. „Still!" befahl sie Shane. „Bleib einen Moment unbeweglich stehen. Und sag mir, ob du irgendetwas spürst ... ob uns jemand beobachtet." Shane zögerte, dann stieß er einen langen Seufzer aus. „Tut mir Leid. Nein." „Dann bin ich kindisch ? Oder verrückt?", fragte Cam ein wenig aggressiv, obwohl sie selbst vollkommen sicher war, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Shane lehnte sich gegen den knorrigen Stamm einer alten Eiche. Ganz offensichtlich hatte er ihr etwas zu erklären, konnte sich aber nicht dazu entschließen. Nach einer kurzen Pause lächelte er - er hatte sich entschlossen ihr besser nichts zu sagen -, ließ sich am Stamm entlang auf den vom Moos
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überwucherten Waldboden gleiten und winkte ihr einladend zu, sich neben ihn zu setzen. Cam verlor jedes Zeitgefühl. Verträumt und still saß sie neben ihm und lauschte seiner sanften Stimme. Er kaute auf einer Tannennadel und erzählte ihr, wie er auf der Insel aufgewachsen war, umgeben und umhegt von Familie, Freunden und Lehrern. Er war ein Wunderkind gewesen, in vieler Hinsicht begabter als alle seine Freunde oder Verwandten. Man bemerkte natürlich bald seine Begabungen (und belohnte ihn dafür mehr, als ihm gut tat, wie er heute meinte). Ganz besonders wurde Lord Thantos DuBaer auf ihn aufmerksam, der mächtigste Hexer der Insel. „Er nahm mich bei sich auf und bildete mich aus", bekannte Shane. „Viele Jahre lang war er mein Lehrer, mein großes Vorbild." „Hast du auf Crailmore gewohnt?", fragte Cam vorsichtig. „Nein. Aber ich verbrachte jeden Nachmittag mit Lehrern, die Thantos für mich bestimmt hatte, in den Höhlen unter Crailmore." „Höhlen?" „Ja. Unterirdische Höhlen. Sie erstrecken sich über viele Meilen." Shane machte eine weit ausholende Handbewegung. „Die geheimen und heiligen Höhlen. Man sagt, dass dort die Geister der Verstorbenen angerufen werden können und dass sich in den Wänden der Höhlen die bestgehüteten Geheimnisse der Insel verbergen." 51
„Hm ..." machte Cam nachdenklich. „Wenn Wände reden könnten ..." „Auf Coventry reden sie manchmal tatsächlich", sagte Shane mit leisem, spöttischem Lächeln, das sie mehr verwirrte als das, was er gesagt hatte. »Unter der Insel liegt ein wahres Labyrinth von Tunneln und Höhlen, die miteinander verbunden sind", erklärte er. „Früher gab es dort sogar eine unterirdische Eisenbahn. Sie war in einer Zeit gebaut worden, als sich die Hexen und Hexer auf der Oberfläche der Insel nicht mehr sicher fühlten. Sie glaubten, dass man sie irgendwann jagen oder verfolgen würde." Peng! Da war es wieder! Das Wort „verfolgen" hatte bei Cam erneut das seltsame Gefühl ausgelöst, dass sie beobachtet wurden. Jetzt war es noch intensiver: Sie spürte praktisch die Augen, die sich in ihren Rücken bohrten. Jemand - oder etwas beobachtete sie. Unvermittelt stand Shane auf. „Wird besser sein, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe. Das haben wir deiner Schwester versprochen." Er wählte einen anderen Rückweg, der enger war und über felsigen Boden führte. Die Äste uralter Bäume hingen tief herab und ihre dicken Wurzeln wuchsen zwischen den Felsen hindurch. Der Pfad war zwar schwer zu begehen, aber Cam war eine geübte Wanderin mit sicherem und gut koordiniertem Schritt. Deshalb war es seltsam, dass ausgerechnet sie auf diesem Pfad stürzte. Ihr Fuß blieb an einem halb aus dem Boden ragenden Holzstück hängen. Sie verlor das Gleichgewicht und krachte in das Dickicht. 52
Sie hatte sich nicht verletzt, konnte also ohne Probleme allein wieder aufstehen. Doch das war nicht der Grund, warum sie sich weigerte, Shanes ausgestreckte Hand zu ergreifen. Normalerweise zählt Holz nicht zu den Stromleitern. Dennoch hatte sie deutlich einen leichten elektrischen Stromschlag verspürt, der durch ihr Bein heraufgeschossen war, als sie stolperte. Und als sie das Holzstück aus der Erde zog, wurde der Strom noch deutlicher spürbar. Sie betrachtete es aufmerksam. „Willst du es mit deinem Superblick anzünden?", fragte Shane spöttisch. „Zur Strafe dafür, dass du darüber gestolpert bist?" Cam überhörte seinen lahmen Witz. Auf dem Holz hatte sich über viele Jahre hinweg so viel Schimmel und Schmutz angesammelt, dass es auf den ersten Blick wie ein ganz normales Holzstück aussah. Aber Cam wusste instinktiv, dass nichts an diesem Holzstück normal war. Sie kniff die Augen zusammen. Selbst mit ihrem ungewöhnlichen Sehvermögen konnte sie kaum etwas erkennen, und trotzdem glaubte sie, dass das Holz früher etwas anderes gewesen war - irgendetwas, ein Schild, Wegzeichen oder Symbol war einmal darauf eingeschnitzt gewesen. „Kannst du das lesen?", fragte sie und hielt Shane das Holz hin. Er betrachtete es verwundert von allen Seiten. „Lesen? Was denn?", fragte er schließlich. Cam kratzte eine Stelle auf dem Holz mit dem Fingernagel frei, schabte immer mehr Schichten von Schimmel und feuchter Erde weg. Das Holzstück hatte jahrelang im Waldboden gelegen, war rissig und splitterte leicht, aber 53
dennoch war Cam plötzlich sehr sicher, was es gewesen war. Jemand hatte liebevoll einen Namen in dieses Brett geschnitzt. Es war einmal ein Schild gewesen, das man vielleicht über einen Hauseingang oder neben ein Gartentor gehängt hatte. Instinktiv griff sie nach dem Sonnenmedaillon, das sie immer an einer feinen Goldkette um den Hals trug. Es passte genau in Alex' Mondmedaillon, sodass Sonne und Mond eine vollkommen runde Scheibe bildeten. Und diese miteinander verbundenen Symbole für die Sonne und den Mond konnte sie nun auch immer deutlicher auf dem Holzstück erkennen, über das sie gestolpert war. Unter dem Symbol waren Buchstaben geschnitzt worden. LunaSoleil, vermutlich von den französischen Wörtern „la lune" für Mond und „le soleil" für Sonne abgeleitet. „Hier irgendwo steht mein Elternhaus, nicht wahr?", fragte sie aufgeregt. „Ich will es sehen. Kannst du mich dort hin...?" Sie bemerkte plötzlich, dass Shane sie alarmiert ansah. Er wandte sich abrupt von ihr ab. „Es wurde schon vor vielen Jahren abgerissen." Aber das war eine Lüge.
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KAPITEL 5
EIN TRAURIGER ABSCHIED
Das würde Ileana noch tun - sie würde die Zwillinge zur Großen Einheitshalle begleiten, damit sie von ihrem geliebten alten Beschützer Karsh Abschied nehmen konnten. Sie hatte gründlich gebadet. Ihren gesamten Körper fast wund gescheuert und die rot glühende Haut mit einer speziellen Kräutercreme besänftigt. Ihr Haar hatte sie mit einer Mischung aus Flachssamenöl, Aloe und Rosmarin shampooniert und die verfilzten langen weißgoldenen Locken mit einem Breitzahnkamm ausgekämmt, den Karsh eigens für sie geschnitzt hatte. Das war lange her. Als Ileana noch ein Kind gewesen war, jünger als Alex und Cam heute waren. Sie blieb am Gartentor ihres Cottages stehen und rief die Zwillinge. Cams und Alex' Blicke drückten das Erstaunen und die Anerkennung aus, die sie sich selbst vor dem Spiegel nicht erlaubt hatte. „Ileana", flüsterte Cam. „Du siehst... wunderschön aus ..." „Wie eine Göttin", entfuhr es Alex. Ileanas Kiefermuskeln traten hervor, als sie ihre Tränen bekämpfte. „Nicht halb so gut, wie es Karsh verdient hätte." Obwohl sie sich bemühte, sachlich und unbeteiligt zu klingen, 55
war die Antwort halb Weinen, halb Flüstern. Um sich wieder unter Kontrolle zu bringen, musterte sie die Zwillinge besonders streng. Cam trug ein langes, feines Seidenkleid in zartem Rosa mit sehr schmalen Trägern. Es kam Ileana irgendwie sehr bekannt vor. „Es ist eines von deinen Kleidern", bekannte Cam schuldbewusst. Sie hoffte trotzdem, dass Ileana ihre Kleiderwahl gutheißen würde. Schließlich hatte sie keine Ahnung, was man auf Coventry Island gewöhnlich bei Trauerfeiern für einen Hexer trug. Die Kleider, die sie eingepackt hatte, waren ihr plötzlich völlig absurd vorgekommen. Ihre Schwester Alex war alles andere als ein leuchtendes Beispiel für Modebewusstsein. Cam seufzte, als sie ihren Zwilling ansah. Das Mädchen war von Geburt an dazu bestimmt, andere zu provozieren. Heute trug Alex nur schwarze Klamotten. Enge schwarze Jeans, schwere schwarze Doc Martens und ein schwarzes Spandex-TShirt. Andersfarbig waren nur die verblasste Patchworkdecke, die sie wie einen Schal um die Schultern trug, und die rosa Spitzen ihrer rabenschwarz gefärbten Spikefrisur. Ileana betrachtete beide lang und stumm. Sie bekam keinen Wutanfall. Und sie geriet auch nicht vor Begeisterung außer sich. Schließlich seufzte sie tief und meinte, wobei sie eher wie der sanfte Karsh als die früher immer so perfektionistische Ileana klang: „Nun ja, vermutlich kommt es eher auf die inneren Werte an." Sie machten sich auf den Weg durch den Wald. Über den Bäumen sahen die Zwillinge seltsame Lichterscheinungen, wie 56
ein Feuerwerk. Die Zwillinge betrachteten sie staunend. »Das ist nur die Sonne, die sich in der Glaskuppel der Einheitshalle spiegelt", erklärte Ileana. „Und jetzt macht bitte wieder den Mund zu. Die Bienen hier sind ziemlich neugierig und haben eigentlich Besseres zu tun, als euch in die Zunge zu stechen. Übrigens, falls euch das beruhigt: Ich war auch noch nie bei einer Trauerfeier für jemanden, der mir so ... so nahe stand wie Lord Karsh ..." Für Ileana war der alte Mann Vater und Mutter zugleich gewesen. „Ich schon", murmelte Alex und ließ ihre Gedanken bis zu dem Tag zurückschweifen, an dem ihre Adoptivmutter Sara beerdigt worden war. Das war jetzt fast ein Jahr her. Damals hatte sich Alex verlassen und einsam gefühlt, von Trauer und Müdigkeit überwältigt. Sie hatte nicht einmal mehr weinen können. Hatte nichts empfunden, nichts gedacht. Und nach der Beerdigung war sie zu dem verkommenen alten Wohnwagen zurückgekehrt, in dem sie ihr ganzes Leben gewohnt hatte, ohne zu wissen, wovon sie in Zukunft leben und wo sie wohnen würde. Und wie immer, wenn sie Hilfe brauchte, war bald darauf der stets fröhliche alte Irrwisch aufgetaucht, den sie damals Doc genannt hatte. Karsh, ihr Beschützer. Auf seinem Gesicht lag immer eine weißliche Cremeschicht, mit der er, wie Alex später erfuhr, seine alte wettergegerbte Haut schützte. Karsh hatte ihr das Halbmond-Amulett gegeben und ihr erklärt, dass er einen Platz gefunden habe, wo sie in Zukunft wohnen könne. Und noch vor Einbruch der Nacht hatte sie sich 2000 Meilen von Montana entfernt vor der Haus57
tür der Eltern von Camryn Barnes in Marble Bay, Massachusetts, wiedergefunden. „Doc", flüsterte Alex jetzt, während sie durch den Wald gingen. Als ob er sie mit seinen magischen Kräften auch heute wieder retten könnte, wie er es damals getan hatte. „Karsh." „Werden wir ihn anschauen müssen ?", fragte Cam mit zitternder Stimme. „Ich hoffe nicht... Ich glaube nicht, dass ich ..." „Er wird dort sein", sagte Ileana. „Und wer will, wird einen letzten Blick auf den großen Hexer werfen können. Wer nicht will, muss es nicht tun. Du kannst das selbst entscheiden, wenn wir in der Halle ankommen." Nach ein paar Schritten fragte sie beiläufig: „Habt ihr schon überlegt, was ihr sagen wollt?" Cam blieb abrupt stehen. „Sagen ? Wir ?" „Müssen wir etwa eine Rede halten ?", fragte Alex entsetzt. Aber gleichzeitig hörte sie Ileanas Gedanken und wusste, dass man auch von den Zwillingen eine Dankesrede erwartete oder wenigstens ein paar Worte, um zu beschreiben, was Karsh ihnen bedeutet hatte. „Viele seiner Schüler werden teilnehmen und begann Ileana. „Oh nein!", unterbrach sie Cam heftig. „Ich meine, er war schließlich dein Vormund ..." „Ich habe euch schon angemeldet, damit ihr in meinem Namen sprecht", erklärte Ileana in vorwurfsvollem Tonfall. „Das ist eine Ehre ..." „Die wir dir auf gar keinen Fall vorenthalten wollen!", gab Alex scharf zurück. 58
„Nicht im Traum!", ergänzte Cam. „Undankbares Jungkraut!", schrie Ileana wütend. Alex hörte es fast mit Erleichterung, denn zum ersten Mal seit langem klang sie wieder wie früher - aufbrausend, unbeherrscht, arrogant. „Reicht euch mein Zustand noch nicht? Dass ich so erniedrigt werde! Ich habe den teuersten Freund meines Lebens verloren, Lord Karsh - und meine magischen Kräfte noch dazu, sodass ich mir fast so hilflos und verrückt vorkomme wie Miranda. Aber das ist natürlich noch nicht genug! Ich muss mich außerdem noch mit zwei rotznasigen Hexenlehrlingen herumärgern, die nichts, aber auch gar nichts wissen und können!" »Rede nicht so über unsere Mutter!", fühlte sich Alex gezwungen einzuwerfen. Ileana überging die Bemerkung. „Offenbar wollt ihr meine Schande und Erniedrigung noch auf den Gipfel treiben? Ich will mich doch nicht vor allen Leuten blamieren, die mich seit meiner Kindheit kennen und beneiden, so machtlos und geschlagen wie ich bin!" „Ach so?", fragte Cam mit übertrieben süßer Stimme. „Aber für uns ist das natürlich viel leichter, nicht wahr? Dass wir uns vor eine Meute völlig fremder Menschen lächerlich machen?" „Natürlich ist es leichter für euch!", sagte Ileana, erleichtert, dass Cam endlich verstand, worum es hier ging. „Viel leichter!" „Nicht für uns, sondern für dich!" schnaubte Cam wütend. „Jetzt reißt euch doch endlich zusammen!", befahl Ileana. „Was macht das schon aus? Hier kennt euch doch gar niemand ..." Shane, dachte Cam.
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Sie traten aus dem Wald und gingen über einen ausgetretenen Fußpfad auf das südliche Tor des Dorfes zu. „Shane ?", zischte Ileana wütend, die Cams Gedanken laut und klar gehört hatte. „Du interessierst dich also mehr dafür, was Thantos' ehemaliger Höfling von dir denkt, als dafür, wie du deinem Vormund die Schmach ersparen kannst?", rief sie anklagend. „Sie hat nicht Shane gesagt, sondern schönl", fuhr Alex schnell dazwischen, bevor zwischen Ileana und Cam ein neuer Streit ausbrechen konnte. Doch da entfaltete sich vor ihnen plötzlich eine Farbenpracht, dass die Zwillinge mit offenem Mund stehen blieben. Die Häuser von Coventry Village waren in allen möglichen lebhaften Farben gestrichen - purpurrot und grün, orange und türkis -und verziert mit Erkern, in deren Fenstern Glasmalereien leuchteten, und hell gestreiften Sonnenrollos und bunt bemalten Blumenkästen vor den Fenstern, aus denen eine Blütenpracht quoll, die in keiner Weise zur Jahreszeit passte. Kleine Läden und Häuser, keines höher als drei Stockwerke, säumten die Straßen. Nur am Ende des Ortes ragte ein großes Gebäude in die Höhe - die Große Einheitshalle, die von einer riesigen Glaskuppel gekrönt wurde. Um den hübschen kleinen Dorfplatz herum befanden sich viele Cafes, die ihre Tische und Stühle im Freien aufgestellt hatten. Offenbar herrschte hier in der Dorfmitte an normalen Tagen geschäftiges Treiben. An diesem Morgen jedoch saßen ein paar Kellner und Kellnerinnen gelangweilt herum - und selbst sie würden, wie Alex aus Ileanas Gedanken hörte, bald aufbrechen, um an Karshs Trauerfeier teilzunehmen. 60
Bald danach wurden Ileana und die Zwillinge von der Menschenmenge mitgezogen, die der Einheitshalle zustrebte. Cam griff nach Alex' Hand; sie fühlte sich bang und unsicher, was sie dort sehen und sagen würde. Und sofort spürte sie auch hier wieder, wie schon im Wald mit Shane, dass sie beobachtet wurde ... spürte Augen, die sich in ihren Rücken, ihren Nacken bohrten und ihr Gesicht abtasteten. Was ist los?, fragte Alex still, als ihr hypersensibles Gehör schrille Mädchenstimmen vernahm und sich Cams Hand plötzlich heiß und verschwitzt anfühlte. Dorr ist sie, hörte sie eine der Mädchenstimmen irgendwo in der Menge sagen. Nein, nicht die mit der schwarzen Spikefrisur, sondern die andere, die mit dem kitschigen zartrosa Kleid. - Aber Sers, die sehen ja so ... gewöhnlich aus! Ich weiß nicht, antwortete Cam telepathisch ihrer Schwester. Gestern war es genauso. Als ich mit Shane zusammen war. „Spart euch euer Getratsche über die Jungs für später auf!", fuhr Ileana beleidigt und verärgert dazwischen. „Versucht wenigstens einmal, daran zu denken, weshalb wir hier sind!" Sie drängte sich zwischen Cam und Alex, legte jedem Zwilling einen Arm um die Schultern und steuerte sie schnell durch die langsam gehende Menge. Das große Amphitheater war schon fast bis zum letzten Platz gefüllt. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Glaskuppel direkt auf einen schlichten Kiefernholzsarg, der auf einem Podest genau in der Mitte der Arena stand. Hinter dem Podest, doch ebenfalls im Sonnenlicht, saßen drei Personen auf thronähnlichen Sesseln. 61
„Die kleine Dame ist Lady Fan", flüsterte Ileana den Zwillingen zu. „Sie ist mindestens hundertzwei Jahre alt. Der tattrige alte Biber, der sich gerade die Nase putzt, ist Lord Griweniss." Cams Augen standen plötzlich voll brennender Tränen, als sie die große, auf eigenartige Weise schöne Frau ansah, die auf dem Sessel in der Mitte saß. „Das ist Lady Rhianna", sagte Ileana, deren Augen ebenfalls feucht geworden waren. „Sie gehört zu Karshs ältesten Freunden." Das edle Gesicht der Frau schien ruhig, aber Alex hörte zutiefst erschüttert ihr stilles Weinen und ihren schweren Kummer. Schau dir nur das mal an!, hörte Alex plötzlich wieder die bitterböse Mädchenstimme. Jetzt flennen sie auch noch. Die sind so ... festländisch! Die Trauergäste gingen langsam an Karshs Sarg vorbei. Manche blieben kurz stehen, andere blickten im Vorübergehen nur kurz auf sein Gesicht, wieder andere legten Blumengebinde, Kräuter, Kristalle oder Amulette in den Sarg. Ileana stand auf, um durch den Mittelgang nach vorn zu gehen. „Nein", flüsterte Cam. „Ich ... ich kann nicht..." „Ich gehe", sagte Alex entschlossen und folgte Ileana. Cam zögerte und blickte sich um. Ringsum saßen fremde Personen, alle offenbar in ihre eigene Trauer versunken. Sie stand schnell auf und folgte ihrer Schwester. Ileana wartete am Rand der Arena auf die Zwillinge. Die Arme um ihre Schultern gelegt, führte sie Cam und Alex zunächst hinter den Sarg, wo die drei erhabenen Ältesten von Coventry Island saßen, und stellte sie ihnen vor. Lady Fan und 62
Lord Griveniss nickten ihnen nur kurz zu. Aber Lady Rhianna stand auf, als sie vor ihren Sessel traten. „Apolla und Artemis", sagte sie und ergriff Cams und Alex' Hände. „Ich habe so lange darauf gewartet, euch kennen zu lernen." Bei der Berührung spürten die Zwillinge so etwas wie einen Energiestoß. Alex fühlte sich an die zufällige Berührung durch Karsh erinnert, damals im Krankenhaus, als Sara im Sterben lag. Damals hatte sie Karsh für einen der Ärzte gehalten. Lady Rhianna hielt noch immer ihre Hände und blickte ihnen tief in die Augen, in ihre Gedanken. Schließlich breitete sich ein trauriges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. „Karsh hatte Recht, wie immer", sagte sie. Recht?, wollte Cam fragen, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet und das Wort blieb ihr in der Kehle stecken. „Recht womit?", fragte Alex. Aber Lady Rhianna hatte sich bereits Ileana zugewandt. „Das hast du gut gemacht, du unzähmbares Kind", sagte sie anerkennend. „Sie werden eine neue Dynastie begründen." Und Rhianna umarmte Ileana. Alex' Blick wurde wie magisch zum offenen Sarg gezogen. Sie sah direkt in Karshs Gesicht. Bei seinem Anblick stöhnte sie auf, und alle Tränen, die sie bei Saras Tod nicht hatte vergießen können, drängten nun heraus. Von Schluchzen geschüttelt, schloss sie schließlich fest die Augen und presste die Faust vor den Mund, um ihre wild heraus63
brechenden Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Eine Berührung auf ihrer Wange, sanft wie der erste Kuss, leicht wie eine Sommerbrise, füllte sie mit goldener Wärme. Sie öffnete die Augen und blickte sich verwundert um. Wer hatte sie berührt? Cam starrte noch immer Lady Rhianna an; Ileanas Blick war gedankenverloren in die Kuppel hinaufgerichtet, ihr Gesicht wurde vom Sonnenlicht angestrahlt. Wer sonst mochte sie berührt haben ? Und dann plötzlich wusste sie es. Es gab nur einen Menschen, der ihr immer wieder Sicherheit gegeben hatte ... Sie schämte sich für ihre Gefühlsaufwallungen und blinzelte schnell die Tränen weg. Jetzt erst konnte sie dem alten Hexer ruhig ins Gesicht blicken, wie er dort in dem schlichten Sarg lag. „Cam, es ist gut", flüsterte sie. Karshs Gesicht unter dem weißen Kranz seines schütteren Haars war nicht blass, sondern ein warmes Braun, faltenlos wie das eines viel jüngeren Mannes, und ein stilles, zufriedenes Lächeln lag auf seinen Lippen. Keine Wunde war sichtbar, wo ihn der Stein seiner Mörder, der furchtbaren Brüder Tsuris und Vey, tödlich getroffen hatte. „Nein", flüsterte Cam, „ich kann nicht..." Ihre Schultern zuckten plötzlich und ein seltsames, beruhigendes Summen ging durch ihren Körper. Sie blickte zu Pdiianna auf, die ihr leise zumurmelte: „Du kannst, mein Kind. Und du musst." Die majestätische Hexe nickte ihr ermutigend zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie sanft zum Sarg. Und wie Alex war auch Cam erstaunt, wie friedlich Karsh aussah, mit einem Lächeln auf den Lippen, das nur für sie allein bestimmt schien. Sein Körper war in den goldenen Umhang gehüllt und umgeben von den vielen Beigaben der Trauerge64
meinde. Bevor sie wusste, was sie tat, öffneten ihre Hände den Verschluss der Goldkette, an dem ihr Sonnenamulett hing. Sie bemerkte nicht, dass Alex im selben Moment, von demselben Gedanken getrieben, ihr gehämmertes Mondamulett vom Hals nahm. Ein Schrei stieg schrill durch die Arena und hallte in der gewaltigen Kuppel wider. Die Zwillinge erstarrten und blickten auf die erste Sitzreihe, von wo der Schrei gekommen war. Sie sahen direkt in Mirandas entsetzte graue Augen. Cam errötete, Alex ebenfalls, aber nicht vor Schuldbewusstsein oder Verlegenheit, sondern vor Wut. Dort saß die Mutter, die sie kaum kannten, neben ihrem Onkel und Erzfeind Thantos. Sie hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihre Töchter zu umarmen oder auch nur zu begrüßen. Mit welchem Fluch war sie von Thantos belegt worden, dass er ihr anscheinend wichtiger war als ihre eigenen Kinder? „Behaltet eure Amulette", riet ihnen Ileana. „Ihr habt ja keine Ahnung, zu welchen Tricks Karsh greifen musste, bis ihr sie bekommen und tragen konntet!" „Aber wir haben nichts anderes, was wir ihm mitgeben können!" sagte Cam. „Gebt ihm euer Herz mit euren Worten", antwortete Ileana.
Sieben Redner hatten ihre Ansprachen gehalten, darunter Lady Rhianna, deren Wortgewandtheit alle anderen weit 65
übertraf, dann gab Ileana den Zwillingen ein Zeichen, dass sie an der Reihe seien. „Okay, Barnes", sagte Alex tapfer, als sie spürte, wie Cams Hand zu zittern begann. „Ich geh zuerst rauf." Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Aber als sie an Karshs Sarg vorbeiging und erneut in sein ruhiges Gesicht blickte, bat sie ihn einfach, durch sie zu sprechen ... ihr zu helfen, die richtigen Worte zu finden, Worte, die ihm gefallen würden. Sie wusste, dass das eine verrückte Bitte war, aber fast glaubte sie zu hören, dass er mit leisem Lachen Ja sagte ... Ein Murmeln ging durch die Trauergemeinde, als sie an das Rednerpult trat und sich räusperte. Ihr hypersensibles Gehör fing viele der geflüsterten Bemerkungen auf. »Arons Tochter", hörte sie. „Welche denn?" „Die frechere der beiden. Karsh mochte sie sehr." „Wie heißt sie noch mal?" „Das ist Artemis, das Mondkind." Alex lachte. Verblüfftes Schweigen breitete sich aus. „Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht mehr zu erklären, wer ich bin", begann sie. „Aber ich möchte Ihnen sagen, dass ich es selbst nicht wusste. Bis eines Tages Karsh - Lord Karsh auftauchte, in seiner ganzen schwarzen Samtpracht ... und seine Klamotten waren jedenfalls viel cooler als mein armseliger Versuch, Trauerkleidung anzulegen ..." Sie zupfte zur Erklärung an ihrem T-Shirt. „Sein Gesicht war mit dieser seltsamen weißen Tinktur beschmiert, die ich immer .Bleiches Grauen' genannt habe ..." Unter den Zuhörern war vereinzelt leises Lachen zu hören, darunter auch ein verächtliches Gekicher, das Alex einem Trio 66
junger Hexen zuschrieb, die ungefähr so alt waren wie Alex und weiter oben im Amphitheater saßen. Alex kannte sie nicht. Neben einem der Mädchen war ein Sitz leer geblieben, was auffällig war, da es der einzige leere Sitz in der Halle zu sein schien. Ein wenig verlegen räusperte sie sich und fuhr fort: „Karsh kam zu mir ... in meinen Träumen. Ganz allmählich und sanft brachte er mir bei, dass ich nicht das ungeschickte, tollpatschige Mädchen war, die kleine Hexe, wie ich von den anderen Kindern in der Schule immer genannt wurde, sondern etwas ... Besonderes ... Bis dahin hatte ich Angst vor mir selbst gehabt, aber Karsh brachte mir bei, dass ich in Wahrheit magische Kräfte hatte. Dass es besondere Gaben seien, die ich achten und pflegen müsse, weil ich damit eine Menge Gutes tun könne. Und schließlich enthüllte mir Karsh, dass ich eine ... von euch sei ... Eine Hexe. Und dass ein Mädchen, das ich irgendwo gesehen hatte und das mir so ähnlich war, dass ich wirklich Angst bekam, in Wirklichkeit meine Schwester war. Meine lang verlorene Zwillingsschwester." Sie lächelte Cam zu, die zwischen Lady Rhianna und Ileana saß und deren Blick unverwandt und glühend vor Stolz an Alex hing. Du bist super, Schwester! Mach weiter so, denkmailte ihr Cam. Ein paar Zuhörer, die Gedanken hören konnten, brachen in lautes Gelächter aus. Auch Alex lachte. „Sie haben wahrscheinlich keine Vorstellung davon, wie gut ich mich fühle, dass ich hier bei Ihnen sein darf. Dass ich nicht mehr verbergen muss, wer und was ich bin. Dass ich weiß, obwohl ich Sie alle noch gar nicht 67
kenne, dass wir alles voneinander wissen ... Oder jedenfalls hab ich das Gefühl, dass Sie alles über mich wissen ..." „Darauf kannst du Gift nehmen!" hörte sie eine Stimme. Sie blickte wieder zu dem Hexentrio hinüber. Auf dem Sitz zwischen ihnen saß jetzt ein junger Mann. Shane. Rechts neben ihm saß eine traumhaft schöne junge Hexe, deren vor Stolz glühendes Gesicht von wilden dunklen Locken eingerahmt wurde. Alex wollte Shane gerade freundlich zunicken, als das Mädchen ihm plötzlich mit Besitz ergreifender Geste den Arm um die Schultern legte und sich Wange an Wange an ihn schmiegte. Shane hatte eine Freundin! Alex warf ihrer Schwester einen schnellen Blick zu, aber Cam hatte weder den Zwischenruf gehört noch die seltsame Szene gesehen. „Ah, Sie kennen mich also ... weil Sie genau so sind wie ich", führte Alex ihren begonnenen Satz weiter. „Und auch das ist eine Gabe, die mir Karsh gegeben hat. Er ... er fehlt mir und doch weiß ich, dass er noch immer unter uns ist. Jedenfalls ist er jetzt hier bei mir", sagte sie und strich sich unbewusst über die Wange, die von einer Geisterhand berührt worden war. „Ich fühle, dass er hier ist. Ich höre und sehe ihn vor mir, immer wieder, jeden Tag ... Ich bitte ihn um seinen Rat, und ob Sie es glauben oder nicht, er spricht zu mir." Kopfnicken begleitete Alex' Rede, leises, zustimmendes Murmeln und Lachen. „Ja, das stimmt." „Mir geht's genauso." „Ich höre immer noch, wie er ..."
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Alex hatte gesagt, was sie hatte sagen wollen. Oder vielleicht auch das, was Karsh durch sie hatte sagen wollen. Sie fühlte sich eins mit der Trauergemeinde. Sie gehörte dazu. Sie war zu Hause. Karshs Tod hatte in ihrem Herzen eine schmerzliche Leere hinterlassen. Aber zugleich bildete er jetzt die Brücke zwischen ihren beiden Welten. Mit gesenktem Kopf stieg sie vom Podest herunter und setzte sich auf ihren Platz. Cam stand zögernd und zitternd auf. Sie blickte nicht mehr in den Sarg, sondern ging mit stolz erhobenem Kinn direkt zum Rednerpult, verzweifelt bemüht, die in ihren Augen aufwallenden Tränen zurückzukämpfen. „Karsh hat mir mein Leben gegeben", begann sie unsicher. „Ich habe immer gedacht, ich hätte alles, was ich zum Leben brauchte - aber ich bildete mir ein, eine seltsame, unheimliche Krankheit zu haben. Karsh hatte mich als Baby zu einem Paar gebracht, das mich liebevoll aufzog ... Rein körperlich fehlte mir also nichts ..." „Rein körperlich fehlt mir im Moment auch nichts", hörte Alex das Mädchen neben Shane flüstern. „Aber wie bei Alex ... ich meine, bei Artemis, meiner Schwester, spürte ich, dass mir etwas anderes fehlte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ich habe versucht, mit anderen Leuten darüber zu sprechen, mit meiner Mutter ..." Cam errötete
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heftig und wagte es nicht, zu Miranda hinunterzublicken, die direkt vor dem Rednerpult neben Thantos saß. Der bullige Hexenmeister lächelte, als er Cams Versprecher hörte. Schwer zu sagen, ob sein Lächeln ermutigend, mitleidig oder spöttisch gemeint war. „Ah, ich meine, Emily, die meine Adoptivmutter ist. Ich versuchte, ihr und Dave, meinem ... Adoptivvater, zu erklären, warum ich ... Schließlich waren sie ja auch meine besten Freunde. Aber die ganze Zeit gab es nur einen einzigen Menschen, der wirklich Bescheid wusste, der alles wusste und verstand ..." Wenn Alex erwartet hatte, dass Cam damit ihre Zwillingsschwester meinte, so wurde sie enttäuscht. Denn Cam fuhr fort: „Und dieser Mensch war Karsh. Er hat mich immer verstanden. Er hat mich mit meiner Schwester zusammengebracht. Und er hat uns bei jedem Schritt in unserem Leben geholfen. Ich meine, er hat uns wirklich geholfen. Und wie ich am Anfang gesagt habe, er hat mir mein Leben gegeben ... Er hat mir mehr als nur einmal das Leben gerettet. Es tut mir so Leid ..." Und endlich brach der Damm, der Cams Tränen zurückgehalten hatte. „Es tut mir so Leid, dass ich am Ende sein Leben nicht retten konnte ...", stieß sie schluchzend hervor. Lady Rhianna eilte zum Rednerpult, um Cam zu ihrem Sitz zurückzuführen. Und als Cam die letzte Stufe der Treppe hinunterging, sah sie plötzlich ein bekanntes Gesicht in der Menschenmenge. Ein Gesicht, das einer anderen Welt angehörte, das so vollkommen fehl am Platz war, dass sie zu träumen glaubte. 70
Doch erst als sie saß, schlug das, was sie gesehen hatte, wie eine Bombe ein: Was um alles in der Welt hatte Jason Weissman hier zu suchen?
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KAPITEL 6
DIE FURIEN
Cam musste mit Jason reden. Wenn es Jason gewesen war. Das Gesicht, das sie in der Menge gesehen hatte, war wie in ungläubigem Schock verzerrt gewesen, aber die olivbraune Haut, die dunklen Augen, das mitternachtschwarze Haar nein, kein Zweifel, das konnte kein Traum gewesen sein. Leider! Wenn es nur so einfach wäre! Jason war hier. In diesem, ihrem anderen Leben. Wie hatte er sie gefunden? Und was hatte er gehört und verstanden? Wo war er jetzt, fragte sich Cam verzweifelt, als Karshs Trauerfeier dem Ende zuging. Sobald sie konnte, stand sie auf und suchte ihn in der Menge. Sie sah ihn nirgends. Ohne Alex Bescheid zu sagen, verschwand sie aus der Einheitshalle. Ileanas langes Kleid wickelte sich immer wieder um ihre Beine, sodass sie langsamer gehen musste, als sie eigentlich wollte. Dafür raste ihr Verstand weit voraus. Wohin konnte Jason gegangen sein? In den Wald? Zum See? Ins Dorf? Er war allein und wahrscheinlich fühlte er sich sehr verloren und verwirrt. Ein absurder Gedanke drängte sich ihr plötzlich auf. Vielleicht war er einfach hungrig. Bei Jungs in seinem Alter kam das schließlich vor. 72
Und tatsächlich! Die Vermutung traf voll ins Schwarze. Sie fand Jason in einem völlig menschenleeren Cafe auf dem Dorfplatz. Er hatte die Ellbogen auf das Cafetischchen gestützt und den Kopf in den Händen verborgen. Ein Bild der Verzweiflung. Jedenfalls sah er aus wie ein Reisender, der versehentlich auf dem falschen Planeten gelandet war. Cams Herz schlug bis zum Hals, als sie über den Dorfplatz hastete. Abrupt blieb sie ein paar Schritte vor seinem Tisch stehen. Er blickte auf und ihre Blicke bohrten sich ineinander. Zuerst schwiegen beide. Dann begannen sie gleichzeitig zu reden, feuerten wahre Salven von Fragen aufeinander ab: Was machst du denn hier? Wie bist du hierher gekommen? In welchem Schlamassel steckst du jetzt schon wieder ? Hat dich jemand gezwungen, hier auf die Insel zu kommen? Was hast du gehört? Was gesehen ? Schließlich hob Jason die Hand. „Wow! Okay. Du zuerst." Cam biss sich auf die Lippen und zwang sich, neben ihm am Tisch Platz zu nehmen. In drängendem Ton sagte sie: „Bitte, Jase, ich muss das jetzt wirklich wissen. Was machst du hier?" „Ich bin dir nachgereist." „Echt superschlaue Antwort, Mann. Darauf war ich wirklich nicht gekommen. Was ich wissen will ist: Warum ?" Cam hörte selbst, dass ihre Stimme fast hysterisch klang. Jason zuckte die Schultern und versuchte, seine Verlegenheit zu verbergen. „Sah so aus, als hättest du irgendwelche Probleme. Ich wollte dir helfen, aber traute mich nicht zu fragen. Ich dachte, ich sollte ..." murmelte er, noch verlegener als zuvor, „... einfach für dich da sein, wenn du mich brauchst." Er hatte sich einfach 73
von seiner Angst leiten lassen, seiner Sorge um Cam, und obwohl er es nicht zugab, war ihr auch klar, dass er aus Liebe zu ihr so gehandelt hatte. Am Flughafen musste sie wirklich wie ein emotionales Wrack gewirkt haben. Kein Wunder, dass Jason danach nicht einfach abschalten und woanders hatte hinfliegen können. Er hatte sich zu viel Sorgen gemacht. Cam hatte geglaubt, dass keine Tränen mehr übrig waren, aber sie hatte sich getäuscht. Jetzt brachen die Schleusen erneut und wie in einem kitschigen Liebesroman spürte sie beinahe, wie sie von seiner Sorge um sie überwältigt wurde. Trotzdem brachte sie nur hervor: „Was ... was hast du ... gesehen?" „Keine Ahnung, was ich gesehen habe", antwortete Jason ziemlich scharf. „Vielleicht bist du so freundlich, mir das alles zu erklären." Am Flughafen war es ihm nicht schwer gefallen herauszufinden, wohin Cam und Alex fliegen wollten. Er hatte einfach seinen Flug umgebucht und sie nach der Landung in Green Bay wie ein Detektiv verfolgt. Hatte alle möglichen Leute gefragt, ob sie zwei Mädchen gesehen hatten. Ziemlich auffällig - eineiige Zwillinge, aber völlig verschieden. Dafür hatte er eineinhalb Tage gebraucht, bis er schließlich am Hafen auf einen alten Fährmann gestoßen war, der ihm empfohlen hatte, mal auf der „Hexeninsel" nachzuschauen. Dorthin habe er nämlich zwei junge Mädchen gebracht. Und hatte gleich angedeutet, dass Jason eine gute Chance habe, nie mehr zurückzukommen, wenn er dorthin wollte. „War wohl ziemlich beknackt, der Alte", lachte Jason, aber ohne rechte Überzeugung. „Total." Cam brachte wenigstens ein dünnes Lächeln zu Stande. „Ich bin dann einfach ein paar Leuten 74
nachgegangen, die zu diesem ... Festsaal gingen - oder was immer es sein soll." Cam atmete erst erleichtert auf, als er ihr erzählte, dass diese Leute sich wohl verspätet hatten, denn er sei erst ganz am Schluss der Zeremonie angekommen. Von Cams Rede habe er nur noch die letzten Sätze gehört. Von Alex' Trauerrede habe er gar nichts mitbekommen. „Der alte Bursche muss dir ziemlich viel bedeutet haben", versuchte Jason Cam zum Reden zu bringen, „dieser Lord Karsh." Cam nickte zögernd. „Er war wie ein ... ein Großvater ..." Jasons Augenbrauen hoben sich erstaunt. Warum waren dann Cams Eltern nicht hier? „... für Alex ..." setzte Cam schnell hinzu. Die halbe Wahrheit ist schließlich besser als eine ganze Lüge, dachte sie. „Aha!" Jason tat so, als ob das wenigstens etwas von dem Rätsel erklärte. „Er hat uns sozusagen zusammengebracht", fuhr Cam vorsichtig fort. Sie hoffte, dass Jason jetzt keine weiteren Einzelheiten wissen wollte. Das wollte er auch nicht, aber seine nächste Frage brachte sie erneut in Verlegenheit. „War er adlig ... oder gehörte er irgendeinem Kult oder einer Sekte an ? Warum wird er Lord genannt ?" „Oh nein, das ist kein Kult", versicherte sie ihm schnell. „Aber diese ganze Insel ist irgendwie sehr seltsam, unheimlich." Jason lachte nervös. „Es kommt mir so vor, als war ich in einer anderen Dimension gelandet."
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Cam hatte noch nie darüber nachgedacht, wie sie die Bewohner von Coventry Island jemand anderem - zum Beispiel ihrer Echte-Welt-Familie und ihren Freunden erklären konnte. Das Problem war glücklicherweise bisher noch nie aufgetaucht. Aber heute war offenbar ihr Unglückstag. Sie musste sich etwas einfallen lassen. Jason brauchte eine Erklärung, die ihn zufrieden stellen würde, und zwar plausibel und presto. Er musste ihr endlich abnehmen, dass sie nicht in Gefahr schwebte. Oder anders ausgedrückt: Sie musste ihn möglichst überzeugend anlügen. Und die Lüge musste so gut sein, dass er abreiste. Am besten sofort. „Also, wenigstens hatte der Alte von der Fähre nicht Recht", sagte Jason und lehnte sich zurück, sodass sein Stuhl nur noch auf zwei Beinen stand. „Hier gibt's keine Hexen. Das kann's also nicht sein. Schließlich seh ich ja nirgends einen spitzen schwarzen Zauberhut oder einen Hexenkessel!" Cam schluckte und hoffte, dass er ihre Verlegenheit nicht bemerkte. „Das ist eine ganz besondere ... Gemeinschaft", versuchte sie zu erklären. „Die Leute hier sind ... sind total nett und so, aber irgendwie ein wenig anders. Aber sie sind geistig wirklich völlig normal!", fügte sie schnell hinzu. „Sie engagieren sich dafür, anderen zu helfen und in ihrem Leben Gutes zu tun." Jason sah sie voller Zweifel an. „Soll das heißen, sie sind so eine Art Kommune? Eine Neuauflage der Hippies?" Super Vergleich!, schoss es Cam durch den Kopf. „So könnte man es wirklich ausdrücken!", sagte sie begeistert. 76
„Warum dann die ganze Heimlichtuerei ?" Peng, da war er schon, der nächste Fallstrick. Cam war nicht darauf vorbereitet gewesen. „Jase?" Cam beugte sich zu ihm, aber weil sie ihm nicht in die Augen blicken wollte (und konnte), griff sie nach dem orangefarbenen Basketball-Anhänger, der um seinen Hals hing. Sie spielte mit der kleinen Kugel. „Wenn die Leute etwas nicht verstehen, bekommen sie manchmal Angst. Und dabei kann es ihnen richtig unheimlich werden, verstehst du ?" „Ja, wahrscheinlich ..." sagte Jason unsicher. Er schien ihr nicht ganz folgen zu können. „Deshalb reden wir nicht viel über diesen Teil von unserem Leben ... ich meine, von Alex' Leben ... Sie will das so. Die Leute halten sie doch sowieso schon für ... total daneben! Stell dir vor, was sie erst sagen würden, wenn das alles herauskäme!" Sie deutete mit einer weiten Handbewegung auf die Insel. Aber dabei kam sie sich wie eine Verräterin vor. Trotzdem machte sie weiter. „Du bist einfach ... toll. Ich meine, weil du mir nachgereist bist und so. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll." Sie schluckte, aber wenigstens schaffte sie es jetzt, ihn anzublicken. „Jedenfalls fehlt mir nichts. Alex fehlt auch nichts. Wir sind nicht in Gefahr. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Wirklich nicht." Aber er kaufte es ihr nicht ab. Das stand auf seinem Gesicht breit und deutlich geschrieben. „Wenn du dich beeilst, kannst du deine Freunde in Florida noch einholen", sagte Cam hoffnungsvoll. Aber Jason presste 77
die Lippen fest zusammen und starrte sie misstrauisch an. „Du willst, dass ich verschwinde", sagte er schließlich. „Was hast du eigentlich zu verbergen ? Hast du hier einen Freund?" Cam zuckte zusammen. Wo kam denn das nun plötzlich her? Eifersucht hatte bisher zwischen ihnen keine Rolle gespielt. „Tut mir Leid", sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend er wütend, sie trotzig - in verschiedene Richtungen geblickt hatten, „es geht mich ja eigentlich nichts an." Offenbar erwartete er, dass sie ihm widersprach, aber sie sagte nichts. „Du bist wegen einer Beerdigung hierher gekommen, das ist natürlich hart für dich, und ich weiß, dass du am Flughafen deshalb geweint hast. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da noch etwas anderes ist. Dass du wieder mal in Schwierigkeiten bist. Okay, du willst nicht, dass ich dir helfe, aber deswegen brauchst du mich nicht so ... wegzustoßen!" Cam schluckte hart. „Diese Familiensache mache ich doch nur wegen Alex!", log sie schließlich, wobei sie hoffte, dass Alex' Superlauscher im Moment in eine andere Richtung gedreht waren. „Ist wirklich cool, dass du mir nachgeflogen bist, aber es gibt echt nichts, was du hier im Moment tun könntest! Am besten, du fliegst jetzt zu deinen Freunden und machst Party. Wie ihr es geplant hattet. Über all das absurde Zeug hier auf der Insel reden wir, wenn wir wieder zu Hause sind." »Cam!" Jason war aufgestanden. Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter. „Ich hasse es, so was zu sagen, aber ich weiß nicht, ob es noch ein ,wir' geben wird, wenn wir wieder zu Hause sind. Hat es vielleicht nie gegeben, wenn du mir gegenüber nicht offen bist."
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Cam war innerlich tief aufgewühlt, als sie ihn am Landungssteg eng umarmte. Das Boot kam rasch näher. Noch wäre Zeit ... Sie spürte Jasons leichten Kuss auf ihrem Haar. Wenn sie fähig gewesen wäre, ihn anzublicken und ihn zu küssen, hätte sie vielleicht seine Zweifel teilweise zerstreuen können. Aber irgendwie konnte sie sich nicht überwinden. Sie war tief erschrocken, als er hier auftauchte, und es hatte sie eigenartig berührt, dass er sich solche Sorgen machte - aber dankbar war sie ihm nicht dafür. Und sie fühlte sich schuldbewusst: Denn die Wahrheit durfte sie ihm auf keinen Fall sagen. Aus vielen Gründen. Aber Shane gehörte jedenfalls nicht dazu. Wenn Alex mit ihrem Supergehör verfolgt worden wäre, hätte sie vielleicht verstanden, was die Verfolger im selben Moment einander zuflüsterten. Schon bei der Trauerfeier waren ihre bissigen Bemerkungen immer wieder zu ihr durchgedrungen. Aber Cam hatte die Verfolger weder gehört noch gesehen. Beim Waldspaziergang mit Shane hatte sie nur gespürt, dass noch jemand da war. Und jetzt wurde sie so von diesem unerwarteten kleinen Drama mit Jason beansprucht, dass sie die Verfolger nicht einmal mehr spürte. Schlecht für sie. Gut für die anderen. So gut, wie sie sich nicht hatten träumen lassen. Sie nannten sich „die Furien". Sersee war ganz selbstverständlich die Anführerin, Epie und Michaelina ihre getreuen Gefolgsleute.
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Wenn Cam und Alex auf der Insel aufgewachsen wären, hätten sie diese Mädchen gekannt. Sie hätten gewusst, mit wem sie es hier zu tun hatten und warum. „Das Leben ist voller köstlicher Überraschungen!", sagte Sersee hämisch zu Epie und Michaelina. „Hätte ich mir nie träumen lassen, dass die Sage von den Powergirls noch so interessant werden würde! Und diese rührende Szene eben, als sich die Liebenden völlig überraschend wieder fanden! Einfach super!" Sie warf ihre Mähne zurück und grinste breit. Sersee war nicht die hellste aller Hexen auf Coventry und sie war auch nicht sonderlich begabt. Karsh hatte sie einfach übergangen, als er seine Lehrlinge auswählte, und im Gegensatz zu Shane hatte sie auch Thantos kaum beeindruckt, als er nach frischen Talenten suchte. Sersee hatte das alles nicht verziehen und schon gar nicht vergessen. Sie fühlte sich ungerecht behandelt. Was ihr an Intelligenz fehlte, machte sie durch Gerissenheit wett. Sie war auf bösartige Weise raffiniert und nützte ihre Stärken rücksichtslos aus. Und ihre größte Stärke war ihre atemberaubende Schönheit. Ihr wildes rabenschwarzes Haar fiel fast bis zur Hüfte; ihre hellblauen, fast violett schimmernden Augen waren von langen, dichten Wimpern umgeben, darüber wölbten sich feine, geradezu dramatisch wirkende Augenbrauen und ihr Teint wirkte wie Porzellan. Doch sonst gab es nichts Weiches an ihr. Sie war mehr als nur schlank; überall schienen ihre Knochen scharf hervorzutreten Ellbogen, Schultern und Wangen zeichneten sich deutlich unter der Haut ab. So groß und überschlank, wie sie war, hätte sie auf dem Festland ebenso gut als magersüchtiges Model 80
arbeiten können. Aber sie war anspruchsvoll und äußerst entschlossen. Und auf Coventry hatte sie große Pläne. Wenn nötig, würde Sersee ihr Territorium bis auf's Blut verteidigen. Sie war gerissen und skrupellos, und die Bezeichnung fieseste und gemeinste Hexe von ganz Coventry wäre durchaus angemessen gewesen. Shane war ihr Freund, ihr Eigentum! Sie hatte ihn gewollt und sie hatte ihn bekommen. Sie bekam immer alles, was sie wollte. Ihm gegenüber spielte sie die Rolle einer schelmisch-lustigen Hexe, die immer auf irgendwelche komischen Streiche aus war, aber im Grunde ein gutes Herz hatte. Und die zudem den Vorteil hatte, eine wahre Schönheit zu sein. Für Shane hatte sie alles andere aufgegeben. Wer ihr in die Quere kam, lernte allerdings eine ganz andere Sersee kennen - die wahre Sersee. Und jetzt war ihr dieses Prinzesschen vom Festland, diese Zwillingshälfte, in die Quere gekommen. Auch wenn dieses Püpp-chen es noch nicht bemerkt hatte. In dem Augenblick, als Cam mit Shane den Waldspaziergang unternommen hatte, hatte sie sich zum Untergang verurteilt. Das war für Sersee eine Tatsache. Als Sersee jetzt die rührselige Abschiedsszene am Landungssteg beobachtete, war das für sie wie ein köstliches Überraschungsdessert - die Waffe, die Sersee brauchte. „Geh", befahl sie Epie, „sorg dafür, dass dieser ... Knabe Jason hier bleibt. Los, geh schon!" Epie riss die Augen auf. „Was soll ich?" fragte sie entsetzt. „Was soll ich? Was soll ich?" äffte Sersee sie nach. „Sorg dafür, dass er nicht abreist, verdammt!" 81
Doch Epies Gedanken reisten wie immer langsam - per Kutsche auf dem Landweg. „Warum ?", fragte sie schließlich. „Warum?" Sersee riss die violetten Augen auf. „Gute Frage. Warum bist du so blöd?", wollte sie wissen. Aber es war klar, dass Epie Sersees Plan noch nicht durchschaut hatte, also musste sie es ihr erklären. „Garantie. Stell dir einfach vor, Jason ist so was wie eine Garantie." „Eine Garantie? Wofür?", fragte Epie völlig verständnislos. Sersees Blick wurde drohend. „Eine Garantie, dass der Besuch der süßen Zwillingshexchen auf der Insel nicht zu lange dauert."
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KAPITEL 7
FLUCH UND GEHEIMNIS
Auf der vom Wind umtosten Seite von Coventry lag ein Friedhof, von Mauern mit gewaltigen Eisentoren umgeben. Hier hatten Generationen von DuBaers und anderen wichtigen Familien ihre letzte Ruhe gefunden. Eindrucksvolle, fast bedrohlich wirkende Statuen wachten über die Gräber. Ein paar Meilen weiter südlich war Karsh inmitten seiner Ahnen zur letzten Ruhe gebettet worden. Dieser Friedhof war bescheidener und hier befanden sich, obwohl er als AntayusFriedhof bekannt war, auch die Ruhestätten der Hexen und Hexer vieler anderer Clans. Einfache, flache Grabsteine lagen auf den grasüberwachsenen Gräbern. Manche Grabsteine trugen bekannte und große Namen, die meisten jedoch kennzeichneten die Gräber längst vergessener Toten. Diesen Ort suchte Ileana am Nachmittag des Tages von Karshs Beerdigung auf. Die Trauergemeinde hatte sich wieder zerstreut. Die Lebenden waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Die junge Hexe betrat den Friedhof mit Karshs kostbarem Tagebuch in den Händen. Sie lehnte sich an einen Baum, der zwischen Karshs frisch aufgeworfenem, mit Blumen überhäuften Erdhügel und dem Stein stand, der das Grab von Ileanas Mutter kennzeichnete. Beatrice Hazlitt DuBaer. Die einzige DuBaer auf dem ganzen Antayus-Friedhof. Das war 83
Leila DuBaer zu verdanken, Ileanas eigensinniger Großmutter. Zweifellos hatte diese arrogante alte Hexe durchgesetzt, dass Beatrice, Thantos' Frau, vom DuBaer-Friedhof verbannt blieb. Weil Beatrice niedrigerer Abstammung war ... Ileana hatte einen kleinen Veilchenstrauß aus ihrem Garten mitgebracht und auf den Grabstein ihrer Mutter gelegt. Nach der Beerdigung war sie zu Karshs Cottage zurückgekehrt, hatte aber festgestellt, dass das Alleinsein genauso unerträglich war wie die Leute, die ständig mit ihr reden, sie trösten oder bemitleiden wollten. Also hatte sie sich mit dem Buch in der Hand zum Friedhof aufgemacht, um bei den Toten zu sein. Und um über sie zu lesen. Sie schlug das Tagebuch an der Stelle auf, an der sie am Vortag eingeschlafen war, und las die Fortsetzung der Saga von Jacob DuBaer und Abigail Antayus, die Karsh für sie aufgeschrieben hatte.
Jacob überzeugte mehrere seiner Patienten, dass ihre „rebellischen" Kinder verhext worden seien, um Abigail so der Hexerei bezichtigen zu können. Dabei handelte es sich um Patienten, deren Töchter von Abigail behandelt worden waren. Es war nicht schwer, eine Verbindung herzustellen zwischen der Tatsache, dass Abigail die Mädchen behandelt hatte, und dem „teuflischen" Verhalten der kleinen Mädchen. Aber es erwies sich als ziemlich schwierig, die Kinder dazu zu bringen, gegen die beliebte junge Ärztin auszusagen. Schwierig für einen gewöhnlichen Menschen, aber Jacob DuBaer war ebenso wenig ein gewöhnlicher Mensch wie Abigail. Abigail war eine 84
Hexe; aber auch Jacob war ein Hexer und musste ebenso wie sie befürchten, dass dies bekannt würde. Seit er als Arzt praktizierte, hatte er sich von der Hexenzunft abgewandt. Aber jetzt trieben ihn Furcht und Rachegelüste wieder zu den alten Gewohnheiten zurück. Als hei den Kindern weder Drohungen noch übel schmeckende Tinkturen etwas nützten, versuchte es Jacob mit Magie. Und er hatte Erfolg: Zwei kleine Mädchen schworen, dass sie von Abigail Antayus verhext worden waren. Die gute junge Ärztin wurde verhaftet. Wie es schon zuvor in einigen seltenen Fällen geschehen war, traten nicht nacheinander Ankläger auf, sondern der Gerichtssaal füllte sich mit wütenden Bürgern, die für Abigails Mildtätigkeit und ihren guten Charakter Zeugnis ablegten. Nachdem die Richter die Witwe eine Woche lang gefangen gehalten hatten, sahen sie sich schließlich gezwungen, sie für unschuldig zu erklären und freizulassen. Doch sie erteilten ihr eine strenge Mahnung und auf Vorschlag ihres Hauptanklägers wurde ihr von diesem Tag an untersagt, ihre ärztliche Kunst jemals wieder in Salem auszuüben. Das war eine Strafe, die Abigail nicht akzeptieren konnte. Sie zog mit ihren Kindern von Salem nach Marbletown, einem Dorf, das ein paar Meilen entfernt lag und das gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Marble Bay umbenannt wurde. Dort half Abigail auch weiterhin den Armen und Bedürftigen und bildete auch ihre Töchter und ihren Sohn aus. Doch Jacob DuBaer verfolgte sie weiter. Ohne jedes Anstandsgefühl drängte er sie, ihre beiden mächtigen Familien durch Heirat miteinander zu vereinen. Als Abigail ihn erneut abwies, beschuldigte er sie vor dem Gericht von Marbletown der Hexerei. In diesem Ort 85
hatte Abigail weder Verwandte noch alte Freunde und auch keine Patienten, die irgendwelchen Einfluss geltend machen konnten. Der Prozess fand statt. Sie wurde für schuldig befunden und im zarten Alter von 27 Jahren an einer Eiche gehenkt, die auf dem so genannten Hexenhügel stand, der heute Mariner's Park heißt. Mariner's Park! Ileana kannte den Park in Marble Bay gut. Und es war ihr auch nichts Neues, dass an der alten Eiche im Park eine von Karshs legendären Ahnen gehenkt worden war. Die Eiche war einer der geheiligten Orte der Gemeinschaft. Dorthin hatte Karsh das Baby gebracht, das damals Apolla und heute Camryn hieß, und hatte es seinem Beschützer David Barnes übergeben. Schon als Kind war Camryn immer wieder zu diesem Ort zurückgekehrt, ohne die besondere Geschichte der Eiche zu kennen. Damals hatte sie ja nicht einmal ihre eigene Geschichte gekannt! Sie hatte nur einfach gespürt, dass diese Eiche mächtig war. Der gewaltige alte Baum wurde der Ort, an den sie sich zurückzog, wenn sie allein sein wollte. Ileana wusste das alles. Behauptete Karsh in seinem Vermächtnis etwa, dass auch sie - Ileana - mit der berühmten jungen Ärztin verwandt war ? Wie wäre das denn möglich ? Ihr Urahn war der verräterische Jacob DuBaer, der Abigail Antayus' Tod zu verantworten hatte. Welcher Zweig dieses komplizierten Familienbaums hatte denn nun eigentlich Ileana hervorgebracht ? Als ob sie dort eine Antwort fände, schweifte Ileanas Blick zu dem frischen Grab des alten Hexers hinüber. Eine leichte Brise bewegte die Blüten auf dem gewaltigen Blumenberg, der über Karsh aufgetürmt worden war - Rosen, 86
Pfingstrosen, Flieder, Lilien ... Doch der Geruch, der zu ihr herüberwehte, erinnerte sie an Minze und Thymian. Karshs Duft! Unvermittelt wurde sie von einem Gefühl der Verlassenheit und Leere überwältigt. Und wieder kam ihr die Erinnerung an Karshs Tod im Wald von Salem ins Bewusstsein. Die faustgroßen Steine, die ihre eigenen halb verrückten Cousins Tsuris und Vey geworfen hatten. Das Blut. Und sie hörte erneut seine letzten Worte: „Es steht geschrieben. Alles steht geschrieben." Bevor die schmerzhafte innere Leere unerträglich werden konnte, wandte sich Ileana wieder Karshs Vermächtnis zu -und entdeckte die ersten Hinweise auf eine Antwort.
Nach der Hinrichtung ihrer Mutter wurden die drei Kinder der Witwe getrennt. Sie wurden in die Obhut von „rechtschaffenen", alle Hexerei verabscheuenden Familien gegeben, die dafür sorgten, dass „ihre Seelen durch harte Arbeit gereinigt werden".
Anders ausgedrückt, dachte Ileana, ließ man die drei Kinder, die bisher nur Großmut, Freundlichkeit und Liebe gekannt hatten, als niedrigste Diener in den Häusern von Familien arbeiten, die alles hassten, was mit Hexerei zu tun hatte.
Die Familie, die Abigails ältestes Kind, ihren Sohn, aufnahm, hieß Hazlitt. Doch der wahre Stamm des jungen blieb der Antayus-Clan. Aber daraufkomme ich später noch zurück. 87
Später?! In Ileana wurde plötzlich wieder ihr altes hitziges Wesen wach. Was meint ihr mit später, Ihr grausamer alter Schwindler!, schimpfte sie in Gedanken und hätte vor Wut beinahe sein Grab angeschrien. Was fällt Euch ein, mich so auf die Folter zu spannen! Die Blumen schüttelten sich im Wind, als lachten sie. Und fast glaubte sie Karshs Stimme zu hören: Ungeduldige Junghexe! Was weißt du schon? Seufzend wandte sie sich wieder dem Buch zu.
Abigails Sohn war acht Jahre alt, als seine Mutter starb. Mit 18 Jahren schwor er, dem DuBaer-Clan dieselben Leiden zuzufügen, die er hatte erleben müssen. Gemeinsam mit seinen Schwestern sprach er einen mächtigen Zauberspruch aus. Einen Schwur. Einen Fluch. Dass fortan in jeder Generation ein Antayus den Tod eines DuBaers verursachen solle. Der Junge mochte in seinem Elend und seiner Wut zu diesem Fluch getrieben worden sein, aber seine Wirkung blieb über die Zeiten hinweg ungeschwächt erhalten. Denn seither ist keine Generation verschont geblieben ...
„Ileana?" 88
Die junge Hexe blickte auf, entsetzt über das, was sie eben gelesen hatte, und erschrocken, weil sie plötzlich angesprochen wurde. Vor ihr stand Miranda. Miranda DuBaer. Ileana klappte schnell das Buch zu und stand auf. „Wo ist dein Beschützer?", fragte sie grob. „Oder sollte ich besser sagen: Pfleger?" Sie blickte sich suchend nach Thantos um. Miranda blickte sie betroffen und verletzt an - aus Augen, die so sehr ihren eigenen und denen der Zwillinge glichen -, aber ihr Lächeln blieb auf den Lippen. „Ich bin allein. Warum bist du wütend auf mich ?" Die direkte Frage ließ Ileana betroffen zusammenzucken. Impulsiv stritt sie es ab: „Ich bin nicht wütend auf dich. Warum auch ?" „Ich weiß natürlich, dass du von mir enttäuscht bist", sagte Miranda, ohne auf Ileanas Einwurf zu achten. „Aber warum du wütend auf mich bist...?" „Vielleicht hast du Recht und ich bin tatsächlich wütend auf dich", gab Ileana zu. „Jedenfalls verstehe ich dich nicht. Ich erkenne dich gar nicht mehr wieder! Früher, als Kind, kannte ich niemanden, der so fürsorglich und liebevoll war wie du. Ich wollte werden wie du. Ich träumte immer davon, dass du vielleicht meine echte Mutter seiest und dass du das irgendwie geheim halten müsstest..." Miranda nickte. „Ich habe dich damals sehr geliebt, du warst wie meine Tochter. Schon seit deiner Geburt. Als Beatrice nach deiner Geburt starb, habe ich versucht, dir die Mutter zu ersetzen ... 89
„Ist dir ja wohl auch irgendwann gelungen, oder?", gab Ileana scharf zurück. „Schließlich bist du ja jetzt mit meinem Vater so gut wie verheiratet!" „Ileana!" Mirandas Lächeln verschwand. „Deine Töchter sind gestern hier auf der Insel angekommen", fuhr Ileana in vorwurfsvollem Ton fort. „Du hast dir noch keine einzige Minute Zeit für sie genommen. Obwohl du weißt, dass es mir ... momentan nicht gut geht ..." Ileana fiel es schwer, das zuzugeben, aber sie gab sich einen Ruck. „Ich bin nicht mehr wie früher ... Meine magischen Kräfte scheinen irgendwie ... abgenommen zu haben ... sehr stark. Ich bin gar nicht in der Lage, die Zwillinge zu betreuen oder sie zu schützen." „Ich weiß", sagte Miranda sanft. „Und ich ..." Sie brach ab, aber Ileana hörte ihre wirren Gedanken: Und ich bin nur noch ein Schatten von dem, was ich früher war... Meine Zauberkraft... weg, alles weg ... Und im Herzen so viel Angst, so viel... „Angst wovor ?", verlangte Ileana zu wissen. Miranda schien zutiefst erschüttert. Sie griff nach Ileanas Hand, aber Ileana zog sie rasch zurück und verschränkte wie ein junges Mädchen trotzig die Arme. „Ich habe Angst, weil ich völlig nutzlos bin, weil ich ihnen nicht helfen kann, und noch schlimmer als das ..." »Noch schlimmer?", warf Ileana verächtlich ein. „Was kann denn schlimmer sein, als den eigenen Kindern nicht zu helfen?" Miranda blickte sie zuerst verletzt, dann nachdenklich an. »Wenn man eine Gefahr für sie ist", sagte sie langsam. Dann wechselte sie schnell das Thema. „Und was die Begrüßung 90
meiner ... der Zwillinge angeht: Ich bin gerade auf dem Weg zu deinem Haus. Dort wohnen sie doch, nicht wahr?" Sie wandte sich halb ab und blickte zu Karshs Grabhügel hinüber. „Ja, aber warum machst du einen so großen Umweg? Der Friedhof hier liegt nicht auf dem Weg von Crailmore zu meinem Haus. Übrigens wird dir dieser Friedhof auch nicht besonders gefallen - die Gräber hier sind ja so viel kleiner und bescheidener als in dem großartigen Park, wo dein Mann und deine Eltern begraben liegen! Oder bist du etwa wegen Karsh gekommen ?" „Das war ein Grund", antwortete Miranda. „Der andere Grund war, dass ich annahm dich hier zu finden." Ileana öffnete schon den Mund für eine ihrer spitzen Antworten, schloss ihn aber gerade noch rechtzeitig wieder. Offenbar hatte ihr Miranda noch etwas zu sagen. Miranda seufzte und wandte sich wieder ihr zu. „Ich bin so müde", sagte sie langsam und Tränen traten in ihre leuchtenden Augen. „So müde von all den Sorgen, den Geheimnissen, dem Fluch ..." „Fluch ?", fragte Ileana vorsichtig. „Ich meine den AntayusFluch", nickte Miranda. Miranda hatte nach Arons Tod sehr zurückgezogen gelebt. Dass sie die ganze Zeit längst gewusst hatte, was Ileana jetzt erst nach Karshs Tod erfahren durfte, empfand Ileana als äußerst ungerecht. Doch plötzlich durchzuckte sie eine Erkenntnis wie ein Blitz. Und auf einmal wusste sie, wie das alles zusammenhing. Ihre eigene Mutter Beatrice war eine geborene Hazlitt. Die Hazlitts waren eine der drei Familien gewesen, die Abigails 91
Kinder aufgenommen und ihnen ihren Namen gegeben hatten. Es gab nur eine Erklärung für alles: Beatrice musste von einem dieser drei Kinder abstammen. Also stammte Beatrice aus dem Antayus-Clan. Plötzlich fielen die Mosaiksteine auf die richtigen Stellen. Leila DuBaer, die herrische, aber kluge Großmutter, musste das gewusst haben. Anders war ihr Verhalten gegenüber der jungen Braut ihres Sohnes Thantos nicht zu erklären. Leila hatte sich gegen Beatrice gewehrt - aber nicht, wie alle glaubten, weil sie aus einer „unstandesgemäß niedrigen" Familie stammte, sondern weil sie ein gefährliches Erbe in die Ehe brachte. Deshalb hatte Leila versucht, ihrem Sohn die Heirat mit Beatrice auszureden. Sie hatte Ileanas Mutter nicht gehasst, sondern gefürchtet. All diese Gedanken rasten durch Ileanas Kopf. Schlagartig wurde ihr alles klar. „Genau so war es!", unterbrach Miranda ihre Gedanken. „Ich habe es miterlebt. Ich habe beobachtet, wie Beatrice behandelt wurde - wie sie von der alten Frau verachtet und lächerlich gemacht wurde. Mir tat Beatrice Leid und ich habe versucht, sie zu schützen ..." Zu viele Enthüllungen. Ileanas Verstand schwirrte. Sie ertrank förmlich in diesen neuen Entdeckungen. Eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich sagte Miranda: „Ich war auf dem Weg zu deinem Haus, Ileana, um die Zwillinge und dich einzuladen ... zu einem Abendessen in Crail-more. Morgen Abend. Nur für die Familie ..." Und bevor sich die junge Frau eine Ausrede einfallen lassen konnte, fuhr sie schnell fort: „Bitte, Ileana - ich hoffe ... nein, ich bitte dich zu kommen. Die 92
Zwillinge sollten endlich sehen, woher sie stammen, sie sollten Crailmore kennen lernen. Von dir brauchen sie Unterstützung und Ermutigung. Es ist schließlich auch das Haus deiner ... Vorfahren, Ileana. Deine Mutter lebte dort..." »Und starb dort", unterbrach Ileana sie grob. Sie blickte auf Beatrice' bescheidene Grabplatte hinunter, auf den Veilchenstrauß, den sie auf die verwitterte Bronzeplatte gelegt hatte. Die blassen Blüten waren in das weiche Licht des Sonnenuntergangs getaucht. Plötzlich wurde ihr klar, dass es schon Abend war. Die schweren Gedanken wichen und ihr trotziger Blick hellte sich auf. „Natürlich komme ich, Miranda", sagte sie fest. Unvermittelt fand sie den Gedanken verlockend, Beatrices furchtbares Erbe, den Antayus-Fluch, in die Festung der DuBaers zurückzubringen.
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KAPITEL 8
NÄCHTLICHE WARNUNG
„Hast du nichts gehört?" Alex war aus dem Schlaf hochgeschreckt und stieß ihre Schwester an. Jemand war im Flur vor dem Schlafzimmer. Ileana? War sie schließlich doch wieder in ihr Haus zurückgekommen? Alex beruhigte sich allmählich wieder. Aber ihr hypersensibles Gehör konnte sie nicht einfach abschalten. Dann hörte sie Flüstern. Und Gekicher. Durchs Fenster hörte sie Schritte - oder eher ein Tapsen, das seltsame, ruckartig springende Geräusch eines Tieres mit vier Beinen, ein schleichendes Tier mit Pfoten wie eine Katze. Boris? Nein - was immer im Garten herumschlich, war viel größer und schwerer und bewegte sich außerdem seltsam unsicher. Wer immer in das Haus eingedrungen sein mochte Ileana war es jedenfalls nicht. Und was da draußen herumschlich, war alles andere als ein Schoßtierchen. Ein grauenhafter Gestank drang durch das offene Fenster herein. Ein fettig ranziger Gestank wie vom nassen Fell einer Katze, das man mit Rasierwasser eingesprüht hatte. Alex war nahe daran, sich zu übergeben. 94
>,Cam", flüsterte sie drängend, „wach auf! Draußen ist jemand!" Sie streckte den Arm aus und rüttelte Cams Schulter. Cam brummte unwillig, zerrte das Kissen über den Kopf und schob Alex' Hand weg. Die Zwillinge waren völlig erschöpft. Die letzten Tage waren ein einziger Alptraum gewesen und hatten ihnen das Äußerste abverlangt. Als Cam vom Anlegesteg zurückgekommen war, hatte sie Alex schlafend in Ileanas riesigem Deluxe-Bett gefunden, das wahrhaftig einer Göttin würdig gewesen wäre. Sie hatte weder das Herz noch die Energie gehabt, ihre Schwester aufzuwecken, um ihr von Jason zu erzählen - oder von dem Holzschild, das sie bei ihrem Waldspaziergang mit Shane gefunden hatte. Sie hatte sich nur zum Bett geschleppt und war auf der Stelle neben Alex eingeschlafen. Alex rüttelte Cam noch einmal - diesmal sehr viel heftiger. „Was ist denn?!", fauchte Cam unwillig. „Hau ab, lass mich schlafen!" Jemand ist im begann Alex zu telepathieren. Sie brauchte den Satz nicht zu Ende zu denken. Cam fuhr wie der Blitz unter der Decke hervor, wirbelte herum und starrte zum Fenster. Sie packte Alex' Hand und stieß keuchend hervor: „Es hat Schmerzen! Es braucht uns!" „Was ? Wer braucht uns ? Siehst du etwas, Cam ? Hast du wieder eine Vision?" Cam starrte noch immer mit weit aufgerissenen Augen zum Fenster, sagte aber unsicher: „Nein, nein, keine Vision ... Das war ein Traum, glaube ich." Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Augen ... nur Augen, Alex, sie schwebten in der 95
Luft. Augen mit dunklen Wimpern ... ich kenne diese Augen ..." Alex wagte kaum zu fragen. „Wessen Augen?" „Ich weiß nicht. Aber ich habe sie schon mal gesehen. Irgendein Tier. Oder ein ... menschliches Wesen. Es sucht nach uns. Es ist verwundet. Und es hat Angst." Sie schluckte. „Wer ist dort draußen, Alex?" Alex fand keine Zeit mehr für eine Antwort. Ein donnerndes Gebrüll ließ die Wände erbeben. Das Geräusch der unsicher schleichenden Pfoten, das sie gehört hatte, klang jetzt ganz anders: Das Wesen schien jetzt direkt auf das Haus zuzujagen. Die Pfoten hämmerten über den Grasboden und das Geräusch kam schnell näher. Gleich würde das Tier mit einem gewaltigen Sprung durch das Fenster setzen und angreifen! „Lauf!" schrie Cam. „Es kommt!" Sie rannten zur Tür, prallten dort zusammen - und erstarrten, als sie den grauenhaften Laut hörten, entsetzlich und unverkennbar: das Geheul eines Tieres in unerträglichen Qualen. Cam und Alex wurde klar, dass sie das Tier nicht zu sehen bekommen würden. Es hatte sich bereits wieder umgewandt und flüchtete in den Wald zurück. Sie hörten es durch das Unterholz brechen. Das Geheul wurde schwächer. Vor Angst und Entsetzen halb wahnsinnig, öffneten sie die Schlafzimmertür und schlichen vorsichtig in den Flur. Cam rutschte aus. Direkt vor der Tür entdeckten sie einen Kreis aus Sand - oder waren es Körner? Eine kaum sichtbare Körnerspur zog sich durch den langen Flur bis zum Wohnzimmer. Alex roch einen Pflanzenduft, den sie auch in Ileanas Garten bemerkt hatte. 96
Nachtschatten? Stechapfel? Nesseln? Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was so gerochen hatte. Sie wusste nur ... Cam war niedergekniet, hatte ein paar der Körner zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und zerrieb sie. Sie wollte gerade daran riechen, als ... Giftig! „Stopp!" Alex schlug Cam das Pulver aus der Hand. „Es ist ein Giftkraut! Ich weiß nicht mehr, wie es heißt, aber ..." „... es hat jedenfalls etwas mit dem außergewöhnlichen Vorfall zu tun, der soeben passiert ist", führte Cam Alex' Satz zu Ende. „Oh, absolut, wie du es immer so super ausdrückst." Alex biss die Zähne zusammen und ging zur Haustür, wo die Körnerspur endete. „Ich persönlich finde es eher ätzend." Cam überging Alex' bissige Bemerkung über ihre Sprachgewohnheiten. „Jemand hat versucht, uns nach draußen zu locken", stellte sie fest. „Wenn es nicht für Ileana gedacht war." Alex' Hand erstarrte auf dem Türknauf. An diese Möglichkeit hatte sie noch gar nicht gedacht! Cam griff nach Alex' Arm und ängstlich aneinander gepresst traten sie vor die Haustür. Seltsame Gerüche waberten durch die Dunkelheit, verwirrend, aber auch Furcht einflößend. Sie rochen den bittersüßen Giftgeruch des tödlichen Nachtschattens und dann wieder den ranzigen Moschusgeruch von feuchtem Pelz und aufdringlichem Parfüm. Und dann noch einen neuen, ganz andersartigen und furchtbaren Geruch, den sie nicht bestimmen konnten. Alex hörte, wie Cam nach Luft schnappte. Ihre Schwester war stehen geblieben und starrte auf den Rasen vor Ileanas Haus. Ihre phänomenalen Augen 97
durchdrangen die Dunkelheit. „Was ist es ?", flüsterte Alex zitternd. „Ich rieche etwas, aber ich kann nichts sehen. Was ist das ?" Mitten auf dem Rasen war ein Holzpfosten eingerammt worden. An der Spitze hing ein gelber Stofffetzen, der anscheinend aus einem Kleidungsstück gerissen worden war. In hellroten Buchstaben war eine Botschaft darauf geschmiert worden: Verschwindet, solange ihr noch könnt. Geschrieben mit Blut. Cam unterdrückte mühsam einen Aufschrei. „Die Spione! Sie waren also hier!", flüsterte sie, obwohl sie sicher war, dass jetzt niemand mehr lauschte oder hinter ihr her schlich. „Sie waren sogar im Haus, direkt vor unserem Schlafzimmer! Und wir haben sie nicht mal gespürt..." Alex stand völlig bewegungslos. Ihre Augen glitten von der Blutlache neben dem Warnschild über die Blutspur, die sich bis zum Waldrand hinüberzog. Doch als sie redete, klang ihre Stimme hart und klar. „Offenbar haben wir Feinde hier auf Coventry. Und sie kennen auch ein paar Zaubertricks." Cam schlug sich die Arme um die Schultern. Sie zitterte - nicht nur, weil die Nacht inzwischen so kühl geworden war. Alex kochte vor Wut. „Wenn das Tsuris und Vey waren, mach ich sie flach."
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„Vergiss es", sagte Cam, die sich allmählich von ihrem Schock erholte. „Zu so was sind die Gebrüder Goofy GmbH & Co nicht in der Lage." „Hm, wahrscheinlich hast du Recht. Die Sache wurde ziemlich clever inszeniert. Filmreif. Wer das gemacht hat, will uns einen Schrecken einjagen. Damit wir fluchtartig abhauen." „Dann dürfen sie sich freuen." Cam wandte sich ab, um zum Cottage zurückzugehen. „Sonnenaufgang - Sonnenzwillings Abgang." Alex packte sie am Arm und riss sie wieder herum. „Nicht so hastig! Der Mondzwilling haut wegen so was noch lange nicht ab. Sonnenaufgang? Da schauen wir uns erst mal ein wenig um. Wer das hier gemacht hat, wird bald erfahren, wozu die Hexengirls fähig sind!" Cam runzelte die Stirn. Ihre Schwester ließ sich immer von ihren Gefühlen, ihrem Herzen oder ihrer Wut leiten - aber nie von ihrem Verstand. Falls sie einen hatte - zumindest jetzt war sie sich da nicht so sicher. „Schau mal", sagte sie in ihrem besten „Cam-die-Vernünftige"-Ton. „Wir haben vielleicht ein bisschen Talent zum Hexen oder was immer die Leute von uns behaupten. Aber wir sind keine Superhexen. Wir würden vielleicht herausfinden, wer uns vertreiben will, aber wir haben trotzdem keine Ahnung, wie wir uns wehren können!" Aber Alex wischte den Einwand ungeduldig beiseite. „Dann müssen wir eben schneller lernen als sonst, Barnes", sagte sie entschlossen. „Und jedenfalls werden sie es nicht mehr schaffen, sich unbemerkt an uns heranzuschleichen. Wir 99
haben alles Recht der Welt, hier auf der Insel zu sein. Wir wurden hier geboren!" Cam zuckte zusammen. Hastig versuchte sie, den Gedanken zu unterdrücken, aber ... ... zu spät. Alex hatte ihn schon gehört. „Was für ein Schild? Welches Haus? Was verschweigst du wieder? Woran zum Henker hast du gerade gedacht?"
Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg in die Dunkelheit. Die Nacht war kühl und sie hatten sich entsprechend warm angezogen. Wolken zogen vor dem bleichen Mond vorbei, aber Cam hatte keine Schwierigkeiten den Weg wiederzufinden, den sie mit Shane gegangen war. „Bist du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?", fragte Alex, die unter enormer Spannung stand, wie ein gespannter Bogen kurz vor dem Abschuss des Pfeils. Sie konnte noch immer den Geruch des wilden Tiers riechen, das sie fast angegriffen hatte. Ängstlich und nervös ließ sie den Strahl der Taschenlampe über das dichte Unterholz zucken. Es sah aus, als kämpfe sie mit einem Degen aus Licht gegen einen unsichtbaren Feind. „Ich weiß, wo es war", sagte Cam ruhig. „Ich hab das Schild absichtlich unter einen großen Rhododendronbusch gekickt, damit ich es später leicht wiederfinden kann." „Genial", murmelte Alex spöttisch. Ein paar Minuten später leuchtete Cam mit ihrer Lampe triumphierend auf einen Busch mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern, der unter der roten Blütenpracht fast zusammenzu100
brechen schien. Alles war genau so, wie sie es zuletzt gesehen hatte - die Baumwurzel, der Abdruck des Holzschilds im weichen Waldboden, sogar der Abdruck eines ... „Hier bist du wohl auf deinen breiten Hintern gefallen", kommentierte Alex grinsend und beleuchtete die kleine Mulde auf dem Weg. Cam überhörte die Bemerkung und beugte sich unter den Busch, um das Schild hervorzuholen. Nur - da war kein Schild mehr. Alex kniete neben ihr nieder. Gemeinsam tasteten sie mit allen vier Händen in der Erde unter dem Busch nach dem Schild. „Es ist weg", fauchte Alex, stand auf und wischte sich das Laub von der Jeans. „Wer hat es genommen? Da wollte jemand ganz sicher sein, dass du das Schild nicht mehr findest. Gehen wir mal alle Möglichkeiten durch, wer das wohl war. Erstens Shane. Zweitens Shane. Und drittens, rate mal ..." „Hab's schon geschnallt!", zischte Cam und richtete sich ebenfalls auf. „Aber du hast keinen Beweis dafür. Kann auch jemand ganz anderes gewesen sein. Irgendein ... Tier, vielleicht..." „Ja klar. Ein gebildeter Biber zum Beispiel, der nur an beschriftetem Holz knabbern will. Oder ein Eichhörnchen, das noch ein Türschild für sein Nest braucht." Alex merkte, dass ihre Schwester den Tränen nahe war, und hatte plötzlich Mitleid. „Okay, okay. Selbst wenn Shane das Holzschild genommen hat, heißt das nicht, dass er auch das ganze Haus verschwinden lassen kann. Ich glaube, wir werden es bald finden." »Es ist doch schon vor Jahren abgerissen worden", wandte Cam niedergeschlagen ein. „Sagt Shane."
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„Hm. Glauben oder nicht glauben, das ist hier die Frage. Wir suchen einfach mal selber danach. Wo geht's lang?" »Dort drüben sollen ein paar Höhlen sein", sagte Cam. „Sie sind durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden. Ich wette, dass sie bis nach Crailmore führen." „Wir sind hier auf DuBaer-Land. Wahrscheinlich steht das Haus von Aron und Miranda ganz in der Nähe. Und das Schild hast du ja auch hier gefunden." Cam ging ohne große Begeisterung voran. Fast sofort wurde sie von einer Unmenge von Gedanken überrollt, die Alex laut und klar hören konnte. Warum sollte Shane das Schild wegnehmen ? Und warum hab ich irgendwie gewusst, dass er log, als er behauptete, das Haus sei abgerissen worden? „Weil er etwas zu verbergen hat?", vermutete Alex und dachte ganz flüchtig an die kleine Szene mit der schwarzhaarigen Hexe bei Karshs Trauerfeier. „Jetzt tut es dir bestimmt Leid, dass du bei Karshs Beerdigung weggelaufen bist, nur um Shane wegen der Sache ins Gesicht zu springen ..." Cam wirbelte herum und starrte ihre Schwester wütend an. „Glaubst du wirklich, dass ich deshalb von der Beerdigung weggelaufen bin? Ich hab dir doch gesagt, dass ich wegen ..." Hoppla. Nein, das hatte sie Alex noch gar nicht erzählt. „Jason?!", schrie Alex auf. „Er ist uns nachgereist? Und war bei der Beerdigung dabei?" Sie war völlig außer sich. Und dann erinnerte sie sich, wie der Junge auf dem Flughafen zum Ticketschalter zurückgelaufen war.
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„Nur um sicherzugehen: Warum glaubst du eigentlich, Shane sei der Grund gewesen, dass ich von der Beerdigung weggelaufen bin ?", fragte Cam neugierig. „Jetzt will sie's aber genau wissen", murrte Alex wie zu sich selbst und sagte dann laut: „Wegen der ... Hey! Was ist denn das?" Im Lichtstrahl ihrer Taschenlampe hatte etwas tief im Wald rot aufgeblitzt. Sie rannten in die Richtung und fanden ... „Ein Fenster mit Glasmalerei." Cam blieb neben ihrer Schwester stehen. Die Zwillinge starrten gebannt und ehrfürchtig auf das rote Glasfenster und auf das Gebäude, zu dem es gehörte. Es war ein Turm. Ein Turm, mitten im Wald. Ohne ein weiteres Wort drängten sie sich durch Brombeergestrüpp und dichte Büsche, bis Alex' Lichtstrahl plötzlich auf ein Metallstück traf. „Ein Tor. Jedenfalls war's mal eins." Sie ließ den Lichtkegel über das Tor gleiten, dessen unterer Teil aus verrosteten Eisenstäben bestand. Cams Fuß stieß gegen den oberen Teil, der aus Holz war. Das Tor hing nicht mehr in den Angeln, sondern lag auf den Resten der Pflastersteine, mit denen offenbar der Weg durch das Tor früher gepflastert gewesen war - von grünem Moos und Flechten überwachsen, von der Zeit zernagt und vergessen. Ein fehlender Teil in diesem Tor glich genau dem Schild, das Cam auf dem Weg gefunden hatte. Automatisch tastete ihre Hand nach der ihrer Schwester - und traf sie auf halbem Weg. Zusammen gingen sie über die Reste des Pflasterwegs auf das Gebäude zu, das sich hinter den Bäumen abzeichnete. Der Weg führte zu einer halb eingestürzten 103
Natursteinmauer, in der ein von Wildrosen fast völlig zugewachsener Torbogen eingelassen war. Während sie sich vorsichtig unter den tief herabhängenden Ästen von verwilderten Rosensträuchern durchzwängten, zogen die Wolken weiter, die den Mond verdunkelt hatten. Das Mondlicht beleuchtete einen atemberaubenden Anblick. Vor ihnen ragte eine prachtvolle Ruine in den Nachthimmel - die Überreste eines Gebäudes, mindestens doppelt so groß wie Ileanas Haus. Diese Ruine musste einmal ein eindrucksvolles Landhaus gewesen sein. LunaSoleil. Alex und Cam hielten sich noch immer an der Hand. Langsam gingen sie auf das Haus zu. Schon nach ein paar Schritten mussten sie ihren Weg durch ein Dickicht von Sträuchern, Wildrosen, Blumen und Wildkräutern suchen, die wohl früher einmal einen prachtvollen, liebevoll gepflegten Garten gebildet hatten. Cam hatte einen freudigen Schock verspürt, als das Haus in den Blick gekommen war. Sie hatte nicht erwartet, dass es so eindrucksvoll sein würde. Zwar hatte sie sich ihr Geburtshaus nie genau vorstellen können, aber jedenfalls hatte sie nicht damit gerechnet, dass es so stattlich und offenbar früher einmal so schön gewesen war. Sicher, es war nicht so modischelegant wie das Haus der Familie Barnes in The Heights, dem exklusivsten Stadtviertel von Marble Bay, konnte sich aber auf seine Art durchaus daneben sehen lassen.
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Auch Alex war beeindruckt. „Das ist unser Zuhause", unterbrach sie Cams Gedanken. „Cam, hier sind wir auf die Welt gekommen." Überrascht stellte Cam fest, dass sie gerührt war, erregt und stolz. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wollte Alex nicht zeigen, wie bewegt sie war, wandte sich ab und tat so, als betrachte sie das vom Mond beschienene Haus völlig neutral und unbeteiligt. Man konnte deutlich erkennen, was für ein erstaunliches Gebäude dieses Haus einmal gewesen sein musste, aber bei näherer Betrachtung wurde klar, dass die lange Zeit, in der es nicht bewohnt gewesen war, dem Haus schwer zugesetzt hatte. Hauptdach und Mansarden waren mit Schindeln gedeckt, doch überall zeigten sich gähnende Löcher und auf den verbliebenen Schindeln lag weißer Schimmel. Der Efeu war außer Kontrolle geraten und schien den halb zerfallenen Schornstein fast zu ersticken. Die Vorderseite war fast völlig von Glyzinien überwachsen, deren Äste armdick waren und die mit ihrer Kaskade roter Blüten das Haus fast unter sich zu erdrücken drohten. Sie hatten auch den Hauseingang und die Stabwerkfenster überwuchert. Die Fenster, die nicht von Pflanzen überwuchert waren, hatte man mit groben Holzbrettern zugenagelt. Hoch oben und außer Reichweite hingen ein paar Fenster mit zerbrochenen Scheiben gefährlich lose in den Angeln, wie das Fenster mit Glasmalereien, das Alex entdeckt hatte. Cam war halb um das Haus herumgegangen. „Da kommen wir nicht rein", wollte sie schon sagen, als ihr etwas auffiel, 105
was nicht hierher passte. Hinter dem Haus lag ein großer Haufen aus Laub und Ästen - ein wahrer Hügel, der unmöglich vom Wind hierher getrieben worden sein konnte, zumal sich darunter auch große Steinbrocken befanden. Der Hügel sollte wohl etwas verbergen. Cam aktivierte ihren Röntgenblick, dann kickte sie Äste und Laub beiseite. „Alex!" rief sie aufgeregt. „Hier ist eine Kellertür. Jemand hat sich ziemlich viel Mühe gemacht, sie zu verstecken." „Bingo!" Wie der Blitz tauchte Alex neben ihr auf. „Los, worauf warten wir denn noch?" Sie zerrte einen der halb verfallenen Türflügel auf. Und im selben Augenblick wurde sie von dem vertrauten Schwindelgefühl überwältigt. Sie erstarrte, denn sie wusste, was jetzt folgen würde. Schon begann das Klingen in ihren Ohren, das jedes andere Geräusch übertönte - auch die Stimme ihrer Schwester, die wie von weit weg zu ihr drang. Was hatte Cam eben gesagt? „Nein, warte ... Stopp ..." Das schrille Ohrenklingen hörte so abrupt auf, wie es angefangen hatte. Doch die plötzliche Stille wurde jäh von einem gewaltigen, entsetzlichen Brüllen zerrissen, das Alex aber doch bekannt vorkam: Jemand oder etwas brüllte vor Schmerzen, gefolgt von einem Heulen, in dem eine unbändige Sehnsucht nach Freiheit mitklang. Das verletzte Tier, das zu Ileanas Haus gekommen war! Es schien hier in der Nähe zu sein, vielleicht sogar direkt unter ihnen. Wieder roch Alex den durchdringenden, Übelkeit erregenden Gestank von Angst, talgig fettigem Fell und Blut. Und das Parfüm, mit dem jemand versucht hatte, den Gestank des Tieres zu überdecken. Cam hatte Alex noch warnen wollen, aber jetzt war auch sie wie gelähmt. Eisige Kälte wirbelte um sie herum. Sie keuchte 106
und zitterte, Gänsehaut jagte ihr über Rücken und Arme. Und wie immer, wenn eine ihrer Visionen begann, schien alles vor ihren Augen zu verschwimmen - um dann ihren Blick urplötzlich wieder schärfer als je zuvor werden zu lassen. Cam sah einen dunklen Tunnel, massive Felsenwände, die die kalte Feuchtigkeit der Erde ausschwitzten und in die man immer wieder Grotten und Nischen geschlagen hatte. Und sie sah irgendein gefangenes Lebewesen, ein geschmeidiges Tier mit dunklem Pelz, das von entsetzlichen Gestalten gequält wurde. Die Höhlen! Cam wusste plötzlich, dass sie die unterirdischen Höhlen sah, die Shane erwähnt hatte und die sich unter einem großen Teil der Insel erstreckten. Dann spürte Cam, dass Alex sanft ihre Hand drückte. Die Vision verblasste. Cam hatte sich nur noch mit Mühe unter Kontrolle. Obwohl die Nacht inzwischen sehr kühl geworden war, schwitzte sie heftig. Zum zweiten Mal an diesem Abend wäre sie am liebsten auf der Stelle von der Insel geflohen. „Wir dürfen da nicht reingehen", flüsterte sie unsicher. „Das war eine Warnung ..." „Und?", fragte Alex trotzig, um ihre eigene Angst zu verjagen, und zerrte erneut an der Tür. „... und wir sollten sie wirklich befolgen!" Cam versuchte, Alex am Arm zurückzuziehen. „Oder jedenfalls erst morgen Früh nachschauen!" „Warum? Damit du deine Vision noch mal bei Tageslicht sehen kannst?" Alex schnaubte verächtlich. „Häng dein Angsthasenfell an den Baum dort und hilf mir endlich!" 107
„Ich bin kein Angsthase!", fauchte Cam wütend. „Vielleicht hast du das Zählen verlernt, aber das ist jetzt schon die zweite Warnung heute!" „Aber aller guten Dinge sind drei!", erklärte Alex und stemmte die Hände in die Hüften. „Also haben wir noch Zeit. Übrigens war die Sache mit dem Giftkraut ein ziemlich lahmer Trick. Der sollte uns nur Angst einjagen. Was ja auch bei einer Hälfte der Zwillinge gelungen ist. Trotzdem nur ein großer Bluff. Und das eben war ein Zeichen. Das hat uns Karsh beigebracht. Solche Zeichen sagen uns, was wir tun müssen." „Ein Zeichen, dass jemand um Hilfe ruft", nickte Cam widerstrebend. Im Moment wollte sie allerdings von absolut niemandem zu Hilfe gerufen werden, nicht jetzt und schon gar nicht auf dieser seltsamen Insel. „Alex, das können wir noch gar nicht, wir sind noch nicht bereit", flehte sie ihre Schwester an. Und dachte: Ich will nach ... „... Hause", beendete Alex laut Cams verzweifelten Gedanken. „Aber unser Zuhause ist hier, Cam. Dieses Haus hier ist unser wahres Zuhause. Es ist egal, ob wir bereit sind oder nicht, und es ist auch egal, was da drin oder da unten auf uns wartet. Wir gehen rein."
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KAPITEL 9
LUNASOLEIL
Sie stiegen die brüchigen Stufen in den Keller hinab. Unten war es stockfinster und, wenn man vom Knarren der Stufen absah, absolut still. Und absolut unnormal. Die Fenster waren vernagelt. Kein Sonnenstrahl drang herein, alles war tot und verlassen. Es war nichts weiter als eine leere Schale, die aber noch bezeugte, dass das Haus einmal ein lebendiges Heim voller Freude und Geborgenheit gewesen war. Warum also roch Alex den Geruch von Ammoniak und etwas, das sie an Möbelwachs erinnerte, als habe jemand vor kurzem das Haus geputzt? Cams Augen hatten sich schnell an die Dunkelheit angepasst, und was sie sah, bestätigte dies ebenfalls: Keine Spinnwebe, keine Staubflocke war zu sehen. Jemand hatte sich heimlich um das Haus gekümmert und sich große Mühe gegeben, den Eingang zu tarnen. Der Keller, der früher einmal als Vorratsraum gedient haben mochte, war leer. In einer der hinteren Ecken führte eine enge Treppe nach oben. Auch damit stimmte irgendetwas nicht. Was Cam bei ihrer Vision gesehen hatte, hatte sich unter der Erde befunden, nicht hier im Keller, und auch die Schreie hatten sich so angehört. 109
Cam ließ den Blick über den mit Holzdielen belegten Boden gleiten und suchte auch die Wände nach einer verborgenen Tür oder Öffnung ab, konnte aber nichts entdecken. Alex die Ungeduldige polterte dermaßen laut die Treppe hinauf, dass sich Cam nicht mehr auf ihre Suche konzentrieren konnte. In Sekundenschnelle hatte Alex auch schon die oberste Treppenstufe erreicht. Cam folgte ihr dicht auf den Fersen. Wie erstarrt blieben sie stehen und brachten nicht den Mut auf, die Schwelle zu den Wohnräumen zu überschreiten. Doch dann schoben sie gemeinsam die Tür langsam auf. Es war, als würden sie von dem warmen, anheimelnden Gefühl umhüllt, dass sie hier willkommen waren. Cam beschrieb es später so, als seien sie direkt aus dem Straßenlärm in eine Kirche eingetreten, in einen heiligen, sicheren, von der Außenwelt geschützten Hafen der Stille. Wie ein Kind, das sich in die starken Arme des Vaters oder die tröstenden Arme der Mutter flüchtet. So fühlten sie sich in Arons und Mirandas Heim. Und wie Karsh und Ileana gesagt hatten, waren die Zwillinge hier geboren worden. Der große Raum, den sie jetzt im Schein der Taschenlampe erblickten, mochte einmal ein gemütliches Wohnzimmer gewesen sein. Funkelndes Sonnenlicht musste damals durch die mit Glasmalereien verzierten Fenster gefallen sein. Doch jetzt war alles vernagelt und trostlos. In einer Ecke stand ein hübscher, mit Schnitzereien verzierter Diwan aus Mahagoni. Ohne ihre Schwester anzusehen, legte Alex einen Arm um Cam und zusammen gingen sie vorsichtig auf den Diwan zu. Und daneben, halb in einer Ecke verborgen, stand eine einzigartig schöne, aus Weide geflochtene Wiege, die so breit war, dass zwei Babys leicht auf dem dicken Kissen Platz gefunden hätten. 110
Vor vielen, vielen Jahren, lange vor der Zeit, an die sie sich erinnern konnten, hatten Cam und Alex nebeneinander in dieser schönen handgearbeiteten Wiege gelegen. Alex' Herz klopfte heftig, als sie bemerkte, dass das Kissen dieselbe Größe hatte wie die Patchworkdecke, die Miranda den Zwillingen bei ihrem ersten Zusammentreffen gegeben hatte -die mit Kräutern gefüllte, duftende Decke, die Alex seither als Schal trug. Und die auch in diesem Augenblick um ihre Schultern lag. Es war ihre eigene Babydecke. Ihre Mutter hatte die Decke seit jenem Tag vor fünfzehn Jahren mit sich geführt, an dem sie ihr geliebtes Heim in dem Glauben verlassen hatte, dass ihre beiden Töchter tot seien - bis sie die Zwillinge vor mehr als einer Woche wieder gefunden hatte. Unvermittelt drängte sich Cam eine Erinnerung auf, so flüchtig wie ein Traum. Eine schattenhafte Gestalt, die sich über sie beugte. Ein großer Mensch mit breiten Schultern und dichtem Haar, ein Mann, den sie nur sehr undeutlich erkennen konnte und der kaum mehr war als ein Schatten im Nebel. Er hielt etwas in der Hand ... etwas Glänzendes, das an einer Kette hing. Unwillkürlich griff Cam nach ihrem Sonnenmedaillon. Das Goldamulett fühlte sich ungewöhnlich warm an. „Alex?", fragte sie unsicher. „Ich weiß", flüsterte Alex. „Das ist unsere Wiege." Sie setzten sich auf das Liegesofa. „Wird dein Mondamulett wärmer?", fragte Cam und ihre Stimme brach, als sich die Tränen in ihre Augen drängten. Alex befühlte ihr Amulett. Kleine Artemis, hörte sie eine Stimme, ein weit entferntes schwaches Flüstern. Eine sanfte, 111
tiefe Stimme, die schon einmal - ein einziges Mal - zu ihr gesprochen hatte. Trag dies, kleine Artemis. Meine Hände haben es gemacht und mein Herz und meine ganze Kraft sind darin. In Cams Tränen verschwamm das Bild des Mannes. Und zugleich begann etwas in ihr zu schmelzen, das hart und spröde in ihrer Brust gelegen hatte, seit sie und Alex diese Insel betreten hatten. Bis zu diesem Augenblick hatte sie es gar nicht bewusst wahrgenommen, erst jetzt, im selben Moment, in dem es sich auflöste. Es hatte sich angefühlt wie ein Eisenhemd. Eine Rüstung, ein eiserner Ring. Jetzt endlich konnte sie wieder frei atmen. Und sie spürte Alex' Arm, der um ihre Schultern lag. „Willkommen zu Hause", flüsterte ihre Schwester mit erstickter Stimme. Cam lachte durch die Tränen und umarmte sie. „Willkommen zu Hause." Artemis, dachte sie. Alex. Das Mädchen mit den tausend verschiedenen Haarfarben und einer Garderobe von genau fünf gleich schäbigen Kleidungsstücken. Schon die Klamotten, die sie jetzt anhatte, waren eine einzige Provokation: eine am Saum ausgefranste Jeansjacke, bei der die Löcher an den Ellbogen noch am ordentlichsten aussahen. Alex - die rebellische, zornige, unbeherrschte, mutige Alex. Das harte Mädchen aus Montana, das bei ihrem ersten Zusammentreffen Cam mit abgrundtiefer Verachtung behandelt und dann ignoriert hatte. Und das dann trotzdem eine Woche später vor Cams Haustür gestanden hatte. Wie kam es nur, dass dieses abgerissene, verwahrloste, verwirrte Ding mit ihr - Camryn Barnes - tatsächlich verwandt war? 112
Alle Fragen und Zweifel, die Camryn Barnes jemals über ihre Doppelgängerin gehabt hatte - die doch in jeder anderen Beziehung ihr genaues Gegenteil war -, zerbröselten zu nichts. Alex hatte ihr Gesicht in Cams Haar vergraben. Da waren sie nun durch Sumpf und Wald marschiert, hatten sich durch dichtes Gestrüpp und Unterholz gekämpft, und trotzdem roch Camryn Barnes so frisch und sauber, als sei sie soeben mitsamt ihren Designerklamotten und Timberland-Schuhen aus einem Duftbad gestiegen. Sie hatte sogar noch die Zeit gefunden, ihr Haar auszubürsten und mit einem Gummiband zusammenzubinden. In Alex' Augen war Cam immer noch eine verwöhnte Vorstadtprinzessin. Das war der erste Eindruck gewesen, den sie von ihr bekommen hatte, und sie wurde ihn nicht mehr los, obwohl sie Cam inzwischen besser kennen gelernt hatte. Trotz ihrer identischen Gene, trotz allem, was sie in diesem einen Jahr gemeinsam erlebt und erlitten hatten, weigerte sich Alex beharrlich einzugestehen, dass sie nicht einzigartig war, sondern dass es Cam gab - ihr zweites Ich. „Niemand ist wie ich!", fauchte sie jedes Mal, wenn Freunde zu sagen wagten, dass Cam ihr ähnlich sei wie ein Ei dem anderen. So war es bisher gewesen, bevor ... Und jetzt verschwand das alles, als habe jemand eine Schultafel sauber gewischt. Sie hatten in diesem Raum in derselben Wiege gelegen. Und aus der Wiege hatten sie in die silbergrauen Augen ihrer Eltern geblickt. Augen, die wie Fenster der Seelen waren, die ihren eigenen glichen. Camryn und Alexandra - Apolla und Artemis - wussten später nicht, wie lange sie nebeneinander auf dem Liegesofa gesessen hatten. Sie wussten nur, dass ihre Herzen im Gleichtakt schlu113
gen, dass sie sich, jede auf ihre Art, daran erinnerten, wie ihnen ihr Vater die Amulette um den Hals gelegt hatte, wie ihre Mutter sie sicher in den Armen gewiegt und mit ihrer grenzenlosen Liebe eingehüllt hatte. Seltsam: Cam und Alex fühlten sich plötzlich frei. „Komm, schauen wir uns um." Cams Stimme durchbrach das lange Schweigen. Alex nickte nur. Wortlos wandten sie sich voneinander ab und standen rasch auf, als wollten sie verhindern, dass die nächste, tief vergrabene Erinnerung an die Oberfläche dringen konnte: die entsetzten Schreie ihrer Mutter. Das Weinen der Babys, die ihr aus den Armen genommen und weggetragen wurden. Wie die Zwillinge getrennt und auseinander gerissen wurden. Sie nahmen sich viel Zeit, um das Haus von oben bis unten zu durchstreifen. Wie in Zeitlupe bewegten sie sich von Zimmer zu Zimmer. Cam blieb im Erdgeschoss und schwebte durch die Räume. Sie sah alles. Und nahm doch nichts wahr. Alex wurde wie magisch zu einer Wendeltreppe mit gefährlich brüchigem Geländer gezogen, die nach oben führte. Sie führte zu einem Speicher, der eher wie eine Empore aussah. An den Wänden standen Regale mit Büchern, Kerzen, Kristallen - von einer dichten Staubschicht bedeckt. Wer immer das Erdgeschoss gereinigt haben mochte, hatte sich keine Zeit für das Obergeschoss genommen. Hier stand eine Zedernholztruhe und rechts und links davon standen zwei große, halb auseinander gebrochene Sessel. Eine kuschelige Ecke, in der Aron und Miranda abends gelesen haben mochten. Vielleicht hatten sie vertraulich 114
miteinander geredet, ihre Zukunft geplant. Alex ließ die Hand über die Lehne eines der Sessel gleiten und betrachtete die Truhe. Ihr Herz schlug schneller, als sie sich niederbeugte und die Truhe öffnete. Sie enthielt Bettwäsche. Eine Duftmischung von Kräutern und Blumen stieg ihr in die Nase. Betttücher, Decken, Kissen - alles war eingehüllt in die wunderbaren Düfte. Unter den Decken lag ein Hammer, eine aufgewickelte Goldkette und mehrere kleine glänzende Goldklumpen. Aron hatte wahrscheinlich die Amulette der Zwillinge aus diesen Goldklumpen angefertigt, und vielleicht hatte er sogar hier an dieser Stelle daran gearbeitet. Ganz unten auf dem Boden der Truhe lagen Bücher. Alex nahm sie nacheinander heraus und musste lachen, als sie den Titel eines der Bände las: Zwillinge - eine besonders schwere Erziehungsaufgabe. Ein Ratgeber für Zwillingseltern. Selbst Hexen brauchten solche Handbücher mit guten Ratschlägen! Doch ein Buch erregte ganz besonders ihre Aufmerksamkeit: Die Erinnyen. Alex begann zu lesen.
Die Erinnyen, gemeinhin eher als die Furien bekannt, lebten in der Unterwelt, dem Ort der Verdammten. Sie waren Ausgestoßene und galten als Rächerinnen von Freveltaten. Nichts und niemand konnte sich den Furien entgegenstellen. Meistens traten drei Furien auf: Tisiphone, Megaira und Alekto. 115
KAPITEL 10
DAS KANN ICH BESSER
Am nächsten Morgen blieb Alex lange im Bett liegen. Sie starrte an die Decke und ließ die erstaunlichen Ereignisse der letzten Tage noch einmal an sich vorüberziehen. Die Entdeckung von LunaSoleil war der Höhepunkt gewesen, das Ereignis, das ihr und Cam am meisten bedeutet hatte. Cam noch mehr als ihr, glaubte Alex. Denn in ihrem Elternhaus hatte Cam endlich zum ersten Mal ihre Verbundenheit mit dieser seltsamen Insel Coventry gespürt und akzeptiert, dass auch sie hierher gehörte, dass hier ihre Heimat war. Und doch hatte Shane versucht, genau das zu verhindern. Shane und Cam verspürten eine starke gegenseitige Anziehungskraft. Aber galt das auch noch nach dem, was gestern Abend passiert war? Stießen sie sich nun ab? Nein, es war noch viel schlimmer. Der Wunderhexer Shane hatte Cam über LunaSoleil belogen. Was hatte er zu verbergen ? Alex fuhr sich durch die Haare und gähnte. Vielleicht spielte das alles gar keine Rolle. Seit gestern Abend war Shane out, mega-out. Alex verspürte nicht die geringste Lust, ihrer Schwester noch mehr wehzutun, indem sie ihr erzählte, dass der Oberschleimer Shane auch total „vergessen" hatte, seine schlangenhafte Freundin zu erwähnen. Okay 116
- es wäre besser gewesen, wenn sich Alex das noch mal überlegt hätte. Ein paar Stunden später kreuzte die Schlange nämlich höchstpersönlich vor der Haustür auf. Da stand sie nun, Shanes Freundin, die Alex schon bei der Beerdigung gesehen hatte - der Wolf im Schafspelz - mit Veilchenaugen, dramatisch gekleidet in ein bodenlanges Cape, das genau die Farbe ihrer Augen hatte - und stellte sich vor: Sersee. Sie war nicht allein gekommen, sondern hatte ihre Truppe im Schlepptau, die beiden Mädchen, die auch bei Karshs Trauerfeier neben Sersee gesessen hatten. Die Kleinere trug einen smaragdgrünen Mantel und sah darin aus wie Peter Pan, der sich als Punk verkleidet hatte. Ihr dünnes, strähniges, braunes Haar reichte kaum bis zum Nacken. Um den Hals war ein Stacheldraht als eine Art Halskette tätowiert. Mit frechem Gesichtsausdruck hielt sie die Arme verschränkt und verkündete: „Ich heiße Michaelina." Die Dritte hieß Epie, war klein und plump und trug einen verblassten rosa Umhang. Alex musste sich nicht die geringste Mühe geben, sofort eine Abneigung gegen diese drei seltsamen Gestalten zu entwickeln. Die rotzfrechen Bemerkungen, die sie bei Karshs Trauerfreier über Cam gemacht hatten, stammten von diesem Trio, das offenbar nur Unsinn von sich gab. Eine alte Hexe mit ihren alten Hilfshexen, schoss es Alex unwillkürlich durch den Kopf. „Wenn wir alte Hexen sind", grinste Sersee boshaft, „was bist dann du? Vielleicht eine Möchtegern-Hexe? Eine geklonte Möchtegern-Hexe ?"
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Hoppla. Die konnten ja Gedanken lesen! Jedenfalls die lange Dünne. Schnell feuerte Alex zurück: „Ihr wollt wohl nur schnell ein paar Beleidigungen abliefern? Wollt ihr nicht mit uns spielen ? Wie wär's mit einer Runde ,Hexchen, ärgere dich nicht'? Wie lange dürft ihr heute Abend aufbleiben?" Die dicke Epie unterdrückte mühsam ein Kichern. Wenn Sersees Blick hätte töten können, wäre Epie auf der Stelle tot umgefallen. Die lange Hexe fasste Cam ins Auge und wies mit einer Kopfbewegung auf Alex. „Ist dein Schwesterlein immer so ungezogen?" „Nur, wenn sie einen guten Grund dafür hat", giftete Cam zurück. Sie hatte keine Ahnung, wer diese Mädchen waren, aber sie hatten jedenfalls dafür gesorgt, dass sich Alex' Laune auf dem Tiefpunkt befand. Cam wollte ihre Schwester nicht im Stich lassen. Sersee blähte arrogant ihre Nüstern auf. „Fangen wir noch mal von vorne an. Eure inspirierenden Trauerreden bei der Beerdigung haben uns so tief beeindruckt, dass wir euch unbedingt kennen lernen wollten." „Super. Hast uns kennen gelernt und kannst es abhaken. Tschüss." Alex wollte sich abwenden, aber Cam, die neugierig geworden war, hielt sie zurück. „Außerdem", fuhr Sersee fort und wedelte mit der Hand lässig in Richtung der blutverschmierten Warnbotschaft, die auf dem gelben Stofffetzen noch immer sichtbar war, „außerdem sollt ihr nicht glauben, dass ihr hier nicht willkommen seid. 118
Manche hier hoffen tatsächlich, dass ihr noch eine Weile hier bleibt. Eine kleine Weile." Cam riss überrascht die Augen auf, während sich Alex' Augen zu misstrauischen Schlitzen verengten. Sersee ließ nicht locker. „Wir wollten herausfinden, ob die legendären DuBaer-Zwillinge wirklich so ... besonders sind, wie man uns immer weismachen wollte." „Was genau meinst du mit .besonders'?", wollte Cam wissen. »Na ja, in jeder Hinsicht", säuselte die junge Hexe, wandte sich um und ging den Pfad zum Ufer entlang. „Kommt ihr?" fragte sie mit einer einladenden Handbewegung. Cam folgte ihr sofort; Alex ging widerwillig hinterher. Konnte nicht schaden, wenn sie ein wenig auf ihre kleine Schwester aufpasste. „Zum Beispiel haben wir gehört, dass ihr ganz extremiente Zauberkräfte haben sollt, und wollten von euch ..." Es heißt extrem, Sersee, korrigierte Michaelina die Oberfurie telepathisch, oder hast du exzellent gemeint? Das heißt so viel wie hervorragend, ausgezeichnet. Sie hat Recht, bestätigte Epie zögernd. Wie exzellent ihr doch seid!, zischte Sersee telepathisch ihre beiden Lakaien an. Dann sah sie Alex, die den stillen Wortwechsel mit breitem Grinsen mit angehört hatte, und wurde noch wütender. Natürlich hah ich extremientgemeint'., fauchte 119
sie telepathisch und wirbelte dann ihre Gedanken so durcheinander, dass Alex nichts mehr verstehen konnte. Dafür sah sie, dass Epie vor Angst weiß wie die Wand wurde. Jetzt wurde Alex erst richtig aufmerksam. Offenbar fiel es Sersee leicht, sie von ihren bösartigen Gedanken auszublocken. Konnten sie oder Cam Sersee von ihren Gedanken ausblocken ? Bisher nicht, weil sie nicht wussten, wie man so etwas machte. Ein Punkt für Sersee. Sie hatten inzwischen das Ufer erreicht. Cams Aufmerksamkeit wurde auf die Felsenklippen gelenkt, die ein paar Meilen entfernt undeutlich im Dunst zu erkennen waren. Mit ihrem Superblick konnte Cam die Spitze eines Turms ausmachen, die im Nebel über die Felsen ragte. Es muss das höchste Gebäude auf der ganzen Insel sein, dachte sie. Und bevor sie es verhindern konnte, platzte sie heraus: „Der Turm dort hinten - gehört der zu Crailmore?" Sersee zerfloss fast vor falschem Mitgefühl. „Ach, ihr wart noch gar nicht dort? Man hat euch nicht mal das Haus eurer Vorfahren gezeigt? Wohnt dort denn nicht eure ... geliebte Mutter?" Klick! Sie schaltete urplötzlich wieder auf eine ganz andere, eine spöttische und überhebliche Stimme um und tippte sich mit dem universalen Zeichen für Verrückte an die Stirn. „Oh, ich hab's ganz vergessen - euer Muttchen ist ja plemplem!" Alex stürzte sich auf sie, aber Cam trat schnell dazwischen. „Über Miranda DuBaer", sagte sie warnend, „solltest du nicht abfällig reden. Sie hat jetzt dreimal mehr Zauberkraft als damals, als sie von hier wegging."
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Epies fleischige Stirn legte sich in Falten. „Wie soll das denn passiert sein ?" „Kleiner Intelligenztest für dich", sagte Cam. „Mathe." Epie guckte nur noch dümmlicher aus der Wäsche. „Wir sind jetzt mit Miranda zusammen", half ihr Alex auf die Sprünge. „Eins plus zwei macht drei." „Oooh!" stieß Sersee hervor und tänzelte geziert einen Schritt zurück. „Jetzt hab ich aber sooo viel Angst vor euch! Wie hast du es vorhin so treffend ausgedrückt? Ich bin gewarnt und kann es abhaken." Spöttisch starrte sie Alex in die Augen. Aber sie hatte den Zwilling erwischt, der nie den Blick abwandte. Michaelina mischte sich ein. „Dann seid ihr also hier, um euch auf eure Weihe vorzubereiten ?" Die Weihe! Ileana hatte schon mehrmals darauf angespielt, ihnen aber nie etwas Genaueres darüber erzählt. Die Zwillinge nahmen an, dass es irgendeine Zeremonie war, bei der sie zu „Vollhexen" erklärt wurden. Oder so etwas Ähnliches. Epie piepste: „Und wer übernimmt jetzt eure Vorbereitung? Der alte Karsh ist ja endlich abgekratzt - toter geht's nicht." Cam wurde blass, als sie diese gemeine Bemerkung hörte. Sie dachte einen Moment daran, mit ihrem Superblick der frechen Hexe den Mund zu verbrennen, ließ es aber dann doch bleiben. »Ileana bringt auch nichts mehr auf die Reihe", verkündete Sersee mit schlangenhaftem Lächeln. „Die ist ja jetzt auch plemplem." Alex' Augen blitzten vor Wut. Jeder Muskel ihrer Arme sehnte sich danach, der Führerin dieser Rattenbande eine Gesichts121
massage zu verabreichen. „Wir brauchen keine Vorbereitung." Aus den Augenwinkeln sah Cam Michaelinas hinterhältiges Grinsen. Sersee klopfte sich mit dem Zeigefinger nachdenklich an das Kinn, während sie die Zwillinge abschätzig musterte. „Wirklich ? Seid ihr schon so gut ? Sollen wir euch ein bisschen testen?" Alex verschränkte die Arme und lehnte sich an einen Felsen. „Das könnte dir noch Leid tun", sagte sie unerschrocken. Sie fingen mit Telekinese an. Epie kam zuerst an die Reihe. Sie deutete auf eine große schwarze Muschel, die an das felsige Ufer gespült worden war, und schloss die Augen. Die Muschel stieg auf und wirbelte dann wie eine Frisbeescheibe auf den See hinaus, wo sie mit lautem Platschen im Wasser verschwand. Alex blieb, wo sie war. Selbst aus dieser Entfernung konnte sie Epies lahme Leistung überbieten. Sie konzentrierte sich auf eine Hand voll kleinerer Muscheln und ließ sie wie flach geschleuderte Steine über die Wasseroberfläche springen, sodass hübsche Wellenmuster entstanden. Sersee verdrehte die Augen. „Der Preis für die lahmste Tele-kinese-Show geht an Alex. Machen wir weiter." Sie winkte Michaelina heran und deutete auf einen Punkt am Horizont. „Michaelina, das Boot dort draußen - wer ist drin ?" Michaelina richtete ihren Fernrohrblick auf den See hinaus. „Das ist die Fähre auf dem Rückweg zum Festland. Unser tapferer Kapitän Bump Quatschkopf steht am Steuer." Sie legte den Kopf schief und grinste boshaft. „Er hat keine Passagiere und keine Ahnung, dass er geradewegs in einen Sturm steuert. Ist das nicht ein Pechvogel ?"
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Bevor die Zwillinge es verhindern konnten, hatte Michaelina einen heftigen - aber genau auf den Himmel über der Fähre begrenzten - Sturm herbeigezaubert. Der Regen prasselte vom Himmel und die Wellen schlugen so hoch, als sei direkt vor dem Boot ein Damm gebrochen. Der Wind tobte heftig und die Fähre geriet in eine bedrohliche Schieflage. Jeden Augenblick konnte sie kentern. Der einsame Steuermann wurde von dem plötzlichen Unwetter völlig überrascht und wie ein Tennisball zwischen den Bordwänden hin und her geschleudert. Das Boot ächzte, als eine riesige Welle über die Bordwand schoss. Der Steuermann war verloren. Aber dann geschah es. Trotz der Schieflage sank er mitten im Schiff in sich zusammen und schien förmlich zu erstarren. Mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund kniete er unbeweglich und wie festgewurzelt auf den Schiffsplanken. Die Welle ging über ihn hinweg, ohne ihn mit sich reißen zu können. Er hatte den Sturm überlebt - durchnässt, aber unversehrt. Immerhin hatte er jetzt ein weiteres Erlebnis von der Hexeninsel zu erzählen, um die Leute vor Coventry Island zu warnen. „Hat wohl nicht ganz geklappt", sagte Cam gleichmütig. Epie starrte sie verwirrt an. „Aber ich wollte, dass er über Bord geht!", klagte sie beleidigt. „Was hast du mit ihm gemacht?" Sersee schnaubte verächtlich. „Das Sonnenkind hat ihm eine Totalstarre geschickt, kapierst du das nicht ? Nicht mal ein Erdbeben hätte ihn vom Schiff lösen können." „Cool..." begann Epie mit großen Augen, brach aber ab, als sie Sersees wütenden Blick auffing. Michaelina wich ein wenig zurück. In ihrer Miene spiegelte sich Furcht - oder war es ehrfürchtige Bewunderung? „Das 123
war nur zum Aufwärmen", verkündete Sersee. „Kommen wir zur zweiten Runde." Sie ärgerte sich, dass die ersten Schüsse nach hinten losgegangen waren. Das nahm sie sehr persönlich und forderte Revanche. Sie deutete auf Cams Haar und murmelte einen Zauberspruch. Cams Haarband löste sich und fiel herab. Erschrocken spürte Cam, wie sich ihr seidig glänzendes, schulterlanges Haar aufrichtete, durcheinander wirbelte und dann erstarrte - borstig, stachelig, elektrisch aufgeladen, als hätte sie einen Finger in eine Steckdose gesteckt. „Vielleicht solltet Ihr das Shampoo wechseln, Prinzessin", höhnte Sersee. Cam lief rot an. Schnell band sie ihre widerspenstigen Haare zurück. Und dann wurde sie wütend. Ihr Blick heizte sich auf. Mal sehen, ob Sersee es gefiel, wenn ihre Löckchen geröstet wurden, dachte sie. Aber Alex war schneller. Sie hatte schon immer besser austeilen als einstecken können, und jetzt wollte sie unbedingt selber für den Ausgleich sorgen. „He, Suppenknochen", verspottete sie die magere, knochige Sersee. „Was ist denn mit deinem Umhang los?" Telekinetisch warf sie Sersees violettes Cape in die Luft. Da es aber um Sersees Nacken gebunden war, flatterte es wild nach oben und schlug wie die Flügel eines Riesenvogels um Sersees Gesicht. Es sah aus, als würde ihr von einem Wirbelsturm ein Turban um den Kopf gewickelt. Sersee raste vor Wut und spuckte Gift und Galle, aber der herumwirbelnde Samtstoff dämpfte ihren Wutanfall. Michaelina versuchte vergeblich, ihr Grinsen zu unterdrücken, als sie 124
vorsprang und ihrer bedrängten Freundin half, den wild gewordenen Umhang herunterzuziehen. „Wow!" kreischte Epie und deutete auf Sersees Haarschopf, der sich zu einer hochmodischen Frisur der Art „Schiefer Turm von Pisa" aufgetürmt hatte - oder zu einem spitzen Hexenhut ohne Krempe - oder einer Narrenmütze. „Ich will ja nicht Haarspalterei betreiben", spottete Alex, „aber dieser Haarstil war vor fünfhundert Jahren modern ..." Michaelina stand noch immer mit dem Saum des Capes in der Hand, wie eine Brautjungfer, die die Schleppe trägt. Sersee löste mit vor Wut zitternden Fingern die Kordel, mit der das Cape um ihren Hals befestigt gewesen war, und schnappte nach Luft. „Okay", fauchte sie, riss Michaelina das Cape aus den Händen und warf es weg wie schmutzige Wäsche. „Die Spielchen mit Telekinese kennt ihr also. Ich hab's geschnallt und der Punkt geht an euch. Wie steht's mit Verwandlung?" „Das können nur Hexen und Hexer des höchsten Grades", verkündete Epie stolz. „Und natürlich Sersee." Sersee ignorierte ihren Lakai. „Wollen mal sehen, was ihr drauf-habt!", verkündete sie und starrte die Zwillinge mit tückisch blitzenden Augen an. „Oder nicht drauf habt..." Sie wandte sich ab und trat direkt ans Wasser, wo sie niederkniete und einen Zauberspruch zu murmeln begann. Schweiß trat auf Cams Stirn. Alex!, denkmailte sie ihrer Schwester, davon haben wir doch keine Ahnung. Was ist, wenn sie ... Ihr Zwilling blieb gelassen. Uns wird schon was einfallen. Lass dir nur nichts anmerken. 125
Sersee grub im nassen Sand und zog einen hässlichen Ochsenfrosch von der Größe einer Grapefruit heraus. „Quak, quak", machte der Frosch unschuldig. Was hat Sersee mit dem Frosch vor?, fragte sich Cam schaudernd. Sersee packte das schlüpfrige Tier mit ihren krallenartigen Fingern, sodass es nicht mehr weghüpfen konnte. Sie warf Cam und Alex einen boshaften Blick zu und grinste hämisch. „Dieser Verwandlungszauber läuft still ab - das geht nur mich und ... Kermit hier etwas an. Ach, übrigens: Falls ihr meint, mich davon abhalten zu müssen - tut es nicht. Das werdet ihr nämlich nicht schaffen. Also, setzt euch bequem hin und schaut zu und erstarrt vor Bewunderung!" Alex zog scharf die Luft ein. Sersee bewegte nicht einmal die Lippen. Sie starrte nur einfach ihr Opfer an. Langsam und auf grauenhafte Weise veränderte sich der Froschkörper. Die Beine schrumpften in den Unterleib. Seine Froschaugen, die erst vor Entsetzen noch weiter herausgequollen waren, sanken jetzt in die Höhlen. Sersee verwandelte den Frosch in etwas, das nicht lebte. „Du wirst ihn umbringen!", schrie Cam. „Alex, nimm ihr den Frosch weg!" Doch Sersee hatte sie nicht umsonst gewarnt. Alex konnte sie nicht aufhalten. Sersees Magie war außerordentlich stark, und die ganze Sache war längst kein Spaß mehr. Jetzt ging es um Leben und Tod. 126
Cam suchte verzweifelt nach einem Weg, wie sie die bösartige Hexe von ihrem Vorhaben abhalten konnte, aber es fiel ihr nichts ein. Aber vielleicht ... wäre das möglich ? Michaelinas Lippen bewegten sich. Betete sie etwa still den Zauberspruch nach, den Sersee in Gedanken aufsagte ? Cam schubste Alex mit dem Ellbogen. Alex konzentrierte sich auf Michaelinas Lippen und hörte den entsetzlichen Zauberspruch:
Dunkle Magie wallt durch die Nacht wie Gift. Donnerwolken verhüllen das Licht. Nimm diese Kreatur, der ich befehle, in Holz sich zu wandeln: Sein Fleisch sich schäle, sein Herz erstarre, seine Haut werde Rinde. Der Frosch werde Holz, wie ich es verkünde!
Sersee schien sich köstlich über ihren Einfall zu amüsieren. Tatsächlich hatte der Ochsenfrosch inzwischen die Farbe gewechselt - seine gesunde grüne Haut war braun und rissig geworden. Der runde Körper streckte sich in die Länge, die glitschige Haut verwandelte sich in knorrige Borke. Dann schien die Verwandlung abgeschlossen: Aus dem Frosch war ein armlanger, knorriger und verwitterter Ast geworden. Doch Sersees Grausamkeit hatte damit noch kein Ende: Sie sorgte dafür, dass seine Augen am Ende des Astes deutlich hervorquollen. Triumphierend hieb sie den Ast wie ein Schwert 127
durch die Luft und hielt ihn dann Cam und Alex vor die Augen. „Verwandlungskunst in höchster Vollendung!" „Dann pass mal auf, was jetzt passiert!", fauchte Alex und griff nach ihrem Mondamulett. Michaelina hatte ihr in ihrer Einfalt den entscheidenden Hinweis verschafft. Aber reichte das aus, um die Verwandlung wieder rückgängig zu machen und die unschuldige Kreatur zu retten ? Cam riss Sersee den Ast aus der Hand und hielt ihn in ihren Armen wie ein Kind. Die arrogante Hexe kreischte laut vor Lachen: „Du willst das Fröschchen wohl in den Schlaf singen? Leider hört es nichts mehr. Es ist ja nur noch ein Stück Holz, falls du es noch nicht bemerkt hast!" Aber Cam ignorierte sie. Sie griff nach ihrem Sonnenamulett. Gemeinsam mit Alex tat sie das Einzige, was ihr zur Rettung einfiel. Sie rezitierten den Zauberspruch noch einmal, aber umgekehrt: Sersees bösen Zauber ersetzten sie durch guten Zauber, Erbarmen trat an die Stelle von Grausamkeit. Es muss wirken! Es muss wirken!, betete Cam im Stillen und schloss die Augen. Es wird wirken, hörte sie Alex denken. Aber Cam wusste, dass ihre Schwester nicht sicher sein konnte. Doch dann wurden ihre Amulette wärmer, zerrten an ihren Ketten und strebten wie die gegensätzlichen Pole von Magneten zueinander, bis sie sich ineinander fügten. Jetzt wussten die Zwillingshexen, dass ihr Gegenzauber wirkte. In ihnen wohnte eine starke Magie, die sich auch jetzt wieder 128
durchsetzte - auch wenn ihnen das niemand beigebracht hatte. Alex hörte es zuerst. Ein ganz leises, kehliges „Quak, quak!" Cam spürte, dass Leben in den Ast zurückkehrte, dass sich etwas gegen das Eingesperrtsein in dem engen Raum wehrte, sich zu einem schlüpfrigen Ball zusammenzog und schließlich wieder zu einem Frosch wurde, mit seiner eigenen grünen Farbe und seiner ursprünglichen Form. Und sehr lebendig kaum hatte er seine Beine wieder, sprang er mit einem Riesensatz aus Cams Hand, jagte mit gewaltigen Sprüngen auf das Wasser zu und verschwand mit lautem Platschen. Sersee kochte förmlich vor Wut. Und natürlich musste Alex ihren Triumph voll auskosten. Sie klatschte Cams Hände im High-five und grinste: „Willst du dich nicht bei uns bedanken, Sersee? Schließlich haben wir dafür gesorgt, dass du Ehrenmitglied im Tierschutzverein wirst." „Nicht so schnell", zischte Sersee wütend und schnippte mit den Fingern. Aus dem Unterholz, das den Strand säumte, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts ein schlanker schwarzer Panter auf. Er trug ein mit Nieten und Stahlnägeln besetztes Hundehalsband und darüber einen orangefarbenen Basketballanhänger. „Platz!" befahl Sersee. Das Tier zögerte, starrte Cam neugierig an, dann setzte es sich neben Sersees Füße. „Das ist mein neues Schoßtierchen", verkündete Sersee mit bösem Grinsen. „Ein Panter. Er folgt mir wie ein Schatten!" Alex unterdrückte einen Würgereiz. Der Geruch verursachte ihr Übelkeit. Es war derselbe grauenhafte Gestank aus Rasierwasser und feucht-modrigem Katzenfell, der sie schon in der 129
vergangenen Nacht fast dazu gebracht hatte, sich zu übergeben. „Dein Schoßtier könnte mal eine Dusche brauchen", stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Die Augen des Panters waren dunkel wie die Nacht. Cam fand sie faszinierend und entsetzlich zugleich. Es waren die Augen, die sie in der vergangenen Nacht vor dem Fenster gesehen hatte. Umrandet von langen, dichten schwarzen Wimpern. „Was willst du dem Tier antun ?", wollte Cam wissen. „Was ich ihm antun will?" Sersee blickte sie düster und drohend an. „Ich denke, ich habe ihm schon genug angetan." Cam konnte sich fast nicht mehr beherrschen. „Er hat Angst!" brach es aus ihr heraus. „Und Schmerzen!" „Meinst du wirklich?" Sersee kraulte den Panter hinter den Ohren. „Schon möglich, denn er hatte letzte Nacht einen kleinen Unfall. Er hat sich irgendwo verletzt, als er durch den Wald streifte. Hat dabei eine Menge Blut verloren, glaube ich." Cams Augen wurden weit. Das waren die Furien gewesen! Die Furien waren in der Nacht mit diesem Panter um das Haus geschlichen! Und das Blut ... Und plötzlich wurde ihr noch etwas anderes klar: Diese drei Hexen hatten sie verfolgt. Sie waren die Spione, deren Anwesenheit sie überall gespürt hatte. Alex verzog angewidert das Gesicht. Was für eine üble Bande! Die Giftkräuter, das Blut! Und sie, die Zwillinge, hatten trotz all ihrer Magie und Zauberkraft nichts gemerkt, nichts erkannt. Sie hatten Sersee nicht ein einziges Mal gesehen, bis die böse Hexe sie selbst „zu sich gerufen" hatte, sie ganz absichtlich aufgeweckt hatte. 130
Unmöglich! Es war unmöglich, dass sie und Cam damit allein fertig wurden, dachte Alex in ohnmächtiger Wut. Sie waren einfach noch nicht gut genug. Also brauchten sie Hilfe. Sie stieß hervor: „Ein Punkt für dich. Für den heimlichen Einbruch in unser Haus. Superleistung. Hat dir dein Freund bei der Planung geholfen oder hat er dich nur zu uns geführt?" Sersee verzog den Mund. Die Sache lief genau wie sie gehofft hatte. „Freund - wieder so ein lächerliches Festlandwort! Wir sind viel mehr als das. Wir sind Seelenverwandte, vom Schicksal auserwählt, immer beisammen zu sein. Aber das weißt du ja schon, Alex, schließlich hast du gesehen, wie wir bei Karshs Trauerfeier geschmust haben." Und dann, als sei ihr eben erst der Gedanke gekommen, sagte sie ganz beiläufig zu Cam: „Du kennst ihn ja auch. Shane Wright. Er gehört mir." Cams Atem stoppte. Als hätte sie einen Tiefschlag in die Magengrube bekommen. Langsam wandte sie sich zu ihrer Schwester um und sprach nur durch die Augen: Du hast es gewusst. Hast es mir nicht gesagt! Wie konntest du nur! Dann wurde sie von Wut und Verzweiflung überwältigt. Sie wirbelte herum und rannte davon. Sie kam nicht weit, bis Sersees letzter Triumph sie einholte: „Warte doch! Willst du denn nicht wissen, wie mein Schoßtierchen heißt?" „Ist mir egal!", schrie Cam, ohne den Kopf zu drehen. „Wirklich?", hallte Sersees gellende Stimme in Cams Ohren. „Aber sein Name wird dir gefallen! Er heißt Jason!"
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KAPITEL 11 AUSGETRICKST!
Die Angst schlug wie eine Peitsche auf Cam ein. Sie rannte besinnungslos dahin, ohne die scharfen Dornen der Büsche und Sträucher zu spüren, die um ihre Beine schlugen - eine rücksichtslose Flucht, die nur ein Ziel hatte: nicht denken zu müssen. Jason? Keuchend verlangsamte sie die Schritte. Es gelang ihr nicht, die Gedanken völlig abzuschalten, und besonders wehrte sie sich gegen den einen, den grotesken Gedanken. Nein, das konnte einfach nicht sein! Es war zu schrecklich, um wahr zu sein. Cam kehrte nach Hause zurück. Fand die Einladung zum Abendessen auf Crailmore. Entdeckte Ileanas handgeschriebene Nachricht: Ich hole euch um sechs Uhr ab. Keine Minute später. Sie duschte, shampoonierte zweimal die Haare, um Sersees ekligen Haarsträubefluch herauszuwaschen. Erst dann war sie bereit und in der Lage, logisch nachzudenken. Sersee hatte den stinkenden Panter Jason getauft. Zufall? Von wegen. Die magersüchtige Hexe war viel zu begierig gewesen, Cam den Namen an den Kopf zu werfen. Ein dummer Scherz also? Wie die Giftkräuter und die mit Blut hingeschmierte Warnung auf dem gelben Stofffetzen ? Der genau das Gelb von Jasons Tennis-Hemd hatte? 132
Das war immerhin denkbar, aber warum? Was hatten Sersee und ihre Horde minderbemittelter Furien gegen die Zwillinge? Waren sie schlicht eifersüchtig? Shane hatte sie, Cam, nur auf der Insel herumgeführt- er hatte schließlich nicht versucht, sie zu verführen! Sersee musste das klar sein, denn sie hatte ja ständig hinterherspioniert! Wieder sah sie die Augen vor sich. Panteraugen. Und doch Jasons Augen. Puh! Cam schüttelte heftig den Kopf, als könne sie damit diesen entsetzlichen und absurden Gedanken vertreiben. Nein das alles war nur ein fauler Trick, um ihr Angst einzujagen. Sersee, die böse Hexe von Wisconsin. Jason, der nette, gut aussehende Junge aus Massachusetts. Die eine war hier. Der andere war nicht hier. Sie kannten einander nicht einmal. Wenn Alex ihn nicht irgendwann erwähnt hatte ... Alex. Die von Anfang an von der „Seelenverwandtschaft" zwischen Sersee und Shane gewusst hatte. Und die sich nicht die Mühe gemacht hatte, Cam davon zu erzählen. Schon eine Bemerkung hätte genügt: „Oh, übrigens - Shane? Kein Single mehr. Hat 'ne Freundin, die ihn voll im Griff hat. Richtig bösartiges Weib." Sie bürstete ihr Haar aus und zog sich für das Abendessen um. Draußen näherten sich Schritte. Alex - und sie war nicht allein. Ihr Psycho-Zwilling schleifte tatsächlich eine der Giftschlangen nach Hause, Michaelina. Cam denkmailte Alex: Ich will nicht mit dir reden. Mit der anderen schon gar nicht. Dann verließ sie das Haus durch die Hintertür. 133
Alex' Denkmail ließ nicht auf sich warten: Du musst mir einfach vertrauen. Muss ich das?, funkte Cam. Vergiss es. Vertraue deinem Instinkt, hatte Karsh ihr immer gesagt. Vertraue deinem Herzen. Das war Emilys Ratschlag gewesen, als Cam gerade neun Jahre alt war. „Aber was ist, wenn das Herz zwei verschiedene Sachen sagt?", hatte Cam gefragt, die damals schon hin und her gerissen war, weil sie einerseits ihrer Mutter stolz vorführen wollte, was für erstaunliche Dinge sie tun konnte, andererseits aber irgendwie wusste, dass Emily davon nichts erfahren durfte. „Dann musst du eben besonders genau hinhören", hatte Emily empfohlen und ihr einen Kuss auf das Haar gehaucht. Im hintersten Teil des Grundstücks begann bereits der Wald. Dort, hinter dem Kräutergarten, entdeckte Cam eine Hängematte. Sie streckte sich darin aus und starrte durch den Baldachin der Blätter zum azurblauen Himmel hinauf. Geh nach Hause, flüsterte eine bedrückte Stimme in ihr, geh heim zu den Eltern, die dich großgezogen haben, zu Dylan, zu deinen Freunden. Zu ihren Freunden! Keine von ihrem Sechserpack hätte ihr ein Geheimnis wie die Sersee-Shane-Affäre verschwiegen! Wenn nur ihr Handy hier funktionieren würde oder wenn es überhaupt irgendwo ein Telefon gäbe! Diese Hexengemeinde war schlimmer als das rückständigste Kuhdorf! Sechzehntes Jahrhundert, keine Frage. Beth die Ausgeglichene war ihre beste Freundin. Jetzt gerade hätte Cam eine Dosis von Beths Vernunft dringend brauchen können! „Wie geht's 134
Beth eigentlich? Hab sie seit meinem Ausflug nach Marble Bay nicht mehr gesehen!" rief eine Stimme direkt neben ihr. Cam fuhr aus der Hängematte hoch und warf sich so schnell herum, dass sie beinahe herausgefallen wäre. Aber Shane fing sie auf. Shane, dessen Augen wie Saphire leuchteten und genau dieselbe Farbe hatten wie der wolkenlose Himmel. Shane trug keinen Umhang, sondern Jeans und ein eng anliegendes schwarzes T-Shirt. Was sollte das nun wieder? War auf Coventry freitags immer Freizeitkleidung angesagt? Gegen ihren Willen schlugen Herz und Magen Purzelbäume. Shane war so absolut super, dass Cams Wut wie Eis in der Sonne dahinschmolz. Einfach nicht fair, wenn ein Junge so gut aussah! Sie zwang sich, an Sersee zu denken, sich vorzustellen, wie sie bei Karsh's Trauerfeier „geschmust" hatten. Kühl antwortete sie: „Beth geht's gut. Und noch besser, weil sie dich nie mehr anschauen muss." „Warum bist du so wütend auf mich ?" „Ich steh nicht auf Typen, die mich anlügen. Außerdem lass ich mich nicht gern zum Narren machen." Seine feinen warmen Hände schlossen sich um ihre Hände und sandten einen Stromstoß durch ihren Körper. Sanft hob er sie aus der Hängematte und zog sie an sich. Widerstand war zwecklos und die Verwirrung total. Ihr Kopf sank auf seine Brust und sie hörte sein Herz schlagen. „Was ist eigentlich los?", murmelte er in ihr Haar. „Sag es mir." Rückblende! Jason hatte sie vor zwei Tagen genau dasselbe gefragt. Oder waren es zwei Jahre ? Sie wehrte sich 135
heftig gegen die Erkenntnis, dass sie Jason immer vertrauen konnte. Konnte sie Shane vertrauen - in dessen Armen sie sich jetzt gerade so wohl fühlte? Eher nicht. Überhaupt nicht, hätte Alex sofort dazwischengerufen. „Du hast mich angelogen", presste sie mühsam hervor. „Mein Elternhaus wurde gar nicht abgerissen." Shane hörte einen Augenblick lang auf zu atmen. „Tut mir Leid. Aber als du das Schild gefunden hattest, wusste ich, dass du versuchen würdest, das Haus zu finden. Ich wollte nicht, dass du LunaSoleil in diesem Zustand zu sehen bekommst -vernagelte Fenster und Türen, halb verfallene Mauern, Schimmel überall, keine Möglichkeit hineinzukommen. Ich dachte, der Anblick würde dich niederschmettern. Und das wollte ich dir ersparen." Shanes Umarmung ließ zwar ihr Herz schneller schlagen, schaltete aber keineswegs ihren Verstand aus. Im Augenblick wollte sie ihm nichts mehr verraten. Sie gab sich einen Ruck und löste sich aus seinen Armen. „Wolltest du mir auch ersparen, etwas über deine Freundin Sersee zu erfahren ?" Shane legte den Kopf ein wenig schief und ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen. „Bläst der eisige Nordwind etwa aus dieser Richtung?" Beruhigend drückte er Cams Schulter. „Hör mal, ich weiß, dass sie aller Welt erzählt, ich sei ihr Freund „Eigentum", unterbrach ihn Cam. „Sie sagt, du gehörst ihr. Und dass ihr Seelenverwandte seid." „Von wegen. Wir gehen nicht mal ernsthaft miteinander", schnaubte er verächtlich. „Ich kenne sie von der Schule her, und als ich zu Hause hinausgeworfen wurde, ließ sie mich ... 136
hat sie mir eine Wohnung besorgt. Dafür bin ich ihr dankbar, aber die Gefühle, die du meinst, empfinde ich nicht für sie." „Und was für Gefühle meine ich ?" Cam konnte den flirtenden Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken, obwohl sie sich selbst dafür hasste. „Die Art von Gefühlen, die ich ..." Er strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „... die ich vielleicht eines Tages für dich empfinden könnte ..." Totaler Sieg - er hatte es wieder einmal geschafft. Cam schmolz dahin, wollte unbedingt glauben, dass wenigstens seine letzte Bemerkung der Wahrheit entsprach. Zwar war es durchaus denkbar, dass er an ihr nur einen seiner Liebeszaubersprüche ausprobierte, aber sie wusste, dass das nicht der Fall war. Obwohl - verzaubert hatte er sie trotzdem. Irgendwie.
Alex war ihrer Schwester nach Sersees Panterzirkusnummer nicht nachgelaufen. Dafür gab es zwei Gründe. Erstens waren Sersee und ihre menschlichen und tierischen Schoßhündchen nicht einfach nur gemeine kleine Rivalen. Sondern sie waren gefährlich. Zweitens fragte sie sich, warum Michaelina den Zauberspruch „Frosch zu Kleinholz" mit stummen Lippen nachgesprochen hatte. Hatte die Punkfee den Zwillingen wirklich ganz unabsichtlich verraten, wie sie den Zauberspruch widerrufen konnten? Alex glaubte jedenfalls, dass es nützlicher wäre, wenn sie bei den drei Furien blieb, statt ihrer zutiefst 137
geschockten Schwester nachzulaufen. Sie tat ihr Bestes, um eine möglichst glaubhafte Imitation der „Ich-möchte-gerneine-böse-Hexe-werden"-Show abzuziehen. Dazu gehörte auch, dass sie die Turmfrisur der magersüchtigen Oberfurie einstürzen ließ und dann versuchte, sich bei dem Trio einzuschleimen. Aber Alex musste sich nicht lange verstellen. Sersee wurde die Sache ziemlich schnell langweilig. Sie warf ihre restaurierten, hüftlangen Korkenzieherlocken über die Schultern, winkte ihr kurz mit knochiger Hand zu und gab einen höchst theatralischen Abgang: „Hab noch viel zu erledigen. So viele Menschen sind zu verhexen, so viele Leben zu ruinieren ... Und ich hab so wenig Zeit..." Epie zuckte die Schultern, schob ihre Finger unter das Halsband des Panters und führte ihn hinter ihr her. Michaelina trödelte noch herum. Sie betrachtete Alex mit unverhohlener Neugier. Dann wandte sie sich zum See, flippte einen flachen Stein über die spiegelnde Wasserfläche und fragte: „Wie ist es denn da, wo ihr wohnt?" „Ileanas Cottage?" fragte Alex unschuldig, obwohl sie genau wusste, dass Michaelina etwas anderes gemeint hatte. „Eigentlich ganz super, passt zu ihr. Komm mit, ich zeig dir das Haus." Die kleine Hexe fand es uncool zuzugeben, dass sie Alex' Zuhause auf dem Festland gemeint hatte. Deshalb sagte sie betont gelangweilt: „Okay, von mir aus." Es brachte nicht viel, Michaelina auszuforschen. Nur ein Detail fand Alex ausgesprochen interessant: Sersee, Michaelina und Epie waren eng miteinander befreundet und nannten sich Die Furien. Alex forschte vorsichtig weiter. „Habt ihr den Namen rein zufällig gewählt oder ...?" 138
Michaelina antwortete stolz: „Hast du denn noch nie von den Furien in den alten Sagen gehört?" Natürlich hatte Alex erst ein paar Stunden zuvor etwas über die Furien in dem Buch gelesen, das sie in der Zederntruhe ihrer Eltern entdeckt hatte. „Aber nach der Legende waren die Furien Ausgestoßene. Sie lebten in der Unterwelt und waren ständig damit beschäftigt, andere Leute zu bestrafen." Dass Alex so viel darüber wusste, beeindruckte Michaelina. „Wir sind eine neue Version", prahlte sie. „Nur engstirnige und altmodische Menschen halten die Furien für Ausgestoßene. Eigentlich waren sie so was wie eine Avan... eine Avanti..." „Avantgarde?", half Alex nach. „Ja, genau. Und Rebellen noch dazu. Das sind wir auch." „Und wogegen rebelliert ihr?" wollte Alex wissen. „Gegen den Mist, den sie uns in der Schule vorsetzen oder bei den Versammlungen des Einheitsrates. Die Traditionen, die Legenden, den ganzen Senf mit der süßlichen Menschenliebe. Sersee meint, dass wir jede Autorität in Frage stellen. Wir allein entscheiden, was wir glauben und was wir nicht glauben." Alex bohrte weiter. „Ihr meint damit, dass ihr eure Zauberkraft und Magie für andere Dinge einsetzt und nicht zum Wohl der Menschheit?" Michaelina kicherte. „Du klingst ja schlimmer als die Lehrbücher! Bist du sicher, dass du nicht hier auf der Insel aufgewachsen bist?" .»Absolut sicher", bestätigte Alex. Sie hatten sich inzwischen dem Cottage genähert. Alex spürte Cams Verwirrung und ihre Wut, die förmlich durch die geschlossene Haustür strahlte. Du 139
musst mir vertrauen, versuchte sie ihren Zwilling telepathisch zu beruhigen, aber Cam schoss nur ein sarkastisches Vergiss es! zurück und stürmte im selben Moment aus der Hintertür, als Alex Michaelina vorne hereinführte. „Aber ich hab natürlich gelernt, was uns Lord Karsh beigebracht hat", erklärte sie mit belegter Stimme, als sie an Karsh dachte. „Wir haben diese Zauberkräfte doch nur geerbt, um anderen zu helfen." „Ihr habt sie geerbt", verbesserte Michaelina. „Ihr, weil ihr zum ach so verehrten DuBaer-Clan gehört. Die DuBaers wollen nicht, dass wir Bescheid wissen. Aber die Wahrheit ist, dass nicht alle eure Verwandten so perfekte Hexen oder Hexer sind." Alex kamen sofort Thantos und Fredo in den Sinn ... und natürlich Tsuris und Vey. Sie war deshalb nicht überrascht, als Michaelina fortfuhr: „Sersee sagt, dass manche DuBaers immer zuerst an sich selbst dachten, bevor sie anderen halfen." Sie ließ den Blick kritisch durch Ileanas vornehm eingerichtetes Wohnzimmer gleiten. „Sersee sagt, dass ihr wahrscheinlich von eurem eigenen Vormund verhext worden seid, damit sie sich selbst bereichern kann." Alex unterdrückte den Drang, Ileana in Schutz zu nehmen und Michaelina das Knie in den Bauch zu stoßen. Sie hatte schon oft selbst gegen die Versuchung ankämpfen müssen, ihre Magie zu benutzen, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, zum Beispiel bei einer Klassenarbeit, oder wenn sie herausfinden wollte, was Cams Freundinnen dachten. Aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Gaben zu missbrauchen, um unschuldigen Menschen oder Tieren Schaden zuzufügen. Jetzt versuchte Michaelina, Alex auszuforschen. „Hast du dich nie gewundert, warum du so 140
blind alles glaubst, was Karsh euch beigebracht hat? Hast du das nie in Frage gestellt?" Alex antwortete gereizt: „Er war Lord Karsh, merk dir das. Und nein - ich habe es nie in Frage gestellt." Sie hatte keine Lust Michaelina zu erzählen, wie ihre Pflegemutter Sara auf ihrem Sterbebett sie gedrängt hatte: „Hör auf ihn. Er sieht vielleicht Furcht erregend aus, aber er ist gut." „Ihr seid vielleicht zwei Typen - sooo schnell beleidigt!" Michaelina zuckte mit den Schultern. „Ich hab doch gar nichts gegen euren Ka... Lord Karsh." Alex fuhr fort: „Vielleicht hab ich wirklich nicht alles verstanden, aber jedenfalls wusste ich, dass Lord Karsh alles für mich war ... weise, gut und freundlich. Er hat uns beschützt, geleitet und war für uns wie ein Vater. Ich kannte ihn genau." Sie kämpfte die plötzliche Trauer nieder. „Mein größtes Ziel ist, nur ein kleines bisschen so sein zu können wie er." Der Gesichtsausdruck der kleinen zähen Hexe wurde plötzlich weich. „Na ja", sagte sie nach einer kleinen verlegenen Pause, „Sersee meint jedenfalls ..." Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Ach, ist doch egal." „Stellst du denn nie in Frage, was Sersee sagt?", fragte Alex sanft. Michaelina antwortete nicht. Das war auch nicht nötig. Und Alex musste sich nicht einmal in ihre Gedanken einloggen, um zu wissen, dass die kleine Hexe keineswegs auf den Kopf gefallen war. Natürlich hatte sie ihre Zweifel an dem, was Sersee 141
von sich gab. Und vermutlich waren ihre Zweifel nie stärker gewesen als gerade jetzt. Oder auch nicht. Denn Michaelina blieb gerade so lange in Ileanas Cottage, bis sie ein paar saftige Informationen gesammelt hatte. Danach verlor sie keine Sekunde, raste zu Sersee zurück und berichtete ihr Wort für Wort, was sie bei diesem Besuch in Erfahrung gebracht hatte. Wie rücksichtsvoll von Alex, das kleine Drama in der hinteren Gartenecke nicht zu belauschen, in dem Cam und Shane die einzigen Darsteller waren! Michaelina kannte keine solchen Skrupel. Sie hatte jedes Wort mitbekommen und erzählte es Sersee brühwarm: „Wir gehen nicht mal ernsthaft miteinander ... Solche Gefühle, die du meinst, empfinde ich nicht für sie." Sersees Kopf wurde glühend rot vor Wut. Wie konnte Shane es wagen - dieser ... dieser Nichtsnutz! - zu behaupten, dass sie nicht „miteinander gingen"! Und dass er „solche Gefühle" nicht für sie empfinde! Hatte Cam ihn verhext? War diese verzärtelte DuBaer-Prinzessin sogar dazu fähig? War Sersee zuvor nur einfach eifersüchtig gewesen, dann war sie jetzt mörderisch eifersüchtig. Sie würde Cam nur noch genau so lang leben lassen, wie diese Zeit brauchte, um gründlich zu bereuen, dass sie ihre kitschig blauen Augen jemals auf Shane geworfen hatte. Sersees Wut wurde noch durch etwas anderes angeheizt, was sie schon früher an diesem Tag bemerkt hatte. Es hatte ihr Angst eingeflößt, sehen zu müssen, dass Camryn und Alexandra gemeinsam eine unglaubliche Magie besaßen. Das durfte sie nicht unterschätzen. Zusammen hatten sie eine 142
wahrhaft fürchterliche Zauberkraft, womöglich waren sie sogar unbesiegbar. Man musste sich das nur vorstellen: Sie hatten ohne jede Hilfe herausgefunden, wie der Verwandlungszauberspruch funktionierte, und hatten ihn unwirksam gemacht! Obwohl sie den Spruch gar nicht gekannt und noch nicht einmal die Weihen empfangen hatten! Aber stark waren sie eben nur, wenn sie zusammen waren. Sersee erkannte klar, dass ihre einzige Chance darin lag, die Zwillinge zu trennen. Für immer und ewig. War es nicht ein netter kleiner Zufall, dass sie genau wusste, wie sie das bewerkstelligen konnte ?
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KAPITEL 12 DER SCHWUR
Ileana war wieder da. Jedenfalls glaubte sie das. Sie starrte ihr Spiegelbild in dem halbblinden Spiegel an, der über Karshs Kaminsims hing. Zwar fühlte sie sich noch nicht wie früher. Das durfte sie jetzt noch nicht erwarten. Vielleicht würde sie sich auch nie mehr so wie früher fühlen. Möglich, dass ihre wunderbare Begabung für Magie, Verwandlung, Zaubersprüche endgültig versiegt war - auf Nimmerwiedersehen! -, aber jetzt im Moment war sie jedenfalls wieder da, und zwar voll und total. Und dementsprechend hatte sie Kriegsbemalung und Kampfmontur angelegt. Ihr Make-up war perfekt; das Blondhaar hatte sie so lange gebürstet, dass es wieder wie früher seidig brillant schimmerte. Die blutrot lackierten Fingernägel wirkten, als seien sie soeben in jene unheimliche, mörderische Flüssigkeit getaucht worden, deren Farbe sie hatten. Ungeduldig trommelten diese roten Nägel auf den Deckel von Karshs Tagebuch. Sie trug die Diamantohrringe, die Thantos seiner Frau Beatrice zur Verlobung geschenkt hatte. Karsh hatte die Ohrringe für Ileana aufbewahrt - genau wie das Geheimnis, wer ihr Vater war. 144
Jetzt wusste sie es. Und sie wusste auch, wie sehr er sich vor ihr fürchten musste, sich vor ihrer Abstammung mütterlicherseits fürchten musste. Das war der Grund, warum er sie verstoßen hatte, warum er Karsh gebeten hatte, sie großzuziehen und sie ihr ganzes Leben lang „in sicherer Distanz" von ihm, ihrem Vater, zu halten. Nur konnte sich eben überhaupt kein Sohn der DuBaers sicher fühlen, jedenfalls so lange nicht, wie ein Antayus-Sprössling in ihrer Mitte lebte. Schließlich hatte der Antayus-Fluch noch keine einzige Generation übersprungen. Das hatte Karsh in seinen Aufzeichnungen behauptet. Selbst ihre alten Freunde, die Ungeduld und die Schadenfreude, hatten sich zu diesem besonderen Ereignis wieder eingestellt. Sie konnte es kaum erwarten, Cam und Alex in die Festung der DuBaers zu führen. Ileana wirbelte vom Spiegel weg. Sie hatte den größten Teil des Nachmittags damit zugebracht, sich auf diesen Abend vorzubereiten. Aber nicht das Make-up und die Kleidung hatten so viel Zeit beansprucht, sondern die eigentliche Vorbereitung: die Lektüre von Karshs Aufzeichnungen.
Du hast deine Großmutter Leila kennen gelernt, wenn auch nur als Geist, und ich versichere dir, dass das nur ein blasser Abglanz der alles beherrschenden und überaus willensstarken Persönlichkeit ist, die sie im wirklichen Leben war. Wäre sie nur weniger unbeugsam gewesen, hätte der Fluch damals vielleicht sein Ende finden können. 145
Dein Großvater Nathaniel und ich hatten nämlich einen Plan, wie wir den Fluch beenden hätten können. Schon als junge Menschen hatten wir den Plan entwickelt. Aber da sich wahrer Genius manchmal in größter Einfachheit verbirgt, können junge Menschen mitunter Lösungen finden, auf die kompliziert denkende Erwachsene gar nicht kommen. Nate und ich begegneten uns, als wir uns gemeinsam auf unsere Volljährigkeitsfeier, unsere Weihe, vorbereiten sollten. Wir waren fünfzehn - so alt wie Camryn und Alexandra in diesem Augenblick sind, da ich dies schreibe. Nathaniel DuBaer war ein Einzelkind, der einzige lebende männliche DuBaer auf Coventry Island. Und ich, ebenfalls ein Einzelkind, war der letzte männliche Antayus meiner Generation. Nate wohnte auf Crailmore, das auf den Nordklippen der Insel lag. Mein Elternhaus, Harbor Häven, lag südlich der Stelle, an der heute mein Cottage steht, auf der windabgewandten Seite von Coventry. Vielleicht waren wir uns früher schon einmal begegnet, aber wir erinnerten uns nicht mehr daran. Aber umso besser erinnerten wir uns später an jeden Augenblick des ersten Tages, den wir gemeinsam verbrachten. Unsere Vormunde stellten uns einander vor - in meinem Fall war es Cristof, Nates Vormund hieß Gentian. Die beiden alten Hexer wussten, was wir nicht wussten, und versuchten, unsere Freundschaft zu verhindern. Aber etwas zog uns zueinander, das stärker war. Damals dachte ich, es sei die Bewunderung, die ich für Nate empfand, die Aussicht auf gemeinsame Abenteuer, die Freude, einen Geistesgenossen gefunden zu haben. Viel zu spät musste ich erfahren, dass es nichts anderes als das Schicksal gewesen war. Vom ersten Tag der Vorbereitung auf unsere Weihen entwickelte sich zwischen Nathaniel DuBaer und mir eine bemerkenswerte 146
Freundschaft. Wir waren beide überzeugt, dass wir einander schon seit viel längerer Zeit kannten. Wir konnten miteinander über alles reden, waren in den meisten Dingen gleich gut, konnten die Gedanken des anderen so gut hören, als hätte er sie laut geäußert, und wussten häufig schon vorher, was der andere tun würde. Auch in der Magie waren wir uns ebenbürtig: wenn wir Zaubersprüche ausprobierten, Geister anriefen, aus der Ferne Dinge durch schiere Konzentration und Telekinese bewegten - was wir häufig auch mit kleinen Tieren oder Insekten taten, damit niemand auf sie trat. Aus reiner Angeberei verknoteten wir Schlangen miteinander, ohne sie zu berühren, brachten Schnecken dazu, trabende Ponys zu überholen, und ließen Katzen auf dem Rücken von Delfinen reiten. Nur durch seinen genau fokussierten Blick ließ Nate einmal meine Ohren heftig flattern und ich brachte sein dunkles, dichtes Haar dazu, sich hoch aufzurichten, sodass er wie eine runde Haarbürste aussah. Es gab aber auch Bereiche, in denen nur einer von uns hervorragende Fähigkeiten besaß. So war mein Gehör viel besser als Natha-niels, während er versteckte Gegenstände viel schneller fand als ich. Ob wir unsere Talente getrennt oder vereint nutzten: Niemand konnte uns in irgendeiner Kategorie das Wasser reichen. Dann — bald nach unserer Weihe - erfuhren wir von dem Fluch. Überheblich und arrogant, wie wir damals waren, ließen wir uns davon nicht beeindrucken. Der Fluch konnte uns nicht erschrecken. Unsere Lösung bestand in unserer kindischen Einfalt darin, dass der Fluch mit uns sein Ende finden würde - ein Fluch, der seit zweihundert Jahren und über sechs Generationen hinweg niemals ausgesetzt hatte. Wir würden einfach nicht heiraten, keine Kinder zeugen, also würde es auch keine Söhne geben, die sich gegenseitig umbringen konnten. Und da wir einander niemals
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umbringen würden, käme logischerweise auch der Fluch zu seinem Ende. Dann trat Leila auf den Plan. Leila und ihre beste Freundin Rhianna Noble. Unter allen jungen Hexen von Coventry waren sie die klügsten, mächtigsten und attraktivsten. Ja, meine liebe Göttin, die Frau, die du als kleines ungezogenes Kind immer „Kartoffeltante" nanntest, war damals eines der begehrtesten Mädchen auf Coventry Island, höchstens noch von der glamourasen, eigenwilligen Leila Tavisham übertroffen. Wenn es Leila bei all ihrer Schönheit an einer gewissen Sanftheit mangelte, dann machte sie es durch ihren messerscharfen Verstand, ihre Persönlichkeit und ihre Entschlossenheit wett. Sie fegte Natha-niel buchstäblich von den Füßen. Eines Abends spazierten wir auf dem großen Platz an einem Cafe vorbei, dessen Tische im Freien aufgestellt waren. Junge Hexen saßen beim Tee beieinander. Rhianna, die ich gut kannte und sehr mochte, winkte mir zu und lud uns ein, uns zu ihr und ihrer Gruppe zu setzen. Aber Nate erzählte mir gerade etwas und war so tief in seinen Monolog versunken, dass er nicht darauf achtete. Ich lächelte und zuckte die Schultern, als ob ich sagen wollte: „Vielleicht ein anderes Mal." Doch dann machte Leila eine kleine flatternde Bewegung mit der Hand. Ein Junghexer hätte die Geste vielleicht für einen flüchtigen Abschiedsgruß gehalten, aber ich wusste sofort, dass die Geste von einem Zauberspruch begleitet wurde, eine kaum bemerkbare, wellenförmige Handbewegung, die Leilas Wunsch direkt zu ihrem Opfer schickte. Bevor ich auch nur ein einziges Wort hervorbringen konnte, brach Nathaniel buchstäblich zusammen. Seine schlaksigen Beine wurden 148
weich und er stolperte. Er keuchte, stürzte nach vorn und fiel vor Leila auf die Knie. Ich setzte schon an, das boshafte Mädchen kräftig auszuschimpfen und auch Rhianna, die sich vor Lachen kaum noch halten konnte -, als ich plötzlich bemerkte, dass der Zwischenfall nicht nur mit starker Magie zu tun hatte. Kein Zauberspruch, kein Kraut, kein Kristall und schon gar nicht ein flüchtiges Winken hätten das anrichten können, was nun über Nathaniel gekommen war. Als er zu Leila aufblickte, sah ich sofort, dass es zu spät war. Seine klaren Augen wirkten verschwommen, die dunklen, immer etwas besorgt wirkenden Brauen hatten sich erstaunt gehoben. Mit offenen, zu einem großen O gerundeten Lippen starrte er sie an und dann breitete sich auf seinem Gesicht langsam ein zutiefst beglücktes Lächeln reiner Bezauberung aus. Leilas kleiner Zauber hatte Nate nur von den Füßen gerissen, doch ihr Anblick hatte sein Herz erobert. Nicht einmal ein Jahr später brach er seinen Schwur niemals zu heiraten. Ich war bei seiner Hochzeit Trauzeuge. Und wahrhaftig, Ileana, ich freute mich für ihn und seine strahlende junge Braut. In meiner jugendlichen Unbekümmertheit war ich absolut sicher, dass Liebe und Freundschaft den schieren Aberglauben besiegen konnten. Einen Schwur würden wir niemals brechen, sagte ich mir, nämlich uns gegenseitig zu schützen. Und genau dieser Schwur zerstörte alles. Nathaniel und Leila bekamen, wie du weißt, drei Söhne. Trotzdem war ich überzeugt, dass wir den Fluch beenden konnten. Thantos, der älteste Sohn, war dreizehn, als mir vom Schicksal das Gegenteil bewiesen wurde. So unbeugsam und hochmütig dein Vater heute ist, als Junge war er damals nur einfach dickköpfig. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, an seinem Geburtstag die Höhlen von Coventry zu erkunden. 149
Man erzählte sich, dass dort unten in manchen der Höhlen die Verzweifelten lebten - Hexen und Hexer, die auf Grund ihres Jähzorns, ihres brennenden Hasses oder ihrer unbeherrschbaren inneren Ängste von der Gesellschaft verstoßen worden waren, die buchstäblich in den Untergrund getrieben wurden. Einige von ihnen waren tatsächlich wahnsinnig, vielleicht waren sie es in dieser Hölle auch erst geworden. Thantos ließ sich von seinem Vorhaben nicht entmutigen. Er hielt die Begegnung mit diesen Wesen nur für ein besonders aufregendes Abenteuer. Nathaniel dachte, dass die Sache zu gefährlich war. „Denken" ist vielleicht ein zu schwaches Wort. Er spürte es förmlich, glaube ich. Oder er wusste es. Jedenfalls zog ich ihn damit auf und brachte ihn schließlich dazu, dass er zustimmte, in die Höhlen zugehen. Aber nicht mit seinem Sohn, sondern mit mir. Wir wollten das Höhlensystem erforschen, eine Karte zeichnen und einen sicheren Weg festlegen. Und dann, an Thantos' Geburtstag, würden wir den Jungen gemeinsam auf diesem sicheren Weg durch die Höhlen führen. Warum? Das habe ich mich seither tausende Male gefragt. Warum habe ich darauf beharrt? Warum habe ich meinen engsten Freund so leichtfertig bedrängt, seine Einwände lächerlich gemacht und ihn in den Untergang gelockt? Die Antworten auf solche Fragen sind immer beunruhigend. Unsere alte Freundschaft fehlte mir, nur zwischen Nate und mir. Ich wollte ihn wieder für mich selbst, wollte seine ungeteilte Aufmerksamkeit, seine Gesellschaft um mich haben. Und der Trip in die Höhlen war endlich ein Vorhaben, bei dem uns Leila nicht begleiten würde. In meiner Überheblichkeit und grenzenlosen Idiotie, die ich später so oft bereuen sollte, war ich genau wie ein unerfahrener und dickköpfiger Dreizehnjähriger über150
zeugt, dass die Höhlentour nichts anderes als ein harmloses Abenteuer sein würde. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Und ich habe seither keinen Tag erlebt, an dem ich das alles nicht zutiefst bereut hätte. Wir waren noch nicht sehr tief in das Höhlensystem eingedrungen, als es geschah. Eine dieser wahnsinnigen Gestalten, so voll tiefer Verzweiflung und Hass, rannte plötzlich aus der Dunkelheit mit gezücktem Eisenspeer auf mich zu. Bevor ich mich verteidigen konnte, hatte sich Nate, wie es unser Kindheitsschwur befahl, vor mich geworfen. Ich sah die todbringende Speerspitze auf seine Brust zufliegen. Ohne eine Sekunde nachzudenken, warf ich mich gegen Nate, sodass er stürzte, um ihn aus der Wurflinie zu bringen. Ich glaubte, ihn gerettet zu haben. Bis ich hörte, wie der Verrückte zu lachen begann. Er schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen, wobei er immer wieder auf Nate deutete. Ich beugte mich zu Nate hinunter. Sah das Blut, das aus seiner Stirn drang. Er war mit dem Kopf direkt auf einen aus der Wand hervorragenden Stein geprallt und lag, halb gegen die kalte, feuchte Felswand gelehnt, unbeweglich auf der Erde. Der Verrückte verschwand in der Dunkelheit und ich versuchte verzweifelt, Nate aufzurichten, um seine heftig blutende Wunde mit Kräutern zu stillen, mit Streifen meines Umhangs zu verbinden und ihn aus der verfluchten Höhle zu tragen. Er hörte meine Gedanken und schickte mir eine furchtbare Botschaft: Ich werde die Höhle nicht lebend verlassen. Und als ich ihn näher untersuchte, erkannte ich, dass mein bester Freund tödlich verwundet war. Er hatte einen mehrfachen Schädelbruch.
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Ich hatte ihn retten wollen. Stattdessen hatte ich ihn getötet. Und wie es vorhergesagt worden war, hatte der Fluch ein neues Opfer gefordert. Durch einen Antayus war der mutigste und klügste DuBaer ums Leben gekommen. Wie es Abigails Sohn befohlen hatte.
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KAPITEL 13 CRAILMORE
Crailmore, der Familiensitz, war prächtig und unheimlich, ein Geisterschloss wie aus einem Werbeprospekt für SchottlandReisen. Das Gebäude ragte hoch über den Klippen auf, an denen sich die kalten und stürmischen Wellen des riesigen Sees brachen. Das Schloss schien die ganze Insel zu beherrschen, ja zu tyrannisieren. Eine Zufluchtsstätte für Bedrängte? Oder eine jeden Feind abschreckende Festung? Das hing wohl davon ab, welcher DuBaer gerade hier den Wohnsitz hatte und den Befehl führte, dachte Alex. Widerwillig schlurfte sie hinter Ileana und Cam her. Ihr war klar, dass Cam sich bewusst von ihr fern hielt. Alex ließ ihre grauen Augen über jedes Detail des beeindruckenden alten Hauses wandern und achtete auch auf die kleinsten Dinge: die Glasmalereien in den Fenstern, die im bernsteinfarbenen Abendlicht leuchteten, die verwilderten, aber noch immer stark duftenden Überreste der einst prächtigen Blumenbeete, der nach Holzfeuer riechende Rauch, der aus den Schornsteinen quoll. Cam schauderte, als sie in den Schatten des hoch über ihr aufragenden Hauses traten. Auch in Marble Bay gab es prächtige 153
Häuser, die hoch über den Klippen lagen, aber sie waren stets von liebevoll gestalteten und gepflegten Gärten umgeben. Crailmore mochte prächtiger und größer sein als irgendeine Villa in Marble Bay, aber an seinen Mauern rann die Nässe herab, der Niederschlag des Seenebels, der Cam immer an Schweiß erinnerte, und die steinerne graue Fassade, vor der ein hoher schmiedeeiserner Zaun aufragte, gab dem Schloss das Aussehen eines Gefängnisses. Und diese Wirkung wurde noch verstärkt, als sich vor Ileana und den Zwillingen die gewaltigen Flügel des Tores automatisch öffneten. Noch bevor Ileana die Hand nach der Klingel ausstrecken konnte, schwang die riesige Eingangstür auf. Vor ihnen stand ein Diener, ein blonder junger Hexer. Bei seinem Anblick musste Cam unwillkürlich an Shane denken. Sie fragte sich, ob Shane auch einer der Diener ihres Onkels gewesen war, als er während seiner Ausbildung hier gewohnt hatte. Und dann fragte sie sich, ob er das vielleicht noch immer war ... „Nein", unterbrach Alex' Stimme Cams Gedanken. Aber sie sprach zu dem Diener. „Ich bin Artemis", erklärte sie ihm gerade. „Das ist meine Schwester Apolla, aber Sie können uns Cam und Alex nennen." Der junge Hexer zuckte verlegen zurück, offenbar überrascht, dass ein Mädchen vom Festland ohne weiteres seine Gedanken hatte hören können, auch wenn es eine der berühmten Du-Baer-Zwillingsschwestern war. „Ich ... danke euch ... Ihnen. Äh, ich meine, es tut mir Leid", stieß er hervor, wobei er bis unter die Haarwurzeln errötete. Dann räusperte 154
er sich: „Willkommen auf Crailmore. Wenn Sie mir bitte in die Empfangshalle folgen wollen. Lord Thantos erwartet Sie bereits." Ileana, Cam und Alex folgten ihm durch einen breiten, mit dicken Teppichen ausgelegten Flur. Antike Vasen standen auf Marmorsäulen, Kandelaber und Büsten säumten die Wände. Darüber hingen Spiegel und Porträts in Goldrahmen. Cams Adoptivmutter Emily Barnes, die als Innenarchitektin arbeitete, wäre von dieser übertriebenen und ganz offensichtlich auf Wirkung bedachten Einrichtung wahrscheinlich wenig beeindruckt gewesen. „Grauenhaft. Angeberisch." Das wären wohl noch die zurückhaltendsten Bemerkungen gewesen. Schon der bloße Gedanke an Emily ließ in Cam plötzliches Heimweh aufsteigen. Sie glaubte, dass ihre Schwester in dieser Hinsicht etwas anderes fühlte - aber sie wollte sie nicht fragen und sich schon gar nicht in ihre Gedanken einloggen. Niemand sprach. Und niemand schickte telepathische Botschaften. Cam war noch immer eingeschnappt. Und Alex hatte es längst aufgegeben zu erklären, warum sie die Info über Shane für sich behalten hatte. Mochte Cam eben glauben, dass sie hintergangen worden war! Dagegen war wohl nichts zu machen. Ileanas Gedanken überschlugen sich und ihr Herz hämmerte. Sie war felsenfest entschlossen, sich nicht beeindruckt zu zeigen und sich überhaupt keine Gefühle anmerken zu lassen. Aber sie konnte nicht verhindern, dass allmählich eine Mischung aus Bewunderung und Wut von ihr Besitz ergriff. Dieser riesige Palast, der seine Geschichte in unzähligen glitzernden und funkelnden Kostbarkeiten darbot, sollte 155
eigentlich ihr gehören! Stattdessen war sie von hier verbannt worden, war auf der Schwelle des weit bescheideneren Hauses eines alten Hexers ausgesetzt worden, der an Reichtum, Besitz oder Prestige nicht das geringste Interesse hatte. Ileanas zunehmende Wut wurde nur durch eine zutiefst empfundene Wahrheit gemildert: Bei Karsh aufwachsen zu dürfen, war bei weitem die bessere Lösung gewesen. Vielleicht hatte das sogar ihre Rettung bedeutet. Ileanas Gefühle wirbelten wild durcheinander: Dankbarkeit kämpfte gegen Groll und ihre Furcht wurde allmählich durch Staunen verdrängt. Die widersprüchlichen Gedanken der Zwillinge, die dauernd zwischen Ileanas eigene Gedanken drängten, trugen nur noch weiter zu ihrem emotionalen Chaos bei. Sie blickte über die Schulter zu Alex zurück und wäre beinahe mit Cam zusammengestoßen, die plötzlich stehen geblieben war und zu einem der großen goldgerahmten Porträts aufblickte. Es zeigte einen gut aussehenden jungen Mann mit dichtem dunklem Haar und lächelnden Augen, der aber in einer altmodisch wirkenden Haltung dargestellt war. In einer Hand hielt er eine Wahrsagerkugel - eine Kristallkugel -, während er mit der anderen ein ledergebundenes Buch an seine Brust drückte. Zwischen den Fingern der Hand, die das Buch hielt, hing eine feine Goldkette mit einem runden Amulett. Es sah wie eine Münze aus und zeigte einen tanzenden Bären, der eine Krone trug. „Das ist das Familienwappen der DuBaers", sagte Ileana, und in der Stille klang ihre Stimme viel zu laut. „Und der junge Mann ist dein Großvater Nathaniel." 156
„Er ist auch dein Großvater", korrigierte sich Ileana, als Alex ein paar Schritte herantrat und dabei in Cams Nähe geriet, die sofort zurückwich. Aber fast gleichzeitig schien die Luft zwischen den Zwillingen zu beben, als ob ein winziger Stromstoß zwischen ihnen hinund herschoss. Unter Nathaniels lächelnden Augen sehnte sich Cam plötzlich danach, Alex' Hand zu fassen, aber ihre Sturheit siegte. Sie trat zwei Schritte von Alex weg und fragte schnell: „Wirkt das Wappen so wie unsere Amulette?" „Ja. Es hat magische Kräfte, genau wie eure Amulette", antwortete Ileana, während Alex schon weiterging, um ihren Ärger und ihre Verletztheit über Cams Verhalten nicht zu zeigen. „Das ist der Sinn von Amuletten. Sie sind Talismane, also Glücksbringer, um es ganz einfach auszudrücken. Ich vermute, dass das Amulett auf dem Porträt ganz besonders starke magische Kräfte hatte, denn es barg in sich nicht nur die Magie eures Großvaters, sondern auch die Zuneigung von Lord Karsh." Cam sah sich nach ihrer Schwester um. Hatte Alex das gehört und was meinte sie dazu? Doch was Cam sah, verschlug ihr den Atem. Alex stand in blendendem Licht, eine weiße Helle, die von ihr selbst ausstrahlte. Sie starrte bewegungslos zu einem anderen Porträt hinauf. Die Helligkeit schien in Alex' Innerstem zu entstehen - wie eine der Figurenlampen, schoss es Cam durch den Kopf, die sie als Kind in ihrem Zimmer gehabt hatte. Dieses Mal konnte selbst Ileana die Stromstöße spüren, die zwischen den Zwillingen ausgetauscht wurden. Und nicht nur Ileana, sondern auch der 157
junge Hexer konnte sie spüren, der das alles mit größtem Erstaunen verfolgte - und eine Frau, die sich unbemerkt genähert hatte und die wie Alex eine intensive weiße Helligkeit zu verströmen schien. „Ich sehe, ihr habt euren Vater gefunden", sagte sie einfach. Noch bevor sie sich zu ihr umgewandt hatten, erkannten die Zwillinge ihre Stimme. Miranda ging auf ihre Töchter zu, die Hände ausgestreckt. Doch es war eine neue Miranda, die sie hier sahen wunderbar lebhaft, mit klarem Blick und glänzender Haut, der keine Blässe und keine Sorgen mehr anhafteten. Ihr Haar dasselbe Kastanienbraun wie Cams Haar und Alex' natürliche Haarfarbe - hatte sie von allen Bändern befreit, es fiel seidig glänzend bis zur Hüfte. Sie trug ein Seidenkleid, eine weiße Tunika, darüber ein bis zu den Knöcheln reichendes und offen um ihre Schultern hängendes Cape und weiße Samtschuhe. Obwohl die Schuhe weiß waren, fühlten sich Ileana und ihre Schützlinge an Karshs abgenutzte schwarze Samtschuhe erinnert. Miranda nahm Cams Hand und legte den schlanken Arm um Alex' Schultern. Gemeinsam betrachteten sie das Porträt. Ileana hatte Aron sofort erkannt. Tränen stiegen in ihre Augen; sie schluckte heftig. Aus alter Gewohnheit kämpfte sie die Gefühlsaufwallung nieder. Auf dem Gemälde sah Aron genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sie war damals vierzehn Jahre alt gewesen und Aron war der gut aussehende, sanfte, lebensfrohe Mann, den sie gerne zum Vater gehabt hätte. Arons Augen waren grau, wie die Augen Mirandas und ihrer 158
Töchter, und blickten jetzt so liebevoll und mitfühlend auf sie herunter, wie sie im wirklichen Leben geblickt hatten. Auf dem Gemälde stand er aufrecht vor einem leuchtend blauen Himmel. Er war schlank, mit windzerzaustem Haar, und sein Cape bauschte sich im Wind. In der Ferne hinter ihm ragte Crailmore in den Himmel. Allmählich kehrte Cam wieder in die Gegenwart zurück. Ihr Mund stand staunend geöffnet, seit sie das weiße Strahlen bemerkt hatte, das ihre Schwester verströmte, seit eine unglaublich verjüngte Miranda, ihre leibliche Mutter, in die Galerie getreten war, seit sie den Vater erblickt - und wiedererkannt hatte, den sie in Wirklichkeit niemals kennen gelernt hatte. Doch sie hatte ganz einfach gespürt, dass er es war. Ihre Lippen zitterten und Tränen sammelten sich in ihren Augen. Den Mann auf dem Porträt würde sie nie kennen lernen. Doch sein Anblick verdoppelte auf einen Schlag ihre innere Zerrissenheit, ihren Kummer: Das erste Mal in ihrem Leben sah sie ihren wirklichen Vater vor sich. Und obgleich es sich nur um ein Porträt handelte, verschwanden jetzt die letzten Zweifel, dass sie wirklich Arons Tochter war. Von diesem Augenblick an würde sie niemals mehr David Barnes als ihren Vater ansehen können. Ganz allmählich wurde ihr bewusst, dass Miranda ihre Hand hielt, dass eine eigenartige Wärme zwischen der Mutter und ihren Töchtern floss. Sie fragte sich, ob sie selbst auch dieses wunderbare Licht ausstrahlte. Vor allem aber fragte sie sich, was ihr Vater gesagt hatte. Denn in dem Augenblick, in dem Mirandas Hände Cam und Alex 159
berührt hatten, hatte sie ein Flüstern vernommen, als hätte sie die Stimme ihres Vaters gehört. Er hat gesagt: Ich bin bei euch, ich bin immer bei euch gewesen, ließ Alex still ihre Schwester in Gedanken wissen. In Mirandas Augen glitzerten Tränen, während sie zu ihrer verlorenen Liebe hinaufblickte. Aber auch ihre Trauer tut ihrer wunderbar veränderten Erscheinung keinen Abbruch, dachte Ileana. Miranda wirkte um Jahre jünger, gekräftigt und viel weniger verschüchtert und schwächlich. Die Gedanken anderer hören zu können, war fast die einzige magische Gabe, die Miranda verblieben war. Sie ließ die Hände ihrer Töchter los und wandte sich zu Ileana um. „Weil ich jetzt hier lebe", erklärte sie. „Hier, wo ihre Geister am lebendigsten sind." „Wessen Geister?" fragte Ileana. Miranda wies mit einer fließenden Geste auf die gegenüberliegende Wand. Dort hing ein Gemälde, das Leila darstellte, umgeben von ihren Kindern. Die drei Jungen waren noch recht klein: Fredo, schmächtig und fast krankhaft mager, hielt sich am Saum ihres langen Kleides fest. Thantos stand seitlich vor seiner Mutter, die Arme verschränkt und mit herrischem Grinsen auf dem Gesicht. Aron stand rechts neben seiner Mutter, deren Hand liebevoll auf seiner Schulter ruhte. „Aron und Leila", fuhr Miranda fort. „Sie sind hier, in diesen Gemälden, in den alten Fotografien und in unendlich vielen Erinnerungen ... Mir kommt es so vor, als seien sie wirklich um mich, als beschützten und führten sie mich." Sie lächelte. „Ich spüre ihren Segen." 160
„Ich kenne das Gefühl", nickte lleana. „Ich spüre es selbst, wenn ich in Karshs Haus bin ... und eigentlich überall auf der Insel." Sie trat näher an das Gemälde heran und betrachtete es lange. Leila, ihre Großmutter. Ileanas stolze, hochmütige Großmutter, die Frau, die Miranda so sehr verehrte, war auch schuld daran, dass lleana ihrer Familie entrissen und aus diesem Haus, ihrem Elternhaus, vertrieben wurde - und dass der habgierige, arrogante Thantos, dieses Muttersöhnchen, seine eigene Frau und Tochter im Stich ließ. Nur weil sie das Blut der Antayus in sich hatten. Und weil die alte Frau an den Fluch glaubte. Ein plötzlicher bitterkalter Wind brachte lleana wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie wandte sich um. Die hohe Tür am Ende der Ahnengalerie, die vermutlich zum Wohnzimmer führte, hatte sich geöffnet. „Dolt - wie lange muss ich eigentlich noch warten? Warum brauchst du so lange, um die Gäste zu mir zu führen?", donnerte eine mächtige, wütende Stimme. Und da stand er, füllte den Türrahmen fast aus, starrte auf seinen Diener hinunter, der ihm jetzt unbeweglich zu Füßen kniete, buchstäblich zu Eis erstarrt, die groteske Verkörperung von Unterwürfigkeit. Miranda, lleana und die Zwillinge beobachteten die Szene voller Entsetzen. lleana war sicher, dass Thantos den jungen Diener nur deshalb sofort wieder aus seiner Eisstarre erlöste und die Sache als einen üblen Scherz abtat, weil er ihren Schock und ihr Entsetzen bemerkt hatte. 161
Gedemütigt schlich der Junge davon. Thantos kam auf seine wartenden Gäste zu. „Segen? Hast du eben von einem Segen gesprochen, Miranda ? In der Tat - es ist ein Segen, wenn ich sehe, welch prächtige Familienbrut meinem bescheidenen Haus die Ehre erweist." Cam lief ein Schauer über den Rücken. Trotz ihrer Verärgerung über Alex' Verrat griff sie nach der Hand ihrer Schwester - und traf sie auf halbem Weg. Miranda wirkte geschockt, ihr Blick haftete noch immer auf der Stelle, an der der Junge gekniet hatte und an der sich ein nasser Fleck abzeichnete. Thantos hatte den Diener tatsächlich zu Eis verwandelt. Ileana legte die gesamte abgrundtiefe Verachtung, die sie für diesen Mann empfand, in ihre Stimme, als sie dem bösartigen Hexer in die Augen sah, ohne sich von seinem abgefeimten Grinsen beirren zu lassen: „Daddy! Wie wunderbar-, dich so gesund und munter zu sehen!" Ihr Hass war fast greifbar. Doch so leicht war Thantos nicht zu erschüttern. Gelassen griff er nach Mirandas Arm und führte sie zur Tür: „Kommt endlich!", rief er über die Schulter. „Ich darf schließlich meine übrigen Gäste nicht vernachlässigen!"
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KAPITEL 14 ABENDESSEN MIT DER FAMILIE
Die Empfangshalle war eigentlich das Wohnzimmer des Schlosses und hatte die Größe eines mittleren Multiplex-Kinos. Es hätte bequem eine größere Menschenmenge aufnehmen können. Dennoch saßen nur zwei Personen an dem wuchtigen Eichentisch, der vor einem riesigen, mannshohen offenen Kamin stand. Hinter ihnen loderten zischend und knackend die Flammen aus dicken, armlangen Holzstücken. Über dem Kamin hing ein weiteres großes Porträt. Doch dieses hatte den aufwändigsten, breitesten Barockrahmen, den die Zwillinge je gesehen hatten. Und es war nicht nur das größte der Porträts im Schloss, sondern auch das grandioseste. Das Ölgemälde zeigte einen Mann mit O-Beinen, tonnen-förmiger Brust, funkelnden schwarzen Augen und einem schwarzen Bart, dessen Schnitt genau Thantos' Bart glich. Er trug einen schwarzen Umhang; die Hosenbeine steckten in hohen Lederstiefeln mit Stulpen. Eine Hand in die Hüfte gestützt, blickte er düster und hochmütig von der Leinwand herab. Thantos bemerkte, dass das Porträt sofort die Aufmerksamkeit seiner Besucherinnen gebannt hatte. Er grinste, denn das war genau seine Absicht gewesen. „Wisst ihr, wer das ist?", fragte er mit einer Stimme, in der Stolz und Überlegenheit mitklangen. Aus einem der hohen Lehnstühle, die vor dem 163
Feuer standen, war eine atemlose, weinerlich quäkende Stimme zu hören: „Ich weiß es! Ich weiß es! Das is' Jacob DuBaer!" Alex erkannte die Stimme sofort wieder. Und wie zur Bestätigung begann die Stelle an ihrem Kopf zu schmerzen, wo ihr vor einer Woche einer der gewalttätigen Söhne Fredos fast die Haare ausgerissen hätte. Sie warf Cam einen schnellen Blick zu. Auf dem Gesicht ihres Zwillings spiegelte sich das blanke Entsetzen, denn auch sie hatte die Stimme erkannt. „Nich' fair, Tsuris!", beschwerte sich der andere Gast. „Onkel Thantos hat's dir ja selbst gesagt." Das war Vey, der stämmige dicke Gorilla, der Cam im Wald von Salem angegriffen hatte ... und der dann den todbringenden Stein auf Karsh geschleudert hatte. Cam zitterte vor Wut, doch versuchte sie sich zu beherrschen und ihre Vernunft wieder die Oberhand gewinnen zu lassen. Sie schloss die Augen und spürte, wie Ileana, die dicht neben ihr stand, erstarrte. Instinktiv griff sie nach Ileanas Hand, um sie zu beruhigen. Alex ballte die Fäuste, als Karshs Mörder aufstanden und mit schadenfroh-idiotischem Grinsen herüberblickten. Doch dann brach es aus ihr heraus: „Was haben die beiden hier zu suchen? Das sind Mörder! Wie kannst du zulassen, dass sie hier sind? Sie gehören ins Gefängnis, zusammen mit ihrem Vater!" „He!" sagte Tsuris und sein schiefes Grinsen wich einem drohenden Blick aus eiskalten Augen. „Was hat denn die für ein Problem ?", kicherte Vey. „Ich sehe, meine Gäste kennen sich bereits",
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stellte Thantos fest, ohne auf Alex' Wutausbruch einzugehen. „Ausgenommen Miranda." Mirandas Lächeln war zu einer Maske erstarrt. Ungläubig starrte sie das seltsame Brüderpaar an, zutiefst beunruhigt von dem drohenden, bösartigen Ton in ihren Stimmen. „Miranda, darf ich dir deine Neffen Tsuris und Vey vorstellen, Fredos Söhne? Mir schien, dass unser Familientreffen ohne sie unvollständig gewesen wäre. Das wäre doch wirklich schade gewesen, nicht wahr?" Miranda wirbelte zu Alex herum. Offenbar dämmerte ihr, wie die Dinge zusammenhingen. „Diese beiden haben Karsh umgebracht? Thantos hat behauptet, es sei ein Unfall gewesen!" Thantos hob mit übertrieben unschuldigem Gesichtsausdruck die Augenbrauen. „War es auch. Die armen Buben haben ungewollt, durch einen reinen Zufall, total unabsichtlich ..." „... Karsh ermordet!", fuhr Ileana wütend dazwischen. „Oooh, siehst du? Sie ist immer noch böse auf uns!" sagte Tsuris mit seiner weinerlichen Stimme zu seinem Bruder. „Wärst du doch auch, Blödmann, wenn du plötzlich so'n Blackout gehabt hättest wie die Tussi da!" schnaubte Vey. „Super-hexe Ileana ? War se mal. Hoppla - und schon isses aus mit dem Verhexen." „Meine Herren!" Thantos trat zwischen seine Neffen und die eng beieinander stehenden Frauen. „Vergessen wir doch bitte nicht, dass wir heute Abend aus einem ganz besonderen Anlass zusammengekommen sind. Es ist das erste Mal, dass alle lebenden DuBaers, mit Ausnahme eures Vaters Fredo ..." „Der wegen der da im Knast hockt!", brüllte Vey hasserfüllt 165
dazwischen und deutete mit ausgestrecktem Finger auf Ileana. Thantos' Lächeln verschwand und er warf Vey einen drohenden Blick zu, der daraufhin sofort - freiwillig oder durch den starken Willen seines Onkels gezwungen - in seinen Sessel zurücksank und den Mund hielt. „Es stimmt zwar", fuhr Thantos fort, „dass Ileana den DuBaers vielleicht nicht so wohlgesinnt ist, wie man erwarten müsste, aber schließlich ist sie nicht in unserer Mitte aufgewachsen und hat daher die Treue zur Familie nicht in dem Maße erlernen können wie ihr Jungs." Seine Stimme klang jetzt wieder gutmütig und wohlwollend. „Doch, wie mir die Witwe meines Bruders klar gemacht hat, ist es höchste Zeit, sie wieder in ihrem Elternhaus willkommen zu heißen. Ileana und Arons Kinder und ihr beide, Fredos Söhne - ihr seid alles, was von unserer herrschaftlichen Dynastie übrig geblieben ist." Dolt, Thantos' junger Butler, kam mit einem Tablett herein, auf dem eine Karaffe mit Eistee und Gläser standen. Thantos wartete, bis alle ihre Gläser erhalten hatten und der Diener wieder verschwunden war, und hob es zu einem Toast auf den dunklen, untersetzten Mann auf dem Porträt: „Auf unseren heroischen Patriarchen, Jacob DuBaer, den großmütigen, mildtätigen Landarzt, der dutzende von Hexen und Hexern vor der Hexenverfolgung in Salem rettete!" Alle Anwesenden hoben höflich ihre Gläser - nur Ileana nicht, die ihr Glas ins Feuer warf, wo es laut zersplitterte. Sechs Augenpaare starrten sie an. „Niemals trinke ich auf das Wohl von Jacob DuBaer!" erklärte Ileana mit fester Stimme. „Er war ein eifersüchtiger, fieser Lügner, der aller Welt verheimlichte, dass er ein Hexer war, 166
und der Abigail Antayus, und wer weiß wie viele andere wohltätige Hexen, an den Galgen brachte. Jacob DuBaer - ein Held ? Ha! Er war ein gefährlicher Irrer, der Abigails Kinder zu Waisen machte. Und er ist schuld an dem nutzlosen Blutvergießen zwischen allen Generationen der beiden Clans!" Und mit einer letzten wütenden Bewegung voller Abscheu riss sich Ileana die Diamantohrringe herunter, die Thantos einst seiner Beatrice geschenkt hatte, und warf sie ihm vor die Füße. Nur zwei der Anwesenden ahnten, weshalb Ileana diesen Wutanfall bekommen hatte. Miranda wusste es teilweise. Aber sie glaubte nicht, dass dies der richtige Moment war, um die Sache anzusprechen. Thantos wusste mehr darüber. Seine jähzornige, arrogante Tochter hatte also offenbar ein Stückchen der Familiengeschichte der DuBaers ausgegraben. Woher sie das wohl hatte?, fragte er sich. Aber egal - er musste sie und ihre Zuhörer von dieser Sache ablenken, bevor Ileana zu viel preisgeben konnte. Eine Glocke bimmelte. Der unglückselige Butler tauchte wieder auf und räusperte sich ängstlich. Mit noch immer zitternder, tonloser Stimme verkündete er: „Das Essen ist angerichtet." Der unbeherrschte Hexer atmete dreimal tief durch. Offenbar kostete es ihn große Mühe, wieder in die Rolle des gelassenen, selbstsicheren Gastgebers zu schlüpfen. Übertrieben höflich bot er Miranda den Arm: „Nehmen wir erst einmal das Essen ein." Doch bevor er seinem rebellischen Sprössling verächtlich den Rücken zuwandte, hob er den rechten Fuß und zermalmte die Ohrringe seiner Frau auf dem kalten Steinboden. 167
Im Esszimmer, das fast Saalgröße hatte, herrschte rege, aber gedämpfte Geschäftigkeit. Diener kamen und gingen mit Brotkörben, bedeckten silbernen Schalen, Schüsseln und großen Platten mit den köstlichsten Speisen. Auf dem Banketttisch waren Speisen und Früchte jeder Art angerichtet. Der Tisch war so lang, dass außerdem noch ein ausladendes Blumenarrangement und drei sehr große mehrarmige Kerzenleuchter Platz fanden. Thantos klatschte kurz in die Hände und die Geschäftigkeit verebbte. Die vielen jungen Hexen und Hexer und einige ältere Bedienstete legten geräuschlos die letzten Bestecke und Gedecke auf den Esstisch und zogen sich zurück. Crailmores Gäste umrundeten den langen Tisch und studierten die Platzkarten, die neben jedem Gedeck standen. Keinem der Gäste gefiel die Sitzordnung. Thantos saß am Kopfende, Miranda hatte man ihm gegenüber am Fußende des Tisches platziert. Ihre Neffen saßen rechts und links von ihr, während ihre Töchter rechts und links neben Thantos Platz nehmen mussten. Ileana saß an der Längsseite zwischen Alex und dem verräterischen Vey. Alex überlegte, ob sie die Tischkarten telekinetisch umstellen sollte. Aber Miranda mischte sich sofort in ihre Gedanken und bat sie, alles so zu lassen wie es war. Wir wollen den Familienfrieden nicht stören, gab sie ihr zu verstehen. „An meinem Tisch wird es keine Störungen geben", verkündete Thantos und machte damit deutlich, dass er alles hörte, sah und merkte, was um 168
ihn herum vor sich ging. Oho, unser großer Hexer!, dachte Cam, die überhaupt nicht beeindruckt war. Doch dann lächelte Thantos und verwandelte sich wieder in einen gutmütigen, großartigen Familienvorstand. Vorsicht mit kritischen Gedanken!, schickte Alex ihrer Schwester eine warnende Denkmail, denn sie vermutete, dass vier der sechs übrigen Gäste am Tisch genau hören konnten, was Cam dachte. In dieser Gegend werden alle Leitungen abgehört. Hab ich längst geschnallt, Kumpel, denkmailte Cam mit raffiniertem Grinsen. Ileana und Miranda kicherten. Thantos lächelte nicht mehr. Und Tsuris und Vey blickten verblüfft von einem zum anderen, denn sie wussten genau, dass hinter ihrem Rücken etwas vorging, hatten aber keine Ahnung, was es war. Miranda, die immer um eine halbwegs angenehme Stimmung bemüht war, versuchte, die beiden Brüder in die Unterhaltung einzubeziehen. „Wie geht es eurer Mutter?" fragte sie. „Ich habe sie schon ewig nicht mehr gesehen. Ihr wart damals noch Babys..." „Im Kopf sind sie's immer noch", murmelte Alex leise und Cam kicherte. Tsuris warf einen misstrauischen Blick über den Tisch auf Alex, bevor er Miranda antwortete. „Vey war damals das Baby", berichtigte er sie. „Ich war gerade erst geboren, als Ahma nach Kalifornien umzog." „Ahma?" fragte Ileana ohne nachzudenken. „Heißt eure Mutter nicht Coco?" 169
Tsuris lief tomatenrot an, aber sein vorstehender Unterkiefer und die schlitzförmigen verschlagenen Augen ließen ihn eher aggressiv als verlegen erscheinen. „Er konnte als Kind nich' besonders gut sprechen", erklärte Vey schadenfroh. „Konnte nich' mal richtig Mama sagen. Hat sie deshalb immer Ahma genannt. Superidiotisch. Jetzt nennen wir beide sie so." „Sie kann dich sowieso nicht ausstehen", versicherte Tsuris Miranda. „Ahma sagt, alle DuBaers sind entweder arr... arrigante Schnösel oder saudoof. Oder beides. Und dich hält sie für besonders arrigant." „Ja-ah", nickte Vey seinem Bruder zu, „stimmt, nur heißt es arrogant, du Idiot." Grinsend meinte er zu Miranda: „Und dein Mann Aron war ein Trottel, sagt Ahma." „Sicher ist sie sehr stolz darauf, dass ihr die volle Gensammlung von eurem Vater vererbt bekommen habt", warf Alex dazwischen. „Total identisch. Bei ihm und bei euch fehlen nämlich sämtliche Gene für die Funktion des Gehirns." Und an Cam denkmailte sie: Hier regnet's Vollidioten. „Hä?", fragte Tsuris baff. „Gene? Worüber quatscht du da eigentlich ?" „Wir würden's euch ja gern erklären, aber wir sprechen kein Idiotisch", setzte Cam noch eins drauf. Miranda schüttelte leicht den Kopf, um Cam und Alex zu warnen. „Coco war keine Hexe", erklärte sie ihren Töchtern. „Sie hat immer Probleme gehabt, uns zu ... verstehen. Ich hoffe aber, dass es ihr gut geht", wandte sie sich an Tsuris und Vey. 170
Sie zuckten fast gleichzeitig die Schultern. „Sie wollte nicht, dass wir hierher kommen", brummte Vey, „aber mein Vater wollte es so." „Ihr solltet immer nur auf eure Mutter hören", riet ihm Cam trocken. „Paps sagte, dass er uns braucht", fuhr ihr Cousin fort, ohne auf Cams Einwurf zu achten, den er wahrscheinlich ohnehin nicht begriffen hatte, „damit wir für ihn, ihr wisst schon ..." „... abrechnen", ergänzte Tsuris. „Echt DuBaer", murmelte Ileana halblaut. „Haben nichts als Rachegelüste im Blut." „Dieser Charakterzug ist nicht auf die DuBaers beschränkt, Ileana", verkündete Thantos laut über den Tisch, während er sich ein großes Stück Fleisch auf den Teller hievte. „Deine Familie mütterlicherseits, der Antayus-Clan, war berüchtigt dafür, dass er sich für alles und jedes rächte." Um Ileana in Schutz zu nehmen, warf Miranda ein: „Sicherlich sind nicht alle Leute vom Antayus-Clan gefährlich?" „Die hier schon!", fauchte Tsuris mit vollem Mund und wies mit seinem fettverschmierten Kinn über den Tisch hinweg auf Ileana, wobei kleine Blutströpfchen aus dem fast rohen Steak spritzten, auf dem er herumkaute. „Die hier ist sehr gefährlich. Wir waren beim Prozess. Haben gesehen, wie sie das macht." „Und was ist mit Lord Karsh ?", beharrte Miranda. „Der sanfteste Hexer, der je gelebt hat." Vey grinste seinem Bruder zu. „Vergangenheit. Rrps", rülpste er grinsend. 171
„Und der genau deshalb ermordet wurde", fauchte Ileana Thantos an, „und zwar von deinen verehrten Gästen, mit denen ich hier an einem Tisch sitzen muss!" „Jedem wird das heimgezahlt, was er verdient", fuhr Thantos scharf dazwischen. Wenn überhaupt, dann war jetzt die Gelegenheit gekommen, den Plan auszuführen, den er für dieses Abendessen gefasst hatte. Was immer Ileana über die Familiengeschichte zu wissen glaubte, würde er, Thantos, heute richtig stellen. „Schnall ich nich'", gab Vey zu. „Dafür gibt's 'ne einfache Erklärung", murmelte Alex. „Es ist eigentlich nicht kompliziert", erklärte Thantos seinen Neffen, „sondern Ironie des Schicksals, aber sehr passend. Wisst ihr denn nicht, dass Karsh, der alte Hexer, den ihr getötet habt, auch derjenige war, der euren Großvater Nathaniel umgebracht hat?" Cam und Alex warfen sich verwirrte Blicke zu, aber sie fanden keine Gelegenheit zu fragen. Ileana war aufgesprungen, hatte sich über den Tisch gebeugt und hämmerte mit der Faust auf die Tischplatte, dass die Teller und Gläser klirrten. „Das war ein Unfall!" schrie sie außer sich. „Karsh hatte versucht, Nathan zu retten.'" Thantos war gelassen sitzen geblieben. Er winkte lässig ab. „Oh ja, das kenne ich. Karsh der Gute war teuflisch clever. Erst freundete er sich mit meinem Vater an, redete ständig auf ihn ein, benutzte Magie und was weiß ich, bis er Nathaniel von seiner Aufrichtigkeit und Freundschaft überzeugt hatte. Und als 172
mein Vater ihm dann blind vertraute, lockte er ihn in die Höhlen." „Das war deine Idee!", schrie Ileana. „Du wolltest doch unbedingt die Höhlen erforschen!" Thantos schüttelte den Kopf, anscheinend zutiefst bekümmert über Ileanas rasende Verwirrtheit. Er wandte sich an die übrigen Gäste und fuhr fort: „Es war allgemein bekannt, dass in den dunkelsten Grotten des Höhlensystems alle möglichen Übeltäter und Verrückte lebten. Und wenige wussten besser darüber Bescheid als Ileanas hinterhältiger Pflegevater. Karsh selbst hatte nämlich diesen Irren, die dort unten hausten, immer wieder Nahrungsmittel, Decken und Heilkräuter gebracht. Er wusste also, welche Gefahren dort auf meinen Vater lauerten. Aber es war nicht irgendein armseliger Verrückter, der Nathaniel DuBaer ermordete. Es war der Mann, der vorgab sein bester Freund zu sein." „Sie waren die engsten Freunde." Ileanas Stimme wurde wieder gefährlich laut. „Karsh liebte Nathaniel wie einen Bruder und diese Gefühle beruhten auf Gegenseitigkeit..." Thantos ignorierte ihren Einwurf völlig. „Und als Karsh mit der Leiche meines Vaters aus den Höhlen auftauchte, behauptete der alte Schwindler, er habe versucht, Nathaniel zu retten, als dieser von einem Verrückten mit einem Speer angegriffen wurde. Aber Karsh selbst hatte den Schädel meines Vaters zerschmettert. Er war durch und durch ein echter Antayus und darauf eingeschworen, das Haus DuBaer zu vernichten." „Lügen! Alles Lügen und Verzerrungen!" Ileana konnte sich nicht mehr beherrschen und sprang erneut auf. „Natürlich 173
wird das euer heißblütiger Vormund immer behaupten", lächelte Thantos wohlwollend seine Nichten an. „Schließlich ist sie selbst eine Antayus - und damit ebenfalls darauf eingeschworen, unserer Familie zu schaden." Alex und Cam hatten den hitzigen Wortwechsel geschockt und wie gelähmt verfolgt. Wie Zuschauer bei einem Tennismatch waren ihre Augen zwischen den beiden Kontrahenten hin- und hergewandert. Nur hatten sie keine Ahnung, wer die Oberhand gewann - sie wussten nicht einmal, welches Spiel hier wirklich gespielt wurde. Gab es denn irgendeine uralte Fehde zwischen Karshs Clan und ihrem eigenen? Wie auf Kommando blickten sie Ileana an. Sie war purpurrot im Gesicht; Tränen der Frustration und hilflosen Wut hatten sich in ihren wunderbaren grauen Augen aufgestaut. Miranda war verstört, obwohl Alex instinktiv spürte, dass ihre Mutter über diese Sache wenigstens teilweise Bescheid wusste. Thantos seufzte sorgenvoll und wandte sich an seine Neffen, die mit offenen Mündern dasaßen und rein gar nichts verstanden hatten. „Ach ja, ihr seid die nächste Generation der DuBaer-Söhne." „Wi-wir?", stotterte Tsuris verblüfft, „ach so, ja klar." „Und Ileana wird versuchen müssen uns umzulegen, Blödmann", erklärte Vey, offenbar mächtig stolz auf seine Intelligenz. „Aber keine Chance, wenn du mich fragst. He, Bruder, wirf mal das Salz rüber!", befahl er Tsuris mit viel Betonung und unterdrückte ein fieses Lachen.
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Sein Bruder kicherte irre und griff nach dem schweren Zinnsalzstreuer. Er wog ihn kurz in der Hand, dann schleuderte er ihn mit einer unglaublich schnellen Handbewegung über den Tisch. Der Salzstreuer verfehlte Ileanas Wange nur um Zentimeter - sie hatte gerade noch rechtzeitig ausweichen können. „Verdammt, daneben, Idiot!" knurrte Vey. „Jungs, benehmt euch", schalt Thantos seine Neffen mit väterlicher Nachsicht. „Jungs?" schrie Cam wütend. „Das sind Ungeheuer!" „Amphibien?", schlug Alex provozierend vor. „Sumpfviecher", stimmte Cam zu. „Weißt du noch, wie es geht?" „Kann mich nur noch an den Anfang erinnern", sagte Alex und legte die Hand auf ihr Mondamulett. „Durch starke Magie erhebt die Nacht, äh ... am Himmel entfaltet der Mond seine Pracht..." Cam hatte nach ihrem Sonnenamulett gegriffen und stimmte in den Zauberspruch ein: „Nimm diese Kreatur, der ich befehle, sich in das zu verwandeln, was ich erwähle: Einen Frosch will ich ..." „Wie könnt ihr es wagen!" Thantos war aufgesprungen und hämmerte wie seine Tochter kurz zuvor außer sich vor Wut mit der Faust auf den Tisch. Alle sprangen entsetzt auf. Doch am weitesten sprang Vey. Seine breiten Froschfüße mit den Schwimmhäuten klatschten mit schmatzendem Geräusch laut über den Steinboden.
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„Was habt ihr gemacht?!", schrillte Tsuris' Stimme durch den Raum, während er mit weit aufgerissenen Augen seinen Bruder anstarrte, der von der Hüfte abwärts ein riesiger Frosch war und auf seinen grünen Beinen halb verrückt vor Angst durch das Esszimmer hüpfte. „Das ist doch sein wahres Ich: eine hirnlose Halbkröte. Komm, wir machen ihn fertig", sagte Alex zu Cam. „Das werdet ihr bleiben lassen!", donnerte Thantos. „Nicht solange ich Oberhaupt dieser Familie bin!" Er stieß den schweren Stuhl so heftig zurück, dass er mit lautem Krachen umstürzte. Riesig ragte der schwarze Hexer vor seinen Nichten auf. „Hat euch das euer feiner Lehrer beigebracht?" wollte er barsch wissen. Er beugte sich zu den Zwillingen herab und in seinem Gesicht lag unverhüllter Hass, als er zischte: „Ihr wagt es, an meinem Tisch eure Angebertricks vorzuführen? Vor meinen Augen mit eurer Anfängermagie herumzustümpern? Ihr werdet den Spruch sofort widerrufen. Das ist mein Haus! Ich warne euch: Reizt mich nicht! Ich bin das rechtmäßige Oberhaupt der Familie! Keines von euch kindischen Dingern wird mich jemals entmachten! Egal, was euch der mörderische alte Hexer erzählt hat - ich bin der rechtmäßige Erbe der DuBaerDynastie!" Miranda war aufgesprungen. „Hört sofort auf!", schrie sie. Dann, offenbar selbst geschockt über ihren Ausbruch, holte sie tief Atem und mäßigte ihre Stimme. „Thantos, du hast dich all die Jahre um mich gekümmert. Und das schönste Geschenk war, dass du mich mit meinen Töchtern zusammengebracht hast. Ich werde dir ewig dankbar dafür sein. Aber jetzt ist es meine Aufgabe, sie zurechtzuweisen ... wenn ich der Meinung 176
bin, dass es nötig ist." Thantos ignorierte sie einfach. „Widerruft die Verwandlung!", donnerte er. Miranda sank wieder auf ihren Stuhl, geschockt und wütend. Ileana ging zu ihr und legte ihr tröstend den Arm um die Schultern. Die Zwillinge wandten sich zu ihrer Mutter und ihrem Vormund, obwohl die beiden Frauen zusammen in diesem Augenblick weit weniger Macht über ihren Onkel hatten als sie selbst. Nur wenn ihr das wollt, denkmailte Cam den beiden Frauen. Um des heiligen Familienfriedens willen, schickte Alex spöttisch hinterher. Miranda blickte fragend zu Ileana auf und griff nach ihrer Hand. Ileana nickte nur. „Widerruft die Verwandlung", sagte Miranda milde zu ihren Töchtern.
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KAPITEL 15
DIE FALLE
Cam und Alex schliefen fast nicht in dieser Nacht, die ihre letzte auf der Insel sein sollte. Am Nachmittag wollten sie zum Festland übersetzen. Die Nachtluft hing schwül und drückend über den Feldern, und die fremdartigen Laute aus dem Wald, an die sie sich noch immer nicht gewöhnt hatten, drangen durch das Moskitonetz vor Ileanas offen stehendem Schlafzimmerfenster herein. Aber dass die Zwillinge so unruhig waren, hatte weder mit der Schwüle noch mit den unheimlichen Waldgeräuschen zu tun. Ihnen wurde immer noch ganz schlecht, wenn sie nur an das Abendessen dachten - weniger wegen der Speisen, sondern vielmehr wegen des Fiaskos, das sich dort ereignet hatte. Sie hatten bei diesem Familientreffen einfach zu viel über ihre edle Familie erfahren. Und doch noch lange nicht genug. Alex war nicht mehr sicher, ob sie noch wie geplant abreisen wollte. Sie war einfach noch nicht bereit dazu. Natürlich hatte sie ihre Tasche gepackt - worauf die zwanghaft penible Cam bestanden hatte - und sie hatten mit dem alten Fährmann abgemacht, dass er sie am nächsten Tag gegen 15 Uhr abholen sollte, aber ...
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Alex musste plötzlich an Evan denken, ihren Kumpel in Montana, der immer sagte: „Komm schon, Alex, zieh hier keine Show ab. Logo, dass du hier bleiben willst. Das hier sind schließlich deine Leute, deine Familie sozusagen." Bei diesem Gedanken musste sie laut lachen und handelte sich dafür einen wütenden Kick von Cam ein. Also, warum zog sie trotzdem eine Show ab ? Miranda, Ileana, Thantos und selbst ihr Psycho-Onkel Fredo mit seinen zurückgebliebenen Söhnen, ihren Cousins, waren ja tatsächlich ihre Familie - im Guten und Bösen. Die meisten allerdings vor allem im Bösen. Aber jedenfalls waren sie Blutsverwandte. Coventry war ihr Geburtsort; hier lag das Grab ihres Vaters, ihrer Großeltern und jetzt auch ihres Beschützers Karsh. Eines Tages würde sie selbst hier beerdigt werden. Sie musste nur dafür sorgen, dass es nicht schon bald war. Sicher, sie war nur einen Tag alt gewesen, als man sie von der Insel nach Crow Creek in Montana gebracht hatte, war dann dort aufgewachsen, bis sie 14 Jahre alt war, und war dann von Cams Familie in Marble Bay, Massachusetts, aufgenommen worden. Aber trotzdem: Diese seltsame kleine Insel war ihre Heimat. Abhauen ? Das wäre, als brächte sie ein Puzzle nicht zu Ende. Ein echt interessantes Puzzle übrigens. Denn bei diesem kurzen, traurigen Besuch begann plötzlich ein Bild Gestalt anzunehmen, nur konnte Alex noch nicht die Details erkennen. Das bizarre Ereignis in der Nacht stand ganz oben auf ihrer Liste der Dinge, die sie noch nicht kapierte. Es gehörte zu den fehlenden Puzzleteilen. Sie hatte den Eindruck, dass hier so eine Art unheimlicher Bandenkrieg zwischen den Hexen und Hexern tobte. Thantos, 179
Ileana und sogar Miranda kannten das Familiengeheimnis aber sie waren heillos zerstritten, was die Details anging. Niemand, nicht einmal Karsh, hatte Alex und Cam in diese Sache eingeweiht. Am schlimmsten war, was Thantos gesagt hatte und was ihr nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte: „Ileana ist selbst eine Antayus - und dazu verflucht unserer Familie zu schaden." Was sollte das nun wieder heißen ? Niemals würde Ileana ihnen Schaden zufügen. Möglich, dass sie Tsuris und Vey aus Rache für Karshs Ermordung verfluchte, aber daran waren die beiden Halbidioten selbst schuld, sie hatten schließlich angefangen. Sie hatten sogar versucht Ileana umzubringen! Und Thantos, Ileanas eigener Vater, hatte Tsuris und Vey zu ihren Missetaten angestiftet. Man brauchte nicht Cams Superblick, um zu sehen, was Thantos wirklich war: böse bis in die Knochen. Aber was hatte Shane mit alledem zu tun? Und diese ... Furien, wie sie sich nannten, diese ekelhaften, aber irgendwie auch faszinierenden Wesen? Um sich gegen sie richtig wehren zu können, musste Alex erst einmal erfahren, was sie planten. Sie warf sich herum und vergrub ihr Gesicht im Kissen. Noch ist Zeit. Geh beim Morgengrauen hinaus und streife über die Insel. Allein. Dann wirst du begreifen - und nur du allein, Artemis. Alex riss die Augen auf und rollte sich auf den Rücken. Cam stöhnte frustriert über die Unruhe ihrer Schwester. Einen winzigen Augenblick lang wähnte sich Alex wieder im alten Wohnwagen in Montana. Aber die Stimme, die sie eben gehört hatte, war nicht Evans Stimme gewesen, auch nicht Karshs. Es 180
war eine weibliche Stimme gewesen. Aber wessen Stimme? Ileanas? Mirandas? Sie blinzelte. Morgengrauen ? Die Fähre kam erst am Nachmittag. Jemand, der ihre Gedanken hören konnte, drängte sie weiterzusuchen. Allein. Als sich am Horizont schließlich ein schwacher, heller Streifen abzeichnete, lief Alex bereits auf den Wald zu. Cam ärgerte sich. Oder zumindest war sie angespannt, gereizt und verunsichert. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie eigentlich gar keinen Grund dafür hatte. Nur noch einen Tag musste sie warten, bis sie wieder in den sicheren Hafen zurückkehren konnte, der Marble Bay - und Dave, Emily, ihr Bruder Dylan und ihre Freunde vom „Sechserpack" - für sie darstellte. Wenn sie erst einmal wieder zu Hause war, würde das alles, was sie hier erlebte, in den Hintergrund gedrängt werden, wohin es auch gehörte, jedenfalls jetzt gerade. Die ganze verrückte Insel mit ihren irren Typen und den unheimlichen Warnungen. Sie war schließlich erst fünfzehn, hielt sie sich selbst vor. Hatte sie nicht noch ein paar unbeschwerte Jahre verdient, bevor sie sich mit alledem auseinander setzen musste ? Und trotzdem war da noch etwas anderes, was in ihr nagte. Vielleicht war es das Wort „verdienen". Hatte es Alex verdient, in bitterster Armut aufwachsen zu müssen ? Hatte es Aron verdient, am Tag der Geburt seiner Zwillingstöchter ermordet zu werden ? Oder Miranda, die vor Kummer und Leid verrückt geworden war?
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Man bekommt nicht, was man verdient, jedenfalls nicht immer. „Man bekommt, was man bekommt", war einer der Sprüche von Cams Freundin Sukari. Jetzt wusste Cam, was sie damit meinte. Wenn sie jetzt nur eine ihrer Visionen hätte! Normalerweise sehnte sie sich nicht danach, weil die anschließenden Kopfschmerzen wirklich unerträglich sein konnten, aber jetzt gerade wäre es besser, eine Vision sozusagen „vorbeugend" zu bekommen. Sie könnte dann wenigstens etwas tun, statt nur warten zu müssen. Auf die Fähre, auf Alex ... oder auf irgendeinen Hinweis, was als Nächstes passieren würde. Als sie noch kleiner war, waren ihre Visionen, ihre Vorahnungen weniger kompliziert gewesen. Etwa wenn sie voraussah, dass gleich ein Auto zu schnell um die Ecke kommen würde - dann brauchte sie nur Beth aus dem Weg zu schubsen und die Sache war gegessen. Oder sie hatte die Vision einer einsamen Straße mit einer verlassenen Tankstelle, in der ein Kidnapping-Opfer gefangen gehalten wurde. Alles kein Problem. Aber hier auf Coventry? Hier hatte sie plötzlich Visionen von verwundeten, brüllenden Tieren, die furchtbar verängstigt waren und sie brauchten. Und diese seltsame Vision der irgendwo in der Luft schwebenden Augen. Auch von so einem tierähnlichen Geschöpf. Aber sie hatte keine Ahnung, was es war oder wie sie ihm helfen konnte. An diesem Morgen waren ihre Ängste sogar noch intensiver als sonst. Alex hatte sich davongemacht, wahrscheinlich spielte sie wieder Indianer und kundschaftete die Gegend aus. 182
Und Cam musste allein mit ihren gereizten Gefühlen fertig werden. Das war wie ein Juckreiz, den sie nicht genau lokalisieren konnte. Infolgedessen konnte sie auch nicht dort kratzen, wo es juckte. Cam sehnte sich nach etwas völlig Normalem - einem Schwätzchen mit ihren Kumpels vom „Sechserpack" zum Beispiel. Normal wäre auch, wenn man wenigstens jemanden anrufen könnte. Aber hier? Das Handy gab nicht mal ein Freizeichen von sich. E-Mails? Super - aber dazu brauchte man einen PC. Ein Notebook mit Internetzugang oder wenigstens einen PalmOrganiser ... Nichts davon war zu sehen. Und sie musste noch stundenlang warten, bis der alte Bump Quatschkopf mit seinem halben Wrack am Landesteg anlegte. Cams Nerven waren überspannt. Tu endlich etwas!, schrien sie ihr zu. Beweg dich endlich! Dann vergeht die Zeit schneller und das beängstigende Gefühl, dass sie geradewegs auf irgendwelche Katastrophen zusegelte, würde vielleicht nachlassen. Cam blickte sich um. Alex hatte zwar das Chaos aufgeräumt, das Tsuris und Vey angerichtet hatten, aber irgendwo würde es wohl noch etwas zu tun geben. In Cam hatte sich so viel Hochspannungsenergie angesammelt, dass sie beschloss, in der Küche anzufangen. Das war normalerweise der letzte Raum, den sie betreten hätte. Doch während sie Gläser und Tassen aus einem Schrank aus- und in einen anderen wieder einräumte, die Gewürze alphabetisch sortierte und Porzellanschalen wie Tupperware meterhoch stapelte, stellte sie fest, dass sich die seltsamen Ahnungen noch immer nicht verflüchtigt hatten. Eher waren ihre Ängste noch stärker geworden. 183
Sie zwang sich, an ihre „Sechserpack"-Freundinnen zu denken. „Heul dich einfach aus und sag mir, was abgeht, Cam, ich hör dir zu", würde Beth sagen und ihre großen runden Augen würden vor Mitgefühl auf Untertassengröße anwachsen. „Geteiltes Problem ist halbes Problem", oder so ähnlich würde ihr Amanda zuflüstern. „Geheimniskrämerei ist schlecht für den Teint." „Ach, Barnes, tu endlich was!" würde Brianna mit ungeduldiger Handbewegung dazwischenwerfen. Brianna gewann den Ideenwettbewerb. Etwas tun ? Klar doch. Cam würde etwas tun - nämlich herausfinden, was eigentlich in ihr nagte und sie hier festnagelte -ausgerechnet jetzt, wo sie doch endlich abreisen sollte. Aber egal, es musste sein! Shane? Nein, keinesfalls. Nein, nicht Shane. Oder vielleicht doch ? Okay, mit dem hatte sie ein echtes Problem. Einen Moment lang hatte sie Alex tatsächlich geglaubt, die der Meinung war, dass man Shane „nicht vertrauen" dürfe. Aber dann war sie ihm wieder begegnet. Und ihr Misstrauen war geschmolzen wie Zitroneneiscreme in der Sonne. „Mach dir nichts vor!", sagte sie laut zu sich selbst und ging ins Wohnzimmer, wo sie ein Kissen vom Sessel nahm und vor den Kamin auf den Boden platzierte. Sie setzte sich im Schneidersitz darauf und versuchte wieder klarer zu denken. Der Junge funktionierte so ähnlich wie ein Kinderspiel: Man brauchte nur ein Bild hervorzuziehen und er würde etwas darüber fabulieren, und wenn es nicht passte, versuchte man es einfach mit einem 184
anderen Bild. Shane hatte ihr immer nur erzählt, was ihm gerade passend erschien, und das war nicht unbedingt die Wahrheit. Gestern Abend zum Beispiel, hinten im Garten bei der Hängematte, hatte sie ihn gefragt, wo er wohnte. Wo hatte seine angebliche Nicht-Freundin Sersee eine Wohnung für ihn gefunden ? Auch auf diese Frage hatte er ihr nur wieder eine seiner ausweichenden Antworten aufgetischt: „Wohnung kann man das wirklich nicht nennen. Klein, eng, feucht - man kriegt dort Platzangst. Und ziemlich düster ist es auch." Cam hatte sofort an eine Vampirhöhle gedacht, aber er hatte ihren Gedanken gehört und gelacht. „Mit Vampiren hat mein Zimmer nun wirklich nichts zu tun!" Und dann hatte er noch eins draufgesattelt: „Außerdem ist es nur eine Art Besenkammer, wo ich meinen Koffer abstelle. Wirklich nichts, was ich als Wohnung bezeichnen könnte." Manche Leute haben sogar zwei Zuhause, hatte sie gedacht. Und Shane hatte wieder ihre Gedanken gehört. Er hatte ihr Gesicht in beide Hände genommen und sie mit seinen durchdringenden Augen tief angeblickt. „Nein. Ich habe nur ein echtes Zuhause. Und du auch! Dein Zuhause ist hier, Apolla. Vielleicht nicht schon heute oder morgen oder auch nur im nächsten Jahr, aber eines Tages wirst du es merken, dass du ... hierher gehörst." Dann hatte er ihre Hand auf sein Herz gelegt. „Und das ist der einzige Ort, der zählt." An diesem Nachmittag hatte er ihr einen sanften Kuss gegeben und versprochen bald wieder zu kommen. Hatte also Sersee einen echten Grund eifersüchtig zu sein? Oder war sie selbst eifersüchtig? Auf Sersee? War das der Grund, warum sie eigentlich hier bleiben wollte? 185
Gedankenverloren fing sie an, die Fotos auf dem Kaminsims anders aufzustellen, als sich ihre Angst, dass etwas Furchtbares passieren würde, plötzlich ins Unermessliche steigerte. Sie erstarrte mitten in ihrer Bewegung. Jemand näherte sich dem Haus. Und es war weder Alex noch Ileana. Ein Mann. Shane schon wieder? Nein, der Schritt klang anders. Thantos vielleicht? Tsuris? Vey? Cam bereitete sie vor: Sie fokussierte ihren Feuerblick auf die Tür. Ein unwillkommener Eindringling würde sofort geröstet. Unwillkommen? Wir wär's mit unglaublich? Das konnte doch nicht wahr sein - nicht schon wieder! Ihre beiden Welten stießen heftig zusammen und das galt auch für ihre Gefühle. Die Erleichterung, dass er offenbar unversehrt war, kollidierte frontal mit dem blanken Entsetzen, ihn jetzt vor ihrer Tür stehen zu sehen. „Jason ?", fragte sie zögernd. Er hatte sich schon mehrere Tage lang nicht mehr rasiert; die Stoppeln bedeckten sein Gesicht. Seine Wangen waren mager, fast eingesunken, das Hemd zerrissen und schmutzig. Aber auf seinen Lippen lag ein trauriges Lächeln. Seine Augen waren den Augen, die sie im Traum und in der Vision gesehen hatte, nicht nur ähnlich, sie waren genau dieselben. „Du musst unbedingt mit mir kommen." Mehr sagte er nicht. Kein Gruß, keine Erklärung. Es klang überhaupt nicht wie Jason. Cam versuchte, nicht den Kopf zu verlieren, obwohl sie total verwirrt war. Stotternd stieß sie hervor: „Du ... du solltest ... eigentlich gar nicht hier sein. Ich hab dich doch zurückgeschickt zur ... zur Fähre ... warum bist du nicht...?" 186
Und während sie redete, suchte sie krampfhaft nach einer Erklärung, was denn eigentlich schief gelaufen war abgesehen davon, dass offenbar alles schieflief. Bei dieser direkten Frage wurde Jason unruhig. Er schob die Hände tiefer in die Hosentaschen, trat von einem Fuß auf den anderen. Normalerweise würde er seine Nervosität mit einem Witz überspielen. Jetzt blieb er völlig ernst. Seine Stimme klang seltsam - geschmeidig, sanft, beruhigend, fast wie in Trance, als er wiederholte: „Du musst unbedingt mit mir kommen, Süße." Süße? Das war so ziemlich das Allerletzte, was sie jemals von Jason zu hören bekommen hatte. Der Jason, den sie kannte, würde nie so herumschleimen. „Jason", versuchte sie es noch einmal und hoffte, dass sie jetzt vernünftig und sachlich klang, „ich gehe nicht mit dir, bevor ich nicht weiß, warum du hier bist. Und warum du nicht zurückgefahren bist." Roboterhaft antwortete er: „Ich bin hier, um dir zu helfen." „Na, vielleicht erinnerst du dich", schoss sie scharf zurück, „dass ich keine Hilfe brauche ..." Sie brach ab und holte tief Luft. „Setz dich erst mal", brachte sie dann hervor. „Wir müssen miteinander reden." Aber Jason hatte andere Pläne. Er trat ganz nah an sie heran und legte ihr die Arme um die Schultern. „Komm mit mir. Wir können unterwegs miteinander reden, meine kleine Hexe." Kleine Hexe ? Cams Nackenhärchen richteten sich plötzlich auf und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Wer war dieser 187
... Betrüger? Wenn das kein Klon des Original-Jason war, dann vielleicht irgendein Hexer, der sich in Jason verwandelt hatte ? Sie musterte sein Gesicht eindringlich. Pulsierte die winzige Ader auf seiner Stirn? Ja. Hing der Basketball-Anhänger um seinen Hals? Ebenfalls ja. Gewicht, Statur? Dieser Jason hier war dünner, aber sonst stimmte alles. Er war es. Oder eben nicht. Wenn sie nicht mit ihm ging, würde sie nicht herausfinden, was hier eigentlich abging. Und wenn sie mit ihm ging - wer wusste schon, wo sie dann landen würde? Sie schickte Alex eine Denk-Mail, per Express und mit zwei Ausrufezeichen. Dann zog sie die Tür hinter sich zu und folgte ihm Richtung Wald. „Jason", versuchte sie es noch einmal, als sie tiefer in den Wald hineingingen. „Warum bist du nicht zurückgefahren? Du hättest mir wenigstens sagen können, dass du noch hier bist. Und wo warst du eigentlich in den letzten beiden Tagen?" „Direkt vor deiner Nasenspitze, süßes Kätzchen." Süßes Kätzchen? Meine kleine Hexe? Cams Panik wuchs. Noch so eine Portion Schleim und sie würde entweder darauf ausrutschen oder durchdrehen. Sie packte ihn hart am Ellbogen, und obwohl er einen Kopf größer war, riss sie ihn wütend herum. „Was ist los, verdammt? Wer bist du? Wohin gehen wir?" Sein Mund öffnete sich, als wollte er ihr antworten. Aber Cam hörte ihn nicht mehr. Alles verschwamm vor ihren Augen und ihr Kopf begann zu dröhnen. Eine Vision. Sie wusste plötzlich: Er brachte sie zum Haus. LunaSoleil. Jetzt 188
schrillten alle Alarmglocken in ihrem Kopf. Sie schickte einen telepathischen Notruf an ihren Zwilling. Und gleich noch zwei Kopien an Ileana und Miranda. Sie brauchte Hilfe. Und zwar presto. Als sie LunaSoleil erreichten, ging Jason ohne zu zögern um das Haus herum und stieß mit dem Fuß den Haufen aus Laub, Erde und Ästen beiseite, der den Kellereingang tarnte. Als er sie die dunklen Treppen hinunterführte, legte er ihr fürsorglich einen Arm um die Hüfte, damit sie nicht ausrutschte. Oder wegrannte. Unten angekommen, steuerte er sie hinter die Treppe - die einzige Stelle im Haus, die sie nicht untersucht hatte. Riesiger Fehler. Mit ihrem Superblick hätte sie mit Sicherheit die Falltür entdeckt, die dort in den Boden gelassen war. Und Alex hätte am Knarren der Dielen gehört, dass darunter ein Hohlraum war. Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sersee steckte hinter dieser ganzen Sache. Oder besser gesagt: Sersee steckte unter dieser Sache. Der Hexengeheimbund musste sich unter dieser Falltür befinden. In den Höhlen. Unter der Falltür führten schlüpfrige Steinstufen in die Tiefe, die direkt vor dem Eingang zu einem gewundenen, steil abfallenden Tunnel endeten. „Los, geh schon", befahl Jason tonlos und stieß sie an der Schulter in den Tunnel hinein. Ihre Fragen und ihren Protest 189
schien er gar nicht zu hören. Der Tunnel wurde immer dunkler und feuchter, je weiter sie vordrangen. So ungefähr musste es wohl dort aussehen, wo Shane angeblich wohnte, wenn sie seiner Beschreibung glaubte. Endlich sah sie ein schwaches Licht in der Ferne. Es war kein Sonnenlicht. Als sie näher kamen, konnte Cam Laternen, Wandleuchter und Kerzen erkennen. Die Höhlen von Coventry Island. Cam erinnerte sich daran, was ihr Shane über die Geschichte der Insel erzählt hatte. Die Höhlen hatten früher einmal verfolgten Hexen als Zuflucht gedient. In jüngerer Zeit waren sie von Thantos' Lehrlingen als Trainingsanlage benutzt worden. Und wie Cam am Vorabend erfahren hatte, waren die Höhlen auch der Treffpunkt von Geistern, Verstoßenen und Verrückten, die hier noch immer ihr Unwesen trieben. Außerdem war hier ihr Großvater gestorben. „Wie der Großvater, so die Enkelin." Sersee tauchte aus dem Halbdunkel auf, von Kopf bis Stiefel in Schwarz gekleidet. „Prinzessin Apolla! Willkommen in unserer ... Ach, wie sagt ihr Festländer zu so was? Ja richtig: Bude. Willkommen in unserer Bude. Mach es dir bequem. Du wirst nämlich eine ganze Weile hier bleiben. Oder soll ich's besser so ausdrücken: Wie gefällt dir das Wort,immer'?"
KAPITEL 16
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SCHICKSAL
Ileana fuhr aus einem entsetzlichen Albtraum hoch. Durch ihren Garten schlich etwas, trampelte ihre Kräuter nieder. Es war ein Kind. Nein, eher ein halbes Kind, ein kleines Mädchen, dem eine Hälfte des Körpers fehlte, als sei sie von einem mächtigen Schwert von Kopf bis Fuß in zwei Teile gehauen worden. Eine Hälfte der Zwillinge, wurde Ileana schlagartig klar. War es Cam? Oder Alex? Sie weigerte sich stur die Augen zu öffnen, aber sie war wach, wälzte sich in Karshs Bett hin und her und versuchte, es sich noch einmal bequem zu machen. Aber das Bett kam ihr an diesem Morgen noch viel enger und unbequemer vor als sonst. Das Halbwesen, dieser Teil eines Ganzen, ging hinter einem dunklen gefährlichen Tier her. Das Mädchen folgte zwar dem Tier, aber eigentlich war es dazu bestimmt, zu führen ... Unglücklich warf sich Ileana in dem entsetzlich unbequemen Bett auf die andere Seite und machte sich allmählich klar, dass sie jeden Gedanken an Schlaf vergessen konnte. Sie war ohnehin wach. Und als die letzten Erinnerungsfetzen an den Traum in ihr Unterbewusstsein sanken, öffnete sie widerwillig die Augen. Das erklärte die Sache. Oder wenigstens einen Teil davon. Sie war in Karshs wackeligem altem Sessel eingeschlafen. Sie war gar nicht zu Bett gegangen. Mühsam streckte sie ihre steifen Glieder - jeder Knochen in ihrem wohlgeformten Körper 191
schien heute an der falschen Stelle zu sitzen. Doch wenigstens kam ihr Verstand allmählich in die Gänge. Sie war also eingeschlafen, nachdem sie in Karshs Sessel noch eine Weile gelesen hatte. Vorher war sie vom Abendessen auf Schloss Crailmore zurückgekehrt - dem Abendessen mit ihren Verwandten, neben denen sogar eine Mafiafamilie wie die Verwandtschaft von Micky-Maus aussah. Es hatte nicht funktioniert. Beleidigungen zur Vorspeise und tätliche Angriffe als Hauptgang. Ileana stand auf und stolperte über etwas Hartes auf dem Boden. Fühlte sich wie ein Ziegelstein an, war aber ein Buch. Oder vielmehr eine Buchattrappe, dachte sie und hüpfte auf einem Bein, um sich den schmerzenden Zeh zu massieren. Der Titel lautete Vergebung und Rache, doch das Buch war hohl. Im Inneren befanden sich Karshs Aufzeichnungen, die er darin versteckt hatte. Jetzt kehrten auch die restlichen Erinnerungen wieder zurück. Sie war am Abend zuvor wütend nach Hause gekommen, ihr Kopf hatte geschwirrt von offenen Fragen und auf ihrer Zunge hatte ein gallenbitterer Geschmack gelegen. Wie konnte er es wagen?, hatte sie gedacht. Wie konnte dieser überdimensionale Egomane, der alles beherrschen wollte, dieser abscheuliche Mensch, der sich auch noch ihr Vater nannte, die beiden Mörder Tsuris und Vey in Schutz nehmen ? Wie konnte er es wagen, diese beiden mörderischen Trolle mit dem sanften, guten und opferbereiten Karsh zu vergleichen? Und was war mit Thantos' Version der DuBaerFamiliengeschichte? Lügen, Lügen, nichts als Lügen. 192
Ileana schnappte plötzlich nach Luft. Ihr war etwas eingefallen, was sie in der vergangenen Nacht gelesen hatte! Sie packte Karshs Aufzeichnungen und eilte in den Garten hinaus. Das kleine Grundstück begann bereits zu verwildern. Der Angriff der Wildkräuter hatte begonnen und Karshs Kräuterpflanzen ließen vor Durst traurig die Köpfe hängen. Ileana nahm sich vor, später im Garten zu arbeiten. Später denn vorher wollte sie die erstaunlichen Enthüllungen noch einmal durchlesen, die sie in der Nacht gelesen hatte. Schnell blätterte sie zu der Passage, die sie vor dem Fiasko des Abendessens gelesen hatte. Sie hatte mit Karshs schmerzlichem Geständnis geendet:
Ich hatte ihn retten wollen. Stattdessen hatte ich ihn getötet. Und wie es vorhergesagt worden war, hatte der Fluch ein neues Opfer gefordert. Durch einen Antayus war der mutigste und klügste DuBaer ums Leben gekommen. Wie es Abigails Sohn befohlen hatte.
Ileneana überflog die Seite und fand die bemerkenswerte Passage, die sie in der Nacht zuvor gelesen hatte:
Wieder hatte dein Großvater Nathaniel meine Gedanken gelesen. ,Nein, nein, du darfst nicht bei mir bleiben, mein lieber Freund. Du musst weiterleben. Trauere nicht, Karsh', befahl er mir still, ,sondern führe unseren Plan aus. Damit der Antayus-Fluch mit mir 193
stirbt. Deshalb musst du meine Nachfolge neu ordnen. Du musst meinen Söhnen klar machen, dass keiner von ihnen im Clan herrschen oder die Führung übernehmen wird. Mit mir stirbt der letzte Patriarch. Aber sie werden die neuen Führer hervorbringen — ihre Frauen und ihre Töchter.' Von diesem Tag an, werden nur Frauen das Schicksal des DuBaer-Clans bestimmen. Es werden bemerkenswerte Frauen sein, dem Guten verpflichtet, voller Mitgefühl und Gerechtigkeit, die die Künste unseres Standes erlernt haben und die vom Makel des Antayus-Fluchs befreit sind.
Ileana blickte auf. Plötzlich rückten viele Ereignisse an ihren richtigen Platz und die Umrisse eines Musters wurden sichtbar: Thantos war es in seiner zügellosen Gier immer wichtiger gewesen, die Clanführung an sich zu reißen und das Familienvermögen unter seine Kontrolle zu bringen, als den letzten Wunsch seines Vaters zu erfüllen. Natürlich hatte er Miranda und Ileana aus dem Weg haben wollen und vor allem auch die Zwillinge mit ihren höchst außergewöhnlichen magischen Kräften. Er wollte sie zwingen, seine Herrschaft zu akzeptieren und anzuerkennen. Andernfalls sollten sie sterben.
Thantos hat sich immer gegen den Befehl seines Vaters aufgebäumt und immer bestritten, dass Nathaniel jemals so etwas gefordert hätte. In seinen jüngeren Jahren verschwendete er sehr viel Zeit damit, Zweifel an meiner Aussage zu säen. So behauptete er unter anderem, dass der Tod seines Vaters kein Unfall gewesen sei und verbreitete das Gerücht, dass ich Nathaniel absichtlich umgebracht hätte. 194
Aber Leila und Rhianna wussten es besser. Sie hatten uns über unseren Plan sprechen hören, den Fluch zu Ende zu bringen. Sie wussten, dass das auch Nathaniels Wunsch gewesen war, dass er geradezu verzweifelt hatte erreichen wollen, dass Leila bei seinem Tod die Führung der Familie übernahm. Und Leila war es auch, die mich gegen die bösartigen Anschuldigungen ihres eigenen Sohnes in Schutz nahm. Deine Großmutter versuchte zusammen mit der sanftmütigen Rhianna, mich zu trösten -obwohl sie selbst über den Verlust ihres geliebten Mannes untröstlich war. Meine liebe Göttin, fürchte dich nicht und bleibe du selbst. Lass nicht zu, dass du von Hass geschwächt wirst. Hass passt nicht zu dir und ist im Grunde auch nicht ernst zu nehmen. Wenn wir hassen, stellen wir uns selbst eine Falle. Denn wer hasst, trinkt das Gift selbst, erwartet aber, dass jemand anderes stirbt. Reinige deinen Geist, mein liebes Kind, und lehre deine Schutzbefohlenen durch Wort und Tat, gute Hexen zu sein. Es gibt noch so viel zu sagen.
An dieser Stelle musste Karsh von Müdigkeit überwältigt worden sein. Seine Hand hatte gezittert, denn die Schrift war nur noch schwer zu entziffern. Und bald darauf endeten die Aufzeichnungen mit den Worten:
Jetzt liegt alles an dir, Ileana - führe deine Schutzbefohlenen ihrer Bestimmung zu!
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So viele Dinge waren unerklärt geblieben. Welche Bestimmung hatte Karsh gemeint? Was sollten die Zwillinge nach Karshs Willen tun ? Die Führung des DuBaer-Clans übernehmen? Das würde der von Machtgelüsten und Gier getriebene Thantos niemals dulden. Und so stark die Zwillinge auch sein mochten, gegen einen zum Äußersten entschlossenen Thantos konnten sie nicht gewinnen. Meinte Karsh vielleicht, dass sie seinen Tod rächen und seine Mörder Tsuris und Vey unschädlich machen sollten, die einzigen DuBaers, die derselben Generation wie die Zwillinge angehörten ? Oder ... meinte er etwa, dass die Zwillinge dazu bestimmt seien, ihren mörderischen Cousins das Leben zu retten? Könnte der Fluch auf diese Weise in sein Gegenteil verkehrt und damit beendet werden ? Doch Ileana war sich vollkommen bewusst, dass Alexandra und Camryn beides nicht tun konnten. Die Zwillinge konnten niemanden töten - aber sie würden auch nichts unternehmen, um den beiden Brüdern, die ihren geliebten Karsh ermordet hatten, das Leben zu retten. Karsh würde in vieler Hinsicht für immer der wichtigste Mann im Leben der Zwillinge bleiben. Er hatte sie zusammengebracht - die zwei Hälften zu einem Ganzen gefügt. Er hatte sich geopfert, damit sie weiterleben konnten. Überlassen wir es Karsh, dachte Ileana, wobei sie ihre Tränen niederkämpfte. Der listige Alte hatte ihr dieses monströse Rätsel hinterlassen und absolut felsenfest darauf vertraut, dass sie fähig sein würde, es zu lösen. 196
KAPITEL 17
VERRAT
Alex war auf der Suche. Sie ließ sich von der Botschaft leiten, die sie in ihrem Traum bekommen hatte. Mirandas wärmende Decke um die Schultern, streifte sie auf der Insel umher und wartete darauf, dass sich die Teile des Puzzles zu einem erkennbaren Bild zusammenfügten. Dann würde sie endlich wissen, was sie zu tun hatte - und wann. Ihre Streifzüge waren ziellos und zufällig. Alex im Wunderland, dachte sie grinsend. Sie ließ die lebhaften Farben und Düfte der Felder und Wälder auf sich wirken. Unvermittelt gelangte sie ans Ufer, nachdem sie durch ein dichtes Gestrüpp von Rankengewächsen und Brombeersträuchern gedrungen war. Vor ihr lag der große See glitzernd in der Sonne. Auf seiner ruhigen Oberfläche spiegelte sich der Himmel. Coventry lag nicht sehr weit vom Festland entfernt, auch wenn es anscheinend zu einer anderen Welt gehörte und ankerlos dahinzutreiben schien. Alex kniete nieder und untersuchte die Muscheln und Kieselsteine, die von den sanften Wellen ans Ufer gespült worden waren. Ein rosa schimmernder Stein fesselte ihre Aufmerksamkeit und sie drehte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Er schien sich in ihrer Hand zu erwärmen. Oder vielleicht wurden ihre Finger auch nur einfach von ihren Gefühlen 197
aufgeheizt. Doch der Stein war ein Rosenquarz. Auch Karsh hatte ihr einmal einen Rosenquarz geschenkt. Sie wischte sorgfältig den Sand von der vielfach gebrochenen Oberfläche und schob dann den Stein in ihre Tasche. Ziellos ging sie weiter und kletterte schließlich auf eine hohe Düne, die völlig mit Seegras bewachsen war. Die Spitze des Sandhügels bildete ein teilweise vom Gras verborgener großer Felsbrocken. Alex kletterte hinauf und sah sich um. Von diesem Gipfel aus konnte sie fast die ganze Insel überblicken, von der glänzenden Glaskuppel der Einheitshalle bis hin zu den Klippen von Crail-more. Nach einer Weile stieg sie auf der vom Wasser abgelegenen Seite wieder hinunter und folgte dem unebenen Waldpfad zum Dorf. Wieder setzten sie die leuchtenden Farben der Häuser und Läden in Erstaunen. An den spiralenförmigen Straßenlaternen hingen Blumenkörbe, aus denen eine wahre Blütenpracht quoll. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen und der Marktplatz lagen im warmen Sonnenlicht des Spätvormittags und füllten sich rasch mit Leuten, die farbenprächtige Umhänge und Roben oder legere FestlandKleidung trugen. Sie gingen in den Gewürz- und Kräuterläden ein und aus, in den Kerzenläden und den Töpfereien, oder frühstückten an den Cafetischen, die man auf dem Marktplatz aufgestellt hatte. Jedes Mal, wenn Alex um eine Ecke bog, hatte sie das Gefühl, eine neue Seite in einem bebilderten Märchenbuch aufzuschlagen. Als sie den entfernt liegenden Ortsrand erreichte, wurde ihr unvermittelt klar, wohin ihre Suche sie führte. Sie hatte darüber nicht einmal bewusst nachdenken müssen. Alex erreichte LunaSoleil kurz vor 198
Mittag. Das Laub und die Äste, die vor der Kellertür angehäuft worden waren, lagen verstreut herum. Hatten sie und Cam den Haufen wirklich so sehr auseinander gerissen? Auf den schmutzigen Treppenstufen entdeckte sie zwei unterschiedlich große Fußabdrücke, die nach unten führten. Alex verfügte nicht über Cams Superblick, deshalb konnte sie nicht erkennen, ob die Abdrücke von ihr und Cam oder von fremden Personen stammten. Sie blieb stehen und horchte mit äußerster Konzentration. Stille. Beruhigt, dass keine Gefahr drohte, nahm Alex gleich zwei Stufen auf einmal und stieß die Kellertür auf. Drinnen schlug ihr modrige Kühle entgegen. Bald wirst du begreifen - und nur du allein, Artemis war ihr versprochen worden. Würde sie es hier in Arons und Mirandas friedlichem Heim verstehen lernen, rätselte Alex, als sie die Treppe ins Erdgeschoss hinaufging. Was beim Abendessen auf Crailmore erzählt worden war -über einen Fluch, über die Familiengeheimnisse , hatte Alex tief erschüttert. Sie war mittlerweile im Wohnzimmer, und als ob jemand mit sanfter Hand ihr Gesicht in eine bestimmte Richtung gedreht hätte, fiel ihr Blick auf die Zederntruhe. Lagen die fehlenden Teile des Puzzles dort verborgen? Würde sie, wenn sie die Truhe aufschloss, auch alte Geheimnisse ans Tageslicht bringen? Das würzige Aroma der Kräuter, nach dem die Leintücher dufteten, stieg ihr in die Nase. Vorsichtig wühlte sie sich mit den Händen durch den Stapel von Bettbezügen und Kissen, bis ihre Fingerspitzen auf den Hammer stießen. Sie nahm ihn vorsichtig heraus. Sie konnte sich die starke Hand ihres Vaters vorstellen, die den Hammer hielt, und sein konzentriertes 199
Gesicht, als er die Amulette aus Gold fertigte. Automatisch griff sie nach ihrem Mondamulett und stellte sich dazu Cams Sonnenamulett vor. Cam. Der plötzliche, intensive Gedanke an ihre Schwester rüttelte Alex auf. War Cam hier? Sie erstarrte mitten in der Bewegung und lauschte. Doch sie hörte nichts. Wieder gruben sich ihre Hände durch die Bettwäsche und stießen auf die Goldkette, die wie ein Wollknäuel aufgewickelt worden war. Ihr Vater hatte damit wahrscheinlich die Goldketten ihrer Amulette immer weiter verlängern wollen, je älter die Zwillinge wurden. Wie grausam doch das Schicksal gespielt hatte, dass ein so begabter und mächtiger Mann wie Aron Du-Baer seine Töchter nicht aufwachsen sehen durfte! Sie steckte das Kettenknäuel in ihre Tasche. Sie war für sie und für Cam bestimmt gewesen, also gehörte ihnen die Kette. Aus dem Augenwinkel sah Alex plötzlich ein Glühen. Sie schloss die Zederntruhe und ging rasch darauf zu, um die bernsteinfarbene Lichtquelle genauer zu untersuchen. Das Leuchten kam aus der Innentasche eines prächtigen burgunderroten Samtumhangs. Alex zögerte nur kurz, dann siegte ihre Neugier. Sie griff in die Tasche des Umhangs und zog eine kleine Schmuckschatulle heraus. Wie der Rosenquarz, den sie am Strand gefunden hatte, strahlte auch die Schatulle Wärme aus. Vorsichtig öffnete sie den kleinen Behälter. Sie schnappte nach Luft. Es war - das große, münzförmige Amulett, das sie auf einem der Porträts in der Galerie von Crailmore bemerkt hatte. Zärtlich strich sie mit der Fingerspitze über den 200
tanzenden Bären. Sie erinnerte sich, dass dies das Familienwappen der DuBaers war, das ihr Großvater Nathaniel DuBaer geführt hatte. Wahrscheinlich hatte er es seinem Sohn Aron vererbt. Sollte sie das Wappen nicht lieber Miranda geben? Oder vielleicht besser Ileana? Als Talisman der Familie DuBaer. Alex zuckte zusammen, denn ihr Supergehör hatte ein Geräusch vernommen. Schritte - vor dem Haus? Jemand kam ... oder jemand hüpfte draußen herum. Jedenfalls kam das Geräusch näher. Hoffentlich war es Cam! Nur würde Cam zielstrebig auf die Kellertür zumarschieren oder sogar rennen, wenn ihr die Angst im Nacken saß. Niemals würde sie hüpfen. Und sie würde auch nicht dieses wischende Geräusch machen, als ob ein langer Mantel über trockenes und brüchiges Laub fegte. Und was war das? Jemand summte eine Melodie. Cam die Unmusikalische? Nein, das konnte nicht Cam sein! Schnell stopfte Alex das DuBaer-Familienwappen in ihre Hosentasche, in der sich auch schon die Goldkette befand. Wie praktisch ihre alten Klamotten doch waren! Cams Jeans waren so eng, dass sich nicht einmal ein abgebrochener Fingernagel darin transportieren ließ. Alex war jetzt absolut sicher: Jemand hüpfte um das Haus herum und näherte sich der Tür, die vom Wohnzimmer in den Garten führte. Alex packte Arons Hammer fester, huschte so geräuschlos wie möglich die Treppe in den Keller hinunter und versteckte sich dort im Halbdunkel, sodass sie die Tür, die in den Keller führte, genau im Blick hatte. 201
Sie brauchte nicht lange zu warten: Die Tür flog krachend auf. Eine dunkle Gestalt zeichnete sich im hellen Licht des Türrahmens ab. Jemand stieg die Treppe hinunter. Shane? Nein, das Hüpfwesen war weiblich. Ileana? Auch nicht, die Gestalt bewegte sich nicht so elegant wie ihr Vormund. Miranda? Das Wesen hier war viel kleiner. Michaelina? Die feenhafte Minihexe stand ganz am Ende von Alex' Liste der Möglichkeiten. Aber kein Zweifel - hier war sie. Alex stieß einen so lauten Seufzer der Erleichterung aus, dass die kleinste der drei Furien vor Schreck auf den Saum ihres Capes trat, das Gleichgewicht verlor und mit lautem Schreckensschrei die harten Holzstufen hinabstürzte. Sie landete unsanft auf dem Hintern. Ihr Schreck verwandelte sich in Entsetzen, als sie Alex erkannte. „Was hast du hier zu suchen?", fauchte sie. „Das möchte ich von dir wissen!", bellte Alex zurück. Michaelinas Gedanken überstürzten sich. Sie ist hier! Was hat sie herausgefunden ? War sie schon in der Höhle ? Hat sie schon entdeckt, d a s s D a m i t hat Sersee bestimmt nicht gerechnet... „Ganz bestimmt nicht!" Alex war wütend, dass dieses bösartige Gerippe es wagte, in ihr Elternhaus einzudringen. Sie packte das vor Angst zitternde Mädchen am Handgelenk und zerrte es grob auf die Füße und hinter sich her. Keine Sekunde sollte Michaelina Zeit gewinnen, um sich einen Ausweg zu überlegen. „Dann wollen wir doch mal sehen, wie deine ach so furchtlose Oberhexe mit Überraschungen fertig wird." Michaelina versuchte sich loszureißen. Dabei verschob sich der Ärmel ihres Umhangs. Am Oberarm wurde die gleiche Stacheldraht-Tätowierung sichtbar, die sie auch um den Hals trug. „Das ist bei euch Furien wohl der letzte 202
Schrei?", fragte Alex spöttisch, wobei sie Michaelinas Arm noch fester packte. „Zeig es bloß niemandem auf dem Festland, die würden sich nicht mehr einkriegen vor Lachen." Durch zusammengebissene Zähne fauchte Michaelina: „Lass mich los, sonst..." „Sonst... was ?" Alex hätte trotz ihrer Wut beinahe laut gelacht. „Willst du mich verhexen? In einen Frosch verwandeln? Kann ich mir wirklich nicht vorstellen." Aber so leicht ließ sich Michaelina nicht unterkriegen. „Ich könnte dir ganz schön wehtun ..." „Könnte ist Konjunktiv", gab Alex zurück. „Um mir was zu tun, musst du schon früher aufstehen. Gib auf, Mini-Furie. Erst abkühlen, dann auspacken. Spuck aus, was du weißt, Michaelina. Beichte deine Sünden, befreie dein Gewissen ... oder wie ihr das in eurem Dorf nennt." „Keine Ahnung, wovon du jetzt faselst", knurrte die verhinderte Hexenmeisterin. „Klar doch weißt du das. Und du wirst es mir genau erzählen. Leg dich bloß nicht mit mir an, Michaelina. Wo ich herkomme, macht man mit Typen wie dir kurzen Prozess. Und hier in diesem Haus wirkt meine Zauberkraft echt superstark. Das summiert sich zu einem hübschen Vorteil für Alex." Woher kamen nur diese Wörter? Sie purzelten ihr nur so aus dem Mund und ihr Gehirn hatte nicht das Geringste damit zu tun. Wie auch immer - sie zeigten Wirkung. Eine seltsame Wirkung. Michaelina hörte plötzlich auf sich zu wehren. „Ich muss mich 203
setzen", jammerte sie wehleidig. „Auf etwas Weiches." Alex grinste. Die Mini-Hexe hatte sich wohl einen blauen Fleck am Hintern geholt. Sie ließ sie los - und merkte plötzlich, dass sie, ohne darüber nachzudenken, die Patchworkdecke von der Schulter genommen hatte. Doch sie verströmte nicht das übliche Potpourri von Düften, sondern den würzigen Geruch einer ganz bestimmten Pflanze. „Setz dich hier auf die Decke!" Wieder kamen die Worte wie aus dem Nichts. Dann erinnerte sie sich: der würzige Kräutergeruch, der Rosenquarzkristall. Der Zauberspruch. Der Wahrheitsfinder. „Wonach riecht es denn hier?" fragte Michaelina, die ihr Handgelenk rieb. „Rosmarin? Majoran? Hier unten wächst doch überhaupt nichts außer Pilzen. Und die habe ich alle entfernt. Darf ich jetzt gehen?" „Nicht so eilig", sagte Alex und fischte den Rosenquarzkristall aus ihrer Jeanstasche. „Also, bist du hier zum ersten Mal ?" „Alle Einwohner der Insel waren schon mal hier", erklärte Michaelina beiläufig, aber ihre Gedanken überschlugen sich wild - wie Mäuse, die sich in heller Panik vor dem Mauseloch drängelten, um sich vor der Katze zu retten. „Hast du so einen Stein schon mal gesehen?" fragte Alex und warf Michaelina den Rosenquarzkristall zu. „Rosenquarz", sagte sie verächtlich. „Einzigartig - aber nur für euch Festländer. Liegt hier tonnenweise herum." Die kleine Hexe bemühte sich cool und gelangweilt zu klingen, aber Alex sah, dass der Kristall zu glühen begonnen hatte und dass Michaelina die Hitze spürte. 204
Sie beschloss, ihr noch mehr einzuheizen und hielt ihr Mirandas Kräuterdecke unter die Nase. „Was soll das?", wollte die kleine Furie wissen, rümpfte angewidert die Nase und wandte das Gesicht ab. „Ist das deine dreckige Wäsche ?" „Nein, ich wollte nur ... Du hast doch eben gesagt, dass es hier nach irgendwelchen Kräutern riecht. Vielleicht kannst du mir helfen herauszufinden, was genau das für ein Kraut ist." „Seh ich denn aus wie 'ne Gärtnerin? Ich bin 'ne Hexe und hab nichts mit Landwirtschaft am Hut." Trotzdem roch sie vorsichtig an der Decke. Sie runzelte kurz die Stirn, dann beugte sie sich näher vor und atmete tief den Duft der Kräuter ein. Ihre Miene entspannte sich. Sie blinzelte ein wenig, dann fragte sie schläfrig: „Kann ich jetzt gehen?" „Nur noch eine einzige Frage", sagte Alex. „Es gibt da doch so einen Zauberspruch ... Ich kenne ihn teilweise auswendig, aber bin nicht sicher, wie die letzten Zeilen lauten ..." „Das typische FKS-Syndrom", konstatierte Michaelina. „Das was?", fragte Alex verblüfft. „Das FKS-Syndrom", wiederholte Michaelina stolz. „FestlandKonzentrations - S chwäche." Alex konnte sehen, dass die widersprüchlichsten Gefühle in der kleinen Hexe tobten. Eigentlich war die Sache mit dem FKS-Syndrom als Beleidigung gedacht gewesen, aber die kleine Furie brachte stattdessen nur ein freundliches Lächeln zu Stande. „Erzähl es nicht weiter, aber ich bin Sersees inoffizielle Zauberspruch-Kontrolleurin. Das Mädchen ist 205
nämlich doofer als sie aussieht. Wahrscheinlich nährt sich ihre prächtige Mähne direkt aus der Hirnsubstanz." Michaelina schreckte plötzlich zusammen, von ihren eigenen Worten geschockt, doch dann grinste sie wieder dümmlich und zuckte die Schultern. „Also, fang mal an." „Okay." Alex griff nach ihrem Mondamulett und legte die andere Hand auf Michaelinas, in der noch immer der warme Rosenquarz lag. „Oh Mond, du gibst uns Freude und Licht... äh, erleuchte mich und ..." „Nein, nein, nein, alles falsch!", unterbrach Michaelina heftig. Alex erschrak, aber die Hexe schien noch immer leicht benommen, als sie fortfuhr: „Sonne, nicht Mond! Oh Sonne, du gibst uns Freude und Licht..." Alex seufzte erleichtert. „Gebongt. Oh Sonne, du gibst uns Freude und Licht, vertreibe die Furcht und erleuchte mich! Befreie Michaelina von Zweifel und Schmerz ..." „Befreie wen? Mich7.", fragte Michaelina total verblüfft. „... gib Vertrauen ihr ein", fuhr Alex eilig fort, „lass sie erleichtern ihr Herz!" Michaelinas Augenlider hatten zu flattern begonnen. Es schien ihr schwer zu fallen die Augen offen zu halten. „Ich dachte", murmelte sie schläfrig, „ihr wollt, dass ich euch helfe und nicht umgekehrt." „Völlig korrekt", bestätigte Alex beruhigend. „Ich will nicht nur deine Hilfe, ich brauche sie - ich bin völlig verzweifelt, verstehst du?" 206
Die kleine Hexe mochte zwar ziemlich benommen sein, aber ihre innere Anspannung hatte sich noch nicht gelöst. Ein harter Fall. Doch Alex durfte jetzt keine Zeit verlieren. Sie musste unbedingt mehr erfahren. „Hast du vorher nicht gesagt, dass du hier wohnst7.", fragte sie, obwohl Michaelina nur gesagt hatte, dass sie die Zimmer geputzt hatte. Michaelina schüttelte den Kopf und murmelte leise: „Hier doch nicht. Da ... unten ..." Sie nickte in Richtung Kellertür. Alex' Unterkiefer fiel buchstäblich herunter. Die Erleuchtung kam so plötzlich über sie, dass ihr fast übel wurde. Da unten ... im Keller? Nein, in einer Höhle! Wie die Furien in der Sage lebte diese kleine Hexe unterirdisch - zusammen mit den beiden anderen Höhlenbewohnern Sersee und Epie. Natürlich! Sie hatten sich selbst zu „Ausgestoßenen" ernannt und hatten sich ihren Wohnsitz dementsprechend ausgewählt. „Ich weiß, dass du uns geholfen hast Sersees Zauberspruch unwirksam zu machen, mit dem sie den Frosch verwandelte. Warum hast du sie verraten ?", bohrte Alex weiter. Michaelina saß willenlos da, die Hände im Schoß, aber durchaus noch fähig Gift zu verspritzen. „Ich hab sie nicht verraten", zischte sie. „Ich wollte ihr nur ein bisschen dazwischenfunken." „Weil sie sich ihren beiden Mitfurien gegenüber zu selbstherrlich aufführt?", spekulierte Alex. Michaelinas smaragdgrüne Augen wurden schmal. Trotzig hob sie das Kinn. „Sie weiß alles besser!"
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„Aber sie hat nicht gemerkt, dass du den Zauberspruch mitgeflüstert hast?", fragte Alex. „Sie glaubt immer noch, dass Cam und ich ihn allein herausgefunden haben." Michaelina zuckte die Schultern. „Stimmt. Das glaubt sie wohl." „Was wollen die Furien eigentlich, ich meine, was wollt ihr erreichen?" „Wir wollen herrschen", antwortete die kleine Hexe mechanisch. „Wir sind viel jünger, viel cleverer und viel stärker als die alten Tattergreise im Großen Einheitsrat. Die haben total vergessen, was Hexen und Hexer wirklich können. Wir wollen die alten Zeiten wieder herstellen, als wir Hexen noch unverfälscht und mächtig waren. Wir halten es für reine Zeitverschwendung, den Schwachen und Bedürftigen helfen zu wollen. Sersee sagt, es müsse genau umgekehrt sein." „Na super", sagte Alex wegwerfend. Sersees Machtwahn kam ihr ziemlich lächerlich vor. „Und was hat Shane damit zu tun ?" Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass der junge Hexer einem Wesen wie Sersee „dienen" würde. Er war wirklich nicht der Typ des „unterwürfigen Speichelleckers", den Sersee offensichtlich bevorzugte. Der rebellische Bursche hatte sich immerhin geweigert, Thantos' Befehl auszuführen und die Zwillinge zu töten. „Sersee braucht ihn." Selbst in ihrem tranceartigen Zustand konnte Michaelinas Hirn noch mithalten. „Sie braucht ihn wirklich. Weißt du, jede Menge Leute, junge Leute jedenfalls, lassen sich von ihr blenden. Sie halten Sersee für clever und mächtig. Aber das stimmt nicht im Geringsten. Shane durchschaut sie. Er ist brillant, begabt und außerdem auserwählt - er 208
ist alles, was sie nicht ist, aber ums Leben gern wäre. Und er ist ein unglaublich guter Lehrer. Er hat ihr eine Menge Zaubersprüche und anderes Zeug beigebracht, was sie sonst nie selbst erlernt hätte. Bevor ihr beide hier aufgekreuzt seid, war Shane wahrscheinlich die graue Eminenz hinter Sersees Thron." Damit konnte Alex ein weiteres Teilchen in das Puzzle einfügen: Shane war die Quelle von Sersees angeblicher Begabung für Magie! Und da konnte es natürlich nicht schaden, dass er ein Absolvent von Thantos' Eliteschule für die zukünftige Zaubererelite der Insel war. Die listige, wenn auch etwas magere Schöne mit dem blauen Stahlblick konnte es sich gar nicht leisten ihn zu verlieren. „Sie ist also eifersüchtig auf Cam", stellte Alex fest. „Die Untertreibung des Jahrhunderts", meinte Michaelina trocken. „Sie ist praktisch wahnsinnig vor Eifersucht." „Und deshalb hasst sie uns so - alles nur wegen einem Jungen?" Das war eine Vorstellung, die Alex niemals in ihren Kopf bringen konnte. „Nicht nur", sagte Michaelina. „Sie ist auch gierig. Sie nennt euch immer nur die Power-Prinzessinnen." Sie kicherte. „Sie sagt, dass ihr irgendwann eine Menge erben werdet. Das gesamte Unternehmen der DuBaer Industries, beispielsweise. Crailmore. Das magische Talent eurer Eltern. Und dass ihr eines Tages die ganze Insel beherrschen könntet." „Und das würde Sersee nicht aushalten können." Und Thantos erst recht nicht, kam es Alex plötzlich in den Sinn. „Nicht aushalten?" echote die kleine Hexe. „Sie würde es niemals zulassen! Du und deine Schwester, die immer rumläuft wie ein Stück 209
Erdbeersahnetorte, habt zusammen viel mehr magische Kraft als Sersee jemals erhoffen kann. Sie hat nur eine Chance, wenn sie euch trennt." Wenn sie uns trennt! Die Erkenntnis schlug mit solcher Gewalt in Alex' Gedanken ein, dass ihr schwindlig wurde und sie fast umgekippt wäre. Jetzt, gerade jetzt, waren sie getrennt! Die Stimme, die ihr befohlen hatte, die Insel zu durchstreifen - und zwar allein -, das war nicht Mirandas oder Ileanas Stimme gewesen, sondern Sersees! Sie hatte Alex' Gedanken sabotiert und hatte es tatsächlich geschafft, die Zwillinge zu trennen! Aber warum war sie darauf hereingefallen? Alex wusste die Antwort, bevor sie nur das Fragezeichen gesetzt hatte: Weil sie eine deutlich sichtbare Angriffsfläche geboten hatte, weil sie so lange hier auf der Insel hatte bleiben wollen, bis sie die Antworten auf die unzähligen Fragen gefunden hatte, die sich in ihrem Leben stellten. Sie war der Stimme gefolgt, weil sie ihr genau das befohlen hatte, was sie ohnehin hatte tun wollen. Ihre eigenen Wünsche hatten sie angreifbar gemacht. Wie zur Bestätigung dieser plötzlichen Erkenntnis wurde Alex von einem erneuten Schwindelgefühl überwältig. Sie klammerte sich mit beiden Händen an das Geländer der Kellertreppe und begann zu zittern. Ganz langsam verebbte das Sausen in ihren Ohren und sie hörte eine Stimme, eine zwar halb erstickte, entsetzte, verängstigte Stimme, die sie aber dennoch unter tausenden ebenso sicher erkannt hätte wie ihre eigene. Alex wirbelte herum und packte Michaelinas schmale Schultern mit hartem Griff: „Was habt ihr mit meiner Schwester gemacht?"
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KAPITEL 18
DIE HÖHLE
Es war ein Hinterhalt. Sie war in die Falle gegangen und Jason war der Köder gewesen. Er war gar nicht von Coventry abgereist, sondern war zurückgelockt worden, war benutzt worden, um Cam direkt in die Falle zu locken. Nichts davon hatte sie gemerkt. Aber natürlich hätten ihr viele Dinge sofort auffallen müssen. Jasons glasige Augen, die absurden Dinge, die er gesagt hatte. Kein Zweifel, der Junge war verhext! Die kalte, grausame Froschquälerin höchstpersönlich hatte ihn unter ihren Bann gebracht. Und auf Sersees Befehl hatte er nun Cam in seine Gewalt gebracht. Mission Impossible - aber erfolgreich beendet. Cam befand sich hinter den feindlichen Linien im Sersee-Land. Und sie würde es wahrscheinlich so schnell nicht wieder verlassen. Epie fesselte Cams Hände hinter ihrem Rücken und stieß sie auf eine Steinbank, die man aus dem Felsen herausgeschlagen hatte. Cam war gefangen. Aber im Moment hatte sie nicht vor sich ihrem Selbstmitleid zu überlassen. Mit den Furien würde sie schon fertig werden.
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Ruhig analysierte sie die Lage. Überdachte alle Möglichkeiten sich zu befreien. Aber als sie damit fertig war, war sie nicht mehr so zuversichtlich. Keine Frage - sie war allein. Der Feind war zahlenmäßig überlegen. Und auch wenn sie nicht gefesselt gewesen wäre, wäre das hier noch lange kein fairer Kampf. Die Furien hatten hier einen gewaltigen Heimvorteil, denn sie kannten sich in dem Höhlensystem bestens aus, jedenfalls in diesem Teil, in den sich wahrscheinlich seit vielen Jahrzehnten niemand anderes gewagt hatte - direkt unter LunaSoleil. „Hat nicht jemand behauptet, du seist die Langsamere ?", spottete Sersee. „Dann hast du dich selbst übertroffen, denn ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell zu uns findest. Die meisten Leute wissen nicht mal, dass es diesen Teil der Höhlen überhaupt gibt. Nur ein paar Mitglieder deiner eigenen Familie. Was für eine wunderbare Ironie des Schicksals, dass Ihr jetzt hierher zu uns gefunden habt, Prinzessin Apolla! Ich weiß, eigentlich solltet Ihr in Pracht und Reichtum über uns thronen, Prinzessin, buchstäblich über uns. Stattdessen sitzt du jetzt hier, ganz allein im Dunkeln, du arme kleine Sonnenprinzessin ! Die einzige DuBaer im Umkreis von vielen Meilen - und dann auch noch so tief unter der Erde!" Aber durch Spott ließ sich Cam nicht so leicht erschüttern. Sie würde schon noch einen Ausweg finden. Sie holte tief Luft, vertrieb alle Gedanken an das Wie? und das Warum? aus ihrem Kopf und konzentrierte sich auf das Was jetzt? Sie würde um ihr Leben kämpfen müssen - und um Jasons Leben. Jason war in diese Sache hineingestolpert wie ein unbeteiligter Passant, der zufällig an einer Bank vorbeikommt und von 212
Bankräubern als Geisel genommen wird. Im Moment stand er wie ein Zom-bie im Dunkeln hinter Sersee und wartete, wie Cam vermutete, auf die nächsten Befehle. „Ihr habt es erfasst, Prinzessin!", spottete Sersee, die Cams rasende Gedanken gehört hatte. „Alles richtig! Deine Lage ist nicht rosig - du hast eine Menge Probleme, würde ich sagen, und fast nichts mehr, was dir noch helfen könnte. Deine telepathischen Fähigkeiten zum Beispiel funktionieren hier unten nicht. Aber mit deinen Fähigkeiten war es sowieso nie weit her." Sersee kicherte. Cam zwang sich, nicht an ihren Plan zu denken, solange Sersee sich in ihre Gedanken einloggen konnte. Sie musste einfach einen Plan spontan erfinden. Aber irgendwie entschlüpfte ihr doch ein Gedankenfetzen: Fußball. „Fußballen ?" Sersee lachte laut. „Was ist denn mit den zarten Füßchen unserer Prinzessin? Du meinst, auch wenn deine Hände gebunden sind, kannst du mich immer noch treten? Probier's doch mal!" Schwarzlöckchen hatte also nichts geschnallt. Sie hatte null Durchblick. Super. Sie wusste nicht, dass Cam die schnellste Stürmerin im Frauenfußballteam der Marble Bay Highschool war, dass sie aus dem Stand durchstarten konnte und manchmal so schnell an den Gegnern vorbeiflog, dass diese nur noch den Wind spürten. Der Gedanke an Fußball bedeutete für Cam nur eins: Hirn ausschalten. Losrasen. Tor schießen. Es war jedenfalls einen Versuch wert.
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Sie konzentrierte sich darauf, sich umzublicken und verzweifelt auszusehen, als suchte sie nach einem Ausweg aus der Höhle. Sie sah, dass Sersee sie genau beobachtete. Gut. Ohne Vorwarnung sprang Cam auf und rannte los. Vorgetäuschter Ausfall nach links, dann eine knackige Kehrtwende nach rechts. Mit ihren gefesselten Händen packte sie Jasons verschwitzte Hand und raste mit ihm auf den Tunnel zu. Wollte rasen. Aber Jason war schwer wie Blei. Ihn hinter sich herziehen zu wollen, brachte ihre Fluchtgeschwindigkeit praktisch auf null. Die agile Sersee und sogar die plumpe Epie hatten alle Zeit der Welt, sich zum Sandwich zu formieren. Mit Cam als Käsescheibe. Totalblockade. Game over. „War das alles, was du auf die Beine bekommst?", rief Sersee spöttisch. „Weglaufen ? Deine Ahnen wären entsetzt. Und du", sagte sie zu Jason und deutete mit dem Zeigefinger auf den Platz, an dem er vorher gestanden hatte, „zurück auf deinen Platz, mein kleiner Kater." Okay - die Zeit für Panik war gekommen. Cam versuchte, sie zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht völlig. Noch so ein Durchdreher oder Fehlgriff wie eben und sie würde den Rest ihres Lebens hier unten verbringen. Denn Sersee und ihre Bande waren im Vorteil: Sie kannten jeden Zentimeter der Höhlen und der ganzen Insel. Cam hatte nur eine Chance: Es musste ihr gelingen, ihre Feindinnen zu überlisten. Oder zu überhexen.
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Epie stieß Cam auf die Steinbank zurück. Dieses Mal nahm sich Cam mehr Zeit, um ihre Umgebung genauer zu betrachten. Sersee, Epie und Michaelina hatten dieses kalte, düstere Loch offenbar zu ihrer eigenen Höhle ausgebaut. Am hinteren Ende der Höhle hatte man eine Art Regal in die Wand getrieben, auf denen die Werkzeuge des Hexengewerbes lagen: Mörser und Stößel zum Zermahlen von Kräutern und Gewürzen, die man für Zaubertränke und Sprüche benötigte. Aber wo waren die Kräuter und Gewürze selbst und wo die Kristalle? Man hatte sie weggeräumt, damit kein Besucher oder Gefangener daran konnte. In die Höhlenwände waren viele Nischen und Seitenhöhlen geschlagen worden, bogenförmige Öffnungen führten in Seitentunnel und Gänge. Manche der Seitennischen waren mit Schlafsäcken und Öllampen ausgestattet. Es gab vier dieser „Schlafzimmer". Vier für drei Hexen? Cams Magen schien sich fast umzudrehen, als ihr klar wurde, dass dies hier der feuchte, dunkle Ort sein musste, den Shane als seine „Wohnung" bezeichnet hatte. Er lebte hier. Aber wo war er jetzt? Lauerte er irgendwo in seiner Höhle und wartete auf Sersees Befehle? Und lebten in dem unterirdischen Höhlensystem noch immer die Verrückten und Ausgestoßenen? Oder die Geister der Toten? Fast wünschte Cam, es wäre so. Denn diese Wesen könnten Sersees Aufmerksamkeit vielleicht ablenken. Im Moment allerdings war Sersees Aufmerksamkeit voll auf Cam gerichtet. Ohne ihr Opfer eine Sekunde aus den Augen zu lassen, schnippte sie mit den Fingern in Epies Richtung und befahl: „Nimm ihr das Amulett ab. Sie braucht es nicht mehr." Mit ihren hinter dem 215
Rücken gebundenen Händen konnte Cam ihr mächtiges Sonnenamulett nicht verteidigen. Aber sie konnte Epie daran hindern ihr zu nahe zu kommen. Fußballen? Genau. Die Superstürmerin des Frauenfußballs der Marble Bay Highschool legte ihre ganze Kraft in einen Kickstoß, mit dem sie Epie voll in die fetten Waden traf. Für dieses Foul wäre sie normalerweise vom Platz gestellt worden. Epie krachte schmerzhaft auf den groben Felsboden. „Sie hat mich gekickt! Oh! Es tut so weh!" „Krieg dich nur wieder ein und hör mit dem Geheule auf!", keifte Sersee wütend. „Geh von hinten an sie ran und reiß ihr das verdammte Ding vom Hals!" Wimmernd kam Epie wieder auf die Füße und tat, wie ihr befohlen worden war. Sie näherte sich Cam vorsichtig und zerrte an der Goldkette, bis das Sonnenamulett auf Cams Rücken hing. Dann griff sie danach und riss daran. Ein entsetzter Schrei gellte durch die Höhle. Dieses Mal war Cam nicht die Ursache. „Au! Au! Es brennt wie Feuer! Au! Meine Hand ... ganz verbrannt!" Epie wedelte die Hand heftig, als könne sie so die brennenden Schmerzen stillen. Sie hatte das Sonnenamulett zu Boden fallen lassen. „Hilfe! Eis! Gebt mir Eis!" Sersee gab es ihr: Mit eiskalten Blicken starrte sie die kleine Hexe an. Epies Schreie wurden noch gellender, als sie die verletzte Hand vor die Augen hob. „Arrrrhhh! Schau doch nur!" Sogar Cam war geschockt. Auf Epies fleischiger Handfläche zeichnete sich klar und deutlich Cams Amulett ab, als sei es 216
mit Siegelwachs darauf gegossen worden. Als hätte ihr die Sonne selbst ein Brandmal aufgedrückt. Verzweifelt presste Epie die Brandwunde gegen die kalten, feuchten Felswände und heulte: „Sie ... sie hat... Zauberkraft... Sie ist eine ..." „Hexe?", spottete Sersee. „Wer hätte das gedacht! Natürlich ist sie eine Hexe, du Idiot!" Cam wusste nicht, wie sich das Amulett so hatte aufheizen können, dass es ein solches Brandmal hinterlassen konnte. Wenn nicht... Arons Worte kamen ihr in den Sinn: Ich werde bei euch sein. Ich war schon immer bei euch. Schon der Gedanke machte ihr neuen Mut. Sie fokussierte ihren Feuerblick auf Sersees dunkle Lockenpracht. Brauchte sie eine Lockenbrennschere? Eigentlich nicht. Aber kürzere Haare ließen sich leichter waschen. Cam wollte Sersee ja nur helfen. Außerdem war Alex' Trick mit dem schiefen Haarturm doch ein wenig zu langweilig gewesen. Jedenfalls brauchte die Oberfurie eine neue, heiße Frisur. Rauch kräuselte sich aus Sersees Haaren, zuerst dünn, dann immer dichter, bis er schließlich in dunklen, übel riechenden Wolken aufstieg. Aber hallo! Cam hatte Jason völlig vergessen. Er stand zu nahe und begann heftig zu husten und zu würgen. „Das solltest du dir wirklich noch mal überlegen!", fauchte Sersee und ihre Augen glühten vor unterdrückter Wut nicht weniger heiß als ihr Haar. „In seinem Zustand kann der Junge eine Rauchvergiftung bekommen. Dann spielt es keine Rolle mehr, was aus ihm wird. Er ist sowieso ein Verlierer." 217
Cam warf schnell einen Blick auf Jason; dann senkte sie ihre heißen Augen. Er stand in einer Nische hinter Sersee und hatte die volle Rauchladung aus ihrem Haar abgekriegt. Natürlich könnte sie Sersee jederzeit abfackeln, der arroganten Hexe so einheizen, dass sie nur noch mit sich selbst beschäftigt war, und dann das Weite suchen. Epie war viel zu ängstlich und würde nicht wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Aber Cam musste auch an Jason denken. Unmöglich, ihn in diesem Zustand hinter sich herzuzerren. Er schien wie gelähmt. Vielleicht würde er bald wieder aus diesem Trancezustand aufwachen, in den ihn Sersee offenbar versetzt hatte, und würde Cam dann zu Hilfe kommen können. Wieder warf sie einen schnellen Blick zu ihm hinüber. Er stand ein wenig vornübergebeugt wie erstarrt gegen die Wand gelehnt. Der ätzende Rauch hatte ihm Tränen in die Augen getrieben und waberte noch immer in der engen Nische um seinen Kopf. Er konnte nicht mal sich selbst helfen, von Cam ganz zu schweigen. Sersee grinste schadenfroh. „Prinzilein kann Rapunzel nicht befreien. Er ist im Moment nicht so recht in Form." Cam knurrte: „Du hast bekommen, was du wolltest. Mich. Lass ihn frei. Heb den Spruch auf, den du ihm verpasst hast, was immer das war." „Willst du denn gar nicht wissen, was ich mit ihm gemacht habe ? Ich sag's dir trotzdem! Ein kleiner Zauberspruch, den ich noch ein wenig verbessert habe. Ich nenne ihn meinen Roboter-Freund. Er hat noch alles dran, kann ich dir versichern" -sie grinste anzüglich - „und funktioniert auch bestens. Er redet, läuft, springt, kaut Kaugummi, aber am
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besten ist, dass er mir vollkommen gehorcht, ohne Fragen zu stellen. Ziemlich nützliches Werkzeug, glaub's mir." „Super. Aber ihn wieder zurückzuverwandeln, das schaffst du wohl nicht", fauchte Cam herausfordernd. Sersee legte einen Finger ans Kinn, als müsse sie darüber erst einmal nachdenken. „Ach, was soll's! Ich zeig's dir, nur um dich zu beeindrucken." Cam hätte beinah erleichtert ausgeatmet. Mit Jason an ihrer Seite, dem echten Jason, nur ein paar Minuten lang ... „Oh, nein, nein, nein!", rief Sersee verächtlich, nahm eine Prise eines glitzernden Puders aus der Kräutertasche in ihrem Cape und streute sie über Jasons gebeugten Kopf. „Ich hab nicht gesagt, dass ich dir deinen doofen Sonnyboy im gebrauchsfähigen Normalzustand zurückgebe. Das wäre zu langweilig. Ich habe nur gemeint, dass ich ihn dir in der Form zeige, in der du ihn zuletzt gesehen hast." Sie starrte Cam an und wartete offensichtlich darauf, dass Cam zu begreifen begann. „Na, Andeutungen nützen bei dir offenbar nichts", giftete sie ungeduldig und wischte sich das glitzernde Pulver von den Händen. „Er wird ein richtiger Schmusekater." Cams Herzschlag schien auszusetzen. Sersee hatte tatsächlich das Undenkbare getan. Der glitzernde Staub senkte sich über Jasons Haut. Wo die Staubkörnchen landeten, bildeten sich schwarze Flecken. „Oooh - dieser Teil gefällt mir am allerbesten!", seufzte Epie beglückt und vergaß momentan sogar ihre eigenen Schmerzen. Andere Leute leiden zu sehen war doch noch viel 219
interessanter. Sersees Zauberspruch bewirkte, dass Jason zu Boden stürzte und vor Grauen laut heulte. Entsetzt sah Cam, wie seine langen Arme und Beine schrumpften, sich zu tierischen Schenkeln und Pfoten verengten, wie sich die dunklen Flecken auf seiner Haut immer weiter ausbreiteten und glänzendes schwarzes Fell daraus wurde. „Nein!", schrie Cam. Jason wand und krümmte sich verzweifelt auf dem Rücken, seine Beine schlugen wild um sich und die Pfoten mit ihren scharfen Krallen hieben durch die Luft. Er streckte den starken, glänzenden Nacken, um Cam anzusehen. Für den Bruchteil einer Sekunde bohrten sich ihre Blicke ineinander. „Lauf!", brüllte er und dann ging sein Schrei in ein entsetzlich durchdringendes tierisches Gebrüll über. Cam sprang auf und versuchte sich auf Sersee zu werfen, aber Epie, die wegen ihrer verbrannten Hand vor Wut kochte und wahrscheinlich zweimal mehr wog als Cam, stieß sie auf den Sitz zurück und hielt sie dort fest. Cam konnte die Hitze spüren, die von der verbrannten Hautstelle auf Epies Hand ausging. Und sie spürte die Hitze von Jasons Körper. Er stand zwar auf der anderen Seite der Höhle, aber auf seinem Fell glänzte der Schweiß und seine Schnauze schäumte, als er die Zähne fletschte und wütend nach ihr schnappte. Jason hatte sich vollständig in einen Panter verwandelt. Unruhig lief er vor Sersee hin und her - und Cam war sicher, dass er nur auf die Befehle der grausamen Hexe wartete. „Du quälst ihn!" Cam versuchte erneut sich auf Sersee zu stürzen, aber Epie hatte sie 220
jetzt voll unter Kontrolle. Bloß nicht durchdrehen!, hörte sie Alex' Stimme, aber leider nicht als Denkmail, sondern nur in der Erinnerung. Denk nach! „Er hat dir doch nichts getan! Warum behandelst du ihn so grausam?" Cams Fragen klangen verzweifelt, aber natürlich kannte sie die Antwort längst. Sersee weidete sich schadenfroh an ihrem Horror. „Du sollst doch gut sein bei Quizfragen, hab ich gehört? Dann will ich dich mal testen. Also - das ist eine Auswahlfrage, du brauchst nur das richtige Kästchen anzukreuzen. A) Weil ich es kann. B) Weil ich dich hasse. C) Weil ich dir eine Lektion erteilen will. D) Alle Antworten sind richtig." Sie schnippte mit den Fingern und Epie brachte eilig ein nietenbeschlagenes Halsband und legte es dem Panter um den Nacken. Geschockt bemerkte Cam etwas, was ihr zuvor entgangen sein musste. An dem Halsband hing ein orangefarbener kleiner Ball. Jasons Basketball-Anhänger. Der Glücksbringer, den sie selbst ihm geschenkt hatte. Der Anblick verwandelte Cams Angst in plötzliche Wut. Sie spuckte Sersee vor die Füße. „Hier ist meine Lösung: E) Keine Antwort stimmt. Es ist mir total egal, warum du das machst. Aber du wirst dafür büßen, das schwöre ich dir." „Eine kreative, völlig neue Formulierung!", grinste Sersee hämisch. „Hab ich noch nie gehört!" Sie beugte sich nieder und kraulte den Panter hinter den Ohren. Cam verengte die Augen und starrte Epie konzentriert an. Aber sie war nicht schnell genug. Sersee fuhr hoch, packte Epie bei den Schultern und riss sie herum, sodass Cam nur noch ihren Rücken anstarrte. „Du kannst sie nicht lähmen, solange sie dich nicht anschaut", 221
erinnerte sie Cam überflüssigerweise, wobei sie ihren Blick ebenfalls von Cam abwandte. Mit spöttischem Grinsen fügte sie hinzu: „Du hast ja noch gar nicht meinen Plan erfahren." Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Er ist wirklich echt... hm, hm, yam, yam ... schmeckt so gut und ist so romantisch ... äh, aromatisch. Auf eine ziemlich verdrehte Art." „Mach sofort die Verwandlung rückgängig!", befahl Cam. „Jetzt ist es schon zu spät dazu. Aber was ist denn los mit Euch, Lady DuBaer? Der Junge geht dir unter die Haut, stimmt's?" Sie legte eine Kette um den Nacken des Panters und riss hart daran. Das Tier kauerte sich nieder, sein Schwanz schlug unruhig auf den Boden. „Ich hab mir überlegt, wie ich euch zusammenbringen kann. Für immer." Sersee griff wieder in ihren Kräuterbeutel. „Cam und Jason. Auf ewig vereint. Sogar Teile eines Ganzen, wenn man's genau nimmt." Cam sah das glitzernde Pulver, das von Sersees Hand rieselte. „Was soll sie werden?", wollte Epie begierig wissen. „Ein Frosch ? Eine Schlange ? Irgendwas Schleimiges und Hässliches, nicht wahr?" „Epie, jetzt hast du die Katze aus dem Sack gelassen", grinste Sersee hinterhältig. Sie wandte sich an Cam. „Oder vielmehr die Ratte. Nagetiere", erklärte sie ihr, „sind für einen Panter schmackhafte Happen. Und dein Schoßtierchen hat gewaltigen Hunger."
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„Sersee hat uns nämlich nicht erlaubt, ihn zu füttern", erklärte Epie eifrig. Cam begriff. Von Übelkeit und Grauen überwältigt, begann sie zu zittern. „Wunderbar", verkündete Sersee. „Du bebst und zitterst schon jetzt wie eine Ratte in der Falle und dabei hab ich noch nicht einmal mit dem Verwandlungsspruch angefangen." „Warum hasst du mich so ?", fragte Cam, die verzweifelt versuchte Zeit zu gewinnen. „Ich kann dir gern mal aufzählen, warum und wieso", kicherte Sersee. „Du bist eine DuBaer, stinkreich und begabt und gehörst zu einem der herrschenden Clans auf der Insel. Während ich kämpfen und intrigieren muss, um eines Tages diese Insel zu beherrschen. Dir wird alles auf dem goldenen Tablett gereicht. Und trotzdem hast du versucht, mir etwas wegzunehmen ..." Shane, dachte Cam. „Ja, Shane - der mir fast alles von der verbotenen Magie beigebracht hat, die er bei deinem Onkel erlernt hatte. Höchst nützliche Informationen, kann ich dir versichern. Allein der Verwandlungsspruch, die Fähigkeit, einen Menschen in ... na, so ziemlich jede Kreatur dieser Welt verwandeln zu können, hat mir schon viele Stunden Spaß verschafft." Die böse Hexe riss heftig an Jasons Halsband und die große Katze heulte auf. „Und damit das klar ist", fuhr sie fort, „sollst du es auch erfahren, bevor du zu existieren aufhörst: Shane hat nur mit dir gespielt. Er fühlt absolut gar nichts für dich 223
und hat auch nie etwas für dich empfunden. Er tat alles nur, um sich in dein Vertrauen zu schleichen." „Ach wirklich ?" Cam riss den Blick von dem sich schmerzhaft windenden Panter los. Sersee hatte sich soeben Kenntnisse über einen Bereich angemaßt, über den nur eine wirklich Bescheid wusste - und das war Cam: Jungs. Cam wusste, wie sie diese Schlacht zu schlagen hatte. Sie feuerte ihren ersten Schuss ab. „Das nehme ich dir nicht ab. Schon möglich, dass er dir beigebracht hat, die Gedanken anderer Leute zu lesen, aber seine eigenen Gedanken hat er vor dir geheim gehalten." „Woher willst du das wissen?", schäumte Sersee. „Du kannst doch überhaupt keine Gedanken lesen!" „Aber Alex kann es. Und damit hab ich Zugang zu allem, was dein Herzbübchen sich so denkt. Und das ist zum Beispiel, dass du ihm total egal bist, Sersee. Du bist höchstens die Eiscremesorte des Monats, ein nützliches Spielzeug, mit dem er sich hin und wieder mal abgibt. Er wird sich nicht lange mit dir beschäftigen. Du kannst ihm nicht das Wasser reichen, hast viel weniger Talent und wirst auch nie mehr haben." „Das reicht!" In überschäumender Wut schleuderte Sersee Cam eine Hand voll Glitzerpulver ins Gesicht. „Sagt adiós, Prinzessin Apolla!", rief sie spöttisch. Dann wurden ihre violettblauen Augen schmal und fokussierten sich auf Cam, als sie zu rezitieren begann: „Dunkle Magie wallt durch die Nacht wie Gift..." Cam versuchte verzweifelt, den Fluch unwirksam zu machen, indem sie das Gegenteil aufsagte: „Gute Magie erleuchtet die Nacht..." 224
Epie hörte sie jedoch, rannte herbei und klammerte ihr mit der noch immer nach verbranntem Fleisch stinkenden Hand den Mund zu. Sersee fuhr ungerührt fort: „Donnerwolken verhüllen das Licht, nimm diese Kreatur, der ich befehle, in eine Ratte sich zu wandeln bis auf die Seele!" Epies Hand drückte Cams Atem ab. Sersees furchtbarer Fluch schockierte sie so, dass sie mit dem Gegenspruch nicht mehr nachkam. Es war ohnehin schwer, die richtigen Reime zu finden. „Lichte Wolken umhüllen den Mond ..." stotterte sie, ratlos, weil sie nicht mehr weiterwusste. Aber es war ohnehin schon zu spät. Sersee vollendete den Fluch mit den Worten: „Und wenn es getan, ist nicht zu vergessen, dass der Panter sodann die Ratte soll fressen!" Cam wurde von heftigen Schmerzen geschüttelt. Ihr Körper brannte, als stünde er tatsächlich in Flammen. Sie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle und jeder Muskel in ihrem Körper hatten sich schmerzhaft verengt und sie wand sich in rasender Panik. Ihr Kopf schrumpfte, das Gesicht zog sich zusammen, der Bauch fiel ein und verschwand und ihre Arme und Beine wurden immer kürzer und schmaler. Mit allerletzter Kraft schrie Cam auf: „Alex! Hilfe! Ileana! Miranda! Ich bin ..." Die Fesseln waren abgefallen und sie stürzte von der Felsenbank auf den nasskalten Boden. Sie landete nicht auf dem Rücken, aber auch nicht auf Händen und Füßen - sondern auf Pfoten. Auf den winzigen, kratzenden, wuselnden Pfoten eines Nagetiers. 225
„Perfekt!", verkündete Sersee stolz und klatschte in die Hände. „Ratte hat nicht ganz geklappt, aber ich hätte mir kein besseres Nagetier ausdenken können, um eine Raubkatze zu verführen! Du bist ein Hamster, Cam - oder genauer: ein Camster!" Mit schnellem Griff hob sie Cam vom Boden und hielt sie vor Jasons Schnauze. Cam versuchte zu schreien, aber es kam nur ein armseliges Quieken heraus. Sersee badete sich in ihrem Triumph. „Darf ich vorstellen: Cam der Hamster - Jason der Panter möchte dich beehren nein, möchte dich verzehren!" Instinktiv begann der Panter zu fauchen, geifern und die Zähne zu fletschen. Sein Speichel spritzte über Cams Kopf und besudelte ihr kurzes, rötliches Hamsterfell. Dann, in letzter Sekunde, bevor die furchtbaren Reißzähne zuschlugen, riss Sersee Cam wieder zurück. Ihre langen scharfen Fingernägel gruben sich in Cams zitternde Flanken. „Entschuldige. Dein Panterkumpel ist wirklich ein wenig zu ungeduldig. Aber er hat seit zwei Tagen nichts mehr zu fressen bekommen. Und es würde doch keinen Spaß machen zuzuschauen, wenn er so ein zartes Fleischstückchen wie dich mit einem einzigen Happen verschlingt, nicht wahr?", fragte sie. „Auch wenn er dich am Schluss bekommt, wollen wir das Spielchen doch ein wenig interessanter gestalten." Obwohl Cam nicht wusste, ob das, was sie sagte, vielleicht auf Hamsterisch herauskam, schickte sie Alex einen verzweifelten SOS-Ruf. Und an Miranda und Ileana ebenfalls. „Aber sie können dir nicht helfen, mein kleiner Camster mit den kleinen, roten, ängstlichen Äugehen!" 226
Sersee warf Cam auf den Boden. „Miranda und Ileana haben keine magischen Kräfte mehr. Und Alex? Nun, normalerweise tratsche ich nicht, aber die Schlampe tigert gerade irgendwo in der entferntesten Ecke der Insel herum. Wer weiß, wo sie gerade herumschnüffelt..." „Ich weiß es", verkündete eine Stimme aus einem der Tunnel.
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KAPITEL 19
DIE BESTEN ÜBERLEBEN
Es war Michaelina. Cams kleines Hamsterherz sank ungefähr dorthin, wo normalerweise die Hosenbeine ihrer Jeans gewesen wären. Sie wieselte über den kalten Felsenboden und suchte verzweifelt nach einem sicheren Versteck, einem Loch in der Felswand, irgendeinem Abfluss oder einer Rinne. Sie fand nichts und duckte sich in die dunkelste Ecke. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Michaelina ein bisschen daneben schien. Zum einen zitterte sie wie Espenlaub, zum anderen trug sie ein fremdes Cape. Es war aus burgunderrotem Samt und schien viel zu groß für die schmächtige Hexe. Sie sah aus, als hätte sie das Cape ihres Daddys ... Cam dachte den Gedanken nicht zu Ende. Das war auch nicht nötig. Aus dem Blickwinkel eines Nagetiers, eine Handbreit über dem Boden, hatte sie etwas gesehen, was Sersee und Epie noch nicht bemerkt haben konnten. Sie sprang auf eine der Steinbänke und krabbelte von dort eilig in einen hamstergroßen Riss in der Felswand, wo Jason sie nicht erreichen konnte. Logenplatz. Von hier aus beobachtete sie die Szene. Sie wusste genau, was gleich passieren würde. Und was sie zu tun hatte.
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Epie klatschte aufgeregt in die feisten Hände, was sie aber gleich bereute. „Aua! Michaelina!", kreischte sie dann aufgeregt. „Beeil dich, komm her! Das musst du einfach sehen! Schau mal, was Sersee und ich gemacht haben!" Sersee warf ihr einen giftigen Blick zu und Epie verbesserte sich: „Was Sersee gemacht hat, meine ich. Aber ich hab geholfen!" Michaelina stand immer noch im Schatten. Sersee kniff die Augen zusammen und legte den Kopf ein wenig schief, als überlegte sie, warum ihr kleiner Leutnant so nervös schien und sich so seltsam bewegte. „Wie lieb von dir, dich wieder mal bei uns blicken zu lassen", säuselte sie schließlich. „Jetzt komm endlich her, Mikey. Das müssen wir gemeinsam genießen. Ich habe die Edelprinzessin eliminiert." In dem Augenblick, in dem Michaelina aus dem Schatten trat und näher kam, duckte sich Cam und schnellte mit einem gewaltigen Satz aus ihrem Versteck heraus. „Aaarrrrkhh! Weg mit dir! Hau ab! Iiiiih!" Iiiih? Hatte Epie tatsächlich Iiiih geschrieen? Cam lachte laut. Es kam allerdings als ein schrilles Piepsen heraus, das so klang, als hätte sie eine Doppelportion Helium mit Lachgas verschluckt. Um die Verwirrung noch weiter anzuheizen, kletterte sie am Bein der dicken Hexe hinauf, hüpfte über einen ihrer fleischigen Arme, mit denen Epie wild um sich schlug, und raste dann mit irrer Geschwindigkeit um ihren Nacken, wobei sie ihre winzigen scharfen Hamsternägel immer so tief wie möglich in den dicken weißen Hals krallte. Epie geriet völlig außer sich. Sie versuchte, Cam mit heftigen Schlägen zu vertreiben, aber der lebhafte Hamster war der schwerfälligen, übergewichtigen 229
Hexe weit überlegen. Und der fauchende und knurrende Panter machte alles noch schlimmer: Er kauerte direkt vor Epie und beäugte sie hungrig. Cam merkte, dass irgendwo tief unter dem fettig glänzenden Panterfell noch ein Rest von Jason existierte, genauso wie noch ein Rest von Cam im Hamsterhirn verblieben war. Oder vielleicht hatte er nur einfach erkannt, dass Epie eine größere Portion bot als Cam der Hamster. Nach der Lautstärke zu urteilen, trieb Epies Panik dem Höhepunkt zu, aber Sersee kam ihr weder zu Hilfe noch schien sie auch nur das geringste Mitgefühl zu empfinden. Die früher so furchtlose Oberfurie erlebte gerade ihren eigenen „Iiiih"Moment. Michaelina war endlich aus dem Schatten getreten. Aber sie war nicht allein. „Besuch ist da!", rief Alex grinsend und schob den weiten Samtmantel von ihrem Kopf, den sie in LunaSoleil gefunden hatte. Arons Cape war weit genug, um nicht nur Michaelina zu umhüllen, sondern auch Alex völlig zu verdecken. Um Alex' Schulter lag die Babydecke, die Miranda für die Zwillinge genäht hatte. Sersee war sichtlich erschüttert und momentan sprachlos. „Deine Gedanken gehen ja ganz wild durcheinander!", stellte Alex mit mildem Vorwurf fest. „Deshalb kann ich nur raten. Aber du scheinst mir doch ein wenig nervös. Kann es sein, dass Cam und ich jetzt wieder zusammen sind?" Sersee versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Zusammen - sozusagen ... äh, sozuquieken", fauchte sie wütend. Sie deutete auf den Hamster auf Epies Schulter. 230
„Liebling, ich hab dein Schwesterchen geschrumpft." Alex starrte den Hamster - Cam ? - mit offenem Mund an. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Doch dann schickte ihr das pelzige kleine Wesen, das mit einer Klaue an Epies Nacken hing, eine klare Botschaft: Wenn du auch nur einmal lachst, verarbeite ich dich zu Hackfleisch. Alex brachte mühsam ihre Gesichtsmuskeln unter Kontrolle. Michaelina starrte ebenfalls Cam den Hamster an und sagte fasziniert und tief beeindruckt: „Hast du sie wirklich in das kleine dicke Tierchen verwandelt? Ein Leckerbissen für einen Panter." Sersee warf ihr einen wütenden Blick zu. „Im Zweifel für die Angeklagte - denn ich nehme an, dass du mich nicht absichtlich verraten hast? Vielleicht hast du es gar nicht gemerkt, dass du nicht alleine unter dem Cape warst, hä?" Bevor sich Michaelina verteidigen konnte, fauchte Sersee: „Reiß ihr das verdammte Mondamulett runter! Sie braucht es nicht mehr!" Michaelina bewegte keinen Muskel. „Jetzt!", befahl Sersee noch lauter. „Sofort!" Alex verschränkte die Arme. „Nicht so schnell, Oberfurie. Deine kleine Speichelleckerin steht unter einem Wahrheitszauber. Sie kann dir nicht folgen, auch wenn du noch so oft deine Krallen zeigst. Sie kann nur das tun und sagen, was sie wirklich und wahrhaftig will. Und sie hat mir alles erzählt." „Glaubst du wirklich?", schoss Sersee scharf zurück und hob dramatisch die Augenbrauen. „Super! Dann setzt sich also immer die Wahrheit durch ?" „Pass auf! Du verbrennst dich!" kreischte Epie warnend. Aber es war zu spät. Michaelina war mit einem Satz hinter Alex und 231
hatte ihr das Mondamulett vom Hals gerissen. Es klapperte über den Boden. Alex wirbelte herum: „Warum hast du das getan ?" Die grünäugige Hexe zuckte die Schultern. „Sie hat's mir eben befohlen. Meine Wahrheit ist einfach. Und flexibel. Ich stehe immer nur auf einer Seite. Meiner eigenen." Alex war klar, dass sie ausgetrickst und hereingelegt worden war. Naiv zu sein, war normalerweise nicht ihr Problem. Wie hatte Michaelina es geschafft sich so zu verstellen, ohne dass Alex es merkte ? Schon bellte Sersee ihre Befehle. „Michaelina, schnell! Hol ein Seil und binde ihr die Hände auf den Rücken." In einer fließenden Bewegung wirbelte sie herum und fegte Cam von Epies Schulter. „Hilf ihr! Ich will diesen Augenblick noch richtig genießen - bevor ich beide töte." Bring sie zum Reden! Ich hab eine Idee! Sersees Schlag war für den kleinen Hamster Cam fast ein Knock-out. Sie fiel auf den Boden und huschte sofort davon, wobei sie Alex eine Denkmail schickte und hoffte, dass sich niemand mehr die Mühe machte, sich in ihre Gedanken einzuloggen. Bring sie irgendwie in Rage, bis zur Weißglut!, drängte sie, obwohl sie keineswegs sicher war, dass Alex ihre Hamster-Gedanken auch verstand. Verstanden, antwortete Alex, drehte sich um und begann Sersee zu ärgern. „Na also, du hast mich erwischt, Skeletthexe. Was hast du jetzt mit mir vor - meine Haare im Afro-Look frisieren oder was?" Epie und Michaelina kicherten und Sersee wirbelte herum und brachte sie mit einem hasserfüllten Blick zum Schweigen. 232
Niemand bemerkte Cam, die hinter Alex herumhuschte. Sersee schnaubte verächtlich. „Soll das ein Witz sein, Kaktuskopf? Nein, ich hab eine bessere Idee. Echt rattig. Kater Jason", sagte sie und deutete auf den Panter, der hinter Cam herschnüffelte und sich jetzt Alex näherte. „Ach so", unterbrach sich Sersee, „das weißt du ja noch gar nicht, Punkzwilling: Den Namen hab ich ihm nicht gegeben. Den hatte er schon, als er zu mir kam." Alex Unterkiefer fiel herab. Das hatte ihr Michaelina nicht erzählt! Allerdings hatte Alex sie auch nicht danach gefragt. Sersee fuhr fort: „Panter haben normalerweise einen ziemlich großen Appetit. Na, wer hätte das nicht nach zwei Tagen ohne etwas zu essen! Er hat einen Double-Twinburger verdient. Oder noch besser: Wie wär's mit einem Double-Hamsterburger?" Alex spürte ein Kitzeln an ihrer Wade, dann krabbelte etwas blitzschnell an ihrem Bein empor und schließlich auf ihre gefesselten Handgelenke. Cam. Der Panter starrte Alex geifernd an. Alex behielt ihn genau im Auge und stieß hervor: „Pass nur auf, Sersee! In diesen Höhlen leben ziemlich wilde Geister. DuBaer-Geister. Unser Großvater ist hier ums Leben gekommen." Die große knochige Hexe freute sich hämisch. „Das passt ja prächtig. Dann setzen wir einfach das Ritual fort - in den Höhlen zu sterben, wird dann bei den DuBaers zur Tradition! Und ich werde euch endlich los, für immer! Die ach so braven
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DuBaer-Zwillinge werden keine Gelegenheit mehr haben, ihre überquellende Güte über die Welt zu schütten. Schade." „Das würden sie doch sowieso nicht können, Sersee?", fragte Epie, als ob ihr der Gedanke eben erst gekommen sei. „Wir sind doch unbesiegbar, als Furien, meine ich?" „Solange wir unseren kleinen Bund geheim halten", erinnerte sie Michaelina. „Und solange uns niemand verrät." Einen winzigen Augenblick lang wurde Alex von einem kratzenden Geräusch abgelenkt. Etwas zupfte an ihren Fesseln. Oder richtiger: nagte daran. In der Grundschule hatte mal ein Kind einen Hamster mitgebracht. Alex hatte ihn gefüttert und war dann von ihm gebissen worden. Diese Viecher hatten nicht nur scharfe Zähne, sondern auch einen sehr kräftigen Biss. Scharf und kräftig genug, um ein Seil durchzunagen? Und zwar presto ? Zur Ablenkung stieß Alex schnell irgendeine beliebige Frage heraus: „Weiß mein Onkel eigentlich über euern kleinen Geheimbund Bescheid?" „Lord Thantos ? Noch nicht", sagte Sersee. „Aber wenn er erst mal sieht, was ich alles getan habe und wie lächerlich die Magie seiner Nichten im Vergleich zu meinen Zauberkünsten ist, wird er daran sicher ein ganz großes Interesse haben. Und besonders an mir. Keiner von denen, niemand, hat mich für gut genug gehalten ..." „Gut genug wofür?", fragte Alex hektisch, denn sie musste die gefährliche Hexe am Reden halten, oder vielmehr am Prahlen, bis ... Warum brauchte Cam nur so lange ? „Gut genug, um die Hexenlehre zu durchlaufen, du Idiot!" Sersee schob den knurrenden Panter weg und stampfte wütend auf Alex zu. 234
„Und gut genug, um zu den Auserwählten zu zählen, die Karsh jedes Jahr berief, gut genug, um den angesehensten Hexer von Coventry zum Lehrer zu bekommen! Jedes Jahr, jedes Jahr überging mich der alte Narr. Und auch Lord Thantos hielt mich nicht für besonders begabt. Auch er überging mich einfach, als ich ihn bat, von einem der großen Hexenmeister als Lehrling aufgenommen zu werden." Endlich! Alex spürte, dass der Druck des Seils nachließ. Sie zog eine Hand aus den Schlingen, und während Sersee noch immer wütend weiterredete, griff sie in der Tasche ihrer Jeans nach der Goldkette. Sie trat plötzlich ganz nahe an Sersee heran und schrie ihr ins Gesicht: „Lord Karsh hatte Recht! Du bist nicht clever genug. Du bist nicht gut genug. Du bist nicht mal schlecht genug, um richtig schlecht zu sein. Und deshalb wollte dich auch Thantos nicht haben ..." Hör auf, sie zu reizen!, flehte Cam telepathisch ihre Schwester an und kletterte auf ihrem Rücken noch höher hinauf. Hol endlich unsere Amulette! Erst muss ich die drei hier ausschalten, gab Alex zurück. „Mit wem redest du da?" Sersee wirbelte plötzlich herum. „Wo ist der verdammte Hamster?!" „Und wo ist das Seil? Wolltest du das fragen?" Alex konnte es nicht lassen Sersee zu ärgern. „Da ist es doch!" Sie konzentrierte sich auf ihre ganze Wut, Angst und Hoffnung und auf Arons Worte „Ich werde bei euch sein. Ich bin immer bei euch gewesen", dann zwang sie die Goldkette durch ihren Willen sich aufzuwickeln und wie eine glitzernde Schlange, wie ein goldenes Lasso durch die Luft zu wirbeln. Sie flog mit 235
unglaublicher Schnelligkeit direkt auf Sersee zu. Aber nicht schneller als Sersee reagierte. Sie duckte sich. Epie, fasziniert von Alex telekinetischem Trick, duckte sich nicht, sondern starrte die wild um sich schlagende Goldkette mit weit aufgerissenen Augen an. Die Kette klatschte um ihre Waden und wickelte sich blitzschnell spiralenförmig um ihren wulstigen Körper. Sie stürzte wie eine mit Gold bandagierte Mumie hart zu Boden. Sersee erholte sich schnell von ihrem Schock und stürzte sich auf Alex, wobei sie zischte: „Mir fällt gerade ein, dass du unseren Telekinese-Wettkampf gewonnen hast. Dieses Mal hättest du mehr Zielwasser trinken sollen." Doch ihr schadenfrohes Grinsen kam zu früh. Sie sah nicht, dass der Hamster hinter Alex hervorhuschte, merkte nicht, dass er sie mit glühender Intensität anstarrte, seine winzigen, feurig glänzenden Knopfaugen direkt in Sersees violettblaue Augen bohrte ... Mitten im Angriff schrie die magere Hexe auf und erstarrte, als Cams brennender Blick sie blendete. Volltreffer! Cam hatte Sersee ausgeschaltet. Die Hexe, die eben noch alles unter Kontrolle gehabt hatte, war auf der Stelle festgewurzelt. In der einen Sekunde, in der sie völlig erstarrte, gelang der Oberfurie noch ein letzter Schrei: „Greift an!" Michaelina bewegte sich tatsächlich. Sie blickte von der goldkettenumwickelten Epie zu Sersee, die wie Stein gewordene Wut steif und starr mitten in der Höhle stand, und dann zu dem halb verhungerten, unruhig und gierig hin und her schleichenden Panter. Sie hatte sich schnell entschieden: Sie rannte los, stürzte in den Tunnel und zum Tageslicht hinauf und rannte so schnell und so weit davon, wie sie nur konnte. 236
Aber Jason, ausgehungert, gedemütigt und auf schmerzhafte Weise dazu erzogen, Sersees Befehlen zu gehorchen, duckte sich tief auf den Boden, alle Muskeln zum Sprung auf die Zwillinge angespannt. Nur seine Augen verrieten seine Angst, sein abgrundtiefes Entsetzen, etwas so Grauenhaftes zu tun. Aber der Hunger und die grausamen Instinkte, die Sersee ihm eingegeben hatte, gewannen die Oberhand. Er fauchte und knurrte, starrte Alex gierig an, geiferte und bleckte die scharfen Reißzähne. Cam saß auf Alex' Schulter und wagte es noch nicht, Sersee aus den Augen zu lassen. Ich hin als Hamster immer noch ich selbst, telepathierte sie ihrer Schwester. Das heißt, dass es bei Jason genauso ist. Sprich mit ihm. „Jason, ich bin's, Alex. Und der Hamster hier ist wirklich Cam, kein Witz. Du hattest Recht - wir waren in Gefahr. Jetzt kannst du uns wirklich helfen, Jason." Doch Alex hörte oder vielmehr fühlte, dass Sersee eine absichtlich wirre Botschaft an den Panter sandte. Es musste so etwas gewesen sein wie „Zerfetze sie mit deinen Zähnen!", denn der Panter reckte plötzlich den Kopf und blickte zu der erstarrten Hexe hinüber. Seine Ohren spielten aufmerksam. „Hör nicht darauf, Jase. Sie ist böse", flehte Alex und versuchte krampfhaft, vor lauter Grauen nicht die Nerven zu verlieren, als der Kopf des Panters wieder zu ihr herumschwang. Jase. Cams Angst löste sich auf, als sie von einer Welle von Mitleid überrollt wurde. Mitleid mit Jase, dessen Motive so rein und selbstlos gewesen waren und der dafür mit Gefangenschaft, Folter und Hunger belohnt und in ein wildes Biest verwandelt 237
worden war - nur weil er sich so liebevoll um Cam gesorgt hatte. „Jason, ich weiß, dass du irgendwo dort drin bist", fuhr Alex noch eindringlicher fort. „Du hast jetzt deinen eigenen freien Willen wieder. Du musst ihren Befehlen nicht mehr folgen. Ich verspreche dir, Cam und ich werden dich wieder aus diesem Körper herausholen." Der Schwanz des Panters peitschte auf den Boden. Er bleckte vor seinen Opfern die Zähne und seine Schnauze schäumte vor Hunger. „Töte!" Einen einzigen Schrei brachte Sersee hervor, die sich wieder aus der von Cams Blick verursachten Starre zu lösen begann. Erschreckt zuckte der Panter zu der Hexe herum, die ihm befohlen hatte zu töten - und sprang. Seine scharfen Krallen rissen Sersees purpurrotes Cape in Fetzen. Cam bohrte ihre kleinen Klauen in Alex' Schulter. Entsetzt beobachteten sie, wie Sersee in ihren zerrissenen Kleidern rückwärts stolperte. „Nein!", schrien Cam und Alex gleichzeitig. Mitleid und Entsetzen hatten Cams menschliche Stimme freigesetzt - aber sie musste teuer dafür büßen. Ihre Kehle brannte wie Feuer, ihre Ohren rauschten und heftige Schmerzen schössen durch ihren Kopf. Von Schwindel überwältigt, klammerte sie sich verzweifelt an ihre Schwester, aus Angst, ohnmächtig zu werden und auf dem steinharten Boden aufzuschlagen. „Sitz, Jason!", schrie Alex gellend und versuchte gleichzeitig, Cams Krallen aus ihrem Fleisch zu lösen. „Stopp! Nicht töten!" Der hungrige Panter wich ein wenig zurück, dann siegte wieder 238
die Gier. Erneut sprang er auf Sersee, die unter seinem Gewicht zu Boden stürzte. Die scharfen Zähne bohrten sich in ihre Schulter. Sersee schrie vor Entsetzen und Schmerzen. Cam ließ sich von Alex' Schulter fallen und landete auf dem Rücken des Raubtiers. Brüllend vor Wut drehte es sich um. „Nein!" befahl ihm Alex laut. „Das ist Cam!" Sie packte den hin und her peitschenden Schwanz und zerrte heftig daran. „Wir verletzen niemanden! Jason! Wir helfen den Menschen, wir heilen sie ..." stieß sie unzusammenhängend hervor, wobei sie von dem wild herumtobenden Panter in der Höhle herumgezerrt wurde, aber den Schwanz trotzdem nicht losließ. „Helfen Leuten ... sodass alles ... zu größter Vollendung ... sogar Sersee ..." Cam hing zitternd auf seinem Rücken. Schließlich sank der Panter zu Boden, erschöpft, geschwächt und verwirrt. Alex kniete neben ihm nieder und legte den Arm um seinen schlanken schwarzen Hals. „Alles in Ordnung", flüsterte sie und streichelte ihn. „Oh Jason, es tut uns so Leid." Cam sprang keuchend von Jasons Rücken und behielt Sersee im Auge, die ihre verletzte Schulter umklammerte und wimmerte. Cam richtete ihren Teleskopblick auf die Bisswunden. Sie waren nicht so tief, wie sie befürchtet hatte. Die wenigen Blutstropfen begannen schon zu gerinnen. Jason war bereits zu geschwächt, um größeren Schaden anrichten zu können. „Das heilt bald wieder", versicherte Alex der verletzten Hexendiva. „Auf der Insel gibt's so viele Kräuter und Heiler, dass praktisch nur eine Narbe zurückbleibt." Okay, Doktor Heilemich, verschreib ihr 239
endlich zwei Aspirin und bestell sie für morgen zur Nachuntersuchung, quiekte Cams Gedankenmail. Erinnerst du dich vielleicht auch noch an mich? Schwester. Zwilling. Beste Freundin. Aber Hamster! Hol endlich unsere Amulette, aber schnellstens, und mach den Verwandlungsspruch rückgängig! Mir reicht's, lass mich aus diesem Rattenfell raus! Warum ? Die Klamotten sind maßgeschneidert und stehen dir super!, gab Alex zurück, aber dann beeilte sie sich und sammelte das Mond- und das Sonnenamulett vom nasskalten Höhlenboden auf, wo sie hingeworfen worden waren. Sie hielt Cam ihr Sonnenamulett hin und erwartete, dass sie es an sich nehmen würde. Aber der Hamster hob total frustriert die winzigen Pfötchen und schimpfte gereizt los. Hoppla. Ich glaub, ich weiß, was du meinst, mailte Alex verlegen zurück. Schau mal, Alex, keine Hände, klaro ? - Wolltest du das sagen? Cam verdrehte die kleinen Äugehen. Alex hielt die beiden Amulette in ihren Händen. Aber die gehämmerten Goldamulette, die so exakt ineinander passten, als seien sie eins, reagierten nicht wie sonst. Sie zogen sich nicht gegenseitig an wie Magnete, als hätten sie ihren eigenen Willen. Sie blieben so kalt wie der Steinboden und erwärmten sich nicht. Mit sinkendem Mut hielt Alex sie fest in der Hand, schaute Cam unverwandt an und begann, den Verwandlungsspruch aufzusagen. Ich spüre nichts, denkmailte Cam nervös. Ich weiß, gab Alex zu, ich auch nicht. Etwas stimmt nicht. Irgendwie ist da kein Saft drin. Versuch's noch mal, drängte Cam und hoffte, dass es nicht daran lag, dass Alex den Spruch allein aufsagen musste, was 240
sie bisher immer nur gemeinsam getan hatten. Es muss funktionieren, dachte sie, denn sie war nicht sicher, ob es überhaupt eine andere Möglichkeit gab. Ileana und Miranda konnten ihnen nicht helfen; ihre Magie war erschöpft. Karsh lebte nicht mehr. Thantos und seine GmbH, diese Gesellschaft mit beschränktem Hirn, würde ihnen niemals helfen. Und Shane ? Höchst zweifelhaft. Ihre Nasenspitze juckte nervös und ihre Nagezähnchen klapperten. Auf keinen Fall wollte Cam in diesem Zustand die Höhle verlassen. Und ebenso entsetzlich war: Wenn Alex ihr nicht helfen konnte, dann konnten sie Jason auch nicht helfen. Nein!, dachte Cam. Sie würde nicht zulassen, dass die Sache so endete! Schließlich war sie Camryn Barnes, das Mädchen, das immer bekam, was es wollte. Und sie war auch Apolla DuBaer - eine Hälfte der besten Zwillingsshow, die je gespielt worden war. Epie klapperte auf dem Felsenboden herum. Sie kämpfte sich mit der Goldkette ab, mit der sie gefesselt war. Sersee war noch immer mit ihrer Wunde und ihren Schmerzen beschäftigt und achtete im Moment ebenfalls nicht auf die Zwillinge. Aber bei beiden konnte sich das jeden Augenblick ändern. Ich verspreche dir, sagte Alex beschwörend, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob sie das Versprechen jemals halten konnte, dass wir schon eine Lösung finden ... Und dann spürte sie es. In ihrer Hosentasche wurde es immer wärmer, als lehnte sie gegen einen warmen Kachelofen. Vorsichtig fasste sie hinein und zog das Amulett heraus, das sie in ihrem Elternhaus gefunden hatte und das sie eigentlich 241
Ileana hatte schenken wollen - das Amulett, das Nathaniel auf dem Porträt in der Galerie von Crailmore in der Hand hielt: das goldene, münzähnliche Wappen, auf dem ein tanzender Bär abgebildet war. Cam hatte es noch nie gesehen. Im Moment hatte sie die kleinen Hamsteraugen fest zugepresst und versuchte eine Vision herbeizuzwingen. Sie wollte nicht eine nebelige Vorahnung, einen unbestimmten Hinweis oder einen vagen Orakelspruch: Sie wollte die volle Wahrheit über ihre Zukunft in allen Einzelheiten, eine sichtbare Ankündigung dessen, was sein würde. Alex drehte das warme Amulett in ihrer Hand und blickte Cam nicht an, aus Furcht, dass es dann nicht funktionieren würde. Aber es wurde immer wärmer und fühlte sich ganz ähnlich an wie ihr eigenes Mondamulett. Und als sie die kleine Scheibe drehte, blitzte das DuBaer-Wappen im Kerzenlicht auf und sein Widerschein fiel über Cams angespanntes kleines Hamstergesicht. Mit vor Angst bebender Stimme begann Alex den Verwandlungsspruch aufzusagen. Cam spürte sofort das Licht des glimmenden Amuletts und hielt den Atem an. „Durch starke Magie erbebt die Nacht", zitierte Alex und hielt das Amulett etwas fester, auf dem das Familienwappen so kunst- und liebevoll eingraviert worden war. „... am Himmel entfaltet der Mond seine Pracht ..." Sie merkte, dass ihre Stimme immer zuversichtlicher und fester klang und von den Felswänden widerhallte. „Die Zeit ist gekommen, um Apolla zu 242
geben, ihre menschliche Form, ihr wirkliches Leben. Vom Hamster zu Camryn soll sie nun werden, damit sie und Artemis..." Alex brach ab. War das ein Echo in der Höhle ? Oder war es ... Cam, die mit ihr gemeinsam den Zauberspruch aufsagte? War das wirklich wahr? Cam! Alex wirbelte zu ihrer Schwester herum. Da stand sie auf ihren eigenen durchtrainierten Beinen und ihr Gesicht spiegelte nicht nur Alex' übergroße Freude wider, sondern glühte auch vor Erleichterung und Dankbarkeit. Sie sanken sich in die Arme und ihre Tränen begannen zu fließen. „Danke, danke, Alex", murmelte Cam immer wieder und fragte sich, ob das nur die Vision war, die sie herbeigesehnt hatte, oder die Wirklichkeit. „Danke, Aron", murmelte Alex und zeigte ihrer Schwester das DuBaer-Amulett. „Es gehörte ihm. Nathaniel muss es ihm vermacht haben. Ich hab es in der Zederntruhe gefunden." „Damit können wir auch Jason zurückverwandeln", sagte Cam und kraulte den erschöpften Panter zwischen den Ohren. „Zuerst verschwinden wir von hier", entschied Alex. „Wir nehmen ihn mit." „Super Plan, Hexengirls", kam Sersees krächzende Stimme aus der Ecke. „Ich wette, er findet es echt geil, dass ihr auch Hexen seid - wie wir anderen." Cam wurde blass. „Oh nein ...", murmelte sie. „Oh ja, Prinzessin", krächzte Sersee bösartig.
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„Achte nicht auf die böse Fee", drängte Alex, griff nach Jasons Halsband und wandte sich ein letztes Mal um. „Nett von dir, Sers, mich einzuladen. Hat mir echt Spaß gemacht, dich kennen zu lernen. Und dich auch, Goldkügelchen", flötete sie grinsend zu Epie hinüber, die sich auf dem Boden verzweifelt in ihrer Goldkette wand. „Aber, ihr wisst schon ..." äffte sie Sersees schrill näselnde Stimme und ihre Worte nach, „hab noch viel zu erledigen, so viele Menschen zu verhexen, so viele Leben zu ruinieren ... Und so wenig Zeit..." Das brachte sie erst auf einen Gedanken. Sie gab Jasons Leine Cam in die Hand und nahm mit großer Geste die Babydecke von der Schulter. Helmkraut, auch Scutellaria genannt, dachte sie und roch an der Decke, in deren Patchwork unzählige Kräuter eingenäht waren. „Was weißt du schon über Helmkraut?", wollte Sersee wissen und versuchte sich mit ihrem gesunden Arm aufzurichten. Alex ignorierte sie und schloss die Hand fest um das Amulett ihres Großvaters. „Guter Geist, der du dich in den Höhlen verbirgst", erfand sie einfach einen Zauberspruch, „oh ihr Ahnen, die ihr längst euer Leben verwirkt..." Sie zögerte und Cam nahm den Faden auf. „Wir rufen euch an, denn es ist unser Wille, dass die Furien hier verbringen viele Stunden in ... äh, Stille ..." Alex schubste Cam mit dem Ellbogen. „Im Schlaf..." „Reimt sich nicht", grinste Cam. „Wird wohl auch so funktionieren." Sie nahmen beide ein wenig Helmkraut aus der Patchworkdecke und ließen das Pulver über die Furien herabregnen. 244
KAPITEL 20
EIN BEWEGTES ENDE
Cam und Alex rannten durch das wirre Labyrinth der Höhlengänge zurück zum Eingang. Der erschöpfte Panter folgte ihnen. Sie hatten gerade die glitschigen Stufen erreicht, die zum Keller von LunaSoleil emporführten, als Alex abrupt stehen blieb und den Arm seitwärts ausstreckte, um Cam den Weg zu versperren. „Hast du was gehört?", fragte Cam. „Jemand kommt", nickte Alex, „nein, es sind zwei Leute." Dann verzog sich ihr Gesicht zu einem breiten Grinsen. Im selben Augenblick wurde die Falltür über ihnen aufgeworfen. In der Öffnung schienen zwei Frauen zu schweben. Ihr geliebter Vormund Ileana und die Frau, die sie nur sehr langsam als ihre Mutter zu akzeptieren lernten, die sie aber schon jetzt sehr mochten: Miranda. Die erstaunten Ausrufe wichen schnell einem Kreuzfeuer von Fragen, freudigem Staunen und größter Erleichterung. Ein Chaos von Gefühlen und Wörtern, da alle gleichzeitig redeten. Weder Ileana noch Miranda hatten Cams angstvolle Hilferufe vernommen, aber beide Frauen hatten gespürt, dass die Zwillinge in großen Schwierigkeiten steckten. Ileana allerdings 245
hatte nicht auf ihre übernatürlichen Sinne gehorcht, denn sie misstraute ihren Instinkten noch immer zutiefst. Doch Miranda vertraute völlig auf ihre Empfindungen. Kaum hatte sie gespürt, dass die Zwillinge in Gefahr waren, hatte sie auch schon Ileana alarmiert und war mit ihr geradewegs nach LunaSoleil gelaufen. Miranda legte tröstend den Arm um Cams Schultern und schaute sie besorgt an. Das Mädchen zeigte alle Symptome einer durchlittenen Verwandlung: Ihr Blick war glasig, die Haut wirkte wächsern und war blass und ihre Hände zitterten. In was war sie verwandelt worden und wer hatte es getan? Unwillkürlich lief Miranda ein Schauer über den Rücken. Apolla und Artemis - ihre und Arons Kinder - hatten sehr gefährliches Gelände durchqueren müssen. Man hatte sie stärkster und bösester Magie ausgesetzt, stärker als alles, was Menschen in ihrem Alter, und vor allem Nichtgeweihten zugemutet werden durfte. Sie hatten sozusagen in der Meisterklasse mitspielen müssen. Schlimmer noch: Es war durchaus denkbar, dass sie bei einem weiteren derart schweren Angriff nicht in der Lage sein würden sich zu retten. Miranda wünschte, sie würden auf der Insel bleiben, aber sie wusste auch, dass sie auf das Festland zurückkehren mussten, denn dort war es für sie sicherer. Sie wollte gerade eine Bemerkung darüber machen, als sie von Ileana unterbrochen wurde, die niedergekniet war, um den matt und mit bebenden Flanken daliegenden Panter genau zu betrachten. „Ich sehe, ihr habt euch während dieser Sache ein Schoßtier zugelegt." 246
Bevor Cam antworten konnte, mischte sich Alex mit boshaftem Grinsen ein: „Er ist eigentlich kein Schoßtier." Sie wandte sich an Miranda. „Ah, Mum ... Cam möchte dir gern ihren Freund vorstellen." Cam rammte ihr den Ellbogen in die Rippen, mit mehr Kraft, als nötig gewesen wäre. Alex rieb sich die schmerzende Stelle und kicherte: „Ungezogener Hamster!" Miranda war entsetzt. Ileana blickte mit ihren grauen Augen zu ihnen auf und fragte Cam leise: „Das haben sie mit deinem Freund gemacht ?" „Wir hatten keine Zeit ihn zurückzuverwandeln. Das machen wir jetzt." Cam nahm Alex' Hand und griff nach ihrem Sonnenamulett. Ileana sprang auf. „Das solltet ihr nicht tun!", rief sie. „Wieso nicht?" Die Zwillinge blickten sie verblüfft an. „Denkt einen Augenblick nach", sagte ihr Vormund, „bevor ihr mit euren Zauberkünsten angebt. Zusammen seid ihr fähig, euren Freund in seine normale Gestalt zurückzuverwandeln ..." „Das müssen wir doch!" unterbrach Cam und ihre Stimme klang ein wenig schrill. „Sie haben ihn ausgenutzt, sie haben ihn gequält..." Auch Miranda hatte nun begriffen, was Ileana sagen wollte. „Sobald er seine menschliche Gestalt wieder hat, wird er sich an alles erinnern, was geschehen ist. Er wird viele Fragen 247
stellen, Apolla. Es liegt an dir zu entscheiden. Aber bist du darauf wirklich vorbereitet?" Cam war nicht darauf vorbereitet. In ihrem Eifer, Jason zu erlösen und wieder zum Menschen zu machen, hatte sie nicht an die Nebenwirkungen gedacht. „Was sollen wir machen ?" Ihr Magen drehte sich fast um, als sie an die Alternativen dachte. „Wir können ihn doch nicht als Panter ..." „Um mal einen von deinen seltsamen Ausdrücken zu verwenden: Du blickst wieder mal nichts!" Ileana verdrehte die Augen. „Das verlangt doch niemand. Setzt euch erst mal hin, ihr närrischen kleinen Hexenlehrlinge." Ihre Stimme wurde plötzlich weich, denn sie glaubte Karshs Stimme zu hören. Sie griff nach Mirandas Hand. „Komm, setz dich zu uns. Wir beide mögen einen Magie-Blackout haben, aber es gibt trotzdem noch viel, was wir ihnen beibringen können." Miranda zögerte. „Was du ihnen beibringen willst, ist weit über ihrem Niveau, das ist Sache der obersten Hexer und Hexen. Wir werden wahrscheinlich ..." „Die beiden hier sind schon längst Fortgeschrittene, glaub es mir", versicherte Ileana. „Ich meine, wir sollten es wagen." „Also gut", seufzte Miranda und spürte ein wenig von ihrem alten rebellischen Wesen zurückkehren. Es gefiel ihr. Und so sagten Alex und Cam den Zauberspruch auf, mit dem Jason schmerzlos in seine menschliche Form zurückverwandelt wurde. Die beiden Frauen leiteten sie an. Jason schüttelte benommen den Kopf und streckte den Nacken, während die Zwillinge einen neuen Zauberspruch lernten, mit dem sie seine Erinnerung an die Tage auf der Insel völlig auslöschten. Für den Zauber holte Miranda ein Fläschchen Baldrian aus der 248
Tasche und Ileana nahm einen milchig grünen Kristall aus ihrem Kräuterbeutel. Die Zwillinge rezitierten gemeinsam den Zauberspruch. Und Jason, der Cam anblinzelte, als sehe er sie nur unscharf, schien auf der Stelle einzuschlafen. Zum Abschluss wandten sie den Zauberspruch „Der Reisende" an und schickten Jason zu seinen Freunden zurück, damit er mit ihnen den Rest seines Urlaubs genießen konnte.
In Ileanas Haus bereiteten sich Cam und Alex auf ihre Abreise vor. Miranda und Ileana saßen im Wohnzimmer und warteten auf sie, um sie zur Fähre zu begleiten. Miranda beobachtete amüsiert, wie Ileana ihre Möbel wieder an die gewohnten Plätze schob, wo sie sich befunden hatten, bevor Cam ihren Umorganisationsanfall bekommen hatte. „Wenn ich einen Innenarchitekten brauche", brummte die stilbewusste Ileana, „werde ich Emily Barnes holen. Die hat wenigstens Stilempfinden. Aber natürlich", fügte sie schnell hinzu, „bin ich euch dankbar für alles, was ihr hier getan habt, besonders dafür, dass ihr das Chaos aufgeräumt habt. Das war ein großartiges Geschenk." „Wenn wir schon beim Thema sind ..." begann Alex. „... wir haben noch ein Geschenk für dich", vollendete Cam. Ileana, die normalerweise nichts lieber mochte als beschenkt zu werden, zögerte verlegen. „Wofür denn?", scherzte sie. „Für meine großzügige Gastfreundschaft?" 249
Cam erklärte es ihr. „Dafür, dass du unsere Cousine bist." Alex öffnete die Hand. Das Familienwappen der DuBaers glitzerte und funkelte in der Abendsonne. „Willkommen in der Familie - dieses Mal ganz offiziell." Ileanas Hand fuhr an ihre Lippen und ihre leuchtend grauen Augen wurden weit. Sie wandte sich ab, damit niemand die aufsteigenden Tränen sehen konnte. Miranda legte ihre Hände an Cams und Alex' Wangen. „Darauf bin ich ganz besonders stolz", sagte sie. „Begabung und Kraft wurden euch in die Wiege gelegt. Aber die Freundlichkeit, die Selbstlosigkeit und die Nächstenliebe sind Talente, die euch niemand geben kann. Nutzt sie gut." Die vier Frauen machten sich auf den Weg zur Fähre. Alex trug ihre ausgefranste Jeansjacke und ihren Rucksack. Cam trug modische Cargohosen und zog ihren Koffer auf Rollen hinter sich her. Beide waren tief in Gedanken versunken. Cam machte sich schwere Vorwürfe für alles, was geschehen war. Jason würde alles vergessen, aber sie selbst würde es niemals vergessen können. Sie war schuld daran, dass er unglaubliche Qualen durchleiden musste. Und schlimmer noch: Sie war auf Shane hereingefallen, der nichts weiter als ein verräterischer Speichellecker war. Ein Lügner. Bei Jason wusste man wenigstens, woran man war. Bei ihm war alles in Ordnung. „Hey, Zwilling", loggte sich Alex ein, die Cams Gedanken mitgehört hatte. „Wie wär's damit: Bei Jason siehst du, was du sehen willst. Vielleicht hat der Junge ja auch tiefere Schichten, Geheimnisse, die du nicht sehen willst?" „Danke, Sigmunde 250
Freud", witzelte Cam. Als sie aus Marble Bay hier auf der Insel angekommen war, hatte Cam sich wie eine Fremde in einem anderen Land gefühlt. Wie ET, ein Alien, der nur nach Hause wollte. Doch jetzt gab es irgendwo in ihr eine Stimme, die das zu schätzen wusste, was Alex offenbar von Anfang an gefallen hatte: Sie hatten zwei Zuhause. Das Zuhause, zu dem sie jetzt zurückkehrten, und ein zweites Zuhause, zu dem sie ganz gewiss zurückkehren würden. Zwei Hälften eines Herzens ergaben ein ganzes. Wie sie und Alex. Cams Zwilling aus Montana hatte sich auf der Insel sofort zu Hause gefühlt. Allerdings war Coventry nicht gerade das Paradies, das sie erwartet hatte. Diese Insel, deren Bevölkerung aus Hexen und Hexern bestand und die eine eigene Geschichte und eine eigene Magie hatte, wurde auch durch furchtbare Geheimnisse geprägt. Sie und Cam waren vor langer Zeit von der Insel weggebracht worden, weil sie für die Zwillinge zu unsicher war. Alex wusste jetzt, dass sie und Cam auf Coventry vielleicht niemals in Sicherheit leben könnten. Coventry würde immer ein Geheimnis bleiben. Wie Shane. Wie Michaelina. Wie die Frage, warum der Wahrheitsfinder bei ihr nicht funktioniert hatte. „Bist du sicher, dass er nicht funktionierte?", mischte sich Ileana in Alex' Gedanken ein. Als ihr Alex erklärte, was geschehen war, schnaubte Ileana verächtlich. „Unsinn! Du hattest den Spruch direkt aus meinem Zauberbuch. Natürlich funktionierte er." „Das hab ich auch zuerst gedacht", widersprach Alex. „Sie schien mir alles
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verraten zu wollen. Aber dann hat sie mich doch ausgetrickst. Woher sollte ich wissen, welches die echte Michaelina war?" Miranda meinte leise: „Vielleicht waren beide echt. Hör mal: Niemand ist einfach oder eindimensional. Nicht mal euer Onkel Thantos, obwohl ihr das vielleicht glaubt. Wie jeder andere Mensch kann auch eine Hexe verwirrt sein, unsicher sein, was und wer sie wirklich ist. Du hast Michaelina befohlen, die Wahrheit zu sagen - vielleicht hat sie das tatsächlich getan. Aus ihrer Sicht hat sie wahrscheinlich nur herausfinden wollen, wer sie ist und welche Möglichkeiten sie hat." Miranda war stehen geblieben und blickte Alex nachdenklich an. „Die erste Person, die ihr gefiel und die ihre rebellische Natur ansprach, war vermutlich Sersee. Dann lernte sie dich kennen. Ich vermute, ihr beide habt sie fasziniert, vielleicht auch ihr Interesse geweckt. Wahrscheinlich habt ihr dafür gesorgt, dass sie an Sersee zu zweifeln begann ..." Der Gedanke tauchte so plötzlich und völlig unerwünscht auf, dass ihn Alex nicht mehr unterdrücken konnte: Mum hat vielleicht nicht alle Tassen im Schrank, aber sie ist trotzdem ziemlich clever! „Das hab ich GEHÖRT!" Miranda stemmte die Hände in die Hüften und tat so, als sei sie wütend. Es gelang ihr nicht sehr gut. Und daraufhin brachen alle vier Hexen in gewaltiges Gekicher aus, auf das die längste, engste und liebevollste Gruppenumarmung aller Zeiten folgte.
„Alle an Bord, die absaufen wollen!" 252
Das Hexenquartett fuhr erschrocken herum, als es den Kapitän brüllen hörte. Die Fähre legte soeben an der Mole an. Bump „Quatschkopf" war völlig mit Blutergüssen übersät. „Passiert Ihnen das öfter?" fragte Alex und deutete auf seine blauen Flecken, obwohl sie die Antwort genau kannte. Viel genauer kannte als er selbst. „Was biss'n du? Irgend'n Hexendoktor? Blaue Flecken kriegt jeder mal", schimpfte der Kapitän. „Aber bei meiner letzten Tour hat 'ne verdammige Hexe den See behext, hat mein' Kahn richtig 'rumgewirbelt. Bin fast gekentert, bin ich, fast abgesoffen." Wenn er solche Märchen erzählt, darf er sich über seinen Spitznamen nicht wundern!, dachten Ileana und Miranda gleichzeitig. Doch Cam und Alex grinsten nur. Seine formlose, ausgebleichte Mütze war vermutlich daran gewöhnt, auf dem Schiff hin und her geworfen zu werden, was, wie Cam vermutete, den Furien oder anderen boshaften Geistern auf der Insel zu verdanken war. „Das isses auch, warum ich hier keine Minute länger bleib als nötig!" bellte Bump der Fährmann. „Habt ihr gehört? Ihr Hexen da, klemmt euch die Besenstiele unter'n Hintern und macht vorwärts." Und genau das machten Cam und Alex. Nie waren sie stolzer darauf gewesen, Hexen zu sein, als in diesem Augenblick Zwillingshexen. Apolla und Artemis, die Hexengirls.
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Ileana begleitete Miranda bis nach Crailmore zurück, lehnte aber die Einladung ab, ins Haus zu kommen. Sie hatte nicht die geringste Lust, dem geliebten Daddy in die Arme zu laufen und seine krumme Version der Familiengeschichte noch einmal mit anhören zu müssen, vor allem seine Lügen über Karshs und Nathaniels Freundschaft. Der listige Alte konnte dem mächtigen Hexer nicht mehr widersprechen. Ileana warf trotzig ihre blonde Lockenmähne zurück, die nun wieder golden in der Sonne glänzte. Lord Karsh Antayus mochte nicht mehr am Leben sein, aber die Erinnerung an ihn, an seine Wahrheitsliebe, lebte in seinen kostbaren Aufzeichnungen fort. Er hatte sie ihr, Ileana, vermacht - der Tochter, die nicht seine eigene war, aber die er mit seiner ganzen Weisheit und Liebe großgezogen hatte. Er hatte nichts weiter verlangt, als dass sie die Zeilen, die er für sie geschrieben hatte, großmütig und mit wachem Verstand las, dass sie Cam und Alex darüber berichtete und dass sie die Zwillinge beschützte, damit sie das erfüllen konnten, was ihnen seit langem bestimmt war. Ileanas Zauberkräfte mochten sich verringert haben, aber nichts konnte ihre Entschlossenheit mindern Karshs letzte Bitte zu erfüllen. Nichts! Nur das vielleicht: Als sie in Karshs Cottage ankam und das kostbare Buch mit seinen Aufzeichnungen hervorholen wollte, fand sie es nicht dort, wo sie es zuletzt hingelegt hatte. Es war verschwunden.
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ENDE DES SIEBTEN TEI LS
Wenn du mehr über Alex und Cam, die Zwillingsschwestern, und ihre magischen Kräfte erfahren willst, lies in den Büchern:
Band 1
Die Entdeckung der Kraft
Band 2 Warnung aus der anderen Welt Band 3 Rufe aus der Nacht Band 4 Schatten der Vergangenheit Band 5 Im Kreis der Geheimnisse Band 6 Im Bann der Magie