Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Lacy, Ed Geheimauftrag Harlem
Kriminalroman
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Cover DIE-Reihe Delikte, Indizien, Ermittlungen Lacy, Ed Geheimauftrag Harlem
Kriminalroman
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Harlem, Mitte der sechziger Jahre: Polizisten werden verprügelt, eine Sozialfürsorgerin wird tot aufgefunden, täglich gibt es rassistische Ausschreitungen – das sind Alarmsignale, die einen „heißen Sommer“ ankündigen. New Yorks Polizei hat Wind davon bekommen, daß ein Attentat von einer kriminellen Bande geplant wird. Das ist eine Aufgabe für den farbigen Polizeiwachtmeister Lee Hayes. Getarnt als Arbeitsloser, faßt er Fuß in der 128. Straße, findet Quartier bei der Witwe Johnson und über deren Sohn Ace eine heiße Spur. Bevor er handeln kann, wird seine Kollegin Mary Presenti bestialisch ermordet. Der Geheimauftrag erweist sich auch für Lee Hayes als lebensgefährlich.
Ed Lacy
Geheimauftrag Harlem
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Verlag Das Neue Berlin
(C) 1965 by Ed Lacy Originaltitel: Harlem Underground Übersetzung aus dem Amerikanischen von Alexandra und Gerhard Baumrucker Übernahme der autorisierten Übersetzung mit Genehmigung der Cenfa AG, Zug Der Vertrieb ist nur im sozialistischen Ausland gestattet.
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1974 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/88/74 • LSV 7334 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 219 4 EVP 2,50
Die Hauptpersonen des Romans sind: Lee Hayes Miriam Leutnant Jackson Davis Mary Presenti Helen Johnson Ace Johnson Mr. Solmen Earl Dillon
Polizeibeamter Studentin Kriminalbeamter Polizeibeamtin Stenotypistin ihr Bruder Hausverwalter Taxichauffeur
Der Roman spielt in New York
Da es sich um eine erfundene Geschichte handelt, sind alle Vorkommnisse sowie Namen und Gestalten erdacht und stellen keine wirklichen Personen dar, weder lebende noch tote. Das Thema ist leider nicht erfunden; wir sind von Rassenkrawallen und Mißverständnissen umgeben. Zwar gibt es in Harlem eine 128. Straße, aber ich habe lediglich die Nummer entlehnt, und die in diesem Buch verwendete Straße ist keineswegs identisch mit der wirklich 128. Straße und den dort lebenden Personen.
„Wegen mir brauchen Sie nicht mehr herzukommen, Mister, ich bin jetzt nicht mehr schulpflichtig. Die … Nein, ich bin noch nicht sechzehn … Hören Sie mal, seh’ ich denn so alt aus? Ich werd’ erst dreizehn. Aber die Schulaufsichtsbehörde hat mir jetzt nichts mehr zu sagen. Ich krieg’ nämlich ein Baby. Klar weiß ich das genau. Ich hab’ ’nen Brief von einem Doktor, und da steht drin, daß ich im zweiten Monat bin und … Was? Ist das wahr? Sie können mir wirklich umsonst ärztliche Hilfe verschaffen? Davon hab’ ich ja gar nichts gewußt. Das ist aber nett von Ihnen. Mein Vater hat gesagt, ich soll mich kümmern, daß … Ja, Sir, meine Leute wissen davon. Es ist ihnen nicht recht, aber was sollen sie machen? Ich … Mister, wie können Sie so dumm fragen? Klar will ich das Baby behalten. Es ist doch meins, oder? Und … Der Vater? Also, der heißt Little Daddy. Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt oder wo er wohnt. Ich hab’ ihn bloß zweimal gesehen. Das ist eine Frechheit, was Sie mich da fragen. Ja, ich hab’s freiwillig getan. Früher hat mich niemand angeschaut, nur er. Ja, ich hab’s ihm erzählt, und er hat gesagt: Pech, daß ich ’reingeflogen bin. Ja, Sir, diese ärztliche Hilfe möchte ich gerne haben, aber ich werde ihn ganz bestimmt nicht fragen, wie er mit Nachnamen heißt. Fällt mir nicht ein, daß ich dem Jungen in den Kram pfusche.“
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Montag
Um 11.50 Uhr stand ich vor meiner Rufbox und wartete, bis es Zeit war, meine Mittagsmeldung ans Revier durchzugeben. Der ganze Mai war verrückt gewesen, der eine Tag heiß, der andere naßkalt. Jetzt war es mild und ein bißchen windig, und wie üblich tummelten sich ein paar Unentwegte im Wasser. Von der Uferpromenade aus wirkte der Ozean hinter Far Rockaway ganz sauber und blau, als sei er eben erst funkelnagelneu auf die Erde gebracht worden. Noch bevor ich mit der Nennung meines Namens und der Postennummer fertig war, sagte der diensthabende Sergeant: „Endlich rufen Sie an, Hayes! Kommen Sie her. Sie sollen um fünfzehn Uhr im Präsidium sein.“ „Ja, Sir. Glauben Sie, daß ich zur Kriminalpolizei versetzt werde?“ „Schon möglich. Der Schreibstubenleutnant weiß genauer Bescheid. Ich schicke jemanden, der Ihren Posten übernimmt.“ „Bin gleich dort“, sagte ich und hängte ein. Ich war so aufgeregt, daß ich die rostige Tür der Box kaum zubekam. Auf diese Nachricht hatte ich gewartet, seit ich vor fast einem Monat den „Jamaica Terror“, wie die Presse den Sittlichkeitsverbrecher nannte, geschnappt hatte. Wenn ich befördert wurde, konnte ich die restlichen Raten für meinen Wagen zahlen und auf Wohnungssuche gehen. Die Verhaftung hatte viel Staub aufgewirbelt, und ich war enttäuscht gewesen und hatte es nicht begreifen können, daß man mich nicht auf der Stelle zur Kriminalpolizei versetzt hatte. Nicht einmal mein Foto war in den 9
Zeitungen erschienen. Ich hatte den Kerl nämlich gleich zur Staatsanwaltschaft gebracht, während die Fotografen uns auf dem Polizeirevier gesucht hatten. Ausnahmsweise sah meine Dienststelle einmal nicht so verkommen aus wie sonst, nämlich wie ein altes, abgewirtschaftetes Fremdenheim. Der Leutnant mit dem kahlen, rötlichen Ostereierkopf sagte: „Wachtmeister Hayes. Sie sollen sich um fünfzehn Uhr im Präsidium melden, als Aushilfsschreibkraft. Uniform ist nicht erforderlich. Sie melden sich in der Personalabteilung bei Leutnant …“ „Als Schreibkraft?“ Er rieb seinen glänzenden Schädel. „So hat es geheißen. Sie können doch tippen, Hayes, oder?“ „Ja, Sir. Aber ich habe erwartet … Ich meine, nach der tollen Verhaftung …“ Er zeigte seine Zahnstummel und hielt das für ein Grinsen. „Ihr jungen Kerle, noch kein ganzes Jahr bei der Polizei, und gleich wollt ihr hoch hinaus. Wahrscheinlich brauchen sie dringend Schreibkräfte, da haben sie die Lochkarten durch die Maschine gejagt, und Ihr Name ist herausgekommen. Jedenfalls kriegen Sie jetzt einen gemütlichen Job, können eine ruhige Kugel …“ „Aber Sir, das will ich gar nicht. Das habe ich nie verlangt.“ „Hayes, Sie sollen um fünfzehn Uhr im Präsidium sein. Mehr weiß ich nicht. Vielleicht bleiben Sie dort einen Tag, vielleicht vierzehn Tage oder weiß Gott wie lange. Dafür wird uns hier ein Mann fehlen. Machen Sie kein so finsteres Gesicht. Freuen Sie sich lieber, daß Sie den ganzen Tag auf Ihren vier Buchstaben sitzen dürfen. Ab mit Ihnen!“ 10
Um 12.30 Uhr war ich umgekleidet und fuhr den schicken Buick Riviera, den ich mir leistete, nach St. Albans, wo ich in Untermiete wohnte. Ich trug nur Flanellhose und Pullover, wollte mich aber fürs Präsidium „richtig“ anziehen. Meine Vermieterin ist Krankenpflegerin, ihr Mann ist U-Bahn-Schaffner. Ich hatte das Haus tagsüber also für mich allein, was zum Schlafen und Lernen prima war. Ich hatte ein Zimmer mit Bad im Souterrain, wo später einmal Geselligkeiten stattfinden sollten – sobald das Haus abbezahlt war. Während ich mich umzog – leichter grüner Anzug, weißes Hemd, schwarze Krawatte, italienische Slipper – , ertönte draußen in der Zufahrt die Hupe meines Wagens, und Miriam schrie: „Lee, wieso bist du so früh zu Hause?“ Ich schaute durch das niedrige Kellerfenster und sah ihre honigfarbenen Schenkel, die unter einem karierten Rock verschwanden. – Bestimmt der letzte Schrei aus der neuesten Nummer von „Harper’s Bazaar“ oder „Mademoiselle“. Irgendwie erinnerten mich die Schenkel – und alles an Miriam – an meinen Wagen: Es gab keinen Zweifel an der Schönheit der Linien, an der voraussichtlichen Diensttauglichkeit, die – mit durchschnittlichem Glück – von beiden zu erwarten war. „Ich muß nach Manhattan, mich im Präsidium melden.“ „Lee! Du bist Kriminaler geworden!“ „Nein, nichts dergleichen.“ „Nein? Du meine Güte, hast du etwas ausgefressen?“ „Keine Spur. Es handelt sich um eine vorübergehende Sache, aber ich weiß noch nicht, was das Ganze soll.“ 11
„Aber ich weiß es. Es muß einfach eine Beförderung sein“, sagte Miriam im Tonfall der Collegestudentin im zweiten Jahr, die sie tatsächlich war. Als ich aus dem Haus trat, stieß sie einen Pfiff aus. „Schick! Schick! Besonders der italienische Strohhut hat’s mir angetan. Weißt du ganz sicher, daß du nicht mit irgendeiner Puppe verabredet bist, Lee? Ich bin ein eifersüchtiger Typ.“ Ich zwinkerte und ging auf ihre Albereien ein. „Na schön, ich geb’s zu – Liz Taylor hat mich zum Cocktail eingeladen.“ Miriam lachte übertrieben. Wie sie so an meinem schnittigen Wagen gelehnt stand, in der weißen Bluse, die ihren üppigen Busen betonte, mit dem kastanienbraunen, zu beiden Seiten des scharf geschnittenen Gesichts ganz glatt herabhängenden Haar, mit der gutgenährten, zur Fülle neigenden Figur, wirkte sie ziemlich herausfordernd. Wie eines von den Mädchen auf den Bierreklamen in der Illustrierten „Ebony“. Aber nach längerer Bekanntschaft mit ihr konnte einem schon der Gedanke kommen, daß es nicht das schlechteste wäre, Miriam zu heiraten. „Du nimmst den Wagen, Lee? In Manhattan ist bestimmt scheußlicher Verkehr.“ „Ich werde bei der U-Bahn-Station parken.“ Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Ich hatte noch eine Stunde Zeit. „Lee, ich begleite dich zur U-Bahn-Station, dann fahre ich den Wagen zurück. Wenn du heimkommst, rufst du an, und ich hole dich.“ „Eine echte Vorstadtszene“, sagte ich, während ich hinters Lenkrad glitt. Ich roch Miriams würziges Parfüm, als sie sich neben mich setzte und ihren Schenkel an meinen drückte. Ich 12
erlaubte selten jemandem, meinen Wagen zu fahren, aber ihn in der Nähe der U-Bahn-Station zu lassen, konnte bedeuten, daß ich ihn bei der Rückkehr ohne Radkappen vorfand. Und Miriam war eine gute Fahrerin. Wie gewöhnlich plapperte sie sofort drauflos. Ob ich ihr bei einer Arbeit über römische Geschichte helfen könnte? Und dann vernahm ich etwas über einen „hochwichtigen“ Tanzabend ihrer Studentinnenverbindung. Ich hörte höflich zu, und an der U-Bahn-Station ermahnte ich sie, vorsichtig zu fahren. Ich tätschelte ihre Hand. Miriam sagte: „Komm, komm, Lee, mein Junge. Warum denn so schüchtern? Einen Kuß mit auf den Weg!“ Ihre vollen Brüste drückten sich an mich. Miriam gab mir einen festen Kuß, dann machte sie eine wohleinstudierte Wendung des Kopfes, so daß das weiche Haar mein Gesicht berührte. Ich gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil; ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Dann stieg ich aus und rannte die Treppe zum Bahnsteig hinunter. Nach einer Sekunde flitzte ich wieder hinauf, um zu sehen, wie sie um die Ecke bog – ein bißchen zu schnell. Der Zug war so gut wie leer, außer mir befanden sich nur zwei ältere Hausfrauen im Wagen. Ich versuchte an meinen neuen Job zu denken, aber meine wirren Gedanken kehrten immer wieder zu Miriam zurück. Ich war für ihre Leute ein Problem. Sie stammten aus einer Familie, die ihre westindische Haut seit Generationen durch „richtige“ Heiraten „aufgehellt“ hatte, und da gab sich Miriam, die „weiß“ aussah, mit mir ab, der ich so dunkel war wie ihre afrikanischen Vorfahren! Einerseits imponierte ihnen meine Collegebildung – daß ich in meiner Freizeit weiterstudierte, um Wirtschaftsprüfer zu werden – und auch mein ziemlich anständiges Gehalt, andererseits war da mein dunkles Gesicht. Für Miriam war ich fast eine 13
gute Partie: Falls sie in der Sozialfürsorge unterkam, hatten wir die besten Aussichten auf eines jener ebenerdigen Eigenheime in irgendeiner Gegend, die die Weißen verlassen hatten. Wieder mal ein Ghetto mit gepflegten Rasenflächen, wie St. Albans. Ich konnte mir ob meiner Voraussicht ein Lachen nicht verkneifen. Doch was mir wirklich zu schaffen machte, war, daß ich nicht wußte, wie lange ich mich Miriams nicht allzu verhohlener Hingabebereitschaft und der ihrer Ansicht nach unvermeidlich folgenden Heirat zu widersetzen vermochte. Natürlich hätte ich das Problem ganz einfach durch eine Übersiedlung lösen können. Sobald ich befördert worden war, konnte ich mir die Geborgenheit einer eigenen Wohnung leisten. Wenn … Wenn … Wenn man mich nicht in die Kriminalpolizei übernommen hatte, dann konnte ich jetzt aus irgendeinem unerfindlichen Grund dämliche Schreibarbeit verrichten. Außerdem hatte ich kein Recht, mich der armen Miriam so überlegen zu fühlen. Wenn die alte Frau nicht so quasselsüchtig gewesen wäre, dann hätte ich nie etwas davon erfahren, daß sie überfallen worden war und die Vergewaltigung nicht der Polizei gemeldet hatte. Ich hatte ganz stark das Gefühl gehabt, der Kerl würde sie noch einmal aufsuchen. Die Zeitungsberichte über ihn gehörten mit zu seinem perversen Vergnügen. Ich hatte elf Nächte in meinem Wagen zugebracht und das Haus der Alten beobachtet. Um 1.25 Uhr in der zwölften, regnerischen Nacht hatte ich ihn durch ihr Fenster klettern sehen. Er war ein mächtiger Brocken von rund hundertzwanzig Kilo, dessen hysterisches Gejaule mir eine Gänsehaut verursachte, als ich den Revolver auf ihn anlegte und mich als Polizeibeamter auswies. 14
Wäre mein Haar blond und mein Gesicht bleich gewesen, dann hätte man mich wahrscheinlich noch vor Sonnenaufgang zum Kriminalbeamten ernannt. Schreibarbeit! Und dazu hatte ich mich auch noch wie ein Idiot in Schale geworfen! Auf einem Sitz weiter vorn im U-Bahn-Wagen sah ich eine zerknüllte Zeitung liegen. Als ich hinging, schienen die weißen Gesichter der beiden älteren Frauen vor Entsetzen auseinanderzufallen. Ich blickte mich um: Niemand da, außer meiner schwarzen Wenigkeit. Ich schaute die beiden verächtlich an, nahm die Zeitung und verzog mich ans entgegengesetzte Ende des Wagens. Die Schlagzeilen berichteten in großer Aufmachung über eine „neue Welle von Gewalttaten in der U-Bahn“ – ein Verrückter, der zufällig farbig war, hatte versucht, sich während der Stoßzeit zu entblößen. Das Blatt rief seinen Lesern ins Gedächtnis zurück, daß Vorfälle in der U-Bahn ein „Vorspiel zu den Harlem-Krawallen des letzten Sommers“ gewesen seien … Auf der zehnten Seite stand eine kurze Notiz über zwanzig Teenager, die in Long Island eine Hausparty gestürmt und sich wüst benommen hatten, doch da es sich um Weiße handelte, waren sie keine Schlagzeile wert. Ich schlug die Sportseite auf. Da hatte jemand hineingeschneuzt. Ich legte die Zeitung weg. Heute hatte ich wahrhaftig keinen guten Tag.
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Kreideinschrift auf einem im Bau befindlichen Tageskinderheim in Harlem: ICH LIEBE MIEZEN (gez.) MICKY MAUS
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2 Kaum hatte ich die Tür der Personalabteilung geschlossen, als ein Leutnant herankam und fragte: „Hayes?“ „Jawohl.“ Ich warf einen Blick auf den bulligen Mann, der hinter der Schreibmaschine saß und mit dem Revolverhalfter an der Hüfte ziemlich lächerlich wirkte. „Folgen Sie mir.“ Wir gingen eine Treppe hinauf und einen langen Gang entlang und betraten einen kleinen Raum mit zwei einfachen Stühlen und einem verschrammten, von Zigarettenstummeln angesengten Tisch. Der Leutnant sagte: „Warten Sie hier, Hayes“, und schloß beim Hinausgehen die Tür. Es roch muffig, und der Raum sah so sehr nach Vernehmungszimmer aus, daß mir ganz flau wurde. Durch das einzig schmale Fenster schaute ich auf die bleichgrüne Kuppel des alten Polizeipräsidiums hinüber, das wie eine mittelalterliche Zwingburg aussah; ich betrachtete mir die verstopften Straßen, durch die ich genötigt sein würde, teures Geld für eine Parkmöglichkeit zu zahlen, falls ich jeden Morgen mit dem Wagen zur Arbeit fahren wollte. Die Gegend der Broome Street wird seit alters von Italienern bewohnt, und alle Geschäfte haben Hinterhöfe … Die Tür ging auf, und zwei große Männer kamen herein. Der größere maß mindestens 1,92 m und schleppte gut hundertdreißig Kilo Speck mit sich herum. Anscheinend besaß er keinen Hals; das rote Gesicht mit der geäderten Trinkernase ruhte auf massigen Schultern. Dünnes graues Haar war nachlässig über den großen Kopf gebürstet, in dem vergeblichen Versuch, den kahlen 17
Schädel zu verbergen. Der Mund war klein und verkniffen, und geöffnet zeigte er beachtliche Zahnlücken. Trotz seiner sechzig Jahre hatte der Mann noch nicht gelernt, sich zu rasieren – graue Bartstoppeln zierten stellenweise das große Gesicht. Aber die Augen waren scharf, von hartem Blau. Er trug einen konservativen dunklen Anzug, den er vermutlich im Ausverkauf erstanden hatte, ein zerknittertes weißes Hemd und einen billigen silbernen Binder. Der andere Mann war ein Farbiger und jünger, etwa fünfzig, mit breiten, abfallenden Schultern. Er hielt sich leicht vorgebeugt. Der lichtbraune Kopf glänzte, und die dicke Nase beherrschte das runde Gesicht. Er hielt etwas auf sein Äußeres; er trug einen gelbbraunen leichten Anzug, offensichtlich maßgeschneidert, ein gut sitzendes Hemd mit schmaler dunkler Krawatte, die von einer dünnen Goldkette gehalten wurde; seine großen Füße steckten in teuren braunen Wildlederschuhen. Seine knorrigen Hände hielten einen Aktenhefter, auf dem mein Name stand. Er sagte leise: „Wachtmeister Lee Hayes? Dies ist Inspektor Cane. Ich bin Leutnant Davis. Setzen Sie sich, Lee.“ Cane hatte sich bereits auf einen der alten Stühle niedergelassen und musterte mich mit seinen kalten Augen. Ich hatte schon von ihm gehört. Eines der ganz hohen Tiere. Ich stand unentschlossen da, bis Leutnant Davis mit dem Aktenhefter die Tischkante abstaubte, seine messerscharfen Bügelfalten hochzog und sich auf den Tisch setzte. Nachdem ich Platz genommen hatte, fragte Cane: „Wie alt sind Sie, Hayes?“ Die rauhe Stimme paßte zu seiner klotzigen Statur. 18
„Dreiundzwanzig, Sir.“ „Wenn Sie erst mal diesen modischen Kram ausgezogen haben, sehen Sie bestimmt noch jünger aus. Wieviel wiegen Sie?“ „Siebzig Kilo.“ Er rieb seine Straßenkartennase. „Sieht man Ihnen nicht an. Können Sie bei einer Rauferei Ihren Mann stehen?“ „Ich glaube, ja, Sir. Ich war Berufsboxer im Mittelgewicht; in der Schule habe ich Rugby gespielt, hinzu kommt noch alles, was ich auf der Polizeiakademie gelernt habe.“ „Na, im Gesicht haben Sie keine Narben – da waren Sie wohl recht gut.“ Er streckte seine Pranke aus, und Leutnant Davis reichte ihm meine Akte. Während er sie durchblätterte, murmelte er vor sich hin: „Geboren in Delaware, nach New York gekommen, um Stellung bei der Polizei anzutreten. College-Absolvent. Sie haben acht Profikämpfe gewonnen? Warum haben Sie die Handschuhe an den Nagel gehängt, Hayes?“ „Boxen ist ein zu schweres Geschäft. Ich habe einige Amateurkämpfe mitgemacht, während meines letzten Jahres im College habe ich dann als Profi geboxt, um mehr Geld fürs Studium zu haben“, sagte ich völlig verwirrt. „Aha. Wieso waren Sie nie beim Militär?“ „Reiner Zufall, Sir. Ich wurde nicht einberufen.“ „Irgendwelche Verwandte in New York?“ „Nein, Sir.“ „Wie viele Mädchen haben Sie hier?“ „Keines, Sir.“ „Na, na!“ schnauzte er, als habe er mich bei einer Lüge ertappt. 19
„Wissen Sie, einmal im Monat fahre ich nach Hause, meine Eltern besuchen, und da ist auch eine Frau, die …“ Ich hoffte, daß ich nicht so konfus aussah, wie ich mich äußerte. Am liebsten hätte ich gebrüllt, daß mein Liebesleben die Polizei einen feuchten Staub anginge. Inspektor Cane starrte meine Akte eine Weile an, wobei er sich wie ein kleiner Junge in die Lippen biß. „Hayes, wie viele Leute kennen Sie in Harlem? Wie oft gehen Sie zu Besuch hin?“ „Ich kenne dort niemanden, Sir. Ich bin ein-, zweimal durchgefahren, das ist alles.“ „Man sollte meinen, daß es Sie zu Ihren Leuten zieht.“ Ich sagte langsam: „Inspektor, ich verkehre gern mit Leuten – mit Leuten aller Art. Ich gehöre zu einer Polizeieinheit in Far Rockaway, ich wohne in Saint Albans und bilde mich am Queens College weiter. Ich habe nicht viel Zeit für Besichtigungstouren. Durch Chinatown bin ich auch einmal durchgefahren.“ Er schloß meine Akte, hielt sich das fette Kinn mit beiden Händen, während er mich anstarrte. „Hayes, Ihre Stimme klingt kalt und gelassen, und das ist gut so. Die Festnahme des Sittlichkeitsverbrechers beweist, daß Sie ein fähiger Polizeibeamter sind. Wir haben Sie für einen Sonderauftrag ausgewählt.“ „Als Tippmamsell, Sir?“ Er fuhr mit der Hand durch die Luft. „Ach, das. Hayes, es handelt sich um einen Geheimauftrag, der so heikel ist, daß niemand – auch nicht innerhalb der Polizei – etwas davon erfahren oder gar darüber sprechen darf. Hayes, Sie werden unmittelbar meinem Büro unterstehen. Sie werden mit einer Polizeibeamtin zusammenarbeiten. Meldung erstatten Sie lediglich an Jack – Leutnant Davis. Der Auftrag wird schwer und gefährlich sein – und 20
verdammt wichtig. Möglicherweise kann dies die explosivste Situation werden, der sich die Stadt je gegenübergesehen hat! Na, was wissen Sie von dieser Halbstarkenbande, die sich die ‚Bloody Blacks‘ nennt?“ „Nichts, Sir, außer was ich in den Zeitungen gelesen habe.“ „Hayes, die Verhinderung von Verbrechen ist die wichtigste Aufgabe der Polizei. Deshalb tragen Polizeibeamte Uniform; schon allein der Anblick der blauen Polizeiuniform ist ein Abschreckungsmittel. Nun sind wir überzeugt, daß diese verdammten Bloody Blacks während der letzten zwei Monate fünf Personen – Weiße – ermordet haben. Wir müssen sie schnappen, bevor sie einen – einen Bürgerkrieg entfesseln, gegen den die Unruhen vom vergangenen Sommer wie ein Picknick wirken würden. Es ist uns schon damals kaum gelungen, die Zügel in der Hand zu behalten. Ob es nun wieder einen langen, heißen Sommer gibt oder nicht, es darf keine Wiederholung der Unruhen geben! Wenn es wieder welche gibt, wird New York ein blutiger Dschungel werden. Ihre Aufgabe ist es, Mitglied der Bloody Blacks zu werden und herauszubekommen, wer die fünf Morde verübt hat. Und noch etwas weit Wichtigeres: Bringen Sie heraus, wer dieser Lump von einem Anführer ist, dieser ‚Purpurauge‘!“ „Purpurauge?“ wiederholte ich, angestrengt bemüht, nicht zu grinsen. „Es gibt wirklich jemanden, der Purpurauge heißt?“ Inspektor Cane stand auf. „Jack wird Ihnen alle Einzelheiten mitteilen. Alles Gute, Hayes.“ Über den Tisch hinweg ergriff er meine Hand und schüttelte sie kräftig. Von der Tür her rief er herüber: 21
„Jack, falls Sie mich brauchen, ich bin unten. Ihr Boys habt eine Menge zu besprechen.“ Mit erstaunlicher Behendigkeit, trotz seiner Leibesfülle, setzte sich Leutnant Davis unverzüglich auf Canes Stuhl. Er zog eine Zigarettenpackung und eine goldene Zigarettenspitze aus der Tasche und bot mir eine Zigarette an. Ich schüttelte den Kopf. Davis sagte leise: „Setzen Sie sich, Hayes, machen Sie sich’s bequem.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, daß ich aufgestanden war. „Sir, wie kommt er dazu, uns ‚Boys‘ zu nennen?“ Davis lachte; seine Vorderzähne waren oben und unten falsch, die Backenzähne waren zum Großteil plombiert. „Ach, der ist so alt, daß er den lieben Gott ‚Boy‘ nennen könnte. Er nennt auch Weiße so. Hören Sie, wir haben eine Menge zu besprechen. Wie wär’s, hätten Sie Lust, die Sache bei Kaffee und Kuchen in einem der Espressos an der Mulberry oder Spring Street durchzukauen?“ Ich lächelte. „Würde man uns einlassen, Sir? Voriges Jahr, als farbige Demonstranten durch die Straßen zogen, habe ich gelesen, daß die Italiener hier herumgeschrien haben sollen, die ‚stinkenden Nigger‘ sollten nach Harlem zurückgehen.“ Davis lachte abermals; es war ein gönnerhaftes Lachen, als hielte er mich für naiv. „Lee, Beschimpfungen sind nichts als Worte, lassen Sie sich davon nicht umwerfen. Die Italiener machen wirklich gutes Gebäck. Möchten Sie welches?“ „Ich habe keinen Hunger, Sir.“ Davis zündete sich eine Zigarette an. 22
„Also gut, sprechen wir hier. Lee, ganz auf richtig, was halten Sie von Ihrem neuen Auftrag?“ „Ich weiß nicht, Sir. Ich hatte noch nicht viel Zeit zum Überlegen.“ „Haben Sie Angst? Mir können Sie’s ruhig eingestehen. Bei so einer Sache muß man den anderen schnellstens kennenlernen. Die eigene Sicherheit und der Erfolg des Unternehmens hängen davon ab.“ „Nein, Sir, ich fürchte mich nicht. Es ist eher … Ich weiß nicht, aber irgendwie fühle ich mich wie ein Onkel Tom.“ Er schaute verwundert drein. „Aber Lee, diese Früchtchen sind Killer, die …“ „Sir, wenn wir schon offen sein wollen: Sprechen wir als Polizeibeamter oder als Neger?“ Davis nahm die Zigarettenspitze aus dem Mund und rieb sie kurz an seinen Lippen. „Zunächst einmal nennen Sie mich Jack. Jackson Davis lautet mein voller Name. Wenn Sie mich Jackson nennen, schlage ich Ihnen das Gesicht kaputt. Lee, ich muß genau wissen, wie Sie empfinden. Alles bleibt unter uns, Sie können also frei von der Leber weg reden. Okay?“ Ich nickte, überlegte mir aber, wieviel davon Gefasel war. „Sir … Jack, ich habe von den Bloody Blacks in der Zeitung gelesen, und ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so eine Bande gibt. Es kann sich auch wieder einmal nur um eine Hetzkampagne handeln, die von der Presse angeheizt wird, um dem Kampf um die Bürgerrechte zu schaden. Aber wenn tatsächlich so eine Bande existiert: Einerseits billige ich sinnlose Gewaltakte nicht, andererseits kann ich auch nicht behaupten, daß es unrecht ist! Ich meine … Tja, es ist schwer in Worte zu fassen.“ 23
„Versuchen Sie es. Deshalb sind wir ja hier“, sagte Davis. Es klang nicht sarkastisch. „Also, ich finde, voriges Jahr die – äh – Aufstände – das Wort ‚Krawalle‘ mag ich nicht – in den Negervierteln der Städte im ganzen Land waren eine laute Warnung. Wir Neger haben es gründlich satt, bis in alle Ewigkeit auf unseren gerechten Anteil an Arbeitsplätzen und Wohnraum zu warten. Wir haben gewarnt, und was ist geschehen? In New York hat man ein paar lausige, provisorische Arbeitsstellen geschaffen und die Warnung vergessen. Wir haben den größten und friedlichsten Marsch der Geschichte auf Washington unternommen, und ungefähr einen Monat später wurden drei kleine Mädchen in einer Kirche von Bomben zerrissen. Sechs Monate nach dem Inkrafttreten des Bürgerrechtsgesetzes wurden wir in Alabama von Berittenen mit Peitschen zusammengetrieben. Im Grunde stand alles, was das Bürgerrechtsgesetz beinhaltet, schon in der Verfassung. Daher geht es letztlich nur darum, daß man es auch praktisch durchführt. Man nennt die Neger gesetzlos. In Anbetracht alles dessen, was wir uns bieten lassen mußten, sind wir so gesetzesfürchtig, daß es ein Graus ist!“ Ich brach ab und wischte mir die schweißnasse Stirn mit dem Handrücken. Die Stille im Raum lastete auf mir wie eine Decke. Ich ermahnte mich, ruhig zu bleiben, daran zu denken, daß ich einen Polizeileutnant vor mit hatte. Leutnant Davis saß zurückgelehnt da und betrachtete aufmerksam seine schönen Schuhe. Er tat so, als habe er mich nicht gehört. Aber ich hätte mich blamiert, wenn ich jetzt nicht klipp und klar gesagt hätte, was mich bedrückte. 24
„Sir … Jack, ich meine, vielleicht gibt es nur eine Möglichkeit, die Weißen aufzurütteln, und zwar mit einer Portion der gleichen blöden Gewalttätigkeit, der wir Neger unser Leben lang ausgesetzt waren. Diese Bloody Blacks – falls sie überhaupt existieren – können auf dem Weg über die Angst in ein paar Monaten mehr erreichen, als uns die Stadtverwaltung in Jahrzehnten zugestanden hat.“ „Diese Idee ist mir nicht neu. Sagen Sie mir offen, Lee, sind Sie Nationalist? Natürlich sind wir das alle bis zu einem gewissen Grade, aber interessieren Sie sich für eine bestimmte nationalistische Gruppe?“ „Nein, ich halte nicht viel von Vereinen. Aber ich habe mal an einer Versammlung der Black Muslims teilgenommen, draußen auf Long Island – vor etwa einem Jahr.“ Davis zwang sich, nicht emporzuschnellen. „So? Um Christi willen, warum haben Sie das getan?“ „Aus Neugier. Für meinen Geschmack haben sie zuviel Hokuspokus geboten.“ Während der darauffolgenden Stille strich Leutnant Davis nicht vorhandenen Staub von seiner Hose. Dann hob er den Kopf und grinste mich an. „Wissen Sie, Lee, ich bin seit mindestens doppelt soviel Jahren wie Sie sowohl Polizeibeamter als auch Neger. Als ich noch Streifendienst schob, konnte ich selten eine Runde beenden, ohne daß mich jemand beschimpfte und tätlich angriff. Gut, jetzt bin ich Leutnant, was vor fünfundzwanzig Jahren kaum möglich gewesen wäre. Außerdem hat die Polizei eine Menge …“ „Sir, ersparen Sie mir die Aufzählung einzelner bevorzugter Neger. Harlem hat endlich einen farbigen Bezirkscaptain, da wird ein Neger zum Gesandten ernannt, ein anderer gewinnt irgendeinen großen Preis. Das alles hat 25
nicht das geringste mit der Behandlung des Durchschnittsnegers zu tun.“ Ich wunderte mich, warum ich nicht den Mund halten konnte. Davis zuckte die Achseln. „Ich will nichts beschönigen, wir brauchen kleine und große Schritte nach vorn. Zum Teufel, ich behaupte ja nicht, daß wir schon oben angelangt sind oder daß uns kein harter Kampf bevorsteht. Ich habe vier Kinder, da steht für mich wohl mehr auf dem Spiel als für Sie … Na ja! Reden wir vernünftig, anstatt große Reden zu schwingen. Okay?“ „Klar.“ „Lee, ich bin in New York geboren. Bis vor einem Jahr habe ich doch tatsächlich geglaubt, der gewöhnliche weiße Nordstaatler säße entweder auf der Rassenschranke oder wisse auf Grund der lilienweißen Wohngebiete gar nicht, daß es Farbige gibt. Kurz, er verhalte sich in der ganzen Angelegenheit passiv. Wissen Sie, was mir die Augen geöffnet hat?“ Ich schüttelte den Kopf. „Letztes Jahr, als man anfing, Kinder mit Bussen abzuholen, um in den Schulen den erforderlichen Rassenausgleich herzustellen, rotteten sich fünfzehnhundert weiße Mamas zusammen. Bei Gott, wir könnten selbst im Dienste der besseren Sache nicht einmal halb so viele unserer eigenen Leute auf die Beine bringen. Im Grunde bedeutet ja diese ganze Aufregung um die Schulbusse nichts weiter als: Ich wünsche keine Farbigen neben meinen Kindern, auch nicht im Bus. Wenn ein Kind auch eine noch so hochgestochene Privatschule besucht, muß es ja mit dem Bus hinfahren. Tja, und das hat mir gezeigt, daß der weiße Nordstaatler den gleichen tiefen Haß in sich hat wie der Südstaatler, aber mit einer längeren 26
Zündschnur. Das sollten wir uns merken, wenn wir über die Bloody Blacks sprechen. Ja, ich begreife, daß sich die farbigen Kinder, die in Slums aufwachsen und miese Schulen besuchen, zurückgesetzt fühlen. Sie hören eine Menge großer Worte, sehen, was in Afrika geschieht, und ihre eigenen hochfliegenden Hoffnungen fallen flach. Manche von ihnen wissen dann nichts anderes zu tun, als ins erste weiße Gesicht zu schlagen, das ihnen begegnet. Herrgott, wir alle haben dann und wann die weiße Überheblichkeit satt. Aber wenn ich auch diese Halbwüchsigen verstehe, so bedeutet das noch lange nicht, daß ich ihnen recht gebe. Diese wurzellosen Burschen sind nicht das Negervolk. Sie sind üble Subjekte, sie zählen eigentlich nicht …“ „Sie sind wurzellos, weil sie keine Chancen haben. Und warum zählen sie nicht? Ich glaube, jeder Mensch zählt.“ Leutnant Davis seufzte, als er sich eine frische Zigarette anzündete. „Was die Chancen betrifft: Zugegeben, wir haben nicht viele, aber vergessen Sie nicht, daß es sehr schwer ist, auf Wohlfahrtsunterstützung zu verzichten, und viele unserer Leute sind so an Zuteilungen gewöhnt, daß sie nichts unternehmen und einfach sagen: ‚Gib mir‘. Die …“ „Zuteilungen? Almosen!“ Er strich mit der Hand über meine Akte. „Schon. Manche, aber nicht alle. Ich habe hart arbeiten müssen, um die Mittelschule beenden zu können. Wie ich sehe, haben Sie ein Stipendium für vier Jahre College erhalten. Das ist bei mir kein Almosen. Lee, Sie sind in die Falle des schwarzen Denkens geraten, die …“ „Was ist denn das?“ warf ich ein. Ich hätte ihm gern erzählt, was ich am Ende von meinem großartigen Stipendium gehabt hatte. 27
„Das war zu Garveys Zeiten populär und kommt jetzt wieder. Es läuft darauf hinaus, daß ein Mann mit dunkler Haut über alles Bescheid wissen soll, sogar über sich selbst“, sagte Davis, seine hellbraune Hand schwenkend, um den Rauch zu zerteilen. „Was genauso albern ist, wie wenn die Weißen annehmen, je dunkler die Haut, desto dümmer der Mensch. Eine andere Seite des schwarzen Denkens ist es, jeden Farbigen mit einem Heiligenschein zu versehen. Es gibt sowohl schlechte Neger als auch gute. Wie in jeder …“ „Bloß wissen wir, daß sie durch die Bedingungen ‚schlecht‘ geworden sind.“ „Lee, ich habe Ihnen gesagt, daß Sie in die Falle geraten.“ „In was für eine Falle? Sie machen ja eine Streitfrage aus der Sache.“ Davis nickte. „Damit endet meistens jedes Gespräch dieser Art.“ „Vielleicht liegt es eben daran!“ brauste ich auf. „Alles bleibt im Gerede stecken!“ Davis lachte. „Beruhigen Sie sich, Lee. Ich bin genauso farbig wie Sie, glauben Sie mir. Aber Sie machen einen Denkfehler. Wie wäre es sonst zu erklären, daß auch manche Weißen nichts taugen? Die Bedingungen kommen den Weißen doch entgegen. Lee, zwischen einem Sozialfürsorger und einem Polizeibeamten besteht ein Unterschied, ein großer Unterschied. Der Sozialfürsorger geht hin und ereifert sich wegen irgendeiner schwachsinnigen Nutte, die alle neun Monate ein Kind kriegt, regelmäßig wie ein Kaninchen. Das gesamte Sozialfürsorgeamt verwendet daraufhin viel Zeit und Geld für den Versuch, diese eine Nutte zu bessern. Das ist dumm. Die Nutte ist, egal aus welchem 28
Grund, einfach billig zu haben. Sie ist verloren, auf sie kommt es nicht an. Aber andere Mädchen davor zu bewahren, so wie sie zu werden, das wäre eine Sache!“ „Sir, wie bewahrt man sie davor?“ „Wollen Sie endlich dieses ‚Sir‘ bleibenlassen! – Gesetz und Ordnung bewahrt sie davor. Ja, ja, das Gesetz ist nicht perfekt, aber es ist das beste, was wir haben. Während der Sozialfürsorger ein Heftpflaster auf die soziale Wunde legt, bemühen wir von der Polizei uns, andere vor Ansteckung zu bewahren. Das gleiche gilt für diese aufgeputschten farbigen Halbwüchsigen, die einfach so zum Spaß U-Bahn-Krawalle entfesseln, für die Bloody Blacks, diese Mord …“ „Falls es überhaupt so eine Bande gibt, außer in den Schlagzeilen.“ „Schon gut, schon gut, Lee. Lassen Sie mich ausreden. Wissen Sie, ich bin kein Zyniker, aber auch kein gefühlsduseliger Mensch. Ich muß der Realität ins Gesicht sehen. Angenommen, ein Tiger entkommt aus dem Zoo. Der Tiger hat nie Lust oder Verlangen gehabt, in einen Käfig gesperrt zu werden, wir können seine Empörung durchaus begreifen. Doch wenn er frei herumläuft, müssen wir ihn unschädlich machen, bevor er Menschen verletzt. Die Bloody Blacks sind halbwüchsige Tiger, und …“ „Sie meinen Tiere, die aus ihren Harlemer Käfigen ausgebrochen sind? Und die soll man unschädlich machen?“ unterbrach ich abermals, so hitzig, daß es mir völlig schnuppe war, ob ich mich um meine Stellung brachte oder nicht. Davis lehnte sich zurück und blies einen Rauchring, der mißlang. „Lee, machen wir uns nichts vor. Aufgabe der Polizei ist es, die Leute im Zaum zu halten. Und wenn ein 29
Mensch anfängt, sich wie ein Tier zu benehmen, sollte er notfalls niedergeschossen werden. Wenn es während der Unruhen im letzten Sommer nach mir gegangen wäre, dann hätte die Polizei angesichts der Plünderer nicht in die Luft geschossen, sondern in die Menge!“ „Und ganz Harlem wäre außer Rand und Band geraten.“ „Reden Sie keinen Unsinn, Lee. Die erwachsenen Harlemer hatten und haben vor diesen Jugendlichen genauso Angst wie jeder Weiße. Verdammt noch mal, die Teenager auf der ganzen Welt sind heutzutage wandelnde Pulverfässer, und jeder hat Bammel vor ihnen. Kein Mensch weiß, warum sie sich so aufführen, aber …“ „Jack, bleiben wir bei der Harlemer Jugend. Wir wissen, warum sie so reagiert.“ „Sie bilden sich ein, Sie wüßten, warum, Lee? Okay, also zur Sache, zur Harlemer Jugend. Ich bin doppelt daran interessiert, die Bloody Blacks dingfest zu machen, nicht nur als Polizeibeamter, sondern auch als Neger. Für mich … Verdammt noch mal, halten Sie den Mund, und lassen Sie mich reden! Für mich ist der Nationalismus mitsamt seinen Gewalttaten keine Lösung unserer amerikanischen Probleme, weil er undurchführbar ist. In Afrika, wo die Schwarzen in der Überzahl sind, hat er eine Chance. Hier sind wir eine mickrige und, ohne Verbündete, verlorene Minorität. Sie haben vom Marsch auf Washington gesprochen; vergessen Sie nicht, daß über die Hälfte der Marschierer Weiße waren! Das … Jetzt haben Sie mich so weit gebracht, daß ich Reden halte. Lee, ich will Sie von überhaupt nichts überzeugen, außer von der sehr realen Gefahr, die diese Bloody Blacks bedeuten. In New York ist das Verhältnis zwischen Farbigen und Weißen eins zu sieben. Die meisten Weißen geben 30
sich äußerlich passiv, aber innerlich sind auch sie Fanatiker. Während der Unruhen im vergangenen Jahr riefen haufenweise bleichgesichtige Idioten bei uns an, erboten sich, der Polizei zu ‚helfen‘, nach Harlem zu gehen und ‚denen‘ zu zeigen, was eine Harke ist. Wahrscheinlich wollten sie sich bloß an den Plünderungen beteiligen. Nun ist die Lage so: Die Dinge stehen auf des Messers Schneide, und ein neuer Sommer ist im Kommen. Noch ein paar dieser sinnlosen Morde der Bloody Blacks, und man muß mit einem echten Bürgerkrieg rechnen, bei dem der Großteil unserer Leute ausgerottet wird!“ „Leutnant, der sogenannte ‚weiße Gegenschlag‘ ist Quatsch. Wir sind verzweifelt, zu unserer Rechtfertigung können wir …“ Davis schlug mit der Hand auf den Tisch. „Das ist blanker Unsinn, Lee! Die Gewalt, die Macht, das Gesetz, alles ist in weißen Händen. So sieht die Realität aus! Verdammt noch mal, finden Sie sich damit ab! Als Neger, als Polizeibeamter will ich ein solches Massaker verhindern, und ein Mittel dazu ist die Aushebung der Bloody Blacks. Natürlich bin ich gegen Rassendiskriminierung, aber in beiden Richtungen. Kurzum, ich dulde keine Gangsterarroganz, egal, was für eine Hautfarbe der Betreffende hat!“ „Wollen Sie sagen, daß eine weiße Lösung des ‚Negerproblems‘ wäre, uns auszurotten, wie es die Nazis mit den Juden getan haben?“ Davis zuckte die breiten Schultern. „Nein, aber ich möchte die Weißen auf keine NaziIdeen bringen – es gibt sowieso schon genug Anhänger dafür unter ihnen. Lee, begreifen Sie doch, was ich sage: So, wie die Rassenfrage jetzt aussieht, steht es alles andere als gut, aber es kann fast noch schneller zum Rückschritt 31
als zum Fortschritt kommen. Ich verschließe meine Augen und meine Ohren vor nichts. Voriges Jahr bei den Krawallen habe ich weiße Polizeibeamte immer nur murmeln hören: ‚Schwarze Schweinehunde‘. Aber, wie gesagt, Beschimpfungen haben mir nie etwas ausgemacht, noch dazu, wo dieselben weißen Polizeibeamten mit Steinen und Flaschen beworfen wurden. Die Prügeleien wegen der Beschimpfungen damals, als ich noch Streifendienst machte, begannen manchmal schon im Reviergebäude. Ich möchte auch keine Polizeibeamten mit Heiligenscheinen umgeben. Na, ich denke, wir haben genug geredet; wie alte Weiber haben wir getratscht. Lee, wären Sie geneigt, den Auftrag zu übernehmen?“ Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ich Jackson Davis und seine Ideen mochte, empfand ich einen gewissen Respekt vor ihm, weil seine Ansichten nicht so verschwommen waren wie meine. Und in diesen wirren Zeiten ist das allerhand. „Jack, eigne ich mich denn noch für die Aufgabe? Ich meine, ich habe dahergeredet wie …“ „Lee, ich glaube, Sie sind genau das, was wir gesucht haben: der zornige junge Mann – braune Ausgabe. Aber bei dieser Sache dürfen keine Fehler unterlaufen, und das bedeutet, daß Sie keine Vorbehalte haben dürfen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie sich voll einsetzen.“ „Okay, keine Vorbehalte“, antwortete ich; eine kleine Lüge. „Wie fangen wir an?“ Davis warf seine Zigarette auf den Boden und zündete sich eine neue an, ohne den Stummel der alten auszutreten. „Sie fangen einfach an, halten den Mund. Mit ein Grund, warum wir Sie ausgesucht haben: Die meisten farbigen Polizeibeamten sind in Harlem bekannt, Sie nicht. 32
Für Ihre Freunde, Kollegen, Mädchen, tippen Sie ein paar Wochen lang im Präsidium, und das gefällt Ihnen nicht. Kapiert?“ Ich nickte, während ich den Fuß ausstreckte, um den Stummel auszumachen. „Weiter: Sie kaufen sich heute enge Blue-Jeans und ein Paar Basketballschuhe. Sie ziehen zwei Paar dicke Socken an, ein Trainingshemd und setzen eine verknautschte Kappe auf oder eine Mütze, die Sie wie ein Komiker über beide Ohren ziehen, oder einen Filzhut ohne Krempe. Und drecken Sie die Sachen ein! Damit dürften Sie so absonderlich aussehen wie diese verrückten Teenager. Sie verwenden Ihren eigenen Namen. Sie sind achtzehn, haben ein Jahr Mittelschule absolviert und anschließend als Botenjunge in Delaware gearbeitet. Dort ist etwas passiert, lassen Sie durchblicken – Sie hätten Geld mitgehen lassen oder den weißen Chef niedergeschlagen. Tragen Sie dick auf, denn die Burschen hier geben an, was das Zeug hält. In New York sind Sie seit etwa zehn Tagen. Wir verschaffen Ihnen eine Stellung als Kleiderständerschieber in einer Bekleidungsfirma, und morgen nehmen Sie sich ein Zimmer im Christlichen Verein Junger Männer an der 135. Straße. Nach ein paar Tagen lassen Sie sich von Ihrer Firma hinausschmeißen. Dann treiben Sie sich in der 129. Straße zwischen Lenox und Fifth-Avenue herum und halten Ausschau nach einer billigen Bleibe, während Sie auf Ihre Arbeitslosenunterstützung warten. Wir glauben, daß die Bande in diesem Block Mitglieder hat, deshalb …“ „Habe ich denn nach so wenigen Tagen Arbeit Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung?“ Davis probierte wieder einen Rauchring; diesmal gelang er, und wir beobachteten ihn beide, wie er zum Fenster schwebte. 33
„Das habe ich übersehen. Also gut, Sie haben in Delaware so lange gearbeitet, daß Sie Anspruch haben. Offen gestanden, habe ich keine Ahnung, ob Arbeit in anderen Staaten angerechnet wird, aber das wissen die Burschen, mit denen Sie sich anfreunden werden, auch nicht. Oder aber Sie kriegen keine Unterstützung, also sind Sie pleite, was noch bessere Tarnung bedeutet. Auf alle Fälle sind Sie neu hier, kennen sich nicht aus, also benehmen Sie sich entsprechend. Man soll Sie für einen Provinzler halten, aber für einen ausgekochten, der sich nicht gern ausfragen läßt. Und seien Sie verdammt vorsichtig, daß Sie nicht in Versuchung kommen, lange Vorträge zu halten!“ Davis zwinkerte mir anbiedernd zu. „Sie nehmen ein Zimmer, dann fangen Sie an, auf der Straße herumzulungern. Wie Sie zu den Bloody Blacks kommen, bleibt Ihnen überlassen. Lee, es wird nicht leicht sein. Wir erwarten auch keinen Blitzerfolg. Sie werden weder Ihre Waffe noch Ihre Dienstmarke tragen. Legen Sie sich nicht mit der dortigen Polizei an, und geben Sie sich den Beamten gegenüber nur in äußerster Notlage zu erkennen. Jeden Tag um fünfzehn Uhr werden Sie mich anrufen, hier. Das wird Ihr einziger Kontakt mit der Dienststelle sein. Haben Sie einen Wagen?“ Ich nickte. „Stellen Sie ihn in einer Garage unter. Behalten Sie Ihr Zimmer in Saint Albans, aber sagen Sie Ihrer Hausfrau, daß Sie sich vorübergehend ein Zimmer in der Innenstadt mieten, um Ihrer Arbeitsstelle im Präsidium näher zu sein. Merken Sie sich, einfache Erklärungen sind immer das beste.“ „Okay. Was ist mit der Polizeibeamtin?“ „Sie werden Mary Presenti morgen kennenlernen, wenn …“ 34
„Eine Italienerin, eine Weiße?“ „Wir sind eben eine integrierte Polizei“, meinte Davis ironisch. „Mary wird als eine Art Köder fungieren. Sie ist eine tüchtige Person. Zur Tarnung wird sie sich in der Gegend als Sozialfürsorgerin ausgeben. Behalten Sie Mary im Auge, sie wird auf Sie aufpassen, aber Sie dürfen nicht miteinander sprechen. Wie Sie vielleicht gelesen haben, wurde kürzlich ein Mord an einer weißen Sozialfürsorgerin verübt. Was die Presse nicht wußte, war, daß dieselbe junge Frau wegen eines Sitzstreiks im tiefen Süden im Gefängnis gewesen war. Da sehen Sie, was diese lausigen Früchtchen tun! Sie treten der ganzen Bürgerrechtsbewegung prompt in den Hintern!“ Ich hätte dagegenhalten können, daß einige der älteren Leute von der NAACP, der Nationalen Vereinigung zur Förderung Farbiger, über die ersten Collegestudenten, die einen Sitzstreik unternahmen, dasselbe gesagt hatten. Doch ich entgegnete lediglich: „Jack, ist es ganz sicher, daß es tatsächlich eine Bande wie die Bloody Blacks gibt, daß es sich dabei nicht nur um die Erfindung eines Reporters handelt?“ „Wenn es doch bloß so wäre! Lee, wir sind sicher, daß eine kleine Bande existiert. Nicht mit hundert oder tausend Mitgliedern, wie die Presse faselt, aber ein Dutzend oder mehr dürften es schon sein. Wir haben zwei davon wegen Mordes geschnappt; sie hatten einen weißen Ladenbesitzer mit Messern erstochen. Ich habe die Durchschläge des Protokolls da, Sie können sie durchlesen. Die beiden wollen nicht sprechen, sie leugnen nur lauthals, daß sie Bloody Blacks sind, was genau das Gegenteil beweist. Lee, es kommt nicht so sehr darauf an, ob eine organisierte Bande existiert oder nicht – der Sommer ist nah, und die Erinnerung an die Unruhen vom letzten 35
Sommer ist noch frisch, alle Jugendlichen sind in einer Zum-Teufel-mit-allem-Stimmung, und da besteht nun die große Gefahr, daß andere wurzellose Halbwüchsige, von den aufgeblähten Berichten über die Bloody Blacks beeinflußt, ihre eigenen Banden organisieren. Die neuerlichen Ausschreitungen in der U-Bahn deuten darauf hin. All das macht es um so wichtiger, daß die Dinge jetzt gleich gestoppt werden. So, ich glaube, das ist alles.“ Davis warf wieder einen Zigarettenstummel auf den Boden und trommelte mit seiner goldenen Zigarettenspitze eine Weile auf den Tisch. „Ach ja. Ich mache Sie auf folgendes aufmerksam: Sie werden verbotenes Lottospiel sehen, Kneipen, die die Sperrstunde nicht einhalten – täglich ein Dutzend Gesetzesüberschreitungen. Achten Sie nicht darauf. Ihre Aufgabe ist es, zu erfahren, wer die Bloody Blacks sind, wer die Morde begangen hat und wer in drei Teufels Namen dieser Purpurauge ist.“ „Purpurauge? Im Ernst? Klingt eher wie ein Name aus einem Horrorfilm.“ „Der Gauner ist echt“, knurrte Davis. „Wir wissen, daß die Burschen von einem Erwachsenen angeführt werden. Wir hatten dreißig Kriminalbeamte – alles Neger – auf den Fall angesetzt. Sie haben nicht viel herausgebracht, aber alle haben denselben Namen gehört: Purpurauge. Es heißt von ihm, daß er tatsächlich blitzende, purpurfarbene Augen hat, Bärenkräfte besitzt und Judomeister ist. Ich persönlich vermute, daß er früher ein Mitglied der ‚Frucht des Islam‘ war, des starken Armes der Black Muslims.“ „Meinen Sie, daß sie damit zusammenhängen?“ „Nein. Im großen und ganzen sind die Black Muslims brave Spießbürger, rauchen nicht, trinken nicht, huren 36
nicht herum. Aber sie haben eine Menge Leute aktiviert; manche zogen mit Malcolm X hinaus, dann brachen sie mit ihm aus irgendeinem Grund. Nun gibt es zahlreiche Splittergruppen, und nach der Erschießung von Malcolm X und den anderen Todesfällen haben wir es jetzt mit Fanatikern zu tun, die vor einem Mord nicht zurückschrecken. Denken Sie immer daran, Rassenhaß bringt auf der ganzen Welt zu jeder Zeit blöde Fanatiker hervor. Wir sind überzeugt, daß Purpurauge diese Jungen trainiert, daß er sie auf irgendeinem Dach in Judo unterweist. Außerdem geht das Gerücht um, daß sie in illegale Machenschaften einsteigen wollen, beim Lotto, bei Buchmachern und …“ „Sehen Sie, Jack? Wir jagen anscheinend nur Gerüchten nach.“ „Kann sein. Es liegt an uns, ein paar Fakten herbeizuschaffen. Ich brauche nicht zu betonen, daß Sie eine gefährliche Aufgabe übernommen haben und daß Sie vorsichtig sein sollen. Nehmen Sie täglich telefonischen Kontakt mit mir auf, inklusive sonntags. Hier sind die Aussagen. Es sind nicht diejenigen von der Messerstecherei, sondern die Protokolle von früheren Vernehmungen der beiden Täter. Man hatte sie schon einmal einige Wochen zuvor festgenommen, zusammen mit einer großen Bande Halbwüchsiger, die einen von zwei alten Italienern betriebenen Obstladen demoliert hatte. Lesen Sie sie durch, und bringen Sie sie mir morgen wieder, wenn Sie sich in Ihrer ‚Arbeitskleidung‘ hier melden, bevor Sie im CVJM einziehen. Bis dahin habe ich Ihnen die Stellung als Kleiderständerpilot besorgt. Vergessen Sie nicht, mir für alle gekauften Sachen die Quittungsbelege zu geben. So, das wär’s vorläufig.“ 37
Ausspruch eines alteingesessenen – weißen – Harlemer Ladenbesitzers, zitiert in der „New York Times“: „Vor Jahren, als ich nach Harlem kam, dachte ich, man darf einem Neger nie zeigen, daß man vor ihm Angst hat. Sei kurz angebunden, dachte ich immer, dann wird er dich respektieren. Ich war also stets kurz angebunden, und es gab niemals Ärger. Aber heutzutage – sei kurz angebunden, und sie werden bös!“
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Dienstag
Leutnant Davis schien sich von dem zerkratzten Tisch nicht wegbewegt zu haben. Er befingerte noch immer seine angeberische goldene Zigarettenspitze. Stummel bedeckten den Fußboden. Doch er hatte sich fein herausstaffiert, trug einen schicken Anzug mit hellgrauem Hemd und mattweißer Krawatte. Auf dem zweiten Stuhl saß Mary Presenti, die schlanken Beine übereinandergeschlagen, mit weißem Rock und dunkelblauer Jacke bekleidet. Das dunkle, kurze Haar umrahmte halb ein blasses, schmales Gesicht mit fleckigem Teint. Alles in allem war sie ziemlich mager. Als einzigen Schmuck trug sie eine Art College-Ring an der rechten Hand. Ich schätzte Miss Presenti zwar auf unter dreißig, aber sie sah bereits irgendwie ausgetrocknet aus. Sie benützte ein antiseptisches Parfüm. Ich selbst war in einem lächerlichen Aufzug erschienen: neue Basketballschuhe, alte Blue-Jeans; über gewöhnlichen Turnsocken dicke, wollene rot und grau gemusterte Socken, die meine Knöchel übertrieben plump machten; blaue Trainingsanzugbluse mit an den Ellenbogen abgeschnittenen Ärmeln; dunkelblaue Matrosenmütze, bis zu den Augen herabgezogen. Davis nickte, als er mich musterte. Dann stellte er mich Mary Presenti vor und fügte hinzu: „Sie drücken einer tüchtigen Polizeibeamtin die Hand, Lee. Mary bereitet sich auf die Sergeantenprüfung vor, jetzt, da auch Frauen zugelassen werden. Sie wurde bereits mehrmals wegen der Festnahme von Sittenstrolchen und Taschendieben in der U-Bahn belobigt.“ „Aber keine so große Sache wie Ihre Verhaftung des Sittlichkeitsverbrechers“, sagte sie. 39
Ihre Stimme war überraschend warm, ihr Händedruck fest wie der eines Mannes. „Kommen wir zur Sache“, drängte Davis. „Lee, Sie sehen prächtig aus, die Schuhe sind auch richtig eingeschmutzt. Was für Kleidungsstücke haben Sie noch mit?“ „Eine zweite Trainingsanzugbluse, meine alte eigene, Shorts und ein Sporthemd. Ich habe alles unten in meinem Wagen gelassen, in einem alten Koffer.“ Ich setzte mich auf die Tischkante und händigte Davis die Rechnungsbelege aus und die Protokolle, die er mir zum Lesen gegeben hatte. „Heute nehmen Sie ein Zimmer beim Christlichen Verein Junger Männer. Morgen früh, punkt acht Uhr dreißig, fragen Sie bei dieser Bekleidungsfirma nach Mr. Spero. Sie wurden durch die Vermittlung eines Mr. Cohen eingestellt. Cohen weiß nicht, daß Sie bei der Polizei sind; man ist über eine Mittelsperson zwecks Beschaffung der Arbeitsstelle an ihn herangetreten. Falls jemand Sie fragen sollte, so hat Ihr früherer Arbeitgeber in Ihrer Heimatstadt Cohen gekannt. Wieviel Geld haben Sie bei sich, Lee?“ „Elf Dollar in der Brieftasche und zwanzig im Schuh.“ „Gut. Lassen Sie mal Ihre Brieftasche sehen.“ Die alte Brieftasche enthielt meine Sozialversicherungskarte, die Adresse meiner Angehörigen, das Geld, einen Blankoscheck, meinen Kraftfahrzeugschein und den Führerschein. „Den Scheck will ich verwenden, wenn ich den Wagen in eine Garage bringe, und die Fahrzeugpapiere und den Führerschein hinterlege ich im Büro der Garage“, erklärte ich. „Okay. Tun Sie das aber bestimmt, bevor Sie zum CVJM gehen. Was haben Sie in den Taschen?“ 40
„Kamm, Taschentuch, Kleingeld. Und eine alte Socke – meinen Talisman.“ „Sonderbarer Talisman“, fand Davis. „Sie rufen also tagtäglich um fünfzehn Uhr hier an. Wenn ich nicht da bin, sagen Sie lediglich, Lee habe angerufen. Wenn Sie mir etwas zu berichten haben, rufen Sie eine Stunde später nochmals an. Mary hat ihre Instruktionen bekommen, sie macht Erhebungen im Auftrag einer privaten Wohlfahrtsinstitution. Nun, Sie beide haben die Protokolle gelesen?“ Ich sagte: „Kaum eine Vernehmung, beide haben geleugnet, an dem Obstladen-Radau beteiligt gewesen zu sein.“ „Man hätte sie nicht gegen so niedrige Kaution entlassen dürfen“, meinte Mary. „Auch wenn sie minderjährig waren, hätte die Anklage auf mehr als nur auf ungebührliches Betragen lauten müssen. Unsere Gerichte sind zu mild.“ „Ich war gestern zufällig in der Bibliothek“, nahm ich wieder auf, „und habe das Interview gelesen, das diese beiden Teenager dem Harlemer Sozialfürsorgeamt gegeben haben, kurz nachdem der Obstladen gestürmt worden war. Ich fand es in einem alten Exemplar der ‚New York Times‘. Die beiden behaupten, sie seien dazugekommen, als die Polizei ein paar kleine Jungen zusammenschlug, und als sie versuchten, die Jungen zu verteidigen, seien sie festgenommen worden.“ Davis fuhr mit der Hand durch die Luft. „Gewäsch. Was hätten die Lümmel sonst erzählen sollen? Daß sie darauf aus waren, ein bißchen Schaden anzurichten, nur so zum Spaß?“ „Sie behaupten außerdem, daß man sie auf dem Revier verprügelt hat. Das ist wohl mit ein Grund, warum ihre 41
Aussagen so kurz sind. Sie waren nicht imstande, viel zu sprechen.“ Davis blies einen mißlungenen Rauchring in Richtung auf seine Hand. „Das eine Bürschchen versuchte beim Verhör, seine Fäuste sprechen zu lassen. Was hätten wir denn anderes tun sollen, als sie an unseren Fäusten riechen zu lassen? Außerdem war das eine Sondereinsatzgruppe. Rauhe Knaben.“ „Die benehmen sich aber auch unerträglich herausfordernd! Ich kann das nicht mehr mit ansehen“, sagte Mary. „Wer ist ‚die‘, Miss Presenti? Wir sprechen nicht über Hunde, sondern über Menschen wie Sie und ich!“ Sie warf Davis einen erschrockenen Blick zu, dann erklärte sie steif: „Damit meine ich alle jene jungen Taugenichtse, farbige und weiße, die sich auf den Straßen herumtreiben und nichts anderes im Sinn haben, als Unruhe zu stiften.“ Davis stand auf und streckte sich. Dann zückte er seine Brieftasche. „Sie beide wissen, was von Ihnen verlangt wird. Wenn Sie einander in der 129. Straße sehen, tun Sie völlig fremd. Und, Lee – ‚Menschen‘ verlieren manchmal die Nerven, auch Polizeibeamte. Ich leugne gar nicht, daß es zu Übergriffen der Polizei kommt, wo es sich um Neger handelt, aber wir sind nicht hier, um zu debattieren. Unterschreiben Sie diese Quittung, und da sind siebzehn Dollar zwanzig für den CVJM. Die Adresse der Kleiderfirma haben Sie. Und das wäre so ungefähr alles, bis Sie morgen anrufen.“ Miss Presenti ging, während ich unterschrieb. Ich zählte das Geld nach, dann sagte ich zu Davis: „Tut mir leid, daß ich ins Fettnäpfchen getreten bin.“ 42
„Wenn Sie in der 129. Straße solche Reden führen, machen Sie sich bestimmt beliebt. Wollen Sie Ihre Ausgaben gleich zurückerstattet haben, oder kann das warten?“ Ich versicherte ihm, damit habe es keine Eile, und wir reichten einander die Hände. Nachdem ich das Präsidium verlassen hatte, begab ich mich um die Ecke, wo ich meinen Wagen geparkt hatte. Als ich den Motor anließ, sah ich Mary über die Straße zur U-Bahn gehen. Ich hupte und rief ihr zu: „Kann ich Sie irgendwo absetzen?“ Sie zögerte, dann kam sie herüber. „Ich weiß nicht recht, ob ich …“ „Ich werde schon nicht auf Sie abfärben!“ Verärgert streifte sie mich mit einem kalten Blick, setzte sich neben mich und zog sorgsam den Rock über die Knie. „Lee, was haben Sie denn? Ich habe mir nur überlegt, ob es nicht unvorsichtig ist, wenn wir gemeinsam gesehen werden.“ „Harlem ist weit.“ „Ja, ich glaube, wir können es wagen. Wirklich, ein schönes Auto. Wenn Sie mich nach Hause fahren wollten, fände ich das sehr nett. Aber ich warne Sie, ich wohne in Flatbush.“ „Wir brausen über die Brooklyn-Brücke. Vielleicht ist es auf Wochen hinaus das letztemal, daß ich zum Fahren komme.“ Als ich mich in den Verkehr einordnete, nahm ich die lächerliche Matrosenmütze ab, und Mary sagte: „Ich beneide Sie nicht, so ohne Waffe.“ Sie klopfte auf ihre große schwarze Handtasche. „Ich komme schon zurecht. Ich habe meine Fäuste eingesetzt, noch bevor ich eine Schußwaffe gesehen hatte.“ 43
„Im Grunde ist es mir unbegreiflich; die Sozialfürsorgerin wurde von zwei Männern getötet, die einfach an sie herantraten und auf sie einstachen, ohne allen Anlaß. Und die beiden Obsthändler sind ältere Männer, die den Laden seit vielleicht dreißig Jahren betreiben.“ „Und ich wette, sie haben nie in Harlem gewohnt oder einen Neger beschäftigt.“ Sie warf mir im Rückspiegel einen Blick zu. Sie hatte ganz graue Augen. „Kommt es denn darauf an, ob man in Harlem wohnt?“ Sie deutete mit dem dünnen Finger auf die Wolkenkratzer rings um uns. „Die Männer, denen diese Büros gehören, wohnen bestimmt auch nicht hier.“ „Das ist doch etwas anderes, Mary. Zu viele Leute betreiben in Harlem Geschäfte, nehmen das Geld und verbrauchen es in ihrer heimatlichen lilienweißen Umgebung.“ „Die Männer haben wahrscheinlich schon anderswo gewohnt, als sie den Laden eröffneten. Wenn man sich vorstellt, wie diese halbstarken Lümmel den Stand umstürzten und aus reiner Gemeinheit mit dem Obst herumwarfen … Dieses freche Pack, immer laufen sie in Rudeln herum, wie Feiglinge.“ „Lediglich eine alte amerikanische Tradition, die sie vom Fernsehen her kennen. Denken Sie zum Beispiel an die Scharen von Weißen, die sich zusammenrotteten, um ein paar farbige Kinder anzubrüllen, die eine Schule in Little Rock betreten wollten.“ „Bitte, sprechen Sie nicht von Little Rock oder Selma. Das hat mich zum Heulen gebracht.“ Ich hielt den Mund. Manche Weißen glauben, ihre sentimentalen Tränen seien Perlen. Sobald wir Brooklyn erreicht hatten, gab Mary mir die Richtung an, und Minuten später, als ich in eine breite, 44
baumbestandene Avenue einbog, deutete sie auf ein hohes Wohnhaus in einiger Entfernung. „Dort wohne ich.“ „Sieht nett aus, das Haus“, sagte ich. Doch als wir nur noch wenige Blocks vor uns hatten, ersuchte mich Mary, vor einem unbebauten Grundstück anzuhalten. „Lee, ich steige lieber hier aus. Sie wissen schon.“ „Was weiß ich?“ „Nun ja, ich lebe bei meinen Eltern, es sind altmodische Leute, und wenn meine Mutter uns sieht oder erfährt, daß … Ich meine, wie Sie jetzt angezogen sind, ohne Uniform …“ Mary stieg aus, drehte sich um und lächelte freundlich. „Danke fürs Mitnehmen, Lee. Auf gute Zusammenarbeit, Partner.“ Vor Wut schäumend, fuhr ich weg. Dann mußte ich lachen: Weiße wissen nie, wie beleidigend sie sind. Wieder in Manhattan, lenkte ich den Wagen in eine Garage an der 72. Straße und machte einem mißtrauisch dreinschauenden Bleichgesicht klar, daß ich Führerschein und Kraftfahrzeugschein in seinem Büro zu hinterlegen gedachte. Ich regte mich nicht über den Mann auf. Schließlich paßte mein Wagen mit den Segeltuchschuhen und der Trainingsbluse schlecht zusammen. Ich sagte zu ihm: „Ich arbeite auf einer Baustelle und vergesse dauernd etwas, wenn ich diese Arbeitskluft ausziehe. Es kann sein, daß man mich für ein paar Tage nach New Jersey hinüberschickt, also vergessen Sie nicht, wie ich aussehe. Hier ist ein Scheck für zwei Wochen im voraus.“ Mit meinem abgewetzten Koffer fuhr ich per U-Bahn zur 135. Straße und mietete mir im CVJM ein Zimmer. Als Arbeitgeber nannte ich die Bekleidungsfirma. Nach45
dem ich in der Kantine gegessen hatte, kaufte ich eine Zeitung, begab mich in mein winziges Zimmer und las im Bett. Harlem verursachte mir weit mehr bedrückende Platzangst als das winzige Zimmer im CVJM. Ich war ein bißchen öfter in Harlem herumgewandert, als ich es Leutnant Davis gegenüber zugegeben hatte. Ich begriff nicht, wie Hunderttausende von Negern so eng zusammen leben konnten. Während ich vollauf verstand, daß sie von den Rassenschranken dazu verurteilt waren, konnte ich das Gefühl nicht loswerden, in einem Konzentrationslager zu sein. In meiner Heimatstadt gab es nur rund ein Dutzend farbige Familien, und wir hielten zusammen, denn die Rassenbarriere war dort noch unnachgiebiger, aber an der Oberfläche wirkte es nicht so: Unser Hinterhof grenzte an den einer weißen Familie. Harlem verwirrte und bedrückte mich. Mit den Gedanken bei Miriam, schlummerte ich ein. Ich hatte sie gestern abend zur Bibliothek gefahren, weil sie etwas nachlesen wollte, was sie für ihren Geschichtsaufsatz brauchte. Dann hatten wir eine Spazierfahrt gemacht. Miriam hatte sich an mich geschmiegt und mir von ihrer hysterischen Angst berichtet, die sie überfiel, als sie zum erstenmal ihre Tage bekommen hatte. Ich wußte, daß sie das aus Berechnung erzählte, um ein Gefühl der Intimität zwischen uns herzustellen. Leider hatte sie damit Erfolg gehabt. Wir waren in ein Autokino gefahren und küßten einander ziemlich heftig ab, während ich ihr erklärte, daß ich für einige Zeit in die Nähe des Präsidiums umziehen müsse, wegen der unregelmäßigen Schichtarbeit, die mir bevorstand. Miriam hatte beabsichtigt, unser Verhältnis zu festigen, aber ich hatte mich zurückgehalten. 46
Ich stand um sechs Uhr früh auf, rasierte und duschte mich, aß unten ein einfaches Frühstück, kaufte mir ein Stück Kernseife und fuhr mit der überfüllten U-Bahn in die Stadt. Mr. Spero war ein schwärzlichbrauner Mann von eins achtzig Größe, beinahe so breit wie hoch. Zwischen seinem schmutziggrauen Haaren lugte ein Paar perfekter Blumenkohlohren hervor. Doch trotz der Ohren war sein Gesicht für einen Ex-Boxer zu fleischig. Ich schätzte ihn als ehemaligen Ringkämpfer ein. Mit rauher Stimme fragte er: „Also Cohen schickt dich? Hör mal, ich stelle hier die Leute ein. Merk dir das! Kannst du schreiben?“ „Klar.“ Wir befanden uns in einem großen Laderaum, angefüllt mit dem Geräusch Hunderter von Nähmaschinen aus der Kleiderfabrik, in der Negerinnen und Puertoricanerinnen arbeiteten, meistens ältere Frauen. „Füll diesen Bogen aus! Name, Adresse, Sozialversicherungsnummer. Du kriegst eins fünfzig die Stunde. Schon jemals einen Kleiderständer geschoben?“ „Nein.“ „Heute arbeitest du mit einem anderen zusammen. Juan! Da ist ein Neuer zum Anlernen!“ rief Spero über meine Schulter hinweg einem schmächtigen Puertoricaner zu, den Koteletten und ein schmales Schnurrbärtchen zierten. Juan entblößte grinsend seine schlechten Zähne. „Du starken Rücken, Kleiner?“ „Stark genug.“ „Du tust, was ich sage, und alles okay. Komm mit.“ Als ich ihm zu den Ständern voller knalliger Herbstkleider folgen wollte, erhob sich Spero hinter seinem 47
Schreibtisch und reichte mir die Hand. Der Kerl hatte einen eisernen Griff. Ich zwang mich, nicht aufzuschreien oder ihn merken zu lassen, wie mir zumute war, als er sagte: „Merk dir eines, Bürschchen, ich bin der Chef. Erwische ich jemanden beim Klauen, dann breche ich ihm das Rückgrat, bevor ich ihn der Polente hinschmeiße. Wie schon gesagt, ich stelle hier die Leute ein, und am liebsten trinke ich Bourbon. Und jetzt hau ab!“ Während ich mich entfernte, rieb ich mir die Hand, bis das Blut wieder zirkulierte. Es gab da etwa ein Dutzend Männer, die Kleiderständer schoben, alles Neger oder Puertoricaner, bis auf einen alten Weißen mit der wettergegerbten Visage eines Schnapsbruders, der auf Parkbänken zu nächtigen pflegt. Juan und ich schoben je einen Ständer voller Kleider zum Aufzug, den ein alter, korpulenter Schwarzer bediente. Während wir auf den Aufzug warteten, fragte ich: „War Spero Ringer?“ „Ja, Mann“, antwortete Juan und dämpfte die Stimme. „Der ist stärker als ein Faß Affenscheiße. Behauptet, er hätte mal im Madison Square Garden mit Rocca gekämpft. Das ich nicht glaube, aber er ein Schweinehund. Zieht meistens Lohn für einen Tag ab, wenn er dich einstellt. Wir kommen hinunter, du folgst mir. Nicht zu nah, sonst kriegst du Knöchel kaputt von diese verdammte Ständer. Am Randstein wir uns immer helfen gegenseitig, sonst kippt Ständer um.“ Eine dicke Frau kam aus der Fabrik und strebte zur Toilette. Juan sagte etwas auf spanisch zu ihr. Sie antwortete mit einem Lachen und einer obszönen Geste. Juan raunte: „Mann, leg dir so eine Mama zu, und du hast’s geschafft. Die haben Gewerkschaft, kriegen gutes Geld.“ „Sind wir in der Gewerkschaft?“ 48
„Mann, wir nirgends, wir nur schuften. Zu Mittag, du nimmst mit mir Flasche Wein?“ „Wieviel?“ „Jeder zwanzig Cent.“ „Okay.“ Die Arbeit war schwer, der Tag stickig, und zu Mittag war ich so verschwitzt, daß sich die Kernseife in meiner Hosentasche auflöste. In der Mittagspause kaufte ich ein neues Stück. Nachdem ich aus Höflichkeit einen Schluck von dem warmen, süßen Wein getrunken hatte, überließ ich Juan den Rest. Um drei Uhr nachmittag ersuchte ich ihn, stehenzubleiben und auf den Ständer aufzupassen, weil ich angeblich ‚mein Mädchen anrufen‘ mußte. Er sagte: „Du bist erst einen Tag in der Stadt und hast eine Puppe? Frag mal, ob sie eine Freundin hat, ich kann meine Alte heute abend allein lassen.“ Ich meldete Leutnant Davis, daß ich meine Stellung angetreten hatte, und er sagte: „Gut. Morgen versuchen Sie, sich hinausfeuern zu lassen.“ Als ich die Telefonzelle verließ, stellte Juan betrübt fest: „Das war zu kurz. Sie hat nein gesagt, was?“ „Sie war nicht zu Hause.“ Um siebzehn Uhr, als ich die Stechuhr betätigte, winkte mich Spero zu sich und fragte: „Hast du meine Flasche?“ „Herrje, lassen Sie mich doch erst mal was verdienen, ich bin pleite!“ „Willst du ’n paar Kröten? Ich gebe dir fünf Dollar für acht am Freitag.“ „Freitag kriegen Sie Ihre Flasche.“ „Werd bloß nicht frech! Wenn ich jemanden einstelle, kriege ich meins im voraus. Und keinen billigen Fusel; einen ordentlichen Markenwhisky.“ 49
Ich nickte und ging. Ich fuhr mit der vollgestopften, heißen U-Bahn zum CVJM. Ich duschte und schwamm, danach wusch ich meine Bluse und die Socken, ging hinunter und verputzte ein gutes, reichhaltiges Abendessen. Eine Weile saß ich in der Halle, dann nahm ich eine Zeitung und begab mich auf mein Zimmer. Über einem Bericht vom Krawall, den die Mods und die Rockers in England veranstaltet hatten, schlief ich ein. Am Dienstagmorgen überlegte ich mir auf der Fahrt zur Arbeit, wie ich es anstellen sollte, gefeuert zu werden. Ich schob nun die Kleiderständer selbständig, und als ich den Weg zum Aufzug einschlug, sagte Spero: „‚Old Granddad‘ ist meine Marke.“ Zu Mittag erkundigte er sich, ob ich seine Flasche habe, obwohl er sehen konnte, daß ich nichts trug. „Hören Sie“, versetzte ich, „ich habe noch keinen Lohn gekriegt, ich bin pleite.“ „Leih dir was, fünf für acht.“ „Nein. Ich …“ „Beim nächsten Mal hast du meine Flasche!“ Im Aufzug lächelte ich dem ältlichen dunklen Fahrstuhlführer zu. Gefeuert zu werden würde ganz einfach sein. Um zwei Uhr, als ich zwei leere Kleiderständer aus dem Aufzug holte, kam Spero herüber; er bewegte sich wie ein Bär. Nach einem Blick auf die Kleiderständer erkundigte er sich: „Wo ist meine Flasche?“ „Für so eine lausige Stellung zahle ich nichts drauf. Sie haben mir die Arbeit nicht verschafft. Wenn Sie mich ’rauswerfen wollen, zahlen Sie mir meinen Lohn aus.“ Ein Ausdruck echter Freude überflog seine gelblichen Augen. „Ein schlauer Nigger. Denkt, er kann zwei Tage lang …“ 50
„Das Wort mag ich nicht“, sagte ich und wich vor seinen dicken Armen zurück. Ich griff in meine hintere Hosentasche, wo die Seife in der Socke steckte. Spero knirschte: „Na los! Wenn du das Messer ziehst, kriegst du’s von mir hinten ’rein!“ Einige der anderen Ständerschieber blieben stehen und schauten erwartungsvoll grinsend zu. Ich sagte: „Fangen Sie bloß nichts mit mir an.“ „Ich fange nichts an, ich mache dich fertig! Du wirst noch an mich denken, du schwarzer Bastard!“ Er stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf mich. Ich bewegte mich von den Kleiderständern weg, täuschte mit dem linken Fuß, dann wich ich aus, und er griff ins Leere. Ich trat vor, knallte ihm meinen selbstgemachten Totschläger gegen die Schläfe, ließ einen linken Haken in die Magengrube folgen, und er sackte zusammen. Spero krachte bewußtlos zu Boden, und die anderen starrten überrascht auf ihn nieder. Rasch nahm ich das zersplitterte Stück Seife aus der Socke und ließ es in der Tasche verschwinden. Im Laderaum war es totenstill, bis ein dicker Weißer mit hochgekrempelten Ärmeln aus der Fabrik hereingeschossen kam. „Was geht hier vor?“ fragte er. „Was steht ihr hier …“ Der Mund blieb ihm offen, als er Spero auf dem Boden liegen sah. Sein Blick fiel auf mich. Er wich zurück und fragte: „Womit hast du ihn niedergeschlagen?“ „Mit den Fäusten. Er – hat mich beschimpft und ’rausgeschmissen, weil ich ihm keine Flasche kaufen wollte.“ „Du hast ihn zusammengeschlagen? Du bist doch der Neue, den Mr. Cohen geschickt hat. Verdammt noch mal, 51
es ist doch immer dasselbe, tu jemandem einen Gefallen, und du wirst aufs Kreuz gelegt. Rosie, ruf einen Krankenwagen!“ Spero versuchte sich aufzurichten, er japste nach Luft und betastete seinen Kopf. Ein Hieb in den Bauch macht jeden schlapp, und der Schlag auf den Kopf würde noch stundenlang nachwirken. Er sank auf den schmutzigen Fußboden zurück. „Sir, ich habe meine Arbeit gemacht, aber dieses fette Schwein wollte geschmiert werden. Zahlen Sie mich aus …“ „Ja, ja! Bleib hier, wart hier!“ gebot der Chef, oder wer auch immer er war, mit einem Seitenblick auf die anderen Kleiderständerschieber, während er dem Ausgang zustrebte. „Ich hole dir dein Geld. Ihr anderen – an die Arbeit!“ Er drehte sich um und floh. Ich stand da und rieb mir die Knöchel der linken Hand. Der alte, versoffene Weiße murmelte: „Du haust zu wie ein Dampfhammer; solltest im Ring sein.“ Spero unterbrach die Stille mit einem Stöhnen und starrte mit glasigen Augen zu mir auf. Die anderen tuschelten und nahmen ihre Arbeit wieder auf. Der Saufbold verzog sich aufs Klo. Ich wußte, daß die Polizei in Anmarsch war, noch bevor der alte irische Schutzmann, Gummiknüppel in der Hand, aus der Aufzugtür trat. Der Chef erschien wie auf Stichwort und flüsterte dem Schutzmann etwas zu, woraufhin der schnauzte: „Du, dreh dich zum Gestell und leg die Pfoten drauf!“ Ich drehte mich um, und er filzte mich, warf das zerquetschte Stück Seife zu Boden. Dann beugte er sich über Spero, zog ihn schließlich mit Unterstützung des 52
Chefs auf einen Stuhl hoch. Eine Seite von Speros Kopf war rot verfärbt. Ich nahm die Hände herunter und drehte mich langsam um. Der Polizeibeamte fragte: „Womit hast du ihm eins verpaßt?“ „Mit den Fäusten. Er hat angefangen. Ich will keinen Verdruß, ich bin erst seit zwei Tagen …“ „Quatsch, Spero könnte dich mit dem kleinen Finger entzweibrechen!“ Einer der Puertoricaner, die vor dem Aufzug warteten, mischte sich ein: „Ich habe gesehen, er hat ihn bloß mit seinen Fäusten niedergeschlagen!“ „Halt die Fresse und verschwinde!“ knurrte der Schutzmann. Ich erhaschte einen Blick auf das besorgte schwarze Gesicht des Aufzugführers, als er den Mann mit seinem Ständer hinunterfuhr. Ich sagte: „Wachtmeister, was hätte ich denn tun sollen? Mich von ihm kurz und klein schlagen lassen? Ich habe ihm versprochen, daß er am Zahltag seine Flasche bekommt, weil er mir den Posten gegeben hat, aber er …“ Der Chef reichte mir einige Scheine und drei Münzen. Ich nahm das Geld, und er sagte laut: „So, und jetzt verzieh dich!“ Ich hielt 19,30 Dollar in der Hand, und als ich ihn ansah, erklärte der Chef: „Vierundzwanzig Dollar für zwei Tage, abzüglich der Steuern.“ „Ich bin nicht als Tagelöhner eingestellt worden.“ Das feiste weiße Gesicht wurde aschfahl, als sei es geschlagen worden. „Ich soll dir einen ganzen Wochenlohn auszahlen, daß du hier Stunk gemacht hast?“ 53
„Spero ist derjenige, der Stunk gemacht hat. Erpressen hat er mich wollen wegen einer lausigen …“ Der Schutzmann kam mit erhobenem Knüppel auf mich zu. „Ihr dreckiges Gesindel kommt herbeigerannt, als ob New York ein Bankettsaal wäre! Wenn ich dich noch einmal auf dieser Straße erwische, kriegst du das zu kosten!“ Er schwenkte den Knüppel dicht vor meiner Nase. Ich wußte nur zu gut, wie er sich danach sehnte, ihn in Aktion treten zu lassen. Der Chef war zum Aufzug gegangen und drückte unaufhörlich den Klingelknopf. Die Aufzugtür glitt unvermittelt auseinander, ich drehte mich schroff um und stieg ein. Der Chef war zurückgewichen, als ich ihn passiert hatte. Der alte Farbige schlug krachend die Tür zu. „Reg dich ab, Junge. Hast Glück gehabt, daß er dir nicht mit dem Knüppel eins übergezogen hat. Bei Gott, ich weiß nicht, was mit unseren jungen Leuten los ist. Nichts wie saufen und viel Wind machen.“ „Keine Vorträge, Alter“, sagte ich, zog einen Bleistift aus seiner Hemdtasche und notierte mir auf einem der Geldscheine in meiner Hand die Nummer des Polizeibeamten. Im Erdgeschoß angekommen, gab ich ihm den Bleistift zurück und verließ das Gebäude. In einem Drugstore an der Seventh-Avenue kaufte ich noch ein Stück Seife. Ich wunderte mich, daß der Wachtmeister noch nie von einem Totschläger aus Socke plus Seife gehört hatte. Ich hatte gelesen, daß die Capone-Bande sie benutzt hatte. Ein Stück Seife und eine Socke konnte man nicht gut eine Waffe nennen, oder? Ich hatte noch zwanzig Minuten Zeit, bis mein Anruf bei Davis fällig war. Ich gönnte mir eine Schmalzbrezel 54
und eine Orangenlimonade, dann ging ich, um die Zeit totzuschlagen, ins Kaufhaus „Macy’s“ und schaute mir Herrenmoden an. Nach zwölf Minuten war ich wieder draußen, denn ich hatte gemerkt, daß mir ein Hausdetektiv gefolgt war. Nachdem ich Davis die Nummer des Wachtmeisters durchgegeben und ihm berichtet hatte, was passiert war, sagte er: „Vergessen Sie den alten Bullen. Und immer mit der Ruhe, mit gespaltenem Schädel sind Sie unbrauchbar. Spero? Ich glaube mich zu erinnern, daß es einmal einen Spero gegeben hat, den man als Catcher den ‚Tollen Griechen‘ nannte. Wenn das derselbe ist, hätte er Sie zu Brei quetschen können. Lee, streichen Sie gleich heute und morgen in der 129. Straße herum. Sie haben Ihre Arbeit verloren, Sie suchen ein billiges Zimmer, während Sie auf Ihre Arbeitslosenunterstützung warten. Rufen Sie mich morgen an, und geben Sie mir Ihre neue Adresse. Und Lee, fahren Sie nicht immer gleich aus der Haut!“ „Sir … Verdammt noch mal, Jack, muß ich mir denn anhören, wie man mich …“ „Warum lassen Sie sich von einem simplen Wort auf die Palme treiben? Lee, Sie können alles verderben, wenn Sie sich nicht merken, daß wir uns verdammt anstrengen, mehr herauszufinden als die Tatsache, daß ein rauflustiger Catcher Farbige haßt.“ „Ja, Sir.“ Jack Davis seufzte ins Telefon. „Also, dann – rufen Sie morgen wieder an, Lee.“ Ich fuhr mit der fast leeren U-Bahn zur Ecke 125. Straße und Lenox-Avenue, schlenderte zur 129. Straße hinauf und hinüber zur Fifth-Avenue und kehrte über die 130. Straße zur Seventh-Avenue zurück. Ich weiß nicht, 55
die Straßen sahen mir nicht nach Slums aus. Ich hatte Slums mit elenden Holzhütten gesehen, aber hier sah ich alte Privathäuser mit hohen Freitreppen, offensichtlich ehemalige Wohnsitze reicher Weißer, aber sie wirkten auch jetzt nicht allzu heruntergekommen. Zumindest von außen. Mir erschien Harlem als eines der bestangelegten Viertel der Stadt, mit Parks, breiten Straßen und guten Verkehrsmöglichkeiten. Es erschien mir so günstig gelegen, daß ich mich wunderte, warum es die Weißen überhaupt aufgegeben hatten. Mein Streifzug führte mich an Kirchen und Bars aller Arten und Größen vorbei. Ich kam mir vor wie ein Tourist. In der 130. Straße blieb ich überrascht stehen angesichts einer Reihe schöner alter Fachwerkhäuser mit hohem, vergittertem Eingang, vom Gehsteig durch weiße Lattenzäune und winzige, doch gepflegte Rasenflächen abgetrennt. Die Häuser schienen gut instand gehalten zu werden, und die ganze Szenerie hatte etwas Kleinstädtisches an sich. Ich hatte zwar so oft gelesen und gehört, Harlem sei schrecklich übervölkert und schmutzig, doch hier waren die Straßen menschenleer und ziemlich sauber. Ich hatte das Gefühl, alles sei ein Irrtum, Davis bilde sich nur ein, daß es „Vergeltungsbanden“ gebe, und sei auf die hetzerischen Zeitungsartikel hereingefallen. Denn in der warmen Nachmittagssonne sah Harlem nicht anders aus als viele andere Stadtteile von New York. Ein Betrunkener stolperte aus einem Kellerraum und blinzelte in die Sonne. Ich sagte mir, genug gegafft, jetzt wird gearbeitet. In der 129. Straße betrat ich ein Lebensmittelgeschäft. Ein müde aussehender magerer Mann mit zerrissener Zipfelmütze auf dem Kopf stand hinter dem Ladenpult. 56
Ich kaufte eine Flasche Sodawasser und fragte: „Mister, wissen Sie nicht, wo man hier in der Nähe billig ein Zimmer mieten kann?“ „Was ist los, Kleiner, hat dich der Papa hinausgeschmissen?“ „Nein. Ich bin aus Delaware gekommen, vor zwei Tagen. Ich habe eine Stellung in der Stadt gehabt und ein Zimmer im Christlichen Verein Junger Männer. Aber jetzt bin ich arbeitslos, und der CVJM ist mir zu teuer. Ich möchte in der Nähe der 125. Straße sein, wo sich etwas tut.“ Er lachte in sich hinein, als er eine Schachtel mit billigen Bonbons öffnete. Er blies den Staub von den Bonbons und schob die Schachtel unter die gesprungene Glasplatte des Pultes. „Ich dachte schon, im CVJM war man hinter deiner Unschuld her. Nein, ich weiß nichts von einem Zimmer. Und was sich auf der 125. Straße tut, ist nichts Gutes.“ Ich klapperte den ganzen Block ab, erkundigte mich in jedem Laden, sogar in einem Beerdigungsinstitut, überquerte die Lenox-Avenue und fragte mich bis zur Fifth-Avenue durch, aber ohne Erfolg. In einer Fischbraterei sagte mir eine dicke Frau mit blonder Perücke: „Ich weiß von einem netten Zimmer, aber kein Kochen und kein Radau, klar?“ „Wieviel?“ „Keine Ahnung, aber der Preis wird sich in Grenzen halten, wenn du dich um deinen eigenen Kram kümmerst.“ „Was soll das heißen?“ Sie beugte sich über das Pult vor. „Eine Bekannte von mir hat eine Wohnung, und sie könnte die Untermiete gut gebrauchen, klar? Aber sie 57
und ihre Kinder leben von der Wohlfahrt. Du wirst dich also als ihr Vetter ausgeben müssen, der zu Besuch gekommen ist. Klar?“ „Von mir aus.“ Das falsche Blondhaar paßte nicht einmal schlecht zu ihrem schokoladefarbenen Teint. Sie musterte meine Kleidung. „Was verlangt wird, muß im voraus bezahlt werden.“ „Ja, ja, aber ich möchte die Bude zuerst mal sehen. Ich habe ein bißchen Geld in Reserve, und in ein, zwei Wochen kriege ich meine Arbeitslosenunterstützung, wenn ich bis dahin nicht irgendeine Arbeit auftreibe.“ „Komm um sieben Uhr wieder. Ich werde mit meiner Bekannten sprechen.“ Sie deutete mit einem Kopf nicken auf ihre hartgebratene Ware. „Willst du was essen?“ Ich sagte, ich hätte keinen Hunger, und spazierte in den CVJM. Ich schwamm ein bißchen und schaute ein paar Burschen beim Basketballspielen zu. Ich aß etwas und warf einen Blick in die Abendzeitung. Der Abend war warm, und als ich mich um sieben Uhr wieder in der Fischbraterei einstellte, hatte sich die Atmosphäre der Straße verändert. Die Lenox-Avenue war gesteckt voll mit Leuten, die herumstanden und schwatzten oder einfach ein bißchen Luft schnappen wollten. Aus Dutzenden von Transistorradios plärrte alle Art von Musik. Kinder spielten auf den Gehsteigen und auf der Fahrbahn, eine Gruppe älterer Männer schaute still einem Schachspiel auf dem Gehsteig zu, das im Lichtschein des Schaufensters einer Spirituosenhandlung vor sich ging. In einigen der geparkten Wagen saßen Männer, ließen eine Flasche reihumgehen oder tranken Büchsenbier. Das Gefühl des Eingepferchtseins überfiel mich ganz stark. 58
In der Fischbraterei herrschte trotz der Hitze großer Andrang, und nachdem die Blonde einen Kunden bedient hatte, kam sie zu mir herüber und sagte: „Gut, daß du da bist. Ich habe mit meiner Bekannten, Mrs. Grace Johnson, gesprochen. Wir sind beide aktive Mitglieder unserer Kirche. Sie erwartet dich. Hier ist ihre Adresse, es ist ungefähr in der Mitte der 128. Straße, zwischen Lenox und …“ Ich starrte den Zettel an, den sie mir reichte, und sagte: „Ich habe gedacht, es ist in der 129. Straße.“ Sie schaute mich verwundert an. „So? Ich habe dir doch überhaupt keine Adresse genannt. Ist doch auch egal, oder?“ „Na ja, wahrscheinlich schon. Ich sehe mir das Zimmer mal an, und danke schön …“ „Tu’s gleich. Ich helfe gern meinen eigenen Leuten, klar? Grace hat einen Jungen in deinem Alter.“ Sie strich sich über die gelbe Perücke. „Und sag mir Bescheid, ob du’s nimmst“, fügte sie mit scharf gewordener Stimme hinzu; sie bekam wohl irgendeine Provision. In diesem einen Block der 128. Straße schien es mehr Menschen zu geben als in meiner ganzen Heimatstadt. Die heruntergekommenen Häuser sahen schlimmer aus als alle, an denen ich am Nachmittag vorbeigekommen war; sogar die Luft wirkte älter und dicker. Drei halbwüchsige Jungen saßen auf den Eingangsstufen der Mietskaserne und blockierten die Tür zum trüb beleuchteten Hausflur. Sie hockten unter einem Schild, auf dem „Herumlungern verboten“ stand. Als ich die ungeschickt gemalte Hausnummer anstarrte, fragte der größte, der in der Mitte: „Mann, du willst da hinein?“ „Ja.“ „Dann mußt du springen. Bringst du’s fertig, über mich wegzuspringen?“ 59
Er war ein stämmiger Achtzehnjähriger mit einem Stiernacken. Sein krempenloser alter Filzhut ließ fettiges, sorgsam gebürstetes Haar sehen. Ein hautenger dunkler Pullover betonte die muskulösen Arme und die hellbraune Hautfarbe. Der magere Junge neben ihm hatte hohe Backenknochen und ein nervöses Augenblinzeln. Der Junge auf der anderen Seite war klein und dunkel; über den Kopf hatte er schräg eine komische karierte Sherlock-Holmes-Kappe gestülpt. Alle drei hatten die üblichen dicken Socken und Segeltuchschuhe an den Füßen. Ich sagte: „Ja, ich kann schon über dich wegspringen, aber ich habe keine Zeit dazu.“ Der Große lächelte. Ich bemerkte den schütteren Schnurrbart, der seinem Gesicht einen mürrischen Ausdruck verlieh. „Neu in der Gegend, was, Großmaul?“ „Mhm.“ „Hast du eine Zigarette?“ „Nein.“ „Machst wohl auf hart, was?“ „Du bist derjenige, welcher.“ „Wenn ich sage ‚spring‘, dann springt hier jeder.“ „Zugegeben, ich bin neu, aber ich springe nicht so ohne weiteres.“ Aus den Augenwinkeln glaubte ich zu sehen, daß sich der ganze obere Teil der ins Souterrain führenden Treppe bewegte. Ein ungeheuer fetter Mann in losem Sporthemd, den Bauch von einem breiten Gürtel zusammengehalten, kam auf uns zu. Eine Sonnenbrille verdeckte seine Augen, er hatte einen kleinen roten Fez auf, und ein dicker goldener Ohrring baumelte vom fleischigen Läppchen eines seiner braunen Ohren. Seine Füße waren so breit, daß sie die alten Schuhe beidseitig gesprengt hatten. 60
Er sprach mit tiefer Stimme: „Friede der Dunkelheit auf Erden. Ich bin hier der Hausverwalter. Zu wem willst du?“ „Zu Mrs. Grace Johnson.“ „Bist du ein Freund von Ace, der du dunkler bist als ich?“ „Ace? Ich kenne die Leute nicht. Ich habe gehört, Mrs. Johnson könnte mir ein Zimmer verschaffen.“ „Die Johnsons wohnen zwei Treppen hoch, rechts hinten“, dröhnte es aus dem Fetten. „Meat Market, du sollst nicht immer den Eingang blockieren.“ Meat Market stieß den Ellenbogen dem mageren Jungen in die Seite, der aufsprang und keuchte: „Verdammt, das tut weh!“ Meat Market rückte weg, und ich ging, mich zur Ruhe zwingend, an ihm vorbei. Sich mit diesen Lümmeln anzulegen wäre dumm gewesen. Der finstere Flur stank nach zu vielen Menschen, nach uraltem Staub, nach frischem und schalem Kochdunst, nach Urin und Desinfektionsmitteln. Ich lief die eiserne Treppe hinauf, und im zweiten Stock hinten klopfte ich an eine mit unlackiertem Blech beschlagene Tür. Eine Frauenstimme rief: „Wer ist da?“ „Ich komme wegen des Zimmers.“ Die Tür ging auf, und eine Frau etwa Mitte Vierzig in einem abgetragenen Hauskleid stand vor mir. Sie hatte strähniges Haar; das volle Gesicht mußte früher einmal hübsch gewesen sein, der Leib war plump und von der Arbeit mitgenommen. Ihr rechtes Bein war geschwollen. Ein kleines, etwa achtjähriges Mädchen, das schwarze Haar ordentlich zu Zöpfen geflochten, schielte hinter dem Rock der Frau zu mir empor. Mein Blick fiel durch die offene Küchentür; am Ausguß stand ein junges 61
Mädchen, blickte vom Geschirrspülen auf und schaute mich böse an. Ich nahm die Mütze ab und sagte: „Die Frau aus der Fischbraterei …“ „Ja, ja, kommen Sie nur herein.“ Die schmale Küche, ehemals leuchtend gelb, benötigte einen neuen Anstrich, der Plafond war ganz rissig, eine offene Abfalltüte stand unter dem weißen Tisch, der Kühlschrank war alt; aber obwohl der Raum stark nach gekochtem Kohl roch, wirkte er doch anheimelnd. Die Frau äußerte in ihrer nervösen Sprechweise: „Ich bin Mrs. Grace Johnson. Das ist meine Jüngste, Louise, und das dort meine Älteste, Helen.“ „Mein Name ist Lee Hayes. Ich wohne im Christlichen Verein Junger Männer. Ich bin erst seit ein paar Tagen in der Stadt und …“ „Ja, ja, ich weiß. Emma hat Ihnen angeblich erklärt, wie es mit mir steht. Seitdem Louise da ist, kann ich nicht mehr regelmäßig arbeiten, und voriges Jahr war ich im Krankenhaus, Frauenleiden. So, wie mein Bein ist, bin ich nicht einmal imstande, ab und zu einmal putzen zu gehen, wie früher. Wir kriegen Unterstützung von der Wohlfahrt, und deshalb …“ „Mama“, mischte sich das Mädchen am Spülbecken ein, „du brauchst unsere Angelegenheiten nicht hinauszuposaunen. Komm herein und mach die Tür zu.“ Mrs. Johnson schloß die blechverkleidete Tür und sagte: „Ach was, Mr. Hayes soll gleich wissen, wie es ist. Ich halte meine Wohnung sauber; ruhig ist sie auch. Für sieben Dollar wöchentlich können Sie das Zimmer haben. Kochen nicht gestattet. Wenn Sie Milch oder Soda in den Kühlschrank stellen, markieren sie den Behälter, damit …“ 62
„Mama, bitte! Er wird uns schon nicht unsere paar Bissen stehlen“, warf Helen verlegen ein. Sie war groß und schlank, aber ihre Beine waren fest und kräftig wie bei einer Tänzerin. Sie trug einen waschbaren Wickelrock und einen rosa Pullover, unter dem sich ihre kleinen Brüste abzeichneten. Das ungewöhnliche und eckige, glatte braune Gesicht mit den großen Augen war interessant. Ihr schwarzes Haar war seitlich am Kopf zu einem Knoten zusammengefaßt: hartes und erfreulich krauses Haar, mit dem keinerlei Glättungsversuche vorgenommen wurden. Mama sagte: „Helen, alles muß seine Ordnung haben. Also, Mr … .“ „Nennen Sie mich doch einfach Lee.“ „Also gut. Wir haben zwei Schlafzimmer, Lee. Du kannst das größere haben, Helen und ich und Louise werden auf dem Klappbett im Wohnzimmer schlafen.“ „Aber Mama, dann haben wir ja kein Privatleben mehr. Wir können doch nicht …“ „Sei still. Wir können uns genausogut im Bad an- und ausziehen. Also, Lee, ich bin eine einfache und vernünftige Frau, Firlefanz gibt’s nicht. Ich vermiete, weil wir das Geld brauchen. Komm jetzt mit, ich zeige dir das Zimmer.“ Im Wohnzimmer stand eine abgewetzte Couch, ein alter Fernsehkasten, mehrere kitschige Lampen und ein angeknackster Kaffeetisch in Nußbaum. Ein Junge von etwa fünfzehn Jahren rekelte sich in einem fadenscheinigen Plüschsessel und schlug mit der Kante seiner linken Hand in eine mit Sand gefüllte Schuhschachtel. Er trug die Standardausrüstung, bestehend aus prallsitzender Hose, dicken Socken, Segeltuchschuhen und einem dunklen Anorak. Auf seinem kurzen Haar saß eine alte Kappe aus Stroh. Er war mager, eins achtzig groß. Er hatte ein langes 63
Kinn und stechende, spöttisch dreinblickende Augen. Eine Zigarette hing zwischen seinen schmalen Lippen. Seine Hautfarbe war einen Ton heller als die seiner Mama und des Mädchens. Er schaute von einem Buch über Flugzeuge auf und sah mich gelangweilt an. „Jesses, Mama, ich sage dir doch, daß ich in ein paar Tagen zu Geld komme, warum fängst du dann mit der Vermieterei an?“ „Auf dein Gerede ist doch kein Verlaß. Lee ist ein netter junger Mann, der so viel Anstand hat, die Mütze abzunehmen, und er ist von auswärts und braucht ein Zuhause. Das ist mein Sohn Edward.“ Edward bewegte die Hand in der Sandschachtel. „Hallo. Kannst Ace zu mir sagen.“ „Hallo, Ace. Was soll die Sandschachtel?“ „Ich mache meine Handkante hart, Mann, damit sie eine Waffe wird.“ „Du stehst auf Judo?“ Er stäubte Zigarettenasche in den Sand und feixte. Seine Vorderzähne waren schadhaft. „Karate, Mann. Judo ist defensiv, Karate ist offensiv. Ich bin für Angriff, Mann. Jawohl, das bin ich.“ „Edward, hör mit dem politischen Gerede auf. Ich zeige dir jetzt das Schlafzimmer. Es hat zwei Betten, die …“ „Mama, nimm Vernunft an“, sagte Helen von der Tür her. „Ich weiß, wir können das Geld gut gebrauchen, aber wir können unmöglich zu dritt auf der Couch schlafen. Und Mr. … Und Lee müßte hier durchgehen, wenn er in sein Zimmer will.“ „Hören Sie, Mrs. Johnson“, warf ich rasch ein. „Ich möchte niemanden verdrängen. Ich will mir das Zimmer ansehen, aber – es ist nicht endgültig. Ich kann ja noch andere Zimmer ansehen.“ 64
Leutnant Davis hatte angeordnet, ich solle mir ein Zimmer in der 129. Straße nehmen, aber ich wollte vor allem Helens zornigen Augen entgehen. „Natürlich bleibt die Entscheidung dir überlassen. Aber Zimmer sind schwer zu finden, und wenn du ein sauberes …“ „Von wo bist du hereingeschneit, Mann?“ fiel Ace ihr ins Wort. „Delaware.“ Das kleine Mädchen fragte: „Wo ist diese Stadt?“ „Wie steht’s denn in dem Provinznest?“ erkundigte sich Ace, der mit der linken Hand wieder auf den Sand einhieb. „Lausig. Deshalb bin ich hergekommen.“ Ace stieß mit so dick aufgetragener Lässigkeit ein Lachen aus, daß ich am liebsten gegrinst hätte. „Mama, gib ihm mein Zimmer, laß mich hier drin schlafen. Warum zeigst du ihm nicht mein Zimmer?“ „Also, Edward, ich habe dir schon gesagt …“ Ace stellte sich auf die Füße, durchquerte das Zimmer und kickte eine Tür auf. „He, du, Lee, wie gefällt dir das?“ Ich ging hinüber. In dem dunklen Raum war nicht viel zu erkennen, außer daß er klein war und lediglich Bett und Kommode enthielt. Ace sagte: „Es hat ein Fenster, das geht auf einen stinkenden Luftschacht.“ Er knipste das Licht an. Halbmeterhohe schwarze Lettern liefen über zwei der gelblichen Wände hin. Die Lettern besagten: „WEISS IST SCHEISS!“ Ace packte mich fest am linken Ellenbogen und fragte leise: „Na, was sagst du dazu, Mann? Macht dir das Zimmer bang?“ Ich zog meinen Arm weg und gab zurück: „Nein, Mann. Dieses Zimmer miete ich.“ 65
Meine Schwester, die ist Aktivistin in ihrem politischen Klub und hat mir eine Aushilfsstellung bei der Post besorgt. Die Arbeitszeit war lang, aber dafür habe ich pro Woche über hundert Dollar mit nach Hause genommen. Da wird die Briefträgerprüfung fällig, und ich bestehe sie auch, aber ich stehe weiter unten auf der Liste, keine Aussicht auf reguläre Anstellung für vielleicht ein fahr. Aber mein Vormann, ein Italiener, der sagt, keine Angst, ich behalte meinen alten Posten, bis ich an der Reihe bin. In der ganzen Zeit habe ich 23,50 Dollar die Woche für ein Zimmer mit Kochnische bezahlt. Das macht im Monat rund einen Hunderter, aber ich hatte wenigstens meine eigene Wohnung. Nach den Unruhen wollte ich weg aus Harlem. Ich arbeite regelmäßig und will eine richtige Wohnung, so mit drei Zimmern, für ungefähr 90 Dollar, und dann, mit den Ratenzahlungen für die Möbel, bleiben mir noch rund 115 Dollar im Monat. Im Gesetz steht, daß ich wohnen kann, wo ich will, deshalb lese ich die Wohnungsanzeigen und bewerbe mich an der East Side, in Grennwich Village, oben in der Bronx und in Washington Heights. Aber sowie der Hausverwalter mein braunes Gesicht sieht, noch bevor ich ein Wort sage, kriege ich zu hören: „Bedauere, die Wohnung ist vergeben.“ Da ist eine Annonce, zweieinhalb Zimmer, 87 Dollar, in der 73. Straße West, in einem von diesen kleinen, umgebauten Appartementshäusern, gut gepflegt. Kein Aufzug, aber das macht nichts. Zur Hausverwalterwohnung im Keller geht’s durch einen dunklen Gang. Das Licht brennt nicht, und ich muß ein Streichholz anreißen, damit ich die Tür finde. Ich klopfe, und ein Mann, er klingt wie ein Schwede, fragt, was ich will. Als ich sage, ich bin wegen der Wohnung da, sagt er, er kommt gleich heraus und zeigt sie mir, und: wie viele Personen die 66
Familie hat. Ich sage, nur mich, und: daß ich bei der Post arbeite. Ich stehe ein Stück weg von seiner Tür, und er kommt heraus und macht hinter sich zu, geht im Finstern in Richtung Straße. Er ist ein bulliger alter Mann, erzählt mir, wie ruhig die Mieter sind und so. Kaum haben wir die Straße erreicht, und er sieht, daß ich farbig bin, sagt er: „Ach, die Wohnung. Heute vormittag vermietet.“ Ich will noch eines sagen: Er hat gewußt, daß ich gewußt habe, daß er lügt. Er ist ganz verlegen geworden, wie wenn er sich geschämt hätte. Ich sage: „Sind noch andere leere Wohnungen da?“ „Nein. Aber lassen Sie Ihre Adresse da, ich schreiben Ihnen, wenn mal was frei ist.“ Er kann mich nicht mal anschauen, während er das daherlügt, so geniert er sich. „Sie und mir schreiben!“ „Wissen Sie, ich bin hier nur der Verwalter und nicht der Besitzer.“ Und jetzt schaut er richtig elend aus. „Ich verstehe das nicht, wo ich hinkomme, ist die Wohnung schon vermietet, sowie einer mein Gesicht sieht. Ich habe eine gute Stellung, das Gesetz ist auf meiner Seite. Es ist schon ein Problem.“ Es war ihm so peinlich, daß er nichts anderes zu sagen gewußt hat als: „Ja, ein Problem ist das schon, und wenn Sie mich fragen, auch sehr ungerecht. Aber es ist Ihr Problem, nicht meines.“
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Freitag
Am Freitagvormittag zog ich mit meinem abgestoßenen Koffer, mit Milch, einer kleinen Torte und einem Schokoladenriegel für Louise in der Wohnung der Johnsons ein. Ich hatte am vorhergehenden Abend Leutnant Davis angerufen, in seiner Wohnung. Das erste, was er wissen wollte, war: „Woher haben Sie meine Privatnummer?“ „Aus dem Telefonbuch.“ „Da müssen Sie in einem alten nachgeschlagen haben. Unsere Nummer steht nämlich schon seit längerer Zeit nicht mehr drin. Was gibt es Neues?“ Ich erzählte ihm von dem Zimmer, und Davis sagte: „Den Block kenne ich. Unsere Informationen beziehen sich zwar auf die 129. Straße, aber diese Schrift an der Wand scheint mir vielversprechend zu sein. Ace Johnson kann allerdings ein einsamer Spinner sein, aber freunden Sie sich mit ihm an.“ „Ich werde vorschlagen, er soll das Zimmer mit mir teilen, dann bietet sich mir die Möglichkeit, mich mit ihm zu unterhalten und dergleichen.“ „Gute Idee, Lee. Rufen Sie mich morgen zur gewohnten Zeit an. Ich werde Mary inzwischen veranlassen, ihre vorgebliche Sozialfürsorgetätigkeit in die 128. Straße zu verlegen.“ Helen und Mrs. Johnson waren daheim, Louise befand sich in der Schule. Ich ließ meinen Koffer im Zimmer und trug Milch und Torte in die Küche, wo ich die Wochenmiete von sieben Dollar entrichtete und fragte, ob jemand ein Stück Torte möchte. Helen schüttelte den Kopf. Mrs. Johnson, das Geld in der Hand haltend, erklärte: „Ich darf keine Süßigkeiten essen. Ich gehe jetzt 68
hinunter, einkaufen. Geschirr ist im Schrank, du kannst ungeniert alles benutzen, was du brauchst, Lee.“ „Danke.“ Grace Johnson strahlte. „Das ist aber nett, wenn man mal einen Jungen ‚danke‘ sagen hört. Ich sehe schon, deine Mutter hat dich ordentlich erzogen. Du bist eben vom Land.“ Ich öffnete den Schrank und sprang zurück, als eine Maus und eine Schar Schaben in Deckung rannten. Mrs. Johnson lachte. „Du wirst dich doch nicht vor Mäusen fürchten, Lee? Man merkt, daß du noch nie in Harlem gewohnt hast. Der Jude, dem das Haus gehört, läßt die Mäuselöcher nie zustopfen.“ Helen sagte: „Aber Mama, du weißt doch, daß diese Bruchbude einer Bank gehört.“ „Ja, aber ein jüdischer Mann ist die Miete kassieren gekommen. Voriges Jahr war das oder vorvoriges. Aber jetzt muß ich endlich in den Laden, sonst ist das Beste schon ausverkauft. Ich erwarte niemanden von der Wohlfahrt, aber falls jemand kommen sollte, dann vergiß nicht, Lee; Du bist mein Vetter mütterlicherseits.“ Nachdem Mrs. Johnson gegangen war, spülte Helen einen Teller und eine Gabel ab, dann tat sie beides auf den Tisch. Sie trug einen alten blauen Kittel, weiße Socken und Segeltuchschuhe, die ihre muskulösen braunen Beine gut zur Geltung brachten. „Wo ist Ace?“ erkundigte ich mich. „Ich weiß nicht, er geht immer früh weg.“ „Zur Arbeit?“ „Nein. Er hat den Sportfimmel, Scheint ihm gutzutun, hält ihn von der Straße fern.“ „Geht er in eine Sportschule?“ 69
„Wirklich, ich weiß nicht. Warum?“ „Ich mache mir auch gern ein bißchen Bewegung. Komm, nimm dir ein Stück Torte. Allein essen macht mir keinen Spaß.“ „Also gut.“ Wir saßen am Tisch, aßen Torte und tranken Milch. Sie sagte: „Ich kann nicht verstehen, warum du nach Harlem gekommen bist. Verrückt. Ich habe nur einen Gedanken: Weg von hier. Ist Delaware wirklich so schlimm für Farbige?“ „Es ist Süden, aber nicht tiefer Süden. Meine Leute haben ein Haus, und mein Alter war sein Leben lang Nachtwächter in der großen Fabrik. Schlimm ist nur, daß ein farbiger Mensch es dort zu absolut nichts bringen kann.“ „Du wirst noch merken, daß die Scheiße hier noch schlimmer ist.“ Die beiläufige Art, wie sie das Wort äußerte, ließ es noch ordinärer klingen. Ich fragte: „Wie alt bist du?“ „Achtzehn.“ „Ich auch. Gehst du zur Schule?“ „Ich habe aufhören müssen. Immer kommt einem was dazwischen und vermasselt alle Pläne.“ „Wenn ich mir eine Arbeit ergattere, hole ich die Mittelschule in Abendkursen nach. Man braucht das Abschlußzeugnis, wenn man einen ordentlichen Posten möchte.“ Ich fühlte mich wie ein gönnerhafter Onkel, der herablassend auf sie einredete. Helen nickte. Die weiche braune Haut spannte sich über ihrem eigenartigen eckigen Gesicht. „Ich weiß; Mama hat eine ledige Schwester, eine fromme Type, die ist Putzfrau bei einer weißen Dame. 70
Sie schläft auch dort. Als ich mit der Mittelschule fertig war, wollte ich eine Fortbildungsschule besuchen, etwas Anständiges lernen. Ich habe die Adresse meiner Tante angegeben und bin jeden Tag in diese Schule gefahren. Die ersten Monate waren eine Schinderei, ich war so weit hinter den anderen Mädchen zurück, daß ich bis spät in die Nacht aufbleiben und erst die ganzen Lektionen noch einmal durchnehmen mußte, bevor ich mit den Hausaufgaben beginnen konnte. Dann war da die Mathematiklehrerin, Miss Rose, ein geschlecktes blondes Weibsbild frisch vom College. Ich war immer gut in Mathe, aber sie hat mich nach der Schule dabehalten und hat mir die korrekte Aussprache der Konsonanten eingepaukt und solchen Kram.“ „Was hat das mit Mathe zu tun?“ Helen schnitt sich noch ein Stück Torte ab. „Genau das hat mich auf die Palme gebracht. Schon schlimm genug, daß ich immer bis Mitternacht auf war und mich mit meinen Hausaufgaben herumschlug, da hat mich dieses Herzchen auch noch jeden Tag nach der Schule dabehalten. Einmal habe ich ihr meine Meinung gegeigt und gesagt, sie soll nicht immer auf mir herumhacken. Miss Rose ist in Tränen ausgebrochen, weil sie angeblich nur versucht hat, mir Nachhilfeunterricht im Lesen zu geben, weil mir das Schwierigkeiten bereitet. Ich kam mir ganz blöd vor und habe eingesehen, daß ich sie falsch eingeschätzt hatte. Am Ende des Semesters konnte ich besser lesen als alle anderen. Miss Rose war okay, sie war’s, die mir geraten hat, Steno und Schreibmaschine zu lernen. Leider ist dann Mama voriges Jahr im Oktober krank geworden, und ich mußte zu Hause bleiben, um auf Louise aufzupassen. Ich habe so viel Zeit versäumt, daß ich aufhören mußte. Ich übe immer 71
noch in Steno, aber ich habe keine Schreibmaschine zum Üben. Im Februar habe ich in einem Kaufhaus als Packerin angefangen. Ich hatte gehofft, mir Geld für eine Schreibmaschine ersparen zu können. Aber Mamas Bein machte Geschichten, und da mußte ich wieder zu Hause bleiben. Das ist mein Traum: eine eigene Schreibmaschine.“ „Eine Schreibmaschine ist doch kein Traumgegenstand.“ „Für mich schon. Ich studiere die Anzeigen, und ich habe schon eine Menge farbiger Mädchen gesehen, die in Büros und Banken arbeiten. Mein Steno ist in Ordnung, und wenn ich bloß im Tippen besser wäre, könnte ich bestimmt irgendwo neunzig Dollar die Woche verdienen. Weißt du, was ich dann täte? Oh, ich würde Mama jede Woche Geld schicken, aber ich würde in ein Hotel außerhalb Harlems umziehen und niemals mehr ein Bett machen oder einen verdammten Teller waschen!“ „Schaut Ace nach einer Stellung aus?“ „Ace hat nur Scheiße im Hirn. Der spuckt immer nur große Töne und …“ „Warum redest du denn so ordinär?“ Sie riß wütend die Augen auf. „Jetzt quasselst du genau wie diese Miss Rose! Ich rede so, wie ich die Leute rundherum reden höre. Als ich klein war, war das erste Wort, das ich sprechen konnte, Scheiße. Mama hat mir den Mund mit Seife ausgewaschen, bis mir schlecht war. Aber was hat sie denn gedacht, von wem ich das Wort gehört hatte? Ich …“ Helen zuckte plötzlich die schmalen Schultern. „Na ja, ich sollte auf mein Mundwerk besser aufpassen. Wenn ich solche Sachen in einem Büro hören ließe, würde man mich entlassen. Aber was soll’s, mir geht alles schief. 72
Ich komme mir vor wie eingesperrt. Ich weiß zum Beispiel, daß Lotto Schwindel ist, aber kaum habe ich einen Cent übrig, setze ich auf meine Glückszahl: 320. Ich habe einmal eine gebrauchte Büroschreibmaschine für zweiunddreißig Dollar gesehen, aber gewonnen habe ich nichts.“ Helen war von einer Würde umgeben, die mich faszinierte. Doch ich versuchte, die Sprache wieder auf Ace zu bringen, meine Arbeit zu tun. „Was ist denn mit deinem Bruder los? Diese Schrift an der Wand … Gehört er zu den Black Muslims? Oder zu irgendeinem anderen Verein?“ Sie kicherte. „Unter uns gesagt, Ace ist so dumm, daß er wahrscheinlich glaubt, Black Muslims ist eine Art von Stoff. Oh, er rennt da mit irgendeiner Bande herum, äußerst geheimnisvoll. Aber es tut ihm sehr gut. Als er aus der Schule entlassen wurde, dachte ich zuerst, er wird im Gefängnis enden. Dieser Quatsch mit der komischen Bande … Aber er hat mit dem Trinken aufgehört und konzentriert sich auf seine Körperertüchtigung. Natürlich quasselt er noch immer daher, daß er bald regelmäßig Geld verdienen wird. Sogar eine Schreibmaschine will er mir kaufen. – Lee, wieso hast du deine Stellung verloren? War sie anständig?“ „Ich habe in einem Konfektionsgeschäft einen Kleiderständer bugsiert, zwei Tage lang. Der Aufseher hat mich gestern einen Nigger genannt, und da habe ich ihm eine vor den Latz geknallt.“ „Recht so. Immer muß etwas auftauchen und uns einen Fußtritt geben.“ „Ich bin fein heraus, wenn ich Arbeitslosenunterstützung bekomme. In meiner Heimatstadt habe ich als Botenjunge 73
gearbeitet, da denke ich, daß ich genug Arbeitsstunden beisammen habe, wenn die auch in einem anderen Staat angerechnet werden.“ Eine Weile herrschte Schweigen. Ich trug das Geschirr zum Ausguß. Helen folgte mir. „Ich mache das schon, du hast die Torte gestiftet.“ Wie sie so neben mir stand, staunte ich, wie groß sie war. Als ich ihr den Schokoladenriegel für Louise reichte, berührte ich zufällig ihr kräftiges Haar. Helen fuhr herum und schwang einen nassen Teller. „Mach einen Witz über mein Haar, und ich knalle dir diesen besch … diesen Teller um die Ohren!“ „Witz beiseite, mir gefällt dein Haar. Endlich einmal ein Mädchen, das nicht auf glattes, weiches Haar aus ist.“ „Gefällt es dir wirklich, Lee? Das Haar war auch so etwas, was mir Kummer gemacht hat. Für den Friseur hat das Geld nie gereicht, und selbst mit dem heißen Eisen hantieren, das hat mich zuviel Zeit gekostet. Schließlich habe ich mir gedacht, hol’s der Teufel. Ich trage mein Haar so, wie Gott es mir bestimmt hat.“ Ich lachte. „Du bist mir eine! Sag mal, hast du jemals Tanzunterricht genommen? Du hast gute Beine.“ „Was soll denn das heißen, Lee?“ „Nichts weiter, als was ich gesagt habe. Du hast gute Beine.“ „Weil ich als Kind dauernd draußen herumgetollt bin. – Lee, wo du jetzt länger dasein wirst, möchte ich dir gleich von Anfang an etwas klarmachen. Wir werden prima miteinander auskommen, wenn du dir eines merkst: Versuch nicht, etwas mit mir anzufangen. Das ist bei mir nicht drin. Verlaß dich darauf.“ „Schon gut“, stotterte ich, plötzlich verlegen. 74
Ich drehte mich um und warf einen Blick auf die billige Wanduhr. Es war erst zehn Uhr fünfunddreißig. Helen sagte: „Diese blöde Uhr ist seit Monaten kaputt, aber Mama zahlt noch immer an den Raten. Weißt du, sie kann eben nicht widerstehen, wenn es heißt: Ein Dollar Anzahlung, und den Rest, wenn ich dich mal erwische. Aber es ist das einzige Vergnügen, das die arme Mama kennt.“ Helen schaute in ihr Schlafzimmer. „Es ist gleich Mittag.“ „Tja, ich unterhalte mich gern mit dir, aber ich muß mal nachsehen, was mit meiner Unterstützung ist. So gegen fünf bin ich wieder da und … Hör mal, werde ich einen Schlüssel brauchen? Oder ist dann dein Vater oder sonstwer hier?“ „Nimmst du mich schon wieder auf den Arm, Lee? An meinen Vater erinnere ich mich nicht. Mama sagt, er ist auf und davon, nachdem Ace auf die Welt gekommen ist. Einmal, vor ungefähr acht Jahren, war mal ein Mann da, von dem Mama behauptet hat, er ist es. Da stammt Louise her. Angeblich war er Seemann. Einen Monat ist er dageblieben, hat gesoffen und große Reden geführt. Mama hat ihn hinausgeschmissen, und seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Die Wohlfahrt kann ihn nicht auftreiben, und da wird er wohl tot sein. Hier ist immer jemand. Du brauchst keinen Schlüssel.“ „Wiedersehen, Helen.“ Ich ging zu Fuß in die 129. Straße und langsam den Block entlang. Mit Ausnahme einiger Kinder war die Straße leer. Ich spazierte umher, wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte das Gefühl, meinem Auftrag nicht gewachsen zu sein. Ich begab mich zum CVJM und schwamm ausgiebig, dann bearbeitete ich einen Punchingball. Ich kaufte eine Zeitung und ging in mein Zimmer. 75
Eine Schlagzeile lautete: „Rassenzusammenstöße in der U-Bahn“. Ein Negerjunge hatte auf der Coney-IslandStrecke einem weißen Teenager das Radio weggenommen. Auf Seite fünf war eine kurze Spalte den Hunderten von Mods und Rockers gewidmet, die einander in England noch immer bekämpften. Auf der Sportseite wurde ein Zusammenstoß zwischen weißen Studenten und der Polizei nach einem Basketballspiel an der Westküste in einem Absatz abgetan. Aber ein einzelner flegelhafter Negerjunge war eine Schlagzeile wert. Ich verfiel in unruhigen Schlaf. Ich haßte meinen Auftrag und mich selbst. Doch ich erwachte vor drei Uhr und telefonierte mit Davis vom CVJM aus. Er teilte mir mit: „Mary wird morgen vormittag um elf Uhr in der 128. Straße sein. Behalten Sie sie; im Auge. Mary hat sich etwas ausgedacht: Wir überprüfen alle Judoschulen, um eine Liste derjenigen Neger zu erhalten, die sich für den Schwarzen Gürtel qualifiziert haben, oder wie das heißt. – Lee, bearbeiten Sie diesen Ace, versuchen Sie, Mitglied der Bande zu werden, wenn es eine gibt.“ „Tue ich.“ Ich kehrte in mein Zimmer zurück und versuchte die Zeit totzuschlagen, indem ich mich mit der Lösung von Algebraaufgaben befaßte, aber ich war nicht bei der Sache. Um fünf Uhr aß ich Abendbrot im CVJM, dann strebte ich über die Seventh-Avenue der 128. Straße zu. Ich spürte das Stück Seife in meiner Hüfttasche, wünschte, ich könnte eine Spazierfahrt in meinem Wagen unternehmen, dachte an Helen, die vom Leben nichts anderes wollte als eine gebrauchte Schreibmaschine. So ein bescheidener Wunschtraum; ein Jammer, daß er nicht in Erfüllung ging. 76
Beim Betreten der Küche nickte ich Mrs. Johnson zu, die vor dem Gaskocher stand. Sie bot mir ein Wurstbrot an, ich lehnte ab. Louise saß im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat und bedankte sich förmlich bei mir für den Schokoladenriegel, dann rief sie: „Ma, ich hab’ gemacht, was du gesagt hast!“ Helen lag halb ausgestreckt auf der Couch und übertrug eine Seite aus einem Buch in Kurzschrift. Ich schaute auf ihre schönen Beine, bis sie aufblickte und ihren Rock zurechtzupfte. „Wie ist es gegangen, Lee?“ Vor lauter Benommenheit fragte ich nur: „Was?“ „Was ist mit der Arbeitslosenunterstützung?“ „Ich war dort, man hat mich irgendwelche Listen ausfüllen lassen. Am Montag soll ich wiederkommen.“ Sie schrieb aus Aces Buch ab, rein technischen Kram über die Führung eines Flugzeugs. „Ace ist ins Fliegen vernarrt?“ „Seit neuestem. Ich verstehe den ganzen Sums nicht, und er höchstwahrscheinlich auch nicht, aber als Stenoübung ist es prima, wegen der neuen Ausdrücke. Ace macht dein Zimmer fertig.“ Ich betrat das Schlafzimmer und starrte eine Sekunde lang die ungefügen Lettern an der Wand an, als sähe ich sie zum erstenmal. Ace räumte eine Schublade aus. „So, Mann, ich mache deine Bude fertig.“ „Ace, ich komme mir gemein vor, weil du ins Wohnzimmer sollst. Weißt du was, wir könnten doch in dem einen Bett schlafen, wenn du möchtest.“ Ich versuchte mir den Anschein zu geben, als sei mir nicht besonders daran gelegen. Er richtete sich langsam von der Schublade auf. Der listige, durchtriebene Ausdruck seiner schmalen Augen 77
wirkte fast kindlich. Er hatte noch die Figur eines Knaben, lange Beine und hochsitzende Hüften, aber da er schulentlassen war, mußte er mindestens sechzehn sein. „Lee, bist du auf den Kopf gefallen, oder was? Wie ein Schwuler kommst du mir aber auch nicht vor. Das Zimmer gehört dir, du zahlst dafür, aber wenn du möchtest, daß ich hier kampiere, ich bin dafür. Auf der Couch schlafen ist eine Qual. Hör mal, kannst du mir einen Fünfer borgen?“ „Nein, Mann, ich bin blank. Das meiste ist für die Miete draufgegangen.“ Er zuckte die Achseln und wandte sich wieder dem Ausleeren der Schublade zu. Beim Anblick des klobigen „WEISS IST SCHEISS“ ringsum fühlte ich mich wie in einem Alptraum. Ich bemühte mich, zu denken, zu arbeiten. „Ich habe dein Buch über Flugzeuge bemerkt. Du baust Modelle, Ace?“ Er begann so heftig zu lachen, daß er rücklings aufs Bett kippte. „Lee, du bist zum Brüllen! Modelle, so ein Krampf! Ich werde Düsenpilot!“ „Du willst zur Luftwaffe?“ Daraufhin wurde er schier hysterisch. Seine Augen waren wässerig, als er sagte: „Du spinnst ja! Beim weißen Militär habe ich nichts zu suchen. Nein, ich kriege einen von diesen Sechshundert-Meilen-die-StundeDüsenvögeln mit Raketenkanonen und Napalmbomben. Wenn dann irgend so ein Schwein unten im Süden Kirchen anzündet oder so … Mann, in ein paar Stunden bin ich dort und werfe ein paar Bomben ab, und dann nichts wie zurück in meinen Geheimhangar, bevor der Morgen graut!“ 78
Ich grinste. „Rauchst du vielleicht Marihuana, Ace?“ „Ich rühre das Zeug nicht mehr an. He, möchtest du welches haben? Ich kann es dir billig verschaffen.“ „Kein Bedarf.“ Ich öffnete meinen Koffer. Jemand hatte ihn bereits durchsucht. Ich warf meine wenigen Habseligkeiten, inklusive zwei Stück Kernseife, in die Schublade und stieß den Koffer unters Bett. „Ace, alles Krampf, was du redest. Hast du eine Ahnung, was ein Düsenflugzeug kostet? Eine halbe Million Dollar oder noch mehr.“ „Die kriegen wir schon, Vielleicht fliege ich ein, zwei Maschinen von Afrika herüber.“ „Ace, gib nicht so an!“ Er sprang vom Bett und schrie: „Helen, wie spät ist es, verflucht noch mal?“ Sie antwortete, es sei kurz vor acht. Mrs. Johnson fügte hinzu: „Also, Ace, du weißt, daß du mir hier nicht fluchen sollst! Nimm dich verdammt in acht!“ Ace fragte, sich die Handkanten reibend: „Du glaubst, ich rede nur so daher? Komm mit, ich mache dich mit ein paar Leuten bekannt, damit du was kennenlernst, Provinzler!“ Wir gingen hinunter und über die Straße zu einem kleinen Süßwarenladen, vor dem eine Anzahl von Jungen herumlungerte, unter ihnen Meat Market. Aufrecht stehend sah er aus wie ein richtiger Schwergewichtler, mit den muskulösen Armen eines Gewichthebers. Alle trugen die Einheitskleidung: verrückte Kopfbedeckungen, doppelte Socken und Segeltuchschuhe, prallsitzende Hosen. Ihre Namen paßten zu der ausgefallenen Kostümierung: Chip – der nervös blinzelnde Junge mit den indianischen 79
Backenknochen, den Meat Market von der Treppe gestoßen hatte, als ich zum erstenmal in der Straße erschienen war; Little Daddy; Slop; Dong Medicine; Slip; aber auch ein schlichter Joe war dabei. Mit Ausnahme von Meat Market schienen sie alle fünfzehn bis sechzehn Jahre alt zu sein. Ich wurde als Aces Vetter vorgestellt, und alle benahmen sich so, als könnte es ihnen nicht gleichgültiger sein. Auch ein paar halbwüchsige Mädchen waren da. Sie trugen knappsitzende Shorts und Pullover, Sandalen oder flache Schuhe, hatten dick Lippenstift und blaßblaue Lidschatten aufgelegt; ihr Haar war in Locken oder Wellen frisiert, Transistorradios oder riesige Medaillons mit Inschriften hingen zwischen ihren spitzen kleine Brüsten. Diese Mädchen erinnerten mich an diejenigen, mit denen ich aufgewachsen war, außer daß diese Mädchen richtig hartgesotten waren, nicht nur was ihre Redeweise oder das Kettenrauchen betraf. Ich hatte das Gefühl, daß sie trotz ihrer Jugend „herumgekommen“ waren. Meat Market und Ace blickten dauernd die Straße auf und ab. Zwei Buben, nicht älter als zehn Jahre, kamen herbeigerannt und meldeten Meat Market aufgeregt: „Zwei Bullen unterwegs, Weiße!“ Meat Market erteilte flüsternd Anweisungen, und einige der Jungen verteilten sich rasch auf Hauseingänge zu beiden Seiten der Straße. Die Mädchen befanden sich mit Chip, Little Daddy und Joe oben auf der Vortreppe eines alten Privathauses. Bevor Ace sich verdrückte, zischte er mir zu: „Paß mal auf!“ Die meisten Erwachsenen auf der Straße schienen zu wissen, was passieren würde, sie lächelten einander an, schrien einem singenden Betrunkenen zu, still zu sein, und verstummten. Zwei weiße Polizeibeamte bogen von 80
der Lenox-Avenue in die l28. Straße ein. Sie gingen Schulter an Schulter, die Gummiknüppel fest umklammernd. Entsetzt erkannte ich in dem jüngeren einen ehemaligen Mitschüler meiner Polizeiakademieklasse. Bestimmt erinnerte er sich an mich; wir hatten ein paarmal miteinander geboxt. Aber ich hatte keine Zeit mehr auszuweichen. Geradeaus starrend schritten die Polizeibeamten in Richtung Fifth-Avenue. Aus einem Hauseingang rief ihnen ein Mann zu: „Welchen Jungen werdet ihr heute niederknallen? Gemeines weißes Pack!“ Eine schrille Mädchenstimme schrie: „He, Bleichgesichter, macht ihr nicht in die Hosen?“ Sie wurden Hurensöhne, Schlappschwänze genannt und mit anderen ausgesuchten Namen belegt. Die beiden gingen, unbewegt geradeaus starrend, an mir vorbei. In der Mitte des Blocks landete auf dem Gehsteig vor ihnen eine Papiertüte mit Wasser. Die Mädchen kreischten. Die Polizeibeamten umklammerten die Knüppel fester, und ich sah, wie der Nacken desjenigen, den ich kannte, dunkelrot anlief. Eine leere Flasche zerschellte hinter ihnen, aber sie gingen weiter, erreichten endlich die Fifth-Avenue und bogen um die Ecke. Ich war sprachlos, aber auch ein bißchen stolz, als Neger und als Angehöriger der Polizei. Ich war stolz auf die Zurückhaltung und den Mut meiner Kollegen. Und irgendwie war ich auch stolz auf die Farbigen, die sich gegen das „weiße Establishment“ auflehnten, denn das mußte es sein, was die beiden Polizeibeamten für sie verkörperten. Ich besah mir die Gesichter in nächster Nähe: Die der Jugendlichen waren voll Schadenfreude, die einiger Erwachsenen drückten stumme Mißbilligung aus. Ich selbst 81
befand mich in einem widerwärtigen Zwiespalt der Gefühle. Warum hatten die Polizeibeamten sich das bieten lassen? Ich hätte es nicht hingenommen. Doch ich hatte auch die Spannung auf der Straße wahrgenommen, ich wußte, daß wieder einmal eine ausgewachsene Revolte hätte ausbrechen können, wenn die Polizei versucht hätte, einen der Provokateure festzunehmen. In der Akademie hatte man uns gelehrt, daß es ohne Gesetz wie im Dschungel zuginge. Ich fühlte mich wahrhaftig wie am Rande eines Dschungels, eines Dschungels voll bitteren Wahnsinns und sinnloser Gewalttätigkeit in Erwartung des Zündfunkens. In dieser Sekunde wurde mir die Wichtigkeit meiner Aufgabe bewußt. Ace und die anderen tauchten wieder auf, nun entspannt und aufgekratzt und laut redend. Ace fragte: „Lee, hast du schon mal was Ähnliches erlebt, unten in deinem Kaff?“ „Nein. Passiert das oft?“ Ace lachte. „Mann, das passiert, wann wir wollen! Nach den Krawallen vom vorigen Sommer sind die Bullen ganz klein geworden, wir geben den Ton an, wir sind das Gesetz! Hast ja gesehen, wie die beiden Bleichgesichter gebibbert haben.“ „Farbige Bullen sind da anders?“ „Unsere eigenen Leute lassen wir in Ruhe, aber die sind noch schlimmere Hunde. Eines muß man den Weißen lassen: Wenn nicht schon der Teufel los ist, versuchen sie’s mit Zureden, bevor sie zuschlagen. Ein farbiger Bulle zieht dir erst eins über, dann redet er. Aber sie tun ja nur ihre lausige Pflicht, das wissen wir. Wenn’s mal soweit ist, folgen die auch der Farbe ihrer Haut, müssen sie ja.“ 82
„Wenn was soweit …“, begann ich. Doch Meat Market kam mit großen, lässigen Schritten heran und machte den anderen ein Zeichen, ihm in den Süßwarenladen zu folgen. Ich blieb draußen, noch immer schlotternd und schwitzend: Ein Rudel junger Lümmel hatte zwei Polizeibeamte zum Rückzug gezwungen; etwas, das ich nicht für wahr gehalten hätte, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Ich mußte mich der Bande anschließen, und zwar rasch. Auf dem schnellsten Wege würde es gehen, wenn ich den Anführer bei einer Schlägerei besiegte. Meat Market war mindestens dreizehn Kilo schwerer als ich, aber mit einem Profi konnte er es wohl kaum aufnehmen. Ich betrat den Laden, aber an Meat Market kam ich nicht heran. Er stand, eine Sodawasserflasche in der Hand, an der Theke und sagte lachend: „Wir sollten sammeln und den Weißen neue Unterhosen spendieren!“ Ich betrachtete seine große Hand, als er sein albernes Hütchen abnahm und sich mit dem dicken Arm den Schweiß von der Stirn wischte. Seine Handkante war wie braunes Leder. Karate. Aber das bereitete mir nicht solche Sorgen wie die verdammte Sodawasserflasche in seiner anderen Hand. Ich stand ein paar Minuten da und überlegte, wie ich zum Zug kommen sollte. Helen überquerte die Straße. Ich winkte ihr zu und fragte: „Möchtest du was zu trinken oder ein Eis?“ „Gern. Ein Eis, Lee.“ Ich drängte mich zur Theke vor. Ich hoffte, Meat Market „versehentlich“ anzurempeln, aber er war von drei Mädchen umgeben. Ich verlangte vom Ladenbesitzer, einem wuchtigen Schwarzen mit großem Kopf und 83
Schmerbauch, ein Eis. Er wollte wissen, was für eins, und ich schrie die Frage Helen zu, die antwortete, sie wünsche Schokoladeneis. Der Mann rief mit weichem westindischem Akzent den anderen zu: „Ihr sollt mir nicht immer den Laden blockieren, hier ist kein Versammlungssaal. Trinkt draußen aus, aber bringt die Flaschen zurück.“ Schließlich gab er mir das Eis, und ich zahlte. Ich hielt es hoch über dem Kopf, als ich mich zu Helen durcharbeitete. Meat Market spottete: „He, schaut euch das an, Miss Drahthaar hat einen Dummen gefunden, der ihr Eis kauft!“ Die Mädchen kicherten, Ace grinste. Helen konterte: „Blöd daherreden kann jeder.“ „Werd bloß nicht frech zu mir, Kokoskopf, sonst geht’s dir schlecht“, warnte Meat Market. Ich rieb mir die nassen Hände an der Hose ab. Ohne die Flasche in seiner klobigen Hand aus den Augen zu lassen, sagte ich laut: „Mir gefällt ihr Haar, sie macht eben nicht auf Liz Taylor. Schau dich an: Egal, wieviel Pomade du dir draufschmierst, ein Paul Newman wirst du nie!“ „Mit dir rede ich nicht, Dorfnigger!“ fauchte Meat Market. Ich zerschnitt die plötzlich eingetretene Stille mit: „So lasse ich mich von keinem Scheißkerl nennen!“ Meat Market reichte die Sodawasserflasche dem zunächststehenden Mädchen – zu meiner Erleichterung – und knurrte: „Ich werde dir noch was anderes verpassen, was dir auch nicht gefallen wird, Nigger!“ Ich ging hinaus auf den Gehsteig, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Ich hörte Helen kreischen: „Wartet! Lee 84
ist neu …“, als Meat Market an ihr vorbeistürmte. Er nahm Boxstellung ein, hielt aber die linke Hand flach. Ich tänzelte vor und zurück und maß den Raum aus, den die zusammengeströmten Zuschauer freigelassen hatten. Ich täuschte mit dem linken Fuß. Meat Market fing einen Haken ab und grunzte: „Mann, euch Salonboxer mag ich! Ich …“ Ich trat ihm mit aller Kraft auf die Zehen, steckte einen Hieb ein, der meine Schultern gefühllos machte, zielte mit der Linken auf sein Gesicht, als er sich bückte, um seine Zehen zu betasten, dann rammte ich ihm die Rechte unter den Gürtel. Meat Market sackte auf dem Gehsteig zusammen, Blut trat ihm unter den Augen hervor. Er preßte beide Hände gegen seinen Unterleib. Dong rief: „Du hast ihn gefoult!“ Die anderen im Auge behaltend, sagte ich laut: „Ich kämpfe um den Sieg, nicht nach den Regeln. Er hat verloren. Möchte mich noch jemand einen Nigger nennen oder sich über das Haar einer schwarzen Frau lustig machen?“ Jemand in der Menge äußerte: „Gib’s ihnen, Junge!“ Die Leute begannen auseinanderzugehen, die Spannung wich. Ace und Chip sahen einander an, stellten Meat Market auf die Beine und führten ihn nach Hause. Ich merkte, daß die anderen Burschen mich mit Mißtrauen beobachteten – und mit Hochachtung. Helen stand mit vor Angst weit aufgerissenen Augen am Randstein. Das Eis hatte sie fallen lassen. Ich sagte gelassen: „Ich kaufe dir ein anderes.“ „Lee, ich – ich habe gedacht, dir passiert etwas. Nimm dich in acht, Meat Market ist ein gemeiner Kerl.“ „Meat Market wird erst mal eine Woche oder auch zwei im Bett verbringen. Nett von dir, daß du dir um 85
mich Sorgen machst, aber das ist nicht nötig. Meine Mutter hat keine Schwachköpfe großgezogen. Wart hier.“ Ich stolzierte in den Laden und verlangte zwei Eis. Der Besitzer wies mein Geld zurück. „Das spendiere ich. Ich mag von niemandem das Wort Nigger hören, egal, was für eine Hautfarbe der Mann hat.“ „Nehmen Sie das Geld, Mister. Wenn ich mal einen Gefallen brauche, werde ich Sie drum ersuchen“, entgegnete ich und hoffte dabei, daß ich das großkotzige Getue nicht allzusehr übertrieb. Draußen auf dem Gehsteig reichte ich Helen das Eis. „Möchtest du ein bißchen Spazierengehen, frische Luft schnappen?“ „Okay. Aber in einer halben Stunde muß ich zurück sein. Mama will eine Nachbarin besuchen, wegen einer Kirchenveranstaltung, und ich hab’s nicht gern, wenn Louise allein ist.“ Wir schlenderten zur Lenox und dann zur SeventhAvenue, wo es ein wenig kühler war. Ich hatte den Anfang gemacht, nun mußte ich warten, was sich daraus entwickeln würde. Ich hatte Meat Market absichtlich einen Tiefschlag versetzt, um ihn für eine Zeitlang außer Kurs zu setzen. Unwillkürlich ergriff ich Helens Hand. Sie entriß sie mir. „Ich habe dir gesagt, das ist nicht drin!“ Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Reg dich ab, ich tu’ dir nichts. Hast du einen SexKomplex, oder was?“ „Und ob ich einen Komplex habe! Ich will ’raus aus Harlem! Ich habe das alles so satt … Von Menschen erdrückt, kein Geld, keine Arbeit, dazu diese dauernden Gewalttätigkeiten. Glaub ja nicht, daß mich dein Sieg über Meat Market beeindruckt hat. Das war kindisch. Soll er 86
doch über mein Haar reden, Worte tun nicht sehr weh. Aber die Leute können ja nicht mal mehr reden, ohne verletzt oder getötet zu werden. Ich muß mich um Mama und Louise und Ace kümmern, ich kann mich nicht auch noch um dich kümmern. Ich habe das Gefühl, als könnte ich nie von diesem besch … von diesem Zeug los!“ „Helen, die 128. Straße ist nicht die Welt.“ „Sie ist meine Welt, und sie macht mich wahnsinnig! In der Schule sollte ich einer Gruppe von Atombombengegnern beitreten. Ich hatte keine Zeit dazu, aber wenn ich mal richtig niedergebügelt bin, dann wünsche ich, sie sollen die verdammte Bombe abwerfen und dieses verrückte Durcheinander ausradieren. Wenn wir alle ganz neu anfangen, bringen wir vielleicht etwas Besseres zustande. – Mein Gott, ich hasse Gewalttaten, und da rufe ich nach der größten Gewalttat von allen!“ Wir überquerten die Seventh-Avenue und gingen auf einen Spielplatz, setzten uns auf eine Bank und aßen schweigend das Eis auf. Dann sagte ich: „Diese Bande, der Ace angehört … Deine Mutter hat etwas von Politik fallenlassen, was bedeutet das?“ Helen stand auf. „Ich bin zu nervös zum Sitzen. Gehen wir weiter.“ „Von mir aus. Was soll das mit der Politik? Macht Ace auf radikal?“ „Ach, Mama ist in mancher Hinsicht beschränkt. Jede Organisation außer der Kirche ist für sie Politik. Ace ist zu dumm, der ist weder radikal, noch gehört er einer Bande an. Das ist bloß eine Horde von Jungen mit großen Ideen. Und das ist besser, als gar keine Ideen zu haben. Lee, hast du mal eine Reise gemacht?“ „Nur von Delaware bis hierher.“ 87
„Das ist auch so ein Traum von mir. Manchmal, wenn im ‚Roosevelt‘-Kino ein französischer oder italienischer Film gespielt wird und ich Geld habe, gehe ich zeitig hin und bleibe den ganzen Tag dort. Dann bilde ich mir ein, daß ich in Paris oder in Rom bin. Auch wenn ich den Film nicht verstehe, schaue ich ihn mir immer wieder an, ich höre der fremden Sprache zu, ich fühle mich dazugehörig. Natürlich kommt mir dann die 128. Straße noch schlimmer vor, als sie ist.“ Wir hatten die 131. Straße erreicht. Ich deutete in Richtung auf ein Eckcafé mit strahlenden Neonlichtern. „Vor einem Monat oder so habe ich in der Zeitung gelesen, daß eine weiße Sozialfürsorgerin erstochen worden ist, ganz grundlos, als sie mit einem Farbigen ein Cafe verlassen hat. Ich glaube, das ist das Cafe.“ Helen nickte. „Ich hab’s auch gelesen. Das meine ich eben; wir sind von Gewalttätigkeiten umgeben. Bandenkriege, die Polizei knüppelt Leute nieder, Betrunkene bringen sich gegenseitig um, Autofahrer lassen Überfahrene liegen. Wir töten Weiße, sie töten uns. Wo soll das aufhören? Ace sagt, soll der Weiße mal eine Kostprobe von dem kriegen, was dem Neger fast jeden Tag passiert. Aber ich weiß nicht, was hat man davon, wenn man immer in der Vergangenheit lebt, den Sezessionskrieg noch einmal führt?“ „Die Weißen werden uns wahrscheinlich erst dann als Menschen respektieren, wenn wir ihnen die Fäuste zeigen. Wir haben lange genug um ein Stückchen Gleichberechtigung gebettelt und gebeten.“ „Jetzt klingst du genau wie Ace.“ Helen zeigte auf eine Schaufensteruhr. „Und jetzt muß ich nach Hause.“ Ich stand da, hielt sie an der Hand und ließ sie nicht weg. Der schwache Lichtschein des Schaufensters verlieh 88
ihrem eigenartigen Gesicht ein wahrhaft exotisches Aussehen. Ihre dunkle Schönheit bestürzte mich. „Was ist los? Was starrst du mich so an?“ „Ganz in Gedanken, Helen. Wenn wieder mal so ein ausländischer Film läuft, dann sagst du’s mir, und wir sehen uns ein paar Stunden lang Rom an. Okay?“ Sie lächelte, zum erstenmal. Wärme überflutete ihr Gesicht. „Fein, wenn wir uns das nötige Visum leisten können. Und jetzt laß meine Hand los. Wir müssen uns beeilen. Ich habe immer Alpträume, daß das Haus brennt, und Louise ist allein daheim. Ich liebe meine Schwester, aber sie ist eine gräßliche Plage.“ Als wir uns in Bewegung setzten, fragte ich: „Wo nimmt Ace seine verrückten Ideen her? Heute abend hat er davon geredet, in Afrika ein Flugzeug zu kaufen.“ Helen zuckte die Achseln. „Was weiß ich? Er liest. Als Malcolm X erschossen wurde und die Muslims sich in die Haare kriegten, habe ich Ace zum erstenmal etwas anderes als die Comicstrips und die Sportseite in der Zeitung lesen sehen. Ich nehme an, daß er den Straßeneckenrednern zuhört.“ „Hörst du ihnen nie zu?“ „Ich habe keine Zeit, Lee, du fragst aber eine Menge!“ „Na ja, ich bin eben frisch vom Land“, sagte ich und hielt fortan den Mund. Als wir „unseren“ Block erreichten, blieb ich zurück, um mein Stück Seife in die Socke zu stecken, aber niemand beachtete uns sonderlich. Einige der Jungen und Mädchen waren von dem Süßwarenladen auf die Treppe einer Kirche umgezogen und versuchten dort, mehrstimmig einen Schlager zu singen. Als Helen die blechbeschlagene Wohnungstür öffnete, 89
warf mir Mrs. Johnson einen Blick zu und sagte: „Na, wo bleibst du denn so lange, Helen? Jetzt ist es zu spät für einen Besuch bei Schwester …“ Helen schaltete den Fernsehapparat aus und forderte Louise auf, sich zu waschen und fürs Bett fertig zu machen. Dann begleitete sie Mrs. Johnson zur Tür. „Ich habe doch versprochen, daß ich in einer halben Stunde da bin. Geh deine Freundin besuchen und tu nicht so, als wollte Lee mich vergewaltigen. Geh nur, Mama, wird dir guttun. Wirklich.“ „Also schön. Ich bleibe aber nicht lange aus. Sorg dafür, daß Louise gleich ins Bett geht.“ Als ihre Mutter fort war, sagte Helen zu mir: „Ich gehe schlafen, aber du kannst fernsehen, wenn du willst.“ „Ich bin auch ziemlich erledigt. Gute Nacht, Helen.“ Ich ging in mein Zimmer und knipste das Licht an; die Buchstaben an der Wand ließen mich zusammenzucken. Das Fenster zum Luftschacht stand sperrangelweit offen, aber nicht der kleinste Lufthauch schien in den heißen Raum einzudringen. Ich war froh, daß ich mir die Trainingsanzugbluse ausziehen, mein Haar reiben konnte – die verrückte Matrosenmütze hatte den ganzen Abend lang schweißtreibend gewirkt. Ich untersuchte die Schulter, auf die Meat Market eingeschlagen hatte. Sie war nicht sehr geschwollen. Nur mit der Hose bekleidet, ging ich ins Bad. Ich spürte, daß Helen mich durch die rissige Tür beobachtete. Als ich herauskam, lümmelte Ace auf der Couch. „Mama hat mich ’rauf geschickt, sie traut dir nicht mit Helen. Weiber verstehen angeblich was davon, aber sie merkt nicht, daß Helen ein Eiszapfen ist, eine … Lee, du hast aber Muskeln! Siehst älter aus ohne Hemd.“ „Ich habe in der Schule ein bißchen Rugby gespielt, und das Kleiderständerschieben hält einen in Form“, 90
erklärte ich, ging ins Schlafzimmer, behielt nur die Shorts an und legte mich auf das weiche Bett. Gleich darauf knipste Ace die Wohnzimmerbeleuchtung aus und ging aufs Klo, dann kam er herein und zog sich rasch aus. Er war Haut und Knochen, wog vermutlich nicht mehr als fünfundfünfzig Kilo. Er hatte eine gezackte Narbe auf der linken Schulter. Er ließ die Tür offen, machte das Licht aus und streckte sich im Dunkeln neben mir aus. Ich fragte: „Was ist mit deiner Schulter passiert?“ „Och, so vor zwei Jahren komme ich mal an einer Wohnung vorbei, ebenerdig, das Fenster ist offen. Ich schmeiße eine leere Flasche hinein, und irgendein Trottel feuert sie wieder heraus. Hat mir fast den Arm abgehauen.“ „Warum hast du sie hineingeworfen?“ „Keine Ahnung. Wozu hatte er das Fenster offen? Lee, du hast schnelle Hände, kannst aber von Glück reden, daß Meat Market eins unter den Gürtel gekriegt hat, auch wenn das gemein war. Mann, der hat einen Judoschlag, der hätte dich in zwei Stücke spalten können.“ „Gemein? Das war ja kein Sparring, das war Kampf, und da gilt nur ein Gesetz – gewinnen. Du solltest mit Hanteln trainieren, bißchen Gewicht ansetzen.“ „Mann, ich bin so dünn, weil ich jetzt jeden Morgen trainiere, dieses Karate und Judo. Wir suchen uns ein Dach aus und üben. Voriges Jahr bei den Krawallen haben die Bullen alles gejagt, was Beine hatte. Mit Karate ist das so: Man verliert die Angst vor der Polizei. Wie die beiden, die wir heute abend gesehen haben. Eine falsche Bewegung von denen, und peng-peng hätten wir sie niedergemäht. Karate ist in Ordnung. Eine Knarre oder ein Messer kann man fallen lassen, aber die eigenen Pfoten vergißt man nirgends.“ 91
„Ja. Wer ist ‚wir‘?“ „Ein paar von uns. Wir trainieren und erfahren außerdem allerhand. Nimm zum Beispiel Jesus, der ist ein weißer Gott, aber Allah, der ist für alle Farbigen auf der ganzen Welt da.“ „Ace, bist du ein Black Muslim?“ Er lachte in der Dunkelheit. „Ach wo. Die sind zu brav. Die reden geschwollen und tun nichts. Auch Malcolm hat immer nur geredet und geredet, bevor man ihn erschossen hat. Der ganze Kram von wegen nicht rauchen, nicht trinken und keine Weiber! Was hat denn das mit dem Kampf gegen die Weißen zu tun? Klar, wir sind auch enthaltsam, weil wir eine Kommandoeinheit sind, aber diese Muslims wissen ja gar nicht, was sie predigen. Im Koran steht: ‚Die Weiber sind euer Acker, geht auf euren Acker, wie und wann ihr wollt.‘ Das habe ich auswendig gelernt! Und es bedeutet, tob dich aus, sooft du kannst.“ „Klingt prima. Hast du diesen Koran gelesen?“ „Nein. Aber unser General kennt sich da genau aus, und …“ „Was für ein General?“ Ace drehte sich um. „Verdammt noch mal, was gäbe ich nicht für eine Klimaanlage oder wenigstens für einen Ventilator!“ „Ist Meat Market euer General?“ „Der? Nein.“ „Wer ist dieser General?“ „Lee, wieso bist du so neugierig? Ich möchte schlafen.“ „Ace, nach dem, was ich heute abend gesehen habe – Mann, ich möchte bei euch mitmachen. Mich haben die Weißen nicht zum Gesandten ernannt, mich haben sie 92
überhaupt nicht gut behandelt. Das heißt, ich möchte beitreten, wenn ihr wirklich was auf dem Kasten habt. Mit Großsprechern will ich allerdings nichts zu tun haben.“ Ich hoffte, ihn auf diese Weise aufzustacheln. „Wir haben schon was auf dem Kasten. Hast du gesehen, was wir heute abend mit den Bullen getrieben haben? Das ist noch gar nichts. Wir werden die Weißen durch die Straßen treiben, bis sie winseln. Hast du die blöden Lampen im Wohnzimmer bemerkt?“ „Ja.“ „Da war mal ein Makkaroni, der hat sie Ma angedreht. Jede zweite Woche ist er seine lausigen Dollars kassieren gekommen, und wenn alles bezahlt war, hat er ihr was Neues verkauft. Wir haben den Kerl so oft vermöbelt, daß die Firma jetzt einen von unseren Leuten herschickt, mit dem gleichen Mist.“ „Schöner Quatsch. Ich habe gedacht, ihr habt was Großes vor.“ „Was Großes? Mann, wir werden es allen zeigen! Unser General sagt, in der militärischen Taktik verstecken sich Rebellen in den Bergen, machen Überraschungsangriffe und verschwinden. Unsere Berge sind die Mietshäuser, wir wissen über alle leerstehenden Häuser Bescheid, von wo aus wir angreifen können. Wir kriegen Geld, kaufen uns Kanonen, dann dieses Flugzeug. Wenn wir erst einmal losschlagen, uns als richtige Kommandos bewähren, dann borgen uns die jungen afrikanischen Nationen Waffen. Dann stürmen wir den Süden und befreien dort unsere schwarzen Brüder. Mann, wir treiben die Weißen direkt in den Ozean!“ „Ihr habt Verbindung mit afrikanischen Staaten?“ „Noch nicht, aber wenn wir erst mal anfangen, werden sie uns helfen.“ 93
„Ace, hast du den Verstand verloren? Diese neuen afrikanischen Staaten sind bettelarm, sie können niemandem helfen und würden keinen Krieg mit den USA riskieren.“ Ich wunderte mich, daß ich auf so einen Unsinn überhaupt einging. „Das meinst du! Lee, wenn du ihn hören könntest, wenn er davon spricht, wenn du die glühend roten Augen sehen könntest, und wie er sich bewegt, o Mann, dann weißt du, daß es so ist!“ „Glühend rote Augen! Du spinnst wohl, Ace.“ Ace dreht sich um und schwieg. Nach einer Weile versuchte ich zu lachen. „Wahrscheinlich speit er auch Feuer, zu den Augen passend.“ „Laß nur, ich habe dich bloß veräppelt.“ „Wie ist das, kann ich nun mitmachen?“ „Das liegt nicht an mir, Lee. Vielleicht könntest du. Aber gerade jetzt haben wir einen großen Schlag geplant, und aus Sicherheitsgründen nehmen wir niemanden auf bis nach diesem Schlag.“ „Was ist ein Schlag?“ „Lee, du bist wirklich vom Land! ‚Schlag‘ bedeutet einen Weißen umlegen.“ „Du meinst, einen töten?“ „Das bleibt dem überlassen, der den Schlag durchführt, aber ein Anwärter muß einen Schlag durchführen, bevor wir ihn aufnehmen. Meistens geht’s dabei um eine Abreibung oder eine Messerstecherei, aber er muß bereit sein zu töten.“ Ich tat beeindruckt, als ich fragte: „Im Ernst? Schon mal jemanden umgebracht?“ „Nein.“ „Du willst mir einreden, daß ein paar von den anderen schon Weiße umgebracht haben?“ 94
„Ich will dir gar nichts einreden. Sie machen uns verantwortlich für jeden … Lassen wir das.“ „Du hast die ganze Zeit nur angegeben.“ „Glaubst du? Wenn wir diese Aktion in der City machen, stehen wir in allen Zeitungen auf der ersten Seite, und von der Beute kaufen wir uns Gewehre, Maschinengewehre! Hinterher, wenn du dich anständig benimmst, fordere ich dich an.“ „Ace, gibt es denn keine Möglichkeit, daß ich gleich aufgenommen werde, damit ich an dem Schlag teilnehmen kann?“ „Nein, Mann, wir sind zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Der Schlag ist eigentlich meine Idee. Gelingt er, macht mich der General zum Regimentskommandeur. Dann kriege ich dich leicht herein. Mann, wenn wir das Flugzeug bekommen, werde ich es fliegen!“ Ich wälzte mich hin und her, starrte in die Dunkelheit, versuchte nachzudenken. „Ace, wann soll der Schlag losgehen? Zum Teufel, ich kann nicht mein Leben lang warten! Habt ihr einen Namen? Wie nennt ihr euch?“ Sein regelmäßiger Atem gab mir Antwort.
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Ich hatte einen guten Posten an der Schmiedepresse. Die Bezahlung war prima. Der Nachteil war bloß, daß die Fabrik am Arsch der Welt in Brooklyn ist. Die Arbeit beginnt um sechs Uhr früh, ich muß also um vier Uhr von zu Hause weg und mit der U-Bahn nach Brooklyn fahren, wo ich in den GG-Zug umsteige. Da haben wir also 4.30 Uhr, ich lese die Zeitung und warte auf den GG, der sich noch nie beeilt hat. Auf dem stillen Bahnsteig sind noch zwei Weiße, wir lesen alle die Zeitung und schlafen noch halb. Wir sehen einander beinahe jeden Morgen, beim Warten auf den GG. Da kommt so ein Kerl, und wie es das Pech so will, ist er ein Farbiger. Eine Type, einfach sagenhaft. Vielleicht hat er Rauschgift genommen, und wenn ja, dann bestimmt irgendeinen Eigenbau. Er ist groß, sein schwarzes Gesicht hat einen unnatürlichen Stich ins Rote, sein Haar ist verfilzt, und er ist in einem alten schwarzen Regenumhang eingewickelt. Wahrscheinlich hatte er darunter nichts an, weil seine dünnen Beine nackt waren, und an einem Fuß hat er einen Stiefel und am anderen einen Tennisschuh. Seine Hände waren wie schmutzige Klauen, und er hält ein Brecheisen. Direkt auf dem U-Bahnsteig fängt er an, mit dem Brecheisen einen Kaugummiautomaten zu bearbeiten, will an die Pennys ’ran! Der macht vielleicht einen Krach! Ich kriege es langsam mit der Angst zu tun. Die beiden Weißen lesen angestrengt in der Zeitung, als wäre gar kein Krach zu hören. Alle paar Minuten schaut der Kerl mit seinen Triefaugen zu uns herüber, was wir wohl machen werden. Die Weißen lesen weiter. Ich schwitze. Schließlich stehe ich auf, ganz lässig, und gehe hinaus. Dem Mann am Münzwechselschalter sage ich, daß jemand einen Automaten aufbricht, man kann den Lärm ja bis oben am Eingang hören. Dann bin ich die drei 96
Meilen zur Fabrik zu Fuß gegangen; in dieser Gegend von Brooklyn hat man noch nie was von Taxis vernommen. Ich bin fünfundvierzig Minuten zu spät zur Arbeit gekommen, und der Chef hat mich hinausgeschmissen. Aber ich wäre nie auf dem U-Bahnsteig geblieben. Ich nicht. Ich habe gewußt, wenn die Polizei kommt, nimmt sie jeden mit, der ein schwarzes Gesicht hat, mich auch.
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Samstag
Ein eigenartiges dumpfes Geräusch weckte mich. Ace saß auf seiner Seite des Bettes und schlug mit den Handkanten in die Sandschachtel. Radiomusik klang durch den Luftschacht. Eine Weile beobachtete ich Ace, der sich konzentriert der Härtung seiner Hände widmete. Ich streckte mich, und mein Blick fiel auf die Schrift an der Wand. Aus der Küche hörte ich Helen. „Scheiße, Mama, schon wieder kein Wasser!“ „Fließt das kalte?“ „Überhaupt keins!“ „Nimm den Eimer und geh vor zu den Thompsons. Kann sein, nur die hinteren Rohre sind kaputt, wie das letztemal. Louise, zieh dich an. Du sollst doch nicht im Nachthemd herumsitzen, jetzt, wo wir einen Untermieter haben.“ „Mami, wie kann ich mich waschen, wenn kein Wasser fließt?“ „Zieh dich an und frag nicht so viel!“ Kaum zu glauben, daß ich wach war. Wieder ein stickiger Tag; die Sonne färbte den Luftschacht mattgrau. Ich besah mir Aces Rücken, die sich bewegenden dünnen Muskeln und versuchte mir schlüssig zu werden, ob ich einen dummen Jungen oder ein echtes Ungeheuer vor mir hatte. Als Kind hatte ich natürlich davon geträumt, zum Mars zu fliegen; Zukunftsromane waren meine Lieblingslektüre gewesen. Aber war dies hier das gleiche? Ich fragte: „Machst du dich fit für General ‚Glühendes Auge?“ Ace zuckte zusammen; beinahe hätte er den Sand verschüttet. Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Du träumst wohl, Mann? Was für ein glühendes Auge?“ 98
„Du hast doch gestern davon geredet. Irgend so einen Mist von deinem General mit den feuersprühenden Augen.“ „Och, das war nur Gequatsche. Ich wollte dich aufziehen. Und du bist darauf hereingefallen.“ Er wandte sich mir zu. „Laß bloß hier in der Gegend nichts davon hören, sonst halten dich die Leute für übergeschnappt.“ „Vergiß nicht, wegen meinem Beitritt zu fragen.“ Ace gab keine Antwort, er starrte mich bloß unsicher an. Ich versuchte es mit einer anderen Taktik: „Oder soll ich lieber Chip oder Dong darum angehen?“ „Lee, halt dein blödes Maul! Du kannst mich in Schwierigkeiten bringen. Ich … Das mit dem General und so war nur Angabe, aber wir haben einen Klub. Wenn die Zeit reif ist, frage ich, ob du beitreten kannst.“ „Vor diesem großen Schlag?“ „Mann, quassel weiter so, und du kommst nie hinein!“ Er wandte sich wieder der Sandschachtel zu. Ich stand auf, warf einen Schuh nach einer großen Schabe, die über den Fußboden flitzte, verfehlte sie aber. Ich hörte Helen zurückkommen. Mrs. Johnson sagte: „Gib mir Wasser für den Kaffee, gieß Louise Waschwasser ins Becken, spül das Klo und hol noch einen Eimer.“ „Mr. Thompson war es nicht recht, daß ich ihn geweckt habe.“ Ich schlüpfte in Hose, Socken und Schuhe, nahm Handtuch und Zahnbürste und machte mich ins Bad auf. Helen, in einem alten Morgenrock, schleppte einen Eimer Wasser in die Küche. Als ich ihn ihr abnahm, sagte Mrs. Johnson: „Ich mag es nicht, wenn du halbnackt hier herumläufst, Lee, und mit deinen Muskeln protzt.“ 99
Sie hatte dasselbe alte Kleid an, das sie gestern getragen hatte. Das dicke Bein war mit einer neuen Elastikbinde bandagiert. „Aber Mama, er hat doch Hosen an. Am Strand sieht man Männer, die weniger tragen.“ Helen faßte sich ans Haar und lächelte mir zu. „Guten Morgen, Lee.“ „Hier ist aber kein Strand. Louise ist im Bad. Lee, möchtest du einen Schluck Kaffee?“ „Ja, gern.“ Mrs. Johnson schüttelte den Kopf. „Also, ich verstehe euch junge Leute nicht. Du hast gute Manieren, aber gleich am ersten Abend auf der Straße läßt du dich in eine Rauferei ein, wie ich hörte.“ „Ich habe nicht damit angefangen.“ Ich betastete mir die Schulter, die Meat Market malträtiert hatte, dann machte ich ein paar Boxbewegungen. Helen und ihre Mutter sahen mir zu. Louise kam, nur mit einem Höschen bekleidet, aus dem Bad gerannt und winkte mir zu, als sie in ihr Zimmer lief – Mrs. Johnson hinterdrein. Ich wusch mich und spülte die Toilette mit dem restlichen Wasser aus dem Eimer. Als ich herauskam, wartete Ace bereits, und Helen kämmte Louises Haar. Ich erbot mich, einen weiteren Eimer Wasser zu holen. „Laß das Ace machen“, sagte Mrs. Johnson. „Du kennst die Thompsons nicht. Der Kaffee ist gleich fertig. Von deiner Milch ist noch was übriggeblieben, Lee.“ Als ich mir in meinem Zimmer die Trainingsanzugbluse überstreifte, hörte ich Ace draußen auf dem Gang. „Was regen Sie sich wegen ein paar Eimern Wasser auf? Ja, ich weiß, daß es halb neun ist und daß Sie die Nacht durchgearbeitet und sich eben erst schlafen gelegt 100
haben, aber wenn wir mal gewaschen sind, belästigen wir Sie nicht mehr, Mr. Thompson.“ Ich begab mich wieder in die enge Küche, schaute zum Fenster hinaus auf den betonierten, mit Unrat übersäten Hinterhof. Als Mrs. Johnson meldete, der Kaffee werde in fünf Minuten fertig sein, sagte ich, ich wolle mir eine Zeitung holen. Auf der leeren Straße war es kühler. Der fette Hausverwalter fegte den Schmutz vom Gehsteig auf die Fahrbahn; ein Vergehen. Er winkte mir zu; sein goldener, in der Sonne funkelnder Ohrring, die dunkle Brille, der rote Fez über seinem breiten Gesicht, der breite Gürtel, der sich anstrengte, seinen Bauch zusammenzuhalten – all das ergab das Bild eines Clowns. Er sagte etwas in einer fremden Sprache. „Was war das?“ „Ich habe auf arabisch zu dir gesagt: ‚Friede sei mir dir unter Allah‘“, verkündete er dröhnend. „Wird Allah das Wasser bald laufen lassen?“ Er entblößte grinsend seine sehr weißen, vorstehenden Zähne. Beim genaueren Hinsehen merkte man, daß er keine Brauen hatte, aber seinen Kopf umgab ein Mönchsring dunklen Haares, und schütterer Flaum sproß auf seinem runden Kinn. „So ein Wunder könnte sogar Allahs Macht überfordern. Der Kessel hat nämlich mehr Flicken als die Hose eines armen Mannes. Ich habe bereits telefoniert. Vielleicht kommen sie heute oder aber auch nicht vor Montag. Wenn dies nicht Harlem wäre, kämen sie sofort.“ Ich tat, als ob mich die Sonne blendete, und fragte: „Ist so eine Sonnenbrille teuer?“ Auch Clowns mußten überprüft werden. „Hat mich ganz schönes Geld gekostet. Ich habe sie mir verschreiben lassen.“ 101
„So? Darf ich sie ausprobieren?“ Er reichte mir die Brille. Seine Augen waren nicht im entferntesten rot oder purpurn. Ich hielt mir die Gläser vor die Augen, gab sie ihm zurück und bemerkte, ich würde mir eine Sonnenbrille kaufen, sobald ich zu Geld käme. Der Hausverwalter streckte mir die klobige Hand entgegen. „Ich heiße Solmen.“ „Lee Hayes.“ Ich drückte ihm die Hand. Dann ging ich über die Straße zum Süßwarenladen und kaufte eine Zeitung. In einer Lebensmittelhandlung erstand ich eine Tüte Orangensaft. In der Küche war bereits für mich gedeckt: Kaffee, Milch, Brot und Marmelade. Ich goß Orangensaft in ein Glas und brachte es Louise, die im Wohnzimmer bereits vor dem Fernsehgerät hockte. „Trink das, das macht gescheit.“ Sie kicherte, und Mrs. Johnson rief aus meinem Zimmer, wo sie das Bett machte, herüber: „Du sollst dein Geld nicht für uns ausgeben, Lee!“ Ich trank Kaffee und Saft, las die Zeitung. Ace nahm auch vom Saft. „Mann, wir leben wie die Fürsten, was? Hast du auch eine Zigarette, Lee?“ „Ich bin Nichtraucher.“ „Richtig, ich habe dich noch nie mit Glimmstengel gesehen. Ich versuche es mir auch abzugewöhnen, aber das ist hart.“ Helen kam in einem netten, blau gepunkteten Kleid aus dem Schlafzimmer. Mrs. Johnson fragte: „Warum trägst du dein gutes Kleid, Kind?“ 102
„Das ist nicht mein gutes Kleid“, antwortete Helen verlegen. „Ich wollte heute waschen, aber da es kein Wasser gibt … Meine anderen Sachen sind schmutzig.“ Ace borgte sich die Zeitung und setzte sich ins Wohnzimmer, nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte. Helen nahm mir gegenüber Platz, und ich schenkte ihr den restlichen Orangensaft ein. Sie sagte: „Da bleibt ja nichts für morgen übrig, Lee.“ „An Orangen herrscht auf der Welt keine Knappheit, aber an Wasser … Mr. Solmen weiß nicht genau, wann das Wasser wieder fließen wird.“ Im Wohnzimmer jammerte Ace: „Verdammt noch mal, ich muß mich duschen, wenn ich vom Training komme!“ „Vielleicht gibt’s am Nachmittag wieder Wasser“, sagte ich. „Ich habe um halb zehn Training. Ich werde Chips Bad benützen.“ Ich setzte die alberne Matrosenmütze auf, verkündete, ich ginge jetzt hinaus, und fügte hinzu: „Vielleicht mache ich einen Sprung hinunter zum Arbeitsamt, ob sich nicht etwas für mich findet.“ „Am Samstag?“ fragte Helen. „Man kann nie wissen“, meinte ich sinnig und ging. Ich wartete vor der alten Bar an der Ecke der LenoxAvenue und betrachtete Männer und Frauen, die ihren Wocheneinkauf tätigten. Nach etwa zwanzig Minuten sah ich Ace aus dem Haus kommen und die Richtung zur Fifth-Avenue einschlagen. Er holte Chip und Little Daddy ab, dann betraten sie alle drei eine der besonders wüst aussehenden Mietskasernen. Nach einer Wartepause von einigen Minuten schlenderte ich den Block entlang und in den dunklen Hauseingang. Ich 103
durchstreifte das Gebäude vom Keller bis zum Dachboden, ohne etwas zu hören, das wie eine Judoklasse klang. Es war mir unbegreiflich, wohin sie verschwunden waren. Eine Wohnung, selbst eine leere, wäre als Übungsraum zu klein gewesen, außerdem hätte ich schon draußen auf dem Flur Geräusche hören müssen. Eilends klapperte ich alle Häuser auf dieser Straßenseite, mit Ausnahme des unsrigen, vom Keller bis zum Dach ab. In einem Haus schrie mich eine Frau an, die auf dem Dach Wäsche aufhängte. „Dich habe ich hier noch nie gesehen! Du willst meine Kleider stehlen!“ Und sie verscheuchte mich mit einem leeren Eimer. Obwohl es unmöglich schien, daß sie die Straße überquert hatten, durchforschte ich auch die Häuser auf der gegenüberliegenden Seite der Fahrbahn, mit Ausnahme der besseren Appartementhäuser, deren Türen abgesperrt waren. Auf einem Dach nahe bei der Fifth-Avenue sah ich einen schwarzen Riesen, der eine schwere Hantel stemmte. Er trug lediglich einen Lendenschurz; sein glänzender Körper strotzte vor Muskeln, um den Kopf hatte er ein Tuch gewunden, ein langer, zottiger Schnurrbart rahmte seinen wulstigen Mund ein, dunkle Augengläser verliehen seinem schwitzenden Gesicht einen finsteren Ausdruck. Er war gut, er stemmte annähernd neunzig Kilo, fast sein Körpergewicht. Er setzte die Hantel sacht ab und ging übers Dach, dabei laut durch die Nase schnaubend. Als er mich an der Tür zum Dach erblickte, fuhr er mich an: „Was machst du hier oben?“ „Ich suche einen Freund. Mann, haben Sie eine Figur! Wieviel können Sie heben?“ Er kam, die Arme vorgestreckt, langsam auf mich zu 104
und warf sich in Positur. Er war unter dreißig und ein verteufelt kräftiger Kerl. „Ich mag es nicht, wenn man mir zuschaut. Bist du neu in der Gegend?“ Ich nickte. „Daß du mir nie wieder herkommst! Sonst reiße ich dich in Stücke.“ „Schon gut, wie Sie wollen.“ Er blieb ein, paar Schritte vor mir stehen und starrte mich durch die dunklen Brillengläser prüfend an. Dann glitt ein fast schüchternes Lächeln über sein Gesicht. „Verzieh dich, Junge.“ Ich ging die Treppe hinunter und zu unserem Haus hinüber und stieg aufs Dach. Ich zog die feuchte Trainingsanzugbluse aus und legte die Mütze ab; die Sonne tat meinem verschwitzten Körper wohl. Ich konnte die Dächer der meisten Häuser überblicken, einschließlich derjenigen in der 127. Straße mit den alten Fernsehantennen und den Wäscheleinen. Ich sah die Frau, die mich verjagt hatte, ich sah Kopf und Schultern des Muskelmannes. Ich wußte zwar noch immer nicht, wie Ace mir entwischt war oder ob er gemerkt hatte, daß ich ihn beschatten wollte, aber das bekümmerte mich nicht allzusehr. Auf dem Dach war es sonnig und friedlich. Ein Lastwagen hielt vor dem Haus, und ich schaute auf zwei Weiße nieder, die Kabel ins Kellergeschoß zogen. Ich sah Solmen herauskommen und mit den „Kesselflickern“ sprechen; der lächerliche rote Fez machte seinen Kopf vom Dach aus zur Zielscheibe. Auf der anderen Straßenseite parkte ein langer, glänzender schwarzer Lincoln vor dem kleinen Appartementhaus mit der abgesperrten Eingangstür. Ein großer Mann mit breiten, hängenden Schultern trat heraus. Sein blauer 105
Anzug und der Hotte Strohhut wirkten selbst auf die Entfernung eindrucksvoll. Er blickte kurz am Haus empor, und ich bemerkte überrascht, daß er ein bißchen O-beinig war. Er bückte sich tief, als er die Treppe ins Souterrain hinunterstieg. Minuten später erschien er wieder und fuhr davon. Ich fragte mich, was Leutnant Davis hier zu suchen hatte. Ein Lincoln? Er war mehr der ThunderbirdTyp. Ich schaute kleinen Mädchen unten beim Seilhüpfen zu. Die Sonne schien so warm, daß ich mich nur mit Mühe wach halten konnte. Eine füllige Frau in engen Hosen und roter Perücke kam aus dem Haus, das Leutnant Davis besucht hatte, blieb vor der Tür stehen und nahm von einigen Leuten Geld entgegen. Ab und zu verschwand sie im Haus oder in einem Eingang auf der anderen Straßenseite. Ein kleiner Mann in weißem Polohemd und eleganter Flanellhose klapperte eilfertig den Block in Richtung LenoxAvenue ab; die Fifth-Avenue war für meinen Blickwinkel zu weit entfernt. Die beiden nahmen so unverhohlen Einsätze fürs verbotene Zahlenlotto ein, daß die Polizei davon wissen mußte. Ich fragte mich flüchtig, wie hoch die Gewinnausschüttung sein mochte. Kinder wachsen kaum zu gesetzestreuen Bürgern auf, wenn sie sehen, daß das Gesetz so offen übertreten wird. An der Ecke Lenox-Avenue sah ich einige Schnapsbrüder herumtorkeln und Geld für den Erwerb einer Flasche zusammenlegen. Ich fühlte mich wie ein benommener und müßiger Zuschauer – als könnte ich mein ganzes Leben damit zubringen, von diesem Dach zu blicken. Ich nickte ein und erwachte erst nach einiger Zeit. Beim Anblick von Mary Presenti, die in die Straße einbog, wurde ich schlagartig hellwach. Sie sah kühl aus 106
und sehr „weiß“ in ihrem Leinenkostüm, zu dem sie eine große schwarze Handtasche trug. Als ich zur Treppe stürzte, meine Bluse überstreifte und die blaue Matrosenmütze aufsetzte, konnte ich beinahe verstehen, daß ein Mensch imstande war, seine Jugend, sogar sein ganzes Leben auf der Veranda zu verträumen, hypnotisiert von der „Straße“, der Bewegung anderer. Ich setzte mich auf die Vortreppe des Hauses und zog die Mütze über die Augen. Mary ging langsam auf der anderen Straßenseite, sah die Hausnummern an, dann eine Karte in ihrer Hand. Schließlich betrat sie ein Mietshaus neben dem Süßwarenladen. „Sozialfürsorgerin, rieche ich schon auf eine Meile.“ Die Worte ertönten wie aus dem Nichts, und als ich mich umdrehte, sah ich Mr. Solmen auf der Souterraintreppe stehen. Sonnenbrille und Mondgesicht befanden sich auf gleicher Höhe mit dem Gehsteig, die schwarze Quaste seines Fez streifte fast die vom Reparaturwagen ins Haus führenden Kabel. Es war erstaunlich, daß ein Faß wie er sich so lautlos bewegen konnte. „Meinen Sie?“ „Ich bin hier schon ewig Hausverwalter, habe zu viele von denen gesehen. Der weiße Mann glaubt, er ist klug. Zuerst sperrt er uns ins Ghetto ein, dann schickt er uns seine eigenen Leute, damit sie uns helfen. Harlem ist eine Kolonie, und die City, das ‚weiße Mutterland‘, zapft allen Reichtum ab, dann schicken sie ihre Leute zum Herrschen und Nachschauen, wo etwas ‚fehlt‘. Der USAWeiße erkennt nicht, daß die Tage der Kolonien vorbei sind. Er leidet an seinem eigenen Fluch: Zu früh dumm, zu spät gescheit.“ „Ich habe noch nicht bemerkt, daß der Weiße an irgend etwas besonders leidet.“ 107
„Verzag nicht, Junge, unser Tag steigt herauf, der Zug der Geschichte bewegt sich mit Düsengeschwindigkeit.“ Überrascht warf ich Solmen einen Blick zu. „Der Zug der Geschichte“ ist eine Phrase, die Lenin verwendet hat. Ich sagte: „Ich sehe hier nichts, was sich bewegt.“ Falls Mary nicht innerhalb von fünf Minuten herauskam, wollte ich hinübergehen und nachsehen. „Richtig, wir sind die letzten, die sich rühren, zu unserer eigenen Schande. Wir hatten die Chance, nach dem Sezessionskrieg den weißen Mann abzuschütteln, aber wir haben unsere Seele verkauft für vierzig Acres und ein Maultier, was wir sowieso nie bekommen haben. Unser Unglück ist, daß unser Blutserbe geschwächt worden ist durch die Vergewaltigungen an unseren Frauen. Man sieht nicht viele reinrassige Schwarze wie dich und mich. Wir sind der Grundstoff. Es ist eine wissenschaftliche Tatsache: Man kann alle Farben mischen und in etwas anderes verwandeln, außer in Schwarz. Das beweist unsere Stärke. Der Farbige ist auf Erden in der Mehrzahl und wird zu seinem Recht kommen. Aber von allen Farbigen, den Gelben, den Braunen, den Roten, haben wir Schwarze die kräftigste Farbe!“ „So habe ich es noch nie gesehen. Wer ist dieses ‚wir‘? Sind Sie einer von den Muslims?“ „Das ‚wir‘ sind diese.“ Er hielt seine massigen Hände hoch. „Alle schwarzen Hände auf der Welt. Die Muslims, die schauen nach Afrika. Selbstverständlich werde ich mit meinem afrikanischen Bruder zusammenarbeiten und erwarten, daß er mit mir zusammenarbeitet, aber für mich gibt es kein ‚Zurück nach Afrika‘. Dies hier ist mein Land, mit schwarzem Schweiß und schwarzer Muskelkraft aufgebaut. Ich sage, wir verlassen nicht, was wir geschaffen haben!“ 108
Seine Stimme dröhnte wie eine große Trommel. Ich sah, wie Mary Presenti das Haus drüben verließ, sich etwas auf der Karte notierte, dann eine andere Karte zu Rate zog und das nächste Haus betrat. Sie benahm sich tatsächlich wie eine Sozialfürsorgerin – aber ich bemerkte, daß sie verstohlen die Wettannehmer beobachtete … „Was schaust du dauernd die weiße Frau an, Lee?“ „Ich hab’ bloß gedacht, wie kühl sie aussieht“, beeilte ich mich zu erklären. „Wetten, daß sie eine klimaregulierte Wohnung hat.“ „Angeblich hast du dich mit Meat Market geschlagen. Deine Einstellung gefällt mir, die schwarze Frau ist von unseren eigenen Leuten zu sehr geschmäht worden. Allein die Einbildung, daß glattes, weiches Haar ‚richtig‘ ist, hat die schwarze Frau daran gehindert, Status und eigene Würde zu erkennen. Unterschätze niemals weiße Durchtriebenheit! Er sagt: ‚Sieh, das ist eine schöne schwarze Frau, sie soll euer Vorbild für schwarze Schönheit sein – hier habt ihr Miß Lena Horne.‘ Ich bewundere Miß Horne als Sängerin, aber sie sieht weißer aus als viele weiße Mädchen. Wir sind dumm, daß wir auf all das hereinfallen. Wer sagt, daß weiße Schönheit überhaupt Schönheit ist? Wir müssen unsere eigenen Maßstäbe setzen, die Schönheit einer gesunden schwarzen Haut, von kräftigem Haar, breiter Nase und dicken …“ Mary kam heraus, blickte um sich, entnahm ihrer Handtasche dann eine weitere Karte und kam zu uns herüber. „Entschuldigen Sie, wohnt einer von Ihnen in diesem Haus?“ „Ich bin der Hausverwalter, Miß“, sagte Solmen und kam ein paar Stufen herauf. 109
„Gut. Wohnt hier eine Mrs. L. Jackmann?“ „Den Namen habe ich nie gehört, und ich bin schon seit vielen Jahren hier.“ Mary nickte und notierte etwas auf der Karte. „Ich überprüfe einige alte Fälle für statistische Zwecke. Vielleicht ist sie umgezogen.“ Mary schenkte Solmen ein schüchternes Lächeln. „Sir, dürfte ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?“ „Fragen Sie, junge Dame, und ich sage Ihnen, ob Sie dürfen.“ „Ich hatte immer Angst davor, mir die Ohren durchstechen zu lassen. Sie tragen einen dicken Ohrring. Hat es weh getan als das Loch gemacht wurde?“ „Mir nicht, junge Dame. Das habe ich selbst getan, mit einer besonderen Kräutertinktur, die die Haut gefühllos macht. Aber Ihre Ohrläppchen sind zu schwach, Ohrringe sind nichts für Sie.“ „Wahrscheinlich.“ Mary warf einen Blick auf ihre Uhr. „Zeit zum Mittagessen. Wenn man bei dieser Hitze bloß keine Erhebungen machen müßte! Ich komme am Montag wieder. Guten Tag.“ „Guten Tag. Gehen Sie mit Gott, junge Dame“, sagte Solmen. Wir beobachteten beide das leichte Wiegen ihrer schmalen Hüften, als sie in Richtung Lenox-Avenue schritt. Ich hatte keinen Anlaß, ihr zu folgen. Ich mußte ihre Gelassenheit bewundern. Ich wandte mich an Solmen: „Stimmt das mit den Kräutern?“ „Lügen ist ein weißer Brauch. Natürlich stimmt es. Es ist ein Teil des Wissens, das ich von meinem Vater geerbt habe, der aus Madagaskar kam. Heute wissen wir noch sehr wenig über das Wunder von Drogen, die den 110
dunkelhäutigen Menschen schon vor Tausenden von Jahren bekannt waren. So kannten die Ägypter das Penicillin, und die Chinesen kannten die Heilkräfte des Schwefels. Mein Vater wollte einen Laden eröffnen und Kräuter und Kerzen und bestimmte gelehrte Bücher verkaufen, direkt in der Lenox-Avenue. Aber an einen Farbigen wurde nicht vermietet. Stell dir diese Frechheit vor, in Harlem konnte ein Farbiger keinen Laden mieten!“ „Der Neger soll sein Geld in den weißen Laden tragen“, sagte ich. „Der sogenannte Neger. Es gibt keine einheitliche Negerrasse“, belehrte mich Solmen. „Mein Vater ging zu einem weißen Rechtsanwalt und forderte ihn auf, bei Gericht vorstellig zu werden. Der Anwalt sagte: ‚Wozu klagen und Geld hinauswerfen? Ich miete den Laden, und Sie mieten von mir.‘ Meinem Vater war das recht, er hat den Anwalt bezahlt. Sieh, so schlau und beredsam ist die gespaltene Zunge der Weißen!“ „Es hat nicht geklappt?“ fragte ich, Teilnahme heuchelnd. „Mein Vater eröffnet seinen kleinen Laden, aber es dauert eine Weile, bis er einen Kundenstamm hat. Er steckt jeden Cent und seine ganze Zeit in den Laden. Ein Jahr später beschließt eine große Lebensmittelfirma, ein Geschäft zu eröffnen, die kleinen Läden zu kassieren. Mein Vater findet seine Ware auf der Straße; der Mietvertrag läuft noch immer auf den Namen des Anwalts. Er nimmt Geld von meinem Vater und das Geld für den Vertrag, den er der Lebensmittelfirma verkauft hat. Meines Vaters Ware verdirbt auf der Straße. Er hat sich nie von dem Schlag erholt. Ich sage dies, um folgendes zu sagen: Obwohl mein Vater ein Gelehrter war, hat er im Herzen dennoch dem weißen Lügner vertraut. Er hat die 111
Farbe seiner Haut vergessen, die Geschichte Afrikas, unsere eigene Geschichte, wie die Weißen die Indianer betrogen und ausgerottet haben. Das ist es, was wir lernen müssen: Traue nur einer farbigen Haut!“ „Ja. Aber ich habe gelesen, in der Schule, daß die Araber die größten Sklavenhändler in Afrika waren, und die Araber sind Braune, oder? Und manche Indianer haben Negersklaven besessen.“ „Das hast du in einem weißen Geschichtsbuch gelesen?“ „Ja, so wird es sein. – Hören Sie, haben Sie Ace nicht gesehen?“ „Nein. Der hat wahrscheinlich nichts Gutes vor. Wie alle unsere Jungen. Vergeuden ihre Energie an Nichtigkeiten oder Prahlerei – sie furzen aus dem Mund.“ Ich nickte, angeödet von dem Sermon, des Herumlungerns in der 128. Straße überdrüssig. Ich sehnte mich danach, anständige Kleidung anzuziehen und in meinem Wagen irgendwo ins Kühle, Freie zu fahren. Mary hatte es gut – eine Stunde, und sie war von Harlem befreit. Ich nickte Solmen zu, zog meine alberne und warme Mütze über die Ohren und überquerte die Straße, um mir ein Sodawasser zu kaufen. Ich fragte den großköpfigen Mann hinter der Theke, ob er Ace gesehen habe. Auch er fühlte sich zu einem Vortrag bemüßigt. „Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Gehst du zur Schule?“ „Nein.“ „Du bist wie alle anderen, siehst nicht ein, daß Bildung der Schlüssel ist. Kein Wunder, daß die Russen als erste auf dem Mond landen werden.“ „Teufel, was ist denn so toll auf dem Mond, ist er weiß?“ sagte ich, stellte die leere Flasche aufs Pult und ging hinaus. 112
Verschwitzt und völlig mutlos begab ich mich in den CVJM, schwamm und aß zu Mittag. Um zwei Uhr rief ich Leutnant Davis an und sagte, ich müsse ihn sehen. „So bald schon auf etwas gestoßen, Lee?“ „Nicht direkt, aber übers Telefon läßt sich das nicht gut berichten. Außerdem brauche ich mein Spesengeld.“ „Seien Sie um sechzehn Uhr an der Ecke 79. Straße und Central Park West. Ich werde in meinem Wagen warten. Es ist ein schwarzer Lincoln …“ „Ich habe Sie und Ihren Wagen in der 128. Straße gesehen.“ „Verwandte meiner Frau besitzen dort ein Haus; ich helfe ihnen bei der Verwaltung. Wo waren Sie?“ „Auf einem Dach.“ Um 15.50 Uhr überquerte ich, von der U-Bahn kommend, Central Park West in Richtung auf Leutnant Davis’ großen Lincoln. Mary saß im Fond. Ich tauschte einen Händedruck mit Jack und nickte Mary zu. Er sagte: „Stehen Sie nicht draußen herum, sonst werden Sie noch angefahren, Lee.“ „Na ja.“ Als ich mich umdrehte und um den Wagen herumgehen wollte, fuhr eine alte Kiste vorbei, und ich erblickte für den Bruchteil einer Sekunde ein schwarzes Gesicht, das mich aus Glotzaugen verblüfft anstarrte. Alles ereignete sich blitzschnell, und obwohl ich das Gefühl hatte, den Mann zu kennen, vermochte ich ihn nirgends einzuordnen. Einen Moment lang fragte ich mich, ob mich der Fall so verblödet hatte, daß auch für mich alle Farbigen gleich aussahen. Im Wagen sitzend, berichtete ich Davis und Mary von dem Spießrutenlauf der beiden Polizeibeamten, von meiner Schlägerei mit Meat Market, von Aces Reden über 113
den geplanten „Schlag“ in der City und dem „General“ mit den glühenden Augen, sprach davon, wie mir die Burschen entwischt waren, und über den riesigen Gewichtheber mit der Sonnenbrille auf dem Dach. Ich schloß: „Leider weiß ich nicht, wieviel von dem, was Ace mir erzählt hat, Aufschneiderei und wieviel Wahrheit ist.“ Davis zündete sich eine Zigarette an. Diesmal verzichtete er auf die ausgefallene Spitze. „Das ist der beste Hinweis auf Purpurauge. Offensichtlich ist er der General mit den glühenden Augen.“ „Es könnte auch sein, daß Ace zu viele Comic-Hefte gelesen hat.“ „Nein, das paßt zu gut zu dem, was wir wissen“, entgegnete Davis. „Da dieser ‚Schlag‘ Beute einbringen soll, frage ich mich, ob die verrückten Bengel womöglich eine Bank ausrauben wollen. Lee, begreifen Sie, was Inspektor Cane gemeint hat, als er von einer explosiven Situation sprach? Jeder dieser zappeligen Jungen ist ein Körnchen TNT; zusammengenommen ergeben sie eine Zeitbombe.“ Vom Hintersitz gab Mary ihren Senf dazu. „Es ist bewundernswert, daß die beiden Beamten soviel Selbstbeherrschung zeigten. Die Negergemeinde ist entweder nicht gewillt oder außerstande, ihre Jugendlichen unter Kontrolle zu halten, und …“ „Bitte!“ fuhr ich dazwischen. „Die ‚Negergemeinde‘ ist etwas, was ihr Weißen uns aufgezwungen habt! Schieben Sie die Verantwortung dorthin ab, wohin sie gehört, oder schweigen Sie!“ „Ich werde nicht schweigen. Dauernd kritisieren die uns, aber kaum äußert eine weiße Person eine Meinung über Farbige, sofort …“ Davis hob die Hand. 114
„Aufhören, beide! Lee, machen Sie so weiter, aber passen Sie auf, daß Sie nicht zu weit gehen. Suchen Sie keine Händel. Diese Burschen kämpfen in Rudeln, und im Krankenhaus sind Sie uns zu nichts nütze. Versuchen Sie etwas über den Gewichtheber herauszubekommen, er entspricht dem Bild von Purpurauge.“ „Leutnant, könnte ein Polizeihubschrauber morgen das Gebiet überfliegen? Die Besatzung könnte mit Leichtigkeit eine Gruppe ausmachen, die auf einem Dach Judo übt.“ „Ein Hubschrauber müßte zu tief fliegen, er würde zuviel Aufsehen erregen. Aber ich werde fragen. Mary tritt morgen, am Sonntag, nicht in Erscheinung, aber Sie rufen mich zur gewohnten Zeit an. Am Montag morgen kommt Mary wieder in die 128. Straße.“ Mary sagte: „Ich spreche heute nachmittag mit einem Augenarzt und werde mich erkundigen, ob ein Mensch purpurne Augen haben kann. Vielleicht ist das ein Anzeichen von Wahnsinn.“ „Gute Idee. Ist bei der Überprüfung der Judo-Schulen etwas herausgekommen?“ „Noch nicht“, antwortete Davis. Er reichte mir eine Quittung über die sieben Dollar Miete, die ich ausgelegt hatte, zum Unterschreiben, dann gab er mir das Geld und die paar Dollars, die ich für Kleidung und Segeltuchschuhe ausgegeben hatte. „Lassen Sie nicht zuviel Geld sehen, Lee. Es wird mindestens drei Wochen dauern, bis Sie Arbeitslosenunterstützung erhalten. Um den Schein zu wahren, benehmen Sie sich, wenn Sie pleite sind, wie jeder Junge ohne Geld.“ „Drei Wochen?“ Er grinste. „Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß sich der Auftrag hinziehen könnte.“ 115
Mary fragte: „Lee, haben Sie gesehen, wie die Lottoeinsätze angenommen wurden? Leutnant, da war eine Frau mit roter Perücke, die ganz offen …“ Davis schnitt ihr das Wort ab. „Wir wollen uns um unsere eigene Aufgabe kümmern. Lee, vergessen Sie nicht, wie üblich anzurufen, auch sonntags.“ Als ich die Wagentür öffnete, sagte Mary: „Der dicke Hausverwalter mit dem Ohrring, der ist eine Type.“ „Ja, die Straße wimmelt von Typen, mich eingeschlossen“, gab ich zurück und ging zur U-Bahn.
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Wozu soll man sich abrackern, wenn am Ende der Woche doch alles für Steuern draufgeht. Die sind gerieben, die nennen das nicht umsonst das „Weiße“ Haus, unten in Washington. Ich für meine Person, ich schlage mich so durch. Ich habe mich immer für Radios, Elektronik und solche Sachen interessiert, deshalb kann ich mir mit dem Reparieren von Fernsehgeräten oder Stereoanlagen ein paar Dollars verdienen. Mein Alter hat seine Stellung verloren, und ich habe die Schule sein lassen, um mitzuverdienen. Ich war Lieferjunge für einen Supermarkt drüben am Broadway; eine richtige Schinderei. Wieso macht niemand großes Geld, wie im Fernsehen, wo ein Mensch einfach als Verkäufer arbeitet, aber ein hochherrschafliches Wohnzimmer hat? Ja, der Lieferjungen-Job. Der Geschäftsführer war so ein herumwieselnder Judenjunge, frisch vom College, und als ich die elektrische Stechuhr reparierte, die wir früh und abends benutzten, da hat er mich zu so einer Organisation geschickt. Nein, an den Namen erinnere ich mich nicht mehr. Die ließen mich den ganzen Tag Tests machen, hielten mich anscheinend für so ein elektrisches Wundertier. Sie waren wegen mir ganz aus dem Häuschen, und ich habe mich auch schon ganz anders gefühlt. Zwei Tage danach kriege ich von ihnen ein Telegramm, ich soll mich am nächsten Tag melden. Meine Leute waren stolz, ich war der einzige in der Familie, der jemals ein Telegramm bekommen hat. Der Oberste dort sagt mir, daß er mir eine praktische Lehrstelle besorgt hat – trotz meiner mangelnden Schulbildung soll ich zum Büromaschinenmechaniker ausgebildet werden. „Du bist der erste Negerjunge, den diese Firma ausbilden läßt. Das ist eine ungeheure Chance, und sobald du ausgelernt hast, wirst du sofort mit einem Anfangsgehalt von 117
hundert Dollar wöchentlich eingestellt. Während der dreimonatigen Ausbildungszeit erhältst du natürlich keine Bezahlung.“ „Keine Bezahlung?“ „Nicht ganz. Aus einem Sonderfonds, den wir haben, erhältst du täglich dreißig Cents Fahrtkosten.“ Ist das nicht blöd, wie zum Teufel soll ich drei Monate lang von dreißig Cent pro Tag leben? Ich habe dem Mann gesagt, er kann mich mal. Jetzt treibe ich mich meistens auf der Straße herum. Ich brauche nicht viel Geld: ein paar Zigaretten am Tag, eine Büchse Bier oder ein Soda ab und zu. Klar, ich habe mich um Arbeit bemüht. Nach den Krawallen im vorigen Sommer habe ich … Nein, Sir, da habe ich. nicht mitgemacht, ich wollte nicht ein paar aufs Dach kriegen. Ich habe gelesen, daß die Stadt Arbeitsstellen für uns Jugendliche eingerichtet hat. Ich bin hingegangen und habe einen ganzen Tag gewartet, bis man mich drangenommen hat. Dann hat es eine Woche gedauert, bevor die Arbeit losging. Das war. Mitte August. Man hat mich im Park Blätter zusammenrechen lassen. Es war so ein Verlegenheitsjob, sogar der Mann vom Straßenreinigungsamt, mit dem wir gearbeitet haben, hat gesagt, wir sollen uns nicht zerreißen. Ich weiß nicht, was die anderen gedacht haben, aber mir war ganz mies davon. Das Ganze war im September zu Ende, wir haben rund fünf Wochen gearbeitet, alles in allem. Ich habe nicht mal so viel verdient, daß ich mir was zum Anziehen kaufen konnte. Das war vor fast einem Jahr. Seither habe ich’s aufgegeben, mir einen Job zu suchen. Manchmal, wenn es ganz arg wird, wenn ich keine Fernsehreparaturen kriegen kann, gehe ich hinunter nach Greenwich Village, das sind so die Gelegenheiten, 118
wo ich in den Süden komme – in den Süden unterhalb der 116. Straße. Ich stelle mich an eine Ecke, und nach einer Weile macht ein Weißer, meistens ein älterer Knabe, große Augen auf mich. Wissen Sie, die glauben, ein Neger ist zu allem zu haben, wo es um Sex geht. Ich kriege einen Fünfer sofort, und wenn wir dann in seiner Bude sind und die Gelegenheit günstig ist, schlage ich ihn zusammen und nehme ihm die Brieftasche ab. Das ist gefährlich, und ich hab’s erst einmal getan. Meistens schreien die Schwulen nicht nach der Polizei, wenn sie’s aber tun, und man wird geschnappt, dann ist man erledigt. Allerdings – was die Polizei fast genauso haßt wie Farbige, das sind Schwule.
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Sonntag
Ich erwachte, als Mrs. Johnson, Helen und Louise aus der Kirche kamen. Ace lag noch in tiefem Schlaf neben mir, mit offenem Mund; sein sehniger Körper sah aus, als habe man ihm zu viele Mahlzeiten vorenthalten. Ich gähnte, lauschte den Luftschachtgeräuschen, betrachtete die rohen Lettern an der Wand und überlegte, warum er die Parole nicht an irgendeine Hauswand geschmiert hatte. Ich hatte das deprimierende Gefühl, in einer Zelle zu sein. Ich hatte einen langen und öden Samstagabend vor dem Süßwarenladen zugebracht. Little Daddy hatte mit einer neuen Eroberung geprahlt, die Mädchen hatten sich über eine neue Gesangsgruppe unterhalten, alte ordinäre Witze waren erzählt worden. Ich war als Fremder geduldet worden – und aus. Mein Kampf mit Meat Market war nicht erwähnt worden, nur Chip hatte einmal gesagt: „Er hat die Bettdecke hochgehoben, und, Mensch, der war dort vielleicht geschwollen!“ Eine schöne Aufgabe für einen Mann, einen Polizeibeamten, diesen dummen Jungen nachzuspionieren! Die 128. Straße war wie immer stickig gewesen, voll von lautem Gerede und Betrunkenen, gemäßigten Auseinandersetzungen und Schachspielen. Dieselben zwei Polizeibeamten hatten den Block abgeschritten, ohne Zwischenfall; mein Akademiemitschüler hatte mich noch immer nicht erkannt. Gegen zwei Uhr früh, als Ace sich endlich entschlossen hatte, ins Bett zu gehen, hatte ich versucht, ihn zum Sprechen über den „Schlag“ zu bewegen. Er hatte mich abgewiesen mit: „Lee, ich bin hundemüde, bin heute den ganzen Tag herumgelaufen. Neue Arbeit.“ 120
„So? Was für eine Arbeit?“ hatte ich gefragt, doch Ace war schon eingeschlafen. Ich zog Hose und Socken an und ging aufs Klo. Louise nickte, ohne den Blick vom Fernsehschirm zu wenden. Helen und Mama hatten die Sonntagskleider abgelegt und bereiteten nun in alten Schlafröcken das Frühstück zu. Mrs. Johnson sagte fröhlich: „Guten Morgen, Lee. Ich wollte, daß du mit uns in die Kirche gehst, aber du hast so schön geschlafen.“ „Danke, aber in die Kirche habe ich nichts anzuziehen.“ „Deshalb ist die Welt in einem solchen Zustand, niemand hat Zeit für Gott. Er will deine Seele, nicht deinen Anzug“, verkündete sie selbstzufrieden. Helen blinzelte mir vom Ausguß her zu. Mit einem Sporthemd angetan, ging ich hinunter, um die Zeitung und Orangensaft zu holen. Die Straße war heiß. Menschen in billigem Sonntagsstaat standen in Gruppen vor der Kirche. Der Mann aus Westindien fegte seinen Laden. Als ich die dicke Sonntagszeitung kaufte, sagte ich: „Wie ich sehe, gibt es für Sie die Siebentagewoche. Sie kennen weder Rast noch Ruh, was?“ Er warf mir einen forschenden Blick zu, befeuchtete sich die Lippen und brummte: „Junge, was interessierst du dich so für meinen Laden? Warum belästigst du einen ehrlichen Mann?“ „Ich rede bloß“, sagte ich. Ich kehrte in die Wohnung zurück. Ace saß, ohne Hemd, nur mit einer Hose bekleidet, am Frühstückstisch. Es gab Kaffee und Brot. Mrs. Johnson meinte wieder, ich solle mein gutes Geld nicht für Orangensaft hinauswerfen. Dann setzten sich Ace und Louise vor den Fernsehapparat, und ich las in der Küche Zeitung. Mama spülte das 121
Geschirr, während Helen in der Badewanne Wäsche wusch. Sie bestand darauf, auch meine Trainingsanzugbluse und meine Socken zu waschen. Ich nahm den schweren Wäschekorb, als es aufs Dach gehen sollte. Helen holte eilends einen Schreibblock und Aces Fliegerbuch. In der hellen Sonne konnte man sehen, daß das Dach auch als Hundeauslauf benützt wurde. Wir hängten die Wäsche auf; die heiße Brise spielte mit Helens Schlafrock und entblößte ihre festen Beine. Als ich den Korb nahm und der Treppe zustrebte, sagte Helen: „Ich muß hierbleiben, sonst stiehlt man uns etwas. Lee, könntest du mir nicht ein bißchen diktieren? Falls du nicht etwas anderes zu tun hast.“ „Was soll ich denn zu tun haben?“ Wir setzten uns auf den Korb. Ich las aus dem Buch vor, Helen schrieb es in Kurzschrift nieder und las es mir dann wieder vor. Sie war wirklich gut darin. Ob es die Sonne war, der Klang ihrer Worte oder die allgemeine Lethargie der Straße – ich wurde schläfrig und dachte, wie abkühlend es wäre, in meinem Wagen zu fahren. Als wir mittags die trockenen Sachen hinuntertrugen, saßen Ace und Louise noch immer vor der Mattscheibe. Mrs. Johnson hatte Kartoffelauflauf und Hackbraten zubereitet und lud mich zum Mitessen ein. Ich log, ich hätte keinen Hunger, da ich wußte, daß sie sich eine Bewirtung nicht leisten konnten, und dabei fühlte ich mich ziemlich gönnerhaft und ärgerte mich über mich. Ich nahm die Zeitung vor und zwang mich, jede kleinste Notiz zu lesen. Nach dem Essen stürzten Ace und Louise an den Fernseher. Ace schien keine Lust zu haben, das Haus zu verlassen, und ich spürte, daß ich es nicht aushalten würde, den Nachmittag einfach durch Dasitzen zu vertrödeln. 122
Als Helen ihren Platz vor dem Fernsehgerät einnahm, sagte ich: „Auf dem Washington Square ist eine FreiluftKunstausstellung, und ich glaube, der Bus bringt einen hin. Möchtest du dir das ansehen?“ „Ja.“ Louise fragte, ob sie auch mit dem Bus fahren dürfe, und ich sagte okay und schlug beiläufig vor, sie sollten alle mitkommen. Ace brummte: „Dieser Kunstmist kann mir gestohlen bleiben.“ Mrs. Johnson erklärte, sie müsse ihr Bein schonen. Eine halbe Stunde später waren Helen, Louise und ich im Bus der Linie 2. Helen war nicht gesprächiger Stimmung, und ich fühlte mich noch immer benommen. Wir spazierten über den Washington Square, sahen Bilder an, hörten den lärmenden bärtigen Volksliedsängern rund um den Brunnen zu. Es waren ziemlich viele Neger da, alle in Kostümierungen, so abenteuerlich wie die Harlemer Kluft. Als Louise sich ein Eiskremsoda wünschte, schimpfte Helen: „Hör auf. Ich habe kein Kleingeld, und Lee hat schon genug für die Fahrt ausgegeben.“ „Ach was, wir wollen nicht so sein“, sagte ich und kaufte drei. „Wegen mir brauchst du dich nicht aufzuspielen!“ fauchte Helen. Ihre schlechte Laune hielt auch noch auf der Heimfahrt an, bis sie an meiner Schulter einschlief. Das ungewöhnliche, hübsche Gesicht wirkte abgespannt und müde. Wir erreichten die Wohnung gegen fünf Uhr. Ace saß noch immer vor dem Fernsehapparat, nur daß er jetzt dazu noch langsam mit den Handkanten den Sand in dem Schuhkarton bearbeitete. Louise setzte sich neben ihn, während Mrs. Johnson ungeduldig Helen zu sich in die 123
Küche rief und flüsternd ein Gespräch begann. Ich sah mir die an den Haaren herbeigezogenen Probleme an, mit denen sich ein bildschöner Fernseharzt herumschlug. Das rhythmische Stampfgeräusch, das Ace verursachte, ging mir auf die Nerven. Außerdem war ich völlig ausgehungert. Mit der Ausrede, einen Spaziergang machen zu wollen, ging ich zum CVJM, schwamm ausgiebig und aß ordentlich zu Abend. Als ich in die 128. Straße zurückkehrte, dunkelte es schon; die Straße wurde stiller. Ace, Louise und Mrs. Johnson waren um den Fernseher gruppiert und sahen sich die Ed-Sullivan-Show an. Ich setzte mich dazu, und während einer Werbeeinblendung erkundigte ich mich, wo Helen sei. Mrs. Johnson sagte: „Meine Schwester hat uns ausrichten lassen, daß ihre weißen Herrschaften eine Party geben, und Helen möge zu ihr zum Aushelfen kommen. Ich habe schon Angst gehabt, daß sie von dem Busausflug nicht rechtzeitig zurückkommt. Ich wäre ja selbst gegangen, aber mein Bein plagt mich. Die …“ „Hör auf zu quatschen, Mama, ich will die Puppe singen hören!“ fuhr Ace dazwischen. Der Gedanke, daß Helen in einer fremden Küche arbeitete, machte mich so wütend, daß ich hinausging und unten auf sie wartete. An diesem Sonntagabend war die Straße fast kleinstädtisch ruhig, es gab nur wenig Verkehr und wenig Lärm. Ein Funkstreifenwagen fuhr langsam den Block entlang, die Besatzung gönnte sich heimlich eine Zigarette. Ein paar Leute verließen still eine der unscheinbaren Kirchen. Der Mann aus Westindien sperrte seinen Süßwarenladen ab und nickte mir kurz zu, bevor er müde davonstapfte, um weiter unten ein Haus zu betreten. Ich wußte nicht genau, warum 124
ich wartete, aber die stille Straße war eine Erholung nach der engen Wohnung. Kurz darauf tönten aus dem Transistorradio in der Tasche eines Passanten die Mitternachtsnachrichten, ein Taxi hielt in einiger Entfernung, der riesige Gewichtheber stieg aus und winkte dem Fahrer zu. Er trug ein Sitzkissen und eilte die Treppe seines Hauses hinauf. Ich zog einen Fetzen Papier aus einer Mülltonne und notierte mir den Namen des Taxiunternehmens. Ich war so mit dem Schreiben beschäftigt, daß ich zusammenzuckte, als Helen fragte: „Lee, was machst du noch so spät auf der Straße?“ „Ich warte auf dich.“ „Das ist aber nett! Tut mir leid, daß mit mir heute nachmittag nicht viel los war. Es war wirklich sehr hübsch, und …“ „Verdammt noch mal, hast du die Dreckarbeit nötig?“ fuhr ich sie an. „Was?“ „Du hast ganz gut verstanden. Warum arbeitest du bei irgendwelchen fremden Leuten in der Küche?“ „Wegen dem da“, sagte sie eisig und schwenkte eine Zehndollarnote vor meiner Nase. Ihre großen Augen glänzten derart, daß sie ihrem müden Gesicht Kraft verliehen. „Und wegen dem.“ Sie hielt eine Papiertüte mit übriggebliebenen Speisen hoch. „Warum schreist du mich so an, Lee?“ „Ach, nichts, es ist nur … Verdammt, es paßt mir nicht, daß du saubermachst bei – denen.“ „Du hast’s nötig, so anzugeben!“ „Hör auf, Helen. Ich …“ „Hör lieber du auf. Wenn man dich so hört, klingt das genau wie eine von Aces beschissenen Reden, viel Wind 125
und nichts dahinter, nämlich kein Geld! Ich habe seit Monaten keinen eigenen Dollar mehr gehabt, sogar ein Eis mußte ich mir von dir kaufen lassen. Deshalb war ich heute nachmittag so ekelhaft. Wenn …“ „Schau, mir hat es nichts ausgemacht, dir ein Eis …“ „Aber mir macht es was aus! Wenn ich eine anständige Stelle im Haushalt finden könnte, würde ich sie sofort nehmen. Du bist doch auch arbeitslos. Was ist denn so Böses daran, wenn ich ein paar Stunden als Hausmädchen arbeite? Du, du hast nichts Besseres zu tun, als auf mich zu warten und mich auszuschimpfen, als wenn ich – ich weiß nicht, was!“ „Ich habe hier draußen auf dich gewartet, weil es mir nicht paßt, daß du so spät auf der Straße bist. Helen, Hausmädchen sein ist nichts Böses, solange man sich seine Arbeit frei aussuchen kann. Aber für Farbige …“ „Wer bist du denn schon, Lee Hayes, daß es dir passen darf oder nicht, was ich tue? Daß du mir vorschreibst, was ich zu tun habe? Du bist nicht mal mein Mann oder mein Vater oder … Du bist bloß ein zudringlicher Untermieter. Geh mir aus den Augen!“ Sie rannte ins Haus und die Treppe hinauf. – Als ich die Wohnung betrat, kam Helen gerade aus dem Bad. Meinen geflüsterten Erklärungen war sie nicht zugänglich, sie ließ mich einfach stehen. Ich wusch mich und legte mich ins Bett. Ich wünschte, Ace hätte „WEISS IST SCHEISS“ in Leuchtbuchstaben an die schimmelige Wand geschmiert. Der Montag war ausgesprochen trist. Es war regnerisch und schwül. Ich holte unten die Zeitung und den üblichen Orangensaft. Als ich zurückkam, deutete Mrs. Johnson stolz auf ein Frühstück, das aus Truthahn und Zunge in Scheiben, gefüllten Eiern, Semmeln und Tortenschnitten 126
bestand. Ich hatte keine Lust, Überbleibsel zu essen, und Helen lehnte ostentativ meinen Orangensaft ab. Louise aß so viel Torte, daß sie zu spät zur Schule aufbrach. Helen und Ace brüllten einander an, weil sie ihm nicht fünf Dollar borgen wollte. Er stürmte aus dem Haus, und ich haspelte etwas von „auf Arbeitssuche gehen“ herunter, trank nicht einmal meinen Kaffee aus und rannte ihm nach. Als ich die nasse Straße erreichte, war Ace verschwunden. Da ich nichts anderes zu tun wußte, begann ich wieder die Häuser abzuklappern, an jeder Tür zu horchen. Ich begab mich in die 127. Straße und durchstreifte jedes Haus vom Keller bis zum Dach, da ich mit der Möglichkeit rechnen mußte, Ace sei durch einen Keller oder über einen Hinterhof entwischt. Das einzige, worauf ich stieß, war eine Frau, die plötzlich ihre Wohnungstür öffnete und mich erschrocken ansah, bevor sie kreischte, ich sei darauf aus, zur Arbeit gehende Menschen zu berauben, und sie werde die Polizei auf mich hetzen. Wieder in der 128. Straße, stand ich über eine Stunde lang in einem Hauseingang unweit der Straßenecke, schwitzte wie ein Schwein und fühlte mich blamiert. Auch beim Anblick von Mary, die in einem schicken blauen Regenmantel und passendem Regenschirm daherkam, wurde meine Stimmung nicht besser. Ich beobachtete sie beim Betreten und Verlassen mehrerer Häuser, sah, wie sie auf den Vortreppen stand und ihre Karten konsultierte. Ich bemerkte auch Helen, die heruntergekommen war, um auf eine Zahl beim Lotto zu setzen. Ich mußte an den vergangenen Abend denken und kam mir noch idiotischer vor. Als Mary beim Verlassen der Straße kühl meinen Standort passierte, kam Louise gerade aus der Schule nach Hause, und ich fühlte mich wie in einer 127
Falle. Wir Farbigen bekommen immer die schlimmste Arbeit, sogar bei der Polizei. Von einem Regenschirm geschützt, liefen Louise und ein anderes kleines Mädchen die Straße entlang und traten übermütig in jede Pfütze, die sie erblickten. Ich stand da und fragte mich, was ich durch das Herumlungern auf der nassen Straße erreichte. Eine Viertelstunde später kam Helen, in altem Mantel und Plastikkopftuch, mit Louise aus dem Haus. Sie machte ein resigniertes Gesicht. Die beiden gingen zur Lenox-Avenue und in ein Schuhgeschäft. Minuten später befand sich Louise wieder auf dem Schulweg; sie trug neue Schuhe und Galoschen. Helen, die nassen Segeltuchschuhe der Kleinen in der Hand haltend, bog in die 128. Straße ein. Wahrscheinlich hatte sie den Großteil ihrer zehn Dollar ausgegeben. Ihr Blick fiel auf mich, sie blieb stehen, kam dann zu mir herüber und fragte: „Was stehst du hier herum wie eine ersoffene Ratte?“ „Ich bin eben erst gekommen und muß nach zwei Uhr einen Mann anrufen, wegen einer Arbeit.“ „Ach, komm mit hinauf, Kaffee trinken und ein Truthahnsandwich essen.“ „Danke, aber ich werde bald telefonieren müssen.“ „Du bist nur starrköpfig, Lee; wenn du willst, daß ich es zuerst sage, dann sage ich es: Entschuldige, daß ich gestern so häßlich zu dir war.“ „Ich bin schuld, ich weiß nicht, warum ich dich angeschnauzt habe. Daß du jemanden bedienst, das … Es hat mich aufgeregt, aber ich hatte kein Recht, mich in deine Angelegenheiten zu mischen.“ „Lee, ich war müde gestern abend, aber jetzt … Ich weiß, wie du es gemeint hast, und es ist sehr nett von dir, daß du dir meinetwegen Sorgen gemacht hast.“ Sie 128
lächelte und sah aus wie eine afrikanische Prinzessin. „Also, komm mit hinauf und iß etwas und zieh die nassen Sachen aus!“ „Später. Ich muß wirklich telefonieren. Aber du geh nach Hause, bevor du dich erkältest, hast ja nur Sandalen an. Das Sandwich hebe ich mir zum Abendessen auf.“ „Vergiß es nicht.“ Sie drehte sich um, lief über die Straße und ins Haus hinein. Ich ging zu dem Haus, auf dessen Dach ich den Gewichtheber gesehen hatte, und stieg in den Keller hinunter, wo eine massive Frau mit Männerstiefeln an den Füßen die Mülltonnen zum Abtransport bereitstellte. Ich sagte: „Entschuldigen Sie, kennen Sie einen Mann, der hier wohnt, groß, lauter Muskeln, Gewichtheber?“ „Das ist Earl Dillon. Bist du einer von seinen Jungen? Habe ich dich nicht vor ein paar Stunden im Haus gesehen?“ „Tja, ich habe ihn gesucht, und … Wie meinen Sie das: ‚einer von seinen Jungen‘?“ „Mach mir nichts vor. Ich weiß genau, was da los ist! Und geh mir aus dem Weg, ich habe keine Zeit zum Herumstehen.“ „Soll ich Ihnen mit den Tonnen helfen?“ „Oh, du bist mir ein ganz Schlauer! Ich habe keinen Cent. Hau ab.“ Ich fand den Namen „Dillon“ an einem der alten Briefkästen, stieg drei Treppen hoch und klopfte an der Wohnungstür. Eine alte Frau, klein und dunkelhäutig, mit wolligem weißem Haar, öffnete und spähte aus trüben Augen zu mir herüber. Ich zog die blöde Matrosenmütze und sagte: „Entschuldigen Sie, ist Mr. Dillon zu Hause?“ 129
„Warum laßt ihr Jungen meinen Earl nicht in Ruhe? Ihr bringt ihn noch in Schwierigkeiten.“ „Was gibt es, Oma?“ rief ein Mann. Dann kamen schwere Schritte durch den Flur, und da stand er in einem weißen Morgenrock, denselben Schal um den Kopf gewickelt, dieselbe dunkle Brille vor den Augen. Er wirkte fast doppelt so groß wie ich, der größte Mann, den ich je gesehen hatte. Er fragte: „Was willst du? Warst du nicht am Sonntag oben auf dem Dach?“ „Stimmt, Mr. Dillon, ich will Sie nicht belästigen, aber ich habe nachgedacht … Ich möchte auch etwas für meine Figur tun, könnten Sie mir beibringen, wie man mit Hanteln umgeht?“ Er starrte auf mich nieder und leckte die Enden seines zottigen Schnurrbartes. Die alte Frau, die ihm kaum zu den Hüften reichte, zupfte ihn am Morgenrock und sagte: „Earl, fang bloß nichts an.“ „Keine Angst, ich weiß, was ich tue. Geh nur wieder zu deinem Radio, Oma.“ Ich behielt seine Füße im Auge. Seine Muskeln hatten gar nichts zu bedeuten, solange er mich nicht zwischen die Hände bekam. Die Schleife, zu der der Gürtel des Morgenrocks gebunden war, bildete ein perfektes Ziel für einen Tiefschlag. Die alte Dame schlurfte davon, und dieser Earl sagte: „Du möchtest also etwas für deine Figur tun? Wie alt bist du?“ „Über achtzehn.“ „Ich werde es mir überlegen. Ich habe jetzt keine Zeit, ein großes Ereignis steht bevor, darauf muß ich mich jetzt vorbereiten. Aber wenn das vorüber ist, so in zwei Wochen, kannst du wiederkommen und dir Bescheid holen.“ 130
„Danke. In zwei Wochen komme ich wieder, Mr. Dillon.“ „Ich weiß noch nicht, ob ich dich trainieren werde, aber ich will es mir überlegen. Du scheinst ein netter Bursche zu sein. Jetzt habe ich zu tun.“ Er schloß die Tür. Ich ging hinunter. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luftfeuchtigkeit hatte zugenommen. Ich begab mich in den CVJM und stieg ins Schwimmbecken. Um drei Uhr, als ich Davis anrief, ihm über Earl Dillon berichtete und den Namen der Taxifirma nannte, bei der Dillon arbeitete, sagte Jack: „Klingt vielversprechend. Dieses große Ereignis, das in zwei Wochen stattfinden soll, könnte der Schlag sein, von dem Ace gesprochen hat.“ „Und vergessen Sie nicht die Frage der Hausbesorgerin, ob ich einer von seinen Jungen bin.“ „Okay, wir werden Erkundigungen über ihn einziehen. Gute Arbeit, Lee. Übrigens – ich habe Ihren Scheck per Post nach Saint Albans schicken lassen.“ „Was für einen Scheck?“ „Aber, aber, es ist doch Zahltag.“ „Oh, schönen Dank. Ich rufe morgen wieder an.“ Ich hängte ein. In solchem Zustand der Betäubung befand ich mich, daß ich sogar den Zahltag vergessen hatte. Ich genehmigte mir Hamburger und Orangensaft, dann kehrte ich in die 128. Straße zurück, lungerte herum und beobachtete die von der Arbeit heimkommenden Leute. Um halb sechs ging ich hinauf. Ace war noch nicht zu Hause. Louise saß vor dem Fernsehapparat, Mrs. Johnson nähte ein Kleid. Helen machte ein Truthahnsandwich und Kaffee und leistete mir in der Küche Gesellschaft. Ich sagte: „Ich war im CVJM und …“ „Hast du den Posten bekommen?“ 131
„Nein, man hat mich vertröstet. Hör mal, im CVJM habe ich Schreibmaschinen gesehen, wo man einen Vierteldollar hineinsteckt, und dann kann man die Maschine eine halbe Stunde benutzen, glaube ich. Wahrscheinlich gibt es die auch im Mädchenheim. Du könntest also für einen Vierteldollar am Tag üben.“ „Gute Idee, Lee. Ich war heute nachmittag unten in der 125. Straße, wegen einer Leihmaschine, aber die verlangen eine zu hohe Kaution. Außerdem habe ich das Geld für etwas anderes ausgeben müssen.“ Ace polterte herein und sagte, er sei zum Umfallen müde. Ich ging ins Bad, um mich zu rasieren, und hörte Helen sagen: „Mit dir stimmt wohl was nicht, wenn du von dem ewigen Treppenhocken so müde wirst.“ „Ich habe mich abgerackert, glaub mir. Hör mal, borg mir fünf Dollar, und ich schwöre dir – bei Allah, du kriegst sie am Samstag zurück mit …“ „Laß mich in Ruhe, ich habe keine fünf Dollar. Louise hat neue Schuhe und Galoschen gebraucht.“ „Scheiße!“ „Sie hatte nichts anderes als die alten Segeltuchlatschen, bei dem Regen. Ist mir gar nichts anderes übriggeblieben.“ „Hättest mir die lausigen Kröten gleich heute früh geben können, dann … Na ja, ich bin hier eben der letzte Dreck.“ „Dir fünf Dollar borgen, das wäre schon ein Geschäft, da hätte ich freilich was davon.“ „Vielleicht doch, du Geizkragen.“ „Ace, du bildest dir Schwachheiten ein.“ Ich setzte mich vor den Fernseher., während sie zu Abend aßen. Als Ace hinunterging, um sich mit den anderen vor dem Süßwarenladen zu treffen, schloß ich mich 132
ihm an. Ich hörte mir das großspurige Gerede an, das ich schon kannte. Vielleicht lag es nur an der dampfenden Hitze, aber ich spürte eine gewisse Spannung in der Luft. Chip wirkte nervöser als gewöhnlich; er blinzelte und verdrehte die Augen. Ein kleiner Junge kam und meldete: „Zwei Bullen im Anzug, einer davon schwarz.“ Chip nahm Ace sofort beiseite und sprach flüsternd auf ihn ein. Ich überquerte die Straße und stieg aufs Dach hinauf: Ich hoffte zu sehen, wer eine Tüte voll Wasser hinunterwerfen würde. Zwei Polizeibeamte, einer davon ein Neger, schritten den Block ab, und nichts geschah. Ich blieb auf dem Dach, da war es kühler. Wie ich so die unten liegende Straße mit den käfergroßen Menschen beobachtete, kam ich mir ganz verloren vor. Ich betrachtete den bunt glitzernden Wolkenkratzerhorizont, als sähe ich eine andere Welt, eine … Jemand kam die Treppe herauf und blieb an der Tür zum Dach stehen. Ich steckte mein Stück Seife in die Socke, sonst machte ich keine Bewegung. Eine hochgewachsene Gestalt bewegte sich ein paar Schritte weit aufs Dach und blieb stehen. Helen rief: „Lee?“ „Hier bin ich.“ Sie kam herüber und stellte sich neben mich. „Hier oben ist’s kühler.“ „Mhm.“ „Lee – tust du mir einen Gefallen?“ „Wenn ich kann.“ „Du kannst. Deine Woche ist bald um“, sagte Helen langsam. „Such dir ein anderes Zimmer. Zieh aus. Bitte!“ Mir wurde mulmig. Hatte sie herausgebracht, daß ich bei der Polizei war? 133
Ich murmelte: „Warum? Was ist passiert? Ich dachte, du nimmst es mir nicht mehr übel, daß ich gestern frech geworden bin wegen der Sache mit der Hausarbeit. Ich …“ „Lee, Lee, nicht wegen dir, wegen mir!“ Sie weinte leise. „Alle machen sich lustig über mich, weil ich nicht mit Jungens herumlaufe, nennen mich Eiszapfen und – und solchen Quatsch. Vorher habe ich mir nichts daraus gemacht. Ich sehe ja, wenn meine Freundinnen sich mit jemanden einlassen, dauert es nicht lange, und sie sind schwanger. Die meisten heiraten ja, aber das ist auch kein Ausweg. Wenn man mal mit einem Kind dasitzt, kommt man nie mehr aus Harlem weg. Wenn ich jemals schwanger werde, bringe ich mich um. Im Ernst!“ „Warum weinst du denn? Ich habe dich ja nie angerührt“, sagte ich erleichtert und verwirrt. Ich faßte nach ihrer Hand. Helen wich hastig zurück. „Lee, begreifst du denn nicht? Ich bin nicht aus Holz, ich habe Gefühle, Sehnsüchte und … Ich habe nie jemanden wie dich kennengelernt. O Lee, geh weg, bevor ich – ich – wegen dir hereinraßle!“ Ich starrte auf ihren Haarknoten, der sich vor den Lichtern des weit entfernten Empire State Building abzeichnete, und sagte dann: „Helen, du bist ja noch ein Kind, du weißt nicht …“ „Quatsch, komm mir nicht auf diese Tour, ich habe verdammt genausoviel Gefühl wie jede andere Frau! Ich bin achtzehn und weiß alles über … Lee, geh fort! Geh!“ Als sie sich zur Tür wandte, zog ich sie an mich. Ich legte meine Wange an ihr Gesicht. Helen stöhnte. „Nicht. Ich habe gedacht, du wirst mich verstehen …“ „Ich verstehe nichts weiter als das“, raunte ich und küßte sie. 134
Sie drängte sich an mich, ihre Lippen brannten, ihr Körper bebte. Sie hielt mich eng umschlungen und schluchzte. „Lee, Lee, nicht. Ich will nicht, daß es passiert, aber ich – ich kann nichts dagegen tun. Ich kann nicht! Bitte, bitte, nicht …“ Ich konnte meine Hände nicht mehr zurückhalten. Ich begehrte dieses Mädchen heftig und fühlte mich ungeheuer geschmeichelt: Noch nie hatte ich ein Mädchen im Arm gehalten, das sich mir so widerwillig und doch so vollkommen hinzugeben versprach. Ich war auch ein bißchen verwirrt, es ging alles so schnell, und Helens Worte klangen wie aus einem billigen Romanheft. Und deshalb wußte ich, daß sie es aufrichtig meinte. Wie hätte sie sonst sprechen sollen? Plötzlich erkannte ich in einem Anflug kalter Vernunft, daß das so nicht weitergehen konnte. Vielleicht mußte ich Ace bald festnehmen, und was würde Helen dann von mir denken? Und ich fragte mich, ob nicht Mitleid ein Teil des Verlangens war, das ich nach ihr empfand, ob ich mich nicht etwa als Ritter sah, der die arme Helen aus dem Sumpf von Harlem zog. Ich zwang meine Hände, sich von ihr zu lösen. Sanft schob ich das Mädchen von mir. „Hör zu, Helen, jetzt, da wir wissen, wie es um uns steht, wollen wir nichts übereilen. Ich meine, wir wollen warten, bis wir soweit sind.“ Die Worte klangen banal und albern, als ich sie aussprach, aber Helen nickte, als hätte ich etwas Kluges geäußert. „Natürlich Lee. Du bist so gescheit, und ich mag dich nur noch lieber, weil du das gesagt hast. Ich weiß, was du meinst – keine Heimlichkeiten auf dem Dach oder … Lee, ich bin jederzeit für dich da.“ 135
„Na, na, vergiß nicht, daß ich der Mann bin“, versuchte ich zu scherzen. „Du wartest, bis ich dich auffordere.“ „Ich werde warten, Lee. Von der ersten Sekunde an hast du’s mir angetan. Ach Gott, ich habe nie wirklich an solchen besch … an solchen rührseligen Liebesquatsch geglaubt, aber ehrlich, wenn ich dich anschaue, zittert alles in mir. Und wie du mich eben so fest gehalten hast, da ist es durch mich hindurchgefahren wie Feuer, wie eine Hitzewelle, und …“ „Hör auf, Helen! Sonst weiß ich nicht mehr, was ich tue …“ Sie lachte leise, ein so stolzes kleines Lachen, daß ich sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte. „Du sollst auch deinen Verstand verlieren … Aber nicht auf irgendeinem Dach. Ach, Lee, wir haben die gleichen Gedanken. Und du bist viel erwachsener als alle Leute, die ich kenne. So klug.“ „Kann sein. Helen, wisch dir das Gesicht ab. Und es ist besser, wir gehen nicht gemeinsam hinunter.“ Sie nickte und wischte sich an meiner Bluse das Gesicht ab. Ich verbot meinen Händen, sie zu berühren. Dann gab sie mir einen schnellen, festen Kuß und lief zur Treppe. Ich starrte zu den Sternen empor, riß mir die Mütze vom Kopf, fächelte mein erhitztes Gesicht und wunderte mich über mich selbst. Mein Gott, Helen war ja noch ein Kind, achtzehn Jahre alt, ein etwas unbesonnenes, romantisch veranlagtes … Egal, was ich mir einzureden versuchte, ich spürte, daß ich wirklich aufgewühlt war. Als ich eine halbe Stunde später die Wohnung betrat, schaute Helen von ihrem Buch auf und schenkte mir einen so warmen und strahlenden Blick, daß ich überzeugt war, Mama habe ihn auch gesehen. 136
Ich ging in mein Zimmer. Ace lag bereits im Bett, und als ich mich nach dem Grund erkundigte, antwortete er schläfrig: „Ich habe einen grauenhaft anstrengenden Tag hinter mir.“ „Du arbeitest noch immer?“ „Habe dir doch gesagt, ich habe was im Kommen, eine prima Sache, wenn’s mal soweit ist. Kannst du mir einen Fünfer pumpen für ein paar Tage?“ „Bedaure, ich bin pleite. Könnte ich mich an dieser prima Sache nicht beteiligen?“ Er schüttelte den Kopf und schlief ein. Ich war überzeugt, daß ich an Helen denken würde und daran, wie ich mit der neuesten Entwicklung zurechtkommen sollte, aber sobald ich mich auf dem heißen Laken ausgestreckt hatte, fiel ich in tiefen Schlaf. Dienstag früh begann ein weiterer drückender Tag. Helen kämmte Louises Haar und stupste mich in die Seite, als ich auf die Toilette ging. Ich rannte hinunter, um die Zeitung und Orangensaft zu holen. Ich trank meinen Kaffee und verließ unter dem Vorwand, mich auf dem Arbeitsamt melden zu müssen, als erster die Wohnung. Ich wartete an der Ecke. Als Ace herauskam, blieb er einen Augenblick vor dem Haus stehen. Little Daddy kam daher, sie teilten sich eine Zigarette und setzten sich in Richtung Fifth-Avenue in Bewegung. Ich folgte ihnen, doch sie machten in der Mitte des Blocks halt. Ich hatte keine andere Wahl als weiterzugehen und etwas von einem Telefonanruf zu murmeln, als ich an ihnen vorbeikam. Beim Einbiegen in die FifthAvenue drehte ich mich um. Sie waren verschwunden. Die Leichtigkeit, mit der diese Burschen mich abschüttelten, machte mich stinkwütend. Es wäre sinnlos gewesen, wieder treppauf und treppab zu rasen. Ich beschloß daher, 137
vor dem Haus Posten zu beziehen und zu hoffen, daß Solmen nicht Luft schnappen kommen und mich mit seinen Vorträgen anöden würde. Ich saß, von der Hitze ein wenig schwitzend, auf den Stufen und dachte an den vergangenen Abend. Ich hatte Helen ganz falsch behandelt. Ich hätte ihr sagen sollen, ich sei nicht interessiert. Sie wäre verletzt gewesen, aber sie zu berühren war eine Dummheit gewesen; am Ende hätte ich meinen Auftrag gefährden und sie noch mehr verletzen können. Ich saß da, voll Unruhe, und wünschte wieder einmal, ich hätte nie etwas von der 128. Straße oder von Helen gehört. Mrs. Johnson kam aus dem Haus. „Ich dachte, du willst in die Stadt, Lee?“ „Ach, ich habe zuerst telefoniert. Der Mann sagt, ich soll morgen hinkommen.“ „Halt dich ’ran, deine Miete ist bald fällig. Ich gehe jetzt in die Klinik, mein Bein ansehen lassen.“ Sie hinkte der Lenox-Avenue zu. Solmen trat aus dem Süßwarenladen, watschelte über die Straße. Ich nickte ihm zu, und er blieb oben auf der Souterraintreppe stehen, rieb sich die zerrissenen Schuhe und dröhnte: „Dieses feuchte Wetter ist Gift für meine Füße.“ „Mich macht es auch fertig. Hören Sie, ich war neulich auf dem Dach, und da habe ich drüben auf einem Dach so einen großen Kerl beim Gewichtheben gesehen. Solche Muskeln!“ Solmen nickte. „Diesen Verrückten kenne ich. Das ist unser Unglück: Wir sind bestrebt, diesem Irrgarten zu entfliehen, statt einen richtigen Ausweg zu suchen. Manche finden das falsche Türchen in einer Flasche, manche im Kartenspiel oder in der Religion. Er sucht seines in seinen Muskeln.“ 138
„Ich möchte, daß er mir Unterricht gibt, mich seine Hanteln benützen läßt.“ Solmen riet mir: „Halt dich fern von ihm, das ist nichts für dich.“ „Wie meinen Sie das?“ „Gib dich nicht mit ihm ab“, sagte Solmen und stieg ins Souterrain hinab. Wie aus allem anderen, was in der Straße vorging, konnte ich auch daraus nicht schlau werden. Ich versuchte, alle die Kleinigkeiten zu überdenken, die ich herausgefunden hatte, aber ich war zu unruhig, um mich zu konzentrieren, und dauernd hatte ich Helen im Sinn und meine blöde Freude darüber, daß sie sich mir an den Hals geworfen hatte und … Mary Presenti tauchte auf, in ein adrettes gelbes Kostüm gekleidet. Sie bewegte sich festen Schrittes und sehr selbstsicher. Mir erschien sie wie eine hochmütige Weiße, die ihre lange Nase über das Farbigenghetto rümpfte. Ich vermochte mir nicht zu erklären, warum ich das dachte, schließlich verrichtete sie nur ihre Arbeit. Doch wie sie die Häuser betrat und verließ, auf der Straße lächelnd bei einer Frau mit Kinderwagen verweilte, das Baby tätschelte – das regte mich maßlos auf. Eine Stunde später, als Mary zur Lenox-Avenue ging, folgte ich ihr unauffällig auf der anderen Straßenseite. Ich sah sie die 125. Straße entlangschreiten und einen stadteinwärtsfahrenden Bus besteigen. Es war erst 11.30 Uhr, und ich wußte mit mir nichts anzufangen. Doch ich hatte das Herumlungern satt. Ich ging zum CVJM, um ein bißchen Sport zu treiben, mußte jedoch feststellen, daß dort die Miete für mein Zimmer fällig war. Meine klebrigen Sachen nicht ausziehen zu können, das gab mir den Rest. 139
Ich rannte zur U-Bahn-Station, und bald saß ich hinter dem Steuer meines Wagens, ohne die alberne Mütze. Ich war wieder ich selbst, als ich die Brücke in der 59. Straße überquerte und nach St. Albans fuhr. Wie erwartet, war niemand zu Hause, aber ich holte mir den Schlüssel bei der Nachbarin. Die Frau schien mich kaum wiederzuerkennen; zweifelnd musterte sie meine Aufmachung. In meiner Bude nahm ich rasch eine Dusche, zog zur Abwechslung einmal richtige Schuhe an, überprüfte meine Waffe und die Dienstmarke in der verschlossenen Schublade. Ein paar Briefe waren für mich gekommen: mein Gehaltsscheck, ein Brief von meinen Leuten, einige Reklamen. Ich trug die Post und die Segeltuchschuhe zum Wagen, dann gab ich den Schlüssel zurück. Als ich hinter das Lenkrad schlüpfte, hörte ich Miriam schreien: „Lee! Wo steckst du bloß die ganze Zeit?“ Sie kam aus einem protzigen Ziegelbau auf der anderen Straßenseite gelaufen, mit Shorts bekleidet und einem gestreiften Rollkragenpullover, der ihren vollen Busen bestens zur Geltung brachte. Nachdem sie mir rasch einen Kuß gegeben hatte, sagte sie: „Du bist mir einer, die ganze Woche weg, und kein einziger Anruf! Mein Tanzabend steht vor der Tür, und ich weiß nicht einmal, wo ich dich telefonisch erreichen kann. Ich habe es im Präsidium versucht, aber dort schien auch niemand zu wissen, wo du arbeitest. Ich … Was sollen die dicken Socken und überhaupt die sportliche Kluft?“ „Ich will gerade zum Training. Wieso bist du zu Hause?“ „Muß mich auf ein blödes Examen vorbereiten. Lee, der Ball findet diesen Samstag statt, und …“ „Tut mir leid, Miriam. Irrsinnig ungeregelte Arbeitszeit.“ 140
„Lee, du weißt ja gar nicht, um wieviel Uhr der Ball losgeht.“ „Miriam, das ist ganz egal, die Aussichten sind gleich Null, daß ich am Samstag frei habe oder bald einmal.“ Miriam holte tief Luft, hob die Hand und streichelte ihr glattes kastanienfarbenes Haar. Sie präsentierte es und ihren stolzen Busen wie Orden. Ich fügte hinzu: „Es tut mir ja leid, ich hätte dich anrufen und dir Bescheid geben sollen, aber ich tippe gerade ein langes geheimes Gerichtsprotokoll ab.“ Sie wirbelte herum. „Das ist wirklich großartig. Ich habe dir davon erzählt, ich habe mich so darauf verlassen, daß du mich begleitest, natürlich habe ich da keinen anderen ersucht. Und jetzt …“ „Miriam, es tut mir leid, und ich bin ein bißchen in Eile.“ „Wirklich, Lee, das ist peinlich. Ich muß natürlich hingehen, und wie stehe ich da, wenn ich erst in letzter Sekunde jemanden ersuche, mich zu begleiten?“ „Sag, daß ich krank bin.“ Ich grinste, weil ich mir vorstellte, wie Helen mich in der gleichen Situation ausgeschimpft hätte. „Ich finde das nicht komisch. Du bist gemein.“ „Miriam, ich bin verteufelt in Zeitdruck. Meine Arbeit ist sehr anstrengend, ich habe mich eben nur mal heimlich verdrückt.“ Ich kniff sie ins Kinn. „Das nächste Mal reden wir ausführlicher miteinander. Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Und du rufst mich an, hörst du, Lee Hayes?“ „Jawohl. Wenn ich jetzt nicht losbrause, werde ich arbeitslos“, gab ich zurück und startete. 141
Ich beobachtete Miriam im Rückblickspiegel. Der erschreckte Ausdruck ihres reizenden Gesichts gab klar zu verstehen, daß es für uns nichts mehr zu bereden gab, wenn ich arbeitslos würde. Ich fuhr zur Bank und deponierte meinen Scheck. Die jüdisch aussehende Kassiererin, der ein übergroßes Kruzifix vom langen Hals baumelte, fragte, warum ich nicht in Uniform sei. Ich redete mich auf eine Nachttour heraus. Draußen vor der Bank überlegte ich, ob ich zwanzig Dollar in den Socken verstecken oder vielleicht Miriam Bonbons schicken sollte – ich hatte sie schlecht behandelt; warum aber ein Tanzabend so verdammt wichtig sein sollte, wenn … Da fiel mein Blick auf den Laden gegenüber, wo ein schreiendes Plakat verkündete: „Schreibmaschinen! Nur diese Woche: 30% Preisnachlaß auf alle Modelle!“ Hier bot sich die Lösung für eines meiner Probleme an. Wenn Helen eine eigene Schreibmaschine bekam, dann war sie nicht mehr gar so schlecht dran, egal, was zwischen uns passieren mochte. Der Verkäufer versuchte mir eine leichte Reiseschreibmaschine aufzuschwatzen, die seinen Worten nach „ewig halten“ würde. Sie klapperte, als ich sie ausprobierte, und sobald er merkte, daß ich tippen konnte, änderte er seine Taktik. „Wenn Sie wirklich viel tippen, dann nehmen Sie dieses schwerere Modell. Der Preisunterschied beträgt nur fünfzehn Dollar, und die Maschine hält allerhand aus. Für sechsundfünfzig Dollar neunundachtzig Gelegenheitskauf.“ Auf dem Originalpreisschild stand 66,99; er war also schwach im Rechnen oder nahm an, alle Neger seien es. Als ich ihm nachwies, daß ein Rabatt von 30% einen 142
Preis von 46,89 ergab, bekannte der verlegene Verkäufer: „Entschuldigen Sie – ich habe mich geirrt. Die städtische Verkaufssteuer beläuft sich auf etwa einen Dollar und – achtzig Cent. Aber wir haben eine Zweigniederlassung in Jersey City. Ich stelle Ihnen die Rechnung auf einem Schein der Zweigstelle aus, dann sparen Sie die Steuer. Möchten Sie einen karierten Koffer oder einen einfarbigen?“ „Kariert. Ich hole nur schnell das Geld.“ Der Verkäufer machte ein langes Gesicht, als ich hinausging. Ich hob in der Bank Sechsundsechzig Dollar ab und kehrte zur Überraschung des Verkäufers in das Geschäft zurück, um die Schreibmaschine zu holen. Auf der Rückfahrt nach Manhattan und zur Garage überlegte ich, wie ich Helen den Kauf der Maschine am besten erklären konnte, ohne mich noch tiefer zu verstricken. Es war kurz vor drei Uhr, als ich wieder die Segeltuchschuhe anzog und die Mütze aufsetzte. Meine regulären Schuhe ließ ich im Wagen, Fahrzeugpapiere und Führerschein gab ich wieder im Büro der Garage ab. Als ich mit Leutnant Davis telefonierte, sagte er: „Wir haben Ihren muskulösen Taxifahrer unter die Lupe genommen. Es liegt nichts gegen ihn vor. Der Taxiunternehmer hält nicht viel von ihm; angeblich ist er schwul.“ „Das wäre eine Erklärung dafür, warum man mir nahegelegt hat, mich von ihm fernzuhalten …“ „Daß er’s mit den Burschen hat, sagt noch nichts über seine Rolle im Rassenkampf – aber irgendwie paßt er nicht ins Bild. Hätte bei seinen Kollegen als Fanatiker verschrien sein müssen und dergleichen. Wir wissen noch immer nicht, was dieser ‚Schlag‘ ist und wann er durchgeführt werden soll?“ 143
„Soll ich Ace hart anfassen?“ „Nein. Sie würden sich nur grundlos verraten. Halten Sie die Augen offen. Mary sagt, Sie sind ein richtiger Schauspieler, angeblich haben Sie heute morgen wie ein Beatnik ausgesehen.“ „Richten Sie ihr meinen Dank aus.“ „Halten Sie die Augen offen, Lee, man kann nie wissen, was diese aufgeputschten Burschen anstellen wollen.“ „Aber die nehmen doch kein Rauschgift.“ „Auch Haß kann wie eine Droge wirken. Rufen Sie morgen wieder an.“ Ich bestellte mir in einer Imbißstube unweit der Garage ein Sandwich und Eistee; mir schien, daß der Weiße, der am Büfett bediente, mir das Glas hinknallte – und ich lachte mich im Spiegel aus: Aces Zimmerinschrift begann sich auf meinen verwirrten Sinn auszuwirken. In der U-Bahn behielt ich den neuen schwarz und rot karierten Schreibmaschinenkoffer auf dem Schoß und las den Brief meines Vaters. Er versuchte immer, seine Briefe auszuschmücken, aber daheim ereignete sich nie etwas. Dreiunddreißig Jahre lang arbeitete er nun als Nachtwächter, hatte nie etwas anderes getan. Und wie gewöhnlich schrieb er, daß sich der Chef oft nach mir erkundigte. „Er ist stolz, daß Du Polizeibeamter in der großen Stadt bist, Lee. Wir auch, aber Mutter macht sich ein bißchen Sorgen, weil wir so viel von den Verbrechen in New York lesen.“ Er erkundigte sich, wann meine nächsten sechsundfünfzig Freistunden fällig wären und ob ich nach Hause kommen würde. Seit zehn Tagen hatten sie keine Post von mir erhalten. An der Haltestelle 125. Straße und Lenox-Avenue verließ ich die U-Bahn und warf den Brief in eine Abfalltonne. Ich zog die alberne Mütze tief in die Stirn und ging die 144
Avenue hinauf. Ich befand mich zwischen der 127. und der 128. Straße, als ich Dick Gates knüppelschwingend direkt auf mich zukommen sah. Wahrscheinlich hatte er eben seinen Dienst angetreten, die Sechzehn-Uhr-Tour. Als ich ihn mit dem anderen Polizeibeamten beim Spießrutenlaufen in der 128. Straße gesehen hatte, da hatte er mich nicht erkannt, und ich wußte nicht einmal mehr seinen Namen. Doch nun war er mir wieder eingefallen. Auf der Straße damals am Abend hatte er unter großer nervlicher Belastung gestanden, doch nun war ich überzeugt, daß er mich erkennen würde. Ich senkte den Kopf, als ich an ihm vorbeikam, und versuchte mir zurechtzulegen, was ich sagen würde, wenn … „He, du, ist das eine Schreibmaschine, was du da hast?“ Ich blieb stehen und schaute ihn an. Seine harten Augen zeigten kein Wiedererkennen. Ich bemühte mich, nicht erleichtert zu lächeln. „Ja, Sir.“ „Die ist neu. Wo hast du sie her?“ „Gekauft.“ „So siehst du aus.“ Ein paar Passanten blieben stehen. Gates zeigte mit seinem Gummiknüppel auf einen Hauseingang. „Los, dorthin.“ „Dort wohne ich nicht!“ „Mach schon! Weitergehen, Leute, hier gibt’s nichts zu sehen!“ Gates folgte mir in den trüb erleuchteten Flur und gebot: „Gesicht zur Wand, Hände hoch!“ „Darf ich zuerst die Maschine hinstellen?“ „Klar, du Schlaumeier.“ Ich stellte die Schreibmaschine auf den Boden und stellte mich mit dem Gesicht zur Wand. Seine Hände 145
tasteten schnell meine Hüften und Beine ab. Er zog das Stück Seife aus meiner Gesäßtasche, klopfte meine Seitentaschen ab. Der Rechnungsbeleg mußte hervorlugen; ich spürte, wie er ihn nahm. „Umdrehen!“ Er versuchte, den Zettel im Dämmerlicht zu lesen. Er warf mir die Seife zu, und ich steckte sie in die Tasche. Dann reichte er mir den Kassenzettel. „Warum hast du mir das nicht gezeigt, als ich gefragt habe, wo du die Schreibmaschine herhast?“ „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich sie gekauft habe. Denken Sie, ich habe sie gestohlen?“ Fast hätte ich hinzugefügt: Dick. „Wozu brauchst du eine Schreibmaschine?“ Seine Augen musterten meine Kleidung. „Zur Fortbildung, wie in den Annoncen steht.“ „Frech bist du auch noch? Ich habe gesehen, wie du gegrinst hast, als ich dich vorhin angehalten habe. Guter Witz. Da hast du mir den Kassenzettel nicht zeigen können. Bist wohl auf Ärger aus?“ „Ich bin auf gar nichts aus. Sie haben mich angehalten.“ „Das hat dir nicht gefallen, was?“ „Das hat mir nicht gefallen.“ Gates hielt den Gummiknüppel kurz gefaßt. Plötzlich stieß er ihn mir in den Magen. Ich stand an der Wand, konnte dem Schlag nicht einmal nachgeben. In meinem Inneren brannte es wie Feuer, als ich nach Atem rang und mich bemühte, bei Bewußtsein zu bleiben. Wenigstens hat er auf der Akademie gelernt, den Gummiknüppel richtig zu handhaben, dachte ich flüchtig. „Mir hängt es schon zum Hals heraus, wie ihr schwarzes Gesindel euch aufführt, als ob euch die Welt gehört, ihr arroganten Hurensöhne, ihr …“ 146
Und so weiter, mit vor Wut erstickter Stimme. Ich spreizte die Beine, um im Gleichgewicht zu bleiben, und preßte die Hände gegen den Leib. Ich wollte mich erbrechen, aber das Sandwich in meinem Magen hatte sich in Blei verwandelt. „ … dauernd um eure Rechte winseln, und dabei bildet ihr schwarzen Schweinehunde euch ein, daß ihr über dem Gesetz steht. In Horden, da seid ihr tapfer, in der U-Bahn randalieren, alte Leute terrorisieren oder Kinder, die …“ Eine leise innere Stimme riet mir, Ruhe zu bewahren, ihn sich austoben zu lassen. Doch eine lautere Stimme fragte, warum ich mir das bieten lassen mußte. Sein Knüppel senkte sich vor meinen Augen, er hielt ihn nun an der Lederschlaufe. Fast konnte ich spüren, wie der Haß in seiner Stimme meine Matrosenmütze niederdrückte. Ich stemmte die Füße gegen den Boden und schwang die Fäuste. Beide trafen sein Kinn so hart, daß ich den Aufprall noch in meinen Schultergelenken spürte. Gates krachte an die gegenüberliegende Wand und sackte bewußtlos zusammen. Ich holte tief Luft und rieb mir den brennenden Leib. Einen Blick warf ich auf die wenigen Leute, die von draußen hereinschauten und sehen wollten, was da im Flur vor sich ging. Dann riß ich ihm das Dienstabzeichen vom Hemd, nahm ihm den Revolver ab, ergriff die Schreibmaschine und rannte die Treppen hoch und aufs Dach.
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Mein Kleiner, der Joe, das ist ein braver Junge, aber bei Gott, ich weiß nicht, was mit dem Jungen in letzter Zeit los ist. Da koche ich also diesen Topf Chiligulasch. Ich mache mich immer beim Abendessenkochen nützlich, wenn meine Frau länger arbeitet. Ich komme schon gegen zwei Uhr nach Hause, weil ich so verdammt früh anfangen muß. Mir geht das Chilipulver aus. Das ist natürlich nicht schlimm, die Büchse kostet einundvierzig Cent in Harlem und fünfunddreißig Cent in der Stadt, wo ich arbeite, aber zufällig habe ich nur dreißig Cent bei mir. Wie Joe also aus der Schule kommt, frage ich ihn, ob er Geld hat, und er sagt: „Pa, wo soll ich denn Geld herhaben?“ Ich schicke ihn nach nebenan, ob er elf Cent von der alten Mrs. Dillon borgen kann, sonst taugt der ganze Topf Chiligulasch nichts, und es war schon um einen Dollar Rindfleisch drin. Joe, der kommt so nach zwanzig Minuten wieder, gibt mir eine ganze Dose Chilipulver und grinst dabei. Ich sage: „Du hast Mrs. Dillon doch nur um …“ „Sie war nicht zu Hause.“ „Woher hast du das?“ „Aus dem Supermarkt, was hast denn du gedacht, Pa?“ „Aber ich habe dir doch gar nicht meine dreißig Cent gegeben … Du hast das gestohlen!“ Ich gebe ihm eine Ohrfeige. Ich bin kein strenger Vater, aber wie mein Papa immer gesagt hat, wenn du mit deinem Sohn nicht mehr fertig wirst, dann ist es Zeit, daß entweder er aus dem Haus geht oder du. Ich brülle: „Was ist denn mit dir los? Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst vorsichtig sein und nicht gegen das Gesetz verstoßen?“ Joe, der weicht zurück, Wut in den Augen und die kleinen Fäuste bereit. 148
Er sagt: „Pa, sei nicht albern, es gibt kein Gesetz. Im Gesetz steht, Farbige können wählen, und hast du das Bild gesehen von den dreien, die in Mississippi umgebracht worden sind, weil sie die schwarzen Wähler registrieren wollten? Und was ist mit den Zeitungsbildern, wo auf einem Strand Weiße mit Axtstöcken auf farbige Schwimmer eingedroschen haben, und die Polizei hat danebengestanden? Komm mir bloß nicht mit Gesetzen, die Weißen richten sich nicht danach, warum sollte ich? Es gibt keine Gesetze!“ Jetzt sagen Sie mir, wo kriegt ein Zwölfjähriger solche Ideen her? Ich habe schon den Riemen abschnallen wollen, weil er so frech war, aber ich habe ihn nur ausgeschimpft. Ich habe mir überlegt, wie ich ihm erklären soll, daß er sich irrt, aber ich weiß nicht … Was kann ich ihm antworten auf das, was er gesagt hat?
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7
Dienstag
Keuchend, mit immer noch schmerzverkrampftem Magen, huschte ich ungesehen über die Dächer. Ich nahm die Patronen aus Gates’ Dienstrevolver, steckte sie zusammen mit dem Dienstabzeichen in die Tasche. Ich schmetterte die Waffe gegen eine Ziegelwand, brach den Schlagbolzen, rieb sie sorgfältig mit meiner Bluse ab, um meine Fingerabdrücke zu entfernen, und warf sie in einen Kamin. Über weitere Dächer hinweg erreichte ich die 128. Straße und ging in die Wohnung hinunter. Als ich eintrat, rief Louise aus dem Bad, sie sei allein zu Hause. Ich schob die Schreibmaschine weit unters Bett, zog mir ein Sporthemd an, saß da und starrte meine Fingerknöchel an. Sie waren geschwollen, aber die Haut war nicht aufgeplatzt. Nach einem Blick auf das „WEISS IST SCHEISS“ an der Wand fügte ich im Geiste ein Amen hinzu. Nachdem ich Gates’ Dienstabzeichen und die Patronen mit einigem Abfall aus der Tüte in der Küche in eine Zeitung gewickelt hatte, sagte ich, als ich die Wasserspülung rauschen hörte, zu Louise, ich müsse noch einmal fortgehen. Unten warf ich das Paket in eine Mülltonne und versenkte meine verrückte Matrosenmütze in einer anderen, als ich der Fifth-Avenue und dem nächsten Friseurladen zustrebte. Während ich mir den Kopf rasieren ließ, hörte ich von der Lenox-Avenue her das schwache Jaulen einer Polizeisirene. Mir war von dem Schlag in den Magen speiübel. Und ich machte mir Vorwürfe, weil ich die Beherrschung verloren hatte. Ich hatte Gates’ Waffe und Dienstabzeichen aus Bosheit genommen; der Verlust dieser Dinge war für ihn schlimmer als eine Tracht Prügel. Er konnte auf Wochen 150
hinaus suspendiert oder sogar entlassen werden. Aber verdammt noch mal, schließlich hatte er zuerst ungesetzlich gehandelt, nicht ich. Idiotische Weiße – kaum sehen sie einen Schwarzen mit etwas Neuem: Hoppla, das muß er gestohlen haben! Ich war so gut wie überzeugt, daß ein rasierter Kopf und eine neue Mütze als Tarnung ausreichen würden, da mich Gates schon vorher nicht erkannt hatte. Doch wenn die Polizei eine Haus-zu-Haus-Fahndung einleitete und die verdammte Schreibmaschine fand? Ich bezweifelte jedoch, daß es soweit kommen würde; ein Polizeibeamter war lediglich zusammengeschlagen, nicht getötet worden. Und falls Gates sich an den Firmennamen auf dem Rechnungsbeleg erinnerte – in Jersey City hatte man mich nie gesehen. Selbst wenn sie das Geschäft in Brooklyn aufsuchten, würde der Verkäufer bestimmt nicht zugeben wollen, daß er die Stadt um die Steuer geprellt hatte. Ich verließ den Laden und eilte in östlicher Richtung die Lenox-Avenue entlang, kaufte eine billige Khakimütze, die ich anschmutzte, und eine blaue Sonnenbrille. Als ich mich in einer Schaufensterscheibe spiegelte, erkannte ich mich selbst nicht wieder. Beim Nachhausegehen sah ich eine Menschenmenge in der Lenox-Avenue. Ich ließ mir im Süßwarenladen ein Soda geben und fragte den Mann aus Westindien, was da los sei. „Ein Bulle ist niedergeschlagen worden. Schwere Zeiten stehen uns bevor, Mann, die Polizisten werden sein wie Bluthunde.“ „Wann ist das passiert?“ „Vor ein paar Minuten.“ „Und ich war beim Friseur und habe mir den ganzen Spaß entgehen lassen!“ 151
„Spaß? Das ist eine schlimme Sache. Es wird wieder so sein wie bei den Krawallen letzten Sommer. Überall Polizei“, brummte der Ladenbesitzer kopfschüttelnd. Ich ging hinauf. Mrs. Johnson war zu Hause, und da Louise kicherte, als ich die Mütze abnahm, rief Mama: „Großer Gott, Lee, was hast du denn mit deinem Kopf angestellt?“ „Es wird heiß, da habe ich mir die Locken scheren lassen.“ „Ihr Landjungen redet manchmal wirklich komisch.“ Um meine Leibschmerzen zu lindern, streckte ich mich auf dem Bett aus. Wie hypnotisiert starrte ich die böse Schrift an den Wänden an. Lange Zeit später hörte ich durch den Luftschacht das Poltern der Abfalltonnen. Der Müll wurde abgeholt. Ich hatte wie ein dummer Junge gehandelt, indem ich die Patronen in der 128. Straße weggeworfen hatte. Ich strapazierte mein Glück über Gebühr. Aber Glück brauchte ich verdammt notwendig, sonst verlor ich meine Stellung oder kam ins Gefängnis … Ich setzte mich so rasch auf, daß mich der Magen wieder zu schmerzen begann. Ich hätte die Schreibmaschine nicht herbringen dürfen! Ebensogut hätte ich Helen eine Stange Dynamit in die Hände drücken können. Ich hätte das verdammte Ding vom Dach werfen sollen, in einen Hof … Nein, an der Seriennummer ließ sich die Maschine nur allzu leicht zu dem Geschäft in Brooklyn zurückverfolgen. Und sobald der Verkäufer erwähnte, ich hätte Geld geholt, war die Bank der erste Ort, wo man nachfragen würde, und ich war einer der wenigen farbigen Kunden. Ich zog die Maschine unter dem Bett hervor, steckte sie in meinen abgewetzten Koffer und breitete meine alte Trainingsbluse darüber. In ein paar Tagen würde es 152
ungefährlich sein, sie im Fluß zu versenken. Ich fand das jammerschade; da sehnte sich Helen nach einer Maschine, und sie war zum Greifen nahe. Konnte ich nicht später vielleicht einen anderen Schreibmaschinenkoffer kaufen und den karierten vernichten? Verdammt, warum hatte ich auch ein so schreiendes Karo kaufen müssen, das … Ich zuckte zusammen, als es an die Tür klopfte. Helen fragte: „Lee, bist du angezogen?“ Ich kickte den Koffer unters Bett und öffnete die Tür. Sie starrte meinen kahlen Schädel an und lachte, ein warmes Lachen, das einzig Echte in dieser verdrehten Welt. „Mama hat es mir schon gesagt, aber ich habe es nicht geglaubt. Mit Haar gefällst du mir besser.“ Sie trat ein und küßte mich rasch. „Mit oder ohne Haar – ich bin für dich da!“ Eine Sekunde lang empfand ich nichts anderes als Verlangen nach ihr. Ich dachte: Ich könnte sie nehmen, und wenn ich später fortgehe, wäre es fast so, wie sie es erwartet. Ich vertrieb den blöden Gedanken, strich ihr übers Haar und drückte sie kurz an mich. Sie fragte: „Hast du auf dem Arbeitsamt etwas erreicht?“ „Nein; das übliche Warten. Ich soll jede Woche eine Unterstützung bekommen, und wenn ich innerhalb von fünfzehn Tagen keine erhalte, soll ich wieder hinkommen. Wo bist du gewesen?“ „Da und dort. Stell dir vor, heute ist nulldreizehn gezogen worden, und ich habe einen Vierteldollar auf dreihundertzwanzig gesetzt. Um die Ecke hat es Krach gegeben, die Bullen kriechen auf allen Dächern herum.“ „Ja, angeblich ist ein Polizist niedergeschlagen worden.“ „Ich habe gehört, der Polizist hat einen Mann mit einem großen Koffer angehalten und ihn in einen Hausflur 153
geführt, um ihn nach Rauschgift zu durchsuchen, aber der Kerl hat ein Stück Rohr in der Mütze versteckt gehabt und dem Polizisten das Kinn damit zerschmettert.“ „Ist die Polizei noch in der Nähe?“ Helen nickte und trat zurück, als wollte sie ein Bild betrachten. „Laß dir das Haar wieder wachsen, du siehst ja aus wie zehn Jahre alt!“ „Ich werde mich bemühen. Helen, kannst du mir mit Papier und einer Feder aushelfen? Ich bin meinen Leuten einen Brief schuldig.“ Sie versorgte mich mit dem Gewünschten und ging wieder in die Küche. „Mama, das Licht im Gang brennt schon wieder nicht. Ace soll es Mr. Solmen melden, wenn er heimkommt. Louise geh hinaus, spielen. Fernsehen gibt’s erst nach dem Abendessen, sonst verdirbst du dir die Augen.“ Stehend benutzte ich die Kommode als Schreibtisch und schrieb meinen Leuten, alles sei in Ordnung. Ich wisse nicht genau, wann ich frei haben würde, aber ich würde sie verständigen. Ich hatte keine Lust, Briefmarken und ein Kuvert kaufen zu gehen, aber ich wollte wissen, wie ich ankommen würde. Ich tastete mich die dunkle Treppe hinunter; jeder Schritt erinnerte mich daran, daß es Stunden dauert, bevor die Schmerzen nach so einem Schlag in den Leib abklingen. Außer einem parkenden Funkstreifenwagen an der Ecke der Lenox-Avenue sah ich keine Ansammlung von Polizeibeamten. Ich schlenderte zur Fifth-Avenue und kaufte in einem Drugstore Briefmarke und Kuvert, dann warf ich den Brief ein. Es war beinahe sechs Uhr, und die 128. Straße begann sich mit Männern und Frauen anzufüllen, die von der 154
Arbeit nach Hause kamen. Sie unterhielten sich gruppenweise und machten Kopfbewegungen in Richtung Lenox-Avenue. Ich ging durch den dunklen Flur und die Treppe hinauf, da riß mich eine Hand herum. Ich duckte mich, breitete beide Arme aus, traf eine Schulter. Ace sagte: „Verdammt, Lee, was schlägst du gleich um dich? Ich habe dich kommen sehen, als ich schon im Haus war.“ „Die Friedhöfe sind voller Leute, die im Finstern Spaß gemacht haben.“ „Mann, die Gegend wimmelt von Blauen. Angeblich hat ein Bulle einen von uns filzen wollen, hat ihn aber in den falschen Flur mitgenommen, dort hat der Unsrige nämlich Freunde gehabt. Die haben den Bullen verprügelt und nackt ausgezogen.“ „Warum wollte er ihn filzen?“ fragte ich, während wir die Treppe hinaufstiegen. Ace rückte sein Hütchen zurecht und zuckte die Achseln. „Bullen sind mit so was schnell bei der Hand. Angeblich hat der Unsrige einen Koffer voll heißer Ware bei sich gehabt“, sagte Ace und öffnete die Wohnungstür. Er sperrte den Mund auf. „Mann, du hast dir die Birne poliert, und schaut euch die Sonnenbrille an! Lee, bist du über einen Schatz gestolpert? Ich brauche ein paar Kröten, aber dringend.“ „Komm, komm, woher soll ich seit heute früh reich geworden sein? Die Hitze hat mich fertiggemacht, da habe ich meinen letzten Dollar beim Friseur ausgegeben.“ „Schon gut, man fragt ja nur.“ Mrs. Johnson sagte: „Was stehst du draußen herum, Ace? Spring hinunter zu Mr. Solmen, das Ganglicht brennt nicht.“ 155
„Später, Ma, ich bin müde“, wehrte er ab und trat ein. „Von was?“ „Vom Arbeiten.“ Helen sagte: „Soweit kommt’s noch.“ „Halt dein loses Mundwerk! Ich habe dir doch gesagt, daß ich da eine Sache laufen habe. Ich bin noch nicht bezahlt worden, aber wart’s nur ab.“ Helen stupste Ace gutmütig in die Schulter. „Klar, in einer Weile fahren wir alle im Cadillac.“ „Möglich ist alles.“ „Bevor du so reich wirst, gehst du hinunter und kümmerst dich um das Licht, sonst falle ich noch. Ich war sowieso schon den ganzen Tag in der Klinik“, sagte Mrs. Johnson. „Helen, deck den Tisch. Ace, ruf Louise herein. Lee, du kannst gern mit uns essen.“ „Danke, aber ich habe keinen Hunger.“ „Lee, zier dich nicht.“ Ich berührte vorsichtig meinen Magen. „Ich habe Bauchschmerzen.“ Ich wusch mich. Ace kehrte mit Louise zurück und meldete: „Solmen war nicht da. Wenn man ihn nicht braucht, lungert er dauernd auf dem Gehsteig herum und schwingt Reden. Wenn man ihn braucht, ist er nicht da.“ Ins Wohnzimmer tretend, fragte ich: „Ist er verheiratet?“ „Der mit seinem Bauch kommt doch an keine Frau ’ran!“ meinte Louise. Mrs. Johnson begann zu lachen, dann langte sie über den Tisch und gab dem Kind einen Klaps. „Noch ein schmutziges Wort, und du bekommst nichts zu essen, du Frechdachs!“ Ich saß im Polstersessel und blätterte in Aces Fliegerbuch, während die anderen aßen und Helen versuchte, 156
Louises Geplärr abzustellen. Es war eigenartig, daß bei all den wilden Gerüchten, die in der Straße kursierten, niemand den karierten Schreibmaschinenkoffer erwähnt hatte. Vielleicht konnte ich Helen die Maschine doch noch geben? Oder bewahrte die Polizei über die Schreibmaschine absichtlich Schweigen, als Falle? Und ich würde Helen ermahnen müssen, die Schreibmaschine niemals aus der Wohnung hinauszutragen, was alle möglichen unbeantwortbaren Fragen nach sich ziehen würde. Am besten, ich warf sie einfach weg. Beim Umwenden der Seiten, außerstande, mich auch nur auf die Bilder zu konzentrieren, dachte ich an Dick Gates. Wenn ich mich bei der Durchführung meines Auftrages von weißen Flegeln anpöbeln lassen mußte, noch dazu auf Befehl, und dann einen solchen Kerl allein zu fassen bekam – da durfte ich auch meiner Wut freien Lauf lassen. Ich klappte das Buch zu. Eine Schabe kroch über die Zimmerdecke, und ich wunderte mich, daß sie nicht herunterfiel. Bemüht, nicht zu laufen, durchquerte ich die Küche und murmelte etwas von „frische Luft schnappen“. Da hatte ich herumgesessen, und Davis erwartete vermutlich einen Anruf wegen dieser Gates-Affäre. Es hätte sehr sonderbar gewirkt, wenn ich nicht angerufen hätte. Ich kam mir wie ein Verbrecher vor, als ich im Süßwarenladen die Tür der Telefonzelle hinter mir schloß und Davis’ Nummer wählte. Mein Magen schmerzte, so schnell war ich die Treppe hinuntergerast. Jack meldete sich. „Lee? Ich habe Ihren Anruf erwartet. Was wissen Sie von dem Überfall auf den weißen Polizeibeamten?“ „Nichts Bestimmtes. Den Gerüchten zufolge hat er einen Hehler angehalten, einen Rauschgifthändler, der 157
einen Wetteinnehmer berauben wollte. Wurde er schwer verletzt?“ „Kieferfraktur. Er hat von einem Halbwüchsigen, der eine neue Schreibmaschine trug oder zumindest einen neuen karierten Schreibmaschinenkoffer, Auskunft verlangt, und der Junge schlug ihn nieder, vermutlich mit einem Stück Rohr. Gates nimmt an, er sei gleichzeitig von anderen angefallen worden, von hinten. Er hat eine Beule am Hinterkopf. Wissen Sie, daß man ihm Waffe und Dienstabzeichen abgenommen hat?“ Die Beule stammt vom Aufprall an die Wand, und den Angriff von hinten hatte Gates erfunden, um dem Vorwurf der Unachtsamkeit zu entgehen. „Nein, Jack, davon habe ich nichts gehört, nur, daß der Beamte niedergeschlagen wurde. Ich kannte auf der Akademie auch einen Gates. Hat er seinen Angreifer beschrieben?“ „Nicht sehr gut. Schwarz, etwa eins fünfundsiebzig groß, ortsübliche Halbstarkenkleidung, Mütze tief ins Gesicht gezogen.“ „Ich glaube nicht, daß die Burschen aus der 128. Straße daran beteiligt waren, sie schienen überrascht und ein bißchen erschrocken zu sein. Läßt sich die Herkunft der Schreibmaschine bestimmen?“ „Nein. Gates hat einen Kassenzettel gesehen, aber im Flur war es finster, und er kann sich nicht an den Namen des Geschäfts erinnern.“ „Kassenzettel?“ warf ich ein. „Wenn kein Diebstahl vorlag, warum hat er dann den Burschen angehalten?“ „Gates behauptet, der Junge habe sich verdächtig benommen, habe sich nicht ausweisen wollen. Gates ist ein junger Polizeibeamter und wahrscheinlich auf Ruhm aus. Es war idiotisch von ihm, den Jungen allein in einen 158
Hausflur mitzunehmen. Lee, könnte das etwas mit Aces ‚Schlag‘ zu tun haben? Die Brieftasche hat Gates nicht eingebüßt, nur Dienstmarke und Revolver. Könnten die vorhaben, daß einer sich für einen Polizeibeamten ausgibt?“ „Das bezweifle ich, auch wenn wir nicht wissen, was sie planen. Meiner Meinung nach hat die 128. Straße nichts damit zu tun. Man erzählt sich außerdem, Gates habe ohne allen Anlaß auf den Mann eingeschlagen und daß es sich um eine Rassensache handelt.“ „Möglich. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie schlimm das alles für das Ansehen der Polizei ist. Wir müssen Dienstabzeichen und Revolver finden, den Täter bestrafen. Horchen Sie herum, Lee. Mary kommt morgen schon um neun Uhr in die Straße. Wenn Sie irgendeine Spur finden, rufen Sie mich an. Ich werde den ganzen Abend hier sein … .“ „Ja, Sir.“ Ich hängte ein. Bis jetzt war ich also unverdächtig, aber das deprimierte mich eigentlich noch mehr. Das Ansehen der Polizei – wenn Davis bloß wüßte! Ich verließ die heiße Zelle. Auf der Schwelle des Süßwarenladens blieb ich einen Moment stehen und kratzte mir den kahlgeschorenen Kopf. Trotz der herrschenden Wärme war die Straße so gut wie menschenleer. Zwei kräftige farbige Männer schritten langsam dahin, Fremde und offensichtlich Kriminalbeamte. Ein Funkstreifenwagen fuhr wiederholt durch die Straße; beide Beamte rauchten heimlich. Der westindische Ladenbesitzer stand neben mir. Er leckte sich die Lippen. „Wird ruhig sein für den Rest der Nacht; die Leute haben Angst herauszukommen. Ich denke, ich schließe jetzt, ruhe meine Füße aus. Siehst du, was so eine Sache einem Geschäftsmann antut?“ 159
„Man hat es überhaupt nicht leicht“, tröstete ich ihn. Ich setzte die Mütze auf und rückte die Sonnenbrille zurecht. Dann ging ich nach Hause. Ace hatte es sich bequem gemacht und saß, ohne Hut und Latschen, mit Mrs. Johnson und Louise vor dem Fernsehapparat. Sogar seinen Sandkarton hatte er vergessen. Helen spülte das Geschirr. Das Gefühl des Eingepferchtseins überfiel mich ganz stark, aber ich wußte, daß es klüger war, im Haus zu, bleiben. Als Helen mit den Abfällen hinuntergehen wollte, nahm ich ihr die Tüte ab, aber sie meinte: „Ich komme lieber mit, Lee, ich muß dir zeigen, wo du das hinwerfen sollst.“ Hand in Hand stiegen wir vorsichtig die finstere Treppe hinab. Im Keller warfen wir die Tüte auf die vollen Tonnen und schreckten dabei zwei Katzen auf. Mit einem warmen Lächeln wandte sich Helen mir zu und wollte mich umarmen. Sie machte ein beleidigtes Gesicht, als ich den Kopf schüttelte und sagte: „Nicht hier. Da stinkt’s.“ Wir gingen, nicht Hand in Hand, hinauf, und als wir die Stelle erreichten, wo kein Licht brannte, nahm ich sie in die Arme und küßte sie heftiger, als ich beabsichtigt hatte. Sie preßte sich an mich, flüsterte: „O Gott! Lee, Lee!“ und strich mir über den rasierten Kopf. „Du riechst gut.“ „Ja, wahrscheinlich nach Spülwasser.“ „Nein, sexy und heiß.“ „Sag nicht solche Sachen, Lee. Das regt mich auf.“ „Schon gut. Gehen wir hinauf.“ „Ach, Lee, ich muß immerzu an dich denken, jede Minute.“ 160
„Ich denke auch viel an dich, Helen“, versicherte ich und dachte dabei, daß ich die verdammte Schreibmaschine so rasch wie möglich wegschaffen mußte. Mrs. Johnson warf uns einen argwöhnischen Blick zu, als wir eintraten. Ich begab mich sofort ins Bad und blieb eine Weile dort, bis ich mich abgekühlt hatte. Dann saß ich mit Helen in der Küche. Ich las vor, sie stenografierte mit. Nachdem Louise schlafen gegangen war, holte Mrs. Johnson ein Spiel Karten hervor, und wir vier setzten uns um den Küchentisch und spielten Whist. Meine Gespanntheit ließ nach. Zum Teufel mit Dick Gates, er hatte mit dem Ärger angefangen! Moralisch und auch in anderer Hinsicht war ich im Recht. Später, als Ace und ich zu Bett gingen, erkundigte ich mich: „Hast du mit dem General gesprochen wegen meinem Eintritt?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe mir vorgestellt, was mit dem Bullen hinter der Ecke geschehen ist. Mann, ich seh’s direkt vor mir. Bamm! Bamm! Bamm! Und er sitzt auf seinem weißen Hintern! Bamm! Bamm!“ „Och, schlaf ein“, knurrte ich. Meine Magenschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Zu meinem Erstaunen schlief ich gut. Ich erwachte zeitig, war noch vor Louise im Bad und rannte hinunter, um die Zeitung und Orangensaft zu holen. Noch auf der Treppe überflog ich die Zeitung. Von dem Zwischenfall stand nichts darin. Ich war erleichtert und verwundert. Solmen tauchte auf, um den Gehsteig zu kehren, und lächelte über meine Sonnenbrille und den kahlen Schädel, der unter der Mütze hervorlugte. Er fragte: „Hast du gehört, daß gestern abend ein Bulle gleich um die Ecke verprügelt worden ist?“ 161
Ich nickte. „Ich wundere mich, daß so etwas nicht öfter passiert.“ „Ich habe allerhand Geschichten über den Bullen gehört. Was ist wirklich passiert?“ Solmen stützte sich auf den Besen und zog den Gürtel straffer um seinen gewaltigen Bauch. Ich reckte mich; mein Magen war in Ordnung. Solmen dröhnte los: „Wie ich hörte, hat ein weißer Polizeibeamter einen schwarzen Mann mit einem neuen Koffer gesehen und ihn angehalten. Wollte den Koffer wahrscheinlich selber haben. Korruption lastet auf Harlem wie Smog, und weißt du, warum? Weil unsere Lebensweise auf Absonderung basiert, was bedeutet, daß sie falsch und im Innersten angefault ist. Ein Grundgesetz ist, daß ein Mensch das Recht hat, sich zu verteidigen, auch gegen Ghetto-Schiebung. Wenn wir uns einmal selbst regieren …“ „Ich muß hinauf, bevor das da warm wird“, unterbrach ich ihn, den Orangensaft hochhaltend. Ich trank Saft und Kaffee. Ace fläzte sich in Unterwäsche auf seinem Sessel und ließ kein Wort über Arbeit fallen. Ich ging zusammen mit Louise fort, da ich angeblich wegen eines Jobs anrufen wollte, von dem ich in der Zeitung gelesen hatte. Ich wäre gern zu Hause geblieben, aber Mary sollte um neun Uhr aufkreuzen. Als ich Louise über die Lenox-Avenue führte, sah ich zwei bullige Weiße in Windjacken in einem geparkten alten Wagen sitzen. Ich war überzeugt, daß es Kriminalbeamte waren. Ich schlenderte zur 127. Straße und weiter zur 129., und ich sah noch andere Kriminalbeamte in Fahrzeugen ohne Polizeikennzeichen. Wieder in der 128. Straße angelangt, stellte ich mich unter die Tür des Süßwarenladens und schaute dem Mann aus Westindien beim Waschen der Schaufensterscheibe zu. 162
Ein paar Minuten später kam Mary Presenti vorbei. Sie wirkte sehr schlank in ihrem neuen Shiftkleid. Belustigt musterte sie meine Mütze und die Sonnenbrille, dann nahm sie eine ihrer Registrierkarten heraus und betrat das benachbarte Haus. Beim Überqueren der Straße fühlte ich mich exponiert; ich bildete mir ein, die Kriminalbeamten beobachteten mich. Ich stellte mich in einen Hauseingang, der ihrer Sicht entzogen war. Ich sah Mary das Haus gegenüber verlassen und etwas in eine Karte eintragen. Als sie ein anderes Haus betrat, hörte ich Schritte hinter mir. Ich rückte zur Seite, um für den Herauskommenden Platz zu machen. Eine Hand preßte sich auf meinen Mund, kräftige Arme umklammerten mich, Hände packten meine Füße, und ich wurde in den dunklen Hausflur geschleppt.
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Ich wollte nirgends hin. Ich war ganz durcheinander. Da hatte ich am Abend vorher diese U-Bahn-Münze gefunden und konnte keinen Käufer dafür finden. Deshalb bin ich nach Coney Island gefahren. Von der 59. Straße an begann sich der Zug mit Bleichgesichtern zu füllen, aber hat man Töne, neben mich hat sich keiner gesetzt. Sie haben nur alle erwartungsvoll in meine Richtung gestarrt, ob ich etwas anfangen würde – als ob ich getrunken hätte. In Coney stand ich auf dem Bahnsteig, schaute auf „Nathans“ hinunter und wünschte, ich hätte Geld für heiße Würstchen. Ich hätte mich gern auf der Strandpromenade abgekühlt, die Wellen sind eine Wucht, aber ich hatte keine zweite Münze für die U-Bahn. Ich stand eine Weile dort herum, dann stieg ich in einen Zug nach Harlem. Die Strecke beginnt in Coney, und der Zug war leer. Bloß zwei weiße Zicken saßen am anderen Ende des Wagens, und hat man Töne, die müssen durch den ganzen Wagen zu mir hersehen, tuscheln und mich anschauen, als wäre ich Dreck. Wir fuhren zwei Stationen, da stieg so ein fetter, junger Weißer ein. Ich schätzte, er ging ins College oder so. Er hatte Bücher unter dem Arm und ein Transistorradio in der Hemdtasche. Er war nicht gut angezogen, aber besser als meine Wenigkeit, und er war erst siebzehn oder achtzehn, aber ich bin an die Zweiundzwanzig. Er eröffnete das Spiel, setzte sich mir gegenüber, aber er schaute absichtlich nicht in meine Richtung. Es war ein Spiel: Ich starrte zu ihm hinüber, und er schaute weg. Ich merkte, daß er aus Angst vor meiner schwarzen Wenigkeit fast in die Hosen machte. Das hat mir Auftrieb gegeben. Nach ein paar weiteren Stationen, 164
als niemand zugestiegen war, setzte ich mich neben ihn. Er begann zu schwitzen, aber er hatte nicht den Mut, den Zug zu verlassen. Ich fragte: „Zigarette übrig?“ „Nein, ich – ich rauche nicht.“ Er hatte solche Angst, daß er stotterte. Ich zeigte auf das Radio in seiner Brusttasche. „Wie wär’s mit ein bißchen Musik?“ „Es funktioniert nicht.“ „Hast du zehn Cent?“ Den Kopf schüttelnd, blickte er wie ein Irrer zu den beiden Weibern hin. „Du rauchst nicht, dein Radio funktioniert nicht, du hast keine zehn Cent. Du bist übel dran, mein Guter.“ Er antwortete nicht, aber er schlotterte. „Laß mich mal das Radio sehen, vielleicht bringe ich es zum Spielen.“ „Es funktioniert nicht, es braucht eine neue Batterie.“ „Laß es mich mal sehen, ich mache es nicht schmutzig.“ „Es funktioniert nicht.“ Jetzt wurde ich ärgerlich, er wollte mich bloß hinhalten. Wir fuhren in eine der offenen Stationen ein, die es in Brooklyn gibt. Auf dem Bahnsteig war niemand zu sehen. Als die Türen aufgingen, zerrte ich das Radio aus seiner Tasche; das Hemd zerriß. Er hob die Hand, und ich gab ihm einen Klaps und sprang ab. Ich flitzte die Stiegen hinunter auf die Straße. Das Radio funktionierte nicht, es war so ein billiger japanischer Kram. Ein paar Blocks weiter warf ich es in eine Mülltonne. Japaner taugen auch nichts. Obwohl ich einen Wolfshunger hatte und den Rest des verdammten Tages brauchte, um zu Fuß nach Harlem zu 165
gelangen, fühlte ich mich aufgekratzt. Daß die verdammten Weißen vor mir Angst gehabt hatten, war das einzig Gute, was ich in der ganzen Woche erlebt hatte.
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8
Mittwoch
Im Eiltempo ging es durch eine Hintertür, einige Stufen hinunter und hinaus auf einen auszementierten Hinterhof voller leerer Mülltonnen und altem Plunder. Drei Männer trugen mich, alle untersetzt und dunkelhäutig. Keinen von ihnen hatte ich je in der Gegend gesehen. Sie trugen billige weiße Hemden mit schwarzen Krawatten, dunkle Hosen, und zwei von ihnen waren ohne Hut. Als ich über einen windschiefen Zaun gehoben wurde, versuchte ich loszustrampeln. Der Mann, der mir den Mund zuhielt, blickte mich feierlich-ernst an und sagte in leicht schleppender Sprechweise: „Entschuldige diese Behandlung, aber es muß sein. Du befindest dich nicht in Gefahr, wir tun unseren schwarzen Brüdern nichts. Wir sind Allahs Sendboten, und unser Führer wird zu dir sprechen.“ Über einen anderen Hof hinweg ging es in einen dämmrigen, nach Abfall stinkenden Keller. Man trug mich durch einen finsteren Korridor nach dem anderen, aber ich hegte den Verdacht, daß man mich immer durch denselben finsteren Korridor hin und her schleppte, um mich zu verwirren. Ich war verwirrt. Ich hatte sogar Angst. Plötzlich bogen wir in einen stockfinsteren, nach Kohle riechenden Raum ein. Man setzte mich auf einen Stuhl und empfahl mir: „Sitz und hör dem Führer zu. Wir wollen dir kein Leid antun. Das schwören wir bei Allah.“ Die harte Hand gab meinen Mund frei. Ich leckte mir die Lippen, und nach ein paar Minuten tiefster Stille begann ich aufzustehen. Ein starker Lichtstrahl blendete mich. Ich blickte zu Boden, um dem Licht auszuweichen, und sah, daß ich mich in einem leeren Kellerabteil für Kohlen befand. 167
Hinter der Taschenlampe sagte ein Mann: „Ich spreche im Namen der Ritter Allahs und seiner Sendboten. Ich weiß, daß du bei der Polizei bist und Purpurauge samt seiner Gefolgschaft unschädlich machen willst. Wir wollen dir helfen.“ „Ich bin nicht bei den Blauen. Ich weiß nicht, wer ihr seid, aber über mich täuscht ihr euch gewaltig.“ Meine Stimme bebte. „Komm, Mann, ich weiß, daß du ein Bulle bist. Wie können wir dir helfen? Dieses reißende Tier schadet unserer Sache, wie zum Beispiel durch den Überfall auf den Polizisten. Solche Taten sind nur Hindernisse auf dem wahren Pfad des schwarzen Mannes, auf seinem Marsch zur Freiheit.“ Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und versuchte zu denken. Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, auch wenn der orgelnde Ton erzwungen klang. „Nehmen Sie das verdammte Licht ans meinen Augen, wenn wir alle Busenfreunde sind.“ Der Lichtstrahl senkte sich auf meine Füße. „Ihr Leute seid auf dem Holzweg. Ich bin nicht bei der Polizei, ich bin sowieso nicht alt genug dazu. Was sind die Ritter Allahs – Muslims?“ „Wir sind eine eigene Gruppe, die wahren Gläubigen. Wir folgen niemandem außer Allah auf dem Pfad zur Freiheit. Wir bieten dir unsere Mitarbeit an, denn obwohl wir für die Polizei nichts übrig haben, glauben wir doch, daß Purpurauge ein toller Hund ist und liquidiert werden muß.“ „Wer ist dieser Purpurauge?“ Ein leises Lachen ertönte, das ich schon gehört hatte, aber partout nirgends einzuordnen vermochte. „Wenn wir wüßten, wer er ist, würden wir an dich keine Zeit verschwenden. Aber wir wissen, daß er kein 168
Muslim ist und auch kein wahrer Anhänger des einen Gottes Allah. Er hat eine Gruppe unreifer Jungen um sich geschart, die nach seinem Willen diese wahnsinnigen Gewalttaten durchführen. Wir glauben, daß er gestern den Überfall auf den Polizisten befohlen hat, wodurch wir alle unter der Polizei zu leiden haben. Er ist ein böser Mensch, nur an seiner persönlichen Macht und an Profit interessiert, nicht an unserem heiligen Kampf um die Freiheit.“ Ich konnte die Stimme nicht erkennen. Ich beschloß, ein Risiko einzugehen, ihn aufzuscheuchen. „Alles Quark. Vielleicht bin ich einer von seinen ‚Bloody Blacks‘?“ „Über dich wissen wir Bescheid. Wie können wir dir helfen?“ „Sie sind ja verrückt. Sie scheinen eine Menge über diesen Purpurauge zu wissen, aber Sie behaupten, daß Sie ihn nie gesehen haben. Das soll ich glauben?“ „Er wird von seinen jungen Schurken gut beschützt, ein schlauer Mann, listig wie eine Viper und genauso gefährlich. Der ist kein Vorbild für die wahre Bewegung der schwarzen …“ Auf dem Gang vor dem Kohlenabteil entstand Bewegung, Schüsse fielen. Das Licht erlosch, ich hörte schwere, laufende Schritte, eine Tür knallte zu. Eine andere Tür, zu meiner Linken, wurde plötzlich aufgestoßen, und in dem hellen Licht sah ich Mary Presenti dastehen, Revolver in der Hand. Sie wisperte: „Lee?“ „Hier, Mary.“ Ich lief zu ihr, und sie fragte kurzatmig: „Sind Sie okay? Was ist geschehen?“ Ihr Kleid war am Saum zerrissen und beschmutzt, Hände und Gesicht waren verschmiert, ihr Haar zerrauft. 169
„Ich bin okay, Mary, und verdammt froh, daß Sie da sind.“ „Ich habe gesehen, wie Sie verschleppt wurden, aber ich habe mich in den Hinterhöfen verirrt und bin über Gerümpel gestolpert. Gott, was für ein Dreck! Drei Männer standen vor dieser Tür, sie liefen davon, als ich über ihre Köpfe feuerte. Gehen wir!“ Ich zog meine Seifensocke heraus, und wir gingen durch den Keller, fanden jedoch nichts als feuergefährlichen Plunder. Als wir aus dem Kellerausgang zur 127. Straße traten, blendete uns die Sonne, und Mary sagte: „Verdammt, sie sind entwischt.“ „Sie sind allein zu mir vorgedrungen? Mary, haben Sie denn nicht die Kriminalbeamten in der 128. Straße bemerkt?“ Sie nickte, berührte eine Kratzwunde an ihrem Bein und hielt den Finger hoch, an dem ein wenig Blut klebte. „Wer könnte sie übersehen? Ich war mir nicht sicher, ob ich mich an sie wenden konnte, und für Erklärungen blieb keine Zeit.“ Ich strich ihr den Schmutz aus dem weichen Haar, als sie sich bückte, um sich mit einem Taschentuch die Kratzer am Bein zu betupfen. Dann steckte sie den Revolver in die Handtasche und begann die Stufen hinaufzusteigen. Ich hielt sie zurück. „Langsam, Mary, wir werden auf der Straße Aufsehen erregen, und alle Kriminalbeamten in der Nähe werden gelaufen kommen. Mit Ihrem zerrissenen Kleid und dem schmutzigen Gesicht würde es wie eine Vergewaltigung aussehen. Warten Sie lieber hier unten, bis ich ein Taxi geholt habe. Dann erstatten Sie Leutnant Davis Bericht. Ich rufe ihn an.“ Sie nickte. 170
„Gut. Lee, waren das Bloody Blacks? Sie haben nicht wie Jugendliche ausgesehen. Ich dachte, sie wüßten über Sie Bescheid und wollten Sie umbringen.“ „Sie wußten, daß ich bei der Polizei bin, wollten mir aber angeblich helfen, Purpurauge zu finden. Warten Sie hier unten.“ Ich steckte meinen Seifen-Totschläger ein, zog meine Mütze gerade und stieg zur Straße hinauf. Ich war selbst ganz verdreckt und von oben bis unten voll Kohlenstaub. Als ich am Randstein stand und auf ein Taxi wartete, sah ich wieder zwei weiße Kriminalbeamte – einer davon trug einen verdächtig neuen Overall – an der Ecke in einem alten Wagen sitzen. Ein Taxi näherte sich. Ich winkte, aber es blieb nicht stehen. So wie ich aussah, konnte ich es dem Fahrer nicht verübeln. Minuten später kam ein zweites Taxi gefahren. Ich hielt es an, indem ich mitten auf die Fahrbahn sprang. Ich riß die Tür auf, rief Mary, und sie eilte die Stufen herauf und stieg rasch ein. Ich schlug die Tür zu. Der Fahrer, ein kaffeebrauner alter Mann, fuhr weiter, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich ging in Richtung Fifth-Avenue, blieb einmal stehen, um mir das Schuhband zuzubinden. Die Kriminalbeamten am anderen Ende des Blocks hatten sich nicht vom Fleck bewegt. Ich bog um die Ecke und betrat ein Drugstore. Ein junges Mädchen mit mehreren Münzen in der Hand schnatterte in der einen vorhandenen Telefonzelle munter drauflos. Ich wandte mich der Eckbar zu, aber der Barmann wies mir mit dem Daumen die Tür. „Hinaus. Für Jugendliche kein Zutritt.“ „Ich will bloß telefonieren.“ „Hau ab, hier wimmelt es von Polizei.“ 171
Nachdem ich die 128. Straße erreicht hatte, schlenderte ich zum Süßwarenladen, wechselte einen Vierteldollar und setzte mich schmutzig und schwitzend in die Telefonzelle. Davis’ Nummer war besetzt. Während ich wartete, hörte ich von draußen eine Stimme mit leicht westindischem Akzent sagen: „Merk dir endlich, daß alle Fünf-Cent-Bonbons jetzt sechs Cent kosten. Geh, sag deiner Mutter, daß du noch einen Penny brauchst, Kind.“ Ohne mich nach dem vollmondgesichtigen Mann umzublicken, grinste ich. Die Stimme war dieselbe. Jetzt wurde mir einiges klar: Das Gesicht in dem Wagen, der vorbeigefahren war, als ich unten in Central Park West in Davis’ Lincoln stieg, war das Gesicht des Süßwarenladenbesitzers gewesen. Er wußte bestimmt, daß Jack Davis ein Polizist war, dem ein Haus in dem Block gehörte. Und als er mich mit Davis gesehen hatte, da hatte er seine Schlüsse gezogen. Endlich bekam ich Davis an die Strippe. Er sagte: „Lee? Ich habe mit Mary gesprochen. Sind Sie in Gefahr?“ „Nein. Es ist bloß eine Komödie der Irrungen.“ Ich sprach mit gedämpfter Stimme. „Wo sind Sie jetzt?“ „In der 128. Straße. Ich muß Sie sehen.“ „Kommen Sie in einer Stunde zur Ecke 86. Straße und Central Park West. Und seien Sie vorsichtig.“ „Bestimmt.“ Nachdem ich die Telefonzelle verlassen hatte, ließ ich mir ein Soda geben. Der Westindier konstatierte: „Du bist ganz verdreckt. Hast du dich wieder geprügelt?“ „Nein. Ich bin im Hundedreck ausgerutscht.“ Seine alte Hose war seitlich von Kohlenstaub geschwärzt. 172
Ich ging in die Wohnung hinauf. Mrs. Johnson nähte. „Hast du Arbeit gefunden?“ Schrecken spiegelte sich auf ihrem vollen Gesicht. „Allmächtiger, hast du dich schon wieder geprügelt, Lee?“ „Ich habe keine Arbeit gefunden, und ich habe mich nicht geprügelt. Ich bin gestolpert und hingefallen. Wo ist Ace?“ „Draußen, wie immer. Helen ist zum Christlichen Verein Junger Mädchen gegangen, eine Schreibmaschine ausprobieren oder so. Bist du verletzt?“ „Nur schmutzig.“ Ich ging ins Bad und säuberte mich, wusch mein Sporthemd und hängte es zum Trocknen auf. Ich hatte Bedenken, die Trainingsanzugbluse anzuziehen, die ich bei der Auseinandersetzung mit Gates getragen hatte, streifte sie aber doch über. Ich teilte Mrs. Johnson mit, ich würde später wiederkommen. Als ich die Tür öffnete, sagte sie: „Ihr jungen Leute, ihr rennt immer herum wie ein Huhn mit abgeschnittenem Kopf.“ Eine halbe Stunde später saß ich neben Leutnant Davis in dessen Wagen und schaute zu, wie er Rauchringe blies, während ich ihm berichtete, was vorgefallen war. Nachdem ich geendet hatte, sagte er: „Das beweist wenigstens, daß es diesen Purpurauge und die Bloody Blacks tatsächlich gibt. Bloß schade, daß wir umdisponieren müssen.“ „Sir, die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen, aber ich sehe nicht ein, warum wir nicht so weitermachen können; die Tarnung läßt sich noch aufrechterhalten. Ich finde aber, Mary sollte sich in der Gegend nicht mehr blicken lassen, es ist sehr leicht möglich, daß sie auf den Hinterhöfen oder beim Einsteigen ins Taxi gesehen 173
wurde. Eine weiße Frau würde auffallen. Ich hingegen bin ein Teil der Szenerie.“ „Ja, in der Rolle des Mr. Glatzkopf und mit der Sonnenbrille passen Sie bestens hinein. Aber es hat keinen Sinn, Lee. Wenn dieser Ladenbesitzer oder einer der Ritter Allahs … Verdammt, die Ritter Allahs, Bloody Blacks, Allahs Sendboten und Purpurauge – es klingt wie das Personenverzeichnis eines idiotischen Musicals. Und wer weiß, was passiert, wenn sich der Vorhang gesenkt hat! Nein, Lee, sobald einer von denen auch nur gesprächsweise andeutet, daß Sie von der Polizei sind, können Sie als menschliches Nadelkissen enden. Die Erschießung von Malcolm X beweist, daß gewisse Splittergruppen auch vor Mord nicht zurückschrecken.“ „Passen Sie auf. Ich habe die drei anderen Männer noch nie in der 128. Straße gesehen, und die werden nichts ausplaudern. Schließlich hat der Westindier schon seit Tagen gewußt, daß ich Polizeibeamter bin, und hat kein Wort geäußert. Da er und seine Gefolgsleute es auf Purpurauge abgesehen haben, ist er ungefährlich, und ich bin es für sie auch.“ „Möglich. Da haben wir uns solche Mühe gegeben, die Sache vor den Kollegen zu vertuschen, und nun ist sie ein offenes Geheimnis! Noch etwas. Ich habe das Gefühl, Sie sind in eine Sackgasse geraten. Dieser Ace wird Sie erst nach dem ‚Schlag‘ bei seiner Bande einführen, nicht eher. Vielleicht ändern wir die Taktik und nehmen die Burschen unter irgendeinem Vorwand fest.“ „Jack, das würde den Schlag nur hinausschieben. Ich bezweifle, daß sie Ihnen unter Druck verraten würden, wer Purpurauge ist. Ich weiß, daß ich mich nicht gerade ausgezeichnet habe, aber …“ 174
Davis schlug mir auf den Rücken. „Na, na, Lee, Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich habe Ihnen gleich am Anfang gesagt, daß wir uns keine sofortigen Ergebnisse erwarten. Doch nun … Nach diesem Vorkommnis ist es zu riskant.“ „Jack, da ich nun mal dort bin – lassen Sie mich noch ein paar Tage weitermachen. Ich werde Ace schon irgendwie zum Sprechen bringen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich muß mich wundern, Lee. Ich dachte, Sie seien zu klug, um ein Held sein zu wollen.“ „Ach was, Held. Ich finde es von Vorteil, daß ich mich mit Ace verhältnismäßig gut verstehe. Und das sollten wir ausnützen.“ Einesteils schimpfte ich mich einen verdammten Esel. Ich hätte meinen Koffer nehmen sollen, mitsamt der verräterischen Schreibmaschine, der 128. Straße den Rücken kehren und der ganzen Sache ein Ende machen. Doch andererseits war ich im Innersten nicht so sehr wegen der Sache mit Dick Gates besorgt – ich war vielmehr auf Marys Handlungsweise stolz. Ich glaube, ich war zum erstenmal stolz, daß ich der Polizei angehörte. Das war für mich nicht mehr lediglich ein Job. Ich wollte beweisen, daß ich imstande war, den Auftrag auszuführen, daß ich so gut war wie Mary. Auch wenn mir mein Verstand eingab, daß dies eine sentimentale Durchhalteparole und blanker Quatsch war, wollte ich es dennoch tun. Ich fügte hinzu: „Bitte, Jack, bewilligen Sie mir noch ein paar Tage.“ Davis seufzte und rieb sich das Kinn. „Also gut, wenn Sie so scharf darauf sind. Natürlich muß ich erst abwarten, was der Inspektor zu dieser neuen 175
Entwicklung sagt. Lee, heute ist Mittwoch. Wir probieren es noch eine Woche. Aber unter einer Bedingung: Spielen Sie nicht den Helden. Ich hasse Polizeibegräbnisse. Falls Sie die Situation bedrohlich finden, hauen Sie ab. Es gibt noch andere Möglichkeiten, die Sache anzupacken. Merken Sie sich, das ist kein Fernsehspiel, wo der Geheimagent einen Ein-Mann-Feldzug führt.“ „Mary Presenti hat sich nicht mit solchen Überlegungen aufgehalten. Offen gestanden, ich habe sie nie gemocht, sie schien mir auch nur eine hochnäsige Weiße zu sein. Aber sie ist eine verdammt gute Polizeibeamtin. Es hat Mut erfordert, mich allein herauszuschlagen!“ „Sie war leichtsinnig tapfer. Mary ist ein Hitzkopf wie Sie, aber sie ist tüchtig. Wir werden sie an der Sache weiterarbeiten lassen, auf anderer Ebene. Mary hat mit Augenspezialisten gesprochen, die sagen, es sei ausgeschlossen, daß ein Mensch purpurne Augäpfel hat. Es gibt eine krankhafte Rötung der Augen, aber das ist äußerst ansteckend, und die Burschen hätten alle rote Augen. Unter dem Einfluß gewisser Drogen, die in der Regel nicht in diesem Land vorkommen, kann man für ein, zwei Tage stark blutunterlaufene Augen bekommen. Das könnte die Antwort sein: ein verrückt gewordener Rauschgiftsüchtiger. Sie überprüft das noch; außerdem hat sie ein Auge auf die Judoschulen, was aber eine Niete zu sein scheint. Bleiben Sie in der 128. Straße, bearbeiten Sie außer Ace wenn möglich noch ein paar andere Jungen. Behalten Sie den Ladenbesitzer im Auge, vielleicht hat man die Sache nur inszeniert, um uns abzulenken. Und beobachten Sie auch den schwulen Muskelmann. Doch vor allem passen Sie auf sich auf. Wir möchten nicht, daß noch ein Polizeibeamter zusammengeschlagen wird.“ 176
„Ich werde achtgeben. Ich bin immer noch der Ansicht, daß der Überfall auf Gates in keiner Verbindung mit …“ „Wir haben keine Ahnung, wer mit wem verknüpft ist. Ich wünsche, daß Sie von nun an zweimal täglich anrufen, um zehn Uhr und um fünfzehn Uhr. Sogar sonntags und morgen.“ „Was ist morgen?“ Davis schaute mich lange an und entblößte seine falschen Zähne bei einem schwachen Grinsen. „Ein Feiertag. Gefallenengedenktag.“ Ich zuckte die Achseln. „Ich kenne keine Feiertage.“ „Na schön, Sie Unermüdlicher. Geben Sie acht, und rufen Sie zweimal täglich an. Alles Gute, Lee.“ Auf der Rückfahrt mit der U-Bahn überlegte ich, wie ich Ace zum Reden bringen könnte. Und mir schien, Davis habe einen vielversprechenden Punkt übersehen: Da der Süßwarenladenbesitzer wußte, daß ich der Polizei angehörte, hatte es keinen Sinn, so zu tun, als wüßte er es nicht. Ich beabsichtigte, ihn offen um Auskünfte zu fragen. Dann würde man ja weitersehen. Ich kam zur 128. Straße, gerade als ein paar Nachzügler noch rasch ihren Lottoeinsatz entrichteten. Die Wettannehmer schielten beklommen zu den gelangweilten Kriminalbeamten hinüber. Ich betrat den Laden, bestellte mir eine Limonade, zahlte, setzte mich an die rissige Theke und trank langsam. Kinder kamen, kauften Bonbons und gingen. Doch sobald wir allein waren, bemerkte ich: „Sie haben die Hose gewechselt.“ Der Westindier blickte von dem Karton Zigaretten auf, den er gerade öffnete. Seine Glotzaugen musterten mich prüfend. Er leckte sich die Lippen. 177
„Na und? Man macht sich schmutzig bei der Arbeit, weißt du.“ „Von Kohlenstaub?“ fragte ich, als ein kleines Mädchen hereinrannte‚ um ein Springseil zu kaufen. Nachdem es gegangen war, fuhr der Mann fort, Zigaretten zu stapeln. Er wandte mir dabei den Rücken zu und schwieg. Nach einer Weile fragte ich: „Wohin gehen Ace und die anderen jeden Morgen?“ „Was weiß ich?“ „Überlegen Sie! Die Entführung eines Polizeibeamten, aus welchem Grund auch immer, kann verteufelt ernste Folgen haben. Überlegen Sie gut, um Allahs willen!“ Ohne sich umzudrehen, sagte er: „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Aber sein weißer Hemdrücken zeigte plötzlich Schweißflecken. Nach einer Weile flüsterte er: „Ich weiß nicht. Angeblich macht Ace jetzt in Zahlenlotto.“ „Zahlenlotto? Wo?“ „Irgendwo im Norden der Stadt, angeblich. Alle machen jetzt in illegalen Geschäften. Auch angeblich.“ Ich wartete, bis eine Frau gegangen war, die GingerAle gekauft hatte. Dann fragte ich: „Was ist mit diesem Muskelmann, mit Earl Dillon?“ „Nichts. Ein Schwuler.“ „Haben Sie ihn schon mal ohne die dunklen Augengläser gesehen?“ „Nein.“ „Sie sind mir eine große Hilfe.“ Er drehte sich um, mir zu, und begann Glaser zu spülen. „Ich versuche zu helfen, soviel ich kann. Ich höre etwas, ich sage es dir. Ich bin ein Rassist, Mann, aber ich 178
will nicht, daß sich die Schande der vorjährigen Krawalle wiederholt.“ „Okay, wenn Sie was erfahren, dann sagen Sie’s mir, aber nicht in einem Kohlenabteil.“ Er leckte sich die dicken Lippen. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“ „Na klar, und wenn man mich fragt, dann weiß ich nicht, wovon Sie reden.“ Ich verließ den Laden und blieb eine Weile sinnend auf dem Gehsteig stehen. Ich fand, ich sollte mir Earl einmal vornehmen, und zwar sofort. Ich ging die Straße hinunter zu seinem Haus und stieg aufs Dach. Er lag, nur mit einem Lendenschurz bekleidet, auf einer Decke und stemmte Gewichte, die an seine Beine gebunden waren, eine Art eiserne Schuhe. Um den Kopf hatte er denselben schwarzen Fetzen gewunden. Auch die Sonnenbrille fehlte nicht. Ich beobachtete ihn ein paar Minuten lang, von seiner Körpergröße tief beeindruckt. Schließlich zog ich meine Socke mit der Seife heraus und steckte sie hinter den Gürtel. Dann rieb ich mir die Fingerknöchel. Als ich noch Boxprofi gewesen war, hatte ich einen versoffenen Manager gehabt, der sich selbst als „der Letzte der guten alten Boxmanager“ bezeichnet hatte. Aber er hatte viel vom Boxen verstanden und hatte immer gesagt, ein Boxer von fünfundsechzig Kilo Gewicht könne es mit jedem Mann aufnehmen. Als ich auf das Dach hinaustrat, betete ich insgeheim, er möge sich nicht geirrt haben. Als er mich erblickte, setzte sich Earl auf. „Habe ich dir nicht gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen bis nach der großen Sache?“ „Ich will nichts von Ihnen, ich schaue Ihnen bloß beim Training zu.“ 179
„Das vertrage ich nicht, das regt mich auf, und ich brauche einen entspannten Geist und einen entspannten Körper. Verzieh dich!“ „Sie haben hier gar nichts zu befehlen. Das Dach gehört nicht Ihnen.“ „Verzieh dich, du Stinktier!“ „Übermut tut selten gut. Das haben Sie vielleicht schon gehört.“ Ich nahm die Sonnenbrille ab, steckte sie in die hintere Hosentasche. Er schnallte seine Eisenschuhe ab und sprang auf, überraschend schnell für seine Größe. „Du störst mich beim Training! Ich reiße dich in Stücke!“ „Na, na. Die Muskeln machen mir keine Angst, die taugen nicht zum Boxen.“ Ich bemühte mich, nichts von dem Zweifel, den ich empfand, in der Stimme anklingen zu lassen, hob die Fäuste, tänzelte herum. Er winkelte die mächtigen Arme an und stellte sich linkisch in Boxpositur. Ich entfernte mich ein Stück in Richtung Tür und hob die linke Hand. „Moment mal, nehmen Sie die Brille ab! Ich schlage mich mit keinem Brillenträger, damit er nicht blind wird …“ Er nahm die Brille ab und steckte sie hinter den Lendenschurz. Seine Augen sahen völlig normal aus. Ich flitzte zur Tür und rief zurück: „Ich habe nur Spaß gemacht, Earl! Ich bin ja nicht so verrückt, daß ich mich mit Ihnen einlasse!“ Als ich das darunterliegende Stockwerk erreichte, hörte ich ihn kichern. „Du Schlingel, ich sollte dich versohlen!“ Unten angelangt, überquerte ich langsam die Straße und wartete, bis sich mein Atem beruhigt hatte. Earl hatte keine purpurnen Augen, er schied aus. Es war nahezu fünf 180
Uhr, und ich war ausgehungert. Ich ging in den CVJM und aß ausgiebig, dann schaute ich im Turnsaal bei einem Basketballspiel zu. Als ich am Trainingsraum der Schwerathleten vorbeikam, sah ich an der Wand Fotos mehrerer Muskelprotzen und einen getippten Zettel, auf dem stand: „Wird ein farbiger Mann Mr. Amerika? Einer dieser Männer kann den Wettkampf um den Titel des Mr. Amerika gewinnen, der am 8. Juli in Atlantic City stattfindet. Befaßt euch mit Bodybuilding, dann hängt nächstes Jahr vielleicht auch euer Bild hier!“ Ich starrte Earls Hochglanzfoto an. Ich war ein schöner Detektiv! Die Bilder hingen wahrscheinlich seit einer Woche hier und erklärten, was Earls „große Sache“ bedeutete. In der 128. Straße sah ich ein neues Paar Kriminalbeamte, die unweit der Ecke in einem anderen alten Wagen saßen, ebenfalls Weiße. Ich ging hinauf, Mrs. Johnson, Helen und Louise waren beim Abendessen. Helen forderte mich auf zuzugreifen, aber ich sagte, ich hätte schon gegessen. Mrs. Johnson erkundigte sich, ob ich Ace gesehen hätte. Ich begab mich in mein Zimmer. Auf der Kommode lag mein Sporthemd, frisch gebügelt. Ich kehrte in die Küche zurück und sagte: „Ich weiß zwar nicht, wer mein Hemd gebügelt hat, aber ich danke vielmals.“ Helen lächelte breit. „Ich habe es im Bad hängen sehen. Wie bist du hingefallen?“ „Bin ausgerutscht. Es wird langsam Zeit, daß ich mir ein neues Hemd kaufe, aber ich komme nicht dazu.“ Mrs. Johnson ließ sich vernehmen: „Ich spreche nicht gern darüber, aber halt dein Geld zusammen, die Miete wird …“ 181
„Mama! Hör auf damit!“ ereiferte sich Helen. „Ich behaupte ja nicht, daß wir ihn hinauswerfen, aber Sparsamkeit ist eine Tugend.“ „Ich erwarte bald einen Scheck von der Arbeitslosenunterstützung“, beschwichtigte ich. „Verdammt, wie kannst du nur so reden, Mama! Ein …“ „Helen, ich dulde kein Gefluche an meinem Tisch“, tadelte Mrs. Johnson. „Lassen Sie sich bloß nicht das Abendessen von mir verderben.“ Ich zwinkerte Helen zu und setzte mich mit der Zeitung ins Wohnzimmer. Ein paar Minuten später preschte Louise herein, um den Fernsehapparat einzuschalten, und als ein Nachrichtensprecher die am Gefallenengedenktag in der Fifth-Avenue stattfindende Parade ankündigte, brüllte Louise: „Mama, können wir uns morgen die Parade anschauen gehen? Unsere Lehrerin hat uns davon erzählt. Es ist unten in der Fifth-Avenue, nicht weit vom Zoo. Den können wir uns auch ansehen.“ „Wir werden sehen.“ „Wir sollten hingehen“, meinte Helen. „Damit sie von dem Fernseher wegkommt. Ich habe Fahrgeld für den Bus.“ „Wenn schönes Wetter ist und mein Bein nicht weh tut, gehen wir vielleicht.“ Ace trampelte herein, als Helen mit dem Geschirrspülen schon fast fertig war. Er stellte sechs Dosen Bier auf den Tisch und warf Louise eine große Tafel Schokolade zu. „Wo bist du denn gewesen? Du weißt doch, daß wir um halb sieben essen. Wo hast du das Bier her?“ wollte Mama wissen. „Ich habe mir bei meinem neuen Job die Füße abgelaufen, und ich bin total ausgehungert“, sagte Ace und setzte sich an den Tisch. 182
„Geh erst mal ins Bad und wasch dich! Und nimm den Hut herunter. Wo hast du das Bier her?“ „Gekauft; ich habe heute ein paar Piepen verdient.“ Ace sprach, als habe er nicht nur dieses Bier gekauft. Er aß sein Abendbrot. Anschließend setzten wir uns alle vor den Fernsehapparat und tranken Bier. Ich fand den Fernsehcowboy, der so im Alleingang ein Dutzend Indianer niedermähte, nicht halb so wagemutig wie Mary Presenti. Als nach zwei aufeinanderfolgenden Western auch noch der dritte anfing, setzte sich Helen in die Küche, und ich ging und diktierte ihr, bekam zu hören, daß sie fünfzig Cent an die Schreibmaschine im Christlichen Verein Junger Mädchen verfüttert habe und wie eingerostet Helen sei. Als sie vorschlug, wir sollten einen Spaziergang machen, warf ich einen Blick auf Ace, der sich auf der Wohnzimmercouch fläzte und seine Handkanten härtete. Ich sagte, ich sei zu müde zum Fortgehen. Um dreiundzwanzig Uhr gingen wir alle schlafen. Beim Entkleiden fragte ich Ace: „Wann hörst du mit den Ausflüchten auf und fragst den General, ob ich beitreten darf?“ „Ich habe dir schon gesagt, du mußt warten. Mach dir lieber wegen Meat Market Sorgen. Ich war heute bei ihm – er wird bald aus dem Bett sein.“ Ace streckte sich auf der Decke aus. „Er wird gleich wieder drin sein, wenn er sich mit mir anlegt.“ „Hoffentlich weißt du, was du redest. Meat Market ist gemein. – Mann, bin ich müde!“ „Hast du wegen meinem Beitritt überhaupt schon gefragt? Diese Warterei fällt mir auf den Wecker. Ich brauche ein bißchen Betätigung, ein bißchen …“ 183
Er schlief schon. Ich drehte das Licht ab und öffnete die Tür. Helen saß im Nachthemd in der Küche und bürstete sich das Haar. Ich schaute ihr eine Weile zu, dann legte ich mich ins Bett. Ich hörte die verschiedenen Geräusche aus dem Luftschacht, dachte, wie hübsch Helen beim Frisieren ausgesehen hatte. Ein paar Sekunden lang dachte ich auch an Miriam. Doch als ich die Augen schloß, sah ich Mary Presenti mit dem Revolver in der Hand in den Kohlenkeller eindringen. Louise brüllte: „Das Radio meldet sonniges Wetter! Mama, dürfen wir uns die Parade anschauen und den Zoo?“ Ich setzte mich auf und sah, wie die Sonne sich mühte, in den Luftschacht einzudringen. Ace regte sich und erwachte stöhnend. „Also gut, wir gehen.“ „Gehen wir zeitig“, riet Helen. „Vielleicht bekommst du einen Sitzplatz auf der Tribüne, Mama.“ „Vergiß den Zoo nicht!“ schrie Louise. „Wir gehen auch in den Zoo“, versprach Helen. „Mach keinen solchen Krach.“ Ace stand auf und dehnte sich; er lächelte mich großzügig an. „Heute hole ich die Zeitung und den Saft, Lee.“ Er kleidete sich schnell an, lief ins Bad, dann hörte ich die Wohnungstür zufallen. Ich schlüpfte in die Hose, sagte guten Morgen und wusch mich. Der Kaffee stand schon auf dem Herd. Ich war draußen und zog meine Trainingsbluse über, da kam auch schon Ace mit der Zeitung und zwei Tüten Orangensaft zurück. Er grinste mich an wie ein stolzes Kind. Als Mrs. Johnson fragte, woher er das Geld habe, antwortete er: „Ich sage euch doch die ganze Zeit, daß ich einen Job habe. Gestern war Zahltag. 184
Da sind ein paar Dollars für dich, Ma, und trag sie nicht in die Kirche. Louise, da hast du einen Dollar, den kannst du im Zoo verpulvern.“ „Was für ein Job ist es denn?“ erkundigte sich Mama. „Ein Job ist ein Job. Ich helfe einem Mann aus. Los, essen wir! Lee, heute spendiere ich dir ein Glas Saft.“ Wir frühstückten, und als Mrs. Johnson fragte, ob Ace mitgehen wolle, sagte er: „Ich bin nicht neugierig auf die weißen Marschierer.“ „Es werden auch Negersoldaten dabeisein“, sagte Helen. „Ein Hurra den schwarzen Trotteln! Ich muß heute arbeiten.“ „Du bist wohl Lieferjunge in so einem Harlemer Kaufhaus; die schließen nie.“ „So etwas Ähnliches, Ma. Geht nur, ich wasche das Geschirr, ich muß erst um zehn Uhr weg.“ „Kommst du mit, Lee?“ fragte Mrs. Johnson. „Nein, ich bleibe da.“ „Komm mit, Lee“, bat Helen. „Heute kannst du dir keine Arbeit suchen.“ „Ich glaube, ich bleibe lieber zu Hause“, sagte ich mit einem Blick auf Ace. „Lee, wir können …“ „Also, Helen, laß ihn in Frieden. Er will sich ausruhen“, sagte Mrs. Johnson. Als sie gingen, schaute mich Helen nachdenklich an. Ace und ich spülten das Geschirr. Dann lümmelte er sich in den alten Plüschsessel, las laut die Comics vor und lachte. Ace wirkte zu fröhlich. Ich ging in mein Zimmer und zog den Koffer unter dem Bett hervor. Er war zu leicht. Noch bevor ich den Deckel zurückschlug, wußte ich, daß die Schreibmaschine weg war. 185
Ich weiß gar nicht, was Sie eigentlich mit „unsichtbare Voreingenommenheit“ meinen, ihr Zeitungsleute erfindet immer gern Schlagworte. Ich kann Ihnen soviel sagen: In diesem Ortsverband gibt es keine Diskriminierung. Wir sind eine fortschrittliche New-Yorker Gewerkschaft, kein südstaatlicher Ortsverband. Immerhin waren wir unter den ersten, die auf dem allamerikanischen Kongreß der Dachverbände AFL-CIO den Antrag auf Abschaffung der Rassendiskriminierung unterstützt haben. Die Geschichte unserer … Nein, unter unseren Mitgliedern sind keine Neger. Nein, im Augenblick auch keine unter unseren Anwärtern. Aber das läßt sich erklären. Wissen Sie, jüngere Mitglieder sind meistens die Söhne älterer Mitglieder. Das ist doch nur gerecht, wie Sie. zugeben werden. Allerdings gab es unter den älteren Mitgliedern keine Farbigen und nur einen Juden. Aber wir sind bekanntermaßen gegen Rassendiskriminierung.
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9
Donnerstag
Im Wohnzimmer rollte ich die Zeitung von gestern zusammen. Ein Hieb mit einer schweren Papierrolle wirkt wie ein Donnerschlag und kann einen Menschen fürchterlich erschrecken. Ace las sich noch immer laut die Comics vor. Er war so ein Kindskopf, und die Erkenntnis, daß mich der Gedanke ans Zuschlagen auf sein Niveau hinabzog, brachte mich jäh zur Besinnung. Statt ihm ein Ding über den blöden Schädel zu verpassen, blieb ich neben dem Sessel stehen. Nach ein paar Sekunden blickte er auf und fragte: „Was ist los, Mann?“ „Du hirnverbrannter Idiot, wo ist meine Schreibmaschine?“ „Was für eine Schreibmaschine?“ „Komm mir nicht auf diese Tour, sonst schmeiße ich dich an die Wand!“ Er sprang auf. Seine rechte Hand stahl sich zur Hüfttasche. Mit einem Fußtritt riß ich ihm die Beine weg und knallte ihm die Zeitung an die Stirn. Er ging zu Boden und blieb benommen liegen. Auf seine Beine achtend, zerrte ich ein etwa acht Zentimeter langes, an beiden Enden zugespitztes Stück Holz aus seiner Gesäßtasche. Wenn man es so in der Faust hielt, daß die zugespitzten Enden herausragten, vermochte man wahrscheinlich eine Menge Unheil anzurichten – vorausgesetzt, daß man nah genug dran war. Ich zog ihn hoch und stieß ihn in den Sessel. Im unteren Stockwerk klopfte jemand mit einem Besenstiel an die Decke und schrie: „Schluß mit dem Krach, es ist Feiertag!“ 187
Mit gedämpfter Stimme sagte ich hart: „Ace, ich mache dich so fertig wie Meat Market, wenn du nicht sofort redest! Wo ist meine Schreibmaschine?“ Er rieb sich die Stirn und maulte: „Hab’ ich mir bloß ausgeborgt. Kriegst sie ja wieder.“ „Spar dir das. Wo ist sie jetzt?“ Er zog eine zerrissene Brieftasche heraus und zeigte mir einen Pfandschein. „Warum mußt du immer so grob sein, Lee? Ich war in der Klemme, und da habe ich sie gestern versetzt, aber ich hole sie wieder ’raus.“ „Du Vollidiot, das war eine heiße Schreibmaschine!“ „Stimmt nicht. Der Pfandleihermensch hat auf einer Liste von gestohlenen Sachen nachgeschaut. Ich werde …“ „Was bildest du dir ein, wo ich sie herbekommen habe? Vielleicht hat die Polizei noch keine Zeit gehabt, die Seriennummer herauszugeben, aber sie ist verdammt heiß!“ „Was regst du dich so auf? Ich habe sie ja nur für fünfzehn Dollar versetzt. Ich habe Geld.“ Er zeigte mir zwei Zehner. „Ich hol’ sie gleich morgen früh ’raus, bevor der Pfandleiher eine neue Liste von der Polizei kriegt oder …“ „Jetzt gleich muß sie her!“ „Mann, bist du wahnsinnig? Es ist Feiertag, der Laden hat zu. Ich habe sie schon gestern abend holen wollen, aber es war geschlossen. Du brauchst nicht gleich wegen nichts und wieder nichts in die Luft zu gehen. Ich habe gestern dringend zehn Dollar gebraucht, deshalb habe ich mir die Maschine ausgeliehen.“ „Verdammt noch mal, warum hast du mich nicht zuerst gefragt?“ Ich ließ das Holzstück auf dem linken Handteller hüpfen und überlegte, warum die Polizei die Pfandleiher 188
nicht alarmiert hatte, nach einem karierten Schreibmaschinenkoffer Ausschau zu halten. „Weil du gesagt hättest: ‚Nichts zu machen.‘ Und ich habe unbedingt noch vor Mittag zehn Dollar gebraucht. Gib mir mein Yawara!“ „Dein was?“ Er zeigte mit dem langen Finger auf den Stab. „Das ist ein alter japanischer Trick; das Ding ist aus Eisenholz gemacht. Schlitz jemanden damit auf, und du kannst nicht wegen Tragen einer Waffe verdonnert werden.“ Ace setzte sich auf und hielt mir den Pfandschein samt den zwei Zehnern hin. „Da, du kannst sie gleich morgen früh selbst einlösen.“ „Du holst sie.“ Ich starrte den zugespitzten Stab an und fragte: „Wozu hast du denn das Geld so dringend gebraucht?“ „Mann, laß mich in Frieden! Ich muß zeitig zur Arbeit, keine Zeit für Unterhaltungen.“ Er traf Anstalten, sich zu erheben. Ich stieß ihn zurück. „Ich habe dein Gequatsche satt, Ace. Sag die Wahrheit, oder ich schlage dir deine Zähne ein. Wozu hast du das Geld gebraucht?“ „Für unsere Kriegskasse. Jeder von uns muß wöchentlich zehn Dollar beisteuern. Ich habe für einen Lottoannehmer in der 140. Straße gearbeitet. Am Samstag habe ich fünfundzwanzig Dollar von ihm kriegen sollen, aber er hat zwei große Gewinne auszahlen müssen, und da war er knapp bei Kasse. Gestern war wieder alles in Ordnung, und ich habe mein Geld bekommen. Habe dir doch gesagt, daß ich arbeite!“ „Mach mir nichts vor! Seit wann läßt das Gangstersyndikat, von dem das Zahlenlotto kontrolliert wird, euch Halbstarke mitmischen?“ 189
Ace grinste. „Seit zwei Wochen. Die wollen sich nicht mit uns anlegen, deshalb zahlen sie Schutzgebühr. Wie der General sagt: ‚Sie kriegen das Geld aus Harlem, da ist es nur recht, wenn sie einen Teil davon zurückgeben.‘“ „Ace, ich warne dich: Wenn du nicht aufhörst, mich auf die Schippe zu nehmen, dann schlage ich dir die Visage ein! Zuerst redest du großkotzig von Kriegskasse und General und Düsenflugzeug, und jetzt sind auch noch die Lottoleute so verdammt großzügig!“ stichelte ich absichtsvoll. „Die sind nicht großzügig, die haben Angst vor uns. Die Polente ist sowieso immer hinter uns her; wenn wir Stunk machen, müssen die Blauen den Lottoleuten eins aufs Dach geben, und dann gibt’s vielleicht wieder Krawalle. Und wir brauchen das Geld, wie sollen wir sonst das Düsenflugzeug kaufen?“ „Hör auf. Bei zehn Dollar die Woche dauert es fünfhundert Jahre, bis das Geld für das Flugzeug zusammengespart ist.“ „Das meinst du. Wir haben über fünfzig Mann in unserem Regiment, das macht fünfhundert die Woche oder über fünfundzwanzigtausend im Jahr. Wenn wir erst den großen Schlag gemacht haben und mit dem Rekrutieren beginnen, wird das Geld richtig hereinströmen.“ Ich winkte angewidert ab. „Du phantasierst ja. Ein Flugzeug, ein Regiment, genauso einen Blödsinn hast du mir vor ein paar Tagen vorgesetzt, und dann hast du gesagt, es stimmt nicht. Die Comics haben dir das Gehirn benebelt.“ „Nimm dich in acht, Lee, ich bin nicht allein. Das ist kein leeres Gewäsch. Du hast ja gesehen, wie wir die 190
beiden Polypen dazu gebracht haben, sich in die Hosen zu machen, vorige Woche, wie sie hier vorbeigekommen sind.“ „Ihr habt gar nichts. Alle vom Block haben mitgemacht, und die Blauen hatten wahrscheinlich Befehl, sich zurückzuhalten, an die Krawalle zu denken.“ „Was glaubst du denn, wer das organisiert hat?“ fragte Ace laut. „Wenn die zwei etwas angefangen hätten, dann wäre es an Ort und Stelle zu einem Schlag gekommen!“ „Nichts wie große Worte! Ihr habt wohl auch neulich um die Ecke den Blauen vermöbelt?“ „Nein, das war kein Schlag von uns. Man schiebt uns alles in die Schuhe, was in Harlem passiert. Aber wir haben eine Menge Schläge durchgeführt, und jetzt haben wir einen großen vor.“ Ich lachte. „Zum Beispiel einen Überfall auf ein Altersheim? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihr fähig seid, eine große Sache abzuziehen. Ihr könnt nichts anderes als große Worte machen.“ „So? Weißt du, was wir vorhaben? Wir sprengen die dritte Schiene in der U-Bahn, kurz vor der Stoßzeit, schlagen alle in der Panik nieder und rauben sie aus! Während wir das tun, unten in Manhattan, kommt eine andere Kommandoabteilung aus einem Notausgang an der 53. Straße und Eighth-Avenue und plündert eins von den großen Hotels, während die Blauen unten in der U-Bahn beschäftigt sind! Ist das vielleicht nichts?“ Ace atmete schwer und beugte sich mit glänzenden Augen in dem alten Plüschsessel vor. Ich warf ihm das Holzstück in den Schoß. „Aha! Glaubt ihr wirklich, daß ihr so etwas schafft?“ „Was heißt da ‚glauben‘? Wir haben alles geplant, wie 191
eine Schlacht! Hinterher, Mann, halte ich mich bereit, das Flugzeug zu fliegen!“ „Wann soll das losgehen?“ „Bald, Mann, ganz bald. Du wirst in der Zeitung von uns lesen!“ „Aber Ace, was, wenn du getötet oder von der Polizei verhaftet wirst?“ „Na und? Ich bin ein Soldat. Und was habe ich schon zu verlieren? Die 128. Straße führt nirgends hin.“ „Ich weiß nicht, Ace – es könnten doch eine Menge Leute getötet werden.“ „Genau. Dann werden uns die Weißen endlich respektieren!“ „Aber in der Stoßzeit fahren auch viele unserer eigenen Leute – farbige Leute – mit der U-Bahn. Was ist mit denen?“ Ace zuckte die Achseln. „Im Krieg gehen immer auch Zivilisten drauf. Das läßt sich nicht ändern. Wer nicht kämpft, der gewinnt nicht.“ Ich versuchte, Ehrfurcht in meine Stimme zu legen, als ich fragte: „Seid ihr vielleicht die ‚Bloody Blacks‘, von denen ich gelesen habe?“ Ace saß vorgebeugt da, entweder tief in Gedanken oder in Träumereien versunken. Seine Finger spielten nervös mit dem Pfandschein. Dann schaute er mich verschlagen an. „Darauf sage ich weder ja noch nein. Ist doch auch egal, oder?“ Ich wandte eine neue Taktik an. „Hör mal, Ace, ich tue alles, wenn ich nur bei so einer Aktion mitmachen kann. Kannst du mich nicht hineinbringen?“ „Geht nicht – Sicherheitsrisiko. Aber nach dem Schlag wird jeder farbige Junge in Harlem, im ganzen Land zu uns gehören wollen.“ 192
„Ace, ich will was tun. Du weißt, ich bin nicht ohne, kannst du da nicht ein Wort für mich einlegen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt, wo alles streng geheim ist. Aber nach dem Schlag bin ich zweiter Befehlshaber und schiebe Chip vom Pilotensitz. Ich glaube sowieso nicht, daß der sie umgebracht hat.“ „Chip hat jemanden umgebracht? Der sieht doch aus, als hätte er nicht genug Mumm, sich in der Nase zu bohren.“ Ace nickte geistesabwesend. „Ich habe dir gesagt, daß jeder Rekrut einen Schlag gegen einen Weißen führen muß. Aber Chip ist ein feiger Hund, der hat bestimmt keine Frau erstochen.“ „Eine Frau?“ „Deshalb ist er als Pilot vorgesehen, als Kommandant der Luftstreitmacht. Der General sagt, Chip hat es getan, aber ein paar von uns denken, der General war mit Chip unterwegs, wie diese weiße Zicke aus der Bar gekommen ist. Er sagt, er hat gesehen, wie Chip sie erstochen hat, aber ich glaube, der General hat es getan und macht Chip zum Luftbefehlshaber, damit er den Mund hält.“ „He, Ace, redest du vielleicht von der weißen Sozialfürsorgerin, die in der Seventh-Avenue erstochen worden ist, so vor einem Monat? Ich habe alles darüber gelesen!“ Ace nickte. „Das war nichts Besonderes. Aber nach meinem Schlag bin ich derjenige, der in die Fliegerschule geschickt wird. Chip kann sowieso nicht ordentlich lesen. Ich habe das Kommando über die Kommandos übernommen, seit Meat Market im Bett liegt.“ Ich versuchte, mich beeindruckt zu gebärden. 193
„Ich habe da auf der Straße etwas von einem Mann namens Purpurauge gehört. Soll ein richtiges Scheusal sein. Jetzt kapiere ich, es ist der General, was?“ Ace stand auf und steckte Pfandschein und Geld in die Brieftasche. „Deine Ohren sind fürchterlich groß, Lee. Manchmal sind sie so groß, daß ich eine Gänsehaut kriege. Verdammt, es ist schon fast zehn, ich muß weg.“ „Ace, warum läßt du mich mit dem General nicht gleich sprechen? Er ist der General, soll er doch entscheiden, ob ich mitmachen kann. Nach dem Schlag könnte ich ja nach Hause fahren und in Delaware ein Regiment aufziehen.“ „Das wäre Gefährdung der Sicherheit. Ich bin spät dran.“ „Wart eine Sekunde! Ace, aber fragen könntest du den General doch wegen mir? Kann doch nicht schaden.“ „Okay. Morgen frage ich und gebe dir Bescheid. Aber was er sagt, gilt.“ „Einverstanden. Mann, ich bewundere dich! Die U-Bahn hochgehen lassen, das ist das Schärfste! Macht das technisch nicht fürchterliche Schwierigkeiten?“ Ace rieb sich das Kinn. „Schade, daß du nicht zu uns gehörst, Lee, sonst könnte ich dir unser Kriegszimmer zeigen. Wir haben Pläne vom ganzen U-Bahn-System, wo die Leitungen, die Schaltung, die Notausgänge drauf sind. Alles ist ausgearbeitet wie … Mann, wir sind militärisch durch und durch! Unser General war lange Zeit Heeresoffizier, der überläßt nichts dem Zufall.“ „Ja. Aber zum Sprengen der dritten Schiene braucht ihr eine Bombe. Wo kann man eine Bombe kaufen?“ fragte ich rasch, damit sein Redefluß nicht versiegte. 194
„Kaufen? So ein Blödsinn! Unser General macht sie. Echte Bomben, nicht bloß solche Molotowcocktails, mit denen man während der Krawalle Brände entfacht hat. Das sind richtige Sprengbomben!“ „Ist er Chemiker?“ „Es gibt nichts, was er nicht kann. Ein Blick auf diese Augen, und man weiß, daß er eine Atombombe bauen kann, wenn er will! Jetzt muß ich was trinken, und dann ab zur Arbeit. Die Rennplätze sind offen, da hat das Lotto keine Hochsaison.“ Ich folgte ihm in die Küche und sagte: „Ihr Burschen seid wirklich keine Großsprecher. Eine Frau umzubringen, das erfordert allerhand Mut. Habt ihr auch schon Männer umgelegt?“ „Nein.“ Ace schenkte Saft in zwei Gläser. „Vielleicht versuche ich’s morgen mal mit Ananassaft. – Wir wollen keinen Stunk machen, bevor wir nicht für die Schlacht gerüstet sind, aber die Polente kreidet uns jeden Mord in Harlem an, den sie nicht lösen kann. Paß mal auf: Einmal übten wir gerade einen Karateschlag gegen den Adamsapfel. Das kann einen umbringen, also übten wir vorsichtig. Don … Einer von uns sagte, er glaube nicht, daß er wirklich tödlich wirke. Der General ließ einen alten Saufbruder hereinholen, der auf dem Dach geschlafen hat. Wumm! Mit einem Hieb hat er dem Kerl die Gurgel durchgeschlagen. Wir haben ihn am Abend auf einen leeren Bauplatz gebracht. In den Zeitungen hat davon nichts gestanden.“ Ich klopfte Ace auf den Rücken, bemühte mich jedoch, nicht zu übertreiben. „Ace, ihr seid die Richtigen für mich. Frag wegen meinem Beitritt, frag wirklich, ja?“ „Lee, Ma und Helen halten mir immer vor, was du für 195
Manieren hast und solchen Krampf, aber in Wirklichkeit bist du ein ganz wilder Kerl. Keiner hat vergessen, was du mit Meat Market gemacht hast.“ „Der General, weiß der davon?“ „Klar. Das ist ein Pluspunkt für dich. Morgen frage ich ihn, mehr kann ich nicht tun.“ „Danke, Ace. Denk morgen auch an die Schreibmaschine. Wie hast du sie von hier weggeschafft?“ Eine Sekunde lang erwog ich, ob ich zugeben sollte, daß ich Gates niedergeschlagen hatte; es würde den General beeindrucken – und mich vielleicht erledigen. „In einer Einkaufstasche. Warum?“ „Sie ist heiß. Bring sie auch in der Einkaufstasche vom Pfandleiher nach Hause, gleich Freitag früh. Dein großer Schlag soll ja doch am Dienstag steigen …“ „Nicht Dienstag, aber bald.“ „Weißt du, ich möchte nicht, daß dich die Polente mit einer heißen Schreibmaschine erwischt und dir mit so einer Kleinigkeit die große Sache verdirbt.“ „Keine Bange, Lee, ich habe doch Geld. Ich bringe sie her, bevor ich morgen zur Arbeit gehe. He, wo hast du sie denn geklaut, Lee?“ „Unten in der 45. Straße. Ich habe dort wegen einem lausigen Botenjungenjob nachgefragt, und da sind diese Schreibmaschinen auf dem Gehsteig abgeladen worden. Als der Fahrer nach dem Aufzug klingeln gegangen ist, habe ich mir eine geschnappt und mich in der Menge verkrümelt.“ Ace nickte, als hätte ich etwas so Normales wie das Überqueren einer Straße erwähnt. „Aber das sind Kindereien, Ace. Ich möchte bei euch mitmachen, den Weißen eins verpassen und am Lotto gemütlich was verdienen.“ 196
„Gemütlich? Die hetzen einen herum, einfach sagenhaft!“ Er nickte in Richtung der kaputten Küchenuhr. „Menschenskind, ich muß weg.“ Als er die Tür öffnete, sagte ich: „Ich komme mit hinunter, ich möchte ein Sandwich.“ „Quatsch. Nimm dir alles, was du brauchst, aus dem Kühlschrank.“ Die Brotpackung auf dem Tisch war fast leer. Ich sagte: „Wir brauchen mehr Brot. Ich hole welches.“ Mit großer Geste, die komisch gewirkt hätte, wenn mir zum Lachen zumute gewesen wäre, schnippte er mir einen Vierteldollar zu. „Da; nimm dir das Brot und kauf dann neues. Ich sorge für meine Familie, Mann. Bis später.“ Ich hörte ihn die Treppe hinunterrasen. Ich wartete ein paar Sekunden, dann ging ich hinunter. Die Straße war leer. Ich begab mich hinüber zum Süßwarenladen, überlegte es mir anders und schlenderte zur Lenox-Avenue, ohne Kriminalbeamte zu sehen. Die Telefonzelle an der Ecke stank nach Urin. Es war 10.30 Uhr, aber Davis war nicht im Präsidium. Ich hinterließ Nachricht, ich werde in einer halben Stunde noch einmal anrufen, erwog, ob ich Inspektor Cane verlangen sollte, und hängte ein. Ich wollte zunächst Davis sprechen. Cane hätte vielleicht angeordnet, Ace festzunehmen und Purpurauges Identität aus ihm herauszuprügeln. Davis konnte zwar das gleiche tun, aber ich bildete mir ein, daß er auf mich hören würde Mir wurde plötzlich übel, und ich öffnete die Tür der Telefonzelle. Der Uringestank war nicht daran schuld. Es erschien mir unmöglich, daß Ace nicht erkennen konnte, wie grauenhaft, wie ungeheuerlich der geplante Schlag war, mit dem er prahlte. Ich war überzeugt, daß es sich 197
nicht um Aufschneidereien handelte – sie würden zumindest den Versuch unternehmen. Hunderte unschuldiger Menschen … vielleicht so unschuldig, wie die drei kleinen Mädchen, die bei dem Bombenanschlag auf die Kirche in Birmingham getötet worden waren, und das hatten wahrscheinlich erwachsene Männer getan … Wovon mir schlecht wurde, war, daß ich Aces wahnsinnige Wut beinahe verstehen konnte. Die Dummheit und Blindheit, die uns umschloß, hatte oft ähnliche Gefühle in mir geweckt. Ich atmete tief durch. Ich hatte nicht nur das Bedürfnis, Harlem den Rücken zu kehren; am liebsten hätte ich unseren verkorksten Planeten mit einer Rakete verlassen. Ich mußte mich damit begnügen, in die Seventh-Avenue zu gehen und dort auf dem Spielplatz einem Handballspiel zuzusehen. Als ich mit Davis telefonierte, sagte er: „Sie sind spät dran, Lee, es ist fast elf Uhr fünfzehn.“ „Ich weiß, Jack. Ich muß Sie sehen, Ihnen berichten …“ „Ich kann hier nicht weg. Ich habe mit Cane gesprochen. Er findet, Sie können in der 128. Straße nichts mehr ausrichten. Daher …“ „Sir, notieren Sie sich die Rufnummer, rufen Sie zurück. Ich habe Ihnen eine Menge zu sagen und wenig Kleingeld, ich möchte nicht, daß uns die Vermittlung trennt.“ „Okay, Lee. Hängen Sie ein.“ Gleich darauf läutete das Telefon, und Davis fragte: „Na, was gibt es Lee?“ „Erstens können wir Earl, den Muskelprotz, vergessen. Ich habe seine Augen gesehen, sie sind in Ordnung. Die große Sache, die auf ihn zukommt, ist die Wahl des Mr. Amerika.“ 198
„Wir streichen ihn also. Hören Sie, Lee, ich habe mit dem Inspektor die Sache durchgesprochen. Wir machen weder Ihnen noch Mary einen Vorwurf daraus, aber es sind zu viele negative Meldungen eingegangen, nichts Positives über den ‚Schlag‘, die …“ „Ich weiß, was der Schlag ist und wo er stattfinden soll: Sie planen, die Eighth-Avenue-Strecke der U-Bahn irgendwo zwischen der 50. und 59. Straße zu sprengen und während des Durcheinanders ein Hotel zu überfallen. Ich weiß nicht, wann, aber wahrscheinlich binnen einer Woche.“ Davis schnappte am anderen Ende der Leitung nach Luft, dann brüllte er: „Mein Gott! Sind Sie sicher?“ Ich berichtete ihm alles, was ich von Ace erfahren hatte, und schloß: „Da war eine andere Gruppe von Fanatikern, die die Freiheitsglocke in die Luft jagen wollten, als Protestaktion. Vielleicht hat Aces Bande davon die Anregung bekommen. Na ja, was als Protest gegen Rassendiskriminierung beginnt, artet letztlich in U-BahnGreueln aus.“ „Protest? Das ist reiner, verbrecherischer Wahnsinn! Lee, können Sie sich nicht die Verletzungen vorstellen, die – die Panik aller, die noch gehen können und am Geleise entlangstolpern … Das ganze Durcheinander, das sich aus dieser Wahnsinnstat ergibt? Hunderte werden zu Tode getrampelt werden. Wir nehmen diese Mörderbande sofort fest!“ „Jack, ich habe nicht vergessen, wie man die beiden mutmaßlichen Bloody Blacks nach der Festnahme wegen der Sache mit dem Obstladen mißhandelt hat. Das Verprügeln dieser Halbwüchsigen ist keine Lösung und …“ Davis stöhnte. „Welche Hälfte Ihrer gespaltenen Persönlichkeit spricht jetzt, Lee, der Polizeibeamte oder der Neger?“ 199
„Sir, ich spreche als einer, der eine Bombe festhält, buchstäblich. Ich schlage vor, daß wir vorsichtig handeln, sonst geht das Ding vorzeitig los!“ „Stimmt. Reden wir nicht länger. Gehen wir schrittweise vor. Sie haben einen ganzen Sack voll Erbsen vor uns ausgeschüttet. Lee, können Sie diesen Chip identifizieren, den Burschen, der die Sozialfürsorgerin erstochen hat?“ „Ja, Sir. Wir können ihn jederzeit festnehmen, aber wenn wir es jetzt tun, decken wir unsere Karten auf. Außerdem hat er wahrscheinlich gar nicht selbst zugestochen, sondern dem General, diesem Purpurauge, dabei zugeschaut. Ich glaube, Chip hat – hat im letzten Moment den Mut verloren, und Purpurauge hat sie erstochen und …“ „Im Moment sind die Details unwichtig. Jedenfalls ist der Junge ein Komplice.“ „Jack, mir scheint, die Jungen sind diesem Purpurauge fanatisch ergeben. Ich möchte bezweifeln, daß wir irgendwelche hieb- und stichfesten Beweise und den Namen von Purpurauge aus Chip herauskriegen, wenn Sie ihn jetzt ausquetschen. Vielleicht wird das U-BahnAttentat vorverlegt, oder Purpurauge flieht, um einst wiederzukehren. Falls Ace mir morgen zu einem Besuch bei ihm verhilft, sind wir besser in der Lage, ihn festzunehmen.“ „Lee, endlich erfahren wir etwas über den Mord an der Sozialfürsorgerin, da können wir nicht einfach herumsitzen oder warten, bis wir Vorkehrungen treffen können gegen den Bombenanschlag auf die U-Bahn. Allmächtiger, in der Stoßzeit, das würde einen Bürgerkrieg auslösen!“ „Sir, ich bin mir dessen bewußt, aber Chip verläßt die 128. Straße nicht, und der Schlag wird frühestens in einer Woche geführt werden. Purpurauge ist der Zünder dieser Bombe. Die Festnahme einiger Kinder kann den Schlag 200
verhindern oder auch nicht. Was haben wir zu verlieren, wenn wir bis morgen warten und ich vielleicht das Glück habe, Purpurauge zu sprechen und eventuell zu verhaften?“ „Ich muß erst beim Inspektor rückfragen, aber während der nächsten Stunden ist er leider nicht zu erreichen. Das alles ist so phantastisch, daß ich es kaum glauben kann. Wieso hat sich Ihnen Ace nach all der Zeit anvertraut?“ „Er – hat Geld genommen, das ich im Zimmer hatte, für die Kriegskasse, von der ich Ihnen erzählt habe, und ich habe ihn ein bißchen rauh angefaßt.“ „Lee, rufen Sie mich um vierzehn Uhr hier an, bis dahin dürfte ich den Inspektor erreicht haben. Finden Sie inzwischen heraus, wo dieser Chip wohnt, und lassen Sie ihn nicht aus den Augen.“ „Ja, Sir. Jack, nehmen Sie es mir nicht übel, aber versuchen Sie, Cane dahin zu bringen, daß er nichts unternimmt, bevor wir unserer Sache absolut sicher sind. Die Zeitungen könnten diese Jungen in den Schlagzeilen lynchen und die Spannung in der Atmosphäre noch steigern. Wahrscheinlich kann man ihnen einige Überfälle zur Last legen und Dummheit, aber ob es für eine Mordanklage ausreicht, das wissen wir nicht genau. Sobald die Zeitungen Wind davon bekommen, sind sie erledigt. Nach dem, was wir jetzt wissen, ist Purpurauge für uns wichtig, nicht die Jungen.“ „Lee, Sie sind Angehöriger der Polizei, nicht Angestellter irgendeiner Wohlfahrtsorganisation. Und wir mißhandeln wirklich niemanden, zumindest nicht am Gefallenengedenktag. Also, ich spreche mit Cane, und er hat zu entscheiden, nicht Sie oder ich. Bleiben Sie inzwischen in Chips Nähe, und rufen Sie mich um vierzehn Uhr an. Und Lee, Sie haben großartige Arbeit geleistet, wir werden das nicht vergessen.“ 201
Als ich die Telefonzelle verließ, fühlte ich mich so stark als „Polyp“, daß es mich im Hals würgte. Ich hörte schon Cane sagen: „Holt das Pack herein und quetscht es aus!“ Ich versuchte mir einzureden, daß jeder Polizeibeamte in Anbetracht des Verbrechens, mit dem wir es zu tun hatten, auch mit weißen Halbstarken so verfahren wäre. Mit einem Unterschied: Allein schon als mutmaßliche Bloody Blacks würden sie eine Behandlung erdulden müssen, die keinem weißen Schnösel widerfahren würde. Und ich mußte sie hinhängen! Der gute Onkel Lee! Widerstrebend kehrte ich in die 128. Straße zurück, nichts anderes im Sinn, als meinen Wagen zu holen und Abkühlung zu suchen. Einen starken Wagen fahren, das ist mein privates Auslaßventil – und ebenso wirkungslos wie Zahlenlotto, die Flasche oder mutwillige Gewalttätigkeit. Der heiße Block war fast sonntäglich still. Dong und Little Daddy, die auf einer Vortreppe Karten spielten, nickten mir zu, als ich den Süßwarenladen betrat. Bei einem Soda fragte ich den mondgesichtigen Westindier: „Wo wohnt Chip?“ „In dem anständigen Haus, das deinem Polizeileutnant mit dem langen Wagen gehört. Mrs. Moorepark, die Mutter von dem Jungen, näht. Früher war er ein braver Junge, er ist erst seit ein paar Monaten aus der Schule. Angeblich gerät er seinem Vater nach. Ich selbst habe den Alten nie gesehen.“ „Was macht der Vater?“ „Ist tot, angeblich. Hat unten in Manhattan als Portier gearbeitet, wenn er nüchtern war. Soll nicht oft vorgekommen sein, sagt man. Er hat keine Lebensversicherung hinterlassen, und keiner hat gewußt, ob er bei der Sozialversicherung war, und da kriegt die Mutter eine kleine 202
Unterstützung von der Wohlfahrt. Das ist das Schlimme an Harlem: Wenn der weiße Mann schon mal ein bißchen was Gutes tun will, kommt er zu spät. Unterstützung ist gut, als vorübergehende Hilfe, aber manche Familien leben seit drei Generationen von der Wohlfahrtsunterstützung und sind so schlecht dran, so erledigt, daß sie keine Hoffnung und kein Ehrgefühl mehr in sich haben.“ Ich sah Chip vorbeigehen, bezahlte das Soda, ging hinaus und gesellte mich zu ihm auf die Stufen, wo er dem Kartenspiel zuschaute. Ich besah ihn mir genauer: dunkles, sehr kurzgeschnittenes Haar; kleine, hübsche Zähne in dem straffen hellbraunen Gesicht; hohe Backenknochen und scharfe Nase; das nervöse Zucken seiner Augen. Jemand hatte mir erzählt, daß er früher eine Brille getragen hatte. Vermutlich hatte er sie nach der Sache mit der Sozialfürsorgerin abgelegt, so als eine Art negative Verkleidung. Das Kartenspiel war aus, und Dong begann mit seinem Liebesleben zu prahlen. Ein Mädchen in Stretchhosen, die so prall saßen, daß sie platzen mußten, wenn sie sich bückte, gesellte sich zu uns. Ich fragte mich, wo die Mädchen tagsüber blieben; sie schienen nur am Abend herauszukommen. Dong erzählte haarklein, was er hinter dem Supermarkt in Lexington Avenue mit einem Mädchen getrieben hatte. Little Daddy setzte sich seine Sherlock-Holmes-Mütze quer auf und meinte: „Ach, mit dir ist doch nichts los! Ich habe Beweise, daß ich ein richtiger Mann bin: zwei Babys, soviel ich weiß.“ „Was geschieht denn mit deinen Kindern?“ fragte ich. Little Daddy schielte mich völlig naiv an. „Das ist aber eine blöde Frage, Lee. Was weiß ich, was aus den Bälgern wird? Ich bin ja kein Hellseher.“ „Aber es sind doch deine Kinder“, warf Chip ein. 203
„Schau, soll das Mädchen doch aufpassen. Ich mache ihr das Vergnügen, und um den Rest kann sie sich selbst kümmern“, sagte Little Daddy. „Recht hast du“, bestätigte das Mädchen. „Wenn zu zehn Cent in einen Automaten steckst und dich auf ein Bonbon freust, und der Automat klemmt, ist das denn deine Schuld? He, du, Lee, hast du eine Zigarette?“ „Nein.“ „Möchtest du mir ein Päckchen spendieren?“ „Nein.“ Aus irgendeinem Grunde rief das Gelächter in der Runde hervor. Sogar das Mädchen grinste, als hätte ich einen Witz gemacht. Auf der anderen Straßenseite kam Helen aus dem Haus und machte mir Zeichen. Sie sah sehr gut aus in einem dunklen Kostüm mit schlichter weißer Bluse; um ihren seitlich sitzenden Haarknoten hatte sie eine freche Schleife gebunden. Als ich hinüberging, hörte ich die Burschen hinter meinem Rücken flüstern und kichern. „Wie war die Parade?“ „Wie immer. Mama ist böse, weil Ace weggegangen ist und die Wohnung nicht abgesperrt hat.“ „Das war ich. Ich bin als letzter weggegangen. Fehlt etwas?“ „Nein. Lee, Mama bleibt den ganzen Nachmittag zu Hause und paßt auf Louise auf. Möchtest du mit mir nach Rom fahren?“ „Was?“ Sie lächelte, rieb mir etwas von der Wange. „Im ‚Roosevelt‘ läuft einer von diesen ausländischen Filmen. Ich habe ein Plakat mit der Ankündigung gesehen. Gehen wir hin?“ „Nein, mir ist nicht nach Kino zumute.“ 204
„Ich habe genug Geld für zwei Eintrittskarten. Lee, ich möchte mit dir ins Kino gehen.“ Ich warf einen Blick auf Chip, auf die anderen mit ihrem blöden Gerede. Ich mußte Davis in einer halben Stunde anrufen, aber es war überflüssig, Chip zu überwachen, der würde nirgends hingehen. Doch ich hatte ausdrücklichen Befehl, ihn im Auge zu behalten. Ich lächelte Helen an. Es freute mich, daß sie so groß war wie ich. Am liebsten hätte ich meinen Wagen geholt und wäre mit Helen an den Strand gefahren. Ich sagte: „Ich glaube, ich bleibe doch hier.“ „Ach, Lee, die ganze Zeit im Zoo und bei der Parade habe ich nur daran gedacht, wie wir uns den Film ansehen. Du weißt doch, wie ausländische Filme auf mich wirken. Lee, bitte!“ „Helen, ich bin müde.“ „Müde von was? Du bist schon wie Ace und die anderen, die Straße ist für euch das Größte. Lee, ich gebe das Geld gern aus.“ „Reg dich ab, Süße. Ich – ich bin heute nicht gut in Schuß. Das ist alles.“ Ein Funkstreifenwagen mit zwei farbigen Polizeibeamten fuhr vorbei. Es war das zweitemal in einer Viertelstunde, daß sie durch die Straße kamen. Ich fragte mich, ob Davis verschärfte Überwachung für die Straße angefordert hatte. „Also, ich habe keine Lust, den Tag zu vertrödeln. Du – was hast du vor, Lee?“ „Schlafen.“ „Wir könnten ja auch Spazierengehen statt ins Kino oder einen Besuch machen. Ich habe eine Freundin, die hat ein paar wirklich gute Jazzplatten.“ „Ich möchte lieber dableiben.“ 205
Helen schimpfte in sich hinein und ging. An der Lenox-Avenue mußte sie an der Ampel warten. Sie drehte sich um und schaute mich forschend und verletzt an, bevor sie die Avenue überquerte. Little Daddy rief mir zu: „So ist es richtig, Landjunge, zeig den Weibern die kalte Schulter!“ „Halt’s Maul, du idiotische Babymaschine“, murmelte ich vor mich hin. Um vierzehn Uhr telefonierte ich vom Süßwarenladen aus. Davis teilte mir mit: „Der Inspektor ist Ihrer Ansicht, Lee. Wir wollen bis morgen warten und sehen, ob Ace Sie zu Purpurauge mitnimmt. Haben Sie eine Ahnung, wann das sein wird?“ „Nein.“ „Geben Sie mir, falls möglich, telefonisch durch, wo und wann das Treffen stattfinden soll. Aber um zehn Uhr rufen Sie auf alle Fälle an. Und behalten Sie Chip im Auge.“ „Ich sehe ihn auch jetzt durch die Schaufensterscheibe.“ „Das ist alles. Seien Sie vorsichtig, Lee.“ Den ganzen Nachmittag lang hörte ich der albernen Unterhaltung der Jungen und Mädchen zu. Das Mädchen erzählte mir, es habe Meat Market besucht, und er werde mich zum Krüppel schlagen, weil ich unfair gekämpft hatte. Ich zählte großsprecherisch auf, was ich ihm alles antun würde, wenn er noch einmal anfinge. Nach einiger Zeit fühlte ich mich so deprimiert, daß ich ging und mich allein auf die Stufen „unseres“ Hauses setzte. Ich überflog die zwei Tage alte Zeitung, die jemand in Flur weggeworfen hatte, und las noch einmal eine Meldung über das Treiben meiner ausländischen Freunde, der Mods und der Rockers. Eine Frau kam aus dem Souterrain und 206
beklagte sich, Solmen sei nie da, bei ihr in der Kühe laufe das heiße Wasser; sie könne es nicht mehr abdrehen. „Schlechtester Hausbesorger, den ich kenne. Wenn du ihn siehst, sag ihm, er soll in den vierten Stock kommen, die Wohnung vorn heraus.“ Ich versprach es und saß wie im Trance da. In einer Vorlesung auf der Polizeiakademie hatte uns einmal ein Kriminalbeamter darauf aufmerksam gemacht, wie langweilig Polizeiarbeit sein konnte. Er hatte erwähnt, wie er einmal achtzehn Stunden in einem Wagen gesessen und ein Haus beobachtet hatte. Wie ich Chip so beobachtete, wünschte ich, er möge einen Spaziergang machen oder sonst irgend etwas tun, außer herumzusitzen. Als es zu dämmern begann, kam Louise herunter, um nach Helen und Ace Ausschau zu halten. Sie sagte zu mir: „Mama wartet mit dem Abendessen auf sie. Im Zoo war es schön. Schade, daß du nicht mit warst, Lee.“ Von irgendwo aus dem Souterrain hörte ich Solmen donnern: „Meine Dame, ich bin kein Klempner. Ich rufe morgen früh einen an. Ich kann das Wasser nicht abdrehen, die Ventile sind so rostig, da wird womöglich alles noch schlimmer.“ Ich fragte mich, wann er heimgekommen war und wann Chip nach Hause gehen würde. Helen kam anmutig die Straße entlang. Als ich aufstand, wunderte sie sich: „Was, du hockst noch immer hier?“ „Louise hat dich gesucht, das Abendessen wartet. Wie war es im Kino?“ Ohne zu antworten, ging sie an mir vorbei. Auf der anderen Straßenseite brachen Dong und Little Daddy auf, dann schlenderte auch das Mädchen davon. 207
Ace bog raschen Schrittes von der Lenox-Avenue um die Ecke. Er winkte Chip zu, während er zu mir sagte: „Mann, ich halte mich kaum auf den Füßen. Ich habe schwerer gearbeitet als an einem normalen Tag. Die Leute sind zu Hause, haben mehr Zeit, sich die Einsätze zu überlegen. Kommst du mit hinauf zum Essen, Lee?“ „Ich habe keinen Hunger.“ Solmen watschelte mit seiner Werkzeugtasche die Souterraintreppe hoch. Das Licht der Straßenlaterne brach sich funkelnd an dem einzelnen Ohrring unter dem dicken schwarzen Ohr. Er nickte uns zu und dröhnte: „Da soll ich Klempner, Zimmermann und Elektriker sein, aber am Monatsletzten werde ich nur als Hausmeister bezahlt.“ „Lassen Sie mich vorbei, bevor Sie die Treppe blockieren“, sagte Ace und lief in den Flur. Ich saß da und bekam vor Hunger allmählich Kopfweh. Chip stand endlich auf, ging zum Lebensmittelgeschäft, kaufte eine Tüte Kartoffelchips und aß sie, an den Eingang gelehnt. Ich begab mich hinüber, kaufte ein Käsesandwich und fragte: „Ist das dein Abendessen?“ „Komisch, ich kann abends nicht viel essen. Ich verdrücke ein großes Frühstück und Mittagessen, aber am Abend bringe ich nichts hinter. Du auch?“ „Ich habe keinen Platz zum Essen.“ Chip nickte. „Meine Mutter ist abends müde, da mache ich ihr meistens keine Umstände mit dem Essen.“ Während ich das Sandwich aß, studierte ich die rötliche Tönung seines hellbraunen Gesichts, die großen Ohren, die scharfe Nase. Vermutlich hatte er indianisches Blut in sich, und ich überlegte, wie viele geheime 208
Liebesaffären seine Hautfarbe und seinen Gesichtsschnitt hervorgebracht hatten. Ich kaufte eine Tüte Milch, bot ihm davon an. Er lehnte ab, und wir setzten uns auf die Stufen. Bald darauf stellten sich Ace und die anderen, auch die Mädchen, zu weiterem belanglosem Gerede ein. Zum Glück für mich wurde es nur eine kurze Sitzung, Um halb zehn sagte Ace, er sei müde. Chip gähnte, verkündete, es ziehe ihn ins Bett, und ging nach Hause. Als wir hinaufgingen, informierte mich Ace: „Ma ist auf dem Kriegspfad, du hast die Tür nicht abgesperrt. Ich hätte dir den Schlüssel geben sollen, hab’s aber vergessen.“ „Vergiß bloß nicht, gleich morgen früh meine Schreibmaschine zu holen. Und den General wegen meinem Beitritt zu fragen.“ „Mann, dein Mund macht zu viele Töne. Ich weiß, was ich zu tun habe.“ Helen saß in der Küche und las einen Roman aus der Bibliothek. Mrs. Johnson sah fern, und Louise schlief. Helen würdigte mich keines Blickes. Ace stürzte ins Bad. Mrs. Johnson begann: „Also, Lee, du hast die Tür nicht abgesperrt, und man hätte uns berauben …“ „Mama, er hat doch keinen Schlüssel. Wir können es uns nicht leisten, einen machen zu lassen.“ „Darauf kommt es nicht an, meistens ist ja jemand zu Hause“, meinte Mrs. Johnson. „Aber Helen hat recht, du solltest einen Schlüssel haben. Sobald du die Miete zahlst, kaufe ich dir einen.“ „Hör auf, wegen der Miete zu sticheln, Mama.“ „Ich habe nicht gestichelt. Was ist los mit dir, Helen? Du fauchst uns schon den ganzen Abend an.“ 209
Ich sagte: „Geben Sie mir morgen den Schlüssel, ich lasse mir einen machen.“ Mrs. Johnson fand die Idee gut und wandte sich wieder dem Drama auf der Mattscheibe zu. Ich ging nachsehen, was Helen las. Sie lächelte mich plötzlich an. „Entschuldige, daß ich heute nachmittag so eklig war, Lee. Ich habe kein Recht, dir Vorschriften zu machen, aber ich dachte, du möchtest den Film sehen. Ich war auch nicht im Kino, ich bin bloß herumgegangen.“ „Ich – äh – war in so einer Stimmung, wo man sich nicht zusammennehmen kann. Ich werde es wiedergutmachen.“ „Das mußt du nicht.“ „Ich weiß, daß ich nicht muß, aber ich möchte.“ Ich berührte ihr Haar, meine Finger streichelten ihre weiche Wange, während ich ein wachsames Auge auf Mama im Wohnzimmer hatte. Helen drückte meine Finger kurz an ihr Gesicht, ließ es jedoch bleiben, als Ace, sein Hemd schwingend, aus dem Bad kam. Ich wusch mich, ging in mein heißes Schlafzimmer und stellte fest, daß Ace bereits schlief. Ich streckte mich neben ihm aus. Als ich in Schlaf versank, hörte ich heftiges Husten aus dem Luftschacht. Ich hörte Ace herumrumoren und öffnete die Augen. Er kleidete sich an, und das fahlgraue Licht im Luftschacht verkündete, daß der Morgen angebrochen war. Ace sagte: „Ich kaufe heute wieder die Zeitung und Saft, Lee.“ „Geh und hol meine Schreibmaschine.“ „Das tue ich auch. Noch vor halb zehn ist sie wieder da. Sag Helen nicht, daß du eine Schreibmaschine hast, sonst schnappt sie über.“ 210
„Keine Angst. Und du hast versprochen, wegen mir zu fragen, vergiß das nicht!“ Er machte mir eine lange Nase. „Kommandier mich nicht dauernd herum! Ich werde mich um alles kümmern.“ Ich hörte, wie Mrs. Johnson Louise ermahnte, das Bad zu verlassen, sonst werde sie zu spät zur Schule kommen. Ich fand eine kühle Stelle auf dem Laken und starrte die ungefügen Lettern an der Wand an. Ich hörte Ace wiederkommen und nach ein paar Minuten gehen. Es hatte keinen Sinn, ihn heute zu beschatten. Als ich Louise in ihrem Zimmer hörte, zog ich meine Hose an und nahm ein Handtuch. Helen flitzte, sich ein Kleid über den Kopf ziehend, durchs Wohnzimmer. Sie warf mir eine Kußhand zu und bat: „Lee, laß mich zuerst ins Bad. I n der Zeitung ist ein Stellenangebot, Halbtagsarbeit als Verkäuferin, da möchte ich mich bewerben. Mama, schenk mir Saft ein, Kaffee mag ich keinen.“ Ich saß im Wohnzimmer auf der Armlehne des Polstersessels, und nachdem Helen im Laufschritt das Bad verlassen hatte, ging ich hinein. Sie war schon fertig, als ich mich in die Küche setzte, Saft und Kaffee trank und auf der letzten Seite der Zeitung die Baseballergebnisse überflog. Mrs. Johnson räusperte sich. „Also, Lee, ich will ja niemanden mahnen, das ist nicht meine Art, und wenn du’s nicht hast, dann sag’s. Aber wenn du mir die Miete geben kannst oder wenigstens einen Teil – im Supermarkt ist ein Hühnersonderangebot, und das möchte ich ausnützen.“ „Ich habe die Miete“, sagte ich, schenkte mir noch eine Tasse Kaffee ein und drehte die Zeitung um. 211
Mary Presentis zerschlagenes, totes Gesicht starrte mich an unter der schreienden Schlagzeile: „Polizeibeamtin im Park an der 78. Straße tot aufgefunden!“
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Ein Geistlicher über Mitglieder seiner weißen Herde, die dagegen sind, daß die Schulbehörde zur Gewährleistung eines besseren Rassenausgleichs an den New-Yorker Schulen Kinder mit Bussen befördern läßt: „Die Leute kommen zu mir und fragen: ‚Warum muß die Rassenintegration gerade bei unseren Kindern beginnen?‘“, sagte er betrübt, „und ich erwidere ihnen, irgendwo muß sie ja beginnen. Aber sie sind nicht besonders zufrieden mit meiner Antwort..“ New York Times Magazine, 20. September 1964. Copyright 1964 by the New York Times Co. Nachdruck mit Genehmigung.
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Freitag „Die Polizeibeamtin Mary Presenti, 31, wurde heute in den frühen Morgenstunden im Gebüsch des Central Parks, in der Nähe der 78. Straße und Central Park West, tot aufgefunden. Miß Presenti, die seit sieben Jahren Polizeibeamtin war und wegen Tapferkeit zweimal lobend erwähnt wurde, ist grausam geschlagen und erstochen worden. Ihre leere Handtasche wurde in der Nähe gefunden, und die Polizei vermutet, daß es sich um einen Raubüberfall handelt. Ein Sittlichkeitsdelikt liegt nicht vor. Das Polizeipräsidium gibt bekannt, Miß Presenti habe gestern dienstfrei gehabt, und es sei nicht ersichtlich, aus welchem Anlaß sie sich im Central Park befunden habe. Miß Presenti lebte bei ihren Eltern in Brooklyn, Thomen Street 137. Die Leiche wurde kurz nach Mitternacht von Mr. Leonhard Wyckoff gefunden, einem Kleiderhersteller, wohnhaft 80. Straße West, Nr. 27. Mr. Wyckoff war von einer Party heimgekehrt und führte seinen Hund aus. An der 79. Straße befreite er den Pudel von der Leine und ließ ihn frei im Park herumlaufen. Als der Hund mit einem Damenschuh in der Schnauze zurückkehrte, sah Mr. Wyckoff nach, entdeckte die Leiche, hielt einen Streifenwagen an und führte die Polizeibeamten zum Tatort. Dies ist der fünfte Mord im Central Park seit …“
„Lee, hörst du, was ich sage?“ „Was?“ Ich schaute Mrs. Johnson an. „Was ist denn, Junge, bist du krank? Also, du hast gesagt, du kannst mir die Miete geben …“ 214
Ich legte einen Zehndollarschein auf den Küchentisch, sagte, ich käme gleich wieder, sprang die Treppe hinunter und raste zu einer Telefonzelle in der Lenox-Avenue. Leutnant Davis erkundigte sich: „Lee, treffen Sie sich mit Purpurauge?“ „Ace ist noch nicht zurück. Was ist Mary zugestoßen?“ „Wir wissen nicht viel mehr, als in den Zeitungen steht. Haben Sie etwas über diesen Chip herausgebracht?“ „Sein Nachname lautet Moorepark, und er wohnt in Ihrem Haus. Jack, was hatte Mary in der 78. Straße zu tun?“ „Wir haben noch keine Ahnung. Moorepark? Das ist Chip? Aber diesen Jungen habe ich doch heranwachsen sehen! Ein mageres, sensibles Kind. Seine Mutter ist eine schwer arbeitende Witwe, die …“ „Leutnant, Mary wäre nicht so dumm gewesen, zu so später Stunde allein in den Park zu gehen. Es muß ein Zusammenhang zwischen ihrem Tod und der 128. Straße bestehen.“ „Möglich, aber sie war nicht im Dienst. Der …“ „Soll ich ins Präsidium kommen?“ „Sie sollen in der 128. Straße bleiben und sich von Ace zu Purpurauge bringen lassen. Rufen Sie sofort an, wenn Sie etwas erfahren haben.“ „Ich will mithelfen, Marys Mörder zu schnappen!“ „Lee, halten Sie sich an Ihren Auftrag. Das ist ein Befehl! Den Kerl kriegen wir schon. Sie wissen selbst, daß die Polizei alle Kräfte mobilisiert, wenn einer aus ihren Reihen getötet worden ist. Bleiben Sie bei Ace. Rufen Sie um vierzehn Uhr an.“ – Er legte auf. Ich ging zum Haus zurück. In der Ferne kreischte eine Polizeisirene, man hörte es ganz deutlich in der morgendlichen Stille. Ich sah nicht die Straße, ich sah Mary mit dem Revolver in der Hand in den Kohlenkeller eindringen. 215
Solmen kam heraus, um den Gehsteig zu fegen. Er rieb seine Sonnenbrille an seinem Hemd. „Wird wieder ein heißer Tag, vielleicht ein heißer Sommer. Hast du gelesen, daß im Kongo alle Parteien endlich eine Zentralregierung gebildet haben? Das ist die …“ „Scheiß auf den Kongo“, sagte ich und ging hinauf. Mrs. Johnson rief aus dem Schlafzimmer: „Lee?“ „Ja.“ „Daß du nur wieder da bist! Rennst weg wie … ich weiß nicht, was. Deine drei Dollar liegen auf dem Küchentisch, unter dem Zucker. Ich gehe einkaufen und vielleicht auch in die Klinik. Das viele Herumgehen gestern war schlecht für mein Bein. Helen kommt vor Mittag nach Hause, damit Louise ihr Essen bekommt. Willst du hier warten? Ich lasse dir einen Schlüssel machen.“ „War Ace schon da?“ „Nein, der ist auch weggerannt, wie wenn es hinter ihm gebrannt hätte. Wirst du auf Helen warten? Ich möchte die Wohnung nicht wieder offen haben wie …“ „Ich werde warten.“ Als ich allein war, durchsuchte ich unser Schlafzimmer, ging Aces wenige Habseligkeiten und Bücher durch. Dann nahm ich mir das Wohnzimmer und Mrs. Johnsons Schlafzimmer vor. Ich schnüffelte in der Küche herum, als Helen hereinkam. „Schon zurück? Wie spät ist es?“ „So gegen halb elf. Sie haben sich meinen Namen aufgeschrieben, und das übliche ‚Sie hören wieder von uns, falls … ‘“ „Hast du draußen Ace gesehen?“ „Nein, Lee, ist dir was? Du siehst so – so grau aus.“ „Mir fehlt nichts.“ 216
Sie ging zum Schlafzimmer. „Ich ziehe mich nur schnell um, bin gleich wieder da.“ „Ich muß hinunter, telefonieren. Wenn Ace kommt, soll er auf mich warten.“ Die Straße war leer. Die dicke Frau des Westindiers stand hinter der Theke. Als ich sie fragte, ob sie Ace gesehen habe, entgegnete sie: „Ich habe Besseres zu tun, als auf diese Bengel aufzupassen.“ „Wo ist Ihr Mann?“ „Zu Hause. Er schläft, falls dich das etwas angeht. Diese Jugend heutzutage, nur faul und keinen Respekt vor älteren Leuten. Wie ich noch jung war …“ Ich verließ den Laden, blieb auf dem Gehsteig stehen, so nervös, daß ich nahe daran war zu explodieren. Sie rief aus dem Laden: „Und wir hatten so viel Manieren, daß wir warteten, bis jemand ausgesprochen hatte!“ Am besten kann ich denken, wenn ich mich bewege, und langsam den Block auf und ab schlendernd, überlegte ich, warum die 79. Straße so oft dran war. Es war an der 79. Straße und Central Park West gewesen, wo ich Davis getroffen hatte und vom Besitzer des Süßwarenladens erkannt worden war. Und nun hatte man dort Mary umgebracht. Die 79. Straße war drei Meilen entfernt und hauptsächlich eine teure „weiße“ Wohngegend. Was mochte sie mit der 128. Straße verbinden? Doch ich war überzeugt, daß eine Verbindung bestehen mußte. Ich erschrak, als ich Louise nach Hause hüpfen sah. Wo, zum Teufel, war Ace? Oder Chip und die anderen? Waren sie mir durch Marys Tod irgendwie auf die Schliche gekommen? Ich hatte das Gefühl, daß ich meine Zeit verschwendete, daß ich mehr tun sollte, als Louise auf dem Rückweg zur Schule zuzuwinken. 217
Natürlich war es möglich, daß Ace sich zu Purpurauge begeben hatte, nachdem er die Schreibmaschine eingelöst hatte, und nun … Ein Funkwagen kam gefahren. Einer der beiden farbigen Polizeibeamten sah sich die Hausnummern an. Der Wagen hielt vor „unserem“ Haus, und einer der Beamten ging hinein. Ich ging zu dem karamelfarbenen Polizeibeamten, der hinter dem Lenkrad sitzend eine Zigarette paffte, und fragte, was passiert sei. „Nichts, was dich angeht. Hau ab, bevor ich dich mitnehme.“ Ein paar Minuten später kam der andere zurück, und sie fuhren davon. Als ich die Treppe hochstieg, traf ich Helen, die ganz blaß und verstört war. Sie packte meine Hand. „Mein Gott! Lee, Ace liegt im ‚Harlem Hospital‘, bewußtlos und schwer verletzt!“ „Was ist passiert?“ fragte ich, als wir zur LenoxAvenue losrannten, wo wir in den Bus stiegen. „Ich weiß nichts, nur daß er verhaftet ist. Ein Polyp war bei uns und hat es mir gesagt. Ich kann’s nicht glauben. Ace war in letzter Zeit viel ruhiger. Nicht so wie früher, wo er nichts mit sich anzufangen gewußt hat. Und er hat gesagt, daß er arbeitet, und da …“ „Helen, was hat der Bulle eigentlich zu dir gesagt?“ „Daß Ace sich einem Polizeibeamten widersetzt hat, daß … Irgendwas von einer Einkaufstasche, die zerrissen ist, und eine Schreibmaschine ist herausgefallen … O Gott, er hat mir wahrscheinlich eine Schreibmaschine gekauft! Und angeblich ist sein Zustand bedenklich, wer weiß, ob er nicht stirbt!“ Ich drückte ihre Hand. „Reg dich nicht auf, wir werden es bald erfahren.“ 218
Im Krankenhaus dauerte es eine gewisse Zeit, bis wir die Formalitäten erledigt hatten und das Zimmer erreichten, das ein älterer weißer Polizeibeamter bewachte. Ein junger Arzt, ebenfalls Weißer, sagte Helen, Ace habe eine Gehirnerschütterung und einen Schock erlitten, er dürfe nicht besucht werden. „Wenn keine Komplikationen auftreten, dürfte Ihr Bruder in ein, zwei Tagen außer Gefahr sein. Er ist – er ist bös gestürzt, dabei hat er einen Schädelbruch, gebrochene Rippen und Prellungen davongetragen. Es besteht die Möglichkeit innerer Verletzungen. Er ist jetzt bewußtlos. Kommen Sie morgen früh wieder. Allerdings werden Sie ihn nur mit Erlaubnis der Polizei sehen können.“ Ich ließ Helen, die ganz benommen war, in einem Sessel sitzen, trat zu dem älteren Polizeibeamten und fragte ihn, was Ace zur Last gelegt wurde. Er schaute mich gelangweilt an und fragte: „Bist du ein Verwandter?“ „Ja, ein Vetter.“ „Dann müßtest du Bescheid wissen.“ „Wachtmeister, der Polizeibeamte, der ins Haus kam, hat nur mit meiner Kusine, seiner Schwester, gesprochen. Sie ist hysterisch, kann sich nicht erinnern, was er gesagt hat. Was wirft man ihm vor?“ „Er wird beschuldigt, einen Polizeibeamten tätlich angegriffen und vielleicht auch einen Diebstahl begangen zu haben. Er hat eine Einkaufstasche getragen, die ist kaputtgegangen, und der Schreibmaschinenkoffer ist herausgefallen, einem Schutzmann fast direkt vor die Füße. Als dieser nun Auskunft verlangt, rennt der Schnösel weg. Er sieht einen zweiten Schutzmann kommen, dreht sich um und versucht, den ersten zu treten, aber der wehrt ihn 219
mit seinem Knüppel ab. Der Lümmel fällt auf den Gehsteig, spaltet sich den dicken Schädel. Genügt dir das?“ „Ja. Danke.“ „Sei weiter so frech, und ich lege dich gleich neben ihn ins Bett!“ Ich kehrte zu Helen zurück, schüttelte sie sacht und zog sie hoch. „Hier können wir nichts mehr tun. Geh nach Hause, und wenn deine Mutter kommt, sag ihr, sie soll sich den Weg hierher sparen. Hast du Fahrgeld für den Bus?“ Sie nickte. „Lee, komm mit mir, ich will nicht allein sein. Sonst fahre ich aus der Haut. Wahrscheinlich haben sie Ace nach Strich und Faden verprügelt, und …“ „Er befindet sich in einem Krankenhaus, nicht auf einem Polizeirevier. Niemand wird ihm etwas antun.“ „Ich bin schuld. Ich habe mir so sehr eine Schreibmaschine gewünscht … Aber ich hätte nie gedacht, daß Ace eine stiehlt.“ „Eigentlich hat er sie gar nicht gestohlen.“ Ich nahm ihre Hand. Auf der Straße öffnete ich die Tür eines Taxis, das an der Ampel wartete. Schweigend fuhren wir bis vors Haus. Nachdem ich den Fahrpreis entrichtet hatte, sagte ich: „Geh hinauf und mach dir keine Sorgen.“ „Lee, bleib bei mir!“ „Vielleicht muß ich in einer wichtigen Sache wohin.“ Sie lehnte sich an mich. „Was kann wichtiger sein als das hier?“ „Eine ganze Menge. Bitte, Helen, geh hinauf und bleib dort. Ich bin so schnell wie möglich wieder da. Vergiß nicht, Ace ist im Krankenhaus, dort geht es ihm gut.“ „Lee, ich brauche dich.“ 220
Ich begleitete sie in die Wohnung, legte sie auf die Couch. „Helen, ich muß wirklich weg. Bleib hier.“ Ich streichelte ihr Gesicht und ging. Als ich Davis aus der Telefonzelle an der Ecke anrief, meldete sich Cane und fragte: „Hayes, wo haben Sie gesteckt, zum Teufel?“ „Im ‚Harlem Hospital‘. Der Junge, dieser Ace, der mich einführen sollte bei …“ „Ich weiß Bescheid. Leutnant Davis hat Sie vor einer halben Stunde in der 128. Straße gesucht. Wir haben diesen Chip geschnappt und verhört. Am besten, Sie kommen gleich einmal her.“ Ich sagte, ich sei schon unterwegs, und machte mich zur U-Bahn in der 125. Straße auf. Da Cane nicht verlangt hatte, ich solle meine „Verkleidung“ ablegen, war ich wohl von meinem Auftrag entbunden, oder zumindest von meiner geheimen Tätigkeit. Das paßte mir, denn die 79. Straße interessierte mich jetzt viel mehr. Jack Davis wirkte müde. Sein Hemd – er hatte den Rock ausgezogen – wirkte genauso zerknittert wie sein Gesicht. Er sagte: „Dieser Chip ist zäher, als er aussieht. Er leugnet, daß er die weiße Sozialfürsorgerin erstochen hat, und hält Reden, daß er sich für seine Hautfarbe nicht schämt und dergleichen. Aber sonst ist nichts aus ihm herauszuholen.“ „Ist er denn noch fähig zu sprechen? Ace nicht.“ „Kommen Sie mir nicht auf diese Tour, Lee. Ich kenne Chip von Geburt an. Ich unterhalte mich mit ihm als Freund.“ Ich wollte eine ironische Bemerkung über den „wohlmeinenden Hausherrn“ machen, aber dann sagte ich nur: 221
„Sie wissen vermutlich, daß es ein paar Tage dauern wird, bevor Ace in der Lage ist zu sprechen – falls er überhaupt noch sprechen wird.“ „Hören Sie, ich habe die Meldungen gelesen. Niemand hat ihn mißhandelt. Er hat sich den Kopf beim Fallen aufgeschlagen.“ „Und wie hat er sich die Rippen gebrochen, Jack?“ Davis zündete sich nervös eine Zigarette an, verzog das Gesicht und warf sie zu Boden. „Ich habe einen gräßlichen Geschmack im Mund. Nun ja, vielleicht hat er einen Klaps mit dem Gummiknüppel bekommen. Wenn ein Kerl versucht, einen Polizeibeamten zu treten, was erwarten Sie denn, daß er dann sagt? Etwa: ‚Mehr Glück beim nächsten Mal?‘ Was hätten Sie getan? Schließlich war der Polizeibeamte gesetzlich im Recht, Ace anzuhalten, aber der mußte ja aufmucken. Ich habe ihn Gates gezeigt – Ace war nicht der Lümmel, der ihn niedergeschlagen hat. Gates meint auch, daß es sich nicht um denselben Schreibmaschinenkoffer handelt, der andere sei angeblich bedeutend größer gewesen. Ob so oder so, die Maschine steht nicht auf unserer Liste der gestohlenen Gegenstände.“ Ich sagte leise: „Es war meine Schreibmaschine. Ace hatte sie versetzt und wollte sie heute auslösen.“ „Der karierte … Ihre Schreibmaschine?“ Ich nickte. „Ich wollte sie Aces Schwester schenken. Sie braucht eine.“ „Tja …“ Davis starrte mich an, dann wandte er den Blick ab und sagte ganz langsam: „Schon gut, schon gut, vergessen wir die Schreibmaschine und daß sie Ihnen gehört.“ „Ich habe Ace unter Druck gesetzt, habe ihm eingeredet, daß die Schreibmaschine gestohlen ist und daß ich in 222
Schwierigkeiten geraten würde, wenn er sie heute nicht auslöste.“ Davis schlenkerte mit den großen Händen. „Das erklärt so manches, aber es ist noch lange keine Entschuldigung für einen tätlichen Angriff auf einen Polizeibeamten. Verdammt, Lee, wir sind einer verflucht schweren Belastung ausgesetzt. Hören Sie also auf zu predigen und den Negerpolizisten herauszukehren.“ „Im Augenblick denke ich nur als Angehöriger der Polizei. Unsere Hauptaufgabe ist, Marys Mörder zu finden.“ „Nein, unsere Aufgabe ist es, diesen irrsinnigen Bombenanschlag auf die U-Bahn zu verhindern.“ „Das meine ich ja. Herauszufinden, warum Mary getötet wurde und von wem bedeutet einen wesentlichen Schritt zur Festnahme Purpurauges.“ Davis seufzte. „Kann sein. Begeisterte Polizeibeamte wie Mary haben einen Fehler: Sie sind immer im Dienst. Vielleicht hat sie im Park auf eigene Faust irgendwelche verbrecherischen Subjekte gesucht, vielleicht hat sie jemanden verfolgt und ist aus dem Hinterhalt überfallen worden.“ „Ist das Ihre Meinung, Sir?“ „Nein. Aber als Möglichkeit muß ich das in Betracht ziehen. Haben Sie eine Ahnung, wo die restlichen Halunken aus der 128. Straße sind? Nachdem wir Chip mitgenommen hatten, sind alle verschwunden.“ „Wahrscheinlich haben sie sich in irgendeinem alten, unbewohnten Haus verschanzt, in ihren ‚Bergen‘. Was weiß man über Mary?“ „Sie sind genau wie Mary: unermüdlich. Wir gehen von Haus zu Haus, in der Hoffnung, einen Zeugen aufzustöbern. Der Mangel an Blut auf dem Boden berechtigt zu der Annahme, daß sie anderswo getötet wurde. Der 223
Arzt nennt gestern vier Uhr früh als Todeszeit. Keine Fingerabdrücke. Sie wurde geschlagen und erwürgt, die Messerstiche wurden erst später gemacht, als der Tod schon eingetreten war. Klingt nach einem Fanatiker.“ „Oder nach dem Versuch, es als die Tat eines Wahnsinnigen hinzustellen. Somit wird die Annahme, sie sei einem verdächtigen Subjekt in den Park gefolgt, gegenstandslos.“ „Gar nichts wird gegenstandslos. Sie hätte in einem anderen Teil des Parks umgebracht, nach Einbruch der Dunkelheit von einem Ort zum anderen transportiert und dann mit dem Messer bearbeitet worden sein können. Es kann sich auch um zwei separate Verbrechen handeln. Natürlich kämmen wir den Park genauestens durch. Man hat ihr das Dienstabzeichen und den Revolver abgenommen, ihre Handtasche war völlig leer. Wenn die Polizeibeamtin, die die Tote entkleidet hat, sie nicht erkannt hätte, wären wir außerstande gewesen, sie so schnell zu identifizieren. Etwas Merkwürdiges: Sie hat sich mit den Fingern das linke Ohrläppchen gehalten. Wir wissen nicht, ob der Mörder ihre Finger so angeordnet hat, oder was das bedeuten soll.“ „Welche Hand hielt das Ohr?“ „Die rechte. Warum?“ „Der Vollständigkeit halber. Stimmt es, daß sie nicht vergewaltigt wurde?“ Davis nickte. „Arme Mary – sie starb als Jungfrau. Ihre Angehörigen sprechen nicht sehr gut englisch, und wir haben einen italienischen Kriminalbeamten zu ihnen geschickt. Sie behaupten, Mary habe etwas von einem Treffen, vom Anknüpfen neuer Kontakte gesagt. Am Mittwoch, nach der Kellergeschichte mit Ihnen, kam sie nach Hause, zog 224
sich um und verbrachte den Rest des Tages außer Haus. Sie kehrte erst spät zurück, sagte, sie sei sehr müde. Gestern ging sie früh zur Messe und ward nicht mehr gesehen.“ „Was soll ich jetzt tun?“ „Wir entheben Sie des Auftrags. Wir finden, es ist zu gefährlich für Sie, länger in der 128. Straße herumzulungern. Sie haben Ihre Arbeit geleistet, haben Licht in die Ermordung der Sozialfürsorgerin gebracht, und Purpurauges wirklichen Namen wird uns Chip verraten. Außerdem liegt Ace, Ihr Hauptverbindungsmann, im Krankenhaus.“ „Ich möchte diese lächerliche Kluft loswerden, wieder mein Dienstabzeichen und meinen Revolver tragen und auf die Suche nach Marys Mörder gehen.“ „Verdammt, Lee, Sie tun ganz so, als wären Sie eine Ein-Mann-Polizei!“ „Das stimmt nicht, Sir, aber ich bin nach wie vor überzeugt, daß zwischen ihrem Tod und der 128. Straße ein Zusammenhang bestehen muß.“ „Lee, es steht Ihnen noch Freizeit zu. Von jetzt ab können Sie tun, was Ihnen beliebt, aber Sie haben nicht dienstfrei. Rufen Sie alle drei Stunden an für den Fall, daß vom Krankenhaus Nachricht kommt über die Vernehmungsfähigkeit von Ace. Wenn er redet, dann nur mit Ihnen. Das ist alles.“ Ich verließ das Polizeipräsidium um 15 Uhr, und 20 Minuten später saß ich in meinem Wagen und fuhr in Richtung St. Albans. Glücklicherweise war Miriam ausgegangen, aber ihre Mutter war daheim. Es verschlug ihr die Sprache, als sie meinen rasierten Schädel erblickte. Ich duschte und zog mich mit fast kindlicher Freude an: graue Hose, Schuhe, Hemd und Krawatte und ein 225
königsblaues Sportsakko. Ich war froh, meinen Seifentotschläger beiseite werfen zu können und den beruhigenden Druck meines Revolvers an der Hüfte zu spüren. Als ich ging, fragte Miriams Mutter: „Mußt du denn schon wieder weg, Lee? Wir bekommen dich in letzter Zeit kaum mehr zu Gesicht.“ „Ich bin schwer beschäftigt.“ „Miriam will dich wegen des Tanzabends am Samstag sprechen. Rufst du an, Lee?“ „Miriam weiß, daß ich sie nicht begleiten kann. Ich habe da eine dienstliche Sache, die mich vierundzwanzig Stunden am Tag beansprucht. Richten Sie ihr aus, daß es mir leid tut, aber es läßt sich nicht ändern“, sagte ich und sprintete zu meinem Wagen. Noch vor 16.30 Uhr befand ich mich auf der Rückfahrt nach Manhattan. Ich fühlte mich wohler in der anständigen Kleidung. Ich wußte nicht genau, wo ich mit der Arbeit beginnen sollte, und bog plötzlich nach Brooklyn zu Marys Wohnung ab. Eine untersetzte Frau mit offenem grauem Haar über dem sehr blassen und fleckigen alten Gesicht, die Augen vom Weinen geschwollen, öffnete auf mein Läuten. Ihre weiße Hautfarbe bildete einen unangenehmen Kontrast zu dem formlosen schwarzen Kittel. Sie starrte mein dunkles Gesicht argwöhnisch an. Ich zeigte mein Dienstabzeichen vor und fragte: „Mrs. Presenti?“ Sie nickte. „Ich bin Wachtmeister Lee Hayes. Ich habe mit Mary zusammengearbeitet. Wenn es Sie nicht aufregt, möchte ich gern mit Ihnen sprechen.“ „Kommen Sie herein, ich spreche. Ich spreche heute mit vielen Polizeimännern“, sagte sie mit erstorbener 226
Stimme und starkem italienischem Akzent. „Mein Mann, er zu krank, wir also sprechen leise, bitte. Meine Mary, sie sagen immer, Leute sollen helfen der Polizei. Aber ich nie denken, ich helfen wegen ihr.“ Ich folgte ihr in das blitzsaubere Wohnzimmer, das billig und geschmacklos eingerichtet war; an den Wänden hingen große Christus- und Heiligenbilder. Ich setzte mich auf eine rote Schaumgummicouch, die alte Dame nahm mir gegenüber Platz. Sie trüg keine Strümpfe, und die dicken Beine waren weiß wie Elfenbein und von häßlichen blauroten Adern durchzogen. Sie starrte mich lange an. „Mary sagen, Sie aussehen wie Knabe, zu jung für Polizeimann. Mary erzählen uns alles von Sie in Kohlenkeller. Mary finden, Sie tapfere Polizist.“ „Mrs. Presenti, man hat Sie bestimmt schon danach gefragt, aber ich habe ein persönliches Interesse an der Auffindung … Ich meine folgendes: Ich habe Ihre Tochter Mittwoch früh gesehen. Ich nehme an, sie ist nach Hause gekommen, um sich umzukleiden. Wissen Sie, wohin sie anschließend gegangen ist?“ „Mary uns nie viel erzählen von ihre Arbeit. Vielleicht wenn geschieht etwas Großes oder etwas Lustiges – wie als Sie Ihren Kopf rasieren, dann sie uns sagen. Meine Tochter immer arbeiten. Sie – war – nettes Mädchen, aber nie finden Mann. Arbeit ihr Mann. Nicht gut. Sie kommen hier nur zu essen und zu schlafen, vielleicht lesen. Immer sie gelesen, ganze Zeit in Bibliothek gehen, studieren für Sergeantenexamen. Wenn Mary nicht lesen, dann herumgehen. Sie sagen mir, Polizeibeamte vierundzwanzig Stunden per Tag im Dienst. Vielleicht besser, sie suchen Ehemann, vielleicht sie deshalb gesucht. Mittwoch sie kommen nach Haus mit Kleid zerrissen und erzählen mir 227
von Kohlenkeller. Sie sehr heiter, sagen, Sie schauen auf sie, wie wenn Mary in Ihre Privatsache hineinmischt. Ja, das sie sagen. Dann, nach Mittagessen, sie gehen in Bibliothek. Sie kommen erst spät nach Hause, Abendessen ganz kalt. Sie sehr aufgeregt.“ „Aufgeregt, worüber?“ „Mary nicht sagen, aber ich sehe am Gesicht, sie aufgeregt. Sie sagen, sie muß Donnerstag bald aufstehen, Leute aufsuchen. Kontakte machen. Andere Polizeimänner fragen, was für Leute, aber ich nicht weiß. Oft Mary kommen nach Hause mit Aufregung in Augen, wenn ihre Arbeit geht gut. Gestern sie weggegangen – bald, in die Kirche … Wir – wir sie nicht mehr wiedersehen.“ Ich versuchte zu denken, stellte schließlich die Routinefrage: „Darf ich ihr Zimmer sehen?“ „Bitte. Andere Polizeimänner untersuchen Zimmer, nehmen paar von ihre Sachen. Leise, Papa weinen so viel, Augen tun ihm weh, er schlafen in Zimmer neben Mary.“ Das Zimmer wirkte so, wie ich mir eine Klosterzelle vorstelle: die karge Schlichtheit eines schmalen Betts, weiße Gardinen, ein kleiner Toilettentisch, ein Schrank, einige gerahmte Blumenbilder an den Wänden, Drucke, wie man sie im Kaufhaus bekommt. Ich ging in dem Zimmer umher wie ein Idiot. Da die alte Frau danebenstand, konnte ich nicht in dem Toilettentisch kramen. Es wäre ohnehin Zeitverschwendung gewesen. Die Kriminalbeamten hatten sicherlich alles durchsucht. Es war dumm von mir gewesen, herzukommen und mir einzubilden, ich könnte etwas entdecken, das die Mordkommission übersehen hatte. In der Mitte des Zimmers stehend, nickte ich wie ein Automat und sagte, ich hätte genug gesehen. Wir gingen 228
zur Wohnungstür, und die alte Dame ergriff plötzlich meine Hand, weinte und bat: „Sie ihn finden! Sie finden, wer gemacht diese schreckliche Sache an meine Tochter! Eine brave Mädchen, nur denken an Sicherheit von andere. Meine Kirche lehren, Rache ist schlecht. Ich nicht wollen Rache. Sie ihn müssen finden, damit er kann nicht töten andere Mädchen!“ Verlegen sagte ich: „Ich werde mich bemühen, Mrs. Presenti.“ Auf der Fahrt durch den dichten Verkehr nach Manhattan machte ich auf der East Side in einer Imbißstube Rast und bestellte ein Roastbeefsandwich und geeisten Tee. Ich telefonierte mit Davis’ Büro und erfuhr, Aces Zustand habe sich nicht gebessert, er sei noch immer bewußtlos. Während ich den Wagen über den East River Drive zur 128. Straße lenkte, fragte ich mich, warum alle überzeugt waren, Mary sei von einem Mann getötet worden. Die vielen Stichwunden, nach erfolgtem Tode zugefügt, hätten auch das Werk einer eifersüchtigen Frau sein können. Aber es war albern, sich Mary in irgendeiner Art von Dreiecksverhältnis vorzustellen. Ich hatte schlampig gearbeitet; trotz Mrs. Presentis Bemerkung, Mary habe keinen Mann gehabt, hätte ich fragen sollen, ob sie überhaupt jemals einen festen Freund gehabt hatte. Es wurde allmählich dunkel, und ich suchte lange, bis ich in der Lenox-Avenue mit ihren verhältnismäßig hellen Laternen einen Parkplatz fand. Ich warf ein Zehncentstück in die Parkuhr und vergewisserte mich gründlich, ob der Wagen abgesperrt war; fast wie ein Tourist, der Harlem besucht. Beim Betreten der 128. Straße war mir wie bei einem Zusammentreffen mit einem alten Freund, den man nie wiedersehen wollte. Louise saß vor dem Fernsehgerät. 229
Sie sagte: „Du hast dich aber fein gemacht! Hast du einen Job gefunden, Lee?“ „Wo ist Helen?“ „In der Bibliothek in der 136. Straße. Und bei Ace. Weißt du schon, daß er verhaftet ist und im Krankenhaus?“ „Ich weiß. Wo ist deine Mama?“ „In der Kirche beim Pastor, ob er ihr einen Anwalt besorgen kann. Bleibst du eine Weile da, Lee?“ Ich nickte. „Ich gehe mal zur Kirche, Mama abholen. Die Aufregung mit Ace hat sie noch kränker gemacht.“ „Sei vorsichtig, wenn du über die Straße gehst.“ Ich gab ihr sechs Cent. „Kauf dir ein Bonbon.“ „Danke. Für zehn Cent kriege ich ein Eis.“ „Hör auf zu schnorren.“ „Geh nicht auf die Toilette, das Wasser fließt wieder nicht, und Mr. Solmen ist nicht da“, sagte Louise, als sie die Tür öffnete. Ich schaltete das Fernsehgerät aus, ging in mein Zimmer, saß da und starrte auf die ungehobelten Buchstaben an der Wand, auf die Schachtel voll Sand auf der Kommode und kam mir vor wie in einem Alptraum. Die Tür ging auf, und Helen rief: „Louise?“ Helen kam mit einem Arm voll Bücher durch die Küche, als ich aus dem Schlafzimmer trat. Sie schnappte nach Luft und ließ die Bücher fallen. „Lee! Ich habe dich nicht erkannt. Du – du siehst älter aus. Bin ich erschrocken! Woher hast du den Anzug?“ „Meine Leute haben mir meine Sachen nachgeschickt.“ Helen kniete nieder, um die Bücher aufzusammeln. Ihre Hüften und die kleinen Brüste zeichneten sich unter 230
dem Rock und der Bluse in kräftigen Kurven ab. Das Licht glänzte auf den eigenartigen Flächen ihres reizenden Gesichts. „Ich war im Krankenhaus, Ace geht es noch immer schlecht. Habe mir in der Bibliothek Bücher geholt, Lesen beruhigt meine Nerven.“ Ich trat zu ihr, und nachdem sie sich aufgerichtet und die Bücher auf einen Stuhl gelegt hatte, lehnte sie sich an mich. „O Lee, warum bist du heute vom Krankenhaus nicht mit mir nach Hause gegangen. Mir war so einsam und bang.“ „Ich hatte etwas zu erledigen. Helen, ich wäre bei dir geblieben, wenn …“ Sie hatte mich umschlungen, und nun wurden ihre Augen sehr groß, und sie wich zurück. „Lee, du hast einen Revolver!“ „Das geht in Ordnung, Süße. Ich meine …“ „In Ordnung? Nur Polizisten tragen Revolver in der Tasche … Lee … Der Revolver, der Anzug … Bist du bei der Polizei?“ „Nun … Ja. Ich wollte es dir sagen … Später.“ Sie kreischte: „Du Dreckskerl, du hast meinen Bruder …“ Ich legte ihr die Hand auf den bebenden Mund, hielt sie fest, als sie sich wehrte und mit dem Knie nach mir stieß. Ich schüttelte sie und sagte: „Hör auf zu schreien, Helen, ich habe Ace nicht auf dem Gewissen.“ Sie versuchte, mich in die Hand zu beißen. „Spionieren und …“ Ich preßte die Hand fest auf ihre Lippen. „Helen, hör auf. Vielleicht habe ich herumspioniert … Aber ich konnte nichts dafür. Ich muß dringend mit dir 231
sprechen, wegen Ace. Immer mit der Ruhe. Kein Geschrei mehr. Ja?“ Ihre Augen sprühten Funken, und als ich die Hand von ihrem Mund nahm, stieß sie mich weg und sagte leise und heftig: „Rühr mich nicht an mit deinen dreckigen Händen!“ Ich ließ sie los. „Helen, hör mir zu. Die Schreibmaschine, die Ace versetzt hat, gehört mir. Er hat sie am Mittwoch aus meinem Koffer genommen und …“ „Du hast ihn also doch in eine Falle gelockt?“ „Nein, verdammt noch mal! Ich habe die Maschine für dich gekauft, und Ace hat sie genommen. Er hat mir versprochen, sie heute morgen vom Pfandleiher zu holen. Du hast dir so sehr eine Schreibmaschine gewünscht, und …“ „Für mich? O Gott, und dir habe ich mich an den Hals geworfen, du dreckiger Spitzel! Als nächstes wirst du über mich herfallen, wie das die Polizisten so machen!“ „Bitte, hör auf mit dem Unsinn!“ „Und wenn ich’s nicht tue, was machst du dann – mit dem Gummiknüppel auf mich einschlagen? Du hast dich bei uns eingeschlichen wie eine Schlange, hast getan wie …“ „Liebes, mach es nicht so melodramatisch. Ich habe hier lediglich ein Zimmer gemietet.“ „Ich pfeife auf dein ‚Liebes‘!“ Ich wandte mich ab und setzte mich auf die Couch. „Helen, hör mich doch wenigstens an. Ich bin nicht hergekommen, um dich zu kränken. Wir müssen miteinander sprechen, weil es vielleicht um viele Menschenleben geht, sogar um meines. Wenn du mich lieber tot sehen willst, brauchst du nur wieder anfangen zu schreien.“ Sie blieb still. 232
Ich sagte leise: „Ich bin Polizeibeamter und habe den Auftrag bekommen, einer Halbstarkenbande nachzuspüren, die sich die Bloody Blacks nennt. Ich habe mir eure Wohnung nicht ausgesucht, ich habe mich nur in dieser Gegend nach einem Zimmer erkundigt und …“ „Und nun ist Ace verhaftet, dem Tode nah! Warum läßt ihn die Polizei nicht in Ruhe?“ „Weil Ace zu dieser Wahnsinnsbande gehört, die auf Mord aus ist.“ „Quatsch! Die Bande ist eine Kinderei – wie Pfadfinder, das Training und das militärische Gerede, die Geheimnistuerei. Ich habe dir gesagt, daß das Ace gutgetan hat.“ Nun weinte sie. „So?“ Ich holte die Morgenzeitung mit Marys Bild aus der Küche und schwenkte sie vor Helens Gesicht. „Diese Frau, eine tüchtige Polizeibeamtin, ist tot, wegen Aces ‚Kindereien‘! Auch eine Sozialfürsorgerin ist tot und ein alter Mann, der …“ „Das ist mir ganz egal. Mein Bruder ist im Krankenhaus!“ „Es soll dir aber nicht egal sein, Helen! Das ist das Schlimme heutzutage: Allen ist alles egal.“ „Ich weiß nicht, wovon du redest. Was willst du Ace anhängen? Er hat nie im Leben jemanden umgebracht.“ „Helen, bitte hör mir zu. Ace und die anderen Bandenmitglieder haben vor, eine U-Bahn-Strecke während der Stoßzeit zu sprengen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, daß in der Panik Menschen getötet und verletzt werden, daß wir unbedingt verhindern müssen …“ „Ace würde niemals …“ „Helen, es ist wahr. Er hat es mir selbst gesagt, er hat sogar geprahlt, daß es seine Idee war.“ Ich hielt Marys Bild hoch. „Diese Polizeibeamtin hat mit mir zusammen233
gearbeitet. Eine verdammt tüchtige Person, auf ihre Weise. Mein Bild könnte an dieser Stelle in der Zeitung sein. Möchtest du, daß ich tot bin? Haßt du mich so sehr?“ „Nein.“ Es war nur ein heiseres Flüstern. Sie saß auf der Couch und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ich setzte mich neben sie. „Dann hilf mir. Hilf mir, nicht weil ich bei der Polizei bin oder weil wir beide farbig sind; hilf mir, weil wir beide Menschen sind, die ein Tragödie verhindern möchten. Helen, ich verstehe Ace. Unsinnige Gewalt zeugt wieder Gewalt. Jungen wie Ace lehnen sich dagegen auf, im Ghetto leben zu müssen. Sie sehen Bilder von Weißen, die im Süden auf Bürgerrechtler und andere Neger schießen und einschlagen. Ace wird hier herumgeschubst und pumpt sich mit Haß voll. Er haßt alle Weißen. Und dieser blinde Haß macht Ace reif dafür, sich von wahnsinnigen Anführern ausnutzen zu lassen. Hier brauche ich deine Hilfe. Helen, hast du schon einmal von einem Mann namens Purpurauge gehört?“ Sie schüttelte den Kopf, ohne aufzublicken. „Ace, Chip, Dong und die anderen sind Mitglieder einer Bande, die von diesem Purpurauge angeführt wird. Sie halten ihn anscheinend für einen Halbgott. Jeder Junge muß wöchentlich zehn Dollar in eine Kriegskasse entrichten. Deshalb hat Ace meine – deine Schreibmaschine gestohlen. Ace glaubt felsenfest, daß ein Düsenflugzeug gekauft werden soll und daß dann jeder Ort, wo man Neger schlecht behandelt, bombardiert wird. Deshalb hat er das Buch über Flugtechnik gelesen. Chip war als Pilot vorgesehen, weil er von allen Bandenmitgliedern den größten ‚Schlag‘ durchgeführt hat. Weißt du, was Chips große Tat war?“ 234
Helen gab keine Antwort. „Aus keinem anderen Grund als dem, weil sie weiß war, hat Chip die Sozialfürsorgerin erstochen, von der du vor einem Monat oder so in der Zeitung gelesen hast. Aber nach dem Anschlag auf die U-Bahn soll Ace der Pilot werden, der …“ „Lee, bist du verrückt? Du redest – Blödsinn! Purpurauge, Ace als Bombenleger in der U-Bahn … Mein Gott, hast du den Verstand verloren? Solchen Unsinn soll ich glauben?“ „Helen, ich weiß, wie weit hergeholt es klingt, aber ich wiederhole dir nur, was Ace mir erzählt hat. Wir haben uns oft abends vor dem Einschlafen unterhalten“, sagte ich kalt. „Ich glaube nicht, daß Chip tatsächlich den Mord verübt hat, wahrscheinlich hat es Purpurauge in seinem Beisein getan. Bloß um einen tödlichen Karateschlag zu illustrieren, hat Purpurauge einen Saufbruder bringen lassen und ihm den Hals gebrochen.“ „Mein Gott, das klingt, als seist du irrsinnig!“ „Weil ich irrsinniges Gerede wiederhole. Purpurauge ist ihr General, und nach seinem Willen lassen sie auf die einfachste Weise ihrem Haß freien Lauf – indem sie Weiße töten. Ersetzt man das Wort ‚weiß‘ durch ‚schwarz‘, dann ergibt das Ku-Klux-Klan-Methoden. Helen, ich bin dunkelhäutig, ich weiß nur zu gut, was es bedeutet, in der weißen Gesellschaft zu leben. Du weißt es auch. Ich will nicht behaupten, daß ich auf alles eine Antwort weiß, ich weiß nur, daß es keine leichten Antworten gibt. Aber ich weiß auch, daß eine Menge prächtiger Menschen, Neger wie Weiße, im Kampf für die Austreibung dieses Hasses geschlagen und getötet worden sind. Und Lümmel wie Ace tanzen lediglich auf ihren Gräbern!“ 235
Eine Sekunde lang blieb sie stumm, dann flüsterte sie: „Ich habe gedacht, Ace überwindet seine – Wildheit gerade, und jetzt – jetzt liegt er im Krankenhaus.“ „Weil er versucht hat, einen Polizeibeamten zu treten. Helen, ich kann verstehen, was Ace bewegt hat, aber richtig war es trotzdem nicht. Liebes, begreifst du denn nicht: Man beschuldigt Ace eines tätlichen Angriffs, doch auf Grund der eigenartigen Umstände – es war keine gestohlene Maschine, und er ist nicht vorbestraft – kann Ace mit Bewährung davonkommen. Die Chance hat er. Wenn aber dieser Bombenanschlag auf die U-Bahn durchgeführt wird, ist er ein Komplice und kommt auf den elektrischen Stuhl! Helen, wenn du Are helfen willst, dann hilf mir, diesen Purpurauge unschädlich zu machen, bevor er den Anschlag unternimmt!“ Sie begann zu weinen. Ich rüttelte sie sanft an den Schultern. „Baby, glaub mir, für Tränen ist jetzt keine Zeit. Rette Ace vor dem elektrischen Stuhl!“ „Wie soll ich dir helfen?“ „Ace redet gern. Er muß dir doch in all den Monaten etwas über die Bande erzählt haben.“ „Er hat nie gesagt, daß es eine Bande gibt. Ich habe gedacht, es ist so ein militärischer Klub wie die Drillteams, die bei den Umzügen gewisser Vereine immer mitmarschieren. Und weil Ace so geheimnisvoll getan hat, habe ich nie nach etwas gefragt.“ „Ich weiß, also denk scharf nach. Hat er vielleicht einen fremden Namen fallenlassen oder eine Adresse erwähnt, oder hat er nicht einmal gesagt, er geht jetzt in die und die Straße zum Judotraining?“ „Nein. Gott, da hat er endlich einen Job, und …“ „Es war kein richtiger Job. Er hat einen Lottoannehmer 236
erpreßt, der seinerseits Ace für ein paar Dollars pro Woche ausgenützt hat. Das weiß ich auch von Ace. Helen, erinnere dich, sag mir alles, was er über diesen – Klub geäußert hat!“ „Wie er den Araberfimmel gekriegt hat, da wollte er, ich soll den Koran lesen, und hat von Allah und vom Islam geredet. Ich habe mich nicht darum gekümmert. Und weil Mama so fromm ist, hat sie sich aufgeregt, wenn er gesagt hat, Allah ist der einzige Gott, und wenn wir alle nach Jesus’ Bild gemacht sind, wieso hat dann Jesus ein weißes Gesicht, und lauter solchen Krampf – da habe ich gesagt, er soll den Mund halten. Und danach hat er nie mehr versucht, mich zu bekehren. Und was das Flugzeugbuch betrifft, da hat er gesagt, er liest es für Chip, weil Chip nur langsam lesen kann. Ich habe mich gefreut, daß Ace sich überhaupt für ein Buch interessiert.“ „Hast du jemals einen Mann mit roten oder purpurnen Augen gesehen? Hat Ace jemals die Bloody Blacks erwähnt?“ „Nein. Das klingt alles wie eine Horrorgeschichte aus den Comics.“ „Wenn’s nur so wäre! Hat Ace jemals über die Herstellung von Bomben gesprochen, Bücher darüber gelesen?“ „Natürlich nicht.“ „Kennst du Männer, mit denen er sich abgegeben hat?“ „Männer? Er war immer mit den anderen Jungen auf der Straße. Frag doch Chip, sprich mit dem.“ „Er wird gerade vernommen.“ Wir saßen in der heißen Stille der Wohnung. Ich zertrat eine am Boden kriechende Schabe. Schrilles Frauenlachen drang aus dem Luftschacht ins Schlafzimmer. Ich hielt noch immer Helens Schultern umfaßt. 237
„Helen, kann ich mich darauf verlassen – wirst du niemandem verraten, daß ich bei der Polizei bin? Weder deiner Mutter noch Louise, überhaupt keiner Menschenseele? Es kann meinen Tod bedeuten, wenn …“ „Sag nicht immer ‚Tod‘!“ jammerte sie. „Vielleicht kann ich darauf verzichten, wenn du mir hilfst. Streng dich an, damit dir einfällt, was Ace über die Bande gesagt hat, ob er einen Namen oder eine Adresse erwähnt hat. Denk scharf nach, aber versuch nicht Detektiv zu spielen. Helen, jetzt ist zwar nicht die richtige Zeit dafür, aber eines muß noch gesagt werden. Egal, wie du über mein Tun denkst, es war meine Aufgabe. Ich weiß, wie kitschig das klingt, aber es ist wahr. Ich habe es nicht gern getan, aber … Sieh mal, du und ich, das hat nicht zu der Aufgabe gehört. Das war echt, das war ich, nicht ein Polizeibeamter.“ Sie entwand sich meinen Händen. Ich nahm ihr Gesicht und drehte sie herum, bis wir einander in die dunklen Gesichter starrten. Ihre Augen waren sehr groß. „Wenn das alles vorüber ist, sprechen wir über uns. Liebes, du bist so schön, so schön.“ Sie schloß die Augen und begann meine Finger zu küssen, dann wandte sie sich schroff ab. „Lee, laß mich. Bitte. Ich habe genug für heute.“ Ich stand auf. „Klar. Aber vergiß nicht, ich brauche deine Hilfe. Ich komme morgen wieder, Helen. Gute Nacht, Liebes.“ Ich verließ das Haus und blieb eine Weile in der finsteren Straße stehen, die ich haßte, der ich entfliehen wollte. Ich fand, es wäre Zeitverschwendung, mit dem westindischen Ladenbesitzer zu sprechen. Er kannte Mary als Polizeibeamtin, aber er hatte keinen Grund gehabt, sie zu töten, sonst hätte er versucht, auch mich umzubringen. 238
Ich fuhr durch den Central Park südwärts. Auf der Brooklyn Bridge wurde mir klar, daß ich mich Miriams Geschnatter nicht gewachsen fühlte. Ich hielt vor dem Hotel „Saint George“ und nahm ein Zimmer für die Nacht. Ich gab dem Angestellten am Empfang einen Scheck und wies mich mit meinem Dienstabzeichen aus. Nachdem ich in meinem Zimmer geduscht hatte, telefonierte ich mit Davis’ Büro. Er war fort. Ich erfuhr, daß Ace noch immer bewußtlos war, und man sagte mir, ich solle am nächsten Morgen anrufen. Ich rief bei Davis zu Hause an und erklärte: „Jack, ich habe nachgedacht. Da Ace und vielleicht auch die anderen das Lottosyndikat erpreßt haben, könnte eventuell zwischen dem und Marys Tod ein Zusammenhang bestehen. Sie könnte davon gewußt und in dieser Richtung ermittelt haben.“ „Die Lottoleute suchen keinen Ärger, die sind nicht so dumm, einen Polizeibeamten umzulegen. Cane kann sich ja mal damit befassen.“ „Wenn Mary ihnen lästig geworden wäre und …“ „Das wollen wir Inspektor Cane überlassen, Lee.“ „Ja, Sir.“ „Rufen Sie morgen tagsüber im Büro an, Lee.“ „Ja, Sir.“ Ich löschte die Lichter und streckte mich auf dem Bett aus. Ich war froh, Davis gestanden zu haben, daß die Schreibmaschine mir gehörte. Er konnte auch gar nichts tun, obwohl er, seinem Gesichtsausdruck nach, erraten haben mußte, daß ich Gates niedergeschlagen hatte. Doch Gates konnte kaum geltend machen, daß er einen alten Klassenkameraden nicht erkannt hatte. Der Raum war kühl, und ich dachte an Helen, die so gern in einem Hotel wohnen wollte. Ich schloß die Augen 239
und sah sie knien und die Bücher aufsammeln, sah die Linien ihrer festen Beine und … Ich behielt das Bild im Geiste, sah aber nicht mehr die Kurven ihrer kompakten Hüften. Ich sah eine Spur, die die Polizei vielleicht übersehen hatte. Plötzlich erfüllte mich jenes warme Gefühl, das einen überkommt, wenn man der Lösung des Falles ganz nahe ist. Doch ich konnte erst am nächsten Morgen etwas unternehmen.
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Obwohl ich Football nie mochte, habe ich in unserer Schulmannschaft, außer im Angriff, alle Positionen gespielt, und zweimal war ich der einzige Neger, der auf der allamerikanischen Bestenliste stand. Ich wußte, daß ich nur auf diesem Weg ins College kommen konnte. Verschiedene Colleges bekundeten einiges Interesse an mir, bis man erfuhr, daß ich nur achtundsechzig Kilo wog. Die Fabrik, in der Vater die meiste Zeit seines Lebens als Nachtwächter arbeitete, hatte für die Söhne der Büroangestellten Stipendien ausgesetzt. Weil mein Vater oft den Wagen des Generaldirektors wusch, bevor er am Morgen heimging, bestand eine Art Bekanntschaft zwischen ihnen. Vater erzählt ihm, daß mir kein FootballStipendium gewährt worden war, und der Chef ließ mich rufen. Er war ein freundlich dreinschauender Mann und wirkte wie ein Bankier oder Konzernbesitzer im Film. Er sagte zu Vater: „Mr. Hayes, wir setzen Ihrem Sohn ein Stipendium zur Deckung der Studiengebühren aus, für den Rest muß er selbst sorgen.“ Auf dem College war es großartig. Ich belegte die Kurse in Geschäftsführung, Kalkulation, Grundlagen der Buchhaltung, ich lernte sogar Schreibmaschine schreiben und machte meine Diplomprüfung. In meiner Klasse befanden sich noch sechs andere Jungen, die Firmenstipendien hatten. Sie waren Weiße, aber wir kamen gut miteinander aus. Wir wußten, daß für unsere Zukunft gesorgt war: Wie in solchen Fällen üblich, würde uns die Firma als Nachwuchskräfte für leitende Positionen einstellen. Ich hielt während meiner ganzen Collegezeit einen B-Durchschnitt, obwohl ich nebenbei boxte und Gelegenheitsarbeiten verrichtete, um Geld für Unterkunft und Verpflegung zu verdienen. Am Tag nach der Verleihung der Diplome erschienen wir alle im Personalbüro. 241
Na klar, ich war der einzige, der nicht eingestellt wurde. Ich war so wütend, daß ich ins Büro des Generaldirektors stürzte. Er sagte: „Es tut mir leid, Lee, aber im Moment sind keine offenen Stellen für Wächter oder Fahrer vorhanden. Vielleicht in …“ „Sir, ich habe nicht das College absolviert, um Wächter zu werden. Ich hatte einen höheren Benotungsdurchschnitt als drei der Männer, die Sie eingestellt haben.“ „Lee, es gibt noch andere Faktoren. Wir sind ein Teil des Gemeinwesens, und als solcher haben wir es uns zur Regel gemacht, keine Büro- oder leitenden Stellen mit Negern zu besetzen. Es tut mir leid.“ Der freundlich dreinschauende Mann äußerte das alles ruhig, wie eine Selbstverständlichkeit, oder als hätte ich verlangt, in der Direktion anzufangen. Einen Monat lang tippte ich täglich Bewerbungsschreiben und schickte sie an jede Firmenadresse im Staat, die ich auftreiben konnte. Die wenigen Vorstellungsgespräche, zu denen ich gebeten wurde, scheiterten an meinem braunen Gesicht. Als ich von einer Prüfung für die New-Yorker Polizei las, fuhr ich hin und war unter den ersten zwanzig, die bestanden.
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Samstag
Ich fand die Adresse der öffentlichen Bibliothek, die dem Haus, in dem die Presentis wohnten, am nächsten lag, und um neun Uhr hatte ich bereits vor dem Gebäude geparkt. Bücher waren es gewesen, die ich vor meinem geistigen Auge gesehen hatte, als ich mir Helen vorgestellt hatte, wie sie kniete, um die aus der Bibliothek entliehenen Bücher aufzuklauben. Ich hatte das Gefühl, Marys Lektüre habe nichts mit der Sergeantenprüfung zu tun gehabt. Ich befürchtete schon, die Bibliothek könnte samstags geschlossen sein, aber auf dem Türschild stand, es werde um zehn Uhr geöffnet. Ich rief Davis an, doch er war wieder einmal nicht im Büro. Man empfahl mir, um vierzehn Uhr wieder anzurufen. Die Ärzte meinten, Ace werde dann vernehmungsfähig sein. Als zwei Bibliothekarinnen um 9.25 Uhr beim Kustos läuteten, zeigte ich ihnen mein Dienstabzeichen und ging mit ihnen hinein. Marys Name sagte ihnen nichts, bis ich aus dem Lesesaal eine Nummer der Zeitung holte und ihnen ihr Bild zeigte. Dann sagte die eine, eine ältere Person mit sommersprossigem Gesicht und verwaschenem rotem Haar: „Ach herrje, das Bild hat mich gleich an jemanden erinnert, aber ich habe die arme junge Frau nicht unter unseren Stammbesuchern vermutet. Ja, natürlich erinnere ich mich jetzt an sie. Wissen Sie, ich hätte sie nie für eine Polizeibeamtin gehalten … Tot! Ach herrje! Vorige Woche hat sie Bücher über Judo verlangt, und diese Woche hat sie sich für Bücher über Augen interessiert. Ich habe ihr die wenigen gezeigt, die wir dahaben, und empfahl ihr eine medizinische Bibliothek. Himmel, von diesem Bild wird mir ganz kalt.“ 243
„War sie am Mittwochnachmittag hier?“ „Mittwoch?“ Sie rieb sich die Stirn, wie um die Sommersprossen auszuradieren. „Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber vor ein paar Tagen war sie da und hat gefragt, ob etwas über Kontaktlinsen vorhanden sei. Da nichts vorhanden war, schlug ich im …“ „Haben Sie ein Branchenverzeichnis da?“ unterbrach ich, bemüht, ein Zittern meiner Stimme zu unterdrücken. Mit den Brooklyner Firmen hielt ich mich erst gar nicht auf. In Manhattan gab es rund fünfzig Geschäfte, die Kontaktlinsen verkauften und anpaßten, die meisten davon im mittleren Bereich gelegen. Ich fuhr zur Ecke 34. Straße und Eighth-Avenue, stellte meinen Wagen in einem Parkhaus unter und verging mich gegen das Gesetz, indem ich in der nächstbesten Telefonzelle das Verzeichnis der Kontaktlinsengeschäfte aus dem Telefonbuch riß. Der erste Optiker, den ich aufsuchte, erwies sich als Niete, aber er suchte die Namen der drei größten Geschäfte auf meiner Liste heraus. Bei der zweiten dieser Firmen, einem Laden an der 23. Straße, hatte ich Glück. Kaum hatte ich meine Frage vorgebracht, sagte der weißbekittelte Berater: „Sie sind schon der zweite von der Polizei, der sich erkundigt, ob wir jemals bunte Linsen verkauft haben. Am Gefallenengedenktag war eine junge Dame mit Dienstabzeichen da. Wir haben auch am Feiertag geöffnet, um …“ „Haben Sie ihr Bild in der gestrigen Zeitung nicht erkannt?“ „Ich lese selten Zeitungen, die Nachrichten sind so deprimierend. Ich sagte der Dame von der Polizei, ich sei mir nicht sicher, ob ich ihr den Namen ohne gerichtliche Verfügung nennen dürfe. Ein Kundenverhältnis wird als vertraulich angesehen. Aber sie ließ auf ihre charmante 244
Art nicht locker, und wir haben tatsächlich purpurne Linsen für einen Mann angefertigt, der sie für die Bühne brauchte. Der …“ „Wie heißt er, und wo wohnt er?“ Der Weißkittel reckte sich auf. „Ich muß schon sagen, ich verbitte mir Ihren Ton. Sie können ja die Polizeibeamtin fragen, zu der ich äußerst entgegenkommend war.“ „Ich kann sie gar nichts mehr fragen, denn sie ist tot. Wie heißt der Mann?“ „Tot? Wie schade, so eine adrett aussehende junge Dame, hat sehr aufgeweckt und gesund gewirkt. Wie ich zu meiner Frau sagte, sie sah nicht wie eine …“ „Sie ist ermordet worden. Wie lautet der Name Ihres Kunden?“ „Ermordet? Unfaßbar … Mein Gott! Wenn das meine Frau erfährt!“ Er zog eine Karte aus einem großen Aktenschrank. „Mr. Jess Williams, mit einer Schließfachnummer in einem Postamt oben in Manhattan. Vor etwa …“ Er hörte auf, die Karte zu schwenken, als wollte er sie trocknen, rückte sich die Brille zurecht und las ab: „Vor etwa zehn Monaten hat er ein Paar leuchtend purpurroter Kontaktlinsen bestellt. Höchst ungewöhnlich, aber er …“ „Was für eine Nummer hat das Schließfach? Wie sah der Mann aus?“ „Junger Mann, wenn Sie mich freundlichst einen Satz beenden lassen, werde ich alles erklären. Ich selbst habe ihn nie gesehen. Unseren Unterlagen zufolge kam er vor etwa fünfzehn Monaten das erstemal zu uns. Er trug eine vom Augenarzt verordnete Brille, und einer meiner Mitarbeiter, der uns inzwischen verlassen hat, paßte ihm – äh – gewöhnliche Kontaktlinsen an. Vor zehn Monaten rief Mr. Williams an, sagte, er sei Zauberkünstler und benötige für 245
seine Nummer farbige Linsen. Ich hielt mich an die Angaben auf seiner Karte und schickte ihm die Linsen per Nachnahme. Jetzt im April bestellte er telefonisch ein weiteres Paar, von dunklerer Schattierung, und ließ es sich per Nachnahme an eine Adresse in der 76. Straße West schicken. Wie ich schon zu der jungen Dame sagte, halten Sie freundlichst meinen Namen aus …“ Ich riß ihm die Karte aus der Hand, notierte mir die Adresse und rannte hinaus. Da es mit der U-Bahn schneller ging, fuhr ich zur 72. Straße, und kurz vor dreizehn Uhr war ich an der Ecke 76. Straße und Central Park West. Ich wußte, daß ich Leutnant Davis verständigen sollte, sah aber keine Telefonzelle in der Nähe. Ich hätte in ein Geschäft in der Columbus-Avenue gehen oder in einem der großen Wohnhäuser ein Telefon finden können, aber ich versuchte es nicht. Obwohl ich jenseits der Straße die Bäume im Park sehen konnte, fragte ich mich, ob Mary nicht auch an dieser selben Ecke gestanden hatte, ebenfalls zu aufgeregt zum Telefonieren? Großer Gott, Kontaktlinsen! So etwas Einfaches hätte uns allen einfallen müssen. Das Haus war eines jener vornehmen, renovierten Stadtpalais, nun in kleine Wohnungen unterteilt. Die stille Straße war voll großer Wagen, Cadillacs, Imperials, Lincolns. Eine große schwarze Jaguarlimousine, die wie der Wagen eines Diplomaten aussah, parkte direkt vor dem Haus. Ich lockerte den Revolver im Halfter und betrat den kleinen Vorraum. Sechs Namen und Klingelknöpfe – J. Williams wohnte auf dem Dach –, darüber eine chromblitzende Haussprechanlage. Natürlich war die Haupttür abgesperrt. Ich drückte auf den Klingelknopf, wartete, leckte mir die trockenen Lippen. Ich läutete noch einmal, wollte 246
schon gehen und Davis anrufen, dann nachsehen, ob ich den Hausverwalter fand, als ein metallisches „Ja?“ aus der Sprechanlage ertönte. „Telegramm für Mr. Jess Williams.“ „Ein Telegramm?“ „Jawohl. Gebührenpflichtig. Zwei Dollar fünfundsechzig.“ „Sind Sie ganz bestimmt an der richtigen Adresse?“ „Jawohl.“ Ich konnte die dünne Stimme über die Sprechanlage nicht erkennen. Wenn er gesagt hätte, er werde im örtlichen Büro der Telegrafengesellschaft Western Union nachfragen, hätte ich den Hauseingang blockiert, hätte mich an die Besatzung eines patrouillierenden Funkstreifenwagens um Hilfe gewandt und … „Eine Sekunde.“ Die Tür schnarrte, und ich betrat einen hübschen, schmalen, hohen und teppichbelegten Flur. Der kleine Aufzug trug mich langsam und lautlos hinauf. Als die Tür aufglitt, fand ich mich auf dem Dach, gegenüber einem kleinen Penthouse, zu dem Blumen, eingetopfte Bäume und ein Holzzaun gehörten. Auf der mir zugekehrten Seite hatte es keine Fenster. Die polierte Holztür hatte ein Guckloch, und beim Klingeln hielt ich mich außer Sichtweite. Als ich drinnen langsame Schritte hörte, sagte ich: „Telegramm.“ Eine Weile geschah gar nichts. Ich hörte, wie das Guckloch geöffnet und geschlossen wurde. Die Tür flog auf, und ich wurde hoch in die Luft geschleudert, dort festgehalten, während man mir den Revolver aus dem Halfter riß, dann wurde ich gegen eine teppichbespannte Wand geworfen. Ich prallte krachend auf, fiel zu Boden, bemühte mich nach Kräften, nicht das Bewußtsein zu verlieren. 247
Meine Kopfhaut war geplatzt, Blut floß mir an einer Seite des Gesichts herab. Durch einen roten Dunstschleier versuchte ich, den ungeheuer fetten Mann ins Auge zu fassen. Er war ein Schwarzer, glänzte von Öl, und bis auf eine weiße Schärpe um die Mitte war er nackt. Mit weitgespreizten Beinen dastehend, entfernte er die Patronen aus meinem Revolver und warf sie mitsamt der Waffe auf eine beinlose, schreiend rote Couch, die direkt auf dem dicken weißen Teppich ruhte. Immer noch benommen, starrte ich den fetten Mann an, den dunklen Haarkranz um seinen glänzenden Schädel, dann betrachtete ich den Raum fast gelassen, wie ein Besucher. Er war reich in orientalischem Stil ausgestattet: schwerer Ebenholztisch mit kurzen Beinen, drum herum statt Stühlen vier schwarze Satinkissen; hummerrotes Bücherregal neben der in ein Schlafzimmer führenden Tür; japanische Drucke an der Wand; und über mir, in der Mitte des kostbaren roten Wandteppichs, hing eine gravierte und polierte Kupferscheibe. Blinzelnd rappelte ich mich auf, starrte Solmens goldenen Ohrring und den schmalen Haarkranz an, der seinen Kopf einfaßte. Er lächelte. Er grinste höhnisch. Ich lächelte über meine eigene Dummheit. Mary hatte sich das Ohr gehalten: Selbst im Tode war sie Polizeibeamtin geblieben, hatte uns angedeutet, nach einem Ohrring Ausschau zu halten. Solmen sagte mit seiner tiefen Stimme: „Also du bist es, Lee. Hast mich fast getäuscht, für einen Bullen hast du zu jung ausgesehen.“ Ich lachte, als ich seinen dicken Bauch wie gebannt anstarrte und mir die Verblüffung auf seinem Mondgesicht ausmalte, wenn der Bauch von einem Profi getroffen wurde. Ein linker Haken war von jeher meine Stärke, 248
und dieses Ziel konnte ich nicht verfehlen. Ich ging langsam auf Solmen zu und versuchte mir das Blut aus den Augen zu wischen. Er dröhnte: „Dein Mut ist lobenswert, kleiner schwarzer Bruder. Zu schade, daß ich dich vernichten muß.“ Ich trat rasch vor, täuschte mit der Rechten und rannte ihm die Linke in den fetten Wanst. Das Grinsen wich nicht aus seinem Gesicht. Er hielt die mächtigen Arme hoch, und die Linke sauste auf meine Schulter herab. Mir war, als hätte mich ein Brecheisen getroffen. Heißer Schmerz durchzuckte meinen Körper, als ich wieder gegen die teppichbespannte Wand geschleudert wurde. Ich bewegte den rechten Arm, hörte einen schrillen Schrei – meinen eigenen – und erkannte, daß mein Schlüsselbein gebrochen war. Ich stand mit offenem Mund da, der Schrei erstarb. Vor lauter Schmerzen kam es mir gar nicht in den Sinn, daß mir der Tod bevorstand. Lachend – es war ein tiefes Glucksen, das seinen Bauch erschütterte – rieb sich Solmen die über die weiße Schärpe hängenden Speckfalten. „Deine armseligen Schläge können mir nichts anhaben. Ich bin ausgebildeter Sumo-Ringer, der Speck ist nur ein Polster über meinen Muskeln. Fünf Jahre lang habe ich für die US-Armee Schiffe in Japan entladen, wo ich ein gelehriger Schüler orientalischer Körperertüchtigung und Kampfweise wurde. Sumo ist dem westlichen Zweikampf weit überlegen.“ Ich starrte seine milden Augen an und hörte mich sagen: „Wo sind die purpurnen Kontaktlinsen? Bin ich einen Auftritt mit allen Schikanen nicht wert?“ Ich lehnte mich an den Wandteppich, hielt mir den rechten Arm am Ellenbogen. 249
„O doch.“ Er watschelte mit gespreizten Beinen zu einem niedrigen Bücherregal. Er holte hinter den Büchern ein Tonbandgerät hervor, schaltete es ein, drehte sich dann zu mir um und verneigte sich tief. „Als Anhänger des Okkulten finde ich die Geräusche des Todes höchst interessant. Auf diesem Band habe ich die letzten Worte deiner Kollegin, die auch allein hierhergekommen ist – eine Möchtegern-Heldin. So eine …“ „Das Haus ist umstellt.“ Er schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Von hier oben kann ich die Straße überblicken. So ein dummes Weib, hat mich dauernd angefleht, sie nicht zu mißbrauchen. Die übliche weiße Überheblichkeit. Ein häßliches, dürres Weib, aber überzeugt, daß sie sexuell anziehend sein muß, nur wegen ihrer ekelhaften bleichen Haut. Lee, wenn das dein richtiger Name ist, es schmerzt mich, daß du des weißen Mannes schmutzige Arbeit verrichtest, aber ich bin sicher, daß du wenigstens tapfer und anständig sterben wirst. Es wird ein interessantes Experiment.“ Er kam mit ausgestreckten Armen und noch immer gespreizten Beinen langsam auf mich zu. Ich wischte mir das Blut aus den Augen und wich ihm aus. Die Bewegung erfüllte meine rechte Seite mit pochenden Schmerzen. Solmen bewegte sich zwar plump, doch schnell. Nun blieb er stehen und lachte. „Letztlich wirst du doch kein interessanter Gegner sein. Mit dem Rücken zur Wand warst du viel ungefährdeter.“ Plötzlich stampfte er mit einem seiner großen nackten Füße auf. Ich zuckte zusammen und verlor vor Schmerz fast das Bewußtsein. Er schüttelte sich vor Lachen. 250
Ich stürzte mich auf ihn und stieß ihm das Knie in den Unterleib. Seine kräftigen Schenkel schlossen sich wie eine Falle, während er mir mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Ich versank in einem Reigen bunter Lichter. Auf dem weißen Teppich sitzend, schaute ich zu, wie das Zimmer wirbelnd zum Stillstand kam. Meine ganze rechte Seite war völlig gefühllos. Ich spürte warmes Blut über mein Gesicht rinnen. Ich versuchte, durch die Nase zu atmen. Sie schien von meinem Gesicht abgelöst, aber sie war nicht gebrochen. Solmen stand mit gespreizten Beinen in einiger Entfernung und betrachtete mich. Er sagte leise: „Kleiner schwarzer Verräter, du ruinierst meinen Teppich. Ich hoffe, dein Tod ist die Ausgabe für die Reinigung wert. Ich werde dich langsam töten müssen, um …“ Er kam langsam auf mich zu. Ich saß an der Wand, spürte die Kupferscheibe an meinem Kopf. Ich riß sie mit der linken Hand los und schleuderte sie auf sein Gesicht zu. Er streckte den rechten Arm aus, um die Kupferscheibe aufzufangen: eine rituelle Geste. Die Kupferscheibe prallte von der Innenseite seines Unterarms ab, fiel zu Boden. Blut floß aus dem Arm. Die Scheibe hatte ihm eine Ader zerschnitten. Solmen stürzte mit verzerrtem Gesicht auf mich zu. Ich wich auf die andere Seite des Zimmers aus. Er sprang mit gespreizten Beinen herum, kam tobend heran. Blut quoll aus seinem Arm. Meine Füße waren rascher als seine. Er versuchte mich zu treten, ich bog mich weg, hielt mich aus seiner Reichweite. Viel mehr Blut konnte er nicht verlieren, ohne daß seine Kräfte schwanden. Ich tänzelte vor und zurück, wie auf fremden Beinen, und dachte an all das Schattenboxen während meiner 251
Trainingszeiten. Solmen bewegte sich langsamer, seine dunkle Haut war einen Ton heller geworden. Ab und zu drückte er die Hand auf die Schnittwunde, aber die heftige Blutung hörte nicht auf. Er blieb in der Mitte des Teppichs stehen, belauerte mich, hielt sich den rechten Arm. Ich schob mich an seine rechte Seite und überlegte, ob ich einen linken Haken wagen sollte. Er wirbelte herum, warf seine linke Hand mit einer hackenden Bewegung vor. Das aus seinem rechten Arm strömende Blut bespritzte die Wand hinter mir wie ein roter Regen. Unter all seinem Speck verbargen sich wirklich Bärenkräfte. Er hob mit der linken Hand den niedrigen Ebenholztisch und schleuderte ihn nach mir. Ich sprang hoch und sah den Tisch unter meinen Füßen dahinsegeln. Er zerbrach an der Wand. Der Blutverlust ließ Solmen taumeln. Er stellte sich wieder mit gespreizten Beinen auf. Ich hob mit der linken Hand eines der Tischbeine auf, begann ihn zu umtänzeln. Er wandte das Gesicht nach mir, immer langsamer. Ich schoß auf ihn zu und ließ das Tischbein mit aller Kraft auf seinen Kopf niedersausen. Solmen schwankte, kippte hintenüber. Er saß auf dem blutigen Teppich, die Beine gespreizt, mit hängendem Kopf, röchelnd – all sein Fett wabbelte bei jedem Atemzug –, die häßliche Schramme inmitten des Haarkranzes dunkler als seine Haut. Ich wußte, es war vorbei. Er mußte literweise Blut verloren haben. Ich behielt ihn im Auge, während ich mich, die rechte Seite völlig lahm, zur Couch schleppte. Ich nahm meinen Revolver und ein paar Patronen, lud ihn ungeschickt mit der linken Hand. Der auf dem Teppich sitzende Solmen ließ mich unwillkürlich an einen Teddybär denken. Ich trat durch den Türbogen. Das Schlafzimmer war ganz in Rot und Weiß 252
gehalten: Wände dunkelrot, Bett und Frisierkommode rein weiß. Über der Kommode ein kleines, dichtverhängtes Fenster. Immer den Blick und die Waffe auf Solmen gerichtet, zog ich mit der rechten Hand am Bettüberzug. Die Hand gehörte mir nicht mehr, die Finger wollten sich nicht bewegen. Auf der Kommode lag ein zerknülltes weißes Handtuch. Als ich mich darauf zubewegte, erfüllte ein lautes, rauhes Geräusch den Raum. Ich wirbelte herum, stürzte beinahe. Solmen hatte sich nicht gerührt. Das Geräusch war immer noch da, gleichmäßig … Es war mein eigener Atem. Ich wandte mich wieder der Kommode zu. Ich wollte irgendetwas, aber ich war so benommen, daß ich nur an das Handtuch denken konnte. Ich bückte mich langsam und hob es mit den Zähnen auf. Ein paar zerfließende hellrote Flecken erschienen auf der weichen Weiße. Mit dem Handtuch zwischen den Zähnen torkelte ich ins Wohnzimmer zurück. Ich stand hinter Solmen. Seine Schärpe war rot von Blut, die fetten Brüste wabbelten langsam, sein Atem rasselte so laut wie meiner. Ich ließ das Handtuch auf den Teppich fallen. Ich mußte ihm die Ader abbinden, aber ich wagte mich nicht zu dicht an ihn heran. Ich erwog, ihn in den unverletzten Arm zu schießen. Doch dann hätte er noch mehr geblutet. Ich wollte ihn lebend haben. Ich kickte ihn in den feisten Hintern und kippte dabei fast um. Er rührte sich nicht. Ich mußte sicher sein, daß er bewußtlos war. Ich schlug ihm mit dem Revolverkolben seitlich über den Kopf. Solmen sackte nach vorn. Ich steckte die Waffe zwischen die Knie und versuchte, das abgebrochene Tischbein aufzuheben. Ich fiel auf den Teppich. Durch die Erschütterung wurde mein Kopf etwas klarer. Den Revolver im Schoß, begann ich das 253
Handtuch um Solmens rechten Arm zu wickeln. Es war eine lange und schier unmögliche Aufgabe, mit der linken Hand eine Aderpresse anzulegen, doch endlich hatte ich das Handtuch mit Hilfe des Tischbeins festgezerrt, und die Blutung schien aufzuhören. Die Waffe in der linken Hand haltend, die rechte ins Jackett gesteckt, kroch ich wie betäubt weg. Die Kommode ließ mir noch immer keine Ruhe. Ich kroch ins Schlafzimmer und zur Kommode, legte die Waffe nieder und zog mich hoch. Ich schrie das dunkle, blutige Gesicht im Spiegel an, lachte dann wie ein Irrer. Ich untersuchte die Kommode, wußte genau, was ich wollte: das rote Telefon. Nein, das Telefon war nicht alles. Noch etwas hatte ich gewollt. Es fiel mir nicht ein. Durch eine offene Tür an der anderen Seite des Schlafzimmers erblickte ich ein weißgekacheltes Bad. Ich torkelte hinein und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich trank auch welches. Noch nie hatte etwas so gut geschmeckt. Das Wasser erfrischte mich, aber es weckte auch den Schmerz in meiner kaputten Schulter. Ich ging ins Schlafzimmer und nahm meine Waffe, steckte sie in die Tasche und holte aus dem Bad ein Glas Wasser für Solmen. Ich hatte irgendwo gelesen, daß jede beliebige Flüssigkeit einen Menschen, der Blut verloren hat, neu belebt. Solmen lag mit offenem Mund auf dem Rücken. Ich ging auf ihn zu, hielt inne. Das Tonbandgerät hatte ich im Sinn gehabt. Es lief immer noch, die Spulen drehten sich lautlos. Ich stellte das Glas Wasser neben Solmen und begab mich ins Schlafzimmer. Ich hatte Glück, der Apparat hatte ein langes Verlängerungskabel. Ich trug das Telefon ins Wohnzimmer und stellte es auf die niedrige Couch. 254
Ich ruhte mich eine Sekunde aus. Meine rechte Seite schmerzte brennend, doch ansonsten hatte ich einen ziemlich klaren Kopf und wußte, was ich zu tun hatte. Mich von seinen Beinen fernhaltend, goß ich Solmen Wasser ins Gesicht, in den offenen Mund. Er begann zu husten. Ich wartete, schüttete das restliche Wasser aus und warf das Glas weg. Ich stolperte zur Couch, setzte mich und nahm die Waffe heraus. Solmen hatte ungeheure Kraftreserven. Er setzte sich tatsächlich auf und schaute um sich. Ich legte mir die Waffe in den Schoß und griff mit der Linken nach dem Telefon. „In Sing Sing wird man einen elektrischen Stuhl in Übergröße für Sie errichten müssen“, sagte ich. Meine Stimme war laut und klar. „Lee, wart! Sei kein Narr!“ Solmens Stimme war immer noch tief. „Nicht die Polizei rufen! Du bist allein hergekommen. Schließ dich mir an, und wir können die Welt beherrschen!“ Ich legte den Hörer auf die Gabel und ergriff den Revolver. Ich fühlte mich ein bißchen schwindlig. „Welche Welt? Sie dreschen auch nur leeres Stroh und leben hier von dem Geld, das diese Kinder Ihnen für die sogenannte Kriegskasse gegeben haben.“ Seine Augen begannen zu glänzen, füllten sich mit Leben. „Ich bin ein Führer, warum soll ich nicht wie einer leben? Erwartest du von mir, daß ich mich selbst benachteilige? Hat Hitler in Armut gelebt? Oder Trujillo? Oder Mussolini? Warum also ein schwarzer Führer? Lee, du und ich, wir haben’s geschafft. Jetzt nehme ich über dreihundert Dollar wöchentlich ein; wenn meine Bewegung sich ausweitet, wird es noch viel mehr sein. Weißt 255
du, daß die Black Muslims im neunundfünfziger Jahr über eine halbe Million eingenommen haben? Und seither jedes Jahr wahrscheinlich noch mehr! Wir werden weit mehr herausholen, weil wir den schwarzen Massen Aktion bieten können, nicht Worte!“ Er legte eine Verschnaufpause ein. „Nach den Krawallen im letzten Sommer habe ich erkannt, daß die schwarzen Massen zum Aufbruch bereit sind. Hör mich an, du bist schwarz wie ich. Ich habe da einen Plan, und sobald der gelingt …“ „Der Anschlag auf die U-Bahn?“ „Ja! Das wird auf der ganzen Welt Schlagzeilen machen, Tausende von Farbigen werden zu meiner Fahne eilen!“ „Solmen, Williams oder wie Sie heißen: Sie sind total verrückt. Man wird Sie und Ihre dummen Jungen einsperren und hinrichten, wenn Sie einen derartigen Unsinn auch nur versuchen.“ „Nein, nein, ich habe mir alles zurechtgelegt. Die Jungen werden eingesperrt und hingerichtet, aber die sind entbehrlich. Solmen, der Hausbesorger, wird verschwinden, aber ich habe mir vorsorglich diese Adresse zugelegt und noch einen Schlupfwinkel, eine neue Identität. Namen sind Nebensache, die Legende von Purpurauge wird leben! Du kannst dich hier monatelang verstecken. Ich habe Lebensmittel und Geld, alles ist geregelt. Das ist der wichtigste Teil meiner Pläne. Du – kannst daran teilnehmen.“ Seine Stimme wurde schwach, und er rang nach Atem. Ich wartete eine Sekunde, dann fragte ich: „Wenn der U-Bahn-Schlag danebengeht, was dann?“ „Die Legende vom mächtigen Purpurauge wird begründet. Wie doch die Massen billiges Melodrama lieben! Wir halten uns einige Monate, vielleicht sogar ein 256
Jahr, verborgen und dann, vielleicht in einer anderen Stadt, taucht Purpurauge vorsichtig wieder auf. Ich werde heimlich eine nach Tausenden zählende Armee um mich sammeln, eine mächtige, schwarze Armee! Ich weiß, wie man diese jungen Männer behandelt, die Massen brauchen einen Anführer. Geld wird hereinströmen, wir werden Waffen kaufen – ein plötzlicher Schlag, und Purpurauge verschwindet abermals. Doch wenn ich dann wieder erscheine, wird ein echter Bürgerkrieg ausbrechen, die Farbigen der ganzen Welt werden zu meinen Fahnen eilen! Ich habe große Pläne, vielleicht halte ich die Delegierten im UN-Gebäude als Geiseln fest. Ich …“ Die Stimme verlor an Stärke, er schnappte nach Luft. Aber seine Augen glänzten noch immer. „Hören Sie auf, mich können Sie nicht auf den Arm nehmen“, sagte ich laut. „Das ist doch alles Schwindel. Wie werden Sie leben, wenn Sie ein paar tausend Dollar pro Woche in Ihre Kriegskasse bekommen? Kaufen Sie sich dann eine Yacht?“ Er funkelte mich an. Er hatte noch genug Kraft, um die Füße zu bewegen. Ich legte den Revolver auf ihn an. „Warum wirfst du mir dauernd das Geld vor? Warum sollte ich mich von anderen Diktatoren unterscheiden? Wenn ich eine Yacht will, werde ich eine haben. Und auch eigene Flugzeuge!“ „Die Kinder, die wöchentlich die zehn Dollar für die angebliche Kriegskasse zusammenkratzen, würden sich freuen, wenn sie das hören könnten!“ „Ach, die sind doch bloß Kanonenfutter, total entbehrliches Fußvolk, das für seinen General stirbt. Das war immer so, die Massen sind nichts als ein Werkzeug für große Männer. Erbarmungslosigkeit ist das Kennzeichen eines großen Mannes.“ Der mächtige Brustkasten wogte, 257
das Handtuch um seinen zerschnittenen Arm färbte sich hellrot. Ich wußte, daß er nicht viel länger sprechen konnte. „Wenn ich mitmache, was bekomme ich dann?“ „Die Hälfte der Einnahmen.“ Ich grinste. „Und einen Karatehieb auf den Hals, wenn ich den Rücken zeige?“ „Wir sind schwarze Männer und können einander vertrauen. Du hast Grips, und als Polizist wärst du sehr wertvoll. Lee, ich gebe dir sechzig Prozent, du kannst mit hundertachtzig Dollar die Woche anfangen.“ „Müssen Sie das nicht erst mit Ace, Chip und Meat Market besprechen? Es ist ihr Geld.“ „Die haben nichts zu melden, ich bin der General! Das sind Maulhelden mit unreinem Blut, die haben zuviel vom Weißen in sich. Lee, du und ich, wir werden wie Könige leben, weit weg vom Gestank von Harlem, wie reiche Weiße … Lee, hol mir noch Wasser.“ Ich hatte gehört, was ich wollte. „Sie sind bloß ein lausiger Gauner, der einen Schwindel aufgezogen hat“, sagte ich. Ich legte mir den Revolver wieder auf den Schoß, hob den Telefonhörer ab und wählte Davis’ Nummer. Solmen richtete sich, nach Atem ringend, auf die Knie auf. Ich hielt mir den Hörer mit der Schulter ans Ohr, nahm den Revolver und schoß in den Plafond. „Keine Mätzchen, General, sonst sind Sie eine tote Legende!“ Ich hörte Davis’ Stimme an meinem Ohr: „Was? Wer zum Teufel spricht dort?“ Ich zielte auf Solmen und bemühte mich zu schreien, ohne den Hörer fallen zu lassen; ich brüllte die Adresse 258
und bat Davis, einen Krankenwagen und Blutplasma herbeizuschaffen. Solmen hielt sich auf den Knien, starrte mich mit glänzenden und fassungslosen Augen an. Mit der blutigen Schärpe um den gewaltigen Bauch wirkte er fast komisch. Ich konnte nicht unterscheiden, ob die Tropfen auf seinen feisten Wangen Schweiß waren oder ob er weinte.
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Tja, über meinen Vater bin ich mir nicht ganz sicher. Was soll der Blödsinn, ich weiß, wer mein Vater war. Aber ich war erst drei oder vier, als er abgehauen ist, aber wenn ich mich an ihn erinnere, sehe ich einen betrunkenen Krüppel. Aber wenn die Leute sagen: „Chip, du siehst ihm ähnlich“, dann macht mir das nichts aus, denn wenn man Mama reden hört, so war er ein drei Meter langer Brocken. Nein, schreiben Sie nicht, daß ich aus zerrütteten Verhältnissen stamme, keinen solchen Quatsch. Mama hat immer schwer gearbeitet, ich bin nie in Lumpen herumgelaufen oder so. Mama macht sich eigentlich gar nichts draus, daß Vater abgehauen ist und sich zu Tode gesoffen hat. Sie redet von ihm wie von einem Filmstar. Wirklich. Erzählt mir, wie gut er für uns gesorgt hat. Wie er für Autos geschwärmt hat. Nicht für gewöhnliche Karren, sondern für Laster und Busse. Und wie er sich drum gerauft hat, Busfahrer zu werden. Das war für Farbige anscheinend nicht so leicht, vor dem Krieg. Jetzt fahren wir alle Busse, aber damals war es eben nicht so. Er hat gut verdient, hat sonntags sogar Ausflugsbusse gefahren. Hat auch immer alles Geld nach Hause gebracht. Mama sagt, sie hat nie die kleinste Arbeit machen müssen, nur um den Haushalt hat sie sich gekümmert. Wie der Krieg gekommen ist und man ihn eingezogen hat, war er mit einer rein farbigen Einheit im Fronteinsatz in Italien. Ja, er hat allerhand mitgemacht, ein Maschinengewehr hat ihm beide Knie zerschossen. Wir haben noch seine Auszeichnungen, ein Silver Heart, die Soldier’s Medal und zwei Purple Hearts, in einem Glaskasten oben auf dem Küchenschrank. Als er nach Hause kam, hat er ein Bein nachgezogen, sagt Mama, deshalb konnte er auch keine Arbeit als Fahrer kriegen. Sie sagt, 260
er hat sich dauernd nach Arbeit umgeschaut, aber er konnte nichts anderes als Autofahren. Er hat eine kleine Rente bekommen, so fünfzig Dollar im Monat. Eine Zeitlang war er Fahrstuhlführer. Danach hat er angefangen zu trinken. Mama sagt, das war keine Arbeit für einen temperamentvollen Mann. Der Aufzug wurde auf automatisch umgestellt, und er war draußen. Er hätte ja unter dieser ollen „GI-Bill of Rights“ in die Schule gehen können, aber dazu war er wohl schon zu alt. Da bin ich auf die Welt gekommen. Mama ist in die Häuser nähen gegangen, und er hat zu Hause auf mich aufgepaßt. Ich weiß noch, daß er meistens betrunken umgefallen ist und sein kaputtes Bein verflucht hat. Mama sagt, er hat es einfach nicht mehr ausgehalten. Eines Tages ist er ein Päckchen Zigaretten kaufen gegangen und nicht mehr zurückgekommen. Eine Zeitlang hat er uns noch seine kleine Rente überwiesen. Dann war damit Schluß. Aber Mama hat nie aufgehört, mir zu erzählen, was für ein toller Mann er war. Wenn ich mir seine Orden anschaue, glaube ich ihr. Weil er ein Farbiger war, hat er als Fahrer immer schwarzarbeiten müssen, also konnte uns die Sozialversicherung nicht sagen, ob er tot war oder wenigstens eine Nummer gehabt hatte. Mama hat an die Armee geschrieben, aber die haben nur gesagt, seine letzten Schecks sind zurückgekommen, Adresse unbekannt. Tja, letztes Weihnachten kriegen wir eine Karte ohne Unterschrift. Aber Mama hat sich aufgeregt, sagt, das ist seine Schrift. Es war so eine Karte, wie sie die großen Firmen an ihre Kunden schicken. Der gedruckte Name war weggekratzt. Ich habe im Schullaboratorium ein Vergrößerungsglas genommen – ja, damals bin ich noch in die Schule gegangen – und habe den Namen und die Ad261
resse einer Obstfirma herausgebracht. In der Washington Street war sie, glaube ich. Einmal bin ich nach der Schule hingegangen. Da war so ein fetter Weißer in einer dreckigen Jacke, wie ein Fleischer. Ich frage, ob ein Mr. Danial Moorepark bei ihm arbeitet. Er sagt: „Wir haben niemanden, der so heißt. Wie sieht er denn aus, Kleiner?“ „Groß, stark, breite Schultern.“ So hat ihn Mama beschrieben. „Danial …“ „He, wir haben einen gewissen Fusel-Dan. Willst du zu dem?“ „Ich glaube, er ist mein Vater“, sagte ich ganz elend. „Wenn du dir den anschauen willst, okay.“ Er hat mich in einen finsteren Raum voller zerrissener Zeitungen und so geführt und hat mir gesagt, das ist eine Unterlage für die Bananen, die da gelagert werden. Er sagte: „Tritt zurück Kleiner, denn dieser Dan wacht auf wie ein verrückt gewordener Gorilla.“ Er ruft in den stinkenden Raum: „Dan! He, Dan, steh auf!“ Nichts rührt sich. Dann blinzelt mir der Weiße zu, holt einen Kübel Wasser und schüttet es in den Raum. Drinnen knurrt es wie ein Tier. Ein Schwarzer mit verfilztem Haar und nassen Fetzen am, Leib, stinkend und so mit irrem Blick, kommt aus dem Dunkel heraus. Er schaut nicht einmal in meine Richtung. Er hat auch gehinkt. Aber ein Schuh hat ihm gefehlt. Er sagt: „Gibt’s einen Wagen zu beladen? Gibt’s was für mich zu trinken?“ Der Weiße schaut mich an, ich habe den Kopf geschüttelt. Der Weiße hat den Strolch in den stinkenden Bananenraum zurückgestoßen, wie einen Sack Mist. Wir sind weggegangen. Da habe ich gewußt, daß mein Vater tot ist. Dieser wilde Kerl, wie konnte der ein Kriegsheld sein? Ein temperamentvoller Mann wie mein Vater? Nö, nicht dieses stinkende Vieh. 262
12 Draußen vor dem Penthouse war es dunkel, die Lichter von Manhattan funkelten so hell, daß es schien, als könnte man die Hand ausstrecken und sie berühren. Chip, Dong, Little Daddy und Meat Market standen unbehaglich auf dem blutbefleckten Teppich und hörten sich vom Tonband an, wie Purpurauge versucht hatte, mich zu gewinnen. Chip sah blaß aus, seine Augen zuckten heftig. Ein Krankenhaushemd hing wie ein Zelt über dem Gipsverband an meiner rechten Schulter und dem rechten Arm. Meinen rasierten Schädel zierten weiße Heftpflasterstreifen und Bandagen, wo der Arzt die Kopfhaut genäht hatte. Trotz der Injektion, die ich im Krankenhaus bekommen hatte, fühlte ich mich noch immer benommen. Leutnant Davis und vier Kriminalbeamte warteten vor der offenen Tür des Penthouse. Ich hatte darauf bestanden, das Krankenhaus zu verlassen, und auf mein Betreiben hatte man Chip und die anderen hierhergebracht. Als Chip erfahren hatte, daß wir Solmen geschnappt hatten, hatte er geredet und geredet, hatte uns verraten, wo die anderen zu finden waren. Davis, der in einem eleganten grauen Anzug auf der Kante meines Krankenhausbettes saß, hatte protestiert. „Der Fall ist gelöst, vergessen Sie diese Halbstarken.“ „Nein, Sir. Ein Teil meiner Aufgabe war, die Bloody Blacks aufzulösen. Es ist wichtig, daß sie selbst hören, auf was für einen Schwindel sie hereingefallen sind, daß sie es den anderen sagen. Wenn sie es in der Zeitung lesen, werden sie es nicht glauben. Doch sobald sie Solmens eigene Stimme hören … Teufel, deshalb habe ich ihn ja reden lassen!“ Davis hatte sich die knotigen Hände gerieben. 263
„Na schön, ich werde dafür sorgen. Sie haben ja jetzt im Präsidium einen Stein im Brett. Lee, wieso sind Sie nie Sozialfürsorger geworden?“ Ich hatte gegrinst. „Das Polizeiexamen ist mir dazwischengekommen. Was geschieht nun mit der Bande?“ „Das hängt davon ab, was Solmen sagt. Chip hat gestanden, daß Solmen die Sozialfürsorgerin erstochen hat, als Chip sich nicht dazu aufraffen konnte. Den geplanten U-Bahn-Schlag haben wir vor der Presse verheimlicht. Natürlich wird alles bei der Gerichtsverhandlung herauskommen, aber dann ist der heiße Sommer schon vorbei. Vorläufig halten wir die Jungen als wichtige Zeugen fest. Vielleicht kriegen sie nur Besserungsanstalt aufgebrummt. Bis jetzt haben wir über den toten Saufbruder nichts herausgebracht. Wenn wir etwas herausbringen, dann sieht es schlecht für sie aus.“ „Im Krankenhaus wimmelt es ja von Fotografen und Reportern. Die Zeitungen stellen die Sache wohl groß heraus?“ „Sie sind jetzt ein Schlagzeilenheld. Sie haben den Mörder einer Polizeibeamtin und einer Sozialfürsorgerin zur Strecke gebracht. Der im Alleingang heldenhafte Polizist gibt immer guten Lesestoff ab.“ „Wird Cane mich hinausfeuern, weil ich auf eigene Faust gehandelt habe?“ Davis hatte gelacht. „Er wird vielleicht Lust dazu haben, aber Helden werden nicht abgeschoben. Ich sorge dafür, daß die Burschen um acht Uhr im Penthouse sind, und Sie lasse ich um sieben Uhr mit dem Wagen abholen.“ Nun, als ich sie so betrachtete, keineswegs sicher, ob sie der Bandaufnahme überhaupt zuhörten, hatte ich das Ge264
fühl, Zeit zu vergeuden. Sie starrten mit faszinierten Augen die Blutflecken an den Wänden, auf dem dicken Teppich unter ihren Füßen und die zerbrochenen Möbel an. Ich wußte nicht genau, was ich ihnen sagen sollte. Natürlich spielten wir ihnen nicht den ersten Teil des Bandes vor, wo Mary um ihr Leben flehte. Dieses Band bedeutete für Solmen die Todesstrafe. Das Band war zu Ende, und ich schaltete das Gerät aus. Einen Moment lang herrschte bedrückendes Schweigen. Dann fragte Dong, mit reiner Bewunderung in der Stimme: „Lee, du hast Solmen wirklich ganz allein geschnappt?“ „Ja, aber denk nicht mehr daran. Ich muß euch etwas sagen. Vielleicht hört ihr zu, vielleicht nicht. Ich weiß, was ihr denkt: Ich bin ein Polyp, auf Fang aus, und ihr steckt tief in der Klemme und seid drauf und dran, von der Presse gelyncht zu werden. Das stimmt alles. Aber es stimmt auch, daß man mich wegen meiner Hautfarbe benachteiligt hat, und zwar, da ich älter bin, schon länger als euch. Ich bin nicht stolz darauf, daß ich mir das habe gefallen lassen, auch behaupte ich nicht, alle Antworten zu wissen. Aber ich glaube, der Aufenthalt in der 128. Straße hat mich einiges gelehrt, einschließlich der Tatsache, daß ich selbstgefällig gewesen bin und …“ „Du hast eine Woche dort gelebt, auch schon was!“ warf Meat Market ein. „Stimmt, aber vergiß nicht, daß ich aus Delaware bin – ein Land, das man noch nie ein Paradies für Farbige genannt hat. Ich versuche, euch zu helfen, mir selbst zu helfen, indem …“ Chip stöhnte: „Niemand scheißt sich was um uns.“ „Ach, hör auf zu winseln und immer auf Almosen zu warten“, sagte ich. „Vergiß nicht, du …“ 265
„Wer winselt? Ich bin ein Soldat, der für die Freiheit kämpft!“ „Hör auf, das ist Krampf. Ihr seid alle nur auf Radau und Rummel aus, ihr lebt nur für den Augenblick. Die weiße Sozialfürsorgerin, die euer ‚General‘ grundlos erstochen hat, die hat mehr für die Freiheit gekämpft als wir alle zusammen. Sie ist im Süden bei einem Sitzstreik verhaftet worden, sie war wirklich an der vordersten Front gewesen. Ihr haltet euch deshalb für Soldaten, die für die Freiheit kämpfen, weil es euch gerade in den Kram paßt. Und wenn ihr allen piepegal seid, dann vergeßt nicht, daß euch auch alle piepegal sind. Ihr – äh …“ Ich zögerte, weil ich wußte, daß ich nicht das sagte, was ich im Sinn hatte. Sie sahen mich nicht einmal an, sondern betrachteten die Einschußstellen in der Zimmerdecke. Dong sagte: „Auf dem Band hat der Schuß aber nicht so geklungen wie ein Revolver im Fernsehen.“ „Verdammt noch mal, denkt jetzt nicht an den Schuß! Paßt auf. Der Weiße wird sich nicht über Nacht ändern, und manche Weißen werden sich überhaupt nie ändern. Denen geht’s gut. ‚Nur für Weiße‘ bedeutet: das Beste von allem, für sie. Aber in Afrika hatten es die Farbigen bedeutend schlechter, und doch ist es ihnen gelungen, den weißen Mann abzuschütteln. Wir werden manchen Weißen in den Hintern treten müssen, bevor sie aufwachen und uns eine Chance einräumen. Aber merkt euch das Wort ‚manchen‘. Der weiße Mann hat uns sogar dazu gebracht, so zu denken, wie er will, nämlich daß dieses Land ihm gehört. Es gehört auch uns. Die Gesetze gelten für uns, auch wenn manche davon änderungsbedürftig sind. Die Weißen haben uns dahin gebracht, daß wir versuchen, sie nachzuahmen, wir kaufen Bleichcremes und entkrausen unser Haar. Wir wollen nicht in den Fehler 266
verfallen, auch den blinden Haß nachzuahmen, den manche Weißen gegen uns haben. Sie brennen und morden, um einen Neger daran zu hindern, im Nachbarhaus zu wohnen oder an derselben Arbeitsstelle zu arbeiten. Sie wissen nicht einmal, ob der betreffende Farbige gut oder böse ist, gescheit oder dumm, sie verurteilen nichts als seine dunkle Hautfarbe.“ Das Sprechen strengte mich an. Ich befeuchtete mir die Lippen. „Das ist eine dumme Einstellung. Genausogut könnte man sagen, ich will neben keinem dicken oder dünnen Menschen wohnen. Der Weiße muß sich ändern, aber wir wollen auch nicht seine Dummheit nachahmen und sagen, jeder Weißhäutige ist von vornherein schlecht. Es gibt genug Schlechte, und die müssen wir bekehren. Mehr will ich nicht sagen. Laßt euch nicht dazu herumkriegen, die Ku-Klux-Klan-Methoden zu imitieren. Laßt eure Unzufriedenheit und Empörung nicht wieder von einem ‚Purpurauge‘ ausnützen, der sich als Hausbesorger tarnt und das Geld verpraßt, für das ihr euch in Harlem abrackert. Ihr hättet beinahe euer Leben hingegeben, damit Solmen in dieser aufgedonnerten Bude wohnen konnte. Abgesehen von seinen großen Worten, war er auch nur ein Ausbeuter. Seid gescheit. Seid Menschen, keine Banditen. Es ist nicht leicht, Würde zu besitzen, ein Mann zu sein im weißen Amerika. Ihr sollt euch aber nichts gefallen lassen. Wenn ein Weißer euch zu nahe kommt, wehrt euch. Tut es aber, weil er gemein ist, weil ihr wißt, was ihr tut, und nicht, weil es euch Spaß macht und Auftrieb gibt. Ich drücke mich nicht besonders deutlich aus, aber das wär’s.“ Ich war nicht zufrieden mit dem, was ich gesagt hatte, ich wußte ja nicht einmal genau, was ich sagen sollte. Ich 267
hatte das Gefühl, ich sollte lieber zu Weißen sprechen als zu diesen Harlemer Jungen. Ich starrte sie eine Weile an, dann ging ich hinaus. Leutnant Davis zündete sich eine Zigarette an, und wir begaben uns hinüber in den Dachgarten. Ich hörte, wie die Kriminalbeamten die Jungen zum Fahrstuhl brachten. Ich starrte lange die strahlende Wolkenkratzersilhouette an und fühlte mich lausig. Davis fragte: „Na, haben Sie sie bekehrt, Lee?“ „Ich habe nicht damit gerechnet.“ „O doch – glaube ich. Lassen Sie sich lieber von mir ins Krankenhaus fahren, den Ärzten war es nicht recht, daß Sie so bald aufgestanden sind.“ „Ja. Ich bin völlig erledigt.“ Als wir im Aufzug hinunterfuhren, teilte mir Davis mit: „Ein Mädchen hat mehrmals im Präsidium angerufen, hat nach Ihnen gefragt.“ Davis griff in die Tasche. „Ich habe einen Zettel.“ „Ich weiß, wer es ist.“ Freude schwang in meiner Stimme mit. Jack las von dem Papierstreifen ab: „Sie möchten, wenn möglich, Miriam anrufen.“ „Oh. Die Tochter meiner Vermieterin.“ Als Davis mir einen Weg durch die üblichen Gaffer bahnte, hörte ich eine Frau sagen: „Schon wieder einer von diesen Halbstarken.“ Wir stiegen in den Polizeiwagen, und Jack fuhr. Einmal fragte er: „Sie wollen wohl die Miete sparen, Lee?“ „Wie bitte?“ „Da Sie sich um die Tochter des Hauses bemühen.“ Ich gab keine Antwort. Als wir beim Krankenhaus anlangten, sagte er: „Vielleicht komme ich Sonntag nachsehen, wie es Ihnen geht. Vergessen Sie aber nicht – ich lasse Sie Montag um zehn 268
Uhr abholen. Unsere hohen Herren wollen die Fotografen dabei haben, wenn Sie Kriminalbeamter Hayes werden.“ Ich nickte. „Jack, könnten Sie mir durch jemanden aus Saint Albans etwas zum Anziehen holen lassen? Eine Hose, Unterwäsche, ein Hemd und einen Pullover; den hellgrünen.“ „Klar. Morgen bekommen Sie alles ins Krankenhaus. Machen Sie’s gut, Lee.“ Ich meldete mich bei einem Arzt, und er untersuchte mich rasch, sagte, ich hätte auf keinen Fall so bald das Krankenhaus verlassen dürfen, und steckte mich ins Bett. Ich schlief bald ein. Ich wunderte mich bloß, daß Helen nicht angerufen hatte. Am Sonntag weckte mich jemand zu Mittag und fragte, ob ich essen wolle, oder vielleicht träumte ich es nur. Um achtzehn Uhr erwachte ich endlich, als ein Arzt meinen Gipsverband überprüfte. Die Schwester sagte mir, Leutnant Davis habe meine Sachen gebracht, und zeigte mir mein Bild in der Zeitung, aber ich war viel zu benebelt, um es zu beachten. Ich verzehrte ein Krankenhausabendessen, ersuchte die Schwestern, ein Telegramm an meine Leute aufzugeben, daß ich okay war, und schlief wieder ein, als hätte ich nicht schon vierundzwanzig Stunden geschlafen. Am Montagmorgen war ich schon vor sieben Uhr auf. Meine Schulter schmerzte ein bißchen, Rücken und Gesicht auch, aber ich war voller Unternehmungslust. Ich ließ mich von einem Pfleger rasieren und ankleiden, dann verdrückte ich etwas, was ein Frühstück darstellen sollte. Ich wartete ungeduldig auf den Arzt, der mir empfahl, wenigstens noch eine Nacht im Krankenhaus zu verbringen. Es war erst neun Uhr, und ich rief Davis’ Büro an 269
und bestellte den versprochenen Wagen ab. Ich wollte mit der U-Bahn fahren. Kaum aus dem Krankenhaus draußen, steuerte ich die nächste Imbißstube an, und nach einer doppelten Portion Eier und Toast und mehreren Glas Orangensaft fühlte ich mich erst richtig. In der U-Bahn saß ich neben einem Weißen, der die Zeitung las. Unser Fall stand auf der dritten Seite. Die Titelseite zeigte auf einem großen Bild eine Negerfamilie, die in ihrem Heim im Süden während des Schlafes einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen war. Der Mann und ich lasen die Überschrift: „Bürgerrechtsführer und Familie bombardiert!“, er las den Bericht im Inneren des Blattes, schlug die Sportseite auf, dann schaute er noch einmal das Bild an und schüttelte traurig den Kopf. Zwei halbwüchsige Negerjungen in Blue-Jeans, Segeltuchschuhen, Hemd mit Krawatte und kleinen Kappen stiegen zu. Sie trugen Schulbücher. Der uns zunächststehende sagte zu seinem Kameraden: „Hast du heute das Bild in der Zeitung gesehen? Mann, so was regt mich so auf, daß ich einfach um mich schlagen möchte!“ Ich spürte förmlich, wie der Weiße in sich zusammenschrumpfte. Ich war froh, daß er an der nächsten Station ausstieg. Als ich das Präsidium betrat, schrie ein Mann: „Lee Hayes!“ Ich drehte mich um und sah Dick Gates in Zivilkleidung herbeieilen. In Harlem hatte er mich nicht erkannt, doch nun, obwohl mein Kopf rasiert und mit Heftpflaster beklebt war und mein Arm im Gipsverband steckte, wußte er, wer ich war. Er schüttelte mir die linke Hand und sagte mit zusammengebissenen Zähnen: „Hast einen großen Fang 270
gemacht. Bestimmt wirst du jetzt Kriminaler, hast es auch verdient.“ „Warten wir ab. Bist du jetzt ins Präsidium abgestellt, Dick?“ „Ich mache leichten Dienst, mein Kiefer ist gedrahtet – man hat mich in Harlem verdroschen. Das ist jetzt fast wie in alten Zeiten, Lee. Wahrscheinlich wirst du auch hier eingesetzt werden. Wir können zusammen zu Mittag essen.“ „Das wird prima, Dick.“ Er ging weiter. Als ich im Aufzug zu Canes Büro hinauffuhr, fühlte ich mich wegen des Vorfalls sehr niedergeschlagen, ohne genau zu wissen, warum. In Canes Büro drängten sich die Reporter. Fotografen knipsten mich, während der Polizeipräsident mich zum Kriminalbeamten ernannte und eine kurze Ansprache über „die Tapferkeit eines echten Harlemers“ hielt. Inspektor Cane ließ sich mit mir beim Händeschütteln aufnehmen. Er war ein Redner: Er teilte der Presse mit, die „Harlemer Haßbanden“ seien erledigt und wie ausdauernde Polizeiarbeit endgültig „die Gefahren eines neuen langen Sommers im Keim erstickt“ habe. Davis, der an die Wand gelehnt dastand, grinste mich an wie ein stolzer Vater. Ich hörte höflich zu und beantwortete einige Fragen der Reporter. Und doch wurde ich die ganze Zeit ein beklemmendes Gefühl nicht los. Ich wußte, daß sich nichts geändert hatte, ich sah fortwährend die wütenden dunklen Gesichter der beiden Schüler in der U-Bahn vor mir. Nachdem die Leute von der Presse gegangen waren, versetzte mir Cane einen Klaps auf die gesunde Schulter, gab mir den Rest der Woche frei und ersuchte mich, ihn am nächsten Montag anzurufen. Er schüttelte mir noch 271
einmal die Hand und wiederholte: „Wir sind alle stolz auf Sie, Boy!“, und ich ging, froh, endlich draußen zu sein, durch die heiße, enge Straße mit den italienischen Ladenschildern. Leutnant Davis kam hinter mir her und fragte, ob ich etwas zu Mittag essen wolle. Ich sagte, ich hätte keinen Hunger. Er bot mir an: „Ich fahre Sie ins Krankenhaus zurück. Ich muß in die 128. Straße wegen einer Reparatur im Haus meiner Frau. Ich habe auch keine Zeit zum Mittagessen.“ Wir gingen dorthin, wo er seinen großen Lincoln geparkt hatte. Ich schob mich vorsichtig auf den Sitz. Als er an der Ecke vor der Ampel halten mußte, sagte ich: „Ich komme mit in die 128. Straße.“ „Das ist unklug. Sie dürften dort nicht sehr populär sein.“ „Ich will ja gar nicht den Block besuchen, ich möchte nur – jemanden sehen. Ich habe genug von dem Block und all den ordinären Halbstarken.“ „Diese Jungen sind nicht Harlem, und Hartem ist nicht das Negervolk. Diese Lümmel sind nur ein winziger Teil der schwer arbeitenden Menschen in der 128. Straße. Sie wollen zu Aces Schwester?“ „Ja.“ „Lee, ich will mich nicht in Ihre Angelegenheiten mischen, aber das finde ich auch nicht klug. Ich weiß nicht, ob zwischen euch beiden etwas besteht, aber es kann nicht gut ausgehen. Selbst wenn Ace nur in die Besserungsanstalt geschickt wird, bleiben Sie derjenige, der ihn hingehängt hat.“ „Jack, ich weiß im Moment nicht, was klug ist. Ich weiß nur, daß ich jetzt Helen sehen will.“ 272
„Okay, aber ich werde auf der Straße bleiben und aufpassen. Wenn Sie wollen, kann ich auch auf dem dortigen Revier vorsprechen und Ihre Schreibmaschine holen. Vielleicht nützt Ihnen das etwas.“ „Danke, später vielleicht. Ich will sie jetzt bloß sehen, mit ihr sprechen.“ „Hoffentlich wissen Sie, was Sie tun. Ich hätte eine Woche oder so gewartet.“ Ich gab keine Antwort, und während er den Wagen über den East River Drive steuerte, studierte ich das hellbraune, zynische Gesicht im Rückspiegel. Es wirkte zufrieden. „Jack, glauben Sie den Mist, den Cane der Presse vorgesetzt hat, nämlich daß die Festnahme von Purpurauge den Haßbanden ein Ende bereitet hat? Wird denn nie jemand begreifen, daß sich gar nichts geändert hat? Das alles beruht auf Ursache und Wirkung, und die Ursache muß abgeschafft werden!“ Er entblößte lächelnd seine falschen Zähne. „Aber Lee, ich dachte, Sie wüßten, daß Weiße genauso sind wie alle anderen: Sie glauben, was sie glauben wollen. Sie haben einen wichtigen Fang gemacht, durch den Sie nicht nur zwei Mordfälle gelöst, sondern auch eine fürchterliche Panik und wahrscheinlich auch weitere Todesfälle verhindert haben. Was die Haßbanden anbelangt, sowohl schwarze als auch weiße, so glaube ich, die Tatsache, daß ein Neger sie zerschlagen und Purpurauge geschnappt hat, kann andere radikale Gruppen bremsen. Der …“ „Für wie lange? Sie reden wie Cane. Sie lassen das Wichtigste unbeachtet: Das, was Ace, Chip und die anderen zu ihrer Einstellung veranlaßt hat, hat sich nicht im geringsten geändert!“ 273
„Irrtum. Lee, nichts steht still. Es kann schlechter oder besser werden, aber es steht nicht still. In rassischer Hinsicht werden die Dinge besser, glaube ich. Die meisten Weißen bekehren sich allmählich zu der Ansicht, daß wir auch Menschen sind, ob es ihnen paßt oder nicht. Ich mache mir keine Gedanken über die Aces, Chips, die sind verloren, verdorben. Die …“ „Unsinn! Das ist es ja eben: Sie haben ein Recht auf Würde und Glück.“ „Das ist Sozialfürsorgegewäsch, Lee. Das, was diesen Halbstarken passiert ist, gefällt mir nicht, aber ich bin realistisch genug, einzusehen, daß sie verloren, vom Krebs des Hasses befallen sind, wenn das nicht zu kitschig klingt. Ich kann mich nicht mit den Verlorenen, den Toten abgeben, meine Aufgabe ist es, die anderen vor dem Verderben zu schützen, und meiner Ansicht nach läßt sich das am besten durch Einhaltung von Gesetz und Ordnung erreichen – und indem man den Dingen die Möglichkeit gibt, sich einzupendeln. Und ich meine nicht mit ‚bedächtiger Eile‘ oder wie die Vertröstungsphrase nun lautet. Eines weiß ich genau: Wenn Gesetz und Ordnung unterliegen, wird es nie zu einer Lösung des Problems kommen, und nur wenige von uns werden erleben, was sich entwickeln wird. Sie sind zu pessimistisch, Lee. Sie haben sich zuviel mit diesen Halbstarken abgegeben. Diese wilden Burschen sind nicht das Negervolk, vergessen Sie das nie. Alles in allem sind sie Halbstarke, und heutzutage versucht jeder Halbstarke …“ „Hören Sie auf!“ „Ich sage das nicht gern von einem Helden, aber Lee, Sie können auch ganz schön arrogant sein.“ Davis zwinkerte mir im Rückspiegel zu. „Im Ernst, Lee, heute habe 274
ich über einen unglaublichen Fall im Mittelwesten gelesen. Eine Frau erlitt in einer Straßentelefonzelle einen Herzanfall, und natürlich blieb keiner der braven Passanten stehen, um ihr zu helfen. Schließlich trugen zwei weiße Jungen sie zu einer Bank und vergewaltigten sie. Dann holten sie zwei Freunde, und die vergewaltigten sie ebenfalls. Im ärztlichen Befund stand, sie sei bereits tot gewesen, als die letzten zwei sie mißbrauchten. Das ist wohl der Gipfel der Verkommenheit. Es war eine ausschließlich ‚weiße‘ Sache. Soll ich nun auf Grund dieses Vorfalls behaupten, alle weißen Jugendlichen seien verkommen oder die Einwohner jener Stadt seien alle Bestien? Das ist aber Ihre Denkweise, mein Junge.“ „Jack, verschonen Sie mich mit diesem Quatsch. Das kriegen wir seit Jahren zu hören. Nicht Reden sind notwendig, sondern konkrete Taten, sofortige Abhilfe!“ „Richtig. Aber ich will gar keine Hoffnung propagieren, Lee. Erstens ist es möglich, daß irgendein Irrer einen Atomkrieg entfesselt, und dann ist der ganze Rassenstreit gegenstandslos. Zweitens läßt es sich nicht leugnen, daß ich weit besser gestellt bin, als es mein Vater war. Und ich glaube, daß meine Kinder bessere Möglichkeiten haben werden, als ich sie habe. Das nenne ich Fortschritt.“ Er lachte plötzlich. „Ach was, Lee, Sie haben es geschafft, Sie sind ein Held … Freuen Sie sich! Teufel, Sie haben gute Arbeit geleistet, und sollte der Weiße tatsächlich ein bißchen Vernunft annehmen, dann haben wir sogar einen friedlichen Sommer, gelobt sei Allah!“ Ich schob die unversehrte Hand in die Tasche, sonst hätte ich ihm den Mund mit der Faust zugestopft.
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