Gauvain, Gawein, Walewein: Die Emanzipation des ewig Verspäteten
Bernhard Anton Schmitz
MAX NIEMEYER VERLAG
HERMAEA ...
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Gauvain, Gawein, Walewein: Die Emanzipation des ewig Verspäteten
Bernhard Anton Schmitz
MAX NIEMEYER VERLAG
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER
BAND 117
BERNHARD ANTON SCHMITZ
Gauvain, Gawein, Walewein Die Emanzipation des ewig Versp$teten
n MAX NIEMEYER VERLAG T(BINGEN 2008
Herausgegeben mit Unterst.tzung der Niederl$ndischen Organisation f.r Wissenschaftliche Forschung (NWO)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet .ber http://www.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-484-15117-8
ISSN 0440-7164
A Max Niemeyer Verlag, T.bingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch.tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul$ssig und strafbar. Das gilt insbesondere f.r Vervielf$ltigungen, (bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbest$ndigem Papier. Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Am Karfreitag 2006 ist Bernhard Schmitz gestorben. Er wurde 43 Jahre alt. Folgende Worte schickte er seiner Studie, die er als Amsterdamer Dissertation geplant hatte, voraus: »Nach alter Gepflogenheit darf auch ich mich anfangs bei allen bedanken, die am Zustandekommen dieser Arbeit mitgewirkt haben. Hier ist ganz besonders ein Name zu nennen, der meines ersten Begleiters, Herrn Prof. Dr. Johan H. Winkelman. Wenn das Wort vom Doktorvater jemals wirklich eine Berechtigung gehabt hat, dann bestimmt als Andeutung für das herzliche Verhältnis, das uns verbindet. Es drückt sich in diesem Wort auch etwas von der Geduld aus, die man wohl im Umgang mit einem dickschädeligen Promovendus wie mir brauchen kann. Ohne Herrn Winkelman, das steht fest, hätte es diese Arbeit nie gegeben. Auch mein anderer Doktorvater, Herr Prof. Dr. Gerhard Wolf, hat sich bereits in einem frühen Stadium des Projekts viel Arbeit damit gemacht, mir mit wertvollen Kommentaren Wege für meine weitere Forschung aufzuzeigen. Ich hatte das große Glück, dass mir meine beiden Begleiter immer hilfreich zur Verfügung standen. Nun gilt es, den anderen zwei Mitgliedern meiner zwar nicht ›digitalen‹, aber immerhin einigermaßen virtuellen Familie, nämlich Michael Dobbyn und Detlev Hauschildt, an dieser Stelle für ihre Ratschläge, Geduld, Freundschaft und tatkräftige Hilfe in allen Lebenslagen ganz herzlich zu danken. Jeder, der ein gutes Verhältnis zu seiner Familie hat, weiß, dass solche Bindungen von unschätzbarem Wert sind. Bei Herrn Dr. Bart Besamusca möchte ich mich für die diversen Einladungen bedanken, die es mir erlaubten, auf Kongressen zu sprechen und Erfahrungen zu sammeln. Ich bin ihm auch, wie vielen meiner Kollegen in den Niederlanden, für die ausgesprochen kollegiale, mitmenschliche Art des Umgangs dankbar, die in diesem Land zu einem so angenehmen Klima unter den Gelehrten beiträgt, und die es auch einem Stundenten erlaubt, wie selbstverständlich an fachlichen Gesprächen teilzunehmen. Herrn Prof. Dr. Norbert Eke verdanke ich ebenso tatkräftige Hilfe wie den beide Sekretärinnen des deutschen Seminars der Universität von Amsterdam, Brigitte Ehrreich und Maaike Luttikhuis. Mein Dank gilt ganz allgemein allen meinen Lehrern, Freunden und Förderern, der Onderzoekschool Mediëvistiek in Groningen ebenso wie dem Instituut voor Cultuur en Geschiedenis der Universität von Amsterdam und V
nicht zuletzt der Nederlandse Organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (NWO).« Frau Nicole Degenhardt hat mit großer Sorgfalt und viel Engagement das Manuskript und die Druckfahnen korrekturgelesen. Ihr gilt unser besonderer Dank. Johan H. Winkelman
VI
Inhaltsverzeichnis
I
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.1 Zur Theorie der Figurendarstellung im höfischen Roman . . . I.2 Ein poetologischer Erzählerexkurs zur Funktionalität der Figurenrollen im Artusroman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.3 Verfahren, Aufbau und Hinweise zum Gebrauch . . . . . . . . .
1 2 11 16
II Gauvain in den Romanen Chrétiens de Troyes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II.1
Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
II.2
Die gattungstypischen Kennzeichen der klassischen Gauvainfigur als struktureller Bestandteil des arthurischen Hofensembles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
II.3
Das Hofensemble, der schwache König und die Initialkrise des Hofes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Der Verlauf der Initialkrise bei Chrétien de Troyes: Provokation, Stasis und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
II.3.1 II.4 II.4.1 II.4.1.1
II.4.2 II.4.2.1 II.4.2.2 II.4.2.3
Die Versromane ohne Gauvainqueste . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Gauvain in Erec et Enide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die Initialkrise in Erec et Enide. Eine programmatische Ausgangsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Gauvains Handeln in Erec et Enide. Das klassische Interaktionsmuster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Gauvain im Chevalier au Lion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Die Initialkrise im Chevalier au Lion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Gauvains Handeln im Chevalier au Lion . . . . . . . . . . . . . . . 53 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
II.5 II.5.1 II.5.1.1 II.5.1.2 II.5.1.2.1 II.5.1.2.2 II.5.1.3 II.5.2
Die Versromane mit Gauvainqueste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Gauvain im Chevalier de la Charrette . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Die Initialkrise im Chevalier de la Charrette . . . . . . . . . . . . 67 Die Gauvainqueste im Chevalier de la Charrette . . . . . . . . . 73 Antagonismus und Indirekte Mitverantwortung. . . . . . . . . . 74 Rektifikationsleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Gauvain im Conte du Graal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
II.4.1.2
VII
II.5.2.1 II.5.2.1.a II.5.2.1.b II.5.2.2 II.5.2.2.1
Die Initialkrise im Conte du Graal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Externe Krisenursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Interne Krisenursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Die Gauvainqueste im Conte du Graal . . . . . . . . . . . . . . . 111 Zwei gängige Thesen: religiös-ideologische Inferiorität der Figur und strukturelle Unterordnung der Gauvainhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 II.5.2.2.2 Indirekte Mitverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 II.5.2.2.3 Rektifikationsleistung. Das höfische Geschlechterverhältnis im Conte du Graal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 II.5.2.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
II.6
Das narrative Schwungrad: Interaktionsmuster der Gauvainfigur in den vier untersuchten ArtusAventiureromanen Chrétiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
III Rezeption und Entwicklung der Gauvainfigur in mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Versromanen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III.1
Auswahlkriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
III.2 III.2.1 III.2.1.1 III.2.1.2 III.2.2 III.2.2.1 III.2.2.2 III.2.2.2.1 III.2.2.2.2 III.2.3
Gawein (Walwan) bei Hartmann von Aue . . . . . . . . . . . . . Gawein im Erec . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage . . . . . . . . Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage . . . Gawein im Iwein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage . . . . . . . . Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage . . . Keiebild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gaweinbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 154 155 156 160 160 164 164 167 174
III.3 III.3.1 III.3.2 III.3.2.1 III.3.2.2 III.3.2.3 III.3.2.4 III.3.3
Gawan in Wolframs von Eschenbach Parzival . . . . . . . . . . Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage . . . . . . . . Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage . . . Neumotivation der Gawanhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Gawans Zweikampf mit dem Protagonisten . . . . . . . . . . . . Gawans Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Keiebild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 175 183 183 193 199 202 204
III.4 III.4.1 III.4.1.1
Die postklassischen Versromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Walewein im Roman van Walewein. . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Die Initialkrise im Roman van Walewein . . . . . . . . . . . . . 210
VIII
III.4.1.2 Die Queste im Roman van Walewein . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.1.2.1 Zur Ambiguität der Waleweinfigur: der Umschlag von der Funktion als Hofakteur zur Rolle des Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.1.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2 Gawein in der Crône . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.1 Die Initialkrise in der Crône . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.1.1 Erster Leerlauf des Schwungrads (valsche am Artushof) . . . III.4.2.1.2 Zweiter Anlauf des Schwungrads (Ginovers Untreue) . . . . III.4.2.2 Die Queste in der Crône: erster Handlungskreis . . . . . . . . III.4.2.2.1 ›Protagonist‹ Artus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.2.2 ›Protagonist‹ Gawein (Mitverantwortung und Rektifikationsleistung im ersten Handlungskomplex. Metaliterarische Alteritätserfahrung als Protagonist) . . . . . . III.4.2.2.3 Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.2.4 Dritter Anlauf des Schwungrades (Zaumzeugepisode) . . . . III.4.2.3 Die Queste in der Crône: zweiter Handlungskreis . . . . . . . III.4.2.3.1 ›Hofakteur‹ Gawein (Mitverantwortung und Rektifikationsleistung im zweiten Handlungskomplex. Metaliterarische Alteritätserfahrung als Hofakteur). . . . . . . III.4.2.3.2 Fünfter und vierter Anlauf des Schwungrades (5. Gralqueste und 4. Gawans vermeintlicher Tod) . . . . . . III.4.2.3.3 ›Protagonist‹ Keie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.4.2.4 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.5
228
253 259 262 267 267 274 277 277
282 291 292 295
295 305 314 319
Fazit: Figuraler Funktionswandel und Konstanz arthurischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .323
IV. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 IV.1 Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 IV.2 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
IX
sol ich des iemen triegen, sô müezt ir mit mir liegen
X
I
Einleitung
Gauvain (auch Gawein oder Walewein) ist der Name eines fiktiven Ritters aus den Romanen um König Artus und die Tafelrunde. Die vorliegende Studie untersucht Funktion und Interaktionsmuster dieser Figur in ausgewählten französischen, niederländischen und deutschen Versromanen des 12. und 13. Jahrhunderts. Der Begriff ›Figur‹ bezeichnet ein Bündel von Eigenschaften unter dem Oberbegriff eines Personennamens, das als Handlungsträger innerhalb einer Erzählung funktionalisiert wird. Mit dem Begriff der Figur sollen von nun an die Begriffsfelder ›Person‹ oder ›Charakter‹ und die mit ihnen assoziierten psychologischen Aspekte vermieden werden. Die ›Funktion‹ könnte man vereinfacht als die ›Rolle‹ bezeichnen, die eine Figur in einem Text spielt, weil dieser Ausdruck nämlich bereits das ›Gemachte‹ der Figur, also einen intentionalen Aspekt andeutet, der den Autor bei seinem Entwurf der Rolle geleitet haben mag. Genauer soll unter der Funktion einer Figur ein handlungsantreibendes oder handlungshemmendes, d. h. dynamisierendes, narratives Element verstanden werden, welches im Verlauf einer Erzählung dazu instrumentalisiert wird, einen bestimmten Teil des Textentwurfs zu realisieren. Die Herleitung und Brauchbarkeit dieser Definition wird in den beiden folgenden Abschnitten im Detail entwickelt (vgl. I.1 und I.2). In allen Romanen Chrétiens sowie allen nachklassischen Artus-Romanen, die hier untersucht wurden, kann eine konstante Funktion der Gauvainfigur bestimmt werden. Wie noch zu zeigen ist, besteht sie darin, durch ›berichtigende‹ Interventionen die Handlungsbewegung in den Texten zur Ruhe zu bringen. Gauvains Funktion hängt also mit Defiziten bzw. Störungen zusammen, auf die die Figur im Verlauf der Romanhandlung zu reagieren hat, und die jeweils in der ersten Hofszene programmatisch exponiert wird. Unter einem ›Interaktionsmuster‹ ist ein fester Kontext von Elementen einer Erzählung zu verstehen, in die die Handlungseinsätze einer Figur ursächlich oder abhängig involviert sind. Solche narrativen Elemente können etwa andere Figuren sein, die z.B. als Stichwortgeber auftreten. Es können aber auch markante Situationen sein, in denen das Handeln der Figur typischerweise unterdrückt oder provoziert wird. Allen Romanen Chrétiens sowie allen nachklassischen Artus-Romanen, die hier untersucht wurden, ist solch ein konstantes Muster gemeinsam, welches in der klassischen Literatur aus sieben Elementen besteht. Dieses Muster wird in den folgenden Kapiteln in Auseinandersetzung mit den Forschungsmeinungen an jedem Roman einzeln erläutert 1
und begründet. Eine graphische Veranschaulichung des Musters findet sich im Fazit zur Besprechung der Versromane Chrétiens de Troyes (vgl. II.6). Mit den vorausgehenden Definitionen ist die Fragestellung der hier vorgenommenen Untersuchung in den Kontext der strukturalistischen Methode gerückt. Dass der Strukturalismus die Begriffe Figur und Funktion zusammen dachte, ist seit Vladimir Propps Märchenanalyse von 1928,1 also seit bald acht Jahrzehnten fest in der Forschung etabliert. Doch trotz dieser Selbstverständlichkeit und der langjährigen Praxis eines pragmatischen Strukturalismus, gerade in der germanistischen Mediävistik, ist erstaunlicherweise bis heute nie ernsthaft eine systematische, funktionale Beschreibung der Gauvainfigur unternommen worden. Auch die Arthuristik nahm in Ermangelung eines Besseren oft genug mit Charakterstudien Gauvains vorlieb. Umso mehr dürfte es daher überraschen, dass neuere Strömungen in der Theoriebildung, die dazu ansetzen, mittelalterlichen, literarischen Figuren tatsächlich ein psychisches Innenleben in der Art echter Menschen zuzubilligen, welches es als Charakter zu analysieren gälte, bei ihrer Kritik am Strukturalismus vollkommen verkennen, dass die Funktion solcher Figuren wie Gauvain bisher noch kaum ermittelt wurde. Das bedeutet nichts anderes, als dass der ausgemachte Gegner der neuen Figurenbeschreibung die vermeintliche Fehlleistung einer auf die Funktion verengten Sicht der Figuren, für die er jetzt angegriffen wird, vielleicht geplant, aber nie ausgeführt hat. Warum es in dieser Situation notwendig ist, noch einmal zum pragmatischen Strukturalismus zurückzukehren, der die germanistische Artusforschung ansonsten prägte, und warum gerade die funktionale Beschreibungsperspektive heute die geeignetste ist, der Figur Gauvain auf den fiktiven Leib zu rücken, muss deshalb erst in Auseinandersetzung mit den konträren Standpunkten der Forschung erörtert werden (vgl. I.1). Diese methodische Standortbestimmung wird durch einen Exkurs in die mittelalterliche Literaturtheorie zur Rolle der Figuren unterstützt und gesichert (vgl. I.2). Zuletzt bietet die Einleitung einen Ausblick auf das weitere Verfahren sowie Hinweise zum Gebrauch der Studie (vgl. I.3).
I.1
Zur Theorie der Figurendarstellung im höfischen Roman.
Der Charakter der Gauvainfigur hat die Forschung immer wieder intensiv beschäftigt. Beiträge namhafter Autoren wie u. a. Whiting, Nitze, Homberger, Frappier, insbesondere aber die bekannte Studie von Keith Busby aus den 80er Jahren haben in der Arthuristik zur Verfestigung eines bestimmten Bildes die1
Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hrsg. von Karl Eimermacher. Frankfurt a.M. 1982 (1. russ. Ausgabe 1928).
2
ser Figur geführt,2 welches nicht nur die Stärken und vor allem die vermeintlichen Schwächen dieses – dort als fiktionale ›Person‹ gedachten – Ritters beschrieb, sondern welches unweigerlich auch für die Romane mit Gauvainhandlung weitreichende, interpretative Konsequenzen hatte, die freilich unter der Perspektive der Funktionalität des Handelns Gauvains in der hier unternommenen Studie ganz anders zu bewerten sind. Mit der Entscheidung, nicht den Charakter, sondern die Funktion einer literarischen Figur zu ermitteln, begibt man sich heute in methodisch unsicheres Gebiet. Walter Haug hat jüngst mit leiser Kritik auf eine »seit geraumer Zeit« in der Forschung sich abzeichnende Tendenz aufmerksam gemacht, »gegenüber dem bislang gängigen Zugriff vom strukturellen Konzept her, die handelnden Figuren in ihrem Erkennen und Wollen stärker in den Vordergrund zu rücken«.3 Das Unterordnen der Figuren unter die strukturellen Vorgaben der Texte gilt demnach inzwischen als überholt. Dabei kann wie gesagt keine Rede davon sein, dass die Funktion etwa der Gauvainfigur in den Romanen Chrétiens schon ausreichend beschrieben worden ist. Bislang galt Gauvain nach funktionalen Kriterien allenfalls als der Vergleichsmaßstab, an dem die Qualifikation bzw. die Würde anderer Ritter abgelesen werden kann, die sich mit ihm im Zweikampf messen oder die Ehre haben, sich zu seinen Freunden rechnen zu können. Damit sind die komplexen, mitunter widersprüchlich wirkenden Handlungsmuster, die Gauvain in Chrétiens Romanen zeigt, noch bei weitem nicht erklärt. Im Gegenteil, eine solche Sicht führt notwendigerweise zu Inkonsistenzen, wie etwa Günther Schweikle sie in der Darstellung der Gaweinfigur in Hartmanns Iwein konstatierte, deren »unheilvolle Rolle« nicht recht zu seiner Qualifikation als positiver Artusritter passe.4 Es herrscht jedoch neuerdings »Einverständnis darüber, daß der Strukturalismus ein sehr wichtiges Kapitel nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern allgemeiner der Ideengeschichte darstellt, das nun endgültig als abgeschlossen« betrachtet werden könne.5 Nur wird dabei stillschweigend darüber hinwegge-
2
3
4
5
Vgl. u. a. B.J. Whiting: ›Gauvain. His Courtesy and Appearance in Chaucer’s Squire’s Tale‹, in: Medieval Studies IX (1947), S. 189–234; William A. Nitze: ›The Charakter of Gauvain in the Romances of Chrétien de Troyes‹, in: Modern Philology 50 (1952/53), S. 219–225; Dietrich Homberger: Gawein. Untersuchungen zur mittelhochdeutschen Artusepik. Inaugural-Dissertation. Bochum 1969; Jean Frappier: Étude sur Yvain ou Le Chevalier au Lion de Chrétien de Troyes. Paris 1969; Keith Busby: Gauvain in Old French Literatur. Amsterdam 1980. Walter Haug: ›Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram‹, in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von John Greenfield. Porto 2004, S. 37–65, S. 37. Günther Schweikle: ›Zum »Iwein« Hartmanns von Aue. Strukturale Korrespondenzen und Oppositionen‹, in: Problem des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käthe Hamburger. Hrsg. von F. Martini. Stuttgart 1971, S. 1–21, S. 19. Serena Grazzini: Der strukturalistische Zirkel. Theorien über Mythos und Märchen bei Propp, Lévi-Strauss, Meletinskij. Wiesbaden 1999, S. 1.
3
gangen, dass »während die zugrundeliegenden Prinzipien als überholt« gelten, man in der Praxis, bei den »Mitteln der Interpretation, an [d]em Instrumentarium vielfach fest[hält]«.6 Selbst Matthias Meyer, der den verhältnismäßig pragmatischen Strukturalismus der germanistischen Mediävistik nicht nur selbst angewandt, sondern auch wiederholt kritisiert hat, räumt ein, »there are romances where this kind of interpretation succeeds and is, in fact, a conditio sine qua non«.7 Auch Meyer möchte also seinen Ansatz, die Gaweinfigur »as a ›real‹ individual« zu lesen, auch in Zukunft durchaus in Verbindung mit »other types of approach (like progression or intertextuality or, indeed, structuralism)« verknüpft wissen.8 Meyers Ansatz, eine psychologisierende Figurenperspektive mit der vermeintlich überholten, strukturalistischen Methode zu kombinieren, legt den Finger auf einen wunden Punkt der älteren Forschung. Der Strukturalismus als solcher hat sich lange mit der Figurenperspektive schwer getan.9 »La catégorie du personnage est, paradoxalement, restée l’une des plus obscures de la poétique«.10 Als Ausweg sucht Meyer quasi nach dem ›dritten Weg‹, nämlich einem »durch drei Komponenten bestimmte[n] Charakterbegriff«, der sich offenbar in der Mitte der Achse zwischen der herkömmlichen, »binäre[n] Opposition Typ – Charakter« ansiedeln ließe.11 Vorgelegt hat dieses dreiteilige Modell eines ›literary character‹ der amerikanische Literaturwissenschaftler James Phelan. Nach dessen Vorstellung reiche es aus, wenn Autor und Publikum eine »working notion of what a person is« miteinander teilten, die sich ungefähr zur Deckung bringen lasse mit der Einstellung:»some belief that characters can (or indeed cannot) represent persons.«12 Aus dieser Formulierung leitet Meyer »die Möglichkeit unpsychologischer, literarischer Charaktere« ab, mit denen er selbst nun »methodisch offensiv« umgehen möchte.13 Und das bedeute konkret, jenen, den mittelalterlichen Figuren attribuierten,
6 7 8 9
10 11
12 13
S. Anm. 5. Matthias Meyer: ›It’s hard to be me, or Walewein/Gawan as hero‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von B. Besamusca, E. Kooper. Cambridge 1999, S. 63–78, S. 77f. S. Anm. 7. Die zwei wichtigsten Modelle zur Figurenanalyse des Strukturalismus referiert Thomas Koch: ›Literarische Menschendarstellung. Studien zu ihrer Theorie und Praxis. (Retz, La Bruyère, Balzac, Flaubert, Proust, Lainé)‹, in: Romanica et Comparatistica. Bd. 18. Tübingen 1991, vgl. Kap. 6, S. 198–231. Philippe Hamon: ›Pour un statut sémiologique du personnage‹, in: Poétique du récit. Hrsg. von R. Barthes u. a. Paris 1977, S. 115–180, S. 116. Matthias Meyer: ›Struktur und Person im Artusroman‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 145–163, S. 147. James Phelan: Reading People, Reading Plots. Character, Progression, and the Interpretation of Narrative. Chicago/London 1989, S. 11. Matthias Meyer: ›Der Weg des Individuums. Der epische Held und (s)ein Ich‹, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Germanistische Symposien. Bd. 23. Hrsg. von U. Peters. Stuttgart 2001, S. 529–545, S. 535.
4
»emotionale[n] Zustände[n] durchaus psychische Qualität« zuzuschreiben, und sie »mit psychischen Kriterien« zu dekodieren.14 In Opposition zu dem alten, strukturalistischen Ansatz, ›Personen‹ in einem Text als das Ergebnis einer Summe sprachlicher Zeichen aufzufassen, oder auf einem höheren Abstraktionsniveau als eine Menge von Eigenschaften, denen ein Personenname zugeordnet wurde, macht sich Phelan dafür stark, bei der Analyse die ›mimetische‹ Komponente der Figurendarstellung mehr in den Vordergrund zu rücken. So kritisiert er die These von Jonathan Culler, dass zwar die befriedigendste Lektüre eines Werkes »may depend on what we call involvement with characters, but successful critical investigation of a novel, as a literary construct, may require thinking of characters as sets of predicates grouped under proper names.«15 Dies eben genügt James Phelan, der seine Studie im Vorwort übrigens selbst als eine Geschichte (a story) bezeichnet,16 nicht mehr, denn die Strukturalisten übersähen, dass diese Eigenschaften oder Qualitäten, die unter dem Etikett des Personennamens gebündelt sind, nur durch Interpretation derselben als Person in eine literarische Figur verschmolzen würden. Phelan: »the predicates (or qualities) sometimes must be inferred from seeing a proper name associated with speech, thought or action [...].«17 Der Akt der Interpretation auf Seiten des Publikums soll also den Paradigmenwechsel rechtfertigen. Phelans Ansatz ist somit ein rezeptionsgesteuerter, der dasselbe Publikum mit der Terminologie von Peter Rabinowitz in zwei ›audiences‹ auseinanderlegt, nämlich die sogenannte »narrative audience«, das Publikum, welches der mimetischen Illusion unterliege und die Textsignale als ›echte Person‹ zusammensetze und andererseits die sogenannte »authorial audience«. Bezüglich letzterer konzediert Phelan: »the authorial audience has the double consciousness of the mimetic and the synthetic«,18 also sowohl die Illusion einer ›echten Person‹ als auch die Einsicht in die Gemachtheit derselben als literarische Figur. Überlegungen der Art, dass literarische Figuren als Resultat eines dynamischen Rezeptionsprozesses zur imaginierten Person zusammengesetzt werden, sind auch in Deutschland schon seit längerem in die Theoriebildung eingeflossen. Thomas Koch referiert beispielsweise den von Wolfgang Iser geforderten »Paradigmenwechsel im literaturwissenschaftlichen Umgang mit literarischen (Erzähl-)Texten«, für den es nicht darum gehe, das »Werk als codierte Botschaft [...] in das rückzuübersetzen, was der Autor eigentlich meint.«19 Für Iser werde stattdessen das, »worauf der Text referiert – die erzählte Wirklichkeit [...] erst vom Leser im Rezeptionsvorgang erzeugt«, woraus Iser ableite, dass eine 14 15 16 17 18 19
S. Anm. 13. Jonathan Culler zitiert nach James Phelan: Reading People, 1989, S. 3. Phelan: Reading People, 1989, (Preface) S. ix. S. Anm. 16, S. 4. S. Anm. 16, S. 5. Koch: Literarische Menschendarstellung, 1991, S. 237.
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historische Lesart der Werke »an der Produktion von Sinn im Akt des Lesens« vorbeigehe.20 Ähnlich wie Iser die Ausdrucksebene der Werke gegenüber der Inhaltsebene in den Vordergrund rücken will, verschiebt Phelan den Fokus von der Anordnung der narrativen Elemente auf das Erlebnis ihrer Wirkung. Doch dabei könnte der Untersuchungsgegenstand dem prekären Balanceakt der Theorie leicht entgleiten. Statt der mimetischen Komponente in den Texten könnte die – vom Analytiker vermutete – mimetische Illusion außerhalb der Texte, also das dem Publikum unterstellte kreativ-produktive Verfahren der Imagination unter das literaturwissenschaftliche Brennglas rutschen. Hier lauert sogleich die Gefahr eines Zirkelschlusses, denn mit der kreativen Produktivleistung des Publikums, der mimetischen Illusion, als methodischer Voraussetzung der Analyse will Phelan schlussendlich dieselbe Produktivleistung, aber nun als den »effect of a work«21 im Ergebnis der Analyse wieder herausbekommen. Phelan preist es ja gerade als den Vorteil der ›mimetic analysis‹ gegenüber der strukturalistischen Analyse, dass »where the structuralist remains suspicious of the emotional involvement that comes from viewing the character as a possible person, the mimetic analyst regards that involvement as crucial to the effect of the work.«22 Thomas Koch macht auf ein anderes Problem des rezeptionstheoretischen Ansatzes bei Iser aufmerksam: »Iser klammert nicht nur die Darstellungsfunktion von Erzähltexten aus seinen Betrachtungen aus, er läßt auch einen möglichen Bereich wirkungsästhetischer Untersuchungen außer Betracht, nämlich die elementare, sozusagen die »materielle« Voraussetzung der Sinnbildung durch den Leser im Rezeptionsvorgang.«23 Stattdessen habe aber Herbert Grabes »trotz seines ganz anders orientierten, [...] sozialpsychologischen Begriffsrahmens [...] mit dem Konzept des »Prozeßprofils« am ehesten den Ansatzpunkt für eine Anwendung von Isers [...] Begriffsinventar auf die Figurenanalyse« gefunden.24 Danach entstehe die literarische Figur durch eine Imaginationsleistung des Publikums, die sich im Spannungsfeld »zwischen zwei ›Persönlichkeitstheorien‹, der des Autors und der des Lesers« vollziehe. Im Gegensatz zu Iser sehe Grabes die Notwendigkeit, seinen rezeptionstheoretischen Ansatz außerhalb der Literaturtherorie in anderen Diskursen zu verankern. Koch referiert: »Da die Persönlichkeitstheorie, die die Entstehung imaginärer Personen in der Vorstellung des Lesers leitet, letztlich ausschlaggebend dafür ist, wie diese imaginären Personen ausfallen, meint Grabes, daß die literaturwissenschaftliche Interpretation eines Werkes, die von einer überzeitliche Geltung beanspruchenden Persönlich-
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S. Anm. 19. Phelan: Reading People, 1989, S. 8. S. Anm. 21. Koch: Literarische Menschendarstellung, 1991, S. 239. S. Anm. 23, S. 239.
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keitstheorie – etwa der psychoanalytischen – ausgeht, diese Persönlichkeitstheorie fast zwangsläufig durch die Figuren im Werk illustriert findet – weil sie sie nämlich in den Text hineinliest! Grabes plädiert deshalb gegen die synchronisch-psychologische Figurenanalyse und für eine (sozial-, kultur- bzw. mentalitäts-) historische Untersuchung, bei der jeweils die historisch bedingte Persönlichkeitstheorie eines Autors unter Berücksichtigung seines Umfeldes rekonstruiert wird.«25
Zweierlei ist hieraus zu ersehen. Erstens wird man ohne eine genaue Orientierung an den soziohistorischen Umständen der Textgenese und damit den Grundlagen der jeweiligen Figurenkonzeption wohl kaum zu tragfähigen Erkenntnissen über die Figuren im Werk gelangen, worauf gleich im Kontext der mittelalterlichen Figurenkonzeption noch zurückzukommen ist. Zum anderen wird man nebenbei auf eine Achillesferse dieser literaturwissenschaftlichen Theoriebildung aufmerksam, nämlich dass sie geneigt ist, sich nicht nur auf Erkenntnisse anderer Disziplinen zu stützen, sondern vielleicht auch allzuleicht ihre Erkenntnisfähigkeit von fremden Disziplinen abhängig zu machen. James Phelan selbst bemerkt die Grenzen des eigenen Diskurses, wenn er auf Wissenschaften wie »biological, philosophical, psychological, sociological, and economic territories«26 hinweist ohne sich allerdings ernsthaft auf diese Gebiete zu begeben. Matthias Meyer bringt die Neurologie ins Spiel,27 um der ›Individualität‹ des mittelalterlichen Menschen nachzuspüren und von dort aus eine mimetische Komponente als psychologische Individualisierung der Figuren in den höfischen Versromanen annehmbar zu machen. Dabei ist die Erkenntnis, dass den mittelalterlichen Figuren eine mimetische Komponente mitgegeben ist, die den Eindruck personaler bzw. psychologischer Befindlichkeit erzeugen sollte, ganz bestimmt nicht neu. Abgesehen von der textanalytischen Praxis, die sich bereits länger für qualifizierende Epitheta und andere charakterliche Qualifikationen einer Figur interessiert hat, war man sich auch schon eine Weile darüber im Klaren, dass die »gedachte Alleinrede« und damit der »reflektierende, auf sich selbst besinnende Held zum Markenzeichen des ›höfischen Romans‹« gerechnet werden darf,28 dass also der Figur in diesem Genre eine neue Ebene eröffnet wird, die ihr in älteren Genres wie den ›chanson de geste‹ oder der heroischen Epik weitgehend verschlossen blieb. Auch Meyer räumt übrigens ein, dass der Artusroman »bekanntlich« sowohl »auf ein topisches Repertoire« konventionalisierter, emotionaler Gesten zur Darstellung psychischer Extrem-
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S. Anm. 23, S. 236f., Anm. 15. Phelan: Reading People, 1989, S. 11. Meyer: Weg des Individuums, 2001, vgl. S. 536f. Klaus Zatloucal: ›Gedanken über den Gedanken. Der reflektierende Held in Heinrichs von dem Türlin »Crône«‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr. 16. Wien 1981, S. 293–316, S. 301.
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situationen als auch auf einen aus der Antike übernommenen, »ovidianische[n] Typus des ›inneren Monologs‹« zurückgreifen könne.29 Nach wie vor also ist jede Studie einer literarischen Figur vor die Grundentscheidung gestellt, sich zu den zwei diametral entgegengesetzten Positionen von Funktion oder Charakter zu verhalten. Damit steht jede solche Studie scheinbar vor dem Dilemma, einerseits eine Methode anwenden zu müssen, deren theoretische Grundlagen allgemein als überholt gelten oder andererseits in die Untiefen psychologisierender Lesungen zu verfallen, »ou se confondent perpétuellement les notions de personne et de personnage.«30 Diese Entscheidung ist jedoch nur vermeintlich eine zwischen Scylla und Charybdis, denn anstatt nach einem ›goldenen Mittelweg‹ zwischen zwei Ungeheuermäulern zu suchen, wird man sie maßgeblich von den Charakteristika des Genres abhängig machen lassen müssen, in welches die zu untersuchende Figur eingebunden und durch welches sie determiniert ist. Die wichtigsten, methodischen Kritikpunkte Meyers am Strukturalismus nämlich, dass »die Abstraktionsebene, auf der die Struktur errichtet wird, [...] völlig arbiträr« sei und dass »ab einer bestimmten Höhe der Abstraktionsebene viele Texte einer vorgefassten Struktur untergeordnet werden können«,31 sind in der mediävistischen Literaturwissenschaft keineswegs unberücksichtigt geblieben. Insbesondere die germanistische Literaturwissenschaft hatte sich von jeher an einer pragmatischen Methodik ausgerichtet, deren »induktive, gattungsbezogene Strukturforschung [...] von den (zeitlich späteren) Ansätzen französischer Strukturalisten wie etwa denen von A.J. Greimas in der Fortentwicklung der Märchenanalyse Vl. Propps« abgetrennt blieb.32 Schon Ende der 70er Jahre war es daher in der Altgermanistik weitgehend konsensfähig, dass Versuche, auf höchster Abstraktionsebene eines Textes »universale Modelle zu entwickeln, aus denen jede Erzählung abzuleiten wäre«, als »gescheitert« zu gelten hätten.33 Warning hatte stattdessen das Konzept der literarischen Gattung als eben jenes Bezugssystem dritter Ordnung ins Spiel gebracht, welches den methodischen Problemen des Strukturalismus durch pragmatische Abgrenzungen begegnen sollte. In Auseinandersetzung mit den rein deduktiv gewonnenen Strukturbeschreibungen von Greimas konnte Warning damals zeigen, dass Struktur und
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Meyer: Struktur und Person, 1999, S. 156. Hamon: Statut sémiologique du personnage, 1977, S. 116. Meyer: Struktur und Person, 1999, S. 146. Christoph Cormeau: ›Artusroman und Märchen. Zur Beschreibung und Genese der Struktur des höfischen Romans‹, in: Wolfram-Studien V (1979), S. 63–78, S. 63. Rainer Warning: ›Formen narrativer Identitätskonstruktion im höfischen Roman‹, in: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. IV. Le roman jusqu’à la fin du XIIIe siècle. Hrsg. von H.R. Jauss, E. Köhler. Heidelberg 1978, S. 25–59, S. 56.
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Ablauf des höfischen Romans in entscheidendem Maße durch »axiologische Besetzungen« bestimmt sind.34 Das bedeutet, dass sie wesentliche, ordnende Elemente von zeitgenössischen Wertsystemen (man denke etwa an das der höfisch-ritterlichen Ethik) von außerhalb der Textebene (Warning spricht von der »Handlungswelt« des impliziten Autors) empfängt, womit dem methodischen Problem vorgebeugt werden sollte, dass eine solcherart identifizierte Struktur erst nachträglich arbiträr (durch Deduktion des Analytikers) in einem Text errichtet werde. Der implizite Autor nämlich, den die generativ-strukturalistische Methode ja ganz aus ihrer narrativen Grammatik hatte ausschalten wollen, vermittle über seine Auswahl der Erzählschemata und seine spezifische Erzählhaltung »mit den Konventionen jener lebensweltlichen Situation, aus der heraus und in die hinein erzählt wird.«35 Warning sah also in den axiologischen Besetzungen, die den generativ-transformationellen Paradigmen des französischen Strukturalismus von außen Grenzen setzen, das pragmatische Element der Gattung, nämlich ihren »Sitz im Leben«,36 und propagierte folglich eine induktive Herangehensweise. Seine Forderung, »die Suche nach universalen Typen von Sprachhandlungen [...] zurück[zu]stellen zugunsten der Beschreibung empirisch vorfindbarer Handlungsschemata von mehr oder weniger hoher historischer Konstanz« bezog sich auf Muster,37 die nur in Abhängigkeit von den Gattungskonventionen auftreten und beschrieben werden können. Bezüglich der Figurendarstellung im höfischen Roman hat Christoph Huber 2002 erneut die längstens bekannte Gattungstypik bestätigt. Denn »während realistisch-mimetisches Erzählen [...] notwendig ›psychologisierende‹ Bahnen einschlägt«, orientiert das »vormoderne, typus- und rollenbetonte Erzählen [...] seine Erzählsyntax an formelhaften Zusammenhängen, die in einfachen oder komplexeren Strukturschemata, in präformierten Handlungsabläufen, vorgegeben sind und im Hinblick auf diese variiert werden.«38 Auch Huber weist darauf hin, dass die literarische Darstellung im höfischen Roman durchaus »streckenweise in die Darstellung der Innenwelt der Gestalten eintauchen« kann39 und bestätigt damit Zatloucals oben zitiertes Diktum vom reflektierenden Helden als ›Markenzeichen‹ des höfischen Romans. Doch eine literarische Gattung, in welcher die Figuren stereotyp in ähnlichen Handlungszusammenhängen begeg-
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S. Anm. 33, S. 31. Rainer Warning: ›Heterogenität des Erzählten – Homogenität des Erzählens. Zur Konstitution des höfischen Romans bei Chrétien de Troyes‹, in: Wolfram-Studien V (1979), S. 79–95, S. 80. Warning: Identitätskonstruktion, 1978, S. 56. S. Anm. 36, S. 29. Christoph Huber: ›Brüchige Figur. Zur literarischen Konstruktion der Partonopier-Gestalt bei Konrad von Würzburg‹, in: Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von M. Meyer, H.-J. Schiewer. Tübingen 2002, S. 283–308, S. 288f. S. Anm. 38, S. 299.
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nen, in welcher innere Monologe und selbst Dialoge in geringerem Umfang als auktoriale Handlungsbeschreibungen und Verständnisinstruktionen auftreten, kurz ein Genre, in welchem die Manifestationsebene der Figuren, die ihnen eine ›individuelle Gestalt‹ verleiht, hinter die Ebene ihrer Funktion als Handlungsträger zurücktritt, ihre ›individuelle‹ Autonomie als ›Personen‹ hinter die Regie des Erzählers mit seinen stofflichen Vorgaben und dichterischen Absichten, wodurch »die Anfänge dessen [...], was wir unter [...] Charakteren verstehen, weithin aufgehoben werden in einer [...] voll ausgebildeten Erzählerrolle«,40 ein solches Genre eignet sich nicht für eine psychologisierende Charakterstudie. Selbst Konrads von Würzburg Partonopier-Gestalt, wo einmal der umgekehrte Fall eingetreten sei, dass sich die »auktoriale Erzählperspektive [...] ganz in die Wahrnehmung des Akteurs zurückgezogen« habe und »keine von dieser Subjektivität der Wahrnehmung losgelöste und objektive Instanz mehr« darstelle, 41 also mutmaßlich das Paradebeispiel für die Vertreter der psychologisierenden Lesung, die an dieser Figur endlich das Paradigma des höfischen ›Charakters‹ exemplifizieren könnten, erweist sich in Christoph Hubers akribischer Studie eben doch nur als Folge eines »amplifizierenden Verfahren[s], das an der Oberfläche der Textausarbeitung [bei der Adaptation der französischen Vorlage] nicht streng gezügelte, assoziative Denkbewegungen zuläßt«, mithin als ein »Erzählexperiment des gelehrten Konrad« welches »subversiver« sei, »als seine gleichfalls gelehrten Ausleger das wahrhaben möchten.«42
Zwei Sentenzen lassen sich soweit festhalten: Das Unterfangen einer psychologisierenden Figurenbeschreibung der höfischen Literatur läuft Gefahr, vermutete Imaginationsleistungen des Publikums in die Texte hineinzulesen und geht damit an den Gattungskonventionen vorbei. Es kennzeichnet sich übrigens durch Theorietransfers aus fachfremden Gebieten, deren Kompatibilität mit der Literaturwissenschaft noch nicht hergestellt scheint. Die pragmatisch strukturalistische Methodik wiederum hat längstens auf Kritik reagiert und Instrumente entwickelt, die ihre Ergebnisse im Gattungshorizont und im soziokulturellen Umfeld der Textgenese – dem ›Sitz im Leben‹ – verankern. Erstaunlicherweise hat sich an der Substanz der pragmatisch-strukturalistischen Beschreibung der Artusliteratur trotz der einen oder anderen »sympathisch wilde[n] Invektive«43 (auf die noch zurückzukommen ist) seit den ersten Ansätzen bei Kellermann, mithin seit fast 60 Jahren eigentlich nicht viel verändert. Insbesondere an den Typenkonstanten, sozusagen dem genetischen Grundprogramm, durch welches man sich Artusliteratur definiert denkt, wird bis in die jüngste Zeit mehr oder weniger eisern festgehalten. Dabei bestünde Anlass, 40 41 42 43
Warning: Identitätskonstruktion, 1978, S. 57. Ralf Simon zitiert nach Huber: Brüchige Figur, 2002, S. 290. Huber: Brüchige Figur, 2002, S. 303. Haug: Warum versteht Parzival nicht, 2004, S. 40, Anm. 10.
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gerade diese einer ›Wartung‹ zu unterziehen, insbesondere im Blick auf die Inhalte der Romane selber, die ja in Wahrheit immer weit komplexere Verhältnisse inszenieren, als die kanonisierten Vorstellungen von einer idealen Festsituation am Anfang jedes Textes, einer unbedingten Vorbildlichkeit der Königsfigur oder einer angeblich die Handlung in Gang setzenden Provokation von außen es wahrhaben wollen. Betrachtet man die klassischen Versromane aus der Figurenperspektive, d. h. quasi am Handeln der Figuren entlang, ergeben sich zwar ähnliche, aber eben doch weit differenziertere Muster, die später noch genau zu diskutieren sind. Deshalb will die vorliegende Studie inventarisieren, welche narrativen Grundmuster und welche Formen der Verknüpfung den Autoren in Bezug auf ihre Kernfiguren tatsächlich zur Verfügung standen. Hierher gehört auch – und zwar ebenfalls als ein Diskurs der Texte – die Frage, wie die Autoren der Artusliteratur selbst ihre Figuren konzeptionell gesehen und entworfen haben. Mit Diskurs ist eine terminologisch gebildete Rede gemeint, also ein geschlossener Wortschatz aufeinander abgestimmter Begrifflichkeiten, die ein übergeordnetes Denkmuster zusammensetzen. In den höfischen Romanen findet nach diesem Verständnis ja nicht nur der Diskurs des fin amors oder der âventiure statt, sondern eben auch der poetologische des dichterischen Handwerks. Dort, wo der Erzähler von dem einen in den anderen Diskurs wechselt, ist die Literaturwissenschaft immer schon hellhörig geworden, denn auch wenn Autorintention und literarisches Produkt nicht als deckungsgleich zu betrachten sind, unterrichtet der poetologische Diskurs jedenfalls über denkbare, narrative Muster im Fundus des Erzählers, das heißt, er eröffnet einen Einblick in den Horizont der vom Erzähler selbst erkannten Gestaltungsmittel bei seiner Arbeit.
I.2
Ein poetologischer Erzählerexkurs zur Funktionalität der Figurenrollen im Artusroman
Angelica Riegers Auffassung, dass, wenngleich die Frauenfiguren viel zum Charme der Chrétien’schen Werke beitrügen, »...cela ne doit pas faire oublier leurs rôles presque exclusivement fonctionels. Chrétien les utilise sans scrupules à ses fins narratologiques«,44 illustriert eine gängige Praxis der Forschung, insbesondere Nebenrollen im Artusroman unter dem funktionalen Aspekt sehen zu wollen. Isolierte Aspekte der Funktionalität solcher nachrangigen Figurenrollen in den klassischen Versromanen sind bereits in verschiedenen Einzeldarstellungen immer wieder zur Sprache gekommen. Was für die weiblichen
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Angelica Rieger: ›Balade des demoiselles de temps jadis. Essai sur l’entrée en scène des personnages féminins dans les romans arthuriens de Chrétien de Troyes‹, in: Arthurian Romances and Gender. Hrsg. von F. Wolfzettel. Amsterdam 1995, S,79–103, S. 101.
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Nebenfiguren in Chrétiens Werk zutrifft, beschrieb z.B. Hartmut Kugler auch für die männlichen. Er bescheinigte z.B. der Figur des Waldmenschen im Iwein eine »fast pflanzliche Ortsfestigkeit«, während der Brunnenritter »gleichsam auf Knopfdruck von seiner Burg heruntergestürmt« komme.45 Unterbelichtet bleibt bei diesen empirischen Zugriffen ihre literaturtheoretische Verankerung in der Poetologie der höfischen Erzähler. Dabei gibt es meines Wissens eine eindeutige Äußerung eines höfischen Dichters zu dieser Frage. Sie stammt von Godefroi de Leigni, dem Fortsetzer von Chrétiens Chevalier de la Charrette, der bekanntlich par le boen gré Crestiën [V.7106] (›mit dem vollen Einverständnis Chrétiens‹) den Roman vollendete. Die Berufung Godefrois auf Chrétiens Zustimmung zu seiner Fortsetzertätigkeit sollte man nicht ohne Not bezweifeln. Ich folge F. Douglas Kellys Auffassung, dass Godefroi »not only shows he is aware of structural unity in the Charrette, but also that his idea of it conforms in all points to what Chrétien’s must have been.« 46 Godefroi sucht zudem, wie gleich noch zu besprechen ist, in seinem poetologischen Exkurs enge Anlehnung an die Terminologie Chrétiens in dessen Prolog, strebt also danach, seine theoretischen Positionen mit denen des Meisters zur Deckung zu bringen. Hieraus und aus weiteren, gleich zu benennenden Indizien darf wohl abgeleitet werden, dass die Position Godefrois keine ›persönliche‹ Laune dieses Fortsetzers, sondern eine vom Schöpfer des Genres geteilte Sicht auf das Erzählen in höfischen Versromanen gewesen ist.
Godefrois Einlassung zur Funktionalität der Figurenrollen in den klassischen Artusromanen ist wie folgt in den Text eingebettet: Nachdem Lancelot von seinem Widersacher Méléagant in einen Turm eingemauert und in eine aussichtslose Lage gebracht wurde, berichtet Godefroi von einer Szene in der Stadt Bade, wo sich die Hofgesellschaft (darunter auch die Damen) zum Geburtstag des Königs Baudemagus in höfischer Freude zusammengefunden haben. Die Stimme des Erzählers meldet sich zu Wort und führt aus [V.6242-V.6251]: Mes une en i ot avoec eles (cele estoit la suer Meleagant) don bien vos dirai ça avant mon pansser et m’antencïon; mes n’an vuel feire mancïon, car n’afiert pas a ma matire que ci androit an doie dire, ne je ne la vuel boceier ne corronpre ne forceier, mes mener boen chemin et droit. 45
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Hartmut Kugler: ›Über Handlungsspielräume im Artusroman und im Märe‹, in: Personenbeziehungen in der Mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von H. Brall, B. Haupt und U. Küsters. Düsseldorf 1994, S. 251–267, S. 252. F. Douglas Kelly: Sens and Conjointure in the Chevalier de la Charrette. Den Haag 1966, S. 94.
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[Aber unter diesen (Damen bei Hof) befand sich eine – diese war die Schwester von Méléagant – , hinsichtlich welcher ich Euch sehr bald meine Überlegungen und meine Absichten mitteilen werde; aber an dieser Stelle möchte ich dazu noch nichts sagen, weil es hier nichts zu meiner Erzählung beiträgt, die ich nicht verbiegen, untergraben oder überspannen möchte, sondern auf dem richtigen, geraden Weg fortlaufen lassen will.]47
Der Leser wird hier also zunächst darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Schwester Méléagants unter den Hofdamen befindet, jene Figur übrigens, die später zur Suche und Rettung des gefangenen Lancelot aufbricht, erstaunlicherweise in der Rolle einer weiblichen chevalière errante. Godefrois und natürlich auch Chrétiens ironischer Umgang mit solchen Figuren und ihren Rollen, der also gelegentlich durchaus in der radikalen Inversion klassischer Schemata bestehen kann, ist nicht nur in der Charrette, sondern beispielweise auch im Chevalier au Lion wiederholt von der Forschung bemerkt worden. Diese Form der Ironie im Umgang mit gattungstypischen Rollen darf gewiss als erstes Indiz für das Wissen der Autoren um deren Funktionalität gewertet werden. Im Sinn Rainer Warnings ist sie als eine jener Wahlentscheidungen des impliziten Autors zu bezeichnen, mit denen dieser auf die ihn umgebenden, lebensweltlichen Konventionen reagiert, wodurch also ihre Bezogenheit auf den historischen Handlungskontext aufscheint. Denn aus einer solchen Erzählweise spricht ja »ein ironisches Spiel«, welches zwar nicht als Kritik »überinterpretiert« werden darf, welches jedoch die höfischen Normen »durch ihre narrative Vermittlung hindurch zu sehen« erlaubt.48 Mit anderen Worten, die ironische Distanz macht einerseits das raffinierte Spiel der Autoren mit ihren funktionalen Figurenrollen sichtbar, lässt aber zugleich auch dessen ›Sitz im Leben‹ erkennen. Obwohl nun die Figur der Schwester Méléagants bereits beim Fest des Baudemagus im Bade auftritt, wodurch der Erzähler Gelegenheit hat, die Aufmerksamkeit des Publikums erstmals gezielt auf sie zu lenken, möchte ›Godefroi‹ – mit diesem Namen identifiziert sich der Erzähler ja an späterer Stelle – seine Geschichte nicht durcheinander bringen. Er macht noch keine weiteren Einlassungen zu ihr, sondern fährt zunächst fort, seine Erzählabsichten der Reihe nach zu verfolgen. Dennoch verspricht Godefroi don bien vos dirai ça avant mon pansser et m’antencïon [V.6244f.], dass er uns sehr bald seine Überlegungen und Absichten (!) bezüglich dieser Figur mitteilen will. Jean-Claude Aubailly paraphrasiert diesen Satz mit den Worten: »…dont je vous dirai bientôt quel rôle je compte lui faire jouer.«49 Diese vereindeutigende Übersetzung lässt sich auf 47
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Die hier gegebenen deutschen Übersetzungen stammen, wenn nicht anders gekennzeichnet, jeweils von mir. Sie stellen lediglich eine Verständnishilfe dar, die meine Auffassung der entsprechenden Textstelle verdeutlichen soll und erheben keinen Anspruch auf Zitierbarkeit. Warning: Identitätskonstruktion, 1978, S. 50. Jean-Claude Aubailly : Chrétien de Troyes. Lancelot ou le chevalier de la charrette. Altfranzösisch-Neufranzösisch. Paris 1991, S. 383.
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die nachfolgenden Aussagen stützen, in denen mit Blick auf den angestrebten, geradlinigen Erzählverlauf eine eingehendere Darstellung der Figur der Schwester Méléagants zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen wird. Die Übersetzung Aubaillys vereindeutigt, dass der Autor eine Figur entworfen habe, die ›jetzt schon‹ in die Erzählung eingeführt wird, um ›später‹ eine bestimmte Rolle darin zu spielen. Aus dieser Perspektive gesehen, identifiziert der mittelalterliche Autor sich ausdrücklich nicht als der getreuliche Chronist des Schicksals einer Person oder ihrer fiktiven Biographie, die er quasi mimetisch nacherzählt, sondern dieser Autor entlarvt sich als ein ›Designer‹ von Figuren und Rollen, die er jeweils im Vorhinein mit ganz konkreten Eigenschaften ausrüstet, um sie in der Erzählung zu einem von ihm kalkulierten Zeitpunkt gezielt zu instrumentalisieren. Die Figur ist das planvoll entworfene Instrument des narrativen Diskurses. Der Autor unternimmt Anstrengungen, diesen synthetischen Aspekt seiner Figur gegen eine eventuelle mimetische Lektüre in der Auffassung der Rezipienten bewusst zu halten. Es ist nicht zu bezweifeln, dass in Godefrois literaturtheoretischem Exkurs die Funktionalität des Figurenentwurfs thematisiert ist, denn mit den Worten pansser und antencïon rekurriert er wohl kaum zufällig auf die poetologischen Einlassungen in den Prologzeilen Chrétiens zu diesem Roman [V.24-V.28]: Del Chevalier de la Charrete comance Crestiëns son livre; matiere et san li done et livre la contesse, et il s’antremet de panser si que rien n’ i met fors sa painne et s’antancïon; (Chrétien beginnt sein Buch über den Karrenritter. Den Stoff und den Sinn gab ihm die Gräfin; und er richtet seine Überlegungen darauf aus, dass er nichts anderes hinzufügt als sein Bemühen und seine Absichten.)
Zur Bedeutung des Wortes antancïon erklärt Kelly »antancïon is the elaboration of the sens in the poem«,50 also die absichtsvolle Entwicklung bzw. das Gestalten des sensus einer Dichtung. Damit steht hinter diesem poetologischen Fachbegriff die Erzählabsicht des Autors, die bei der Gestaltung der matière ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt. Im selben Sinn versteht Kelly auch die zuvor zitierte Einlassung Godefrois: »Godefroi de Leigni’s use of antancïon here implies a definite purpose guiding his writing, and this purpose is clearly related to the 50
Kelly: Sens and Conjointure, 1966, S. 37. Den Begriff antancïon verstehe ich als Chrétiens »Absichten«, entgegen u. a. Walter Haug: ›Inspiration und dichterisches Selbstverständnis in Chrétiens »Lancelot« und »Cligé«‹, in: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1992, vgl. S. 110. Letzterer hatte antancïon stattdessen als »Arbeitskraft« aufgefaßt, eine legitime Übersetzung, die auch Kelly diskutiert, aber als nicht völlig deckend erachtet, vgl. S. 37f.
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composition of the poem [...].«51 Mit anderen Worten: die Figur der Schwester wurde von Godefroi absichtsvoll (intentio) ins Spiel gebracht, um einen bestimmten Aspekt der kompositionellen Anlage des Romans zu realisieren. Bezogen auf die Anlage des Textes übernimmt die Schwester Méléagants mit der Suche Lancelots im Verlauf der Erzählung tatsächlich eine wichtige Aufgabe, und zwar nicht von irgendwem, sondern bezeichnenderweise von Gauvain. Sie tritt in der Rolle der chevalière errante als die vierte Figur des Romans neben Keu, Gauvain und Lancelot auf, die zur Queste ausreitet. Gauvain dagegen hatte die Aufgabe der Lancelot-Suche zwar wiederholt als seine eigene erkannt (vgl. u. a. V.6206f.) doch nie ausgeführt, was seine Ursache im Handlungsgefüge der Charrette und vor allem im Interaktionsmuster zwischen der Gauvainund der jeweiligen Protagonistenfigur hat (vgl. u. a. II. 5.1.2). Lancelot jedenfalls hatte Gauvain in seiner Klage eindeutig als denjenigen identifiziert, dem die Aufgabe der Suche und Befreiung zugekommen wäre (u. a. V.6484f.). Da Gauvain diese Aufgabe aus guten (auch funktionalen) Gründen nicht übernimmt, fungiert Méléagants Schwester folglich als notwendiges Scharnier zwischen der stockenden Lancelothandlung und der Gauvainhandlung, denn nur sie ermöglicht den Wechsel des Handlungsgangs von einem auf den anderen der beiden Kontrahenten Méléagants im entscheidenden Endkampf. (Dies ist übrigens nicht ihre einzige Rolle, auch wenn das hier nicht vertieft werden soll.) Soweit wurde darauf abgestellt, die Funktionalität der Figur auf den strukturellen Kontext hin als ordnendes Element zu sehen, als helfender Aktant mit vermittelnder Funktion an der Schnittstelle zweier Erzählabschnitte. Die traditionelle Sicht des pragmatischen Strukturalismus fahndete ja nach festen Anordnungen, die insgesamt wie ein Bauplan von der konkreten Erzählung abstrahierbar sein sollten. Aber einer solchen Betrachtung ist notwendigerweise ein statischer Aspekt eingeschrieben, denn die in den Texten aufgebauten, gestauten und dann in Handlungsbewegung entladenen Spannungen werden in derlei Schemata regelrecht eingefroren; sie gerinnen in der Praxis zu festen Stationenaufzählungen, die wie abgezählte Rippen auf einem Röntgenphoto unter dem lebendigen Organismus der Romane aufscheinen. Wenn aber oben davon die Rede war, dass die der Schwester zugedachte Rolle innerhalb des Romans darin bestehe, einen Aspekt seiner kompositionellen Anlage zu realisieren, so war damit ein dynamischer Aspekt gemeint: nämlich die Ermöglichung einer Handlungsbewegung in einer Situation drohender Stockung. Es ist ja nicht die Struktur, auf die Godefroi seine Leser aufmerksam macht, wenn er sagt, er wolle später die Figur der Schwester in seiner Erzählung aktivieren, sondern es ist die zu erwartende Handlung: das, was geschehen soll. ›Achtet auf sie‹, so wäre Godefroi zu paraphrasieren, ›denn wenn sie das nächste Mal wieder auftritt, wird etwas passieren.‹ 51
S. Anm. 50, S. 38.
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Folglich ist den Figuren der dynamische Teil des Erzählorganismus anvertraut. An ihnen entlang verläuft die Bewegung, denn von ihnen gehen die treibenden oder hemmenden Kräfte aus, die das Geschehen in Ruhe halten oder in Bewegung wandeln. In einer Textreihe wie der Gattung der arthurischen Versromane ist es keineswegs willkürlich, welchen Figuren welche Dynamik in welchen Situationen des Zusammenspiels eingeschrieben ist. Insbesondere für das Kernpersonal, die über Jahrhunderte hinweg auftretenden, zentralen Hofakteure, darf man von einer sehr hohen Konstanz ausgehen. (Als Indiz hierfür mag gelten, was am Ende dieser Studie offenbar werden soll, dass etwa Heinrich von dem Türlin in Bezug auf diese Figurendynamik tatsächlich viel konservativer war, d. h. viel dichter bei Chrétien stand und stehen musste als alle seine deutschen Vorgänger.) Godefrois poetologischer Exkurs ist nichts weniger als das Bekenntnis eines Co-Autors und ›Kollegen‹ Chrétiens, dass die Figurenrollen bereits in der klassischen Periode bewusst funktional entworfen wurden. Also war diese ›Gemachtheit‹ der Figuren der Artusliteratur nicht lediglich im poetologischen Denken der Autoren selbst verankert, sondern im konkreten Fall hatten die Autoren offenbar gar keine Bedenken, sie im Rezeptionsvorgang bewusst zu halten, indem sie das Publikum ausdrücklich darauf hinweisen. Funktionalität im Sinne konsistenter Handlungsmuster, die von den Rezipienten als solche wiedererkannt werden konnten, muss daher sowohl ein Mittel der Dynamisierung und Strukturierung der Werke als auch eines der Rezeptionslenkung gewesen sein. Das Auftreten einer fest im Gattungswissen verankerten Figur signalisierte dem Publikum stereotyp eine bestimmte Handlungsausrichtung. Der Stellenwert des Auftretens einer noch unbekannten Figur wie der Schwester Méléagants dagegen musste dem Publikum angekündigt werden.
I.3
Verfahren, Aufbau und Hinweise zum Gebrauch
Die nachfolgende Studie sucht in Warnings Sinn nach empirisch vorfindbaren Handlungsschemata von möglichst hoher historischer Konstanz. Sie orientiert sich dabei eng an den Gattungskonstanten arthurischen Erzählens, die im Anschluss an diese Einleitung zusammengefasst und, wo nötig, aktualisiert werden. Diese bilden den Hintergrund für alle späteren Überlegungen. Zunächst erfolgt eine Beschreibung der ›semantischen Einheit‹ der Gauvainfigur, d. h. einer Katalogisierung ihrer typischen Eigenschaften und Attribute in den höfischen Versromanen (vgl. Abschnitt II. 2). Daran schließen sich Exkurse an, die den gattungstypischen Zusammenhang zwischen der Gauvainfigur, der Figur des schwachen Königs und der Initialkrise des Hofes herausstellen sollen (vgl. II. 3 und II. 3.1). Sie bilden die Grundlage des Interaktionsmusters, welches in 16
dieser Studie als Modell entworfen und an allen neun untersuchten Romanen überprüft werden soll. Die Vorüberlegungen zur Initialkrise, zur schwachen Königsfigur und zur Rolle Gauvains als Vasall und Neffe des Herrschers (vgl. II. 3) haben einen doppelten Sinn. Auf der einen Seite sollen dort gängige Ansichten der Forschung überprüft werden, die das bisherige Verständnis arthurischen Erzählens in den Versromanen prägen. Insbesondere betrifft das die strukturierende Rolle der Hofkrise. Auf der anderen Seite sollen Zusammenhänge zwischen der Inszenierung typischer Situationen und Verhaltensweisen der Figuren aufgezeigt werden, die sich mit sozialgeschichtlichen Beschreibungen der höfischen Kultur zur Deckung bringen lassen, womit ihr Bezug zu jener Lebenswelt aufscheint, in die hinein erzählt wurde. Eine aktantielle Beschreibung der Gauvainfigur ist demnach nicht das Ziel, denn Gauvain ist eben doch weit mehr als lediglich »Objekt-Aktant«,52 und seine Funktion überschreitet auch bei weitem eine Rolle als bloßer Freund oder anderes Ich des Helden. Bereits die theoretischen Vorüberlegungen werden aufdecken, dass das Handeln Gauvains in Chrétiens Romanen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Initialkrise des Hofes organisiert ist. Das bedeutet sowohl, dass die Figur in ursächliche Wechselwirkungen mit anderen Figuren eingebettet ist, als auch dass die Romane am Besten in je zwei Schritten besprochen werden können. Zu Anfang einer Besprechung gilt das Augenmerk daher jeweils der Initialkrise eines Romans als dem Ankerpunkt sinnstiftender Bezüge. Danach richtet sich die Untersuchung auf das davon abhängige Handeln bzw. die Queste des Hofakteurs. Damit ist klar, dass auch Überlegungen zu jenen Figuren angestellt werden, die von Chrétien im Interaktionsmuster Gauvains als feste Größen etabliert wurden. Die Beschreibung letzterer bleibt auf ihre funktionale Relevanz zur Gauvainfigur bezogen, was für Artus und insbesondere Keu immer noch zu detaillierten Ausführungen Anlass gab, während Guenièvre nur akzidentell in die Überlegungen aufgenommen zu werden brauchte. Der weitere Aufbau der Studie besteht in einer chronologischen Besprechung der neun ausgewählten Romane. In jedem einzelnen Fall wird nach Funktion und Interaktionsmuster der Gauvainfigur gefahndet. Etablierte Forschungsmeinungen, die das heutige Bild der Figur geprägt haben, sollen dort überprüft werden. Zu einer Abweichung vom Verfahren kommt es nur bei den mittelhochdeutschen Adaptationen von Chrétiens Werken. Bei den Romanen Hartmanns und Wolframs richtet sich die Untersuchung jeweils zuerst auf die Analogien zur Vorlage, um anschließend die Unterschiede zu ermitteln und deuten zu können.
52
Max Wehrli: ›Zur Identität der Figuren im frühen Artusroman‹, in: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. von R. Schnell. Bern 1989, S. 48–57, S. 56.
17
Zuletzt ein Hinweis für Medioniederlandisten und Germanisten, deren Interesse ausschließlich dem Roman van Walewein oder einem der deutschen Romane gelten könnte. Die einschlägigen Erörterungen im III. Kapitel fußen auf den theoretischen Vorgaben des bei Chrétien ermittelten Grundmusters der Figureninteraktion. Die Lektüre der entsprechenden Abschnitte ist deshalb zu empfehlen. Dazu gehören die Erörterung der Initialkrise, die ursächlich mit dem Handeln der Gauvainfigur verknüpft ist (II. 3 und II. 3.1), sowie insbesondere die Zusammenfassung und Erläuterung des Interaktionsmusters der Gauvainfigur im dynamischen Modell des ›narrativen Schwungrads‹ (vgl. II. 6).
18
II
Gauvain in den Romanen Chrétiens de Troyes
II.1
Auswahlkriterien
Für die Untersuchung der ›klassischen‹ Gauvainfigur wurden alle arthurischen Versromane mit Ausnahme des Cligès ausgewählt. Der Cligès unterscheidet sich nicht nur durch seinen von der arthurischen matière de Bretagne abweichenden, »oströmischen« Stoffanteil,1 sondern ist auch formal einem anderen Typ zuzurechnen, der sich durch ein genealogisches Erzählschema kennzeichnet.2 Ausschlaggebend für die Aussonderung aus der vorliegenden Untersuchung ist einerseits die, von den übrigen Romanen abweichende, nicht-arthurische Stoffkomponente, in der z.B. nicht das gesamte Hofensemble erscheint (Keu tritt nicht auf), und der das charakteristische Element der Queste fehlt,3 andererseits, dass die Protagonisten des Artushofes nicht unter den von der matière her bekannten Mustern agieren.4 Das heißt, dass die Funktionalität der Figuren im Cligès nicht auf die genretypischen Konventionen der anderen arthurischen Versromane, die Cormeau unter dem Stichwort des ›Artus-Aventiuretyps‹ zusammengefasst hat,5 bezogen ist. Das Vorhandensein einer eigenen Queste Gauvains im Chevalier de la Charrette und im Conte du Graal ist das Kriterium, das diese beiden Romane zum Hauptgegenstand für die Untersuchung von Chrétiens Gauvainfigur macht, wobei der Schwerpunkt der Betrachtung aufgrund einer besonders umfänglichen Gauvainpartie dem Conte du Graal zu gelten hat. Doch auch die anderen zwei Romane, Erec et Enide und der Chevalier au Lion, müssen in die Betrachtungen einbezogen werden, da sich hier bereits Zusammenhänge abzeichnen, 1 2 3
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5
Wilhelm Kellermann: ›Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman‹, in: Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, LXXXVIII. 1936 (2. 1967), S. 11. Beate Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman von Chrétien bis Froissart. Tübingen 1980, vgl. u. a. S. 40. Norris Lacy: ›The Craft of Chrétien de Troyes: An Essay on Narrative Art‹, in: Davis Medieval Texts and Studies, Vol. 3. Leiden 1980, vgl. S. 1 sieht eine Queste in allen fünf Artusromanen Chrétiens, auch im Cligès, doch räumt ein: »all but Cligès exploit them as major motif and structure.« Per Nykrog: ›Chrétien de Troyes. Romancier discutable‹, in: Publications Romanes et Françaises, CCXIII. Genève 1996, S. 81 führt aus, der Cligès sei »que faiblement ›arthurien‹, et même les parties qui sont localisées à la court d’Arthur n’utilisent pas ›la matière de Bretagne‹ […].« Christoph Cormeau: »Wigalois« und »Diu Crône«. Zwei Kapitel zur Gattungsgeschichte des nachklassischen Artusromans. München 1977, vgl. S. 9ff.
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die auf die Funktion der Gauvainfigur in den anderen Romanen vorausdeuten.
II.2
Die gattungstypischen Kennzeichen der klassischen Gauvainfigur als struktureller Bestandteil des arthurischen Hofensembles
Die gattungstypischen Kennzeichen der Gauvainfigur in den Versromanen Chrétiens sind schon früh beschrieben worden.6 Zu ihnen gehören u. a. Gauvains Verwandtschaft mit König Artus, dessen Neffe er ist, seine feste Zugehörigkeit zum Artushof, der ihn begleitende Titel mon seignor bzw. messire,7 der von den mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Autoren übernommen wurde,8 der bekannte Name seines Pferdes Gringalet (gelegentlich auch in der Variante ›Wintwalite‹ wie in Hartmanns Erec (V.4714), seine Bereitschaft, sich auf Nachfrage zu identifizieren (vgl. Conte du Graal [V.5621–25] und Chevalier au Lion [V.6258–60]),9 sowie die Tatsache, dass ihm – in den klassischen Romanen – keine einzelne Frauenfigur als feste Partnerin an die Seite gestellt ist, was z.B. Jean Frappier zu seiner bekannten Qualifikation eines »don Juan courtois« inspirierte.10 In Bezug auf die Funktionalität der Figur, d. h. insbesondere ihre durch das Genre vorgegebenen ›Bewegungsmöglichkeiten‹, wird man sich allerdings eher der Einschätzung René Pérennecs anschließen, wonach der Grund für das Fehlen einer festen Partnerin Gauvains derselbe ist, wie das notorische Ausbleiben von Kindern (namentlich einem Sohn) in der Ehe des Königs Artus. »C’est plutôt«, führt Pérennec aus, »[...] parce que Chrétien entend écarter la royauté arthurienne de la tentation dynastique. [...] Le neveu d’Arthur reste célibataire [...] parce que Chrétien entend l’empêcher de pourvoir la monarchie arthurienne en héritiers potentiels.«11 Als ein weiteres Motiv für 6 7
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10 11
Whiting: Gauvain, 1947, S. 189–234, vgl. S. 196. Für eine Übersicht über die noch ältere Forschung vgl. Keith Busby: Gauvain, 1980. Vgl. u. a. Lucien Foulet: ›Sire, Messire‹, in: Romania 71 (1950), S. 1–48, Frappier: Étude sur Yvain, 1969, S. 142f. und jüngst Catherine Blons-Pierre: Lecture d’une Œuvre. Le Conte du Graal de Chrétien de Troyes. Matière, Sen et Conjointure. Agrégation de Lettres. Paris 1998, S. 71f.. Bezüglich der mittelhochdeutschen vgl. u. a. Hartmanns Erec V.4984: her und Iwein V.2508 mîn her; Wolframs Parzival V.298,6 mîn her, Heinrichs Crône V.1996 mein herr. Bezüglich der mittelniederländischen vgl. u. a. die mnl. Perceval-Adaptation, Frag. Düss. V.10 min her, sowie Pennincs Roman van Walewein V.106 deer. Der Conte du Graal wird zitiert nach der Ausgabe von Roach. Der Chevalier au Lion wird zitiert nach der Ausgabe von Mario Roques: Les Romans de Chrétien de Troyes édités d’après la copie de Guiot. Bd. IV. Le Chevalier au Lion (Yvain). Les Classiques Français du Moyen Age. Paris 1960. Frappier: Étude sur Yvain, 1969, S. 141. René Pérennec: Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe et XIIIe siècles. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 393. Bd. II. Göppingen 1984, S. 114. Die
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die Unverheiratbarkeit Gauvains mag gelten, dass die Figur schon bei Chrétien darauf festgelegt ist, insbesondere hilfsbedürftigen Frauen (im Conte du Graal sind es die pucele[s] desconseillie[s] [V.535]) beizustehen. Dieses Motiv erhält sich bis in die postklassischen Romane wie den Roman van Walewein (vgl. RvW, V.3687–3899) und die Crône Heinrichs, wo es zu einer der schwersten Prüfungen Gaweins gehört, trotz dieser Disposition nicht entsprechend handeln zu dürfen (vgl. Cr, V.16103–16140). Diese Disposition ist also eine Gattungskonstante der Gauvainfigur, die wohl am ehesten einem unverheirateten Artusritter zugebilligt wurde. (Zum Motiv der Verheiratung der Figur in den späteren Romanen siehe Kapitel III. 3.2.3.) Es ist aber unbestreitbar, dass Gauvain bei Chrétien aufgrund leichtfertiger Hilfszusagen oder bedenklicher Liebesabenteuer gelegentlich in peinlichen Notlagen gezeigt wird. Diese ›Ausrutscher‹ beschränken sich übrigens keineswegs auf Liebesabenteuer. Sie haben einen festen Stellenwert im Interaktionsmuster der Figur, worauf noch zurückzukommen ist. Gattungstypisch ist weiter die äußerst positive Kennzeichnung der Figur entweder durch das charakteristische Gauvainlob des Erzählers oder durch Äußerungen anderer Figuren, wonach sie stereotyp als besonders maßvoll, höfisch, heldenmutig und großzügig oder als der erste unter den Rittern der Tafelrunde hervorgehoben wird (etwa in Erec et Enide [V.1671f.]: Devant toz les boens chevaliers doit estre Gauvains li premiers).12 Der Katalog der Tugenden, die Gauvain als dem Befreier des Zauberschlosses vom Roche de Canguin im Conte du Graal attestiert werden, qualifiziert die Figur als: Bel et sage, sanz covoitise, Preu et hardi, franc et loial, Sanz vilonie et sanz tot mal.
[V.7594–96]13
[Schön und weise, ohne Begehrlichkeit, kühn und tapfer, freimütig und treu, ohne Falschheit und ohne allen Tadel.]
Ähnliche Qualifikationen finden sich auch in der nicht-französischen Literatur. Als Beispiel sei hier Hartmanns Umschreibung in der mittelhochdeutschen Iwein-Adaptation genannt, wo es heißt: her Gâwein was der höfschste man der
12
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einmalige Erwähnung eines Sohns Loholz, li filz le roi Artu [V.1700] in Erec et Enide bezieht sich nicht auf ein gemeinsames Kind des Königspaars, sondern einen Bastardsohn Artus mit »Lisanor, der Tochter des Grafen Sevain«, vgl. Albert Gier: Chrétien de Troyes. Erec et Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Stuttgart 1987, Anm. zu V.1700 (S. 401). Chrétien de Troyes: Erec et Enide, zitiert nach der Edition von Mario Roques Les Romans de Chrétien de Troyes édités d’après la copie de Guiot. Bd. I. Erec et Enide. Les Classiques Français du Moyen Age. Paris 1955. Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal, zitiert nach der Edition von William Roach publié d’après le Ms Fr. 12576 de la Bibliothèque Nationale. Textes Littéraires Français. Genève, Lille 1956.
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rîters namen ie gewan [V.3037f.] (›Herr Gawein war von allen, die je den Titel eines Ritters verdienten, der höfischste Mann‹). Eine ausführliche Liste ähnlicher Epitheta und Qualifikationen Gauvains durch Erzähler wie Hartmann, Wolfram, Wirnt oder Heinrich gibt Dietrich Homberger in seiner Studie Gaweins in der mittelhochdeutschen Artusepik.14 Besonderes Augenmerk in Gauvains Beschreibung verdient das Adjektiv sage. (Wendelin Förster übersetzt es mit »weise, klug, vernünftig«).15 In einer Reihe von Situationen der verschiedenen Romane betont der Erzähler die raison (Vernunft) oder den sans (guten Verstand) Gauvains,16 die bezeichnenderweise mit der Unvernunft des jeweiligen Protagonisten, aber auch Keus und nicht zuletzt auch der des Königs kontrastiert werden, dessen idealtypische Rolle von der Forschung meist nicht ausreichend differenziert beschrieben wird (vgl. Abschnitt II. 3). Beispiele für die Bedeutung von Gauvains Vernunft finden sich u. a. in der Szene der Zwischeneinkehr in Erec et Enide, wo es Gauvains molt grant san [V.4088] ist, mithilfe dessen es ihm gelingt, Erec an den Hof zurückzuführen, während Keu zuvor an dieser Aufgabe scheiterte,17 oder erneut im Chevalier de la Charrette, wo Gauvains Weigerung, auf die Karre zu springen, mit raison motiviert wird (die dem Protagonisten Lancelot zum betreffenden Zeitpunkt abgeht [vlg. V.365 und V.389]).18 Zwar geht Frappier davon aus, dass die Figur in den späteren Versromanen Chrétiens ihre »sagesse d’abord égale à sa prouesse« verliere.19 Die Ausführungen zum Conte du Graal in dieser Studie sollen aber später das Gegenteil belegen. Nitze hebt jedenfalls hervor, in Erec et Enide, dem Chevalier au Lion und im Conte du Graal sei »Gauvain’s sens [...] a factor – indeed, a turning point – in the plot.«20 Das mythische Motiv des sogenannten privilège solaire Gauvains, welches ihm nach der Mittagsstunde eine magische Verdopplung seiner Kräfte garantiert, wird in schriftlicher Form erstmals in der Première Continuation (auch Continuation Gauvain) vermittelt, weshalb Pierre Gallais annahm, »que c’était bien à lui, l’auteur le plus ›diurne‹ de la fin du XIIe siècle [gemeint ist der Autor der Première Continuation], de le receuillir dans la légende arthurienne orale
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19 20
Homberger: Gawein, 1969, vgl. S. 233–238. Wendelin Förster: Wörterbuch zu Kristian von Troyes sämtlichen Werken (II. veränderte Auflage von H. Breuer). Romanische Bibliothek, XXI. Halle a.d. Saale 1933, S. 228. Vgl. die Ausführungen von Nitze: Charakter of Gauvain, 1952/53, S. 223. Busby: Gauvain, 1980, S. 54 vermutet allerdings, der von Gauvains List düpierte Erec könne das Wort sans ironisch gemeint haben. Selbst wenn man dies unterstellte, so bliebe die durchgängige Betonung der Vernunft Gauvains seitens des Erzählers und anderer Figuren davon unbeschadet. Der Chevalier de la Charrette wird zitiert nach der Ausgabe von Mario Roques: Les Romans de Chrétien de Troyes édités d’après la copie de Guiot. Bd. III. Le Chevalier de la Charrette. Les Classiques Français du Moyen Age. Paris 1958. Frappier, Étude sur Yvain, 1969, S. 141. Nitze: Charakter of Gauvain, 1952/53, S. 223.
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et de lui faire la part belle.«21 Da das Motiv also weder in den klassischen noch in den hier untersuchten, postklassischen Versromanen eine Rolle spielt, wird es nicht weiter beschäftigen.22 Sein verspätetes Auftauchen in der verschriftlichten Literatur belegt gleichwohl, dass das Gauvainbild in den Versromanen auch nach Chrétiens Wirken gegen die konsolidierenden Tendenzen des Genres noch um neue Aspekte bereichert bzw. verändert werden konnte. Das dritte Kapitel dieser Studie wird erweisen, dass nicht nur die Gauvainfigur, sondern das gesamte arthurische Personal bei aller Festigkeit bestimmter Genrekonventionen insgesamt einem gewissen Evolutionsprozess unterlag. Eine weitere gattungstypische Eigenschaft Gauvains in Chrétiens höfischen Versromanen besteht in der Tötungshemmung der Figur: Chrétiens Gauvain gewährt merci, er erschlägt seine Gegner nie.23 Man könnte dem entgegenhalten, dass die Figur im Conte du Graal immerhin mit dem Vorwurf eines feigen Mordes konfrontiert ist. Doch dieser Vorwurf wird dort weder von Gauvain bestätigt noch jemals von anderer Seite substantiiert. Der Mordvorwurf ist stattdessen ein narratives Scharnier des Conte du Graal, mithilfe dessen die dort herrschende Hofproblematik auf diese Figur bezogen werden kann (vgl. u. a. Abschnitt II. 5.2.1). Der im Conte du Graal geäußerte Mordvorwurf bezieht seine Brisanz übrigens aus dem Gattungswissen des Publikums, das in den höfischen Romanen (anders als in den heroischen bzw. historiographischen Ausformungen der matière de Bretagne) gerade mit einem pazifizierten Idealbild der chevalerie rechnet, dessen exemplarischer Vertreter in der Figur Gauvains verkörpert ist. Die Tötungshemmung oder besser Pazifizierung der Gauvainfigur dürfte bereits als Keim bei Wace angelegt worden sein, der im Kontrast zur heroisch-historiographischen Tradition eines Geoffrey of Monmouth aus dem »simple warrior« einen Ritter mit höfischen Zügen machte. Nitze, der auf den höfischen Charakterzug Gauvains im Roman de Brut hinwies, belegt ihn mit Waces wiederholten Betonung der »moult grant mesure – a personal
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22 23
Pierre Gallais: L’imaginaire d’un romancier français de la fin du XIIe siècle. (Description de la Continuation Gauvain). Bd. III. Faux Titre. Études de la langue et littérature françaises publiées, 36. Amsterdam 1988, S. 1885. Heinrich von dem Türlin überträgt das Motiv in der Crône allerdings auf die Lanzeletfigur, vgl. Cr. V.2089–2094. Allerdings weist Soetje Ida Oppenhuis de Jong: De Middelnederlandse Perceval-Traditie. Hilversum 2003, S. 160, Anm. 51 anläßlich ihrer Diskussion der Bearbeitungstendenz des mittelniederländischen Perchevael aus der Lanceloetcompilatie auf einen ähnlichen Umstand hin: »Een tekenend detail is dat in de toevoegingen heel wat doden vallen, terwijl in de brontekst bij alle vechtpartijen iedereen het leven houdt.« (›Ein bezeichnendes Detail besteht darin, dass in den Zusätzen [gemeint sind die von Chrétiens Ursprungstext abweichenden Teile der mittelniederländischen Adaptation] sehr viele das Leben verlieren, während in der Vorlage bei allen Kampfhandlungen einjeder am Leben bleibt‹). Die Beobachtung von Oppenhuis de Jong belegt eine signifikante Wandlung des ursprünglichen Gauvainbildes, die sich übrigens auch in anderen Gauvainromanen der nachklassischen Zeit zeigt. Davon soll im III. Kapitel dieser Studie noch die Rede sein.
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virtue again praised by Wace in his Roman de Rou. [...] It is thoroughly in line with the sens given Gauvain in the later romances.«24 Das pazifizierte Bild der Gauvainfigur gehört in den größeren Kontext der Pazifizierung des Artushofes, seines Königs und der Tafelrunde, die mit dem Übergang von der historiographischen zur höfischen Erzähltradition auch den Wechsel von der berichteten Kriegs- zur erzählten Friedenszeit mit sich bringt. Der Umschlag ist programmatisch zu verstehen und derart einprägsam gestaltet, dass Nitze sogar so weit geht, sachlich nicht ganz korrekt davon zu sprechen, dass »only in the Cligès does Arthur wage war personally.«25 Freilich wird man im Conte du Graal erfahren, dass li rois Artus et toute s’ost s’est au roi Rion combatus [V.850f.] (›der König Artus und sein ganzes Heer gegen den König Rion gekämpft hat‹). Der dort beschriebene Krieg ist allerdings ein signifikantes Element, welches die Hofproblematik der Gewaltanwendung während der Initialkrise illustriert (vgl. Abschnitt II. 5.2.1). Insgesamt überzeugt das von Nitze gezeichnete Bild der programmatisch auf Gewaltverzicht, mesure und sens orientierten Artuswelt und ihres hervorragendsten Exponenten in den Romanen Chrétiens. Erst anhand der postklassischen Literatur werden Beispiele zur Sprache kommen, wo dieses Tötungstabu – sukzessive – gelockert wird. Dort geschieht es dann freilich auch unter der Wirkung des Emanzipationsprozesses der Gauvainfigur in ihrer neuen Rolle als ›Protagonist‹, was für den vormaligen ›Hofakteur‹ nicht folgenlos bleiben konnte. Zum ›Pazifismus‹ der klassischen Gauvainfigur gehört nebenbei auch die Tatsache, dass er selber niemals die Aufgabe der Bestrafung Keus übernimmt, selbst dann nicht, wenn die Gauvainfigur selber zur Zielscheibe des beißenden Sarkasmus Keus geworden war. Anders steht es dagegen in der Tristrant-Adaptation Eilharts von Oberge, wo die List der Wolfseisenfalle erzählt wird. Tristrant, der sich auf dem Weg zum Bett seiner Geliebten an den vom eifersüchtigen König Marke aufgestellten Wolfeisen verletzte [V.5538f.], muss bei Hof eine Erklärung für diese Verwundungen beibringen. Um Tristrant zu entlasten, schlägt Keie vor, unter den Artusrittern ein Scheingefecht zu veranstalten, wobei sich alle verletzen sollen, um damit die Wunden Tristrants als Teil dieses Geschehens zu legitimieren [V.5616–20]. Einzig Keie selber weigert sich feige, an diesem Plan mitzuwirken [V.5631f.]. Nun folgt das für Chrétiens Genre untypische Verhalten: herr Walwan in do begraiff und stieß in uff dasz bloch: von den zensen ward im doch dú gröst wund ze tail. [V.5634–37]26
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Nitze: Charakter of Gauvain, 1952/53, S. 221. S. Anm. 24, S. 222. Eilhart von Oberg. Tristrant und Isalde. Hrsg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok.
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[Da ergriff ihn (i.e. Keie) Herr Walwan (i.e. die Gauvainfigur) und stieß ihn in die Falle, so dass dieser sich durch die Klingen (der Wolfeisen) am schwersten unter den Rittern verletzt.]
Die konstant positive Kennzeichnung der Figur, die die semantische Einheit bildet, welche dem Akteur die Erscheinung einer Person verleiht, war bereits vor Erec et Enide bekannt, weshalb Chrétien beim Publikum seines ersten Romans ein Vorwissen über die Eigenschaften der Figur voraussetzen durfte. Busby hat nun gezeigt, dass es gerade Chrétien war, der die Kennzeichnung und die Disposition der Figur konsolidiert und ihre bestehenden Möglichkeiten ausgeweitet hat.27 Chrétien war demnach nicht nur in der Lage, die Erwartungshaltung seines Publikums mit schmückenden Epitheta zu bestätigen, sondern konnte auch im ironischen Erzählregister mit dem Gattungswissen spielen, wie dies etwa der Fall ist, wenn der Superheld der Artusgesellschaft – die Sonne des Rittertums, wie er im Chevalier au Lion genannt wird [V.2405f.] – beim Überqueren der Ponz Evages im Chevalier de la Charrette spektakulär ins Wasser fällt und halb ertrunken wieder herausgefischt wird, oder wenn sich Gauvain im Conte du Graal mit einem Schachbrett statt eines Schildes gegen einen wütenden Mob mit Mistgabeln, Dreschflegeln und ausgehängten Türen verteidigen muss. Die Gauvainfigur in ihrer Typik war zu diesem Zeitpunkt offenkundig bereits voll im Bewusstsein des Publikums etabliert.
II.3
Das Hofensemble, der schwache König und die Initialkrise des Hofes
Soweit zur semantischen Einheit, die das Erscheinungsbild Gauvains als fiktive ›Person‹ typisiert, und die nicht unerheblich zu seiner Popularität beim Publikum beigetragen haben dürfte. Nun zu den Typenkonstanten des klassischen Artusromans, die Cormeau als ein »Arbeitsinstrument« entwickelt hatte,28 und die ersten Aufschluss über die Funktion Gauvains und seine Einordnung in das arthurische Personal geben. Aufgrund jüngster Kritik sind einige Punkte der Arbeitshypothese Cormeaus neu zu bestimmen. In der Hauptsache geht es dabei um zwei Elemente, nämlich erstens die Initialkrise des Hofes und zweitens die stetig zunehmende Bedeutung Gauvains in Chrétiens späteren Romanen. Die folgenden Überlegungen gelten der Rolle der klassischen Gauvainfigur als Teil des arthurischen Hofensembles, einer festen Figurengruppe, zu der außer dem Königsneffen natürlich Artus selbst, seine Gemahlin Guenièvre und
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Wodan Greifswalder Beiträge zum Mittelalter. Bd. 27, Serie I. Texte des Mittelalters. Bd. 7. Greifswald 1993. Busby: Gauvain, 1980, vgl. u. a. S. 50f. Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 7–19.
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Keu, der Seneschall, zu rechnen sind. Cormeau wies darauf hin, dass »diese vier Akteure [...] eine Art definierten Rollencharakters« haben,29 wodurch sie die Identität des Hofes als Gesellschaft sicherten. Darüber hinaus sah Cormeau die vier Hoffiguren als eine Art ›mehrköpfigen‹ Akteur, den »eine dialektische Zuordnung« mit der Figur des Helden verbinde, nämlich in Analogie zur Dialektik, die das Individuum mit der Gesellschaft verbindet.30 Cormeaus Modell lässt also ein Interaktionsmuster für Gauvain erwarten, das nach zwei Seiten orientiert ist. Zum einen deutet es an, dass die Handlungsbezüge Gauvains in der Interaktion mit den Figuren des arthurischen Kernpersonals verankert sind, deren Identität als Hofgesellschaft es zu sichern gilt. Zum anderen beschreibt Cormeaus Sicht einer ›dialektischen Zuordnung‹ den Antagonismus zwischen Gauvain und der Protagonistenfigur, also dem eigentlichen Helden des jeweiligen Romans. Auch Dietrich Homberger definierte für seine Studie eine doppelte Funktion als »das Verhältnis von Titelheld und Gawein zueinander und zum Artushof.«31 So führte Homberger zu Gauvain aus, »daß er [...] handelnd und kämpfend die Fragen der höfischen Gesittung und der ritterlichen Tapferkeit exemplarisch löst. Diese Funktion Gaweins erscheint geradezu als ein Leitmotiv.«32 Das zweiseitige Modell der Handlungsbezüge Gauvains ist ein guter Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen, muss aber nun präzisiert werden. Cormeaus Beschreibung ist ja noch maßgeblich von der Auffassung bestimmt, dass der Artusroman ein Protagonistenroman sei, in dem der Held und sein Selbstfindungsprozess im Mittelpunkt stünden, während die Gesellschaft vornehmlich den idealisierten Ausgangs- und Zielpunkt des Helden verträte. Der Artushof repräsentiert danach eine Gesellschaftsutopie, die der Protagonist auf seinem Weg durch die Gegenwelt der aventure bestätigt und sichert.33 So gesehen käme dem Protagonisten die gesamte Arbeit der Überwindung bzw. der Integration dessen zu, was sich dem Artushof als das Fremde, Gefährdende entgegenstellt. Der Hof dagegen erwartete lediglich dessen Erlösungstaten. Damit wäre der Gauvainfigur eigentlich keine Notwendigkeit für einen Handlungseinsatz gegeben. Die ältere Forschung entwirft hier ein äußerst statisches Bild der Hofgesellschaft, das sich bis heute in der Wahrnehmung der einzelnen Figuren niederschlägt. Es prägt z.B. auch die Beschreibung Schmolke-Hasselmanns, 29 30 31 32 33
S. Anm. 28, S. 10. S. Anm. 28, S. 12. Homberger: Gawein, 1969, S. 2. S. Anm. 31, S. 10. Vgl. u. a. Erich Köhler: ›Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung‹, in: Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie, 97. Tübingen 1956 (2. 1970), S. 77; Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 17; Walter Haug: ›Chrétiens de Troyes Erec-Prolog und das arthurische Strukturmodell‹, in: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1992, S. 98.
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die an den Figuren Artus, Keu und Gauvain eine »gattungsinhärente Statik« bemerkte, die ihnen »innerhalb eines Textes kein Schwanken und kein Zögern zwischen den Polen Gut und Böse« erlaube: »[...] sie sind entweder absolut vorbildlich oder werden negativ stilisiert, um für die im Laufe der Geschichte der Gattung immer stärker hervortretende Idealisierung des Helden ein Gegengewicht zu schaffen.«34 Nähere Betrachtung deckt aber Ungereimtheiten auf, die in diesem Modell nicht unterzubringen sind. Dazu gehört an erster Stelle die Initialkrise, das heißt die krisenhafte Gefährdungssituation, in der die Hofgesellschaft in allen vier zu untersuchenden Artusromanen Chrétiens in der ersten Hofszene gezeigt wird. In allen Fällen handelt es sich um dramatische Szenen gesellschaftlicher Auseinandersetzung von hoher Emotionlität. (Auf die Initialkrise ist gleich noch genauer einzugehen.) Da die Romananfänge die arthurische Idealität glanzvoll als ewige Festsituation der Freude inszenieren, während zugleich die auf diese Utopie verpflichteten Figuren schon im Ansatz mit einer Krise konfrontiert werden, ist die Beurteilung der Hofakteure von Schmolke-Hasselmann zu eng gefasst. Auf der Textoberfläche sind Keu oder Gauvain wirklich »entweder absolut vorbildlich oder werden negativ stilisiert.«35 Aber wenn auch kein »Schwanken« Gauvains zwischen den »Polen Gut und Böse« vorgesehen ist, so darf doch andererseits die Spannung nicht übersehen werden, die von Anfang an zwischen der superlativischen Kennzeichnung der Figur und dem Bezugshorizont dieser Superlative, dem gesellschaftlichen Ideal der courtoisie in der Verkörperung des Artushofes besteht. Hier liegen erhebliche Erzählpotentiale, die aus der Spannung der aporetischen Disposition schöpfen. Die Kluft zwischen der Defizienz des fiktionalen Gesellschaftsentwurfes einerseits und der Pflicht der Hofakteure, diese Utopie zu verkörpern und für sie einzustehen andererseits ist daher ein wesentliches Element der Erzählgrammatik Chrétiens. Eine andere ›Ungereimtheit‹, die in Cormeaus Beschreibung nicht aufgehen will, ist das zunehmende Interesse Chrétiens an seiner Gauvainfigur. Gauvain, der noch in Erec et Enide eine nur bescheidene Rolle spielt, wird sukzessive zu einem immer wichtigeren Akteur, der bereits im Chevalier de la Charrette neben dem Protagonisten auf einer Parallelqueste antritt, und dem im Conte du Graal, Chrétiens letztem Artusroman, eine vom Umfang her gleichwertige Textpartie gewidmet ist. Wenn es unumschränkt zuträfe, dass »Einheit und Sinn der Handlung [...] in der Protagonistenfigur« lägen,36 so wäre die ständig zunehmende Bedeutung der Gauvainfigur neben der des Protagonisten kaum zu erklären. Die Rolle Gauvains in Conte du Graal oder Charrette wird aber
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Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 82. S. Anm. 34. Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 17.
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auch heute noch nicht als ein Indiz gegen die Verabsolutierung der These vom Protagonistenroman gesehen, sondern sie gilt vielen Forschungsmeinungen nach wie vor bestenfalls als ein Maßstab, an dem die Leistungen des Protagonisten, Lancelot oder Perceval, abgemessen werden könnten.37 Nun zur Initialkrise und zur Rolle der schwachen Königsfigur. Alle nachfolgenden Überlegungen dieser Studie operieren mit dem Modell, dass die Defizite in der ersten Hofszene und die bedenkliche Rolle der Königsfigur erhebliche narrative Potentiale entfalten, die die gesamte spätere Romanhandlung antreiben und strukturieren. Dagegen hatte in der strukturalistischen Forschung lange ein Konsens bestanden, dass die erste Abbildung des Artushofes als »Sondersituation des höfischen Festes« in den klassischen Versromanen eine »utopische Gegenposition« zur Aventiurehandlung beinhalte,38 die selbst kein Teil der Handlung werden könne, da die am Artushof angesiedelten Episoden ausschließlich »ein neutrales oder harmonisches Zusammenwirken von Held und Gesellschaft« beinhalteten.39 Der Handlungseinsatz erfolge nach einer »Aventiurenachricht oder Provokation«,40 die in die – also an sich störungsfreie – arthurische Sphäre eindringe. Haug fasste es zuletzt in dieser Sentenz zusammen: »Was feststeht, ist der Artushof als idealer Ausgangs- und Zielpunkt, dann der zweifache Weg des Helden in die anti-arthurische Welt, der erste angestoßen durch eine Provokation von außen [Kursivierung von mir], der zweite durch eine Krise im Innern [...].«41
Die eminent dramatische Qualität der ersten Hofszenen mit ihren öffentlichen Bloßstellungen, Wutausbrüchen oder Verzweiflungsgesten wurde in dieser Sicht ebenso stiefmütterlich vernachlässigt, wie die Konsequenzen der Hofkrise für das spätere Agieren der Hofakteure. Man fixierte sich stattdessen auf die Szene
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Busby: Gauvain, 1980, vgl. u. a. S. 78: »[...] an increasingly critical attitude on Chrétien’s part towards Gauvain is expressed by means of inviting comparison between him and the hero proper of the romance. […] especially in the Charrette and Yvain.« Walter Haug: ›Moral, Dämonie und Spiel. Der Übergang zum nachklassischen Artusroman‹, in: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1992, S. 259–287, hier S. 259 und 260. Vgl. auch Robert W. Hanning: ›Die gesellschaftliche Bedeutung des höfischen Romans‹ [erstmals als ›The Social Significance of Twelfth-Century Chivalric Romance‹, in: Medievalia et Humanistica. Studies in Medieval & Renaissance Culture. New Series, Nr. 3 (1973), S. 3–29] übersetzt von W. Bergerfurth in: Der altfranzösische höfische Roman. Wege der Forschung. Bd. CCCCXXV. Hrsg. von E. Köhler: Darmstadt 1978, S. 189–228, S. 202. Christoph Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 14. S. Anm. 39. W. Haug: ›Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain/Iwein‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 99–118, S. 104.
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der Krise des Protagonisten, der mit einem Diktum Kellermanns in der »HauptArtusszene« die zentrale kompositionelle Rolle im Aufbau des Romans zugeschrieben wurde,42 weil in dieser Artusszene der Titelheld aus den Höhen seines anfänglichen Erfolges in jene innere Krise abstürze, die Anlass zum zweiten Handlungskreis gebe. Die Initialkrise als Keimzelle der Handlung findet auch in der umfänglichen Beschreibung der »charakteristischen Typenmerkmale« des »arthurischen Romananfangs« von Schmolke-Hasselmann keine Erwähnung, wo allerdings zumindest noch das charakteristische »Warten auf aventure« bzw. das »Nicht-essen-Wollen« des Königs erwähnt wird.43 Neuerdings beginnt sich ein Konsens abzuzeichnen, dass dieses Bild zu relativieren ist.44 Bernd Schirok hat beispielsweise auf einen funktionalen Zusammenhang zwischen Hofkrise und Romanhandlung aufmerksam gemacht: »Der Protagonist des klassischen Artusromans gerät [...] in eine Krise. [...] Diese Krise, ihre Entstehung und Überwindung ist das Thema des Romans. Im Hinblick auf die Einbindung des Artushofes bedeutet dies, dass auch er in derartige Krisensituationen kommen kann.«45 Elisabeth Schmid, die sich unter dem provokanten Titel ›Weg mit dem Doppelweg‹ gegen die von ihr so empfundene Routine des strukturalistischen Forschungsansatzes wandte, beanstandete, dass beispielsweise in Erec et Enide der krisenhafte Handlungsanstoß von Artus selbst gegeben werde, ein Indiz für Schmid, dass den strukturalistischen Forschungsansätzen in zu einseitiger Weise »nur die Krise des Helden und dessen Abenteuer« als handlungsrelevant gälte.46 Dafür, dass der arthurische Gesellschaftsentwurf durch innere Defizienzen gefährdet ist, die in den Krisensituationen aufscheinen, gab es seit langem Anhaltspunkte. Auch Köhler, der den Hof »als Ort des Friedens und der Gerechtigkeit« ansah,47 ging davon aus, dass »das Wunschbild des Artushofes selbst [...] die Widersprüche [enthalte], welche die ständische Wirklichkeit auch dem harmonistischen Ideal noch mitgibt [...].«48 Insbesondere »don und 42 43
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Kellermann: Aufbaustil, 1936 (2. 1967), S. 11f. Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 35f., vgl. auch Dies.: ›Untersuchungen zur Typik des arthurischen Romananfangs‹, in: GRM 31 (1981), S. 1–13, hier u. a. S. 1–4. Vgl. u. a. Annegret Wagner-Harken: ›Märchenelemente und ihre Funktion in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Ein Beitrag zur Unterscheidung zwischen »klassischer« und »nachklassischer« Artusepik‹, in: Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. Bd. 21. Bern 1995, S. 405. Bernd Schirok: ›Artus der meienbære man – Zum Stellenwert der »Artuskritik« im klassischen deutschen Artusroman‹, in: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. von R. Schnell. Bern 1989, S. 58–81, S. 73. Elisabeth Schmid: ›Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 69–85, S. 84. Köhler: Ideal und Wirklichkeit, 1956 (2. 1970), S. 35. S. Anm. 47, S. 245f..
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costume bedürfen, anstatt selbstverständlich und unproblematisch zu sein, der jeweiligen Korrektur durch den Helden und werden somit handlungs- und formschaffend.« Maddox prägte anschließend den Begriff der »textuality of crisis«, die Chrétiens Romane kennzeichne, worunter er sowohl die Krise des Helden als auch die Krise des Hofes rechnete und zu welchen er ausführte: »On the communal scale, too, [...] crisis is central to Chrétiens romances. Each of them depicts one grave interlude which shakes the very foundations of the Arthurian court. Read together, these interludes of crisis can be viewed intertextually as specific phases within a declining long-term trend.«49
Maddox’ Untersuchungen ist zu entnehmen, dass er »Arthur’s adherence to custom« (also ein ›hausgemachtes‹ und kein ›externes‹ Problem) als einen Hauptgrund der Krisen des Hofes identifiziert.50 Sie lassen insbesondere ein weit differenzierteres Bild der Königsfigur erkennen als die kanonisierte Typologie vom »programmatisch [...] außerhalb von Kampf, Anfechtung und Bewährung stehende[n] [...] Schiedsrichter über andere, Repräsentant[en] einer Lebensform« und »Abbild des deus quietus«,51 mit welcher Chrétien den historischen Königen seiner Zeit in der Literatur einen korrigierenden Spiegel habe vorhalten wollen. Wie ist diese gespaltene Disposition der Königsfigur einzuordnen? Brigitte Burrichter begründet die ständige Gefährdung der Artuswelt mit Chrétiens Erzählkonzept, der zwar auf der theoretischen Seite, d. h. bezüglich des gesellschaftlichen Ideals der courtoisie sehr wohl bei Waces Entwurf angeknüpft habe, jedoch nicht auf der inhaltlichen Ebene. Wace hatte im Roman de Brut (gegen seine lateinische Vorlage) die courtoisie der Tafelrunde, also den pazifizierend zivilisatorischen Aspekt hervorgehoben. Allerdings wurde der König bei Wace noch immer als erfolgreicher Feldherr und Führungsfigur inszeniert. Die entscheidende Veränderung Chrétiens gegenüber Wace bestehe nun darin, dass Artus »im Gegensatz zur historiographischen Literatur nicht mehr Handlungsträger« sei und damit »andere Funktionen in der Erzählung« übernehmen könne, während es bei Chrétien die Ritter seien, »die nach cortoisie streben.«52 Burrichter erläutert den Hintergrund wie folgt: »Wace hatte, den Üblichkeiten der Geschichtsschreibung folgend, die Friedenszeiten als ereignisarme Phasen nicht als Ereignisbericht gestaltet, sondern ein
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Donald Maddox: Arthurian Romances of Chrétien de Troyes. Once and future fictions. Cambridge Studies in Medieval Literature, 12. Cambridge 1991, S. 119. S. Anm. 49, S. 120. Klaus Grubmüller: ›Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung‹, in: Positionen des Romans im Spätmittelalter. Hrsg. von W. Haug, B. Wachinger. Fortuna Vitrea. Bd. 1. Tübingen 1991, S. 1–20, S. 2. Brigitte Burrichter: ›Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jahrhunderts‹, in: Beihefte zur Poetica 21 (1996), S. 140.
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weitgehend statisches Bild entworfen, in dem die Idealität, nicht die Realität der Artusgesellschaft im Vordergrund stand. Chrétien löst dieses Bild [...] in eine fiktionsimmanente Geschichtlichkeit auf, deren Grundtenor die zunehmende Schwäche des Königs ist.«53
Die schwache Königsfigur bildet in dem »mythischen«54 Artuskonzept den Angelpunkt für das Prinzip, dass »die arthurische Idealität [...] letztlich immer nur ein prekärer Augenblick« ist, »der in der Auseinandersetzung mit den Mächten, die sie verneinen, gleichsam visionär sichtbar wird.«55 Man kann also nicht wie Thomas davon sprechen, dass in den klassischen Artusromanen die Artusfigur »as an unchallenged model of perfection« funktioniere,56 obwohl die qualifizierenden Einlassungen der Autoren von Chrétien bis zu Heinrich von dem Türlin dem Publikum an der Textoberfläche genau dieses Bild einprägen wollen. Die tatsächliche erzählerische Strategie, die das Genre der arthurischen Versromane erkennen lässt, besteht jedoch darin, unter dem schönen Schein der idealen Königsfigur bereits den Sprengstoff zu verbergen, der durch irgendeine fast beliebige Provokation gezündet werden und zum Handlungsanstoß genutzt kann. Für ein solches ›Doppelspiel‹ von behaupteter Idealität und faktischer Bedenklichkeit eignet sich die Königsfigur schon deshalb, weil gerade an der Verkörperung eines Ideals das entsprechende Gefährdungspotential besonders wirksam inszeniert werden kann. Auch Klaus Grubmüller wies auf die Diskrepanz zwischen den »rühmenden Epitheta« und der »tatsächliche[n] Inaktivität und Hilflosigkeit« der Königsfigur hin.57 »Erst in Hartmanns ›Iwein‹ gewinnt Artus so eigentlich die Statur, die Köhler schon für Chrestien beschrieben hatte: er stellt – jetzt endgültig aller konkreten Tatherrschaft entkleidet – die Werte dar, die höfische Idealität ausmachen: milte, triuwe, êre; er wird zur Exempelfigur für die Regeln, die die ritterliche Gesellschaft organisieren sollen.«58
Soweit präsentiert die Initialkrise eine von internen Defizienzen angenagte Gesellschaft, die sich in der utopischen Festsituation selbst feiert. Die schwache Königsfigur ist Exponent und Verkörperung dieses Tanzes auf dem Vulkan.
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S. Anm. 52, S. 141. S. Anm. 52, S. 146. Walter Haug: ›Literatur und Leben im Mittelalter. Eine neue Theorie zur Entstehung und Entwicklung des höfischen Romans‹, in: Haug: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Tübingen 1997, S. 31–44, S. 33. Neil Thomas: Diu Crône and the medieval Arthurian Cycle. Arthurian Studies, I. Cambridge 2002, S. 4. Klaus Grubmüller: ›Der Artusroman und sein König. Beobachtungen zur Artusfigur am Beipiel von Ginovers Entführung‹, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von W. Haug, B. Wachinger. Fortuna Vitrea. Bd. 1. Tübingen 1991, S. 1–20, S. 3. S. Anm. 57, S. 10.
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Nun zur strukturierenden Rolle der Initialkrise. Es zeigt sich, dass große, übergreifende Erzählzusammenhänge in Inhalt und Aufbau durch ihre Vorgaben bestimmt sind, anstatt vermeintlich mit den Vorgaben des Protagonistenschicksals zu korrelieren. Das hat Burrichter mit der Frage, wo eigentlich Chrétien selber die Zäsuren in seinen Werken gesetzt habe, nachweisen können.59 Für die gängige Auffassung des ›Protagonistenromans‹ ist, wie gesagt, die Zweiteilung der Erzählstruktur in einen ersten Handlungsabschnitt (in Erec et Enide bis zur Hochzeit des Protagonisten) und einen zweiten Abschnitt, der aufs Neue in die Abenteuerfahrt führt, das strukturelle Kriterium. Als zentrale, gliedernde Zäsur gilt in diesem Modell die Krise des Helden.60 An dieser Sichtweise wird bis in die jüngste Zeit festgehalten. Als Beispiel sei Ralf Simon zitiert, der die Handlungszweiteilung der Artusromane als Funktion der Entwicklung des Protagonisten veranschaulichte. Danach müsse die Figur des Helden, die im ersten Handlungsteil der Romane lediglich eine »privat« motivierte Bewährung »vom Können zum Sein« durchmache, im zweiten Handlungsteil einen »ideologischen« Handlungsauftrag erfüllen, der »sein Sein in Intersubjektivität überführt.«61 Vor allem für die Versromane mit Gauvainqueste lässt sich aber zeigen, dass die Motivation der Protagonistenfigur eine personale bleibt, selbst wenn diese sich oberflächlich mit den Anliegen des Hofes überschneidet. Der Konflikt zwischen den Zielen der Hofgesellschaft und den personalen des Protagonisten bleibt, wie man noch sehen wird, in der Charrette und im Conte du Graal bis zuletzt (zum Ende des Romans) virulent.
Chrétiens einzige eigene Äußerung zur Unterteilung der Erzählstruktur seiner Romane, nämlich [V.1796] ici fenist li premiers vers (›hier endet der erste Abschnitt‹) in Erec et Enide, liegt bereits vor der Ehe des Protagonisten, also vor dem Ende seines ersten Handlungskreises. Es scheint, als ob Chrétien die Bedeutung des biographischen Prozesses übersehen und sein eigenes Kompositionsschema nicht verstanden hätte. Burrichter zitiert Norris Lacys Eingeständnis »I must admit that, like the majority of critics, I disagree here with Chrétien
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Brigitte Burrichter: »Ici fenist li premier vers« (Erec et Enide): noch einmal zur Zweiteilung des Chrétienschen Artusromans‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 87–98. Zur Zweiteilung der Erzählstruktur vgl. u. a. Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters I: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. Grundlagen der Germanistik, 7. Berlin (1. 1967) 1977, S. 116; Hugo Kuhn: ›Erec‹, in: Hartmann von Aue. Wege der Forschung. Bd. 359. Hrsg. von Cormeau. Darmstadt 1973, S. 18; Haug: Erec-Prolog und das arthurische Strukturmodell. 1992, S. 91–107, vgl. u. a. S. 94; Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 18. Aus romanistischer Sicht u. a. Norris Lacy: Craft of Chrétien, 1980, S. 3, »All Chrétien’s works can be devided, rather crudely perhaps, into ›before‹ and ›after‹. The dividing line between these two parts is the crisis […].« Kritisch dagegen u. a. Schmid: Weg mit dem Doppelweg, 1999. Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Epistema. Würzburger Wisschenschaftliche Schriften. Literaturwissenschaft. Bd. LXVI. Würzburg 1990, S. 14f.
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himself«62 als Beispiel für das Unbehagen der Forschung mit dieser Unterteilung des Autors und nimmt sie zum Anlass, die Frage der Unterteilung des Romans an genau dieser Stelle noch einmal neu aufzuwerfen. Dabei kommt sie zu dem Schluss: »Chrétien koppelt seine Einteilung nicht an das Schicksal des Protagonisten, sondern an die Lösung der Krise, die den Roman eröffnet hat und die die Artuswelt bedrohte.«63 Ihr zentrales Argument ist die enge Verknüpfung der Reime li blanc cer und premiers vers [V.1793–1796]. Li rois par itele avanture randi l’usage et la droiture qu’a sa cort devoit li blans cers. Ici fenist li premiers vers. [Der König übte durch dieses Ereignis den Brauch und das Recht aus, die der weiße Hirsch seinem Hof schuldete. Hier endet der erste Abschnitt.]
Die Ausübung und der Abschluss des Brauchs der Jagd auf den weißen Hirschen gehört inhaltlich und reimtechnisch in einen Zusammenhang mit dem Abschluss des ersten Romanteils.64 Die Koppelung der Zäsur zwischen den beiden Erzählsträngen an die Lösung der ›ersten‹ Krise möchte Burrichter für alle Versromane von Chrétien – sei es in je anderer Funktionalisierung – wahrscheinlich machen.65 Ein Argument Günther Schweikles unterstützt die These, dass der ›premerains vers tatsächlich eine von Chrétien intendierte, strukturale Zäsur in Erec et Enide markiet. Viele solcher Einteilungen der Werke durch die modernen Interpreten hält Schweikle als »Kryptostrukturen« für »fragwürdig«,66 denn »ein Hörer kann eine Abschnittsgrenze nur registrieren, wenn der Dichter sie durch einen eindeutigen Neueinsatz in seiner Erzählung gekennzeichnet hat.«67 Aber »bei Chrétien wird im Erec das Ende des ersten Teils ausdrücklich angemerkt: Ci fine li premerains vers...«68 Kurt Ruh ging zwar davon aus, »daß vers nicht ›Teil‹ bedeuten kann«, aber bestätigt, »was li premerains vers inhaltlich umschließt [...]: die ganze costume
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Burrichter: Premiers vers, 1999, S. 88. Wolfgang Brand: Chrétien de Troyes. Zur Dichtungstechnik seiner Romane. München 1972, dagegen bestätigt er zwar die enge Bindung der Zäsur premerain vers an die Krise, die der Brauch des Hischkusses auslöste (S. 33), versucht dann aber in einer umfänglichen Diskussion verschiedener Forschungsmeinungen die Bedeutung der Zäsur zu relativieren (»man darf den Vers nicht zu wörtlich nehmen«, S. 34), indem er Ereignisse, die nach der Zäsur liegen, noch sinngemäß in den ersten Handlungskreis zurückbinden möchte (vgl. S. 33–38). Burrichter: Premiers vers, 1999, S. 89. S. Anm. 63. S. Anm. 63, S. 98. Günther Schweikle: ›Zum »Iwein« Hartmanns von Aue. Strukturale Korrespondenzen und Oppositionen‹, in: Problem des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käthe Hamburger. Hrsg. von F. Martini. Stuttgart 1971, S. 1–21, S. 3. S. Anm. 66, S. 4. S. Anm. 66, S. 5.
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Pandragon und was sie ausgelöst hat [...].« Das Wort vers »muß also eine Aventiure oder eine zusammenhängende Kette von Aventiuren bezeichnen.«69
Die strukturalistische Forschung muss also damit rechnen, dass in den klassischen Romanen zwei Krisen zwei unterschiedliche Handlungsabläufe auslösen und dadurch den Text strukturieren. Die Textstruktur ist keineswegs vorrangig auf die Stationen des Protagonistenschicksals ausgerichtet. In den nachfolgenden Betrachtungen ist deshalb jeweils zuerst nach den Vorgaben zu fragen, die die Initialkrise des Hofes für das weitere Romangeschehen macht. II.3.1 Der Verlauf der Initialkrise bei Chrétien de Troyes: Provokation, Stasis und Intervention An den ersten Hofszenen in den vier Artus-Aventiureromanen Chrétiens kann man zwei Typen des Ablaufs unterscheiden, nämlich die ›Gruppe‹ jener Romane, in denen die Initialkrise der Hofgesellschaft durch einen Provokateur von Außen angestoßen wird, sowie die ›Gruppe‹ derer, wo die die Krisensituation erkennbar einer ›internen‹ Defizienz entspringt. Zu letzteren gehören Erec et Enide und der Chevalier au Lion. Anders verläuft der Prozess in der Charrette und im Conte du Graal. In diesen Romanen erscheint ein Provokateur (respektive Méléagant und der Rote Ritter), der von außen kommt oder außerhalb des Hofes als Herausforderer aufgestellt ist. Auch bei den Provokationen von außen ist – wie zuvor ausgeführt wurde – immer noch mit einer ›internen‹ Defizienz der Hofgesellschaft zu rechnen, die freilich nicht aus sich selbst heraus aufbricht. Die Unterteilung in Romane mit externer Provokation und Romane, bei denen die Krise von innen her aufbricht, bestätigt sich auch durch ein weiteres Merkmal. Jene, in denen die vorgespiegelte Harmonie des arthurischen Festes von Außen gestört wird, zeigen im Verlauf der späteren Romanhandlung die Gauvainfigur auf einer eigenen Queste parallel zu der des Protagonisten (Charrette und Conte du Graal). Nun zu einem sehr wichtigen Erzählmuster, das die Initialkrisen kennzeichnet. Auf den ersten Blick scheint es in obengenannten Texten so, als ob die Provokationen von außen »als Anstoß für Aventiuren fungieren.«70 Das heißt: »eine aventure muß bewältigt, ein don gewährt werden, oder aber ein Herausforderer beleidigt und schmäht Artus so, daß seine Ritter diese Schmach zu rächen aufgerufen sind.«71 Haug formuliert es in zwei Schritten: »1. Der Artushof ist idealer Ausgangs- und Zielpunkt der Handlung. 2. Die Idealität des Hofes wird durch eine Provokation in Frage gestellt, was einen Ritter der Tafelrunde veranlaßt, auszuziehen, um diese Provokation stellvertretend für die 69 70 71
Kurt Ruh: Höfische Epik I, 1977 (1. 1967), S. 126. Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 14. Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 36.
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Gesellschaft zu bewältigen.«72 Auch bei dem rash boon-Motiv (dem don contraignant, welches ein Provokateur vom König einfordert) handele es sich »um ein neutrales Ansatzmotiv, um einen Mechanismus, der die Handlung in Gang zu bringen hat.«73 Man könnte also das Eindringen des Provokateurs, einer aventiure-Nachricht oder das Einfordern eines Blankoversprechens als ›Zünder‹ auffassen, der die handlungsleere Harmonie des arthurischen Festes sprengt und den Einsatz der Handlungsbewegung erzwingt. Doch Haug schränkt dieses Vermuten sofort ein. Im Chevalier de la Charrette geht »die äußere Provokation Méléagants zunächst ins Leere.«74 Dies ist freilich keineswegs nur im Chevalier de la Charrette der Fall, sondern auch im Conte du Graal und übrigens in zahlreichen nachklassischen Artusromanen. Es lohnt sich, die Vorgänge genauer zu betrachten. In der Charrette konfrontiert der Provokateur Méléagant den König mit der Mitteilung, wenn Artus einen Ritter habe, dem er es zutraue, sich im Zweikampf mit Méléagant zu messen, so möge er diesen Ritter in einen Wald schicken, wo Méléagant sich ihm stellen werde [V.70–79]. Die zu erwartende Reaktion auf diese Provokation, nämlich dass die renommierten, ehrbewussten Ritter der Tafelrunde hierauf reagieren und sich darum drängen würden, gegen den Provokateur anzutreten, bleibt allerdings aus. Ce oïrent el palés maint [V.80] (›das hörten viele Leute im Palast‹), macht der Erzähler deutlich, aber statt mutiger Einsatzbereitschaft der Freiwilligen erfährt man nur: s’an fu la corz tote estormie [V.81] (›davon geriet der ganze Hof in helle Aufregung‹). Im Conte du Graal zeichnet sich in der ersten Hofszene ein ganz ähnliches Muster ab. Bei Percevals Erscheinen am Hof ist die Provokation bereits erfolgt. Ein tief bedrückter König Artus berichtet dem naiven Jungen vom dramatischen Auftritt des Roten Ritters, der kurz zuvor seine Ansprüche auf Artus’ Land angemeldet hatte. Dieser Herausforderer wartet nun außerhalb des Hofes auf einen Ritter der Tafelrunde, der es wagt, die Interessen von König Artus im Zweikampf gegen ihn zu verteidigen [V.892f.]. Doch während die Hofgesellschaft Zeuge der Provokation war, ist keine Rede davon, dass sie sich darum drängte, die Herausforderung anzunehmen. Im Gegenteil, die Herren sitzen amüsiert beim Essen zu Tisch [V.901]. Sie sind übrigens außerstande zu kämpfen, denn die verbliebene Ritterschaft ist von einem zurückliegenden Krieg verwundet. Während der König am Kopfende der Tafel tief betrübt in das charakteristische penser [V.908] versunken ist, heißt es über jene Herren: tuit li chevalier rioient et li un as autres gaboient [V.909f.] (›alle die Ritter lachten
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Haug: Erec-Prolog und das arthurische Strukturmodell, 1992, S. 93. Haug: »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrétiens Chevalier de la Charrette, im Lancelet Ulrichs von Zatzikhoven und im LancelotProsaroman. Tübingen 1978, S. 27. S. Anm. 73.
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und einer machte Späße mit dem anderen‹). Auch hier lief die Herausforderung ins Leere. In beiden Fällen geschieht nun etwas sehr Bedeutsames. Diejenige Figur, die tatsächlich auf die Provokation reagiert und eine Strategie entwickelt, dem Herausforderer zu begegnen, ist Keu. In der Charrette gelingt es dem Seneschall, vom König die Erlaubnis zu erpressen, selbst gegen den Provokateur antreten zu dürfen. Im Conte du Graal ist es Keu, der den König auf den Gedanken bringt, Perceval für die Interessen des Artushofes zu instrumentalisieren, und ihn gegen den Roten antreten zu lassen. Beide Vorgänge werden in den entsprechenden Abschnitten dieser Studie noch detailliert dargestellt (vgl. Abschnitt II. 5.1.1 und II. 5.2.1). Einstweilen ist festzuhalten, dass die Provokation von außen eben nicht zum Handlungseinsatz führt, sondern ganz im Gegenteil zur Handlungsstockung, zu einer Lähmung des Personals, die fortan als ›Stasis‹ bezeichnet werden soll, und von der lediglich Keu ausgenommen bleibt. Ich sehe die Funktion Keus daher ganz anders als Schmolke-Hasselmann durchaus nicht als »retardierendes Element«,75 der eine bereits eingeleitete Handlungsbewegung noch einmal zurücknimmt. Vielmehr ist Keu derjenige Faktor, der in der Situation der Stasis durch seine negativen Interventionen, seinen Spott oder seine anmaßenden Handlungen erst die potentielle Handlungsenergie erzeugt, die die Erzählung aus dem narrativen Nullpunkt der Lähmung heraustreibt. Keu ist es, der die Stasis durchbricht, der die Provokation aufgreift und durch sein Intervenieren in Handlungsbewegung übersetzt. Während die Initialkrise mit dem Agieren der Keufigur verknüpft ist, lassen oben gegebene Beispiele schon ahnen, dass Gauvain in diesen Situationen auffällig abwesend ist. Neil Thomas hat trotzdem Recht, wenn er ausführt, »it is typically by dint of Gawein’s efforts, deployed in a representative capacity, that the King’s honour is vindicated.«76 Thomas deutet damit auf die berichtigende Handlungstendenz der Figur als Reaktion auf die Defizienzen der Hofgesellschaft. Doch die Interventionen der Gauvainfigur ereignen sich erst an viel späterer Stelle der Romane. Aus ständischer Sicht waren die Lehnsnehmer eines Königs selbstverständlich aufgefordert, den König zu beraten und im Sinne der fides – dem von ihnen geleisteten Treueeid – bei Konflikten zu unterstützen. Wenn also die Vasallen und Abhängigen des Königs die Krise der Artusgesellschaft als ›ihr Anliegen‹ betrachten müssen, umso mehr ist zu erwarten, dass gerade Gauvain, der Königsneffe, sich in akuten Krisensituationen aufgerufen fühlen muss, dem König zu Hilfe zu eilen, da er durch das noch viel engere Verhältnis der familiaritas an die Person des Herrschers und das Wohl seines Hofes gebunden ist.77 In den zuvor genannten Beispielen der Charrette und
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Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 36. Thomas: Diu Crône, 2002, S. 4. Die Bedeutung der familiaritas als Verpflichtung »zu wechselseitiger Unterstützung und Hilfe
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des Conte du Graal muss insbesondere die Forderung der Provokateure, Artus möge einen Ritter schicken, dem er vertraue, als Hinweis auf Gauvain verstanden werden, dem die Rolle des Vertrauenswürdigen am ehesten zugesprochen werden dürfte. Das Muster, nach welchem die Gauvainfigur dann allerdings tatsächlich agiert, besteht überraschender Weise darin, dass sie – mit Ausnahme von Erec et Enide – in keiner einzigen Initialkrise zum Einsatz kommt. Auch dieser auf den ersten Blick befremdliche Umstand ist ein fester Bestandteil im narrativen Gefüge der Romane Chrétiens. Romaine Wolf-Bonvin spricht vom Artushof als »le lieu d’une tension entre forces centrifuges et centripètes, impulsées par ces deux personnages-clés«.78 Mit den ›Schlüsselfiguren‹ meint Wolf-Bonvin Gauvain und Keu. Mit der angesprochenen zentripetalen Kraft ist jene gemeint, die bestrebt ist, die höfische Utopie zusammenzuhalten, mit der zentrifugalen jene, die die Utopie der höfischen Gesellschaftsordnung zu sprengen droht. Man muss sich Gauvain und Keu folglich als zwei Seiten einer Medaille vorstellen, indem der eine vor allem dann in Aktion tritt, wenn der andere aus dem Geschehen ›ausgeblendet‹ wird und indem die Aktionen des anderen jeweils darauf ausgerichtet sind, die Aktionen des einen zu konterkarieren oder zu korrigieren. Darauf ist noch zurückzukommen. Zusammengefasst führen die Provokationen während der Initialkrise zu Handlungsstockungen (Stasis), die eine Intervention Keus ermöglichen, während Gauvain ausgeblendet bleibt. Keu fungiert als das handlungstreibende Element, das die Lähmung der Hofgesellschaft durchbricht und die Handlung aus dem Stillstand herausbewegt. Dennoch ist die Gauvainfigur als Vertreter der arthurischen Gesellschaft, als Lehnsmann und Neffe des Herrschers mit der Lösung der Krisenursachen verknüpft, was die nachfolgenden Erörterungen erweisen werden.
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in allen Lebensbereichen« unterstreicht etwa Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, S. 170. Althoff unterscheidet »drei wesentliche Formen« der mittelalterlichen Personenbindung, neben der verwandtschaftlichen die freundschaftlich-genossenschaftliche (amicitas) und die herrschaftliche (fides), vgl. S. 185. Romaine Wolf-Bonvin: ›Gauvain et la Demoiselle aux Petites Manches: l’enfance de l’aventure‹, in: Le Conte du Graal. Chrétien de Troyes. Hrsg. von D. Quéruel. Paris 1998, S. 102–116, Anm. 1 (S. 103).
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II.4
Die Versromane ohne Gauvainqueste
II. 4.1 Gauvain in Erec et Enide II. 4.1.1 Die Initialkrise in Erec et Enide. Eine programmatische Ausgangsposition Einzig in Erec et Enide ist ein unmittelbarer Handlungszusammenhang zwischen Hofkrise und Gauvainfigur gegeben. Gauvain erscheint hier als Ratgeber des Königs. Der Beratungsfunktion kam laut Althoff eine ganz wesentliche Rolle in der mittelalterlichen Konfliktführung zu.79 Sie lässt sich in einer ganzen Reihe von Chrétiens Romanen aufzeigen, wo sich Gauvain nicht selten sogar warnend oder rügend an den König und manchmal auch an andere Figuren wendet.80 Dass die Gauvainfigur in Erec et Enide ohne Verzögerung auf die drohende Problematik reagiert, die mit der Krise verbunden ist, dürfte der erzähltechnische Grund dafür sein, weshalb die Keufigur während dieser Szene nicht in Erscheinung tritt, worauf gleich zurückzukommen ist. Die Krisensituation in der ersten Hofszene des Romans Erec et Enide ergibt sich wie erwähnt aus dem Beharren des Königs Artus auf dem costume der Jagd auf den weißen Hirschen. Sie entsteht also ohne Eingriff von außerhalb des Hofes, sondern beruht auf den Spannungen, die das costume unter den Vasallen aufwirft. Dieser Brauch besteht darin, dass derjenige, der den weißen Hirschen erlegt, das Recht hat, die schönste Dame des Hofes zu küssen. Gauvain reagiert auf den Jagdaufruf des Königs, indem er vor den Konsequenzen warnt. Jeder der vielen hundert Ritter am Hof, so argumentiert er, würde nach der Jagd behaupten, seine Dame sei die Schönste. Die Ausübung des Brauchs müsse also zu Spannungen in der Hofgesellschaft führen [vgl. V.41–58]. Nachdem König Artus den weißen Hirsch später tatsächlich erlegt hat, entsteht die von Gauvain befürchtete Konfliktsituation unter den Edelleuten, die schon auf Schwertkampf und Lanzenstoßen sinnen, um das Ansehen der von ihnen auserwählten Dame als die Schönste mit Gewalt durchzusetzen. Erneut ist es Gauvain, der sich warnend an den König wendet [V.302–306]. König Artus bleibt darauf keine andere Wahl, seine Hilflosigkeit einzugestehen und Gauvain zu bitten, ihm aus der Klemme zu helfen, sein Recht durchzusetzen und seine Ehre zu retten (sauve m’annor et ma droiture [V.309]). Ausdrücklich fordert Artur seinen Neffen auf – beratet mich! (conselliez m’an [V.308]).
79 80
Althoff: Spielregeln, 1997, S. 157. Vgl. u. a. Nitze: Charakter of Gauvain, 1952/53, S. 222; Busby: Gauvain, 1980, S. 50, SchmolkeHasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 89. Ausführlicher Douglas Kelly: ›Gauvain and fin’amors in the Poems of Chrétien de Troyes‹, in: Studies in Philology 67 (1970), S. 453–460, S. 455.
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Der König ist in dieser Hofkrise der Verursacher und steht zugleich machtlos vor ihren Konsequenzen. Man sieht ihn also in diesem ersten arthurischen Versroman Chrétiens – quasi in programmatischer Vorausdeutung auf seine Rolle in allen späteren Texten – in genau jener zwiespältigen Position zwischen der Verkörperung eines ethischen Anspruchs einerseits (annore) und der Rolle eines Vabanquespielers andererseits, der alles das, wofür er steht, nur dadurch erhalten kann, dass er es rücksichtslos aufs Spiel setzt. Letzteres bedeutet natürlich, dass ihm – wie jedem Spieler – die Kontrolle über die weiteren Ereignisse aus den Händen genommen ist. Das ist die Typik der arthurischen Königsfigur, die zuvor theoretisch erörtert wurde (vgl. Abschnitt II. 3), und die für den gesamten, weiteren Verlauf der Studie konstitutiv ist. Die Hilflosigkeit des Königs ist die literarische Funktion einer Figur, die Köhler lediglich als Symbol, nämlich als »ästhetisch-sittliche« Bezugs- und Korrekturgröße, jedoch nie als »König im Sinne eines Herrschers« versteht.81 Nicht, dass sich Artus in der entstandenen Krise an dritte zur Hilfeleistung wendet, sondern an wen er sich wendet ist folglich signifikant. In Erec et Enide ist es zwar die Königin, die eine Verschiebung des beisier (des Kussrituals) durchsetzt. Doch der erste Aufgerufene, d. h. sowohl der erste, der vor den Konsequenzen warnte als auch der erste, den Artus später um Hilfe bittet, ist bezeichnenderweise Gauvain. Hier offenbart sich zum ersten Mal der enge Zusammenhang zwischen der Krise des Hofes, der schwachen Königsfigur und der Figur Gauvains, die – wie Köhler mit einem Zitat von W.A. Nitze referiert – »supplies the strengh and judgement that Arthur lacks.«82 Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass während der Initialkrise in Erec et Enide allein Gauvain als Interaktionspartner des Königs in Erscheinung tritt, während Keu in ganz untypischer Weise reagiert, nämlich indem er gar nichts tut. Es fehlt in dieser Szene sein für die späteren Romane kennzeichnender Auftritt als Spötter und Provokateur. In Erec et Enide ist das Interaktionsmuster der Hofakteure während der Initialkrise folglich eine spiegelbildliche Umkehrung des Musters, welches die nachfolgenden Romane erkennen lassen, wo Keu die treibende Kraft während der jeweiligen Krise ist, und umgekehrt Gauvain gar nicht in Erscheinung tritt. Bernd Schirok hat schon einmal auf diese Handlungskorrelation zwischen den beiden antagonistischen Hofakteuren hingewiesen. Bezüglich der »Auftritte von Keie und Gawan im ›Iwein‹ und im ›Parzival‹« stellte Schirok fest: »Keie spielt eine wichtige Rolle in der ersten Artusszene, in der Gawan nicht oder kaum in Erscheinung tritt. In der letzten Artusszene ist es umgekehrt. Keie tritt in ihr nicht mehr oder nur am Rande auf, während Gawan eine wichtige Rolle spielt.«83 Man kann die Interaktion der Figuren
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Köhler: Ideal und Wirklichkeit, 1956 (2. 1970), S. 21f.. S. Anm. 81, S. 7, Anm. 2. Bernd Schirok: Artus der meienbære man, 1989, S. 72.
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Keu und Gauvain sehr gut am Modell jener beispielsweise in Süddeutschland beliebten, hölzernen ›Wetterhäuschen‹ veranschaulichen, die mit zwei Türen versehen sind, aus denen in Abhängigkeit von den Witterungsumständen entweder eine kleine Dame im Sommerkleid heraustritt oder ein kleiner Herr mit Regenschirm. Der Mechanismus bedingt aber, dass nie beide gleichzeitig ›aktiv‹ werden können, sondern jeweils eine der Figuren zur ›Unsichtbarkeit‹ verurteilt ist, während die andere ihren Auftritt hat. Dass es in Erec et Enide im Anschluss an die Initialkrise nicht zu einer Gauvainhandlung kommt, die mit berichtigender Tendenz auf diese Krise reagierte, dürfte einerseits damit zusammenhängen, dass Gauvain schon im Augenblick des Entstehens der Krise als Mahner und Ratgeber reagiert, während andererseits im zweiten Teil des Romans, wo die Gauvainfigur bei Chrétien typischerweise einen solchen Handlungsspielraum hätte, keine Veranlassung mehr für sein Eingreifen besteht. Dort ist ja, wie die vorher zitierte Abschnittsmarkierung des Erzählers belegt, die Krise des Hofes im costume des blans cers auserzählt und der erste Handlungsstrang abgeschlossen. Das typische Interaktionsmuster zwischen König, Keu, Gauvain und dem Protagonisten, welches sich in allen weiteren Romanen nachweisen lässt, findet sich aber trotzdem auch in Erec et Enide, allerdings erst an späterer Stelle. Erec et Enide als der erste Artus-Aventiureroman Chrétiens, somit als narrativer Ursprung des Genres der Versromane, exponiert in der Initialkrise eine Thematik, die als programmatisch für sämtliche arthurischen Versromane (bis hin in die nachklassische Zeit und also auch für die hier untersuchte Crône Heinrichs oder den Roman van Walewein von Penninc und Vostaert) gelten kann. Oberflächlich betrachtet scheint es nur darum zu gehen, wie Anerkennung für die schönste Dame bei Hof durch einen Kuss zum Ausdruck gebracht werden kann, ohne dadurch Gewalt und Blutvergießen herauszufordern. Jedoch als übergeordnetes Deutungsmuster, das in allen weiteren Texten relevant wird, verbirgt sich dahinter die Frage nach der Integration des schönen Geschlechtes in die prestigebewusste, potentiell gewaltbereite Männergesellschaft der Tafelrunde. Dieses Thema kann einerseits als ein personales konkretisiert werden, nämlich als die Frage, wie man die eigene Geliebte und das affektive Zusammenleben mit dem höfischen Dasein als gesellschaftlicher Lebensform in Übereinstimmung bringen kann. Diese Frage wird bekanntlich an dem Protagonisten Erec und seiner Enide narrativ durchgespielt. Doch die andere Seite derselben Fragestellung ist keine personale, sondern eine gesellschaftliche. Sie lautet: wie kann man das höfische Geschlechterverhältnis als Gemeinschaft von starken (potentiell gewaltbereiten) Männern und schönen Frauen so organisieren, dass sich daraus die Harmonie der höfischen Festsituation ergibt. Das Thema des höfischen Geschlechterverhältnisses also ist es, welches im Hintergrund der allerersten, je in einem klassischen Artusroman geschriebenen Szene als Sprengsatz unter dieser utopischen Zivilisation wirksam 40
ist. Und genau auf dieses Thema hin erfolgt die erste von vielen weiteren Reaktionen des Warnens, des Ratgebens sowie später des Eingreifens und Handelns der Gauvainfigur. Die Problematik, die offenbar in diesem gar nicht so idealen, weil gar nicht spannungsfreien Geschlechterverhältnis enthalten ist, darf man mit Rainer Warning gewiss als eine jener lebensweltlichen Einflüsse bezeichnen, die den narrativen Mechanismen, die im Folgenden noch beschrieben werden, von außen ihre Bestimmung und ihre Begrenzung setzen.84 Axiologische Setzungen (d. h. die ethischen Normvorstellung des impliziten Autors) wären in diesem Sinn die von Chrétien propagierte, utopisch-spannungsfreie Gemeinschaft von Mann und Frau im höfischen Fest (nichts anderes ist ja die joie de la court), die Pflicht der Artusgesellschaft, dieses Verhältnis nicht durch asoziales Verhalten zu beschädigen (wogegen Erec durch die recreantise verstößt), und die Pflicht der Ritterschaft, dieses Verhältnis, wo es einmal gestört ist, nötigenfalls durch Einsatz des eigenen Lebens wiederherzustellen. II.4.1.2 Gauvains Handeln in Erec et Enide. Das klassische Interaktionsmuster. Trotz seiner bescheidenen Rolle tritt Gauvain noch einige Male in Erec et Enide in Erscheinung. Hier interessiert nur die Szene der unfreiwilligen Zwischeneinkehr Erecs im Zeltlager des Artus. Sie erlaubt eine Beschreibung des Interaktionsmusters der Gauvainfigur, das für die späteren Versromane Chrétiens bestimmend bleiben soll. Gleich vorweg sei darauf hingewiesen, dass die Figur in dieser Szene (anders als noch während der Hofkrise zu Eingang des Romans) sich nicht mehr durch rechtzeitige Intervention profiliert, sondern zunächst durch ein auffälliges Aus-der-Handlung-Verschwinden. Der Artushof hat unterwegs seine Zelte aufgeschlagen, da borgt sich Keu ohne ausdrückliche Zustimmung aber auch ohne jemandes Widerspruch (onque ne li contredist nus [V.3942]) Gauvains Pferd Gringalet und Gauvains Waffen aus. Auf seinem anschließenden Ausritt entdeckt er den umherirrenden Erec und versucht ihn dazu zu bewegen, mit ihm an den Hof zurückzukehren. Dem Publikum wird in den folgenden Szenen ausdrücklich bestätigt, dass Artus ein Interesse daran hat, Erec an seinen Hof zurückzubringen [vgl. V.4060–63 u. 4176–79]. Erec widersetzt sich aber der Aufforderung Keus, wirft Keu aus dem Sattel und nimmt ihm Gringalet, das Pferd Gauvains, ab. Chrétien hebt nun hervor, dass der verwundet umherirrende Held Erec sowohl den Seneschall als auch Gauvains Schild und das berühmte Pferd Gringalet genau erkannt hatte: Erec conut le seneschal et les armes et le cheval [V.3949f.]. Demnach wusste er genau, dass er trotz des Wappens auf Gauvains Schild und trotz Gauvains Pferd eben nicht Gauvain, sondern Keu vor sich 84
Warning: Heterogenität, 1979, S. 80.
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hatte. Aber das anmaßende Auftreten Keus in dieser Szene, welches sowohl der Erzähler als auch Erec als hochmütig (orgueilleus [vgl. V.3967 u. 4014]) verurteilen, ist trotzdem nicht nur eine ›eigenmächtige‹ Tat des für seine desmesure bekannten Seneschalls. Zwar ist es Keu, der in dieser Szene handelt, aber er tut dies auch im Interesse des Hofes und des Königs, wobei sein unhöfisches Auftreten ausgerechnet durch die Attribute des hervorragendsten Vertreters des Hofes aufgewertet wird, sich also sozusagen ›im Zeichen‹ Gauvains vollzieht. Weder Gauvain noch sonst jemand aus der Hofgesellschaft hat ja verhindert, dass Keus peinliches Verhalten mit Gauvains ›Statussymbolen‹ assoziiert ist. Per Nykrog sieht in Keus Entwenden der Attribute Gauvains ein Verkleidungsspiel, bei dem Keu in die Rolle Gauvains schlüpfen will: »il veut jouer à être lui – quelle autre raison pouvait-il avoir pour ›emprunter‹ le Gringalet et aller caracoler tout seul, maniant la lance et l’écu mêmes du grand Numéro Un?«85 Demnach hätte Keu Gauvains Pferd und Waffen also nicht nur aus praktischen Gründen entwendet, sondern das Verkleidungsspiel veranschaulicht, dass Keu hier anstelle Gauvains handelt. Aufgrund dieses Rollentausches bleibt etwas von der unrühmlichen Affäre an Gauvain selbst haften, nicht zuletzt indem gerade ihm sein berühmtes Pferd Gringalet abhanden gekommen wäre, wenn Erec es nicht aus Großmut zuletzt dem gedemütigten Keu noch zurückgegeben hätte. Der hervorragende Gauvain wird somit bereits in Chrétiens erstem Roman mit einem peinlichen Zwischenfall in Verbindung gebracht, an dem er nicht direkt beteiligt ist, der ihn aber wenigstens indirekt in Mithaftung nimmt. Die Unaufmerksamkeit Gauvains, die den Verlust Gringalets und manchmal auch seiner Waffen (also den Verlust wesentlichen Komponenten seiner ritterlichen Identität) nach sich zieht,86 spielt nicht nur in anderen Romanen Chrétiens, sondern auch in einigen postklassischen Romanen eine Rolle. Gauvain kann schließlich eine Lösung der Situation herbeiführen und den Protagonisten tatsächlich an den Hof mitführen. Bezeichnenderweise wird es jedoch auch ihm nicht gelingen, Erec dazu zu bewegen, seinen Widerstand aufzugeben, und ihm freiwillig zu folgen. Die Figur des Protagonisten hat ganz andere Ziele als Gauvain. Ihn treibt eine personale Motivation. Gauvain bleibt nichts anderes übrig, als die personalen Ziele Erecs mit einer List zu durchkreuzen, indem er den Protagonisten so lange aufhält, bis der Artushof Zeit hatte, umzuziehen und seine Zelte auf dem Weg, den Erec nehmen wird, als Hindernis aufzubauen. Gauvain treibt bei dieser List eine gesellschaftskonforme Motivation, nämlich die Durchsetzung der Ziele des Hofes, die nur gegen den Willen Erecs erreicht werden können. Man kann also sagen, dass die Hofak-
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Nykrog: Romancier discutable, 1996, vgl. S. 69. Vgl. Keith Busby: Chrétien de Troyes. Perceval (Le Conte du Graal). Critical Guides to French Texts. London 1993, S. 76.
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teure, hier Gauvain (zuvor aber auch bereits Keu), in einem antagonistischen Verhältnis zur Figur des Protagonisten aufgestellt sind. Dieser Antagonismus zwischen Gauvainfigur und dem jeweiligen Protagonisten wurde von Christoph Cormeau als »Teilnahme an der dialektischen Beziehung zwischen Hof und Protagonist« interpretiert und mit der Wertedifferenz zwischen dem »ethischen Anspruch des Hofes«, verkörpert durch den Musterritter Gauvain einerseits und der in eine »subjektive Zeit des Helden« gestellten Protagonistenfigur andererseits, erklärt.87 Die Episode der Zwischeneinkehr in Erec et Enide lässt rückblickend folgendes Interaktionsmuster von sieben Elementen erkennen: 1) Der Artushof hat ein bestimmtes Anliegen, eine Aufgabenstellung oder ein Problem. Dieses kann Folge einer Provokation sein oder – wie hier – die erwünschte Rückführung des umherirrenden Protagonisten an den Hof. Das Anliegen, das im Namen der reïne et le roi vorgetragen wird, die dem Helden große Ehre erweisen möchten (qui de vos grant joie feront et grant enor vos porteront [V.3987f.]), kann nicht von der Figur des Königs selbst realisiert werden. An seiner Stelle kommen die Figuren Keu und Gauvain als Handelnde in Betracht. 2) Der für die Aufgabe prädestiniert erscheinende Gauvain tritt trotzdem zunächst nicht in Aktion. Die Figur ist in solchen Situationen entweder passiv, wird gar nicht erwähnt oder verschwindet, wie im hier besprochenen Beispiel, quasi von der Bildfläche (Inertia der Gauvainfigur). 3) Ausgerechnet Keu, den Chrétien in seinen Romanen durch zunehmende »Zwielichtigkeit« als »Kontrastfigur« zu Gauvain aufbaut,88 schlüpft in Gauvains Rolle, übernimmt die gestellte Aufgabe und scheitert. In der gegebenen Konstellation von Anliegen des Hofes, Schwäche des Königs und resultierendem Handlungsauftrag an die agierenden Hoffiguren zeigt der Erzähler die Gauvainfigur in einer ›unbeabsichtigten Mitverantwortung‹. Unbeabsichtigt ist Gauvains Mitverantwortung deshalb, weil er nicht wissen konnte, dass der gesuchte Protagonist Erec in der nächsten Szene zufällig Keu in die Arme laufen sollte. Gauvain ist vielleicht auch deshalb schuldlos, weil er nicht sehen konnte, dass Keu sich seine Waffen und sein Pferd ausgeborgt hat, denn er hatte sich, nach dem Ablegen der Waffen und Anbinden des Pferdes, sofort in des Königs Zelt begeben. Allerdings wäre zu fragen, ob er nicht einen seiner Knappen, die häufig im Zusammenhang mit der Gauvainfigur erwähnt werden (in dieser Szene der Zwischeneinkehr Erecs etwa die dui vaslet [V.4064]),89 hätte beauftragen müssen, das Pferd abzuzäumen. Doch das unterblieb, denn Gauvain hatte das Pferd gesat87 88 89
Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 140. Jürgen Haupt: Der Truchseß Keie im Artusroman. Untersuchungen zur Gesellschaftsstruktur im höfischen Roman. Philologische Studien und Quellen, Heft 57. Berlin 1971, S. 31f. Vgl. Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 89: »Aus diesem Grund wird er als Knappenausbilder sehr geschätzt.«
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telt und aufgezäumt la sele mise et anfrené [V.3936] am Baum zurückgelassen. Nach einem langen, ermüdenden Ritt, wie ihn Gauvain offenbar hinter sich gebracht hatte [vgl. V.3930], wäre zu erwarten, dass das erschöpfte, verschwitzte Pferd abzuzäumen und zu versorgen ist. Mitverantwortung an dem peinlichen Zwischenfall zwischen Erec und Keu trifft Gauvain also sowohl durch die Assoziation des hoffärtigen Auftretens Keus ausgerechnet mit Gauvains Symbolen (Wappen, Waffen und Pferd) als auch durch dessen Fahrlässigkeit und seine Abwesenheit im entscheidenden Moment.
4) Keus Agieren provoziert die Reaktion des Protagonisten. In den späteren Romanen wird die Protagonistenfigur durch Keus provokatives Handeln erst auf den Plan gerufen oder ›aktiviert‹. (Intervention des Protagonisten). 5) Auf Keus Anmaßung folgt seine Bestrafung, d. h. der typische Abwurf vom Pferd. 6) Nach dem Ausschalten der Figur des Seneschalls als Sachwalter der Belange des Hofes erfolgt im sechsten Schritt endlich die lange verzögerte Intervention der Gauvainfigur. 7) Es ist diese Figur, die den Protagonisten an den Hof zurückzuholen versteht, und damit die vom König erwünschte Lösung bewirkt (Rektifikation). Die List, die Gauvain anwenden muss, um den Protagonisten gegen dessen Willen an den Hof zu führen, ist das erste, empirische Indiz für das typische, antagonistische Verhältnis zwischen dem Hofakteur und dem Protagonisten. Der Hofakteur wird bei seinem Handeln von den Interessen der Hofgesellschaft geleitet (gesellschaftskonforme Motivation), während der Widerstand des Protagonisten auf einer personalen Motivation beruht. Zusammenfassend sind am Beispiel von Erec et Enide nun zwei sehr ähnliche funktionale Zusammenhänge beschrieben, in die die Gauvainfigur eingebunden ist. Der erste Zusammenhang bestand in der Initialkrise des Hofes, die eine Reaktion der Gauvainfigur erforderte. In Erec et Enide blieb die Reaktion Gauvains wie oben dargelegt auf die Beraterfunktion beschränkt. Durch sein Einschreiten blieb der andere potentielle Handlungsträger des Hofes, nämlich Keu, in dieser für ihn sonst charakteristischen Szene ›ausgeblendet‹. (Wetterhäuschenmechanismus). Der zweite Zusammenhang, der am Beispiel der Zwischeneinkehr Erecs diskutiert wurde, ist vom Mechanismus her ganz ähnlich: ein Anliegen des Hofes erfordert stellvertretendes Handeln Gauvains für die passive Königsfigur. Auffällig an der besprochenen Szene der Zwischeneinkehr war die ›Inertia‹ der Gauvainfigur. Mit dem Terminus ›Inertia‹ soll fortan das signifikante Element des anfänglichen Nicht-Eingreifens, Zu-spät-Kommens oder der Abwesenheit im entscheidenden Moment bezeichnet werden, das im konkreten Beispiel Keu die Möglichkeit eröffnete, sich anstelle Gauvains auf dessen Pferd zu schwingen und Erec zu belästigen. Der Begriff ›Inertia‹ bezieht sich also auf die narrative Funktion Gauvains, nämlich das erzählerische ›Ausblenden‹ der Figur, nicht etwa auf eine vermeintlich psychologisch motivierte Trägheit oder 44
Unfähigkeit. Erst das Ausblenden Gauvains ermöglicht dem zweiten Hofakteur, dem ›zentrifugalen‹ Alter Ego des Königsneffen, seinen peinlichen Auftritt. II.4.2 Gauvain im Chevalier au Lion Nun ein Blick auf den Chevalier au Lion, den Roman, in welchem der Ritter Yvain durch das Terminversäumnis die Huld seiner Gemahlin Laudine, der Dame de la Fontaine, verliert. Sowohl aus chronologischen Gründen90 als auch aufgrund der Anspielungen, die im Roman des Löwenritters auf die Handlung der Charrette gemacht werden, welche sich zeitlich mit der Handlung des Chevalier au Lion überschneidet, wurden die beiden Romane schon als »SuperRoman« bezeichnet, die »eine intertextuelle Analyse« verlangten,91 und die zum Beispiel Emmanuèle Baumgartner veranlasste, sie in einem Zusammenhang quasi als einen Romankomplex zu besprechen.92 Die drei Hinweise im Chevalier au Lion auf den Karrenritterroman beziehen sich alle auf Gauvain. Zwei davon berichten, dass er zu bestimmten Zeitpunkten nicht in der Lage ist, als Verteidiger des Fräuleins Lunete oder eigener Verwandter aufzutreten, weil er sich auf die Suche nach der entführten Königin Guenièvre begeben hat. Der dritte Hinweis findet sich anlässlich der Schilderung eines Gerichtskampfes, bei welchem Gauvain nach der Befreiung Guenièvres für die ältere Schwester de la Noire Espine antreten kann. Damit scheint Gauvain eine Art Intermediär des Lancelot- und des Yvainromans zu sein, was Uitti veranlasste, die Funktion der Gauvainfigur in beiden Texten gegen die Funktion der beiden Protagonisten abzusetzen und ihn als das Element der arthurischen »Impotenz« zu sehen, die von den Leistungen der Protagonisten Yvain und Lancelot übertroffen werde. Die vorliegende Untersuchung wird die Romane nacheinander besprechen, denn das Fehlen einer Queste Gauvains erfordert eine andere Bewertung seiner Rolle im Chevalier au Lion als in der Charrette. Die Handlungsabschnitte des Chevalier au Lion, in die Gauvain involviert sind, haben nicht nur Uitti zu einer harschen Kritik des ›Charakters‹ der Gauvainfigur veranlasst.93 Auch Kelly, Busby, Lacy und andere heben den ›schlech90
91 92 93
Zur Frage der Chronologie, vgl. u. a. Philippe Ménard: ›Note sur la date du Chevalier de la Charrette‹, in: Romania 92 (1971), S. 118–126 wieder abgedruckt in Ders.: De Chrétien de Troyes au Tristan en prose. Études sur les romans de la table ronde. Publication Romanes et Françaises, CCXXIV. Genève 1999, vgl. S. 9–14, D.J. Shirt: ›How much of the Lion can we put before the cart. Further light on the chronological relationship of Chrétien de Troyes‹ Lancelot and Yvain‹, in: French Studies 31 (1977), S. 1–17 und Karl D. Uitti: ›Le Chevalier au Lion (Yvain)‹, in: The Romances of Chrétien de Troyes. A Symposium‹. Hrsg. von D. Kelly. The Edward C. Amstrong Monographs on Medieval Literature, 3. Lexington, Kentucky, 1985, S. 182–231, hier u. a. S. 182–185. S. Anm. 90, S. 189. Emmanuèle Baumgartner: Chrétien de Troyes. Yvain, Lancelot, la charrette et le lion, Études Littéraires. Paris 1992. Karl D. Uitti: Chevalier au Lion, 1985, vgl. u. a. S. 217f..
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ten Rat‹ hervor, mit welchem Gauvain seinen Freund Yvain zum Verlassen Laudines drängt und auf Turnier- und Abenteuerjagd schickt, und durch welchen er letztendlich Yvains Terminversäumnis mitverschuldet.94 Zweitens wird geltend gemacht, dass Gauvain Lunete »unsterbliche Liebe« verspreche,95 ohne damit wirklich eine entsprechende Absicht zu verbinden. Der dritte Kritikpunkt der Forschung entzündet sich an Gauvains Engagement im Gerichtskampf für die ältere Schwester de la Noire Espine, die ihre jüngere Schwester um ihr Erbteil bringen will. Es spricht sicher manches dafür, dass in diesem Roman die Konventionen des arthurischen Erzählens in ironisches Licht gerückt werden.96 Aber die drei eben benannten, vermeintlichen Fehlleistungen Gauvains sind damit nicht erklärt. Sie sollen jetzt noch einmal zur Diskussion gestellt werden. Das Hauptinteresse dieses Abschnitts gilt den Mechanismen, die in der vorausgegangenen Besprechung von Erec et Enide für die Gauvainfigur als wirksam erkannt wurden. Deshalb zunächst ein Blick auf die Situation der Initialkrise, die den Ankerpunkt für das Handeln der Gauvainfigur darstellt. II.4.2.1 Die Initialkrise im Chevalier au Lion Der Chevalier au Lion hat unter den Versromanen Chrétiens eine auffällige Stellung durch seinen bemerkenswerten Prolog. Im Gegensatz zur Charrette und dem Conte du Graal, wo das Lob der Auftraggeber (Marie de Champagne und Phillips von Flandern) gesungen wird, wird im Prolog des Chevalier au Lion die Figur König Artus verherrlicht. Sein Lob ist mit der Aufforderung zur courtoisie verbunden, das heißt einem »gesellschaftlich tadellosen Verhalten«,97 welches die Königsfigur verkörpert, die das Publikum lehrt, que nos soiens preu et cortois [V.3] (›heldenmutig und höfisch zu sein‹). Umso erstaunlicher dann, dass das idealisierte Beispiel des Königs sich gleich beim Einsetzen der Handlung des Romans alles andere als vorbildlich zeigt. Artus hat sich nämlich auf dem Höhepunkt des Pfingstfestes aus dem Kreis der Hofgesellschaft zurückgezogen, um mit der Königin allein zu sein, ein Vorfall, der am Hof großes Erstaunen und erheblichen Verdruss auslöst:
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Douglas Kelly: ›Gauvain and fin’amors in the Poems of Chrétien de Troyes‹, in: Studies in Philology 67 (1970), S. 453–460, S. 456; Busby: Gauvain, 1980, S. 69–71; Lacy: The craft of Chrétien, 1980, S. 96; Baumgartner: Yvain, Lancelot, 1992, S. 45. Busby: Gauvain, 1980, S. 68. Der Begriff der Komödie dürfte auf Frappier: Étude sur Yvain, 1969, zurückgehen, der von einer »tragi-comédie de l’aventur et de l’amour« (S. 19) sprach. Vgl. auch Uitti: Chevalier au Lion, 1985, S. 211f., laut welchem der Chevalier au Lion »employs procedures of comedy in presenting Arthurian courtliness [...] the text’s comic frame deliberately, and in interesting ways, places the Arthurian world at the service of other considerations.« Gemeint sind andere Erwartungen als eben die konventionellen. Vgl. auch Haug: Komödie von Yvain, 1999, S. 99–118. Nykrog: Romancier discutable, 1996, S. 153.
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Mes cel jor molt se merveillierent del roi qui eincois se leva, si ot de tex cui molt greva et qui molt grant parole an firent, por ce que onques mes nel virent a si grant feste an chambre antrer por dormir ne por reposer; mes cel jor ensi li avint que la reïne le detint si demora tant delez li qu’ il s’oblia et endormi. [V.42–52] [Aber an diesem Tag erstaunte sie der König sehr, der sich aus ihrer Mitte erhob, was einige von ihnen sehr bedrückte, und wovon sie viel Aufhebens machten, denn sie hatten noch niemals beobachtet, dass er sich bei einem so großen Fest weder zum Schlafen noch zur Erholung in seine Kammer zurückgezogen hätte. Aber an diesem Tag passierte es ihm, dass die Königin ihn festhielt; er verblieb so lange bei ihr, bis er die Zeit vergaß und einschlief.]
Ausgerechnet die programmatische Leitfigur der courtoisie, König Artus, den der Erzähler soeben als ethischen Orientierungspunkt für die höfische Gesellschaft hingestellt hatte, begeht hier den Fehler der recreantise – des Vernachlässigens seiner gesellschaftlichen Pflichten zugunsten der intimen Zweisamkeit mit seiner Dame. Mohr stellt fest: »König Artus ›verliegt sich‹ zu Anfang des ›Yvain‹ bei der Königin, sogar zu Mittag des Pfingstfestes, wo doch die Hofgesellschaft Anspruch auf seine Gegenwart hätte.«98 Nykrog hat gezeigt, dass nicht nur das moderne, sondern auch das mittelalterliche Publikum Anlass hatte, hinter dem Verschwinden des Königspaares quasi im Separée mehr als bloße Müdigkeit zu vermuten: »Il y a d’abord le grand roi qui délaisse sa cour au milieu d’un jour de grande fête pour aller s’enfermer dans sa chambre avec la reine. Le lecteur de la fin du XXe siècle devine bien ce qui se passe derrière cette porte close, et les lecteurs médiévaux ont dû penser comme nous: le texte décrit en termes assez forts le malaise que cause cette indélicatesse, et une gêne comparable semble avoir frappé les adapteurs étrangers, si on peut en juger par leurs efforts pour dissipier en soulignant qu’il s’agit bien de dormir.«99
Es ist mitten im Glanz des höfischen Festes eine ernste Störung eingetreten. Die Initialkrise im Chevalier au Lion ist wie die in Erec et Enide eine Folge des Handelns der Königsfigur. Die Krise besteht damit bereits vor dem Eintreten einer Provokation von außen. Übrigens wird der Königin vom Erzähler eine 98
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Wolfgang Mohr: ›König Artus und die Tafelrunde. Politische Hintergründe in Chrétiens Perceval und Wolframs Parzival‹, in: Wolfram von Eschenbach. Aufsätze von W. Mohr. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Bd. 275. Göppingen 1979, S. 170–222, S. 171. Nykrog: Romancier discutable, 1996, S. 154.
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beträchtliche Mitverantwortung für den Ausrutscher angelastet, denn sie hielt ihren Gemahl zurück: la reïne le detint si demora tant delez li qu’il s’oblia et endormi [V.50–52]. Gauvain ist zwar Zeuge der Abwesenheit des Königspaares, aber in der nachfolgenden Szene der Erzählung Calogrenants von seinem Brunnenabenteuer wird nicht er, sondern zunächst Keu durch kritische Bemerkungen auffallen. Beim Eintreten der Königin, die – einmal erwacht – sich in die kleine Gruppe von Calogrenants Zuhörern zu schleichen versucht hatte, springt Calogrenant, der ihr Kommen als einziger bemerkt hatte, von seinem Sitz auf, um sie zu begrüßen. Dieses Verhalten, mit dem er die Königin ehrt, erbost den Seneschall. Keus beleidigender Ausfall, es entzücke ihn, festzustellen, dass Calogrenant der höfischste Ritter von ihnen allen sei (molt m’est bel quant vos estes li plus cortois de nos [V.73f.]), wurde in der Forschung oft mit seinem Schandmaul und dem ihm zugeschriebenen schlechten Charakter in Verbindung gebracht. Jürgen Haupt vermutete Eifersucht Keus auf die Gunst, die Calogrenant sich bei der Königin durch sein Verhalten erwerbe.100 Peter Haidu nahm an, »Keu s’irrite de la politesse de son pair, politesse qui lui semble empreinte de critique à son égard.«101 Nykrog sah darin »l’automatisme gratuit de la médisance«, wie er für Keu typisch sei. Keus Worte seien »dépourvus de fondement dans le vrai.«102 Es dürfte aber mehr hinter Keus Worten stecken, nämlich Indignation über das Verhalten der Königin und des Königs. Die Königin war sicher nicht ohne Grund heimlich in den Kreis der Zuhörer geschlichen, so dass fast niemand sie bemerkte (vint sor ax tot a celee qu’ainz que nus la poïst veoir se fu lessiee entr’ax cheoir [V.64f.] erschien auf leisen Sohlen schleichend so plötzlich zwischen ihnen, dass sie sich, bevor jemand sie hatte wahrnehmen können, schon mitten unter ihnen befand). Im heimlichen Eintreten der Königin wird das Motiv des Unbehagens greifbar, das sich aus der zu erwartenden Konsternation des Hofes über die plötzliche Abwesenheit des Königspaares ergab, denn der Hof befindet sich in einer »reaction of shock [...] at the kings unprecedented abandonment of the pentecostal celebrations.«103 Wenn nun Calogrenant mit großer Geste aufspringt, um die Königin beim Eintritt zu ehren, steht sein Verhalten in einem Missverhältnis zu ihrem Bemühen um Unauffälligkeit. Calogrenants Geste übergeht zudem die vorausgegangene Störung, das Fehlverhalten des Königspaares, als ob es nie stattgefunden hätte. Das scheint Keu zu missfallen. Er ergänzt seine sarkastische Bemerkung, Calogrenants Ehrbezeugung entzücke
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Haupt: Der Truchseß Keie, 1971, S. 20. Peter Haidu: Lion – Queue – Coupée. L’écart symbolique chez Chrétien de Troyes. Histoire des Idées et Critique Littéraire, Vol. 123. Genf 1972, S. 36. Nykrog: Romancier discutable, 1996, S. 155. Tony Hunt: Chrétien de Troyes: Yvain. Critical Guides to French Texts, 55. London 1985, S. 25.
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ihn, da sie ihn als den höfischsten unter den Anwesenden erkennen lasse, mit einer vieldeutigen Spitze: ja leissames por peresce, espoir, que nos ne nos levames ou por ce que nos ne deignames.
[V.80–82]
[Es lag soeben an der Faulheit, dass wir nicht aufgestanden sind, oder an Geringschätzung, so wird man denken.]
Entgegen dieser Bemerkung hätte aber weder die Königin noch sonst jemand das Sitzenbleiben der übrigen Anwesenden als Faulheit oder Geringschätzung auslegen können, denn sie hatte sich ja absichtlich unauffällig verhalten. Die beiden Vokabeln pereche und deignames sind trotzdem keine verbalen Entgleisungen. Eher schlagen sie auf die Königin zurück, denn die recreantise des Königspaares mag in den Augen Keus, der die Indignation der Hofgesellschaft noch nicht abgestreift hat, durchaus etwas mit Geringschätzung oder bestenfalls Faulheit zu tun haben. Tony Hunt sieht gerade Keu in dieser kritischen Situation als die treibende Kraft gegen die recreantise, »as a spur to action in a court where complacency and inertia are latent dangers (as is perhaps indicated by Arthur’s initial withdrawal from the festivities [...]).«104 Und wirklich, Keus anschließende Äußerung scheint diesen Zusammenhang herauszustellen: Mes par Deu, sire, nel feïsmes, mes por ce que nos ne veïsmes ma dame ainz fustes vos levez.
[V.83–85]
[Bei Gott, Herr, das war nicht der Grund warum wir es unterließen. Aber weil wir meine Herrin noch nicht gesehen hatten, seid Ihr vor uns aufgesprungen.]
Die Spitze gegen die Königin liegt in dem Hinweis, dass die übrigen Anwesenden sie noch nicht gesehen hatten, dass sie sich ihrer Gesellschaft entzogen hatte. Dass das plötzliche Erscheinen der Königin in dieser Situation problematisch ist, bestätigt auch Haug: »[...] wieder spielt sich der Auftakt der Handlung in Anwesenheit der Königin und in Abwesenheit des Königs ab, wobei eine eigentümlich gereizte Situation entsteht, die durch Keu verschuldet wird, deren letzte Ursache aber der unerwartete Auftritt der Königin ist.«105
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S. Anm. 103, S. 47. Walter Haug: ›Die Rolle des Begehrens. Weiblichkeit, Männlichkeit und Mythos im arthurischen Roman‹, in: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von M. Meyer, H.J. Schiewer. Tübingen 2002, S. 247–267, S. 255.
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Franziska Wenzel erklärt, warum die Abwesenheit des Herrscherpaares so ernste Spannungen provoziert. »Da das Wissen um die höfische Idealität der Artusrunde, das Wissen um die höfische Ordnung, nicht durch schriftgestützte Verhaltenscodes gesichert, sondern an das Gedächtnis der Gemeinschaft und an die körperliche Vergegenwärtigung gebunden ist, muß es im regelmäßig vollzogenen Fest multimedial erinnert und erlebbar gemacht werden.«106 Folglich argumentiert Wenzel: »In dieser Welt der Präsenz und der Visibilität muß die an den Körper des Adligen gebundene Idealität permanent vorgeführt und am Hof, dem Zentrum dieser Welt, visualisiert werden.«107 Auf dem Hintergrund dieser Notwendigkeit des Präsent-Seins im höfischen Fest erhalten die harten Worte des Seneschalls ihren eigentlichen Sinn, wird das versuchte, heimliche Sicheinschleichen der Königin als Ausdruck einer Normverletzung erkennbar. Denn gerade in der programmatischen Situation des Hoffestes zu Beginn einer arthurischen Erzählung ist solche Repräsentanz namentlich des Herrscherpaars unter allen Umständen geboten. Auch für Berndt Volkmann steht fest, dass das Erscheinen der gerade aufgewachten Königin den Streit verursacht, »der in Chrétiens Erzählkonzeption die schon durch Artus’ Mittagsschlaf bedingte Störung der Artusidealität verstärkt.«108 Das Handeln Keus (die Provokation) ist also an die ursprüngliche Störung zurückgebunden. Der Streit wird nämlich »zum Prätext für die erzählte Geschichte«, und, was noch bedeutsamer ist, »danach wird Keus streitbare Kritik an Yvains Absichtserklärung zum wichtigen Movens für die Initialaventiure des Helden.«109 Volkmann bezeichnet den von Keu provozierten Streit als »Irritationsstrategie, die sowohl die Streitbeteiligten, aber auch die Rezipienten des Romans verunsichern soll.«110 Man kann erneut konstatieren, dass diese Irritationsstrategie – das funktionale Muster aller Interventionen Keus in den Romanen Chrétiens – die Handlungslähmung am Anfang der Romane durchbricht, gerade indem sie das Movens für das Handeln des Protagonisten bildet. Nun ist auch die Reaktion der Königin recht vielsagend, die sich in diesem Augenblick in den Streit einmischt, keineswegs um zu vermitteln, wie es einer höfischen Frau zukäme, sondern bemerkenswerter Weise indem sie Keu mit
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Franziska Wenzel: ›Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein‹, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von B. Kellner, L. Lieb, P. Strohschneider. Mikrokosmos. Bd. 64. Frankfurt a.M. 2001, S. 89–109, vgl. S. 91. S. Anm. 106, S. 90f. Berndt Volkmann: ›Costumier est de dire mal. Überlegungen zur Funktion des Streites und zur Rolle Keies in der Pfingstfestszene in Hartmanns Iwein‹, in: bickelwort und wildiu mære. Festschrift für Eberhard Nellmann. Hrsg. von D. Lindemann, B. Volkmann u. a. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 618. Göppingen 1995, S. 95–108, S. 98. S. Anm. 108. S. Anm. 108, S. 99.
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allerhand Injurien bedenkt. Sie nennt ihn einen Giftverspritzer und lässt sich zu der Bemerkung hinreißen: enuieus estes, et vilains [V.90] (›verhasst seid Ihr und gemein‹). Uitti bezeichnet dies als »Guenièvre’s unladylike language.«111 Man wird ihre Ausfälle kaum als ein Zeichen der Souveränität oder des Selbstbewusstseins interpretieren. Erneut spielt Keu in seiner Reaktion auf die recreantise des Königspaares an, indem er an den Gewinn erinnert, den die Hofgesellschaft mit der Gegenwart der Königin verbindet: Dame, se nos n’ i gaeignons, fet Kex, an vostre conpaignie, gardez que nos n’ i perdiens mie.
[V.92–94]
[Herrin, sagte Keu, wenn wir nichts in Eurer Gesellschaft gewinnen, achtet darauf, dass wir dort nichts verlieren.]
Der Spott Keus erhält seinen besonderen Biss natürlich vor allem durch die Tatsache, dass die Königen ja bisher tatsächlich durch Abwesenheit geglänzt und sich heimlich eingeschlichen hatte. Wenn sie sich also schamhaft unter die Zuhörerschaft habe stehlen wollen, solle sie nun auch zusehen, dass sie dieses taktvolle Verhalten, das ihr das vorausgegangene antisoziale Schäferstündchen mit dem König eingab, in der Gruppe fortsetze. Brigitte Burrichter war davon ausgegangen, dass die Krise der Hofgesellschaft im Chevalier au Lion »mit Calogrenants Erzählung seiner Schande« beginne.112 Die vorausgegangenen Überlegungen sollten aber wahrscheinlich machen, dass die Störung der höfischen Gesellschaft bereits mit der recreantise des Königspaars ihren Anfang nahm. Dennoch ist Burrichter zuzustimmen, dass die Krise sich mit der Erzählung Calogrenants ausweitet. Das ist schon deshalb evident, weil in die Spannung zwischen Keu und Calogrenant sukzessive auch die Königin und schließlich Yvain einbezogen werden, die alle mit Keus bissigen Bemerkungen bedacht werden. Man sieht hier die bereits angedeutete Rollenverteilung der Hofprotagonisten: den passiven König als Schläfer, die handelnde Figur Keu und das auffällige Ausgeblendetsein Gauvains. Die Kritik Keus, dessen sarkastischer Spott anfänglich gegen das Verhalten bei Hof (Calogrenants eifriges Aufspringen, die An- oder Abwesenheit der Königin) stichelte, wendet sich nun gegen den Eifer Yvains, der angeblich die Schande seines Cousins bei der Gewitterquelle auswetzen will, womit nun auch der Protagonist in die Auseinandersetzung involviert ist. Erst aus der Perspektive des Protagonisten – dem letzten Glied in dieser Kette der immer mehr in
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Uitti: Chevalier au Lion, 1985, S. 211. Burrichter: Premiers vers, 1999, S. 91.
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Unruhe und Zwietracht verfallenden Hofgesellschaft – erfährt das Publikum endlich etwas über die zu erwartende Rolle Gauvains, die dieser jedoch nicht erfüllen wird. Als nämlich Yvain sich entschließt, eigenmächtig dem Willen des Königs vorzugreifen, allein zur Gewitterquelle vorauszureiten und dort gegen Esclador zu kämpfen, motiviert der Erzähler Yvains Entscheidung wie folgt: Pour che seulement li grevoit Qu’ il savoit bien que la bataille Aroit mesir Keu sans faille, Ains quë il, s’ i le requeroit : Ja veee ne li li seroit Ou mesir Gavains meïsmes Espoir le demandera primes. Se nus de ches .ii. la requiert, Ja contredite ne li iert. [V.680–688] [Dieses bedrückte ihn, da er genau wusste, dass der Kampf mit Sicherheit eher Herrn Keu als ihm selber zugebilligt werden würde, wenn dieser es verlangte. Er würde diesem nicht verweigert werden. Oder gar Herr Gauvain könnte den Kampf als erster beanspruchen. Wenn keiner dieser beiden es verlangte, würde man es ihm nicht verweigern.]
Yvains heimliche Erwägungen identifizieren Keu und Gauvain eindeutig als die Figuren, die im Namen des Hofes die Handlungskompetenz haben. Folglich sind es Keu und Gauvain, die dem Prestigebedürfnis Yvains im Wege stehen, wenn dieser daran denkt, sich durch eigenmächtiges Herausfordern des Quellenritters Ehre zu erwerben. Diese Information macht die hintergründige Regie der Initialkrise und den aus ihr resultierenden Handlungsanstoß deutlich. Sie beruht auf einem narrativen Spiel mit den Elementen des Verschlafens und des Vorauseilens, abgebildet als recreantise des Königs gegenüber dem personalen Ehrgeiz des Protagonisten. Während die Hofgesellschaft (verkörpert durch Herrscherpaar und Gauvain) nicht rechtzeitig auf die Aventiurenachricht reagiert, drängt es den Helden, dem Hof zuvorzukommen. Zwischen schmählichem Verschlafen (Verspäten) einerseits und ehrsüchtigem Vorpreschen (Zu-früh-Kommen) andererseits steht zunächst einzig die Figur Keus. Als Sachwalter der Belange des Hofes muss er nicht nur die recreantise rügen, sondern auch den antisozialen Ehrgeiz des Protagonisten, der sich eine Rolle anmaßen und eine aventure zur eigenen Profilierung sichern will, die eigentlich den Hofakteuren gebührt. Tony Hunt formuliert den Zusammenhang wie folgt: »Quite simply, Yvain is not satisfied with taking third place after Kay and Gauvain [...]. At this point Yvain’s single-minded determination to preempt them, arrogating to himself a right which belongs propperly to his monarch coupled with the oath
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of secrecy he imposes on his squire [...], reveals how far the honour of the court is from his mind. His clandestine departure and uncompromising neclect of authority can only place in doubt his bona fides. »113
Auch Walter Haug, der sonst fest mit der unversehrten Idealität des Hofes in der ersten Artusszene rechnet, die nur von außen gestört werden könne, kommt bei Chrétiens Chevalier au Lion doch nicht um die Feststellung herum: »Das ideale Bild des arthurischen Festes zeigt irritierende Risse. Ist es typuskonform, wenn Artus und Guenievre sich gleich zu Beginn von der Gesellschaft zu einem Liebesstündchen zurückziehen? Chrétien tadelt dies offen; [...] Jedenfalls verpaßt Artus die Geschichte des Calogrenant, obschon es gerade für ihn kennzeichnend ist, auf Aventüren erpicht zu sein. Und sein kurzentschlossener Aufbruch zur Gewitterquelle wirkt dann wie eine Überreaktion aufgrund dieses Versäumnisses. Am schwersten aber wiegt, daß Keu sich in Gegenwart der Königin unmöglich benimmt [...].«114
Während Gauvain passiv bleibt, treibt also Keu die Ereignisse voran, sät Streit und provoziert die Protagonistenfigur, die sich nicht zuletzt angestachelt durch Keus Spott profilieren will. Schließlich schlüpft Keu – dieweil Gauvain immer noch passiv bleibt – sogar in jene Rolle des Verteidigers des Hofes und seines Anliegens, in welcher er hernach als Kämpfer bei der Gewitterquelle gegen Yvain peinlich unterliegen soll. Damit ist das Muster der Initialkrise und ihrer Folgen wie folgt zu beschreiben: Ein Anliegen des Königs, nämlich das Warten auf aventure, wird durch recreantise verschlafen. Die Inertia der Figur Gauvain, der eben nicht wie noch anlässlich der Hirschjagd in Erec et Enide den drohenden Streit abzuwenden sucht, nutzt Keu zur Eskalation der Ereignisse (Intervention Keus). Der Streit bricht offen aus. Es folgt Yvains überstürzter, von personalen Motiven angespornter Aufbruch zur Gewitterquelle (Intervention des Protagonisten), an der einige Zeit später Artus selbst den Gewittermechanismus auslöst, worauf ausgerechnet Keu – da Gauvain noch immer nicht für das Anliegen des Hofes eintritt – den zu erwartenden Kampf mit dem Verteidiger der Quelle ausficht und vom Pferd geworfen wird (Bestrafung). II.4.2.2 Gauvains Handeln im Chevalier au Lion Erst als Yvain die aventure der Gewitterquelle für sich entschieden und Keu besiegt hat, tritt endlich die Gauvainfigur auf den Plan. Zunächst kommt es zu jener Szene, in der Gauvain mit Fräulein Lunete Bekanntschaft macht. Sie inspirierte Frappier zu seinem Diktum des »flirt médiéval«,115 des mittelalterlichen Weiberhelden, der sich, kaum angekommen, augenblicklich in die nächst113 114 115
Hunt: Yvain, 1986, S. 42. Haug: Komödie von Yvain, 1999, S. 107. Frappier: Étude sur Yvain, 1969, S. 144.
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beste Dame verliebt. Busby charakterisiert die Szene als »light-hearted, sophisticated courtly banter« der für viel höfische Literatur jener Periode typisch sei.116 Hunt benennt als den Grund für die ewige Dienstbereitschaft, die Gauvain seiner amie Lunete verspricht: »sheer joy at finding that his friend’s life has been saved.«117 Chrétien zeigt die Gauvainfigur tatsächlich einige Male in Frauenabenteuer verwickelt. Es gibt aber Anhaltspunkte dafür, dass vergleichbare Beteuerungen absoluter Dienstbereitschaft von Rittern gegenüber Damen, wie sie Gauvain im Chevalier au Lion gegenüber Lunete macht, in Chrétiens Romanen in erster Linie eine Konvention der courtoisie darstellen, also ein ritterliches Topos, das sich mitunter in besonders blumigen Formulierung konkretisiert. So erklärt sogar Lancelot im Verlauf der Handlung des Chevalier de la Charrette anderen Damen, dass er, der von heißer Liebe zu Guenièvre verzehrt wird, sanz arest et sanz redot, quan qu’ele voldra li promet et toz an son volvoir se met [Charrette V.632–34] (›ohne Zögern und ohne Zweifeln all ihren Wünschen zu gehorchen verspricht und sich ihr ganz unterwirft‹). Dies hat der von Guenièvre besessene Ritter nicht als Liebesversprechen gemeint. Das Dienstversprechen Gauvains ist also eher ein Topos der courtoisie. Es steht übrigens im Kontext einer Dankbarkeitsgeste. Erdmuthe Döffinger-Lange hat anlässlich des oft kritisierten Dienst- bzw. Treueversprechens Gauvains gegenüber der Pucele aux Petites Manches im Conte du Graal darauf hingewiesen, dass dieses im konkreten Fall der Tintagueil-Episode des Gralromans eher »die Funktion einer epischen Schlußformel« habe, und dass ein solches Versprechen allgemeiner gesehen »auch im Kontext eines Liebesgesprächs – nicht mit einer Selbstverpflichtung zu (monogamer) erotischer Treue gleichzusetzen« sei.118 Auch Paule Le Rider wendete sich zuvor schon gegen Frappiers Vorwurf des angeblichen ›donjouanisme‹ Gauvains: »Il est vrai que dans les propos quelque peu stéréotypés que Gauvain adresse aux pucelles, il promet parfois d’être leur chevalier toute sa vie, sans plus ensuite paraître se soucier d’elles. Mais ce ne sont là que les termes usuels du donoi, de ce badinage galant à la profondeur duquel Chrétien ne laisse pas croire un instant. [...] Jamais Chrétien n’a montré qu’il ait laissé derrière lui le déséspoir du cœur d’une de ses ›conquêtes‹.»119
Trotz dieser relativierenden Gesichtspunkte kommt man aber nicht um die Feststellung herum, dass die Leichtigkeit, mit der hier nicht nur Gauvain, sondern auch Artus und Laudine bei ihrer Begrüßung affektive Signale tauschten, ja nicht zuletzt die verwunderliche Leichtigkeit, mit der die Witwe Laudine gerade erst den Mörder ihres Mannes zum Geliebten genommen hat, ein merk-
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Busby: Gauvain, 1980, S. 67. Hunt: Yvain, 1985, S. 35. Erdmuthe Döffinger-Lange: Der Gauvain-Teil in Chrétiens Conte du Graal. Forschungsbericht und Episodenkommentar. Studia Romanica. Bd. 95. Heidelberg 1998, S. 148. Paule Le Rider: Le Chevalier dans le Conte du Graal de Chrétien de Troyes. Paris 1978, S. 240.
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würdiges Licht auf die Einlassungen im Prolog des Chevalier au Lion werfen. Dort war die Rede davon, dass in jenem goldenen Zeitalter des Königs Artus die Liebenden als cortois [...] et preu et large et enorable [V.22f.] (›höfisch, heldenmutig, großmütig und ehrenvoll‹) bezeichnet werden konnten, während amours heutzutage, wie der Prolog kritisiert, nur noch in der Fiktion vorkomme. Die von der Forschung beanstandete, leichtfertige Dienstbereitschaft Gauvains steht offenbar in einem größerem Zusammenhang (Busby bezeichnete ihn als »communal flirtation«120), der auf den sens des gesamten Romans zurückdeutet.121 Es ist unschwer zu erkennen, dass in dieser autre monde, dem Feenreich Laudines und ihrer Gewitterquelle, Beziehungen zwischen den Geschlechtern auffällig rasch zustande kommen. Die oft angekreidete Abwesenheit Gauvains, wenn Lunete dann wirklich einmal dringend auf einen Ritter zur Verteidigung ihres Lebens angewiesen ist, beruht auf dessen Intervention zur Rettung Königin Guenièvres, die in der Charrette erzählt wird. Gegen Kelly stellte Busby klar, »the well-being of a queen is ultimately of more import than that of an ›amie‹, however faithfully Gauvain had sworn to serve her.« Vor allem entlastet Gauvain, dass er zur Rettung der Königin aufbrach, bevor er von der Notlage seiner amie (und später der seiner Verwandten) wissen konnte, und dass die Hilfe- und Ratverpflichtung des Königsneffen gegen den König sowohl aufgrund der fides wie der familiaritas völlig selbstverständlich zu dessen Eingreifen zugunsten Guenièvres führen mussten. Aus Gauvains Abwesenheit in Lunetes Notlage lässt sich keine Schuld herleiten. Als nach einer Periode des Festes in Laudines Reich die Zeit des Aufbrechens näher rückt, die Artus und den Hof von der Gewitterquelle, Yvains neuer Domäne, fortführen soll, beginnen die Hofleute Yvain zu bedrängen, mit ihnen an den Artushof zurückzukehren. Nun tritt Gauvain in einer Rolle in Erscheinung, die er in Erec et Enide bereits einmal ausgefüllt hatte: als Ratgeber. Er nimmt Yvain beiseite und fragt ihn: »Comant! seroiz vos or de çax, [...] qui por leur fames valent mains?« [V.2486–88] (›Wie? Gehört ihr etwa zu denen, die durch ihre Frauen verkommen?‹) Gauvains dringender Rat an Yvain lautet anschließend: Ronpez le frain et le chevoistre, S’ irons tornoier moi et vos
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[V.2502f.]
Busby: Gauvain, 1980, S. 68. Insofern wäre Gauvains Flirtverhalten, wenn man es hier als solches beurteilen wollte, jedenfalls in den Kontext jener übergreifenden Problematik einzuordenen, die dem Roman im Prolog thesenhaft vorangestellt ist: nämlich das gestörte Verhältnis von amour, courtoisie und prouesse. Gauvains Handeln stellt somit eine Erzählfunktion der höfischen Utopie dar, indem eben nicht sein personales Anliegen oder sein Charakter, sondern die Gesamtproblematik der höfischen Gesellschaft die Ursache für sein Verhalten bildet.
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[Reißt Euch aus den Zügeln und dem Halfter los, so dass ich mit Euch auf Turnier reiten kann.]
Die Formulierung Gauvains ist hintersinnig. Obige Übersetzung reflektiert meine Interpretation. Man sollte erwarten, dass er Yvain auffordere, seinem Pferd die Zügel und das Halfter für den Turnierritt anzulegen. Offenbar meint er aber nicht ein Pferd, dessen Zügel gelockert werden sollen, sondern Yvain selber, der sich aus den Zügeln befreien soll, die Laudine in ihrem Jenseitsreich über ihn führt. Dass Gauvain damit nicht ganz unrecht hat, dass also Yvain tatsächlich in eine Liebesgefangenschaft der Dame geraten ist, belegt das Gespräch zwischen Yvain und Lunete, die ihn auf seine erste Konfrontation mit der Dame vorbereitet: Ne vos grevera riens, ce croi, fors tant, don mantir ne vos doi, que je feroie traïson, qu’avoir vos vialt en sa prison, et si i vialt avoir le cors que nes li cuers n’an soit defors. - Certes, fet il, ce voel je bien, que ce ne me grevera rien; qu’an sa prison voel je molt estre. - Si seroiz vos, par la main destre don je vos teing! [...] [V.1921–1931] [Sie wird Euch nichts antun, so glaube ich, außer der Tatsache (hierüber darf ich Euch nicht anlügen, denn dann beginge ich Verrat), dass sie Euch in ihrem Gefängnis zu haben wünscht. Und sie verlangt solch vollständige Kontrolle über Euren Leib, dass selbst Euer Herz nicht ausgenommen bleibt.« »Gewiss«, antwortete er, »ich will gern akzeptieren, was mich gar nicht bekümmert; ich will sehr gerne in ihrem Gefängnis sein.« »Das werdet Ihr auch. Ich schwöre es bei der rechten Hand, mit der ich Euch festhalte.]
Gauvains Rat ist also nicht ganz unbegründet. Einige Forschungsmeinungen machen deshalb darauf aufmerksam, dass Gauvain die List, mit der Lunete ihre Herrin Laudine und Yvain in der Ehe vereinigt hatte, durch seinen Rat konterkariert, wodurch er in Opposition zur Helferfigur Lunete und ihren Intentionen gezeigt wird.122 Dieses Verhalten ist nicht etwa Gauvains »inadequacy in matters of human psychology« geschuldet.123 Gauvain kennzeichnet gerade sein besonderes Einfühlungsvermögen. Vielmehr erfordert die typische Rolle der
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Uitti: Chevalier au Lion, 1985, S. 217; Hunt: Yvain, 1985, S. 60. Rosemarie Deist: ›Sun and Moon. Constellations of Character in Gottfrieds Tristan and Chrétien’s Yvain‹, in: Arthurian Romance and Gender. Internationale Forschung zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, 10. Ausgewählte Akten des XVII. Internationalen Artuskongresses. Hrsg. von F. Wolfzettel. Amsterdam 1995, S. 50–65, S. 55.
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Figur, Spannungen und Rupturen in der höfischen Gesellschaft zu verhindern, so wie dies schon bei seiner Warnung gegen das costume der Hirschjagd in Erec et Enide geschah, Gauvains Warnungen gegen recreantise. Obwohl Busby argumentiert, »there has been no question of ›recreantise‹ as there was in Erec et Enide, for no public slurs have been cast on Yvain’s good name«,124 ist diese Gefahr in der Jenseitswelt der Gewitterquelle und ihrer Dame durchaus gegeben. Yvain ist nämlich längst in die Gefangenschaft seiner domna geraten, weshalb Peter Ihring, der übrigens auf den matriarchalischen Charakter von Laudines Feenreich hinweist, ihr die »Rolle einer Minneherrin« über Yvain bescheinigt und ausführt: »Zu keinem Zeitpunkt gibt es einen Zweifel daran, daß sie die ihr überlassene Machtposition in ihrem Sinne ausnutzen wird«.125 Selbst wenn man das vielfach wiederholte Wort prison nur auf den Liebesdiskurs beziehen wollte, als Ausdruck der affektiven Unterwerfung des Ritters unter die Geliebte, der Unterwerfungsakt Yvains bleibt eine heikle Angelegenheit. Hinzu kommt auch eine feudalrechtliche Komponente, die Yvain zum Vasallen seiner Dame macht, was Haidu ausführlich diskutiert.126 Damit ist Yvains Isolation von der Gesellschaft und seine Verstrickung in die magische Welt der Dame de la Fontaine als Folge des Gehorsams schon vorprogrammiert. Zu diesem Bild eines hierarchischen, d. h. auf Macht anstatt auf Liebe beruhenden Verhältnisses von Laudine zu Yvain passt auch, dass die wegen des Terminversäumnisses von Laudine aufgekündigte Beziehung schlussendlich allein durch einen Gewaltakt Yvains gegen seine Dame wieder erzwungen werden kann.127 Offenbar ist eheliches Zusammenleben von Yvain und Laudine erst möglich, nachdem der Ritter die Frau mit Krieg bedroht und sie so von ihrer Abhängigkeit und seiner Überlegenheit überzeugt hat. Da überrascht es nicht, dass ein don contraignant nötig ist, ein zu gebendes Blankoversprechen, das Yvain der Dame ablocken muss, damit er die Turnierfahrt überhaupt antreten und das Reich Laudines verlassen darf. Zwar meinte Tony Hunt, Gauvain sei mit seinem drängenden Rat zur Turnierfahrt gar nichts an Yvains Wohlergehen gelegen, denn »nothing in his speech [...] can be taken as a real serious appraisal of Yvains interests (he admits that in his friends position he would not observe his own instructions [...]).«128 Doch eine vergleich-
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Busby: Gauvain, 1980, S. 69. Peter Ihring: ›Die überlistete Laudine. Korrektur eines antihöfischen Weiblichkeitskonzepts in Chrétiens Yvain‹, in: Arthurian Romance and Gender. Internationale Forschung zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, 10. Ausgewählte Akten des XVII. Internationalen Artuskongresses. Hrsg. von F. Wolfzettel. Amsterdam, 1995, S,147–159, S. 150f.. Haidu: Lion-Queue-Coupée, 1972, S. 40–44. Roberta L. Krueger: Women Readers and the Ideology of Gender in Old French Verse Romance. Cambrigde Studies in French, 43. Cambridge 1993, vgl. S. 48f. Hunt: Yvain, 1985, S. 35. Es sei angemerkt, dass Hunts zitiertes zweites Argument, Gauvain würde selber nie seinen eigenen Rat befolgen, d. h. seine Geliebte niemals ohne Schutz allein lassen, ein Mißverständnis bzw. eine Überinterpretation der Worte Gauvains darstellen. Fak-
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bare Situation zur Lage Yvains als Liebesgefangener im Reich der Dame hat Chrétien mehrfach, vor allem natürlich in der joie de la court Episode in dem Roman Erec et Enide programmatisch inszeniert. Auch der Ritter Maboagrain hatte sich – wie hier Yvain – dem Willen seiner Dame bedingungslos unterworfen und war zum Gefangenen ihres Zaubergartens geworden, den er im Kampf gegen andere Ritter zu verteidigen hatte. Für Zeitgenossen Chrétiens muss dieser Zusammenhang erkennbar gewesen sein, weshalb beispielsweise Hartmann seinem ratgebenden Gawein in der deutschen Iwein-Adaptation die Worte: kêrt ez niht allez an gemach; als dem hern Êrecke geschach... [V.2791f.]129 (›seid nicht nur auf Euer Vergnügen bedacht, wie dies Herrn Erek passiert ist...‹) in den Mund legte. Für den deutschen Zeitgenossen Chrétiens lag die Parallele auf der Hand. Die Gefahr der Lage Yvains bestand in seiner bedingungslosen Unterwerfung und Hingabe an den Willen der Dame, deren Konsequenz die gesellschaftliche Isolation sein musste. Walter Haug führt dazu aus: »der Ritter, der an der Wunderquelle Eindringlinge abwehrt, spiegelt in merkwürdiger Weise Maboagrains Rolle im Wundergarten, nur daß eine ›Erlösung‹ hier nicht stattfindet; vielmehr tritt der Sieger in die Position des Besiegten ein.«130 Mit anderen Worten, wo Erec Maboagrain durch seinen Sieg befreite, machte sich Yvain durch seinen Sieg über Esclador zum Gefangenen. Der in der Forschung so oft kritisierte Ratschlag Gauvains ist also sowohl funktional als auch inhaltlich berechtigt. Im Jenseitsreich der Dame de la Fontaine, wo die gesamte Hofgesellschaft – die zum Kämpfen hergekommen war – dem Charme der Damen erliegt, wo ein Massenflirt ausbricht und der Ritter zum Gefangenen der Dame wird, besteht die Gefahr der gesellschaftlichen Isolation durch die recreantise, die Gefahr des Ehrverlustes, vor der Gauvain den Protagonisten warnt.131 Die Wirkung des »Feenzaubers« der Damen in Laudines Reich ist also nicht nur, wie Ihring annahm, auf Yvain beschränkt,132 sondern erstreckt sich, wenn man den Hinweisen im Text folgt, durchaus auch auf andere Männer des herbeigeeilten Artushofes. Gauvains Ratschlag ist aber noch von einer anderen Seite her motiviert. Sie ist die offensichtlich verspätete Reaktion des Königsneffen auf die Initialkrise
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tisch läßt Gauvain seine amie Lunete eben doch allein zurück und ist eben nicht zu ihrer Verteidigung anwesend. Der Iwein von Hartmann von Aue wird zitiert nach der auf der siebten Ausgabe von Benecke, Lachmann und Wolff beruhenden Edition von Max Wehrli: Hartmann von Aue: Iwein. Aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von Max Wehrli. Manesse Bibliothek der Weltliteratur. Zürich (ohne Jahreszahl). Haug: Komödie von Yvain, 1999, S. 108. Auch Kelly: Gauvain and fin’amors, 1970, vgl. S. 453 bestreitet dies nicht: »In short Yvain is warned against slipping into recreantise, that is, the neglect of the very activities which it behooves a good knight to engage in [...].« Ihring: Die überlistete Laudine, 1995, S. 152. Ihring bezog seine Äußerung freilich allein auf die Wirkung Laudines, während er sich zur Wirkung Lunetes auf Gauvain nicht äußert.
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des Hofes, nämlich die recreantise des Königspaares zu Anfang des Romans. Zu jenem Zeitpunkt hatte Gauvain nicht eingegriffen und damit eine Eskalation der Ereignisse zugelassen, die vom Streit bei Hof über Yvains Alleingang bei der Gewitterquelle bis zu dessen Hochzeit mit Laudine führten. Nun erst fühlt Gauvain sich bemüßigt, den Freund vor weiteren Konsequenzen zu warnen. Der Zusammenhang ist bereits einmal von der Forschung aufgezeigt, aber trotzdem merkwürdigerweise nicht anerkannt worden, denn Norris Lacy hat ihn beschrieben und dennoch bestritten: »Yet we do not have to look far to find a number of [...] episodes in the poem which reflect the central theme without establishing any casual (or other) connection between them. [...] The first occurs at the very beginning of the romance, when without reason or explanation Arthur lingers too long in the Queen’s chamber and falls asleep. This, Chrétien remarks, is unusual behavior for the king, and it is behavior not to be overlooked by the other knights, who become impatient and begin to grumble [...] but the subject of his unaccustomed neglect of his court is never mentioned again. Indeed there is no need to mention it further, for it has nothing whatsoever to do with the subsequent development of the story. Yet if we recall that Gauvain will caution Yvain against remaining long with his wife, the initial scene appears to be a loose and distant prefiguration of the hero’s situation (an inverted prefiguration, to be sure, since Yvain does leave his wife). The two situations are in no way related, and the first one is of no real importance to the narrative [...].«133
Ich meine, der stärkste Beweis gegen Lacys These, dass es keinen Zusammenhang zwischen der recreantise des Königspaares (der Initialkrise) und Gauvains freundschaftlicher Warnung vor recreantise an Yvains Adresse gebe, liegt in der Tatsache, dass Lacy selber diesen Zusammenhang gesehen und dokumentiert hat. Sein Argument, Chrétien habe Episoden erfunden, die das zentrale Thema des Romans reflektierten, ohne dass dies irgendetwas zu bedeuten habe, vermag mich nicht zu überzeugen. Gauvains Warnung vor recreantise ist der zu erwartende, aber verspätete Reflex des Hofakteurs nach einer entsprechenden Verfehlung des Königspaares in der Initialkrise. Die Gefahr der recreantise – so sind diese auf einander bezogenen Textstellen zu verstehen – die als narrativer ›Treibsatz‹ in der ersten Hofszene gezündet wurde, hat sich, da sie seinerzeit nicht ›korrigiert‹ werden konnte, im Motivkomplex des Vorauseilens und Verspätens unterschwellig bis in die aventure der Gewitterquelle erhalten, und bricht dort erneut als das immer noch unbewältigte Problem der höfischen
133
Lacy: The craft of Chrétien, 1980, S. 98f. Vergleiche auch Lacys Einlassungen an späterer Stelle (S. 111): »In Yvain, Arthur remains too long with the queen and falls asleep in her chamber – a situation which suggests that of Erec and which, causing as it does the grumbling and resentment of the other knights, illustrates the arguments used by Gauvain to separate Yvain from his wife.« Es ist schwer zu sehen, wie diese Äusserung zu der oben zitierten passen will. Ich werte sie als Unterstützung für meine Position.
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Geschlechterbeziehung hervor. Das Verhältnis Yvains zur Hofgesellschaft ist zum Zeitpunkt des freudigen Beisammenseins und Festes in Laudines Reich trotz äußerlichen Scheins in Wahrheit tief gestört. Der Protagonist hat sich durch seine personale Motivation, selbst den Ruhm des Bezwingers von Esclador einzustreichen, in einen Gegensatz zur Artusritterschaft und zur costume des Königs gestellt. Auch wenn damit Erfolg und Anerkennung für ihn verbunden war, bleibt die Tatsache bestehen, dass er hierdurch erstmals in einen anonym geführten Kampf gegen einen der beiden Hofakteure verwickelt wurde. Dieser nun offene Gegensatz zwischen Protagonist und Hofgesellschaft ist mit dem festlichen Beisammensein in Laudines Reich noch keineswegs überwunden, sondern lediglich verdeckt. Yvains anti-soziales Engagement hatte nicht nur den Mord an Esclador zur Folge, einen Fehltritt, den man von Gauvain kaum erwartet hätte, wenn dieser anstelle von Yvain zum Zuge gekommen wäre, sondern das anti-soziale Engagement war überdies zur Ursache seiner Minnesklaverei geworden, die Yvain in das Gefängnis (prison) seiner domna gebracht hatte. Die Gauvainfigur hatte also allen Anlass, auf die Störung im sozialen Gewebe rektifizierend zu reagieren. Im weiteren Geschehen des Chevalier au Lion spielt Gauvain eine seltsame Rolle, die auf den ersten Blick nicht zu der behaupteten, rektifizierenden Handlungstendenz passen will. Zwei Umstände geben Rätsel auf. Erstens ist es verwunderlich, dass sich Gauvains Ratschlag gar nicht – wie noch in Erec et Enide geschehen – an den König bzw. das Königspaar richtet, obwohl die Verfehlung ursprünglich einer internen Problematik des Hofes entsprang. Busby macht noch auf eine weitere Merkwürdigkeit aufmerksam, die Gauvains Handeln in dubiosem Licht erscheinen lässt. Unter Hinweis auf die Verse 2669–81, insbesondere den Satz que departir ne le leira [V.2270] (›dass er ihm [i.e. Yvain] nicht zu gehen erlaubte‹), führt er aus, »Yvain’s outstaying the term [...] is ascribed directly by Chrétien to Gauvain.« Für Busby sind in diesem Verhalten Gauvains Anzeichen von Egoismus (selfishness) zu erkennen, denn »he begrudges his presence elsewhere and his devotion to another. It is as if he and Laudine become rivals for the love of Yvain.«134 Busby formuliert sehr vorsichtig: »it is as if«. Aber seine Vermutung ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Blick auf vermeintlich ›psychologische‹ Motive bzw. Charakterfragen die wirkliche Funktion der Gauvainfigur in den Romanen Chrétiens verschleiert. Die folgenden Überlegungen sollen dies ans Licht bringen und die funktionalen Bezüge des Handelns Gauvains erkennbar machen. Wenn Gauvains Rat sich im Chevalier au Lion gar nicht an den König richtet, und wenn sich im weiteren Verlauf auch noch herausstellt, dass sich der Rat an Yvain als äußerst schädlich erweist, weil Yvain durch das Termin134
Busby: Gauvain, 1980, S. 71.
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versäumnis seine Geliebte, sein Reich und seinen Verstand verliert, wäre dann nicht insgesamt zu bestreiten, dass Gauvains Handeln im Chevalier au Lion eine rektifizierende Tendenz zugrunde liegt? Es ist jedenfalls offensichtlich, dass das Handeln der Gauvainfigur und des Protagonisten im Chevalier au Lion eng verzahnt sind. Dieser Handlungszusammenhang wurzelte schon in Yvains Entschluss, Artus bei der Gewitterquelle zuvorzukommen, um sich in Rivalität zu den Hofakteuren Keu und Gauvain als Held zu profilieren. Die Motivation des Protagonisten, dem Artushof zuvorzukommen, beruhte auf einem anti-sozialen Impuls, auf persönlichem Ehrgeiz. Insofern Yvain für seine persönliche Ruhmsucht auch ein Duell mit einem der Hofakteure bei der Quelle in Kauf nahm, hätte anstatt Keu tatsächlich auch Gauvain sein Gegner sein können. Wenn man die späteren Entwicklungen nach Krise und Wahnsinn Yvains betrachtet, springt ins Auge, dass wesentliche Leistungen des Protagonisten auf seinem ›Läuterungsweg‹ sich gar nicht auf Laudine, sondern ausgerechnet auf die Gauvainfigur beziehen, gerade so als habe dieser an Gauvain anstatt an seiner Minneherrin etwas gutzumachen. Das gilt in erster Linie für den Kampfeinsatz, den Yvain zugunsten des Schwagers von Gauvain leisten muss, weil jener dringend auf Beistand gegen einen Riesen angewiesen ist. Es gilt ferner auch für Yvains Kampfeinsatz zugunsten Lunetes, die von dem boshaften Seneschall Laudines des Verrats bezichtigt wurde, und die erfolglos versucht hatte, Gauvain als Kämpen für sich zu gewinnen. Gauvain selber stand weder seinem Schwager noch seiner amie Lunete zur Verfügung. Seine persönlichen Angelegenheiten, d. h. die Schwierigkeiten seines Schwagers oder seiner Freundin, mussten vor einer Aufgabe zurückstehen, die Gauvain nicht im persönlichen Interesse, sondern im Interesse des Hofes unternahm, nämlich der Befreiung Königin Guenièvres. Diese Tendenz des Handelns der Gauvainfigur muss sich die Figur des Protagonisten auf dem Läuterungsweg erst noch zu eigen machen. Da ist das Eintreten für Gauvains Verwandte, selbst wenn dies mit anderen Verpflichtungen Yvains in Konflikt geraten könnte, ein wichtiges Indiz für die Neuorientierung des Protagonisten. Indem sich Yvain ausgerechnet für Gauvains Verwandte oder Freunde einsetzt, berichtigt er nicht nur seinen vormals von Rivalität bestimmten, anti-sozialen Ehrgeiz, Gauvain zuvorzukommen und der ›Erste‹ sein zu wollen, sondern Yvain nähert sein Verhalten auch dem Verhaltensmuster der Gauvainfigur an, die zum Nutzen anderer Pflichten wahrnimmt (Guenièvres Befreiung), hinter welchen persönliche Verpflichtungen zurückstehen müssen. Schon die gemeinsame Turnierfahrt Gauvains und Yvains, die seinem Terminversäumnis bei Laudine und dem Wahnsinn ursächlich vorausging, zeigte eine didaktische Tendenz. Gauvain achtete darauf, dass Yvain auf dieser Turnierfahrt allen erdenklichen Ruhm einstreichen konnte, wie der Erzähler betont: sel fist tot l’an mes sire Yvains si bien que mes sire Gauvains se penoit de lui enorer [V.2675–77] (›Herr Yvain stellte sich so geschickt an, dass sich Herr Gauvain 61
dafür einsetzte, ihm Ehren zuteil werden zu lassen‹). Es fällt ins Auge, dass die Rivalität, die Yvain einst bei seinem Vorauseilen zur Gewitterquelle angespornt hatte, auf demselben persönlichen Geltungsdrang beruhte, den Gauvain während der Turnierfahrt im zeitlichen Übermaß (bis zur Übersättigung) bedient, und zwar so lange und unerbittlich, dass er den Protagonisten in eine tiefe Krise führt. Gauvain ist also verantwortlich für das Terminversäumnis Yvains, weil er es absichtlich herbeigeführt hat. Die rektifizierende Tendenz der Gauvainfigur ist im Chevalier au Lion eine, die den Protagonisten mit einer Problematik konfrontiert, welche das spätere Lehrmoment, persönliche Belange (insbesondere Geltungsdrang) hintanzustellen, erst ermöglicht. Bevor die bisherigen Ergebnisse zusammengefasst werden können, ein letzter Blick auf den ebenfalls oft diskutierten Kampf Gauvains gegen den Protagonisten am Ende des Romans. Diesem Zweikampf ging ein Geschwisterstreit voraus, bei welchem die ältere Schwester de la Noir Espine ihrer jüngeren das Erbe streitig machen wollte, worauf beide einen Champion am Artushof zu werben versuchten, der für ihre Interessen Partei ergreifen und diese im Gerichtskampf ausfechten sollte. Da die ältere Schwester zeitlich früher bei Hof erscheint, gelingt es ihr, Gauvain als ihren Kämpen zu engagieren. Gauvain kämpft somit auf der falschen Seite, was man leicht als Zeichen für die Korrumpiertheit der Gauvainfigur missverstehen könnte. Margrit Sinka hat dieses Vermuten aber als ein Missverständnis der Verpflichtungen bezeichnet, die sich aus dem Ehrencodex des Artusrittertums ergeben. Ihre Argumentation bezieht sich auf den Iweinroman Hartmanns, doch ihre Argumente lassen sich vom Sinn her auch auf die französische Vorlage anwenden: »In keeping with the Arthurian and his own personal code of honor – not refusing help to those who seek it, Gawein automatically agrees to aid the first sister who requests his service: the older one.« 135 Auch andere Forschungsmeinungen erkannten in Gauvains Engagement einen unüberlegten Verhaltensautomatismus,136 bzw. eine »automatic response«, mit der Gauvain auf Hilfsgesuche gleich welcher Art reagiere, weswegen Busby sich fragte, ob Gauvain vielleicht »a dupe of courtesy« sei.137 Sinka weist auf die Ablehnung des Hilfegesuchs der jüngeren Schwester hin, die Gauvain erst mit Verspätung um Hilfe bittet. Die entsprechende Textstelle mit einem der mittelhochdeutschen Bearbeitung fast identischen Wortlauf findet sich bei Chrétien in V.4762–65. Dort teilt Gauvain der jüngeren Schwester (in sehr freundlichen Worten) mit: »amie an vain me priez que je nel puis feire que j’ai anpris une autre afeire que je ne lesseroi pas«. (›Liebe Freundin, ihr bittet mich vergebens, denn ich habe bereits eine andere Angelegenheit auf mich genommen, die ich nicht 135 136 137
Margrit M. Sinka: ›»Der höfischste man«: An analysis of Gawein’s role in Hartmann von Aue’s Iwein‹, in : Modern Language Notes 76 III (1981), S. 471–487, S. 482. Hunt: Yvain, 1986, S. 49 fragt sich: »How discriminating therefore is his chivalry?« Busby: Gauvain, 1980, S. 73f..
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unterlassen will‹.) Sinka führt dazu aus: »Having given his word, Gawein refuses to retract it [...]. Gawein’s unwavering attitude at this juncture of the epic has been cited as proof of the rigidity of the Arthurian code and as evidence of the entire Arthurian world’s culpability. Yet why should a breach of promise be more justified for the members of Arthur’s court then for Iwein? Iwein’s woes did begin, after all, when he was faulted for not keeping his promise to Laudine. Had he failed to keep his promise to Lunete, he would have been chastised similarly. Why should a less absolute standard of upholding promises be applied to the Arthurian knights then to Iwein? If adherence to one’s word should become relative, then the ethical standards in the world of the medieval epic would indeed suffer.«138 Sinkas Ausführungen machen klar, dass Gauvain bei seiner Parteinahme für die falsche Seite – gleich wie bedenklich sie ist – kein Entscheidungsspielraum blieb.
Es kann kaum überraschen, dass manche Forschungsbeiträge, denen ein negatives Gauvainbild zugrunde liegt, den Königsneffen ›fast‹ oder ›eigentlich‹ als Verlierer des Kampfes gegen Yvain sehen.139 Dennoch steht fest, dass Gauvain den Kampf eben nicht verliert, sondern dass dieser unentschieden endet, was Chrétien ohne jeden Zweifel klarstellt: et la bataille est si paroille que l’en ne set par nul avis qui n’ a le mialz ne qui le pis.
[V.6188–90]
[Und der Kampf war so ausgeglichen, dass man weder feststellen konnte, wer die Oberhand hatte noch wer unterlag.]
Dass der Kampf unentschieden ausgeht, ist desto bemerkenswerter, weil es sich um einen Gerichtskampf gegen den inzwischen geläuterten Yvain handelt, der sich auf seinen letzten Abenteuern als Champion der Entrechteten hervorgetan hatte, und der nun das Schwert zugunsten der ins Unrecht gesetzten jüngeren Schwester ergreift. Einen solchen Kampf müsste doch der geläuterte Held Yvain nur gewinnen dürfen? Aus den direkten Umständen des Zweikampfes ist der unentschiedene Ausgang nicht zu erklären. Zwar ist in verschiedenen Forschungsbeiträgen darauf abgestellt worden, dass Gauvains Kämpfe mit einem jeweiligen Protagonisten dem Autor als Mittel dienten, die Figur des Protagonisten aufzuwerten.140 Aber Zweikämpfe Gauvains mit dem Helden kommen in Chrétiens Œuvre tatsächlich nur selten vor, weshalb man sich fragen muss, ob dieser Vergleichsaspekt wirklich den Ausschlag geben kann. Außerhalb des Chevalier au Lion tritt das Motiv nur im Cligès anlässlich eines Turniers noch einmal auf, wobei ein Tur138 139 140
Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 482. Kelly: Gauvain and fin’amors, 1970, S. 457f., spricht von »virtual defeat at Yvain’s hands.« Bereits Gaston Paris sah es 1888 so (vgl. Busby: Gauvain, 1980, S. 6), nach ihm Whiting: Gauvain: His Reputation, 1947, S. 195f. und wieder Frappier: Étude sur Yvain, 1969, S. 141 führt aus: »On se classe en joutant contre lui.«
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nier einen ganz anderen Rahmen für einen solchen Kampf bildet. Die Frage, warum das Motiv des Zweikampfs im Zusammenhang mit Yvain erscheint, ist damit also noch nicht beantwortet. Auf der Suche nach einer Erklärung stößt man ein weiteres Mal auf die ursprüngliche Rivalität zwischen den Hofakteuren und dem Protagonisten. Tony Hunt hatte darauf hingewiesen, dass Yvain sich ganz einfach nicht damit zufrieden geben wollte, an dritter Stelle hinter Keu und Gauvain zu stehen (»taking third place...«). Für Hunt ist es daher nur folgerichtig, wenn »later in the romance he will fight with both of them!«141 Der Kampf Yvains gegen Keu und später Gauvain wurzelt also schon ganz zu Anfang im Streit jener Ausgangssituation der Initialkrise des Hofes. Da der unentschiedene Ausgang des Kampfes Yvain gegen Gauvain nicht aus den unmittelbaren Umständen motiviert sein kann, liegt es nahe, dass er auf die strukturelle Position der Kämpfe im Ablauf des Romans bezogen ist. Der erste Kampf: Protagonist (Yvain) gegen Hofakteur (Keu) am Ende der ersten Abenteuerfahrt des Protagonisten (also am Ende des I. Abschnitts des Romans) endete mit einer Niederlage des Hofakteurs. Dies war freilich auch eine Niederlage des Hofes, stellvertretend für welchen König Artus selbst den Quellenmechanismus ausgelöst hatte. Der zweite Kampf eines Hofakteurs gegen den Verteidiger der Quelle, situiert am Ende der zweiten Abenteuerfahrt des Protagonisten (dem Ende des II. Abschnitts des Romans) läuft nun auf ein Unentschieden hinaus, womit ein ›Ins-Gleichgewicht-Bringen‹ der konfligrierenden Positionen bezeichnet ist. (Die eigentliche Lösung des akuten Konflikts der beiden Schwestern führt zuletzt Artus herbei. Dies geschieht bezeichnenderweise durch gewaltfreies Argumentieren). Hunt legt viel Nachdruck auf die Tatsache, dass der Kampf zwischen Gauvain und Yvain hätte verhindert werden können, wenn Gauvain nicht inkognito erschienen wäre, aus welchem Grund er sogar die ältere Schwester de la Noire Espine instruiert habe, auf keinen Fall die Identität ihres Champions zu verraten. In Hunts Augen ist darin ein Verschulden, mindestens eine moralische Schwäche Gauvains zu sehen, die Hunt Yvain, der ja ebenfalls inkognito erscheint, jedoch nicht anlasten will. Doch auch dieses Motiv des absichtsvollen Inkognitos, welches allein den Gerichtskampf ermöglicht, stammt bereits aus den Weiterungen der Situation der Hofkrise. Denn der erste Kampf Yvains gegen den hoffärtigen Keu bei der Gewitterquelle wäre sicher gleichfalls verhindert worden, wenn Yvain sich bei seinem Erscheinen vor Keu und der Artusgesellschaft identifiziert hätte. Doch dies unterblieb. Erst nach der schmählichen Niederlage Keus konnte Artus den unerkannten Verteidiger der Quelle fragen: Et qui estes vos? [V.2277] (›Und wer seid Ihr?‹). Das bedeutet wohl, dass Yvain als neuer Verteidiger der Gewitterquelle sein Inkognito bewusst eingesetzt hatte, um Keu jene peinliche Niederlage zu bereiten und sich als Sieger ins Licht 141
Hunt: Yvain, 1986, S. 42.
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setzen zu können. Yvain hatte also die Konfrontation mit den Hofakteuren mit voller Absicht in Kauf genommen. Das Inkognito war seinerzeit nicht nur Voraussetzung für den Kampf, sondern auch das Indiz der Entfremdung zwischen den personalen Zielen des Protagonisten und den gemeinschaftlichen Anliegen der Hofgesellschaft. Offensichtlich ging es Yvain um den Nachweis seiner prouesse – jenes Heldenmutes, der in der Exordialsentenz des Prologs zum Chevalier au Lion als eine der beiden Kardinaltugenden herausgestellt wird, die das leuchtende Beispiel König Artus’ dem Publikum der höfischen Literatur didaktisch vorlebte. Als die andere Kardinaltugend benannte der Prolog als die courtoisie: Artus, li boens rois de Bretaingne, la cui proesce nos enseigne que nos soiens preu et cortoi... [V.1–3] [Artus, der gute König von Britannien, dessen Heldenmut uns lehrt, dass auch wir mutig und höfisch sein sollten ....]
Baumgartner versteht den Chevalier au Lion als einen Roman, »dont l’un des axes possible de lecture est la réflexion qu’il engage sur la relation contradictoire de l’amour et de la prouesse, du bonheur individuel et du rapport au monde.«142 In diesem Spannungsfeld zwischen individueller Ehre durch Heldenmut und dem gesellschaftlichen Wohl stand die gesamte Ausgangssituation, die Krise, der nachfolgende Streit und Alleingang des Protagonisten. Der Ausgang des ersten Kampfes: Protagonist gegen Hofakteur führte zu Keus Niederlage, die man unschwer als eine Niederlage mangelnder courtoise erkennen kann. Der unentschiedene Ausgang des zweiten Kampfes: Protagonist gegen Hofakteur deutet dagegen an, dass am Ende des Romans die prouesse Yvains im Gleichgewicht mit der courtoisie seines Freundes Gauvains steht, der es nicht einmal in den Augen der kritischen Forschung an dieser hatte fehlen lassen. Jedenfalls ist mit dem Remis des zweiten Kampfes aus struktureller Sicht das Gleichgewicht zwischen den ursprünglich rein personalen Interessen des Protagonisten und den gesellschaftlichen Anliegen der Hofakteure wieder hergestellt. II.4.2.3 Zusammenfassung Zusammenfassend kann man im Chevalier au Lion eine Gauvainfigur beobachten, die während der Initialkrise des Hofes und ihren Weiterungen passiv bleibt. Diese Inertia der Gauvainfigur ist bereits zuvor in Erec et Enide anlässlich der Zwischeneinkehr Erecs beobachtet worden. Die anfängliche Passivität der Gauvainfigur führt zu einer typischen Eskalation der Ereignisse, bei welcher zunächst
142
Baumgartner: Yvain, Lancelot, 1992, S. 51.
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Keu sich negativ profiliert, indem er die Handlungskompetenz an sich reißt. Hierdurch provoziert Keu die Intervention des Protagonisten, der von personalen Motiven angetrieben, eine von Artus und der Hofgesellschaft gesuchte aventure besteht. Es folgt Keus anschließende Bestrafung. Erst mit großer Verzögerung wird Gauvain dann selbst aktiv, zunächst in seiner Funktion als Ratgeber, in der er sich aber diesmal nicht an den König, sondern an den Protagonisten wendet. Sein Rat bezieht sich gleichwohl auf die Verfehlung der recreantise, die die Initialkrise des Romans ursprünglich ausgelöst hatte, und welche als unbewältigtes Problem der höfischen Geschlechterbeziehung in der Yvainhandlung erneut virulent wurde. Gauvains direkte Verantwortung für das Terminversäumnis Yvains entspricht dem Muster des Antagonismus zwischen dem Hofakteur und dem jeweiligen Protagonisten der Romane und hat im Chevalier au Lion eine didaktische Funktion. Der Hofakteur forciert auf der Turnierfahrt Yvains durch Rivalität inspirierte, anti-soziale Tendenz zu persönlichem Ruhm, bis diese in ihr Gegenteil umschlägt: anstatt als ›Erster‹ erscheint Yvain als ›Verspäteter‹. Dieses Handlungsmuster der Gauvainfigur, die Taten des Protagonisten (eventuell durch Listen) zu konterkarieren, beruht auf dem Gegensatz zwischen der personalen Motivation des jeweiligen Protagonisten und der gesellschaftskonformen Motivation des Hofakteurs. Der spätere Zweikampf Gauvains gegen den Protagonisten nimmt eine Sonderstellung in den Romanen Chrétiens ein. Gauvains Engagement ist in diesem Zweikampf negativ konnotiert, da er sich für die falsche Seite einsetzt. Gauvain hatte der älteren Schwester de la Noire Espine ein Hilfeversprechen gegeben, von dem er auch in Kenntnis des Unrechts ihres Anliegens nicht abstehen konnte. Diese ›zu eilige‹ Reaktion, zu welcher die Gauvainfigur durch die Spielregeln der courtoisie verpflichtet ist, stellt ein ironisches Gegenmuster zu seiner Passivität während der Initialkrise dar. Der Zweikampf Gauvains gegen den Protagonisten ist letztendlich doch eine Folge der Initialkrise und ihrer Weiterung, indem der Protagonist bei seinem eigenmächtigen Aufbrechen zur Gewitterquelle eben nicht das Interesse des Hofes, sondern ausschließlich sein eigenes (prouesse) im Blick hatte, wobei er eine Rivalität mit Keu und Gauvain in Kauf nahm. Gauvain bleibt aber unangefochten die Figur, die letztendlich für die Problematik des Hofes und der Königsfigur einzutreten hat. Dabei wird Gauvain von Chrétien zwar als eine Figur gezeigt, die sich gelegentlich ein ›blaues Auge‹ holt, insgesamt aber nicht als Verlierer dasteht.
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II.5
Die Versromane mit Gauvainqueste
II.5.1 Gauvain im Chevalier de la Charrette II.5.1.1 Die Initialkrise im Chevalier de la Charrette Für die Charrette formulierte Brigitte Burrichter die Einschätzung: »Die durchgängige Handlung wird hier nicht von der Geschichte des Helden getragen, sondern von der Erzählung der Bedrohung der Artuswelt und ihrer Abwendung durch den Protagonisten, die Chrétien leicht modifiziert, um sie zum Gerüst auszuweiten.«143 Bis auf den Punkt, dass es der Protagonist sei, der die Bedrohung der Artuswelt abwende, was zwar die übereinstimmende Meinung der meisten Forschungsbeiträge darstellt, hier aber bestritten wird, belegt Burrichters These, dass die Krise der Artusgesellschaft in der Charrette zur zentralen Problemstellung des Romans geworden ist. Donald Maddox argumentiert sogar, dass »the episodes tributary primarily to the love intrigue are relatively few in number, while the relationship depicted between Lancelot and the queen bears almost no trace of its etiology and lacks any sort of closure [...].«144 Nach Auffassung von Maddox ist es: »the customal intrigue, not the love intrigue, which provides the narrative with closure.«145 Das bedeutet, dass die Liebe Lancelots zur Königin eine untergeordnete Stellung hat, denn obwohl sie das überwiegende Interesse der Forschungsbeiträge auf sich zog, ist mit der Erzählung von Lancelots Erfolg als Liebender nicht die Geschichte des gesamten Romans und all seiner Erzählstränge abgeschlossen. Gegenüber Erec et Enide hat also eine Verschiebung stattgefunden, indem nun die Krise des Protagonisten gegenüber der Krise des Hofes an Bedeutung zu verlieren beginnt. Wie ist die Krise der Hofgesellschaft in der Charrette erzählerisch aufgebaut? Zunächst scheint der Erzähler dem Publikum sagen zu wollen, dass das arthurische Fest in Carlion an diesem Himmelfahrtstag nicht von irgendwelchen Störungen getrübt wurde, denn aprés mangier ne se remut li rois d’antre ses conpaignons [V.34f.] (›nach dem Essen zog sich der König nicht aus der Gesellschaft zurück‹). Diese Bemerkung ist eine Anspielung auf den Chevalier au Lion und die darin geschilderte recreantise des Königspaares.146 Vom chronologischen Ablauf der Erzählung her wird in der Charrette die Bedrohung des Artushofes von außerhalb in den Vordergrund gerückt. Ein Provokateur, Méléagant, erscheint vor der versammelten Hofgesellschaft und informiert den König, dass er de ta terre et de ta meison, chevaliers, dames et puceles [V.52f.]
143 144 145 146
Burrichter: Premiers vers, 1999, S. 94. Maddox: Arthurian Romances, 1991, S. 48. S. Anm. 144. Uitti: Chevalier au Lion, 1985, S. 183, Anm. 3.
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(›Ritter, Damen und Fräulein aus deinem Reich und von deinem Hof‹) in seinem Land gefangen halte. Der König reagiert mit typischer Schwäche: Li rois respont qu’il li estuet sofrir, s’amander ne le puet... [V.61f.] (›Der König antwortete, dass er notgedrungen ertragen musste, was er nicht ändern konnte‹). Hier wäre das Eingreifen eines Ritters zugunsten der Gefangenen aus der Artusrunde zu erwarten. Die folgenden Äußerungen des Provokateurs steigern diese Erwartung, denn Méléagant, der bereits im Begriff ist, sich zurückzuziehen, dreht sich an der Türschwelle noch einmal um und erklärt dem König und der Hofgesellschaft: »Rois, s’a ta cort chevalier a nes un an cui tu te fïasses que la reïne li osasses baillier por mener an ce bois aprés moi, la ou ge m’an vois, par un covant l’ i atandrai que les prisons toz te randrai qui sont an prison an ma terre se il la puet vers moi conquerre et tant face qu’ il l’an ramaint.«
[V.70–79]
[König, wenn Ihr an Eurem Hof einen Ritter habt, selbst wenn es nur einer ist, dem Ihr so vertraut, dass Ihr es wagt, ihm die Königin zu übergeben, so dass er sie in diesen Wald mitführen kann, mir dorthin nachfolgend, wohin ich mich begebe, dann erwarte ich ihn dort unter dem Versprechen, dass ich alle Gefangenen zurückgeben werde, die sich in meinem Land im Gefängnis befinden, wenn er die Königen gegen mich verteidigen kann und es fertig bringt, dass er sie von dort zurückbringt.]
Nachdem dieser Fehdehandschuh vor dem Hof niedergeworfen wurde, dürfte eigentlich keiner der anwesenden Ritter mehr zögern, auf die Herausforderung zu reagieren. Der Erzähler betont die Wirkung der Herausforderung auf die Hörer: Ce oïrent el palés maint, s’an fu la corz tote estormie. [V.80f.] (›Viele Anwesende im Palast hörten dies, wodurch der ganze Hof in Aufruhr versetzt wurde‹). An erster Stelle wäre eine Reaktion desjenigen zu erwarten, dem der König am ehesten Vertrauen schenkt: cui tu te fïasses... Für diese Rolle dürfte nur Gauvain in Frage kommen, der ja nicht lediglich durch die fides, sondern zusätzlich durch die familiaritas an den König gebunden ist und stereotyp als der hervorragendste aller Ritter qualifiziert wird. Nykrog bestätigt, »pourtant le défi de l’étranger devait être ressenti tout particulièrement par lui en tant que Numéro Un établi.«147 Doch Gauvain wird bis zum Ende der fortwährend eskalierenden Situation bei Hof an keiner Stelle erwähnt. Dieser Umstand hat David J. Shirt verwundert: »If the usual conventions of Arthurian fiction were to opperate, the listener/reader would expect the challenge to be taken up immediately by the knight who is generally around to answer such calls – 147
Nykrog: Romancier discutable, 1996, S. 120.
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Gauvain. What actually happens is the converse; the challenge is totally ignored [...] and Kay enters the action.«148 Shirts Beobachtung belegt nicht nur, dass durch Gauvains Inertia die Keufigur Spielraum bekommt, sondern sie illustriert auch die typische Publikumserwartung an die Gauvainfigur. In der Tat rechnet man damit, dass Gauvain aufgrund seiner Funktion in dieser Krise des Hofes intervenieren müsste. Aber es kann keine Rede davon sein, dass unter ›usual conventions‹ am arthurischen Hof die Gauvainfigur jemals rechtzeitig in derartigen Notlagen aktiv werde. Beate Schmolke-Hasselmann bezeichnet zwar die frühe Nennung Gauvains nach der Nennung des Königs als eines der konstitutiven Signale der Artusliteratur, räumt aber etwas ratlos ein, dass diese »in Cligés, Lancelot und Perceval [...] erst wesentlich später« erfolge.149 Der Cligés kommt aus den schon beschriebenen Gründen (siehe Abschnitt II. 1) nicht für diese Untersuchung in Betracht. Es bleibt aber dabei, dass von den vier Versromanen des Artus-Aventiuretyps in zweien die Gauvainfigur sehr früh im Zusammenhang mit dem Hofensemble genannt wird (Erec et Enide V.39; Chevalier au Lion V.54) während in den beiden anderen die Nennung Gauvains lange verzögert wird (Charrette V.224, Conte du Graal V.4086). Der hervorragendste aller Ritter kommt also immer später ins Bild und muss danach immer umfangreichere Aufgaben in immer längeren Erzählpartien übernehmen. Das erste Gemeinsame der beiden letztgenannten Romane ist demnach, dass Gauvain erst auftaucht, nachdem die Krisensituation des Hofes vollständig eskaliert ist. Die zweite Gemeinsamkeit der Charrette und des Conte du Graal besteht darin, dass die Gauvainfigur anschließend eine eigene Queste unternehmen wird. Da nun Gauvain in der Initialkrise der Charrette trotz eindeutigen Anlasses nicht auf der Bildfläche erscheint, kommt es zu jenem Reaktionsmuster, das bereits mehrfach beobachtet werden konnte: Keu reißt die Initiative an sich. Das Reaktionsmuster Keus in der Initialkrise verdient genauere Betrachtung. Während im Chevalier au Lion der Protagonist Yvain die zwei Handlungsbevollmächtigten der Hofgesellschaft in Herausforderungssituationen eindeutig als Keu und Gauvain identifizierte [V.682–690] (vgl. Abschnitt II. 4.2.1), scheint Keu in der Krisensituation zu Beginn der Charrette nicht darauf zu vertrauen, dass man ihm die Handlungsgewalt ohne weiteres zugestehen wird. Stattdessen droht er dem König zunächst an, seinen Hof für immer verlassen zu wollen.
148 149
David J. Shirt: ›Le Chevalier de la Charrette: A world upside down?‹, in : Modern Language Review 76 I (1981), S. 811–822, S. 816. Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 37.
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»Rois, servi t’ai molt boenemant par boene foi et lëaumant; or praing congié, si m’an irai que ja mes ne te servirai« [V.87–90] [O König, ich habe Euch lange in Treue und Loyalität gedient. Nun nehme ich meinen Abschied, und werde fortgehen, so dass ich Euch niemals mehr dienen werde.]
Das bedeutet nichts weniger, als dass Keu dem König die fides (foi) aufkündigt. Mit seiner Drohung bringt der Vasall indignatio zum Ausdruck, also »die Aufkündigung seiner Huld.«150 Derartiges Verhalten konnte nur auf einer besonders ernsten Störung im vasallitischen Verhältnis beruhen. Althoff hebt hervor, dass die aufgekündigte vasallitische Treue durch Huldentzug im Regelfall nur durch Genugtuungsleistungen wiederhergestellt werden konnte, und solche bestanden »im demonstrativen Akt der öffentlichen, bedingungslosen Unterwerfung, für die es fast so etwas wie ein Zeremoniell gab.«151 David J. Shirt sieht in der Keufigur im Gegensatz zu Gauvain eben keinen edelfreien Vasallen, sondern einen, der mit den conestables [V.42] und den sergenz [V.83] zu Tisch sitze, und der für seinen Dienst (servitium) einen Lohn erhalte, wie Keus eigene Einlassung »je ne vos quier autres desserts n’autre loier de mon servise« [V.100f.] (›Ich verlange von Euch keine weitere Belohnung noch irgendeine Vergütung mehr für meinen Dienst‹) belege. Hinter der Wechselwirkung zwischen der Gauvainfigur, einem edelfreien Vasallen, und Keu vermutet Shirt eine Klassenrivalität: »Throughout the twelfth century the social rivals of the ministeriales were the milites – the vassal knights who, in exchange for land rights, promised military service to their overlords. The class division between the two groups was very marked – the landed chevalier vassaux considered the wage earning sergents their inferiors. [...] Even the Round Table appears to have its Officer versus Other Ranks tensions.«.152 Shirts Argumentation wirft nicht nur zusätzliches Licht auf den Antagonismus zwischen Keu und Gauvain als den zwei Hofprotagonisten des Artus, sondern die Tatsache, dass Keu ausweislich der Textsignale lediglich ein Ministerialer ist, gibt auch der nun folgenden Reaktion des Königs einen irritierenden Beigeschmack. In der gegebenen Situation versucht nämlich der bestürzte Artus eine Reparatur des vasallitischen Verhältnisses zunächst mit dem Versprechen, Keu alles zu geben, was er verlange: »...sachiez bien que je n’ai en cest monde rien que je, por vostre demorance, ne vos doigne sanz porloignance.« [V.107–110] (›Wisst, dass ich auf dieser Welt nichts besitze, was ich Euch für Euer Hierbleiben nicht auf der
150 151 152
Althoff: Spielregeln, 1997, S. 217. S. Anm. 150, S. 211. Shirt: Charrette: A world upside down, 1981, S. 816.
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Stelle geben würde‹). Als Keu auf dieses unerhörte Angebot – faktisch bereits ein Blankoversprechen – nicht eingehen will, fordert Artus die Königin auf, Keu umzustimmen. Die Forderung einer Demutsgeste der Königin ist nicht nur voreilig, sondern wirkt besonders gegenüber einem Ministerialen überzogen. Viel plausibler wäre in dieser Situation eine Reaktion Gauvains, der ein Neffe des Königs ist, und als Mediator den Konflikt deeskalieren helfen könnte. Gauvain ist in diesem Teil des Romans wie gesagt erzählerisch noch nicht aktiviert. Dahinter steckt erzählerisches Kalkül, weil die Funktion der Figur, ihr Eintreten für die Problematik des Hofes, bei rechtzeitigem Erscheinen die komplizierte Entwicklung verhindert hätte, die der Erzähler aus den verschiedenen Entwicklungssträngen (der Provokation Méléagants, dem Huldentzug Keus und dem Blankoversprechen des Königs) bis zur Entführung der Königin steigern und zusammenweben wollte. Die Hofszene ist nach dem Erzählverfahren der ordo artificialis organisiert,153 also jener Art des Erzählens, die nicht die chronologische Abfolge der Ereignisse verfolgt, sondern Späteres eher und Früheres später wiedergibt. In dieses kunstvolle Erzählgewebe, das dem Publikum bewusst Informationen vorenthält, um die Spannung zu steigern und die Aufmerksamkeit auf besondere Ereignisse zu lenken, passt auch das kalkulierte Zurückhalten jener Figuren, die die Erzählabsicht durch ihre typischen Anliegen vorzeitig durchkreuzen müssten und damit den Roman beenden würden, bevor er richtig angefangen hätte. Das Ausbleiben Gauvains ist also die Voraussetzung für die vom Erzähler inszenierte Eskalation der Hofkrise, für die panisch wirkende Reaktion des Artus und den Handlungsspielraum der anmaßenden Keufigur. Als ob er sonst keine Alternativen mehr habe, verlangt Artus von der Königin den unerhörten Fußfall vor dem Seneschall. Diese mittelalterliche Rechtsgeste, der vor Zeugen vollzogene Fußfall des Königs bzw. der Königin vor einem Abhängigen, ist das äußerste diplomatische Druckmittel eines Herrschers, die Treue eines Vasallen einzufordern. Die Wirkung einer solchen Geste beruhte auf dem Effekt der öffentlichen Selbstdemütigung, was literarische Beispiele wie das Nibelungenlied illustrieren, wo sich Etzel und Kriemhild ihrem Vasallen Rüdiger von Bechelaren zu Füßen werfen. Ganz offensichtlich handelt es sich hierbei um ein ›letztes Mittel‹, eine Verzweiflungsgeste. Das lässt keinen anderen Schluss zu, als dass Keu in dieser Bedrohungssituation für den König unverzichtbar geworden ist. Dabei zeichnet es sich sogar ab, dass sein Verlust für den Hof schmerzlicher wäre, als der der Königin. Guenièvre dient dem König nur noch als Instrument in einem Huldkonflikt und ist damit als Figur verfügbar geworden. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Artus bereit ist, das Wohlsein seiner Gattin zu riskieren. Der König kennt die Forderung des Provokateurs genau, ein Rit153
Douglas Kelly: Sens and Conjointure in the Chevalier de la Charrette. Den Haag 1966, S. 102f.
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ter solle sich ihm mit der Königin im Gefolge im Wald zu einem Zweikampf stellen. Aber obwohl es um den Kopf der Königin geht, die in dieser Situation als potentielles Objekt zum Einsatz des Kampfes gemacht wird, scheint alles Sorgen des Königs allein auf den Seneschall gerichtet. Auch Shirt bemerkt die eigentümliche Tatsache, »that he is far more grief-stricken about the threatened departure of his seneschal than he is about his own wife [...].«154 Um Keu zum Bleiben zu bewegen, ist kein Angebot und keine Geste zu groß. Und so liefert der König dem Seneschall seine Gemahlin regelrecht in die Hand. Daher kann Keu von Guenièvre und Artus nun ein don contraignant verlangen, das er kurz darauf als das Anrecht konkretisiert, als Kämpfer mit der Königin im Gefolge im Wald gegen Méléagant antreten zu dürfen. Das Handeln des Königs deckt einen Aspekt der Krise auf: seine Beziehung zu Guenièvre ist offenbar gestört. Dies belegt anschließend auch der berühmte Stoßseufzer Guenièvres beim Aufbruch mit Keu: »Ha! Amis, se le seüssiez, ja ce croi ne l’otroiesiez que Kex me menast un seul pas.«
[V.209–11]
[Weh! Liebster, wenn Ihr dies wüsstet, ich glaube, Ihr würdet niemals erlauben, dass Keu mich auch nur einen Schritt mit sich fortführte.] In Abweichung von allen übrigen Zitaten ist obenstehendes allerdings nicht der ansonsten in dieser Studie gebrauchten Edition Roques entnommen, die nach der Hs. C des Kopisten Guiot erstellt wurde. Nur Hs. A der Charrette gibt diese Lesung: Ha amis se le seüssiez, während die Guiot-Handschrift in V.209 das Wort amis durch rois ersetzt. Die anderen Hss. unterstützen weder die eine noch die andere Lesung. Dennoch hat Kelly mehrere plausible Argumente dafür angeführt, in diesen Versen die Lesung der Hs. A gegen die anderen zu favorisieren. Das wichtigste ist sicherlich, dass die Heimlichkeit der Äußerung der Königin, die ihren Stoßseufzer dist an bas, por ce qu’an ne l’oïst [V.207f.] (›flüstert, damit man es nicht hört‹), nur dann einen Sinn hat, wenn sie eben nicht auf den König, sondern den heimlichen Geliebten bezogen ist, denn »if Guenevere’s words are adressed to Arthur, she has no reason to try to conceal them.«155 Zusätzlich weist Kelly darauf hin, dass Guenièvres kalte Zurückweisung Lancelots in Gorre unglaubwürdig wirken müsste, wenn sie mit diesem Ritter nicht schon vor ihrer Begegnung am Hof von Baudemagus ein affektives Verhältnis gehabt hätte. Verschiedene neuere Textausgaben, darunter die Ausgabe von Jean-Claude Aubailly, die sich faktisch auf den Text der Guiot-Handschrift stützt, geben für V.209 trotzdem die Lesung amis. Aubailly tut dies leider ohne die Abweichung gesondert zu erläutern.156 Kelly hebt jedoch hervor, »most scholars assume that Guenevere is adressing Lancelot in this passage.«157 154 155 156 157
Shirt: Charrette: A world upside down, 1981, S. 818. Kelly: Sens and Conjointure, 1966, S. 105 f., Anm. 7. Jean Claude Aubailly: Lancelot ou Le Chevalier de la Charrette, Traduction, introduction et notes. Paris 1991. Kelly: Sens and Conjointure, 1966, S. 105f., Anm. 7.
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Die Aussage Guenièvres lässt keinen Zweifel daran, dass die Königin schon zum Zeitpunkt der ersten Hofszene eine Liebesbeziehung zu Lancelot unterhält. Daraus folgt, dass die affektive Beziehung zwischen Artus und seiner Gemahlin bereits gestört gewesen sein muss, bevor der Provokateur eintraf. In diesem Licht betrachtet, enthüllt die einleitende Bemerkung des Erzählers, aprés mangier ne se remut li rois d’antre ses conpaignons [V.34f.], dass sich der König dieses Mal nicht von den Festlichkeiten der Hofgesellschaft zurückgezogen habe, ihre ironische Hintergründigkeit. Anscheinend gibt das affektive Verhältnis zwischen Artus und Guenièvre in der Charrette gar keinen Anlass mehr, sich zu einem gemeinsamen Schäferstündchen zurückzuziehen. Die bisherigen Betrachtungen haben erkennen lassen, dass die arthurische Gesellschaft zu Anfang der Charrette in zweifacher Weise gestört ist. Einerseits ist sie es von außen durch den Herausforderer Méléagant, der Ritter und Damen aus dem Reich König Artus’ in seinem Reich gefangen hält. Andererseits ist sie es von innen, indem die Ehe des Königspaares in einer Krise ist. Dies wird infolge des Eindringens des Provokateurs sukzessive aufgedeckt, wo sich erweist, dass die Figur der Königin verfügbar geworden ist. Wie im Chevalier au Lion ist also auch in der Charrette das affektive Verhältnis des Königspaars Anlass für soziale Spannungen, auf die zunächst Keu reagiert, der in der Situation allgemeiner Bestürzung (Stasis) die Handlung antreibt, während Gauvain in typischer Weise aus dem Geschehen ausgeblendet bleibt (Inertia). II.5.1.2 Die Gauvainqueste im Chevalier de la Charrette Nachdem die gerade untersuchte Krisensituation bis zur Entführung der Königin eskaliert war, womit sie erzähltechnisch voll entfaltet ist, wird endlich die Gauvainfigur aktiv, und zwar typischerweise zunächst in ihrer Funktion als (mahnender) Ratgeber. Die rügenden Worte, die Gauvain an den König richtet, er habe molt grant anfance [V.226] (›eine riesengroße Dummheit‹) begangen, reflektiert die Haltung des ganzen Hofes, dass der König Keus hochmütigem, anmaßendem und unvernünftigem Ansinnen (orguel, outrage et desreison [V.186]) niemals hätte zustimmen dürfen. Jetzt erst tritt Gauvain mit dem Rat an den König heran, gemeinsam mit ihm und allen, die sich anschließen wollen, die Verfolgung des Seneschalls und der Königen aufzunehmen, tant com il sont ancor si pres [V.229] (›so lange sie noch in solcher Nähe sind‹). Dieser Vorschlag kommt offensichtlich viel zu spät. Folglich wird Gauvain von nun an auf seiner Queste nach der Königin den Ereignissen, die andere bewirken, hinterher reiten. Die Queste Gauvains wird auf den ersten Blick unspektakulär verlaufen. Anstatt Abenteuer zu bestehen, bleibt seine Rolle beschränkt auf die einer »second fiddle to the hero.«158 Dennoch gibt es einige auffällige Momente der 158
Evelyn Mullally: The Artist at Work. Narrative Technique in Chrétien de Troyes. Transactions of the American Philosophical Society. Vol. 78, Part IV. Philadelphia 1988, S. 155.
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Queste Gauvains, die zu betrachten sind. Fünf Gesichtspunkte sollen in den nun folgenden Betrachtungen nachgewiesen werden: 1) Gauvains Hilfeleistungen werden den Erfolg des Protagonisten beim Finden der Königin erst ermöglichen. 2) Die Queste Lancelots und Gauvains haben antagonistische Motive bei nur scheinbar gleichem Ziel. 3) Nicht der Protagonist, sondern Gauvain wird der Befreier der Königin und der Gefangenen sein. 4) Gauvains unbeabsichtigte Mitverantwortung an der Initialkrise und ihren Weiterungen führt zu einem spektakulären, peinlichen Ausrutscher. 5) Gauvain wird Lancelot vorsätzlich nicht aus seinem Gefängnis befreien, weil er gute Gründe hat, ihn vom Hof fernzuhalten. II.5.1.2.1 Antagonismus und Indirekte Mitverantwortung Zunächst einige Überlegungen zu zwei Hilfeleistungen Gauvains sowie zu drei signifikanten Entscheidungssituationen, die das Verhältnis von Hofakteur und Protagonist in der Charrette bestimmen. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Protagonisten bittet dieser Gauvain, der mit zwei zusätzlichen Rossen [V.256] vom Hof aufgebrochen war, ihm eines der beiden Pferde zu überlassen. Gauvain erwidert höflich, er möge sich dasjenige aussuchen, welches ihm am besten gefalle »or choisissiez des deus le quel que il vos plest« [ V.288f.]. Augenblicklich springt der bis dahin ungenannte Ritter auf eines der beiden Pferde und reitet so eilig davon, dass Gauvain ihn aus den Augen verliert. Es ist klar, dass der Protagonist seine Queste ohne Gauvains Pferdgabe an dieser Stelle nicht hätte fortsetzen könnte. Dagegen bleibt undeutlich, ob Gauvain sich bei dieser Begegnung mit dem fremden Ritter bereits bewusst ist, dass er ein Pferd bereitstellt, das dabei helfen soll, die Königin zu finden. Vor allem lässt sich nicht feststellen, ob Gauvain weiß, mit welchem Ziel der Fremde die Königin verfolgt. Gerald Seaman meint, falls Gauvain Lancelot zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt habe, »le manque de défi et le prêt de cheval [...] nous donnent une impression équivoque de la chevalerie et de Gauvain.«159 Das Ausbleiben einer Herausforderung erklärt sich wohl dadurch, dass der unerkannte Lancelot eben über kein Pferd verfügt, also kein Gegner ist beziehungsweise Herausforderer sein kann. Die Pferdgabe zwingt Gauvain zwar noch nicht dazu, wie Seaman ausführt, »à abandonner la poursuite de Guenièvre pour la poursuite vindicative de Lancelot.»160 Aber faktisch leitet sie eine Situation ein, in der Gauvain Lancelot statt der Königin hinterher reiten wird. Ein Element der ›Ambiguität‹ zwischen Gauvain und dem ungenannten Ritter mit seinen noch unklaren 159 160
Gerald E. Seaman: ›Sept questions à propos du Chevalier de la Charrette‹, in : ZfrPh 108 (1992), S. 443–459, S. 449. S. Anm. 159, S. 452.
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Intentionen ist in dieser Szene latent vorhanden. Statt einer ›Rachsucht‹ Gauvains, die Seaman bereits hier erkannt haben will, wird es tatsächlich an einer späteren Stelle des Romans Sanktionen Gauvains gegen Lancelot geben. Bevor es zur nächsten Szene kommt, in der Gauvain die entscheidende Helferfigur ist, die die Queste Lancelots nach der Königin überhaupt erst ermöglicht, treffen die beiden Ritter einander bei der Karre wieder. Deshalb zunächst ein Blick auf die erwähnten drei Entscheidungssituationen, von denen die bei der Karre den programmatischen Auftakt bildet. Ein Zwerg, der die Karre lenkt, fordert Lancelot auf dessen Frage nach dem Verbleib der Königin auf, in die Karre zu steigen, da er Guenièvre nur auf diesem Wege wiedersehen werde. Die Fahrt in der Karre, so führt der Erzähler aus, hatte zur Zeit Lancelots dieselbe Funktion don li pilori servent ores [V.322] (›die heutzutage die Pranger haben‹). Sie war nämlich für Straftäter aller Art bestimmt, die s’estoit sor la charrete mis et menez par totes les rues [V.334f.] (›die auf die Karre gezwungen und durch alle Straßen gefahren wurden‹). Das öffentliche ›Herumkarren‹ bedeutete Schande für den Insassen. Kelly interpretierte die Szene als den Moment, wo eine Entscheidungssituation zwischen den Geboten der Liebe und den Pflichten des Ritters stattfinde. Denn während Lancelot der Aufforderung des Zwerges Folge leistet und in die Karre steigt, hat Gauvain ein eigenes Pferd, »which it would be folly to exchange for a cart, even for the sake of Guenevere.«161 Busby führt aus »Gauvain has a choice here that Lancelot does not, for he still has a horse.«162 Gauvain dürfte aber noch zwei Pferde haben, denn nur eines der beiden Reservepferde hatte er Lancelot bei ihrer ersten Begegnung überlassen. Das zweite Reservepferd ist somit noch verfügbar. Da Gauvain Zeuge der Karrenszene wird, hatte Lancelot die Alternative einer zweiten Pferdbitte und war strenggenommen nicht auf die Karre angewiesen. Die aufsehenerregende Fahrt in der Karre ist im Blick auf die Rolle Lancelots als fin amant [V.3962] zu verstehen, die in dieser programmatischen Entscheidungssituation demonstrativ vorgeführt wird. Die unterschiedlichen Aufgaben, die den beiden Rittern auf ihrer Queste zufallen, sind in dieser emblematischen Szene erstmals als eine Liebesqueste nach der Dame und eine Ritterqueste zur Befreiung der Königin zu erkennen. Paule Le Rider liefert den Hinweis, dass alle großen Prüfungen Lancelots für ritterliches Handeln untypisch seien: »Les véritables exploits de ce singulier chevalier ne sont pas des exploits de chevalerie. Pour ses prouesses décisives, Lancelot n’est jamais à cheval.«163 Die Entscheidung Lancelots vor dem Sprung in die Karre präfiguriert zwei spätere Entscheidungssituationen. Da ist zunächst
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Kelly: Sens and Conjointure, 1966, S. 110. Busby: Gauvain, 1980, S. 59. Paule Le Rider: ›Le Dépassement de la Chevalerie dans Le Chevalier de la Charrette‹, in: Romania 112 (1991), S. 83–99, S. 93.
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jene, die bei der Übernachtung im Hause der Burgherrin ansteht, wo die Ritter in ihrem Gemach drei Betten vorfinden, zwei gewöhnliche und ein gefährliches Wunderbett, das demjenigen, der darin schläft, durch eine brennende Lanze von magischer Hand den Tod bringen kann. Auch bei dieser Gelegenheit entscheidet sich Gauvain ohne viel Umstände für ein gewöhnliches Bett, während Lancelot darauf besteht, in dem gefährlichen Bett zu nächtigen. Sarah Melhado White hat anhand Chrétiens Einlassung zu diesem lit périlleux aufgezeigt, dass es im Gegensatz zu den alternativen Schlaflagern, die niedrig sind, durch seine Höhe und Ausstattung bien fust a oés un roi metables [V.510] (›einem König zum Gebrauch sehr geeignet war‹).164 Lancelots Entscheidung zugunsten des Bettes, in welchem es dem König zukommt, zu schlafen, und zwar ihm und seiner Gemahlin, demonstriert dem Publikum die Anmaßung des chevalier amant. Denn Lancelot beansprucht in dieser Szene symbolisch das Lager des Königs, welches er mit Guenièvre zu teilen beabsichtigt. Melhado White führt aus: »He desires a love-prize ›higher‹ than those suitable to the normal run of knights, a prize ordinarily denied, like the high, elaborate bed.«165 Die dritte vergleichbare Entscheidungssituation steht an, als Gauvain aufgefordert ist, zwischen der Schwertbrücke und der Unterwasserbrücke zu wählen, die die einzigen Zugänge nach Gorre darstellen. Gauvain wird sich auch bei dieser Gelegenheit wieder ganz unspektakulär für den einfacheren, effizienteren Weg entscheiden, wie er zuvor aus vernünftigen Gründen darauf verzichtete, sich in der Karre zur Schau stellen zu lassen oder in dem gefährlichen Bett zu nächtigen. Während Gauvains Entscheidungen die Verhältnismäßigkeit zwischen gewähltem Mittel und seinem erstrebtem Ziel dokumentieren, wirken die Entscheidungen Lancelots allesamt exaltiert, oder mit den Worten Gauvains wie eine molt grant folie [V.389]. Nach Auffassung von Diverres hat der Erzähler Lancelots folie absichtsvoll mit der mesure Gauvains kontrastiert, an der es der fin’amant Lancelot fehlen lasse. Mesure, die ritterliche Tugend des maßvollen Handelns, sei aber ein integraler Bestandteil auch des höfischen Liebesdiskurses der fin’amors.166 Matilda T. Bruckner bestätigt, Lancelot »appears quite immoderate as lover ... in the realm of Love, folie and sagesse often exchange places«.167 Der Fahrt in der Karre haftet der Geschmack des Obszönen an, der Akt der Zurschaustellung der eigenen Schande, eine Situation, die sich auf dem Turnier von Noauz wiederholen soll, wo Lancelot auf grausamen Befehl 164
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Sarah Melhado White: ›Lancelot’s Beds. Styles of Courtly Intimacy‹, in: The Sower and his Seed. Essays on Chrétien de Troyes. Hrsg. von R.T. Pickens. French Forum Monographs, 44. Lexington, Kentucky 1983, S. 117–126, vgl. S. 120. S. Anm. 164, S. 121. A.H. Diverres: ›Some thoughts on the sens of Le Chevalier de la Charrette‹, in: Forum for Modern Language Studies VI (1970), S. 24–36, S. S. 25f. Matilda Tomaryn Bruckner: ›Le Chevalier de la Charrette (Lancelot)‹, in: The Romances of Chrétien de Troyes. A Symposium. Hrsg. von D. Kelly. The Edward C. Amstrong Monographs on Medieval Literature, 3. Lexington, Kentucky 1985, S. 132–181, S. 150f..
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Guenièvres die Schmach zahlreicher Niederlagen einstecken wird, um ihren Kapricen zu genügen. Die Zurschaustellung der selbstgewählten Erniedrigung enthält wie alle Akte der Obszönität ein Element antisozialer Provokation. Sie führt zu einer Entfremdung von der Gesellschaft und ruft die Distanzierung der Zuschauer hervor. Die Stadtbevölkerung und danach sogar die wohlmeinende Burgherrin, die ihm und Gauvain in der ersten Nacht Unterkunft gewährt, werden Lancelot auf die Schande seiner Fahrt in der Karre ansprechen. Die Entscheidung Lancelots zugunsten der Fahrt in der Karre, die Kelly als Entscheidungen für die Gebote der Liebe interpretierte, ist also zugleich auch eine gegen die Gesellschaft und ihre Normen. Evelyn Mullally befindet, »from the moment he gets into the ›charrette‹, he is a being apart.«168 Sie macht darauf aufmerksam, dass »Lancelot, inasmuch as he loves the queen, is setting himself up as a rival to Arthur.«169 Diese einleuchtende Tatsache führt Mullally zu der Feststellung, Chrétien sei daran gelegen, den Anschein zu vermeiden, dass diese Rivalität »any social dimension« erhalte. Deswegen achte der Erzähler darauf, Lancelot vom Hof des Königs fernzuhalten. Aber es finden sich in der Charrette durchaus signifikante Hinweise auf die negativen Auswirkungen, die Lancelots Engagement auf die Hofgesellschaft hat, worauf noch zurückzukommen ist. Zunächst zur zweiten Szene, in der Gauvains Eingreifen für den Erfolg der Queste Lancelots von buchstäblich vitaler Bedeutung ist. Als die beiden Ritter nach ihrer Übernachtung bei der gastfreundlichen Burgherrin anderntags am Fenster stehen, beobachtet Lancelot eine Gruppe von Personen, die draußen vor der Burg vorbeiziehen. Eine von diesen erkennt er sofort als die Königin. Wie betäubt sieht er ihr nach bis sie aus seinem Blick verschwunden ist. Et quant il ne la pot veoir, si se vost jus lessier cheoir et trebuchier a val son cors; et ja estoit demis defors quant mes sire Gauvains le vit; sel trait arrieres, se li dit: »Merci, sire, soiez an pes, por Deu nel vos pansez ja mes que vos faciez tel desverie; a grant tort haez vostre vie.« [V.565–574] [Und als er sie nicht mehr sehen konnte, wollte er sich zu Boden fallen lassen und seinen Körper unten zerschmettern; er hing schon mit halbem Körper aus dem Fenster als mein Herr Gauvain ihn sah, ihn zurückriss und ihm sagte: »Vergebung, Herr, so beruhigt Euch doch! Um Gottes Willen ihr dürft niemals daran denken, eine solche Tollheit zu begehen; Ihr begeht großes Unrecht, Euer Leben so zu hassen.]
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Mullally: The Artist at Work, 1988, S. 130. S. Anm. 168, S. 129.
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Auch in dieser Situation, wie zuvor in der Szene der Karre, unterscheiden sich die beiden Ritter und ihr Engagement durch die Besessenheit einerseits, die Lancelot zu selbstgefährdenden Aktionen verleitet, und das pragmatische Handeln anderseits, das Gauvain einen klaren Kopf behalten lässt. Der Heldenmut Lancelots, der seiner Liebesbesessenheit geschuldet ist, und der ihn für seine Gegner unbesiegbar macht, ist eben nur die eine Seite seines Auserwähltenstatus. Le Rider charakterisiert Lancelots Obsession als »démesure du sentiment, qui parfois frôle le grotesque [...].«170 Die andere Seite ist folglich die Gefährdung, die der Minnewahn in sich birgt. Emanuele Baumgartner bestätigt das Paradox von amour und prouesse: »Les extases de Lancelot dans la Charrette, comme les éclipses de la prouesse qu’elles entraînent, peuvent apparaître comme d’ironiques mises en cause du paradoxe initial. Qu’arrive-t-il [d. h. Lancelot] d’une prouesse fondée sur l’amour si l’amour finit par triompher aussi de la prouesse? Si les exigences et le bon plaisir de la dame réduisent le chevalier à la tentation du suicide? [...] Gauvain, damoiselles et écuyers interviennent chaque fois au moment crucial [...]. » 171
Die Pferdegabe und die Rettung Lancelots bei seinem versuchten Fenstersprung sind die Voraussetzungen, die Lancelots späteren Erfolg erst ermöglichen. Damit ist Gauvain eine Mitverantwortung für Lancelots spätere Handlungen gegeben, indem sie ohne seinen Beitrag nicht zustande gekommen wären. Die Wege Gauvains und Lancelots trennen sich bald danach, als sie von einem Fräulein erfahren, dass man nur über eine Schwertbrücke beziehungsweise eine Unterwasserbrücke nach Gorre gelangen kann. Ein Hinweis darauf, dass die Ziele beider Ritter tatsächlich so unterschiedlich sind, dass sie nicht auf demselben Weg realisiert werden können. Lancelot überlässt Gauvain die erste Wahl. Erneut entscheidet sich Gauvain pragmatisch für die einfachere Lösung. Busby wollte ein »lack of moral fiber on Gauvains part« nicht ausschließen, sah jedoch auch »modesty« als mögliche Motivation und wies übrigens auf das erzählerische Problem, dass die schwerere Herausforderung nur dann einen Sinn habe, wenn sie dem auserwählten Protagonisten zufalle.172 Die Art der Brücke, die Lancelot wählt, passt in ihrer programmatischen Zurschaustellung von Leidensbereitschaft, physischem Wundbluten und blinder Todesverachtung erneut in das Muster der Auserwähltheit und Obsession des Helden. Lacy konstatierte eine psychologische Entwicklung Lancelots, der zunächst zögerte, bevor er die Karre bestieg, danach aber bei seinen Entscheidungen eine Neigung zugunsten rascher und gefährlicher Lösungen an den Tag lege. Da der Weg zur Schwertbrücke der kürzere sei, der Weg zur weniger gefährlichen Unterwasser-
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Le Rider: Dépassement, 1991, S. 96. Baumgartner: Yvain, Lancelot, 1992, S. 82. Busby: Gauvain, 1980, S. 61.
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brücke der längere, sei es »by this time [...] no surprise that Gauvain chooses the longer but less dangerous [way].«173 Es wurde schon erwähnt, dass Gauvain seit dem Anfang des Romans den Ereignissen hinterherläuft. So wird er auch bei der Unterwasserbrücke erst dann erscheinen, wenn Lancelot längst die Königin gesehen, ihre Liebesgunst genossen und zwei Kämpfe mit dem Entführer hinter sich gebracht hat. Dennoch sollte man an der Entscheidung Gauvains den vernunftgeleiteten Charakter nicht übersehen. Chrétien stellte schon die Entscheidung Lancelots zugunsten der Karrenfahrt in die Dichotomie der Leitbegriffe von amours (Liebe) und reisons (Vernunft). Lancelots Zögern vor dem Sprung in die Karre kommentierte der Erzähler mit den Worten: mes Reisons, qui d’Amors se part, li dit que del monter se gart, [V.365f.] [Aber die Vernunft, die den Geboten der Liebe zuwiderläuft, flüsterte ihm ein, sich vor dem Einsteigen zu hüten.]
Der anschließende Diskurs des Erzählers, der die Entscheidung zum Sprung in die Karre als Wahl zwischen reison und amours erklärt, kann mit umgekehrten Vorzeichen auch auf Gauvain bezogen werden, der offenbar eine vernünftige Wegwahl trifft. In diesem Licht ist auch Gauvains Entscheidung für li moins perilleus [V.665] (›die weniger gefährliche‹) Unterwasserbrücke weniger ein Indiz für Feigheit, sondern eher ein Zeichen des konsistenten Handelns einer Figur, die nicht übermächtige Liebe demonstrieren, sondern einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen will. Doch während der Protagonist die Herausforderung der Schwertbrücke meistert, scheitert Gauvain an der Unterwasserbrücke. Und so will es scheinen, dass weder reison noch Pragmatismus sich ausgezahlt habe, dass eben doch »Gauvain’s failures and shortcommings« ein Beweis sind »for the superiority of the chevalier-amant«, wie Kelly es sah.174 Welcher bessere Beweis für die Unterlegenheit Gauvains im Vergleich mit dem Protagonisten ließe sich finden, als das peinliche, unfreiwillige Bad. Wenn Lancelot tatsächlich der Ritter ist, an dem sich alle anderen messen lassen müssen (»Or est venuz qui l’aunera!« [V.5571]), kann man in Anbetracht des spektakulären Ausrutschers Gauvains bei der Unterwasserbrücke wohl kaum um die Feststellung von Lori Walters herum, dass »Chrétien contrasts Gauvain’s unsuccessful quest to rescue Guenevere with Lancelot’s successful one.«175
173 174 175
Lacy: The Craft of Chrétien, 1980, S. 90. Kelly: Gauvain and fin’amors, 1970, S. 458. Lori J. Walters: ›Making Bread from Stone: The Roman van Walewein and the Transformation of Old French Romance‹, in: Arthurian Literature, XVII. Cambridge 1999, S. 189–207, S. 203. Vgl. auch die negative Einschätzung der Gauvainqueste durch Busby: Gauvain, 1980, Kap. II, Anm. 32 (S. 81).
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II.5.1.2.2 Rektifikationsleistung Alle vorgenannten Indizien für die Qualität der Auserwähltheit Lancelots können eine signifikante Ungereimtheit nicht erklären, nämlich dass es gar nicht Lancelot ist, der die Königin (und die übrigen Gefangenen von Logres) an den Artushof zurückbringen wird. Im Gegenteil, die Heimkehr der Königin geht auf das Konto Gauvains. Nachdem der fast ertrunkene Königsneffe aus dem Wasser gefischt wurde und endlich die Sprache wiedererlangt hat, gilt seine erste Frage der Königin (de la reïne requist [V.5134]). Man teilt ihm mit, wo sie sich befindet. Bald darauf wird er zu ihr gebracht und verlässt zusammen mit ihr und den Gefangenen das Reich des Baudemagus, das Land aus welchem niemand wiederkehrt. Nicht Lancelot, sondern Gauvain holt die Königin zurück an den Artushof. Eine Ungereimtheit bleibt dieser Umstand schon deshalb, weil ihm von der Forschung kaum Beachtung geschenkt wird. Es mag daran liegen, dass die oben erwähnten Entscheidungssituationen und Mutprobeszenen, die dem Protagonisten wiederholt den Status seiner Auserwähltheit bescheinigen,176 so signalartig gestaltet sind, dass man nie auf den Gedanken kam, an ihrer Mitteilung zu zweifeln. Ein typisches solches Indiz ist gewiss der Grabstein auf dem Friedhof der Zukunft, von dem der Erzähler berichtet, nur derjenige Ritter könne ihn anheben, dem es vorbestimmt sei, die Gefangenen zu befreien (...»Cil qui levera cele lanme seus par son cors gitera ces et celes fors qui sont an la terre an prison [V.1900-03]). Ein weiterer, vermeintlich überzeugender Nachweis seiner Befreiungsleistung war Lancelot im Kampf gegen Méléagant gelungen, wo er ja bereits einmal gesiegt hatte. Das Leben des Widersachers lag bereits in seinen Händen. Es spricht allerdings vieles für die Interpretation Hartmut Bleumers, dass »Lancelot die Befreiung nicht im Kampf direkt errungen« habe. Bleumer meint, die Befreiung werde ihm vielmehr »als Bestätigung seiner im Kampfgeschehen vorgeführten Minnehingabe an die Königin zuteil, weshalb eine endgültige, d. h. kämpferische Entscheidung vertagt werden muß (V.3776–3942).«177 Wenn Lancelot die Befreiung der Königin in diesem Kampf nicht direkt errungen hat, sondern nur durch seine Liebe wie einen Preis zugesprochen bekam, dann ist aus Sicht der Hofgesellschaft das Problem der Ent176
177
Laurence Mathey-Maille: ›Lancelot ou l’image du héros dans Le Chevalier de la Charrette‹, in: L’Information Littéraire 49, Nr. 5 (1997), S. 9–13, S. 10 mag als Beispiel für diese gängige Auffassung gelten. Sie führt aus: »De fait, plusieurs episodes assurent la consécration de Lancelot, lui donnant le statu de Héros Elu et de Héros Sauveur.« Folglich sei es Lancelot, der »en parfait HÉROS, retrouve et libère la reine.« Hartmut Bleumer: Die Crône Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Bd. 112. Tübingen 1997, S. 27. (In diesem letzten Punkt bin übrigens ich der abweichenden Meinung, dass der Endkampf von Lancelot und Méléagant vor allem deswegen in letzter Minute doch noch von Lancelot anstelle Gauvains ausgekämpft wird, weil Lancelot in Méléagant das prinzipiell ehebrecherische Element des Frauenentführers an sich selber in der Figur seines Widersachers überwinden kann.)
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fremdung der Königin aus ihrer Beziehung zu Artus und ihrer Rolle bei Hof nur verlagert aber nicht gelöst. Die Liebe Lancelots und der Königin, die antisoziale Tendenz, besteht fort. Das wichtigste Argument zugunsten der These, dass Lancelot und nicht Gauvain der Befreier sei, scheint schließlich von Gauvain selbst zu kommen. Als nämlich Gauvain, die Königin und die übrigen Befreiten am Artushof eintreffen, strömt die erfreute Menge auf sie zu, und feiert Gauvain mit Jubelrufen: »Bien vaingne mes sir Gauvains, qui la reïne a ramenee et mainte dame escheitivee, et maint prison nos a randu.« [V.5316–19] [Willkommen Herr Gauvain, der die Königin zurückgebracht, und der uns zahlreiche gefangene Damen und viele Gefangenen zurückgegeben hat.]
Mit anderen Worten, die Artusgesellschaft geht selbstverständlich davon aus, dass es Gauvain und eben nicht Lancelot sei, der die Königin zurückgebracht habe. An dieser Tatsache (man beachte die Formulierung ramenee bzw. nos a randu) ist dem Augenschein nach gar nicht zu zweifeln. Die Äußerungen der Menge beschreiben vollkommen korrekt die Sachlage. Dennoch wiegelt Gauvain ab und widerspricht den Jubelchören. »Seignor, de neant m’alosez. del dire hui mes vos reposez qu’a moi nule chose n’an monte. Ceste enors me fet une honte, que je n’ i ving n’a tans n’a ore; failli i ai par ma demore. Mes Lanceloz a tans i vint, cui si granz enors i avint qu’ainz n’ ot si grant nus chevaliers.«
[V.5321–29]
[Meine Herren, ihr preist mich ohne Grund. Lasst endgültig von Euren lobenden Worten ab, denn mir kommt diese Sache nicht zu. Diese Ehrung bringt mir Schande ein, denn ich bin nicht rechtzeitig dorthin gekommen; ich bin an meiner Verspätung gescheitert. Aber Lancelot kam so zeitig dort an, dass ihm eine solch große Ehre zuteil wurde, wie sie niemals zuvor ein anderer Ritter so großartig erlebt hat.]
Die Hofgesellschaft kann Gauvains Reaktion, nicht anders als die Forschung, wohl nur in dem Sinn auffassen, dass Lancelot Gauvain zuvorkam und die Königin befreit hat. Bezeichnenderweise lautet die erste Gegenfrage der Hofgesellschaft: »Ou est il donc, biax sire chiers« [V.5330] (›wo ist er denn eigentlich, lieber, teurer Herr‹). Gauvains verständnisloses Echo ihrer Frage »Ou, fet mes sire Gauvains lués? [V.5332] (›»Wo?« wiederholte daraufhin mein Herr Gauvain‹) verrät die an Sprachlosigkeit grenzende Verblüffung des Hofakteurs, der ja 81
annehmen musste, dass Lancelot bereits vor ihm das Land Gorre verlassen hätte. Wenn er nun erfährt, dass dieser noch gar nicht am Artushof eingetroffen ist, beginnt ihm wohl zu dämmern, dass damit eine völlig neue Lage entstanden ist. Eine Szene ganz ähnlicher Verblüffung wird sich auch bei der Rückkehr Lancelots an den Artushof in der Schlusssequenz des Romans abspielen, worauf später zurückzukommen ist. Es gilt zu beachten, dass aus struktureller Sicht die Szene der Ankunft Gauvains mit der Königin die eigentliche Position der Zwischeneinkehr, d. h. also in Kellermanns Terminologie die ›Hauptartusszene‹ darstellt. Als Indikatoren dafür gelten: die Nennung des Hofes (la cort [V.5303]), die vollständige Anwesenheit des Hofensembles unter expliziter Nennung und Anwesenheit König Arthurs [V.5304], der Anwesenheit Keus, der selbstverständlich im Gefolge Gauvains und der Königin heimgekehrt ist [V.5309f.], sowie die höfische Freude bzw. die Freude des Königs [V.5354, V.5356]. Der Held, der hier nach Erfüllung seiner Aufgabe einkehrt, ist daher nicht Lancelot, sondern Gauvain. Die anschließende Szene des Tourniers von Noauz, wo Lancelot als Haft-Freigänger zum Kampf vor der Königin erscheint, kann nicht als die mittlere Artusszene gelten, denn hier ist weder die Anwesenheit des Königs noch die Keus erwähnt. Das Tournier ist ausdrücklich eine Initiative der Damen, die sich gern verheiraten möchten. Wiederholt betont daher der Erzähler die Zusammensetzung der Zuschauer als: ...la reïne i fust et les dames et les puceles [V.5582f.] beziehungsweise am zweiten Kampftag: la reïne et les dames et les puceles [V.5766f.]. Erst am letzten Kampftag wird dann auch Gauvain unter den Zuschauern erwähnt. Die ›Mittlere Artusszene‹ der Charrette ist abweichend von Erec et Enide, dem Chevalier au Lion und dem Conte du Graal so inszeniert, dass Gauvain und Keu dieses Mal nicht dafür sorgen, dass der Protagonist ebenfalls an den Hof zurückfindet, eine Aufgabe, die ihn in den anderen drei Romanen oblag.
In der Szene der Heimkehr Gauvains und der Gefangenen ist Lancelot deshalb nicht anwesend, weil er zu dem Zeitpunkt, als Gauvain aus den Fluten gerettet wurde, bereits zum zweiten Mal leichtsinnig dem Rat eines Zwerges gefolgt, mit diesem fortgegangen und dabei von Méléagant gefangen gesetzt worden war. Das wiederholte Befolgen der Ratschläge von Zwergen führt, so lehrt diese parallel zur Karrensituation geschilderte Szene, zur unentrinnbaren Gefangenschaft in dem Land, aus welchem niemand wiederkehrt. Während die vorausgegangene Entscheidung, in die Karre zu springen, noch mit der Liebe des Protagonisten motiviert, und diese gegen die reison Gauvains abgesetzt wurde, unterstreicht das Befolgen des Rats von einem Zwerg in der zweiten Szene nur noch den leichtfertigen Aspekt seines Handelns. Lancelot, der vermeintliche ›Befreier‹ der Königin, saß folglich noch immer im Gefängnis in Gorre als die Hofgesellschaft Gauvain mit der Königin begrüßte. Anstatt ein Befreier zu sein, war Lancelot genau in diesem Augenblick selber auf eine Befreiungstat durch Gauvain angewiesen. Das ist kein überzeugender Beweis für eine erfolgreich abgeschlossene Mission. Auch in einer anderen Hinsicht ist der Umstand der fortwährenden Gefangenschaft Lancelots ein Zeichen dafür, dass er die Königin und die Gefange82
nen eben nicht befreit hat. Denn die Kondition, die das costume des Landes Gorre für die Befreiung der Gefangenen formuliert, lautet ...puis que li uns lëaumant istra fors de ceste prison, tuit li autre, sanz mesprison, an porront issir sanz desfanse [V.2112–15] (›sobald einer der Gefangenen auf legitime Weise aus diesem Gefängnis fortgeht, werden all die anderen ohne Tadel daraus fortgehen können‹). Diese Worte prophezeite einst der Vavasseur aus Logres, der ebenfalls mit seiner Familie in Gorre in Gefangenschaft geraten war, seinem Gast Lancelot. Der Kontext weckte zweifellos die Erwartung, dass es Lancelot selbst sein müsse, der dereinst nach einem Sieg über den Entführer das Land Gorre wieder verlassen und damit die Gefangenen befreien würde. Maddox interpretiert die Reaktion der Gefangenen von Gorre, die sich zur Rettung Gauvains an der Unterwasserbrücke aufgemacht hatten, auf die Nachricht vom Verschwinden Lancelots als »disappointment and dismay... Little wonder that they feel betrayed, in fact, for if Lancelot does not procede them at the border, no one will leave.«178 Wie ist es aber möglich, dass die Gefangenen nun dennoch Gorre verlassen? Maddox meint, es liege an dem fingierten Brief, den Gauvain erhält, in welchem angeblich Lancelot erklärt, dass er bereits zum Artushof zurückgekehrt sei. Dies würde bedeuten, der Befreier habe Gorre bereits vor den übrigen verlassen. Folglich wären nun alle frei, das Land zu verlassen. Dies mag tatsächlich die Überzeugung der Gefangenen sein. Aber es erfüllt nicht die Bestimmungen des costume von Gorre. Denn darin heißt es, einer müsse in legitimer Weise das Land verlassen, nicht aber dass es ausreiche, wenn alle glaubten, einer habe das Land in legitimer Weise verlassen. So kommt man nicht darum herum, dass es eben doch Gauvain ist, der andere der zwei Questeritter, der als Befreier auf legitime Weise mit den Gefangenen fortgeht. Wie muss man aber die Worte Gauvains par ma demore [V.5326] (›aufgrund meiner Verspätung‹) verstehen wenn nicht so wie Kelly: »It is noteworthy that Lancelot, spurred on in his queste for Guenevere, saved her and the prisoners from Logres, while Gauvain, the ideal of knighthood in Chrétien’s romances, though doubtless conforming willingly and strictly to his chivalric duties during his quest, failed to save the queen because of delays [...].«179
Busby sieht in Gauvains Worten ein Zeichen des Großmutes, denn der Königsneffe räume hier freimütig ein, dass ein anderer besser gewesen sei und lehne unverdiente Ehrungen ab. Zudem zeigten Gauvains Worte »genuine concern for his own honour and regret at not having succeeded himself.«180 Doch die Worte Gauvains spielen auf einen ganz anderen Zusammenhang an. Gauvain erklärte die Ehre, die man ihm bereite, gereichte ihm zur Schande, denn ein
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Maddox: Arthurian Romances, 1991, S. 46f. Kelly: Sens and Conjointure, 1966, S. 48. Busby: Gauvain, 1980, S. 63.
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anderer vor ihm sei so rechtzeitig erschienen, dass diesem die größte Ehre zuteil wurde, die je einem Ritter erwiesen wurde. Die Ehre, die Lancelot zuteil wurde, ist ganz offensichtlich nicht die, die Gefangenen zurückgebracht zu haben, denn er ist wie gesagt gar nicht dabei. Sie kann auch nicht darin bestehen, Méléagant besiegt zu haben, denn beide bisherigen Zweikämpfe zwischen dem Protagonisten und dem Entführer wurden vorzeitig abgebrochen. Ein endgültiger Zweikampf steht noch aus und wird erst am Ende des Romans stattfinden. Was kann Gauvain also meinen, wenn er erklärt, Lancelot sei die allergrößte Ehre bereitet worden, die je einem Ritter zuteil wurde? Dasjenige, was Gauvain durch seine Verspätung nicht verhindern konnte, war natürlich genau der größte anzunehmende Unfall, der aus der Perspektive des Hofes nach der Entführung der Königin eintreten konnte, nämlich die Schändung der Ehe des Königspaares. Und genau diese Tat, die nicht einmal der Entführer Méléagant zu begehen gewagt hatte, ist Lancelots Ziel und wird von ihm umgesetzt. Damit wurde ihm die allergrößte Ehre zuteil, die je einem Ritter erwiesen wurde: Er kam in den Genuss der erotischen Gunst seiner Königin. In diesem Punkt bringen die divergierenden Zielsetzungen der beiden Questen vollends den Interessenkonflikt ans Licht, der zwischen den Rittern besteht. Gauvain ging es um die Rückführung der Königin. Lancelot ging es um die Liebesgunst der seiner Dame. Gauvains Fehlleistung auf seiner Queste besteht offensichtlich in der Verspätung, die die Liebesnacht zwischen Guenièvre und Lancelot erst ermöglichte. Doch diese Verspätung ist ja wie erwähnt bereits sehr viel früher in der Romanhandlung aufgetreten. Wenn Gauvain in der Initialkrise des Hofes rechtzeitig interveniert hätte, wäre die Königin überhaupt nie entführt worden. Die Inertia der Figur in der ersten Hofszene war nicht nur das erzählerische Mittel, das die Romanhandlung erst ermöglichte, sondern wird auch im Verlauf der späteren Romanhandlung das charakteristische Element der Stationen von Gauvains Queste sein, zuletzt erzählerisch auf die Spitze getrieben und verbildlicht in seinem Ausrutscher auf der Unterwasserbrücke. Aber trotz des Ausrutschers, der wohl das literarische Entgelt für die Ur-Verspätungen der Gauvainfigur ist, will es der ironische Chrétien, dass ausgerechnet der verspätete Held seine Königin und die Gefangenen heimbringt, während der eilige Superheld gefangen bleibt, ohne sich selbst wieder befreien zu können. (Wie im Chevalier au Lion entfaltet die Charrette also eine Spannung zwischen dem Vorauseilen des Protagonisten und der Verspätung des Hofakteurs.) Außer der Verspätung trifft Gauvain, wie man gesehen hat, übrigens noch weitere Mitschuld am ›Erfolg‹ Lancelots bei der Königin. Die Pferdgabe und die Rettung beim versuchten Fenstersprung machen Gauvain mitverantwortlich für das Gelingen der Queste des Protagonisten. Die Queste Lancelots hatte von Anfang an einen antisozialen Aspekt. Es liegt auf der Hand, dass Lancelot jedenfalls nicht auszog, um »stellvertretend für den Hof die Provokation zu rächen«, sondern »angetrieben von seiner bedin84
gungslosen Liebe.«181 Man wird kaum damit rechnen, dass Lancelot seine Dame umgehend zu ihrem Ehemann zurückführen wollte. Pièrre Gallais, der wie viele andere Forschungsmeinungen fest davon ausgeht, dass Lancelot auf seiner Queste für die Interessen des Artushofs eintrete, »à la fois porteur des valeurs positives de son monde [...], qu’il représente et pour qui il agit«,182 bezeichnet trotzdem als Lancelots eigentliche Motivation: »[...] ce qu’il en attendait personellement – les faveurs de la reine«,183 womit auch Gallais bestätigt, dass das persönliche Anliegen des Protagonisten mit dem gesellschaftlichen des arthurischen Hofes gar nicht vereinbar ist. Derek S. Brewer nennt Lancelot deshalb »loyal servant [...] and the supreme traitor.«184 Ingrid Kasten spricht von einer paradoxen Doppelrolle der Lancelotfigur und führt aus: »as a result of his love for the queen, the existing order is thrown into disarray...«. Kasten folgert »hence his mysterious disappearance following the queen’s release.«185 Haug erläutert den Zusammenhang: »Es ist konsequent, wenn die Rückführung der Königin nicht als Lancelothandlung geboten wird. Lancelot kann im Grunde genommen überhaupt nicht zurückkehren: darin liegt der neue Sinn des reaume don nus ne retorne. Er muß verschwinden: er kommt von einem Gefängnis in ein zweites [...]. Die Symbolik dieser Gefangenschaft ist offenkundig: für Lancelot gibt es keine Fortsetzung des Geschehens mehr. Die Liebe, wie er sie erfahren hat, ist nicht in die Gesellschaft einzubringen [...]. Trotzdem taucht Lancelot am Ende nochmals am Hof auf. Dies ist handlungstechnisch unumgänglich, denn Meleagant muß entgültig besiegt werden.«186
Wenn die Rückführung der Königin nicht als Lancelothandlung geboten werden kann, was der Text ja unschwer erkennen lässt, so verschwindet der Karrenritter also nicht nach der Befreiung der Königin, sondern umgekehrt: erst nachdem er selber entführt und eingesperrt wurde, kann die Königin endlich aus dem Land, aus welchem niemand wiederkehrt, an den Artushof zurückgeführt werden. Roel Zemel widerspricht dieser Einschätzung:
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Walter Haug: ›Inspiration und dichterisches Selbstverständnis in Chrétiens Lancelot und Cliges‹, in: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Darmstadt 1992, S. 108–118, S. 113. Pierre Gallais: ›Méléagant et la contradiction‹, in: Lancelot. Actes du colloque des 14 et 15 janvier 1984. Hrsg. von D. Buschinger. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 415. Göppingen 1984, S. 39–49, S. 40. S. Anm. 182, S. 42. Derek S. Brewer: ›The Image of Lancelot: Chrétien and Malory‹, in: Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn, 25.–29. September 1982. Hrsg. von K.H. Göller. Beiträge zur Englischen und Amerikanischen Literatur. Bd. 3. Paderborn u. a. 1984, S. 105–117, S. 109. Ingrid Kasten: ›The Western Background‹, in: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hrsg. von W.H. Jackson, S. A. Ranawake. Cardiff 2000, S. 21–37, S. 30. Haug: Das Land, von welchem niemand wiederkehrt, 1978, S. 49.
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»Om nu toch een liefde à la Tristan te vermijden, moest Chrétien zorgen dat Lancelot daarna, toen Guenièvre naar het hof van Artur was teruggekeerd, uit haar buurt bleef. [...]. De held is dan wel het slachtoffer van de literaire kritiek van zijn auteur. Alleen voor Lancelot wordt de door hem bevrijde Andere Wereld tot een ›land zonder terugkeer‹. Hij wordt er de gevangene van zijn eigen verlossingsdaad. Later in de Conte du Graal, zou iets dergelijks gebeuren met Gauvain.«187
Zemels Auffassung wirft gleich mehrere Fragen auf. Auf der Textebene ist es nämlich nicht der Autor, der Lancelot in Gorre einschließt, sondern daran wirken die Figuren Méléagants, die eines Zwerges und – wie unten zu besprechen ist – die Figur Gauvains mit, wobei letzterer ein besonderes Interesse an Lancelots Gefangenschaft hat. Zweifelhaft ist weiter, ob Lancelot tatsächlich der Gefangene seiner eigenen Erlösungstat sei. Besser kann man ihn den Gefangenen seines Minnewahns nennen, d. h. jener Irrationalität (der Erzähler formulierte dies als Reisons, qui d’Amors se part [V.364]), die ihn seit Anfang seiner Queste zu immer exaltierteren Handlungen anspornte. Die Umstände der Entführung Lancelots geben hier signifikante Hinweise. Sie erfolgt parallel zum Sprung in die Karre erneut auf tückische Einladung eines Zwerges. Auch beim zweiten Mal hat der Protagonist offenbar noch nicht gelernt, auf solche Aufforderungen mit reison zu reagieren wie einst Gauvain bei der Karre. Die von Zemel reklamierte Erlösungstat hat dagegen zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht stattgefunden, d. h. dass weder der Endkampf gegen Méléagant ausgekämpft ist, noch die Königin und die Gefangenen über die Grenze zurückgebracht wurden. Was sehr wohl stattgefunden hat, ist die ehebrecherische Liebesnacht zwischen ihm und Guenièvre. Es trifft in keinem Fall zu, dass der ›Autor‹ Lancelot später von der Königin fernzuhalten versuche. Im Gegenteil, Lancelot wird z.B. anlässlich des Turniers von Noauz erneut mit der Königin in Kontakt kommen. Im Gegensatz zu Zemels These steht fest, dass der Autor diesen Auftritt nutzt, um die gefährliche, das soziale Gefüge destabilisierende Wirkung zu demonstrieren, die von diesem Minneritter ausgeht. Schließlich waren die höfischen Damen dort in der Hoffnung erschienen, von der Zuschauertribüne aus einen Ehemann zu finden. Aber obwohl die Damen des Artus-
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Roel Zemel: ›Perceval en geen einde‹, in: Voortgang, Jaarboek voor de Neerlandistiek 16 (1996), S. 7–27, S. 18. Ich übersetze sinngemäß: ›Um nun dennoch eine Liebe in der Art des Tristan zu vermeiden, mußte Chrétien dafür sorgen, dass Lancelot anschließend, nachdem Guenièvre an den Artushof zurückgekehrt war, sich von ihr fernhielt. [...] Der Held ist somit allerdings das Opfer der literarischen Kritik seines Autors. Nur für Lancelot wird die von ihm befreite Jenseitswelt zu einem ›Land ohne Rückkehr‹. Er wird dort der Gefangene seiner eigenen Erlösungstat. Später, im Schlussteil des Conte du Graal, wird Gauvain etwas Vergleichbares zustoßen.‹ Es sei hier bereits angemerkt, dass die Gefangenschaft Lancelots mit der – vermeintlichen (!) – Gefangenschaft Gauvains im Roche de Canguin ebenfalls nicht vergleichbar ist. Die Situation Gauvains im Zauberschloss der Mütter entlehnt ihre Bedeutung einer signifikanten Parallele zu Percevals Abschied von der Mutter, worauf noch zurückzukommen ist (vgl. Abschnitt II. 5.2.3).
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hofes das Turnier organisiert hatten, weil ...eles se voldroient marïer molt prochienemant [V.5365] (›sie sich recht bald verheiraten wollten‹), wird am Ende keine einzige Ehe geschlossen. Anstatt geeignete Kandidaten zu finden, werden alle Damen sich in Lancelot verlieben. Zwischen ihnen wird Eifersucht ausbrechen und sie werden geloben ...que, par saint Johan, ne se marïeront ouan [V.6051f.] (›beim heiligen Johannes, dass sie sich in diesem Jahr gar nicht mehr verheiraten würden‹). So lange Lancelot am Hof ist, ist ein spannungsfreier, freudevoller Umgang zwischen den Geschlechtern ganz offensichtlich nicht möglich. Lancelots Engagement ist eben nicht darauf gerichtet, die Defizienz der höfischen Gesellschaft zu beheben, denn es herrscht eine »defective reciprocity between Arthur as monarch and Lancelot as his primary chivalric auxiliary...«, so sieht es Maddox. »Lancelot is motivated by values emanating [...] from spheres independent of the monarch.«188 Es ist also kein Zufall, sondern Vorsatz, dass Gauvain keinerlei Anstalten macht, seinen Freund Lancelot aus dem Gefängnis von Méléagant zu befreien. Gauvain war spätestens seit seiner Rückkehr zum Artushof genau darüber im Bilde, dass Lancelot gefangen genommen worden war. Er erfuhr es noch in Gorre, also sogar schon vor seiner Rückkehr zum Artushof. Direkt nach seiner Rettung aus dem Wasser berichtete man ihm, dass Lancelot von einem Zwerg entführt wurde, und dass sich das alles erst vor kurzem ganz in der Nähe abgespielt habe. Aber anstatt eilig zur Suche aufzubrechen, antwortete Gauvain mit einer bedeutsamen Gegenfrage: »Et comment s’est il contenuz puis qu’an cest païs fu venuz« [V.5157f.] (›Und wie hat er sich benommen, seit er in dieses Land gekommen ist?‹). Daraufhin erzählten ihm die Umstehenden alles, ohne Auslassung eines einzigen Details (si c’un tot seul mot n’i obliënt [V.5161]), was Lancelot in Gorre seit seiner Ankunft getan hatte. Gauvain war folglich in Bezug auf das Benehmen Lancelots genau informiert. Es liegt nahe, dass die spektakuläre Szene des Blutlakens in Guenièvres Bett nach ihrer Liebesnacht von den berichteten Details nicht ausgenommen blieb, denn für die Verbreitung dieser skandalösen Neuigkeit hatte Méléagant gesorgt, der sie empört an die Öffentlichkeit brachte. Damit ist der Gauvainfigur für eine Bestrafung des Ehebrechers – die ja auch eine Rektifikation der am Hof aufgetretenen Störung darstellt – ein Motiv gegeben. Wenn also Lancelot als Gefangener Méléagants in jenem Turm bittere Vorwürfe gegen Gauvain erhebt, weil dieser ihn trotz aller Freundschaft und seiner courtoisie vergessen habe, sind diese Vorwürfe vollkommen berechtigt. Nykrog urteilt: »Le lecteur sait bien, hélas, que non seulement c’est possible, c’est la réalité... A la cour d’Arthur il est bel et bien oublié; on sait qu’il a disparu, mais ni Gauvain ni aucun autre des héros de la Table ronde n’a bougé pour avoir de
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Maddox: Arthurian Romances, 1991, S. 53.
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ses nouvelles.«189 Zwar hatte sich Gauvain vor dem Verlassen von Gorre noch bei zwei Gelegenheiten ›erkundigt‹, ob man Lancelot suchen gehen solle. Doch während Busby meint, durch seine Sorge um Lancelot werde die »positive side to Gauvains character« betont,190 legt der Autor Gauvain Worte in den Mund, die genauso gut Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen lassen dürften: »Quant nos partirons de cest pont, irons nos querre Lancelot?« [V.5168f.] (›Wenn wir von dieser Brücke fortgehen, werden wir uns dann auf die Suche nach Lancelot machen?‹). Aufschlussreich ist übrigens auch das Verhalten König Artus’, der nach der Rückkehr der Königin, die er am meisten ersehnt hatte, über das Zurückbleiben Lancelots kaum bekümmert ist (quant la rien a que il plus vialt, del remenant petit se dialt [V.5357f.]). Die Haltung des Königs passt zu Gauvains Untätigkeit. Beide scheinen kein großes Interesse daran zu haben, die Figur des Protagonisten zum Hof zurückzuholen, obwohl die Rückführung ansonsten das typische Handlungsmuster der mittleren Artusszene in Chrétiens Romanen darstellt. Der Erzähler gibt zwei weitere Indizien für dieses Nicht-Wollen. Zum einen ist das die vollkommene Verblüffung, die Gauvain an den Tag legt, als der Protagonist buchstäblich im letzten Moment doch noch zum Endkampf gegen Méléagant erscheint. A grant mervoille l’esgardoit [V.6788] (›Er betrachtete ihn vollkommen entgeistert‹). Das plötzliche Erscheinen Lancelots wirkte auf Gauvain, ...s’il fust des nues devant lui cheüz maintenant [V.6792f.] (›als ob er in diesem Moment vor ihm aus den Wolken gefallen wäre‹). Darin kommt eine Ironie zum Ausdruck, mit der der Erzähler schon einmal die vollkommene Verblüffung Gauvains in der mittleren Artusszene ins Bild gesetzt hatte, als er erfuhr, dass Lancelot nie am Artushof angekommen war. Allerdings sind die Vorzeichen nun umgekehrt. Während Gauvain bei seiner Rückkehr mit der Königin noch an die Richtigkeit des fingierten Briefes glauben mochte, und Lancelot bei Artus anzutreffen meinte, belegt seine Verblüffung nun, dass er diesmal auf keinen Fall davon ausging, den Protagonisten am Hof wiederzusehen. Noch ein weiteres Indiz belegt, dass Gauvain sicher nicht mehr mit der Ankunft des Protagonisten gerechnet hatte, denn er war bereits auf Méléagants Herausforderung zum Zweikampf eingegangen, hatte sich vollständig bewaffnen lassen und saß schon kampfbereit im Sattel. Das lässt keinen anderen Schluss zu, als dass Gauvain den Entscheidungskampf gegen den Entführer selbst ausfechten wollte. Sogar nachdem Lancelot unerwartet doch noch erschien, unternahm Gauvain einen letzten Versuch, anstelle Lancelots anzutreten. Er bat den Protagonisten unter eindringlicher Berufung auf ihre Freundschaft, ihm die Chance zu gewähren, selbst kämpfen zu dürfen: »Biax dolz amis, ne me veez cest don, que je requier et vuel« [V.6898f.] (›Edler, süßer Freund, schlage mir nicht die Gunst ab, um 189 190
Nykrog: Romancier discutable, 1996, S. 144. Busby: Gauvain, 1980, S. 62
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die ich nachsuche und die ich wünsche‹). In diesem Endkampf hätte Gauvain, wenn er angetreten wäre, genau die Situation wiederherstellen können, die er in der Initialkrise des Hofes ungenutzt hatte verstreichen lassen: eine Situation des Entscheidungskampfes zwischen dem Herausforderer und dem Hofakteur in Gegenwart des Königs und seines Gefolges. Gauvain hatte also ein eindeutiges Interesse daran, den Protagonisten nicht mehr zum Zug kommen zu lassen. Sein Bestreben, den Protagonisten, der die Gemeinschaft des Königspaares durch Ehebruch gestört hat, in seinem Gefängnis in Gorre zurückzulassen, um selber die Defizienz auszugleichen, die ursprünglich den Roman eröffnete, erschließt sich als der Versuch einer Rektifizierung in zwei Hinsichten, einerseits durch Nachholen des persönlichen Engagements im Zweikampf gegen den Herausforderer, andererseits durch Ausschließen und Bestrafen des Protagonisten aufgrund seiner Verfehlung. II.5.1.3 Zusammenfassung Zuletzt eine Rekapitulation der Muster des Handelns der Gauvainfigur im ersten der beiden Romane mit Gauvainqueste. Die Inertia der Gauvainfigur, die bereits in den vorausgegangenen Abschnitten zur Sprache kam, kennzeichnet auch in der Charrette den verspäteten Einsatz Gauvains. Sie führte zu dem schon beobachteten Muster der Eskalation der Hofkrise durch eine negative Intervention Keus anstelle der des Königsneffen. Die Intervention Keus trug dazu bei, dass der Protagonist mit einer personalen Zielsetzung in die Handlung eingreifen sollte. (Keu schuf die Voraussetzungen für die Entführung Guenièvres und rief damit Lancelot auf den Plan.) Es folgte die Bestrafung Keus und die Intervention Gauvains. In der Charrette wird das Motiv der Verspätung Gauvains zu einem zentralen Handicap, das die gesamte Queste des Hofakteurs kennzeichnen soll. Gauvain identifizierte sie selber als Ursache seines Versagen: failli i ai par ma demore [V.5326] (›durch meine Verspätung bin ich gescheitert‹). Die vorausgegangenen Überlegungen haben erwiesen, dass die Ziele Gauvains, des Vertreters der Interessen des Hofes, mit den personalen Zielen des Liebhabers Lancelot unvereinbar waren. Die unterschiedlichen Zielsetzungen führten zu unterschiedlicher Wegwahl der Ritter (Antagonismus). Weiter wurde demonstriert, dass Gauvain durch sein Handeln eine unbeabsichtigte Mitverantwortung für den Erfolg des Protagonisten zukam (Urverspätung, Pferdgabe, Zurückhalten Lancelots beim Fenstersprung). Diese indirekte Mitverantwortung resultierte in der Szene des peinlichen Ausrutschers auf der Unterwasserbrücke. Obwohl die Brücke als lebensgefährlich galt, kam Gauvain mit nassen Kleidern und einer Menge verschluckten Wassers davon. (Auch dieses Muster, dass sich der Hofakteur Gauvain in einer an sich tödlichen Gefährdung durch eigene Fehlleistung sozusagen ›ein blaues Auge‹ bzw. ›nasse Füße‹ holt, ohne 89
jedoch wirklich ›besiegt‹ zu werden oder ›unterzugehen‹, war z.B. schon anlässlich des Gerichtskampfes gegen den Protagonisten Yvain im Chevalier au Lion beobachtet worden.) Schließlich brachte die Lektüre ans Licht, dass tatsächlich Gauvain und nicht Lancelot die Königin zurückbrachte. Dem Hofakteur gelang damit die gesellschaftskonforme Leistung, die der Protagonist aufgrund seiner personalen Zielsetzung von vornherein nicht erfüllen konnte (Rektifikation). Gauvain ignorierte geflissentlich die Notlage des gefangenen Freundes Lancelot (Fernhalten des Störenfrieds von der Hofgesellschaft) und bereitete sich stattdessen selber auf den Endkampf gegen den Entführer Méléagant vor, den er anstelle des Protagonisten auskämpfen wollte. Ein Sieg Gauvains über den Entführer hätte nachträglich die Problematik der Ausgangssituation bereinigt, wo die Gauvainfigur anstatt zu intervenieren durch Abwesenheit glänzte. II.5.2 Gauvain im Conte du Graal Der letzte zu besprechende Artus-Aventiureroman Chrétiens hat der Forschung von jeher Rätsel aufgegeben, weil er unvollendet geblieben ist. Der Fragmentcharakter des Textes erschwert auch die Untersuchung von Interaktionsmuster und Funktion der Gauvainfigur. Die vorausgegangenen Betrachtungen haben ja schon gezeigt, dass signifikante Informationen für das Verständnis der Funktionen der Figuren oft erst am Schluss enthüllt werden. Bei der Untersuchung des Conte du Graal ist man sogar mit dem doppelten Problem konfrontiert, dass nicht nur das Endgeschehen unbekannt, sondern dass zudem auch die Initialkrise besonders rätselhaft inszeniert ist. Neben diesen textimmanenten Schwierigkeiten stehen aber auch fest etablierte Forschungsmeinungen dem hier beabsichtigen Verfahren im Weg. Insbesondere die These von der Überwindung der ›profanen‹ Artuswelt durch die ›religiöse‹ des Grals ist heute so unauflöslich mit der Interpretation dieses Textes verknüpft, dass ein Exkurs helfen soll, etablierte Denkschemata aufzubrechen. Diese These spielt bei der Beurteilung der Queste Gauvains nämlich eine entscheidende Rolle (vgl. II. 5.2.2.1). Ein anderer gelegentlich erhobener Einwand ist, dass eine Untersuchung der Gauvainhandlung des Conte du Graal im Zusammenhang mit den anderen Artusromanen nicht in Frage komme, weil der chronologisch letzte Roman Chrétiens eine Sonderstellung einnehme. Busby hat dem Conte du Graal in seiner Untersuchung ein eigenes Kapitel gewidmet, denn dieser »differs radically from the rest of Chrétien’s work.«191 Zu den Unterschieden zählt Busby »the bipartite structure of the narrative and the apparent importance of religion.«192 191 192
Busby: Gauvain, 1980, S. 83. Busby: Perceval, 1993, S. 10.
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Trotzdem benennt er Argumente, die eine Einordnung des Gralromans in den Kontext der übrigen Artusromane nahe legen, insbesondere dass bereits in der Charrette der Ansatz zum narrativen Kontrastverfahren einer Parallelqueste von Hofakteur und Protagonist vorgebildet ist. Der Vorbehalt von Per Nykrog, der Gralroman sei als Torso mit 9000 Versen aufgrund des Umfangs von einer anderen Qualität als die übrigen, kürzeren Versromane Chrétiens,193 stellt kein inhaltliches Gegenargument gegen eine Einordnung in die ArtusAventiurestoffe Chrétiens dar. Verschiedene Forschungsmeinungen legen nahe, dass das zeitgenössische Publikum den Gralroman im Blick auf die Parameter des gesamten Genres rezipiert hat.194 Da die arthurischen Erzählkonventionen im Conte du Graal dem Publikum aus den anderen Romanen bekannt waren, dürften die genretypischen Signale auch eine entsprechende Erwartungshaltung erzeugt haben. Zu solchen Signalen gehört (trotz später Stellung im narrativen Gefüge) die erste Artusszene, die gattungskonform in Cardoeil [V.839] angesiedelt ist und das arthurische Hofensemble (Artus, Guenièvre und Keu) in der nun mehrfach beobachteten Krisensituation zeigt. Auch das typische Fehlen des Artusneffen Gauvain in dieser ersten Artusszene gehört dazu. Die von der Forschung gemachte Unterscheidung zwischen Gral- und Nicht-Gralromanen im Œuvre Chrétiens ist ein nachträgliches Konstrukt, das sich nicht mit der poetologischen Terminologie mittelalterlicher Autoren substantiieren lässt. Schmolke-Hasselmann konnte zwar die Prosa- von den Versromanen als zwei unterschiedliche Großgattungen abtrennen, musste aber erkennen, dass der von Chrétien am häufigsten verwendete Begriff für seine Romane, conte, von ihm sowohl als Bezeichnung für Erec et Enide (d’Erec, le fil Lac, est li contes [V.19]) als auch für den Gralroman (Ce est li contes del Graal [V.66]) verwandt wurde, wobei andere mittelalterliche Autoren diesen Begriff nicht einmal auf Werke des arthurischen Stoffkreises beschränkten.195 Gotzmann hat übrigens plausibel zwischen Graldichtungen unterschieden, »in denen der Artushof nicht mit dem Gral-Komplex handlungsstrukturell verknüpft wurde (z.B. ›Lohengrin‹, ›Lorengel‹, während Chrétiens ›Perceval‹, Wolframs ›Parzival‹, die verschiedenen ›Lancelot‹-Bearbeitungen und die ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin den Gral nicht losgelöst von der arthurischen Welt erfassen«,196 auch das ist ein Hinweis auf die Relevanz der arthurischen Grundstruktur in diesen Stoffen. 193 194
195 196
Per Nykrog: ›Two Creators of narrative form in twelfth century France: Gautier d’Arras – Chrétien de Troyes‹, in: Speculum XLVIII nr. 4 (1973), S. 258–276, S. 270. Vgl. u. a. Rupert T. Pickens: The Welsh Knight. Paradoxicality in Chrétien’s Conte del Graal. French Forum Monographs, 6. Lexington, Kentucky 1977, S. 7ff., Harry F. Williams: ›Interpretations of the Conte del graal and Their Critical Reactions‹, in: The Sower and his Seed. Essays on Chrétien de Troyes. Hrsg. von R.T. Pickens. French Forum Monographs, 44. Lexington, Kentucky 1983, S. 146–154, S. 150. Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, vgl. S. 22. Carola L. Gotzman: Artusdichtung, Stuttgart 1989, S. 1.
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Ein drittes Problem für die angestrebte Untersuchung des Conte du Graal könnte der lange bestrittene Zusammenhang zwischen der Perceval- und der Gauvainhandlung sein. Erdmuthe Döffinger-Lange hat jüngst die Forschungsdiskussion dokumentiert, die eine unterschiedliche Autorschaft für die beiden Romanteile vermutete.197 Mit ihrer Studie konnte sie erweisen, dass das Bestreiten der Einheit dieses Romans der Forschung zuletzt vor allem als Vorwand diente, den Gauvainteil nicht interpretieren zu müssen, was Döffinger-Lange zu der witzigen Sentenz inspirierte, jede Gesamtdeutung des Conte du Graal müsse sich fragen lassen »Wie hast du’s mit Gauvain.«198 Döffinger-Lange führt den Beweis für den Zusammenhang zwischen Perceval- und Gauvainteil. Ihre Argumentation beruht auf »eine[r] doppelte[n] Kette von Prophezeiungen und deren Erfüllung«, welche die Handlung seit der ersten Artusszene »auf die Begegnung zwischen Perceval und Gauvain« zulaufen lasse.199 Die erste Artusszene, in welcher das lachende Fräulein geschlagen wird, werde im Verlauf der späteren Percevalhandlung mnemotechnisch verfügbar gemacht.200 Seit dieser Szene erwarte das Publikum nämlich die Bestrafung Keus, eine Erwartung, die durch Wiederholungen gesteigert werde. Auf dem Höhepunkt der narrativen Entwicklung werde Gauvain in die Handlung eingeführt. Dieser verleihe Perceval jenen Ehrenpreis, der ihm von der lachenden pucele prophezeit worden sei. Es sei schließlich Gauvain, der Perceval aus der Blutstropfen-Trance herausführen könne, nachdem sich die zweite Prophezeiung, die Bestrafung Keus erfüllt habe. Aufgrund der engen Korrelation der Ereignisse folgert Döffinger-Lange, »daß die ersten Szenen am Artushof den Ausgang der Blutstropfenepisode latent enthalten.«201 Catherine Blons-Pierre schließlich rechtfertigt eine integrale Betrachtung der beiden Romanteile mit der handschriftlichen Überlieferung: »Le texte qui figure dans les quinze manuscrite qui nous sont parvenus fait état d’un roman qui comporte une intrigue à deux personnages, don’t les histoires s’imbriquent sans qu’il y ait de contradiction flagrante.«202 II.5.2.1 Die Initialkrise im Conte du Graal Die Initialkrise im Conte du Graal manifestiert sich analog zu den zuvor diskutierten Krisensituationen der Romane in zweifacher Weise: als eine Provokation von Außen und als eine bereits vorbestehende Defizienz im Inneren der Hofgesellschaft selber. Da im Gralroman eine Vielzahl von Bezügen zu bespre197 198 199 200 201 202
Einen Überblick über diese Forschungsmeinungen geben u. a.: Keith Busby: Perceval, 1993, vgl. S. 51f. und sehr ausführlich Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 11–71. S. Anm. 197, S. 59 Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 61. S. Anm. 199, S. 63. S. Anm. 199, S. 66. Blons-Pierre: Lecture d’une Œuvre, 1998, S. 21.
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chen sind, folgt jetzt ein kurzer Hinweis auf die Argumente in diesem Abschnitt. a) Eingangs werden die externen Ursache der Krise (die Provokation durch den Roten Ritter und ihre Konsequenzen) besprochen, wobei die Reaktion der Hofakteure analysiert wird. Besonderes Augenmerk gilt der typisch negativen Profilierung Keus und der Rolle des schwachen Königs. Danach wird die ›indirekte Mitverantwortung‹ der Gauvainfigur für die Eskalation der Hofkrise betrachtet, um zu zeigen, wie sie für seine spätere Queste funktionalisiert wird. b) Im zweiten Schritt erfolgt die Analyse der internen Defizienz der Hofgesellschaft, die in der ersten Hofszene aufgedeckt wird. Hierzu wird ein kurzer Exkurs in die Darstellung des höfischen Geschlechterverhältnisses in Chrétiens Romanen erforderlich. Am Ende beider Abschnitte werden die Bezüge erkennbar sein, die für das Handeln der Gauvainfigur im zweiten Teil des Romans bestimmend sind. II.5.2.1.a Externe Krisenursachen Die äußere Provokation geht von einem Roten Ritter (Li Vermax Chevaliers [V.950]) aus, dem Perceval auf seinem Weg zu Artus vor der Burg begegnet. Dieser verlangt, dass Artus sein Reich künftig von ihm zum Lehen nehmen oder einen Ritter schicken solle, der sich ihm im Zweikampf stellt [V.889–93]. Dann berichtet der Rote vom Raub einer goldenen Trinkschale (une colpe d’or [V.867]), der mit einer schweren Beleidigung Königin Guenièvres einherging. In seiner Erregung habe der Rote nämlich die Trinkschale emporgerissen und sor la roïne versa tot le vin dont ele estoit plaine [V.960f.] (›den ganzen Wein, mit welchem sie gefüllt war, über die Königin ausgeschüttet‹). Die äußere Provokation besteht also in einer manifesten Bedrohung der Position des Königs und einer schweren Beleidigung der Königin, die offenbar als so gravierend empfunden wird, que la roïne en est entree, de corroz et d’ire enflammee, en sa chambre, ou ele s’ocist [V.963–65] (›dass sich die Königin zornig und wutentbrannt in ihre Kemenate zurückgezogen hat, wo sie sich zu Tode quält‹). Artus befürchtet sogar, dass sie vielleicht nicht lebend darüber hinwegkommen wird (en puist echaper vive [V.967]). Wie üblich kommt es zur Lähmung des Hofes (Stasis), und wie üblich fehlt Gauvain in dieser Szene (Inertia). Baumgartner unterstreicht, dass »aucun membre de la cour [..] n’a relevé le challenge, n’a tenté de reprendre la coupe d’or, symbole de souveraineté, et de venger l’humiliation infligée au couple royal.«203 Die (noch anwesenden) Ritter sind lediglich passive Beobachter des Gesche-
203
Emmanuèle Baumgartner: Chrétien de Troyes. Le Conte du Graal. Etudes Littéraires, 62. Paris 1999, S. 83
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hens. Frappier merkte an: »On notera l’absence de Gauvain dans cet épisode de la première visite de Perceval à la cour d’Arthur [...] Ainsi s’explique qu’il ne se trouve personne à la cour pour relever le défi du Chevalier Rouge (le sénéchal Keu est blessé ...).«204 Für Döffinger-Lange ist die Abwesenheit der Gauvainfigur in der ersten Artusszene zwar »mit V.854–858 hinreichend motiviert.«205 Doch die von ihr angeführten Verse erklären lediglich die Betrübnis König Artus’, der kurz zuvor den König der Inseln [V.852] besiegte und seither die Gesellschaft de ses compaignons [V.854] verlor. Sie haben sich auf ihre Burgen zurückgezogen, la ou le meillor sejor virent [V.856] (›dorthin, wo sie sich den angenehmsten Aufenthalt versprachen‹). Die Verse enthalten Kritik an der Artusgesellschaft, die offenbar nicht mit den Annehmlichkeiten der Privatburgen einzelner Ritter konkurrieren kann. Sie geben keine Erklärung für die Abwesenheit des Königsneffen, sondern markieren die Krisensituation des Hofes, der auch eine interne Defizienz zugrunde liegt. Der Hof hat seine Anziehungskraft als Zentrum des arthurischen Lebens und Festes eingebüßt. Die Gauvainfigur gehört zum Kern des Hofensembles. Ein Rückzug dieser Figur auf eine private Domäne ist nicht mit den Konventionen des Genres vereinbar. (Von einem eigenen Stammsitz Gauvains ist übrigens in keinem Roman Chrétiens die Rede.) Während Gauvain ›fehlt‹, tritt Keu in dieser Szene in exponierter Stellung auf. Seine Provokationen tragen zur Eskalation bei, was mustergretreu die Intervention des Protagonisten nach sich zieht. Es ist nämlich Keu, wie Baumgartner referiert, »qui encourage avec ironie l’innocent [gemeint ist Percevel] à aller prendre l’armure convoitée.«206 Das geschieht in einer Gesprächssituation, in welcher Perceval von König Artus die Rüstung des Roten verlangt hatte, worauf Keu mit sarkastischem Spott erwiderte: […] »Amis, vos avez droit. Alez lui tolir orendroit Les armes, car eles sont vos.«
[V.1003–5]
[Freund, Ihr habt Recht. Geht sofort und entreißt ihm die Rüstung, denn sie ist Euer.]
Keus Bemerkung zieht eine Entgegnung von Artus nach sich, die oft als »réprimande du roi« für Keus ungebührliches Reden aufgefasst wurde.207 Dabei hatte bereits Peter Haidu zurecht angemerkt, »Arthurs speech, however, is largely 204 205 206 207
Jean Frappier: Chrétien de Troyes et le Mythe du Graal. Etude sur Perceval ou le Conte du Graal. Bibliothèque du Moyen Age. Paris (1. 1972), 2. erweiterte Auflage 1979, S. 88 Anm. 8. Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 60. Baumgartner: Graal, 1999, S. 22. Baumgartner: Graal, 1999, S. 22; vgl. auch Linda M. Gowens: ›Cei and the Arthurian Legend‹. Arthurian Studies, XVIII. Cambridge 1988, S. 80, die zwar ebenfalls die These des königlichen ›reproach‹ vertritt, aber trotzdem den Zusammenhang einräumt: »had Cei’s sarcasm not been the direct cause of Perceval’s fateful approach to the Red Knight, Arthur would not have been rid of his enemy« (S 81).
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beside the point.«208 Denn während es zunächst tatsächlich den Anschein hat, als wolle Artus Keu zur Ordnung rufen, kommt dieser alsbald von seinem Anliegen ab, »as he lectures Keu on the evils of making promises one cannot fullfill, and lectures at length.«209 Besonders die folgenden Worte König Artus’ sind doppeldeutig: »Vilonnie est d’autrui gaber Et de prometre sanz doner. Preudom ne se doit entremetre De rien nule a autrui prometre Que doner ne li puisse ou veille, Que le mal gre celui n’acueille Qui sanz prometre est ses amis; Et des que il li a pramis, Si bee a la promesse avoir.« [V.1017–25] [Es ist eine Gemeinheit, einen anderen zu verspotten und ihm zu versprechen, was man nicht erfüllen kann. Ein Edelmann darf sich nicht auf etwas einlassen und nichts versprechen, was er weder erfüllen kann noch erfüllen will, so dass er nicht den Unmut dessen auf sich zieht, der ohne das Versprechen sein Freund wäre und, seitdem er das Versprechen gab, die Einhaltung desselben verlangt.]
Um welches Versprechen geht es dem König? Baumgartner will ein unterschwelliges Anklingen des don contraignant-Motivs nicht völlig ausschließen: »À moins qu’il [das don contraignant-Motiv] ne faille voir dans l’insistance de Perceval à exiger du roi les armes vermeilles donc, sans qu’il y voie lui-même une relation de cause à effet, à rechercher la mort du chevalier, comme la persistance, sous-jacente à la narration, de ce motif traditionnel.«210 Doch von einem don contraignant war bis zu diesem Zeitpunkt der Erzählung keine Rede. Der König selbst hat im Bezug auf die Rüstung noch gar kein wie auch immer geartetes Versprechen abgegeben. Keus ›Zusage‹, dass Perceval mit Recht die rote Rüstung verlangen könne und sie sich einfach holen solle, war offensichtlich hinterlistige Ironie. Haidu bestätigt es: »This grant was ironic, and Arthur is addressing himself to the literal meaning of the words, not their real intent. Strangely enough, Arthur reacts to Keu’s words in the same way as Perceval, who will tell the Red Knight his armour has been granted to the youth by the King. Yet, as his first remarks to Keu prove, Arthur was perfectly aware of the latter’s intent. Perhaps this is an example of Arthur’s senility. Or it may be the mark of too great courtesy [...].«211 208 209 210
211
Peter Haidu: Aesthetic Distance in Chrétien de Troyes: Irony and Comedy in Cliges and Perceval. Genf 1968, S. 141. S. Anm. 208. E. Baumgartner: ›Le défi du chevalier rouge dans Perceval et dans Jaufré‹ [erstmals in: Le Moyen Âge 32 (1977), S. 239–254], in: Polyphonie du Graal. Hrsg. von D. Hüe. Orléans 1998, S. 33–44, S. 41. Haidu: Aesthetic Distance, 1968, S. 142.
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Artus musste also wissen, dass Keus Worte ironisch (oder gar sarkastisch) gemeint waren, und trotzdem habe er sie – so versteht ihn Haidu – als ernsthafte Aufforderung zum Raub der Rüstung in all ihren Konsequenzen diskutiert. Allerdings vermag Haidus Erklärungsversuch der Motivation des Königs, mögliche Senilität oder übertriebene courtoisie, nicht recht zu überzeugen. Eine gegenüber dem König gemachte Ankündigung Percevals bringt das Motiv an den Tag: »Foi que je doi al Creatour, Fait li vallés, biax sire rois, Ne serai chevaliers des mois, Se chevaliers vermeus ne sui. Donez moi les armes celui Qui vostre colpe d’or em porte, Que j’encontrai devant la porte.«
[V.994–1000]
[Beim Glauben, den ich dem Schöpfer schuldig bin, erwiderte der Junge, lieber Herr König, ich werde noch lange nicht Ritter werden, wenn ich nicht der rote Ritter werde. Gebt mir die Rüstung dessen, der Euren Goldbecher raubt und dem ich vor dem Tor begegnet bin.]
Die Ankündigung, nie Ritter zu werden, wenn er nicht der Rote werden könne, bekräftigt Perceval in dieser Szene mit der Berufung auf den Glauben an seinen Schöpfer. Sie hat also den Charakter eines Gelöbnisses. Dieses Gelöbnis verbindet der Junge mit der Erwähnung des goldenen Trinkgefäßes, dem Symbol der akut gefährdeten Souveränität des Königs. Damit drückt er also nicht nur wilde Entschlossenheit aus, die Rüstung zu erlangen, sondern auch den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Gewähren der Rüstung durch Artus und der noch immer fortbestehenden Herausforderung symbolisiert durch den Becherraub. Die Worte des Königs, dass ein Edelmann keine Zusagen machen dürfe, die er nachher nicht einhalten könne, sind deshalb kein Zeichen von Senilität, sondern das Gegenteil, nämlich durchaus raffiniert. Nicht grundlos hatte Artus bei seiner vermeintlichen Schelte Keus hervorgehoben, dass dieser unerfahrene Junge puet c’estre, gentix hom [V.1013] (›vielleicht ein Edelmann‹) werden könne. Artus scheint an dem Jungen Maß zu nehmen. Was wäre dem zuzutrauen? Dieser Knabe könnte die unverhoffte Antwort auf seine dringenden Probleme sein. Brigitte Cazelle bestätigt den Befund: »Arthur’s belated recognition of Perceval’s martial value also proves that Keu’s comment is not a grant tort [V.1009] as the king claims, but a correct assessment of the selfinterested motives governing Arthur’s praise of his chivalric order.«212 212
Brigitte Cazelles: The unholy grail. A social reading of Chrétien de Troyes’s Conte du Graal. Stanford CA 1996, S. 128. Cazelle geht übrigens von einer Rivalität zwischen Artus und Keu aus, die sie aus der Prosaliteratur, u. a. dem Prosa-Merlin herleitet (vgl. S. 78). Allerdings betrachtet sie verschiedene Erzähltraditionen und Genres quasi als eine große Quelle, ohne
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Die doppeldeutige Rede wird Artus bei einer späteren Gelegenheit peinlich oder zumindest unangenehm sein. So jedenfalls lassen die falschen Angaben vermuten, die der König einige Zeit danach gegenüber Gauvain macht, als dieser ihn darum bittet, ihn über die Identität Percevals aufzuklären. Der König rekapituliert die erste Hofszene in seinen eigenen Worten und behauptet, er habe Perceval bei seinem Erscheinen angeboten: […]»Frere, volontiers; Mais descendez endementiers, Tant c’on vos avra aportees Une[s] armes totes dorees.« [V.4103–6] [Bruder, mit Vergnügen. Aber sitzt doch erst einmal ab, so dass man euch bald eine ganz und gar vergoldete Rüstung gebracht haben wird.]
Die goldene Rüstung, die Artus dem Jungen versprochen habe, habe dieser jedoch ausgeschlagen. Träfe seine Darstellung zu, so wäre Artus von der Mitschuld am Rüstungserwerb durch Mord entlastet, da er ja kostbare Alternativen in Aussicht gestellt hätte. Tatsächlich hat es ein solches Angebot nie gegeben. Die Worte des Königs an entsprechender Stelle lauteten wirklich: »Amis, fait li rois, descendez Et vostre chaceor rendez A un vallet, sel gardera Et vostre volonté fera.« [V.979–82] [Freund, erwiderte der König, sitzt ab und übergebt Euer Pferd einem Knappen, der es bewachen und Euch zu Diensten sein wird.]
Die späteren ›falschen Angaben‹ des Königs lassen die früheren, doppeldeutigen Aussagen bezüglich einmal gemachter Zusagen als Kalkül durchsichtig werden. Artus muss in der Situation der Initialkrise darauf gesetzt haben, dass der Rüstungserwerb, den Perceval unbedingt anstrebte, mit dem Mord am Roten einhergehen würde, auch wenn Perceval selbst diese »relation de cause à effet«213 nicht durchschaut haben dürfte. Jacques Ribard zweifelt nicht an der Aufrichtigkeit von Artus’ Angebot einer goldenen Rüstung. Unter Hinweis auf Parzivals ungeduldigen Forderung Ne serai chevaliers des mois se chevaliers vermeus ne sui [V.996f.] (›Ich werde noch lange nicht Ritter sein, wenn ich nicht der Rote Ritter werde‹), meint Ribard: »On comprend
213
damit zu rechnen, dass in den verschiedenen Genres unterschiedliche erzählerische Notwendigkeiten ähnlichen Motiven je eine ganz andere Funktion verleihen. Keu rivalisiert also im Conte du Graal nicht etwa mit Artus, weil dieser ihm die Muttermilch gestohlen habe, sondern er funktioniert wie in den vorigen Romanen als die zentrifugale Kraft, die die Lösung der Initialkrise mit unhöfischen Mitteln betreibt, bevor er dafür bestraft wird. Baumgartner: Le défi, (1. 1977) 1998, S. 41.
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mieux alors l’étrange choix de Perceval, refusant les armes totes dorees – symbole de perfection souveraine – que lui propose généreusement Artur et ne cessant d’exiger de lui des armes vermoilles [...].«214 Ribards Interpretation illustriert die relativ unkritische Sicht der Königsfigur in der älteren Forschung.
Während die Interessen des Königs und des Protagonisten sich oberflächlich überschneiden, klaffen sie unterschwellig auseinander. Dem König ist an der Beseitigung des Herausforderers gelegen. Perceval wird von einer personalen Motivation, dem Rüstungserwerb, angetrieben. Der Protagonist wird daher auf Keus hintersinnige Anstiftung hin vom König für seine Zwecke instrumentalisiert. Rückblickend wird eine Parallele zwischen der Charrette und dem Gralroman deutlich. Sie besteht in der erzählerischen Verknüpfung des spottenden Seneschalls mit der in Krisensituationen bedenklich agierenden Königsfigur. Dem Verhalten des Seneschalls kommt dabei die Funktion einer Triebfeder zu. Eine Parallele besteht auch darin, dass sich in der Charrette wie im Conte du Graal die Motive der Protagonistenfigur auf seiner Queste nur scheinbar mit den Zielen des Hofes überschneiden. Maddox konstatiert, Perceval sei »like Erec and Lancelot before him [...] initially the purposeful agent of his own designs and only involuntarily – indeed, quite unwittingly – the sole defender of the Arthurian realm on this occaison.«215 Die erste Parallele ist ein weiterer Anhaltspunkt für die Argumentation DöffingerLanges, dass die Handlung seit der »ersten Artusszene, über eine doppelte Kette von Prophezeiungen und deren Erfüllung, auf die Begegnung zwischen Perceval und Gauvain« zulaufe.216 Der von ihr beschriebene Zusammenhang stimmt mit dem narrativen Muster überein, welches auch in Chrétiens übrigen Romanen nach Keus demütigender Niederlage zur Begegnung des Protagonisten mit der Gauvainfigur führte, denn das ist ein fester Bestandteil des Interaktionsmusters.
Dass die ›Instrumentalisierung‹ der Figur des Protagonisten für die Zwecke des Hofes problematisch ist, dass also der vallet salvage [V.975] nach den Maßstäben des ritterlichen Kampfethos kein geeigneter Gegner für den Roten ist, verdeutlicht die anschließende Konfrontation mit dem Herausforderer, der ihn überhaupt nicht als Kämpen identifiziert, sondern für einen Boten hält. Haidu interpretiert die Fehleinschätzung: »The vaslez is nothing but an instrument for him, a messenger of no importance himself«217 und fügt hinzu: »that the youth might be dangerous never occurs to him.«218 Bei seinem Missverständnis kann sich der Rote auf den Augenschein stützen, denn das Erscheinungsbild des wilden Jungen in seiner unhöfischen Kleidung und Bewaffnung hat alles andere 214 215 216 217 218
Jacques Ribard: Le moyen âge. Littérature et symbolisme. Collections ESSAIS, 9. Paris 1984, S. 45. Maddox: Arthurian Romances, 1991, S. 84. Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 61. Haidu: Aesthetic distance, 1968, S. 144. S. Anm. 217, S. 145.
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als ritterlichen Charakter. Perceval trägt eine grosse chemise de canvenne [V.1165] (›grobes Leinenhemd‹). Missverständlich für den Roten ist auch das Verhalten des unhöfischen Burschen. Er verlangt zwar von seinem Gegner: Metez les jus les armes, ne porterez plus, que li roi Artus le vos mande [V.1083–85] (›Legt Eure Rüstung nieder und tragt sie nicht länger, wie es der König Artus Euch gebietet‹). Aber auf die ausdrückliche Frage des Ritters: Vallet, ose nus cha venir por le droit le roi maintenir? [V.1087f.] (›Knappe, wagt es etwa irgendwer hierher zu kommen, um für die Rechte des Königs einzutreten?‹) gibt Perceval eine ausweichende Antwort. Die Frage des Roten ist höfisch-ritterlichem Ethos geschuldet. Ohne ausdrückliche Kampfansage will er nicht zu Kampfhandlungen übergehen. Da Perceval aber ausweichend antwortet, versucht der Rote, sich Gewissheit zu verschaffen und präzisiert seine Frage: »Vallet, fait cil, je te demant Se nus vient cha de par le roi Qui combatre se weille a moi.«
[V.1094–96]
[Knappe, entgegnete jener, ich frage dich: ist hier jemand erschienen, der um des Königs willen gegen mich zum Zweikampf antreten will?]
Die ausdrückliche Wiederholung beweist, dass der Autor hier sehr viel Wert auf das Ausbleiben der formellen Kampfansage und die resultierende Irritation des Roten legt. Auch auf die zweite Frage unterbleibt eine formelle Kampfansage. Die Frechheit des Burschen erzürnt den Roten unterdessen so sehr, dass er ihn – man denke an den ungleichen Zweikampf zwischen Erec und Keu in der Szene der Zwischeneinkehr in Erec et Enide – mit dem Schaft seiner Lanze einen Schlag gegen die Schultern versetzt, wodurch Perceval gegen den Hals seines Pferdes geworfen wird. Dieses schonende Vorgehen des Roten ist ethisch motiviert. Ein unverschämter, aber vollkommen unzureichend bewaffneter Gegner wird in die Schranken gewiesen, ohne dass dabei ernsthafte Verletzungen zu befürchten wären. Percevals Reaktion auf diesen Schlag ist dann die unerhörte Mordtat, die der Erzähler durch sämtliche Umstände als verwerflich qualifiziert: nämlich durch die intrigante Art, mit welcher der wilde Junge von Keu und Artus instrumentalisiert wurde (wodurch dem Hof eine Mitschuld zufällt), weiter durch das unhöfische Erscheinungsbild und Gebaren des Knaben und schließlich durch das unangemessene Mittel des gavelot [V.1113], also eines Wurfspeers, der für die Jagd aber nicht für den ritterlichen Zweikampf gedacht ist. Philippe Ménard hat in einer parallelen Situation, nämlich der Verstümmelung des Fischerkönigs, die ja ebenfalls von einem gavelot herrührte, einen Verrat gesehen. Er führt dazu aus: »l’adversaire qui a lancé de loin un javelot sur le roi n’avait sans doute pas osé l’approcher de près. C’est donc un lâche et un traître.«219 Analog 219
Ph. Ménard: ›Énigmes et Mystère dans le Conte du Graal‹, in: Ders.: De Chrétien de Troyes
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dazu steht somit auch Percevals Mord an dem Roten unter dem Vorzeichen des Verrats. Nachdem soweit die äußere Provokation, die Lähmung des Hofes, die treibende Rolle des spottenden Keus und das bedenkliche Agieren des Königs identifiziert wurden, soll die Mitverantwortung Gauvains für die weitere Entwicklung beschrieben werden. Im Begriff des Verrats wird nämlich erstmals die Mitverantwortung der Gauvainfigur für die Mordtat des unzivilisierten Protagonisten greifbar. Auch Gauvain wird ja später von Guigambresils traïson (›Verrat‹) vorgeworfen. Guigambresil hatte seinen berühmten Vorwurf gegen Gauvain in der mittleren Artusszene bekanntlich wie folgt begründet: [...] »Gauvains, tu oceïs Mon seignor, et si le feïs Issi que tu nel desfïas. Honte et reproce et blasme i as, Si t’en apel de traïson« [V.4759–63] [Gauvain, du hast meinen Herrn getötet, und hast es dergestalt getan, dass du ihn nicht (zum Kampf) herausgefordert hast. Schande, Schmach und Tadel ist dir daraus erwachsen, so dass ich dir deswegen Verrat vorwerfe.]
Im Licht dieses Vorwurfs erlangen eine Reihe von Umständen während der Initialkrise eine andere Bedeutung, an erster Stelle die Tatsache, dass die Mordtat Percevals auf Betreiben und mit Zustimmung des Artushofes geschah. »In so far as Arthur’s court represents the locus and epitome of courtly knighthood, it is ironically defended by the antithesis of its own values«,220 und, so fährt Haidu fort, »the king is apparently not concerned with the fact that Perceval’s manner of fighting is hardly knightly.«221 Über den Zusammenhang mit der Hofgesellschaft ist natürlich auch schon ein Schatten auf Gauvain gefallen, der zwar im Augenblick der Initialkrise in typischer Weise nicht auf der Bildfläche erscheint, aber immerhin als primus inter pares der erste Repräsentant dieser höfischen Tugendgemeinschaft der Tafelrunde ist, weswegen das unhöfische Gebaren auch auf ihn zurückfällt. Der Erzähler lässt auch ansonsten nicht nach, wichtige Indizien in die Erzählung zu integrieren, die eine Mitverantwortung Gauvains – trotz dessen typischer Abwesenheit – nahe legen. Der auffälligste Anhaltspunkt ist die Komplizenschaft Yvonets, des Knappen Gauvains,222 an der Mordtat. Diese Figur erscheint während der gesamten Romanhandlung nur in zwei Szenen, nämlich
220 221 222
au Tristan en prose. Études sur les romans de la table ronde. Publication Romanes et Françaises, CCXXIV. Genève 1999, S. 73–94, S. 86. Haidu: Aesthetic distance, 1968, S. 145. S. Anm. 220, S. 146. Vgl. u. a. Frappier: Mythe du Graal (2. 1979), S. 88, Anm. 8 und Olef-Krafft: Roman de Perceval, 1991, Anm. zu V.915, S. 546.
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während der ersten Artusszene (einschließlich der eingeschobenen Mordhandlung außerhalb des Hofes) und dann noch einmal viele tausend Verse später während Gauvains erfolgloser Hindenjagd. Die Funktion der Figur Yvonets während der ersten Hofszene besteht zuerst darin, den unerfahrenen Perceval zu empfangen und ihm denjenigen unter den Anwesenden zu zeigen, der der König ist. Schon dieser Empfang macht einen zwielichtigen Eindruck, denn Yvonet kommt Perceval entgegen, während er un coutel dans sa main tient [V.916] (›ein Messer in der Hand hält‹). Das Messer, welches dem Knappen zum Vorschneiden der Fleischspeisen bei Tisch gedient haben dürfte, wirft ein dubioses Licht auf die kommenden Entwicklungen. Antoinette Saly legt einen Zusammenhang mit dem späteren Zerstückeln der Leiche des Roten in ›Fleischstückchen‹ nahe.223 Anschließend fungiert die Yvonetfigur als Zeuge der Mordtat Percevals sowie als Komplize beim Abwickeln des Rüstungsraubs und der Einkleidung Percevals. Busby hebt die ungewöhnlichen Umstände des Mordes mit einer Jagd- statt einer Kampfwaffe, sowie die anschließenden Behandlung des Getöteten »as if he [der Rote] were an animal he [Perceval] had killed for meat or skin« hervor. »Indeed when he comically fails to remove the armour from the dead knight, he does suggest cutting the body up into ›carbonees‹ as if it were a carcass (V.1136–38).«224 Der Rote erscheint in dieser Szene also wie ein erlegtes Tier, das mit Jagdgeräten gefällt wurde. Das Bild der inkongruenten ›Jagd‹ wird durch Percevals Pferd vervollständigt, das als Jagdpferd (chaceor) eigentlich nicht für die Kriegführung gedacht ist. Damit wäre Yvonet zweimal an einer inkongruenten Jagd beteiligt, denn das einzige andere Auftreten der Figur ist mit der erwähnten Hindenjagd Gauvains verknüpft, die jener mit einer unangemessenen Waffe (einer Lanze statt eines Wurfspeers) auf einem Streitross (destrier) statt Jagdpferd ausführt. Die Hindenjagd mit den unpassenden Mitteln wird durch die Textsignale als Spiegelung der ›Jagd‹ auf den Roten inszeniert. Sie verschlägt Gauvain nach Escavalon, wo man ihm Verrat vorwirft, weil er einen Ritter ohne formelle Herausforderung getötet habe. Das zweifache Auftauchen des Namens einer Nebenfigur wie Yvonet über eine Distanz von mehreren tausend Versen signalisiert unzweideutig, dass die Szenen aufeinander zu beziehen sind. Döffinger-Lange hat sich gegen die Auffassungen Haidus, Busbys u. a. gewandt, dass das Streitross Gauvains (destrier) für die Jagd ein unpassendes Pferd sei.225 Als Argument macht sie u. a. geltend, dass etwa auch Erec auf einem destrier zur Jagd
223
224 225
Antoinette Saly: ›Sur quelques vers du Perceval: La biche manquee (vv. 5656–5702)‹ [erstmals in: Perceval-Parzival hier et aujour’hui. Greifswald 1994, S. 259–269], in Dies.: Mythes et Dogmes. Roman arthurien, épopée romane. Orléans 1999, S. 57–67. Busby: Perceval 1993, S. 22. Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 164.
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ausreite. Der zitierte Abschnitt [V.94] in Erec et Enide ist allerdings kein geeignetes Argument für ihre These, denn im Gegensatz zur bereits vor ihm aufgebrochenen Ritterschaft reitet Erec auf seinem Schlachtross eben nicht zur Jagd. Zum einen ist er mit seinem Hermelinmantel, dem Damastrock aus Konstantinopel und den feinen Seidenhosen für eine Jagd weder angemessen gekleidet [V.95–100], noch ist er mit lediglich einem Schwert angemessen bewaffnet [V.103f.]. Zum anderen macht der Protagonist seine Absicht auf diesem Ausritt unmissverständlich klar, als er die Königin eingeholt hat: »je ne ving ça por autre afere fors por vos compaignie fere« [V.109f.] (›Ich bin aus keinem anderen Grund hergekommen als allein deshalb, Euch Gesellschaft zu leisten‹).
Auf die Parallele zwischen Percevals Mordtat und dem Mordvorwurf gegen Gauvain hat die Forschung schon verschiedentlich hingewiesen. Olef-Krafft referiert den Zusammenhang in ihrem Nachwort unter der Überschrift »Psychologische Analyse«, wobei sie die gemachten Anschuldigungen Guigambresils nicht in Zweifel zieht: »Gauvains Schuld, Guigambresils Vater ohne die gebotene desfiance im Kampf getötet zu haben, spiegelt die – dort allerdings weder geahndete noch wenigstens gebrandmarkte – Schuld Percevals, Vaterfiguren wie den Roten Ritter oder Clamadeu des Illes ebenfalls ›sanz desfïance et sanz grant raisne‹ (V.2665) attackiert zu haben.«226 Auch Monique Santucci ist sich sicher: »Gauvain est responsable de la mort d’un père.«227 Aber es gibt weder ein Schuldbekenntnis Gauvains noch eine Bestätigung für den Mordvorwurf von dritter Seite. Denyse Delcourt glaubt deshalb nicht an eine Schuld Gauvains, da dieser andernfalls kaum über die Qualitäten verfügen würde, die ihm in als Befreier des Roche Canguin attribuiert werden. Stattdessen sei es viel bedeutsamer, dass »un chevalier aussi remarquable que le neveu du roi Arthur soit ici soupçonné d’avoir froidement tué un homme.« Nach Delcourts Auffassung ist diesem Verdacht zu entnehmen, »que les meilleurs chevaliers se sont maintenant transformés en des tueurs d’hommes.«228 In der Interpretation des Schuldvorwurfs als Anklage, die sich gegen die ganze Rittergesellschaft richtet, deren Ethik Gauvain verficht, liegt meines Erachtens der Schlüssel zu seinem Verständnis. Nicht Gauvain selbst hat einen solchen Mord begangen, sonst könnte ihm in der Tat die Tugendprobe des Roche de Canguin nur misslingen, aber die Figur wird in Mithaftung für eine solche Tat genommen. Jacques Ribard wundert sich, dass Gauvain, »est soudain pourvu, alourdi d’un passé – passé mysterieux et inquiétant dont il semble curieusement n’avoir pas gardé le souvenir.«229 Mit Ribard stellt sich jedem Interpreten die Frage: »Quel est donc 226 227
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Olef-Krafft: Roman de Perceval, 1991, S. 677. Monique Santucci: ›La femme et le chevalier dans le »Conte du Graal«‹, in: Amour et chevalerie dans les romans de Chrétien de Troyes. Actes du colloques de Troyes (27–29 mars 1992). Hrsg. von D. Quéruel. Annales littéraire de l’Université de Besançon, 581. Paris 1995, S. 121–134, S. 123. Denyse Delcourt: L’Éthique du Changement dans le Roman Français du XIIe Siècle. Histoire des idées et critique littéraire. Bd. 276. Genf 1990, S. 141. Jacques Ribard: ›Un personnage paradoxal: Le Gauvain du Conte du Graal‹, in: Lancelot, Yvain
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ce meurtre obscur qu’il traîne après lui, cette faute initiale, enfouie dans un passé perdu et qui manifestement n’affleurait plus à sa conscience claire?«230 Aber anstatt eine ontologische Ursünde (péché originel) zu enthüllen, wie Ribard vermutet, scheint die von ihm aufgeworfene Frage geeignet, den Weg zur Interpretation des Mordvorwurfes im Text Chrétiens selbst aufzudecken. Der Mord ohne vorherige desfïance, an dem sich Gauvain indirekt mitschuldig machte, ohne es zu wissen, ist jener, den Perceval auf Anstiftung Keus und Artus’ an dem Roten beging. Die indirekte Mitverantwortung Gauvains an Percevals Mordtat hat (wie seine Mitverantwortung am Ehebruch Lancelots und der Königin in der Charrette) ihre Ursache in seiner Abwesenheit während der Situation der Initialkrise. Da adlige Vasallen im hohen Mittelalter ihrem Lehnsherrn gegenüber zu helfe unde rat verpflichtet waren,231 und da die familiaritas eine noch engere Personenbindung zwischen König und Gauvain nahe legt,232 ist das im Text unbegründete Ausbleiben der Figur in der Krisenlage ein klares Versäumnis. Ihr Nicht-Erscheinen ermöglicht nun die Eskalation der Ereignisse bei Hof, wo die Figuren des Königs und Seneschalls in der typischen Verkettung bedenklicher Handlungen eine Intervention des Protagonisten provozieren, der jedoch nicht hofkonform, sondern mit einer personalen Motivation agiert. Für den Erfolg des Protagonisten bei seinem Agieren (beim Mord) wird Gauvain im Conte du Graal (ebenso wie zuvor schon für den Ehebruch Lancelots in der Charrette) eine Mitverantwortung zuteil. Allgemein betrifft ihn diese, weil der Hof in der Not nicht auf Gauvain zählen, und Gauvain aufgrund seiner Abwesenheit die fatale Entwicklung nicht verhindern konnte. Insbesondere betrifft sie ihn durch die indirekte Hilfestellung, die zwar nicht von der Figur Gauvains selbst, aber stellvertretend für ihn von dessen Knappen geleistet wird. Der Vorwurf Guigambresils in der mittleren Artusszene, dass Gauvain sich durch einen Mord ohne formelle Kampfansage des Verrats schuldig gemacht habe, erhält von daher eine indirekte Berechtigung: tatsächlich haben sich nämlich König Artus und der Artushof, für welchen Gauvain in exponierter Stellung agiert, an der Planung und Anstiftung zu einem solchen Mord schuldig gemacht. Diese Schuld bleibt an der Gauvainfigur haften, d. h. sie bildet das Scharnier, über welches die ›äußere‹ Hofproblematik während der Initialkrise, die nach
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et Gauvain. Colloque arthurien belge de Wégimont. Collection Lettres Médiévales, 2. Paris 1984, S. 5–18, S. 7. S. Anm. 229. Rainer Wohlfeil: ›Ritter, Söldnerführer, Offizier. Versuch eines Vergleichs‹ [erstmals in: Festschrift Johannes Bärmann. Teil I (Geschichte und Landeskunde. Veröff. d. Inst. F. gesch. Landeskunde an der Univ. Mainz. Bd. 3). Wiesbaden 1966, S. 45–70], in: Das Rittertum im Mittelalter. Hrsg. von A. Borst. Darmstadt 1998, S. 315–348, vgl. S. 322. Althoff: Spielregeln, 1997, S. 186 hebt hervor, dass die verwandtschaftliche Bindung in Konfliktfällen mitunter sogar über die vasallitische Verpflichtung gestellt wurde. Weiter führt er aus, »dass [...] in der Tat ein von besonderer Huld geprägtes Verhältnis« gemeint wird (S. 220).
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dem Mord an dem Roten ja nicht reingewaschen, sondern lediglich verschoben ist, später während der Gauvainqueste erzählerisch aktiviert wird. Damit wäre auch die eingangs dieses Abschnittes gestellte Frage, ob die Problemstellung der Hofgesellschaft mit der Intervention des Protagonisten behoben und die Initialkrise bis zur mittleren Artusszene gelöst ist, wie Brigitte Burrichter vermutete,233 negativ beantwortet. Ein Teil der Gauvain zufallenden Aufgaben, die er auf seiner Queste im Sinne einer Rektifikation zu lösen hat, wird aus der fortbestehenden Defizienz der Hofgesellschaft resultieren und u. a. darin bestehen, in ungleichen Kampfsituationen unritterlich sich gebärdende Herausforderer mit inkongruenten Mitteln (falsche Waffen oder falsches Pferd) zu überwinden, ohne den Fehler der Mordtat zu wiederholen oder seine höfische Gesinnung zu kompromittieren. II.5.2.1.b Interne Krisenursachen Wenn man sich die Krisensituationen der bisher besprochenen Romane noch einmal in Erinnerung ruft, so fällt auf, dass sie alle in irgendeiner Form das Geschlechterverhältnis betrafen. In Erec et Enide hatte die Jagd des weißen Hirschen, die den Brauch des beisier nach sich zog, zu Streit geführt, weil jeder beanspruchte, seine Dame sei die Schönste. Die Problematik während der Initialkrise des allerersten Romans Chrétiens war als programmatisch für das gesamte Genre bezeichnet worden (vgl. Abschnitt II. 4.1.1). Im Chevalier au Lion galt die recreantise des Königspaars, das sich zum intimen Zusammensein zurückgezogen und damit die Hofgesellschaft desavouiert hatte, als interne Krisenursache. In der Charrette brachte die Provokation Méléagants die tiefe Entfremdung zwischen Artus und Guenièvre ans Licht, die bis zum Verlust der Figur der Königin eskalierte. Ein kurzer Blick auf die Artus-Aventiureromane zeigt, dass Chrétien dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern programmatischen Rang eingeräumt hat. Horst Brunner hat es als das »zweite große Thema der Romane« Chrétiens »neben den Rittertaten« bezeichnet. »Bei Chrestien wird immer wieder das Verhältnis des Helden zu seiner Dame problematisiert, die Frage aufgeworfen, wie die wahre höfische Liebe auszusehen hat.«234 Genau diese Frage: »just how should a knight let his chivalry be directed by a lady« bezeichnete John M. Clifton-Everest sogar als »nothing less than the major pre-occupation of the romance genre from its very beginnings with Chrétien himself«.235 Neil Thomas 233
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Dies impliziert Brigitte Burrichter: Premiers vers, 1999, S. 96, mit der Feststellung: »Auch in Perceval endet der erste Teil erst, als Artus Perceval findet und in seine Tafelrunde aufnimmt«, wobei als der ›erste Teil‹ die von der Hofkrise angestoßene Entwicklung zu verstehen ist. Horst Brunner: ›Hartmann von Aue: Erec und Iwein‹, in: Interterpretationen mittelhochdeutscher Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993, S. 97–126, S. 105. John M. Clifton-Everest: ›Knights-Servitor and Rapist-Knights. A contribution to the Parzival/ Gawan Question‹, in: ZfdA 119 (1990), S. 290–317, S. 294.
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vereindeutigt: »The contemporary relevance and importance of this theme can be judged by the fact that it puts its finger on a disquiet voiced elsewhere by other courtly poets and touches a wider debate about the difficulty of courtly regulation in love.«236 Nicht nur die höfische Liebe, sondern das Geschlechterverhältnis als solches ist – als harmonisch gedachtes Beisammensein – eine Voraussetzung der höfischen Freude, die der Artushof trotz seiner Defizienzen verkörpern soll. Obwohl Beate Schmolke-Hasselmann das in ihrer Darstellung der Typik des arthurischen Romananfangs nicht erwähnt hat, gehört die Beschreibung der Gemeinsamkeit von Mann und Frau im höfischen Fest (oder an der höfischen Tafel) zum festen Bestandteil aller Romananfänge Chrétiens. In Erec et Enide wird sie dem Publikum gleich nach der Nennung des Königs auf dem höfischen Osterfest in Quaradigan als boens chevalier [V.31] und riches dames et puceles, filles de rois, gentes et belles [V.33–34] vorgestellt. In der Charrette befinden sich am Hof in Carlion an la sale barons et si fu la reïne [V.36–37] sowie mainte bel dame cortoise [V.39]. Die Nennung erfolgt wiederum im Anschluss an die des Artus, des festlichen Anlasses und der Lokalität, noch vor der Nennung aller anderen Figuren. Selbst im Chevalier au Lion, wo ja eine Störung des höfischen Gesellschaftsentwurfs durch die Abwesenheit des Königspaars thematisiert ist, findet man trotzdem li chevalier… [V.9] la ou dames les apelerent ou damoiseles ou pucheles [V.10–11], wobei die Nennung erneut im Anschluss an die des Königs, des festlichen Anlasses und der Lokalität Cardoeil erfolgt. Die Darstellung des festlichen Beieinanders der Geschlechter hat demnach als programmatisches Signal einen festen Platz im arthurischen Romananfang Chrétiens. Chrétiens literarischer Gesellschaftsentwurf entspricht dem Trend in der Adelsgesellschaft um 1200, denn »man kann annehmen, daß die Damen im gesellschaftlichen Leben des Hofes eine wichtige Rolle gespielt haben, besonders bei festlichen Anlässen.«237 Auch die Einschätzung von Petra Giloy-Hirtz, dass die Frauenfiguren in den mittelhochdeutschen Versepen keinesfalls nur Nebenfiguren oder Projektionen männlicher Wunschvorstellungen gewesen seien, lässt sich auf Chrétiens Entwurf der höfischen Geschlechterbeziehung anwenden: »Die Kultur der höfischen Gesellschaft ist geschlechtlich differenziert und nicht Wertmonopol eines Geschlechts. Die Partizipation der Frauen an der Sinnstiftung der Welt dokumentiert sich darüber hinaus [...] in der Teilhabe am Fest.«238 Die farbige Illumination der in der Leidener Univer-
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Neil Thomas: ›Sense and structure in the Gawan adventures of Wolfram’s Parzival‹, in: Modern Language Review 76 (1981), S. 848–856, S. 851. Joachim Bumke: Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter. München (1. 1990) 3. 1996, S. 34. Petra Gilroy-Hirtz: ›Frauen unter sich. Weibliche Beziehungsmuster im höfischen Roman‹, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Brall, Haupt, Küsters. Studia Humaniora, 25. Köln 1994, S. 61–87, S. 80.
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sitätsbibliothek bewahrten, Thüringer Wigaloishandschrift [Sigle B] aus dem 14. Jahrhundert zeigt die Tafelrunde als das Nebeneinander der Königin (links oben) an der Seite des ungefähr auf 12 Uhr plazierten Königs Artus, sowie weitere Damen und Herren, die vermischt an der Tafel Platz genommen haben (vgl. die Abbildung S. 208). Im Gegensatz zu dieser festlichen Utopie aber war Gewalt gegen Frauen selbst an den elitären Höfen großer Fürsten wohl keine Seltenheit. Norbert Elias erinnert daran, dass zahlreiche Zeugnisse belegten, wie ein Ritter seine »Frau mit der Faust auf die Nase« schlägt, »dass Blut kommt.«239 Elias folgert, »dass auch noch in der Epoche Philipp Augusts die höfische, die courtoisie, den Frauen günstigere Haltung nur ausnahmsweise in den feudalen Kreisen zu finden war. In der großen Mehrheit der Herrschafts- und Burgbezirke herrschte noch immer die alte, wenig respektvolle und brutale Tendenz vor [...].«240 Gleichwohl konstatiert Elias, dass sich an den großen Höfen unter den Augen der Zentralperson des Territorialherren eine Notwendigkeit zum Gewaltverzicht ergab, was letztlich auch der Stellung von Frauen zuträglich war. »Hier [...] stellte sich ein gemeinsamer Lebensraum, eine gemeinsame Geselligkeit von Männern und Frauen her.«241 Vor dem Hintergrund dieses Spannungsverhältnisses zwischen arthurischem Wunschleben und feudalweltlichem Alltag erhalten die Verhältnisse während der ersten Hofszene im Conte du Graal ihre Brisanz. Bei Percevals Erscheinen am Hof ist die Feststimmung bereits erheblich beeinträchtigt. Schon der carbonier [V.835], der Perceval den Weg zum Hof zeigte, hatte ihn darauf aufmerksam gemacht: »Le roi Artu, biax dols amis, lié et dolant troveras a che chastel se tu i vas« [V.844–46] (›Den König Artus wirst du in dieser Burg froh und betrübt vorfinden, wenn du dort hingehst‹). Erbittert (iriez) ist der König, wie bereits erwähnt wurde, weil sich seine Gefährten auf ihre eigenen Burgen zurückgezogen hatten, »la ou le meillor sejor virent« [V.856] (›dorthin, wo sie sich den angenehmsten Aufenthalt versprachen‹). Doch nicht nur die Zahl der Männer dieser höfischen Gesellschaft ist ausgedünnt, wobei die verbliebenen durch den vorausgegangenen Krieg gegen den König der Inseln verwundet sind. Auch Frauen werden in der Runde verwundeter Ritter nicht erwähnt. Sogar die Königin fehlt bei Tisch, denn ihre Besudelung mit Wein durch den Roten hatte dazu geführt que la roïne en est entree, de corroz et d’ire enflammee, en sa chambre, ou ele s’ocist [V.963–65] (›dass sich die Königin zornig und wutentbrannt in ihre Kemenate zurückgezogen hat, wo sie sich zu Tode quält‹). Ursprünglich hatte sie jedoch dem König gegenüber am Tisch
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Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. II. Wandlung der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation. Frankfurt (1. 1976) 1994, S. 105. S. Anm. 239, S. 106. S. Anm. 239, S. 107.
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gesessen, »por conforter et por veoir les chevaliers qui sont blechié« [V.954f.] (›um die Ritter zu sehen und zu trösten, die verwundet sind‹). Insbesondere das gemeinschaftliche Tafeln, bei welchem Frauen und Männern nebeneinander platziert sind, ist ein wichtiger Indikator der höfischen Freude. Chrétien hebt es später bei der Überstellung Clamadeus an den Artushof im festlichen Rahmen des Pfingstfestes hervor: Ce fu a une Pentecoste, que la roïne sist dejoste le roi Artu al chief del dois [V.2785–87] (›Es war zu einem Pfingstfest, da die Königin neben dem König Artus am Kopf der Tafel saß‹). Auch in Erec et Enide weist Chrétien wiederholt auf diese Gemeinschaft des Königspaares (und anderer Ritter und Damen) bei Tisch hin. So etwa beim ersten Auftritt Enides am Artushof, wo der König par la main l’a dolcement prise et delez lui a destre assise; de la senestre part s’asist la reïne ... [V.1717–20] (›sie sanft bei der Hand genommen und neben sich zu seiner Rechten platziert hat; auf der linken Seite setzt sich die Königin nieder‹) oder erneut bei Erecs Hochzeitsfeier, wo das Hochzeitspaar den König begrüßt et la reïne ansemant qui delez lui seoit an coste [V.6538f.] (›und ebenso die Königin, die neben ihm an seiner Seite saß‹). Der Hof bietet also bei Ankunft Percevals ein trauriges Bild. Nicht nur sind viele der großen Herrn fortgegangen und die verbliebenen verwundet, sondern auch die Königin hat sich voll Gram zurückgezogen und bei Tisch werden keine Damen erwähnt. Auch wenn sich vielleicht einige im Saal befinden, wie etwa das prophetisch lachende Fräulein, so fehlt in dieser Szene doch das programmatische Signal, das aus den anderen Darstellungen erster Hofszenen so eindeutig hervorscheint. Man kann dies als erstes Anzeichen dafür werten, dass das Geschlechterverhältnis im Conte du Graal in Unordnung geraten ist. In der weiteren Entwicklung der Hofszene verdichten sich die Hinweise auf eine solche Störung. Nach dem Affront des Roten gegen Guenièvre scheint bemerkenswerter Weise niemand am Hof intervenieren zu wollen. Die Beleidigung der Königin wurde hingenommen, ohne den Herausforderer zur Rechenschaft zu ziehen, denn »aucun ne prête réellement attention à elle.«242 Jean Subrenat macht auf das völlige Desinteresse Percevals aufmerksam, das in auffälligem Kontrast zur Reaktion Erecs auf die Beleidigung Guenièvres durch Yder und seinen Zwerg in Erec et Enide stehe. Während nämlich Erec »va plus tard lui [der Königin] valoir la fierté de recevoir Yder prisonnier sur parole«, gelte für Perceval » [...] de la honte la reïne ne li chaut il [V.968–69]« (›die Schmach der Königin ließ ihn völlig kalt‹).243 Das Desinteresse des Hofes an der Demütigung der Dame ist kein isolierter Zwischenfall, sondern symptomatisch. Bezeichnenderweise ist es Keu, der die Defizienz der Hofgesellschaft ans Licht bringt, indem er vor aller Augen 242 243
Subrenat: Chrétien et Guenièvre, 1984, S. 52. S. Anm. 242, S. 53.
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das lachende Fräulein schlägt. Erneut reagiert keiner der Hofleute auf diese Gewalt gegen eine adlige Frau. Nur Perceval, der ja (wenigstens noch) nicht zum Artushof gehört, und dem die Belange des Hofes laut wiederholter Einlassung des Erzählers vollständig gleichgültig sind [vgl. auch V.859f. und V.898f.], beschließt die Gewalt gegen das lachende Mädchen zu vergelten. Das entspringt einstweilen weder einem altruistischen Impuls zugunsten der Gemeinschaft noch einem tiefern Verständnis vom höfischen Umgang mit Frauen. Perceval handelt hier wie im Kampf gegen den Roten, wo er nach Auffassung von Maddox »involuntarily – indeed quite unwittingly« ein ernstes Problem des Hofes löst,244 ausschließlich in seinem eigenen Interesse. »S’il ne demord jamais de ce projet,« urteilt Pérennec über Percevals Schwur, Keu zu bestrafen, »c’est qu’il lui semble que, partiellement et indirectement, sa propre responsabilité est engagée dans cette affaire (cf. notament V. 4053).«245 Der von Pérennec angesprochene Vers bezieht sich auf V.4071 in der hier verwendeten Edition von W. Roach, wo Perceval mitteilen lässt, dass er die Ohrfeige rächen werde, qui por lui donee vos fu (›die Euch seinetwegen gegeben wurde‹). Antoinette Saly ist dagegen der Meinung, dass »l’éxploit juvénile avait vengé la reine outragée«,246 dass also Perceval die Beleidigung der Königin räche, indem er den Roten besiege und den Becher an den Hof zurücksende. Dagegen sprechen jedoch mehrere Argumente. Wie die vorausgegangenen Erörterungen belegen, agiert Perceval nicht im Interesse des Hofes. Mehrfach wird im Text des Romans das völlige Desinteresse der Percevalfigur an den Sorgen des Königs und der Schmach der Königin betont. Aus höfischer Perspektive wird man in seinem feigen Mord sicher nicht wie Saly den »premier triomphe de Perceval« sehen können.247 Von einer Intention, die die Ehre der Dame im höfischen Miteinander wiederherstellen und ihre Schmach tilgen wollte, ist bei der Mordtat keine Rede.
Schlussfolgernd ist in der Initialkrise des Conte du Graal die freudenvolle Gemeinschaft von Männern und Frauen zerbrochen. Gewalt gegen Frauen wird am Artushof nicht nur hingenommen, sondern zentrale Hofakteure (Keu) wenden bedenkenlos in aller Öffentlichkeit Gewalt an, ohne dass selbst der König sich bemüßigt fühlte, dagegen einzuschreiten. Vor allem in Bezug auf schutzoder hilfsbedürftigen Frauen, wozu in der Initialkrise die Königin und das lachende Fräulein zu rechnen sind, fordert Chrétien durch die Stimmen der Lehrmeister Percevals wiederholt ein verantwortlicheres Handeln der Männer ein. Es ist zunächst die Mutter, die Perceval aufträgt, den pucele[s] desconseillie[s] [V.535] (›notleidenden Mädchen‹) seine Hilfe nicht zu verweigern. Gornemant formuliert allgemeiner, dass Perceval Männern und Frauen, ou soit orfenins ou
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Maddox: Arthurian Romances, 1991, S. 84. Pérennec: Roman Arthurien, 1984. Bd. II, S. 107. Saly: Biche manquée, 1999, S. 58. S. Anm. 246, S. 60.
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soit dame, desconseillez [V.1658f.] (›seien es Waisen oder Damen, die Not leiden‹) nach seinen Fähigkeiten helfen müsse. Zuletzt bestätigt die Autorität des Eremiten diese Lehre: »Se pucele aïde te quiert, Aiue li, que miex t’en iert, Ou veve dame ou orfenine.«
[V.6465–67]
[Wenn dich ein Mädchen oder eine Witwe oder eine Waise um Hilfe bittet, gewähre sie, denn du wirst dich dadurch bessern.]
Die wiederholte Betonung der Schutzverpflichtung gegenüber Schwächeren, namentlich den puceles desconseillies zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Gralroman. Sie hängt eng mit dem Begriff der ›Caritas‹ zusammen, die später noch im Zusammenhang mit Gauvain beschäftigen soll. Perceval muss sich auf seinem Weg dreimal der Thematik des Beistandes für Frauen stellen. Zunächst verspricht er dem lachenden Fräulein Genugtuung, später verteidigt er Blancheflor gegen ihre Belagerer und schließlich macht er dem Orgueilleux de la Lande im Zweikampf klar, dass seine Freundin als unfreiwilliges Opfer der Zudringlichkeiten Percevals keine Strafe, sondern eine ehrenvolle Behandlung als Dame verdient. Doch Percevals Rektifikationsversuche beruhen in allen drei Fällen auf Gewaltanwendung. Wenn es zunächst den Anschein hat, als könne der Held mit seiner körperlichen Überlegenheit seine eigenen Fehler sowie die Fehler anderer im Umgang mit Frauen ausgleichen, so lässt der Verlauf des Romans keinen Zweifel daran, dass Perceval mit dem Mittel der Gewalt nur einen oberflächlichen Erfolg erreicht. In der für den Helden zentralen aventure der Gralsburg zeigt ja die berühmte ›unterlassene Frage‹ seinen Mangel an Caritas. Baumgartner befindet, dass die Hilfe für »les femmes et les jeunes filles ›desconseillees‹ une forme de charité« sei, »dont l’urgence se fait impérieusement sentir dans Le Conte du Graal.« 248 An dieser Tugend, jedoch nicht an dem Mittel der Gewaltanwendung muss sich das Verhalten des Ritters und sein Umgang mit dem Schwächeren, mit den Hilfsbedürftigen und mit den puceles desconseillies orientieren. Percevals unterlassene Frage – das Fehlen der Caritas – hat verheerende Konsequenzen, wie die hässliche Botin Perceval vor dem versammelten Hof vorwirft: »Dames en perdront lor maris Terres en seront escillies Et puceles desconseillies Qui orfenines remandront...«
[V.4678–81]
[Damen werden deshalb ihren Gatten verlieren, Länder verwüstet werden, Mädchen in Not geraten und als Waisen zurückbleiben.] 248
Baumgartner: Graal, 1999, S. 61.
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Die Vorwürfe machen klar, dass es Perceval weder gelungen ist, die Störung zu beheben, noch selber ein adäquates, inneres Verhältnis zu den desconseillies zu entwickeln. Mit erneuter Gewaltanwendung ist ein solches offensichtlich nicht zu erreichen. Verschiedene Forschungsmeinungen haben aus unterschiedlicher Perspektive in der Gewalt gegen Frauen eines der zentralen Themen des Conte du Graal gesehen. Im Vergleich etwa zum Chevalier au Lion oder der Charrette spricht Baumgartner von einer »position plus extrême encore du Conte du Graal.«249 Diese bestehe darin »de mettre à l’épreuve la loi arthurienne, en multipliant les actes et les situations de violonce dont une femme est l’enjeu et plus souvent encore la victime.«250 Antoinette Saly ging in ihrer Einschätzung dieser Thematik sogar noch einen Schritt weiter und erkannte »une idée fondamental de l’auteur: la parfaite égalité entre hommes et femmes devant les passions, les souffrances et les fautes qui les causent, le même besoin de salut.«251 Das gestörte Geschlechterverhältnis im Gralroman mache Männer und Frauen gleichermaßen zu Tätern wie zu Opfern der Gewalt. René Pérennec sah dagegen in der Abwesenheit von Männern die Ursache der Störung des gesellschaftlichen Gleichgewichts im Conte du Graal. Die Situation in der Gralsburg ebenso wie die im Roche Canguin (also den jeweils zentralen Stationen der Perceval- bzw. der Gauvain-aventuren) stimme darin überein, dass die Gruppe gesunder Männer, die die dort ansässige Gesellschaft revitalisieren und verteidigen könnte, von »extinction« bedroht werde oder sich nicht erneuern könne.252 Pérennec formuliert daher die These, das ›Projekt des Dichters‹ beruhe darauf, »que l’apparition de l’homme nouveau qui rendra santé et vigeur au monde suppose le rapprochement des rôles masculin et féminin.«253 Diese drei Forschungsmeinungen stehen meines Erachtens nur scheinbar in einem Gegensatz. Es ist nämlich letztendlich nicht entscheidend (und im Geflecht der zahlreichen Bezüge des Romans wahrscheinlich auch nicht zu hierarchisieren), ob zunächst die Männer durch mangelnde Caritas gegenüber hilfsbedürftigen Frauen versagten, oder zunächst die Frauen aus Not und Enttäuschung über die gewalttätige Männerwelt sich in weltabgewandten Refugien isolierten. Alle drei zitierten Forschungsansätze treffen sich trotzdem in der Auffassung Pérennecs, dass ein Annäherung zwischen den männlichen und weiblichen Rollen stattfinden müsse.
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S. Anm. 248. S. Anm. 248. Antoinette Saly: ›Masculin – Feminin dans Le Conte du Graal‹, in: Arthurian Romance and Gender. Hrsg. von F. Wolfzettel. Internationale Forschung zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft, 10 (Ausgewählte Akten des XVII. Internationalen Artuskongresses). Amsterdam 1995, S. 160–164, S. 164. Pérennec: Roman Arthurien, 1984. Bd. II, vgl. S. 118. S. Anm. 252, S. 121.
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Soweit ist festzuhalten, dass der Gauvainfigur aus der Initialkrise neben der indirekten Mithaftung für den Mord am Roten auch eine Verstrickung in die Problematik zwischen den Geschlechtern erwächst, welche sich als die zu behebende interne Defizienz der Hofgesellschaft auf seine künftigen Handlungen und Rektifikationsleistungen auswirken soll. II.5.2.2 Die Gauvainqueste im Conte du Graal Zunächst ein Blick auf zwei wichtige, bis heute fortwirkenden Thesen, deren Argumentation der hier vertretenen Auffassung von der Funktion Gauvains widersprächen. Die erste dieser beiden Thesen sieht eine religiös-ideologische Inferiorität der Figur als vom Autor intendiertes Programm in seinem letzten Artusroman und bestreitet damit die rektifizierenden Leistungen, die als typisches Handlungsmuster der Figur nachgewiesen werden sollen. Die zweite betrachtet Gauvains aventuren lediglich als typologische Präfiguration der erst noch vom Protagonisten zu erbringenden Rektifikationsleistungen, die dann außerhalb des überlieferten Textes gelegen hätten. Diese zweite These der Forschung bestreitet damit insgesamt, dass Gauvain eine eigenständige Funktion im Gralroman zukomme. II.5.2.2.1 Zwei gängige Thesen: religiös-ideologische Inferiorität der Figur und strukturelle Unterordnung der Gauvainhandlung Die These von der Funktion Gauvains als Negativschablone »für das Menschenbild, das in Perceval sichtbar wird, für ein Menschenbild, das in seiner religiösen Begründung das höfisch-ritterliche Weltbild weit übersteigt«,254 ist in den verschiedensten Forschungsbeiträgen aufgegriffen worden. Auch Busby hebt darauf ab.255 Nach seiner Auffassung besteht Gauvains Queste in »a perpetual state of aimless wandering«,256 einer Kreisbewegung, die ständig zu ihrem Ausgangspunkt zurückführt, ohne je Fortschritt zu ermöglichen. Den Gegensatz bilde Percevals lineare Aufstiegsbewegung, denn der Protagonist lerne auf seinem Weg dazu, mache Fortschritte und erreiche seine gesteckten Ziele.257 Gauvain aber »n’apprend jamais rien. Il est exactement le même à la fin qu’au
254
255 256 257
Alfred Schopf: ›Die Gestalt Gaweins bei Chrétien, Wolfram von Eschenbach und in Sir Gawain and the Green Knight‹, in: Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn, 25.–29. September 1982. Hrsg. von K.H. Göller. Beiträge zur Englischen und Amerikanischen Literatur. Bd. 3. Paderborn u. a. 1984, S. 85–104, S. 96. Busby: Gauvain, 1980, vgl. S. 85. S. Anm. 255, S. 125, vgl. auch S. 141. Keith Busby: ›Reculer pour mieux avancer: L’itinéraire de Gauvain dans le Conte du Graal‹, in: Chrétien de Troyes et le Graal. Collection Lettres Médiévales, Nr. 1 (Colloque arthurien belge de Bruges). Hrsg. von J.d. Caluwé. Paris 1984, S. 17–26, S. 19.
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début de ses aventures.«258 Dass Gauvain sich auf seiner Queste nicht ›zu bessern lernt‹, ist kaum verwunderlich. Die Figur ist statisch definiert. Stattdessen ist zu bezweifeln, ob die Perceval-Stationen tatsächlich so eindeutig aufwärts gerichtet sind, wie Busby unterstellt. Soweit es sich überblicken lässt, hinterlässt Perceval auf seinen Stationen eine zurückgelassene Mutter, die vor Kummer starb, eine zurückgelassene Geliebte, die viele Jahre vergeblich auf ihren Mann wartet, eine verbitterte Gralsgesellschaft, die den Helden schmachvoll entließ und einen bestürzten Artushof, von welchem der Held unter Schimpf und Schande abzog. Während für Kellermann »der höfische Roman [...], auch wenn er religiös getönt war, eine weltliche Gattung« blieb,259 was auch Frappier im Grundsatz bestätigte,260 bestand für letzteren der Kontrast zwischen Perceval- und Gauvainhandlung in »d’un coté, l’unique attirance du graal; de l’autre, la séduction multipliée des exploites profanes.«261 Dieser Blickwinkel hat in späteren Beiträgen fortgewirkt. So konstatiert Busby gestützt auf die Prophezeiung des lachenden Fräuleins [V.1039–44] und des Narren [V.1059–62], dass es Perceval bestimmt sei, Gauvain zu übertreffen.262 Denn »Gauvain, the best of Arthur’s knights, aims for the highest worldly honour« während die zentrale Aussage in der mittleren Artusszene Et Perchevax redist tout el (V.4727) [...] sets Perceval apart from the others.«263 Das berühmte redist tout el (›widersagte all dem‹) hatte Jean Frappier als Hinweis darauf gewertet, dass an dieser Stelle ein »tournant capital dans la construction du roman« erreicht sei, nämlich in dem Sinn, dass der Protagonist von nun an einen Sonderweg einschlagen wird, »qui par le remords et la pénitence pourrait bien le [den Helden] conduire plus loin et plus haut que tout les autres.«264 Norris J. Lacy vereindeutigt die zugrundeliegende These: »both Perceval’s and Gauvain’s story suggest strongly that chivalry can no longer be improved: it must be undone. The hero must put behind him all that he has until now cultivated, and he must follow a totally different way. This of course Gauvain will never do.«265 Am Text nachprüfen lässt sich aber lediglich, dass Gauvain auf dem Roche de Canguin eine Befreiungstat gelingt, während Perceval die Gralsburg erfolglos und unter Schande verlässt. Ronald 258 259 260 261
262 263 264 265
S. Anm. 257, S. 22. Kellermann: Aufbaustil, 1936 (2. 1967), S. 163. Frappier: Mythe du Graal, 1979, S. 255. Jean Frappier: ›Sur la composition du Conte du Graal‹, in: Jean Frappier: Autour du Graal. Publications Romanes et Francaises. Genève 1977, S. 155–210, S. 176 [erstmals erschienen in: Le Moyen Age 64 (1958), S. 67–102]. Busby: Perceval, 1993, S. 45. S. Anm. 262, S. 48. Jean Frappier: Chrétien de Troyes et Le Mythe du Graal. Étude sur Perceval ou Le Conte du Graal. Paris 1972 (1. 1953), S. 65. Norris J. Lacy: ›Gauvain and the crisis of chivalry in the Conte del Graal‹, in:The Sower and his Seed. Essays on Chrétien de Troyes. Hrsg. von R.T. Pickens. French Forum Monographs, 44. Lexington, Kentucky 1983, S. 155–164, S. 162.
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M. Spensley hat darauf aufmerksam gemacht, dass insbesondere der spektakuläre Erfolg Gauvains und die für ihn daraus resultierende »elevation to the honour of the castle« Gottes Wille sei.266 Der Erzähler sagt es: Joie a, c’onques mais n’ot greignor, De l’onor que Diex li a faite.
[V.7948 f.]
[Er empfindet eine Freude, wie er sie niemals größer empfunden hatte, über diese Ehre, die Gott ihm beschert hatte.]
und in den Worten der Königin Ygerne [V.8068] bestätigt es sich. Warum sollte man also das Naheliegende, ein glückliches Ende des Gralsromans am arthurischen Hof, zugunsten des Unwahrscheinlichen bestreiten, nämlich des vermeintlichen Untergangs der höfischen Utopie versinnbildlicht in der Zerstörung der arthurischen Hofgesellschaft? Selbst Indizien wie die Prophezeiung, mit welcher der vavassor in Escavalon ankündigt, die blutende Lanze werde dereinst das Reich Logres zerstören [V.6168–71], genügt nicht, um daraus die Ablösung der Artuswelt im Schlussgeschehen des Gralromans ableiten zu können. Die einschlägige Stelle im Text zur künftigen Bedeutung der Lanze lautet: »Et s’est escrit qu’ il ert une hore que toz li roiames de Logres, qui jadis fu la terre as ogres, sera destruit par cele lance« [V.6168–71] (›und es steht geschrieben, dass eine Stunde kommen wird, wo das Königreich Logres, das einst das Land der Riesen war, von dieser Lanze zerstört werden wird‹). Busby (gestützt auf Frappier) entnimmt dem Zitat,267 dass es sich um das künftige Reich von König Artus handelt, welches zerstört werde. Das Umgekehrte ist auch denkbar. Die Lanze könnte bei der Errichtung des Artusreiches durch ihren Beitrag zum Untergang des Landes der Vorzeitriesen einen entscheidenden Beitrag leisten. Letzteres will Wolfgang Mohr nicht ausschließen, »weil man nicht weiß, ob Chrétien Logres als feindliches, noch jetzt von (heidnischen) Unholden beherrschtes Land ansieht, das die Lanze befreien wird, oder als bereits zivilisierten Teil des Artusreiches, das durch die Lanze in Gefahr ist.«268
Bei der Erwartung des Endes der Artuswelt stützt sich die Forschung auf das Qualitätsmerkmal vermeintlicher, religiöser Auserwähltheit Percevals gegenüber Gauvains vermeintlicher Diesseitigkeit. Dieser ideologische Unterschied verrate die Intentionen des Erzählers. Busby führt aus: »the adventures of Gauvain had been largely devoid of any religious content, but with the return to the narrative to Perceval, we are confronted again with religious concerns related to those
266 267 268
Ronald M. Spensley: ›Gauvain’s castle of marvels adventure in the Conte del Graal‹, in: Medium Aevum XLII (1973), S. 32–37, S. 35. Busby: Gauvain, 1980, vgl. S. 106f.. Mohr: Politische Hintergründe in Chrétiens Perceval, 1979, S. 184.
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that had proven so important in earlier parts of the romance.«269 Es ist dagegen unbestritten, dass sich Perceval nach seinem zweiten Aufbruch vom Artushof durch einen »five-year failure to go to church and pray« nicht als religiös qualifiziert.270 So kann er sogar am Karfreitag in völliger Ignoranz bewaffnet einherreiten. Eine religiöse Erziehung erhält er erst bei seinem Besuch des Eremiten, der ihn belehrt: Se tu iez en liu ou il ait Mostier, chapele ne perroche, Va i quant sonera la closche Ou ainçois, se tu iez levez; Ja de che ne seras grevez, Ainz en iert molt t’ame avanchie. Et se la messe est comenchie, Tant i fera il meillor estre, Tant i demeure que li prestre Avra tot dit et tot chanté. [V.6446–6455] [Wenn du an einem Ort bist, wo es ein Kloster, eine Kapelle oder Pfarrkirche gibt, so gehe dorthin sobald die Glocke läutet oder schon eher, wenn du aufgestanden bist. Das soll dein Schaden nicht sein, sondern davon wird deine Seele erhöht. Und wenn die Messe angefangen hat, umso länger du dich dort befindest, umso besser ist es. Bleibe so lange dort bis der Priester alles gesagt und alles zu Ende gesungen haben wird.]
Das, was Perceval in dieser Szene erst noch lernen muss, nämlich die Kirche zu besuchen und in der Messe zu verweilen, bis der Priester sie ganz zu Ende gebetet und gesungen hat, ist für Gauvain dagegen eine Selbstverständlichkeit. Als nämlich die Pucele aux Manches Petites ihren Turnierchampion Gauvain eines Morgens in seiner Herberge aufsuchen wollte, war dieser mit seinen Begleitern längst aufgestanden: Et furent al mostier alé Oïr messe c’on lor chanta. Et la damoisele tant a Chiez le vavasor demoré Qu’ il orent longuement oré Et oï tot quanque oïr durent.
[V.5482–87]
[Und sie waren zum Münster gegangen, um die Messe singen zu hören. Das Fräulein hat sich daher so lange bei dem Vasallen aufgehalten, bis jene lange gebetet und alles, so lange die Messe auch dauerte, angehört hatten.]
Das bedeutet, dass zum selben Zeitpunkt, wo Perceval noch in Gottesferne durch die Welt irrt, Gauvain längst in vorbildlicher Weise jene religiösen 269 270
Busby: Perceval, 1993, S. 65. S. Anm. 269.
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Lebensregeln praktiziert, die Perceval erst noch zu erlernen hat. Vial bescheinigt Gauvain, dass er »n’est pas endurci dans son péché, et qu’il ne néglige pas d’assister aux offices et de remplir ses devoirs de Chrétien.«271 Der Erzähler hebt den Umstand hervor, indem er das Publikum zusammen mit der Pucele aux Manches Petites ›antichambrieren‹ lässt, bis der Held von seiner religiösen Andacht heimgekehrt ist. Felicitas Olef-Krafft weist in ihren Anmerkungen zu dieser Stelle darauf hin, dass »das Insistieren auf der Teilnahme an der gesamten Meßfeier bis zu deren Ende« ein »Niederschlag der Klagen zeitgenössischer Theologen« sei, denn unter der Ritterschaft »hatte sich die Unsitte verbreitet, die Messe bereits nach der Konsekration und der Elevation von Hostie und Kelch zu verlassen.«272 Demnach dürfte sich in der positiven Darstellung der Gauvainfigur als Ritter, der seine religiösen Pflichten sehr ernst nimmt, der didaktische Charakter der Ermahnungen des Eremiten mit der Beliebtheit der Figur Gauvains zu dem Zweck verbinden, einen möglichst großen Vorbildeffekt beim Publikum zu erzielen. Das ließe sich mit Distanz des Erzählers zu einer einseitig negativen Gauvainfigur, einem Don Juan oder profanen Schürzenjäger mit einer »incorrigibly frivolous nature« kaum vereinbaren.273 Es gibt noch eine weitere Textstelle, deren Aussage eine vom Erzähler intendierte, moralische Abwertung der Gauvainfigur sehr unwahrscheinlich macht. Sie korrespondiert mit dem Prolog zum Conte du Graal, dem Busby zwei Funktionen zugeschreibt: »it is a statement of poetic theory and an endeavour, and an introduction of themes.«274 Eines dieser Themen von Prolog und Roman sei die Caritas [V.43], die Chrétien u. a. für seinen Gönners Philipps von Flandern reklamierte somit und dem Werk programmatisch voranstellte. Folglich hatte sich Busby über eine Sequenz am Ende des Romantorsos gewundert,275 in der die Gelähmten und Brandigen (li contrait et li ardent [V.9193]) vom beklagenswerten Zustand des Königs und seines Hofes nach dem Verlust Gauvains sprechen. Die Worte dieser Armen beziehen sich auf den vermeintlich toten Gauvain und seine durch Gottesfurcht inspirierte Mitmenschlichkeit. Vos deüssier estre en effroi Et esmaié et esperdu, Quant nous celui avons perdu Qui toz por Dieu nos sostenoit Et dont toz li biens nos venoit Par amour et par charité. [V.9206–11]
271 272 273 274 275
Guy Vial: Le conte du Graal. Sens et unité. La première continuation. Textes et contenu. Publications romanes et françaises, CLXXVII. Genève 1987, S. 22f.. Olef-Krafft: Roman de Perceval, 1991, vgl. die Anmerkung zu V.5487 (S. 609). Lacy: Crisis of chivalry, 1983, S. 161. Busby: Perceval, 1993, S. 15. Busby.: Gauvain, 1980, vgl. Kap III. Anm. 98 (S. 151).
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[Ihr solltet entsetzt, erschreckt und bestürzt sein, denn wir haben denjenigen verloren, der uns alle um des Herrn willen beschirmte, und von dem uns alles Gute zugekommen ist durch seine Nächstenliebe und seine Güte.]
Hier wird Caritas ausdrücklich als eine Tugend Gauvains herausgestellt. Döffinger-Lange entnimmt der Stelle, dass »die Armen auf den Straßen [...], im Kontext wohl [...] eine Reminiszenz an die Lahmen und Aussätzigen in den Evangelien – auf den verzichten müssen (gemeint ist Gauvain), der sie um Christi willen (por Dieu) gekleidet und stets Barmherzigkeit und christliche Nächstenliebe an ihnen geübt hatte [...]. Gauvain wird hier und in der folgenden auktorialen Zusammenfassung [...] also ausdrücklich als christlicher Ritter dargestellt [...].«276 Guy Vial erkannte sogar eine Vergleichbarkeit der Rollen Jesu und Gauvains: »Par la parole ou par l’exemple, il dispense, comme Jesu, un enseignement d’amour et de pardon.«277 Am Rande sei noch auf ein letztes Indiz hingewiesen, das die religiöse Motivation Gauvains unterstreicht, nämlich die Bemühungen der Figur, dem tödlich verwundeten Ritter Greoreas die Beichte und Notkommunion zu ermöglichen [vgl. V.6975]. Die von Gauvain geleistete Erste Hilfe belegt erneut seine Caritas und hebt ihn positiv von Perceval ab, der in einer vergleichbaren Szene seiner cousine germaine nicht einmal behilflich war, ihren ermordeten amis zu bestatten. Das Thema der Notkommunion und der Rolle Gauvains als laikaler Beistand soll nicht weiter verfolgt werden.Der Hinweis genügt, dass das Motiv in der mittelniederländischen Literatur wieder aufgegriffen wird. Es spricht für sich, dass Gauvains Tugend der Caritas als Motiv von späteren Autoren rezipiert werden konnte. Eine Rolle der Gauvainfigur als negative Kontrastfolie zur Profilierung der christlich-ethischen Überlegenheit des Helden lässt sich mit all diesen Signalen nicht vereinbaren. Die Gauvainfigur wird in Bezug auf den Tugendwert der Caritas als vorbildlich qualifiziert und in demonstrativer Weise bei der Ausübungen religiöser Pflichten vorgeführt. Die unterstellte Ablösung der ArtusUtopie durch ein neues Ideal des christlichen Rittertums findet im Text nicht statt. Die Hofproblematik, die sich aus der Initialkrise ergibt (und auf die die Forschung bei der Kritik an den Zuständen am Artushof abhebt), wird nicht von ›Höherem‹ übertroffen, sondern bleibt bestehen. Ihre Auswirkung auf das Handeln des Hofakteurs ist daher noch zu untersuchen. Die zweite These der Forschung, die der Funktion Gauvains als desjenigen widerspräche, der anstelle des Protagonisten die Problematik des Hofes rektifiziert, kommt von Antoinette Saly. In ihren Studien hat die Wissenschaftlerin
276 277
Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 331. Vial: Le conte du Graal. Sens et unité, 1987, S. 39.
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signifikante Bezüge zwischen den verschiedenen Episoden der Perceval- und der Gauvainhandlung aufgedeckt,278 die sie zu der These eines »chiasme de la construction« des Romans führten.279 Darunter ist eine spiegelbildliche Inversionsstruktur zu verstehen, die darin bestehe, dass die erste Reihe der aventuren Gauvains bis zur Eremitenszene die erste Reihe der Perceval-aventuren aus der Retrospektive nachvollzögen, während die weiteren aventuren Gauvains nach der Eremiten-Episode (in Salys Augen der zentrale Kehrpunkt des Romans)280 die geplanten, aber im Torso nicht vorhandenen aventuren Percevals bis zum Wiederfinden des Grals präfigurierten. Saly möchte also auf den nicht vorhandenen Schlussteil des Romans schließen und rekurriert dabei auf die These der christlich-ethischen Überlegenheit Percevals. »Le héros du roman passe pour ainsi dire de l’ancienne loi de la chevalerie à la nouvelle qui l’accomplira sans l’abolir.« Das alte Gesetz der Ritterlichkeit meint die »chevalerie courtoise triomphante«, die Gauvain auf seinen ersten Abenteuern verkörpere. Jene spiegelten in Retrospektion Percevals Handeln bis zur mittleren Artusszene. Sie werden von Saly als »coupable et vouée à des exploits de portée limitée et à l’échec spirituel« qualifiziert.281 Gauvains Abenteuer nach der Eremitenszene jedoch beurteilt Saly als erfolgreichen Weg »d’une chevalerie chrétienne pénitente, vouée à une œuvre de réparation et de salut.«282 Diese positive Abenteuerserie deute nun auf die noch kommenden Erfolge Percevals voraus, welche der Text nicht mehr enthält. Diese strukturorientierte Interpretation hat Konsequenzen für Salys Sichtweise der Gauvainhandlung und der Funktion der Figur. Gauvain, »une sort de double de Perceval«,283 wird im Conte du Graal eine eigenständige Handlung (und somit auch eine eigene Funktion) aberkannt, »car les aventures de Gauvain ne se situent pas sur le même plan que celles de Perceval. [...] Le romancier [...] les charge d’une signification relative à autre chose qu’elles-mêmes. Ainsi procède l’exégèse typologique de l’Écriture sainte [...] Vue sous cet éclairage, la partie Gauvain, si singulièrement élaborée, récapitule et préfigure non seulement la destinée de Perceval, mais aussi celle de Gauvain, et à travers eux celle d’une chevalerie appelée à s’accomplir dans le dépassement d’ellemême. C’est une romanesque allegoria in factis mise comme en abyme.« In der Anmerkung wird erläutert : »Le term de ’mise en abyme’ s’applique en fait à une
278
279
280 281 282 283
Vgl. u. a. Antoinette Saly: ›Beaurepaire et Escavalon‹ [erstmals in: Travaux de Linguistique et de Littérature XVI, 1 (1978), S. 469–481], in: Polyphonie du Graal. Hrsg. von D. Huë. Orléans 1998, S. 133–164. Antoinette Saly: ›La récurrence des motifs inverse et la structure du Perceval‹ [erstmals in: Travaux de Linguistique et de Littérature XXI, 2 (1983), S. 21–41], in: Polyphonie du Graal. Hrsg. von D. Huë. Orléans 1998, S. 147–167, S. 158. S. Anm. 279, S. 155. S. Anm. 279, S. 157. S. Anm. 281. S. Anm. 281.
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›œuvre dans l’œuvre‹, à une ›duplication intérieure‹, ce qui n’est pas le cas ici où il s’agit d’une aventure dans l’aventure, mais nous nous trouvons devant un procédé très voisin [...].«284
Die Besprechung der vorausgegangenen drei Artusromane hat ergeben, dass die Gauvainfigur immer in einem antagonistischen Verhältnis zu der des Protagonisten aufgestellt ist und Leistungen vollbringt, die dem Protagonisten aufgrund personaler Motivation verschlossen bleiben. Für den Conte du Graal müsste dies nach Salys These erstmals anders sein. Die anschließende Diskussion der Queste wird ihre Vermutung jedoch nicht bestätigen. Die Forscherin operiert übrigens mit einem Ansatz, der das Endgeschehen des Romans aus den vorgegebenen Strukturen des Torsos extrapolieren möchte. Aber selbst wenn man unterstellen wollte, dass die von ihr eruierten Parallelen zwischen den Percevalaventuren und denen Gauvains, die wirklich frappante Bezüge erkennen lassen, auf eine übergeordnete Struktur hindeuten, so bleibt doch das Problem, dass die Anordnung der Bezüge im Text keineswegs zwingend auf nur diese spezielle, von ihr avisierte Inversionsstruktur als kompositorisches Schema schließen lässt. Die Gauvainhandlung weist auch signifikante Bezüge noch zu ganz anderen Figuren, Situationen und Ereignissen auf, als lediglich jene, die mit Perceval zu tun haben. Ein Beispiel hierfür wurde anlässlich der Besprechung der Initialkrise bereits erwähnt. Gemeint ist die indirekte Mitverantwortung Gauvains für den verräterischen Mord Percevals an dem Roten, die zwar mit der Figur Percevals – hier dem Instrument der Interessen des Königs – in einem Handlungszusammenhang steht (insofern der Protagonist instrumentalisiert wird), die sich aber nicht wirklich auf diesen, sondern tatsächlich auf die Problematik des Hofes bezieht (vgl. II. 5.2.1). Zu Salys Thesen gleich mehr. II.5.2.2.2 Indirekte Mitverantwortung Bei der nun folgenden Besprechung stehen zwei Themenkomplexe im Mittelpunkt, die sich aus der Erörterung der Initialkrise ergeben haben: 1) Die ›Unbeabsichtigte Mitverantwortung‹ als das aus der Initialkrise resultierende ›externe‹ Problem des Mordvorwurfs und Verrats, welches in typischer Weise einen peinlich-grotesken Zwischenfall nach sich zieht. Die vom Autor geplante Auflösung dieser Problematik kann nicht ermittelt werden, da der Schlussteil des Romans fehlt. 2) Die ›Rektifikationsleistung‹ aufgrund der Störung des Geschlechterverhältnisses. Auch hier gilt, dass einige Erzählstränge offen auslaufen.
284
S. Anm. 279, S. 159.
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Zunächst zum ersten der beiden Themen, das sich als Problemstellung der Gauvainfigur aus der Initialkrise herleitet, der Mitverantwortung für die Anwendung von Gewalt (traison) mit unverhältnismäßigen Mitteln, nämlich dem Mord am Roten Ritter. In der späteren, gescheiterten Hindenjagd und dem anschließenden Schachkampf von Tintagel finden die unrühmlichen Ereignisse der Initialkrise ihre bizarre Spiegelung. Die Elemente der Parallelisierung beider Situationen wurden bereits erörtet: – Perceval begeht, von Keu und Artus instrumentalisiert, als ›unpassender Gegner‹ des Roten (d. h. als unhöfischer vallet salvage) auf einem Jagdpferd (chaceor) mit einer Jagdwaffe (Speer) einen Mord ohne die gebotene, vorherige desfïance, wobei ihm Yvonet, Gauvains Knappe behilflich ist. Perceval mordet jedoch nicht, um die Schmach der Königin zu rächen, die der Rote verursachte hatte. Die Krise des Geschlechterverhältnisses wird nicht in Harmonie überführt. – Gauvain unternimmt auf einem Streitross (destrier) mit einer ritterlichen Kampfwaffe (Lanze) eine Jagd, wobei ihm sein Knappe Yvonet behilflich ist. Die Jagd verschlägt ihn an den Hof des Königs von Escavalon, wo ihm ein verräterischer Mord ohne vorherige desfïance vorgeworfen wird, und wo er die Ehre einer geschmähten Frau mit inkongruenten Mitteln (Schachbrett statt Schild) gegen ›unpassende Gegner‹ (Bürger mit Mistgabeln) zu verteidigen versucht. Die Gegenüberstellung zeigt, dass die in der Initialkrise unbewältigt gebliebene Störung auf die Figur Gauvains verschoben wird. Saly geht davon aus, dass in der Konfrontation zwischen Perceval und dem Roten der letztere der Aggressor und Perceval der Angegriffene sei.285 Nach Saly ist der Bezug der beiden Situationen darin begründet, dass Perceval das potentielle Opfer der Aggression des Roten sei, die weiße Hinde das potentielle Opfer der Aggression Gauvains. Sie führt dazu aus: »C’est à dire que si la biche blanche – comme s’est le cas général dans cette littérature – est un émissaire de l’Autre monde, le Chevalier Vermeil en était un aussi.« Hier zeige sich »l’homothétie inverse entre Perceval et Gauvain.«286 Beide Szenen beinhalteten eine Herausforderung, die den jeweiligen Ritter in die Jenseitswelt führen müssten. Die Inversion zwischen dem ›erfolgreichen Aggressionsopfer‹ Perceval und dem bei seiner Jagd ›erfolglosen Aggressor‹ Gauvain liefere als allegoria in factis rückblickend die Erklärung dafür, warum Perceval in der Gralsburg scheitern müsse: »le héros, assez doué pour vaincre les forces du mal sur le plan chevalresque est encore spirituellement trop immature pour s’attaquer à la source du mal: le Roi Pêcheur [...].«287
285 286 287
Saly: Biche manquée, 1999, S. 60. S. Anm. 285. S. Anm. 285.
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Übrigens muss hier erneut das vermeintliche ideologische Defizit als Grundmuster der Erklärung herhalten. Doch Salys Einschätzung wirft Fragen auf. Der Rote war zwar ein Aggressor, als er den Hof und die Königin angriff. In der Szene des Mordes jedoch erweist er sich als der Angegriffene, der von einem unhöfisch agierenden Aggressor Perceval ohne Kampfansage verräterisch ermordet wird. Das heißt vor allem, dass dem Roten gar nicht die Möglichkeit gegeben wurde, sich angemessen zur Wehr zu setzen. Das ritterlich-ethische Verhalten des Roten, den schlecht bewaffneten, ungerüsteten Gegner Perceval mit dem stumpfen Ende der Lanze zu schlagen, kam bereits zur Sprache (vgl. II. 5.21.). Saly argumentiert weiter, Gauvains Scheitern bei der Hindenjagd erhelle rückwirkend, warum Perceval in der Gralsburg scheitern müsse, denn »la lecture prophético-typologique fait ressortir que c’est Perceval, en fait, qui est en jeu.« 288 Für Gauvain sei seine vergebliche Hindenjagd »un signe d’inaptitude du héros prédestiné à remplir encore sa mission.«289 Insofern aber eine Parallele zwischen beiden Situationen in Bezug auf Aggression besteht, so betrifft es offensichtlich die zwischen den zwei Jägern: – Perceval, dem ›Rüstungsjäger‹, der sein Opfer in carbonees [V.1136] zerschneidet, der aber keinerlei Anteilnahme an der Schmach der Königin zeigt, welche der Rote verursacht hatte, und welche es zu tilgen gälte und – Gauvain, dem Hindenjäger, der sein Opfer verfehlt und in dem bizarren Gefecht von Escavalon versucht, mit inkongruenter Bewaffnung seine Dame gegen die Machenschaften extrem misogyner Bürger zu schützen. In beiden Fällen kann das Mittel der ›unverhältnismäßigen‹ Gewaltanwendung nicht zur Lösung des Problems beitragen. Es besteht also keine Inversion zwischen Gauvain und Perceval im Sinne der Täterschaft oder Opferrolle. Beide sind Aggressoren und beide arbeiten mit unpassenden Mitteln. Die weiße Hinde ist folglich nicht als Hinweis auf das vermeintliche Opfer Perceval zu verstehen, um den es während der Hindenjagd Gauvains eigentlich geht. Stattdessen wird in dieser Parallelinszenierung der Verrat Percevals zur Problematik der Gauvainfigur gemacht und – über die Hindenjagd – mit der Thematik des Geschlechterverhältnisses verknüpft. Percevals Aggression gegen den Roten hatte eben nicht, wie Saly vermutet, zu einer Genugtuung für die geschmähte Königin beigetragen. Dieses initiale Scheitern des Hofes wird in Escavalon erneut aufgegriffen. Das soll heißen, in Escavalon wird Gauvain von seiner Aufgabe als Hofakteur eingeholt, die Keu und Artus zuvor Perceval aufgebürdet hatten. Die Situation der Verteidigung einer Frau, die Beleidigungen und Gewaltanwendung ausgesetzt ist, bezieht sich auf Gauvains lange zurückliegen288 289
S. Anm. 285. S. Anm. 285.
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des, eigenes Versäumnis. Damit ist auch das zweite Mitverantwortungsverhältnis in die Gauvainhandlung hineingeholt, die Mitverantwortung für das öffentliche Demütigen und Misshandeln von Frauen. Die Szene in Escavalon wirft rückblickend neues Licht auf die Ereignisse am Artushof. In Escavalon laufen die misogynen vilains [V.5936] (die Bürger mit Dreschflegeln, ausgehängten Türen und Mistgabeln) Sturm gegen den höfischen Gauvain und seine Dame. Sie beginnen den Turm einzureißen, in dem der Ritter und die Dame festsitzen. Das Mittel der ›unverhältnismäßigen‹ Gewalt führt aber nicht zum Ziel. Eine tatsächliche Lösung des Konflikts ermöglicht erst die höfische Schonung, die Gauvain von seinen ethisch handelnden Gastgebern unter Berufung auf das zugesicherte Geleit gewährt wird. Ethisches Handeln gegenüber dem Gegner – darin ist wirklich eine Inversion zu sehen – führt in Escavalon zu einer Schlichtung, während das ethische Handeln des Roten (die Schonung durch Umkehren der Lanze) von Perceval missverstanden und mit Mord quittiert wurde. Der König von Escavalon und seine Hofleute orientieren sich, anders als der Artushof und der von ihm instrumentalisierte Protagonist während der Initialkrise, an ethisch-höfischen Maximen. Die höfische Wertordnung war vorübergehend in Unordnung geraten, als die Bürger gegen den Turm anstürmten. So lässt sich vielleicht der ironische Aspekt des Kampfes mit Schachfiguren und einem Schachbrett als Schild interpretieren, auf den Gauvain und seine Dame in ihrer Notlage zurückgreifen müssen. Das Schachspiel und seine Figuren verkörperte im Mittelalter bekanntlich eine Allegorie der gesellschaftlichen Verhältnisse, also des gottgewollten ordo. So verdeutlichen es z.B. die allegorischen Predigten des Dominikanermönches Jacobus de Cessolis, die weithin rezipiert wurden 290 Richard Eales bestätigt: »The appearance of unwarlike figures: the queen, and sometimes bishops, counts or counsellors as well, make it resemble a picture of the state in miniature rather than an army in the field. This was to be of the greatest importance later on, when chess was used as a bias for theorizing, and sermonizing , about the ranks and degrees of Christian society.«291
Im Mittelpunkt der ›Figurengesellschaft‹ auf dem Brett stehen der König und die Königin nebeneinander. Die vilains, die Unfreien, stehen als Fußvolk vor ihnen, die Ritterschaft und der geistliche Stand stehen ihnen zur Seite. Wenn die Schwester des Königs von Escavalon die Bürger und vilains mit übergroßen Schachfiguren bewirft, schleudert sie ihnen damit auch die sinnfälligen Musterbilder dieses ordo entgegen. So gesehen ist die Bewaffnung Gauvains mit 290
291
Das Schachzabelbuch des Jacobus de Cessolis, o.p. in mittelhochdeutscher Prosa-Übersetzung. Nach den Handschriften hrsg.. von Gerard F. Schmidt. Texte des späten Mittelalters, Heft 13. Berlin 1961, hier S. 112. Richard Eales: Chess. The History of a Game. London 1985, S. 46.
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einem Schachbrett als Schild ein hintersinnig wirkender Notgriff. Denn der Hofakteur will sich mit dem Brett als ›Träger‹ des höfischen ordo ja nicht lediglich schützen, sondern es ist dieser ordo, den er und seine Dame im Turm im eigenen Interesse aufrecht erhalten müssen, während sich jene borjois und vilains bemühen, ihn (den Turm und den ordo) buchstäblich einzureißen. Bezeichnend ist, dass nicht das Mittel der Gewalt, sondern das des höfisch-ethischen Handelns des Königs und seiner Hofleute die Konfrontation entschärfen wird. Seine Gastgeber werden bei ihrer Rückkehr von der Jagd die insubordinatio beenden und ihm unter Berufung auf die ethischen Spielregeln des höfischen ordo Schonung gewähren. Noch weitere Indizien deuten daraufhin, dass die Gauvainfigur auf ihrer Queste von der Problematik eingeholt wird, auf die sie in der Initialkrise zu reagieren versäumte. Bereits in Tintagel musste Gauvain sich nämlich der Aufgabe stellen, eine Frau, die Beleidigungen und Gewaltanwendung ausgesetzt war, zu verteidigen. Dort engagierte er sich für die Pucele aux Manches Petites. Eine signifikante Parallele zwischen der ursprünglichen Problematik des Hofes und der von Tintagel, besteht in der berühmten Ohrfeige, die das prophetisch lachende Mädchen während der Initialkrise am Artushof dafür einstecken musste, dass sie in Perceval denjenigen erkannte, der einst der beste Ritter sein werde.292 Sie spiegelt sich in der Ohrfeige, die die Pucele aux Manches Petites in Tintagel dafür einstecken muss, dass sie Gauvain als den besten aller Ritter identifiziert. Das Muster der Gewalt gegen Frauen, welche von der übrigen Hofgesellschaft stillschweigend in Kauf genommen wird, setzt sich also auch in Tintagel fort. Indem Gauvain sich bereiterklärt, als Kämpfer für die Pucele aux Petites Manches anzutreten, reagiert er dort erstmals auf diese Störung. Ein Vergleichsmoment zwischen Tintagel-Episode und Initialkrise liefert nicht nur die Ohrfeige. Ein weiterer Zwischenfall mit rückdeutendem Charakter ergibt sich, wenn die älteren Töchter Tibauts von Tintagel einen großen, kahlköpfigen Knappen, qui tenoit un tros de lance [V.5115f.] (›der einen Lanzenstumpf bei sich trug‹), auf Gauvain hetzen, der als Zuschauer im Schatten eines Baumes nicht am Turnier teilnimmt. Sie erklären dem Knappen mit dem Lanzenstumpf, dass er diesem vermeintlichen Kaufmann nach Belieben alles wegnehmen dürfe, toz les chevax et l’autre avoir, que ja nus nel vos desfendra [V.5138f.] (›alle Pferde und anderen Besitz, denn niemand wird diese gegen Euch verteidigen‹). Der Knappe begibt sich daraufhin zu Gauvain, schlägt
292
Vgl. u. a. Haidu: Aesthetic Distance, 1968, S. 209f.; Frappier: Mythe du Graal, 1979, S. 221; Pérrennec: Roman Arthurien, 1984, S. 151; Busby: Perceval, 1993, S. 60; Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 147; C. Pierreville: ›Figures féminines dans Le Conte du Graal‹, in: Le Conte du Graal. Chrétien de Troyes. Hrsg. Von D. Quéruel. Paris 1998, S. 89–101, S. 93.
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eines seiner Pferde mit dem Lanzenstumpf und redet ihn hochmütig als vassax [V.5142] an. Die Szene liefert einen ironischer Kommentar auf die Initialkrise, wo ebenfalls einem vallet salvage (nämlich Perceval) die Besitztümer (Pferd und Rüstung) eines hohen Adligen von Leuten des Hofes (Keu und Artus) ›zugesprochen‹ wurden. Die souveräne Reaktion Gauvains, der den dreisten Kerl mit ein paar Worten in seine Schranken weist, erscheint wie eine nachträgliche Berichtigung der Vorgänge von Cardoeil. Die Szene lässt keinen Zweifel daran, wie unakzeptabel das Ansinnen Percevals und die gewährte Unterstützung des Hofes in jener Auseinandersetzung mit dem Roten waren. An der Parallele wird deutlich, dass die Szenen lockere Bezugsmuster aufweisen. Einer rigiden Inversionsstruktur mit eindeutig zugeordneten Gegensatzpaaren im Sinne Salys lassen sie sich nicht unterordnen. Das heißt, Chrétien inszeniert hier (und in weiteren vergleichbaren Episoden) keinen bloßen Rollentausch unter umgekehrten Vorzeichen, sondern er wiederholt dieselbe Problematik in variierenden Konstellationen, um je andere Reaktionsmuster an ihr aufzuzeigen. Insofern als Gauvain den dreisten Knappen in seine Schranken weist, agiert er in einer parallelen Situation zum Roten Ritter, der versuchte dem dreisten Perceval mit dem stumpfen Ende seiner Lanze einen Dämpfer zu verpassen. Wenn Gauvain sich aber danach für die Pucele aux Manches Petites einsetzt, agiert er in Parallelität zu Perceval, der sich für das prophetisch lachende Fräulein einsetzte. Gauvains Handeln erfüllt stattdessen nachträglich Erwartungen, die sich bereits aus der Initialkrise ergaben. Das betrifft zunächst die Dreistigkeit eines Knappen, der ohne desfïance mit frechen Reden das Gut eines fremden Ritters zu stehlen beabsichtigt, ein Verhalten, das hier von Gauvain unterbunden und in seine Schranken gewiesen wird, wie er dies eigentlich auch seinerzeit am Artushof hätte tun müssen. Des Weiteren betrifft es die Verantwortung für das geschlagene Mädchen, deren Genugtuung Gauvain nun zu seinem Anliegen macht, womit er erstmals auf die Thematik der Gewaltanwendung gegen Frauen bei Hof reagiert, und wodurch die Hauptthematik der Gauvainpartie in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt ist. II.5.2.2.3 Rektifikationsleistung. Das höfische Geschlechterverhältnis im Conte du Graal In diesem letzten Abschnitt werden diejenigen Handlungen Gauvains betrachtet, die sich auf das höfische Geschlechterverhältnis beziehen. Es soll deutlich werden, dass ihm hier Reformleistungen gelingen, die ihn deutlich gegen Perceval absetzen. Dazu gehört sowohl die Frage eines pazifizierten und pazifizierenden Minneverhältnisses, mithin die Frage des Frauendienstes, als auch die der Zusammenführung der (isolierten) Geschlechter durch Integration und insbesondere durch die Zusage des ›Einander-nicht-im-Stich-Lassens‹. Erneut wird dabei der Caritas-Begriff zur Sprache kommen. 123
Zunächst zum Verhältnis von Gewalt und Eros, welches in drei markant verschiedenen Situationen an der Frauendienstfrage ausgeführt wird. Pérennecs These, »Gauvain devrait réformer une mentalité«,293 formuliert das zu erreichende Ziel der Reformleistung des Hofakteurs als »un Eros libéré des fantasmes de la chasse et de la conquête.«294 Bereits bei den eben diskutierten aventuren von Tintagel und Escavalon, den ersten beiden der drei Situationen, spielte das Motiv der gewaltsamen Eroberung einer Partnerin eine Rolle. In der Episode von Escavalon ist der Zusammenhang zunächst scheinbar suspendiert, denn die Schwester des Königs ist auf Geheiß ihres Bruders ihrem Gast Gauvain aus freien Stücken zu Willen, ohne irgendeine Dienstforderung an den fremden Ritter zu stellen. Das Gewaltpotential bricht erst im anschließenden Schachspielkampf durch, als das Minnepaar sich gegen die wütenden Bürger verteidigen muss. Pérennec interpretierte das Handeln der Königsschwester als selbstbewusstes Auftreten einer Frau, die eigenhändig in die Auseinandersetzung mit den Bürgerleuten eingreift, anstatt sich nur passiv von ihrem Ritter verteidigen zu lassen, und die bei der Vergabe ihrer Liebesgunst an Gauvain »peu d’intérêt aux demonstrations de prouesse« gezeigt habe.295 Darin unterscheidet sie sich auffällig von der älteren Tochter Tibauts von Tintagel und deren Dienstforderung in der vorhergehenden aventure. Diese hatte ihren Minneritter Meliant de Liz bei seiner Werbung so lange zurückweisen wollen, bis er seinen Heldenmut vor ihren Augen bewiesen und ihre Liebe mit Waffengewalt verdient habe (tant que vos aiez devant moi tant d’armes fait et tant josté que m’amours vos avra costé [V.4858ff.]). Die Dienstforderung der älteren Tochter Tibauts ging so weit, dass sie nicht einmal davor zurückschreckte, ihren Werber zum Kampf gegen ihren eigenen Vater aufzuhetzen (Prenez un tornoi a mon pere se vos volez m’amor avoir [V.4864f.]).296 Die bedenklichen Folgen dieser extremen Dienstforderung der Dame verursachen eine Gewaltanwendung des frustrierten Bewerbers, die bis zu Kriegshandlungen gegen dessen eigenen Ziehvater und Vasallen eskaliert. Die überzogene Dienstforderung resultiert also nicht nur in einer Bedrohung für den herrschaftlichen Verband, die feudale Personenbindung und die familia des Landesherrn, sondern sogar in einer Bedrohung für die gesamte Gemeinschaft, die sich in Tintagel ängstlich in der Burg verschanzt und regelrecht eingemauert hat [V.4896f.], um der destruktiven Wut des Freiers zu entgehen. Man befürchtet die völlige Vernichtung aller Beteiligten durch den Amoklauf des Werbers: car il avoient grant paor qu’il les volsist del tot destruire [V.4894f.] (›denn sie hatten große Angst davor, dass er beabsichtigen könne, sie vollkommen zu vernichten‹). Fazit: in Tintagel
293 294 295 296
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 157. S. Anm. 293, S. 155. S. Anm. 293, S. 161. Vgl. u. a. Thomas: Gawan adventures, 1981, S. 848.
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ebenso wie in Escavalon führt ein affektives Verhältnis zu Kriegshandlungen. Der Umgang zwischen den Geschlechtern erweist sich als ausschlaggebend für den Frieden der gesamten Gemeinschaft. Die Interpretation Sonja Emmerlings, Chrétien »gestaltet weder den Minnekonflikt zwischen Meliant und Tibauts älterer Tochter, noch den politisch-lehnsrechtlichen zwischen Lehnsherr und Vasall [...]«, 297 denn die Szene in Tintaguel sei »nichts als ein typisches Gezänk unter Schwestern«,298 kann ich mir nur so erklären, dass die Autorin (ausweislich ihrer Bibliographie) einen Teil der romanistischen Forschung zum Conte du Graal nicht in ihre Überlegungen einbezogen hat.
Das Motiv, dass die Liebe eines werbenden Ritters auch für die Familie und das gesellschaftliche Umfeld seiner Dame Frieden und Sicherheit bedeuten sollte, wird im Conte du Graal wiederholt als Gauvains Anliegen dargestellt. Eine besonders aufschlussreiche Textstelle bietet dazu das Gespräch Gauvains mit dem Guiromelant. Letzterer hatte – in Unkenntnis der Identität seines Gesprächspartners – angekündigt, Gauvain, den Bruder seiner Geliebten Clarissant, enthaupten und ihm mit eigenen Händen das Herz aus dem Leibe reißen zu wollen [V.8764–71]. Als Antwort legt der Erzähler der Gauvainfigur folgende Worte in den Mund: »Vos n’amez pas si com je faz, Fait mesire Gavains, par m’ame. Se j’amoie pucele ou dame Por la soie amor ameroie Tot son lignage et serviroie.» [V.8772–76] [Bei meiner Seele! Ihr liebt nicht auf dieselbe Art wie ich es tue«, versetzte Herr Gauvain. »Wenn ich ein Mädchen oder eine Dame liebe, dann liebe und diene ich um ihrer Liebe willen ihrer gesamten Familie und Sippschaft.]
Diese Liebesauffassung lässt – ganz im Gegensatz zu der von Tibauts älterer Tochter und ihrem Werber Meliant – klar eine pazifizierende Funktion der Bindung zwischen Mann und Frau erkennen. Liebe soll Frieden und Harmonie stiften, aber nicht zu Krieg und Gewalt führen. Gauvains Eintreten für die kleine Tochter Tibauts, die Pucele aux Manches Petites, mag zwar durch die Umstände, das kindliche Alter des kleinen Mädchens und ihr forsches Auftreten, ironisch gezeichnet sein, doch die Leistung Gauvains auf dem Turnier besteht darin, das gewalttätige Ansinnen des liebestollen Bewerbers und seiner anmaßenden Dame in Schranken zu weisen und für die gefährdeten Einwohner
297 298
Sonja Emmerling: Geschlechterbeziehung in den Gawan-Büchern des Parzival. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell. Tübingen 2003, S. 8. S. Anm. 297, S. 19.
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von Tintagel das Schlimmste abzuwenden. Gauvains Handeln in der TintagelEpisode hat demnach eine korrigierende Funktion. Es trifft folglich nicht zu, dass bei Chrétien »Gauvains Aufenthalt in Tintaguel [...] eine locker erzählte Zwischenepisode« sei, quasi ohne tieferen Bezug zur weiteren Handlung, die sich »in der Einführung Gauvains als eines vorbildlichen und kampftüchtigen Ritters« erschöpfe,299 wie Emmerling meint.
In der aventure von Escavalon sieht Pérennec gegenüber der von Tintagel einen Fortschritt im Umgang zwischen den Geschlechtern verwirklicht: »La prouesse est tout à fait dissociée de l’amour.«300 Die Liebesgunst der Königsschwester braucht in Escavalon nicht mit Waffengewalt erkämpft zu werden, sondern die Dame gibt sich dem Ritter bereitwillig hin. Trotzdem bleibt Zweifel, ob ein substantieller Fortschritt im Umgang zwischen Werber und Dame erreicht ist. Pérennec, der nach einer neuen Rolle der Frau in der höfischen Gesellschaft fahndet (»l’esquisse d’un comportment féminin nouveau«),301 muss selbst einschränken: »La demoiselle d’Escavalon n’assume pas entièrement dans ses paroles, ni même dans ses pensées, la liberté dont témoigne sa conduite. Chrétien n’a pas voulu ou, plus probablement, n’a pas pu pousser l’innovation jusqu’à ce point.«302
Die allzu umstandslos gewährte Liebesgunst der Königsschwester in Escavalon, die gleich ganz auf den kämpferischen Tugendnachweis ihres Werbers verzichtet, zeigt ähnlich dramatische Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Frieden wie die völlig überzogene Dienstforderung der älteren Tochter Tibauts. Zwar beauftragt der König seine Schwester, den Gast Gauvain so liebevoll wie ihren eigenen Bruder zu behandeln, aber eine »unité de ce qui est d’ordinaire rigoureusement distingué: la fraternité et le sexe« kommt nicht zustande.303 Die Szene gipfelt erneut in Kampfhandlungen. Ein angemessenes Verhältnis von weiblicher Dienstforderung und erwartetem Liebeslohn wird nicht erreicht und bleibt somit auch für die anschließenden aventuren Gauvains relevant. Die EscavalonEpisode macht anschaulich, dass von dem Werber einer Dame durchaus dessen erfolgreiches Eintreten für die Sicherheit der ihm anvertrauten Dame verlangt werden kann. Dieser Aufgabe ist Gauvain in Escavalon nicht gewachsen, denn sein burlesker Schachbrettkampf führt nicht zur eigentlichen Lösung des Konflikts.
299 300 301 302 303
S. Anm. 297, S. 8. Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 161. S. Anm. 300, S. 162. S. Anm. 300, S. 162. S. Anm. 300, S. 165.
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Insbesondere der Dienst Gauvains für die Orgueilleuse de Logres als dritte, markante Situation in diesem Komplex, wird die schwierige Balance zwischen weiblichem Dienstanspruch und männlichem Streben nach Liebesgunst in immer neuen Auseinandersetzungen zur Anschauung bringen. Hier sind die Verhältnisse derart auf den Kopf gestellt, dass die male pucele nur darauf aus ist, Gauvain in aucune grans desconvenue de honte et de male aventure [V.6864f.] (›irgendein großes Missgeschick der Schande und des Unglücks‹) zu führen. Der Dienst Gauvains an dieser Hochmütigen (›Orgueilleuse‹) besteht darin, dass er sich wiederholt von der Dame demütigen, in Gefahr bringen und verspotten lassen muss. Aber weit entfernt von der Gewährung eines Lohns für die erduldeten Schmähungen kehrt die Orgueilleuse die Verhältnisse vollends auf den Kopf: »Dois tu baillier chose qui toche Ne a mon cors ne a ma boche Ne a mon front ne a ma face? Ja puis Diex honor ne me face Que jo arai en nule guise Talent de prendre ton servise.«
[V.6889–94]
[Darfst du dir etwa erlauben, Sachen anzufassen, die meinen Leib, meinen Mund, meine Stirn oder mein Gesicht berühren? Fürwahr, möge Gott mir nie wieder Ehre gewähren, wenn ich nur in geringster Weise Lust haben sollte, deinen Dienst zu akzeptieren.]
Anstatt also durch Dienst die Gunst der Dame zu erlangen, soll Gauvain sich der Schmach und Gefahr für die Dame aussetzen, ohne dass ihm dafür ein Lohn zuteil würde. Warum lässt er sich auf dieses Missverhältnis ein? Von einem blinden Dienst-Automatismus zu sprechen, der Gauvain einsichtslos zu sinnlosen Handlungen antreibe, wie Perceval, der, »incapable de discerner la complexité des situations«,304 nicht in der Lage war, die Ratschläge seiner Mutter oder Gornemants umzusetzen, wird dem umfangreichen Handlungsabschnitt nicht gerecht. Vor allem würde das die bemerkenswerte Wandlung der male pucele nach Gauvains Sprung über die gefährliche Furt (li guez perillous [V.8495]) nicht erklären. Diese Wandlung ist eine der wichtigen Reformleistungen Gauvains und wird nun näher betrachtet. Frédérique Le Nan billigt der Figur der Orgueilleuse eine Dimension des ›Werdens‹, d. h. eine Entwicklung zu. Er spricht von »un personnage en devenir.«305 Zu diesem Ziel habe Chrétien die male pucele aus der Starrheit der
304 305
Frédérique Le Nan: ›La male pucele aux bornes de Galvoie‹, in: Le Conte du Graal. Chrétien de Troyes. Hrsg. von D. Quéruel. Paris 1998, S. 74–88, S. 83. S. Anm. 304, S. 85. Le Nans Schlussfolgerung ist nach der den Beitrag einleitenden, aktantiellen Beschreibung der Orgueilleuse in Greimas‹ Terminologie etwas überraschend.
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mythisch-märchenhaften Erzählschematik befreit, um ihr an der ›Grenze des erzählerisch Möglichen‹ eine Vergangenheit zu geben (in der von Guiromelant nachgereichten Vorgeschichte des Fräuleins), damit sie eine Zukunft haben könne. Marianne Wynn hat eine ganz andere, handfestere Typik ermittelt. Die Orgueilleuse sei »ein höchst realistisch gesehener und beschriebener Typ. [...] eine Soldatenhure, eine Landstreicherin..«306 »Sie ist jedoch weder Dame noch Fräulein. [...] Zumindest ist sie keine Adlige, die ein normal akzeptables Leben führt.«307 Auch Emmerling spricht von der Orgueilleuse als »einem namenlosen französischen Straßenmädchen«, aus der erst Wolfram »eine der vielschichtigsten Figuren des gesamten Romans« gemacht habe.308 Ihre Beschreibung interessiert sich nur für die lasziv-frivole Komponente der Orgueilleuse, was der Figur nicht gerecht wird.309 Es geht z.B. nicht aus dem Text hervor, dass die Orgueilleuse »keine Adlige« sei. Auch Wynns Argument, die Orgueilleuse habe keinen Namen, belegt nicht ihre These vom »Dirnennaturell«.310 Namenlos bleiben bei Chrétien sehr viele, auch hochadlige Figuren, darunter die Mutter und die Cousine Percevals, sowie eine der vier Königinnen des Roche de Canguin. Die sehr negativen Auskünfte über die Figur, die Wynn zu ihrer Charakterisierung heranzieht, stammen in erster Linie vom Guiromelant, der einst versuchte, die Orgueilleuse mit Gewalt zur Liebe zu zwingen, aber verschmäht wurde. Die Ambiguität der Figur und ihr aberwitziges Verhalten beruhen auf einem Todeswunsch, von dem jetzt zu reden ist. Dabei rücken zwei Aspekte des Handelns Gauvains ins Blickfeld, die die wirkliche Relation zwischen dem Ritter und der Frauenfigur sichtbar machen: zum einen verzichtet Gauvain auf Gewaltanwendung als Mittel, die gewünschte Liebesgunst der Orgueilleuse zu erzwingen (im Gegensatz zu Figuren wie Greoreas oder dem Guiromelant), zum anderen verzichtet Gauvain ebenfalls auf Gewaltanwendung als Mittel der Bestrafung des Hochmutes der Orgueilleuse (wie dies Perceval gegenüber dem eifersüchtigen Orgueillieus de la Lande tat). Stattdessen zeigt er in der entscheidenden Szene ein Verständnis für die erlittene Not seiner Minnedame, das man als selbstloses, empathisches Verzeihen, mithin eine Form der Caritas auffassen muss.
306 307 308 309
310
Marianne Wynn: ›Orgeluse. Persönlichkeitsgestaltung auf Chrestienschem Modell‹, in: German Life and Letters XXX (1977), S. 127–137, S. 130. S. Anm. 306, S. 129. Emmerling: Geschlechterbeziehung, 2003, S. 65, vgl. auch ihre Ausführungen auf S. 131f.. Isolde Neugard: Wolfram, Chrétien und das Märchen. Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Bd. 1571. Frankfurt a.M. 1996, kommt bei ihrer Studie der Figur Orgeluses bei Wolfram ebenfalls zu dem Ergebnis, dass ihr über »die in den Erzählverlauf integrierte Personenzeichnung [...] zunehmend ein persönliches Profil« zuwachse (S. 71). Doch Emmerling stellt klar: »einen fundamentalen Bruch in der Charakterdarstellung [gegenüber Chrétien], wie ihn Wynn [...] konstatiert, vermag ich nicht zu sehen« (vgl. S. 73, Anm. 23). Wynn: Orgeluse, 1977, S. 131.
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In der Feenhaftigkeit der Orgueilleuse erkannte Pérennec die Verkörperung eines »mal qui n’est pas extérieur à l’homme«,311 also eine Problematik, die anfangs hinter der motivgeschichtlich älteren Dimension einer Feenfigur verborgen liegt und erst sukzessive ans Licht kommt. Das bedeutet, dass die Aufgabe ihres Ritters darin besteht, durch seinen Dienst das Irrationale der Figur aufzulösen, indem er durch das Auf-sich-Nehmen von Prüfungen die Motivation ihres Handelns ans Licht bringt. Das gelingt Gauvain mit dem Sprung über die gefährliche Furt. Die Leistung des Ritters erschließt den bislang verborgenen Teil der Figur der Orgueilleuse, der nur jenseits der gefährlichen Furt im Gespräch mit dem Guiromelant zu erfahren war, der aber bereits von Anfang an als Potential in der Figur steckte. Durch den Informationssprung erhält nämlich die Orgueilleuse ihre Identität zurück, indem ihr »une périphrase qui désigne [...] son lieu de naissance: L’Orgueilleuse de Logres«312 zurückgegeben wird. Gauvain löst den irrationalen Bann der Figur auch durch Erdulden (patiens) der Demütigungen, welche mit dem Dilemma der noch unerlösten Dame verbunden sind, und, wie nun zu zeigen ist, durch sein hohes Einfühlungsvermögen. Nach Gauvains Rückkehr von seinem Gespräch mit dem Guiromelant jenseits der gefährlichen Furt legt die Orgueilleuse ein Geständnis ab. Sie sei deshalb so grausam zu all jenen Rittern gewesen, die ihre Gunst erlangen wollten, weil sie sich erhoffte, von diesen für ihre Gemeinheit bestraft und getötet zu werden. Seit dem Verlust ihres ersten Freundes, den jener Guiromelant einst tötete, hatte sie den Verstand verloren und keinen anderen Wunsch verspürt, als Ritter ins Verderben zu führen um schlussendlich selbst zu sterben [V.8922–59]. Nach diesem Bekenntnis bittet sie Gauvain um eine abschreckende Bestrafung für ihr Tun. Aber Gauvain weigert sich unter Berufung auf Christus [V.8966], das Fräulein zu bestrafen. Er hat nämlich mit dem Austeilen von grausamen und abschreckenden Strafen bereits schlechte Erfahrungen gemacht. So hatte er einst den Ritter Greoreas zur Strafe für Entführung und Frauenschändung einen Monat lang mit auf den Rücken gebundenen Händen aus dem Hundenapf fressen lassen [V.7114f.]. Auch in diesem Fall war der Grund für die abschreckende Strafe ein unangemessenes Verhalten zwischen den Geschlechtern. (Der Bezug zur ›Bestrafung‹ der Orgueilleuse ist sowohl inhaltlich als auch durch erzählerische Verknüpfung markiert, denn kurz bevor Gauvain die male pucele einst kennen lernte, begegnete er auch Greoreas. Greoreas war anschließend der erste Widersacher, der Gauvain unter ihren Augen und von ihrem Hohngelächter begleitet demütigte und ihm sein Pferd abnahm. Der bestrafte Frauenschänder und die zu bestrafende femme fatal präsentieren sich in einem erzählerischen 311 312
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 167. Le Nan: La male pucele, 1998, S. 85f..
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Zusammenhang.) Obwohl Gauvain bei der Bestrafung des Greoreas formal im Recht war, und sich zur Legitimation seiner Strafmaßnahme darauf berufen konnte qu’en la terre le roi Artu sont puceles asseürees [V.7122f.] (›dass im Reich des Königs Artus die Fräulein Sicherheit genießen‹), zog diese zutiefst demütigende Sanktion die Rache des Bestraften nach sich. Gauvains christlich motivierte Reaktion auf die Geständnisse der Orgueilleuse bringt eine andere Gesinnung zum Ausdruck. Grausamkeit ist, auch wenn sie formal legitimiert ist, keine Basis für ein späteres friedfertiges Zusammenleben nach höfischem Modell. Die besonders grausame Strafe für Greoreas ist für das Gauvainbild Chrétiens untypisch. Als typisch für die Gauvainfigur galt vielmehr der molt grans sens Gauvains, seine Einfühlungsvermögen und seine Vernunft. Trotzdem konnte der Hofakteur seinerzeit von der Strafe nicht absehen. Die komplizierten, juristischen Umstände hatten ihn in eine Zwickmühle zwischen seiner Schutzverpflichtung gegenüber Greoreas und der für das Vergehen üblichen Todesstrafe für den Frauenschänder gebracht, die Gauvain als Mediatior in die »mesprison im Hundezwinger« gewandelt habe.313
Zum Abschluss werden zwei weitere Szenen diskutiert, die demonstrieren, wie Gauvains Einfühlungsvermögen Krisensituationen entschärft, die mit Gewalt nicht gelöst werden konnten. Immer wieder wird man darauf stoßen, dass die reformierenden Handlungen des Hofakteurs auf seinem Verständnis für die Nöte anderer beruhen. Gauvains molt grans sens spielte erstmals während der Blutstropfentrance eine entscheidende Rolle. Die Blutstropfentrance ist jene Szene in Chrétiens Romanen, in der die gerühmte Vernunft Gauvains mit der Irrationalität des Protagonisten einerseits und der hochmütigen Aggressivität Keus andererseits kontrastiert wird. Während dort u. a. Keu den ›selbstvergessenen‹ Helden gewaltsam an den Hof zwingen wollte, tadelte Gauvain dieses Ansinnen [V.4350–56] und stellte einfühlsame Überlegungen darüber an, warum Perceval so tief in Gedanken versunken sein könne. Seine zutreffende Vermutung s’amie li est fortraite, si l’en anuie et en pesoit (›seine Freundin ist ihm entrissen worden, worüber er sich grämt und worüber er nachgrübelt‹ [V.4362f.]) kennzeichnet ihn als verständnisvollen Beobachter. Gauvain demonstrierte sein Einfühlungsvermögen für Percevals Situation anschließend im direkten Gespräch: [...] »Certes, fait mesire Gavains, Cist penser n’estoit pas vilains, Ainz estoit molt cortois et dols, Et cil estoit fel et estols Qui vostre cuer en romovoit« [V.4457–61]
313
Vgl. Olef-Krafft: Roman de Perceval, 1991, Anm. zu V.7129–31 (S. 627).
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[Gewiss doch«, erwiderte mein Herr Gauvain. »Eure Traumversunkenheit hatte nichts Unwürdiges. Vielmehr war sie sehr schicklich und zartfühlend. Und jener, der Euer Herz davon losreißen wollte, war niederträchtig und dünkelhaft.]
Gauvains molt grans sens erweist sich also in dieser Szene nicht nur als die schon bekannte Vernunft, die ihn im Chevalier de la Charrette vor Lancelots Sprung in die Karre des Zwergen bewahrte, sondern darüber hinaus auch als die Kompetenz, die Befindlichkeit eines anderen zu erkennen, der sich in einer Situation der Verwirrung befindet. Die Szene der Blutstropfenszene hat einen für die gesamte Gauvainpartie des Conte du Graal vorausweisenden Charakter, denn sie illustriert die kontrastierenden Positionen von prouesse und sens (hier: Gewaltanwendung und Einfühlungsvermögen) in einer Auseinandersetzung zwischen Gauvain, dem König und Keu. Nachdem Keu von seiner Konfrontation mit Perceval mit gebrochenem Arm zurückgehrt war, erinnerte Gauvain den König an die Vernunft (raison), indem er ihn ermahnt: »Sire, sire, se Diex m’aït, Il n’est raison, bien le savez, Si com vos meïsmes l’avez Tos jors dit et jugié a droit Que chevaliers autre ne doit Oster, si com cist diu ont fait, De son penser, quel que il l’ait.«
[V.4350–57]
[Herr König, so wahr mir Gott helfe, es zeugt nicht von Vernunft, das wisst Ihr genau, da Ihr selbst es immer verurteilt und für Unrecht gehalten habt, dass ein Ritter einen anderen gewaltsam aus seinen Gedanken zu reißt, gleich welcher Art diese auch seien, so wie die zwei es taten.]
Anschließend bittet Gauvain um Erlaubnis, sich selbst um Perceval kümmern zu dürfen, worauf Keu eine seiner gefürchteten Spottreden nicht unterdrücken kann. Die Schärfe seines Sarkasmus‹ zielt diesmal auf Gauvains ›Tapferkeit‹ (poëz), die darin bestehe, einen von mehrfachen Kampfhandlungen bereits ermüdeten Gegner mit freundlichem Zureden zu etwas zu bewegen, wozu man ihn zuvor mit Gewalt nicht zwingen konnte: »Certes, en un blïaut de soie Porrois ceste besoigne faire; Ja ne vos i covenra traire Espee ne lance brisier. De ce vos poëz vous prisier«
[V.4390–94]
[Gewiss doch, diese Angelegenheit könnt ihr gehüllt in ein Gewand aus Seide erledigen. Ihr werdet es nicht einmal nötig haben, ein Schwert ziehen oder eine Lanze dafür brechen zu müssen. Darüber wird man Euren Heldenmut rühmen!]
131
Einfühlsamer Umgang mit dem in Trance Verfallenen wird als Feigheit ausgelegt. Doch der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, welches Vorgehen das erfolgreichere ist. Ohne Gauvain nämlich »stünde Perceval ja sozusagen heute noch im Schnee.«314 Die Blutstropfenszene hat programmatischen Charakter für die Gauvainpartie des Conte du Graal. Gauvains höfisches Vorgehen verhindert nicht nur weitere Kampfhandlungen, sondern es mündet in eine Integrationsleistung die von Freude und Freundschaft gekrönt ist, die den ganzen Artushof ansteckt. Nicht Gauvains Heldenmut, der ihm auch im Conte du Graal durchaus bescheinigt wird [V.7594], sondern sein sens, d. h. eine auf Erfahrung und Einfühlungsvermögen beruhende Vernunft (raison), ermöglicht dem Hofakteur Erfolge, die einerseits Keu, seinem Alter Ego, andererseits aber dem Protagonisten verwehrt bleiben. Kennzeichnend für diese Erfolge ist die pazifizierende Tendenz einer duldsamen, die Nöte anderer berücksichtigenden Strategie. Gauvain ist der Heilende, der Getrenntes Zusammenführende, der Spannungen Ausgleichende, der Unrecht Berichtigende. Das letzte Beispiel, die zentrale Szene der Gauvainpartie, soll diese Handlungstendenz der Gauvainfigur im Conte du Graal auch im Verhältnis zu der des Protagonisten belegen. Gemeint ist die aventure des Wunderschlosses der Königin Ygerne, der Großmutter Gauvains und Mutter von König Artus. Diesem Schloss und dieser aventure hat die Forschung in Bezug auf die strukturelle Position zurecht einen der Gralsburg ebenbürtigen Rang eingeräumt. In diesem Schloss befinden sich übrigens nicht nur Damen, sondern auch Knappen, die nie zum Ritter geschlagen wurden. Das Schloss enthält also eine Abbildung der höfischen Gesellschaft im Zustand sozialer Erstarrung. Frauen werden nicht mehr verheiratet, bestimmte Räume werden nicht mehr betreten, Knappen werden nicht mehr zu Rittern geschlagen. Gauvains Leistung im Wunderschloss besteht also vor allem in der Erlösung aus Erstarrung und Isolation. Der Prozess der Reintegration der Schlossbewohner in die höfische Lebenswelt und ihre normalen sozialen Gepflogenheiten geht schrittweise voran. Michelle Szkilnik wertet diese Leistung so: »Une fois les écuyeres adoubés, l’harmonie entre les sexes régnera de nouveau au château des Reines. Gauvain, on le devine, ne restera pas prisonnier. Il ouvrira au contraire à la cour d’Arthur ce monde jusqu’alors replié peureusement derrière ses remparts et sa puissante rivière.«315
Es liegt auf der Hand, dass der arthurische Hof ausweislich des Einladungsschreibens Gauvains an Artus und Guenièvre am Ende des Romantorsos aufgefordert ist, sich zum Wunderschloss der Königinnen zu begeben, dass also 314 315
Döffinger-Lange: Gauvain-Teil, 1998, S. 70. Michelle Szkilnik: Perceval ou le Roman du Graal de Chrétien de Troyes. Paris 1998, S. 46.
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eine Zusammenführung nicht nur der dort im magisch-fantastischen Jenseits isolierten Gesellschaft mit der höfisch-arthurischen geplant ist, sondern sogar eine Zusammenführung von Artus mit seiner eigenen Mutter. Noch innerhalb des Romantorsos zeichnet sich eine Reformleistung Gauvains ab, die darauf gerichtet ist, das harmonische Gesellschaftsmodell der Artuszivilisation durch Zusammenführung der Geschlechter zu reinstallieren. Es gelingt Gauvain sogar, noch weitere Figuren aus ihrer Isolation zu lösen und mit anderen Figuren zusammenzuführen. So erfährt das Publikum, wie er sich als Überbringer eines Rings als Liebesgabe bei seiner Schwester Clarissant für den Werber Guiromelant verwendet (mithin ausgerechnet für den Mann, der ihm den Kopf abschlagen will). Bislang waren Clarissant und Guiromelant von einander isoliert, und es blieb ihnen nur die Fernliebe. Erst durch den Sprung Gauvains über die gefährliche Furt ändert sich dies. Gauvains (Re-)Integrationsleistungen gelten überraschenderweise auch ihm selber, denn eine vielbeachtete Episode berichtet davon, dass sich Gauvain selber aus der Isolation des gerade erst erlösten Zauberschlosses befreien muss. Danielle Buschinger geht davon aus, dass Gauvain sich auf dem Roche de Canguin »im Jenseits, im Totenreich befinde[t]«,316 dass er das Schloss nie verlassen darf und die Erlaubnis zum Ausgang »nur ein einziges Mal« bekommt.317 Aber offensichtlich bereitet es ihm keinerlei Schwierigkeiten, einen Boten mit einer schriftlichen Einladung aus dem Reich der Ygerne an den Artushof abzusenden. Dieser Bote wird in der allerletzten Szene des Romantorsos eine tief betrübte Hofgesellschaft am Artushof antreffen, in der der vermeintliche Tod Gauvains bitterlich beklagt wird. Die Szene ergibt nur einen Sinn, wenn die dort vorgefundene Verzweiflung über Gauvains vermuteten Tod, die auch Artus in das charakteristische, tiefe penser hat versinken lassen, sich bei Empfang der Nachricht des Boten in Freude umkehren wird. Der Bote, dem ein Überwechseln vom angeblich hermetischen Totenreich an den Artushof durch einen einfachen Ritt zu Pferd ohne Schwierigkeiten gelang, wird dort den Beweis für Gauvains gute Gesundheit in Form des Briefes und der Einladung an König und Königin vorlegen. Eine andere Reaktion auf diesen Brief als positives Erstaunen und Freude des Hofes ist für die anschließenden Szenen schwer vorstellbar. Daraus folgt, dass Gauvain offensichtlich nicht in eine Todesfalle geraten ist, aus der es kein Entrinnen mehr gäbe.
Mehrere Forschungsbeiträge bezeichnen Gauvains Sieg über den magischen Bann des Zauberschlosses als sinnlos und ironisch: »[…] he ironically is a prisoner of his own victory; he is told that he cannot leave the castle any longer.«318 Busby erkennt zwar an, dass es Gauvain schlussendlich doch noch gelingt, 316
317 318
Danielle Buschinger: ›Burg Salîe und Gral. Zwei Erlösungstaten Gaweins in der Crône Heinrichs von dem Tülîn‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 1–32, S. 9. S. Anm. 316, S. 3. Carasso Bulow: The merveilleux in Chrétien, 1976, S. 139.
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Zustimmung zum Verlassen des Schlosses zu bekommen, aber Gauvains Rückkehrversprechen wertet er als Hinweis auf ziellose Kreisbewegungen des Hofakteurs.319 Haidu meinte sogar, dass Königin Ygerne Gauvain mit seiner Situation der Gefangenschaft durch Konversation versöhne: »Gauvain has become so entranced by the pleasures of social conversation that it bears him of its own momentum farther and farther from reality. This is quite within Yguerne’s purpose, to comfort her guest and reconcile him to the situation in which he finds himself: imprisonment.«320 Bei ihrem Versuch, ein Sichabfinden Gauvains mit seiner Gefangenschaft zu erreichen, scheitert sie freilich. Der Ritter macht ihr unmissverständlich klar, dass ein Leben für ihn unter diesen Bedingungen unerträglich wäre [V.8334], und der Fährmann, Zeuge des Gesprächs, bestätigt es der Königin: »Ja nel retenez mal gre suen, qu’il en porroit de doel morir« [V.8342f.] (›Nun haltet ihn nicht gegen seinen Willen zurück. Er könnte sonst vor Kummer sterben‹). Aber warum sollte ausgerechnet der Befreier Gauvain ein Gefangener der von ihm Erlösten geworden sein? Auskunft gibt Königin Ygerne selbst, die den Grund in ihrem Ausgangsverbot genau beschreibt: »Vos n’en devez issir jamés, Se vos tort ne nos volez faire.«
[V.8332f.]
[Ihr dürft nie mehr von diesem Ort fortgehen, wenn ihr Euch uns gegenüber keine Verfehlung zuschulden kommen lassen wollt.]
Felicitas Olef-Krafft übersetzt V.8333 mit »falls ihr auf unser Wohl bedacht seid«.321 Wortwörtlich bedeutet das Wort ›tort‹ Unrecht.322 In den Augen der weißhaarigen Königin wäre es ein Unrecht gegenüber den Damen des Schlosses, wenn Gauvain einfach wieder fortginge. Die Übersetzung von Olef-Krafft vereindeutigt, Gauvain habe auf das Wohl der Damen bedacht zu sein, sonst lasse er sich ihnen gegenüber etwas zuschulden kommen. Das bedeutet, als der neue Schlossherr trägt er Verantwortung für die schutzbedürftigen Bewohner seiner Domäne. Die vermeintliche Gefangenschaft Gauvains ist etwas ganz anderes als die jenseitsweltliche Klemme, in die Chrétien seine Protagonisten verstrickt, wenn diese voll Übermut in die autre monde vorgedrungen sind. Es gilt zu beachten, dass die Damen auf dem Roche de Canguin schutzsuchende Zivilisationsflüchtlinge waren, die sich durch den Wunderbett-Mechanismus, »eine zauberische Auftragsarbeit [...] als Prüfstein, anhand dessen sich der zukünftige Schutzherr
319 320 321 322
Busby: Reculer pour mieux avancer, 1984, vgl. S. 22. Haidu: Aesthetic Distance, 1968, S. 246. Olef-Krafft: Roman de Perceval, 1991, vgl. S. 465. Vgl. Wendelin Förster: Wörterbuch zu Kristian von Troyes, 1933, S. 250, lemma ›tort‹.
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der Damen und Herrscher der Burg ausweist«,323 gegen Eindringlinge wehrten. Mit dem Zaubermechanismus wollten sie sicherstellen, dass ihr zukünftiger Burgherr auch seinen Verpflichtungen als Beschützer gerecht werde. Erst »sein Erscheinen läßt den Zauber, der damit überflüssig wird, verschwinden.«324 Gauvains Ausgangsverbot hängt also nicht mit einem nun erloschenen Zaubermechanismus zusammen. Stattdessen sind die Damen des Roche de Canguin von der Zuverlässigkeit ihres neuen Schutzherren abhängig. Gauvains Verpflichtung besteht darin, die weiblichen Bewohner nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Das entspricht den ethischen Maximen der drei Lehrmeister Percevals, dass ein Ritter sich der puceles desconseillies anzunehmen und ihnen Hilfe und Beistand zu leisten habe. Nun wird die Signifikanz der Szene deutlich. Es gibt nämlich eine Parallele zwischen dem Ausgangsverbot Ygernes und dem Ausgangsverbot der Mutter Percevals. Nicht zufällig ist der Conte du Graal einmal mit genau dieser Problematik eingeleitet worden, dass der junge, nach Rittertum strebende Perceval von seiner Mutter mit Vorbedacht daran gehindert wurde, jemals den mütterlichen Einzugsbereich zu verlassen. Als er es schließlich doch tat, und zwar insbesondere infolge der brüsken Art, mit welcher er sie verließ, war sie darüber vor Kummer gestorben. Zweimal wird im Conte du Graal auf die Schwere dieser Verfehlung hingewiesen. Nicht nur die Cousine Percevals (vgl. V.3593–95), sondern vor allem der Eremit hat dies als die Ursünde Percevals bezeichnet, die alle seine späteren Fehlleistungen etwa auf der Gralsburg nach sich ziehen sollte: [...] »Frere, molt t’a neü Uns pechiez dont tu ne sez mot: Ce fu li doels que ta mere ot De toi quant departis de li Que pasmee a terre chaï Al chief des pont devant la porte, Et de cel doel fu ele morte.«
[V.6392–98]
[Bruder, eine Sünde, von der du nichts weißt, hat dir sehr geschadet. Sie wurde durch den Schmerz verursacht, den deine Mutter deinetwegen erlitt, als du von ihr fortgingst, und sie ohnmächtig am oberen Ende der Brücke vor der Tür zu Boden stürzte, worauf sie an ihrem Schmerz gestorben ist.]
Es steht fest, »dass die [...] Beziehung zwischen Mutter und Sohn für Chrétiens Perceval, wesentlich ist.«325 Wenn die erste, alles weitere Scheitern begründende Sünde Percevals darin bestand, dass er den Tod seiner Mutter durch den Akt 323 324 325
Isolde Neugard: Märchen, 1996, S. 153. S. Anm. 323. Bart Besamusca: ›Mütter und Söhne in zwei mittelniederländischen Perceval-Variationen: Morian und Ridder metter mouwen‹, in: Literarisches Leben. Rollenentwürfe des Hoch- und
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des Zurücklassens mitverschuldete, so muss die Art und Weise, wie Gauvain das Ausgangsverbot seiner Großmutter zu lockern versteht, vor diesem Hintergrund gedeutet werden. Denn auch er kann nicht wie ein prisonier [V.8339] auf immer im Einzugsbereich der Mutterfiguren bleiben. Auch er müsste, wie der Fährmann bestätigt, vor Kummer sterben, so wie umgekehrt Percevals Mutter vor Kummer starb, gerade weil der Junge sie ohne Bedenken im Stich ließ. Die wechselseitigen Interessen des Frei-Seins und des Nicht-im-Stich-gelassen-Werdens sind vom Anspruch und ihren Konsequenzen her (Tod durch Kummer) gleichrangig. Die Verfehlung des einen (Percevals Ursünde des rücksichtslosen Fortgehens) spiegelt sich in der von der Königin befürchteten Verfehlung des anderen, nämlich Gauvains Wunsch, die Welt des Roche de Canguin wieder zu verlassen, was Ygerne als tort bezeichnet. Doch im Gegensatz zu Perceval, der sich nicht mehr für seine zusammengesunkene Mutter am Boden interessierte und unbekümmert seinen Weg fortsetzte, macht Gauvain den zurückbleibenden Frauen im Schloss auf dem Roche de Canguin ein Rückkehrversprechen, welches die Königin Ygerne zur Voraussetzung ihrer Ausgangserlaubnis erklärt hatte: »Dont l’en laisserai je issir, Fait la roïne, par convent Que se Diex de mort le desfent Que il reviegne encore anuit.« »Dame, fait il, ne vos anuit; Je revenrai se j’onques puis.«
[V.8344–49]
[»Dann werde ich ihn also gehen lassen«, sagte die Königin, »unter der Bedingung dass er verspricht, wenn Gott ihn vor dem Tod bewahrt, noch heute nacht zurückzukehren.« »Herrin«, erwiderte Gauvain, »seid ganz unbesorgt. Wenn ich nur irgend kann, werde ich zurückkehren.«]
Wechselseitige Einsicht von Mutter und Sohn (bzw. Großmutter und Enkel), d. h. generell von Männern und Frauen in die Notwendigkeiten und Bedürfnisse des jeweils anderen ebenen hier den Weg zu einer Verständigung. Gauvain demonstriert in dieser Szene ein Einfühlungsvermögen in die Bedürfnisse der Bewohner des Schlosses, das als weiteres Indiz für seinen grans sens und seine charité gewertet werden kann. Diese Qualität ist es, die ihm den Weg öffnet, indem sie ihm das Einverständnis der Großmutter und damit aller schutzbedürftigen Frauen des Roche de Canguin einträgt. Im Vergleich zur kindlich grausamen Selbstbezogenheit des Handelns Percevals, der es eben an jenem sens hatte fehlen lassen, gelingt Gauvain eine weitere, signifikante Integrationsleistung, die das bis dahin isolierte Wunderschloss sukzessive der arthurischen Welt
Spätmittelalters. Festschrift Volker Mertens. Hrsg. von M. Meyer, H.J. Schiewer. Tübingen 2002, S. 19–31, vgl. S. 24.
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öffnen und zugänglich machen wird, ohne die Belange seiner Bewohner zu brüskieren. Eine weitere Episode der Percevalhandlung gibt Gauvains Rückkehrversprechen zusätzliche Relevanz. Gemeint ist ein ganz ähnliches Rückkehrversprechen Percevals, gegeben bei seinem Abschied von Blanchefleur in Beaurepaire. Die Notwendigkeit seines Abschieds begründet Perceval mit dem Ansinnen, seine Mutter zu suchen, que il vit pasmee cheoir [V.2919] (›die er ohnmächtig hatte fallen sehen‹). Signifikant ist hier erneut das anfängliche Verbot Blanchefleurs sowie Percevals Angst davor, sie überhaupt um Ausgangserlaubnis zu bitten: Congié prendre a s’amie n’ose, car ele li vee et desfent [V.2922f.] (›Er traut sich gar nicht, seine Freundin um Erlaubnis zu bitten, fortgehen zu dürfen, da sie es ihm verbietet und abschlägt‹). Die Widerstände und die Not seiner Schutzbefohlenen mussten ihm durchaus bewusst sein. Sie offenbarten sich in Szenen öffentlich inszenierter Verzweiflung, in Prozessionen von Nonnen und Mönchen der Stadt, die sein Fortgehen betrauerten. Insbesondere von Blanchefleur selber erfährt man: Si laisse s’amie la gente molt correchie et molt dolente [V.2935f.] (›So ließ er seine zärtliche Freundin tiefer bekümmert und voller Trauer zurück‹). Perceval wird von den Einwohnern von Beaurepaire und von Blanchefleur derart bedrängt, dass er wiederholt versprechen muss, entweder mit der noch lebenden Mutter zurückzukehren oder aber – falls sie verstorben sei – ohne diese. Freilich wird er dieses Versprechen im Torso des Conte du Graal niemals einlösen. Insbesondere der Umstand, dass er nach der Begegnung mit seiner germaine cousine, die ihn ja über den Tod der Mutter unterrichtet, anstatt umzukehren ganz andere Anliegen verfolgt, darunter nicht zuletzt seine Aufnahme in die Tafelrunde, muss in diesem Zusammenhang zu denken geben. Dieser Rückkehr in die Artusgesellschaft ging immerhin die Blutstropfenepisode voraus, d. h. jener Moment der imaginierten Schau des Angesichts der Geliebten, der ihn noch einmal an seine zurückgelassenen Schutzbefohlenen hätte gemahnen müssen. Aber »daß er in Belrepeire erwartet wird, scheint ihm nicht einzufallen.«326 Gauvains eingelöstes Rückkehrversprechen ist im Conte du Graal das wichtigste Indiz für die antagonistische, berichtigende Handlungstendenz des Hofakteurs gegenüber der Figur des Protagonisten. Die These eines ideologischen Defizits des Hofakteurs will zu diesen Signalen nicht passen (vgl. II. 5.2.2.1). Gauvain erbringt Reformleistungen, die auf das gesellschaftliche Wohl gerichtet sind, und die Verfehlungen des Protagonisten korrigieren. Die Bereinigung der unhöfischen Mordtat Percevals, der im Interesse des Artushofes den Roten aus
326
W. Mohr: ›Wolfram beim Wort genommen‹, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder. Hrsg. von K.Gärtner, J.Heinzle. Tübingen 1989, S. 289–306, S. 291.
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dem Weg räumte, wird als Problematik Gauvains im Conte du Graal zwar anzitiert, innerhalb des Torsos wie gesagt jedoch nicht mehr gelöst. II.5.2.3 Zusammenfassung Auch im Romantorso des Conte du Graal lässt sich trotz des fehlenden Endgeschehens das typische Interaktionsmuster der Gauvainfigur nachweisen: Erstens zeigt dieses Muster die Gauvainfigur nach anfänglichem Fehlen (Inertia) als denjenigen Akteur, der während des späteren Geschehens aufgrund indirekter Mitverantwortung für die Problematik des Hofes aufkommen muss. Die Problematik der Initialkrise bestand im Conte du Graal einerseits in der Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt gegen den Gegner (Percevals unhöfischer Mord auf Betreiben und mit Billigung des Hofes) und andererseits in einer Störung des Geschlechterverhältnisses (erkennbar am Fehlen der Königin an der Tafel und an der Ausübung von Gewalt gegen Frauen). Die Problematik der Initialkrise blieb zunächst unbewältigt und wurde später auf den Hofakteur verschoben, wobei ein peinlicher Zwischenfall eintrat (Escavalon), der die ironische Spannung zwischen dem positiven Gauvainbild des Erzählers und der von diesem Akteur vertretenen, höfischen Utopie sichtbar machte. Zweitens beruhte das Interaktionsmuster des Hofakteurs auf der antagonistischen Wechselwirkung mit seinem Alter Ego bei Hof, dem Seneschall Keu. Wie in den zuvor besprochenen Romanen konnte die Keufigur auch im Conte du Graal das anfängliche Ausbleiben Gauvains zu einer negativen Profilierung nutzen, wodurch die Krisensituation eskalierte. Die Konsequenzen u. a. der Ohrfeige für das Lachende Fräulein sollten über die mittlere Artusszene hinaus relevant bleiben und zur typischen Bestrafung des Seneschalls führen, die ihrerseits ›berichtigende‹ Reaktionen Gauvains (Heimholen des Protagonisten, Verteidigung des geohrfeigten Fräuleins von Tintagel etc) nach sich zog. Drittens stand das Agieren Gauvains in einem antagonistischen Verhältnis zu dem des Protagonisten, der von einer personale Motivation angetrieben wurde. Der Protagonist konnte zwar aufgrund oberflächlicher Überschneidungen mit den Interessen des Hofes von Artus instrumentalisiert werden, aber die zugrundeliegende Problematik des Hofes wurde damit nur verschoben. Das Interaktionsmuster Gauvains zeigte daher auch im Conte du Graal (wie schon in der Charrette) eine rektifizierende Tendenz in Bezug auf die Handlungen des Protagonisten. Hier wie in der Charrette gelingen der Gauvainfigur signifikante (Re-)Integrationsleistungen, wie das ›Aufschließen‹ des Roche de Canguin (während Perceval die Gralsburg unter Schande verlassen musste, ohne seine Verwandten erlöst zu haben), das Erhalten der Ausgangserlaubnis von einer Mutterfigur (während Perceval seine Mutter durch rücksichtsloses Fortgehen sterbend zurückließ), und zuletzt die ausweislich der Einladung an den Hof geplante Wieder-Zusammenführung der Geschlechter und Generationen 138
in arthurischer Harmonie (während Perceval jedenfalls im vorhandenen Torso des Romans weder die Mutter, noch seine Geliebte noch seine Verwandten in der Gralsburg jemals wiedersieht, geschweige denn zusammenführen kann).
II.6
Das narrative Schwungrad: Interaktionsmuster der Gauvainfigur in den vier untersuchten Artus-Aventiureromanen Chrétiens
Ein Rückblick auf die erbrachten Ergebnisse zeigt die Gauvainfigur in den vier untersuchten Versromanen Chrétiens de Troyes als Teil des Hofensembles. Innerhalb dieses Gefüges steht sie als handelnde Kraft neben der passiven Königsfigur. Ihre Funktion ist eng mit Anliegen und Krise der höfischen Gesellschaft verbunden und zielt darauf, die Handlung wieder zur Ruhe zu bringen. Die Gauvainfigur wird trotz ihrer gesellschaftskonformen Motivation keineswegs nur positiv dargestellt. Sie ist in allen Romanen (selbst in Erec et Enide, doch dort erst während der mittleren Artusszene) durch eine signifikante Inertia charakterisiert, eine Verzögerung des Zum-Einsatz-Kommens bzw. ein erzählerisches ›Ausblenden‹, wodurch zunächst dritte (Keu oder der Protagonist) die eigentlich Gauvain obliegende Lösung einer durch den Hof vorgegebenen Aufgabe versuchen können. Die Diskrepanz zwischen ihrer vorbildlich höfischen Qualifikationen etwa durch die Epitheta des Erzählers (der semantischen Einheit) und der Krisenhaftigkeit der höfischen Gesellschaftsutopie, welche die Gauvainfigur repräsentieren und verteidigen muss (Funktion der Figur), liefert das narrative Potential für die Gauvainhandlung der Romane, das heißt die Grundlage für seine peinlichen Ausrutscher ebenso wie seine spektakulären Erfolge. Diese Diskrepanz, die in der Forschung bislang vornehmlich zu Spekulationen über Gauvains ›Charakter‹ Anlass gegeben hatte, ist also in erster Linie eine Folge der narrativen Disposition, Aufstellung und Funktion der Figur im Ensemble des arthurischen Personals. Die Figur des Seneschalls Keu nutzt die ›Inertia‹ Gauvains während der Krise zur eigenen, negativen Profilierung. Dabei verfolgt sie zwar die Ziele des Hofes aber mit ungeeigneten Mitteln und wird schließlich bestraft. Keu steht der Gauvainfigur im Interaktionsmuster Chrétiens als Alter Ego, als die zentrifugale Kraft gegenüber, die die höfischen Verhältnisse aufzusprengen droht. Der Antagonismus zwischen beiden Figuren wurde zuvor im Bild des Wetterhäuschens veranschaulicht (vgl. Abschnitt II. 4.1). Keus Interventionen haben, auch wenn sie negativ erscheinen, die unerlässliche, narrative Funktion, die Handlungslähmung aufzubrechen, die typischerweise nach der Provokation am Hof eintritt. Keu ist die Figur, die (mitunter im Wechselspiel mit dem bedenklich agierenden Königs) die Erzählung aus dem Nullpunkt des Handlungsstillstandes heraustreibt. Sein Agieren setzt Kräfte frei und ruft den Protagonisten auf den Plan. Die typische Bestrafung Keus, seine Niederlage und sein Ausscheiden 139
als Sachverwalter der Belange des Hofes ist das narrative Scharnier, welches zuletzt auch die Gauvainfigur ins Spiel bringt. Mit dem oben erwähnten narrativen Potential ist ein generativer Kontrast gemeint, der vor allem an Figurenpaaren in Abenteuerserien abgelesen werden kann, die eine genrebildende Tendenz aufweisen (Don Quijote und Sancho Panza; Sherlock Holmes und Doktor Watson; Donald Duck und Uncle Scrooge). Solche Paare verfügen in Bezug auf die ihnen gestellte Aufgabe über eine aus erzählerischer Sicht fruchtbare Opposition, die nicht nur kalkulierte Pointen und ironische Brechungen ermöglicht, sondern das Streben der Figuren schon durch ihr antagonistisches Agieren (ohne auktoriale Intervention) um die Ebene eines Kommentars vertieft. Auch das gegensätzlich aufgestellte Figurenpaar Gauvain-Keu hat die Lösung jeweils derselben Aufgabe im Blick. Aber im Unterschied zu den zuvor genannten Figurenpaaren, die ihre Abenteuer gemeinsam bestehen und einander dabei ergänzen, ist das Kontrastpaar der arthurischen Hofakteure, »le fiel et le miel«, wie Michelle Szkilnik sie im Bezug auf ihr Sprechen charakterisierte,327 durch das Scharnier des Handlungswechsels miteinander verbunden, wodurch der eine weiterführen und in Ordnung bringen muss, was der andere zuvor in dessen Abwesenheit falsch angefangen hatte. Nicht zuletzt durch diesen Scharniermechanismus kommt es zu einer Verlagerung des Kontrasts, der bei den zuvor erwähnten Paaren eben auf zwei unterschiedliche Figuren verteilt blieb, in die eine Figur Gauvains hinein, der folglich dem Namen und dem Anspruch nach für etwas einstehen muss, was sich mit diesem Anspruch und Namen eigentlich nicht vereinbaren lässt. Daher ist die Gauvainfigur mit einer inhärenten Problematik ausgerüstet, die dem Autor trotz aller Schematik und Beschränkung ein erhebliches Repertoire überraschender Situationen und Pointen erlaubt. Die Figur des Protagonisten der Romane steht aufgrund ihrer personalen Motivation ebenfalls in einem antagonistischen Verhältnis zur Gauvainfigur. Ihre Zielsetzung scheint sich manchmal äußerlich mit der des Hofes zu überschneiden, weshalb es zur Instrumentalisierung des Protagonisten durch den Hof kommt. (Lancelot soll die Königin finden, Perceval soll den Roten aus dem Weg räumen.) Letztendlich sind die Ziele von Protagonist und Hofgesellschaft in den Romanen mit Gauvainqueste jedoch nicht zu versöhnen. (Auch im Chevalier au Lion treten sie trotz des gemeinsamen Ziels der aventure der Gewitterquelle schon gleich zu Anfang dergestalt auseinander, dass der Protagonist selbst zum Rivalen und Gegner der Hofakteure wird.) Wenn die Interessen des Hofes durch das Handeln des Protagonisten nicht en passent mitgelöst werden (was in Erec et Enide und dem Chevalier au Lion noch der Fall ist), zeigen die klassischen Versromane Chrétiens die Gauvainfigur auf einer eigenen Queste in dem Bestreben, die defiziente Situation des Hofes selbst zu beheben, und 327
Szkilnik: Perceval, 1998, S. 76.
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die von der Figur des Protagonisten begangenen Fehlleistungen ebenso wie die Gesamtproblematik der Hofgesellschaft zu rektifizieren. Das Muster lässt sich wie folgt zusammenfassen: 1) Initialkrise, Provokation: Der Artushof hat ein bestimmtes Anliegen oder zeigt sich in einer krisenhaften Ausgangssituation, auf die eine Reaktion erforderlich ist. 2) Stasis, Inertia der Gauvainfigur: Die Ritterschaft reagiert wie gelähmt. Das Nicht-ins-Spiel-Kommen (Passiv-Bleiben) Gauvains verhindert sein rechtzeitiges Einschreiten zugunsten der Interessen des Hofes. Gauvain trifft eine indirekte Mitverantwortung. 3) Negative Intervention Keus: Gauvains Ausbleiben ermöglicht eine negative Intervention Keus, wodurch die Krise eskaliert. 4) Intervention des Protagonisten: Die Provokationen Keus ziehen das Eingreifen des Protagonisten nach sich. Den Protagonisten treibt eine personale Motivation, die trotz Überschneidung nicht mit dem Anliegen des Hofes kompatibel ist. 5) Bestrafung Keus: Keus Strategie scheitert. Der Hofakteur wird vom Pferd geworfen. 6) Intervention Gauvains: Das Ausscheiden Keus in seiner angemaßten Rolle als Sachwalter der Interessen des Hofes zieht den verspäteten Einsatz der von einer gesellschaftskonformen Motivation angetrieben Gauvainfigur nach sich. Aufgrund der ›unbeabsichtigten‹ Mitverantwortung blamiert sich Gauvain, d. h. es kommt zu einem für die Figur typischen, peinlichen Ausrutscher, ohne dass die Figur grundsätzlich in Frage gestellt wird. 7) Rektifikation: In den Romanen mit Gauvainqueste löst Gauvain zentrale Aufgaben, die der Protagonist nicht bewältigt. Das beschriebene Muster mit seinen einzelnen Elementen lässt sich als dynamischer Ablauf veranschaulichen, der am Besten im Bild eines Schwungrades wiedergegeben werden kann. Ausgehend von der utopischen Idealität des Artushofes, die durch einen von außen eindringenden Provokateur als krisenhaft entlarvt wird, führt die negative Intervention Keus zu einer Eskalation, d. h. zunächst einmal zu noch größerer Unordnung anstatt zu neuer Harmonie. Die narrative Dynamik, die durch die Einmischung der Keufigur aufgebaut wird, ruft anschließend den Protagonisten auf den Plan, der zunächst die Keufigur ausschaltet (Bestrafung). Damit ist die aus der Krise resultierende Spannung aber noch nicht abgebaut, sondern lediglich der ungeeignete Sachwalter des Hofes aus dem Verkehr gezogen. Folglich müssen weitere Interventionen zur Wiederherstellung der utopischen Harmonie erfolgen. In den Romanen mit Gauvainqueste, die ja hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, wird zunächst die Figur des Protagonisten durch die Dynamik der Ereignisse ange141
trieben. Diese Figur erweist sich jedoch aufgrund einer personalen Motivation als ungeeignet für die Lösung der Problematik des Hofes, weshalb zuletzt die Intervention der Gauvainfigur erforderlich wird, die – noch immer angetrieben von der ursprünglichen Problematik – nach einer Rektifikation der Missverhältnisse strebt und schlussendlich die utopische Harmonie erst herstellt, die schon zu Anfang der Erzählung vorgespiegelt wurde. Die narrative Dynamik, die der Erzähler aus dem Ineinandergreifen der einzelnen Elemente heraus generieren kann, führt also von der Harmonie über die Krise (Eskalation, Unordnung) durch mehrfache, konträre Interventionen zurück zur Harmonie: Utopische Harmonie des Hoffestes
Rektifikation der Hofproblematik
Provokation Offenlegung interner Krise Stasis / Inertia Gauvains (Mitverantwortung)
ggf. ›Ausrutscher‹ Intervention Keus (Spott, Eskalation) Intervention Gauvains (hofkonforme Motivation)
Intervention des Protagonisten (personale Motivation) Bestrafung Keus (Pferdabwurf)
Die Graphik ist als Wiedergabe der Erzähldynamik zu verstehen. Sie ist kein Strukturschema. Im Einzelfall des jeweiligen Romans kann nämlich die Abfolge des Einsatzes einzelner Figuren durchaus variieren. (So folgt, wie zuvor beschrieben, in der Charrette auf Keus Bestrafung die Intervention der Gauvainfigur gleichzeitig mit der des Protagonisten, was aber auch dort nichts an den Funktionen der Figuren oder den Dynamiken ändert, die ihr Handeln auslösen und steuern.) An obenstehender Graphik lassen sich daher keine ›Stationen‹ des Romangerüstes ablesen, sondern die in den dynamisierenden Prozessen der Handlung wirksamen, treibenden oder hemmenden Funktionen der Erzählung. Wenngleich die einzelnen Initialkrisen der Romane viele unterschiedliche Aspekte der Gefährdung der höfischen Utopie erkennen lassen, so dürfte sich Gauvains rektifizierendes Handeln vor allem auf das Geschlechterverhältnis beziehen, welches bei Chrétien offenbar eine Kernproblematik der höfischen Gesellschaft darstellt. Wie schon in Erec et Enide (Warnung vor den aus dem costume des beisier entstehenden Spannungen), in der Charrette (Rückführung 142
der Königin zu ihrem Gemahl) und im Chevalier au Lion (Warnung des Protagonisten vor recreantise) stehen auch die Handlungen Gauvains im Conte du Graal im Zusammenhang mit einem prekären Ungleichgewicht im Geschlechterverhältnis. Während die jeweiligen Protagonisten der Romane Chrétiens ihre personalen Ziele verfolgen, die z.B. das Erlangen einer Partnerin beinhalten und immer zu einer Isolation vom Hof führen, strebt die Gauvainfigur nach einem harmonischen Gleichgewicht von Geschlechterbeziehung und Gesellschaft in der höfischen Gemeinschaft.
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III
Rezeption und Entwicklung der Gauvainfigur in mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Versromanen
Haben die mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Autoren die Funktion der Gauvainfigur bei Chrétien erkannt, und haben sie vielleicht sogar das besprochene Interaktionsmuster der Romane Chrétiens de Troyes übernommen oder weiterentwickelt? Das soll in diesem Kapitel an ausgewählten Texten überprüft werden. Wenn von »niederländischen« und »deutschen« Autoren die Rede ist, versteht es sich übrigens von selbst, dass, »die Termini [...] für das Mittelalter anachronistisch sind«,1 dass also die damaligen Sprachregionen ebenso wenig wie die Gebiete literarischen, kulturellen und wirtschaftlichen Austausches entlang moderner, nationalstaatlicher Grenzen verliefen. Gottfrieds von Straßburg Einlassung, dass der limburgische Dichter Hendrik van Veldeke der erste höfische Epiker im deutschsprachigen Kulturraum gewesen sei, reflektiert ja, dass das niederländische Sprachgebiet »in seiner Vermittlerfunktion zwischen dem Französischen und den mittelalterlichen deutschen Schreibsprachen eine gebende Rolle« spielte.2 Wie diese aussah, ist leider insbesondere für die Blütezeit der höfischen Literatur noch weitgehend ungeklärt. Die modernen Bezeichnungen für die beiden Sprachen sollen aber trotzdem aufgrund ihrer allgemeinen Gebräuchlichkeit in dieser Studie zur Unterscheidung genutzt werden. Es liegt nahe, dass die Rezeption der Erzählstrategie Chrétiens im mittelniederländischen und mittelhochdeutschen Literaturgebiet um 1200 auf andere kulturelle Voraussetzungen stoßen musste als ihre Produktion im französischen Literaturgebiet. An erster Stelle sind dabei an ein kulturelles Umfeld und an ein Publikum zu denken, die die französischen Impulse erst rezipierten und von daher nicht auf Augenhöhe mit der französischen, höfischen Kultur und seiner Literatur kommunizierten. Dieser Umstand musste Konsequenzen für den Umgang mit dem französischen Quellenmaterial haben. René Perennec hat etwa vom »processus d’acculturation« und insbesondere von einer »acclimatation« der französischen Artusliteratur in Deutschland gesprochen.3 Diese habe 1 2 3
Die spätmittelalterliche Rezeption niederländischer Literatur im deutschen Sprachgebiet. Hrsg. von Rita Schlusemann, Paul Wackers. ABäG 47 (1997), Einleitung, S. 1. S. Anm. 1. Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. I, vgl. S. III und IV. Isolde Neugard: Wolfram, Chrétien und das Märchen. Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Bd. 1571. Frankfurt a.M. 1996 kritisierte die Studie von René Pérennec, weil er unter Berufung auf Jean Fourquets Begriff der adaptation courtoise »den soziokulturellen Raum erfassen« wolle, in den hinein die französischen Vorlagen adaptiert worden seien, »ohne dieses soziokulturelle Umfeld jedoch bestimmen zu
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darin bestanden, dass an die Stelle souveränen Spiels mit den beim französischsprachigen Publikum bestens eingeführten Konventionen einerseits das Streben nach genauer und zuverlässiger Quellenübernahme, nach Ausarbeitung und Vereindeutigen des weniger Vertrauten trat, andererseits aber auch eine »déconcretisation du récit« an jenen Stellen,4 wo der Bearbeiter Vorgaben einer Quelle für ein Publikum aufbereiten musste, dessen soziohistorisches Umfeld (noch) keine Anknüpfungspunkte beziehungsweise keinen ausreichenden Verständnishorizont bot. Das Bearbeitungsverfahren bestand überdies in einer Einarbeitung lokaler, sozioökonomischer oder politischer Umstände, wie Johan Winkelman an der Scavaloen-Episode in den mittelniederländischen Perceval-Fragmenten gezeigt hat.5 Silvia Ranawake charakterisiert den Trend der Umsetzung französischer Literatur in die germanischen Volkssprachen so: »Attempts to clarify lead to shifts in emphasis, to a reinterpretation and recasting of the material. This rationalization results in a more ›logical‹ rearrangement of the material and closer attention to motivation, often in the form of interior monologues.«6 Tatsächlich sollte unter diesen Voraussetzungen die Figurendarstellung der Artusliteratur in den nicht-französischen Romanen zunächst in den Sog einer Typisierung, einer stärkeren Betonung des schon im Gattungswissen des Publikums Verankerten geraten. Das ging zu Lasten jener auktorialen Souveränität, mit der Chrétien die mündliche Überlieferung kritisieren und das schon
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können, noch es zu wollen« (Neugard: Märchen, 1996, S. 90). Der Begriff adaptation courtoise, den Fourquet: Récueil d’études, réunis par Danielle Buschinger et Claude Vernon. Bd. I u. II. Paris 1980, als Term für das Verfahren der Bearbeitung altfranzösischer Stoffe durch die mittelhochdeutschen Dichter einführte, bedeutete für ihn eine »Aufhöfischung« der Vorlagen (Fourquet. Bd. I, S. 162), d. h. eine Bearbeitungstendenz, die in erster Linie in der sprachlichen Übertragung, Vereindeutigung und rhetorischen Ausschmückung von im Wesentlichen unverändert beibehaltenen Inhalten und Sinnangeboten der Vorlagen bestand. Die Studie Pérennecs ist im II. Kapitel bereits zitiert worden, dort ohne Hinweis auf diese Diskussion, weil sich seine dort zitierten Ergebnisse lediglich auf die französischen Texte Chrétiens bezogen, wo der Ansatz der adaptation courtoise als Bearbeitungsverfahren nicht zum Tragen kam. Auch für die nun anschließenden Untersuchungen bleibt die Studie eine wertvolle Quelle, da sie eine akribische, textimmanent gewonnene Beschreibung der mittelhochdeutschen Fassungen und ihrer Unterschiede zu den Vorlagen darstellt. Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. I, S. 11. Johan H. Winkelman: ›Chrétien de Troyes, Perceval und die Niederlande. Adaptation als didaktisches Verfahren‹, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium am Deutschen Historischen Institut, Paris 16. – 18.03.1995. Hrsg. von I. Kasten, W. Paravicini, R. Pérennec. Beihefte der Francia, 43. Sigmaringen 1998, S. 245–258, vgl. S. 253 u. S. 258. Eine Übersicht über die Adaptationen altfranzösischer Artusliteratur durch mittelniederländische Autoren und die dabei erkennbaren Bearbeitungstendenzen gibt Bart Besamusca: ›The Medieval Dutch Arthurian Material‹, in: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hrsg. von W.H. Jackson, S. A. Ranawake. Arthurian Literature in the Middle Ages, III. Cardiff 2000, S. 187–228. Silvia Ranawake: ›The emergence of German Arthurian Romance: Hartmann von Aue and Ulrich von Zatzikhoven‹, in: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hrsg. von W.H. Jackson, S. A. Ranawake. Arthurian Literature in the Middle Ages, III. Cardiff 2000, S. 38–53, S. 40.
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bei Wace vorbildlich gedachte, höfische Ensemble immer wieder in ironische Distanz rücken konnte. Der Vereindeutigungsprozess zeigt sich insbesondere bei Hartmann von Aue, der die Figuren Gawein und Keie ihrer ursprünglichen Funktionalität entkleidete und mit dem Ziel größerer Plausibilität psychologisierte (vgl. Abschnitt III. 2.1.2 und III. 2.2.2). In Wolframs von Eschenbach Parzival wird diese Abkehr von der Funktionalität tendenziell wieder zurückgenommen. Doch sein freierer Umgang mit dem Material und sein größeres, auktoriales Selbstbewusstsein führte trotzdem zu einer erheblichen Verschiebung der Motivation der Handlungen, womit die Funktionselemente ihres ursprünglichen Kontextes enthoben werden. Bei Wolfram deutet sich erstmals die Emanzipation der Gawanfigur als Protagonist an (vgl. III. 3.2.2 – III. 3.2.3). In den postklassischen Versromanen, die hier zur Untersuchung herangezogen wurden, wird sich dieser Emanzipationsprozess noch fortsetzen, denn es wird dort eine Gaweinfigur gestaltet, zu der nun auch die den Konventionen des klassischen Genres zuwiderlaufende Verheiratung und der Besitz einer eigenen Domäne gehören. Die Walewein- bzw. Gaweinfigur wird jetzt als Romanheld entworfen, der den Protagonisten der ›Klassiker‹ in nichts nachsteht. Diese Erzählstrategie führte unausweichlich zu Kausalitätsproblemen, weil der nachklassische ›Protagonist‹ Gawein Verhaltensmuster darstellen musste, die mit seiner präformierten Rolle als ›Hofakteur‹ in den klassischen Versromanen konfligieren. Erstaunlicherweise zeigen aber gerade die postklassischen Romane trotz (oder vielleicht gerade wegen) der Emanzipation der Gaweinfigur wieder sehr viel eindeutiger als die Bearbeitungen Hartmanns oder Wolframs das typische Erzählmuster aus Chrétiens Romanen. Infolge der Umgestaltung der Walewein- bzw. Gaweinfigur müssen sowohl Penninc und Pieter Vostaert als auch Heinrich von dem Türlin erheblich narrative Paradoxa in Kauf nehmen, die sie je auf andere Weise angehen. Während die Mittelniederländer sich für eine defensive Erzählstrategie des Verschleierns entschieden (vgl. z.B. III. 4.1.2), ging Heinrich in die Offensive und führte seinem Publikum die Brüche explizit vor Augen (vgl. z.B. III. 4.2.2.2). Der Entwicklungsprozess zur postklassischen Artusliteratur hat aus verschiedenen Gründen zu einer Aufwertung der Gauvainfigur geführt. Schmolke-Hasselmann belegt für die altfranzösische Literatur das Empfinden der Autoren, dass es aufgrund Chrétiens Unterlassung an einem Gauvainroman mangele. Dort wird »die Beschäftigung mit Gauvain [...] ein bewußter Akt; bisher Versäumtes wird nachgeholt.«7 Cormeau vermutete, diese Tendenz eines wachsenden Interesses an der Figur habe auch die Auswahl der Protagonistenfigur im einzigen deutschen Gaweinroman, Heinrichs von dem Türlin Crône motiviert.8 Ein anderer Grund für das Interesse an der Gauvainfigur mag in 7 8
Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 87. Christoph Cormeau: ›Zur Gattungsentwicklung des Artusromans nach Wolframs Parzival‹, in:
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einem Legitimationsbedürfnis neuer Stoffe durch bekanntes Personal bestanden haben. Das könnte z.B. für den Roman van Walewein gelten. Wenn man nicht neue, noch unbekannte Figuren beim Publikum einführen wollte, was ja vor allem im mittelhochdeutschen Literaturgebiet die vorherrschende Tendenz nachklassischen Erzählens darstellt, lag es nahe, sich den Hofakteuren zuzuwenden, und aus ihrer Mitte einen Akteur als Zentralfigur auszuwählen. So konnte einerseits das Bedürfnis nach neuen, eigenen Stoffen und Geschichten bedient, andererseits aber doch eine relativ enge Bindung an Gattungswissen und Stofftradition aufrecht erhalten werden, indem das Typische dieses Personals mit vermehrtem Nachdruck hervorgekehrt und dem Publikum als Ausweis der ›arthurischen‹ Qualität einer ursprünglich nicht-arthurischen Erzählung präsentiert wurde. Folgt man Cormeau, so qualifizierte sich Gauvain für diese Aufwertung insbesondere durch eine ›Biographielosigkeit‹, da er als Figur offen konzipiert und auf kein finales Ziel hin orientiert sei. Als eine Figur, die per definitionem immer siegreich zum Artushof zurückkehrt, sei er den nachklassischen Autoren für ihre zyklisch angelegten, also ebenfalls nicht eigentlich finalisierten Stoffe für die Rolle des ›Helden‹ besonders geeignet erschienen.9 Eine solche Verlagerung der Gewichte durch die Aufwertung Gauvains zum zentralen Protagonisten konnte andererseits nicht ohne Auswirkungen auf das von Chrétien vorgegebene Erzählverfahren vonstatten gehen, mithilfe dessen der französische Meister die Einsätze und Interaktionsmuster seiner Figuren koordiniert hatte. Die einschneidendste Veränderung besteht hier im Wegfallen des ›eigentlichen‹ Protagonisten, der ja Chrétien immer als ein Gegenpart zu dem Hofakteur Gauvain zur Verfügung gestanden hatte, und auf dessen Handeln die Gauvainfigur in den altfranzösischen Romanen antagonistisch reagierte. Mit dem Wegfallen eines Protagonisten entfiel keineswegs »überraschend«10 das Element der ›personalen‹ Krise, die die strukturalistische Forschung an Figuren wie Erec oder Yvain so ausführlich studiert hatte. Damit war die im vorigen Kapitel erwähnte Handlungszweiteilung in die Bewältigung der Krise des Hofes einerseits und die des Protagonisten andererseits für die postklassischen Autoren nicht mehr brauchbar. Zurück blieb aber nach wie vor die Ursprungskrise der
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Spätmittelalterliche Artusliteratur. Ein Symposion der neusprachlichen Philologien auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft Bonn, 25.–29. September 1982. Hrsg. von K.H. Göller. Beiträge zur Englischen und Amerikanischen Literatur. Bd. 3. Paderborn u. a. 1984, S. 119–131, S. 123. Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 206. Cormeau: Gattungsentwicklung, 1984, S. 122. Überraschen kann der Wegfall der personalen Krise deshalb nicht, weil Gauvain eben bereits bei Chrétien mit einer hofkonformen Motivation ausgerüstet war, die nicht darauf abzielte, eine personale Entwicklungsgeschichte durch Beheben einer personalen Defizienz zu erzählen, sondern im Gegenteil durch die Behebung einer Defizienz der Hofgesellschaft die Rektifikation einer Störung des arthurischen ordo. So erzählen auch die postklassischen Romane nach wie vor von einer der beiden Krisen des klassischen Romans, aber eben von der des Hofes, also von der Initialkrise, die die Handlung in Gang setzt.
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Hofgesellschaft, die das Romangeschehen stereotyp eröffnet. Auch die Interaktion zwischen einem Protagonisten und der Keufigur konnte in den postklassischen Romanen nicht fortgesetzt werden, insbesondere deshalb nicht, weil der nachgerückte ›Protagonist‹ Gawein die typische Funktion des Bestrafens durch Pferdabwurf aufgrund seiner präformierten Rolle als Hofakteur nicht übernehmen durfte (vgl. II. 2). Die späteren Autoren waren gezwungen, für eine ganze Reihe von typischen Mustern der klassischen Romane neue Verwendungen oder andere Lösungen finden. Wie im Anschluss noch zu zeigen ist, konnten solche Lösungen sehr unterschiedlich aussehen, denn während Penninc und Pieter Vostaert die Rolle der Keufigur im Roman van Walewein fast zu einem blinden Motiv marginalisierten, hat umgekehrt Heinrich von dem Türlin nicht nur die Rolle Keus, sondern auch das eng mit dieser Figur zusammenhängende Interaktionsmuster von Provokation, Eskalation, Strafe und Rektifikation zu einer eigenen Romanhandlung von mehreren tausend Versen ausgeweitet. Gerade bei Heinrich wird man dabei feststellen können, dass das narrative Schwungrad Chrétiens die erzählerische Dynamik der Crône durch wiederholte Anläufe erzeugt. Bei aller Unterschiedlichkeit werden aber auch Gemeinsamkeiten beider hier untersuchter, postklassischer Stoffe sichtbar werden, die sich aus den Hauptmerkmalen des Erzählverfahrens Chrétiens herleiten lassen. Als die wesentlichste Gemeinsamkeit ist nach wie vor die Funktion der Initialkrise als Moment der Offenlegung interner Defizienzen der Hofgesellschaft zu nennen, die – ebenfalls in Übereinstimmung mit Chrétien – in beiden Romanen zunächst nicht adäquat von der Figur Waleweins bzw. Gaweins beantwortet wird, da dieser Hofakteur auch in den postklassischen Romanen noch immer durch die typische Inertia gekennzeichnet ist. In der Tat bestehen die Gemeinsamkeiten der von der Forschung oft als positiv charakterisierten, nachklassischen Gawein- bzw. Waleweinfigur mit der Gauvainfigur Chrétiens eben doch in dessen mitunter prekären ›Aussetzern‹ und in seiner indirekten Mitverantwortung für die Krisensituation. Insgesamt soll die vorliegende Studie erweisen, dass in den mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Texten trotz aller kultureller Unterschiede und zunehmender Eigenständigkeit die fundamentalen Erzählmuster des von Chrétien geprägten Genres selbst dann noch aufscheinen, wenn die Struktur der nicht-französischen Erzählung eigentlich kaum mehr mit der matière de Bretagne oder mit den bekannten inhaltlichen Konventionen des Genres vereinbar war. Bevor all dies im Detail erörtert werden kann, zunächst wieder ein Blick auf die Texte, die für Untersuchung ausgewählt wurden sowie auf das weitere Verfahren.
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III.1 Auswahlkriterien Zunächst einige Vorüberlegungen. Es liegt auf der Hand, dass ›spezifische‹ intertextuelle Bezüge, die bloß auf genauer Übernahme von Motiven einer bestimmten Vorlage beruhen, lediglich für das Verfolgen eines Rezeptionsweges in Frage kommen, während sogenannte ›generische‹,11 d. h. Übereinstimmungen, die sich keiner direkten Quelle, sondern dem gemeinsamen Gattungszusammenhang aller arthurischen Versromane des hohen Mittelalters verdanken, als Indikator dafür gelten können, ob sich ein Erzählmodell in der Weiterentwicklung der Gattung tatsächlich bewährte, ob es modifiziert oder abgestreift wurde. Trotzdem steht am Anfang dieses Kapitels eine Besprechung der mittelhochdeutschen Bearbeitungen Hartmanns, der Erec- und der Iweinroman sowie der Parzival Wolframs von Eschenbach. Offene und verdeckte Anspielungen von Autoren wie Wolfram oder Heinrich von dem Türlin belegen nämlich, dass Stoffe wie z.B. der Erec im deutschen Sprachraum im 13. Jh. vorrangig über die mittelhochdeutsche Fassung Hartmanns rezipiert wurden. Folgende Einlassung Heinrichs von dem Türlin verdeutlicht dies: Ob ich das rein gesinde, Daz mit dem sælden kinde, Dem chunig Artvs, was, Als ich ez vil ofte las An Ereken, nande, Den von der Swaben lande Vns braht ein tihtær, Jch weiz wol, daz ez waer Vberich vnd vnlobelich. Vmb die red so han ich Di vngenanten genant, Di vil leiht vmbechant Meister Hartman waren. 12
[V.2348–2360]
[Wenn ich das ritterliche Kernpersonal aufzählte, das sich um König Artus, das Kind der Sælde gruppiert, wie ich es oft im Erec gelesen habe, der von einem Dichter aus dem Schwabenland für uns übersetzt wurde, so wäre ich mir darüber im klaren, dass dies überflüssig und wenig verdienstvoll wäre. Aus diesem Grund habe ich nur diejenigen aufgeführt, die (bisher) ungenannt blieben, vielleicht deshalb weil Meister Hartmann sie nicht gekannt hat.] 11 12
Paul Claes: Echo’s Echo’s. De kunst van de Allusie. Amsterdam 1980, vgl. die Definitionen S. 206 u. 209. Die Verse 1 – 12281 der Crône Heinrichs von dem Türlin werden nach der Ausgabe von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner: Heinrich von dem Türlin, Die Krone. Tübingen 2000 zitiert. Dieser Ausgabe liegt als Leithandschrift die Wiener Hs. V aus dem frühen 14. Jahrhundert zugrunde. Für den zweiten Teil konnte zuletzt doch noch von der Ausgabe von Alfred Ebenbauer und Florian Kragl: Heinrich von dem Türlin Die Krone (Verse 12282–30042) nach der Handschrift Cod. Pal. Germ. 374 der Universität Heidelberg nach Vorarbeiten von F. P. Knapp und K. Zatloukal. Tübingen 2005, Gebrauch gemacht werden.
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Heinrich beruft sich also auf Hartmanns Ritterkatalog [vgl. Erec V.1628–97], der dem deutschen Publikum wesentlich besser bekannt gewesen sein dürfte als etwa der in der französischen Vorlage [vgl. Chrétiens Erec et Enide V.1667– 1706].13 Ähnliche Beispiele für eine Rezeption der klassischen Artusliteratur über die Versromane Hartmanns lassen sich auch bei Wolfram finden. Es ist wohl davon auszugehen, dass das Gattungswissen der Rezipienten im deutschen Sprachgebiet ganz überwiegend auf die mittelhochdeutschen Bearbeitungen bezogen war, während direkte Kenntnisse der französischen Vorlagen Chrétiens – von denen mit Ausnahme von Erec et Enide, der Charrette und des Conte du Graal nicht gesichert ist, ob Heinrich sie verwendet hat14 – allenfalls bei einer sehr kleinen Minderheit vorausgesetzt werden dürfen.15 Mit seiner exzellenten Kenntnis der französischen Literatur sei Heinrich jedenfalls »unter den deutschen Epikern des Mittelalters völlig konkurrenzlos.«16 Insofern kann auch die Vorlage für das Gauvainbild des deutschen Publikums und der deutschen Autoren nicht einfach direkt aus den französischen Quellen allein eruiert werden, sondern es sind Anpassungen und Einflüsse der Bearbeitungen zu berücksichtigen. Trotzdem hoffe ich zu erweisen, dass es, anders als Peter Stein ausführte, durchaus Anlass gibt, »Heinrichs Werk den französischen Artus- oder Gralromanen [...] gegenüberzustellen«, da diese eben nicht einer so »wesentlich andersgearteten Poetik« unterlägen,17 dass nicht doch Gemeinsamkeiten bezüglich genretypischer Erzählverfahren zwischen beiden erkennbar wären (vgl. u. a. III. 4.2.3.2). Nebenbei sei angemerkt, dass, obwohl Penninc und Pieter Vostaert immer mal wieder von einer (fiktiven?) französischen Quelle sprechen (vgl. RvW 11141: Ons orcont die walsce tale),18 auch in der mittelniederländischen
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Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 209f., wies darauf hin, daß Heinrichs Katalog trotz seiner gegenteiligen Behauptung eben doch größtenteils mit Chrétiens und Hartmanns Liste der Festteilnehmer übereinstimme. Vgl. dazu insbesondere die akribische Untersuchung von Peter Stein: ›Integration – Variation – Destruktion. Die Crône Heinrichs von dem Türlin innerhalb der Gattungsgeschichte des deutschen Artusromans.‹ Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. Bd. 32. Bern 2000, hier u. a. S. 32, Anm. 63 und S. 35–41. Vgl. Christine Zach: Die Erzählmotive der Crône Heinrichs von dem Türlin und ihre altfranzösischen Quellen. Passauer Schriften zur Sprache und Literatur. Bd. 5. Passau 1990, hier S. 376f., S. 381 u. S. 386. Vgl. auch auch Fritz Peter Knapp: ›Heinrich von dem Türlin. Literarische Beziehungen und mögliche Auftraggeber, dichterische Selbsteinschätzung und Zielsetzung‹, in: ›Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 145–187, S. 146, der eine umfangreichere Liste altfranzösischer Vorlagen für gesichert hält. Stein: Integration, 2000, S. 151 ist sich sicher: »es gibt keinerlei Anzeichen für eine Bekanntschaft des deutschen Publikums mit der französischen Originalliteratur.« S. Anm. 15. Stein: Integration, 2000, S. 151f.. Der Roman van Walewein wird zitiert nach der zweiten, verbesserten Ausgabe von David F. Johnson, Geert H.M. Claassens: Roman van Walewein. Dutch Romances Volume, I. Arthurian Archives, VI. Cambridge 2000.
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Artusliteratur eine ähnliche Tendenz vorgeherrscht haben könnte, Chrétiens Stoffe aus bereits vorhandenen, eigensprachlichen Bearbeitungen zu rezipieren. Bart Besamusca meint, es sei »nicht unwahrscheinlich, dass diese Übersetzung [die mittelniederländische Bearbeitung des Conte du Graal] als Vermittler bei den ›Perceval‹-Hinweisen eine Rolle gespielt hat, die uns in einer beträchtlichen Anzahl von Dichtungen des 13. Jahrhunderts in den Niederlanden begegnen.«19 In der anschließenden Aufzählung nennt Besamusca freilich Stoffe, die erst nach dem Roman van Walewein entstanden. Dagegen schließt Winkelman eine ältere Fassung der mittelniederländischen Conte-du-Graal-Bearbeitung nicht aus, die den Lütticher Fragmenten vorausgegangen und vor 1250 entstanden sein müsste, was zeitlich näher an den Roman van Walewein herankäme.20 Auch Hartmut Beckers hielt die »Möglichkeit, daß schon im ausgehenden 12. Jahrhundert [...] im niederländisch-niederfränkischen Sprachraum [...] arthurische Stoffe literarisch gestaltet worden sind« aufgrund neuerer Funde für »nicht mehr ganz so hypothetisch wie zuvor.«21 Damit wäre eine Grundlage für die weitere Rezeption der Stoffe aus Quellen in der mittelniederländischen Volkssprache im Nordwesten immerhin denkbar. Soetje Ida Oppenhuis de Jong weist wiederholt darauf hin, dass der mittelniederländische Perchevael als Teil der sogenannten Lanceloet-Compilatie, einer im 14. Jh. entstandenen mittelniederländischen Versbearbeitung des französischen Lancelot en Prose, eben nicht auf Chrétiens Conte du Graal, sondern auf der mittelniederländischen Perceval-Bearbeitung aus dem 13. Jh. beruhe.22
Diese Überlegungen begründen, warum vor einer Untersuchung der Gauvainfigur in der postklassischen, mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Artusliteratur eben doch zunächst die primären Bearbeitungen der Chrétien’schen Vorlagen in den Blick genommen werden müssen, auch wenn hier mit direkter Übernahme von Erzählmotiven zu rechnen ist, die im Zweifel nur als Beleg für eine getreuliche Fortsetzung oder das Abstreifen eines Erzählverfahrens zugunsten einer anderen Figurenkonzeption dienen kann. Die Betrachtung der Versromane Hartmanns und Wolframs zielt darauf ab, die relevanten Übereinstimmungen oder Abweichungen gegenüber Chrétien zu bestimmen und zu bewerten. Hinsichtlich der mittelniederländischen Conte du Graal Adaptation, von der leider nur wenige Fragmente von nur ein paar hundert Versen zur Gauvainhandlung erhalten sind, wird auf eine eigene Betrachtung ganz verzichtet, weil Analyse und Interpretation unweigerlich auf Spekulationen hinauslaufen müssten.
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Besamusca: Mütter und Söhne, 2002, S. 19. Winkelman: Perceval und die Niederlande, 1998, S. 246. Hartmut Beckers: ›Wolframs Parzival und der Nordwesten. Neue Ansätze zur Lösung einer alten Streitfrage‹, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift Werner Schröder. Hrsg. von, K.Gärtner, J.Heinzle. Tübingen 1989, S. 211–223, S. 218. Soetje Ida Oppenhuis de Jong: De Middelnederlandse Perceval-Traditie. Hilversum 2003, vgl u. a. S. 8 und S. 102f.
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Bezüglich der Frage, welche postklassischen Versromane für die Untersuchung in Frage kommen, haben verschiedene Erwägungen eine Rolle gespielt. Zum einen sollte Gawein in der Rolle des Protagonisten auftreten. Zum anderen sollten die gewählten Texte möglichst weit voneinander ›entfernt‹ sein, indem der verarbeitete Stoff inhaltlich über die direkte Bearbeitung einer klassischen Vorlage hinausgehen sollte, so dass sich das kulturell Eigenständige der nichtfranzösischen Erzähler sowohl im Inhalt als auch in der Struktur niederschlagen konnte. Erst diese Kriterien garantieren ja, dass, falls sich noch Überschneidungen mit Chrétiens Erzählmustern fänden, diese nicht bloß durch Übernahme vorgegebener Geschichten ›unversehens‹ in den Text hineingerieten. Die Signifikanz von eventuellen Gemeinsamkeiten zwischen den Erzählmustern klassischer und postklassischer Stoffe ist selbstverständlich größer, wenn die späteren Autoren das Chrétien’sche Muster gegen die narrativen Vorgaben ihres neuen Stoffes realisieren mussten. Insbesondere der Roman van Walewein bot sich hier an, da diesem, wie Maartje Draak in ihrer berühmten Studie aufgezeigt hat, eine Märchenstruktur zugrunde liegt, die sie dem Typ Aarne Thompson 550 zuordnete,23 und die modernen Lesern etwa durch Grimms Märchen vom Goldenen Vogel bekannt ist. Für den anderen gewählten, postklassischen Romane, Diu Crône Heinrichs von dem Türlin, die gelegentlich schon als »Summa des literarischen Traums von einer idealhöfischen Welt« bezeichnet wurde,24 gilt zwar, dass »kein anderer mhd. Roman [...] ein derart vielfältiges Quellenmaterial« voraussetzte, dass aber zugleich, wie Ulrich Wyss formulierte, keiner »etwas so eigenartig Neues« daraus bastelte.25 Wie Penninc und Vostaert hat also auch Heinrich viele seiner Geschichten nicht selbst erfunden, aber »wo immer Heinrich Motive, Szenen, Personen aus vorgefundener Literatur übernommen hat, hat er sie gründlich verändert, seinen Absichten und Zwecken dienstbar gemacht und den ursprünglichen Sinn nicht selten ins Gegenteil verkehrt.«26 Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass die beiden postklassischen Romane, der Roman van Walewein und Diu Crône, auch untereinander keinerlei direkte Verwandtschaft etwa dergestalt aufweisen, dass der eine Roman als (eine der) Quelle(n) des anderen gedient haben könnte. Wohl wird die Abfassung beider Texte vorbehaltlich der bestehenden Unsicherheiten in ungefähr denselben Zeitraum datiert. Die Crône, die nicht mit letzter Sicherheit einer geographischen Region zugeordnet werden konnte, wenngleich Knapp die mögliche Gön-
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Maartje Draak: Onderzoekingen over de Roman van Walewein (Met aanvullend hoofdstuk over ›Het Walewein-onderzoek sinds 1936‹). Groningen, Amsterdam 1975 (1. 1936). Schröder: Herstellungsversuche, 1996, I. Teil, S. 7. Ulrich Wyss: ›Heinrich von dem Türlin: Diu Crône‹, in: Interterpretationen mittelhochdeutscher Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993, S. 271–292, S. 272. Schröder: Herstellungsversuche, 1996, II. Teil, S. 8.
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nerschaft des Grafengeschlechts Andechs-Meran in Betracht zieht,27 und laut Jillings ihr Entstehungsgebiet »wahrscheinlich in Kärnten, in der Nachbarschaft von Friaul« zu suchen ist,28 wird u. a. anhand der Erwähnung von Hartmanns Tod und der Nennung im Katalog des Alexander von Rudolf von Ems in die Zeit nach 1210 und vor 1240 datiert,29 während der Roman van Walewein von der Forschung aufgrund des Dialekts beider Autoren geographisch im flandrischen Raum angesiedelt und, in unsicherem Rückschluss auf die Stofftradition, in die Zeit nach 1230 datiert wird.30 Die beiden Romane liegen also zeitlich relativ nahe bei-, geographisch aber verhältnismäßig weit auseinander. Auch aus dieser Perspektive wäre es also relevant, wenn sich zwischen den Interaktionsmustern der Gawein- bzw. Waleweinfigur beider Romane Überschneidungen oder Gemeinsamkeiten aufzeigen ließen.
III.2 Gawein (Walwan) bei Hartmann von Aue III.2.1 Gawein im Erec Die beiden Romane Hartmanns von Aue, die zunächst kurz betrachtet werden, beruhen auf den französischen Vorlagen von Chrétien de Troyes. Dies gilt insbesondere für den Iwein, den de Boor als »wirkliche Übersetzung« bezeichnete,31 obwohl Günther Schweikles hervorhebt, dass Hartmann auch bei
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Knapp: Heinrich von dem Türlin. Literarische Beziehungen, 1981, vgl. u. a. S. 151 und 173. Vgl. auch Cristoph Cormeau: ›Heinrich von dem Türlin‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 3. Hrsg. von Kurt Ruh. Berlin/New York 1981, Sp. 894–899, hier Sp. 894f.. Lewis Jillings: ›Heinrich von dem Türlin. Zum Problem der biographischen Forschung‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 87–102, S. 96. Vgl. Stein: Integration, 2000, vgl. S. 143–147, der übrigens gegen Cormeaus »Plädoyer für 1230« im Verfasserlexikon (Bd. 3, Sp.895) die frühe Datierung auf kurz nach ca. 1210 favorisiert (vgl. auch Abschnitt III. 4.2.3.1). Zur geographischen Herkunft vgl. u. a. E. van den Berg: ›Genre en Gewest: de geografische spreiding van de ridderepiek‹, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 103 (1987), S. 1–36, hier S. 15. Hinsichtlich der Datierung, die in jüngster Zeit noch heftig diskutiert wurde, im Rahmen dieser Untersuchung jedoch keine bedeutende Rolle spielt, folge ich Bart Besamusca: Walewein, Moriaen en de Ridder metter mouwen. Intertekstualiteit in drie Middelnederlandse Arturromans. Hilversum 1993, S. 33–35, der einen Terminus post quem von 1230 nach Abwägen der wichtigsten Argumente für sehr wahrscheinlich erachtet. Helmut de Boor, Richard Newald: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. II. Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170–1250. München 1964 (1. 1953), S. 80. Gudrun Haase: Die germanistische Forschung zum Erec Hartmanns von Aue. Europäische Hochschulschriften, Reihe I. Bd. 1103. Frankfurt 1988, referiert die Forschungsdiskussion zu den Quellen des Erec (vgl. u. a. S. 102–114) und stellt fest (S. 103), es gelte seit 1898 als allgemein gesichert, »dass Chrétiens Text als Quelle für den Erec Hartmanns anzusehen ist.«
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der Bearbeitung dieses Romans »über ein Viertel seines Werkes [...] unabhängig von seinem Vorbild aus anderen Quellen ergänzt oder aus eigenem hinzugefügt« hat.32 Insbesondere hinsichtlich des Erecromans sind aufgrund einer Reihe von Freiheiten im Umgang mit der französischen Vorlage häufiger Zweifel daran geäußert worden, »ob wirklich Chrestien seine [d. h. Hartmanns] Quelle, mindestens seine einzige Quelle wäre.«33 Die Abweichungen betreffen immerhin etwas mehr als 3000 Verse, die Hartmann den bei Chrétien vorgefundenen knapp 7000 hinzugefügt hat. Ruh und Kellermann stimmten darin überein,34 dass diese sich überwiegend auf die Figur des Protagonisten Erec und die seiner Partnerin Enite, auf das Ereignis des Turniers nach der Hochzeit des Paares, auf Enites Pferd und auf den Zweikampf mit Mabonagrin bezögen. Die Gaweinfigur selbst wird von den Änderungen weniger berührt. (Auf signifikante Ausnahmen und deren Bewertung ist gleich zurückzukommen.) Das bedeutet, dass für Gawein in beiden Romanen mit ähnlichen Handlungselementen und Interaktionsmustern zu rechnen ist, wie sie bei Chrétien beobachtet und im Nachvollzug der Vorlage vom mittelhochdeutschen Bearbeiter importiert wurden. Die nachfolgenden Betrachtungen der Texte Hartmanns werden aus den vorgenannten Gründen (vgl. u. a. III. 1) nur in Kürze die Gemeinsamkeiten und Abweichungen der mittelhochdeutschen Bearbeitungen von den französischen Vorlagen referieren, um zur Aufklärung der Frage beizutragen, ob die narrative Grammatik Chrétiens bereits in der unmittelbaren Rezeption durch den ersten deutschen Bearbeiter erkannt und eventuell aufgegriffen wurde. So soll bestimmt werden, ob diese Romane als mögliche Vorlage für das Interaktionsmuster Gaweins in den nachklassischen Texten dienen konnten oder nicht. Eine eigenständige Interpretation dieser Romane erübrigt sich im Kontext dieser Studie schon deshalb, weil es sich bei beiden Romanen Hartmanns nicht um Stoffe mit Gauvainqueste handelt, weshalb, wie bereits hinlänglich dargestellt wurde (vgl. u. a. II. 1), die Gaweinfigur in diesen Werken nur eine verhältnismäßig kleine Rolle spielt. III.2.1.1 Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage Zunächst wird gezeigt, dass das im II. Kapitel beschriebene Interaktionsmuster sich mit Einschränkung in beiden Bearbeitungen Hartmanns erhalten hat. Das 32
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Günther Schweikle: ›Zum Iwein Hartmanns von Aue. Strukturale Korrespondenzen und Oppositionen‹, in: Problem des Erzählens in der Weltliteratur. Festschrift für Käthe Hamburger. Hrsg. von F. Martini. Stuttgart 1971, S. 1–21, S. 2. Helmut de Boor u. a.: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. II, 1964, S. 80. Wilhelm Kellermann: ›Die Bearbeitung des Erec-und-Enite-Romans Chrestiens von Troyes durch Hartmann von Aue‹, in: Hartmann von Aue. Hrsg. von H. Kuhn, C. Cormeau. Wege der Forschung, CCCLIX. Darmstadt 1973 (1. 1970), S. 511–531, vgl. insbesondere S. 512f; Kurt Ruh: Höfische Epik des Mittelalters I: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. Grundlagen der Germanistik, 7. Berlin 1977 (1. 1967), vgl. S. 115–141.
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Modell des narrativen Schwungrads konnte zum ersten Mal anhand der Szene der Zwischeneinkehr des Protagonisten in Chrétiens Erec et Enide detailliert beschrieben werden (vgl. II. 4.1.2). Die typischen Elemente dieses Musters finden sich nun auch in der entsprechenden Szene in Hartmanns Erecroman. Ein Blick auf das Analoge: Wie bei Chrétien ist die Zwischeneinkehr ein Wunsch des Königs, der Gawein bittet: »... hilf mir und der künegîn daz wir Êrecken gesehen sô enmac mir liebers niht geschehen.«
[V.4877]35
[Hilf mir und der Königin, dass wir Erec bei uns sehen dürfen; eine größere Freude könnte es für mich nicht geben.]
Anstelle von Gawein, den Artus gern in die Pflicht nehmen würde [V.4827–74], tritt – getreu nach Chrétiens Muster – zunächst Keie in Aktion. Er beschafft sich Gaweins Pferd [V.4629,20-V.4629,23] und begegnet in Abwesenheit Gaweins bei einem Ausritt dem Protagonisten. Im Gespräch mit dem verwundeten Erec eskaliert die Situation durch Keies hinterhältiges Agieren (valsch [V.4651]). Daran schließt sich die typische Bestrafung der Keiefigur durch Abwurf vom Pferd [V.4729–31] an. Erst danach erfolgt die Intervention der Gaweinfigur, der sich auf Artus’ eindringliche Bitte, in der ein Vorwurf für sein verspätetes Agieren mitschwingt, meint verteidigen zu müssen: enmanet mich niht sô verre, wan ich der verte willic bin [V.4881f.] (›mahnt mich nicht so dringlich, ich bin ja zu dieser Unternehmung bereit‹). In dieser defensiven Erwiderung klingt das Eingeständnis des Mitverschuldens Gaweins an der vorausgegangenen Konfrontation an. Gawein gelingt es anschließend, den Protagonisten mit einer List [V.4997f.] an den Hof zu führen, indem er die Zelte der Artusgesellschaft auf dem Weg aufbauen lässt, den Erec wenig später entlangreiten wird [V.5034–36]. Damit ist das Anliegen des Hofes erfüllt [V.5089–92]. III.2.1.2 Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage Nun zu einer Reihe von Unterschieden, die vor allem die Gestaltung der Keiefigur betreffen. Im Gegensatz zu Chrétiens Darstellung, wo Keu nicht nur das Pferd, sondern auch Gauvains Schild und Lanze einfach an sich nimmt, wodurch auch eine Anmaßung angedeutet wird, exkulpiert Hartmann Keie von diesem Vorwurf, denn her Walwân erloubete daz [V.4628]. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Bewertung von Keies Auftreten. Chrétien hatte seine
35
Zitiert nach der Ausgabe von Thomas Cramer: Hartmann von Aue Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. [Text nach Leitzmann 1939]. Frankfurt a.M. 1972.
156
Keufigur wiederholt als hochmütig (orgueilleus [V.3967 u. V.4014]) qualifiziert. So greift Chrétiens Keu dem Protagonisten in die Zügel sanz salüer [V.3965] (›ohne zu grüßen‹). Ganz anders stellt sich die Sache bei Hartmann dar, denn bei seinem etwas feigen Griff nach den Zügeln von Erecs Pferd, sagt Keie willekomen, herre, in diz lant [V.4628]. Auch seine anschließenden Äußerungen könnten als ausgesprochen höfisches Sprechen gelten, wären sie nicht von Hintergedanken motiviert. Hier offenbart sich nun der dritte Unterschied zu Chrétien, denn Hartmann macht sich die Mühe, die charakterliche Disposition seiner Keiefigur eingehend zu erläutern: sîn herze was gevieret: eteswenne gezieret mit vil grôzen triuwen und daz in begunde riuwen allez daz er unz her ie zunrehte begie, alsô daz er vor valsche was lûter sam ein spiegelglas und daz er sich huote mit werken und mit muote daz er immer missetæte. des was er unstæte, wan dar nâch kam im der tac daz er deheiner triuwen enphlac. sô enwolde in niht genüegen, swaz er valsches gevüegen mit allem vlîze kunde mit werken und mit munde: daz riet elliu sîn ger. dar zuo sô was er küene an etelîchem tage, dar nâch ein werltzage. diz wâren zwêne twerhe site: dâ swachete er sich mite, daz er den liuten allen muoste missevallen und niemen was ze guote erkant. von sînem valsche er was genant Keiîn der quâtspreche.
[V.4636–64]
[Sein Herz war in vier Teile gespalten. Einerseits zeichnete es sich durch seinen hohen Anstand aus sowie durch die Reue für alles das, was er bisher jemals an Unrecht begangen hatte, so dass er von Hinterhältigkeit rein war wie ein Spiegel. Dazu kam, dass er sich in Tat und Gesinnung davor hütete, dass er jemals unrecht handelte. Andererseits war er unberechenbar, wenn er danach einen seiner Momente hatte, wo er seinen Anstand vollkommen vergaß. An solchen Tagen konnte er gar nicht genug davon bekommen, fleißig mit Taten und Reden allerlei Hinterhältigkeiten zu begehen, die ihm von seinem Verlangen eingegeben wurden. Außerdem war er an vielen Tagen sehr tapfer, an anderen aber ein riesiger Feigling.
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Dies waren seine zwei widersprüchlichen Verhaltensmuster, mit denen er sich selbst so schadete, dass er allen Leuten unsympathisch sein musste und bei niemandem als guter Mensch geschätzt wurde. Aufgrund seiner Hinterhältigkeit nannte man ihn Kei, das Schandmaul.]
Diese umfängliche Einlassung Hartmanns, der nichts Vergleichbares in Chrétiens Romanen gegenübersteht, verfolgt offenbar dasselbe Ziel, wie die zwei zuvor benannten Abweichungen des deutschen Autors von seiner Vorlage, nämlich die Exkulpierung Keies für die bedenklichen Pferdnahme und das Nachreichen einer ausgesucht höfischen Begrüßung bei Keies Begegnung mit Erec. Die mehrdeutige Keufigur Chrétiens bereitete dem deutschen Dichter erkennbares Unbehagen. Wie sollte man eine hoffärtige, hinterhältige Gestalt wie Keu als festen Bestandteil des utopisch gedachten Artushofes legitimieren? Hartmann gibt sich alle Mühe, diesen Widerspruch zu glätten bzw. ›wegzuerklären‹, ein Indiz dafür, dass der zu Moralisierung und christlicher Belehrung neigende deutsche Bearbeiter mit Chrétiens ironischer Inszenierung der antagonistischen Funktionen Keus und Gauvains wenig anfangen konnte.36 Wenn also die typischen Einsätze von Chrétiens narrativem Schwungrad in Hartmanns Erec zu erkennen sind, so nur deshalb, weil Hartmann nicht alle Szenen auslassen konnte, die seiner Sicht der Figuren entgegenstanden. Insbesondere die Zwischeneinkehr – ein wesentliches, strukturelles Element der Artusromane – musste Hartmann gestalten, wobei er das hinterhältige Tun Keies schon deswegen nicht unterdrücken konnte, weil sonst die Pointe von Gaweins List keinen Sinn mehr ergeben hätte. Hartmann arrangiert noch weitere Indizien in dem Bemühen, die komplexe Keufigur Chrétiens auf das Mittelmaß eines ›ganz passablen‹ Zeitgenossen herunterzustufen, der zwar mal einen schlechten Tag haben kann, es aber nicht wirklich böse meint. Dazu gehört erstens, dass der Keie Hartmanns beim zweiten Anlauf, den Protagonisten an den Hof zu bringen, brav mit Gawein mitreitet und pflichtschuldig die Funktion des Botenjungen übernimmt, der den Hof rechtzeitig von der List des Zeltlager-Umzugs unterrichtet. Das soll signalisieren, dass Keie schlussendlich doch etwas zur Rektifikation der von ihm verschuldeten Eskalation beiträgt: ein gründliches Verkennen der Funktion dieser Figur in der französischen Vorlage durch den deutschen Bearbeiter. Dort hatte sich Gauvain mit seinen Knappen auf den Weg gemacht. Die Unterrichtung des Hofes über die vorgenommene List konnte bei Chrétien also durch einen jener Anonymen erledigt werden. Doch auch diese Ehrenrettung 36
R. Pérennec: ›Adaptation et Société: L’adaptation par Hartmann d’Aue du roman de Chrétien de Troyes, Erec et Enide‹, in: Etudes Germaniques 28, Nr. 3 (1973), S. 289–303, S. 289 benennt u. a. »la tendance à la moralisation et idéalisation, l’accentuation de motifs religieux« sowie einen »didactisme [...] au point que l’on peut parfois se croire en présence d’un manuel de savoir-vivre« als »les caractéristiques de l’adaptation allemande d’Erec et Enide les plus fréquement relevées par les historiens de la littérature.«
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reicht Hartmann noch nicht, denn zuletzt wird dem Publikum von allerhöchster Stelle, d. h. von König Artus persönlich mitgeteilt, Keie habe ihn ...unz an diesen tac sô gêret daz ich nine mac iu gesprechen wan guot [V.4866–68] (›bis auf den heutigen Tag so viel Ehren erwiesen, dass ich nicht anders als nur Gutes über euch [d. h. Keie und Gawein zusammen] sprechen darf‹). Jürgen Haupt vertritt dagegen die Auffassung, Hartmann habe die negative Profilierung Keies gegenüber dem Keu Chrétiens sogar verstärkt. Er stützt seine These auf »zwei neue ›negative‹ Züge« der Keifigur, nämlich »Ruhmsucht und Bosheit [...] die er im Erec Chrétiens nicht« besitze.37 Die auffällige Strategie des Exkulpierens durch nachgereichte Ehrenreferenzen, zu denen man auch jene in Hartmanns Iweinroman zählen muss, scheint für Haupt nicht den Durchschlag zu geben. Anlässlich der ›Ehrenrettung‹ des Schandmauls Keie durch den Erzähler im Iweinroman [V.2565ff.] kommt aber auch Haupt nicht um die Frage herum, »weshalb Keie überhaupt (noch) am Artushof geduldet wird. Hartmann erkennt den Widerspruch und sieht sich zu einer Aufhellung des verdunkelten Keiebildes genötigt, obwohl er weiß, daß er auf das Erstaunen seines Publikums stoßen wird.«38 Haupt fügt in einer Anmerkung hinzu, dass »Chrétien an dieser Stelle nicht« zu einer Ehrenrettung des Truchsessen ansetzt,39 womit folglich auch er einräumen muss, dass Hartmann eben doch gegen Chrétien an einer Verbesserung des Keie-Imagos arbeitet.
Zusammengefasst ist das Interaktionsmuster Keus und Gauvains, wie es Chrétien entwirft, auch in Hartmanns Erec erhalten, und zwar wohl nur deshalb, weil der deutsche Bearbeiter wichtige Strukturelemente der Erzählung (Zwischeneinkehr, mittlere Artusszene, die Pointe des Zeltlager-Umzugs) nicht übergehen konnte und damit das Muster unversehens ›importierte‹. Dessen ungeachtet legt aber die Bearbeitungstendenz des mittelhochdeutschen Erec eine glättende, exkulpierende Intention an den Tag, die sich gerade darum bemüht, den für den Chrétien’schen Erzählmechanismus so wesentlichen Antagonismus zwischen den zwei Hofakteuren zu verringern und die beiden entgegengesetzten Kräfte Gawein und Keie einander anzugleichen. Dies geschieht, indem Keie wiederholt mildernde Umstände, Erlaubnisse oder Ehrenreferenzen zugebilligt werden. Eine derartige Bearbeitungstendenz kann nur durch Negieren oder Missverstehen des ursprünglichen narrativen Musters zustandegekommen sein. Sie schwächt die Wirkung des erzählerischen Mittels und stößt zudem auf Motivationsschwierigkeiten, die Hartmann zu einem angestrengten Spagat bei der Vermittlung zwischen seiner Vorlage und seinen Erklärungsversuchen zwingen. Auf dieses Problem, beim Verfahren der adaptation courtoise ›Verbesserungen‹ anzubringen, die dann an anderen Stellen des Romans problematisch werden können, hat bereits Michel Huby hingewiesen: »Ce genre de rectification n’a pas de valeur 37 38 39
Haupt: Der Truchseß Keie, 1971, S. 34. S. Anm. 37, S. 40. S. Anm. 37, Anm. 13.
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proprement psychologique. Nous avons même vu que parfois elle entraîne une nouvelle erreure.«40 Der anschließend geäußerten Auffassung Hubys, »le poet qui adapte n’a plus qu’a varier sur le thème«, 41 wird heute mehrheitlich nicht mehr gefolgt. 42 Die ausführlichen Einlassungen Hartmanns zu Keies charakterlicher Disposition, die oben zitiert wurden, belegen ein Übriges. Die Keiefigur Hartmanns erfährt unter der Hand des mittelhochdeutschen Dichters eine psychologisierende Neugestaltung, die jedoch – darin ist Huby durchaus zuzustimmen – bezogen auf ihre vordefinierte narrative Funktion Widersprüche aufwirft und mithin heikel bleibt.
Die andere Funktion Gaweins als Ratgeber, die in Erec et Enide konstatiert wird, lässt sich in Hartmanns Erec nicht nachweisen. Dies liegt am Fehlen des Prologs und der Initialkrise im mittelhochdeutschen Text, da die Ambraser Handschrift diese Stelle nicht hat. Auffällig ist allerdings, dass Hartmann auch die spätere Intervention Gauvains gegen das coutume des beisier [bei Chrétien in V.299–310] unterdrückt, weshalb man darüber spekulieren kann, ob Hartmann das Thema mit der Darstellung in der (uns nicht erhaltenen) Initialkrise für erschöpfend dargestellt erachtete, oder ob man mit Ruh davon ausgehen muss, dass Hartmann der Zank der Ritterschaft und das eingeforderte Mitbestimmungsrecht der Ritter bei Entscheidungen des Königs misshagt habe, da Hartmann »auf das Vorbildliche« ziele, »dem Chrétiens realistischeres Genrebild von aufbegehrenden Artusrittern widersprach.«43 Letzteres legt jedenfalls Karin Gürttlers Vergleich der Gestaltung der Artusfigur bei Chrétien und Hartmann nahe. Gürttler kommt zu dem Ergebnis, Hartmann habe »alle die Machtposition von König Artus beschneidenden Elemente aus[ge]klammert, indem er sowohl ideell als auch strukturell dem Artushof eine zentralere Stellung« zuweise.44 III.2.2
Gawein im Iwein
III.2.2.1 Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage Auch in Hartmanns zweiter Bearbeitung, dem Iwein, kann man die wesentlichen Elemente der Gauvain-Interaktion aus Chrétiens Chevalier au Lion wiederfinden. Zunächst ein Blick auf das Analoge.
40
41 42 43 44
Michel Huby: L’adaptation des Romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle. Publications de la faculté des letters et science humaines de Paris-Nanterre. Paris 1968, S. 389. S. Anm. 40. Haase: Germanistische Forschung zum Erec, 1988, vgl. S. 250–280. Ruh: Höfische Epik I, 1977 (1. 1967), S. 122. Karin R. Gürttler: Künec Artûs der guote. Das Artusbild der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik. Bd. 52. Bonn 1976, S. 47.
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Wie im Chevalier au Lion ist auch im Iweinroman während der Initialkrise von einem Schäferstündchen des Königspaars die Rede. Artus und Ginover haben sich in Vernachlässigung ihrer gesellschaftlichen Pflichten in ein Privatgemach zurückgezogen. Hartmann berichtet allerdings nicht davon, dass die Hofgesellschaft sich hierüber empöre. Während Gawein ausgeblendet bleibt, tritt in der ersten Hofszene musterkonform zunächst die Keiefigur in Aktion, die Kalogrenant für die Begrüßung der gerade in die Gesellschaft zurückgekehrten Königin mit beißendem Sarkasmus bedenkt [V.108–135]. Keies Spottrede ist zwar eine Folge der Rückkehr Ginovers und deutet damit an, dass die Abwesenheit des Königspaars während der ersten Hofszene eine Störung verursacht hat, aber Hartmanns Erzähler berichtet abweichend von Chrétien, dass der zuhtlôse Keiî [V.90] selbst anfänglich mitten in der Gesellschaft geschlafen habe. Der Seneschall wird für den Affront antisozialen Handelns, der im Chevalier au Lion die Gemüter erhitzte, in Hartmanns Iwein mitverantwortlich gemacht. Das bei Chrétien allein beschuldigte Königspaar wird dagegen entlastet. Anschließend eskaliert die Situation unter den Anwesenden wie bei Chrétien durch Keies Provokationen, worauf der Protagonist Iwein sich vornimmt, der von Artus geplanten Fahrt zur Gewitterquelle vorzugreifen, weil er dar eine wolde komen [V.910] (›dort allein erscheinen wollte‹). Hierbei mag trotz der Beteuerungen Iweins gegenüber Ginover, dass ihm das provozierende Reden Keies nichts ausmache [V.856], eben doch eine Rolle gespielt haben, dass Keies Anwürfe gegen ihn vor allem darauf abzielten, Iwein als Feigling hinzustellen, der nur im betrunkenen Zustand den Mut habe, großartige Heldentaten anzukündigen [V.815–836]. Dass diese Beleidigungen eine Motivation für den überstürzten Aufbruch des Protagonisten darstellen dürften, belegt nicht nur ihre erneute Erwähnung anlässlich des späteren Erscheinens der Artusgesellschaft beim Zauberbrunnen [V.2456–61], sondern auch Iweins Furcht vor Keies fortgesetztem Spott, falls er seinen Erfolg im Kampf gegen den Brunnenritter später nicht beweisen können sollte [V.1522–33]. Dagegen argumentiert Cormeau, für Iwein sei »die Schande des Verwandten sofort und legitim Herausforderung zur Rache.«45 Daher habe es der Provokationen Keies nicht bedurft, Iwein zu seinem überstürzten Aufbruch zu veranlassen. Träfe dies zu, wäre in Hartmanns Bearbeitung die Funktion der Keufigur Chrétiens vollends ›ausgehebelt‹. Aber der Akt des Erzählens einer Abenteuergeschichte auf einem höfischen Fest, den Chrétien wie Hartmann an dieser Stelle vorführen, ist von einer anderen Qualität als das unerwartete Eindringen eines Herausforderers. Das
45
Christoph Cormeau, Wilhelm Strömer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984, S. 203. Vgl. auch Franziska Wenzel: ›Keie und Kalogrenant. Zur kommunikativen Logik höfischen Erzählens in Hartmanns Iwein‹, in: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von B. Kellner, L. Lieb, P. Strohschneider. Mikrokosmos. Bd. 64. Frankfurt a.M. 2001, S. 89–109, vgl. S. 100.
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Überstürzte des Aufbruchs ist durch den Akt des Erzählens nicht zu erklären. Die Schande Kalogrenants liegt bei Hartmann mit zehn Jahren [V.260] übrigens noch viel weiter zurück als bei Chrétien mit lediglich sieben Jahren [V.173], wodurch Hartmann die märchenhafte Ferne der erzählten Vergangenheit betont, und ihr letzte Anklänge an ein akute Herausforderung nimmt. Cormeaus anschließende Beobachtung, dass »durch das Interesse von Artus selbst, der die Hofreise ansetzt, [...] Iwein die Angelegenheit zu entgleiten« drohe, 46 liefert eine bessere Erklärung. Das Konkurrenzdenken des Protagonisten erzwingt dessen Hast. Auch bei Hartmann trägt Keies sarkastische Intervention daher maßgeblich dazu bei, dass dieses Konkurrenzdenken geweckt und dass der in der Erzählung enthaltene, märchenhaft vage Impuls in Bewegung umgesetzt wird.
Soweit sind die inneren Störungen der Hofgesellschaft, die Inertia Gaweins und die Intervention Keies erkennbar, wobei letztere in Übereinstimmung mit dem narrativen Schwungrad Chrétiens den Protagonisten zur Handlung treibt. An diese Elemente schließt sich mustergetreu die Bestrafung Keies an [V.2584f.], die durch den Protagonisten besorgt wird, der seine private Rechnung mit Keie begleicht und sich für den vorausgegangenen Spott schadlos hält [V.2591–2600]. Im deutschen Iwein folgt dann wie in der französischen Vorlage der Auftritt der Gaweinfigur zunächst als Ratgeber. Mit seiner Warnung vor dem verligen [V.2784–94] reagiert Gawein verspätet auf die Störung, die die Initialkrise einst ausgelöst hatte, freilich ohne dass dieser Zusammenhang in der deutschen Bearbeitung noch sinnfällig wird, denn die Verfehlung des Königspaars wird bei Hartmann wie gesagt heruntergespielt. Gleichfalls in Übereinstimmung mit Chrétiens Interaktionsmuster hebt Hartmann danach die Verantwortung des Hofakteurs für Iweins Terminversäumnis hervor [V.3029f.], woran der Antagonismus zwischen Gawein und dem jeweiligen Protagonisten der Romane auch in der deutschen Iwein-Bearbeitung erkennbar ist (vgl. II. 4.2.2). Aus dem unbedingten Willen, ›Erster‹ zu sein, resultiert durch Gaweins Einflussnahme Iweins Krise als ›Verspäteter‹, die den Protagonisten zwingt, sich dem Verhaltensmuster Gaweins anzupassen. Das zeigt sich an Iweins Läuterungstaten, die eben nicht – wie man erwarten könnte – in Bezug auf seine Minneherrin Laudine, sondern tatsächlich zugunsten Gaweins verrichtet werden müssen, mit dem er zuvor rivalisiert hatte. Die auf Gawein bezogenen Läuterungstaten sind der Kampf für den Schwager Gaweins und das Eintreten für Lunete. (Sowohl Gaweins Verwandte wie seine Freundin hatten auf Gaweins Beistand verzichten müssen, weil dieser zwischenzeitlich auf eine Queste zur Rettung der geraubten Königin Ginover aufgebrochen war.) Der Endkampf zwischen dem Protagonisten Iwein und dem Hofakteur Gawein, der als Gerichtskampf für die beiden Schwestern vom Schwarzen Dorn ausgefochten wird, ist auch bei Hartmann als Folge jenes Antagonismus
46
Cormeau, Strömer: Hartmann von Aue, 1984, S. 203.
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gestaltet, welchen Annegret Wagner-Harken als »das zu Beginn der Handlung erkennbare Konkurrenzdenken« bezeichnete, und welcher sich , da »beide Ritter freiwillig auf den Sieg zugunsten des jeweils anderen verzichtet« hatten, am Ende des Romans »in uneigennützige Freundschaft gewandelt« habe.47 Diese Beobachtungen relativieren Günther Schweikles These, Gawein trete »jeweils nur im Rahmen einer begrenzten Funktion auf.«48 Schweikle hatte zum »funktionalen Erzählstil« am Beispiel Lunetes ausgeführt, »als Helferin des in Gefangenschaft geratenen Iwein verfügt sie über außergewöhnliche Fähigkeiten, selbst über einen Zauberring [...] Sowie Lunete eine andere Funktion zu erfüllen hat, ist ihre frühere Findigkeit vergessen.«49 Dies gelte z.B. für die Situation ihrer Bedrängnis durch den Truchsess Laudines. Schweikle fragt sich, »warum sie in ihrer höchsten Not von ihrem Ring keinen Gebrauch macht. [...] Die Antwort gibt die Funktion der Figur: Lunete ist keine Gestalt, die in eigenen Sinnbezügen lebt [...].«50 Laut Schweikle fällt auch Gawein eine solche, abhängige Rolle zu. Sie bestehe darin, »das ritterliche Höchstmaß für einen auf êre erpichten Artushelden darzustellen. Die Freundschaft mit Iwein dient dessen Verherrlichung unter dem Aspekt der êre. Sowie Gawein diese Funktion erfüllt hat, tritt er in der Erzählung zurück.«51 Margrit Sinka hat jedoch beanstandet, dass Gaweins Referenzrolle in Bezug auf Iwein gar keinen Sinn ergibt, wenn man tatsächlich – wie dies Schweikle tut – Gawein als »bloße Verkörperung der Kampfkraft« und den Artushof lediglich als ein Menschentum mit »erstarrten, elitären« Wertbegriffen betrachtet, welches vor der »hochgespannten Artus-Ideologie« ein »enttäuschende[s] Versagen« zeigt.52 Sinka warf die Frage auf, inwiefern ein Zweikampf zwischen Iwein und Gawein unter diesen Umständen für den Protagonisten noch »proof of his valor and ethical standing« sein könne.53 Auch Sinka macht darauf aufmerksam, dass sich wesentlichen Läuterungs-âventiuren Iweins in der späteren Handlung ausgerechnet auf Gawein und eben nicht auf Laudine beziehen.54 Nach ihrer Auffassung belegt Hartmanns Verflechtung (›intertwining‹) zwischen Gaweins und Iweins Handeln, dass »Hartmann seems to criticize the Arthurian world far less than has been generally assumed, demonstrating that he is less concerned with social problems than with depicting the arduous journey to the self [...].«55
47
48 49 50 51 52 53 54 55
Annegret Wagner-Harken: Märchenelemente und ihre Funktion in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Ein Beitrag zur Unterscheidung zwischen ›klassischer‹ und ›nachklassischer‹ Artusepik. Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. Bd. 21. Bern 1995, S. 408. Schweikle: Iwein, 1971, S. 19. S. Anm. 48, S. 18. S. Anm. 49. S. Anm. 48, S. 19. S. Anm. 48, S. 17. Margrit M. Sinka: ›Der höfischste man: An analysis of Gawein’s role in Hartmann von Aue’s Iwein‹, in: Modern Language Notes 76, III (1981), S. 471–487, S. 472. S. Anm. 53, S. 477. S. Anm. 53, S. 487.
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III.2.2.2
Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage
III.2.2.2.1 Keiebild Zwar wurden eben die festen Elemente des Chrétien’schen Interaktionsmusters in der mittelhochdeutschen Bearbeitung Hartmanns identifiziert, doch Hartmanns Änderungen sind beträchtlich und haben Konsequenzen für die sich ergebenden Zusammenhänge. Die Abweichungen bei der Gestaltung Keies sollen zuerst betrachtet werden. Es kam bereits zur Sprache, dass er während der Initialkrise mitten unter den anwesenden Hofleuten schlafend gezeigt wird, was ihm die Qualifikation zuhtlôs [V.90] einträgt. Offenbar will Hartmann die Verfehlung des Königspaars relativieren, indem er dem Hofakteur einen Teil der Schuld für das schlechte gesellschaftliche Klima in der ersten Hofszene anlastet. Franziska Wenzel nimmt sogar an, dass Hartmann »die Kritik am Königspaar nivelliert, da es sich mê durch gesellenschaft [...] denn durch deheine trâkheit (V.83f.) [...] zurückzieht.«56 Anders als der zuhtlôse Kei ist das Königspaar jedenfalls nicht müde oder träge. Aber die Formulierung mê durch gesellenschaft enthält einen Hinweis auf die Intimität des Königspaars, d. h. auf ein Absondern von der Gesellschaft, um ungestört affektive Zweisamkeit ausleben zu können. Genau dieser Tatbestand der Gesellschaftsferne zugunsten der partnerschaftlichen gesellenschaft konstituierte im Erecroman die gravierende Verfehlung des verligens. Trotz dieser ernsten Verfehlung aber bleibt bei Hartmann »jegliche Kritik« am Verhalten des Königspaars aus, »ganz im Gegensatz zum Yvain Chrétiens.«57 Hartmann akzentuiert ein negatives Bild der Figur, oftmals um komische Effekte zu erzielen. So hebt er den Spott der Hofgesellschaft hervor, den Keie erntet, als er von Iwein bei der Gewitterquelle vom Pferd geworfen wird [V.2624f.]. Nicht nur der Artusgesellschaft dürfte Keie in dieser Szene gar ze spotte [V.2625] gedient und lasterlîche[n] schalle [V.2645] provoziert haben. Auch unter der Hörerschaft des Romans, die mit solchen Kapriolen Keies rechnete, bewirkten diese Szenen gewiss Heiterkeit. Ein Indiz für diese Bearbeitungstendenz liefert die Steigerung der Schande Keies, mit der Hartmann die Geschichte von Ginovers Entführung aus der Charrette überbietet. Dem Truchsess wird der Gipfel der Demütigungen zuteil, als ihn Meljaganz beim Abwurf vom Pferd an einer Astgabel hängen lässt niht anders wan als einen diep [V.4685]. Wieder zeigt die Behandlung der Keiefigur eine Verlagerung des Schwergewichts weg von der Funktion hin zur Typisierung. Obwohl der funktionale Aspekt seines Spottes und seiner Aktionen noch aufscheint, hat den deutschen Dichter an der Figur vor allem die im Publikumswissen verankerte
56 57
Wenzel: Keie und Kalogrenant, 2001, S. 92. S. Anm. 56.
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Typik der Figur interessiert. Darauf deuteten in Hartmanns Erecroman bereits Epitheta wie quâtspreche hin. Ein weiteres Beispiel verdeutlicht dies. Während Chrétien noch Wert darauf legte, dass der Protagonist Yvain bezüglich der âventiure der Gewitterquelle die Rivalität beider Hofakteure, also Gauvains und Keus, fürchtet, weil Chrétiens Modell eben beiden die Rolle der Verteidigung der Interessen des Hofes zumaß [vgl. Chevalier au Lion V.682–688], reduziert Hartmann diese Szene auf eine Rivalität Iweins lediglich noch mit Gawein [V.915]. Keie spielt keine Rolle mehr. Die Funktion Keies als einer der beiden Sachwalter der Interessen des Hofes (wenn auch desjenigen, der diese Interessen mit falschen bzw. unangemessenen Mitteln wahrnimmt), beginnt bei Hartmann zu verkümmern. Verschiedene Forschungsmeinungen bestätigen die Tendenz zur Typisierung der Keiefigur. Berndt Volkmann wies darauf hin, dass »Keies Rolle, die einem französischen Publikum anscheinend wenig Schwierigkeiten machte, [...] die deutschen Autoren in große Verlegenheit« brachte. »Sie alle tun sich schwer, ihrem Publikum Keies Charakter zu erklären [...].«58 Volkmann zeigt wie Hartmann die funktional orientierte Keufigur Chrétiens zum Typus der Keiefigur umgestaltete. Sein Ansatzpunkt sind die Einlassungen von Königin Ginover in der Streitszene während des Pfingstfestes. Während sich Guenièvre bei Chrétien einer »unladylike language« bediente,59 wodurch ihr Sprechen sicherlich nicht lehrhaft genannt werden kann, und folglich keine grundsätzliche Qualifikation der Keufigur daraus herzuleiten wäre, sei das Sprechen Ginovers bei Hartmann eine »medizinisch psychologisierend[e]« Erklärung für ein »Unterlegenheitsgefühl« [von Keie], »das sich aus einem charakterlichen Defizit, aus einer Fehldisposition des herzen (Iw. 157) nährt.«60 Das Exemplarische in Ginovers Sprache bei Hartmann beruhe auf einer »Vorstellung, die in der Theologie der Darstellung moralischer Verworfenheit und Bösartigkeit dient.«61 Mit Ginovers lehrhafter Terminologie werde Keie bei Hartmann »genuin« als »quâtspreche« konstruiert. Dem kann sich Franziska Wenzel anschließen: »So wie es eine naturgemäße, also unveränderliche Korrelation von Gestank und Mist gibt: ouch ist reht daz der mist / stinke swâ der ist (V.207f.), so ist auch die Schmähung ein unveränderlicher Bestandteil von Keies Identität.«62 Demgegenüber betrachtet Werner Röcke die Keiefigur Hartmanns im Iwein als Verkörperung einer zwar lästigen aber notwendigen Verhaltensdisposition am Artushof. Keies Fehltritte stellten nämlich einen Mechanismus der Konfliktbeherrschung in vormodernen Gesellschaften dar und dienten dazu, die drohenden Rivalitäten zwischen den ehrgeizigen und potentiell gewaltbereiten Adligen abzuschwächen und in Gelächter aufzufangen.63 Zwei Thesen Röckes ist zu widerspre-
58 59 60 61 62 63
Volkmann: Costumier est de dire mal, 1995, S. 107. Uitti: Chevalier au Lion, 1985, S. 211. Volkmann: Costumier est de dire mal, 1995, S. 103. S. Anm. 60. Wenzel: Keie und Kalogrenant, 2001, S. 98. Werner Röcke: ›Provokation und Ritual. Das Spiel mit der Gewalt und die soziale Funktion des Seneschall Keie im arthurischen Roman‹, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter Moos. Norm und Struktur. Bd. 15. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 343–361, S. 344f..
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chen. Erstens ist er der Meinung, dass der »Disput zwischen Keie und Iwein« in der Situation der Initialkrise darauf ausgerichtet sei, »die drohende Gewalt, die mit Iweins Wunsch nach Wiederholung des Brunnenabenteuers [...] einhergehen kann [...],« auf Keie zu lenken. »Iweins Gewaltpotential richtet sich nun nicht mehr auf seinen Rivalen: König Artus selbst, sondern auf Keie.«64 Iwein fürchtet aber gar nicht die Rivalität von Artus. Er befürchtet vielmehr: mir sol des strîtes vür komen mîn her Gâwein: des enist zwîvel dehein [V.914ff]. Die Gewalt zwischen den Hofakteuren und dem Protagonisten wird in Keies Spott zwar antizipiert aber nicht gebannt, wie Röcke meint. In Wirklichkeit finden ja auch in Hartmanns Iwein Kämpfe des Protagonisten gegen beide Hofakteure statt. Keies »objektive Funktion [...], die drohenden Konflikte auf sich zu ziehen und zu entschärfen« ist an diesem Beispiel nicht erwiesen, sondern widerlegt. Die zweite These Röckes lautet, Keie habe »zumindest in Hartmanns Artusromanen [...] keine Freunde.«65 Aber in Hartmanns Erec steht zu lesen: dô hete Walwân und der vriunt sîn, der truhsæze Keiîn sich ze handen gevangen... [V.1152f.]. Auch im weiteren Verlauf des Romans »wird der Truchsess von Gawein Erec gegenüber als unser vriunt Keiîn (V.4932) bezeichnet.«66
Soweit ist festzuhalten, dass die Änderungen Hartmanns es unwahrscheinlich machen, dass er in seiner Bearbeitung das Chrétien’sche Interaktionsmuster bewusst übernommen hat. Wie bei der Besprechung der Adaptation des Erec ist auch hier zu vermuten, dass es unversehens, nämlich nur aufgrund einer festen Verankerung in bestimmten Szenen der Erzählung Chrétiens in Hartmanns Fassung eingegangen sein dürfte. Diese Inkongruenz von Bearbeitung und Vorlage bestätigt auch eine weitere Ehrenrettung Keies: ouch sag ich iu ein mære: swie schalkhaft Keiî wære, er was iedoch vil unervorht. enheten sîn zunge niht verworht, son gewan der hof nie tiurern helt. daz mugent ir kiesen, ob ir welt, bî sînem ampte des er pfl ac: sîn hete anders niht einen tac geruochet der künec Artûs ze truhsæzen in sînem hûs. [V.2565–74] [Auf eine Sache muss ich euch dennoch aufmerksam machen. Wie bösartig Keie auch immer sein mochte, er war trotzdem ein sehr mutiger Mann. Wenn ihn nur seine Zunge nicht entehrt hätte, so hätte es am Hof nie einen Helden gegeben, den man ebenso geschätzt hätte. Das könnt ihr, wenn ihr wollt, an seinem hohen Amt erkennen, welches er innehatte. König Artus hätte ihn ja andernfalls nicht mal einen einzigen Tag an seinem Hof in der Funktion des Truchsess geduldet.]
64 65 66
S. Anm. 63, S. 351. S. Anm. 63, S. 352. Schirok: Artus der meienbære man, 1989, S. 68, Anm. 31.
166
Die überraschenden Einlassungen sind mit Keies Schande nur schwer zu reimen. Anstatt ihn zu schätzen, zeigt Hartmanns Ritterschaft offen ihre Schadenfreude über Keies Demütigung als Gehängter [V.4686]. Das Fazit muss lauten, dass Hartmann die Typik der Figur über die Funktion stellt, indem er die komischen Elemente ausbaut und gegenüber Chrétien steigert, indem er das Unhöfische – ursprünglich eine Störung der gesamten Hofgesellschaft – von den Figuren des Königspaars wegverlagert und in der Figur Keies als negativem Pol konzentriert. Um die Figur dennoch als Bestandteil der Tafelrunde zu legitimieren, psychologisieren Hartmanns Ehrenrettungen die Keiefigur als zwar unberechenbaren aber nicht grundverdorbenen ›Charakter‹. III.2.2.2.2 Gaweinbild Hartmann betont, dass Iweins Konkurrenzängste hinsichtlich der âventiure der Gewitterquelle nur zu Gawein nicht aber zu Keie bestehen [V.915]. Margrit Sinka nahm deshalb an: »Hartmann altered every Gawein episode in order to accentuate the complementary nature, the interdepence of the two knights.«67 Aber der Gegensatz zwischen Hofakteur und Protagonist führe bei Hartmann nicht etwa zu einer Abwertung Gaweins. Im Gegenteil: »All differences between the French and German versions seem intentional and designed to project a more positive Gawein figure.«68 Diese Auffassung unterstützt Dietrich Hombergers ältere Studie der Gaweinfigur. Zwar scheine »Hartmann bei der Zeichnung Gaweins im ›Iwein‹ weit mehr von Chrétien abhängig als dies im ›Erec‹ der Fall war«,69 doch sei das bei Hartmann negativere Bild Keies dazu bestimmt, »die höfische Überlegenheit Gaweins [...] desto klarer hervorleuchten« zu lassen.70 Homberger und Sinka weisen beide auf das bei Hartmann viel stärker akzentuierte Freundschaftsverhältnis hin, welches Gawein mit Iwein verbindet. Insbesondere in der Ratgeber-Szene scheint diese Akzentverschiebung Bedeutung zu erlangen. Chrétien hatte Gauvains Rat zum Verlassen von Laudines Reich als Teil einer von der ganzen Artusgesellschaft dringlich wiederholten Bitte dargestellt: mes il avoient la semainne trestuit proié et mise painne au plus qu’il s’an porent pener que il en poissent mener mon seignor Yvain avoec ax [V.2481–85] (›Aber sie alle hatten die ganze Woche hindurch dringend darum gebeten und so große Mühen unternommen, wie es ihnen nur irgend möglich war, dass sie Herrn Yvain mit sich mitnehmen konnten‹). Das lässt erkennen, dass Gauvains Rat im Chevalier au Lion ein mit den Intentionen der Hofgesellschaft konformes Ansinnen war. Chrétiens Gauvain agiert »as an exponent of Arthur’s court«. 67 68 69 70
Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 473. S. Anm. 67. Homberger: Gawein, 1969, S. 20, vgl. auch S. 38. S. Anm. 69, S. 21.
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Dagegen wendet sich Hartmanns Gawein »as a personal friend« mit seinem Rat an Iwein.71 So inszeniert Hartmann eine vertraulich-intime Gesprächssituation, denn her Gâwein der getriuwe man vuorte hern Iwein dan von den liuten sunder [V.2767ff.] (›da nahm Herr Gawein, der treue Mann, Herrn Iwein beiseite‹), während bei Chrétien der Eindruck erweckt wird, Gaweins Stimme sei eine von vielen (anwesenden) [V.2481–87].72 Hartmanns Gawein ist getriuwe, ist ein treuer Freund, der dem geselle[n] [V.2787] Iwein im privaten Gespräch gut zuredet. Die Frage ist, wie die Akzentverschiebung zu beurteilen ist. Natürlich kann man in der demonstrativen Freundschaftlichkeit Gaweins das Zeichen einer innigen, brüderlichen Verbindung sehen, aber die Wirkung eines Ratschlags, ja eines Appells, der im Zeichen enger Freundschaft als Privatissimum vorgetragen wird, dürfte weit schwerer abzuschlagen sein, als einer, der lediglich ein Anliegen des Hofes wiederholt, dem Yvain schon eine Woche widerstanden hatte. Hartmann stattet also seine Gaweinfigur mit einem stärkeren Druckmittel aus. Die Frage, die die Geister scheidet, ist, ob Hartmanns Gawein für die Mitverantwortung am Terminversäumnis exkulpiert werde,73 also besser wegkomme als der Gauvain Chrétiens, oder ob er umgekehrt erst bei Hartmann wirklich Iweins ungevelle [V.3030] werde.74 Kurt Ruh argumentierte, dass sich bei Chrétien keine vergleichbar negative Qualifikation Gauvains für dessen Rat finde, und folglich »erst die Akzentuierung Hartmanns [...] die Frage einer Mitschuld Gauvains virulent« mache.75 Aus dem altfranzösischen Text geht jedoch hervor, dass auch Chrétien keinen Zweifel an Gauvains Verantwortung für das Terminversäumnis bestehen lässt, worauf u. a. Busby hinwies.76 Der einschlägige Vers que departir ne le leira [V.2270] (›dass er ihm [i.e. Yvain] nicht zu gehen erlaubte‹), belegt es. Dietrich Homberger ging deshalb sogar davon aus, dass es umgekehrt Chrétien sei, der Gauvain mehr Verantwortung für das Terminversäumnis aufbürde, während Hartmann Gaweins Mitverschulden »viel mehr in der Schwebe« lasse.77 Bei den vorausgegangenen Überlegungen ist diese Verantwortung als ein typisches Muster der Interaktion zwischen Gauvainfigur und Protagonist identifiziert worden (vgl. Kap. II. 4.2.2). In Bezug auf die Funktionalität ist kein Unterschied zwischen Hartmanns ausdrücklichem Vorwurf ungevelle und Chrétiens nicht näher qualifizierter Verantwortlichkeit Gauvains auszumachen, da die Konsequenzen gleich sind. Aber die unterschiedlichen Wertungen von Gaweins Rolle in der Forschung deuten schon an, dass die
71 72 73 74 75 76 77
Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 474f.. Kurt Ruh: Höfische Epik I, (1. 1967) 1977, S. 155. Homberger: Gawein, 1969, S. 27; Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 476. Kurt Ruh: Höfische Epik I, (1. 1967) 1977, S. 155. S. Anm. 74. Busby: Gauvain, 1980, S. 71. Homberger: Gawein, 1969, S. 27.
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Figur durch Hartmanns Eingriffe nicht ›schärfer‹ ins Bild gekommen ist. Im Gegenteil: »sie ist inkonsequent« – und dies keineswegs nur »wenn man den funktionalen Erzählstil des Werkes nicht beachtet«, wie Schweikle glaubte.78 Kurt Ruh versuchte die Schwächen von Hartmanns Eingriffen in die Vorlage zu benennen: »Hier war Hartmann schlecht beraten. Denn erstens kam es dem Artushof durchaus zu, nach Iweins Vermählung seinen Anspruch auf die aktive Ritterschaft des Protagonisten und damit auf dessen êre geltend zu machen, und zweitens konnte der Warner damit in keiner Weise zum Mitschuldigen an Iweins späterem Versäumnis werden – es sei denn durch ein beabsichtigtes Zurückhalten von der Heimkehrverpflichtung.« In der Tat genau dieses absichtliche Zurückhalten, mit dem Kurt Ruh bei Chrétien nicht gerechnet hat, belegt der Vers que departir ne le leira [V.2270] (›dass er ihm [i.e. Yvain] nicht zu gehen erlaubte‹). Ruh argumentiert weiter: »Hartmann steuert diesen Weg an, der nur ins Ungereimte führen konnte, solange nämlich Gawein im Werkganzen die Funktion des Vorbildlichen zukommt, und dies macht der abschließende Gawein-Iwein Kampf zur Gewißheit [...].«79
Die abschließenden Betrachtungen zur Gaweinfigur in Hartmanns Iwein sollen etwas Licht in dieses Dunkel der inkonsequenten Figurenzeichnung Gaweins bei Hartmann bringen. Dazu wird noch einmal ein Blick auf die Initialkrise der deutschen Fassung nötig. Zunächst sei kurz festgestellt, dass Gawein bei Hartmann also durchaus eine Schuld für Iweins Terminversäumnis gegeben wird, die Margrit Sinka mit dem wenig überzeugenden Hinweis einer »unintentional transgression« nicht wegerklären kann,80 die aber auch – anders als Kurt Ruh meinte – schon Chrétien dem altfranzösischen Gauvain angelastet hatte. Chrétien konnte diese Verantwortung Gauvains allerdings als eine Funktion des Hofakteurs konstruieren, der erkennbar im Belang der Hofgesellschaft handelte und mit seinem Handeln (Rat, Mahnung, Terminsabotage) auf die Initialkrise dieser Hofgesellschaft reagierte. Ganz anders verhält es sich bei Hartmann, der eine erkennbare Zuspitzung der Problematik des Romans auf die Interaktion zwischen Gawein und Iwein betreibt. Erstens ist Gaweins Rat bei Hartmann als persönlicher aus dem Kontext der Anliegen der Artusgesellschaft herausgelöst. Zweitens ist die Keiefigur als anderer möglicher Rivale aus Iweins Denken eliminiert worden (obwohl Hartmann in inkonsequenter Weise der Vorlage folgend dann doch zunächst Keie bei der Gewitterquelle als Rivalen gegen Iwein antreten lassen muss). Drittens verschob Hartmann bereits in der Initialkrise die Gewichte gegenüber Chrétiens Chevalier au Lion, denn auf die Absonderung des Königspaars mê
78 79 80
Schweikle: Iwein, 1971, S. 20. Kurt Ruh: Höfische Epik I, (1. 1967) 1977, S. 155. Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 476.
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durch geselleschaft [V.83] folgte keine empörte Reaktion der Hofgesellschaft. Anders als bei dem ironischen Chrétien, der mit dem Affront der recreantise des Königspaars abrupt aus der idealischen Vergangenheit in die erzählte Jetztzeit des Hofes einsteigt mes cel jor molt se merveillierent... [V.42] (›aber an jenem Tag wunderten sie sich über die Maßen...‹), werden bei Hartmann die Brüche verschleiert. Nach dem Essen, so will es Hartmann, männiclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam [V.63f.] (›machte sich jeder das Vergnügen, das zu tun, was ihm am meisten Spaß machte‹). In diesem Kontext, wo offenbar ohnehin jeder machen konnte, was er wollte, erfährt man auch etwas Neues über den Neffen des Königs: Gawein achte umb wâfen [V.73] (›Gawein kümmerte sich um die Waffen‹). Man hat das als Aufwertung Gaweins verstanden,81 da er sich im Gegensatz zu dem zuhtlôsen Keie nicht schlafen lege, sondern vorbildlich sein ritterliches Handwerk wahrnehme. Aber welches Signal wird wirklich damit gegeben, dass der Neffe des Königs sich aus der Gemeinsamkeit der Hofleute zurückzieht, um sich seiner (Aus-)Rüstung zu widmen. Dieses Handwerk könnte sicher auch von einem Knappen erledigt werden. Ist es nicht programmatisch zu verstehen, dass ein vornehmer Edelfreier, dem eine repräsentative Rolle zukommt, bereits in der ersten Szene des festlichen Glanzes der Hofgesellschaft abseits steht und darauf zusieht, dass seine Bewaffnung für einen eventuellen Kampfeinsatz bereit ist? Für ein höfisches Miteinander taugen doch eher die Tätigkeiten der anderen Gäste, die wider diu wîp sprâchen, tanzten, sungen, liefen, sprungen, seitenspil hôrten, zuo dem zil schuzzen, von seneder arbeit oder von grôzer manheit redten [V.65–72] (›sich mit den Frauen unterhielten, tanzten, sangen, um die Wette liefen, sprangen, der Musik von Saiteninstrumenten lauschten, auf Zielscheiben schossen, sich Geschichten von sehnsüchtiger Liebe oder großen Heldentaten erzählten‹). In der Crône Heinrichs von dem Türlin findet sich im Katalog der höfischen chürtzweile [V.640] anlässlich des großen Festes in Tintaguel neben tanz [V.633] und Gesellschaftsspielen wie toppel und meile [V.641] (Würfelspiele), zabels auf dem bret [V.644] (Brettspiele) u. a. auch Musik von fidelaer [V.651], floiten vnd tambiure [V.655] (Fiedeln, Flöten und Trommeln), das Erzählen von auentivre [V.654], sowie Jagdvergnügen mit mvzaere[n] [V.662] (Jagdvögeln) und Unterhaltung bei Ballspielen [V.692]. Zwar werden auch auf diesem Hoffest Waffen, Pferde und Helmschmuck zur Schau gestellt, doch von diesen wird ausgeführt, dass man sie ze iostivre bedorft an dem morgen [V680f.] (›am nächsten Morgen für die Ritterkämpfe benötigte‹). Von Wartung ist keine Rede. Ähnliches gilt auch für die Vergnügungen, die sich anlässlich der Heirat von Eneas und Lavinia im Eneasroman Hendriks van Veldeke an das große Gastmahl anschließen:
81
Homberger: Gawein, 1969, S. 20f..
170
Dâ was spil unde sank, buhurt unde gedrank, pfîfen unde springen, videlen unde singen, orgeln unde seitenspil, maneger slahte froude vil.
[V.345,31]
[Da waren Spiel und Lied, Turnier und Trubel, Pfeifenspiel und Tanz, Fidelklang und Gesang, Orgelmusik und Saitenspiel und vielerlei sonstige Unterhaltung.]82
Anschließend an diese Unterhaltungen wird von der enormen milte, der Freigebigkeit des Herrschers und der Edlen berichtet. Auch Hendriks Beschreibung zeigt niemanden aus der höfischen Gemeinsamkeit abgesondert beim Waffenflicken. Das Abseitsstehen von Hartmanns Gawein beim arthurischen Pfingstfest wirkt in diesem Kontext irritierend. Gaweins Arbeiten, die er offenbar nicht bis zu einem späteren Zeitpunkt zurückstellen will, könnten darauf hindeuten, dass er auf einen eventuellen Kampf vorbereitet sein möchte. Die anschließende âventiure-Nachricht Kalogrenants zieht ja eine Situation nach sich, bei der Iwein befürchtet: »mir sol des strîtes vür komen mîn her Gâwein: des enist zwîvel dehein, als schiere so er des strîtes gert, ern werdes vür mich gewert.«
[V.914]
[Mein Herr Gawein wird mir bei dem Kampf zuvorkommen, daran gibt es keinen Zweifel. Sobald er einen Kampf für sich beansprucht, wird dieser ihm anstatt mir zugesprochen werden.]
In diesem Licht betrachtet erscheint Gaweins Waffenpflege während des höfischen Festes als das Vorzeichen einer sich anbahnenden Herausforderung, die später in Iweins Rivalität konkretisiert wird. Der erste Ritter am Artushof ist allzeit parat. Seine möglichen Konkurrenten wissen dies und sollen dies wohl sehen. Hartmanns Bearbeitungstendenz verstärkt die ›inneren‹ Spannungen, die zwischen dem Profil der jeweiligen Figur und ihrem Handeln entstehen. Gaweins Warnung vor dem verligen kann sich nicht mehr eindeutig auf die Initialkrise beziehen, weil dort die Verfehlung des Königspaars heruntergespielt worden war, und weil Hartmann auch den Prolog Chrétiens nicht übernommen hat,
82
Text und Übersetzung entstammen der Ausgabe von Dieter Kartschoke: Heinrich von Veldeke. Eneasroman. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort. Stuttgart 1986.
171
in welchem jener die Liebesthematik in einem programmatischen Exkurs über ›damalige‹ und ›heutige‹ Liebende dem Werk voranstellte. So muss Hartmanns Gawein bei seinem folgenschweren Rat das anschauliche Beispiel des Ritters Erec zitieren [V.2791f.], ein Kunstgriff, der den Eindruck erweckt, als ob diese Problematik erst jetzt, von außen in den Iweinroman eingeführt werde, anstatt wie bei Chrétien bereits seit der ersten Hofszene virulent zu sein. Hartmanns mehr auf die Figuren konzentrierte Erzählweise passt zur Tendenz, deren typischen Eigenschaften stärker hervorzukehren, d. h. an Keie das zuhtlôse, an Gawein den höfschste[n] man und an Iwein den Ehrgeiz zu akzentuieren. Diese Bearbeitungstendenz sollte unweigerlich zu Widersprüchen führen, denn die funktionalen Aspekte der Figur, die er von Chrétien übernehmen musste, wenn er den Verlauf der Erzählung nicht radikal abändern wollte, sind in diesem ›typischen‹ Bild der Figur nicht unterzubringen. Die Funktion des altfranzösischen Gauvain, das Handeln des Protagonisten zu konterkarieren (Erec et Enide: listiges Erzwingen der Zwischeneinkehr; Charrette: unterlassene Befreiung Méléagants; Chevalier au Lion: absichtsvolles Hintertreiben der Terminverpflichtung Yvains), wird bei Hartmann zum sperrigen Rest, der quer zur Figurentypik stehen bleibt. Hartmanns Strategie bezüglich Gaweins ist dieselbe, die er auch an Keie verfolgt: er versucht die Widersprüche zu psychologisieren, was in der Forschung zu völlig konträren Interpretationen der Figuren geführt hat. Die nachstehenden Verse zu Gaweins Schuld am Terminversäumnis ähneln in ihrer psychologisierenden Tendenz den zuvor zitierten, mit denen Hartmann seine Keiefigur im Erec plausibel machen wollte (vgl. III. 2.1.2). Her Gâwein sîn geselle der wart sîn ungevelle. durch nôt bescheid ich iu wâ von: wan diu werlt ist des ungewon, swer vrumen gesellen kiese, daz er dar an verliese. zewâre geschach ez ê nie, ez geschach doch im, und sage iu wie. her Gâwein was der höfschste man der rîters namen ie gewan: engalt er sîn, daz was im leit; wan er sîn arbeit im ze dienste kêrte, wier im sînen prîs gemêrte. Swâ sî turnierens pfl âgen, des sî niht verlâgen, dâ muose selch rîterschaft geschehen die got mit êren möhte sehen: dâ vürdert er in in allen wîs und alsô gar daz im der prîs aller oftest beleip; unz er der tage ze vil vertreip.
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im gie diu zît mit vreuden hin. man saget daz mîn her Gâwein in mit guoter handelunge behabete unde betwunge daz er daz jârzal vergaz (...) [V.3029–55] [Sein Freund, Herr Gawein, wurde sein Unglück. Ich bin gezwungen, euch das zu erklären. In dieser Welt ist es sehr ungewöhnlich, dass jemandem ein Schaden dadurch entsteht, dass er sich einen zuverlässigen Freund erwählt. Eigentlich geschah dies bisher noch nie; doch Iwein ist genau das passiert. Ich sage euch, wie das kam. Herr Gawein war der höfischste Mann von allen, die je den Titel eines Ritters beanspruchen konnten. Wenn er seinetwegen in Schwierigkeiten geriet, so tat ihm das Leid, denn er hatte alle Anstrengungen zu seinem Wohl unternommen und darauf geachtet, ihm zum Erfolg zu verhelfen. Wo immer sie zum Turnier antraten, was sie nirgendwo durch verligen versäumten, da lieferten sie solche Beweise ihrer Ritterlichkeit, dass sie Gott damit geehrt und ihm gefallen hätten. Dabei förderte er ihn in jeder erdenklichen Weise, so dass meistens ihm der Ruhm des Siegers zuteil wurde. Dies setzte sich fort, bis er zuviel Zeit verloren hatte, eine freudenvolle Zeit, die unbemerkt verstrich. Man sagt, dass Herr Gawein ihn mit seiner vorzüglichen Behandlung zurückhielt und an sich band, so dass er die Jahresfrist vergaß...]
Interpretationen wie Hombergers und Sinkas belegen die Schwierigkeit bei dem Versuch, sich auf Hartmanns psychologisiertes Gaweinbild einen Reim zu machen. Homberger meinte, in Hartmanns Erklärungsversuchen lasse »sich eine gewisse Tragik nicht übersehen, die Hartmann in dem Freundesdienst und ritterlichen Eifer Gaweins angelegt hat.«83 Margrit Sinka schlägt stattdessen vor, die negativen Konsequenzen von Gaweins Rat als typische Wirkung eines Liebesverhältnisses zu betrachten: »This [...] is simply to be viewed in the context of the medieval epic in general: just as a heroe’s beloved becomes the source of his pain and tribulations, Gawein, the best friend, becomes the source of Iwein’s troubles. Since friends and beloveds do affect each other with, and mirror each other in, joy and pain, Gawein – by being Iwein’s ungevelle – can approximate Iwein’s feelings of dejection.«84 Hätte Hartmann wie einst Chrétien darauf verzichtet, die Aktionen Gaweins als personal motivierte erscheinen zu lassen (und sie zu psychologisieren), so hätte ihm Chrétiens Weg offengestanden, die Gaweinfigur als Akteur zu beschreiben, dem gesellschaftliche Widersprüche als Aufgabenstellung mitgegeben waren, die zwar seine Rolle als herausragendster Vertreter jener gesellschaftlichen Utopie negativ beeinflussen konnten (›peinliche Ausrutscher‹), aber seine personale Disposition nicht grundsätzlich gefährdeten.
83 84
Homberger: Gawein, 1969, S. 27. Sinka: Der höfischste man, 1981, S. 476.
173
III.2.3 Zusammenfassung Aus den Erörterungen lassen sich folgende Ergebnisse ableiten: Zum ersten ist das narrative Muster Chrétiens auch in Hartmanns Bearbeitungen erkennbar. Das heißt, die Gauvainfigur ist nach wie vor in ein übergeordnetes Muster eingebunden, das sie anfangs zurücktreten lässt (Inertia) und stattdessen die Gegenfigur Keie zum Zug kommen lässt. Keies negative Intervention provoziert die Reaktion des Protagonisten. Anschließend an die musterkonforme Bestrafung Keies erfolgt dann doch die Intervention Gaweins, wobei der Hofakteur auch bei Hartmann antagonistisch zur Figur des Protagonisten agiert und nach einer Berichtigung der Problematik der Hofgesellschaft strebt. Zum zweiten aber ist die Bearbeitungstendenz Hartmanns darauf angelegt, das Figurentypische hervorzukehren, wodurch die funktional gesteuerten Handlungen, die von Chrétien übernommen wurden, in einen Widerspruch zur beschriebenen Typik der Figur treten. Hartmann versucht dieses Problem durch Psychologisierung sowohl Keies wie Gaweins zu lösen. Man hat den Eindruck, dass die narrativen Mechanismen, die er von Chrétien übernahm, nur deshalb noch in den mittelhochdeutschen Bearbeitungen stehen geblieben sind, weil sie so eng mit den Kernszenen der jeweiligen Romanhandlung verknüpft waren, dass Hartmann sie nicht abändern konnte. Hartmanns Figurenzeichnung ist, sowohl was Keie wie Gawein betrifft, inkonsequent. Für das Muster des narrativen Schwungrades hätten seine Romane späteren Autoren allenfalls dann als Vorlage dienen können, wenn diese hinter den psychologisierenden Umgestaltungen Hartmanns noch die ursprüngliche Funktion entdeckt hätten. Doch ohne gleichzeitig Kenntnis der französischen Vorlage scheint dies kaum möglich.
III.3 Gawan in Wolframs von Eschenbach Parzival Als Hauptquelle für den Parzival nennt Bumke Chrétiens Conte du Graal, wobei nicht gesichert sei, »wie, durch wen und in welcher Gestalt Wolfram seine französische Vorlage kennen gelernt hat.«85 Aber viele Stellen fast wörtlicher Übereinstimmung beim »Textvergleich mit dem ›Conte du Graal‹ sicher[n] Wolframs Abhängigkeit von Chrétien«,86 weshalb man davon ausgehen kann, dass Wolfram die narrativen Muster, die Chrétien in Bezug auf seine Gauvainfigur entworfen hatte, direkt aus der Vorlage des großen Franzosen rezipieren konnte. Wolfram hatte allerdings Zugriff auf verschiedene Vorbilder für die Figurengestaltung, nämlich sowohl auf das funktionale Erzählmodell Chrétiens, 85 86
Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 7., völlig neu überarbeitete Auflage. Stuttgart 1997, S. 159. S. Anm. 85, S. 165.
174
als auch auf die Typisierung der Gaweinfigur in den Bearbeitungen Hartmanns. Die nachfolgenden Betrachtungen werden zweierlei ans Licht bringen. Einerseits lässt die mittelhochdeutsche Fassung des Parzivalromans aufgrund der Abweichungen Wolframs von seiner Quelle keinerlei Rückschlüsse mehr zu, ob das Interaktionsmuster, das im II. Kapitel als ›narratives Schwungrad‹ bezeichnet wurde, von ihm überhaupt erkannt wurde. Signifikante Änderungen in der Motivation des Geschehens deuten wie zuvor bei Hartmann eher auf das Gegenteil. Aber andererseits gibt es in Wolframs Roman trotzdem Signale wie etwa den Endkampf von Gawan und Parzival, die sowohl die typische antagonistische Rolle von Hofakteur und Protagonist als auch einen funktionalen Zusammenhang des Handelns der Gawanfigur mit der Hofproblematik während der Initialkrise erkennen lassen. Diese Signale des Textes deuten tatsächlich (obwohl für dieses Geschehen gar keine Vorlage im Torso des Conte du Graal vorhanden ist) auf eine Ähnlichkeit der Funktion Gawans bei Wolfram mit der Funktion Gauvains im Chrétien’schen Erzählmuster hin. Ob dahinter ein bewusstes Wollen des deutschen Bearbeiters steht, oder ob hier die genreimmanenten Muster des klassischen arthurischen Erzählens aufscheinen oder aber bloß Interferenzen mit dem mittelhochdeutschen Iweinroman Hartmanns, ist nicht zu klären. Unbezweifelbar hat dagegen Hartmanns Konzept der Keiefigur auf Wolframs Bearbeitung eingewirkt. Wolfram reagiert darauf mit einer eigenen Akzentsetzung (einem Zurücknehmen der Psychologisierung). Es folgt zunächst eine Besprechung der analog zur französischen Vorlage gestalteten Muster im mittelhochdeutschen Parzivalroman. III.3.1 Muster in Analogie zur altfranzösischen Vorlage In erster Näherung kann man sagen, dass Wolfram die Stationen des Interaktionsmusters der Gauvainfigur in Chrétiens Conte du Graal in den Grundzügen in seiner Bearbeitung abgebildet hat, nämlich die Initialkrise, die Inertia Gawans, die negative Intervention Keies, die die Intervention des Protagonisten nach sich zieht, die anschließende Bestrafung Keies und – zu einem Teil – die (berichtigende) Intervention Gawans. Über den Torso des Conte du Graal hinaus hat Wolfram ein Endgeschehen erfunden, in welchem das letzte Element des Interaktionsmusters, die Rektifikation der Störung und die damit verbundene Wiederherstellung der Harmonie des Hofes realisiert wird. An dieser Lösung wirken neben Gawan auch der Protagonist und maßgeblich der Artushof mit. Die Initialkrise des Artushofes ist im Parzivalroman analog zum Conte du Graal äußerlich durch die Herausforderung bestimmt, die der Rote Ritter, bei Wolfram Ither genannt, dem König und seiner Ritterschaft entgegenschleudert. Im Gegensatz zu Chrétien hat Wolfram aus Ither einen Blutsverwandten des Königs, nämlich den Sohn der Base (d. h. Schwester des Vaters) von Artus 175
gemacht. Dieser Herausforderer wartet bei Wolfram vor den Toren der Stadt Nantes auf denjenigen, der es wagt, sich im Interesse des Königs Artus und der Tafelrunde mit ihm zu messen [V.146,14–18], um den geraubten Becher zurückzugewinnen und den Anspruch des Roten auf Artus’ Erbland abzuwehren. Das Problem der Artusgesellschaft besteht analog zum Conte du Graal darin, dass sich offenbar niemand bei Hofe findet (Inertia Gawans), der sich dieser Herausforderung stellen will [V.147,3–8], obwohl der König ein dringendes Interesse daran hat, des Roten Ritters ledig zu werden. Analog zum Conte du Graal erscheint in dieser Situation der Protagonist Parzival am Artushof und findet den König in betrübter Stimmung [V.150,6–10]. Allerdings sind die versammelten Ritter der Tafelrunde nicht wie bei Chrétien verwundet. Von einem eben geführten Krieg wird bei Wolfram nicht berichtet. Stattdessen gibt Wolfram andere Hinweise darauf, dass die Freude des Hofes gestört ist. So erfährt man die Kritik des Erzählers an der schlechten Bewirtung des jungen Parzival, der weder bei Artus noch bei dem geizigen Fischer, einem vilân [V.144,15], bei dem er zuvor genächtigt hatte, etwas zu essen bekam [V.165,18–25]. »Sowohl der vischære als auch Artus entließen den Gast, ohne ihm eine Stärkung anzubieten.« Es liegt daher nahe, »den Geiz des vischære, die erwiesene Ungastlichkeit und vor allem die [...] Qualität des vilân – des unhöfischen Menschen niederer Gesittung – als ironischen Kommentar auf die Verhältnisse am Artushof in Nantes zu beziehen.«87 Das höfische Leben und namentlich die Gemeinschaft beim höfischen Fest sind zum Zeitpunkt des Erscheinens des Protagonisten in Betrübnis des Königs, Lähmung der Ritterschaft, Gewalttätigkeit gegen Frauen und Außerkraftsetzung des höfischen Protokolls umgeschlagen. Nantes als Ort der programmatisch so wichtigen ersten Artusszene ist anders als der märchenhafte Stammsitz Cardoeil eben »nicht das Toponym eines idealisch-ortlosen Wunschbildes der hövescheit, sondern die ironische Brechung der nicht lokalisierbaren Idealität in der platten (korrumpierenden) Diesseitigkeit.«88 Die Figur Keies ist es, die durch ihren Spott den König provoziert, den törichten, ungestümen Parzival für seine Zwecke zu instrumentalisieren [V.150,11–22] (negative Intervention Keies),89 ein Ansinnen, welchem »Artus [...] zustimmt.«90 Um an die rote Rüstung zu gelangen, räumt der Protagonist durch einen verwerflichen Mord [V.155,4–11 u. V.475,21–27] mit ungeeigne-
87 88 89
90
Bernhard Schmitz: ›Nantes. Spielfelder der Handlung in Wolframs Parzival‹, in: ZfdA 133, I (2004), S. 22–44, S. 26. Vgl. Anm. 87, S. 29. Volker Mertens: ›Masculinity in Wolfram’s Parzival‹, in: Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society 55 (2003), S. 383–401, unterstreicht die anstiftende Rolle Keies (S. 385): »he [...] induced the king to possibly sacrifice the life of Parzival.« Wolfgang Mohr: ›Parzivals ritterliche Schuld‹, in: Der Arthurische Roman. Hrsg. von Kurt Wais. Wege der Forschung, CLVII. Darmstadt 1970 (1. 1951/52), S. 332–354, S. 332.
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ter, d. h. unritterlicher Waffe (gabilôt)91 das Problem des Hofes aus dem Weg (Intervention des Protagonisten). Dabei betont Wolfram durch die Worte, die er Keie gegen seine altfranzösische Quelle in den Mund legt [V.150,16], dessen Ansinnen, den Protagonisten »als Peitsche in der Hand des Hofes gegen den Kreisel Ither« und folglich als »Werkzeug« zu gebrauchen.92 Wolfram lässt sogar deutlicher als Chrétien erkennen, dass Keie bei diesem Betreiben von Anfang an mit Mord rechnet: »Ichne sorge umb ir deweders leben« [V.150,21] (›Es ist mir gleichgültig, ob einer von ihnen das Leben verliert‹). Diese Präzisierung der Absichten Keies vereindeutigt sogar die schon aus Chrétiens Romanen bekannte Tendenz des Hofes, in Krisensituationen die personal motivierte Figur des Protagonisten für die ganz andersartigen Interessen der Artusgesellschaft einzuspannen, so lange der gesellschaftskonform motivierte Hofakteur Gawan noch nicht erzählerisch aktiviert wurde. Bei dem anschließenden Rüstungsdiebstahl [V.155,19–29], der als Leichenraub gewertet wird [473,30], ist Parzival ein Knappe namens Iwanet behilflich [V.156,18–24], der aber abweichend von Chrétiens Fassung nicht als Knappe Gawans vorgestellt wird, sondern bei Wolfram ein Blutsverwandter Ginovers ist [V.156,2]. Bezeichnenderweise wird dieser Iwanet bei der späteren Szene der ›Rückkehr der Knappen‹ in Schanpfanzun [V.429,1 – 430,16], deren einige namentlich genannt werden, nicht als einer von Gawans Knappen erwähnt. Die interne Krise der Hofgesellschaft beruht – ebenfalls analog zum Conte du Graal – u. a. auf einer Störung des Geschlechterverhältnisses. Das ist erkennbar an der Abwesenheit der Königin, die den Palas verlassen musste, nachdem sie von Ither mit Wein begossen wurde [V.149,2 ff], sowie an Keies extremer Gewaltanwendung gegen die lachende Frau Cunneware, einer »Untat«, die »am Artushof keinen Protest« erregt.93 James A. Schulz sah in beidem ein »unerklärliches Aussetzen der Regeln des höfischen Sozialverhaltens« und stellte verwundert fest: »Arthur won’t lift a finger to restore order.«94 Die tiefe Trauer Ginovers über den Tod Ithers [V.159,29–160,30], die auch beim späteren Versöhnungskuss mit dessen Mörder Parzival erneut tränenreich aufbricht [V.311,1–3], ebenso wie die vorausgegangene Beschmutzung der Königin während des symbolträchtigen Becherraubes [V.146,20–28], mit welchem Ither womöglich nicht nur ein Anspruch auf des Königs Land, sondern vielleicht sogar auf des Königs Gemahlin erhob, lässt die Möglichkeit offen, daß Gino91
92
93 94
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 200f, entnimmt den Versen 159,9ff. sicher zurecht, dass der Tod Ithers »n’aurait pas appelé les lamentations si elle [la mort] n’avait pas été provoquée par une arme ignoble.« Walter Delabar: ›ûfgerihtiu sper. Zur Interaktion in der Blutstropfenepisode in Wolframs Parzival‹, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Brall, Haupt, Küsters. Studia Humaniora 25 (1994), S. 321–346, S. 325 Bumke: Wolfram von Eschenbach, 1997, S. 116. James A. Schulz: ›Love service, masculine anxiety and the consolations of fiction in Wolfram’s »Parzival«‹, in: ZfdPh 121 (2001), S. 342–364, S. 347f..
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ver und Ither eine heimliche Liebschaft für einander gehegt haben könnten,95 was zusätzlich auf eine Störung der Ehe des Königspaars hindeuten würde. Ein Indiz ist in der Parallele zwischen den beiden suone-Küssen angedeutet, einerseits dem, den Ginover Parzival, also dem Mörder Ithers, unter Tränen gewähren muss [V.310, 26 – 311, 3] und andererseits dem, den Orgeluse Gramoflanz, also dem Mörder Cidegasts, ebenfalls unter Tränen und ebenfalls in einer großen Hofszene [V.729, 16–23] gewährt. Beide Frauen haben einen Mann verloren, um welchen sie weinen. Beide Frauen gewähren dem Mörder suone durch einen Kuss. Beide Ereignisse spielen sich vor großer Zeugenschaft am Hof ab, vor allem aber – aus struktureller Sicht – an zentralen Wendepunkten des Erzählschemas, der mittleren Artusszene sowie der Endszene des arthurischen Festes. Womöglich hatte daher die eine Frau, Ginover, auch eine ähnliche affektive Beziehung zu dem von ihr beweinten Ritter wie die andere. Ulrich Wyss ist sich jedenfalls sicher: »im Parzival beruft sich der Rote Ritter, der bei Wolfram Ither heißt, auf ältere Rechte in bezug auf Ginover.«96 Der Aspekt einer möglichen affektiven Beziehung zwischen Ither und Ginover wäre eine der von Wolfram gegen seine Quelle eingeführten Veränderungen, die zu einer Vereindeutigung der Problematik beitrüge, welche als Aufgabe der Wiederherstellung eines harmonisch-höfischen Geschlechterverhältnisses die späteren Gawan-âventiuren steuert. In der Szene der Blutstropfen-Trance findet analog zum Conte du Graal Keies Abwurf vom Pferd statt. Der Hofakteur hat hier die von Parzival längstens angekündigte Rache für die Schmach u. a. der lachenden Frau Cunneware zu gewärtigen (Bestrafung Keies). Dieses Ausschalten des ›falschen‹ Sachwalters der Interessen des Hofes zieht dann die erste Intervention Gawans innerhalb des Parzivalromans nach sich, dem es zunächst gelingt, den Protagonisten zur Zwischeneinkehr an den Artushof zu bewegen. Bezeichnenderweise spielt bei Gawans Gelingen sein Einfühlungsvermögen und seine Verständnis für die Nöte Liebender eine besondere Rolle, denn Gâwân was solher noete al wîs [V.301,7] (›Gawan waren solche Nöte aus eigener Erfahrung vertraut‹). In dieser Szene wird bereits auf die Problematik der Mann-Frau-Beziehung Bezug genommen, die die späteren Gawan-âventiuren prägen soll. Mertens machte die Szene aus diesem Grund zum Angelpunkt seiner Analyse von Wolframs Entwurf der Maskulinität verschiedener Figuren, wobei in seinen Augen die Figur Gawans im Verlauf der Handlung zunehmend eine höfische Form von Männlichkeit entfalte, die sich unter anderem durch »competence in non-military ways of resolving difficult situations« auszeichne.97 Auch Joachim Bumke
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Mohr: Parzivals ritterliche Schuld, 1970 (1. 1951/52), S. 337 vermutete ›hohe minne‹ zwischen Ither und Ginover. Wyss: Heinrich von dem Türlin, 1993, S. 278. Mertens: Masculinity, 2003, S. 384.
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charakterisiert Gawans Handeln in der Blutstropfenszene als planvoll. Gawans rational begründete Erkenntnisfähigkeit verbinde sich bei ihm mit dem Willen »Ausgleich, Ordnung und ein friedliches Miteinander« zu stiften.98 In dieser vorausplanenden, berichtigenden Tendenz sieht Bumke das »Muster«, das »die gesamte Gawanhandlung strukturiert.«99 Die aus der Initialkrise abgeleitete, doppelte Problematik des unwürdigen Mordes zum Zweck des Rüstungserwerbs (bei Wolfram in Abweichung von Chrétien als Mord an einem Verwandten sowohl von Artus als auch Parzival gekennzeichnet) und der gestörten Geschlechterbeziehung am Hof kann in den anschließenden Parzival-âventiuren bis zur Szene der Zwischeneinkehr nicht korrigiert werden. Man kann das beispielsweise daran ablesen, dass Parzival in der späteren Szene der Beichte beim Eremiten erfahren wird, dass der Mord an Ither eine schwere Sünde war, die der Eremit in den moraltheologischen Kontext der Kainstat einordnet [V.464,16–22]. Der Artushof hatte den Mord wie gesagt nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern den Protagonisten aktiv zu diesem Tun angetrieben, womit eine Mitschuld des Königs und Keies, aber eben auch eine Mitschuld Gawans vorliegt, der ja einerseits in jener Krisensituation seiner Aufgabe durch Abwesenheit nicht nachkam (Inertia), und der zweitens als Exponent und Musterbild der Tafelrunde für deren Defizite mithaftet. Auch in den Vorwürfen der hässlichen Botin Cundrie klingt eine Mithaftung der Artusgesellschaft am Tod Ithers noch an. Cundrie macht Artus zum Vorwurf, den Mörder des Roten, nämlich Parzival, in den Kreis der Tafelrunde aufgenommen zu haben [V.315, 1–15]. Aber anders als im Conte du Graal wird der Mordvorwurf in Wolframs Parzivalroman nicht die funktionale Klammer darstellen, mit der Chrétien die Queste seiner Gauvainfigur in den Kontext der initialen Defizienzen der Artusgesellschaft gestellt hatte. Im Gegenteil, dieser Motivzusammenhang reißt bei Wolfram abrupt ab, worauf noch zurückzukommen ist (vgl. III. 3.2). Dass auch die Geschlechterbeziehung zum Zeitpunkt der Zwischeneinkehr Parzivals nach wie vor gestört und die Freude des Hofes nur äußerlich wiederhergestellt ist, belegen weniger offensichtliche Anhaltspunkte. Ein kleiner Exkurs ist nötig, um diesen Themenkomplex aufzudecken und die Relevanz für Gauvains Handeln anschaulich zu machen. Zunächst lässt der Erzähler sein Publikum wissen, dass Parzival zum Zeitpunkt der mittleren Artusszene durch den symbolischen Kuss nicht nur die Verzeihung Ginovers für den Mord an Ither gewährt wird [V.310,26–30], sondern dass die höfische Gesellschaft hier augenscheinlich ein freudevolles Mitein-
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Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im »Parzival« Wolframs von Eschenbach. Hermaea Germanistische Forschungen, Neue Folge. Bd. 94. Tübingen 2001, S. 159. S. Anm. 98, S. 160.
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ander von Frauen und Männern darstellt, denn über die Tafelrunde heißt es: ouch was der rinc genomen sô wît daz âne gedrenge und âne strît manc vrouwe bî ir amîs saz [V.310,5–7] (›Übrigens war der Umkreis der Sitzrunde so weit bemessen worden, dass viele Frauen ohne Gedränge und ohne Platzstreitigkeiten bei ihrem Freund saßen‹). Die Aufforderung zu gemeinsamem Feiern der Männer und Frauen in einer Runde stammte von Artus persönlich [V.309,26ff.]. Die augenscheinliche Harmonie der Geschlechter erweist sich jedoch als Trugschluss. Die Ankündigung des Abenteuers von Schastel marveile [V.318,13–22], die die hässliche Botin ganz unvermittelt an ihre bittere Kritik an Parzival und die in ihren Augen entehrte Tafelrunde anschließt, lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen neuen Zusammenhang, der sich dann im weiteren Geschehen konkretisiert. Cundrie berichtet, dass sich auf dieser verzauberten Burg vier küneginne unt vier hundert juncvrouwen [V.318,16f.] (›vier Königinnen und vierhundert Damen‹) aufhalten. Gawan erfährt zusammen mit anderen Rittern der Tafelrunde die Identität dieser vier Königinnen von dem Griechen Clias. Es handelt sich um seine Schwestern Itonje [V.334,19] und Cundrie [V.334,20], sowie Arnive, die Mutter von König Artus [V.334,21] und schließlich um Gawans eigene Mutter Sangive [V.334,22]. Unter Hinweis auf die Verse 66,1–8, in denen von der Entführung Arnives durch den Zauberer Clinschor erzählt wird, hebt Bumke hervor, dass Gawan bereits seit seiner Kindheit bekannt gewesen sein musste, »daß Artus‹ Mutter vor langer Zeit entführt worden war.«100 Sidney M. Johnson hält es für »quite probable that Gawan heard the names of the captured queens«, und folgert »he must have recognized at that time the names of at least two of the queens: Arnive, his grandmother, and Sangive, his mother.«101 Als der Fährmann Plippalinot seinem Gast Gawan später erklärt, dass am jenseitigen Ufer des Flusses das Schastel marveile liege, in welchem Gawan zuvor die gefangenen Damen in den Fensteröffnungen erblickt habe, kann Gawan sagen: ich hân ouch ê von in vernommen [557,19] (›ich habe bereits früher von ihnen gehört‹). Es liegt nahe, diese Bemerkung auf Cundries Ankündigung der Schastel-marveileâventiure (ohne Namensangaben) zu beziehen,102 aber eben auch auf die Identifikation der dort gefangen gehaltenen Damen durch Clias, welche der Abreise Gawans unmittelbar vorausging und vor der versammelten Artusrunde erfolgte: vor in allen er des jach [V.334,13]. Der These von Gawans Wissen um die Identität der Königinnen und seinem darauf fußenden, vorausplanendem Handeln schloss sich auch Poag an, wobei er Gawan eine egozentrische Motivation unterstellte, die nur darauf abziele »to satisfy his vanity as master of events.«103 Andere Forschungsmeinungen
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S. Anm. 98, S. 161. Sidney M. Johnson: ›Gawan’s surprise in Wolfram’s Parzival‹, in: Germanic Review 33 (1958), S. 285–292, S. 286f.. S. Anm. 101, S. 287. James F. Poag: ›Gawan’s Surprise‹, in: Wolfram-Studien IV (1977), S. 71–76, S. 74.
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bezweifelten, dass Gawan wissentlich auf ein gesetztes Ziel hin handelt. CliftonEverest spricht von einer Parallele zwischen Parzivals und Gawans unbewusstem Handeln: »Both knights are blind in their striving, Gawan because of love [gemeint ist die Liebesverfallenheit Gawans für Orgelluse], Parzival from ignorance.« Auch Mohr zweifelt an Gawans Vorwissen. Bei Wolfram lasse sich anders als bei Chrétien nicht feststellen, wie genau Gawan zum jeweiligen Zeitpunkt über die Identität der Damen auf dem Schastel marveile im Bilde sei.104 Neugard rechnet mit einem »spezielle[n] Wissensvorsprung des Lesers/Hörers« gegenüber Gawan, da die Identifikation der Königinnen durch den Griechen Clias nur vor der massenîe von König Artus stattgefunden habe, »derweil sich Gawan und Parzival einzeln und jeder für sich fertig machen: [...] Gawan für seinen Ritt nach Schanpfanzun.«105 Aber das gibt der Text nicht her. Hier kommt zustatten, dass Wolfram »linear« erzählt und »großen Wert auf die Nachvollziehbarkeit der zeitlichen Abfolge« legt.106 So wird über Parzival berichtet, dass frou Cunnewâre de Lalant in fuorte dâ se ir poulûn vant [V.332, 19f.] (›Frau Cunneware ihn zu ihrem Pavillon führte‹). Das geschieht ausdrücklich schon vor dem Auftritt des Griechen und seinen Mitteilungen. Parzival kann deshalb in der Tat kein Zeuge der Namensnennung gewesen sein. Anders steht es um Gawan, der zwar nicht ausdrücklich als Zuhörer unter der massenîe herausgehoben wird, von dem es aber erst in Vers 335, 1ff – also tatsächlich erst nach der Ankündigung des Griechen Clias – heißt: do bereite ouch sich hêr Gâwân als ein kampfbære man hin für den künec von Ascalûn. (›Da machte sich auch Herr Gawan als Ritter bereit für seinen Weg zum König von Ascalon‹). Obwohl auch Bumke unsicher ist, ob man das Wissen Gawans um die Gefangenschaft seiner weiblichen Verwandten sowie den Vorsatz, sie zu befreien, schlüssig gegen die gegenteilige Interpretation des Nicht-Wissens und Nicht-Intendierens beweisen könne, merkt er in einer Fußnote an, dass Ersteres ihm mehr einleuchte, weil es »besser zu der Rolle paßt, die Gawan auch sonst spielt: die des klugen, scharfsinnigen Planers, der die Zusammenhänge durchschaut und seine Absichten verbirgt.«107
Aus der Rückschau betrachtet, ist die fortdauernde Gefangenschaft der ArtusMutter Arnive und der Mutter Gawans natürlich auch ein Defizit für die Artusgesellschaft als solche. Uterpandragon hatte einst darunter gelitten, dass seine Frau Arnive entführt worden war: ein maere in stichet als ein dorn [V.66,1] (›Eine Sache quälte ihn wie ein Stachel im Fleisch‹). Sein Sohn Artus – damals wohl noch im jugendlichen Alter – hatte offenbar vergeblich versucht, sie zu finden und zu befreien [V.66,6]. In der langen Zeit seit Gawans Kindheit, wo diese Entführung stattfand, dürfte sich an der Bewertung dieses Verlustes nichts geändert haben. Diese Problematik der Artusfamilie – hier als Problematik einer Hofgesellschaft zu verstehen – ist also zum Zeitpunkt der Zwischeneinkehr noch nicht behoben. Dass die Gefangenschaft der entführten Königinnen mehr 104
105 106 107
Wolfgang Mohr: ›Parzival und Gawan‹, in: Wolfram von Eschenbach. Aufsätze von Wolfgang Mohr. Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 275, Göppingen 1979 (1. 1958), S. 62–93, vgl. S. 89–92. Neugard: Märchen, 1996, S. 128f.. Friedrich Michael Dimpel: ›Dilemmata: Die Orgeluse-Gawan-Handlung im Parzival‹, in: ZfdPh 120 (2001), S. 39–59, vgl. die ausführliche Diskussion S. 42, Anm. 13. Bumke: Blutstropfen, 2001, S. 163, s. Anm. 16.
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ist als lediglich ein familiäres Problem, nämlich tatsächlich eng verknüpft mit der Thematik des Geschlechterverhältnisses, des Erwerbs einer Partnerin, der Sexualität und des Zusammenlebens von Frauen und Männern bei Hof, wird nach und nach durch zahlreiche Hinweise aufgedeckt. Der Zauberer Clinschor, der wie der Gralskönig Amfortas an seinem Geschlechtsteil verstümmelt wurde, führt über Schastel marveile wie Amfortas über die Gralsburg eine Herrschaft der »gesellschaftliche[n] Verödung.«108 Bumke führt aus: »Durch seine Zauberkunst reißt Clinschor Familien auseinander, unterbindet Liebe und schafft einen Zustand vollständiger gesellschaftlicher Unfruchtbarkeit.«109 Diese merkwürdige Erstarrung der Gesellschaft manifestiert sich beispielsweise darin, »daß Ritter und Damen keinen Kontakt miteinander haben«,110 obwohl sie in demselben Schloss untergebracht sind. Die zentralen âventiuren Parzivals (die Gralsburg) und Gawans (das Schastel marveile) beziehen sich also auf Bereiche, in denen das Geschlechterverhältnis tief beschädigt ist. Sämtliche Gawan-âventiuren in Wolframs Parzival haben nicht von ungefähr das Thema des Minnedienstes, des Verhältnisses von Ritter und Dame und – wie in Schastel marveile – das Wiederherstellen der Gemeinschaft der Geschlechter im höfischen Fest zum Gegenstand (Rektifizierende Handlungstendenz Gawans). Es liegt also nahe, von einem planvollen Handeln der Gawanfigur zu sprechen, welches sich auf die Rektifikation unhöfischer Missstände und Störungen im Geschlechterverhältnis beziehen. Neil Thomas hat Gawans Rolle so gesehen: »His mission is not religious and solitary, but rather social. Yet the society which he encounters is unfamiliar to him in the sense that its internal human relationships are unregulated by Arthurian values – indeed, he rides into what appears to be a very terre gaste of blighted sexual relationships.«111 Thomas präzisiert: »One abuse stands out as being particularly ›unhovebaere‹, corrosive of the social fabric and a bar to the realization of the kind of ideal courtly society which Kardiol symbolizes, and that is the practice of a culpable sexual coerciveness. There is a conspicuous absence [...] of that reciprocal friendship of knights and ladies at Arthur’s Court, which is [...] traditional to depictions of the social and sexual relationships of the Court elsewhere in German and French courtly epic of the late twelth and early thirteenth century.«112 Man wird übrigens noch sehen, dass diese gesellschaftskonforme Motivation Gawans im Endgeschehen des Romans zunehmend von einer personalen, dem Liebesdienst für seine Dame, überlagert wird, was nicht ohne Folgen für die Funktion der Figur bleiben kann (vgl. Abschnitt III. 3.2.1). 108 109 110 111 112
Bumke: Wolfram von Eschenbach, 1997, S. 89. S. Anm. 108. S. Anm. 108, S. 87. Neil Thomas: ›Sense and structure in the Gawan adventures of Wolfram’s Parzival‹, in: Modern Language Review 76 (1981), S. 848–856, S. 848. S. Anm. 111.
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III.3.2 Abweichungen gegenüber der altfranzösischen Vorlage Soweit diente die schematische Bestimmung von Gemeinsamkeiten zwischen Conte du Graal und mittelhochdeutschem Parzival dem Zweck, die Konstanten in Wolframs Roman nachzuvollziehen, die das Muster Chrétiens für die funktionalen Einsätze der Gawanfigur im Handlungsgefüge vorgab. Dieses Muster bestand im anfänglichen Ausbleiben Gawans während der Initialkrise des Hofes, wonach auf Anstiftung Keies zunächst der Protagonist ein Problem der Artusgesellschaft aus dem Weg räumt und anschließend Keie bestraft, was wiederum die verspätete Intervention Gawans nach sich zieht, die schlussendlich auf eine Reparatur der Defizienzen der Hofgesellschaft gerichtet ist. Nach diesen oberflächlichen Analogien folgt eine Betrachtung der wichtigsten Unterschiede. Zunächst gilt das Interesse der Neumotivation der Gawanhandlung. Hier ist zu zeigen, wie Wolfram die sinnstiftenden Bezüge zwischen Gauvain- und Percevalhandlung des Conte du Graal (Mordvorwurf) verwischt und durch andere Zusammenhänge ersetzt (Frauendienst). Dabei wird man automatisch auch auf eine neue Rollenverteilung zwischen Gawanfigur und Protagonist aufmerksam, die nicht zu Chrétiens Muster passt. Die Neumotivation und neue Aufstellung beider Figuren hängt eng mit der Thematik des höfischen Geschlechterverhältnisses zusammen, weshalb ausführlich darauf zurückzukommen ist. Danach folgen in gesonderten Abschnitten Exkurse zur Bedeutung des Zweikampfs zwischen Gawan und Parzival sowie zu den Veränderungen der Figurendarstellungen Keies [V.296,13 – 297,29] und Gawans, insbesondere bezüglich der Tatsache, dass Wolfram Gawan ›verheiratet‹. III.3.2.1 Neumotivation der Gawanhandlung Die auffälligste Abweichung gegenüber dem Interaktionsmuster in Chrétiens Conte du Graal, die sich an der Szene der Initialkrise des Hofes ablesen lässt, besteht in der von Wolfram vorgenommenen Tilgung des Handlungszusammenhangs zwischen dem Mord an Ither (dem Roten) durch Parzival und dem anschließend Gawan zur Last gelegten, verräterischen Mord ohne die gebotene, vorherige Herausforderung zum Zweikampf. Im Kapitel über den Conte du Graal wurde dieser Zusammenhang wie folgt dargestellt (vgl. II. 5.2.1.a): Der Mord des Roten geschah auf Betreiben des Hofes, der sich eines Herausforderers entledigen wollte. Keu brachte Artus auf den Gedanken, den naiven Perceval für diesen Zweck zu instrumentalisieren. Durch das Ausbleiben Gauvains (Inertia) kam also der Protagonist zum Einsatz und ermordete den Roten ohne die gebotene Herausforderung. Dabei war ihm der Knappe Gauvains, ein gewisser Yvonet, behilflich, der sich bei der ›Häutung‹ des wie ein Tier (mit Jagdwaffe) erlegten Roten aktiv beteiligte. Gauvain wurde im zweiten Kapitel für diese Mordtat als Mitverantwortlicher bezeichnet, weil es seine Aufgabe gewesen wäre, in der Situation der Herausfor183
derung zu reagieren und weil diese Figur auch generell von den Verfehlungen des Hofes nicht unberührt bleiben kann. Der Verantwortungszusammenhang wurde im Conte du Graal überdies erzählerisch durch die Mittäterschaft der Knappen markiert. In der mittleren Artusszene erhob dann Guigambresil den Vorwurf des ›Verrats‹ (Mord ohne vorherige Herausforderung) gegen Gauvain, wobei zwar eine unmittelbare Schuld Gauvains am Tod des Herrn von Guigambresil unbewiesen blieb, aber zugleich die Assoziation zum Verrat und Mord am Roten gewahrt blieb. Der Mordvorwurf nötigte die Gauvainfigur zu einer Queste des Korrigierens von Missständen, welche die Artusgesellschaft in ihrem Bestand gefährdeten. Der Torso des Conte du Graal gab keinen Aufschluss mehr darüber, wie die Problematik der Mordvorwürfe gegen Gauvain vom Autor aufgelöst werden sollte. Das bedeutet, dass der Conte du Graal in Bezug auf diese Problematik der Hofgesellschaft und Gauvains rektifizierendes Handeln die Antwort schuldig blieb. Wolfram hat – vielleicht gerade weil der Conte du Graal hier keine Vorgaben mehr macht – die Parallelität zwischen den beiden Morden zugunsten eines anderen Motivs verwischt. Die Abwandlung erfolgt aber nicht, wie man erwarten könnte, in der Szene der Anschuldigung auf dem Plimizoel, denn dort wirft Kingrimursel Gawan tatsächlich vor, den Mord an seinem Herrn in heimtückischer Weise bei der Begrüßung ausgeführt zu haben wie ein[en] kus, den Jûdas teilte [V.321,11]. Der Vorwurf des Verrats, den Gawan begangen habe, bleibt also bei Wolfram erhalten. Stattdessen wurde der Zusammenhang dadurch getilgt, dass das vorausgehende Element der unterlassenen Herausforderung, welches das Handeln von Chrétiens Perceval in der Szene der Konfrontation mit dem Roten so verwerflich macht, bei Wolfram von einem ganz anderen Motiv verdrängt wird. Denn Wolframs Parzival macht seinem Gegner beim Verlangen der Herausgabe der roten Rüstung ja eine klare Ansage: »widersagt sî dir mîn gruoz, ob du mirz ungerne gîst. wer mich, ob du bî witzen sîst.«
[V.154,8–10]
[Meine Freundschaftlichkeit ist hiermit aufgekündigt, wenn du sie mir nicht freiwillig herausgibst. Wenn du klug bist, gewährst du mir, was ich haben will.]
Ither, der Rote, hat folglich keinen Zweifel, welche Art von Auseinandersetzung er nach dieser Ansage zu erwarten hat: ...»hât Artûses hant dir mîn harnasch gegebn, dêswâr daz tæter ouch mîn lebn, möchtestu mirz an gewinnen.«
[V.154,12–15]
[Wenn Artus dir meine Rüstung geschenkt hat, dann dürfte er dir auch mein Leben geschenkt haben, falls du es mir abringen könntest.]
184
Ither kann sich anders als der Rote bei Chrétien auf den Kampf einstellen und weiß, dass es um Leben und Tod geht. Während Chrétiens Perceval als Verräter dasteht, steht bei Wolfram nur Gawan als Verräter da. Wolframs Parzival aber ist vom Vorwurf des Verrats entlastet. Der unhöfische Mord durch Verrat, der bei Chrétien die gesamte Artuszivilisation und ihre utopischen Ideale desavouiert, erhält bei Wolfram einen neuen Bedeutungsaspekt. Gemeint ist der des Verwandtenmords, also der Kainstat, welche später von Trevrizent als eine schwere Verfehlung Parzivals bezeichnet wird. Aus vergleichender Perspektive macht Wolfram die Mordtat am Roten somit in erster Linie zu einem Kernproblem der Parzivalfigur und deren Entwicklungsprozess. (Darauf deutet auch, dass der Eremit im Conte du Graal – anders als Trevrizent im Parzivalroman – keinerlei Vorwürfe gegen den Protagonisten wegen des Mordes am Roten erhob.) Pérennec betrachtet diesen Vorgang der narrativen Umdeutung unter dem Stichwort der »déconcrétisation du recit«. Die Mordtat Parzivals gewinne bei Wolfram die Qualität einer »malédiction qui pèse sur la race humaine [...] La tare originelle dont la chevalerie est affectée dans le ›Conte du Graal‹ devient dans l’adaptation de Wolfram le péché originel, la grand faute humaine...« 113 Auch in anderer Hinsicht hat Wolfram Bezüge zwischen Gawan und dem Ithermord getilgt. Während Chrétien einen gewissen Yvonet, der maßgeblich beim ›Häuten‹ des Roten mitwirkte, zu Gauvains Knappen machte, hat Wolfram seinen Iwanet aus der Personenbeziehung zu Gawan herausgelöst und ihn stattdessen froun Ginovêrn zugeordnet, deren knapp unde ir mâc [V.156,3] er in der mittelhochdeutschen Bearbeitung geworden ist. Es ist daher nur konsequent, wenn dieser Iwanet – anders als der Yvonet Chrétiens – auch während der Schanpfanzun-Handlung (bei Chrétien Escavalon genannt) nicht mehr auftritt. So geht denn bei Wolfram, der ja darüber hinaus die gesamte Episode der missglückten Hindenjagd Gauvains unterschlägt, auch die Parallele zwischen den zwei inkongruenten Jagdszenen verloren.114 Als inkongruente Jagdszenen galten im vorigen Kapitel die ›Jagd‹ Percevals auf den Roten (mit dem Wurfspeer auf einem Jagdpferd reitend) und die Jagd Gauvains auf die Hinde (mit einer für den ritterlichen Kampf gedachten Lanze auf einem Streitross reitend).
113 114
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 198. Bei Wolfram findet sich allerdings eine missglückte Beizjagd des Königs Vergulath, der dabei sein Pferd und seine Kleider verliert, als er den Falken zu Hilfe kommen will. Möglicherweise kann man diese Jagdszene auf zwei vorausliegende beziehen, die ›Jagd‹ Parzivals auf den Roten vor Nantes (dort von Keie als ›Hund auf den Eber‹ gehetzt), wobei der Rote Pferd und Kleider verlor und zweitens die missglückte Jagd des Falken (der ebenfalls mit Parzival parallelisiert wird [V.282, 1–3]) auf eine Wildgans am Plimizoel. Gemeinsames Element dieser Jagden neben Kleider- und Pferdverlust (Ither/Vergulath) ist der jeweils entflogene Falke. Denn Parzival, der quasi als Falke gegen Ither instrumentalisiert wurde, geht danach dem Hof verloren, was Artus mehrfach beklagt. Der Falke der Blutstropfenepisode wiederum war ebenfalls dem Artushof entflogen, während drittens König Vergulath – wie oben erwähnt – Kleider und Pferd ja bei dem Versuch verliert, den verlorenen Falken wiederzubekommen.
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Bei beiden Jagdszenen mit unpassenden Mitteln war der Knappe Yvonet als Helfer beteiligt. Chrétien hatte die Parallele zwischen diesen beiden Ereignissen also durch die im übrigen Text gar nicht vorhandene Figur Yvonets zusätzlich hervorgehoben. Es ist wenig überraschend, wenn Wolfram mit dem Mordvorwurf gegen Gauvain inhaltlich nicht viel anfangen kann und seine Figur urplötzlich freispricht, indem er erklärt, dass der Vorwurf auf einem Missverständnis beruht habe, wand [...] der grâve Ehcunaht ûf im die grôzen schulde truoc, der man Gâwân zêch genuoc [V.503,16–18] (›denn ... der Graf Ehcunaht hatte die große Schuld auf sich geladen, deren man Gawan so schwer beschuldigt hatte‹). Dieser abrupte Wechsel vom Beschuldigten zum Freigesprochenen ist charakteristisch für die Motivationsprobleme der Gawanhandlung, die Wolfram durch seine Abänderungen in Kauf nehmen musste. Neil Thomas befand sogar, nach seiner plötzlichen Entlastung habe Gawan eigentlich gar keine Aufgabe mehr. »There is no arguing away the major narrative flaws which Wolfram, for good or evil, has taken over from Chrétien.«115 Wolfram dürfte freilich wenig Alternativen gesehen haben, denn die im Conte du Graal beabsichtigte Lösung der Problematik des Mordvorwurfs wurde von Chrétien nicht mehr dargestellt. Diese durch den Fragmentcharakter der Vorlage verursachte Motivationsschwäche der gesamten Gawanhandlung muss Wolfram gestört haben, denn er hat darauf durch weitere Eingriffe reagiert, die aufschlussreich sind. Verschiedene Forschungsmeinungen nehmen nicht von ungefähr bezug auf jene Textstelle, in welcher Gawan sich während seiner âventiure-Fahrt daran erinnert, dass Parzival ihm aufgetragen hatte, den Dienst an den Frauen höher zu stellen als den an Gott [V.370,18 ff].116 Tatsächlich hatte Parzival unmittelbar nachdem er sich selbst von Gott lossprach, seinem Freund Gawan vor dem Aufbruch zur âventiure-Fahrt geraten: Friunt, an dînes kampfes zît dâ nem ein wîp für dich den strît: diu müeze ziehen dîne hant; [V.332,9–11] [Freund, möge es eine Frau sein, die bei deinen Auseinandersetzungen dein Handeln leitet und um derentwillen du kämpfst.]
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Thomas: Gawan adventures, 1981. Bd. II, S. 855. John M. Clifton-Everest: ›Knights-Servitor and Rapist Knights. A contribution to the Parzival/ Gawan Question‹, in: ZfdA 119 (1990), S. 290–317, vgl. S. 298 interpretiert die gesamte Gawanhandlung unter diesem Aspekt: »Gawan is simply acting out the part given him by Parzival.« Vergleiche auch Sidney M. Johnson: ›Parzival and Gawan: Their conflicts of duties‹, in: Wolfram-Studien I (1970), S. 98–116, hier S. 102. Neil Thomas: Gawan adventures, 1981, vgl. u. a. S. 851 u. S. 855, sieht eher eine Erzählstrategie des »inuendo«, d. h. von Anspielungen auf Gawans angebliches Schürzenjägertum, das ihn dazu zwinge, seine Untadeligkeit (vor allem in Bezug auf die Vergewaltigung von Frauen) unter Beweis zu stellen: »He must both extirpate coercion in others and demonstrate his own immunity from temptations« (S. 856).
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Einen vergleichbaren Rat der Percevalfigur gab es in Chrétiens Conte du Graal nicht. Wolfram muss bei der Bearbeitungstätigkeit nach einer (neuen) Begründung für die umfangreiche Gawanpartie und ihre âventiuren gesucht haben. Er war sich dabei gewiss der Tatsache bewusst, dass die manifesten Inhalte der Abenteuer von Chrétiens Gauvain sich dadurch kennzeichnen, dass sie sich auf das Geschlechterverhältnis, insbesondere auf den Frauendienst bezogen. Das mag ihn inspiriert haben, diese Motivation in seiner Bearbeitung wiederholt zu explizitieren und als ausdrücklichen Rat Parzivals darzustellen, den Gawan getreu beherzigt. Man könnte sagen, dass Wolfram hier aus der Not eine Tugend gemacht hat, denn mit dieser Umstellung gelingt es ihm, seine Gawanhandlung in einen größeren aber eben ganz anderen Kontext als die Gauvains im Conte du Graal einzubetten und sie auch ganz anders mit der Parzivalhandlung zu verzahnen. Wolfram konstruiert durch die explizite Motivation eine Aufgabenteilung zwischen Protagonist und Hofakteur, wie sie bei Chrétien nicht denkbar wäre, da die Figur des Hofakteurs dort funktional gesehen immer in einem antagonistischen Verhältnis zu der des Protagonisten inszeniert wird. Wie sieht die Aufgabenteilung bei Wolfram aus? Im Groben besteht sie in der Zweiteilung der Handlung eines Gralsuchers einerseits, der sich von Gott lossagte und mühsam zu Gott zurückfindet, und der Handlung eines minne- und âventiure-Ritters andererseits, der die Problematik des Frauendienstes ausloten und bewältigen muss. Signifikant ist, dass Wolframs Parzivalfigur nicht nur – wie Chrétiens Perceval – mit einer Familiengeschichte von entmannten Vorfahren ausgerüstet ist, sondern zudem selber als einer von jenen Männern dargestellt wird, die Frauen durch ihre sexuelle Zurückhaltung enttäuschen. An den beiden Szenen des intimen Zusammenseins Parzivals mit Condwiramurs wird dies deutlich. In der ersten gemeinsamen Nacht, als sich die Frau in einem verführerischen, seidenen Nachtgewand, ihrem werlîchiu wât, in Parzivals Kammer geschlichen hatte, berichtet der Erzähler süffisant: ob er si hin an iht nem? leider des enkan er niht ... [V.193, 8f.] (›Ob er sie in sein Bett zog? Aber nein, auch er versteht nichts von solchen Dingen ...‹).117 Und als sie sich doch zu ihm ins Bett gelegt hat, macht der Erzähler klar, daz si die süenebæren lide niht zein ander brâhten. wênc si des gedâhten [V.193, 12–15] (›dass sie die zur Versöhnung so geeigneten Glieder nicht vereinigten. Das kam ihnen gar nicht erst in den Sinn‹). Wolframs Semantik der süenebæren lide verdankt sich der Sprache des Kampfes und Krieges. Der Begriff der ›Versöhnung schenkende Glieder‹ steht offenbar im semantischen 117
Die hier zitierte Übersetzung (aber nicht der korrespondierende, mittelhochdeutsche Text) stammt (abweichend von den übrigen Paraphrasierungen, die nicht gesondert markiert sind) von Wolfgang Spiewok in: Wolfram von Eschenbach. Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Stuttgart 1996 (1. 1977).
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Kontext der ›wehrhaften‹ Bekleidung Condwiramurs, ihrem Nachtgewand, mit dem sich die Dame kampflîche [V.192,16] an Parzivals Bett geschlichen hatte. Chrétien hatte diese Situation nicht so keusch gestaltet, denn dort lagen Perceval und seine Partnerin Blancheflur immerhin die ganze Nacht in sinnlicher Umarmung bouche a bouche [V. 2065] (›Mund an Mund‹) beieinander. Auch bei der zweiten Gelegenheit, die Liebesgunst seiner Ehefrau zu genießen und die Ehe zu vollziehen, wozu die Höflinge das Paar regelrecht auffordern, ist Parzival sexuell überfordert: er lac mit sölhen fuogen, des nu niht wil genuogen manigiu wîp, der in sô tuot [V.201, 21–23] (›er lag so sittsam und keusch da, dass viele, heutige Damen mit jemandem, der sie so behandelte, sehr unzufrieden wären‹). Elisabeth Lienert macht auf einen signifikanten Kommentar aufmerksam: »Noch in der keuschen Hochzeitsnacht wird Parzivals männliches Aggressionspotential, seine vreise, ausdrücklich suspendiert: krank was sîn vreise« [V.202, 20].118 Lienert meint allerdings, dass die Beziehung zwischen Condwiramurs und Parzival die einzige sei, die »sprachlich pointiert außerhalb des Gewaltdiskurses gestellt« werde.119 Aber die Sprache von Krieg und Gewalt dominiert – wie oben beschrieben – auch die Inszenierung beider Szenen des nicht-vollzogenen Beilagers des Protagonisten und seiner Geliebten. Man kann stattdessen festhalten, dass Condwiramurs und Parzival beide vor dieser Gewalttätigkeit, die sich in der Minne anzubahnen droht, zurückschrecken, dass sie beide eingeschüchtert von einer Vereinigung absehen. Erst später räumt der Erzähler dann ein, dass Parzival mit seiner Frau nâhe süeze [V.203, 8] in ihrer Umarmung gefunden habe. Es mag zutreffen, dass »the narrator takes the side of the sexually naive heroe« aber nicht indem »he chastises modern women and their unrestrained sexual appetite.«120 Denn die nachgereichte Entlastung des Helden kommt eher einer Entschuldigung für sein Versagen gleich und wirkt, als solle nach den eindeutigen Hinweisen auf Parzivals Hemmungen der Lächerlichkeit vorgebeugt werden, indem das Lachen auf die enttäuschten Frauen abgelenkt wird. Die dem Heldenbild geschuldete Ehrenrettung kann das sexuelle NichtFunktionieren Parzivals kaum kaschieren. Wollte man das unter dem Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung Parzivals rubrizieren, d. h. seine Schüchternheit in sexuellen Dingen als einen jener Lernwege auffassen, die der naive Junge durchläuft, »bis er sich auch die hier einschlägige Kunst angeeignet hat«,121 so müsste man trotzdem einräumen, dass sich der Protagonist beim Erlernen des Ritterhandwerks erheblich neugieriger, geschickter und motivierter anstellt als 118
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Elisabeth Lienert: ›Begehren und Gewalt. Aspekte einer Sprache der Liebe in Wolframs Parzival‹, in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Hrsg. von J. Greenfield. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Porto 2004, S. 193–209, S. 205. S. Anm. 118, S. 206. Mertens: Masculinity, 2004, S. 391. Walter Haug: ›Parzival ohne Illusionen‹, in: DVjs 64 (1990), S. 199–217, S. 206.
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beim Erwerben sexueller Kompetenz. Volker Mertens vertritt zwar die These, »Parzival’s masculinity is never in danger.«122 Aber verschiedene Hinweise belegen das Gegenteil. Dazu gehört die Badeszene im Haus von Gurnemanz, wo er sich nicht getraut, aus dem Wasser aufzustehen, obwohl ihm von behilflichen Damen züchtig ein Handtuch zur Bedeckung seiner Scham angereicht wird [V.167, 21ff.]. Auf der Gralsburg, wo man ihn zur Nacht bettet, kann er erneut nicht verhindern, dass seine Nacktheit wahrgenommen wird. Da löst die eigene Blöße bei dem Protagonisten Panik aus. Ironisch kommentiert der Erzähler: Parzivâl der snelle man spranc underz declachen [V.243, 28f.] (›Der mutige Parzival sprang mit einem Satz unter das Deckbett‹). Es gibt nur eine Situation in Wolframs Bearbeitung, wo das Publikum Zeuge eines erotischen Erlebnisses Parzivals wird. Dieses vollzieht sich ausgerechnet in Abwesenheit (s)einer Frau, nämlich in der Anschauung der Blutstropfen im Schnee. Trotzdem repräsentiert diese Trance-Erfahrung keineswegs nur eine hehre, vergeistigte Liebessehnsucht, sondern sie hat durchaus körperlich-erotische Qualität: »Condwîr âmûrs, dem glîchet sich dîn bêâ curs« [V.283, 7f] (›Condwiramurs, dieser Anblick erinnert mich an deinen schönen Leib‹).123 Die Szene erinnert an die Liebestrance Lancelots in der Charrette. Dort bewirkt der Anblick eines Kammes mit Haaren der Geliebten eine sinnliche Ekstase, die Lancelot lähmt, verstummen und erblassen lässt. Der Eros der höfischen Romane entfaltet in diesen Entrückungszuständen eine Macht von erschreckender Wirkung, die zu extremen Taten antreiben aber auch gefährliche Situationen des Kontrollverlustes herbeiführen kann. Dem Erzählerkommentar in der Blutstropfenszene, Gawan sei solher nœte al wîs [V.301,8] ist zu entnehmen, dass die Trance-Erfahrung für Parzival eine nôt (Lexer: »drangsal, mühe, [...] bes. die kampfnot, der kampf«) ist, und zwar offenbar eine, der er sich sehr viel weniger erwehren kann, als der gleichzeitig stattfindenden Attacken seiner Gegner vom Artushof. Von der Szene der Blutstropfen-Trance in Wolframs Bearbeitung, die die Schlüsselszene für die anschließende Aufgabenteilung zwischen Protagonist und Hofakteur darstellt, leitet sich die Begründung ab, weshalb es ausgerechnet Parzival ist, der Gawan den Rat des Frauendienstes gibt, und weshalb es ausgerechnet Gawan ist, der in Wolframs Roman den Frauendienst zu seinem Anliegen machen soll. Zunächst gilt für die Parzivalfigur, dass sie durch die visuelle Stimulation roter Tropfen auf weißem Schnee zu einer sinnlichen
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Mertens: Masculinity, 2004, S. 390. Timothy McFarland: ›Beacurs und Gramoflanz (722,1–724,30). Zur Wahrnehmung der Liebe und der Geliebten in Wolframs Parzival‹, in: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Hrsg. von J. Greenfield. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Porto 2004, S. 169–191, S. 190, hat recherchiert, dass »Wolfram den fremdsprachigen Ausdruck bêâ curs an vier Stellen in der Parzival-Erzählung verwendet, jedes Mal als eine Bezeichnung für die erotische Ausstrahlung von Condwiramurs.«
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Erfahrung gelangt, die regelrecht betäubende Wirkung hat. Bumke kommt zu dem Schluss, dass Parzivals Entrückung einer doppelten Sehnsucht geschuldet ist (der nach dem Gral und der nach seiner Frau), wodurch er »die beiden wichtigsten Stationen seines bisherigen Lebens in einen Zusammenhang« bringe.124 Dabei ist wohl unstrittig, dass »wenngleich Wolfram auch in der Blutstropfenepisode die Gralthematik erwähnt, [...] die Minne doch die Übermacht« behalte,125 denn bezüglich Parzivals Gedanken umben grâl unt der küngîn macht der Erzähler ja deutlich: an im wac für der minnen lôt [V.296, 8]. Obwohl also die Minne das schwerwiegendere Movens dieser Trance-Erfahrung ist, muss man feststellen, dass Parzival gerade jene Lebensfrage des Eros, die ihm in der Szene der Blutstropfen-Trance erstmals zu Bewusstsein kommt, anschließend nicht verfolgen, sondern eben delegieren wird. Wolframs Parzivalfigur ist aus familiärer wie aus personaler Sicht von der Thematik der Sexualität überfordert. Er ist eben kein Lancelot, der mit tiefen Schnittwunden und blutenden Gliedmaßen Schwertbrücken überquert, um die erotische Gunst seiner Dame auskosten zu können, sondern Parzival ist jene Figur, die unverrichteter Dinge vom Bett seiner Dame aufsteht und fortgeht, um seine Mutter zu suchen. Der unberechenbare Eros, der ihn in der Blutstropfenszene entrückt, und der seinen Onkel die körperliche Unversehrtheit ausgerechnet an jenem Glied kostete, welches die Fruchtbarkeit und das Wohlergehen der Gralsgesellschaft garantierte, schüchtert Parzival ein und veranlasst sein Abstehen zugunsten eines anderen. Das ist umso bemerkenswerter, als die Gralsgesellschaft, die ja sein Ziel darstellt, selbst von der ›Verödung‹ sexueller Impotenz als Folge des gewalttätigen Eros erlöst werden muss. Die Blutstropfenszene führt nun gerade Gawan als denjenigen vor, der in einer solchen Situation der Lähmung durch den Eros im Gegensatz zu anderen Rittern besondere Kompetenz demonstriert. Gâwân was solher nœte al wîs: Er het se unsanfte erkant, do er mit dem mezzer durh die hant stach: des twang in minnen kraft unt wert wîplîch geselleschaft. [V.301,8–12] [Gawan waren solche Notlagen schon aus eigener Erfahrungen geläufig. Er hatte sie schmerzlich am eigenen Leib verspürt, als er einmal mit einem Messer die eigene Hand durchbohrte, weil ihn die Macht der Minne und die betörende Gegenwart einer Dame dazu zwangen.]
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Bumke: Blutstropfen, 2001, S. 49. Michel Huby: ›Nochmals zu Parzivals Entwicklung‹, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder. Hrsg. von K. Gärtner, J. Heinzle. Tübingen 1989, S. 257–269, S. 268.
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Nicht nur, dass Gawan selbst solche Liebesnöte schon am eigenen Leib erfahren hat und nicht nur, dass ihn diese Kompetenz in die Lage versetzt, den Protagonisten aus seiner entrückten Situation herauszuführen, sondern insbesondere der Aspekt der Gewalttätigkeit, auch der gewaltsamen Selbstverletzung (das Stechen des Messers in die eigene Hand) ist Ausweis seiner Qualifikation. Der gewalttätige Eros bedeutet für die Schicksale nicht weniger Figuren in Wolframs Roman Kampf, Leid, (Selbst-)Verstümmelung und mitunter sogar den Tod. Die Kastration von Anfortas rührte wie oben erwähnt von diesem Eros. Während Parzival zu seinem visellîn [V.112, 25], dem die Hofdamen einst Bewunderung zollten, ein ängstliches Verhältnis hat, erweist es sich, dass Gawan mit der Gewalttätigkeit des Eros schon vertraut ist. Er hat bereits erfahren, dass sie sich gegen seinen Leib richten kann. Es ist daher eine logische Entwicklung der âventiuren Gawans, dass sie ihm die Erlösung von Schastel marveile aufgeben werden. Vom »Fehlen jedes Bewährungszusammenhangs für Gawan« oder der »grundsätzliche[n] Ziellosigkeit seiner Geschichte« kann keine Rede sein.126 Gawans Leistungen sind das sine qua non des Wolframschen Parzivalromans, denn die Pazifizierung des gewaltätigen Eros kann auf der blutarmen Gralsburg nicht erzählt werden. Sie muss aber gelöst werden, sonst wäre auch Parzivals Läuterungsweg sinnlos. Höhepunkt der âventiure des Schastel marveile ist, dass Gauvain den Aufenthalt in einem Zauberbett, dem lit marveile, überstehen muss. Die fürchterliche Fahrt im lit marveile, die den Ritter hinter seinem Schild Schutz suchen lässt, qualifiziert der Erzähler durch einen Vergleich: swaz der werde Lanzilôt ûf der swertbrücke erleit unt sît mit Meljacanze streit, daz was gein dirre nôt ein niht;
[V.583,8–11]
[Alles was der edle Lanzelot auf der Schwertbrücke durchmachen musste und anschließend noch im Kampf mit Meljacanz, war bedeutungslos im Vergleich zu diesem Schrecken.]
Es trifft zu, dass die Inszenierung der Zauberbett-âventiure den Charakter eines »Durchgang[s] durch Eros und Tod als Burleske« hat,127 Das wilde Herumrasen des Bettes im Geschosshagel und die vollkommene Hilflosigkeit Gawans trägt »kommediantische[] Züge.«128 Aber mit der Thematik ist es dem Erzähler ernst.
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Dagmar Hirschberg: Untersuchungen zur Erzählstruktur von Wolframs »Parzival«. Die Funktion von erzählter Szene und Station für den doppelten Kursus. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Bd. 139. Göppingen 1976, S. 352f. Haug: Illusionen, 1990, S. 212. Ruh: Höfische Epik II, 1980, vgl. S. 111, versteht die »anschließende helfe-Stelle« wo Gawan sich Gottes Hilfe anvertraut, als »ernst gemeint.«
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Er ordnet die Leistung in einen Kontext mit den berühmtesten âventiuren des Genres ein. Li gweiz prelljûs der furt, und Erec der Schoydelakurt erstreit ab Mâbonagrîn, der newederz gap sô hôhen pîn, noch dô der stolze Iwân sînen guz niht wolde lân Uf der âventiure stein. solten dise kumber sîn al ein, Gâwâns kumber slüege für, wæge iemen ungemaches kür.
[V.583,25–584,4]
[Weder der Gué Périlleux, die gefährliche Furt, noch der Schoydelakurt, wo Erec gegen Mabonagrin siegte, verursachten solch extreme Bedrängnisse, ebenso wenig wie der Guss des Wassers auf den âventiure-Stein, den der hochmütige Iwein partout nicht unterlassen wollte. Selbst wenn man diese schweren Prüfungen alle zusammenrechnete, würde Gawans Ungemach gemessen am Grad der Belastung das Übergewicht haben.]
Gaweins âventiure auf dem Schastel marveile vereinigt den Aspekt einer Burleske und den einer Erlösungsleistung, die dort zur Zusammenführung der einst getrennten Geschlechter im höfischen Fest führt. Es kommt wirklich zu einer Pazifizierung des Eros. Gawan erduldet die Tortur im Zauberbett und geht an die Grenze seines Lebens. Ein wildes Tier, der Löwe, dem er die Pranke abschlägt, wird signalhaft ›depotenziert‹. Aber trotz dieser Leistung, die die Voraussetzung für das Projekt beider Questeritter im Parzivalroman darstellt, ist eine grundsätzliche, ethische Neuorientierung Wolframs nicht zu erkennen. Zwar wird Gawan mit dem gewalttätigen Eros ›fertig‹, aber das höfische Geschlechterverhältnis wird nicht neu konzipiert. Während Chrétien in den aventuren Gauvains einen Gegensatz zwischen (ritterlicher) Gewaltanwendung und Caritas aufbaute, und Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten des jeweils anderen zum Fundament des Geschlechterverhältnisses machte, wird bei Wolfram Dichotomie von amour und chevalerie in der Schwebe gehalten. »Le modèle romansque que Wolfram utilise comme support (...) combine étroitment deux termes: la chevalerie et l’amour.«129 Den Opfern des gewalttätigen Eros gilt »nicht kritische Empörung, sondern Klage.« Aber »man stößt kaum einmal auf Distanznahme. Wolfram scheint diese fatale Welt nicht nur zu akzeptieren, sondern er idealisiert das rücksichtslose Haudegentum wie die ungedämpfte Erotik.«130 Emmerlings These, dass Wolfram gegen Chrétien »ein neues Modell der Beziehung zwischen Ritter und Dame im höfischen Roman zu begründen« 129 130
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 202. Haug: Illusionen, 1990, S. 202.
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beabsichtigte,131 erscheint zweifelhaft. Dagegen spricht übrigens, dass die Liebessprache im Parzival »Vorstellungen von Dienst oder Partnerschaft in der Liebe in Täter-Opfer-Konstellationen überführt.«132 Nicht Wolfram, sondern Chrétien wollte ein tiefes »Unbehagen in der Zivilisation« durch seine Gestaltung des Geschlechterverhältnisses wach halten.133 Eine unmissverständliche Kritik am ›starker Körper bekommt schönes Weib‹-Prinzip, gar an der problematischen Dichotomie von minne und âventiure lässt sich aus Wolframs Text nicht ableiten. Zu viele Signale wie der Erzählerkommentar, der Gawan auffordert, Orgeluse niederzuschlagen und zu vergewaltigen [V.601,17ff.], weisen in die gegenteilige Richtung. Die uneinheitlichen Textsignale bedeuten »Schwierigkeiten für den modernen Leser«, »innerhalb eines misogynen Diskurses Lektürestrategien zu entwickeln, die den durch die Texte mitproduzierten kulturellen Systemen nicht in die Hände spielen.«134 Der Parzival ist nicht nur »[...] ein Werk von unabsehbarer Vielfalt der Themen«,135 sondern man muss sich hüten, die Polyphonie des Textes auf einen einzigen interpretativen Nenner bringen zu wollen. »Chercher une unité conceptuelle dans les »synthèse« wolframiennes revient à fournier un certificat de rigeur interlectuelle à ce qui n’est qu’une sensibilité au monde.«136 III.3.2.2 Gawans Zweikampf mit dem Protagonisten Obwohl die vorausgegangenen Betrachtungen ergeben haben, dass Gawan bei Wolfram nicht mehr in der charakteristischen Funktion des Antagonisten gegenüber der Figur des Protagonisten aufgestellt ist, bleibt doch das merkwürdige Faktum des Zweikampfes zwischen Gawan und Parzival im Endgeschehen des Romans bestehen, das zu dieser harmonischen Aufgabenteilung nicht recht passen will. Ist am Ende doch ein Antagonismus zwischen Hofakteur und Protagonistenfigur in Wolframs Bearbeitung erhalten geblieben? Könnte man vielleicht sogar sagen, dass die ursprüngliche Verfehlung des Artushofes, Ither in zynischem Kalkül von Parzival ermorden zu lassen, weil eben kein Gawan zur 131
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Emmerling: Geschlechterbeziehungen, 2003, S. 157. Emmerlings Studie, die von einer Neukonzeption der Minnethematik, von einem neuen »Weiblichkeitskonzept« und einem »neuen Entwurf von Männlichkeit« spricht (S. 55), berücksichtigt leider viele wichtige Forschungsmeinungen nicht. Insbesondere vermisst man Auseinandersetzungen mit Döffinger-Lange (Gauvain-Teil 1998, Kap. IV.1 zu Gawan in der literarischen Tradition) oder Pérennec: Roman arthurien, 1984. Lienert: Begehren, 2004, S. 208. Ulrich Wyss: Besprechung von René Pérennec: Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe et XIIIe siècles: in PBB 108 (1986), S. 271–282, S. 278. Martin Baisch: ›Orgeluse – Aspekte ihrer Konzeption in Wolframs von Eschenbach Parzival‹, in: Schwierige Frauen – Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von A.M. Haas, I. Kasten. Bern 1999, S. 15–33, vgl. S. 22. Elisabeth Schmid: ›Wolfram von Eschenbach: Parzival‹, in: Interpretationen mittelhochdeutscher Romane und Heldenepen. Hrsg. von H. Brunner. Stuttgart 1993, S. 173–195, S. 173. Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 195.
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rechten Zeit auf die Herausforderung des Roten hatte reagieren wollen, sich in dieser späten Konfrontation zwischen dem Mörder (Parzival) und dem durch Unterlassung Mithaftenden (Gawan) doch noch Bahn bricht, und dass Gawan, der beinahe unterliegt, in diesem Kampf die gerechte Strafe für die seinerzeitige Unterlassung sowie die ethische Verfehlung des Hofes kassiert? Eine solche Argumentation wäre selbstverständlich nur aus funktionaler Sicht, nämlich durch das Aufeinanderbeziehen zweier Elemente des narrativen Schwungrades, von Initialkrise und Endgeschehen (Rektifikation) möglich. Überraschenderweise ist ein Bezug auf die Situation der Initialkrise in der Szene des Zweikampfes von Protagonist und Hofakteur tatsächlich erkennbar. Das könnte man als ein Signal des Textes werten, dass trotz der bisherigen, gegenteiligen Indizien der organische Zusammenhang zwischen Initialkrise und späterer Rektifikationsleistung des Hofakteurs, der die Romane Chrétiens strukturierte, auch in Wolframs Bearbeitung noch aufscheint. Allerdings sieht der Zusammenhang bei Wolfram ganz anders aus und beruht auf ganz anderen Bezügen, als der, den der Torso des Conte du Graal vermuten lässt. Eine vergleichende Besprechung soll dies veranschaulichen. Das Motiv des Zweikampfes von Protagonist und Gauvainfigur ist nur in einem der Artus-Aventiureromane Chrétiens, und zwar dem Chevalier au Lion, tatsächlich realisiert (vgl. die Diskussion des Motivs und der betreffenden Forschungsmeinungen in II. 4.2.2). Bezüglich dieses Romans konnte an entsprechender Stelle gezeigt werden, dass der Zweikampf zwischen Yvain und Gauvain dort einer akuten Rivalität entsprang, die seit der Initialkrise des Chevalier au Lion den Protagonisten Yvain motiviert hatte, den Hofakteuren (Keu und Gauvain) zuvorkommen zu wollen, was zu Zweikämpfen zuerst mit Keu, später auch mit Gauvain führen sollte. Eine derartige, akute Rivalität zwischen Gawan und Parzival, wie sie im Chevalier au Lion die Zweikämpfe motiviert, hat Wolfram in seiner Bearbeitung des Conte du Graal aber gerade nicht inszeniert. Ein Hinweis auf Wolframs vermutete Anlehnung an den Iweinroman Hartmanns von Aue, der in der Forschung wiederholt auftaucht, reicht also zur Erklärung dieses Geschehens nicht aus.137 Im Gegenteil, die vorausgegangenen Überlegungen ließen ja erkennen, dass selbst das klassische, antagonistische Interaktionsmuster zwischen Hofakteur und Protagonist, d. h. der Gegensatz von personaler Motivation des Protagonisten und gesellschaftskonformer Motivation des Hofakteurs Gauvain, bei Wolfram durch eine Aufgabenteilung unterfangen wird. Parzival und Gawan wollen nicht Verschiedenes, sondern sie
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Vgl. u. a. Ruh: Höfische Epik II, 1980, S. 87 u. 116; Pérennec : Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 233; Haug: Illusionen, 1990, S. 214, Anm. 14, führt überdies aus, Wolfram habe dem Endkampf eine »zusätzliche und das Schema [des doppelten Kursus] sprengende Funktion [...] gegeben.«
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sind sich bezüglich der Notwendigkeit, âventiuren in den Dienst von Frauen zu stellen, einig. Die Opposition zwischen Gawan und Parzival ist erstaunlicherweise dennoch gegeben, denn der Zweikampf im Endgeschehen von Wolframs Bearbeitung ist ja nicht die erste Gelegenheit, bei der Parzival auf der Gegenseite von Gawan kämpft. (Dies geschah zuvor schon in Bearosch [V.383,24] wo Parzival sogar das Gawan entlaufene Pferd Ingliart erbeutete [V.389, 25f]) Das wirft die Frage auf, wie der Zweikampf (und die unterschwellig bestehende Opposition der Figuren während Gawans âventiuren) stattdessen motiviert werden. Die Signale des Textes deuten darauf hin, dass eine Erklärung in der Initialkrise gesucht werden muss, nämlich an jener Stelle, wo Wolfram die ursprüngliche Motivation der Mordtat am Roten Ritter als einer ethischen Verfehlung der Artusgesellschaft verschob, indem er sie stattdessen zur allgemein menschlichen Schuld der Kainstat umgestaltete. Die Thematik des Verwandtenkampfes ist in den eben genannten Situationen der Opposition von Gawan und Parzival ein Leitmotiv. So wird in der Schlacht bei Bearosch davon berichtet, dass Gawan eine Gruppe Bretonen auf der Gegenseite kämpfen sieht, die infolge ihrer Gefangennahme für Herzog Astor in den Krieg ziehen müssen, sich aber noch immer mit den Merkmalen der Artussippe und dem Schlachtruf ›Nantes‹ [V.382,12], das ist Artûss herzeichen [V.382,13], identifizieren. Diese ehemaligen Parteigänger von König Artus treten hier also gegen den Neffen ihres ehemaligen Anführers an. Dabei tragen einige von ihnen ein von Ilinot, dem getöteten Sohn von König Artus, übernommenes Wappenzeichen zur Erkennung auf ihren Helmen oder Schilden. Gawan erkennt dieses Zeichen und vergießt darüber Tränen: Waz mohte Gâwân dô tuon, ern siufzete, ob er diu wâpen sach, wande im sîn herze jâmers jach. sîn œheimes sunes tôt brâhte Gâwânn in jâmers nôt. erekande wol der wâpen schîn: dô liefen über diu ougen sîn. er liez die von Bertâne sus tûren ûf dem plâne: er wolde mit in strîten niht, als man noch friwentschefte giht.
[V.383,6–16]
[Was konnte Gawan beim Anblick der Wappenzeichen anders tun, als zu seufzen, denn sein Herz war davon tief bekümmert. Der Tod des Sohns seines Onkels machte ihn traurig. Die Wappenzeichen erkannte er sehr genau. Da liefen ihm die Augen über. Deshalb ließ er die Krieger aus Bertane auf dem Schlachtfeld in Ruhe. Er wollte nicht gegen sie kämpfen. So gehört es sich bis heute, wenn man Freundschaft zugesichert hat.]
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Die Situation in Bearosch ist also dadurch gekennzeichnet, dass hier ehemals Verbündete gegen den Artusneffen Krieg führen, die überdies unter dem Wappen eines Verwandten ihres Gegners in die Schlacht gezogen sind. Die vielsagende Reaktion Gawans, sein Weinen und seine Schonung dieser Gegner, dokumentiert ein ethisches Verhalten, das sich Parzival zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht angeeignet hat. Eindeutiger kommt der Bezug auf die Problematik des Verwandtenkampfes in der Szene des Zweikampfes von Gawan und Parzival ans Licht. Als die Boten des Artus auf dem Rückweg von Gramoflanz den beiden Kämpfern (Gawan und Parzival) begegnen und Gawans Namen rufen, wirft Parzival erschrocken sein Schwert aus der Hand: ›unsælec unde unwert bin ich‹ sprach der weinde gast.
[V.688,22f.]
[Verflucht und entehrt bin ich«, sprach der weinende Fremde.]
Die Erklärung für den überraschenden Sinneswandel seines im Kampf haushoch überlegenen Gegners erfährt Gawan dann von ihm selber: ›neve, ich tuon mich dir bekant dienstlich nu unt elliu mâl. ich pinz dîn neve Parzival.‹ [V.689,22ff.] [Lieber Cousin, ich gebe mich dir als dein auf immer ergebener Freund zu erkennen. Ich bin es, dein Cousin Parzival.]
Die Thematik des Verwandtenkampfes deutet auch hier auf die Ur-Verfehlung Parzivals, den Mord Ithers vor Nantes zurück. Von ihr leitet sich der sinnstiftende Bezug des Zweikampfes mit Gawan für den Protagonisten ab, der in dieser Szene erstmals Reue zeigt. Diese Problematik kann aber auch als die narrative Klammer für die Teilnahme der Gawanfigur an diesem Zweikampf gewertet werden, was verschiedene Hinweise erhärten. Seit Gawan in den Frauendienst für Orgeluse getreten ist, hat sich sein Verhalten bezüglich der Schonung seiner Verwandten oder ehemaligen Mitstreiter, das er bei Bearosch zeigte, merklich verändert. An erster Stelle ist hier die Passage relevant, die davon berichtet, dass das Heer von König Artus auf dem Weg zum Schastel marveile von den Kämpfern der Herzogin Orgeluse angegriffen wurde, was beidenthalbz mit schaden [V.664, 29] abgelaufen war. Der Erzähler rügt Gawan ausdrücklich, diesen Kampf seines Verwandten gegen das Heer seiner Dame (und späteren Gemahlin) nicht verhindert zu haben: och solte mîn hêr Gâwân der herzogîn gekündet hân
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daz ein sîn helfære in ir lant wære: sô wære des strîtes niht geschehn.
[V.665,25–29]
[Aber mein Herr Gawan hätte der Herzogin doch mitteilen sollen, dass einer seiner Verbündeten durch ihr Land zog. Dann wäre es gar nicht zum Kampf gekommen.]
Im Dienst Orgeluses findet sich Gawan anschließend dazu bereit, gegen Gramoflanz zum Zweikampf anzutreten. Auch dieser Kampf würde in jedem Fall Leid für einen Verwandten, nämlich seine Schwester Itonje bedeuten, die dadurch entweder ihren Bruder oder ihren Geliebten Gramoflanz verlieren könnte. Da dieser mit Gramoflanz verabredete Zweikampf durch eine Verwechslung schließlich auch die Ursache des Zweikampfes von Parzival mit Gawan wird, ist Gawan auch an diesem Verwandtenkampf eine Mitverantwortung nicht abzusprechen. Sein bedingungsloser Frauendienst zeitigt also Konsequenzen, die ihn in eine Problematik verstricken, gegen die ihn zuvor sein eigenes ethisches Verhalten gefeit hatte, ja die er – etwa in Bearosch – durch eigenes Eingreifen zu entschärfen suchte. (Denn in Bearosch ermöglichte Gawans Intervention ja die Versöhnung zwischen zwei Gegnern, deren einer der Zieh- und spätere Schwiegervater des anderen war.) Während die zuvor genannten Beispiele ein aktives Involviert-Sein Gawans in die Problematik des Verwandtenkampfes belegen, kann man auch von einer passiven, funktional begründeten Mitschuld der Figur sprechen. Als Indiz dient hier das zunächst merkwürdige Faktum, dass Gawan den Zweikampf gegen unerkannten Parzival wirklich fast verloren hat, als in letzter Sekunde die vorbeiziehenden Knappen die situative Wende bringen. Die eindeutige Unterlegenheit Gawans gegen Parzival ist aus zwei Gründen ungewöhnlich. Zum einen ist ja in dieser Szene eine Motivparallele zum Endkampf im Chevalier au Lion, bzw. im Hartmann’schen Iweinroman gegeben, wo der Kampf zwischen Hofakteur und Protagonist allerdings unentschieden verläuft. Hartmanns Erzähler lässt daran keinen Zweifel: ezn wart nie glîcher kampf gesehen [V.7272] (›Nie hatte man einen ausgeglicheneren Kampf gesehen‹). Vor diesem Hintergrund ist Gawans eindeutige Unterlegenheit in Wolframs Bearbeitung zumindest eine signifikante Änderung. Gawans Unterlegenheit ist aber auch unter dem Aspekt der damit verbundenen Aufwertung der Figur des Protagonisten kaum zu verstehen, denn die Figur des Protagonisten ist durch ihr unethisches Handeln seit dem Ithermord als des mæres herre der offensichtliche Exponent der Kainsproblematik. Parzivals Handeln im Zweikampf mit Gawan deutet – bis zur überraschenden Wende durch Intervention der Knappen – auf keinerlei Erkenntnisfortschritt hin. Es kann also nicht der ethische Wandel des Protagonisten sein, der ihm die Ehre der Überlegenheit einträgt. Im Gegenteil, der Täter Parzival steht hier mög197
licherweise im Begriff, seine Untat vor Nantes zu wiederholen. Sollte es also, weil ethische Gründe mangeln, wirklich nur der banalen Kraftmeierei Parzivals geschuldet sein, wenn er im Zweikampf mit Gawan die Oberhand behält? Oder deutet Gawans Unterlegenheit in dieser Situation am Ende doch auf einen strukturellen Zusammenhang hin? Betrachtet man die Szenenfolge am Artushof in Nantes noch einmal unter diesem Blickwinkel, so kann man für Wolframs Roman einen Zusammenhang rekonstruieren, der den Motivationszusammenhängen in den Romanen Chrétiens nicht unähnlich ist. Zwar hatte Wolfram wie erwähnt die Mordtat am Roten in einen neuen, moraltheologischen Bedeutungskontext gestellt, doch die Tatsache, dass Keie und Artus aktiv auf dieses Verbrechen hinwirkten, indem sie den Protagonisten instrumentalisierten, wurde ja von ihm klarer herausgearbeitet als in seiner Vorlage. Das Problem des Hofes in Nantes konnte, da die Gawanfigur nicht auftrat und nicht agierte (Inertia), nur durch die personal motivierte Figur des Protagonisten aus dem Weg geräumt werden. Damit ist der Hofgesellschaft eine Mitschuld an der Mordtat, bei Wolfram also eine Mitschuld am Verbrechen des Bruder- bzw. Verwandtenmordes anzulasten. Die Gawanfigur, deren Aufgabe es wäre, in Krisen für die Hofgesellschaft einzutreten (wie etwa am Plimizoel), und die überdies durch ihren Namen und Ruf als hervorragendster Vertreter der Tafelrunde für deren ethische Tadellosigkeit bürgt, kommt deshalb zumindest eine ungewollte Mitverantwortung für die verwerfliche Aktion vor Nantes zu. Dieser Verantwortungszusammenhang scheint sich in den oben beschriebenen, zunehmend bedenklichen Aktionen Gawans im Dienst seiner Dame zu verdichten. Man könnte sagen, die Thematik des in Kauf genommenen Verwandtenmordes zugunsten der Durchsetzung personaler Ziele für die Geliebte holt ihn nun ein. Sie korrumpiert ihn und lässt ihn im Zweikampf gegen Parzival unterliegen. Hierauf würde auch deuten, dass Gawan – ganz im Gegensatz zu Parzival, der unwissentlich seine Verwandten mit Kampf und Tod bedrohte – wissentlich die Benachrichtigung Orgeluses unterließ und wissentlich den bedenklichen Zweikampf mit Gramoflanz arrangierte. So gesehen bestünde eben doch eine ethische Unterlegenheit, die das Scheitern der Gawanfigur auch aus funktionaler Sicht erklären könnte. Die Auffassung von Veerle Uyttersprot, »dat de daden van Gawan in de Parzival minder problematisch zijn dan die in de Perceval«,138 ist im Licht der bisherigen Überlegungen zu verneinen. Genau das Gegenteil trifft offensichtlich zu. Während die Erlösungsleistungen Gauvains im Conte du Graal auf Caritas beruhen und auf eine Wiederzusammenführung der Geschlechter und Generationen im
138
›[...] dass die Taten Gawans im Parzival weniger problematisch sind als die im Perceval.‹ Veerle Uyttersprot: Enti hoofsche Walewein, sijn gheselle was daer ne ghein. Ironie en het Waleweinbeeld in de Roman van Walewein en in de Europese middeleeuwse Arturliteratuur. Dissertation. Brussel 2004, S. 244.
198
höfischen Fest hinlaufen, scheitert Gawan in Wolframs Adaptation an dieser Aufgabe aufgrund einer personalen Motivation, die in Kauf nimmt, bei der Durchsetzung eigener Ziele selbst die eigenen Verwandten zu gefährden. Diese Argumente deuten an, dass ein Interaktionsmuster zwischen den Hofakteuren und dem Protagonisten in Wolframs Roman wirksam ist, welches bis zur Begegnung Gawans mit Orgeluse in groben Zügen tatsächlich dem Chrétiens gleicht. Ab der Begegnung mit Orgeluse allerdings wäre das klassische Muster Chrétiens, in welchem die Gauvainfigur als ungewollt Mitverantwortlicher für die Hofproblematik (und zwar im Antagonismus zur Figur des Protagonisten) rektifizierend handelt, durchbrochen, denn die Gawanfigur scheitert ja zuletzt nicht nur bei dem Plan vor Joflanze in einem Überraschungscoup »die verfeindeten Parteien miteinander zu versöhnen und die verschiedenen Gruppen in die Artusgesellschaft zu integrieren«,139 sondern die »Geheimdiplomatie«140 Gawans entpuppt sich zunehmend als eine personal motivierte, d. h. dem Dienst an seiner Dame und vielleicht auch dem eigenen Ruhm verpflichtete Angelegenheit, die den ethischen Interessen der Hofgesellschaft (der Bewältigung des Mitverschuldens des Ithermordes) durch Rückfall in denselben Fehler zuwiderläuft. Gerade dies entspricht nicht mehr der Funktion der Gauvainfigur Chrétiens, die eine gesellschaftskonforme Motivation antreibt, im Interesse der Hofgesellschaft zu handeln. In diesem Sinn wäre Gawans Beinahe-Niederlage gegen Parzival ein Signal, dass Wolfram die Funktion der Gawanfigur nicht mehr ausschließlich als die eines ›ethischen Garanten‹ sieht, der in letzter Instanz den entscheidenden Beitrag zur Lösung der Hofproblematik liefert und deshalb nicht unterliegen kann. In jedem Fall scheint mit Wolframs Parzivalroman eine Entwicklung einzusetzen, die die Gawanfigur auf seinen ausgedehnten Abenteuerserien sukzessive mit personalen Anliegen ausstattet, d. h. in die Position eines dem Protagonisten ähnlichen Akteurs einführt, wohinter die ursprüngliche funktionale Bezogenheit ausschließlich auf den Artushof langsam zu verblassen beginnt. Die Emanzipation des Hofakteurs aus den schematischen Vorgaben des Chrétien’schen Interaktionsmusters hätte unter dieser Perspektive schon bei Wolfram begonnen. Sie wird in den postklassischen Romanen zur Regelsituation. III.3.2.3 Gawans Hochzeit Bevor die veränderte Funktion der Gawanfigur in Wolframs Roman abschließend beurteilt werden kann, müssen noch zwei Aspekte in den Blick genommen werden, die weiteren Aufschluss darüber geben, wie Wolfram mit der präfigurierten Rolle seiner Figuren umgegangen ist. Hierher gehört die Frage,
139 140
Bumke: Blutstropfen, 2001, S. 164. S. Anm. 139, S. 163.
199
inwiefern etwa das höfische Alter Ego Gawans, nämlich Keie, noch den Spielregeln gehorcht, die das Agieren der beiden Hofakteure in den Romanen Chrétiens koordinierte. Zunächst aber gilt das Interesse noch einmal der Gawanfigur selber, weil Wolfram seinen Hofakteur im Endgeschehen des Romans mit Orgeluse verheiratet, was einen eklatanten Bruch mit den Genrekonventionen darstellt und dennoch in der Artusliteratur kein isoliertes Ereignis bleibt. Die Verheiratung Gawans ist deshalb ein Bruch mit der Konvention der Figur, weil dieser Hofakteur nur dann genrekonform agieren kann, wenn weder an seiner immerwährenden Präsenz und Einsatzbereitschaft für die Anliegen des Hofes noch an seiner Disposition (nicht durch eine ›eigene‹, figurenspezifische Problematik belastet oder vereinnahmt zu sein) gerüttelt wird. »Eheschließung eines Artusritters bedeutet Abschied vom Artushof, letztendlich auch Abschied von der Aventiure.«141 Ein verheirateter Gawan, der sich womöglich auf eine eigene Domäne zurückzieht, steht also quer zur narrativen Funktionalität. Pieter Vostaert, der Fortsetzer des Roman van Walewein, der sich durch die Interferenz des Märchenschemas mit dem Schema des Artusromans zur Verheiratung seines Helden Walewein genötigt fühlte, äußert nicht ohne Grund seine Bedenken gegen das, was ihm die Vorgabe des Märchenschemas erzählerisch abnötigen will: Sulke willen segghen hier Dat Walewein, die ridder fier, Trouwede Ysabele die scone; [...] Maer in gheloefs clene no groot;
[V.11103–11108]
[Es gibt zwar einige, die behaupten, dass der stolze Walewein die schöne Ysabele geheiratet habe. (...) Aber ich halte das für vollkommen unglaubwürdig.]
Vostaerts (bzw. des Erzählers) Vorbehalt bringt ans Licht, dass dem postklassische Autor die Unverheiratbarkeit der Waleweinfigur noch genau bewusst war, die dem Hofakteur selbst dann nicht abgesprochen werden durfte, als er längst von der antagonistischen Rolle des Hofakteurs in die Zentralstellung des Hauptprotagonisten aufgestiegen war. Die Frage drängt sich auf, wie es sein kann, dass ausgerechnet Wolfram, der den klassischen Autoren (Chrétien und Hartmann) zeitlich noch näher stand, gegen einen solchen Bruch gar keine Bedenken hatte. Alfred Ebenbauer mutmaßte, dies liege u. a. an »Wolframs ›Ehefimmel‹. Lustspielschluss? Das auch.«142 Pérennec scheint auf den
141
142
Alfred Ebenbauer: ›Gawein als Gatte‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längsee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 33–66, S. 35. S. Anm. 141, S. 36.
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ersten Blick in dieselbe Richtung zu denken: »Wolfram est un fervent apologist du mariage et un grand marieur.« Er wendet sich aber gegen die Auffassung, Wolfram habe Gawan durch die Verheiratung als Hofakteur aus dem Verkehr ziehen wollen. »Il nous semble plutôt qu’il n’a pas résisté à l’envie de faire convoler son deuxième héros en justes noces.«143 Ebenbauer schlägt noch eine weitere Erklärungs vor: »Wolfram konnte Gawein verheiraten, weil Gawein und der Artushof verabschiedbar waren. Durch den heilsgeschichtlichen Schlußpunkt des Gralsabenteuers hat der Artushof ausgedient. Gawein [...] wird hier nicht mehr gebraucht.« Das bedeutet: »Ehe als Schlußpunkt der Gattungsentwicklung.«144 Dieser Formel könnte man sich anschließen, wenn feststünde, dass die Berufung Parzivals zum Gralskönigtum (und der Gralsbereich) in Wolframs Parzivalroman als ideologisch höherwertige Position gegen den Artushof abgesetzt wäre, d. h. dass der Roman erkennen ließe, dass Wolfram das arthurische Genre als abgetan betrachtete. Aber diese These der älteren Forschung wird heute kaum mehr geteilt. Haug möchte den »Gralsroman als d[as] große[...] höfisch-christliche[...] Erlösungsmysterium« am liebsten gleich ganz »in der romantischen Mittelaltermottenkiste verschwinden lassen.«145 Es gehe im Gralsroman gar nicht um die Hierarchie der Erlösungswege (christlicher oder arthurischer Tugendhaftigkeit), sondern gerade um deren »Fragwürdigkeit«, gar deren »Demontage«.146 Ebenbauers Erklärung enthält aber trotzdem eine mögliche Antwort auf das Problem der genrewidrigen Ehe Gawans. Wenn man auch nicht notwendigerweise so weit gehen muss, hinter der Verheiratung gleich das Ende der Gattungsgeschichte zu vermuten, welches Wolfram ja dann bewusst herbeigeführt haben müsste, so ist andererseits zumindest denkbar, dass er – Wolfram als Autor – zum Zeitpunkt seiner Arbeit am Parzival abzusehen meinte, späterhin keinen Artusroman mehr verfassen bzw. adaptieren zu wollen. Aus dieser Perspektive hätte er sich vielleicht dazu entschließen können, seine Parzival-Geschichte mit der Verheiratung beider Hauptfiguren zu krönen. Martin Baisch steuert für die Heirat Gawans dagegen eine andere, allerdings auf die Figurenperspektive Orgeluses bezogene Erklärung bei: »Indem im großen Pazifizierungswerk am Ende des Romans eine Massenhochzeit inszeniert wird, werden Feinde zu Mitgliedern der familia, denen verboten ist, einander mit Gewalt zu begegnen. So darf es für Orgeluse am Ende keine Rache an Gramoflanz geben, der die Schwester ihres neuen Ehemanns heiratet.«147 Dazu passt, dass die historisch üblichen Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern, die in der Erzählung zeitweilig umgekehrt werden (wie z.B. im Verhältnis Gawan – Orgeluse), erst durch das Eheverhältnis wieder in die seinerzeit 143 144 145 146 147
Pérennec: Roman arthurien, 1984. Bd. II, S. 225. Ebenbauer: Gawein als Gatte, 1981, S. 36. Haug: Illusionen, 1990, S. 216. S. Anm. 145. Baisch: Orgeluse, 1999, S. 20.
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übliche Hierarchie zurückfinden. So mag der Grund für Gawans Verheiratung mit Orgeluse auch darin bestanden haben, dass auf diesem Weg »the knight servitor becomes her husband. The gender inversion is reversed and ›natural‹ gender relations are restored.«148 Das Motiv der Ehe Gawans bleibt, gleich wie man die genrewidrige Verheiratung bei Wolfram beurteilen mag, in der nachfolgenden Artusliteratur kein singuläres Ereignis. Auch in Wirnts Wigalois oder in Heinrichs Crône taucht es beispielsweise wieder auf. (Im Wigalois dürfte dies unzweifelhalt an dem genealogischen Erzählschema liegen, welches Wirnts Roman ähnlich wie Chrétiens Cligès in einen anderen Erzähltyp einsortiert, der nicht mit den Artus-Aventiureromanen und ihren Gattungserfordernissen kongruiert.) Der Fortsetzer des Roman van Walewein gibt wie oben zitiert im Erzählerkommentar seinen Zweifel zu erkennen, womit er sowohl die aus der Logik seiner Erzählung resultierende Erwartung des Publikums anerkennt, sich aber dennoch durch Offenlassen dieser Frage aus der Affäre zu ziehen versucht. Das immer häufigere Auftreten des Ehemotivs in den späteren Romanen deutet jedoch auf eine Entwicklungstendenz des Genres hin, die mit der Emanzipation der Gawanfigur aus der sekundären Rolle des Hofakteurs neben einem Protagonisten zusammenhängen dürfte. In der Funktion eines selbständigen Protagonisten wächst die postklassische Gaweinfigur zunehmend über ihre alte Rolle hinaus. Man kann nun ein gesteigertes Interesse von Autoren und Publikum an ihrer ›Person‹, d. h. auch an ihrem ›Schicksal‹ konstatieren. Die Figur kann folglich nicht dauerhaft hinter den erfolgreichen Protagonisten der klassischen Romane zurückstehen. Weder Anerkennung bei Hof, noch Erfolg in der âventiure allein reichen noch aus, sondern dieser Erfolg muss auch durch die entsprechenden Attribute, d. h. in der Tendenz durch eine eigene Domäne und ein wîp dokumentiert werden. Was für Erec, Iwein oder Parzival gut war, darf auf Dauer auch der Gawanfigur nicht vorenthalten bleiben. III.3.2.4 Keiebild Zuletzt ein Blick auf die Gestaltung der Keiefigur, die auch bei Wolfram im Interaktionsmuster Gawans nach wie vor die Rolle des Antagonisten spielt. Wolfram sah sich ähnlich wie Hartmann genötigt, die Figur des scharfzüngigen Seneschalls seinem Publikum durch Erläuterungen akzeptabel zu machen. Zunächst ein Blick auf einen Ausschnitt der einschlägigen Textstelle: küene liute solten Keien nôt klagen: sîn manheit im gebôt genendeclîche an manegen strît. man saget in manegen landen wît
148
Schulz: Love service, 2001, S. 360, vgl. auch die Ausführungen S. 355f..
202
daz Keie Artûs scheneschalt mit siten wære ein ribbalt: des sagent in mîniu mære blôz: er was der werdekeit genôz. swie kleine ich des die volge hân, getriwe und ellenthaft ein man was Keie: des giht mîn munt. ich tuon ouch mêre von im kunt. Artûses hof was ein zil, dar kom vremder liute vil, die werden unt die smæhen, mit siten die wæhen. Swelcher partierens pfl ac, derselbe Keien ringe wac: an swem diu kurtôsîe unt diu werde cumpânîe lac, den kunder êren, sîn dienst gein im kêren. ich gihe von im der mære, er was ein merkære. er tet vil rûhes willen schîn ze scherme dem herren sîn: partierre und valsche diet, von den werden er die schiet: er was ir fuore ein strenger hagel, noch scherpfer dan der bîn ir zagel. seht, die verkêrten Keien prîs. der was manlîcher triwen wîs: vil hazzes er von in gewan. [V.296,13–297,15] [Tapfere Männer sollten Keies Missgeschick beklagen. Seine Manneskühnheit hatte ihn entschlossen in viele Kämpfe ziehen lassen. Zwar ist die Meinung verbreitet, dass Keie, der Seneschall des Artus, ein grober Rüpel gewesen sei. Meine Erzählung spricht ihn von diesem Vorwurf frei. In Wirklichkeit war er ein wackerer, würdiger Mann. Auch wenn mir nur wenige beipflichten, so behaupte ich steif und fest, dass Keie ein treuer und kühner Ritter war. Und ich will noch mehr über ihn sagen: Der Hof des Artus zog immerhin viele Feinde an, edle und unedle. Doch Keie ließ sich nicht täuschen, mochte ein Betrüger auch noch so geschickt sein. Wer Anstand zeigte und aus edlem Geschlecht stammte, der konnte auf seine Achtung und Hilfsbereitschaft rechnen. An seinem Wesen muss ich hervorheben, dass er ein kritischer Beobachter war. Um seinen Herrscher vor üblem Gesindel zu schützen, zeigte er sich recht bärbeißig. Er unterschied sehr genau zwischen wahren Edelleuten und Lügnern oder Betrügern. Für solche Bösewichte war er wie ein vernichtender Hagelschlag; er stach schmerzhafter zu als der Stachel der Biene. Also suchten sie sein Ansehen zu untergraben, und da er viel von echter Mannestreue hielt, zog er sich ihren maßlosen Hass zu.]149
149
Die hier zitierte Übersetzung (aber nicht der korrespondierende, mittelhochdeutsche Text) stammt von Spiewok, in: Wolfram von Eschenbach. Parzival, 1996 (1. 1977).
203
Wolframs Keie-Verteidigung ist zweifellos in Auseinandersetzung mit Hartmann entstanden. Auch wenn man – wie hier geschehen – seine auf den Thüringer Hof gemünzten Seitenhiebe, wo angeblich ein Seneschall wie Keie gefehlt hätte [V.296, 16–24], außer Acht lässt, wird dabei aber ein bedeutender Unterschied zur Keiegestaltung Hartmanns sichtbar. Wolfram nämlich verzichtet weitgehend auf die Psychologisierung der Figur. Dieser Umstand ist bezeichnend für seinen Ansatz. Anstatt von einem gevierteilten Herzen zu sprechen, also die vermeintliche Unvereinbarkeit von Keie und der Tafelrunde mit dessen charakterlicher Disposition wegzuerklären, entkräftet Wolfram mögliche Vorwürfe gegen Keie mit einem ganz anderen Argument: Seine Neider, die verlogenen Leute also, denen Keie im wohlverstandenen Interesse der Hofgesellschaft und des Königs das Leben schwer gemacht hat, seien verantwortlich für das negative Image der Figur. Damit ist Keie von der Kritik freigesprochen und an seiner Stelle kommen die Kritiker selber in Verdacht. In diese Tendenz, die Spitze der Kritik umzukehren, d. h. auf eine Psychologisierung zu verzichten, passt auch die übrige Darstellung der Figur in Wolframs Parzival. Keie ist bei Wolfram nach wie vor in die funktionalen Zusammenhänge eingebunden, denen auch die Figur Keus bei Chrétien zu gehorchen hatte. Anders als der Keie in Hartmanns Erec oder Iwein, dessen Funktion unklar wurde, indem wichtige Elemente ausgeblendet oder durch konträre Motivationen überlagert wurden, hat Wolfram die Handlungseinsätze, an denen Keie mitwirkt, durch zusätzliche Signale sogar noch stärker herausgehoben (vgl. u. a. III. 3.1.). Sowohl in den oberhalb zitierten Versen wie in der Anspielung auf den Thüringer Hof fragt Wolfram nicht nach dem ›Menschentyp‹ Keies, sondern nach seiner Aufgabe und den Erfordernissen, die diese mit sich bringt, d. h. nach seiner Funktion. Sie erklärt für Wolfram das Agieren der Figur und sein Image. In der Tendenz zur Refunktionaliserung steht Wolfram wieder näher am Bild der Keufigur Chrétiens als sein Vorgänger Hartmann. Doch die Tatsache, dass solch eine Keieverteidigung offenbar zum wiederholten Mal in einer mittelhochdeutschen Bearbeitung notwendig war, obwohl die französische Vorlage dafür keine Anknüpfungspunkte bot, belegt, dass sich Missverständnisse zur genretypischen Konstante verfestigen können. III.3.3 Zusammenfassung Auch bei Wolfram kann man (wie zuvor bei Hartmann) eher nicht davon sprechen, dass das narrative Konzept Chrétiens – soweit es im Torso der französischen Vorlage erkennbar ist – getreu realisiert wurde. Durch Veränderungen signifikanter Motivationen entstehen bei Wolfram neue Bezüge, die dem Erzählmuster der klassischen, französischen Romane nicht entsprechen. Ähnlichkeiten im narrativen Ablauf von Vorlage und deutscher Bearbeitung des 204
Parzivalromans, hier insbesondere die zuvor aufgezählten Kernstationen des narrativen Schwungrades, sind offenbar aus Gründen der inhaltsgetreuen Nacherzählung in die Bearbeitung eingegangen, aber nun in ganz andere, sinnstiftende Zusammenhänge eingebunden. Im Gegensatz zu Hartmann nimmt Wolfram die Psychologisierung der Figuren noch einmal zurück. Insbesondere die für deutsche Autoren problematische Keiefigur wird bei Wolfram in ihrer Funktion (durch ihr Amt) erklärt. Für die Gawanfigur konnten zwei Zusammenhäng zwischen Initialkrise des Hofes und späterer Queste des Hofakteurs ermittelt werden (1. Geschlechterverhältnis, 2. Verwandtenmord), d. h. ebenfalls Signale, die die Funktionalität dieser Figur gegenüber Hartmanns Psychologisierung hervorkehren. Für den zweiten Motivationszusammenhang (Verwandtenmord) galt freilich, dass der Endkampf des Protagonisten gegen den Hofakteur, in welchem Gawan faktisch unterlag, als Indiz dafür gewertet werden muss, dass Wolfram den Hofakteur aus seiner ursprünglichen Rolle als Vertreter von Hofinteressen emanzipiert hatte. Gawans Niederlage scheint mit personalen Interessen zusammenzuhängen, die ihm durch den Frauendienst und seinen Ehrgeiz eingegeben werden. In dieser personalen Motivation ist die Figur Gawans anders als der klassische Gauvain kritikwürdig und folglich nicht mehr unverletzlich. Die Figur kann daher im Kampf unterliegen und scheitern ohne dass die arthurische Utopie scheitert. (Es ist bezeichnenderweise Artus, der im anschließenden Geschehen die Harmonie durch diplomatisches Geschick wiederherstellt.) Die Tendenz zur Emanzipation der Gawanfigur hin zu einer dem Protagonisten ähnlichen Rolle bestätigt sich auch in der Verheiratung Gawans, von der Wolfram berichtet.
205
III.4 Die postklassischen Versromane III.4.1 Walewein im Roman van Walewein Obwohl dem Roman van Walewein eine Märchenerzählung zugrunde liegt, die Maartje Draak dem Typ Aarne-Thompson 550 zuordnete,150 lässt Penninc in seinem Prolog keinen Zweifel daran, dass er den Roman als Artusroman verstanden wissen will. Vanden coninc Arture Es bleven menighe avonture Die nemmer mee ne wert bescreven. Nu heb ik ene scone upheven Consticse wel in twalsche vinden, Ic soudse jou in dietsche ontbinden Soe es utermaten scone! [V.1–7] [Von König Artus sind viele âventiuren überliefert, die noch nie schriftlich nachgedichtet wurden. Jetzt habe ich eine besonders schöne aufgegriffen. Könnte ich doch nur die richtige französische Quelle dafür finden, dann würde ich sie Euch ins Mittelniederländische übersetzen. Diese Geschichte ist außergewöhnlich schön.]
Mit seinen programmatischen Eröffnungsversen stellt der Erzähler den vorgenommenen Stoff unzweideutig in die Tradition der Artusliteratur. Mit den französischen Vorbildern dieser Literatur tritt er in Dialog: consticse wel in twalsche vinden... Die Qualität der Geschichte und seiner Ausgestaltung (soe es utermaten scone) möchte der selbstbewusste Erzähler explizit an den Konventionen dieses Genres gemessen wissen. Die eben zitierten Verse gaben der bisherigen Forschung in erster Linie Anlass, über die Eigenständigkeit des Roman van Walewein zu diskutieren, die Penninc in seinem Prolog, anstatt sie durch eine legitimierenden Quellenfiktion zu verdecken, selbstbewusst herausgestrichen habe. Der Prolog bringe zum Ausdruck, dass eben keine französische Quelle adaptiert worden sei, woraus folge, dass der Autor seinen Stoff aus der mündlichen (heimischen) Überlieferung übernommen habe. Penninc »wijst de toehoorders direct op de breuk met de traditie« befand Besamusca.151 Insbesondere Johan H. Winkelman hatte dagegen bezweifelt, dass man diesen Versen, die sich an der Topik solcher Prologe orientierten, die Absicht der Autoren entneh-
150 151
Draak: Onderzoekingen, 1975 (1. 1936), S. 1. ›[...] weist die Hörer unumwunden auf den Bruch mit der Tradition hin.‹ Besamusca: Intertekstualiteit, 1993, S. 175. Eine Übersicht über ältere Forschungsmeinungen zur These des Roman van Walewein als selbständigen, mittelniederländischen Romans bietet J.D. Janssens: ›De Arturistiek: een »wout sonder genade«‹, Spiegel der Letteren 21 (1979) S. 296–319, vgl. S. 301–303.
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men könne, sich aus der schriftliterarischen Tradition herausnehmen zu wollen.152 In dieser Studie soll nicht weiter auf die Diskussion zur ›Ursprünglichkeitsthese‹ eingegangen werden. Es kommt hier lediglich darauf an, dass sich die Eingangsverse unverkennbar auf die französische, schriftliterarische Tradition beziehen, mit der die Autoren des Roman van Walewein sich auseinandersetzen. Hinweise darauf gibt, so hat Lori J. Walters aufgezeigt, auch die im Prolog exponierte Metapher der (fälschlich) Christus zugeschriebenen Verwandlung von Stein in Brot. Diese Transformationsmetapher beziehe sich auf das Verhältnis zur altfranzösischen Tradition. Walters führt aus: »the Walewein poets indicate their status as selfconcious translators – with ›translation‹ defined as the reworking of prior material […].«153
Die neuere Forschung seit Draak hat inzwischen auf eine andere Perspektive abgestellt und den Roman van Walewein vor allem im Kontext der Artusliteratur in den Blick genommen.154 Besamusca kommt in seiner Untersuchung der intertextuellen Bezüge des Roman van Walewein zu dem Schluss, dass die Dichter beim Publikum »de indruk wekken dat het te maken heeft met een Arturroman in de traditie van Chrétien«, wobei der französische Großmeister nur in einem Punkt, nämlich in der Erzählstruktur nicht imitiert werde.155 Unterdessen konnte Ad Putter gegen Janssens anhand des Motivs des Fegefeuerflusses nachweisen, dass Penninc die Charrette Chrétiens gekannt haben dürfte.156 Wenn man Putters einleuchtenden Argumenten folgt, gibt es also nicht nur generische, sondern sogar spezifische, intertextuelle Verbindungen zwischen Chrétiens Werk und dem Roman van Walewein. Ob Penninc und Vostaert eventuell auch den Conte du Graal wenigstens in der mittelniederländischen Bearbeitung gekannt haben könnten, wofür insbesondere Winkelman plädiert,157 ist weder nachweisbar noch auszuschließen. Da die mittelniederländische Adaptation von Chrétiens Gralsroman eine sehr getreuliche Übersetzung dargestellt
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154
155 156
157
J.H. Winkelman: ›De Middelnederlandse Walewein oorspronkelijk?‹, in: Spiegel der Letteren 26 (1984), S. 73–82, vgl. S. 79. Lori J. Walters: ›Making Bread from Stone: The Roman van Walewein and the Transformation of Old French Romance‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca u. a. Cambridge 1999, S. 189–207, S. 192. Vgl. u. a. Janssens: »wout sonder genade«, 1979; Winkelman: Walewein oorspronkelijk?, 1984, vgl. S. 82; J.D. Janssens: ›The Influence of Chrétien de Troyes on Middle Dutch Arthurian Romances: A New Approach‹, in: The Legacy of Chrétien de Troyes. Hrsg. von N. Lacy, D. Kelly, u. a. Amsterdam 1988, S. 285–306; Douglas Kelly: ›The Pledge Motif in the Roman van Walewein: Original Variant and Rewritten Quest‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca u. a. Cambridge 1999, S. 29–46; Norris J. Lacy: ›Convention and Innovation in the Middle Dutch Roman van Walewein‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca u. a. Cambridge 1999, S. 47–62. ›[...] den Eindruck erzeugen, dass es mit einem Artusroman in der Tradition Chrétiens zu tun habe.‹ Besamusca: Intertekstualiteit, 1993, S. 77. Ad Putter: ›Walewein in the Otherworld and the Land of Prester John‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca u. a. Cambridge 1999, S. 79–99, hier insbes. S. 85–89. Vgl. dagegen Janssens: Influence of Chrétien, 1988. J.H. Winkelman: ›Intertekstualiteit als probleem‹, in: Queeste I (1994), S. 85–96, vgl. S. 86.
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haben dürfte,158 wäre ihnen gegebenenfalls eine Vorlage für das Interaktionsmuster der Waleweinfigur schon aus zwei der klassischen Versromane zugänglich gewesen. Der Hinweis Ad Putters auf die Charrette reicht allerdings bereits als Indikation dafür aus, dass die Autoren des Roman van Walewein das klassische Interaktionsmuster Gauvains direkt aus einer französischen Quelle hätten rezipieren können. Das Bild der Waleweinfigur im Roman van Walewein ist bereits in der Forschung diskutiert worden, wobei immer wieder auf das besonders positive Image abgehoben wurde. Jozef Janssens sprach sogar von »een ongenuanceerd positieve figuur [...]« als »model bij uitstek van de hoofse samenleving.«159 Die Autoren hätten in didaktischer Absicht die in der postklassischen, französischen Literatur einsetzende Ironisierung Gauvains unterdrückt, »om via zijn avonturen een leerboek van hoofsheid te schrijven.«160 Auch Norris Lacy hielt den mittelniederländischen Walewein für unvereinbar mit der französischen Gauvainfigur, wobei letztere sich in Lacys Augen durch »inconstancy or cupidity«, oder einer »miniscule attention span« auszeichnet.161 Immerhin konstatierte Lacy auch an Walewein »enough imperfections to allow the creation of space within which the authors can dramatize some doubts, occasional fears and [...] vulnerable moments in combat.«162 Bart Besamusca bezeichnete die auch aus seiner Sicht besonders positive Charakterisierung Waleweins im Roman van Walewein als eine ›polemische Reaktion‹ auf das Ideal der religiösen Ritterschaft (chevalerie célestielle) wie es in den Prosazyklen des Lancelot-Graal Typs verherrlicht werde. Dort werde Gauvain als Vertreter einer weltlichen Ritterschaft (chevalerie terienne) präsentiert, deren diesseitige Artusethik systematisch als verwerflich gebrandmarkt und untergraben werde. »De dichters hebben zich juist willen verzetten tegen de destructieve invloed die het religieuze ridderschap in de Lancelot-Graal uitoefent op het beeld van de Arturwereld.«163 Insbesondere der literarische Geschmack, der am Hof der Grafen von Flandern en vogue gewesen sei, habe Penninc und Pieter Vostaert missfallen und zu ihrer polemischen Gegenposition veranlasst. Besamusca denkt hierbei insbesondere an den Conte du Graal, den Chrétien im Auftrag Philippes d’Alsace, Graf von
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160 161 162 163
Soetje Ida Oppenhuis de Jong: De Middelnederlandse Perceval-Traditie. Hilversum 2003, S. 4. ›[…] einer undifferenziert positiv darsgestellten Figur (als) Modell der höfischen Gesellschaft ersten Ranges.‹ J.D. Janssens: ›De Middelnederlandse Arturroman‹, in: Arturus Rex Vol. I: Catalogus. Koning Artur en de Nederlanden. La matière de bretagne et les anciens Pays-Bas. Hrsg. von W. Verbeke, J.D. Janssens u. a. Leuven 1987, S. 261–300, S. 266. ›[...] um mittels seiner âventiuren ein Lehrbuch der hövescheit zu schreiben.‹ S. Anm. 159. Lacy: Convention and Innovation, 1999, S. 48. S. Anm. 161. ›Die Dichter wollten sich gerade gegen den destruktiven Einfluß, den die religiöse Ritterschaft im Lancelot-Graal auf das Bild der Artuswelt ausübt, zur Wehr setzen.‹ Besamusca: Walewein, Moriaen, 1993, S. 178.
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Flandern (1142–1191) verfasste, und der nach Auffassung Besamuscas ein Ritterideal favorisiere, »dat meer op God dan op de wereld gericht is.«164 Dieser Roman habe einen literarischen Geschmack bestimmt, der dann im 13. Jh. beispielsweise zur Abfassung der Perceval-Continuation Manessiers im Auftrag von Johanna von Konstantinopel, Gräfin von Flandern, geführt habe.165 Gegen den nicht zu unterschätzenden Einfluss des flandrischen Grafenhofs auf die flämische Literatur, den Penninc und Vostaert »met lede ogen aanschouwden«,166 habe das Autorenduo mittels des positiven Walewein-Bildes im Roman van Walewein als Stellung bezogen. Die Frage, ob das Walewein-Bild im Roman van Walewein tatsächlich so unzweideutig positiv genannt werden kann, ob insbesondere es zutreffe, dass Walewein im Gegensatz etwa zum Gauvain der Perceval Fortsetzung von Gerbert – wie Besamusca schreibt – »oprecht verliefd is op Ysabele en [...] zelfs bereid [...] omwille van haar de mislukking van zijn queeste te aanvaarden«,167 oder ob diese Umstände nicht vielleicht eine andere Bewertung verdienten, hatte bereits Winkelman beschäftigt: »We geloven er niets van. Hoe is het dan te verklaren dat de ›oprecht verliefde‹ [...] Walewein op de terugreis zijn bruidje zonder pardon aan Amoraen had willen afgeven?«168 Das Bild der Waleweinfigur ist tatsächlich sehr viel komplexer, durchaus nicht nur positiv, wie Uyttersprot jüngst bestätigte, da der Ritter »zowel op het vlak van hoofsheid, dapper ridderschap als de liefde [...]« regelmäßig bloßgestellt werde.169 (Dort übrigens, wo der Erzähler Wendungen von negativem zu positivem Verhalten Waleweins ausdrücklich markiert, wird dies tatsächlich oftmals religiös motiviert.) Im Mittelpunkt der anschließenden Betrachtungen steht allerdings nicht der Charakter, sondern erneut die Frage nach der funktionalen Einbindung der Figur in das narrative Gefüge des Romans. Die Besprechung des Roman van Walewein folgt wieder dem Verfahren, das auch schon der Untersuchung der klassischen Artusromane im II. Kapitel zugrundelag. Zunächst soll die Funktion der Waleweinfigur in Bezug auf die Initialkrise des Hofes überprüft werden, um festzustellen, ob deren Handeln noch in einem vergleichbaren Motivationszusammenhang organisiert ist, wie 164 165
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›[...] das mehr auf Gott als auf die Welt ausgerichtet ist.‹ S. Anm. 163. Eine ausführliche Darstellung der literarischen Produktion im Auftrag oder Umfeld der Grafen von Flandern gibt Willy van Hoeke: ›La Littératur française d’inspiration arthurienne dans les anciens Pays-Bas‹ in: Arturus Rex Vol. I: Catalogus. Koning Artur en de Nederlanden. La matière de bretagne et les anciens Pays-Bas. Hrsg. von W. Verbeke, J.D. Janssens u. a. Leuven 1987, S. 189–260. ›[...] mit Bedauern zur Kenntnis nahmen.‹ Besamusca: Walewein, Moriaen, 1993, S. 178. ›[...] aufrichtig in Ysabele verliebt und sogar bereit ist, ihr zuliebe das Scheitern seiner Queste hinzunehmen.‹ S. Anm. 166, S. 177. ›Wir glauben kein Wort davon. Wie wäre es dann zu erklären, daß der »aufrichtig verliebte« Walewein auf dem Rückweg seine Braut ohne Pardon an Amoraen hatte abgeben wollen?‹ Winkelman: Intertekstualiteit als probleem, 1994, S. 92. ›[...] sowohl auf dem Gebiet der hövescheit, der ritterlichen Tapferkeit als auch der Liebe.‹ Uyttersprot: Ironie, 2004, S. 161.
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er in Chrétiens Romanen für die Figur Gauvains beschrieben werden konnte, nämlich als Rektifikationsleistung der dort aufgetretenen Störung. Von den typischen Elementen des Interaktionsmusters sind freilich nur jene noch zu erwarten, die sich nicht auf einen eventuellen Antagonismus zwischen Walewein und einem anderen Protagonisten beziehen, da die postklassische Waleweinfigur selbst in die Position des Protagonisten der Handlung eingerückt ist. Das bedeutet freilich auch, dass die zuvor so oft diskutierte Frage der Spannung zwischen Held (Protagonist) und Gesellschaft (Artushof), die in Chrétiens Romanen in einer antagonistischen Aufstellung von Held und Hofakteuren ihren Niederschlag fand, in den postklassischen Romanen wie dem Roman van Walewein, wo der Hofakteur selbst in die Position des Protagonisten eingerückt ist, neu gestellt werden muss: Ist ein postklassischer Hofakteur wie Walewein oder Gawein noch immer nur im Interesse der Hofgesellschaft unterwegs, bricht er vielleicht vornehmlich – wie die Protagonisten Chrétiens – im eigenen Interesse zur Queste auf oder versucht er gar beide Interessen auf seiner Queste zu verbinden? III.4.1.1 Die Initialkrise im Roman van Walewein In der Eingansszene des Roman van Walewein sind die wichtigsten Signale des typisch arthurischen Romananfangs erkennbar, wie sie von Beate SchmolkeHasselmann beschrieben wurden.170 Die Vorstellung des Artushofes setzt genrekonform mit der Erstnennung des Königs selbst [V.33] ein. Der Hof befindet sich wie in Chrétiens Charrette in Carlioen, einem Ort, der sich auch in der mittelhochdeutschen Artusliteratur zum charakteristischen Stammsitz von Artus verfestigen sollte.171 An die Nennung von König und Stammsitz schließt sich ein Katalog berühmter Namen dort versammelter Artusritter an [V.39–43]. Die Nennung Waleweins geht mit dem charakteristischen Walewein-Lob einher [V.42].172 Die Nennung Keyes geschieht unter Hinweis auf dessen charakteristisches Hofamt als drussate [V.43] (Truchsess). Wie in Chrétiens Charrette [V.41f.] und Conte du Graal [V.901f] erscheint erst nach dem Essen des Königs und der anwesenden Herren ein agent provocateur [V.48], freilich nicht in Form einer Person, sondern in Form eines magischen Objektes: das schwebende Schachbrett. Noch eine weitere Übereinstimmung mit den Genrekonstanten Chrétiens ist in der Initialkrise des Hofes (heraufbeschworen durch die Ankunft des Schachbretts) von Penninc gestaltet worden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Provokation der Hofgesellschaft durch ein von Außen eindrin170 171 172
Beate Schmolke-Hasselmann: ›Untersuchungen zur Typik des arthurischen Romananfangs‹, in: GRM 31 (1981), S. 1–13, vgl. S. 2. Stein: Integration 2000, S. 14. Schmolke Hasselmann: Arthurischer Romananfang, 1981, S. 2.
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gendes Element in den Romanen Chrétiens zunächst immer zur Lähmung der Hofgesellschaft führt, d. h. also – anders als man erwarten sollte – eben nicht zum Handlungseinsatz, sondern im Gegenteil zu einer Stasis. Diese Stockung folgt auch auf das Erscheinen des magischen Schachbretts, welches sich den Herren durch seine Kostbarkeit und sein provozierendes Niederschweben als Aufforderung zum (symbolischen) Kräftemessen präsentiert: Hi mochte gaen spelen dies beghaerde, Dus laghet daer uptie wile doe. Daer ne ghinc niemen of no toe Van allen gonen hoghen lieden. [V.50–53] [Wer wollte, konnte darauf spielen, auf diese Weise lag es dort eine Weile bereit. Kein einziger von all jenen hohen Herren wagte es, sich ihm zu nähern.]
Nachdem der Erzähler die unerhörte Kostbarkeit des Brettes und der Spielfiguren beschrieben hat, womit auch ein Zeitintervall angedeutet sein dürfte, innerhalb dessen die Hofgesellschaft dieses musterte [V.63] und vor der Herausforderung zurückschreckte, schwebt das Schachspiel wieder davon. Aufgrund dieser charakteristischen Signale, die nicht nur in ihrer zeitlichen Abfolge sowie der typischen Präsentation des Kernpersonals den Konstanten entsprechen, die von Schmolke-Hasselmann als Merkmale des arthurischen Romananfangs beschrieben wurden, sondern die auch signifikant übereinstimmen mit dem Erzählmuster Chrétiens, wie man es etwa aus der Charrette kennt (nämlich höfisch festliche Harmonie unterbrochen durch eine Provokation von außen mit resultierender Handlungsstockung, vgl. Abschnitt II. 3.1), ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass die Autoren des Roman van Walewein ihr Publikum gezielt zu einer Rezeptionshaltung anleiten, die das Verständnis aller Äußerungen des Textes an den Konventionen des arthurischen Genres ausrichtet. Es gilt daher, dass bei der Interpretation auch jene Signale des Textes, die zunächst nicht in das arthurische Erzählschema zu passen scheinen (und es sind gleich anschließend bestimmte solche ›Querstände‹ zu betrachten), dennoch unter diesen Vorgaben aufgefasst werden müssen. Während man also die sorgfältig arrangierten Signale des arthurischen Erzählens in Prolog und erster Hofszene des Roman van Walewein genau verfolgen kann, sei zugleich bereits darauf hingewiesen, dass es eine bedeutsame Genrekonstante gibt, die aber von Penninc nicht übernommen, ja sogar in auffälliger Weise unterdrückt wurde. Dabei handelt es sich um die bei Chrétien so nachdrücklich herausgestellte, freudenvolle Gemeinschaft von Männern und Frauen am Hof, Ausdruck eines ideal-harmonischen Geschlechterverhältnisses, wie es nur in der Utopie des arthurischen Festes vollends denkbar wird. Im vorigen Kapitel wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die freudenvoll abgebildete Gemeinschaft der Geschlechter – obwohl sie von Schmolke-Hasselmann nicht katalogisiert wurde – als ein fester, programmatischer Bestandteil der ersten Hofszenen ebenso zu 211
den Konstanten des arthurischen Romananfangs gerechnet zu werden hat wie z.B. die Nennung des Artus und die Lokalisierung des Hofes (vgl. Abschnitt II. 5.2.1). Es wird später ausführlich davon zu sprechen sein. Zunächst ein Blick auf den weiteren Verlauf der Initialkrise im Roman van Walewein und damit auf die vorgenannten ›Querstände‹, die nicht in das arthurische Erzählen zu passen scheinen. Nachdem das Schachbrett entschwunden ist, verlangt ein tief enttäuschter Artus, dass einer seiner Ritter ausziehen möge, um es zurückzuholen, denn »Hen quam hier sonder redene niet« [V.70] (›Es ist nicht grundlos hierher gekommen‹). Die Ritterschaft reagiert darauf wie gelähmt, nämlich gar nicht: Van alden heren die daer waren sone durster een niet varen [V.77f.] (›unter allen dort versammelten Herren gab es keinen, der es wagte aufzubrechen‹). Diese Handlungslähmung ist Folge des eben bezeichneten, genretypischen Stockens, das durch die äußere Provokation ausgelöst wird. Auffällig ist hier zudem, wie nachdrücklich der Erzähler darauf aufmerksam macht, dass keiner von allen anwesenden Rittern den Mut zur Queste hat. Da Walewein bereits als einer der anwesenden Herren identifiziert wurde [V.41], gehört offenbar auch der aventuren vader [V.3170 und 3211] (Vater der âventiure), wie er im Roman van Walewein wiederholt genannt wird, zu jenen, die in der Situation der Initialkrise wie gelähmt sitzen bleiben.173 Diese Reaktion Waleweins entspricht dem Handlungsmuster Gauvains in der Initialkrise der Romane Chrétiens. Dort bestand sie im ›Ausblenden‹ bzw. verspäteten Zum-Einsatz-Kommen Gauvains und war als Inertia der Figur bezeichnet worden. Wenn Chrétiens Interaktionsmuster von Penninc in jeder Einzelheit übernommen worden wäre, so wäre nun zu erwarten, dass die Figur Keyes durch eine Provokation die Wende bringen und das Handlungsstocken durchbrechen würde. In den meisten Romanen Chrétiens verläuft dies dergestalt, dass die Keufigur eine Intervention des Protagonisten herausfordert, die in der anschließenden Bestrafung des Seneschalls gipfelt. Aber eine derartige Reaktion Keyes, die die Ursache für das Eingreifen eines Protagonisten wäre, unterbleibt im Roman van Walewein ebenso wie seine typische Bestrafung durch Abwurf vom Pferd. Was sich im Roman van Walewein tatsächlich an die Provokation von außen anschließt, ist ein dramatischer Prozess des Aufbietens von König Artus, der in drei Anläufen versucht, seine beharrlich sich verweigernde Ritterschaft durch Belohnungsversprechen und durch Androhungen immer ernsterer Konsequenzen zur Queste nach dem Schachbrett zu motivieren. Artus selbst rückt also,
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Marjolein Hogenbirk: Avontuur en Anti-avontuur. Een onderzoek naar Walewein ende Keye, een Arturroman uit de Lancelotcompilatie. Culemborg (Münster) 2004, vgl. S. 110–116 referierte jüngst ausführlich die Forschungsmeinungen zu diesem typisch mittelniederländischen Epitheton der Waleweinfigur.
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wie gleich zu zeigen ist, erstaunlicher Weise in die Position Keyes als desjenigen ein, der durch seine provozierende Rede die Erzählung aus dem Nullpunkt des Handlungsstillstandes heraustreiben wird. Sein erstes, spektakuläres Gebot an denjenigen, der sich aufmacht, das Spiel unverzüglich zu suchen, lautet: »Ic wille hem gheven al mijn lant, Ende mine crone na minen live Willic dat zijn eghin blive.« [V.74–76] [Ich will ihm all mein Land geben und will, dass ihm nach meinem Tod meine Krone zu Eigen wird.]
Maartje Draak hat dieses für einen Artusroman unerhörte Gebot als eines der Märchenmotive identifiziert: »De Roman van Walewein heeft onder zijn hoofse vorm nog een andere sprookjesformule bewaard: het beloven van land en kroon [...].«174 Da die Ritterschaft auf dieses frappierende Angebot nicht reagiert: Sie saten alle ende zweghen stille [V.79] (›sie blieben alle sitzen und schwiegen‹), erinnert Artus in einem zweiten Anlauf an den drohenden Ehrverlust, der der Artuswelt aus dem Versagen erwachsen müsse, dass niemand das Spiel zurückholen wolle: Of wine ghecrighen nemmermere vandesen daghe voort wert ere laten wijt aldus ontfaren [V.83–85]. Die Ritterschaft ist auch von dieser Drohung nicht beeindruckt: Noch zweghen si alle die daer waren [V.86] (›noch immer schwiegen alle, die dort anwesend waren‹). In einem dritten Anlauf, das Spiel zu bekommen, setzt Artus ein letztes, äußerstes Druckmittel ein: [...] »Bi mire coninic crone Ende bi al diere ghewelt Die ic ye van Gode helt, Ne wille mi niemen tscacspel halen Ic sect jou allen in corter talen Ic salre selve achter riden [...]« [V.89–95] [Bei meiner Königskrone und aller Gewalt, die ich je von Gott erhalten habe, wenn mir niemand das Schachspiel holen will, das sage ich Euch kurz und klar, werde ich ihm selbst nachreiten.]
Der König selbst droht, sich auf eine Queste zu begeben. Winkelman hat darin unter Hinweis auf J.D. Janssens die drohende »totale inordinatio« ausgemacht, denn »hierdoor zou [...] de hierarchieke verhouding tussen koning en leenman-
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›Im Roman van Walewein hat unter der höfischen Schicht noch eine andere Märchenformel erhalten: das Versprechen von Land und Krone [...].‹ Draak: Onderzoekingen, 1975 (1. 1936), S. 61.
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nen op zijn kop komen te staan.«175 Tatsache ist, dass im Roman van Walewein eben nicht das Tafelrunden-Ideal der Artusgemeinschaft beschworen wird, sondern dass, wie Winkelman anführt, die Beschreibung dieser Gesellschaft in der Lehnsterminologie als coninc [V.33] und zire man [V.37] deren hierarchischen Charakter hervorhebt.176 Wenn der König daher den Rittern androht, die Queste nach dem Brett ausgerechnet als jouwer alre knecht [V 105] (›Euer aller Diener‹) selbst auf sich nehmen zu wollen, droht er damit die Verhältnisse des gottgewollten ordo auf den Kopf zu stellen. Es ist gleich noch darauf zurückzukommen. Man hat es also während der Initialkrise mit zwei Querständen im Verhältnis zum Genre der arthurischen Versromane zu tun, einerseits dem märchenhaften Motiv des Land- und Herrschaftsversprechens an denjenigen, der die Aufgabe löst, andererseits mit einer unter arthurischen Gattungsgesichtpunkten kaum zu erklärenden inordinatio des Königs. Die Frage ist, wie man diese Querstände auffassen soll, wenn man die oben genannten, eindeutigen Signale erst nimmt, mit denen der Autor sein Publikum zu einer an den arthurischen Genrekonstanten orientierten Rezeption anhält. Sollte Penninc, der die Charrette kannte und den Conte du Graal gekannt haben könnte, so wenig von den Konventionen dieses Genres verstanden haben, dass ihm diese Querstände kein Unbehagen bereiteten, dass er sie ohne Bedenken in seinem Romankonzept stehen ließ wie zwei sperrige Restelemente einer anderen Erzähltradition, die ihm als solche nicht verdächtig waren? Wenigstens Pieter Vostaert, dem Fortsetzer des Roman van Walewein bereiteten die möglichen Folgen des Angebotes von Artus (Land und Krone) erhebliche Bauchschmerzen. In seinem Epilog hält er ja nicht nur die Möglichkeit einer Eheschließung Waleweins für unglaubwürdig, sondern eben auch die Möglichkeit, dass diese Figur in den Status des Herrschers einrücken und nach seiner erfolgreichen Queste Land und Krone von Artus übernehmen könnte [V.11104–11108]. Was aber Pieter Vostaert bekannt war, nämlich dass die Konventionen des Genres damit durchbrochen wären, müsste auch Penninc bekannt gewesen sein, der diese Konventionen so sorgfältig in seiner Romaneinleitung exponiert und dem Publikum vorgeführt hatte. Nun nimmt die Entwicklung einen noch aberwitziger scheinenden Verlauf, denn mit seiner letzten Drohung, selbst die aventure zu wagen, hat Artus Erfolg. Endlich meldet sich Walewein zu Wort. Doch er tut es ausgerechnet mit der Frage:
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›[...] hierdurch würde das hierarchische Verhältnis zwischen König und Lehensmännern auf den Kopf gestellt.‹ Winkelman: ›Artur hof en Waleweins avontuur. Interpretative indicaties in de expositie van de Middelnederlandse Walewein‹, in: Spiegel der Letteren 28 (1986), S. 1–33, vgl. S. 8. Vgl. auch J.D. Janssens: ›De Arturistiek: Een »wout sonder genade« (vervolg)‹, in: Spiegel der Letteren 22 (1980), S. 47–67, hier insbesondere S. 57f.. Winkelman: Arturs hof, 1986, S. 6.
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[...] »Coninc Artur, here, Die worde die ghi heden ere Seit die hebbic wel verstaen: Die jou ghelof wille anegaen, Suldi houden also ghi seit te voren Dien eet die ghi hebt ghezworen?«
[V.113–118]
[König Artus, Herr, die Worte, die Ihr heute zuvor gesagt habe, habe ich sehr genau gehört. Wollt Ihr wirklich, wie ihr vorhin gesagt habt, Euer Gelöbnis demjenigen gegenüber wahrmachen, der Euren Auftrag annimmt?]
Sollte nun das Publikum dieser Einlassung Waleweins entnehmen, dass der höfischste Ritter der Tafelrunde seine alten, ritterlichen Ideale über Bord geworfen hat, und sich stattdessen nur noch für die Belohnungen und damit die Selbstbereicherung interessiert? Insbesondere Winkelman hat das so gesehen: »Waleweins handelen blijkt (mede) ingegeven door eigen belang. Nadrukkelijk bedacht op het persoonlijke voordeel informeert hij allereerst naar de ernst van Arturs belofte, dat degene, die hem het schaakspel brengt, lant [e]nde [...] crone zal verwerven.«177 Für Winkelman, der in dieser Passage mit Maartje Draak eine »onhoofse sprookjessfeer« erkennt,178 ist Walewein daher »niet vrij van baatzucht«,179 wodurch er sich stark von jener Normfigur eines Gauvain unterscheide, »wiens handelen wordt bepaald door een op de gemeenschap gerichte instelling.«180 Wirklich ist diese augenscheinliche Eigennützigkeit kaum mit der traditionellen Rolle der gesellschaftskonform motivierten Gauvainfigur bei Chrétien, die im zweiten Kapitel wiederholt in den dort besprochenen Romanen demonstriert werden konnte, in Einklang zu bringen. Die Deutung von Waleweins Belohnungsfrage als Verfehlung mit dem Motiv der Habgier, die Winkelman dann im späteren Drachenabenteuer mit der Existenzkrise Waleweins und Gottes Intervention abgebüßt sieht,181 hat sicher eine Menge für sich. Sie könnte im narrativen Schwungrad Chrétiens vielleicht das Element der ›indirekten Mitschuld‹ besetzen, welches die Gauvain- bzw. Waleweinfigur grundsätzlich in eine personale Beziehung zur Hofkrise setzt und in den Romanen Chrétiens nicht selten einen ›peinlichen‹ oder ›grotesken‹ Zwischenfall, den ›Ausrutscher‹ nach sich zieht. Daher spräche vielleicht einiges für die Möglich-
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›[...] Waleweins Handeln erweist sich (u. a.) als durch eigennütziges Denken motiviertes. Im betont eigenen Interesse der persönlichen Vorteilsnahme erkundigt er sich zu allererst nach dem Ernst des Versprechens von Artus, daß derjenige, der ihm das Schachspiel bringe, lant [e] nde [...] crone dadurch erwerben werde.‹ Winkelman: Arturs Hof, 1986, S. 9 ›[...] unhöfische Märchenstimmung‹. Draak: Onderzoekingen, 1975 (1. 1936), S. 62. ›[...] nicht frei von Eigennutz.‹ Winkelman: Arturs Hof, 1986, S. 9. ›[...] dessen Handeln durch eine auf die Interessen der Gesellschaft gerichtete Einstellung bestimmt wird.‹ S. Anm. 179. Winkelman: ›Waleweins dilemma: Venus’ minne of Abrahams schoot. Liefdesperikelen in een Middelnederlandse Arturroman‹, in: Nederlandse Letterkunde 9 (2004), S. 326–360, S. 327.
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keit, dass Penninc diesen Aspekt der indirekten ›Mitschuld‹ Waleweins, die vor allem in Chrétiens Charrette, Yvain und Conte du Graal von hoher Signifikanz für das Geschehen ist, in der Habgierfrage abbilden wollte. In der hier vorliegenden Studie wird freilich eine andere Deutung vorgeschlagen, die den Vorteil hat, dass sie Waleweins Verhalten während der ersten Hofszene mit seiner gattungstypischen Aufstellung als Hofakteur am Artushof in Einklang bringen kann. Eine ausführliche Darstellung der Forschungsmeinungen zum vermeintlichen Habgier-Motiv der Waleweinfigur bietet Uyttersprot, die selbst wiederholt von »winstbejag« spricht.182 Maartje Draak wertete das Habsuchtsmotiv als der Märchenvorlage entstammend, bezog sich aber ausdrücklich auf eine ursprünglich gemeinte »hebzucht van den koning«, der in bestimmten Versionen von Aarne-Thompson 550 nach dem Anblick einer kostbaren Sache seine Söhne danach ausschicke.183 Über die Frage, wie sich das Motiv der Habgier vom König auf die Figur des schlussendlich erfolgreichen Protagonisten verlagert haben solle, bleibt sie vage. Dabei gilt für die drei Brüder des Märchens, dass die erfolglosen älteren sich von ihrem erfolgreichen jüngeren Bruder ja gerade dadurch abheben, dass er ihnen den Aspekt des uneigennützigen Handelns voraus hat. Auch die Figur Waleweins wird sich im Roman van Walewein wiederholt in dieser Weise profilieren, nämlich als uneigennützig und ethisch Handelnder. Winkelman wiederum sieht in Waleweins vermeintlicher Habgier vor allem ein weiteres Indiz dafür, dass die Hofgesellschaft während der Initialkrise des Roman van Walewein eben nicht als eine utopisch-arthurische Harmoniewelt gezeigt wird, und dass insbesondere Walewein nicht unzweideutig der tadellose Musterheld sei, für den etwa Bart Besamusca oder J.D. Janssens ihn hielten. Sollte Winkelmans Auffassung zutreffen, wäre allerdings eine Konstante der Gauvainfigur von den Autoren des Roman van Walewein verändert worden, denn dann würde der Hofakteur schon in der ersten Hofszene durch sein Handeln nicht mehr die allgemeinen Interessen der Hofgesellschaft berücksichtigen, also deren Probleme, die dann mit seinen personalen konfligrierten, auch nicht mehr lösen. Eine solche Konstellation würde eher der des Märchens entsprechen (Held löst Aufgabe, gewinnt Braut und wird König), wo eine Kluft zwischen den Interessen von Held und Gesellschaft nicht thematisiert ist. Folgte man der Märchenthese, so müsste sich mit der ›Erfüllung‹ des Protagonisten-Schicksals die gesamte Problematik des Romans auflösen, die nur auf ihn und seine Aufgabenstellung bezogen war. Insbesondere Karina van Dalen-Oskam hat hier die These verteidigt, dass »het in handen krijgen en overhandigen van het zwevende schaakspel voor Walewein gelijk staat aan het verkrijgen van de troonopvolging.«184 Die Queste nach dem Schachspiel (und damit die gesamte auf die Initialkrise folgende Romanhandlung) sei »een soort toelatingsexamen [...] voor de positie van troonopvolger.«185 Das ist wohl so zu verstehen, dass das Brettspiel von Anfang an wie im Märchen nur als 182 183 184
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›Profitstreben‹. Uyttersprot: Ironie, 2004, vgl. S. 117–125. ›Habgier des Königs.‹ Draak: Onderzoekingen, 1975 (1. 1936) S. 61. ›[...] das in die Hände bekommen und Überreichen des schwebenden Schachspiels für Walewein gleichbedeutend ist mit der Thronfolge.‹ Karina van Dalen-Oskam: ›Het zwevende schaakspel in de Walewein. »Hen quam hier sonder redene niet...«‹, in: Literatuur. Tijdschrift voor Nederlandse Letterkunde 5 (1988), S. 276–284, S. 283. ›[...] eine Art Aufnahmeprüfung … für die Position des Thronfolgers.‹ S. Anm. 184.
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Herausforderung an den Protagonisten gedacht war, sich der Aufgabe der Verwirklichung seines Schicksals zu stellen. Damit wäre der Roman van Walewein aber nur noch äußerlich ein Artusroman, und die alte Sichtweise von Draak bestätigt, dass die Erzählstruktur des Märchens diesen äußeren Anschein überwiege. Doch die Initialkrise des Roman van Walewein erweckt durchaus nicht den Eindruck, als ob die Interessen von Protagonist und Gesellschaft spannungsfrei ineinander aufgingen. Die schon erwähnte inordinatio des Königs deutet auf das Gegenteil. Das Spiel entblößt tiefliegende Rupturen in der Gesellschaft, die bei ihrem Aufbrechen bis zur totalen Umkehrung des ordo zu führen drohen. Artus erwartet zudem ausdrücklich, dass das Spiel (und sein Erscheinen) für die Artusgesellschaft insgesamt eine Bedeutung hat (»hen quam hier sonder redene niet«). Winkelman moniert übrigens zurecht, dass van Dalen-Oskam für den merkwürdigen Umstand, dass Pieter Vostaert (der Fortsetzer des Roman van Walewein), die von ihr unterstellte Symbolik der Schachspielqueste nicht weiter ausgearbeitet habe, keine überzeugende Erklärung bieten kann.186 Van Dalen-Oskam mutmaßte, Vostaert könne die von Penninc intendierte Symbolik der Thronfolge-Qualifikation entweder nicht erkannt oder aber für unvereinbar mit den Konventionen des arthurischen Genres gehalten haben.187 Dagegen ist weiter unten zu zeigen, dass Vostaert sehr wohl eine (freilich ganz andere) Symbolik der Queste nach dem Spiel zuende erzählt hat, die von Penninc durch die Initialkrise und Romanhandlung seiner ca. 7881 Verse vorgegeben wurde (vgl. Abschnitt III. 4.1.2).188 Die Interessen der Hofgesellschaft sind jedenfalls ausweislich des Endgeschehens des Romans keineswegs identisch mit der Thronfolge des Questeritters Walewein, denn die Krise der Artuswelt wäre mit seiner eventuellen Verheiratung und Machtübernahme offenbar nicht behoben. Im Gegenteil, Brauterwerb und Thronfolge scheinen für das eigentliche Anliegen, die redene [V.70] für das Erscheinen des Spiels, keinerlei Bedeutung zu haben und können vom Erzähler, der die Glaubwürdigkeit dieser Motive ohnehin stark bezweifelt, offen stehen gelassen werden. Zur Bedeutung des Erscheinens des Schachbretts ebenso wie zur vermeintlichen Habgier Waleweins später mehr.
Wie sieht nun der narrative Mechanismus aus, den Penninc genutzt hat, um die Initialkrise seines Artusromans erzählerisch zu organisieren. Oberhalb wurde schon angesprochen, dass die Handlungsstockung (Stasis) von Artus durchbrochen wird, indem er die undankbare Rolle desjenigen übernimmt, der durch provozierendes Reden die Ritterschaft aus ihrer Lähmung reißt. Diese Rolle war in Chrétiens Romanen Keu vorbehalten. Doch für Keu hatte Penninc in dieser Funktion keine Verwendung mehr. Es kommt zwar später zu einer im Vergleich mit Chrétiens Romanen etwas matt wirkenden Schelte Keyes [V.175–179], 186 187 188
Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 336. Van Dalen-Oskam: Het zwevende schaakspel, 1988, vgl. S. 284. Auf einer Konferenz in Leeds (UK) präsentierte Karina van Dalen-Oskam im Jahr 2004 neuere, bislang nicht publizierte Forschungsergebnisse, die den Umbruchspunkt von der Autorschaft Pennincs zu der Vostaerts etwa bei Vers 7881 vermuten lassen. Dieses Ergebnis wurde durch eine statistische Erhebung der Frequenz lexikalischer Varianten in beiden Textpartien ermittelt, wobei sich ein auffälliger Umschlag in der Zusammensetzung der 150 meistgebrauchten Wörter ab V.7881 festmachen ließ. Eine definitive Bestimmung des Umbruchspunktes stehe gleichwohl noch aus, da u. a. die Möglichkeit bestehe, daß Vostaert einige von Penninc übernommene Verse bearbeitet haben könne.
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doch diese bleibt wie ein blindes Motiv im Romangeschehen zurück, denn sie zieht weder die typische Bestrafung nach sich (der Pferdabwurf bleibt aus), noch hat sie die für Chrétiens Romane unerlässliche Funktion, die Stasis aufzubrechen. Das ist zum Zeitpunkt des Auftritts Keyes ja längst geschehen. In der Marginalisierung Keyes ist der Roman van Walewein dem Wigalois nicht unähnlich, wo die Rolle Keies ebenfalls auf ein sehr kurzes Intermezzo beschränkt bleibt, welches sich in »sieben Versen erschöpft« und die Erwartung des Rezipienten »enttäuscht«.189 Im Gegensatz zum Roman van Walewein ist im Wigalois gerade das typische Spottreden unterdrückt und dafür die Szene des Pferdabwurfes realisiert. Offenbar konnte Wirnt von Gravenberc nicht ganz auf die Keiefigur verzichten, aber für seinen Wigaloisroman ist wohl mit dem Einfluß des genealogischen Erzählschemas auf die narrative Struktur zu rechnen, die hier wie etwa in Chrétiens Cligès zu signifikant anderen Figurendispositionen geführt haben dürfte.
Dass Penninc auf die Keyefigur jedenfalls in funktionaler Hinsicht verzichten musste, hat ihn offenbar gestört, weshalb er die eben erwähnte Keye-Schelte nachgereicht hat. Penninc markiert dieses ›Nachreichen‹ sogar durch eine signalhafte Erzählerankündigung: Ende als deer Keye dat versach, – Nu moghedi horen Keyes tale – Hi liep ten veinstren vander sale Ende riep: ... [V.172–175] [Und als der Herr Keye dies sah – jetzt könnt ihr Keyes Mundwerk hören – lief er zum Fenster des Saals und rief: ...]
Auffällig ist die rhetorische Markierung dieser Erzählerankündigung mit Publikumsanrede, die ohne Konjunktion oder syntaktische Verknüpfung zwischen zwei abhängige Satzglieder eingerückt ist, weshalb sie natürlich besonders aus dem Kontext heraussticht. Worte und Satzstellung zusammen bedeuten offenbar so viel wie: Gebt acht! Jetzt könnt ihr Keyes Mundwerk hören, (auf das ihr schon die ganze Zeit gewartet habt). Penninc wollte seinem Publikum dieses Schmankerl nicht vorenthalten, denn das Gattungswissen des Publikums führte unweigerlich zu einer Hörererwartung, die fest mit einem irgendwie kontroversen Auftritt des notorischen Provokateurs rechnete. Doch zu diesem Zeitpunkt sind wie gesagt alle funktionalen Zusammenhänge, in die Keye nach der Gattungstradition hätte eingebunden sein müssen, längst durchgespielt. Seine Intervention besteht in einer (verspäteten) Verspottung Waleweins (ein bisschen in der Art des Spottes Keus für Yvains Tatendrang im Chevalier au Lion)
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Andreas Daiber: ›Bekannte Helden in neuen Gewändern? Intertextuelles Erzählen im Biterolf und Dietleib sowie am Beispiel Keies und Gaweins im Lanzelet, Wigalois und in der Crone.‹ Mikrokosmos. Bd. 53. Frankfurt a.M. 1999, S. 145.
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und hat lediglich den Effekt, Walewein bei seiner Queste zu behindern, bzw. einzuschüchtern, so lange die Hofgesellschaft ihn von den Fenstern aus beobachten kann [V.217–224]. Besamusca bestätigt, dass der Autor mit Keyes Auftritt das Publikum zum Lachen bringen wollte.190 Doch seine Interpretation der Keyeschelte übersieht einen wichtigen Aspekt. Keye macht nämlich Walewein den Vorwurf, er hätte das schwebende Schachbrett mit einem Faden anbinden sollen, um es so einfach zu sich heranziehen zu können (Haddi ghenomen enen draet ende hadde den ant scaec ghestrect, so mochtijt nu hebben ghetrect dat u niet ne ware ontvaren [V.176–79]). Besamusca meint, »wat Keye voorstelt, is volstrekt ongerijmd.«191 Obwohl das Erlangen des Schachspiels eine enorme Anstrengung von Walewein erfordere, wolle der Seneschall laut Besamusca glauben machen, »dat het doel moeiteloos en op hoogst banale wijze met een draadje bereikt kan worden.«192 Wenn man es ganz genau nimmt, bedeuten die Worte des Seneschalls jedoch, dass das Spiel auf allereinfachste Weise hätte ergriffen werden können – nämlich zu einem früheren Zeitpunkt (haddi ghenomen). Das ist keineswegs ungereimt, denn zu einem früheren Zeitpunkt war das magische Objekt ja wirklich ›zum Greifen nahe‹, ohne dass sich jemand getraut hätte, diese Gelegenheit zu nutzen. Die Keyeschelte im Walewein bezieht ihren Hintersinn also aus dem initialen Versagen der Waleweinfigur, aus der genretypischen Inertia des Zu-spät-Handelns. Die Tatsache, dass es Artus ist, den Penninc in der Initialkrise zur treibenden Kraft umfunktioniert (anstatt ihn in der Rolle des passiven Königs zu belassen) mag ursächlich mit den Angeboten zusammenhängen, die eben nur eine Königsfigur machen kann. Land und Krone könnte ein Keye dem Questeritter niemals in Aussicht stellen. Insbesondere die anschließende Drohung von Artus, selbst auf Queste auszureiten, d. h. also die Androhung der Umkehrung des höfischen ordo kann nur dann überhaupt funktionieren und Sinn ergeben, wenn sie eben vom König selbst kommt. Wenn Penninc bereit war, so weit zu gehen, die Funktion Keyes zu unterdrücken und die des Königs bis an die Grenzen der vom Genre definierten Möglichkeiten zu führen, kann das eigentlich nur bedeuten, dass diese Elemente unverzichtbar waren und folglich, dass sie in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Deutungsangebot des Romans stehen. Nun kommt es darauf an, dass die Androhungen und die Versprechen des Artus zwar unerhört sind und in ihrer spezifischen Qualität quer zum arthurischen Schema zu stehen scheinen, dass aber das Phänomen eines äußerst prekären Verhaltens des Königs durchaus nicht untypisch für die klassischen 190 191 192
Besamusca: ›Als je het doorhebt: humor in de Oudengelse en Middelnederlandse literatuur‹, in: TNTL 117 (2001), S. 376–379, S. 379. ›[...] vollkommen unsinnig.‹ S. Anm. 190. ›[...] dass das Ziel mühelos und auf höchst banale Weise mit einem Faden erlangt werden kann.‹ S. Anm. 190.
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Artusromane ist (vgl. die Ausführungen in Kapitel II. 3). Im Conte du Graal beobachtete man ihn bei dem intriganten Manöver des Versprechens der roten Rüstung an Perceval in der Hoffnung, der Protagonist möge einen gefährlichen Gegner für den Hof aus dem Weg räumen. Im Chevalier de la Charrette brachte Artus seine Gemahlin in eine Situation, die ihre Entführung erst ermöglichte, indem er Keu erlaubte, gegen Méléagant zu kämpfen. In Erec et Enide war es Artus‹ Beharren auf dem coutume der Hirschjagd, die ihm dort ebenso wie in der Charrette die Kritik Gauvains und das Missvergnügen der Hofgesellschaft eintrug. Im Chevalier au Lion schließlich leistete er sich nicht nur den schwerwiegenden Fehltritt der recreantise, sondern es war Artus selbst, der den prekären Mechanismus der Gewitterquelle auslöste. Mehr als nur ein schwacher König war die Artusfigur bereits bei Chrétien Verkörperung eines ethischen Prinzips, das seine Berechtigung nur in Auseinandersetzung mit einer Gegenwelt gewinnen konnte, deren wiederholte Herausforderung und Überwindung erst den utopischen Entwurf der arthurischen Zivilisation bestätigten. Das typische Warten des Königs auf âventiure vor dem Essen, welches Schmolke-Hasselmann unter die Genrekonstanten rubrizierte, signalisiert beispielsweise dieses Angewiesensein der höfischen Welt auf die Konfrontation mit ihrem Gegenteil. Die vorgenannten, prekären Handlungen des Artus in Chrétiens Romanen, insbesondere das Auslösen des Gewittermechanismus bei der Quelle im Chevalier au Lion, lassen erkennen, dass die Figur des Königs dabei auch selbst in die Gefahrenzone geraten, Anstifter sein und sich die Hände schmutzig machen kann. In dieser Rolle wollte und musste auch Penninc seinen Artus abbilden, denn sein Märchenstoff gab ihm implizit das Motiv des königlichen Angebots von Land und Krone an die Figur des Helden vor. Doch die anschließende Drohung des Artus, selbst auf Queste ausziehen zu wollen, entstammt offensichtlich nicht dem Märchenschema, könnte es auch nie, weil sie dort keinen Sinn machen würde. Der arthurische Versroman, für den von jeher galt, dass er »unter Übernahme von Märchenmotiven und Gestaltungselementen des Märchens als großes Märchen« 193 oder als eine »märchenhafte Erzählwelt« gestaltet war,194 unterscheidet sich noch immer nur in verhältnismässig wenigen Aspekten vom Märchen. Das, worin er sich aber doch unterscheidet, hat Max Wehrli als die »Vorstellung des Artushofes« bezeichnet, mit der Chrétien der narrativen Welt des Märchens »eine gewisse Mitte und damit einer beliebigen Reihe von Geschichten einen gemeinsamen Nenner gab, gleichzeitig mit der neuen höfisch-ethischen Überprägung.«195 Der König ist natürlich nicht nur die
193 194 195
Karl Otto Brogsitter: Enzyclopädie des Märchens. Vgl. das Lemma ›Artustradition‹, Spalte 828. Wehrli: Identität der Figuren, 1989, S. 51. S. Anm. 194.
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Verkörperung und der Garant für diese höfisch-ethische Überprägung, sondern auch für das gesamte Genre als literarische Gattung. Er ist also unersetzlich. Damit ist klar: die Drohung des Artus im Roman van Walewein, selbst die Queste zu unternehmen, funktioniert nur dann als Provokation – als äußerstes Druckmittel – wenn die potentiellen Heldenfiguren (die Ritterschaft) den Handlungseinsatz der Königsfigur unter keinen Umständen geschehen lassen dürfen, weil damit die Ordnung in Gefahr geriete, die auch ihren eigenen Bestand garantiert. Der Märchenheld kann am Ende des Märchens auf den König verzichten, denn er wird ihn in seinem Amt beerben, nachdem er des Königs Tochter zur Frau genommen hat. Der namenlose König der Märchens ist lediglich als narrativer ›Platzhalter‹ bis zu seiner Nachfolge durch den erfolgreichen Helden gefragt, dem er das Königreich bereits zu Anfang des Märchens in Aussicht stellte. Den König des Märchens definiert seine Funktion der Ersetzbarkeit. Der Artusheld kann dagegen nur dann Artusritter an der festlichen Tafelrunde bleiben, wenn die arthurische Utopie, deren Bestand in der Figur des Königs ihre körperliche Gestalt gefunden hat, auch nach der erfolgreichen Queste fortbesteht. Nur mit Artus und um Artus herum gibt es den Artushof und die arthurische Ordnung. Das bedeutet zum einen, dass der König sich nicht selbst auf Queste begeben darf, weil mit ihr der Weg durch den Tod verbunden ist, also ein Risiko, dem nicht er, sondern nur seine Ritterschaft sich aussetzen kann. (Schon im Mittelalter lautete die Spielregel: den König zieht man nicht ins Schach.) Das bedeutet zum anderen, dass kein Artusritter den König wirklich beerben und seine Thronfolge antreten darf, denn ein Ende der Herrschaft dieser zeitfernen, ewig jetztzeitigen Königsgestalt ist im Genre der Versromane (anders als im Märchen oder in der historiographischen Tradition) eben nicht vorgesehen. Der oben gegebene Schachspielvergleich mag verdeutlichen, was die Figuren der untersuchten Versromane am ehesten typisiert. Es gibt bestimmte Figuren, für die im arthurischen Spiel ebenso wie auf dem Schachbrett bestimmte Bewegungen einfach ausgeschlossen sind. Die narrativen Konstanten des arthurischen Genres verlangen den Fortbestand der Königsfigur. Zugleich besteht der Reiz des arthurischen Entwurfs aber gerade darin, die prekäre Position des Königs bis an die Grenze auszureizen, ihn der Gefährdung anzunähern, ihn mit dem Feuer spielen zu lassen, ihn in Situationen der Normverletzung zu entblößen. Dies wusste auch Penninc ganz genau, der ja das Motiv der Questedrohung des Königs gegen seine Märchenvorlage eingeführt hat. Auch Penninc muss es Vergnügen bereitet haben, das heikle, höfische Gleichgewicht zwischen Fest und Herausforderung, Idealität und Katastrophe in der problematischen Haltung der Königsfigur auf die Spitze zu treiben. Anschauungsmaterial für eine derartige Artusrolle konnte er in allen Artus-Aventiureromanen Chrétiens finden, aber ganz gewiss nicht – und das muss den Verfechtern der Märchenthese zu denken geben – in den Varianten von Aarne-Thompson 550. 221
Auf Basis dieser Analyse der Rolle der Königsfigur in der Initialkrise lässt sich nun auch der auf den ersten Blick so befremdliche Auftritt Waleweins besser verstehen. Thronfolge jedenfalls, wie Van Dalen-Oskam mutmaßte, kann für Walewein unter den Gesichtspunkten des arthurischen Genres keine Option sein. Selbst J. Reynaert, der die These von Van Dalen-Oskam unterstützt und daran angeknüpft hat, kommt schlussendlich doch nicht um das »evidente« Faktum herum, »dat Walewein Arturs troonopvolger niet zou worden.«196 Besamusca, der Winkelmans Habgier-Interpretation bezüglich Waleweins nicht folgen mag, sieht in Waleweins Verhalten ein erzählerisches Mittel des Dichters »om in de beginscène duidelijk te maken dat de uitdaging uitzonderlijk gevaarlijk is – zo gevaarlijk dat zelfs de held van het verhaal aarzelt.«197 Die Tatsache dass Walewein zögert, ist nichts anderes als die typische Inertia der Figur, die auch in den zuvor betrachteten Romanen für alle Initialkrisen festgestellt wurde und daher keinen spezifischen Erkenntnisgewinn für das Verhalten Waleweins im Roman van Walewein verspricht. Trotzdem steuert Besamusca mit seiner Deutung einen interessanten Gedanken bei, der helfen kann, das Rätsel zu lösen, weshalb sich Walewein das in Aussicht gestellte Angebot von Land und Krone noch einmal ausdrücklich vom König bestätigen lässt. Denn Besamuscas Überlegung impliziert ja, dass die Bestätigungsfrage Waleweins nicht inhaltlich gemeint sei, dass sie also nicht im Sinn der Habgier auf den tatsächlichen Erhalt der Objekte (Land und Krone) ziele, sondern im Sinn des Gefahrenaspekts und der Zögerlichkeit des Helden auf die Intention des Königs und die Dringlichkeit seiner Forderung ausgerichtet sei: ›ist dieses Angebot ein ernsthaftes; ist Euch, Herr König, das Schachspiel so wichtig, dass Ihr dafür Land und Krone hergeben wollt? Muss ich wirklich zu dieser Queste aufbrechen?‹. Hier liegt sowohl der Schlüssel zum Verständnis des Agierens des Helden als auch zum Verständnis dieser ›Querstände‹ bzw. Märchenreste in Pennincs Artusroman. Noch einmal zur Interaktion zwischen König und schweigender Ritterschaft. Der König eröffnete seine Rede an die Ritterschaft mit dem Land-undKrone-Versprechen [V.71–76]. Darauf reagierte keiner der Artusritter: Si saten alle ende zweghen stille [V.79]. Auch Walewein zeigt kein Interesse an diesem Angebot. Wäre tatsächlich Habgier seine primäre Motivation, hätte seine Bestätigungsfrage vielleicht schon an dieser Stelle erfolgen können. Doch sie unterbleibt. Artus unternimmt einen zweiten Anlauf, die Ritterschaft zur Queste zu motivieren. Er droht, wenn keiner das Schachbrett zurückholen werde, wine ghecrighen nehmmermere vandesen daghe voort wert ere [V.83f.] (›werden wir vom heutigen Tag an niemals mehr Ehre erwerben können‹). Trocken ergänzt der 196 197
›[...] dass Walewein nicht Arturs Thronfolger werden sollte.‹ J. Reynaert: Rezension von Hoort Wonder, in: Spiegel der Letteren 43 (2001), S. 157–162, S. 161. ›[...] um in der Beginnszene deutlich zu machen, dass die Herausforderung außerordentlich gefahrvoll ist, so gefahrvoll, daß selbst der Held zögert.‹ Besamusca: Intertekstualiteit, 1993, S. 79.
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Erzähler: Noch zweghen si alle die daer waren [V.86] (›noch immer schwiegen alle dort anwesenden‹). Das ist freilich eine Blamage für die Artusritterschaft, wie Winkelman wiederholt hervorhob. Ein Artusritter kann drohenden Ehrverlust ganz gewiss nicht ignorieren. Erec, Yvain oder Perceval mussten aufgrund ihres Ehrverlusts die Hofgesellschaft verlassen und sich in zivilisationsferner Wildnis – oft im Gang durch die Erfahrung des Todes – ihren gesellschaftlichen Wert wiedererkämpfen. Doch die Artusritterschaft in Carlioen bleibt immer noch wie gelähmt. Walewein wird sich – und dies ist ein sehr wichtiger Hinweis auf die tatsächliche Motivation dieser Figur bei Penninc – später für dieses Verhalten schämen: Ic scaemde mi als ic dat horde [V.1200, vgl. auch V.108] (›Ich schämte mich, als ich das hörte‹). Da König Artus aber auch mit diesem Argument keinen Erfolg hat, entschließt er sich zu der dramatischen Ankündigung, den ordo umkehren und als jouwer alre knecht selbst das avontur suchen zu wollen. Die Verwirklichung dieser Drohung darf die Ritterschaft aus vorgenannten Gründen unter keinen Umständen zulassen. Wenn der König ihnen das Ende der arthurischen Ordnung androht, so hat er doch, wie Penninc sorgfältig vorführte, vorher alle anderen Mittel vergeblich ausprobiert: weder mit Belohnungen noch mit dem Appell an das Ehrgefühl der Ritterschaft konnte jemand bewegt werden, die Queste auf sich zu nehmen. Die arthurische Ordnung ist zu diesem Zeitpunkt also schon in einer tiefen Krise, denn die Tugendbegriffe der Ritterschaft, vor allem der zentrale Aspekt der Ehre, haben Lähmung und Angst platzgemacht. Die Tafelrunde ist handlungsunfähig und ehrlos geworden. Der ordo-Gedanke, der jetzt in Frage gestellt wird, klingt auch in der Formulierung dieser letzten Drohung des Königs an: Bi mire coninc crone Ende biden here vanden trone Ende bi al dire ghewelt Die ic ye van Gode helt, Ne wille mi niemen tscacspel halen Ic sect jou allen in corter talen Ic salre selve achter riden.« [V.89–95] [Bei meiner Königskrone und beim Herrn des himmlischen Throns und bei aller der herrschaftlichen Macht, die mir von Gott gegeben ist, wenn mir keiner das Schachspiel holen will, das sage ich Euch kurz und klar, werde ich ihm selbst nachreiten.]
Der König beruft sich nicht nur auf die Insignie seiner Macht, nämlich die Krone, sondern auch auf die Legitimation derselben. Sie wurde ihm von Gott gegeben. Der Herr des himmlischen Throns hat den König dieses irdischen Throns mit herrschaftlicher Macht ausgestattet, weil es der Wille Gottes ist, dass Artus diese Funktion bekleide. Gott garantiert diesen ordo. Wenn aber keiner der Ritter seiner Rolle gerecht wird, die Queste zu akzeptieren, wenn die Artusgesellschaft desavouiert und entehrt ist, und wenn schließlich nichts ande223
res übrigbleibt, als dass der König selbst ausziehen muss um jou mede [te] doen die ere [V.103] (›um auch Eure Ehre damit [zu] retten‹), dann wird der ordo auf den Kopf gestellt, wird aus der Figur des Königs jouwer alre knecht. Artus lässt in seiner Erklärung keinen Zweifel an den möglichen Konsequenzen dieser inordinatio: »Mine lette ramp ende ongheval Eer ic meer te Carlioen kere Of ic blive doot inde ghere.« [V.100–103] [Weder Katastrophen noch Unglücke sollen mich dazu bewegen, eher nach Carlioen zurückzukehren, als dass ich es erhalten habe, falls ich nicht auf meiner Queste sterbe.]
Der Tod des Königs wäre allerdings, wie zuvor ausgeführt, gleichbedeutend mit dem Ende der Artuszivilisation. Artus kann diese Drohung zwar aussprechen, aber er darf sie nicht realisieren. Nach dieser äußersten Drohung also interveniert endlich Walewein. Er erkundigt sich nun zunächst, ob Artus die Queste wirklich für so wichtig hält, dass er dafür Land und Krone, d. h. ›alles‹ aufs Spiel setzen will (»Suldi houden... dien eet« [V.117f.] Wollt Ihr diesen Eid wirklich erfüllen? Meint ihr das wirklich ernst?) Als der König es ihm ausdrücklich bestätigt, macht Walewein sich zur Queste bereit und gibt eine merkwürdige Erklärung ab: »Vindict in enich lant, Ic saelt u leveren in uwe hant So helpe mi God die u gheboot, Of ic blive in den wille doot...«
[V.131–34]
[Wenn ich es in irgendeinem Land finde, werde ich es Euch in Eure Hand ausliefern, so helfe mir Gott, der Euch erschuf, es sei denn, ich sollte bei meinem Vorhaben mein Leben verlieren...]
An dieser Erklärung fällt zunächst einmal auf, dass Walewein keine Belohnung verlangt. Wenn er es findet, wird er es übergeben. Konditionen werden nicht formuliert. Zum zweiten ist dort die signifikante Umdrehung der Gefahrensituation. Nicht Ihr, König Artus, den Gott erschuf, sondern ich werde mein Leben dabei riskieren. Walewein antwortet also direkt auf die Androhung von Artus, sein Leben aufs Spiel setzen zu wollen. Merkwürdig muss jetzt die Formulierung erscheinen, die er bei seinem Versprechen mit der Qualität einer Eidesformel (so helfe mir Gott) verwendet. Er sagt nämlich nicht ›so helfe mir Gott, der mich erschuf‹. Bei einer Eidesformel läge dies allerdings nahe: ›mein Schöpfer möge mir helfen‹. Tatsächlich aber sagt Walewein: So helpe mi God die u gheboot, so helfe mir der Schöpfer, der Euch erschuf. Es ist leicht zu erkennen, dass er damit wieder den ordo-Gedanken aufgreift, den Artus zuvor seiner Drohung vorangestellt hatte. In der Eidesformel des Königs berief sich dieser 224
auf den Herrn des himmlischen Throns, der ihn mit Krone und Machtfülle ausgestattet hatte, den höfischen Gott also, der in Artus die Verkörperung des arthurischen ordo erschaffen hatte. Dieser Gott, der diesen ordo in der Königsfigur erschuf und garantiert, möge ihm helfen, erklärt Walewein. Die gesamte Replik Waleweins wird hier als Intention durchsichtig, die inordinatio des Königs umzukehren. Nicht der König darf sein Leben riskieren, nein er selber werde das tun. Und wenn er die Queste unternimmt, beruft er sich nicht auf seinen eigenen Schöpfer, sondern auf den, der den arthurische ordo gewollt und in der Figur des Königs eine Gestalt gegeben hat. Mit anderen Worten, Walewein begibt sich nicht zum persönlichen Vorteil auf die Queste, sondern im Dienst und mit dem Ziel der Erhaltung dieses ordo und dieser Königsfigur. Das freilich schließt eine intendierte Thronfolge und Landnahme von Anfang an aus. Die Autoren Penninc und Vostaert haben der Waleweinfigur die auffällige Formulierung so helpe mi God die [Pronomen] gheboot im Verlauf des Romans insgesamt vier Mal in den Mund gelegt. Zwei weitere dieser Fälle stehen in einem direkten Zusammenhang mit den eben geschilderten Vorgängen. Darauf wird bei der Besprechung der Queste Waleweins näher eingegangen (vgl. Abschnitt III. 4.1.2.1). An dieser Stelle ist festzuhalten, dass sich die Waleweinfigur während der Initialkrise, getreu den Gattungskonventionen, zunächst gar nicht einschaltet (Inertia), dass sie aber später, als die Situation eskaliert ist (inordinatio) mit einer berichtigenden Tendenz auf Queste ausziehen wird (Rektifikation). Abweichend von Chrétiens Muster ließ sich beobachten, dass während der Situation der Stasis nicht zuerst die Keufigur aktiv wurde, die in Chrétiens Romanen mit Gauvainqueste die Handlungsstockung durchbricht, sondern dass Penninc ein anderes Verfahren wählte, wobei die Königsfigur in eine prekäre Situation gebracht wird, bzw. durch ihr eigenes, bedenkliches Verhalten eine unakzeptable Situation heraufbeschwört. Für dieses Verhaltensmuster konnte Penninc u. a. in Romanen wie Erec et Enide oder dem Chevalier au Lion Vorlagen finden, wo der König selbst die Ursache für die Hofkrise ist und – wie im Chevalier au Lion – selbst den Quellenmechanismus auslöst. Es scheint, als ob Penninc eine narrative Strategie verfolgen konnte, die das Prinzip von äußerer Provokation (Schachspiel) mit anschließender Stasis (Handlungslähmung der Ritterschaft) sowie erneuter Provokation durch einen Hofakteur zur Erzeugung der Handlungsbewegung beibehielt, dass er aber aufgrund einiger, unumgänglicher Motive in seiner Märchenvorlage die Position des antreibenden Hofakteurs von Keye auf den König selbst verlagern musste. Um den gattungstypischen Einsatz der Keyefigur nicht völlig zu verlieren, hat Penninc dann die vom Publikum erwartete Szene des Spottes nachgereicht, worauf er mit einer signalhaften Erzählerankündigung ausdrücklich hinweist. Dieser nachgereichte Einsatz Keyes hat im Roman van Walewein nur noch die Qualität eines Topos, ist aber in keine funktionalen Zusammenhänge mehr ein225
gebunden. Der gesamte Verlauf der Initialkrise und die darin aufscheinenden narrativen Funktionen sind folglich denen Chrétiens sehr ähnlich, denn auch wenn eine Verlagerung der Funktion Keyes auf Artus stattgefunden hat, ist die Funktion als solche nicht verloren gegangen. Der Mechanismus des narrativen Schwungrades hat sich erhalten, erscheint aber durch den Wegfall Keyes in seiner Triebfederfunktion und durch das Fehlen des ›Umwegs‹ über seine Bestrafung durch einen Protagonisten, die bei Chrétien dem berichtigenden Einsatz der Gauvainfigur vorausging, gestrafft und auf ein kleineres Personal beschränkt. Nachdem die arthurische Lesung der ›Querstände‹ im Roman van Walewein gegeben wurde, zu welcher Penninc ausweislich der gattungsgetreuen Anlage des Romans das Publikum angehalten hat, ist jene eine, oben schone erwähnte Konstante genauer zu betrachten, die bei Chrétien fester Bestandteil der Romananfänge war, die aber von Penninc in auffälliger Weise unterdrückt wird. Und damit soll gleich anschließend zur Betrachtung der Queste Waleweins übergeleitet werden, denn dieses unterdrückte Signal steht im direkten Zusammenhang mit der genretypischen Rektifikationsleistung der Waleweinfigur, die schon bei der Besprechung der Romane Chrétiens aufgedeckt wurde. Das von Penninc unterdrückte Element der klassischen Romananfänge ist die von Chrétien in seinen Romanen programmatisch herausgestellte Gemeinschaft von Männern und Frauen im höfischen Fest, von der bereits die Rede war (vgl. Abschnitt II. 5.2.1). Winkelman hat nachdrücklich auf diese Diskrepanz hingewiesen: »over lieftallige dames, die per traditie het Arturhof opvrolijken en de liefdesaandacht van de heren opeisen, wordt met geen wordt gerept.«198 Mehr noch als lediglich von Damen zu schweigen, wie hier Winkelman ausführt, inszeniert der Erzähler die erste Artusszene und dort insbesondere das festliche Mahl ausdrücklich als eine Veranstaltung, an der der König und zire man [V.37] bzw. die heren [V.44] teilnehmen. Die nachdrückliche Betonung der Gemeinschaft von Männern gegenüber dem völligen Verschweigen von Frauen ist im Licht der Genrekonventionen signifikant. Winkelman weist zwar darauf hin, dass zu einem viel späteren Zeitpunkt auch die Königin quasi nebenbei erwähnt wird [V.143],199 nämlich als Walewein sich von ihr verabschiedet, doch es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie zum Zeitpunkt des Festmahls und der anschließenden Schachbrettszene bereits bei den Herren im Saal war. Die Einlassung des Erzählers, doe nam orlof die wigant an coninc ende an conininghinne ende an alle diere waren inne metten coninc indie zale [V.142–45] (›da nahm der
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›[...] über liebreizende Damen, die traditionsgemäß den Artushof erfreuen und die affektive Aufmerksamkeit der Herren auf sich lenken, wird mit keinem Wort berichtet.‹ Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 328. S. Anm. 198.
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Held Abschied vom König und der Königin und allen, die mit dem König in dem Saal waren‹), zwingt streng genommen nicht einmal zu der Schlussfolgerung, dass die Königin zu irgendeinem Zeitpunkt bei ihrem König im Saal ist. Man mag die Einlassung dennoch so auffassen, dass die Königin zum Zeitpunkt des Abschieds sich dort befinde (sie könnte dann allerdings auch erst später hinzugetreten sein), doch dies würde es nur noch rätselhafter erscheinen lassen, warum die Nennung von Frauen bis dahin gegen die Genrekonvention unterdrückt wurde. Winkelman hat mit seiner Abhandlung zur Liebesthematik im Roman van Walewein einen Zusammenhang aufgedeckt, der sowohl dieses Unterdrücken der Genrekonvention erklärt als auch – wenn man Winkelmans These geringfügig modifiziert – meines Erachtens die Antwort auf die Frage nach der möglichen Symbolik des Erscheinens des schwebenden Schachbretts bietet. Nach Auffassung Winkelmans kennzeichnet sich der Roman van Walewein durch eine Kontamination von Erzählstrukturen.200 Eines der dem Roman van Walewein zugrundeliegenden Erzählmuster ist das von Walter Haug beschriebene,201 auf die irische Tradition zurückgehende ›mythische‹ Erzählkonzept, wonach eine verlorene Schachpartie des Helden auf einem magischen Schachbrett den Anlass zu einer Jenseitsreise (d. h. durch den Tod) darstellt, bei welcher die dort gewonnene, lebensspendende Braut dem Helden das Leben wiederschenkt.202 Dieses Erzählmuster liege der Queste Waleweins in der Initialkrise und nach Unterbrechung wenigstens ab dem Geschehen in Endi wieder zugrunde. Das bedeutet, dass die Provokation durch das Schachspiel im Roman van Walewein die Einladung des Helden darstellt, sich auf die Suche nach der lebensspendenden Braut zu begeben, die er in der Person Ysabeles in Endi findet und von dorther an den Hof mitnehmen wird. Somit wäre die Symbolik des Schachspiels in der Brautsuche begründet.203 Als gemeinsames, sinntragendes 200 201
202 203
J.H. Winkelman: ›Gecontamineerde vertelstructuren in de Middelnederlandse Roman van Walewein‹, in: Spiegel der Letteren 35 (1993), S. 109–128. Walter Haug: »Das Land, von welchem niemand wiederkehrt«. Mythos, Fiktion und Wahrheit in Chrétiens Chevalier de la Charrette, im Lancelet Ulrichs von Zatzikhoven und im LancelotProsaroman. Tübingen 1978. Winkelman: Gecontamineerde vertelstructuren, 1993, S. 111. Auch Besamusca: ›Het zwevende schaakspel, de Graal en de liefde‹, in: Hoort Wonder. Opstellen voor W.P. Gerritsen bij zijn emeritaat. Hrsg. von Besamusca, Brandsma u. a. Hilversum 2000, vgl. S. 33, erkennt den Motivzusammenhang von Schachspiel und Brautqueste als eine für das zeitgenössische Publikum mögliche Interpretation der Symbolik des Spiels. Besamusca nimmt allerdings an, dass dem Schachspiel in den Augen des Publikums eine doppelte Symbolik angehaftet haben müsse, da es zugleich auch mit dem Graal assoziiert worden sei. Hiergegen hat sich Winkelman (zuletzt in: Waleweins Dilemma, 2004, S. 331f.) gewendet. Die miteinander unvereinbaren Assoziationen von Graal und Liebesthematik hätten in den Köpfen der Zuhörer allenfalls in sich widersprüchliche Erwartungen hervorrufen können. Bezüglich der Erzählmechanik, d. h. der narrativen Muster, die dem Roman van Walewein zugrundeliegen, schließe ich mich Winkelmans Modell einer kontaminierten Erzählstruktur an, worin das Schachspiel als ›Test‹ den Anstoß zur Brautsuche gibt. Bezüglich der Symbolik des Spiels im
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Element der Schachspiel-Provokation in der Initialkrise und der Liebesthematik während der Queste sieht Winkelman den Weg durch die Erfahrung des Todes: »Het dodelijk gevolg van de verloren partij vormt de link tussen het spel en de liefde.«204 Diesen Weg durch die Todeserfahrung lege Walewein in der Drachenhöhle auf der Reise nach Wonder zurück. Es wird gleich noch darauf zurückzukommen sein. Winkelmans Argumentation legt aber en passant noch einen anderen Bedeutungszusammenhang nahe, der sich mit dem Erscheinen des Schachspiels und mit dem Spiel als solchem verknüpft. Es stellt sich nämlich heraus, dass an dem Ort, wo das Schachspiel zuhause ist, dem Königreich Wonder (d. h. ›Wunder‹), ebenfalls die Gemeinschaft von Damen und Herren gestört ist, dass dort insbesondere keine Königin an der Tafel des Königs Platz nimmt. »Het grootste wonder, een wonder boven wonder, waarop Walewein de koning dan ook aanspreekt, blijkt het feit dat wel veel ridders aanwezig zijn, maar geen dames [...].«205 Offenbar bezieht sich die Symbolik des Schachbretts nicht ausschließlich auf eine zu suchende Braut, was die narrative Funktion des Bretts nach dem mythischen Erzählkonzept gewesen sein mag, sondern sie ist in erster Linie explizit mit der Störung des höfischen Geschlechterverhältnisses, mit der Trennung von Frauen und Männern verbunden. Das Schachspiel führt den Helden in Bereiche, wo diese Geschlechtertrennung expliziert thematisiert und in der Tat als ›Wunder‹ (vielleicht sollte man sogar übersetzen als ›unerhört‹ bzw. ›ungeheuerlich‹) bezeichnet wird. Von hierher also muss dem Helden, der dem Schachbrett ›folgt‹, eine Aufgabe erwachsen. Dieser Zusammenhang ist nun in einer Analyse der Queste Waleweins näher zu untersuchen. III.4.1.2 Die Queste im Roman van Walewein Zur besseren Orientierung sei daran erinnert, dass Waleweins Queste grob dargestellt über drei Hauptstationen verläuft, wo jeweils ein Objekt für späteren Eintausch gegen ein anderes erworben werden muss. In Wonder, der ersten Hauptstation, wird das schwebende Schachbrett für den Tausch gegen ein magisches Schwert mit zwei Ringen in Aussicht gestellt. Auf dem Ravenstene wird für das dort befindliche Schwert verlangt, dass Walwein Prinzessin Ysabele herbeischaffe, die auf der dritten Hauptstation, der Burg von Endi, auf ihre Befreiung wartet. Erst nach ihrer Befreiung kann sich der Held auf den Rückweg machen, um durch die Tauschaktionen Zug um Zug in den Besitz des gewünschten Schachspiels zu gelangen.
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Roman van Walewein – das heißt insbesondere der Evidenz dessen, was die Autoren des Romans aus diesem Erzählmuster gemacht haben – vertrete ich jedoch eine andere These, da die Braut im Endgeschehen des Romans gar nicht die Bedeutung bekommt, die ihr nach der Erwartung zukommen müßte, und da es Walewein aus verschiedenen Gründen offenbar gar nicht bestimmt ist, eine feste Liebesbindung mit einer Partnerin einzugehen. ›Die durch das verlorene Spiel verursachte Todesfolge ist das Bindeglied zwischen Spiel und Liebe.‹ Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 335. ›Das größte der Wunder, bezüglich dessen Walewein sich folglich beim König erkundigt, ein »Wunder über Wunder«, stellt sich als die Tatsache heraus, dass zwar viele Ritter aber keine Damen anwesend sind [...].‹ S. Anm. 204, S. 328.
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Man könnte sich nach den vorausgegangen Einlassung vielleicht fragen, ob die Gemeinschaft von Mann und Frau im höfischen Fest für die Autoren des Walewein überhaupt eine solche Bedeutung hatte wie für Chrétien, oder ob sie diesen programmatischen Aspekt der höfischen Utopie vielleicht aufgrund soziokultureller Differenzen ihrer nicht-französischsprachigen Zielgruppe gar nicht wichtig genug fanden und deshalb in der ersten Hofszene stillschweigend darüber hinweggingen, ohne dass man daraus eine für den weiteren Roman bedeutsame Vorgabe herzuleiten hätte. Der zweite Hof den Waleweins auf seiner Queste besucht – meine Besprechung folgt hier also nicht chronologisch der Erzählung – nämlich der des Königs Amadijs, gibt in dieser Frage Aufschluss. Penninc wendet in der Darstellung von Waleweins Empfang an diesem Hof die größte Sorgfalt darauf, einen Kontrast zwischen der Situation am Artushof und der bei Amadijs herauszukehren. Bei seiner Ankunft wird Walewein dort von der coninghinne indie zale [V.2520] empfangen. Die Königin ist also ausdrücklich im Saal. Sie heißt den Gast willkommen, ergreift ihn bei der Hand und bringt ihn zum Feuer, wo sie sich gemeinsam mit ihm niederlässt [V.2538], um höfische Konversation zu betreiben. Der König Amadijs selbst bittet Walewein anschließend bei der Mahlzeit gegenüber der Königin an der Tafel Platz zu nehmen [V.2556–61], was eine enorme Ehre für den Artusritter darstellt. Die Königin selber wird wiederholt mit dem signifikanten Attribut hovesch ... in haren zinnen qualifiziert [V.2576 und 2765]. Das Konzept der hövescheit kommt in der körperlichen Präsenz, dem Benehmen und der inneren Gemütshaltung der Figur der Königin zum Ausdruck. Zu dieser Präsenz und diesem Benehmen gehört selbstverständlich die Teilnahme an der gemeinschaftlichen Mahlzeit mit dem König und den Männern. Das vollendete Benehmen der Königin dokumentiert sich erneut in ihrem Verhalten beim Schlafengehen [V.2610f.] und bei Waleweins Abschied in ihrem Gespräch mit dem Gast [V.2718–25], wobei sie ihn wiederholt dazu auffordert, noch eine Weile länger zu bleiben [V.2765–2771]. Die prominente Rolle der Frau in der höfischen Gemeinschaft als Stifterin von Freude, Wohlbehagen und angenehmer Gesellschaft steht im eklatanten Kontrast zu der nur von Männern geprägten Hofsituation in Carlioen. Es gibt keinen Zweifel, dass eine solche Darstellung das kulturelle Wissen der Autoren demonstriert, die also mit den Idealen der courtoisie nach französischem Vorbild durchaus vertraut waren, und die offensichtlich mit einem Publikum rechneten, bei dem diese Darstellung nicht auf taube Ohren stieß. Man begreift, dass die arthurische Gesellschaft ohne die Anwesenheit solcher Damen nicht das wäre, was sie sich selbst zu sein vorgesetzt hat: eine Gemeinschaft der Freude, eine joie de la court. Dieser evidente Umstand mag erklären, weshalb Janssens ganz wie selbstverständlich annimmt: »qu’ils [die Ritter des Artushofes in Carlioen] sont au courant de la présence à la cour de la reine Guenever et de ses dames d’honneur [...].«206 Janssens’ irrtümli206
J.D. Janssens: ›Le Roman Arthurien »non historique« en moyen néerlandais: Traduction ou
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che Einschätzung ist durchaus nachvollziehbar, dokumentiert sie doch, in welch hohem Maße diese Gemeinschaft als selbstverständlich von eminenten Gelehrten vorausgesetzt wird, ohne dass man das noch im Einzelfall nachprüfen würde. Freilich bezüglich der Hofsituation bei König Artus wird diese Erwartung, wie man zuvor sehen konnte, ganz und gar nicht erfüllt. Es lohnt sich also, nach den Gründen zu fragen, warum Penninc dem Publikum ausgerechnet an einem ›Nebenkriegsschauplatz‹ eine höfische Idealvorstellung vorführt, die er am Artushof nicht darstellen mochte. Nun ist der Hof von König Amadijs noch in einer anderen Hinsicht von den zentralen Stationen Waleweins auf seiner Queste unterschieden. Dort nämlich kommt Walewein einmal nicht in die Verlegenheit, etwas ›Fehlendes‹ herbeischaffen, ein schmerzlich ersehntes oder vermisstes Element besorgen zu müssen. Bei Amadijs ist offenbar die Gesellschaft derart intakt, dass nichts geholt, getauscht oder abgeliefert zu werden braucht. Die anderen Stationen Waleweins (inklusive der Ausgangsstation des Artushofs) erweisen sich dagegen als solche, denen ›etwas‹ verschafft werden muss, bevor die Handlung dort zur Ruhe kommen kann. Gemeinsam haben diese zentralen Wegstation, denen etwas abgeht, aber vor allem, dass dort eine Störung des Geschlechterverhältnisses inszeniert ist, die von Hof zu Hof immer dramatischere Formen annimmt. Es soll gleich im Einzelfall demonstriert werden, dass die Spannung im Geschlechterverhältnis, die bei Artus in Carlioen vergleichsweise subtil durch Unterdrücken der genretypischen Signale angegeben war, sich am extremsten Außenpunkt der Walewein-Queste, dem Königshof in Endi, bis zur Irrationalität einer schockierenden Verhältnisumkehrungen (aus der Frau als sozialer Freudenstifterin wird eine folternde Henkerin) steigert. Untersucht man zunächst die Station Wonder auf das dort herrschende Verhältnis zwischen den Geschlechtern, so finden sich eine ganze Reihe von Signalen, die sowohl vorausdeutende als auch zurückdeutende Qualität haben. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Herren des Hofes von König Wonder ihre Mahlzeit ganz allein einnehmen. Der Erzähler folgt dem Blick Waleweins, der sich an diesem Hof umsieht, und konstatiert: Walewein sach an elke side. Hi mochte daer menighen rudder scouwen, Maer hine sacher vrouwe no joncfrouwen. Dat dochte hem ene vremde sake. [V.1058–1061] [Walewein sah sich nach allen Seiten um. Er konnte dort zahlreiche Ritter erblicken, aber er sah weder Damen noch Fräulein. Das kam ihm sehr seltsam vor.]
Der besondere Nachdruck, mit welchem der Erzähler das Publikum auf dieses Missverhältnis aufmerksam macht, ist Teil der Erzählstrategie. Die Störung des création originale?‹, in : Arturus Rex Vol. II. Acta Conventus Lovaniensis 1987. Leiden 1991, S. 330–351, S. 342.
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Geschlechterverhältnis, hier abgebildet in der räumlichen Trennung ausgerechnet bei der Mahlzeit des höfischen Festes, wird mit den Augen des Protagonisten registriert und durch seine Gedanken bewertet: vremde sake. Damit ist das Thema keineswegs erledigt, denn im anschließenden Gespräch mit dem König kommt Walewein selbst auf dieses irritierende Faktum zurück. Walewein erklärt dem König, dass dieser seinen Namen wohl zurecht trage, denn er – Walewein – sei schon weit gereist und habe in vielen Ländern wahrlich Ungewöhnliches erlebt, aber: »Dit wonder gaet alles te boven, Coninc rike ende van love Dat ic hier so menighen rudder scouwe Ende ic ne sie hier vrouwe no joncfrouwe. Ne hort hier ghene coninghinne?« [V.1089–1093] [Dieses Wunder übertrifft alles mir Bekannte, mächtiger und ehrbarer König, dass ich hier so viel Ritter versammelt sehe, aber ich sehe hier weder Damen noch Jungfern. Sollte denn zu einem solchen Hof nicht auch eine Königin gehören?]
König Wonder bestätigt daraufhin, dass durchaus eine Königin an seinen Hof gehöre. Die könne sich Walewein sogar gern selbst einmal ansehen. Es folgt eine bemerkenswerte Szene, die man sich gut einprägen muss, weil sie den Schlüssel zu einer viele tausend Verse später von dem Fortsetzer Pieter Vostaert erzählten Parallelsituation darstellt. Der König öffnet nämlich nun ein Guckloch in der Wand des Saals und ermöglicht Walewein einen Blick in den Nebenraum. Erneut inszeniert der Erzähler eine Perspektive, die dem Publikum erlaubt, die Welt durch die Augen des Protagonisten wahrzunehmen. Diese Art der narrativen Präsentation hat Methode. Das Publikum wird mit den Augen Waleweins quasi selbst zum ›Schlüsselloch‹-Gucker. Das auf der anderen Seite der Wand dargestellte erhält durch den heimlichen Blick die pikante Qualität einer sonst verborgenen Sondersituation. Mit diesem Trick gelingt es dem Erzähler, die Aufmerksamkeit des Publikums beim Nachvollzug des GucklochSpähens auf ein Höchstmaß zu steigern, denn es wird sowohl zum ›heimlichen Zeugen‹ quasi eines Geheimnisses gemacht als auch in seiner Wahrnehmungsart auf einen winzigen Bildausschnitt konzentriert, quasi fokussiert. Was Walewein dort zu sehen bekommt, ist tatsächlich die Königin, die mit ihren Damen von der Männerwelt isoliert die Mahlzeit einnimmt. Erneut betont Walewein sein Erstaunen über diese Verhältnisse, die er in ghenen hove [V 1108] und in gheen lant [V.1109] jemals zuvor gesehen habe. Er bittet den König, ihm zu erklären, warum ghi woont aldus versceden« [V.1117] (›ihr auf diese Weise getrennt lebt‹). Die Erklärung des Königs mutet so seltsam an, dass Maartje Draak sie kurzerhand als ›lachhaft‹ bezeichnete.207 207
Draak: Onderzoekingen, 1975 (1. 1936), S. 144.
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»Her Walewein, ghi moocht hier zien Wonder van herde menigher zaken Die ic hebbe hier doen maken. Die coninghinne was noit indien Dat soet noyt wilde comen zien Hoet ghemaect ware ende ghewrocht; Maer altoos es soe in dien bedocht Dat soe wille wonen in die zale.« [V.1120–27] [Herr Walewein, Ihr könnt hier zahlreiche, unterschiedlichste Wunder sehen, die ich hier selbst habe anfertigen lassen. Die Königin hatte nie die Einstellung, dass sie selber kommen wollte, um sich anzusehen wie diese gemacht und gewirkt waren. Stattdessen war sie immer darauf bedacht, dass sie sich in diesem Nebenraum aufhalten wollte.]
Hinter dem ausführlichen Diskurs, den Handlung, Dialoge und Gedankenreden der Wonder-Episode über die befremdliche Geschlechtertrennung entfalten, steht freilich mehr als nur eine ›Harem-artige‹ Absonderung der Frauen nach Modell des Nahen Ostens, wie Draak mutmaßte.208 Besamuscas Interpretation für die Geschlechtertrennung in Wonder rekurriert auf seine Sicht des Schachspiels als Doppelsymbol. Einerseits stehe es für die Liebesqueste, andererseits habe es den Stellenwert des Grals. Aus der Symbolik des Grals etwa in der mittelniederländischen Version des Prosalanzelots, in dessen Bereich sich keine Frauen aufhalten dürften, erkläre sich, so Besamusca, die Geschlechtertrennung an Wonders Hof. Es gilt hier aber zu beachten, dass die Geschlechtertrennung bei Wonder ausdrücklich auf dem Wunsch der Königin beruht und folglich nicht auf strengen Regeln einer religiös inspirierten Ritterschaft.209 (Hinzu kommt, dass der Gral dem mittelniederländischen Publikum auch aus der mittelniederländischen Conte du Graal Adaptation bekannt gewesen sein dürfte, wo freilich – folgt man der französischen Vorlage – gar keine Trennung der Geschlechter im Gralsbereich beschrieben ist. Im Gegenteil, Chrétien berichtet, dass der Gral von einem Mädchen in den Saal getragen wird [V.3220f.].) Bei genauer Betrachtung ist aber die Erklärung des Königs keineswegs so lachhaft wie Draak meinte, sondern sie verweist auf das zugrundeliegende Problem, auf fehlendes Interesse der Geschlechter an einander und am Tun des anderen. Diese Situation ist bei genauerer Betrachtung nicht nur ein Problem der Hofgesellschaft von Wonder, sondern gleiches ließe sich ebenso gut über die Situation am Artushof in Carlioen aussagen. Auch dort erfuhr man ausführlich von der Wirkung des Schachspiels auf die erschrockene Ritterschaft. Doch von irgendeiner Reaktion der Damen an Artus’ Hof konnte schon deshalb keine Rede sein, weil diese Damen offenbar gar nicht anwesend waren.
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S. Anm. 207. Besamusca: Het zwevende schaakspel, 2000, S. 34.
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Andererseits haben die Höfe in Carlioen und Wonder wenigstens gemeinsam, dass immerhin eine Königin existiert, auch wenn sie erst später ins Bild kommt. Auf der nächsten Hauptstation Waleweins, dem Hof des Königs Amoraen in der Burg Ravenstene, ist eine progressive Verschlechterung des höfischen Geschlechterverhältnisses zu beobachten. Hier nämlich fehlt die Figur einer Königin ganz. Das gilt auch für die letzte, äußerste Station der Queste Waleweins, den Hof von Endi. An der Tafel des dort herrschenden Königs Assentijn nehmen lediglich die coninc ende sine baroene [V.7203] zur Mahlzeit platz. Die einzige Frauenfigur am Hofe Assentijns, seine Tochter Ysabele, verlässt die Gesellschaft bevor die Herren sich zur Mahlzeit niederlassen [V.7201]. Die Mahlzeit selbst wird mit nur zwei Versen auffällig kurz und nüchtern beschrieben, entfaltet also nichts von dem höfischen Glanz, den das Publikum etwa bei Amadijs kennen lernte, wo die Beschreibung der Mahlzeit mit 13 Zeilen weit umfänglicher ausfiel [V.2574–86]. Auch bei der Schilderung einer zweiten Mahlzeitszene bei Assentijn in Endi ist erneut keine Rede von Frauen. Diesmal macht der Erzähler zudem ausdrücklich darauf aufmerksam, dass die Stimmung an der Tafel schlecht ist: si aten lettel goet [V.7747] (›ihr Mahl war wenig erfreulich‹). Der König verzichtet nicht nur beim Essen auf die Gesellschaft von Frauen, sondern Assentijn schläft nachts offenbar auch allein in seinem Bett [V.8002–4]. Weitere Signale des Textes deuten auf eine tiefgreifende Störung im Geschlechterverhältnis des Hofes von Endi, worauf gleich zurückzukommen ist. Die beiden fernsten Stationen Waleweins, Ravenstene und Endi, haben soweit gemeinsam, dass an diesen Höfen gar keine Königin vorhanden ist, während die vorausgehenden, Carlioen und Wonder, zwar über die Figur einer Königin verfügten, die jedoch nicht an der Tafel der Herren präsent war. Zunächst ein genauerer Blick auf die Problematik im Ravenstene des Königs Amoraen Dort wird das Fehlen der Königin als das eigentliche Problem der Gesellschaft auf dem Ravenstene herausgestellt. Der König ist in Fernliebe zur Prinzessin Ysabele von Endi entflammt, und dieses Liebesverlangen ist derart extrem, dass Amoraen bekennt: Ic werde onvroet van minen zinne, Here Walewein, ghine haelse mi. [V.3452] (›Ich werde den Verstand verlieren, Herr Walewein, wenn ihr sie mir nicht herbeiholt‹). Besamusca wies bereits darauf hin, dass der Name Amoraen als eine Anspielung auf ›amors‹ verstanden werden kann.210 Dieser liebestolle König droht durch seine Verfallenheit nicht lediglich den Verstand zu verlieren, sondern er befürchtet sogar ic salre omme sterven [V.3418] (›ich werde deswegen sterben‹). Wenn die Existenz Amoraens, wie Besamusca ausführte, mit »amors, de liefde« verbunden ist, so darf man wohl den ebenfalls sprechenden Namen des Königs Amadijs auf die dortigen, vorbildlichen Verhältnisse 210
S. Anm. 209.
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beziehen, von denen schon oberhalb die Rede war. Amadeus, also Gottlieb, wäre dann die Bezeichnung eines Fürsten, der seine Liebe von einer ganz anderen Macht empfängt; es wäre nämlich die Bezeichnung für einen König und damit eine Gesellschaft, in der nicht die irrationale Venusminne, sondern die Gottesliebe das Primat hat. Der Begriff Venusminne meint hier die erotische Liebe. Schon Augustinus kannte die Tradition des Auseinanderlegens des Liebesbegriffs in die drei Komponenten dilectio, amor und caritas, die er freilich noch für austauschbar hielt. Erst die geistliche Literatur nach Augustinus vereindeutigte die Termini und sah in »Amor/ Venus nur die ungezügelte Sexualität des Menschen«, die sie »Liebe als Niederlage der Vernunft« verurteilte. 211 Die Dichotomie von erotischen amor und Gottesliebe scheint im Roman van Walewein in den sprechenden Namen der beiden Herrscherfiguren Amoraen und Amadijs auf.
In einer solchen Gesellschaft wie der des Amadijs konnte man – wie zuvor dargestellt – ein intaktes höfisches Geschlechterverhältnis beobachten. Bei Amoraen dagegen ist die erotische Liebe gleich bei Ankunft Waleweins im Ravenstene unterschwellig als das vorherrschende Moment der dortigen Hofgesellschaft zu spüren. So findet Walwein den König bei seinem Eintreffen onder gone linde tusschen .ij. joncvrouwen [V.3032] (›unter jener Linde zwischen zwei Jungfern‹), was man in diesem Fall einmal nicht als Signal einer intakten Geschlechterbeziehung werten sollte. Zum einen ist die Linde die sprichwörtliche Kulisse des locus amoenus, wie sie sich auch in Walthers von der Vogelweide Lied Under der linden an der heide, dâ unser zweier bette was [Nr. 24] darstellt,212 und welche als Topos der höfischen Liebeslyrik zu gelten hat. Zum anderen wartet der liebeskranke König bereits seit langem auf Waleweins Ankunft, weil nur dieser ihn aus seiner Verfallenheit erlösen und ihm die Prinzessin zuführen könne [V.3048–55]. Seine ehemalige Frau, eine irische Prinzessin (mithin eine Isolde-Figur?) [V.3149], ist vor langer Zeit gestorben. Seither ist der König untröstlich, wie sein unterschwelliger Vorwurf gegen Gott, der ihm die Frau wegnahm [V.3146–48] und sein Hinweis auf sein gegenwärtiges, seelisches Leiden dat mi daert [V.3227] (›was mir Leid verursacht‹) belegen. Dem König wird nun eine Äußerung in den Mund gelegt, die die typische Handlungstendenz der Waleweinfigur auf den Nenner eines ethischen Programms bringt. Dieses ethische Programm stimmt bemerkenswert genau mit der Handlungstendenz der Gauvainfigur in allen zuvor betrachteten Romanen überein und könnte deshalb als Definition der Aufgabengebiete gelten, für die Walewein aus Sicht der Romanfiguren zuständig ist. König Amoraen berich-
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Rüdiger Schnell: Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bibliotheca Germanica. Bern 1985, S. 31f.. Zitiert nach der Ausgabe von Peter Wapnewski: Walther von der Vogelweide. Gedichte. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Frankfurt a.M.1991 (1. 1962).
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tet nämlich davon, Walewein bereits einmal gesehen, und bei dieser Gelegenheit von einem Knappen die Identität des Artusneffen erfahren zu haben. Der Knappe habe ihm Walewein wie folgt beschrieben: »Hi es der aventueren vader! Hi bescudse alle gader Die der hulpen hebben noot; Sine doghet es so groot: Hi vordert weduen ende wesen Ende alle die hi vint in vresen Bescud hi ende hi set daer voren Sijn lijf«... [V.3211–18] [Er ist der Vater der âventiure. Er beschützt all jene, die der Hilfe bedürfen. Seine Tugend ist so groß, dass er sich für Witwen und Weisen einsetzt und alle, die in Furcht leben, unter Einsatz seines Lebens beschützt...]
Dieses altruistische, ja karitative Verhaltensmuster, Witwen, Weisen und alle Notleidenden (insbesondere bedrängten Frauen, wie z.B. in der Episode der Rettung einer Jungfer aus den Händen des brutalen ›Roten Ritters‹ [vgl. V.3679–4103]) Schutz und Beistand zu gewähren, ist schon von Chrétien explizit als Verhaltenstypik der Gauvainfigur beschrieben worden. Im Conte du Graal hatten die Lahmen und Brandigen (also Schutz- und Hilfsbedürftige) einem Boten ihre bittere Niedergeschlagenheit darüber geklagt, dass ...nous celui avons perdu qui toz por Dieu nos sostenoit et dont toz li biens nos venoit par amour et par charité [V.9208–11] (›...wir denjenigen verloren haben, der uns ganz aus Gottesfurcht beschützte und von dem uns alles Gute wiederfuhr aufgrund seiner Nächstenliebe und Caritas‹). Im Conte du Graal waren es vor allem die pucele[s] desconseillie[s] [V.535] (›notleidenden Mädchen‹), die ausdrücklich der Hilfe bedurften. Im vorigen Kapitel konnte man bereits sehen, dass die Gauvainfigur sich dieser Problematik annahm, und zwar nicht nur indem der Artusneffe die Wiedervereinigung der Mütterfiguren (darunter Witwen) des Roche de Canguin mit der Artusgesellschaft plante, sondern auch und vor allem dadurch, dass er der Mutterfigur Ygerne das Rückkehrversprechen gab (vgl. Abschnitt II 5.2.2.2). Die Repatriierung oder das Wiederzusammenführen von entführten oder isolierten Frauenfiguren (Königinnen) mit der Hofgesellschaft fiel der Gauvainfigur sowohl im Conte du Graal als auch in der Charrette als Aufgabe zu und wurde in der Charrette auch erzählerisch eingelöst (vgl. Abschnitt II. 5.1.2.2). Diese Verhaltenstypik wurde im Fazit des vorigen Kapitels als die auffälligste Tendenz des rektifizierenden Handelns der Gauvainfigur in den Romanen Chrétiens gekennzeichnet (vgl. Abschnitt II. 6). Auch in der Crône Heinrichs von dem Türlin ist eine fast identische Beschreibung des ethischen Programms der Gaweinfigur zu finden [Cr 16103–111], wie sie hier im Roman van Walewein gegeben wird. Dort wird sie mit einer ganz konkreten Erwartung verknüpft, die der ›Protagonist‹ Gawein jedoch gar nicht erfüllen 235
darf (vgl. III. 4.2.3.1). Das Auseinanderklaffen von den Erwartungen der literarischen Figuren und den konkreten Handlungsmöglichkeiten Waleweins auf seiner Queste wird auch im Roman van Walewein zum Thema. Die folgenden Überlegungen sollen den Bruch aufdecken, der zwischen ethischem Anspruch und tatsächlichem Handeln der Waleweinfigur auftritt. Dieser Bruch beruht sowohl im Roman van Walewein als auch in der Crône auf dem Wechsel der narrativen Aufstellung der Figur (Disposition/Rolle). Wie nun zu zeigen ist, versuchen die mittelniederländischen Dichter, die Ungereimtheiten und Widersprüche zu verschleiern, die sich aus der veränderten Aufstellung ihrer Figur ergeben. Amoraen leitet aus oben zitiertem Programm ganz konkrete Erwartungen ab. Für ihn ist klar, Walewein müsse der Mann sein, der sich seiner Problematik annehmen und sie lösen könne. Amoraens Problematik besteht darin, keine Frau zu haben. Das vermeintliche paradijs [V.3075] seines Hofes auf dem Ravenstene ist eigentlich ein frustrierter locus amoenus, wo der liebeskranke König Wahnsinn und Tod gewärtigt, weil seine Geliebte in Endi wie eine Gefangene festgehalten wird [vgl. V.3455 ff. und 3480]. Die Aufgabe Waleweins im Roman van Walewein ist daher gut mit den Aufgaben in Chrétiens Charrette oder Conte du Graal zu vergleichen. Es handelt sich um das Auslösen einer in Gefangenschaft (in einem Jenseitsreich) lebenden Frauenfigur, die dem König und seinem Hof zugeführt werden muss, um die Störung im höfischen Geschlechterverhältnis zu rektifizieren, anders gewendet um ein harmonisches Gleichgewicht in der höfischen Mann-Frau-Beziehung herzustellen. Die Lösung der Aufgabe, die Amoraen nur Walewein zutraut, beruht auf zwei Qualifikationen des Artusneffen. Zum einen wird die Feste in Endi, wo Ysabele eingeschlossen ist, als so unüberwindlich beschrieben, dass offenbar nur der hervorragendste und tapferste aller Ritter, also Walewein, über die Fähigkeiten verfügt, diese Tat zu vollbringen. Zum anderen aber muss König Amoraen auf den Altruismus der Waleweinfigur setzen, d. h. auf die Zuverlässigkeit seiner Intention, die Prinzessin tatsächlich bei ihm abzuliefern und nicht etwa selber zu behalten. Im weiteren Romanverlauf ergeben sich deshalb Spannungen zwischen dem zugrundeliegenden Erzählschema (Held gewinnt Braut) und den Erfordernissen des klassischen, arthurischen Erzählens, nach denen die Figur des Hofakteurs Walewein nicht verheiratet werden kann, sondern selbstlos für den Hof verfügbar bleibt. Die Reibung der Erzählkonventionen ist in diesem Fall weitaus subtiler und weniger durchschaubar als jene, die vorher in der Initialkrise konstatiert wurde. Denn es gehört durchaus zu den Konventionen des arthurischen Erzählens, dass ein (willkürlicher) Protagonist auf der Queste seine Braut gewinnt. Insofern würde arthurisches Erzählen (etwa nach dem zuvor erwähnten Schema Haugs) mit dem Märchenschema konvergieren. Doch ausgerechnet an der Waleweinfigur klaffen beide Erzählmuster dennoch auseinander. So lange jedenfalls die Waleweinfigur noch immer wie 236
bei Chrétien primär als Hofakteur gesehen wird, kann es nicht zu einer Verheiratung kommen. Wenn aber die Autoren dazu angesetzt haben sollten, die Figur Waleweins aus dieser engen, hofabhängigen Rolle zu emanzipieren, also einen Weg zu beschreiten, der sich auch bei Wolfram schon abzuzeichnen begann, und damit die Figur in den Stand des selbstständigen Protagonisten zu versetzen, wäre ein Brauterwerb nicht nur möglich, sondern aus Sicht der Publikumserwartung sogar höchst wahrscheinlich. Die Autoren haben sich mit dieser Frage schwer getan. Zunächst soll der Prozess des Brauterwerbs in Endi betrachtet werden, der die zentrale Leistung Waleweins auf seiner Queste darstellt. Verschiedene Forschungsbeiträge machen darauf aufmerksam, dass die Handlungstendenz der Waleweinfigur ab einem bestimmten Zeitpunkt von der Lösung ritterlicher Aufgaben zur Wiederherstellung des ordo in die eines von Liebe entbrannten Brautsuchers umschwenkt. Roel Zemel sieht diesen Zeitpunkt im letzten Drittel des Romans gekommen. Bereits mit der Überquerung des Fegefeuerflusses gehe »een op het oog serieus ridderschap ... over in voorstellingen van ›chevalerie‹ en ›amour‹ die zich afspelen in een sfeer van humor en ironie.«213 Den Moment, wo »Walewein in liefde ontvlamt« markiere Waleweins innerer Monolog im Kerker in Endi.214 Winkelman kommt in einer ausführlichen Diskussion dieser Frage zu dem Schluss, dass die Entwicklung der Liebesthematik im Roman van Walewein retrospektiv »tot Amoraens verrukking over de schoonheid van zijn minnekijn [V.3456]« zurückreiche, 215 indem die amour de loin des Königs Amoraen »op Walewein aanstekelijk schijnt te hebben gewerkt.«216 Es ist festzuhalten, dass der Roman van Walewein, lässt man einmal die Implikationen des von Haug beschriebenen Erzählschemas des Brautgewinns nach verlorener Schachpartie außer Betracht, keineswegs als Liebesroman begann, sondern als Questeroman, der die Problematik des gestörten, höfischen ordo exponierte. Auch die letzte Station der Queste soll ja zunächst durchaus nicht zum Brauterwerb des Helden (also Waleweins) führen, sondern im Gegenteil zur Befreiung einer Frauenfigur quasi als Tauschobjekt für König Amoraen. Denn erst nach Eintreffen seiner fernen Geliebten will dieser das Schwert mit den zwei Ringen definitiv an Walewein abtreten, der es seinerseits in Wonder gegen das schwebende Schachbrett eintauschen möchte, um letzteres wie verlangt am Artushof abliefern zu können. Trotzdem geht die Tendenz des Romans im
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›[...] ein augenscheinlich ernsthaftes Rittertum ... über in Vorstellungen von »chevalerie« und »amour«, die sich in einer humoristischen und ironischen Grundstimmung abspielen.‹ Roel Zemel: ›Walewein en de verre geliefde‹, in: Het is kermis hier. Hrsg von T. van Dijk & R. Zemel. Münster 1994, S. 141–152, S. 142. ›Walewein in Liebe entflammt.‹ S. Anm. 213, S. 144. ›[...] bis zu Amoraens Entzücken über die Schönheit seines »Liebchens«‹. Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 345. ›[...] ansteckend auf Walewein gewirkt zu haben scheint.‹ S. Anm. 215.
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Jenseitsreich von Endi klar in die eines Liebesromans über. Besamusca weist auf die unwiderlegbare Tatsache hin, dass Walewein noch auf dem Heimweg von Endi seiner Braut verspricht, lieber auf den Erfolg seiner Queste zu verzichten als die Prinzessin an König Amoraen abzutreten. »Thus the quest threatens to become a failure, which will cause Walewein to lose his honor.«217 Das bedeutet, die Liebesthematik überschattet zu einem bestimmten Zeitpunkt des Romangeschehens sämtliche anderen, seit Anfang der Erzählung bestehenden thematischen Bezüge. Die Forschung sucht nicht ohne Grund – aber man darf wohl sagen einigermaßen hilflos – nach dem Moment, wo diese Liebe Waleweins für sein Tauschobjekt Ysabele begann. Weil aber diese Liebe Waleweins seine gesamte Queste nur gefährden kann, denn ohne den Eintausch von Ysabele gegen das Schwert ist auch kein Tausch des Schwerts gegen das Schachbrett möglich,218 steht sie als Motiv kompositionell und inhaltlich quer zur Romanhandlung. Wohl aus diesem Grund wird sie später auch wieder vollständig aus ihrer zentralen Stellung als Hauptthematik verdrängt, worauf gleich zurückzukommen ist. Insbesondere im Licht der ursprünglichen Motivation der Waleweinfigur beim Aufbruch zur Queste (Wiederherstellung des höfischen ordo) muss man sie als irrational bezeichnen. Ein Zusammenhang mit dem Tristanstoff liegt auf der Hand, da der Brautwerber selbst zum Liebhaber wird.219 Es deutet sich an, dass die Liebe Waleweins für Ysabele nicht ›mit rechten Dingen‹ zugegangen sein kann, wenn man sie im Kontext der Tristanliebe betrachtet, in den die Signale des Textes sie ja einordnen. Letztere war bekanntlich durch einen magischen Trank ausgelöst worden, den etwa der mittelniederländische Dichter Hendrik van Veldeke in einem Minnelied als poisûn (Gift, Zaubertrank) bezeichnete. Hendrik beschrieb die Tristanliebe wie folgt: Tristran muose sunder sînen danc staete sîn der küneginne, wan in daz poisûn dar zuo twanc mêre danne diu kraft der minne. 220
[Lied IV, Str.1,1–4]
[Tristran musste, ohne es selbst zu wollen, der Königin in Liebe treu sein, weil ihn das Gift mehr als die Kraft seiner Liebe dazu zwang.]
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Besamusca: ›Gauvain as lover in the middle dutch verse romance Walewein‹, in: Arthurian Yearbook, II. Hrsg. von Keith Busby. New York 1992, S. 3–12, S. 9. Vgl. auch Walter Haug: ›The Roman van Walewein as a postclassical literary experiment‹, in: Arturian Literature, XVII. Hrsg von Besamusca, Kooper. Cambrigde 1999, S. 17–28, S. 27. Auch Haug: Walewein as a postclassical literary experiment, 1999, S. 26f., hat auf Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Szenen im Roman van Walewein und dem Tristanroman hingewiesen. Hendrik van Veldeke zitiert nach: H. Moser, H. Tervooren: Des Minnesangs Frühling. Bd. I (Texte). Stuttgart 1988, S. 108.
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Selbst wenn Walewein keinen Zaubertrank getrunken hat, ist sein irrationales, nicht nur die ursprünglichen Ziele seiner Queste, sondern auch das eigene Leben gefährdende Handeln in Endi ähnlich bedenklich, wie das des Brautwerbers Tristan. Das Dilemma der Forschung, einen einigermaßen akzeptablen Fixpunkt im Geschehen zu markieren, der psychologisch glaubwürdig das erwachende, affektive Interesse der Waleweinfigur an der indischen Prinzessin Ysabele markieren könnte – sozusagen den Moment des Zaubertrank-Trinkens –, lässt sich nicht lösen, denn die plötzliche Liebesverfallenheit Waleweins im Kerker von Endi setzt so unerwartet und abrupt ein, dass der moderne, auf Charakterentwicklung orientierte Leser sich hiermit schwer tut. Gegen Winkelmans Interpretation, Walewein könne bereits von der Schwärmerei des Königs Amoraen auf dem Ravenstene angesteckt worden sein, sprechen aber zumindest zwei Gründe. Zum einen hätte der Held, wäre er bereits auf dem Ravenstene von der amour de loin angesteckt worden, König Amoraen wohl kaum noch die Zusage machen können: Ic sal jou halen die joncfrouwe Ende quiten tswaert ende mine trouwe Bi Jhesus Christus van Nazarene Eer ic weder kere te Ravenstene... [V.3629–32] [Ich werde Euch die Jungfrau herbeiholen und gegen das Schwert einlösen und mein Wort getreu einhalten bei Jesus Christus von Nazareth, bevor ich zum Ravenstene zurückkehre...]
Insbesondere die Berufung auf Christus und die Zusicherung des gegebenen Wortes legen doch eher nahe, dass ein personales Interesse der Waleweinfigur an der Prinzessin zu diesem Zeitpunkt noch nicht entstanden ist. Im Gegenteil, die Intention der Vollendung des ursprünglichen Questeziels (Rektifikation der inordinatio durch Verschaffen des Schachspiels) bleibt zu diesem Zeitpunkt Waleweins oberstes Ziel. Die Liebe, die sich später im Kerker in Endi ›urplötzlich‹ der Waleweinfigur bemächtigt, ist offenbar als Phänomen der Tristanliebe zu vergleichen, die Hendrik als ein irrationales, von außen durch einen Zauber herbeigeführtes Unglück beschrieb, die den Protagonisten sunder sînen danc und zwar mêre danne diu kraft der minnen (nämlich der echten, personalen Liebe) dieser indischen Prinzessin verfallen lässt. Das Handeln Waleweins im Jenseitsbereich von Endi entpuppt sich übrigens nicht nur in Bezug auf die Liebesthematik als zunehmend untypisches, mit dem ethischen Programm unvereinbares. Auch als Ritter büßt die Figur die genretypische Qualität eines auf Pazifizierung und maßvoller Gewaltanwendung bedachten Kämpfers ein, die sie seit Wace und insbesondere Chrétien ausgezeichnet hatte (vgl. Abschnitt II. 2). Stattdessen wird Walewein bei seinem Ein-Mann-Feldzug gegen die Burg von Endi zu einem wilden Berserker, der reihenweise Gegner verstümmelt oder erschlägt und insgesamt eine 239
derartige Grausamkeit an den Tag legt, dass seine Gegner mit Entsetzen feststellen: Hets jeghen den duvel dat wi vechten [V.6532] (›Es ist der Teufel, gegen den wir kämpfen‹). Norbert Voorwinden hat die extreme Grausamkeit der Kampfszenen Waleweins insbesondere in Endi mit dem âventiure-Programm etwa in Mittelhochdeutschen Romanen (Erec, Iwein, Parzival oder Diu Crône) verglichen und konstatiert: »fight descriptions in Walewein deviate from it considerably.«221 Dies sei umso erstaunlicher, weil der Roman van Walewein in allen anderen Hinsichten »can actually be considered as to be a giude book for courtly behaviour.«222 Das Attribut ›Teufel‹ gehört wahrlich nicht zu jenen, die die Autoren arthurischer Versromane Gauvain, Gawein oder Walewein typischerweise mitgegeben hätten. Die Diskrepanz zwischen der Qualifikation der Figur in der Episode in Endi und ihrer Typik, die in Abschnitt II. 2 beschrieben wurde, könnte größer kaum sein. Sie relativiert das vermeintlich so positive ›Image‹ der Waleweinfigur, das Besamusca den Autoren des Roman van Walewein in Reaktion auf den Lancelotqueste-Zyklus unterstellte (vgl. die Ausführungen in Abschnitt 4.1.1). Die erschreckende Grausamkeit der Waleweinfigur ist von Voorwinden dokumentiert worden und erstreckt sich keineswegs nur auf den Bereich Endi. Man kann aber feststellen, dass die Kampfhandlung in Endi, »in which six hundred knights will lose their lives«,223 den Gipfel des Walewein’schen Blutrausches darstellt. Voorwinden mutmaßt, dass diese besonders grausame Kampfdarstellung sich der geistlichen Bildung der Autoren verdanke, die sich bei ihrer Beschreibung eher an lateinischer Epik denn an zeitgenössischer höfischer Literatur orientiert hätten.224 Voorwindens These erklärt allerdings nicht, weshalb der Grad der Gewalttätigkeit sukzessive aufgebaut und auf dem Rückweg von Endi wieder zurückgenommen wird. Aber auch wenn Voorwinden hier ins Schwarze getroffen haben sollte, bleibt doch das eigentümliche Faktum bestehen, dass die höfische Typik der Waleweinfigur durch derartige Szenen monströser Gewalttätigkeit und insbesondere durch wiederholte, derartige Attribute wie Teufel [V.6532, 6537, 7094, 8240], Besebucs knape ... uter helle [V.8243f.] (›Beelzebubs Knecht ... aus der Hölle‹) oder Wolf unter Schafen [V.6967] insgesamt erheblich eingetrübt wird. Auch die Autoren des Roman van Walewein mussten sich darüber klar sein, und das Publikum musste sich einen Reim darauf machen. Neuerdings ordenete auch Roel Zemel die extreme Gewalttätigkeit Waleweins in den Kontext epischen Erzählens nach dem Muster der chanson de geste. 221
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Norbert Voorwinden: ›Fight descriptions in the Roman van Walewein and in two middle high german Romances. A comparison‹, in: Arturian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca, Kooper. Cambridge 1999, S. 169–187, S. 172. S. Anm. 221, S. 171. S. Anm. 221, S. 181. S. Anm. 221, S. 186f..
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Sein Beitrag inventarisiert zahlreiche Hinweise, die Ähnlichkeiten zwischen dem Roman van Walewein und heldenepischem Erzählen belegen sollten. So weist Zemel auf Epitheta wie wigant oder den Begriff jeeste hin, den Vostaert am Ende seiner Textpartie für den Roman gebraucht. Man wird freilich skeptisch beurteilen, ob die Formel die ridder coene (›der tapfere Ritter‹) wirklich »in strijd is met het decorum van de Arturroman.«225 Dieses Epitheton tritt nicht nur im Roman van Walewein wiederholt in Kombination mit dem Reim te doene auf, sondern die Reimformel te doene – coene zieht sich offenbar durch das gesamte Genre mittelniederländischer, arthurischer Versromane. Beispiele genau dieser Reimformel finden sich auch im Roman van Perchevael, der eine Bearbeitung der mittelniederländischen Übersetzung des Conte du Graal darstellt, wo etwa die Rede ist von Gingambresil, die ridder coene, hi ware sculdech hem te doene [V.38534 f.]. Weitere Beispiel finden sich in den Versen 37127f., 38091f., 41835f., 41904f. Auch in Lanceloet en het Hert met de Witte Voet [V.22653f., 22845f., 23059f.] oder im Moriaen [V.43715f., 43929f., 44291f., etc] sowie im Ferguut u. a. in V.479f., und in V.222, wo Percheuale als coene degen bezeichnet wird, taucht die Formel regelmäßig auf. Man wird also die Formel ridder coene, bzw. degen coene nicht eindeutig nur dem heldenepischen Kontext zuordnen, sondern von einer Interferenz beim Gebrauch dieses Epithetons ausgehen müssen, das offensichtlich aus reimtechnischen oder anderen Gründen auch in anderen Genres als dem der Heldenepik zur Anwendung kam.
Nichts destoweniger gibt Zemel einen wichtigen Denkanstoß mit seinem Beitrag, denn er mutmaßt, »dat Penninc en Vostaert een literair spel presenteren door een transgressie van regels die gelden voor de Artuurroman.«226 Genau diese These wird hier auch vertreten, wobei die Frage der Rollentransgression, also das Überschreiten der vom Genre definierten Bewegungsgrenzen, den Ansatz für die Erklärung der Auffälligkeiten der Waleweinfigur liefern soll. Es dürfte klar sein, dass man nicht nach einer psychologischen Motivation für die bislang beschriebenen Geschehnisse und Verhaltensänderungen fahnden sollte. Die plötzlich in Endi entflammende, maßlose Liebe Waleweins für die äußerst bedenkliche Figur der Prinzessin Ysabele, »a shadowy female... with sadistic tendencies« charakterisiert u. a. durch »a liking for drowning people«,227 ebenso wie seine uferlose Gewalttätigkeit sind nicht einem progressiven, charakterlichen Veränderungsprozess geschuldet, sondern beziehen sich auf die Notwendigkeiten des Erzählens, welche von den Autoren an dieser Station seiner 225
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›[...] den Anstandsregeln des Artusromans widerspricht.‹ R. Zemel: ›De Roman van Walewein en het Heldenlied‹, in: Maar er is meer. Avontuurlijk lezen in de epiek van de Lage Landen. Studies voor Jozef D. Janssens. Hrsg. von R. Sleiderink, V. Uyttersprot, B. Besamusca. Leuven 2005, S. 27–44, S. 31. S. Anm. 225. Thea Summerfield: ›Reading a Motion Picture: Why Steven Spielberg should read the Roman van Walewein‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca, Kooper. Cambridge 1999, S. 115–129, S. 126f..
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Queste arrangiert und eingelöst werden mussten. Es sind jedoch gar nicht die divergierenden Erzählkonzepte des arthurischen oder des Märchenschemas, die an dieser Stelle des Romans – wohlgemerkt dem äußersten Punkt der Walewein-Queste – in Konflikt geraten, denn eine Brautwerbung könnte – wie zuvor argumentiert – durchaus unter beiden Gesichtspunkten konfliktfrei vom Helden gelöst werden. Dies gilt sogar für die verschärfte Konfliktsituation des Roman van Walewein, wo die Braut eigentlich als Tauschobjekt abgeliefert zu werden hätte. Pieter Vostaert hat hierfür später durchaus eine Lösung parat. Er lässt den König Amoraen sterben, so dass Walewein seine Braut und das Schwert behalten und nach Wonder weiterziehen kann. Man mag diese Lösung erzählerisch unbefriedigend, weil allzu offensichtlich finden, aber man kann sich mit gleichem Recht Besamusca anschließen, der darauf hingewiesen hat, dass das Versterben Amoraens konsequent sei, denn »Amoraens bestaan had geen zin meer vanaf het moment dat de vrouw die hij begeerde, onbereikbaar werd door op Walewein verliefd te worden.«228 Es sei noch einmal daran erinnert, dass der König ja in der Tat wiederholt erklärt hatte, dass seine Liebe ihn in den Wahnsinn treibe und das Leben kosten werde, sollte er die Prinzessin nicht erhalten. So besehen könnte also der Held nicht nur nach den Erfordernissen des Märchenschemas, sondern auch nach denen des von Haug beschriebenen, arthurischen Musters (verlorenes Schachspiel führt zum Brauterwerb) seine Geliebte heimführen. Doch die Rechnung geht trotzdem nicht auf. Das zugrundeliegende Problem ist ein ganz anderes als ein etwaiger Konflikt der Erzählmuster. Winkelman hat mit Recht gegen Besamuscas Sicht eingewandt, dass eine signifikante Äußerung Waleweins die augenscheinlich glänzende Lösung des Brautwerbungsproblems wieder komplett in Frage stellt, denn als Walewein von dem vermeintlich höchst willkommenen Tod Amoraens erfährt, »merkt hij weinig subtiel tegen Ysabele op: Hi soude hebben ghesijn ju amijs / Hadt ghegaen na minen wille [V.9566f.].229 Man könnte glauben, dass der eben noch ›wahnsinnig‹ verliebte Held, der bereit war, für seine Angebetete in den Tod zu gehen, urplötzlich erneut einen dramatischen Sinneswandel vollzogen habe. Raymond Harper vertrat die These, den oben zitierten Versen liege ein Schreibfehler des Kopisten zugrunde. Man habe nicht »minen«, sondern »sinen« zu lesen.230 Der Satz sei dann folgendermaßen zu übersetzen: ›Er hätte Euer Geliebter werden sollen, wenn es so abgelaufen wäre, wie er es geplant hatte.‹ Seine Argumente für diese Vermutung sind weniger als dürftig und von Winkelman unter Berufung auf Van
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›Amoraens Dasein ab dem Moment, ab dem die Frau, die er begehrt, wegen ihre Liebe zu Walewein für ihn unerreichbar wird, keinen Sinn mehr hat.‹ Besamusca: Het zwevende schaakspel 2000, S. 34. ›[...] läßt er Ysabele höchst uncharmant wissen: Er hätte Euer Geliebter werden sollen, wenn es so abgelaufen wäre, wie ich es geplant hatte.‹ Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 349. Raymond Harper: ›Walewein revisited‹, in: Spiegel der Letteren 41 (1999), S. 195–203, S. 201.
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Es, den Editor der heute noch maßgeblichen Ausgabe des Roman van Walewein, bereits zurückgewiesen worden.231 So reiche es als Beweis für die Richtigkeit der Konjektur keineswegs aus, dass der bekannte Übersetzer des Roman van Walewein ins moderne Niederländische, Rien Wols, diese Korrektur bereits »stilzwijgend in zijn alom bejubelde hertaling verwerkt« habe.232 Winkelman weist zurecht darauf hin, dass die wissenschaftliche Interpretation des Textes sich auf diejenige Variante einlassen muss, mit der das mittelniederländische Publikum ausweislich der Handschrift um 1350 tatsächlich fertig werden musste. Ähnlich wie Winkelman argumentierte zuvor auch Volker Mertens.233
Solche Kehrtwendungen um 180 Grad in der Motivation der Figur, die jeweils vollkommen unerwartet auftreten, und vom Publikum ohne weitere Hilfeleistung durch die Erzähler verdaut werden müssen, lassen zumindest eines klar erkennen. An eine auch nur annähernd schlüssige Psychologisierung Waleweins »as a ›real‹ individual«, gar an eine psychologische Entwicklung der Waleweinfigur als »literary character« wird man hier eher nicht denken wollen.234 Es wurden bis hierher bereits einige solcher Phänomene benannt, nämlich zunächst der extreme Blutrausch der sonst so höfischen Waleweinfigur in Endi, dann das plötzliche Auftreten einer bis zur Selbstaufgabe führenden Liebe, dann wieder das abrupte Bekenntnis, die vermeintliche Geliebte als Tauschobjekt bei einem anderen, potentiellen Freier abliefern zu wollen. Zu ergänzen wären hier noch andere solche Vorkommnisse, insbesondere die ebenfalls ruckartig vollzogene Kehrtwende von der Sehnsucht nach dem Schoße der Venus hin zu Abrahams Schoß, also der Umkehr der Waleweinfigur weg von der todbringenden Venusminne hin zur Gottesliebe beim Erscheinen des dankbaren Toten im Kerker von Endi, die Winkelman akribisch dargestellt hat.235 Wenn diesen Motivationssprüngen keine psychologische Entwicklung zugrunde liegt, und wenn auch kein Konflikt der Erzählschemata dafür verantwortlich gemacht werden kann, so liegt es auf der Hand, die Ursache – unter erzähltechnischen Gesichtspunkten – in der narrativen Disposition der Figur selbst zu suchen. Was hier nämlich konfligriert, ist die Aufstellung Waleweins, der einst als der traditionelle Hofprotagonist in gesellschaftskonformer Motivation aufgebrochen war, die Ursache der Störung des Artushofes zu beheben (vgl. Abschnitt III. 4.1.1), dem aber in Endi längstens eine ganz andere Rolle zugewachsen war, nämlich die eines Protagonisten, von dem die Erwartung der Rezipienten ebenso wie die Erfordernisse seiner âventiuren eine personale 231 232 233 234 235
Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 349. ›[...] stillschweigend in seiner allumbewunderten Übertragung verarbeitet hat.‹ Harper: Walewein revisited, 1999, S. 201. Volker Mertens: ›Spannungsstruktur. Ein erzählanalytisches Experiment am Walewein‹, in: ZfdA 127 (1998), S. 149–168, S. 166. Matthias Meyer: ›It’s hard to be me, or Walewein/Gawan as hero‹, in: Arthurian Literature, XVII. Hrsg. von Besamusca, Kooper. Cambridge 1999, S. 63–78, vgl. u. a. S. 76ff. Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, vgl. insbes. S. 354.
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Motivation verlangen. Der genaue Umschlagspunkt von der gesellschaftskonform motivierten Figur des Hofakteurs, der eigene Belange vollkommen denen jener Utopie unterzuordnen hat, für die er zum Einsatz aufgerufen wurde, hin zu einem Protagonisten mit personalen Zielsetzungen lässt sich im Roman van Walewein detailliert aufzeigen, worauf im nächsten Abschnitt zurückzukommen ist. Es ist leicht einzusehen, dass die Interferenz zwischen Protagonistenrolle und Rolle des Hofakteurs die prekäre Ursache für das ambivalente Verhalten der Waleweinfigur gebildet haben muss. Der Protagonist (ebenso wie der Märchenheld) kann seine Geliebte glücklich heimführen. Der Hofakteur, der im gesellschaftlichen Interesse Tauschobjekte abzuliefern hat, und der mittels seiner genrebedingten Unverheiratbarkeit auf ewig dem Hof als aktiver Sachwalter zur Verfügung gehalten werden muss, kann dies freilich nicht, selbst dann nicht, wenn sich der Tausch durch ›rechtzeitiges‹ Versterben eines der Beteiligten erübrigen sollte. Eine Gauvainfigur, die anstelle Lancelots Königin Guenièvre aus Gorre heimführte (vgl. Kap. II. 5.1.2), wäre mit einem Wort Walter Haugs tatsächlich in der Lage »to trump Tristan«,236 denn der Hofakteur verfolgt eben keine personalen Interessen. Aber die Waleweinfigur im Roman van Walewein ist mit dem Verschwinden eines ›eigentlichen Protagonisten‹ als Gegenspieler aus diesem postklassischen Romanen selbst sukzessive in die Rolle des Protagonisten eingerückt. Das erforderte nicht nur das Märchen- sondern auch das arthurische Schema, denn auch der postklassische Roman ist trotz aller Neuerungen ein Aventiureroman geblieben. Und die âventiure ist das Bewährungsfeld einer Figur, die Leib und Leben riskieren, den Gang durch den Tod und die Erfahrung des Irrationalen auf sich nehmen muss, mit anderen Worten die Figur eines Protagonisten, der unbedingt ein personales Interesse am Gelingen dieses Unternehmens entwickeln muss, sei es auch nur eines, welches auf bloße Selbsterhaltung gerichtet wäre. De facto konkretisiert sich dieses Interesse dann in dem unbeirrbaren Wunsch der Protagonistenfiguren, das Irrationale als notwendige Erfahrung des unhöfischen ›Anderen‹ selber zu erleben und durchzustehen, nämlich in der wiederholt bekundeten, äußersten Entschlossenheit des Ritters, keine noch so extremen Widerstände zu scheuen, keine noch so gefährlichen Abenteuer zu vermeiden, um sich in dieser Erfahrung zu bewähren. Diese Ambiguität der Gawanfigur während ihrer Queste war bereits bei Wolfram erstmals offen ans Licht getreten, wo Gawan im Endgeschehen des Romans, insbesondere unter dem Einfluss der Minneherrin Orgeluse, Handlungstendenzen erkennen ließ, die nicht mehr vollständig mit den Interessen des Hofes kongruierten (vgl. insbesondere Abschnitt III. 3.2.2).
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Haug: Walewein as a postclassical literary experiment, 1999, S. 28. Haug meinte allerdings genau den umgekehrten Tatbestand, dass derjenige Tristan übertrumpfe, der die geworbene Braut nicht wie Tristan an den Adressaten abgeben würde.
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Der Entwicklungsprozess von der Funktion der klassischen Gauvainfigur zu der des postklassischen Waleweins lässt sich an folgendem Vergleich veranschaulichen. Da die âventiuren Gauvains etwa in der Charrette auf die âventiuren des Protagonisten reagierten, quasi im Schatten des letzteren standen, konnte die Gauvainfigur quasi aus der kühlen Distanz der raison all das irrationale Treiben des Protagonisten betrachten (man denke an den Sprung Lancelots in die Charrette, den Gauvain verweigerte), konnte mit mesure und sens einen anderen Weg einschlagen und Fehler vermeiden, gegen die der Protagonist im Liebeseifer nicht gefeit war. Aus dieser Distanz der Vernunft gelangen Gauvain in den Romanen Chrétiens wiederholt jene Leistungen, die dem Protagonisten verwehrt blieben, weil sie mit dessen personaler Motivation nicht vereinbar waren. Dies galt sogar noch für Chrétiens Conte du Graal (vgl. Kap. II. 5.2.2), obschon Gauvain in diesem Roman bereits eine derart umfangreiche und eigengewichtige Handlung zugemessen wurde, dass die Nachfolger Chrétiens hierin den Ansatz zur Emanzipation des Hofakteurs erkennen mussten. In der postklassischen Literatur nun ist die Position des Protagonisten vakant geworden. Die Waleweinfigur, aufgebrochen als Hofakteur, gerät folglich selber – ohne die Vermittlung über einen vorauseilenden Helden als Antagonist – direkt in den Brennpunkt der Kraftfelder von Gewalt, Irrationalität und Tod. In diesem Spannungsverhältnis ist keine vermittelte Reaktion mehr denkbar, sondern nur noch eine direkte, die auch das Publikum der höfischen Romane von einem Aventiureritter erwartet haben dürfte, nämlich die der Identifikation mit der Queste, d. h. die eines personalen Interesses des Protagonisten, als welchen die Romanhandlung Walewein unweigerlich in ihrem Verlauf konstruieren musste. Auf dem Rückweg zum Artushof allerdings, und auch das kann nun kaum mehr überraschen, waren die Autoren gezwungen, diese ›Beförderung‹ der Figur in den Stand des Protagonisten wieder zurückzunehmen, denn am Artushof ist die Waleweinfigur durch ihre genretypischen Bewegungsgrenzen als Hofakteur definiert. Diese ›Rücknahme‹ vollzieht sich, wie die Besprechung Winkelmans detailliert erkennen lässt, in Bezug auf beide antisozialen Tendenzen Waleweins während der Queste, also in der Rücknahme sowohl der prekären Venusminne als auch der brutalen Gewalttätigkeit der Figur. Der Prozess der Rücknahme der Venusminne zu Ysabele beginnt bereits vor seinem uncharmanten Bekenntnis, dass er beabsichtigte, die Braut als Tauschobjekt bei Amoraen abzuliefern. Im Kerker des Herzogs, dessen Sohn Walewein erschlug, ist für Walewein »het idee van de liefdesdood dat hem onderaards in Endi nog zo aansprak, nu na de verlossing uit het liefdesgevang, niet aanlokkelijk meer.«237 Nach dem ›uncharmanten‹ Bekenntnis an der Station 237
›[...] der Gedanke des Liebestodes, der ihn in der Unterwelt von Endi noch so begeisterte, nun nach der Befreiung aus dem Liebesgefängnis nicht mehr so verlockend.‹ Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 350.
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Ravenstene, einem weiteren Indiz des Dissoziationsprozesses, folgt die Szene, in welcher der Held seinen Kopf nicht zum Schlafen in den Schoß der Geliebten betten mag [V.9668ff.]. Diese Tendenz konkretisiert sich auf den weiteren Stationen der Heimreise, etwa im Schloss des Knappen, dem Walewein einst sein Pferd lieh, wo der Held und die indische Prinzessin nachts »van elkaar gescheiden in twee prachtige bedden« schlafen.238 Der Erzähler legt nahe, dass sich das Paar hier statt erotischer Genüsse dem nach den Strapazen der Reise verdienten Schlaf hingegeben habe [V.10288–10302]. Der Trend des Getrennt-Schlafens setzt sich auch in Wonder fort, und der Prozess der »geleidelijke her-transformatie van de minnaar Walewein in de Artuurridder« gipfelt schließlich in der schon zitierten Einlassung des Erzählers bei Ankunft am Artushof, dass er es für ziemlich unglaubwürdig halte, dass Walewein Ysabele geheiratet habe.239 Auch in Bezug auf die Gewalttätigkeit nimmt der Erzähler im Endgeschehen das heldenepisch anmutende Haudegentum des Helden zurück und betont wieder die pazifistisch-höfische Tendenz des Hofakteurs. Im Estorkampf nämlich weigert sich Walewein, dem Verlangen Ysabeles gehorsam zu folgen und seinen Gegner zu enthaupten [V.9986]. Einige Stationen zuvor hatte Walewein beim Sohn des Herzogs noch nicht diesen höfischen Gewaltverzicht geübt. Bezeichnenderweise verzichtet Walewein aber im Kampf gegen Estor auch auf den Gebrauch des magischen Schwertes mit den zwei Ringen, welches in Endi aufgrund seiner verheerenden Wirkung als Teufel bezeichnet wurde [V.7532]. Die Begründung für diesen erstaunlichen Verzicht des Helden, der immerhin in äußerster Lebensgefahr schwebt, lautet: dat hi bi ghenen dinghen soude trecken tswaert met .ij. ringhen up kerstinen man, dur ghene noot [V.9891–4] (›dass er unter keinen Umständen das Schwert mit den zwei Ringen gegen einen Christen erheben würde in gleich welcher Notlage‹). Diese prinzipielle Fairness gegenüber dem rasenden Gegner habe sich Walewein – so erfährt man plötzlich – bi manwaerhede ende bi ridderscape mede ghesworen [V 9889f.] (›bei seiner Ehre und bei seiner Ritterschaft geschworen‹). Freilich hatte ihn dieses ethische Gelöbnis zuvor nicht von der Anwendung des Schwertes gegen andere christliche Gegner auf seiner Queste abgehalten. Erst jetzt, im Prozess der Annährung an die Artuswelt, beginnen die ethisch höfischen Aspekte der Figur sich in den Vordergrund zu schieben und die zuvor monströse Gewalttätigkeit sukzessive zu verdrängen.
So erklärt sich, was auf den ersten Blick wie ein psychologischer Wechsel in der Motivation Waleweins erscheinen mag, als Erfordernis der narrativen Aufstellung der Figur. Es gilt aber zu beachten, dass der Wechsel der Waleweinhandlung auf der Queste von der eines Hofakteurs zur Protagonistenhandlung niemals bis zur letzten Konsequenz vollzogen wird, sondern dass selbst an der äußersten Station, sozusagen im Brennpunkt des âventiure-Geschehens, noch immer auch Aspekte der gesellschaftskonformen Funktionalität der Figur aufscheinen. Das Bild bleibt also während der gesamten Queste ein gemischtes. Dies zeigt sich u. a. darin, dass die von der Hofgesellschaft verlangte Verschaffung des Schachbretts und selbstverständlich auch die damit verbundene Rek238 239
›[...] von einander getrennt in zwei prachtvollen Betten.‹ S. Anm. 237, S. 352. ›[...] sukzessiven Rücktransformation des Liebhabers Walewein in den Artusritter.‹ S. Anm. 237, S. 354.
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tifikationsleistung der ursprünglichen Störung schlussendlich doch das Ziel der Waleweinfigur bleibt, dass also nicht nur die typisch personalen Belange einer Protagonistenfigur, sondern auch die Belange der Gesellschaft als Aufgabe eines Hofakteurs narrativ bis zu ihrer Auflösung hin weitergesponnen werden. Auch wenn mitunter moniert wurde, dass die Schachspielsymbolik in der Partie Pieter Vostaerts weitgehend ausgeblendet sei, hat Mertens doch zurecht betont, dass die »großbögige Spannung (Auffinden und Bringen des Schachbretts) ... präsent gehalten« und »als »Rätselspannung gewahrt« werde.240 Es wird nun zunächst dieser Erzählzusammenhang besprochen, der zur Klärung der eingangs diskutierten Symbolik des Erscheinens des schwebenden Schachbretts beiträgt und die Lösung der Störung des höfischen Geschlechterverhältnisses beinhaltet, womit auch die Hauptlinie der Questehandlung Waleweins aufgezeigt wird. Anschließend ist in einem gesonderten Abschnitt auf die schon erwähnte Frage zurückzukommen, ab welchem Zeitpunkt die Rolle der Waleweinfigur erstmals von der des Hofakteurs in die eines Protagonisten umschlägt. Während die Liebeshandlung, die Winkelman eingehend analysiert hat, im Roman van Walewein schlussendlich keine Erfüllung finden kann und mit der Rücktransformation der Waleweinfigur in die Rolle des Hofakteurs notwendigerweise auch ihren Stellenwert verlieren muss, haben die Autoren Penninc und Pieter Vostaert eine andere Thematik konsequent aufgebaut und bis zum Endgeschehen durchgeführt. Gemeint ist die Störung des höfischen Geschlechterverhältnisses, die in der Trennung von Herren und Damen (insbesondere dem Fehlen der Königin an der Tafel der Herren) zum Ausdruck kam, und die in Wonder mit Desinteresse der Geschlechter aneinander motiviert wurde. Während für den modernen Interpreten die Liebeshandlung insbesondere in Endi mit ihren Aufmerksamkeit heischenden Aspekten des Liebestodes und der erotischen Genüsse alles andere zunächst überschatten mag, so ist es doch gerade der Kerker in Endi, vermeintlich ein Schauplatz der delikatesten Intimität zwischen Held und Minnedame, wo sich das Thema des Geschlechterverhältnisses vom Anfang des Romans wieder in den Vordergrund schiebt. Wie das? Auf dem Höhepunkt der Liebeshandlung, als die Minneherrin Ysabele ihren Ritter ins Separée mitgenommen hat, wo sich beide der hemelijchede [V.7987] (›intimen Zärtlichkeit‹) hingeben können, wo sie spel ende soete jolijt [V.7989] (›Liebesspiel und süße Freude‹ ), Küsse [V.7998] und Umarmungen [V.7999] genießen, wechselt der Erzähler überraschend das Register. In der Schlüsselszene der Episode von Endi, übrigens zugleich einer Schlüsselloch-Szene, kehrt sich die erotische Spannung in höfische Entspannung um, wird aus dem Diskurs über den Minnesklaven und seine Venusgöttin ein sozialer Diskurs über das vorbildlich höfische Beisammensein von Mann und Frau. Es ist zu beachten, dass es sich hier um eine Schlüsselloch-Szene handelt, die mit jener zuvor 240
Mertens: Spannungsstruktur, 1998, S. 156.
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besprochenen Szene am Hof König Wonders korrespondiert, wo schon einmal die Anschauung durch eine Öffnung in der Wand vom Erzähler dazu instrumentalisiert worden war, die Aufmerksamkeit des Publikums gezielt auf dieses Problem zu lenken. Ein Blick auf die Hintergründe dieser Schlüsselloch-Szene in Endi verrät die inhaltlichen Bezüge. Dort hatte Assentijn seiner Tochter Ysabele auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin den gefangenen Walewein zur Verfügung gestellt, damit sie ihn unbeaufsichtigt im Kerker der Festung foltern könne [V.7395–7415]. Dieses seltsame Verlangen seiner Tochter ist für den König offenbar völlig unproblematisch. Während in Endi ein nach höfischer Ethik vertretbarer Kontakt zwischen Frauen und Männern kaum möglich scheint, da an der Tafel des Königs nur Herren Platz nehmen, und da die Prinzessin gefangen gehalten und ihr jeglicher Umgang mit potentiellen Werbern verweigert wird, wird der Prinzessin andererseits dieser ›intime‹ Kontakt (wohlgemerkt ohne Aufsicht oder huote) zum Zweck der Folter eines Mannes ohne weiteres gewährt. Anstelle einer höfischen Gesellschaft, in der die Frau wie am Hof von Amadijs als die Stifterin von Freude auftritt, kennzeichnet sich Endi als eine pervertierte Gesellschaft, in der die Frau entweder gar nicht oder allenfalls als grausame Gewalttäterin mit Männern verkehrt. Ysabele hatte den Gefangenen jedoch gar nicht foltern wollen, sondern ihn stattdessen in ein prachtvoll ausgestattetes Gemach neben dem Kerker geführt, wo der affektive Kontakt zwischen Ritter und Dame zustande kommen konnte. In diesem Gemach, berichtet der Erzähler, werden die beiden freilich von einem Spitzel durch ein Loch in der Wand [V.7992f.] beobachtet. Der Spitzel verständigt sofort den schlafenden König, der daraufhin sofort herbeieilt, um die beiden Liebenden selbst durch das Loch in der Wand in Augenschein zu nehmen. An dieser Stelle inszeniert der Autor – es ist inzwischen Pieter Vostaert, der die Intention seines Vorgängers genau verstanden haben muss – erneut eine Situation, in der nicht nur die Wahrnehmung der handelnden Figuren, sondern auch die des Publikums durch die Schlüsselloch-Perspektive gesteuert wird: Die rudder (d. h. der Spitzel) leetde den coninc mettien bet vort, daer hi mochte dorsien die masiere ende hevet te hand versien ... [V.8037–40] (›Der Ritter führte den König augenblicklich dorthin, wo er durch das Mauerloch hindurchschauen konnte, und er sah dort sofort...‹). Das Publikum, welches bis zu diesem Zeitpunkt bereits von Küssen und Umarmungen, von süßem Liebesspiel erfahren hatte, dürfte bei der Perspektive, die sich nun dem König (und damit den Rezipienten selber) auftut, besonders aufmerksam gewesen sein. Einerseits wird ja durch das Arrangement dieser Szene die Blickrichtung ganz auf das Geschehen zwischen den beiden Liebenden konzentriert (Fokussierung durch Schlüsselloch-Perspektive). Andererseits wird ein pikantes Spiel zwischen Heimlichkeit und ›Ertappt-Werden‹ inszeniert, an welchem das Publikum selber in der Rolle des Voyeurs beteiligt ist. Es wird aber drittens auch die Erwartung geweckt, dass sich das intime Spiel der Lie248
benden, das bislang durch eher unschuldige Umarmungen und Küsse bestimmt war, inzwischen zu noch intimeren, pikanteren Details weiterentwickelt haben könnte, die sich – Gipfel der Peinlichkeit – ausgerechnet vor den Augen des Königs enthüllen könnten. Mit anderen Worten, die Erwartung eines Klimax der Liebesfreuden wahrgenommen durch den Fokus des Mauerlochs und kombiniert mit dem raffinierten Stimulus des voyeuristischen Ertappens machen diese Szene zu einem erzählerischen Glanzstück der Rezeptionssteuerung. Was aber bekommt der König nun zu sehen? Pieter Vostaert überrascht seine gespannten Hörer mit einer brillant kalkulierten Antiklimax. Von Anzüglichkeiten, intimen Details, gar von Erotik ist gar keine Rede mehr. Stattdessen sieht ›man‹ durch das Loch auf der anderen Seite: ... sitten allene twee ter scoenre tafel ende nemmee [V.8043f.]. David F. Johnson übersetzt diese Stelle mit den Worten: ›(he saw) the two of them stitting alone at a splendid table.‹ Er interpretiert also den Zusatz ›ende nemmee‹ als ›niemand anderen‹ (d. h. niemand anderen als diese zwei Figuren, Walewein und Ysabele). Diese Lesung ist nicht falsch, aber grammatisch gesehen ist auch eine ganz andere Interpretation denkbar. Denn Assentijn sah sie zwar alleine an einem wunderschönen Tisch zusammen sitzen, aber nemmee. Mehr nämlich als dieses ›Am-Tisch-Sitzen‹, sah er nicht. Sonst gab es da nichts Pikantes zu sehen. Man könnte die Bemerkung des Erzählers also auch als ironischen Kommentar auf die Antiklimax verstehen, die sich vor den Blicken des aufgebrachten Königs und des gespannten Publikums auftut. Die Schlüsselloch-Perspektive erfüllt gar nicht die gesteigerten Erwartungen, die die sorgfältige Inszenierung geweckt hatte. Stattdessen erfährt man nun detailliert, was sich wirklich in diesem Separée zwischen Ritter und Dame abspielt: In harde menegerande wise Hadsi plaintheit van goeder spise Ende van wine drierande of viere, Elken oec na sine maniere. Vore die goedertiere so sneet Walewein die morssele ghereet. [V.8045–50] [Sehr viele, gute Speisen und drei oder vier Sorten von gutem Wein von ganz unterschiedlicher Herkunft standen ihnen dort zur Verfügung. Für die treffliche junge Dame schnitt Walewein die Speisen klein.]
Was das Publikum hier zu sehen bekommt, ist die Gemeinschaft von Mann und Frau an der festlichen Tafel, und zwar in genau der höfischen Form, die durch ihr Fehlen seit Anfang des Roman van Walewein als Defizienz der Stationen von Carlioen bis Endi bestanden hatte. Die ausgesucht ›höfische‹ Qualität dieses gemeinsamen Mahls im Kerker von Endi zeigt sich nicht nur durch »eine ... Darstellungstendenz, die sich als konsequente Auswahl edler, teurer, köstlicher und seltner Nahrungsmittel sowie luxuriöser, wertvoller und schöner 249
Objekte beschreiben lässt«,241 sondern auch durch das vorbildliche Verhalten des Ritters, der seiner Dame die Speisen vorschneidet. Ausgerechnet in Endi, und zwar im Nebenraum des Kerkers, ist erstmals möglich, was am Artushof so auffällig unterdrückt wurde: die Gemeinschaft von Mann und Frau an der festlichen Tafel. Insbesondere die Parallele zur ›Schlüsselloch-Szene‹ in Wonder, wo Walewein entgeistert die Königin und die Frauen ganz allein, in einem Nebenraum von der Männerwelt isoliert hatte essen sehen, verleiht der Mahlzeitszene in Endi natürlich ihre besondere Signifikanz. Das Publikum blickt an dieser Stelle zum zweiten Mal durch eine Öffnung in einen Nebenraum. Seine Aufmerksamkeit ist durch die Rezeptionssteuerung auf das Höchste gesteigert. Was ihm hier gezeigt wird, ist die Antwort auf die vorrausgegangenen Signale und Deutungsangebote des Textes. Als solches Deutungsangebot kann gelten, dass die Queste nach dem Schachbrett den Ritter zuletzt in einen Bereich führt, wo ›etwas‹ zu sehen ist, was an den vorausgegangen Stationen expressis verbis nicht zu sehen war. Der kalkulierte Antiklimax des Erzählers entpuppt sich als strukturelle Ironie. Statt erwarteter Liebesexzesse wird ausgerechnet im Kernbereich des Irrationalen, dem Kerker von Endi, visuell vorgeführt, dass Ritter und Dame in freudenvoller Gemeinschaft an der Tafel Platz nehmen. So hätte es in Carlioen oder Wonder auch sein müssen. Die Wahrscheinlichkeit dieser Lesung wird auch dadurch nicht geschmälert, dass man anschließend doch noch erfährt, dass Walewein und seine Geliebte während der Mahlzeit Zärtlichkeiten tauschten. Diese nachgereichte Information kann keineswegs das ›Hauptaugenmerk‹ des voyeuristischen Publikums beanspruchen. Dafür hat der Erzähler durch die Rezeptionslenkung, die Inszenierung der konkreten Situation, und die strukturelle Parallele zur GucklochSzene in Wonder gesorgt. Dieses Deutungsangebot für die Schachbrett-Queste wird dann auch im Endgeschehen des Romans vom Fortsetzer eingelöst, ein Umstand, der meines Wissens in der Forschung wenig beachtet wurde, der aber erkennen lässt, dass Vostaert so etwas wie einen die gesamte Erzählung umschließenden Deutungszusammenhang ausgearbeitet hat, den er offensichtlich aus Pennincs Textpartie aufgreifen konnte. Die Einlösung der Schachspielsymbolik, die Penninc vorgab, und die Vostaert im Kerker von Endi auf ihre strukturell-ironische Spitze trieb, lässt sich nämlich auch an der Wirkung zeigen, die das Schachbrett zum Zeitpunkt der Rückkehr des Helden am Artushof in Carlioen entfaltet. Der Unterschied zwischen der initialen Hofsituation und der Situation des Hofes im Endgeschehen erweist sich als signifikant. Gleich bei Waleweins Ankunft
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Elke Brüggen: ›Von der Kunst, miteinander zu speisen. Kultur und Konflikt im Spiegel mittelalterlicher Vorstellungen vom Verhalten bei Tisch‹, in: Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von K. Gärtner u. a. Bristoler Colloquium 1993. Tübingen 1996, S. 235–249, S. 241.
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vor dem Palas in Carlioen verlassen Artus und seine Männer den Saal, um dem Helden entgegenzueilen, was keine große Überraschung darstellt. Auffällig ist dagegen, dass nun ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht wird, vrouwen, joncfrouwen an dander side trocken hem uut te stride [V.11071 f.] (›Damen und Jungfern kam auf der anderen Seite heraus und wetteiferten darum, ihn als erste zu begrüßen‹). Die Begeisterung der Frauen über Waleweins Heimkehr und insbesondere ihr Erscheinen, ihre körperliche Präsenz in dieser sich anbahnenden Hofszene ist das erste Signal, dass sich in der arthurischen Gesellschaft eine Veränderung ergeben hat. Es ist jetzt plötzlich von Frauen die Rede. Ihre Aufmerksamkeit, ihre Emotionalität und ihre Präsenz sind Bestandteil des Hofgeschehens, sei es freilich zunächst noch an dander side – auf der anderen Seite. Diese Empfangsszene ist auch deshalb bemerkenswert, weil es den Konventionen der höfischen Literatur eher entspricht, Frauen als Zuschauer in Fensteröffnungen oder auf Zinnen erscheinen zu lassen. »Frauen stehen in den Fenstern und schauen – überall. Sie begleiten den Helden beim Abschied mit den Augen, und sie sehen die aus dem Kampf Heimkehrenden von weitem […] sie beobachten die Szene – aus der Distanz und unbeobachtet. Die Frau, die erhöht ist, die herabschaut, sie findet sich wieder in den Miniaturen der Handschriften […] Kein spontanes Hervorkommen […].«242 Auch im Roman van Walewein haben sich Frauenfiguren in der Regel so verhalten. Selbst die vorbildliche Gemahlin des Königs Amadijs, oberhalb schon mehrfach erwähnt, weil sie von den Autoren wie ein Modell für die höfische Frau vorgeführt wird, hatte Walewein nicht außerhalb, sondern erst innerhalb des Palas in Empfang genommen. Das Herauseilen, vielleicht ›Ausbrechen‹ der Frauen in der Heimkehrszene Waleweins bekommt in diesem Licht fast die Qualität einer Befreiung. Bei der anschließenden Präsentation des Schachspiels im Palas von Carlioen fällt dann der entscheidende Satz: Walewein, die edel ridder vercoren, Prosenteerde, dat weet ik wel Sinen oem dat scaecspel Bede voor heren ende vor vrouwen Dat sijt alle mochten scouwen. [V.11136–40] [Walewein, der auserwählte Ritter, präsentierte – dies weiß ich ganz genau – seinem Onkel das Schachspiel, und zwar vor beiden Geschlechtern, sowohl vor den Herren als auch vor den Damen, damit sie es sich alle gemeinsam anschauen konnten.]
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Petra Giloy Hirtz: ›Frauen unter sich. Weibliche Beziehungsmuster im höfischen Roman‹, in: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur.‹ Düsseldorf 1994, S. 61–87, vgl. S. 68f.
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Abb. aus Wirnt von Gravenberg Wigalois Leiden, Universitätsbibliotheek, ms. Ltk. 537, fol I verso
252
Der Erzähler macht noch einen bemerkenswerten Zusatz. Durch die Anwesenheit des Schachspiels sei der Hof verchiert mere [...] danne vanden besten .x. gemene die behorden ter tafelronden [V.11147–49] (›mehr aufgewertet worden als durch die Anwesenheit der zehn besten Ritter, die zur Tafelrunde gehörten‹). Das Schachspiel bringt an diesem Hof etwas zustande, was die bloße Gesellschaft selbst von zehn der besten Herren überstrahlt. Erstmals bildet sich in der Schlussszene des Roman van Walewein eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, die – anders als die antisoziale Situation des weiblichen Desinteresses in Wonder – auf einem gemeinschaftlichen Interesse beider Geschlechter beruht, die in ihren neugierigen Blicken auf das magische Schachspiel zusammenfinden. Die Gemeinsamkeit von Damen und Herren, die das Schachspiel durch sein Wunder bewirkt, gereicht dem Hof zu größerer Ehre als eine soziale Isolation der Männer, selbst wenn es sich bei den Isolierten um die zehn besten Ritter der Tafelrunde handelte. Die Rektifikationsleistung Waleweins in seiner Funktion als Hofakteur realisiert damit zuletzt genrekonform die Harmonie des höfischen Geschlechterverhältnisses. III.4.1.2.1 Zur Ambiguität der Waleweinfigur: der Umschlag von der Funktion als Hofakteur zur Rolle des Protagonisten Die bisherigen Betrachtungen haben deutlich gemacht, dass die Autoren des Roman van Walewein bei ihrer Arbeit mit dem Dilemma konfrontiert waren, die Waleweinfigur einerseits getreu dem klassischen Genre als Hofakteur mit gesellschaftskonformer Motivation aufzustellen, andererseits aber während der âventiure-Handlung die Funktion der Figur dem Interaktionsmuster eines Protagonisten mit personaler Motivation anpassen zu müssen. Diese Ambiguität der zwei Rollen Waleweins blieb während des gesamten Verlaufs der Handlung ein erzähltechnisches Problem, welches sich in den diversen, oft widersprüchlichen Signalen des Textes niederschlug. Zum Zeitpunkt der Initialkrise bei Anfang des Romans jedoch war die Waleweinfigur noch in vollständiger Übereinstimmung mit dem Muster der Romane Chrétiens als Hofakteur definiert, dessen bekundete Absicht es war, im Dienst des Hofes – insbesondere für die Belange der Figur des Königs – eine Queste zu unternehmen, die die Defizienz der Hofgesellschaft beseitigen und die arthurische Harmonie wiederherstellen sollte. In der Besprechung des Interaktionsmusters der Figur während der Initialkrise war vor allem einer Äußerung Waleweins besondere Bedeutung beigemessen wurde. Als nämlich König Artus den arthurischen ordo auf den Kopf zu stellen drohte, indem er bekundete, selbst sein Leben auf einer Queste riskieren zu wollen, trat ihm Walewein mit der Absichtserklärung entgegen, dass stattdessen er selber sein Leben riskieren wolle, wobei er für seine Queste die Hilfe des Gottes erhoffte, die u gheboot [V.133] (›der Euch erschuf‹). Diese Berufung auf den Schöpfergott des Königs anstelle einer Berufung auf den eigenen Schöpfer wurde zuvor als Signal gewertet, dass die Waleweinfigur im Interesse 253
des von diesem höfischen Gott gewollten ordo auf Queste reiten und sein Leben anstelle einer Königsfigur wagen wollte, in welcher der höfische Gott der arthurischen Gesellschaftsutopie ihre zentrale Gestalt, ihre ›Verkörperung‹ gegeben hatte (vgl. Abschnitt III. 4.1.1). Während also die Waleweinfigur zu Anfang des Romans noch genrekonform als Hofakteur aufgestellt war, der ›selbstlos‹ Belange der Gesellschaft vertrat, für die er sich zu opfern bereit erklärte, so ist nun zu fragen, wo die Autoren den Umschlagpunkt angesetzt haben, ab welchem die Questeaufgaben erstmals als personales Anliegen der Figur konstruiert werden. Der Text enthält zwei deutliche Signale, die in dieser Frage Aufschluss geben können. Den ersten Hinweis erhält das Publikum in der Szene des Berichterstattens Waleweins in Wonder, wo der Ritter dem König auf dessen Fragen noch einmal die gesamte Situation der Initialkrise nacherzählt, um zu erklären, weshalb er sich eigentlich auf die Queste nach dem Schachbrett begeben hat. Dieser mündliche Bericht ist erzähltechnisch auffällig aus dem übrigen Geschehen herausgehoben, da es sich über weite Strecken um eine fast buchstabengetreue Wiederholung der entsprechenden Verse in der Eröffnungsszene des Romans handelt. Freilich ganz identisch ist der Wortlaut von Waleweins Bericht mit den Versen in der Initialkrise eben nicht. Bestimmte Elemente werden in diesem Bericht ausgelassen bzw. unterschlagen. Weil Penninc von einer lediglich inhaltlichen Paraphrase der Vorgänge in Carlioen abgesehen und stattdessen eine fast identische Wiederholung vorheriger Formulierungen gewählt hat, liegt es nahe, dass den wenigen Unterschieden besondere Bedeutung zukommt, zumal der Abstand zwischen Original und Wiederholung mit kaum tausend Versen sehr gering ist, was dem Erinnerungsvermögen des Publikums entgegenkommt. Der erste, vielleicht auffälligste Unterschied von Waleweins Bericht zum tatsächlichen Verlauf der Ereignisse in Carlioen ist der, dass er die Androhung der inordinatio durch König Artus verschweigt. Walewein berichtet in Wonder durchaus wahrheitsgetreu von den ersten zwei Ermahnungen des Artus an seine Ritterschaft, dem Angebot von Land und Krone sowie der Androhung ewigen Ehrverlusts für die Tafelrunde. Aber die dritte, äußerste Drohung von Artus, als jouwer alre knecht selbst die Queste unternehmen zu wollen, verschweigt Walewein. Da ausgerechnet diese Drohung während der Initialkrise ursächlich die verspätete Intervention Waleweins provoziert hatte – sie war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte –, dürfte ihr Verschweigen in Wonder dem zeitgenössischen Publikum des Roman van Walewein kaum entgangen sein. So aber wie Walewein die Umstände in seinem Bericht darstellt, muss bei seinen (fiktiven) Zuhörern am Hof von Wonder der falsche Eindruck entstehen, der Hauptgrund für seine Bereitschaft, die Queste anzutreten, sei die Scham darüber gewesen, dass die Artusritterschaft durch ihre Zaghaftigkeit mit ewigem Ehrverlust konfrontiert war. Die aberwitzige Provokation von Artus ist offenbar derart peinlich, dass Walewein sie seinen (fiktiven) Zuhörern nicht 254
eingestehen mag. Seine ›realen‹ Zuhörer, das zeitgenössische Publikum, war selbstverständlich besser unterrichtet, weil selber Zeuge der Vorgänge in Carlioen. Artus‹ ordo-Verstoß wird also in Wonder gerade durch das Verschweigen des Ritters in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit entlarvt. Das Publikum begreift, dass man über einen derartigen Vorgang lieber nichts nach außen dringen lässt. Den Rezipienten dürfte – derart präpariert – auch eine zweite Abweichung im Bericht des Ritters vielleicht nicht entgangen sein. Nachdem nämlich Walewein dem König Wonder von seinem Schamgefühl angesichts des drohenden Ehrverlusts für die Tafelrunde erzählte: Ic scaemde mi als ic dat horde [V.1200] (›Ich schämte mich, als ich das hörte‹) – was ja bereits eine personale Identifikation mit der anliegenden Problematik suggeriert –, behauptet er vorgetreten zu sein und dem König ohne weiteres angeboten zu haben: »... vondict in enich lant, Ic soudt hem leveren metter hant Also helpe mi god die mi gheboot Of ic bleve daer omme doot.« [V.1217–20] [Falls ich es (das Schachspiel) in irgendeinem Land fände, würde ich es ihm (Artus) eigenhändig überbringen, so helfe mir Gott, der MICH erschuf, es sei denn ich sollte dabei mein Leben verlieren.]
Tatsächlich war das Angebot Waleweins wie gesagt erst nach der, in seinem Bericht verschwiegenen, inordinatio des Artus erfolgt und hatte ursprünglich den Wortlaut:‹ »Vindict in enich lant, Ic saelt u leveren in uwe hant So helpe mi God die u gheboot, Of ic blive in den wille doot...«
[V.131–34]
[Wenn ich es in irgendeinem Land finde, werde ich es Euch in Eure Hand ausliefern, so helfe mir Gott, der EUCH erschuf, es sei denn, ich sollte bei meinem Vorhaben mein Leben verlieren.]
Der entscheidende Unterschied in dieser Formulierung besteht im Gebrauch des Personalpronomens mi (mich) anstelle des ursprünglichen u (Euch). Das Erflehen des Beistands richtet sich also bei Waleweins Bericht in Wonder nicht mehr an den Schöpfergott des Artus, Garant des arthurischen ordo, sondern an einen Gott, dem Walewein sich und sein Überleben ganz unmittelbar selbst anvertraut, und dessen Wohlwollen er auf sein personales Schicksal bezieht. Aus dem Schöpfer die u gheboot (›der Euch – König Artus – erschuf‹) ist in Waleweins Bericht ›mein‹ Schöpfer geworden. Kurz rekapituliert stellen sich in Waleweins Bericht in Wonder zwei Dinge verändert dar. Die in der Initialkrise ausschlaggebende Motivation der Waleweinfigur (inordinatio durch Questedrohung des Artus) wird in Wonder von seiner bekundeten Scham, d. h. von einer 255
personalen Motivation verdrängt. Die Berufung auf Gott als den Garanten des arthurischen ordo wird in Wonder ersetzt durch die Berufung auf den eigenen Schöpfer. Die beiden Änderungen hängen offensichtlich zusammen. Sobald die inordinatio nicht mehr als movens auftaucht, entfällt auch die Notwendigkeit der Berufung auf den Garanten dieses ordo. Es fragt sich, zu welchem Zeitpunkt der Motivationsumschwung der Waleweinfigur stattgefunden hat, der sie vom abhängigen Handeln zu einem personalen Handeln hat fortschreiten lassen. Dieser Zeitpunkt wäre zwischen dem Moment des Aufbruchs in Carlioen und seinem Bericht in Wonder zu erwarten. Bei der Suche nach diesem Zeitpunkt ist es hilfreich zu wissen, dass die Autoren der Waleweinfigur im gesamten Roman nur vier Mal eine Berufung auf ›Hilfe von God die [Pronomen] gheboot in den Mund gelegt haben. Zwei dieser Formulierungen sind eben betrachtet worden. Eine dritte taucht bezeichnender Weise zwischen den Stationen von Carlioen und Wonder auf. Sie wird Walewein nämlich in der Drachenhöhle in den Mund gelegt, wo der Ritter auf seiner Queste erstmals in eine lebensbedrohliche Situation gerät. Als Walewein dem schwebenden Schachbrett in einen Berg mit magischem Tormechanismus gefolgt ist und dort eingeschlossen wird, sieht er sich mit einer Drachenmutter konfrontiert, der er mit seinen Waffen und seinem eigenen Können als Ritter nicht gewachsen ist. Die Drachenmutter umklammert den wehrlosen mit ihrem Schwanz, und Walewein erkennt, dass seine letzte Stunde geschlagen hat: mijn leven es ghedaen [V.481] (›mit meinem Leben ist es vorbei‹). Die Situation in der Drachenhöhle markiert für die Waleweinfigur nicht nur den Übertritt von der rationalen Welt des arthurischen Hofes in die Jenseitswelt des Irrationalen (u. a. Wonder), sondern auch den Gang durch die Erfahrung der existentiellen Not, d. h. durch die Erfahrung des Beinahe-Todes. Der Szene kommt also in doppelter Hinsicht eine besondere Bedeutung zu. Winkelman hat deshalb hier die nach klassischem Muster typische, strukturelle Krise des Artusritters lokalisieren wollen,243 die er als Abbüßen der Habgierfrage während der Initialkrise, also als »lesje in bescheidenheid« interpretierte.244 Unter Berufung auf Grubmüller argumentiert er, dass der Roman van Walewein zwar aufgrund seiner Märchenvorlage nicht das ›tiefsinnige‹ Modell des klassischen Artus-Aventiureromans mit Doppelwegstruktur habe nachvollziehen können, aber »auch wenn man im ›Walewein‹ nicht die typische arthurische ›Identitätskrise‹ (mit mühsamem Abbüßen der Schuld) erblicken kann, ist es doch klar, daß die ›Krise‹ im ›Walewein‹ als ›Auslöser‹ eines neuen Anfangs ihren Sinn hat, da ihre Überwindung die Ereignisse auf eine neue Qualitätsstufe hebt. In
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J.H. Winkelman: ›Der Ritter, das Schachspiel und die Braut. Ein Beitrag zur Interpretation des mittelniederländischen Roman van Walewein‹, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von J. Janota. Tübingen 1992, S. 549–563, S. 555f.. ›[...] eine Lektion in Bescheidenheit.‹ Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, S. 327.
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diesem Sinne ist Walewein keineswegs ein ›krisenloser‹ Held! Die Todeserfahrung […] führt zu einer inneren Läuterung, welche die Voraussetzung bildet für seinen weiteren Weg als Erlöser […] des bedrängten Mitmenschen.«245 Walter Haug äußerte sich dagegen skeptisch: »a crisis was impossible in Walewein.«246 Gegen Winkelman führte er aus: »The occurence of a critical situation at the beginning is [...] best seen in the context of the characteristic uncertainty of the court as a result of external provocation.«247 Ich muss eingestehen, dass mir die genaue Bedeutung dieser Einlassung Haugs nicht klar ist, es sei denn, er wollte hiermit erneut unterstreichen, dass die von Winkelman konstatierte Krise Waleweins keine strukturelle Bedeutung für den weiteren Queste-Weg habe (was allerdings Winkelman in seiner Argumentation durchaus berücksichtigte), sondern lediglich einen Abgleich zwischen der ursprünglichen Idealität der Festsituation des Hofes und den durch die Provokation entstandenen Spannungen beinhalte. Man muss Winkelman unterdessen zustimmen, dass die Szene in der Drachenhöhle – auch wenn sie aus struktureller Sicht nicht den Stellenwert der klassischen Krise des Helden besetzen kann – klar als ein Wendepunkt der Waleweinhandlung markiert ist, dessen auffälligstes Merkmal sicherlich der überaus frühe, der verfrühte Zeitpunkt ist. Bereits nach knapp vierhundert Versen gerät die Waleweinfigur in jene typisch existenzbedrohende Situation, die die Signale des Textes, wie Winkelman gezeigt hat, als eine Art personaler Umkehr oder Erneuerung der Figur ausweisen. Und auch darin ist Winkelman zuzustimmen, dass diese Wende der Waleweinfigur einen transzendenten Aspekt hat, der sie »in die Weite der Gotteserfahrung hinüberführt.«248 Aber anders als Winkelman sehe ich darin keinen Wechsel aus der vorherigen Beschränkung der Figur auf die »ritterliche Ich-Befangenheit«,249 denn die vorausgegangenen Überlegungen zur Initialkrise des Roman van Walewein haben ja erwiesen, dass die Figur mit einer gesellschaftskonformen Motivation als Hofakteur aus Carlioen aufgebrochen war (vgl. Abschnitt III. 4 1.1). Die Bestätigungsfrage Waleweins (Suldi houden... dien eet [V.117f.]), welche die Forschung als Habgier-Motiv (also als personales Anliegen Waleweins) gewertet hatte, erwies sich in den vorausgegangen Überlegungen als eine Frage nach der Bestätigung der Ernsthaftigkeit des königlichen Vorhabens, sein Reich, seine Krone und seine Leben ›aufs Spiel zu setzen‹. Damit ist das bei Chrétien typische Element der indirekten Mitschuld Gauvains für die Waleweinfigur nicht realisiert worden. Was also keine personale Krise des ›ich-befangenen‹ Helden sein kann, muss als ein Wendepunkt in der Orientierung, d. h. der narrativen 245 246 247 248 249
Winkelman: Der Ritter, 1992, S. 556. Haug: Walewein as a postclassical literary experiment, 1999, S. 23. S. Anm. 246, Anm. 11. Winkelman: Der Ritter, 1992, S. 556. S. Anm. 248.
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Aufstellung der Figur gewertet werden. Im Gegenteil, so ist nun zu zeigen, tritt nämlich die Waleweinfigur während der Krise im Drachenberg aus der ursprünglich gesellschaftskonformen Motivation heraus in eine personale. Das wäre der genau umgekehrte Weg zu dem von Winkelman beschriebenen. Wie geht dieser Prozess vor sich? Die neue Aufstellung der Figur wird durch eine signifikante Parallele in der Formulierung des Umschlagpunktes aus dem Text herausgehoben, wodurch ein Zusammenhang des Rollenwechsels mit den bereits besprochenen Szenen in Carlioen und Wonder zutagetritt. Während nämlich Walewein in Carlioen die Queste als Hofakteur im Dienst der Hofgesellschaft und der Interessen des Königs unternahm, wobei er sich auf den Schöpfergott berief die U gheboot, ist er in der Krisensituation in der Drachenhöhle – in der Situation der Todesgefahr – auf die Hilfe des Gottes angewiesen, der sein eigenes, personales Schicksal in den Händen hält. Diesen Gott fleht Walewein in seiner höchsten Not an: »Die selve God die mi gheboot Hi moet mi helpen ende beraden.«
[V.478f.]
[Derselbe Gott, der mich geschaffen hat, der muss mir helfen und mich beschützen.]
Mehrere Aspekte an dieser Formulierung sind zu beachten. Zum einen handelt es sich um den ersten Zeitpunkt des Romans, wo Walewein sich auf seinen persönlichen Schöpfergott beruft. Das Gelingen seiner Queste und sein eigenes Überleben sind nicht mehr abstrakte Größen, die er allgemein unter die Schirmherrschaft des Schöpfers des arthurischen ordo stellt, sondern sie erweisen sich als akut personale Fragen des eigenen Daseins. Signifikant ist des Weiteren, dass diese Formulierung der Figur innerhalb des gesamten Romans nur vier Mal in den Mund gelegt wird, weshalb den drei ersten solchen Ereignissen (zuvor in Carlioen, hier in der Drachenhöhle und anschließend in Wonder) durch ihren erkennbaren Zusammenhang eine besondere Qualität zukommt, denn hier vollzieht sich ein Wendeprozess, der über drei Stationen verläuft. Zum dritten geben auch die Einzelheiten der Formulierung Waleweins in der Drachenhöhle genaue Hinweise auf einen Motivationswechsel. Was zuvor eher distanziert und pflichtschuldig wie eine Eidesformel (so helpe mi God) ausgedrückt wurde, gewinnt in der Drachenhöhle die akute Qualität eines flehentlichen, verzweifelten Aufrufes (moet ... helpen). Aus dem abstrakten, eher fernen Gott die U gheboot, wird die selve God die mi gheboot. Was vorher Ausdruck einer Intention war, gerät zur unmittelbaren Anrufung. Hier findet ganz offensichtlich eine Art Identifikationsprozess statt, der die Waleweinfigur in eine akute, personale Beziehung sowohl zum Erfolg seiner Mission als auch zu dem Schöpfergott setzt, der allein das Gelingen und das Überleben zu garantieren vermag. Die Verse 478–79 sind der Wendepunkt, ab welchem der Figur 258
des Hofakteurs die Rolle des Protagonisten zuwächst, und zwar – wie zuvor beschrieben wurde – dergestalt, dass das Questeanliegen trotz des nun erkennbaren personalen Belangs bis zuletzt dennoch auch die Interessen der Hofgesellschaft beinhaltet. Die Figur des Hofakteurs ist also ab Vers 478–79 als Protagonist unterwegs, ohne ihre Funktion als Hofakteur jemals vollkommen abstreifen zu können. Damit zeigt der Roman van Walewein eine Ambiguität, welche den Autoren aller postklassischen Gauvainromane in der einen oder anderen Form als Problem zur Lösung aufgegeben war, nämlich die Frage, wie sie den Wegfall des eigentlichen Protagonisten mit der ursprünglichen, durch das Genre vorgegebenen Definition der Gauvainfigur als Hofakteur vereinbaren konnten. Die Interferenz zwischen beiden Funktionen, die Walewein im Romangeschehen zufallen, versuchten Penninc und Vostaert dadurch zu entschärfen, dass sie die Protagonistenfunktion erst außerhalb des Artushofes aktivierten und erst am äußersten (vom Hof entferntesten) Punkt der Handlung in der Liebeshandlung kulminieren ließen, während sie umgekehrt auf dem Rückweg alle Aspekte der Protagonistenhandlung sukzessive wieder zurücknahmen und bei Annäherung an die Station Carlioen durch hofkonforme Motivationen verdrängten. III.4.1.3 Zusammenfassung Den Roman van Walewein als postklassischen, arthurischen Versroman kennzeichnen veränderte Erfordernisse des Erzählens gegenüber dem klassischen narrativen Schema der Romane Chrétiens. Die Autoren reagierten hierauf mit einer kompensatorischen Erzähltechnik, die zunächst mittels zahlreicher Signale des Textes die arthurische Qualität ihres Romans zu unterstreichen und so eine Rezeptionslenkung des Publikums herbeizuführen trachtete, die an den Konstanten des arthurischen Genres ausgerichtet war. In der Szene der Initialkrise des Hofes gelang es Penninc, die wesentlichen, gattungstypischen Muster des Chrétien’schen Erzählens nachzuvollziehen. Als diese Muster sind die anfängliche Idealsituation des Festes und die Provokation mit nachfolgender Handlungsstockung (Stasis) eruiert worden, wobei insbesondere das typische Muster des verzögerten Handlungseinsatzes der Waleweinfigur auffiel (Inertia), welches alle Romane Chrétiens kennzeichnete. Abweichend von Chrétien konnte Penninc während der Stasis nicht auf die Keufigur als Instigator der weiteren Handlungseinsätze zurückgreifen. Dieses Problem wurde durch die inordinatio der Königsfigur unterfangen, die zum Handlungseinsatz des zentralen Sachwalters der Hofinteressen (Walewein) führen musste. Bei der Verlagerung der Rolle des Instigators auf die Königsfigur konnte sich Penninc immerhin an der prekären Rolle der Artusfigur in zahlreichen Romanen Chrétiens orientieren. Den Einsatz der Keufigur wollte der Erzähler gleichwohl mit Rücksicht auf das Gattungswissen des Publikums nicht vollständig unterdrücken, weshalb ein Einsatz Keyes quasi als blindes Motiv in der Initialkrise nachgereicht wurde, nachdem 259
sich die Waleweinfigur längst zur Queste entschlossen hatte. Die erste Hofszene in Carlioen folgte daher trotz einiger Verlagerungen im wesentlichen dem klassischen Muster des arthurischen Erzählens, welches die Elemente des narrativen Schwungrades trotz personeller Umbesetzung noch gut erkennen lässt. Während der Questehandlung begegnete den Autoren das schwierigere Problem, die Waleweinfigur in zwei funktionalen Zusammenhängen zeigen zu müssen, die sich streng genommen gegenseitig ausschließen. Die Waleweinfigur, die während der Initialkrise noch genrekonform als Hofakteur mit gesellschaftskonformer Motivation aufgestellt war, musste nach den Erfordernissen einer Questehandlung während der einzelnen âventiuren zunehmend in die personal motivierte Rolle eines Protagonisten überführt werden, eben weil das âventiure-Geschehen sowohl nach narrativen Erfordernissen (Brautwerbung, Auseinandersetzung mit dem Irrationalen als personaler Wachstumserfahrung) sowie nach der Erwartung des Publikums eine Protagonistenfigur verlangt, die eigene Interessen durchsetzen, Ehre gewinnen und reüssieren will. Dieses Dilemma haben die Autoren durch eine sukzessive Veränderung der Disposition der Waleweinfigur zu lösen versucht, die in Abhängigkeit von den literarischen Räumen (Hof oder âventiure-Bereich) je dem einen oder dem anderen Pol ihrer ambivalenten Funktionalität angenähert wurde. Da aber ein vollständiger Durchbruch zur einen oder anderen Funktion zu keinem Zeitpunkt des Romangeschehens realisiert werden konnte, mussten bis zuletzt Ungereimtheiten in der Handlung Waleweins in Kauf genommen werden, die insbesondere in Pieter Vostaerts Romanpartie als Querstände aufragen mussten, weil ihm die undankbarere Aufgabe zufiel, die eigentlich unvereinbaren Handlungslinien zu einem Endgeschehen zusammenzubinden. Der Roman van Walewein zeigt trotz alledem auch die für das klassische Erzählen typische Handlungstendenz der Waleweinfigur, sein Handeln den Belangen der Gesellschaft unterzuordnen und insbesondere die Wiederherstellung eines harmonischen, höfischen Geschlechterverhältnisses als seine Kernaufgabe zu betrachten. Die nachstehende Graphik soll wie zuvor die des narrativen Schwungrades im Kapitel über Chrétien (vgl. Kap. II. 6) einerseits die dynamisierenden Elemente, die die Erzählung antreiben und andererseits die daraus resultierenden, funktionalen Handlungseinsätze veranschaulichen, in die Figur Waleweins eingebunden ist. Was die Graphik nicht leisten kann, ist alle Stationen des Romans nachzuzeichnen oder eine adäquate Beschreibung des Inhaltes zu geben. Sie will lediglich einen Einblick in die Triebkräfte derjenigen Handlungsbögen vermitteln, in die die Waleweinfigur eingebunden ist und dabei aufdecken, wie die Figur im Verlauf des Geschehens aufgestellt ist. Die zwei antagonistischen Handlungstendenzen der Waleweinfigur als Hofakteur und Protagonist gehen mit unterschiedlichen Motivationen (gesellschaftskonformer bzw. personaler) und unterschiedlichen Questezielen (Schachbrett bzw. Braut) 260
einher. Die Graphik zeigt nur die ungefähre zeitliche Abfolge dieser Einsätze. Eine eindeutige Zuordnung Waleweins zu einer der beiden Rollen, etwa der des Hofakteurs, im Endgeschehen am Artushof ist in dieser Graphik nicht möglich, weil diese endgültige Klärung der Figurenrolle auch im Roman selber nicht mehr stattfindet. Wenn man die unterstehende Graphik mit dem narrativen Schwungrad Chrétiens vergleicht, treten mehrere wesentliche Unterschiede zutage. Zum ersten hat hier die Figur Keyes ihre strukturelle Rolle eingebüßt und ist deshalb aus dem Schema auszuschalten. Die narrative Funktion, die sie erfüllte, nämlich das Generieren von Handlungsenergie in der Situation der Stasis, ist gleichwohl erhalten geblieben und wird im Roman van Walewein von der Königsfigur als Instigator erfüllt. In diesem Punkt ist das Erzählschema trotz ›personeller Umbesetzung‹ also noch konsistent mit Chrétiens Vorgabe. Zum zweiten ist die Figur des Protagonisten aus dem Schema verschwunden. Der bei Chrétien vorgebildete Mechanismus, nach welchem die Figuren von Protagonist und Hofakteur (Gauvain) in antagonistischer Aufstellung durch das âventiure-Geschehen geführt wurden, hatte es dem französischen Autor ermöglicht, quasi einen ›exzentrisch‹ definierten Vertreter der Tafelrunde (den Protagonisten) tief in die Bereiche des Irrationalen einzuführen und zu verstricken, gerade weil die Protagonistenfigur letztendlich aus dem Zentrum der Tafelrunde verschwinden und auf eine eigene Domäne abgeführt werden konnte. Demgegenüber nutzte Chrétien die Figur des Hofakteurs als diejenige Kraft, die die rektifizierenden Handlungen leistete, die das Geschehen in den Nullpunkt des Handlungsstillstands zurückbewegen sollten. Die Autoren des Roman van Walewein konnten auch hier nicht auf die narrativen Funktionen verzichten, die sich hinter den Figuren des Protagonisten und des Hofakteurs verbergen, doch mussten sie beide in einer Figur, nämlich der Waleweins zusammenführen. Die hieraus resultierenden ›Querstände‹ im Handlungsverlauf sind zuvor detailliert betrachtet worden. Eine ›glatte‹ Lösung war den Autoren bei dem Versuch, beide Funktionen in einer Figur zu verschmelzen, wohl nicht möglich. Ungeachtet der daraus resultierende aporetischen Disposition der Waleweinfigur zeigt sich aber, dass auch in diesem Punkt die narrativen Kernfunktionen Chrétiens trotz ›personeller Umbesetzung‹ in dem postklassischen mittelniederländischen Roman fortbestehen. Im Wesentlichen erweist sich nachstehendes Schema als eine Vereinfachung des Chrétien’schen Musters durch Konzentration auf ein kleineres Personal und Bündelung der Funktionen. Der Schluss ist erlaubt, dass der Roman van Walewein trotz der erheblich abweichenden Vorgaben durch den Märchenstoff und den Wegfall der gesonderten Protagonistenrolle immer noch in einem signifikant hohen Maß mit dem Erzählen der klassischen Versromane kongruiert. Und dies gilt nicht nur für die freilich besonders charakteristischen, narrativen Kernfunktionen, sondern auch, wie schon in der Einleitung zu diesem Abschnitt ausgeführt wurde 261
(vgl. II. 4.1.1), für die genretypischen Signale und für die Inhalte, namentlich den der Fokussierung des Geschehens auf das höfische Geschlechterverhältnis. Utopische Harmonie des Hoffestes Rektifikation Hofproblematik
Initialkrise: Provokation
Schachspiel vereint Männer und Frauen bei Hof
(internes Defizit: Geschlechtertrennung)
Stasis/Inertia Waleweins
Schachspielqueste (hofkonforme Motivation)
inordinatio des Artus Eskalation
Liebeshandlung (personale Motivation)
Schachspielqueste (hofkonforme Motivation)
Intervention Waleweins als Hofakteur (›God die u gheboot‹)
Umschlagspunkt Questehandlung Walewein als Protagonist (›God die mi gheboot‹)
III.4.2 Gawein in der Crône Während im Roman van Walewein eine Konzentration beobachtet wurde, die die dynamisierenden Funktionen des Chrétien’schen Schwungrades auf ein reduziertes Kernpersonal verteilte, gilt für die Crône Heinrichs von dem Türlin das Gegenteil. Heinrichs Strategie des Erzählens besteht darin, die in Chrétiens Stoffen vorgefundenen, narrativen Muster nicht nur aufzugreifen, sondern sie demonstrativ zu wiederholen und an der Textoberfläche präsent werden zu lassen, wobei er sich so genau an bestimmte Vorgaben des französischen Meisters hält, dass man wohl schließen darf, er habe sie bewusst eingesetzt. Freilich musste auch Heinrich mit dem technischen Problem fertig werden, dass eine ›klassische‹, antagonistische Protagonistenfigur als Komplement zur Figur Gaweins in seinem Roman nicht zur Verfügung stand. Dieses Problem, mit welchem ja auch Penninc und Vostaert im Roman van Walewein zurechtkommen mussten, und welches Cormeau schon ausführlich am Text der Crône demonstriert hat,250 versuchte Heinrich nicht – wie jene Mittelniederländer – 250
Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, vgl. u. a. S. 154f., unterscheidet »zwei Vorgegebenheiten, mit denen Heinrich in seinem Konzept fertig werden mußte: Gawein, die Figur des Musterritters, der traditionell durch seine Funktion am Artushof eine normierende Rolle spielt, und die biographische Symbolstruktur der vorausgehenden Romane, die aus dem Weg durch die Aventiurereihe einen exemplarischen Status entstehen läßt« (S. 144). Damit bezeichnet Cormeau die doppelte Disposition Gaweins einerseits als vordefinierter Hofakteur und ande-
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auszuklammern, zu glätten oder zu verdecken, sondern er machte es umgekehrt in offensiver Strategie zum Gegenstand eines expliziten, narrativen Diskurses über die Rolle der Hoffiguren unter den veränderten Bedingungen postklassischen Erzählens. Das geschieht einerseits, indem die beteiligten Figuren direkt in die Erfahrung der ›Alterität‹ dessen geführt werden, was sie laut Gattungskonvention nicht sind und gar nicht sein dürfen, und andererseits indirekt indem sie sich selber in der Figurenrede über ihre Rollen verständigen und die Unverändertheit ihrer gattungsbestimmten Funktionen zusichern. Schon zahlreiche Forschungsmeinungen haben die Crône unter dem Aspekt ihrer demonstrativen Literaturbezüge als Reaktion aufgefasst, haben den Roman, wie Hartmut Bleumer rekapitulierte,251 mal unter dem Aspekt der Divergenz und mal unter dem Aspekt der Kontinuität betrachtet. Neben und mitunter auch gegen Cormeau, der nach den Gattungskonstanten in diesem Roman fahndete, standen Beiträge von Lewis Jillings,252 Fritz Peter Knapp,253 Peter Stein,254 Heimo Reinitzer255 oder Ulrich Wyss,256 um nur einige zu nennen, die vor allem die Brüche und Neukonzeptionen Heinrichs zu interpretieren suchten. Es kann auch kaum verwundern, dass ein postklassischer Roman wie die Crône, die so lange Zeit von der Forschung als epigonal und minderwertig abgelehnt wurde,257 zunächst vor allem unter dem Aspekt ihrer Andersartigkeit beschäftigen sollte, zumal ja der Text selber fortwährend durch seine
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rerseits als (nach klassischem Konzept) noch ›offene‹ Protagonistenfigur, wobei diese Offenheit in einem postklassischem Gaweinroman freilich nicht mehr eingelöst werden kann. Hartmut Bleumer: Die »Crône« Heinrichs von dem Türlin. Form-Erfahrung und Konzeption eines späten Artusromans. Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. Bd. 112. Tübingen 1997, S. 1–2. Lewis Jillings: Diu Crone of Heinrich von dem Türlein: The attempted emancipation of Secular Narrative. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. Bd. 258. Göppingen 1980. Fritz Peter Knapp: ›Das Ideal des chevalier errant im französischen Prosa-Lancelot und in der Krone Heinrichs von dem Türlin‹, in: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Vorträge des Symposiums der deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft vom 10. bis 13. November 1983. Hrsg. von F. Wolfzettel. Giessen 1984, S. 138–145. Stein: Integration, 2000. Heimo Reinitzer: ›Zur Erzählfunktion der Crône Heinrichs von dem Türlin. Über Literarische Exempelfiguren‹, in: Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976. Hrsg. von A. Ebenbauer u. a. Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie, Nr. 10). Wien 1977, S. 177–196. Ulrich Wyss: ›Wunderketten in der »Crône«‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längsee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 269–291. Schon Gottlob Heinrich Friedrich Scholl : Diu Crône von Heinrîch von dem Türlîn. Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, XXVII. Stuttgart 1852, (2.) Amsterdam 1966, vgl. die Vorbemerkungen, S. XV, paraphrasierte das erhebliche Unbehagen seiner Zeitgenossen gegenüber diesem nachklassischen Roman, die einen »elend zusammengestoppelten haufen von ordinären situationen und begebenheiten irrender, von absurditäten und gemeinheiten, ohne plan und zweck« darin erblickten. Die früher durchgängige Aburteilung der Crône ist wiederholt in der neueren Forschung aufgearbeitet worden, vgl. u. a. Cormeau: Wigalois und Diu
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Verweise auf die zeitgenössische Literatur solches vergleichendes Denken herausfordert. Matthias Meyer hat dies auf den Begriff der »Verfügbarkeit der Fiktion« gebracht, wonach sich in der postklassischen Literatur, insbesondere der Crône »ein reflektierter Umgang mit der Gattungstradition« manifestiere, den Meyer als literarischen Metadiskurs anspricht.258 Soll heißen, der Text mache seinen Traditionsbezug selber zum »literarische[n] Diskurs, der primär unter der Textoberfläche angesiedelt ist.«259 Dass Heinrich »in auffallender Weise um eine detailgetreue Übernahme der von Chrétien bzw. Hartmann entworfenen Artuswelt« und damit um den Nachweis einer mustergültigen Gattungsanbindung bemüht war, ist der Forschung unterdessen ebenfalls längst bekannt.260 Die vorliegende Studie sucht ergebnisoffen sowohl nach den Abweichungen, wie den Analogien, wobei die hier vertretene These lautet, dass in der Crône ein Diskurs über die Funktionalität der Figuren entwickelt wird, der (weit mehr als nur eine ›belesene‹, intertextuelle Reflektion über die Gattungstradition) ein raffiniertes Mittel zum Erzeugen von Erzählspannung und Handlungsdynamik darstellt, die den Verlust der funktionalen Antagonismen zwischen den Figuren des klassischen Artusromans aufzufangen bezweckt. Heinrich kann sich diese Experimente mit offensichtlichen Grenzübertretungen deshalb leisten, weil er zugleich – nicht zuletzt mit dem Muster des narrativen Schwungrades – sehr deutlich die klassischen Handlungsmuster realisiert und dadurch die Gattungserwartung trotz allem voll bestätigt. Wenn also auch weiterhin an der Sicht festzuhalten ist, dass die präformierten Rollen der Hofakteure in Heinrichs Roman zwar »increasingly differentiated« dargestellt aber im Grund wie eh und je »open ended, ill-adapted to the finite career of the classic Arthurian heroe« bleiben,261 wie Rosemary Wallbank bemerkte, so ist demgegenüber zu beachten, dass das Erzählexperiment Heinrichs darin besteht, die Figuren mit Absicht und nicht selten mit einer gehörigen Portion Ironie in den Grenzbereich des gattungsmäßigen Tabubruchs, der Rollentravestie, also in das ›Andere‹ ihres literarischen Selbst zu führen. Gerade weil diese Erzählstrategie aber nur auf der soliden Grundlage eines augenzwinkernd signalisierten Einverständnisses des Autors mit seinem Publikum über die Unmöglichkeit solchen Tuns machbar ist, ist die Crône ein besonders anschauliches Beispiel dafür, dass Chrétiens Interak-
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Crône, S. 5, Anm. 9 ; sowie jüngst die kurze Zusammenfassung bei Gudrun Felder: Stellenkommentar zu Heinrich von dem Türlîn. Diu Crône. Berlin 2006, S. 6f.. Matthias Meyer: Die Verfügbarkeit der Fiktion. Interpretationen und poetologische Untersuchungen zum Artusroman und zur aventiurehaften Dietrichepik des 13. Jahrhunderts. GRMBeiheft, 12. Heidelberg 1994, S 288. S. Anm. 258, S. 284. Peter Stein: Integration, 2000, S. 13. Rosemary Wallbank: ›Three Post-Classical Authors: Heinrich Von Dem Türlin, Der Stricker, Der Pleier‹, in: The Arthur of the Germans. The Arthurian Legend in Medieval German and Dutch Literature. Hrsg. von W.H. Jackson, S. A. Ranawake. Arthurian Literature in the Middle Ages, III. Cardiff 2000, S. 81–97, S. 83.
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tionsmuster, welches im vorigen Kapitel dargestellt wurde (vgl. II. 6) sich in der postklassischen Literatur erhalten hat, und insbesondere hier zum Garanten des arthurischen Erzählens wird, weshalb Heinrich sogar ein ›konservativerer‹ Autor genannt werden darf als etwa seine Vorgänger Hartmann oder Wolfram anhand ihrer Adaptationen der französischen Vorlagen. Bevor all dies besprochen werden kann, soll eine Prämisse das weitere Verfahren erleichtern, die eine pragmatische Setzung der Textgliederung betrifft. Die Crône ist mit über 30000 Versen und einem entsprechenden Katalog von âventiuren und Ereignissen ein derartig umfangreicher Roman, dass man sich wenigstens über eine grobe Einteilung zusammenhängender Handlungsstränge verständigen muss. Unbeschadet der Struktur des Romans, die von verschiedenen Autoren schon unterschiedlich gesehen und (überraschend oft) beschrieben wurde, wird in der vorliegenden Untersuchung grob von zwei Erzählsträngen ausgegangen: einem ersten, der den Brauterwerb Gaweins bis zur Hochzeit zum Inhalt hat und einem zweiten, der im Wesentlichen die Gauvainhandlung des Conte du Graal aufnimmt und bis zu Gaweins Erfolg auf der Gralsburg fortsetzt. Diese Prämisse ist ausdrücklich nicht auf die seit Samuel Singers Artikel von 1859 immer wieder diskutierte These einer kompositionellen Zweiteilung bezogen.262 Schemata zu Aufbau und Struktur der Crône sind wie gesagt bereits in großer Anzahl nach je anderen Kriterien erstellt worden. Eine Übersicht über die wichtigsten Ansätze gibt Thomas Gutwald,263 dessen skeptischem Fazit ich mich anschließe, dass es insbesondere nach Annegret Wagner-Harkens zuletzt unternommener Strukturanalyse in der »überdimensionierten Beilage« zu ihrer Studie264 fraglich sei, »inwieweit die genannten Bemühungen um eine systematische Durchdringung der Romanstruktur sich nicht eher aus einem apologetischen Forschungsinteresse [...] erklären ließen«, insbesondere seit »Strukturelemente, die nur all zu gerne zum Maßstab eines qualitätvollen Werkes erhoben worden sind, ›Symbolstruktur‹ und ›doppelter Kursus‹ vor allem« im Licht neuerer Kritik ihre Selbstverständlichkeit verloren hätten.265 Es geht auch hier also nicht um einen weiteren Versuch, der vermeintlichen Symbolstruktur der Crône auf die Spur zu kommen,
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Zur These der kompositionellen Zweiteilung der Crône ab Vers 13901 vgl. u. a. Samuel Singer: ›Heinrich von dem Türlin‹ [Artikel], in: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 39. Leipzig 1895, S. 20f.; Rosemary E. Wallbank: ›The Composition of Diu Krone. Heinrich von dem Türlins Narrative Technique‹, in: Medieval Miscellany. Hrsg. von F. Whitehead, A.H. Diverres u. a. Manchester/New York 1965, S. 300–320, vgl S. 316ff; Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 155–157; Ebenbauer: Gawein als Gatte, 1980, S. 37; Thomas: Crône, 2002, S. 3; Annegret Wagner-Harken: ›Märchenelemente und ihre Funktion in der Crône Heinrichs von dem Türlin. Ein Beitrag zur Unterscheidung zwischen »klassischer« und »nachklassischer« Artusepik.‹ Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. Bd. 21. Bern 1995, vgl. u. a. S. 229–232. Thomas Gutwald: Schwank und Artushof. Komik unter den Bedingungen höfischer Interaktion in der Crône des Heinrich von dem Türlin. Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung. Bd. 55. Frankfurt a.M. 2000, S. 24–26. Annegret Wagner-Harken: Märchenelemente, 1995, vgl. das Strukturschema im Anhang. Gutwald: Schwank, 2000, S. 27.
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sondern lediglich um ein pragmatisches Arbeitsmittel zur Orientierung für die nachfolgende Erörterung. Im Übrigen ist Rosemary Wallbank beizupflichten, die nachgewiesen hat, dass Heinrichs Erzählstruktur in erster Linie von der neuen, französischen Technik des entrelacement geprägt ist.266 Diese war »new to Germany and is managed with dexterity by Heinrich.«267 Wallbank mahnt daher zu einiger Vorsicht bei der Interpretation struktureller Anordnungen. Das entrelacement »is a scheme based purely on content, without interpretative significance.«268 Auch Matthias Meyer konstatiert bei Heinrich eine »zweisträngige Erzählweise« für die es »in der Gattung kein Vorbild« gebe. 269 Aber Chrétien hat in drei seiner vier Artus-Aventiureromane mit auffälligen, zum Teil raffinierten Parallelisierungen von Handlungssträngen gearbeitet. Hierher gehört auch die Handlung Gauvains im Conte du Graal, die man sich parallel zu den aventuren Percevals denken muss, und die »vermutlich den Ausgangspunkt für die komplexen entrelacement-Strukturen der späteren Prosa-Artuskompilatoren« bildeten.270
Mit dieser pragmatischen Setzung ergeben sich für die Gaweinfigur also zwei übergreifende Handlungskreise. Trotzdem werden die nachfolgenden Betrachtungen ans Licht bringen, dass Heinrich die funktionalen Elemente des narrativen Schwungrades nicht nur zwei, sondern sogar fünf Mal abrollen lässt, wobei jedes Mal erneut der Weg von der Provokation zurück zu einer harmonischen Festsituation zurückgelegt wird, und jedes Mal alle daran beteiligten Figuren ihre typischen Einsätze durchlaufen. Das Bestimmen dieser fünf Abläufe des narrativen Schwungrads ist das Grundanliegen der weiteren Betrachtungen. Erst auf diesem Hintergrund können dann die Transgressionen beschrieben werden, die Heinrichs Figuren gattungswidrig ›aus der Rolle fallen‹ lassen. Auf die Ermittlung der Einsätze des Schwungrads folgen deshalb gesonderte Abschnitte, in denen die Rolle einer jeweiligen Figur diskutiert wird. Am Ende der Untersuchung veranschaulicht wieder eine Graphik die ermittelten Ergebnisse. Die Besprechung beginnt – wie gehabt – mit einer Untersuchung der Initialkrise des Hofes, die den Roman eröffnet und den ersten Handlungskreis in Gang setzt.
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Wallbank: Composition, 1965. Wallbank: Three Post-Classical Authors, 2000, S. 82. S. Anm. 267. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 93. Dorothea Kullmann: ›Frühe Formen der Parallelhandlung in Epos und Roman. Zu den Voraussetzungen von Chrétiens Conte du Graal‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 23–45, S. 23. Allein aufgrund der raffinierten Parallelisierung von Teilen der Handlungen des Chevalier au Lion und der Charrette ist ihre Einschätzung, dass vor dem Conte du Graal eine solche Form der Parallelisierung »in der französischen Literatur nicht zu finden« sei, vielleicht etwas zu rigoros.
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III.4.2.1
Die Initialkrise in der Crône
III. 4.2.1.1 Erster Leerlauf des Schwungrads (valsche am Artushof) Bezüglich der Heldenrolle Gaweins in der Crône hatte Cormeau einst festgestellt, dass Gawein »zwar unbestritten der Protagonist von vier Aventiuresequenzen« sei, »aber ein Sechstel des Umfangs nimmt die Gasozein-Geschichte ein (V.3273 bis V.5468; V.10113–12600), in der sich Artus selbst mit Gasozein, der schließlich Ginover entführt, auseinandersetzen muß. Gawein fällt darin nur die Rolle zu, die Entführung zu beenden (V.11747–12600).«271 Berücksichtigt man dabei die Tatsache, dass das Publikum auch vor dem Anfang der Gasozein-Geschichte nur wenige Male etwas von Gawein erfährt, u. a. ca. 70 Verse anlässlich seines Scheiterns in der Becherprobe [V.1994–2070] und noch einmal ca. 40 Verse anlässlich seines Rates an die Ritter der Tafelrunde, heimlich zu einem Turnier in Jaschune aufzubrechen [V.3222–3261], so wäre zu folgern, dass Gawein in den ersten fünfeinhalbtausend Versen der Crône gar keine Rolle spielt. Unter diesen Umständen konnte Cormeau wohl nicht um die Feststellung herumkommen, dass »dieser Handlungsteil [...] nicht mit den definierten Typenkonstanten in Einklang zu bringen« sei.272 Neil Thomas wertete dieses ›Ausbleiben‹ des Protagonisten (zusammen mit dem Scheitern in der Becherprobe) sogar als Signal dafür, dass im ersten Teil der Crône ein »transgressive younger Gawein« nach dem Bild »of anarchic young aristocratic males« gestaltet sei,273 der noch nicht dem präformierten Charakter des späteren, vollendet höfischen Gaweins entspreche und erst eine Entwicklung durchzumachen habe. Beide Umstände, Versagen in der Becherprobe wie ›Ausbleiben bei Hof‹ sind jedoch narrativen Funktionen geschuldet. Dazu gleich Näheres. Das Fehlen des Protagonisten während der ersten ca. 5500 Verse des Romans mag auf den ersten Blick in der Tat gattungsuntypisch erscheinen. Aber in diesem Fall ist der eigentliche Protagonist des gesamten Romans ja identisch mit Gawein. Und wenn es nach der vorausgegangenen Besprechung von acht arthurischen Versromanen in drei verschiedenen Sprachen noch nicht überzeugend deutlich geworden sein sollte, dass die Gauvain-, Walewein- oder Gaweinfigur eben gerade dadurch definiert ist, dass sie zu spät zum Einsatz kommt (Inertia), so hoffe ich spätestens nun, anhand der Crône, zeigen zu können, dass das Ausbleiben Gaweins als Retter Ginovers bis Vers 11747, wie Cormeau penibel nachrechnete, eine von Heinrich kalkulierte Pointe darstellt, die vollständig in Übereinstimmung mit den Erzählmustern Chrétiens entwickelt wird. Das Ausbleiben Gaweins ist als keineswegs unvereinbar mit den Typenkonstanten
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Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 125. S. Anm. 271. Thomas: Crône, 2002, S. 43.
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arthurischen Erzählens, wie Cormeau meinte, sondern ganz im Gegenteil: es ist eine Typenkonstante. Die Betrachtung der altfranzösischen Romane hatte noch zwei weitere, charakteristische Aspekte des Interaktionsmusters der Gaweinfigur gezeigt, nämlich erstens, dass der Einsatz der Gaweinfigur trotz anfänglicher Handlungsverzögerung letztendlich immer in Abhängigkeit zur Defizienz der Hofgesellschaft organisiert war, welche in aller Regel in der Szene der Initialkrise des Hofes aufdeckt wird. Als der zweite, typische Aspekt des Interaktionsmusters, galt die unbeabsichtigte oder indirekte ›Mitverantwortung‹, welche in Chrétiens Romanen gelegentlich ›peinliche Ausrutscher‹ Gauvains nach sich zog. Auch diese typischen Elemente lassen sich in der Crône beobachten und spielen eine wichtige Rolle für die weitere Untersuchung. Zunächst müssen aber diejenigen Muster beschrieben werden, die dem verzögerten Einsatz der Gaweinfigur vorausgehen. Als solche wären in der Crône die der Provokation von außen, die anschließende Stasis, die Intervention der Keiefigur sowie die Bestrafung Keies (Pferdabwurf) zu erwarten. Diesen Elementen müsste dann die Intervention Gaweins mit berichtigender Tendenz, bezogen auf die Defizienz der Hofgesellschaft, nachfolgen. Wie hat Heinrich diese Muster realisiert? Das erste Interesse gilt der internen Defizienz, die die Provokation des Hofes aufdeckt. Die Situation der Initialkrise des Hofes in der Crône setzt erst nach ca. 1000 Versen, also relativ spät im Text mit dem Erscheinen des hässlichen Boten am zweiten Tag des weihnachtlichen Hoffestes ein. Ihr äußerlicher Anlass ist die von dem Boten als don contraignant [V.1021–25] eingeforderte Becherprobe. Die Artusgesellschaft hatte bereits sehnsüchtig auf âventiure gewartet [V.925ff.] und drängt folglich den König, die Bitte zu gewähren [V.1041f.]. Da dem König vom Boten die Ehrbarkeit der noch unausgesprochenen Bitte wiederholt zugesichert wird [vgl. V.1020 und V.1030f.], kann Artus – anders als etwa in Hartmanns Iwein während der Szene der Ginoverentführung – ohne zu zögern versichern: Jch schül alle girde vil willichleichen laisten an dem minsten vnd an dem maisten [...] Des wil ich nimmer wesen vrei [V.1059 –1064]. (›Den Geringsten und den Erhabensten werde ich jedwede Bitte bereitwillig gewähren. [...] Von dieser Maxime werde ich niemals abweichen‹). In Hartmanns Iwein dagegen hatte Artus während der Szene der Ginoverentführung versucht, dem Boten eine Beschränkung des Bittens aufzuerlegen: swaz ir gebietet hie ze hûs, des sît ir alles gewert, ist daz ir betelîchen gert [V.4544 ff.] (›Alles was ihr hier am Hof erbittet, sei Euch gewährt, vorausgesetzt Euer Verlangen ist nicht unziemlich‹). Die szenische Anspielung auf den Iweinroman Hartmanns lässt erkennen, dass es Heinrich im Folgenden weniger um die Iweinhandlung selbst zu tun ist. Zitiert wird ja tatsächlich die Ginoverentführung, die im Iwein Hartmanns ihrerseits nur ein motivisches Zitat der Charrette-Handlung Chrétiens ist. Die erstfolgenden 13000 Verse werden also, das 268
kündigt sich hier erstmals an, mit der Entführung der Königin zu tun haben. Matthias Meyers Crône-Interpretation hat an zahlreichen Details die These von Fritz Peter Knapp bestätigt gefunden, dass die Crône (insbesondere in ihrem ersten Handlungskreis) als »Anti-Lancelot [...] gelesen werden« kann.274 Im ersten Teil der Crône wird es also wie in der Charrette um fin amor gehen, insbesondere um die Frage, wie diese mit dem höfischen Tugendwert der staete zu vereinbaren sei, welche z.B. zwischen Artus und Ginover zu herrschen hätte. Damit ist die Vereinbarkeit von fin amor und höfischer Gesellschaft angesprochen, nämlich als die Problematik der Integration der Minne in den Artushof. Dieses Motiv bildet den Ankerpunkt des gesamten ersten Handlungskreises. Von hier leiten sich die Handlungsbezüge der späteren Rektifikationsleistungen Gaweins ab. Die besondere Eigenschaft des Zauberbechers aus Toledo besteht darin, dass er »valsches herze (Cr. 1132 und Cr. 1146) sichtbar machen kann«,275 und das betrifft, sowohl die ›valsche‹ [V.1137] des Mannes gegenüber der amyen [V.1138] als auch die Untreue von Frauen gegenüber ihrem Partner, denn ir geschehe auch alsam [V.1145], wie der Bote erklärt. In der anschließenden Becherprobe gilt die Aufmerksamkeit insbesondere der Untreue der Damen, denn obwohl der Kelch auch an den Männern nicht vorübergeht, bleibt hernach vor allem die Schande der Frauen das zentrale Thema der Spottbemerkungen Keies [V.3137–52]. Die Initialkrise in der Crône wirft also die Frage nach dem Spielraum für affektive Fremdbeziehungen auf, die im Vollzug der Becherprobe als innere Defizienz der Artuswelt enthüllt werden. Obwohl der Bote dem König die Ehrbarkeit seiner Bitte zusichert und mit einer Entführung Ginovers nicht zu rechnen ist, wird auch in der Initialkrise der Crône die Situation einer offenen Herausforderung realisiert, auf die ein Ritter mit Kampfeinsatz zu reagieren hätte. Der Bote stellt dem Hof nämlich zwei Wege in Aussicht, den kostbaren Zauberbecher zu erwerben. Als die erste Möglichkeit benennt er, dass eine Dame oder ein Ritter am Hof die Becherprobe durch Tugendhaftigkeit bestünde, wodurch der Becher dem Hof zufalle, was implizit eine Ehrenrettung des Hofes bedeuten würde. Die zweite Möglichkeit präzisiert der Bote in seiner Ansprache an König Artus anschließend wie folgt: Ob daz aber niht ergat, Jst iemen hie, der mich bestat Vnder dirre massenye Mit ritters behendenye 274 275
Meyer, Verfügbarkeit, 1994, S. 65. Martin Baisch: ›Welt ir: er vervellet / Wellent ir: er ist genesen!. Zur Figur Keies in Heinrichs von dem Türlin Diu Crône‹, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von M. Baisch u. a. Aventiuren. Bd. 1. Göttingen 2003, S. 155–180, S. 161.
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Ze örs mit tyostivre, Gevellet im deu auentivre, Daz er mich entschvmphiert, Des ist der hof geziert Vnd beleibet iv daz goltvaz.
[V.1068–76]
[Falls dies nicht geschieht, wenn aber stattdessen jemand hier unter Euren Gefolgsleuten ist, der mit ritterlicher Tüchtigkeit zu Pferd in einem Lanzenstoßen gegen mich antreten will, und wenn ihm das Wagnis gelingt, mich zu übertreffen, dann ehrt er damit Euren Hof und das Goldgefäß bleibt Euer Eigentum.]
Die arthurische Gesellschaft steht also in der Initialkrise wie üblich vor der Herausforderung, ihre Ehre zu retten oder zu verlieren. Dabei bezieht die Becherprobe ihre Pikanterie, die Heinrich im weiteren Verlauf genüsslich ausmalen wird, selbstverständlich vor allem aus dem Umstand, dass jedes einzelne Mitglied der Hofgesellschaft, das Königspaar eingeschlossen, peinlich bloßgestellt wird. Jede Verfehlung, jeder Makel wird erbarmungslos in aller literarischen (textimmanenten) wie außerliterarischen Öffentlichkeit (Publikumsebene) bloßgestellt. Man könnte sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass immerhin einer am Hof – nämlich König Artus selbst – die Tugendprobe bestehe. Dieser für die nachfolgende Argumentation wichtige Aspekt könnte leicht so missverstanden werden, dass damit die Provokation durch den Boten ins Leere liefe, die Probe beendet und der Becher mit Ehren für den Hof gewonnen wäre. Gutwald klärt das Missverständnis auf, indem er zunächst darauf hinweist, dass »mit dem Erfolg von Artus die Tugendprobe gar nicht beendet ist.«276 Ziel der Becherprobe ist also gar nicht der Nachweis der Tugend eines Einzelnen, sondern Ziel ist die »satirische[...] Entblößung der Defizienz einer nur dem Anschein nach idealen Gesellschaftsordnung.«277 Gutwald macht auch darauf aufmerksam, dass in Keies Spott über »die ideale Verbindung zwischen Artus und Ginover« ein »versteckter Seitenhieb« auf die mangelnde, auch ihren Ehemann und damit das ganze Artusreich mitbelastende Tugendhaftigkeit der Königin enthalten sei.278
Wie in allen vorausgegangenen Romanen mit Gauvainqueste kommt es auch in der Crône zur Lähmung des Hofes (Stasis). Die Formulierung des Boten Jst iemen hie, die vor der versammelten Tafelrunde ausgesprochen wird, ist das gattungstypische Signal für den freilich an dieser Stelle grundsätzlich unterdrückten oder verzögerten Einsatz der Gaweinfigur. So etwa hatte Méléagant in der Charrette gefordert: Rois, s’a ta cort chevalier a nes un an cui tu te fïasses... [V.70f.] (›König, wenn du an deinem Hof auch nur einen Ritter hast, dem du so sehr vertraust...‹). Im Conte du Graal lautete die Herausforderung des Roten Ritters, dass der König sa terre [...] me rende, ou il envoit qui la 276 277 278
Gutwald: Schwank, 2000, S. 158. S. Anm. 276. S. Anm. 276, S. 161.
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desfende vers moi [V.891ff.] (›mir sein Land übergibt, oder dass er denjenigen schickt, der es gegen mich verteidigen will‹). Selbst im nachklassischen Roman van Walewein, wo der agent provocateur keine Person, sondern eine magisches Objekt ist, konkretisierte sich die Herausforderung in dem Aufruf des Königs: Wie so wille goet rudder in mijn hof betalen, hi sal mi dit scaecspel halen of wine ghecrighen nemmermere ... ere [V.80–84] (›Derjenige, der an meinem Hof als edler Ritter bezeichnet werden will, der soll mir das Schachspiel holen, oder es wird uns [...] nie mehr Ehre zuteil werden‹). In der Rückschau wird klar, dass diese Aufrufe der Gaweinfigur gelten, denn sie verhallen ja nicht nur in Romanen mit einem anderen Protagonisten (etwa Lancelot oder Perceval) ohne Reaktion, sondern eben auch in jenen, wo die Gauvainfigur selber als Protagonist aufgestellt ist, weshalb es dort wirklich keinen Grund mehr für die Annahme geben kann, dass ein anderer als Gauvain, Gawein oder Walewein mit dieser Forderung angesprochen wird. Die gattungskonstante Forderung des Provokateurs nach dem ›Besten‹, also jenem ›Einen‹, der die Aufgabe allein lösen kann, zielt immer auf die Gaweinfigur, die durch das semantische Feld stereotyp als derjenige herausgehoben ist, der Seinesgleichen nicht hat. So legt es auch Heinrich dem Pförtner von Assiles in den Mund: Ervüret ir di werlt gar, ir vundet deheinen riter niht, als all div werlt giht, der sich Gawein geleich [V.6096–99] (›Selbst wenn Ihr die ganze Welt absuchen würdet, fändet ihr keinen Ritter, wie Euch alle Welt versichern wird, der Gawein ebenbürtig ist‹). Obwohl aber die Gaweinfigur stereotyp als jener ›Eine‹ markiert wird, ist gerade er es nie – weder in den klassischen, noch in den nachklassischen Versromanen, die hier untersucht wurden – der rechtzeitig auf diese Herausforderung reagiert (Inertia). Heinrich geht sogar so weit, Artus auf dem späteren Hoftag in Karidol eine Kritik an der Gaweinfigur in den Mund zu legen, die sich daran entzündet, dass er noch immer nicht zum Hof zurückgekehrt ist, weshalb er seiner vasallitischen Verpflichtung zu helfe unde rat nicht nachkommen kann [V.10138–41]. In der Beratungsszene entsteht Unmut unter den wartenden Fürsten [V.10126–33]. Gaweins fortwährendes Ausbleiben selbst noch am Ende des ersten Handlungskreises überfordert offenbar sogar die Geduld der literarischen Figuren. Zu diesem Zeitpunkt sieht es danach aus, dass Artus seine Problem allein lösen muss. Deshalb rügt er Gawein nicht nur dafür, dass er seiner Verpflichtung zu helfe unde rat nicht nachkommen kann, sondern auch dafür, dass er sich überhaupt heimlich mit der Ritterschaft davongestohlen hatte [V.10165–68]. Die wiederholte Kritik von Artus an der Gaweinfigur ist auffällig unter den bisher betrachteten Versromanen. Sie ist eines der Beispiele dafür, dass Heinrich ein Vergnügen daran hat, genretypische Bewegungsmuster der Figuren in der Figurenrede selbst zur Sprache zu bringen, worauf noch zurückzukommen ist.279 279
So sah es auch Meyer: Weg des Individuums, 2001, vgl. S. 543, der zu einer Bemerkung
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Gattungskonform ist es also auch in der Initialkrise nicht Gawein, der die Ehrenrettung der Hofgesellschaft unternehmen wird, nachdem in der Tat alle (außer Artus selbst) bei der Becherprobe ihr Gesicht verloren haben. Vielmehr beansprucht diese Aufgabe – getreu der narrativen Grammatik Chrétiens – zuerst Keie. Der kann nicht nur mit seinem Spott die Krise hochkochen, sondern versucht anschließend auch die Ehrenrettung der Hofgesellschaft durch einen tjost mit dem Provokateur zu erreichen. Denn nachdem der Becher dem König längst geschenkt wurde [V.2595], obwohl der gesamte Hof mit Schande beladen und also die erste Bedingung des Boten gar nicht erfüllt ist, erinnert Keie den Boten an die zweite von ihm bedungene Möglichkeit des Bechergewinns: Mein herren ir e batet [...] daz iv von seiner werdecheit [...] ouch geviel daz ze lone, so reich aventivre, daz iv hie tiostiure iht verzigen wurde [V.2692– 2700] (›Ihr habt meinen Herrn vorher darum gebeten, dass er Euch in seiner Herrlichkeit ein so großes Geschehen zuteil werden lasse, dass Euch hier ein Lanzenkampf nicht vorenthalten werde‹). Die Absicht enthüllt Keies Funktion eines Sachwalters der Interessen des Hofes, die er schon bei Chrétien innehatte und die ihn, kombiniert mit seiner provokanten Art, zu eben jener schillernden Figur macht, die den deutschen Autoren zunächst solches Kopfzerbrechen bereitete. Heinrich gelingt in dieser Szene der Entwurf einer Figur, die eng am altfranzösischen Modell des doppelgesichtigen Seneschall orientiert ist. Einerseits macht der Erzähler aus den Motiven der Keiefigur bei der Forderung des Zweikampfs keinen Hehl. Es gehe ihm darum, wie er seinen vnpreis vnd sein schande hier an erwande [V.2634] (›wie er seine Schmähung und Schande auswetzen könnte‹ ). Das wäre aus oberflächlicher Sicht die personale Motivation der Figur. Aber der weitere Verlauf lässt noch eine zweite Dimension erkennen, dass nämlich Keie (genau wie Chrétiens Keu z.B. in der Charrette) auch gegen den Ehrverlust der Hofgesellschaft in Aktion kommt. Selbst wenn man ihn dabei für seine scharfe Zunge oder sein unangemessenes Auftreten rügt, wie es König Artus tut [u. a. V.2716–19], so bleibt gleichwohl die Tatsache bestehen, dass eben niemand anders außer Keie in solchen Situationen auf die Krise reagiert. Als Ehrenrettung der Hofgesellschaft muss dieser Lanzenkampf aber schon deshalb gewertet werden, weil die Bechergabe ohne die Erfüllung der Bedingung stattgefunden hatte, dass am Hof jemand daraus tränke, ohne sich zu besudeln. Die Bechergabe war also eine ›Dreingabe‹ auf den vollständigen Ehrverlust der Hofgesellschaft. Diese Logik scheint Keie umkehren zu wollen, wenn er sagt: Mir ist sam, der des engalt, des er nie genoz [V.2758f.] (›Ich komme mir vor wie jemand, der für etwas bezahlt hat, was er nie bekam‹). In dieser Formulierung klingt die Tatsache an, dass Keie den Verlust seiner Ehre einGaweins an anderer Stelle ausführte: »Hier tritt das Bewußtsein [...] des Charakters seiner gattungsmäßigen Bedingtheit als immer siegreicher Held beinahe an die Textoberfläche.«
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stecken musste, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, sie zu verteidigen. Keie hat also durchaus recht, wenn er in Replik auf die Kritik des Königs, der den geforderten Lanzenkampf verhindern will, die beschämt schweigende, passive Hofgesellschaft wissen lässt: Swer mich so vntivret, der nem bei mir bilde vnd werd der schanden wilde vnd zieh sich nah dem besten lobe [V.2772–75] (›Wer mich so herabwürdigt, der sollte sich lieber ein Beispiel an mir nehmen, sich gegen die Schande auflehnen und nach Ehre streben‹). Das Gegenargument des Königs Artus, wenn jeder einzelne am Hof auf diese Weise seine Ehre wiedererkämpfen wolle, könne es zu einem Massenstechen kommen, das in einem Jahr noch nicht beendet sei [V.2728–36], verfängt schon deshalb nicht, weil die Möglichkeit des Lanzenkampfs mit dem ›Einen‹ (Sachwalter der Interessen des Hofes) zuvor ausdrücklich vom Boten in dem geforderten don mitformuliert worden war. Weder eine Verletzung des Gastrechts ließe sich also aus der Zweikampfforderungen konstruieren, noch eine Verletzung der höfischen zuht, wie Gutwald meint,280 denn der Bote erscheint am Hof eben in der Funktion des Provokateurs, was die Möglichkeit der âventiure und des Kampfes beinhaltet. Keie kann mit Recht beanspruchen, in der Rolle des Kämpfers stellvertretend für den Hof anzutreten. Artus mag dies durchschaut haben, denn er bemerkt wohl nicht von ungefähr über den von Keie verlangten Lanzenkampf: Swie wol ir ivch da erwert – des bin ich vür ivch vro... [V.2741f.] (›Auch wenn ihr Euch erfolgreich schlagen solltet, was mich für Euch freuen würde...‹). Wie üblich endet Keies Intervention als ›falscher‹ der beiden Sachwalter des Hofes trotzdem in gattungstypischer Weise mit seiner Bestrafung durch Abwurf vom Pferd [V.3030f.], wobei Heinrich darauf achtet, die Publikumserwartungen nicht zu enttäuschen. Wenn der Keie Hartmanns in der Episode der Ginoverentführung schon wie ein Dieb am Baum gehangen hatte, und dem Keie Wolframs sogar der Arm gebrochen wurde, so kann diese Racheerwartung des höfischen Publikums in den Crône noch einmal überboten werden. Heinrichs Keie fällt zunächst in den Graben wo er sam ein tot man [V.3040] im Dreck liegen bleibt. Als er zu sich gekommen ist und versucht, durch eine Pforte in der Burgmauer zu entkommen, wird er am Helm aufgegriffen und von seinem Gegner auf dem Pferd wie eine herabbaumelnde Last mitgeschleift [V.3071f.]. Diese Behandlung ist eine Tortur für den gepanzerten Mann: Er wand des leibes werden vrei vonem valle und von würgen [V.3065f.]. (›Er glaubte, durch das Fallen und Würgen sein Leben zu verlieren‹). Erst auf Ginovers Intervention lässt der hässliche Bote von ihm ab. Heinrich hat keine Hartmann’schen Skrupel, die Widersprüchlichkeit der Keiefigur voll auszuspielen. Obwohl der Hofakteur mit seinem Ansinnen, die Ehre der Hofgesellschaft durch das Lanzenstoßen zu retten, eigentlich ein gemeinschaftliches Interesse verfolgt, kann er weder auf Sympathie des innerli280
Gutwald: Schwank, 2000, S. 188.
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terarischen Publikums am Artushof noch auf die des außerliterarischen Hörerpublikums rechnen. Immerhin war er es ja, der die Damen und Herren der Artusgesellschaft in der Becherprobe nach jedem neuen, peinlichen Scheitern erbarmungslos vorgeführt und in ihren Verfehlungen entlarvt hatte. Kein Wunder also, dass nun die rachedurstigen Blicke aller auf seine öffentliche Niederlage und Demütigung gerichtet sind. Wie oben schon angedeutet wurde, imitiert die Crône in ihrem ersten Handlungsteil Thematik und Muster der Charrette, wo die Keufigur bekanntlich nicht von dem Protagonisten (Lancelot), sondern vom Provokateur (Méléagant) bestraft wurde. Erst daran schloss sich dort der Einsatz des Protagonisten an. In der Charrette ruft das Ausscheiden Keus bekanntlich beide, den Protagonisten von außerhalb und Gauvain von innerhalb der Hofgesellschaft auf den Plan, die dann zeitlich synchron intervenieren. Heinrich hat sich an dieses Schema gehalten. Er hat es jedoch erst nach dem zweiten Umlauf des narrativen Schwungrades realisiert. III.4.2.1.2 Zweiter Anlauf des Schwungrads (Ginovers Untreue) Der Grund dafür, dass es einen zweiten Anlauf des narrativen Schwungrades gibt, besteht darin, dass durch die Provokation der Becherprobe in der Initialkrise zwar eine interne Defizienz der Hofgesellschaft bloßgelegt wurde, dass aber kein unmittelbarer Zwang zum Handlungseinsatz aus dieser Provokation erwuchs. Das Motiv der Ginoverentführung hat Heinrich (noch) nicht realisiert. Er hat lediglich das pikante Detail ihre Untreue öffentlich gemacht. Die gesamte Initialkrise bis zur Abreise des Boten und dem Wiedereinsatz der höfischen Freude [V.3192] bleibt daher handlungstechnisch gesehen ein Leerlauf, der einstweilen keine Dynamik über sich selbst hinaus generiert. Die Erzählung muss erneut ansetzen, eine solche Spannung erst herzustellen. Daher findet im Anschluss an Keies erste Bestrafung durch den hässlichen Boten zunächst gar keine Intervention weder der Gaweinfigur noch eines anderen Protagonisten statt. Peter Kern dagegen sah die Becherprobe als »isoliert, funktionslos«, denn sie sei »nicht auf den linearen Fortgang der Handlung, sehr wohl aber reflexiv auf die Gattungstradition gerichtet.«281 (Ähnlich Peter Stein, der davon spricht, dass beide Tugendproben für den epischen Zusammenhang »entbehrlich« seien.282) Kerns Untersuchung bringt Keies Rolle des »Literaturkritikers« ans Licht, »der vor einem kundigen Publikum die Wortführerschaft im Diskurs über die literarische Tradi-
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Peter Kern: ›Bewußtmachen von Artusromankonventionen in der Crône Heinrichs von dem Türlin‹, in: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von F. Wolfzettel. Tübingen 1999, S,199–218, S. 201. Stein: Integration, 2000, S. 48.
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tion« übernimmt.283 Die vorausgegangenen Betrachtungen wollten dagegen plausible machen, dass – unbeschadet der Erkenntnisse Kerns – durchaus eine narrative Funktion der Becherprobe besteht, und zwar in der Entblößung einer Defizienz im höfischen Geschlechterverhältnis als ›Krise einer Hofgesellschaft‹, wo Ehe, Minne (fin amor) und staete nicht in ein harmonisches Verhältnis gebracht sind. Gemäß dem Muster Chrétiens ist damit zu rechnen, dass die Gaweinfigur genau auf diesen ›Kriseninhalt‹ reagieren wird. Der handlungstechnische Sinn der Becherprobe ist die Vorgabe des Kriseninhalts und insbesondere die Vorgabe des Bezugs zur Gaweinfigur, die während der Probe selbst versagt.
Der zweite Anlauf zur Erzeugung von Handlungsdynamik beginnt notwendigerweise wieder mit einer Provokation, freilich diesmal einer von innen, die – da sind beide Durchläufe durch das Muster aufeinander bezogen – erneut die Treue der Königin, die Minnethematik und das höfische Geschlechterverhältnisses zum Gegenstand hat. Es ist überraschender Weise Ginover selber, die die Rolle des Provokateurs übernimmt. »Daß sie dabei Keies Funktion übernimmt, wird auch in ihrem Redegestus deutlich.«284 Der erstaunliche Funktionstransfer bleibt nicht nur auf die Königin beschränkt, sondern vollzieht sich auch an der Artusfigur, die mit ihrer Schelte Keies während der Initialkrise »die sonst üblichen Funktionen Keies übernimmt«, womit zunächst eine Indikation dafür gegeben ist, »daß das Sprechen Keies verfügbar geworden ist.«285 Solche ›Transgressionen‹ der gattungstypischen Verhaltensmuster der Königin, des Königs, Keies oder Gaweins sind ein auffälliges Merkmal der Erzählstrategie Heinrichs, welches sich wie schon erwähnt, sogar in der Figurenrede äußert, indem Heinrich die Figuren selbst merhfach über ihre Rollen und Bewegungsgrenzen miteinander sprechen lässt. Auch beim zweiten Anlauf des Schwungrades werden die wesentlichen Elemente des vorgenannten Musters durchlaufen: Gawein ist während dieser Krisensituation wiederum ausgeblendet (Inertia), denn er war heimlich zu einem Turnier aufgebrochen und hatte fast die gesamte Ritterschaft mitgenommen [V.3259ff.]. Als Artus frierend von einer Jagd im Winterwald heimkehrt und sich am Feuer wärmt, wirft Ginover ihm vor, er sei kälteempfindlicher als ein weip [V.3373–84] und provoziert ihn mit der Mitteilung über einen ihr bekannten Ritter, der bei klirrender Kälte im weißen Hemd Lieder für seine amyen sänge. Dieser von Ginover in »einer begeisterten Lobrede« beschriebene Gasozein »ist mit allen Merkmalen des mythischen Sommerkönigs ausgestattet«, wobei weitere Indizien nahe legen, dass es sich um einen »Feenkönig« handelt,286 von dem der Ritter Gales gern wüsste ob ez got wær oder troges
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Kern: Bewußtmachen, 1999, S. 200. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 94. Baisch: Welt ir: er vervellet, 2003, S. 165. Rosemary E. Wallbank: ›Heinrichs von dem Türlîn »Crône« und die irische Sage von Etain und Mider‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St.
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bilde [V.3565f.] (›ob es sich um einen Gott oder ein Truggebilde handelt‹). Die »überirdische Erscheinung« dieses Ritters, der in einem von »Situationskomik« geprägten Kontrast zur fröstelnden Figur des sonst so meienbære Königs Artus steht,287 ist zunächst als »Personifikation von Sommer und Minnesang« aufzufassen,288 eine allegorische Komponente der Figur, die dem späteren Prozess der ›Depotenzierung‹ und Einbindung Gasozeins in die Tafelrunde durch Gaweins Sieg eine zusätzliche Bedeutung verleiht. Der betrübte Artus bespricht die provokanten Anspielungen Ginovers auf ein Verhältnis zwischen ihr und diesem Gasozein mit Keie und zwei weiteren, am Hof verbliebenen Rittern. Mustergetreu tut sich Keie erneut durch sarkastisches (hier auf die Unzuverlässigkeit von Frauen gezieltes) Reden hervor, wodurch er dem Verdacht des Königs Nahrung gibt. Artus, der nach außen hin den Sarkasmus Keies als ein alter site, Her Key, an iv [V.3512f.] (›eine alte Gewohnheit von Euch, Herr Keie‹) abtut, fühlt sich insgeheim tief getroffen [V.3492–95] und lässt sich von den weniger provozierend auftretenden Rittern Aumagwin und Gales dazu überreden, dem Ritter nachzustellen, um der Sache auf den Grund zu gehen. In der anschließenden, kämpferischen Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Urheber der Provokation, jenem Ritter Gasozein, wird Keie erneut nach klassischem Muster provozieren [V.3840] und anschließend beim Lanzenstechen durch Abwurf vom Pferd bestraft werden [V.3997f.]. Zu Heinrichs Tendenz, narrative Muster, Motivzitate und Figurenanzahlen auszuweiten (oftmals indem er aus verschiedenen Quellen zugleich zu schöpfen scheint) passt nicht nur, dass die Stationen des narrativen Schwungrads mehrfach durchlaufen werden, sondern auch, dass in der Episode der zweiten Bestrafung Keies die Zahl der Figuren gesteigert ist. Neben Keie werden auch Aumagwin und Gales beide noch dem kälteunempfindlichen Minnesänger begegnen und dabei ihrer Pferde verlustig gehen. Dann erst kommt es zu dem längst erwarteten, nächsten Element des narrativen Schwungrads, der Intervention des Protagonisten, denn nun trifft Gasozein auf König Artus, dem es als einzigem gelingt, den fremden Ritter zur Identifikation zu bewegen. In dem Moment, wo Artus als ›Protagonist‹ in die Handlung eingreift, entsteht ein Teil jener Handlungsdynamik, die bis zum Ende des Streits um Ginover die Geschehnisse zeitweilig sogar in Form einer Fristsetzung antreiben wird, denn in dem Gespräch beanspruchen Gasozein und Artus beide die Königin. Sie verabreden sich, ihren Anspruch in einem Zweikampf nach Ablauf einer Frist von vierzig Tagen auszukämpfen.
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Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 251–268, S. 258. Gürttler: Artûs der guote, 1976, S. 203 sieht Artus auf die »Stufe einer Schwankfigur herabsinken«; Stein: Integration, 2000, S. 262 spricht von einer »Inferiorität« der Figur, die in der Artusepik »beispiellos« sei. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 94.
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III.4.2.2 Die Queste in der Crône: erster Handlungskreis Man könnte mit einigem Recht sagen, in der Crône träten alle Figuren des arthurischen Kernpersonals als Protagonisten auf, worauf die Forschung übrigens bereits aufmerksam gemacht hat. Sogar für Königin Ginover machte Bleumer geltend, dass sie die Endhandlung des Entführungsgeschehens »durch ihre Entscheidungen [...] am ehesten beeinflußt«,289 was sich u. a. in der spöttischen Rede Keies niederschlage, dass min frauw [...] blosz one sarwat zwen ritter hat bezwungen, weshalb Keie sogar ihre Aufnahme in die Tafelrunde fordert. Während freilich die ›Protagonistenrolle‹ der Königin nur in solchen ironischen Vergleichsmomenten aufscheint, erhalten Keie, Artus und allen voran Gawein mehr oder weniger umfängliche Questehandlungen. Deshalb werden in den anschließenden Betrachtungen verschiedene Figuren in der Protagonistenrolle zu erörtern sein. Die Besprechung des ersten Handlungskreises soll zum einen die Abhängigkeit des Figurenhandelns zur Defizienz der Hofgesellschaft aufdecken, besonders den typischen Motivationszusammenhang, der Gawein zur Rektifikationsleistung antreibt (Mitverantwortung). Zum anderen soll sie die Transgressionen der Figuren erklären helfen, die auf den ersten Blick nicht in das arthurische Erzählen zu passen scheinen. III.4.2.2.1 ›Protagonist‹ Artus In einer Umkehrung des Musters, nach welchem Charrette und Chevalier au Lion parallelisiert sind, inszeniert Heinrich die Situation, dass Gawein nicht ›da‹ ist, wenn es darauf ankäme, die Ehre der Königin zu retten, weil er zunächst einmal zu einem Turnier unterwegs ist. (Später wird er immer noch ausbleiben, freilich mit der triftigeren Begründung, den König Floys vor den ihn bedrängenden Riesen zu retten.) So ist es anfangs der König selbst, der als ›Protagonist‹ auftritt, und daher gelten zunächst ihm die folgenden Betrachtungen. Es gibt mehrere Indizien für diesen in den klassischen Versromanen beispiellosen Vorgang. Heinrich kündigt schon im Prolog an, von des Königs tugent anegang und seinen kinttagen [V.169f.] erzählen zu wollen. Schon die Ankündigung ist untypisch. Gleichgültig ob man sie mit den wenigen Einlassungen Heinrichs zu Artus’ Kindheit erfüllt sieht oder nicht, sie ist jedenfalls ein Signal dafür, dass die Figur des Königs in diesem Roman anders behandelt wird als man es aufgrund der Tradition erwarten könnte. Meyer diagnostiziert diese untypische Funktionalisierung am zeitweiligen Wechsel in die »Innenperspektive des Königs [...]«, »denn dieses Stilmittel wird in der Crône nur selten und bei zumindest episodenweise zentralen Figuren angewendet.«290 Es gibt allerdings keine Anhaltspunkte für eine veränderte 289 290
Bleumer: Crône, 1997, S. 40. Meyer: Weg des Individuums, 2001, S. 540.
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Fokalisierung. Nach wie vor hält der auktoriale Erzähler souverän die Fäden in der Hand, inszeniert und lenkt emotionale Äußerungen und Gebärden der Figuren. Meyer kann sich bei der seiner Bewertung der Artusfigur also nicht auf eine wirklich Innensicht des Königs ›als Ich‹ stützen, sondern auf die dem König, sei es als Monolog, sei es als Geste oder Kommentar, zugeschriebenen Empfindungen. Schock oder tiefe Betrübnis sind solche Zuschreibungen, die bereits von Chrétien mehrfach an der Artusfigur vorexerziert wurden. Im Endgeschehen des Conte du Graal wird man sogar Zeuge des unerhörten Ereignisses, dass der König in tiefer Verzweiflung über Gauvains vermeintlichen Tod in Ohnmacht fällt. Weil er ne de son neveu ne voit mie, so heißt es [il] chiet pasmez de la destrece [V.9222f.] (›seinen Neffen [dort] nicht erblickt ... fiel er vor Verzweiflung in Ohnmacht‹). Wenn Heinrichs König Artus nach Ginovers Provokation in der Crône sich nider geneich vnd erchom von dem wort [V.3429f.] (›erschrocken von dem Wort einknickt‹), ist das nicht »Tiefpunkt seiner literarischen Karriere«,291 sondern diese typische Reaktion der tiefen Erschütterung der Königsfigur passt zur Maske des penser, das ihr gattungsgetreu in jeder Initialkrise angeschminkt wird. Heinrichs Artusfigur charakterisiert sich nicht durch eine grundlegend veränderte, psychologische Qualität. Der eklatante Bruch mit der präformierten Rolle des Königs vollzieht sich aber dennoch, und zwar spätestens in der Auseinandersetzung mit Gasozein, wo Artus tatsächlich sein Leben im Zweikampf auf’s Spiel setzt. Sollte es sich dabei um ein ironisches Spiel Heinrichs mit den Artusromankonventionen handeln, »indem das Typische am Gegenbild des Untypischen deutlich wird.«292 Das hieße dann freilich ein erhebliches erzählerisches Risiko eingehen, denn bei der Neigung mittelalterlicher Autoren, kritisch auf einander zu reagieren (Gottfried, Wolfram), könnte man den eigenen Text bei allzu groben Regelverstößen sowohl in den Augen der schreibenden Zunft als in denen des Publikums leicht aus der Gattungstradition herausschreiben. Die Figur des Königs ist selbstverständlich ein neuralgischer Punkt in der Gattung, die sowohl durch gattungsimmanente Konventionen wie allgemein lebensweltliche Vorstellungen in der Erwartung der Rezipienten vordefiniert war. Das Prinzip des rex non pugnat der arthurischen Versromane entspricht ja nicht nur den politischen Interessen der mächtigen französischen Barone und Auftraggeber Chrétiens, sondern ist wohl eine höfische Idealisierung der Rolle des Königs, die z.B. auch auf dem Schachbrett zum Ausdruck kommt. König Alfonso el Sabio formulierte das in seinem berühmten Schachzabelbuch mit den Worten: »So wie der König sich in der Schlacht nicht hinreißen lassen darf, sondern bedächtig vorrücken muß, um feindliches Terrain zu gewinnen und den Sieg zu erstreben – so soll der Schachkönig nur von einem Feld zum anderen in gerader Richtung ziehen 291 292
S. Anm. 290, S. 541. Kern: Bewußtmachen von Artusromankonventionen, 1999, S. 214.
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oder schräg, wie einer der sich nach allen Seiten umsieht und überlegt, was er tun soll.«293 Gegen die Argumentation Gürttlers, die im später abgebrochenen Zweikampf zwischen Artus und Gasozein den Reflex auf eine »Umstilisierung zum König als Ritter« nach dem rex miles Ideal und damit einen Widerspruch mit der übrigen Königsrolle etwa im Prolog in der Crône erblickte,294 hat Rüdiger Schnell u. a. geltend gemacht, dass weniger die sozialgeschichtlichen Parallelen oder juristischen Argumente an sich, sondern die Erzählabsichten Heinrichs in dieser Szene zu beachten sind, die übrigens jenen historischen Wandlungsprozessen der Rolle des Königs nicht entsprächen.295 Auch Bleumer bezieht sich lieber auf den konkreten Text, wenn er unter Hinweis auf die »ständigen Sprünge in der Argumentation« und das »sprunghaft[e]« Handeln Gasozeins die von Jillings aufgeworfene These einer grundsätzliche Kritik am ritterlichen Leben zurückweist.296
So ungewöhnlich diese Szene auch ist, dennoch scheint sie eine allmählich sich in die Gattung der Versromane einschleichende Tendenz darzustellen, denn bereits im Parzival Wolframs von Eschenbach ist der Vorgang der persönlichen Kampfteilnahme des Königs mit allen Risiken schon einmal realisiert. Dort nimmt Artus eigenhändig im Kampf Gegner gefangen, die sich ihm und seinem Heer auf dem Weg durch Orgeluses Reich in den Weg stellen [vgl. Parz. 665,11f.]. Bei der Betrachtung der Initialkrise des Roman van Walewein war ebenfalls bereits beobachtet worden, dass die Autoren sich sehr weit vorgewagt hatten, indem sie der Artusfigur die Drohung einer persönlich unternommenen Queste in den Mund legten (vgl. Abschnitt III. 4.1.1). Dort hatte die Drohung freilich nur deshalb einen Sinn, weil die Kampfteilnahme des Königs mit den Gattungskonventionen absolut unvereinbar war. Heinrich setzt wie schon Wolfram und die Autoren des Roman van Walewein an dieser neuralgischen Stelle der Artusliteratur, der prekären Position des schwachen Königs an (vgl. Kap. II. 3), geht aber einen Schritt weiter. Vollzieht er damit wirklich den entscheidenden Schritt zur Umgestaltung der Königsfigur und sprengt gar die Gattungsgrenze? Grubmüller scheint diese Frage zu bejahen. Er sieht in der persönlichen Kampfteilnahme des Königs eine Erzählstrategie, die Artus vor der Lächer-
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Arnald Steiger: Alfonso El Sabio: Libros des Acedrex, Dados e Tablas. Das Schachzabelbuch König Alfons des Weisen nach der Hanschrift J.T.6 Fol. des Escorial mit Glossar und grammatischem Abriß herausgegeben und übersetzt. Romanica Helvetica, Vol. 10. Genf 1941, vgl. S. 16/17. Gürttler: Artûs der guote, 1976, S 206. Rüdiger Schnell: ›Recht und Dichtung. Zum Gerichtlichen Zweikampf in der »Crône« Heinrichs von dem Türlîn‹, in: Die mittelalterliche Literatur in Kärnten. Vorträge des Symposions in St. Georgen, Längensee vom 8. bis 13.09.1980. Hrsg. von Peter Krämer. Wiener Arbeiten zur germanischen Altertumskunde und Philologie, Nr 16. Wien 1981, S. 217–229, S. 218 f., vgl. auch Anm. 5. Bleumer: Crône, 1997, S. 36.
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lichkeit bewahren soll, in welche er in der postklassischen Literatur durch die »Diskrepanz zwischen [...] Würde [...] und Banalität seines Handelns« zu verfallen drohe. Deswegen würden nun auch »Bewährungsproben für Artus selbst« geschaffen, »so daß dem Herrscher wieder eine ihm gemäße Position in der Geschichte eingeräumt« werden könne.297 In seiner Interpretation der Crône gelangt Grubmüller dann zu der Feststellung, »Artus, Instanz bei Hartmann, ist selbst Person geworden; auf ihn greift [...] gegen seine strukturelle Rolle, vielleicht gegen seine ideologische Funktion, der Prozeß über, der an den Rittern seines Hofes in Gang gesetzt wird [...]. Der literarische Prozeß der Ethisierung und Personalisierung von Verhaltensnormen holt den Herrscher ein.«298 In eine ähnliche Richtung dachte Matthias Meyer, der Artus in der Crône »Biographiefähigkeit«, das sind »Erzählmöglichkeiten, die Artus als Person involvieren«, bescheinigt.299 Meyer verficht die These einer anfänglichen »Dekonstruktion« des Artushofes in der Crône, der dann die »Neukonstruktion« eines krisensicheren Artusreiches folge.300 Dies geschehe durch »die Leistung der literarisch präexistenten Trias im Kern dieser Welt«,301 also durch die Figuren Artus, Ginover und Gawein. Es sind nach Meyer die Figuren selbst, die der Neukonzeption unterzogen und an denen die in der literarischen Tradition bezeugten Schwachstellen korrigiert würden. Was er an Gawein aufzeigen will, Selbstverlust zum Zweck der Neukonstruktion der literarischen Figur, bescheinigt Meyer auch dem König, der in der Gasozein-Episode, wo er nicht erkannt wird, »selbst an seiner Einzigartigkeit zu zweifeln« beginne.302 Stein widersprach beiden Darstellungen. Meyer hält er entgegen, dass die »gewaltsame und unglaubwürdige Lösung« des Ginover-Gasozein-Komplexes wohl kaum ein Beweis für eine »souveräne und endgültige Stabilisierung einer gefährdeten Harmonie« gewertet werden könne.303 Mit der Gewalttätigkeit und Unglaubwürdigkeit dieser Lösung meint er die »Ungeheuerlichkeit der eiligen Rehabilitierung und epischen ›Weiterverwendung‹ des Beinahe-Vergewaltigers Gasozein.«304 Diese ›Ungeheuerlichkeit‹ ist natürlich ein literarisches Motiv, nicht etwa eine Verschwörung »to maintain peace among men.«305 Die Artusliteratur arbeitet oft mit Szenen wie der, dass einem Ritter Yvain die Witwe desjenigen die Ehe versprechen kann, deren lieben Gatten er soeben ohne Not ermordet hat. Die Integration des Beinahe-Vergewaltigers Gasozein in den 297 298 299 300 301 302 303 304 305
Grubmüller: Artusroman und sein König, 1991, S. 12. S. Anm. 297, S. 15. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 71. S. Anm. 299, S. 76f.. S. Anm. 299, S. 112. S. Anm. 299, S. 98. Stein: Integration, 2001, S. 263. S. Anm. 303, S. 232. Susann Samples: ›The Rape of Ginover in Heinrich von dem Türlin’s Diu Crône‹, in: Arthurian Romances and Gender. Hrsg. von F. Wolfzettel. Amsterdam 1995, S. 196–205, S. 204.
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Artushof ist nicht dramatischer als die des Beinahe-Massenmörders Clamide, des Belagerers von Pelrapeire, in den Artushof bei Wolfram von Eschenbach. Es sieht also nicht danach aus, dass nach der Integration Gasozeins im ersten Handlungsteil der Crône ein neuartig konzipiertes, von Schwachstellen gereinigtes Artusreich entstanden sei. Nach wie vor dürfen und müssen ja solche Figuren wie Gasozein an der Tafelrunde Platz nehmen und mit Gawein eine Sippe bilden. Wie steht es, wenn schon Zweifel an der Neukonzeption des Hofes erlaubt sind, um die Neukonzeption der Artusfigur selber. Stein macht auf eine Textstelle in der Crône aufmerksam, die Meyers These relativiert. Gemeint ist der Moment, wo sich Artus gemeinsam mit Gawein auf die âventiure der Gralsuche begeben will [V.25784–807], worauf augenblicklich Unmut unter der Hofgesellschaft ausbricht [V.25808–812] und Gawein den König in seine Schranken weist. Anstatt wie ein scheuelir errand [V.25837] durch die Länder zu streifen, solle der König, der für den Hof unentbehrlich sei, lieber die dazu geeigneteren Ritter solcher arbeit pflegen [V.25855] lassen. Eine Neukonzeption der Figur ist damit spätestens zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gegeben, denn alles ist wieder beim alten. Der König ist statisch und bleibt daheim. Statt seiner hat die Ritterschaft sich auf âventiure zu begeben. Jillings erblickte in der Zurückweisung des königlichen Ansinnens durch den Hof und Gawein einen Versuch »to reinforce the primacy of Gawein as champion of chivalry and valued member of the court.«306 Meyer interpretiert das Angebot des Königs als eine von Artus selbst vollzogenen Gleichsetzung seines Schicksals mit dem Gaweins,307 womit er dem Hinweis von Jillings folgt, dass »Gawein’s career [...] not so much individual als directly representational« sei.308 Mit Gaweins Schicksal stehe oder falle auch das der gesamten Hofgesellschaft und damit des Königs. Wie man es auch wendet, fest steht, dass die im ersten Romanteil gattungswidrig als scheuelir errand aufgestellte Artusfigur im zweiten Teil eben genau das nicht mehr sein darf. Paradoxerweise ist Bleumer Recht zu geben, dass die Protagonistenrolle von Artus ein »literarisch nicht zu realisierendes Zeichen« sei,309 obwohl es im ersten Teil dennoch realisiert wurde. So muss man sich der Beurteilung Peter Steins anschließen, dass man es mit einem »Rollenspiel« und einem »Spiel mit epischen Möglichkeiten« zu tun hat. Heinrich scheint sein höfisches Kernpersonal, selbst die Zentralfigur, mit der alles steht und fällt, bis an die Grenzen ihrer Instrumentalisierbarkeit auszutesten. Wenn dann die Gawein in den Mund gelegte Figurenrede über die gattungstypischen Bewegungsmöglichkeiten und -grenzen der Königsfigur »sämtliche Mitglieder
306 307 308 309
Jillings: Crône, 1980, S. 97. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 154. Jillings: Crône, 1980, S. 234. Bleumer: Crône, 1997, S. 169f..
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der Tafelrunde« überzeugen und »schließlich auch des küneges muot (V.25870)« umstimmen kann,310 so drückt sich darin derselbe Vorgang aus, den Meyer an anderer Stelle auch für die Gaweinfigur selber konstatiert hat: »Hier tritt ein Bewusstsein des Charakters seiner gattungsmäßigen Bedingtheit [...] beinahe an die Textoberfläche.«311 Nicht nur beinahe. Die Figuren Heinrichs erörtern in den ihnen in den Mund gelegten Worten ihre eigene, präformierte Rolle und verständigen sich über ihre gattungsbestimmte Funktion. Das ist die auffällige Fähigkeit der Figuren in Heinrichs Roman, über die unmittelbare narrative Ebene hinaus »dasselbe artusliterarische Vorwissen« aufzurufen, und also metaliterarisch kommunizieren zu können, wie ein »Erzähler mit seinem Publikum.«312 Soweit ist festzuhalten, dass die Königsfigur bei Heinrich gattungswidrig aus der Rolle fällt und später von den anderen Figuren wieder in ihre Schranken gewiesen wird. Dahinter verbirgt sich weder Psychologie noch eine Neukonzeption, sondern ein Spiel mit literarischen Möglichkeiten, das im Verlauf der weiteren Erörterungen noch genauer zu bestimmen ist. III.4.2.2.2 ›Protagonist‹ Gawein (Mitverantwortung und Rektifikationsleistung im ersten Handlungskomplex. Metaliterarische Alteritätserfahrung als Protagonist) Bevor in diesem Abschnitt der typische Motivationszusammenhang zwischen der Initialkrise und dem Handeln der Gaweinfigur auf der Queste aufgedeckt wird, sei im Kontext mit dem Vorigen schon auf eine signifikante Parallele zwischen der Rollentransgression Gaweins und der eben erörterten des Königs hingewiesen. Es ist weitgehend akzeptiert, dass Gawein, der durch einen Minnetrank Amurfinas den Verstand verliert, im Prozess seiner Identitätsrückfindung – ganz anders als Hartmanns Iwein – wieder genau derselbe wird, der er immer war und sein wird.313 Wallbank vertrat deshalb die Auffassung, dass sich in der Crône trotz unerhörter Vorgänge weder an der Artus- noch der Gawein-, der Keie- oder der Ginoverfigur wirklich je substantiell etwas ändert.314 Trotzdem gilt es, das Muster zu beachten, dass auch die Gaweinfigur ganz wie zuvor Artus hier erstmals in eine Situation gerät, die mit ihrem präformierten Charakter nicht vereinbar ist. Der präformierte Hofakteur kann sich nicht durch einen Läuterungsweg oder die Überwindung einer Krise bessern. Eine dauer-
310 311 312 313 314
Stein: Integration, 2000, S. 263. Meyer: Weg des Individuums, 2001, S. 543. Stein: Integration, 2000, S. 53f.. vgl. u. a. Ebenbauer: Gawein als Gatte, 1981, S. 38; Kern: Bewußtmachung von Artusromankonventionen, 1999, S. 211. Wallbank: Three Post-Classical Authors, 2000, S. 83.
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hafte Minnebindung oder Ehe ist für die Gaweinfigur nach den Typenkonstanten ohnehin ausgeschlossen. Heinrich erfindet aber nicht nur eine Minne- und Ehepartnerin für Gawein, sondern er bringt diesen ehemaligen Hofakteur in die Situation, dass er sich »wie Erec verligt und gleich Iwein wahnsinnig wird«, womit »die bekannten Verhältnisse« in der Tat »auf den Kopf« gestellt sind.315 Heinrich erweckt den Eindruck, der ehemalige Hofakteur Gawein sei selber ein Protagonist geworden, der nur noch an Minne denke und seine Identität dabei verliere. Nur ist dieser eklatante Rollentausch überraschend folgenlos. Es bleibt bei einem zweiwöchigen Intermezzo. Danach ist wieder alles beim Alten. Gawein schlüpft nicht dauerhaft »in die Rolle eines arthurischen Protagonisten vom Schlag Erecs oder Iweins. Deren Roman hatte jeweils aus dem Artushof hinausgeführt, zu Eheschließung und Landesherrschaft; Gawein dagegen bleibt dem Hof erhalten.«316 In dieser Folgenlosigkeit des ›Aus-der-Rolle-Fallens‹ Gaweins liegt die Parallele zur Artusfigur. Anders als die Erzählstrategie von Penninc und Pieter Vostaert im Roman van Walwein, wo die Waleweinfigur schrittweise in die Protagonistenrolle hinübergeleitet und möglichst geräuschlos auch wieder derselben entkleidet werden sollte, verfolgt Heinrich eine offensive Strategie. Er vollzieht an den neuralgischen Punkten des arthurischen Kernpersonals das nach der Gattungslogik Unmögliche und macht sein Publikum auf dieses Unternehmen aufmerksam. Gleichzeitig aber, dies mag zunächst paradox erscheinen, achtet Heinrich darauf, dass dieselben Figuren des Kernpersonals, insbesondere Gawein, genau dem Interaktionsmuster Chrétiens gehorchen, welches er in den klassischen Romanen vorgefunden hatte. Nach den Vorgaben des narrativen Schwungrades wäre mit einer rektifizierenden Handlungstendenz zu rechnen, die sich auf das interne Defizit der Hofgesellschaft während der Initialkrise beziehen müsste. Es wäre aber auch mit einer ›unbeabsichtigten‹ Mitverantwortung für die Krise zu rechnen, mittels welcher Chrétien den Artusneffen regelmäßig in die Problematik des Hofes verstrickte, und die in nicht wenigen Fällen in den altfranzösischen Romanen zu peinlichen Zwischenfällen oder burlesken Ausrutschern Gauvains führte. Nach diesen typischen Elementen wird nun gefahndet. Die reparierende Leistung Gaweins, die sich direkt auf die Defizienz in der Initialkrise der Hofgesellschaft bezieht, könnte man mit Meyer über die »strukturell poetologische Ebene zu geben versuchen. Während Gawein durch seine Heirat »fin’amors / Amurfina an den Artushof« binde,317 wodurch er »Aspekte von epischen Minnemodellen« integriere, stehe die Verheiratung und Einbin-
315 316 317
Bleumer: Crône, 1997, S. 100. Wyss: Heinrich von dem Türlin, 1993, S. 277. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 76.
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dung Gasozeins für »die Integration der lyrischen Modelle.«318 Man könnte bei den Depotenzierungen und Einverleibungen Amurfinas und Gasozeins aber auch an die Integration der jeweiligen Verkörperung des weiblichen bzw. des männlichen Eros denken, die beide einen gewalttätigen Aspekt an sich haben. (Auch die Liebesgeschichte zu Amurfina beginnt ja »zuerst als sinnloser Angriff von außen [...], der zu erdulden ist.«319) Es liegt nahe, dass diese Heiraten mit den vorbelasteten Figuren sowie deren Integration in die Artusgesellschaft auf ihre allegorische Komponente durchsichtig werden. Die Notwendigkeit der Integration dieser Allegorien ergab sich aus der Problematik, die in der Becherprobe (und erneut in der Mantelprobe) aufgeworfen wird. Sie bestand in der gefährdeten, moralischen Integrität der Hofgesellschaft, welche in der Crône (nicht anders als in den zuvor betrachteten acht Versromanen) vor allem als eine Folge der Brisanz des Geschlechterverhältnisses erzählt wird. »Waren Mätressen am Artushof erlaubt und außereheliche Verhältnisse normal?«320 Werner Schröder bezieht die peinlichen Ergebnisse beider Tugendproben in der Crône auf jene Kritik Wolframs am Artushof im Parzivalroman, der erklärt hatte: ich bræhte ungerne nu mîn wîp in alsô grôz gemenge [Parz. 216,28f.] (›Ich würde meine Frau nur ungern in ein derartiges Gedränge mitnehmen‹). Laut Schröder geht es »um die Frage, unter welchen Bedingungen eine Frau heimlich einen Geliebten haben darf, speziell eine verheiratete Frau.«321 Diese Problematik wird im ersten Handlungsstrang der Crône an dem bis zuletzt nicht schlüssig geklärten Verhältnis zwischen Gasozein und Ginover vorexerziert. Doch sie offenbart sich natürlich bereits während der Becherprobe, wo allein Artus offenbar noch nie in den Genuss eines Seitensprungs gekommen ist. Alle anderen Mitglieder des Hofes sind moralisch belastet und scheitern an der Becherprobe. Gawein bildet da keine Ausnahme. Cormeau befindet zwar, »nur ein einziges leichtsinniges Schwadronieren über Frauen« habe »seine Ehre mit einer Winzigkeit befleckt.«322 Im Sinne wohl der meisten Forschungsbeiträge rubriziert auch Zach den Vers unter das Stichwort sich rüemen: »Gawein hat einst an der Tafelrunde damit geprahlt, daß er die Gunst einer Dame genossen habe.«323 Gudrun Felder nennt als weiteres Indiz für ihre Wertung des Gawein-Versagens als »leichtes Kavaliersdelikt« das Ausbleiben der sonst üblichen Spottrede Keies, »wodurch Gaweins schande nicht vor der Hofgesellschaft vertieft wird.«324 Aber wenigstens der Erzähler tritt ja anstelle Keies in einen 318 319 320 321 322 323 324
S. Anm. 317, S. 111. S. Anm. 317, S. 85. Werner Schröder: ›Zur Literaturverarbeitung Heinrichs von dem Türlin in seinem Gaweinroman »Diu Crône«‹, in: ZfdA 121 (1992), S. 131–174, S. 142. S. Anm. 320, S. 143. Cormeau: Wigalois und Diu Crône, 1977, S. 144. Zach: Erzählmotive, 1990, S. 72. Gudrun Felder: Stellenkommentar zu Heinrich von dem Türlîn: Diu Crône. Berlin 2006, Kommentar zu V.1994–2069.
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sehr ausladenden Diskurs über Gaweins ›entschuldbare Schuld‹, die diese eben doch zumindest vor dem außerliterarischen Publikum vertieft. Und obwohl er sich scheinbar anstrengt, den arthurischen Superhelden in Schutz zu nehmen, machen die dafür gewählten Worte mitunter eher den gegenteiligen Eindruck: ein gar lautern brunnen trüebet ein vil chleinr mist [V.2052f.] (›schon ein kleines bisschen Mist verdirbt einen ganz und gar lauteren Brunnen‹). Klaus Zatloukal präzisiert Gaweins Verfehlung in der Becherprobe damit, dass »er sich genâden (V.2000) von einer Dame im offensichtlich galanten Tafelrundengespräch anmaßte, die ihm von Rechts wegen nicht zukam.«325 Allerdings räumt Felder ein, dass die Szene aus intertextueller Perspektive an das schlimmere Fehlverhalten körperlicher Handgreiflichkeiten Gaweins im Wigalois gemahne. So bleibt ›vom Dreck‹ doch etwas ›hängen‹, denn Gaweins übersprechen [V.2003] eignet auch in der Crône der Aspekt der Zudringlichkeit, und diese – sei es nur verbale – wäre ein schwerwiegenderes Vergehen als bloße Prahlerei unter Männern. Zwischen unerwünschter Zudringlichkeit und Vergewaltigung besteht natürlich ein himmelweiter Unterschied, aber eben auch eine Verwandtschaft, die in diesem Fall vorausdeutet auf den Ginover-Gasozein-Komplex,326 wo es Gawein partout nicht gelingen will, den potentiellen Vergewaltiger der Königin, der ja auch seinerseits eine Vergewaltigung nie ganz vollzieht, im Kampf entgültig zu besiegen. Offenbar ist der Unterschied (die moralische Fallhöhe) zwar groß genug, dass Gawein nach Punkten Sieger bleibt, aber »seinen Gegner nicht vollgültig besiegt.«327 Mit diesen Ausführungen ist das Motiv der unbeabsichtigten Mitverantwortung beschrieben, wonach die Gaweinfigur nicht nur abstrakt als Vertreter oder Verkörperung des höfischen Tugendsystems, sondern auch konkret als beteiligte Figur mit dem Defizit der Hofgesellschaft identifiziert wird. Thomas Gutwald veranschlagt zwar die Verteidigungsrede des Erzählers zugunsten Gaweins weit höher, denn von einer Defizienz, die wie bei einem klassischen Protagonisten anfänglich groß aufgebaut und später im âventiure-Geschehen überwunden werde, könne aufgrund des präformierten Charakters bei Gawein keine Rede sein. Deshalb sei der Erzähler bemüht, »die Verfehlung Gaweins [...] als möglichst gering hinzustellen.«328 Trotzdem bestätigt Gutwald den Befund, dass Gawein aufgrund seines Versagens in der Becherprobe als »Destabilisierungsfaktor in Artus’ Umfeld« betrachtet werden muss,329 womit er »für Artus und sein Reich eine nicht unbedeutende Schwachstelle bedeutet.« Von daher könnte man es vielleicht als das personale Anliegen Gaweins bezeichnen, sich 325 326 327 328 329
Zatloukal: Gedanken, 1980, S. 303. So sieht es auch Zach, Erzählmotive, 1990, S. 72, die auf die Parallele des sich rüemens Gasozeins hinweist. Bleumer: Crône, 1997, S. 29. Gutwald: Schwank, 2000, S. 163. S. Anm. 328, S. 161.
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für eine Lösung zu engagieren, die das Minneproblem der Hofgesellschaft löst, indem »fin’amors / Amurfina an den Artushof« gebunden wird,330 insbesondere indem eine ›staete‹-Probe abgelegt wird. (Es gibt noch eine zweite ›unbeabsichtigte Mitverantwortung‹ für die immer neu aufbrechenden Gefährdungssituationen der Hofgesellschaft, die auch direkt auf den Gasozein-Ginover-Komplex bezogen werden kann, und die vor allem während der späteren Gralhandlung erneut virulent wird. (Gemeint ist Gaweins Rolle beim Fimbeusgürtel-Raub im Dienst Ginovers, worauf weiter unten zurückzukommen ist.) Mit oben Gesagtem ist schon der Hinweis auf das Muster des grotesken Misslingens (zuvor war die Rede von peinlichen Ausrutschern) Gaweins gegeben, welches sich in der Crône zum Beispiel im Zweikampf mit Gasozein vollzieht, der in seiner aberwitzigen Qualität dem Schachbrettkampf im Conte du Graal nicht unähnlich ist. Die Becherprobe enthielt ja brisante Vorgaben für die weitere Gaweinhandlung. Das ›Mitschuldig-Sein‹ Gaweins, das dieser Szene zu entnehmen ist, dient nicht nur als der personale Hintergrund für die Motivation der Figur, fin amors zu domestizieren und in die Hofgesellschaft zu binden. Vielmehr findet bei dem Kampf gegen den Beinahe-Vergewaltiger, den Gawein nicht recht überzeugend besiegen kann, zugleich auch ein Kampf gegen die eigene Verfehlung oder Fehlbarkeit, vielleicht gegen das eigene Imago als Weiberheld statt, was freilich in einer Groteske endet. Da nun feststeht, dass Gawein aufgrund der Mithaftung für Defizienzen der Hofgesellschaft in Aktion treten muss, stellt sich die Frage, was Gaweins Leistungen für die Hofgesellschaft eigentlich bewirken. Die folgende Erörterung führt schrittweise zurück zur eingangs besprochenen Problematik der Transgression der Figurenrollen, von der bereits festgestellt wurde, dass sie gar keine Konsequenzen für die Figuren habe. Die Folgenlosigkeit des verligens Gaweins steht nicht isoliert da. Auch seine Integrationsleistungen kennzeichnen sich durch diese unverbindliche Qualität. Weder das Einbinden des fin amors in die Artusgesellschaft noch der staeteNachweis Gaweins in der Schwertprobe bedeuten ja, dass die Damen und Herren der Tafelrunde im weiteren Romanverlauf etwa keusch gezeigt würden, dass sie sich gar nur noch an den Ehepartner hielten. Für die allegorische Figur Amurfinas oder Gasozeins gilt, was auch für andere magische Objekte und die Sælde-Kleinodien gilt, die auf Questen gewonnen werden: wenn sie einmal endgültig in den Besitz der Artusgesellschaft übergegangen sind, sind sie – jedenfalls als narrative Triebsätze – depotenziert; d. h. sie vermögen nichts mehr. Der hässliche Bote hebt dies für den Zauberbecher sogar ausdrücklich hervor: So geprüevet er nimer mere dem dehein vnere, der e dar auz getrunchen hat, swie starch sei sein missetat [V.2613–16] (›Wer einmal aus dem Becher getrunken hat, 330
Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 76.
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wird kein zweites Mal von ihm der Unehre überführt, ganz gleich wie arg seine Verfehlung sein mag‹). Gudrun Felders Hinweis, dass Artus den Becher »unauffällig nutzen könnte, um Besucher des Hofes zu prüfen«, aber trotzdem später nie mehr von ihm Gebrauch macht, belegt die erloschene Funktion des integrierten Objektes.331 Auch die Sælde-Kleinodien im zweiten Teil der Crône, ohne welche die Gral-âventiure angeblich nie gelingen könne, haben die Forschung deshalb schon tief enttäuscht, denn nachdem Gawein sie mit viel Mühe und Gansguoters Hilfe erneut und endgültig für den Hof gewonnen hat, schickt er sie mit Ausnahme des Gürtelsteins allesamt an den Hof zurück, anstatt sie auf der Queste zu benutzen. Es ist also kein Wunder, wenn auch die Handschuhprobe im zweiten Handlungskreis dementsprechend klar erkennen lässt, dass sich nach der Einverleibung von fin amors am ›lustigen‹ Hofleben gar nichts geändert hat. Die Integration des fin amors blieb gattungstypisch eine punktuelle (quasi Sisyphos-) Leistung in Reaktion auf das ständig schwelende Problem von Eros und höfischem Geschlechterverhältnisses. So kann es nicht nur in späteren Artusromanen neu thematisiert werden, sondern sogar noch innerhalb der Crône selber ein weiteres Mal wieder aufbrechen und Anlass zu einer Queste geben. Matthias Meyer schlägt zwar eine interessante Deutung vor, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Gawein während der Liebesnacht im Bett bei Amurfina trotz amour de loin und trotz des Minnetranks erst zum Zuge kommt, nachdem er auch noch den Test des »moralischen Damoklesschwert[es]« überstanden hat. In dieser »Überdetermination« seiner Minnebindung an die Partnerin nötige ihm das Schwert erst jenen staete-Schwur ab, der Gawein »zum Anti-Lancelot eines beständigen Artusreiches« mache.332 Aber diese staete wird später, während der Handschuhprobe, gar nicht realisiert. Dort ist zwar die Rede davon, dass eine Frau einen Geliebten neben ihrem Ehemann haben darf, »wenn sie, nachdem sie ihn erhört hat, ihre triuwe nicht verzweifacht [...], und wenn ihr Geliebter verschwiegen bleibt, nachdem sie getan hat, um was er bat.«333 Aber das bedeutet, die absolute Position der staete, die mit dem fin amors ohnehin gar nicht vereinbar wäre, wird auch hernach nicht eingelöst. Uyttersprot folgt der schon zitierten Sicht von Neil Thomas und Matthias Meyer, »dat Gawein wel degelijk evolueert«,334 was sich in der Handschuhprobe erweise, denn »Gawein doorstaat de proef dit keer probleemloos.«335 Das will zum einen nicht zu ihrer Auffassung des ›krisenlosen Helden‹ passen,336 denn ohne Krise kein Fortschritt. Zum anderen ist mit der Interpretation solcher Signale wie der bestan-
331 332 333 334 335 336
Felder: Stellenkommentar, 2006, Kommentar zu V.2596ff. S. Anm. 331, S. 87. Schröder: Literaturverarbeitung, 1992, S. 143. ›[...] dass sich Gawein sehr wohl weiterentwickelt.‹, Uyttersprot: Ironie, 2004, S. 252. ›Gawein besteht den Test dieses Mal ohne Probleme‹. S. Anm. 334. S. Anm. 334, S. 249.
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denen Handschuhprobe vorsichtig umzugehen. Der eigentliche staete-Nachweis, den Gawein bereits in der Schwertprobe im Bett Amurfinas lieferte, ist längst auserzählt und gewinnt in der mageren Demonstration der Handschuhprobe keine neue Qualität, signalisiert also nicht Neues mehr in Bezug auf die Hofgesellschaft, die übrigens nach wie vor an der Handschuhprobe scheitert. Die Tatsache, dass Gawein den Handschuh erfolgreich überstreifen kann, ist natürlich den narrativen Erfordernissen geschuldet. Immerhin soll der Held ja später laut wiederholter Ankündigung allein mithilfe der Handschuhe in der Lage sein, seine Gralqueste erfolgreich abzuschliessen. Dies könnte er aber nur unter der Bedingung tun, dass die Handschuhe ihn tatsächlich unsichtbar machen. Er darf daher an der Handschuhprobe gar nicht scheitern.
Heinrich macht sich einstweilen über seinen von Minne, Minnetrank und staete befangenen, nunmehr auch besinnungslosen Gawein lustig: Nv ist Gawein ze wiert Worden, der e weiten Nach vehten vnd nach streiten Daz lant suoht mit vreise
[V.8632]
[Nun ist Gawein, der einstmals weithin das Land auf der Suche nach Auseinandersetzung und Kampf durchstreifte und dabei sein Leben riskierte, zu einem Hausherrn geworden.]
Das ist mehr als lediglich eine »lakonisch[e]« Klarstellung,337 nämlich nichts weniger als ein Hohn auf den Superhelden der Tafelrunde, der hier natürlich in vollständiger Inversion seines präformierten Charakters, d. h. gattungswidrig als passives Hausväterchen präsentiert wird. Gawein soll weder Lanzelot noch Anti- Lanzelot sein. Er wird nur durch den Tiefpunkt einer Erfahrung geführt, die im Widerspruch zu seinen Pflichten und seiner gattungstypischen Rolle steht. Aus dieser spöttischen Perspektive enthält die anschließende Qualifikation Gaweins als der ander Artus [V.8741] entgegen Knapps Einlassungen, dass dies »in der Krone nirgends angedeutet« werde, doch noch etwas von der negativen Konnotation des riche roi recreant,338 der im Tugendprogramm des ProsaLanzelot als das Gegenbild eines chevalier errant entworfen wird. Dies gilt insbesondere wenn man die Bemerkung auf den wirklichen Artus zurückbezieht. Die ironische Beziehung zwischen beiden Figuren bestünde dann in der Verdrehung der Rolle des gattungstypisch passiven Königs in die eines scheuelier errand (während der Auseinandersetzung mit Gasozein) und umgekehrt der Abbildung des aktiven Superhelden der Artuszivilisation als passive, hilflose und langweilige Königsfigur in den Fängen der Minneherrin Amurfina.
337 338
Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 87. Knapp: chevalier errant, 1984, S. 144.
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Derlei Travestie kann nicht zu einer irreversiblen Festigung der hernach vermeintlich krisenlosen Artuswelt führen, denn selbstverständlich müssen diese genrewidrigen Positionen wieder zurückgenommen werden. Solche Rollenwechsel erwecken auch zu keinem Zeitpunkt den Eindruck, einen moralischen Zugewinn zu ermöglichen, sondern fallen vor allem durch die jeweilige Kontrastwirkung auf, mit der das Agieren der ›verkehrt‹ aufgestellten Figur als erfolglos, ungeschickt, unpassend oder lächerlich markiert wird. Übrigens wird, wenn man von den Folgen her argumentieren wollte, die Artuswelt ja auch hernach im Verlauf des Romans noch reichlich von Krisen heimgesucht. Nicht zuletzt in der Handschuhprobe können wieder allerlei drastische Zoten über peinliche Entdeckungen moralischer Defizienz gerissen werden. Ich folge Knapp in seiner Einschätzung, dass der fin amors in der Crône in Wahrheit keine hohe Minne sei, sondern dass sich hinter dieser nominellen Größe umso mehr »Sexualität und Erotik« verberge.339 Hier ist die Crône in ihrer Tendenz dem Roman van Walewein gar nicht unähnlich, wo, wie Winkelman zeigen konnte, sich das affektive Verhältnis zwischen Walewein und der Geliebten Ysabele vor allem als Venusminne konkretisieren sollte.340 Vielleicht steckt in solchen literarischen Darstellungen ein Reflex auf die wohl eher prosaische, gesellschaftliche Realität an den Höfen im 13. Jahrhunderten, die den hehren Idealen des poetischen Konzepts nicht unbedingt immer genügt haben dürfte. Die Integration von fin amors und die Überwindung und Integration des gewalttätigen Minneritters Gasozein sind Aufgaben, die Gawein, dem Hofakteur, in kausaler Logik aus der Initialkrise erwachsen und die er beide lösen wird. Doch Gawein der Protagonist, der ›personal‹ in diese Phänomene verwickelt wird, ist eine hilflose Figur, die mitunter dem Spott ausgesetzt ist, die aber weder ihre Identität als Hofakteur verändern noch das arthurische Tugendsystem neu begründen könnte. Dennoch ist das Vorführen der Rollentravestie ein interessantes narratives Mittel. Denn anstatt ungeschickt über Widersprüche hinwegzuerzählen, wie es Pieter Vostaert im Roman van Walewein tun musste, kann Heinrich aus der Not eine Tugend, ja ein regelrechtes Erzählprogramm machen. Die Inszenierung der Travestie bietet ja unbestreitbar die Möglichkeit nicht nur des Komischen, der Burleske, des ironischen Erzählregisters, sondern auch die Möglichkeit zum Tabubruch, zur Darstellung der Transgression und damit zum Erzeugen einer Erzählspannung, die auf der Provokation der Publikumserwartung durch Verstoß gegen das Gattungswissen beruht. Von hier aus lässt sich Heinrichs Erzählstrategie bezüglich der Figurenrollen und ihrem Schwanken zwischen gattungsgemäßer Determiniertheit und untypischem Agieren erstmals deuten. Die bisherigen Befunde legen ja keineswegs nahe, dass die »innere Krise« der Protagonisten klassischer Romane in 339 340
S. Anm. 338, S. 143. Winkelman: Waleweins dilemma, 2004, vgl. u. a. S. 345.
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der Crône »zugunsten bloß äußerer Provokation preisgegeben werde«,341 dass also in diesem Text nur noch eine oberflächliche Spannung zwischen Held und âventiure inszeniert werde, die nicht mehr seine Identität berühre. Eine Krise im klassischen Sinne gibt es in der Crône natürlich nicht, eben weil es keinen strukturbezogenen Entwicklungsprozess zu innerer Reife gibt. Aber stattdessen sieht man ja an der Umkehrung der Rollen von Artus und Gawein, dass diese Figuren in ihrer gattungstypischen Identität – also in ihrer Substanz – bis zur Lächerlichkeit an ihre Grenzen geführt und sich selbst entfremdet werden, nur um einige Zeit später doch wieder ganz die Alten zu sein. Was in den klassischen Romanen die personale Erfahrung der Figur des Protagonisten darstellte, die mittels einer Erfahrung des Durchgangs durch das Irrationale als ›Werdungsprozess‹ hin zu einem Status der Idealität entfaltet wurde, konstruiert Heinrich für die präformierten Figurenrollen des Kernpersonals ganz analog als Erfahrung des Durchgangs durch dasjenige, was diese gattungstypisch gar nicht sein können und dürfen. Er konstruiert es also ebenfalls als eine – allerdings metaliterarische – Erfahrung der Alterität. Der Begriff meint, die Figuren schlüpfen momentan in das ›Andere‹ ihrer literarisch abgegrenzten Rolle. Dabei gehen sie jedoch den umgekehrten Weg des klassischen Protagonisten. Nicht etwa die Grenzen ihrer ›Person‹ (gar ihrer Psyche) werden überschritten, sondern die ihrer narrativen Funktion, die im Augenblick ihres Überschritten-Werdens das Genre an sich zum Thema machen. Sie treten aus der Unantastbarkeit der schon ideal gedachten Rolle ihres präformierten Charakters noch einmal heraus in die offene Funktionalität der unterdeterminierten Figuren. Weil sie aber beides zugleich sind, denn ihre plötzliche Beliebigkeit steht ja noch immer im Zeichen ihres großen Namens, wird durch den Kontrast eine erhebliche Spannung in den Text eingetragen, der nicht zuletzt in die Frage mündet, wie diese Situation wieder rückgängig gemacht werden kann, ohne den Text aus dem Genre herauszuerzählen. Diese Frage ist jetzt selbst Inhalt der Erzählung und erzeugt ihrerseits Erzählspannung. Das alles ist im Grunde nur ein raffinierter Trick zur Verkleidung eines unvermeidbaren Problems. Denn wo die Hofgesellschaft, also das Kernpersonal der arthurischen Romane, in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt wird, kann es nicht ausbleiben, dass diese Figuren größeren narrativen Anforderungen und übrigens auch höheren Erwartungen seitens des Publikums unterliegen. Bleumer sprach in diesem Zusammenhang von einem Gegensatz zwischen der figurenzentrierten Perspektive der klassischen Romane gegenüber der »weltzentrierten Perspektive« der Crône. Durch die in der Crône vollzogen Abkehr vom Stationenweg des einzelnen Protagonisten »müßte das Figureninventar
341
Walter Haug: ›Über die Schwierigkeiten des Erzählens in »nachklassischer« Zeit‹, in: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von W. Haug, B. Wachinger. Fortuna Vitrea. Bd. 1. Tübingen 1991, S. 338–365, S. 344.
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der Artuswelt gleichberechtigt in den Rang des Hauptdarstellers aufrücken.«342 Bleumer stellt fest, dass dies nicht geschieht und erschließt aus dem Ausbleiben eines ›Gesellschafts-Stationenwegs‹ ein figurales Verknüpfungsmuster der aufeinander bezogenen Episoden. Aber Bleumers Gedankengang lässt nicht nur diesen Schluss zu, sondern in ihm ist schon längst die Einsicht enthalten, dass das Kernpersonal der Artusliteratur selber plötzlich einer veränderten Perspektive unterworfen ist, dass man also an ihm nachzuvollziehen sucht, was zuvor den Protagonisten aufgeschultert wurde. Während die Autoren des Walewein versuchten, diese Spannung zwischen Disposition und Anforderung an ihre Waleweinfigur unauffällig in der Auseinandergliederung der Erzählstationen zu entzerren, spielt Heinrich das Problem offen aus, ja er testet die Grenzen dieses Konflikts zwischen Erzählerfordernis und Gattungsbeschränkung in Handeln und Reden der Figuren aus. Die fundamentale Voraussetzung für dieses riskant wirkende, aber tatsächlich völlig harmlose Spiel ist selbstverständlich die, dass sich in Wahrheit weder an den Figuren noch an der narrativen Syntax (den zugrundeliegenden Mustern ihrer Verknüpfung) irgendetwas geändert hat. Denn statt eines Gesellschafts-Stationenweges gibt es ja in der Crône nach wie vor das Interaktionsmuster des narrativen Schwungrades, welches Heinrich entsprechend den Vorgaben Chrétiens sorgfältiger und durch Wiederholungen auch nachdrücklicher als seine deutschen Vorgänger modelliert hat. Hier haben die zentralen Figuren nicht nur ihren festen Platz, der ihre Einsätze quasi wie Stichworte vorgibt, sondern hier ist auch ihre Funktion definiert: das, was sie zu leisten haben und das, was sie sich nicht leisten können. Das Publikum darf sich also sicher sein, dass Gawein auch bei Heinrich so zuverlässig wie eh und je nach ein paar hundert Versen aus der Verzauberung des Minnetrankes an Amurfinas Tafel wieder zu der Figur erwacht, die er schon immer gewesen ist, dass Artus im zweiten Handlungsteil der Crône unter den empörten Reaktionen der Hofgesellschaft das vollkommen absurde Ansinnen der persönlichen Kampfteilnahme verweigert wird, als ob so etwas noch nie vorgekommen wäre, und dass auch der neuartig stilisierte Keie am Ende der Gralhandlung durch den Erzählerkommentar quasi auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird (vgl. Abschnitt III. 4.2.3.3). III.4.2.2.3 Zwischenbilanz Die Betrachtungen des erstens Handlungsstrangs der Gaweinhandlung (im Sinne der in der Einleitung gemachten Prämisse der pragmatischen Zweiteilung) sollen nun abgeschlossen werden, indem der zweite ›Umlauf‹ des Interaktionsmusters Chrétiens zusammengefasst und um die letzten Elemente ergänzt wird. Während der Initialkrise (erster, leerer Durchlauf des Schwungrads) hatte
342
Bleumer: Crône, 1997, S. 31.
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man Gawein in charakteristisch passiver Rolle erlebt. Auf die Provokation von Außen reagierte stattdessen mustergetreu die Figur Keies, zunächst mit Spott, danach indem er die Forderung des hässlichen Boten nach einem tiostivre [V.2692–2700] aufgriff und ausfocht. Dabei wurde er mustergetreu bestraft (1. Pferdabwurf). Die Gaweinfigur hingegen blieb der Handlung äußerlich (Inertia). Im zweiten Anlauf des Schwungrades blieb Gawein dann dem Hof sogar körperlich fern. Die Provokation (dem Inhalt nach die Offenlegung ehelicher Untreue der Königin und ihrer Damen) wurde als Spottrede von der Königin selber vorgetragen. Spätestens hier hätte die Gaweinfigur selbstverständlich anstelle des Königs intervenieren und den angeblichen Ehebrecher Gasozein stellen müssen. Stattdessen musste Artus mit Keie – dem falschen Sachwalter der Interessen des Königs – selbst auf eine Queste nach dem Konkurrenten ausreiten. In einem zweiten Anlauf des Musters wurde Keie zum zweiten Mal hinter sein Pferd gesetzt. In der anschließenden Auseinandersetzung zwischen Artus und Gasozein kann die Problematik nicht gelöst werden; es werden weitere Kämpfe in der Zukunft verabredet. Gaweins Rolle als derjenige, der die Ehrenrettung der Königin im notfalls blutigen Kampf gegen die Provokateure zu versuchen hat, wird dem Publikum u. a. durch die missmutigen Einlassungen des Königs in der Szene der Hofberatung ausdrücklich in Erinnerung gerufen. Heinrich hält damit die typische ›Inertia‹ der Gaweinfigur, das AusgeblendetBleiben bzw. Zuspätkommen, in der Rezeption präsent und bereitet mithilfe dieses Mittels die Erwartung auf den verspäteten Einsatz der Figur vor, die so als ›zufällige‹ Begegnung mit dem Herausforderer erzählt werden kann. Mit der burlesken Verteidigung der Ehre der Königin im Kampf gegen Gasozein, mit der Integration Gasozeins und mit der späteren Heirat und Integration Amurfinas ist dann die Aufgabe der Gaweinfigur bezüglich des ersten Handlungsstrangs fast auserzählt. Das bedeutet, dass der erste Teil der ›Mitverantwortung‹ der Figur, die der Erzähler während der Becherprobe als Gaweins Misslingen aufgebaut hatte, in diesem Komplex kausal mit abgearbeitet ist. Heinrich macht freilich noch einen erzählerischen Umweg, denn die endgültige Integration Gasozeins ist erst mit seiner Verheiratung mit Sgoidamurs, der Schwester Amurfinas vollzogen. Um diese neue Geschichte – die des Zaumzeugerwerbs im Zauberreich Gansguoters – zu erzählen, bedarf es eines neuerlichen, d. h. dritten Anlauf des Schwungrades. III.4.2.2.4 Dritter Anlauf des Schwungrades (Zaumzeugepisode) Der dritte Umlauf des Schwungrades treibt einen nur knapp tausend Verse umfassenden Handlungsgang, also ein im Verhältnis zum Umfang des gesamten Romans relatives kurzes Geschehen. Nach der Rettung Ginovers und der festlichen Versöhnungsszene in Karidol wirkt die nun angeheftete Geschichte von der Gewinnung des Zaumzeugs mit anschließender Verheiratung Sgoida292
murs und Gasozeins etwas forciert, zumal Gawein, wie in der Forschung schon wiederholt beanstandet wurde, auf dieser Abenteuerfahrt nur das gewinnt, was ihm durch die Ehe mit Amurfina längst schon gehörte. (Die âventiure des Zaumzeuggewinns wirkt daher wie ›nachgereicht‹.) Die Zaumzeugepisode mag einerseits dem ausgreifenden Erzählwillen Heinrichs geschuldet sein, hat aber auch die Funktion, die Figur des Zauberers Gansguoter als Verwandten und Helferfigur im Personal des Romans zu etablieren. Jedenfalls wird die Zaumzeugepisode nicht stringent aus dem Handlungsgeflecht der Gaweinqueste im ersten Handlungskreis entwickelt, der bisher betrachtet wurde, sondern bedarf eines eigenen Impulses, d. h. die Handlung muss erst neu angestoßen werden. Heinrich kann dabei auf typische Elemente zurückgreifen, die bereits in seiner Vorlage ausgebildet waren. Denn auf die âventiure-Nachricht des Fräuleins mit dem Maultier (bei Heinrich Sgoidamurs), die den Hof vor eine Herausforderung stellt, unternimmt auch in der altfranzösischen Fassung von La Mule sans Frein zunächst die Keufigur eine (erfolglose) Queste, während Gauvain gattungstypisch zurücksteht (Inertia). Es kommt allerdings weder im Mule sans Frein noch in der entsprechende Szene der Crône zu einer Stasis. Der Hof scheint nicht gelähmt von der bevorstehenden Aufgabe. Heinrich plagt offenbar leises Unbehagen bei dem Gedanken, dass Gawein, der ja durch die vorausgegangenen ca. 12000 Verse inzwischen als die zentrale Handlungsfigur seines Romans aufgebaut wurde, beim Aufruf des hilfesuchenden Fräuleins passiv bleiben muss (Inertia), obwohl dies nicht als Folge der allgemeinen Lähmung geschildert werden kann, die den Hof sonst bei solchen Herausforderungen heimsucht. Immerhin fordert Sgoidamurs den Hof zur Hilfeleistung auf, indem sie sich der formelhaften Redewendung wer ieman hie jnne [V.12702] bedient, die als Appell an die Gaweinfigur zu verstehen ist. Mit diesem Stereotyp bezieht sich Heinrich wörtlich auf die Quelle, wo das Fräulein mit dem Maultier fordert Se çaienz avoit chevalier... [MsF 83] (›Wenn es hier drinnen einen Ritter gibt...‹).343 Ohne eine Lähmung zu provozieren, zu der das gattungstypische Schweigen Gauvains in der altftanzösischen Vorlage eigentlich passen würde, zieht der Appell die unmittelbare Reaktion Keus nach sich. Diese ansonsten dem gattungstypischen Verlauf der Initialkrise entsprechende Abfolge der Ereignisse (Keu kommt Gauvain zuvor) bleibt also im Mule sans Frein unmotiviert, eben weil keine Stasis eintritt, und weil die plötzliche Passivität Gauvains nach dessen bisheriger Aktivität als Koordinator der Ereignisse [vgl. MsF 50–53 und MsF 66] nicht erklärt wird. Es ist signifikant, dass Heinrich bei seiner Darstellung von der Vorlage abweicht, wo »Gauvain is the first to approach the damsel.«344 Heinrich dürfte absichtsvoll zu
343 344
Zitiert nach Two Old French Gauvain Romances. Le Chevalier à l’Épée and La Mule sans Frein. Hrsg. von R.C. Johnston, D.D.R. Owen. Edinburgh and London 1972. Busby: Gauvain, 1980, S. 257.
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dieser Akzentverschiebung angesetzt haben. Die Zaumzeuggeschichte erfordert, dass gattungskonform ein Antagonismus zwischen Keie und Gawein zustandekommt, der als Unterschied zwischen einer erfolglosen Queste Keies und einer anschließenden, erfolgreichen Gaweins ablaufen kann. Diesen Antagonismus will Heinrich als Ergebnis zufälliger Umstände entwickeln. Die etwas linkisch wirkende Begründung lautet: Es stunt der megde zü nehst by der tuchsesz, min herr Kay ... [V.12712f.] (›Mein Herr Keie, der Truchseß, stand direkt neben dem Fräulein‹). In der altfranzösischen Vorlage ist nichts derartiges zu lesen. Heinrich präsentiert dem Publikum also einen rationalen Grund dafür, warum zunächst Keie, der ir bedt vil wol vernomen [V.12714] hatte, auch der erste ist, der sich für die Zaumzeugqueste meldet. Er kann dies glaubhaft mit der noch immer andauernden Genesung des schwer verwunderten Gawein stützen, der nach seiner vorausgegangen Auseinandersetzung mit Gasozein noch nicht ausreichend wiederhergestellt ist. Heinrich kann aber nicht übertünchen, dass dieses Rationalisieren der gattungstypischen Abfolge der Figureneinsätze als Folge eines ›Zufalls‹ trotzdem schwächer wirkt, als die sonst übliche Verknüpfung durch Schock, Lähmung und Spott. Chrétiens Erzählen zeichnete sich durch eine stärkere Determinierung aus als das des ›Paiens de Maisiere‹ [MsF 14], wie sich der Autor der Mule sans Freins identifiziert. Die Motivationsschwäche des verspäteten Einsatzes Gauvains in seiner Vorlage scheint Heinrich, der sich in Chrétiens Erzählgrammatik auskannte, überdecken zu wollen. Gawein wird also anders als in der Vorlage zunächst gar nicht erwähnt. An späterer Stelle macht Heinrich ausdrücklich darauf aufmerksam, dass der erste Hofakteur über die âventiure-Nachricht Sgoidamurs überhaupt noch nicht informiert war, weshalb man ihn auf seinem Krankenlager davon unterrichten musste [V.12888]. Im dritten Umlauf des Schwungrades werden somit zwei typische Elemente des Schwungrades unterdrückt, nämlich das der Stasis und auch das der Bestrafung Keies, der zwar erfoglos von seiner Queste heimkehrt aber ohne Folgen dafür gewärtigen zu müssen. Alle anderen Elemente sind unterdessen klar zu erkennen. Es sind die Festsituation zu Anfang und das Warten auf âventiure [V.12627–29], das Erscheinen einer Botin mit âventiure-Nachricht [V.12639f.], der typische Appell (wer ieman hie jnne) [V.12702], das Ausbleiben einer Reaktion Gaweins, die Intervention Keies (mit negativem Ergebnis) [V.12721–868] und die anschließende Intervention Gauvains, der die Aufgabe erfolgreich vollendet und zu einer neuen Situation des höfischen Festes hinüberleitet [vgl. u. a. V.13861].
294
III.4.2.3
Die Queste in der Crône: zweiter Handlungskreis
III.4.2.3.1 ›Hofakteur‹ Gawein (Mitverantwortung und Rektifikationsleistung im zweiten Handlungskomplex. Metaliterarische Alteritätserfahrung als Hofakteur) Bevor weitere Umläufe des Schwungrades zu besprechen sind, soll im folgenden Abschnitt der Motivationszusammenhang zwischen Initialkrise und Gaweins Handeln im zweiten Handlungsteil des Romans bestimmt werden. Danach wendet sich die Untersuchung der zweiten Transgression der Figurenrolle Gaweins zu, die den Hofakteur erneut zu gattungswidrigem Handeln zwingt. Vorab sei auf Peter Steins These hingewiesen, dass die von der älteren Forschung für den zweiten Handlungsstrang der Crône »behaupteten ›Parzival‹Anleihen [...] einer kritischen Prüfung« nicht standhielten, so dass »einen Einfluß von Wolframs ›Parzival‹ anzunehmen keinerlei Anlaß besteht.«345 (Für die ersten sechs Bücher des Parzival bestreitet Stein den Einfluss auf die Crône nicht.) Steins These und seine damit einhergehende frühe Datierung des Romans auf die Zeit nach 1210 ist nicht völlig auszuschließen, zumal auch die hier gemachten Beobachtungen zur Übernahme von Szenen und zum Gebrauch von narrativen Mustern aus der französischen Literatur nahe legen, dass sich Heinrich an Chrétien orientiert hat. (Ob eventuelle Anleihen bei Wirnts Wigalois tatsächlich mit gleicher Klarheit zurückgewiesen werden können, wie Stein glaubt, bleibt dahingestellt.) Zunächst zum Zusammenhang zwischen Gaweins Gralqueste und der ursprünglichen Krise der Artusgesellschaft. Dieser wird als Gaweins indirekte Mitschuld bereits im ersten Handlungsstrang begründet und während des gesamten Romans durch wiederholte Hinweise präsent gehalten. Es geht um den bereits erwähnten Fimbeusgürtelraub. Da das Motiv des Fimbeusgürtels sich als »eins der wenigen epischen Bindeglieder« durch die gesamte Handlung der Crône zieht,346 wertete Jillings es als »an indication [...] that Heinrich’s initial conception already contained the ingredients for the ultimate scope of the story.«347 Mehr als ein Motiv ist der Gürtelraub die epische Klammer, die die jeweils zu lösende Krise ab der ersten Nennung des Gürtels durch Gasozein [V.4855], also eigentlich ab Ginovers mutmaßlichem Ehebruch bis zur Auseinandersetzung mit Fimbeus und Gyramphiel (als Voraussetzung für die Gralfahrt) an die Gaweinfigur bindet. Alle diese Krisen und Prozesse werden – sofern sie vom Gürtelraub berührt werden – zumindest indirekt von Gawein mitverantwortet. Nebenbei bemerkt wird die Vorgeschichte des Gürtelraubes in der Crône in zwei nicht kompatiblen Versio-
345 346 347
Stein: Integration, 2000, S. 103. Gürttler: Artûs der guote, 1976, S. 193. Jillings: Crone, 1980, S. 87.
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nen erzählt, deren Unterschiede aber für den hier betrachteten Zusammenhang der Mitverantwortung Gaweins keine Konsequenzen haben.348 Im Hintergrund der Geschichte des Gürtelraubes steht von Anfang an der Motivkomplex von Minne, Eifersucht und Tod. Um ihren Minneritter und Partner Fimbeus im Kampf gegen Feinde zu schützen, hatte die Fee Gyramphiel, Schwester der Sælde, einen Zaubergürtel gewirkt, in den ein magischer Stein eingearbeitet war, der Unbesiegbarkeit verlieh. Doch durch diesen Gürtel sollte eben »auch der Bestand der Liebesbeziehung« zwischen Gyramphiel und Fimbeus »ausdrücklich [...] geschützt werden.«349 Dennoch ist es Fimbeus selber, der ihn eines Tages freiwillig Königin Ginover als Gabe anbietet. Ginover ahnt, dass sie die Gabe nur um den Preis ihrer Liebesgunst oder zumindest des Verdachts, diese gewährt zu haben, erhalten kann. Sie gibt den Gürtel also zurück. Aber angestachelt durch ihre Eitelkeit sucht sie nach anderen Wegen, in den Besitz des Objekts zu gelangen ohne Fimbeus zu mynnen [V.23347]. Auf ihr Drängen hin muss Gawein Fimbeus nachreiten, um ihm das Objekt gewaltsam abzujagen. Der Erzählerkommentar lässt an Gaweins Motivation keinen Zweifel: Die red er vngern ted, Doch must er volgen ir bed, Wann er an ir clage sah, Das sie gros vngemah Hett mit harttem leid. [V.23389–393] [Die Bitte erfüllte er ihr gar nicht gern. Doch er musste ihr gehorchen, denn er erkannte an ihrem Gejammer, dass sie arg mitgenommen war und sehr unter der Situation litt.]
Gawein ist also in eine Handlung verstrickt, deren Legitimität ihm von vorn herein zweifelhaft erscheint, weshalb er lieber davon abgesehen hätte. Auch am Artushof ist man sich darüber im Klaren, dass der Gürtelraub in jeder Hinsicht unethisch ist. Jillings weist auf Keies Kritik am strazenroup hin und führt weiter aus, »an offence of Gawein’s underlies the whole conflict […] of Arthur’s court and its enemies for the favour of Fortune.«350 Insbesondere ist Jillings zuzustimmen, dass »this offence of theft may be deemd a counterpart to the other principal transgression of Gawein which underlies the narrative of Diu Crone, the
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349 350
Eine ausführliche Besprechung der relevanten Textstellen findet sich bei Uta Störmer-Caysa: ›Der Gürtel des Fimbeus und die Chronologie. Versuch über die lineare Zeit in der Crône Heinrichs von dem Türlin‹, in: Litertur – Geschichte – Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von N. Miedema, R. Suntrup. Frankfurt a.M. 2003, S. 209–224, S. 221. Bleumer: Crône, 1997, S. 179 unter Hinweis auf die Verse 23269–73. Jillings: Crone, 1980, S. 88.
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murder (albeit unintentional) of Dahamorht, brother of Ansgaras [...].«351 In der Tat ist ja diese andere Urverfehlung Gaweins, der Mord an Ansgaras’ Bruder, (ein aus dem Conte du Graal übernommenes Motiv), ebenfalls von Heinrich als ›unbeabsichtigt‹ gekennzeichnet worden. Dieses Motiv des Mordvorwurfs, welches Heinrichs Gawein abweichend vom Gauvain des Conte du Graal in einem Bekenntnis bestätigt, bildet in der Crône den äußeren Grund für die Gralfahrt Gaweins. Man kann folglich mit Jillings darauf schließen, dass beide Übertretungen in der Form ›unbeabsichtigter Mitverantwortung‹ – hierin konform Chrétiens Erzählgrammatik – die Gaweinhandlung in der Crône antreiben. Für das Motiv des unbeabsichtigten Mordes freilich gilt es aus funktionaler Sicht einen gravierenden Unterschied zum Conte du Graal festzuhalten. Dort war der Mordvorwurf nie substantiiert worden, sondern diente lediglich als strukturelles Mittel, die tatsächlich am Hof in intriganter Weise von Keu und Artus betriebene Beseitigung des Roten Ritters durch Perceval auf die Gauvainfigur zu beziehen (vgl. Kap. II 5.2.1 und II. 5.2.2). In der Crône hat ein derart intriganter Fall der Liquidation eines Herausforderers jedoch nie stattgefunden, weshalb das Motiv des ›unbeabsichtigten Mordes‹ quasi von rückwärts, d. h. ohne eigentlichen Referenzpunkt, nur durch Nacherzählung Gaweins am Hof bekannt gemacht wird. Heinrich macht sich hier nicht einmal die Mühe, eine spektakuläre Provokationsszene vor der Tafelrunde zu inszenieren, wie sie Chrétien der Figur Guigambresils als großen Auftritt vor der schockierten Ritterschaft einräumt. Diese etwas ›untermotivierte‹ Qualität des Mordvorwurfs entspricht der eher sekundären Rolle der gesamten Gralhandlung bei Heinrich, die ihrerseits sicher nicht zufällig in den weit bedeutenderen Fimbeus-Gyramphiel-Komplex eingebunden ist. Es fällt auf, wie weit die Implikationen reichen, die von dem Gürtelraub ausgehen. Die erste Nennung des Gürtels stellt sogleich den Zusammenhang zur Ehebruchsminne, dem valsche-Problem und der gestörten Situation bei Hof her. Nicht zufällig ist es wie oben erwähnt Gasozein, der das Objekt zuerst in das Geschehen einführt. Ginover habe ihm diesen Gürtel als Zeichen ihrer Liebe gegeben [V 4865]. Nun wolle er damit seinen Anspruch auf die Königin legitimieren, wan ich ze reht pin ir man [V.4947]. Bezeichnend ist ferner, dass Gasozein in seiner Argumentation den Namen Gawein quasi als konspirativen ›Dritten‹ anführt, wenn er sagt, niemand wisse etwas von dem Gürtel wan si [Ginover] vnd Gawein vnd ich [V.4860]. Damit wird klar, dass ein Teil der Mitverantwortung dafür, dass Gasozein überhaupt einen solchen Anspruch mithilfe des Gürtels belegen kann, bei dem Hofakteur liegt. Gaweins spätere Rektifikationsleistungen, insbesondere die Rettung der Ehre der Königin, hän-
351
S. Anm. 350.
297
gen also alle mit einer von ihm mitzuverantwortenden, wenn auch ungewollten Verfehlung zusammen. Dass der Gürtelraub auch die gesamte Endhandlung ab der Handschuhprobe antreibt, und dass es somit auch in diesem Handlungsteil die unbeabsichtigte Mitverantwortung Gaweins ist, die die Rektifikationsleistungen erzwingt, wird im Text nicht verschleiert, weshalb Meyer in diesem Teil vom Gürtel als Hauptmovens spricht.352 Aber auch für den Handlungskomplex der Ermordung von Aamantz (dem ›anderen Gawein‹) und der anschließenden Katastrophe der fälschlichen Nachricht von Gaweins Tod am Artushof ist ein Zusammenhang mit dem Gürtelraub nicht ganz von der Hand zu weisen. Die falsche Todesnachricht wird von dem Ritter Gygamec verbreitet, der mit dem abgeschlagenen Kopf des Doppelgängers bei Artus erscheint, worauf unten genauer zurückzukommen ist. Viel spricht für Jillings‹ Mutmaßung, dass »since Gygamec is later dispatched by Gyramphiel in order to trick the court again (28518–52), he may already [gemeint ist beim erstmaligen Überbringen einer solchen Todesnachricht] be implicitly an agent of that malevolent ›gotine‹.«353 Folgte man Jillings, so wäre auch der Motivkomplex um die Provokation von Gygamec und der anschließende (temporäre) Kollaps der Artuszivilisation eine Folge des Gürtelraubes, weshalb auch der Besuch bei Frau Sælde und spätere die Integration des Sælde-Rings zumindest strukturell der Korrektur dieser Urverfehlung Gaweins geschuldet wären. Dieser Sælde-Ring soll ja dem Artusreich den ewigen Fortbestand garantieren [vgl. V.15911–17], ganz ähnlich wie der auf der Meide lant gewonnene Badeextrakt der ewigen Jugend [vgl. u. a. V.17489–97] es für Gawein als Figur zu leisten hätte. Was sich erzählerisch zwischen dem Erwerb dieser beiden Objekte am Artushof abspielt, nämlich die katastrophalen Auswirkungen der Todesnachricht Gaweins, wird somit von diesen beiden Remedien eingerahmt, die den Hof zu diesem Zeitpunkt nur noch nicht erreicht und damit ihre trostspendende Wirkung noch nicht entfaltet haben. Ihre spätere Integration in den Hof ist jedoch unspektakulär, weil nur noch der erzählerische Nachvollzug einer bereits zurückliegenden Sicherungsleistung durch Tugendnachweise Gaweins, die die permanent fortbestehende Gyramphiel-Bedrohung momentan ausgleichen. Zwar verbreitet sich die große Kunde der Ankunft des Objekts von Mund zu Mund bis zu den Damen, aber das ist noch lange kein Grund für den Hof, bestärkt durch die Sælde-Garantie in freudenriches lachen auszubrechen, e dise angstliche vart (also die anstehende Gralsuche) von yme geleistet wurd [V.22955–958]. Ganz genau wie der Zauberbecher des Anfangs verlieren auch die anderen magischen Objekte ihre Wirkung, nachdem sie in den Besitz und in die Sphäre des Artushofes eingegangen sind. Sie können trotz ihrer angeblichen Garantiefunktion also nicht verhindern, dass das Artus352 353
Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 124. Jillings: Crone, 1980, S. 93, vgl. auch S. 239.
298
reich durch die List des Ritters auf dem Bock erneut bis in die Grundfesten erschüttert und existentiell gefährdet wird. Noch im Endgeschehen haben sie lediglich die lapidare Aufgabe, dem Hof als Lebenszeichen Gaweins übersandt zu werden. Ihre Bedeutung für Artus erschöpft sich in der Zeichenhaftigkeit, dass alles ›noch beim Alten‹ ist. Nun wird im Handlungskomplex vom Gewinn des Sælde-Rings, Scheintod und Gewinn des jugendspendenden Bademittels eine weitere Beobachtung zur Figurenrolle möglich, die den nachfolgenden strukturellen Überlegungen vorgeschaltet werden soll. Dabei geht es um die funktionale Disposition der Gaweinfigur sowie um die Inszenierung von ›Alteritätserfahrungen‹ im Verlauf der Wunderketten. Schon die Umstände von Gaweins Besuch bei Fortuna machen nämlich klar, dass der Held nicht mehr als Protagonist (wie bei Amurfina), sondern wieder als Hofakteur unterwegs ist. Der Saelde-Ring ist ja nicht für ihn bestimmt, sondern für den König. Dessen ewige Sicherheits- und Bestandsgarantie ist zugleich auch die der arthurischen Utopie, für welche Gawein zu diesem Zeitpunkt des Romans längst wieder instrumentell geworden ist. Ganz anders als bei Amurfina wird er also auch in der meide lant – wo er die Wahl hat – das lant vnd [...] mynne-Angebot der schönen Levenet ausschlagen und den Badezusatz verlangen. Die Entscheidung gegen das Beilager mit der Schönen zugunsten des schnöden, weil völlig unnötigen Badesalzes (Gawein kann gattungsgemäß ohnehin nicht wirklich altern, der Badezusatz ist bloßes ›mechanisches‹ Äquivalent zum Sælde-Ring)354 ist wohl trotz des seinerzeitigen, spektakulären ›staete‹-Nachweises unter dem moralischen Damoklesschwert der Amurfina nicht durch ein Ehe- oder Tugendkonzept Heinrichs motiviert, auch wenn man sie so rationalisieren (oder psychologisieren) könnte. Es handelt sich bei der Gabe des Jugendmittels auch nicht um eine hierarchische Gleichstellung Gaweins mit Artus, quasi als Ausgleich für den Sælde-Ring. Die Gattungsgesetze sehen ohnehin Gaweins ewiges Fortbestehen vor, allerdings ebenso ewig in der instrumentellen Position als Vasall und Neffe. Das literarisch immerwährende praesens historicum des Königs und seines arthurischen Friedensreiches bedingt diese ewige Anwesenheit seines Neffen ebenso wie die Keies oder Ginovers. Wenn sich Gawein also auf der Jungferninsel nicht für die Schöne entscheidet, so ist vielmehr die erzählerische Karte Gaweins als Protagonist, der sich verlieben und verligen kann, der dabei den Verstand und ›sich selbst‹ verliert und so durch eine metaliterarische Alteritätserfahrung hindurchgeführt wird, eben bereits im ersten Handlungskomplex ausgespielt worden. In diesem zweiten Handlungskomplex wird Gawein genau das umgekehrte Muster unterlegt. In traditioneller Weise steht er als Hofakteur vor den nie dauer354
Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 140 zieht Vergleiche zur Prologtopik und Märchenformeln wie ›wenn sie nicht gestorben sind...‹.
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haft lösbaren Konflikten zwischen dem Eigenraum höfischer Zivilisation und dem Fremdraum der âventiure, also vor einem Konfliktverhältnis, in welchem sich eben nur momentan, nur punktuell der Erfolg einer Selbstversicherung durch den erbrachten Tugendnachweis oder die unerhörte ritterliche Leistung einstellt, welche aber schon im Augenblick des Triumphes – wie die einmal integrierten Sælde-Kleinodien – notwendigerweise obsolet werden muss. Auch im zweiten Handlungskomplex wird die Figur wieder in einer Erfahrung des gattungsfremden ›Anderen‹ ihres präformierten Charakters gezeigt. Dabei wird es sich diesmal nicht um eine Travestie Gaweins als sich verligender Erec, geistesumnachteter Iwein oder gar um die pompöse Rolle als der ander Artus handeln. Dennoch stellt der Gang durch das ›Andere‹ auch in diesem Teil der Crône eine eklatante Transgression der gattungstypischen Disposition der Figur dar, und zwar um eine von entfremdender, erzwungener Distanz geprägte, aber keineswegs lächerliche Rolle im situativen Kontext greller, apokalyptischer Visionen und Gewalttätigkeiten. Meyer nennt sie ein ›Sich-tot-Stellen als Ritter‹, ein Einbüßen seiner ritterlichen Funktion, die auf Gaweins sozialen Tod am Artushof in der Szene der Provokation durch Gygamec hindeute.355 Das grammatische Aktiv des ›Sich-tot-Stellens‹ wird allerdings als erzählerisches Passiv-Sein einer auferlegten bzw. erzwungenen Erfahrung realisiert. Die insgesamt drei Wunderketten lassen sich als Descensuserfahrungen auffassen, bei denen der Held »an zum Teil phantastisch anmutenden Ereignissen vorüberzieht, die er wahrnimmt, aber zu denen er nicht handelnd in Beziehung [...] treten kann.«356 Mit der ersten von ihnen wird Gawein auf seinem Weg zum Palast der Sælde (ein Gebäude in der Art des himmlischen Jerusalems) konfrontiert. Die zweite Descensuserfahrung wird mit dem Tod seines Doppelgängers und damit seinem eigenen sozialen Tod verknüpft, was am Artushof den momentanen Kollaps der freudevollen Utopie auslöst. Die dritte Wunderkette führt später als Descensuserfahrung in das Reich des Grals, das sich als Welt lebender Toter erweist. Der metaliterarische Aspekt der inszenierten Alterität der Gaweinfigur lässt sich besonders leicht an der zweiten Wunderkette veranschaulichen. Hier wird Gawein zu Eingang des Geschehens von einem gewissen Aanzim, dem Vasallen Fortunas, ausdrücklich der Auftrag mitgegeben, sich auf seinem Weg um ja nichts zu kümmern und auf keine Herausforderung weder von Damen noch Rittern einzugehen [V.15980–995]. Diese Auflage, die Gawein auf seinem anschließenden Ritt durch die apokalyptischen Szenerien einzuhalten hat, prallt aber wiederholt auf die Forderung insbesondere von hilfesuchenden Frauen. Denn die zweite Wunderkette reizt den Hofakteur mit einer »Liste typischer Kampfanlässe und –motive«,357 die weit mehr sind als
355 356 357
S. Anm. 354, S. 134. Bleumer: Crône, 1997, S. 238. Kern: Bewußtmachen, 1999, S. 215.
300
nur ein veritabler »Katalog ritterlicher Bewährungsmöglichkeiten«,358 nämlich eben Herausforderungssituationen, denen sich ausgerechnet Gawein, Inbegriff und Idealfigur der chevalerie nicht ohne Gesichtsverlust entziehen könnte. So fleht ihn eine Dame an: Her Gawein, lant schinen An disen sorgen minen, Das ie an uch funden ist. Wer rat vnd helff genist An uch versüchen kunde, Wie wol von uwerm gunde Dem von mannheit geschah, Wann wijbes leit ie zerbrach Vwer freude, bisz es gerochen wart.
[V.16103–111]
[Herr Gawein, zeigt angesichts meines Kummers das Verhalten, für das Ihr von jeher bekannt seid. Wer je die Gelegenheit hatte, von Euch Beistand in Form von Rat und Hilfe zu erbitten, wie gut erging es dem durch die Tapferkeit, die Ihr großmütig erwiesen habt. Denn die Not von Frauen hat schon immer Eure Freude zerbrochen, bis sie gerächt wurde.]
Mit ihrer flehentlichen Anrufung besteht die hilfesuchende Dame geradezu auf der Einhaltung der gattungstypischen Gaweinrolle, die ie an uch funden ist. Hierzu gehörte ja schon seit den klassischen Versromanen, dass die Gauvainfigur insbesondere den puceles desconseillies, den veve dame ou orefenine, also den notleidenden Mädchen, den Witwen oder Weisen, wie sie im Conte du Graal genannt werden, zu Hilfe zu kommen hat (vgl. Kap. II. 5.2.1.b und II. 5.2.2.3). Gauvains Leistung im Conte du Graal bestand u. a. darin, den weiblichen Zivilisationsflüchtlingen auf dem Roche de Canguin als Schutzherr beizustehen. Das Verhaltensmuster des Beistands für hilfsbedürftige Frauen zieht sich durch die gesamte Gattung der Versromane und zeigte sich auch im Roman van Walewein in einer sehr ähnlichen Formulierung ([V.3211–18], vgl. III. 4.1.2). Bereits die erste Wunderkette forderte Gawein Passivität ab, indem er dort Phänomenen nachjagte, die er nicht einholen konnte, und deren Sinn er nicht verstand, Erscheinungen also, die sich weder physisch noch geistig ›erfassen‹ ließen, »während alle dazwischen auftretenden Erscheinungen [...] wie Appelle« wirkten, den Helden von seinem »anvisierten Ziel abzulenken.«359 (Nebenbei bemerkt gab es auch in der ersten Wunderkette schon ein konkretes âventiure-Verbot [vgl. V.14523–535].) Die Hierarchisierung der Ziele zwang Gawein schon dort in die passive Rolle eines Zuschauers unbegreiflicher Vorgänge. Nun vereindeutigt das Aanzim-Gebot zu Eingang der zweiten Wunderkette diese Pflicht zur Passivität quasi als eine magische Kondition des Weges vom 358 359
Bleumer: Crône, 1997, S. 247. S. Anm. 358, S. 240.
301
Reich der Sælde zurück in die Welt des arthurischen ordo, wobei signifikanter Weise die zu ignorierenden »Handlungsanreize noch stärker exponiert« werden.360 Der Ritt durch die Wunderkette ist also ein Weg durch einen Fremdraum, in welchem das gattungstypische Verhalten der Figur keine Antwort auf die Herausforderungen mehr sein darf, obwohl die zweite Wunderkette sich gerade dadurch »inhaltlich deutlich von den beiden anderen« abhebt, dass »ihre Herausforderungen der höfischen Welt und deren Verhaltensanforderungen entstammen.«361 Das Gebot Aanzims resultiert in einer Entfremdung der Figur von sich selbst, nämlich indem sie von ihrem gattungstypischen Verhalten, von präformierter Rolle und Funktion abstehen muss. Dazu gehört es nicht nur, um Hilfe flehende Damen mit Kindern am Wegrand zu ignorieren, sondern auch ritterlichen Herausforderern den Zweikampf zu verweigern und sich als ›Zage‹ [V.16146] beschimpfen zu lassen. Gaweins verlangte Passivität in dieser Wunderkette kann allerdings nur durch wiederholte Interventionen einer urplötzlich erschienenen Helferfigur, Samanidye, der Schwester Aanzims, gesichert werden. Offenbar kann die Gaweinfigur sich in diesen Fällen gattungstypischer Herausforderungen oder Hilfegesuche nicht aus eigener Kraft an die Auflage von Aanzim halten, sondern neigt zur Übertretung des Passivitätsgebotes. Was der Text dem Publikum als »Tugend des Protagonisten« präsentiert, »die zum Verstoß gegen das Gebot zwingt«,362 ist auf narrativer Ebene das Paradox des Auslösens einer klar definierten Funktionalität die durch eine zuwiderlaufende Spielregel des Textes gerade dadurch vorgeführt wird, dass sie als außer Kraft gesetzt erscheint. Es bleibt eine offene Frage, ob und welchen moralischen oder weltanschaulichen Wert man mit dieser Demonstration des narrativen Paradox‹ verbinden sollte.363 Meyer wertet die Hilfestellung Aanzims und Samanidyes als Nachweis, dass die zuvor gegebenen Garantien der Sælde zuverlässig sind.364 Stein weist dies zurück, denn gerade das Passivitätsgebot Aanzims und die Warnung seiner Schwester »setzen den Protagonisten doch ganz ausdrücklich in die Lage, die Anfechtungen beim Ritt durch den unheimlichen Wald aus eigener Kraft zu bestehen.«365 Stein vermutet, die Sælde selber könne für die »befremdliche« Szene verantwortlich sein, da sie sich in ihrem Grenzgebiet abspiele. Hier werde also das für den Artusroman völlig untypische Phänomen gezeigt, dass der Ritter sich bei einer Tugendprobe nicht selber qualifiziere.366 Für eine Verantwortung von Sælde gibt es aber keinen 360 361 362 363
364 365 366
S. Anm. 358. Felder: Stellenkommentar, 2006, Kommentar zu V.15932–16496. Bleumer: Crône, 1997, S. 249. Die Ausführungen von Johannes Keller: Diu Crône Heinrichs von dem Türlin: Wunderketten, Gral und Tod. Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. Bd. 25. Bern u. a. 1997, sind mir vollkommen schleierhaft. Meyer: Verfügbarkeit, 1994, S. 132. Stein: Integration, 2000, S. 160. Übrigens sind alle von Stein angetragenen Belege für derartige Hilfeleistungen dritter ohne
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konkreten Hinweis im Text. Als Minimalkonsens bezüglich aller Wunderketten bleibt somit nur, dass es um einen Ritt durch ein Grenzgebiet geht, also einen Weg von einem Jenseitsbereich, bevölkert von allegorischen Figuren, zurück in das ›Hier und Jetzt‹ der Artuswelt. Die letztendliche Nicht-Interpretierbarkeit der Wunderketten ist vermutlich nur aufgrund ihrer herausgehobenen Erzählsituation stärker markiert, als die des übrigen Textes. Insgesamt aber legen die meisten Forschungsbeiträge heute wieder den Finger auf den wunden Punkt des Kohärenzproblems von Heinrichs Roman. So betrachtet Bleumer die zahlreichen Handlungsbrüche und Inkonsistenzen der Crône als Folge einer »figuralen Anordnung« des Erzählens,367 die sich nicht ausschließlich linear lesen lasse. Wo die kausallogische Perspektive versage, weil sich das Geschehen dort nur widersprüchlich darstelle, ordne es sich unter der figuralen Perspektive »zu einer Reihe von Einzeltableaus, deren Verhältnis zueinander ihren Sinn ausmacht, d. h. es geht [...] um das, was im stets neuen Durchgang zur Debatte steht.«368 Mit anderen Worten, Heinrich spielt die verschiedene Ausgestaltungen eines bestimmten Problems in situativen Inszenierungen nacheinander durch, die jede als eine jeweils andere Variante des übergreifenden Themas einander auch widersprechen können. Diese Sichtweise Bleumers deutet in eine ähnliche Richtung wie die Auffassungen Rüdiger Schnells, der von einem »unverbindlichen Spiel verschiedener Argumente« 369 sprach. Thomas Gutwald konstatiert – allerdings nur punktuell auf den dorfspel-Exkurs des Erzählers [V.17425–466] bezogen – »tatsächlich [...] sehr heterogene Modi des Erzählens [...]«, die »kaum als kompatibel erscheinen.«370 Diese Inkohärenz sei mutmaßlich in den Neidhart-Kontext einzuordnen, der das chaotische Kommunikationsverhalten der dörper als ›Gewirr‹ entlarve und Kohärenzerwartungen enttäusche. Gutwald nimmt an, der Erzähler könne sich eines ›dunklen Stils‹ bedient haben, wodurch »jenes zwischen dorfspel und adelîchen sprüchen angesiedelte Erzählen [...] nicht mehr ohne weiteres als eine Vermittlung von Sinn« zu sehen sei.371 Während Volker Mertens der Crône eine Art postklassischen Erzählens bescheinigte, worin der »höfische Roman als didaktische Gattung nicht kontinuierbar, nur noch imitierbar« sei,372 ging Peter Stein weiter und verneinte jede Möglichkeit übergeordneter Deutung aufgrund zu vieler, ganz offensichtlich vom Autor intendierter Widersprüche. Heinrichs literarisches Spiel bestehe im »Verzicht auf der aventiure meine.«373 Uta Störmer-Caysa
367 368 369 370 371 372
373
Gaweins eigenes Verdienst keine Belege für gattungsuntypisches Erzählen. Klassische Protagonistenromane legen natürlich Wert darauf, dass die noch unvollkommene Figur des Helden auf ihrem Weg durch eigene Leistungen den Nachweis zur Höherwertigkeit erbringt. Die Gaweinfigur ist aber so nicht definiert. Gleich wie sie ihre Herausforderungen meistert, durch Leistung oder durch das Wohlwollen höherer Mächte, es ist immer ein Zeichen der Berufung. S. Anm. 366, S. 41. S. Anm. 366. Schnell: Recht und Dichtung, 1981, vgl. S. 221. Gutwald: Schwank, 2000, S. 254. S. Anm. 370, S. 255. Volker Mertens: ›gewisse lêre – Zum Verhältnis von Fiktion und Didaxe im späten deutschen Artusroman‹, in: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von F. Wolfzettel. Beiträge zur deutschen Philologie. Bd. 67. Giessen 1990, S. 85–106, S. 92. Stein: Integration, 2000, S. 295.
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belegt Inkongruenzen für die lineare Zeit gegenüber der »handlungsimmanente[n] Erfüllungszeit [...], die abgeschlossenes Handeln als Zeitmarke auffaßt.«374 Das bedeutet so viel wie: wenn der Erzähler sagt, etwas müsse unbedingt binnen 40 Tagen geschehen, kann es genauso gut in 44 Tagen geschehen, ohne dass dies Konsequenzen für die Handlung hätte. »Das Nebeneinander der gezählten und der durchlebten Zeit erleben die Figuren als unproblematisch.«375 Störmer-Caysa folgert, dass die Crône »das Prinzip der Kausalität« relativiere. »Wo sie Kausalität darstellt, ist es eine schwache Kausalität, denn Unterschiede in der mehrmals dargestellten Ursache bewirken nicht notwendig differenzierte Folgen.«376 Es zeigt sich, dass auch die moderne Forschung bei ihrem aufrichtigen Bemühen um einen vorurteilsfreieren Zugang zu diesem Roman noch immer mit den Aporien ringt, von denen das mittelalterliche Erzählen mit irritierender Regelmäßigkeit geprägt ist. Es besteht andererseits kein Zweifel, dass diese Texte im Mittelalter durch die Auffassung von Zuhörern und mutmaßlich Lesern in ein wie auch immer geartetes Verständnis übersetzt wurden. Das Zitat Cormeaus vom »Variationscharakter der Romane«, die durch »Neukombination bekannter Bausteine [...]« vergleichbar mit »der Variation des gleichbleibenden Ensembles von Motiven im Minnelied« »[...] den Spielraum der Gattung« abtasten,377 auf welches ja auch Peter Stein hinweist, mag als Beschreibung des gattungstypischen Hintergrunds eines solchen Rezeptionsvorgangs weiterhelfen. Diese Sichtweise gebietet Vorsicht gegenüber Gesamtdeutungen quasi aus einem Guss, schließt andererseits aber Bleumers Sicht nicht aus, dass Permutationen von sinntragenden aber einander widersprechenden Szenen gegeneinander ausgespielt werden Sie schließt insbesondere nicht aus, dass zu den ›Bausteinen‹, die variiert und neu kombiniert werden, durchaus strukturelle Zusammenhänge wie jene gehören, die sich aus dem Muster des narrativen Schwungrades herleiten. Von solchen strukturellen Zusammenhängen – wie eben jener zwischen Initialkrise und Rektifikationsleistung der Gaweinfigur oder jener zwischen ›unbeabsichtigter Mitverantwortung‹ und ›peinlichem Ausrutscher‹ – lässt sich durchaus demonstrieren, dass sie (durch auffällige Erzählerhinweise, Wiederholungen etc) als kausallogische Verknüpfungen ›inszeniert‹ werden, auch wenn diese Kausalität mit Uta Störmer-Caysa gesprochen eine schwache ist.
Die Alterität des Nicht-so-Seins Gaweins, die ihm im Gang durch die Visionsräume der Wunderketten auferlegt ist, welche selber durch ihren irritierenden »Grad an Offenheit« literarisch aus dem übrigen Text herausragen,378 markiert jedenfalls eine andere Strategie des Inszenierens und Bestätigens der Erzählkonstanten arthurischer Versromane. Das im Gattungswissen Verankerte, nämlich die Tugenden und Pflichten ritterlichen Handelns, die Gawein musterhaft verkörpert, erscheint nun ex negativo aus dem nicht strukturell geordneten, assoziativen Bereich der Bilder und Zeichen, in der die Möglichkeit funktionaler Verknüpfung durch figurales Handeln ostentativ außer Kraft gesetzt ist.
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Störmer-Caysa: Chronologie, 2003, S. 217. S. Anm. 374. S. Anm. 374, S. 224. Cormeau: Gattungsentwicklung, 1984, S. 119–131, S. 122. Bleumer: Crône, 1997, S. 252.
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Es gilt aber zu beachten, dass Gawein am Ende seiner Wege durch die Wunderketten wieder ganz ›der Alte‹ sein wird, der der er vorher schon war. Ebenso wenig wie die Erfahrung der Alterität in seiner Krise bei Amurfina etwas an der Substanz der Gaweinfigur ändern konnte, ebenso wenig ändern diese Wege durch die Wunderketten etwas an dem Hofakteur. Deshalb kann selbstverständlich keine Rede davon sein, dass Gawein z.B. während der zweiten Wunderkette »umerzogen werden soll, um seiner zukünftigen Rolle als Artusund Gralsritter gerecht werden zu können.«379 Die angeblich »neue, erweiterte Identität« der Figur, die Daniela Ganter »mit Sicherheit manifestiert« sieht, wird in der Figurenrede ausdrücklich bestritten, wenn Gawein dem Hof hernach versichert: Jch bin es nach Gawein, als ich auch vor hin was, der vor maniger freise genasz, das auch noch geschehen mag [V.25619–624]. (›Ich bin noch immer derselbe Gawein, der ich auch früher war, der viele Gefahren überstanden hat und auch in Zukunft überstehen wird‹). Das bezieht sich auch auf die Szene der Provokation durch Gygamec, die als ›gesellschaftlicher Tod‹ Gaweins interpretiert wurde. Die Szene der Trauer um Gaweins Tod am Artushof stammt übrigens aus dem Conte du Graal und wurde von Heinrich u. a. aus strukturellen Gründen übernommen, denn an ihr setzt ein weiterer Umlauf des narrativen Schwungrades an, wovon nun zu reden ist. III.4.2.3.2 Fünfter und vierter Anlauf des Schwungrades (5. Gralqueste und 4. Gawans vermeintlicher Tod) Eingangs der vorherigen Erörterung war verfolgt worden, wie Heinrich das narrative Muster der unbeabsichtigten Mitverantwortung Gaweins für die kausale Verknüpfung der Questen mit den Anliegen und Defizienzen der Hofgesellschaft nutzt. Darin hatte sich sein Erzählen als analog zu dem Muster erwiesen, welches an der Figur Gauvains bei Chrétien dargestellt werden konnte. Doch im Einzelnen bedient sich Heinrich auch im zweiten Teil der Crône noch mehrfach neuer, zusätzlicher Anläufe des narrativen Schwungrads, um die Handlung nach jeder Artushofstation wieder aus dem Handlungsstillstand herauszutreiben, ganz so als reiche die Motivation der Verstrickung Gaweins in die ursprüngliche Defizienz des Hofes als Handlungsantrieb nicht aus. Diese auffällige Wiederholung des Musters wird mehrere Gründe haben. Sie beruht wahrscheinlich zum einen auf dem riesigen Umfang des Textes, dessen Handlungsdynamik durch die episodische Gliederung wiederholt in Zwischenschlüssen am Artushof abebbt, weshalb neue Anstöße erforderlich werden. Zum zweiten mag sie durch den Conte du Graal angeregt sein, wo in der mittleren Artusszene durch das erscheinen der hässlichen Botin neue Questeaufgaben an 379
Daniela Ganter: ›Diu Crône Heinrichs von dem Türlin: Gâwein – Sklave seiner Wege‹, in: Schwierige Frauen – Schwierige Männer in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von A.M. Haas, I. Kasten. Bern 1999, S. 91–107, S. 97.
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die Tafelrunde herangetragen werden. (Diese neuen Herausforderungen hängen dort jedoch nicht mit dem Muster des narrativen Schwungrades zusammen, denn es kommt weder zu einer gesellschaftlichen Lähmung, da sich zahlreiche Ritter bereitfinden, die aventuren anzutreten, noch kommt es folglich zur typischen Wechselwirkung zwischen den Intervention Keus, des Protagonisten und Gauvains.) Zum dritten muss davon ausgegangen werden, dass die auffällige Wiederholung des Durchlaufs durch die Stationen des Schwungrades demonstrativen Charakter hat. So wie Heinrich in inhaltlicher Hinsicht bestrebt war, durch eine summarische Fülle von Motivzitaten die Traditionsanbindung der Crône akribisch vorzuführen, so dürfte die auffällige Wiederholung des Schwungrads mit seinen beim Publikum bestens bekannten Elementen (Provokation, Stasis, Inertia Gaweins, Intervention Keies, Bestrafung etc) ein narratives Mittel gewesen sein, auch das Erzählverfahren in der Crône als unzweifelhaft gattungskonform, quasi gattungshypertroph auszuweisen. Peter Kerns Einschätzung, dass die Gattungstradition von Heinrich nicht »unter der Idee eines progredierenden mythischen Analogons begriffen« wurde, »sondern als Konstruktionsmuster mit bestimmten Konstanten, Strukturen und Baugesetzen, die für die Werke der vorgegebenen literarischen Reihe prägend waren, ohne daß die dort erzählten Geschichten und [...] Problemlösungen verbindlich wären«,380 liefert eine mögliche Erklärung für diese Tendenz der SchwungradWiederholungen. Denn wenn Heinrichs Erzählen einerseits so frei mit den Figuren umspringt, wie es zuvor beschrieben wurde, legitimiert er diese erzählerische Freiheit auf der anderen Seite mit wiederholten, nachdrücklichen Gattungssignalen und zwar insbesondere in Form einer besonders konsequent an Chrétien orientierten narrativen Syntax. Peter Stein bestreitet grundsätzlich, dass die altfranzösische Literatur beim deutschen Publikum bekannt gewesen sei, weshalb er keine Notwendigkeit sieht, das Erzählverfahren in der Crône mit diesen zu vergleichen.381 Den Gattungshorizont für Heinrichs Roman konstruiert er ausschließlich als Hartmanns Erec und Iwein, Wolframs erste sechs Parzivalbücher und Ulrichs Lanzelet.382 Alles andere hätte aufgrund von Unkenntnis der Rezipienten eben auch nicht als Gattungssignal verstanden werden können. Angenommen Steins Einschränkung wäre statthaft, dass man deutsche Adaptationen französischer Romane (und zumindest die Salye-Handlung ist ja laut Stein eine solche)383 nur mit ihrem deutschen literarischen Kontext zu vergleichen brauche, dann hätte das deutsche Publikum trotzdem immer noch die konstitutiven Elemente des narrativen Schwungrades wiedererkennen können. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass weder Hartmann noch Wolfram das Schwungrad bewusst bzw. konsequent in ihren Romanen nachvollzogen haben, nämlich deshalb weil die einzelnen Elemente für sich genommen, die
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Kern: Bewußtmachen, 1999, S. 215. Stein: Integration, 2000, S. 151f.. S. Anm. 381, S. 142. S. Anm. 381, S. 103.
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selbstverständlich auch bei Hartmann und Wolfram ausreichend klar als typische Signale arthurischen Erzählens auffallen, fest im Gattungswissen des Publikums verankert waren. Wenn also das deutsche Publikum diese Signale nicht als aufeinander bezogene Elemente eines übergeordneten Erzählmusters kennen gelernt haben sollte, so war es zumindest mit diesen Elementen an sich vertraut und vermutlich sogar mit einem Bewusstsein ausgerüstet, in welchem Erzählabschnitt mit einem jeweiligen Element gerechnet werden konnte.
Zwei weitere Umläufe des narrativen Schwungrades sollen nun noch betrachtet werden, von denen der chronologisch spätere, fünfte Anlauf zuerst besprochen wird. Der dazwischenliegende, vierte Umlauf weicht in einigen Punkten vom klassischen Muster ab und bedarf genaueren Studiums insbesondere seines Zitatcharakters. Zunächst also ein Blick auf den letzten, fünften Umlauf. Er setzt in der Artushofszene in Karidol anschließend an die harmonische Vollendung des Salye-Gyremelantz-Komplexes ein. Aus technischen Gründen rundet Heinrich dieses in der Gauvainpartie des Conte du Graal erzählte Geschehen erst mit einem freudenvollen Fest ab [V.22532], bei dem auch Gyremelantz mit Gaweins Schwester verheiratet und in die Tafelrunde aufgenommen wird. Erst nach diesem Zur-Ruhe-Kommen der Handlung erfolgt der Neueinsatz mit einem weiteren Anlauf des Schwungrades. Die Provokation erfolgt diesmal in drei Schritten. Das heißt zwei äußeren Provokationen geht der Bericht Gaweins vom unbeabsichtigten Todschlag Dahamorhts voran, wofür dessen Bruder Ansgaras die Kompensationsleistung der Gralqueste von ihm verlange. Die Tafelrunde ist nach Gaweins Mitteilung tief erschrocken, denn die Forderung der Gralqueste verband Ansgaras mit der Hoffnung, dass durch die fortwährende Abwesenheit des Hofakteurs dirre hoff zergee [V.22779]. Folgerichtig begründet die Erzählerrede also das allgemeine Entsetzen damit, dass an yme allein lag, was man do freuden pflag; der was er aller orthab [V.22813–15] (›von ihm [Gawein] allein die Freude des Hofes abhing. Er war der Urheber all dieser Freude‹). Auf diese âventiure-Nachricht und die anschließende Bestürzung erfolgt dann die eher unspektakuläre Übergabe des Sælde-Rings, der das ewige Bestehen des Artusreiches garantiert, womit streng genommen die ganze Aufregung der Ritterschaft unnötig gewesen wäre und die anschließende, letzte âventiure der Gralfahrt nur noch eine Routine sein dürfte. Der unvermeidliche Eindruck, dass diese narrativ nur schwach markierte Provokation (einer âventiure-Nachricht in Abwesenheit des Herausforderers) durch das gleichzeitige Überreichen des Remediums irgendwie im Sande verlaufe, ist auch aus struktureller Sicht gerechtfertigt. Denn die in dieser Provokation enthaltene Handlungspotenz hat sich ja längst als die Katastrophe des vermeintlichen Todes Gaweins mit anschließendem Kollaps des höfischen Lebens vollzogen. Sie war ca. sechstausend Verse zuvor in Form von Gygamecs Provokation mit dem Haupt des Doppelgängers inszeniert und in dramatischen Klageszenen ausgespielt worden. Damit gehört die âventiure-Nachricht Gaweins 307
zu Beginn der Gralfahrt nur noch inhaltlich (als Questelegitimation) zum letzten Umlauf des narrativen Schwungrades. Erzähltechnisch ist sie ein Element des vorausgegangenen, vierten Umlaufs des Schwungrades, welches nachträglich begründet, was schon inhaltlich auserzählt und auch längst gelöst wurde. Ein neuer Handlungsanstoß jedenfalls lässt sich aus Gaweins Bericht nicht mehr recht herleiten, obwohl der Erzähler sich bemüht, die Wirkung des Sælde-Rings sofort nach dem Überreichen herunterzuspielen, indem er klarstellt, dass es am Hof einstweilen noch nichts zu lachen gäbe, e dise angstliche vart von yme geleistet wurd [V.22957f.]. Dass der Erzähler Recht behält, erweisen die anschließenden zwei Provokationen durch die Botin Gyramphiels und den Ritter auf dem Bock, deren gemeinschaftliches Ziel darin besteht, dem Hof die Saelde-Kleinodien und den Fimbeusstein abzunehmen. Das dürfte aufgrund der Ringgabe eigentlich gar nicht möglich sein. Aber die narrative Logik erfordert mit mechanischer Konsequenz, dass sie dabei erfolgreich sein müssen, was nichts anderes bedeutet, als dass die Wirkung des Saelde-Rings im Moment des nächsten Erzählanstoßes obsolet geworden ist. Nur wenn die potentielle Untergangsdrohung erneut über der Tafelrunde schwebt, kann ja eine weitere, erfolgreiche âventiure die momentane Selbstversicherung der arthurischen Utopie glaubhaft machen. Die zwei von Gyramphiel aus der Ferne gelenkten Provokationen, nämlich die der hochpeinlichen Handschuhprobe und ihrer Fortführung, der Herausforderung durch den Ritter auf dem Bock, gipfeln in einem Trick, dem Hof die magischen Objekte zu entfremden. In der Handschuhprobe war dem Hof von einer schönen Botin vorgeführt worden, dass das Überstreifen eines magischen Handschuhs im Prinzip eine der beiden Körperhälften unsichtbar machen kann. Der Ritter auf dem Bock erscheint anschließend mit dem zweiten Handschuh bei Artus, erklärt, er komme im Auftrag der Sælde um Gawein lebenswichtige Instruktionen für seine Gralqueste zu überbringen und lässt sich zu einer Demonstration die magischen Erfolgsgaranten, den ersten Handschuh, den Fimbeusstein und den SældeRing aushändigen. Vor dem Überstreifen der Handschuhe, die ihn unsichtbar machen und sein Entkommen mit den Kleinodien ermöglichen werden, verlangt er von Artus, dass keiner der Anwesenden ihn bei seiner Demonstration stören dürfe. Artus sichert es ihm zu, und: [...] gebot vnd batt, Das nyeman da von siner stat Komme dorch kein geschiht, Ob er des vrlaubs niht Hette von disem botten. [V.24976–981] [(...) befahl und bat darum, dass dort niemand aus welchem Grund auch immer seinen Platz verließe, es sei denn er hätte die Erlaubnis dieses Boten.]
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Auf diesen Befehl hin bleiben die Ritter und Damen wie angewurzelt an ihren Plätzen stehen. Der Hof ist gewissermaßen erstarrt und bleibt es auch gut 500 Verse lang. Die Herrschaften gehorchen dem Gebot des Königs so bedingungslos, dass der Erzähler seinen (eigentlich Keie angemessenen) Spott über die eigenen Figuren nicht unterdrücken kann: groszer zuchte hort da schein [V.25327] (›da offenbarte sich ihre höchst vornehme Erziehung‹). Heinrich motiviert das typische, narrative Element der Stasis, also der Lähmung der Ritterschaft und des ganzen Hofes infolge der Provokation, in dieser Szene durch einen ausdrücklichen Befehls des Königs. Zugleich aber ist diese Lähmung mehr als nur die übliche Reaktion des Hofes auf die Provokation von Außen. Sie ist auch die entscheidende Voraussetzung für das Gelingen des Trickdiebstahls. Sie ist schließlich, und zwar gerade weil sie vom König selbst befohlen wurde, die Voraussetzung für die besondere Komik der Szene. Ähnlich der Pointe in Joachim Ringelnatz’ Bumerang-Gedicht (»Publikum – noch stundenlang – wartete auf Bumerang«) gelingt es Heinrich, die gattungstypische Stasis als Pointe der lange verzögerten Antiklimax zu konstruieren. Denn die vom Bockritter getäuschte Hofgesellschaft wartet ja noch lange vergebens auf das vermeintliche Ereignis, welches ihr angekündigt worden war, und um dessentwillen sich keiner vom Fleck rühren durfte. Ein ursprünglich rein funktionales Element im Interaktionsmuster der Figurenrollen wird in Heinrichs ironischem Erzählen als Inhalt an sich verfügbar. Eine der Figuren jedoch, das war nach dem Muster des narrativen Schwungrades gar nicht anders zu erwarten, hält sich nicht an die Anweisung des Königs. Die Intervention Keies erfolgt musterkonform zu einem Zeitpunkt, wo noch niemand außer ihm – insbesondere nicht Gawein – die Situation vollständig erfasst hat oder reagieren kann. Sein Reaktionsmuster besteht sowohl aus tätlichem Eingreifen, denn er ist der einzige, der sich nicht an das Gebot des Königs hält [vgl. u. a. V.24985], als auch in der typischen Spottrede, mit der er versucht, den Betrug aufzudecken [vgl. u. a. V.25155]. Auf Keies Reaktionsmuster ist im nächsten Abschnitt noch genau einzugehen (vgl. III. 4.2.3.3), weshalb hier das Identifizieren der typischen Elemente des Schwungrades genügen soll. Die Intervention Keies führt musterkonform nicht zum Erfolg. Der Kleinodienraub gelingt und zieht folglich die Intervention der Gaweinfigur nach sich, die die entstandene Krise des Hofes beheben muss. In der anschließenden Queste nach dem Gral, an welcher Keie teilnimmt, bleibt ihm zwar der Pferdabwurf erspart, aber es kommt trotzdem zu einer Bestrafung, denn Keie wird in der gefährlichen Kapelle in Illes eingeschlossen. Unzweideutig macht der Erzählerkommentar den Zusammenhang klar: Ob er ie geprüfet spott, des must er nu zü b7sze stan [V.29065f.]. (›Wenn er je Spott getrieben hatte, so musste er jetzt dafür büßen‹). Die Rektifikation erfolgt zuletzt im Wiedererwerb der Kleinodien.
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Während der fünfte Anlauf des narrativen Schwungrades in der Crône von den Elementen und ihrer Abfolge her relativ leicht zu identifizieren ist, gilt für den vorausgegangenen, vierten Umlauf, dass wichtige Bestandteile seiner Motivation erst aus der Rückschau vollständig aufgedeckt werden. Es war oberhalb schon davon die Rede, dass die malafide Intention des Ansgaras, die höfische Freude durch das Fernhalten Gaweins vom Hof zu zerstören, eigentlich auf die Krise (die Nachricht von Gaweins vermeintlichem Tod) und die Rektifikationsleistungen während des vierten Umlaufs bezogen waren. Mit der Rückkehr eines noch lebenden Gaweins und der Integration des Sælde-Rings als Ewigkeitsgarantie musste diese Drohung wenigstens dem Prinzip nach als bereits überwunden gelten. Die Drohung des Ansgaras, durch Gaweins Tod den Hof zu vernichten, wirkt also nicht in die Zukunft des Erzählten, sondern ergänzt das bereits Vergangene um eine Motivation. Diese rückwärtige Motivation soll zunächst eingehender analysiert werden, bevor der vierte Anlauf des Schwungrades selber rekonstruiert werden kann. Bleumer hat den Mechanismus der rückwärtigen Motivation des Questegeschehens in diesem Abschnitt der Crône bereits beschrieben. Er sah ihn in Abhängigkeit zu zwei Faktoren gegeben, »die nach einer Ausgleichsbewegung durch den Helden verlangen«,384 nämlich erstens in der Nachricht von Gaweins vermeintlichem Tod und zweitens in der Mordanschuldigung durch Ansgaras. Beide Motive beziehen sich auf Ereignisse, die zum Zeitpunkt des Berichts bei Hof bereits vergangen sind. Dabei setzt Bleumer mit Vers 16497 den Beginn des Handlungskomplexes, der inhaltlich mit der Gauvainpartie des Conte du Graal verwandt ist, schon bei der Begegnung Gaweins mit Gygamec, Zedoech und Aamantz an, das heißt bei dem Ereignis, welches der fingierten Todesnachricht ursächlich vorausgeht. Wenn er in seiner Einschätzung richtig liegt, so ist die Szene der Todesnachricht der zentrale, strukturelle Angelpunkt für die gesamte Handlung ab Gaweins Begegnung mit den drei streitenden Rittern bis zu seiner Rückkehr von Salye nach Karidol. Dem zeitgenössischen Rezipienten eröffnete sich dieser Zusammenhang aber erst aus der Rückschau, nämlich insgesamt erst in dem Moment, wo in Gaweins Ansprache nach seiner Rückkehr zum Hof die Fäden zusammengeführt werden. Doch modernen Kennern der französischen Artusliteratur dürfte beim Lesen bereits vorher ein Licht aufgehen, auf welchen Zusammenhang Heinrich mit seiner rückwärtigen Inszenierung anspielt. Zwischen dem Überbringen der Nachricht von Gaweins vermeintlichem Tod [V.16767ff.] und dem Aventiurebericht Gaweins nach der Rückkehr nach Karidol [V.22571] liegt nämlich jene Szene, wo die Hofgesellschaft darüber informiert wird, dass Gawein noch lebt [V.21884–889]. Diese Szene ist es, die Heinrichs Regie aufdeckt und den Zitatcharakter des Geschehens sichtbar werden lässt. 384
Bleumer: Crône, 1997, S. 188.
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Schmolke-Hasselmann hatte sich in ihrer berühmten Studie zum arthurischen Versroman noch verwundert gefragt, »welcher der Autoren des 13. Jahrhunderts zuerst« auf die Idee des Scheintodes Gaweins gekommen sei.385 Zach dagegen wusste bereits: »Trauer um Gauvain« gibt es auch im Conte du Graal.386 Lakonisch merkt Zach an: »Gleiche Grundsituation wie in der Crône.«387 Die »gleiche Grundsituation« bezieht Zach aber nicht auf die vielbeachtete Klageszene, die sich an die Provokation Gygamecs mit dem Haupt des Doppelgängers anschließt, sondern auf jene, wo die Hofgesellschaft über den Irrtum aufgeklärt wird. Das dramatische Trauern um Gaweins vermeintlichen Tod in den allerletzten Szenen des Torsos von Chrétiens Roman hat Wolfram, anders als Elisabeth Schmid oder Gudrun Felder meinen, signifikanterweise unterdrückt bzw. in bloße Besorgtheit über das lange Ausbleibenden des Königsneffen abgeschwächt.388 Mehr noch als nur durch die gleich Grundsituation eines verzweifelten Königs (der bei Chrétien vor Trauer besinnungslos wird), sind auch die strukturellen Anschlussnähte beider ›Revitalisierungsszenen‹ identisch markiert, denn im Stationengefüge stehen sie beide kurz vor dem Abschluss der Gyremelantzhandlung. Die Nachricht von Gaweins bzw. Gauvains Weiterleben erreicht den Hof in beiden Fällen durch einen Knappen, den Gawein [Cr 21797–800] / Gauvain [CdG 9076–91] als Bote mit einer Einladung zu Artus geschickt hatte. In beiden Fällen wird das Ereignis von einer Hofdame wahrgenommen, die im Conte du Graal als ma dame Lores [CdG 9227] als letzte Person dieses Romans auf den letzten Zeilen des Fragments eingeführt wird, während es sich in der Crône um ein magt [Cr 21950] handelt. Beide Frauen machen sich daraufhin sofort auf den Weg [CdG 9230f.], [Cr 21951], die Nachricht von der Ankunft des Boten zu Ginover zu bringen. Diese auffälligen Parallelen machen klar, dass der fingierte Tod Gaweins ein szenisches Zitat aus dem Conte du Graal ist, das in beiden Romanen strukturell an derselben Position im Stationengefüge steht. Von hier aus rückschauend erst sind die Szenen zu verstehen, die sich im Conte du Graal nicht finden, die aber
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Schmolke-Hasselmann: Der arthurische Versroman, 1980, S. 101. Zach: Erzählmotive, 1990, S. 321. S. Anm. 386. Vgl. Elisabeth Schmid: ›Texte über Texte. Zur »Crône« des Heinrich von dem Türlin‹, in: GRM 44 (1994), S. 266–287, S. 275; Gudrun Felder: Stellenkommentar, 2006, Kommentar zu V.16497–16795. Dieser Sicht wird man sich bei genauer Betrachtung nicht anschließen können, denn während bei Chrétien der Verlust Gauvains in den Äußerungen der Lahmen und Brandigen und durch das darauf folgende Besinnungslos-Werden des Königs eindeutig als ein finales Ereignis konnotiert ist, ist in Wolframs Parzival lediglich in so allgemeiner Form von Sorge des Hofes um Gaweins Wohlergehen die Rede, daß eine Todesvermuten in keiner Weise daraus zu ersehen wäre. Im Gegenteil, Wolframs Ginover hatte sogar zwischenzeitlich einmal Nachricht von Gauvains Aufenthalt in Barbigoel beim Turnier erhalten [Parz 646,4f.]. Des Königs Reaktion auf die Nachricht des Boten besteht in der vergleichsweise unspektakulären Frage: nu sage mir, ist Gâwân vrô [Parz. 649,20]. Das klingt nicht nach der Reaktion eines Mannes, der fest mit dem Tod seines engsten Vertrauten und Neffen gerechnet hatte.
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von Heinrich als Ursache des soeben beschriebenen Handlungszusammenhangs vorgeschaltet wurden, nämlich die Szene der Begegnung mit den drei Rittern und die Szene des Überbringens der Todesnachricht. Man kann also sagen, dass der Grund dafür, warum das narrative Schwungrad in diesem vierten Anlauf die Handlung nicht antreibt, sondern lediglich aus der Rückschau motiviert, in der Übernahme eines szenischen Zitates begründet ist, das Heinrich als den letzten Knotenpunkt der Conte du Graalhandlung aufgreifen konnte. Nach dieser Erörterung nun ein kurzer Blick, auf die Elemente, die sich erhalten haben und auf die Form, nach der das Muster abrollt. Der Einsatz des Schwungrades mit der Provokation durch Gygamec wird durch ein weiteres szenisches Zitat, nämlich die aus dem Erec übernommene Hirschjagd markiert. Aus diesem Zitat folgen keine inhaltlichen Konsequenzen für die weitere Handlung, denn die in Erec et Enide berichtete Krise des beisier findet nicht statt. Ein Grund, warum Heinrich dafür sorgt, dass Gygamec mit seiner Provokation den Hof bei der Hischjagd überrascht, könnte darin bestehen, dass damit ein allgemein bekannter Romananfang mitten in die Handlung der Crône hineinzitiert wird. Das szenische Zitat wäre somit ein Mittel der Rezeptionssteuerung, welches dem Publikum anzeigt, dass an dieser Stelle der Crône eine Anfangssituation bzw. ein Neueinsatz stattfindet, der daraufhin einen weiteren Umlauf des Schwungrades nach sich zieht. Heinrich hat bezeichnenderweise mit den beiden szenischen Zitaten, die den vierten Umlauf des narrativen Schwungrades markieren, also der Hirschjagd aus Erec et Enide und der Ankunft von Gauvains Boten am Artushof aus dem Conte du Graal, den literarischen Beginn und Endpunkt der arthurischen Versromane Chrétiens anzitiert. Die Provokation durch Gygamec selbst verläuft nach dem bekannten Schema. Der Herausforderer erscheint bei Hof, als die Tafelrunde sich zum Essen unter einer Linde niedergelassen hat, wendet sich direkt an Artus und erklärt: Ein auenture bring ich her [V.16760]. Er, Gygamec, habe Gawein im Kampf erschlagen. Gaweins Haupt habe er abgeschlagen, denn kein man die red hette geglaubt, vnd hett ich sin haubt nit her zü houe braht [V.16781–784] (›keiner hätte meinen Worten geglaubt, wenn ich seinen Kopf nicht hierher zum Hof mitgebracht hätte‹). Die Provokation gipfelt in der charakteristischen Formel der Herausforderung: Jst nü hie ieman so frumm, Der jne getüre rechen, Der mag mich dar vmb besprechen; Da usz vor dem burgtor Da wil ich sin beyten vor Vnd wil jne strijtes gewern. [V.16787–792] [Wenn hier jemand so mutig sein sollte, dass er es wagte ihn zu rächen, so soll er es mir sagen. Dort draußen vor dem Burgtor werde ich auf ihn warten und zum Kampf gegen ihn bereit sein.]
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Mustergetreu wird selbstverständlich niemand aus der Tafelrunde auf den Affront reagieren und die Herausforderung annehmen. Die Situation der Stasis tritt ein. Mit diesem ›Jemand‹, der – dem Prinzip nach – auf die Herausforderung zu reagieren hätte, dürfte aber auch hier niemand anderer als Gawein gemeint sein, weil seine Ehre angesprochen ist, weil Gygamec als sein Vasall ihm Rechenschaft schuldet, weil er derjenige ist, der in dieser Situation glaubhaft aufklären könnte, dass die Behauptungen unwahr sind und weil es eben Gawein ist, der als Sachwalter des Hofes solche Situationen zu lösen hätte. Gaweins Inertia ist im vierten Umlauf des Schwungrades doppelt begründet. Das außerliterarische Publikum ist über den Trug aufgeklärt und versteht, dass der Hofakteur nicht intervenieren kann, weil er einfach nicht am Hof weilt. Die Reaktion des innerliterarischen Publikums am Artushof auf diese Herausforderung ist zunächst ungläubiges Gelächter. Sie schlägt kurz darauf in schiere Verzweiflung um, als man der Behauptung Gygamecs aufgrund des abgeschlagenen Hauptes Glauben schenkt. Aus innerliterarischer Sicht kann Gawein seine Aufgabe als Sachwalter des Hofes also deshalb nicht wahrnehmen, weil er vermeintlich tot ist. Damit nutzt Heinrich das strukturelle Element der Inertia Gauvains – des ›Ausblendens‹ bzw. verspäteten Zum-Einsatz-Kommens der Figur – ähnlich wie im fünften Umlauf des Schwungrades das Element der Stasis – nicht lediglich zur Koordination der verschiedenen Einsätze und zur Dynamisierung der Handlung, sondern er macht es auf inhaltlicher Ebene des Textes selber zum Thema. Dem außerliterarischen Publikum werden in dieser Szene zweierlei Deutungen präsentiert, einerseits die gattungskonforme Inertia Gaweins durch bloße Abwesenheit als vollkommen gewöhnliches, weil typisches strukturelles Element Chrétien’schen Erzählens, andererseits die hypothetische Situation, dass diese Abwesenheit einmal mehr als nur ein je temporäres Ereignis sein könnte. Mit der zweiten Deutungsmöglichkeit wird eine Androhung beim Wort genommen, die schon seit Chrétien im Erzählmuster der Inertia Gauvains präsent war, dass nämlich der Hof in der Situation der Krise prinzipiell über keinen derart herausgehobenen ›Jemand‹ verfügen könnte, der die Interessen der Gesellschaft als seine Aufgabe begriffe und verteidigte. Als Folge sind eine Reihe von auffälligen Inversionen bekannter Verhältnisse zu beobachten. Die Intervention Keies, der mustergetreu der erste und einzige ist, der die potentielle Gefährdung des Hofes (im gegebenen Kontext) richtig einschätzt, und der nach der Provokation durch den Herausforderer zu einer Reaktion ansetzt, besteht nicht in einer eigenen Spottrede, sondern darin, dass er den Spott der noch ungläubigen Ritterschaft zurückweist (warzu taugt dirre spott? [V.16822]), worauf er das noch bedeckte Haupt des Doppelgängers untersucht. Seine Intervention treibt die Ereignisse voran, diesmal freilich nicht in Richtung auf einen Handlungseinsatz, sondern umgekehrt in Richtung auf die vollständige Erstarrung, die wandelung [V.16912]. Aus freuden [V.16914] des Hofes wird kumber [V.16920]. Das Ende der arthurischen Utopie scheint erreicht. 313
Eine Bestrafung Keies findet nach dem Kollaps der höfischen Gesellschaft nicht mehr statt. Die Intervention Gaweins als letztes Glied des Interaktionsmusters besteht zunächst in der Revitalisierung der Hofgesellschaft durch die Wiederherstellung der freuden [V.21942]. Dies geschieht, wie oben erwähnt, mittels des Boten, der eine Einladung an den Artushof überbringt. Die Rektifikation der internen Defizienz des Hofes, die als Möglichkeit der prinzipiellen Schutzlosigkeit der arthurischen Utopie ausgespielt wurde, bestand strukturell in der von Sælde erhaltenen, ewigen Bestandsgarantie des Königs durch die Ringgabe, die Gawein auf seiner Queste erwarb. III.4.2.3.3 ›Protagonist‹ Keie Die vorausgegangenen Einlassungen zur ›mustergültigen Rolle‹ Keies im vierten und fünften Umlauf des narrativen Schwungrades dürften bereits zu einigem Erstaunen, wenn nicht Protest bei Kennern der Keiedarstellung in der Crône geführt haben. Denn als mustergültig (›fest im Gattungswissen der deutschen Rezipienten etabliert‹) gilt doch die Rolle Keies als quatspreche, jedenfalls wenn man sich Steins Auffassung zu eigen machte, die französische Quelle Chrétien nicht heranziehen zu wollen, sondern ausschließlich vier Texte der deutschen Literatur als Gattungshorizont für Heinrichs Roman anzuerkennen. Es sind aber Zweifel an Steins rigoroser Sicht erlaubt, lediglich »Erec, Iwein, die ersten sechs Bücher des Parzival und Ulrichs Lanzelet« bildeten »den artusliterarischen Horizont [...]« für Heinrich und sein Publikum.389 Das Verfahren der Adaptation französischer Literatur in Deutschland war schließlich seit jeher auch ein Prozess der Innovation, zum ersten schon deshalb, weil immer noch neue Erzählungen aus dem Stoffreservoir der matière importiert oder zumindest erstmals schriftlich in deutscher Sprache niedergelegt wurden. Das Publikum orientierte seine Rezeptionshaltung deshalb sicher nicht nur an den bereits bekannten Gattungsmerkmalen, sondern die Rezeptionshaltung musste zwangsläufig auch eine gewisse Offenheit dafür mitbringen, was ein jeweiliger Text an neuen inhaltlichen Elementen, Szenen und Motiven importierte, aber auch dafür, welche narrativen Innovationen in einem neuen Text als Muster vorgeführt und erlernt werden konnten. Auch die von Peter Stein akzeptierten vier Texte, die in seiner Sicht den Gattungshorizont der Crône bilden, sind ja noch immer so disparat, dass das Publikum offensichtlich nicht rigide auf das eine Erzählmuster konditioniert sein konnte, sondern mit so unterschiedlichen Arten des Erzählens wie der im Lanzelet gegenüber der im Erec oder Parzival rechnen musste, wobei für den Lanzelet beispielsweise gesagt werden kann, dass er »die Alternative zum Doppelkreismodell« repräsentiert, womit er also
389
Stein: Integration, 2000, S. 151f..
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quasi als ein Gegenmodell zum Erzählen in Hartmanns Werk gelten kann.390 Wenn daher ein neuer Text wie die Crône in einem solchen Umfeld erschien, muss die Rezeptionsleistung in mehr als einem kurzen Abgleich mit dem bei Hartmann Vorgeprägten bestanden haben, nämlich zusätzlich in einer Neugier und Offenheit für Strukturen, die der jeweilige Autor durch auffällige Signale, Wiederholungen oder ostentatives nicht Erfüllen von Erwartungen in seinem Text hervorkehrte. Da die Autoren solche Neuerungen in der Regel durch (oft fiktive) Berufungen auf die französische Mode und Literatur legitimierten, empfing das Publikum seine Informationen über die französische Gattungsentwicklung zwar nicht aus eigenem Studium der Werke, aber es war mit dem Phänomen vertraut, dass narrative Muster und Techniken ein Gegenstand des literarischen Diskurses waren, der explizit an der Textoberfläche verhandelt und an jedem neuen Text erprobt werden konnte. Auch Einflüsse des mündlichen Erzählens auf das Gattungswissen gerade in den Grenzräumen der Volkssprachen (Elsaß, Flandern etc.) sollte man übrigens nicht ausschließen. Kurz, es gab kein geschlossenes, endgültiges Verständnis der narrativen Strategien der Artusliteratur, sondern ein offenes, bewegliches, das auch Informationen über die Entwicklungen der französischen Literatur aus unterschiedlichen Quellen zweiter Hand zusammensetzte. Das Beispiel von Gaweins Tod mag illustrieren, wie diese Vermittlung stattgefunden haben könnte. Die Forschung hat sich schon verschiedentlich daran gestoßen,391 dass Heinrich die Klage Keies für den vermeintlich toten Gawein mit einer Berufung auf Chrétien legitimiert: Des heiszet jne das bůch loben vnd sin meister Cristian [V.16940f.]. Selbstverständlich gibt es bei Chrétien weder eine derartige Stelle der Totenklage Keus noch ihres Preises durch Chrétiens Erzähler. Aber wenn man nicht gleich Heinrichs »Undankbarkeit gegenüber Chrétien« daraus herauslesen sollte, dass er ihn angeblich »ausschließlich dort vermerkt, wo er nichts von ihm hat«,392 so bleibt die Frage, was Heinrich mit einem derartigen Einschub stattdessen bezwecken konnte. Zumindest zweierlei. Das Publikum muss nach einer derartigen Einlassung davon ausgehen, dass Keu bei Chrétien überhaupt Anlass hatte, über Gauvains Tod zu trauern. Mit anderen Worten die Quellenberufung ist zumindest ein Hinweis, dass die Szene des vermeintlichen Todes Gauvains und der Trauer des Hofes bei Chrétien vorgebildet und von dort her übernommen ist. Und das ist, wie zuvor erörtert wurde, absolut korrekt. Zweitens deutet Heinrich an, dass Keu (bzw. die Figur Keies) bei Chrétien eben durchaus kein simpler quâtspreche war, sondern in einem weit komplexeren Handlungsmuster agiert, als er es bei Hartmann
390 391 392
Volker Mertens: gewisse lêre, 1990, S. 86. Eine Übersicht relevanter Meinungen bringt Felder: Stellenkommentar, 2006, vgl. den Kommentar zu V.16940f.. Schmid: Texte über Texte, 1994, S. 269.
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tut. Die fiktive Quellenberufung signalisiert eine Autorisierung des Auftretens Keies in der Crône durch Chrétien, also dessen Zustimmung zu dieser Art, die Figur im Text zu funktionalisieren. Auch diese in der fiktiven Quellenberufung enthaltene Mitteilung ist vollkommen schlüssig. Heinrich benötigt die Legitimation des (im Vergleich zu Hartmann) ›komplexeren‹ Agierens Keies für seine Strategie, das narrative Muster des Schwungrades im vierten und fünften Umlauf unter umgekehrten Vorzeichen abrollen zu lassen. Das Publikum konnte eine derartige Quellenberufung also als Signal werten, dass ein im deutschen Rezeptionsraum noch ungewohntes oder nicht etabliertes Motiv bzw. Erzählmuster als gattungskonform gelten durfte. Was Heinrich anschließend vorführen wird, ist dann die in der deutschen Literatur neue Situation, dass der Truchsess einmal in »positiv konnotierter Funktion« auf Provokationen des Hofes reagiert,393 dabei aber trotzdem nur auf Ablehnung oder Gelächter stößt. Das wäre nach klassischem Modell seine funktionalen Einbindung unter umgekehrten Vorzeichen. Worin besteht nun dieses Agieren der Keiefigur, welches Heinrich als Gattungskonform ausweisen will? Es besteht jedenfalls nicht darin, dass Keie sich plötzlich als positiver, allseits beliebter Ritter profiliert, für dessen Erfolg und Überleben die Damen inbrünstig beten [V.29785–790]. Das hat es bis dahin in der Gattung nie gegeben, und wenn Heinrich es nun erzählt, inszeniert er damit erneut die Transgression einer Figurenrolle, die jedem Rezipienten sofort auffallen musste. Die Transgression der Gattungsbeschränkungen der Keierolle ist ähnlich auffällig wie die zuvor besprochene des Artus’ als cheuelier errand oder Gaweins als riche roi recreant. Es stellt nicht nur einen eklatanten Bruch mit den stereotypen Mustern der Figur dar, sondern ist auch komisch, wenn in den Kämpfen gegen Bayngransz und seine Gefährten Keies Mitstreiter Gawein, Lanzelet und Calocreant ausnahmslos alle gelagen hinder den roszen vf der erden; vsz genomen Kay mit ritters werde vnder jne allen eyne gesasz [V.27019–22] (›alle hinter dem Pferd auf der Erde landeten, ausgenommen Keie, der mit ritterlicher Würde als einziger im Sattel sitzen blieb‹). Gawein wird hinter das Pferd gesetzt, Keie bleibt im Sattel! Stattdessen besteht das gattungskonforme Agieren darin, dass die Keiefigur bezüglich ihrer Funktion nach wie vor dieselben Aufgaben übernimmt, die ihr schon bei Chrétien übertragen wurden. So wie er in Chrétiens Charrette Druck auf Artus ausübte, damit dieser ihm den Zweikampf gegen den Herausforderer Méléagant zugestand, so kann Keie auch in der Crône Artus so lange bedrängen, bis dieser ihm vrlaub für die Gralqueste erteilt [V.25950]. Keie war schon bei Chrétien einer von zwei aktiven Sachwaltern der Interessen des Königs. In dieser Funktion, nämlich als Vasall, verlieh er helfe unde rat, kämpfte er oder beriet er den König (wie etwa im Conte du Graal), freilich jeweils unter ›nega393
Daiber: Bekannte Helden, 1999, S. 178.
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tiven‹ Vorzeichen. Er war eben von jeher der ungeeignete und immer auch unverstandene Sachwalter der Interessen des Hofes. Daran hat sich in der Crône funktional gesehen gar nicht viel geändert. Besonders klar illustrieren dies beide Interventionen Keies in den Krisensituationen nach den Provokationen durch Gygamec und später durch den Ritter auf dem Bock. In beiden Szenen ist Keie diejenige Figur am Hof, die die Gefahr als erste erkennt, die die Hofgesellschaft warnt und aktiv handelt. Keies Interventionen vollziehen sich mustergetreu zu einem Zeitpunkt, wo die übrigen (insbesondere Gawein) entweder noch gar nicht aktiv geworden sind, die Bedrohung nicht wahrnehmen oder aber längst von der Provokation schockiert sind, weshalb Handlungslähmung eingetreten ist. Es gründet also in der Tradition des funktionalen Erzählens Chrétiens, wenn ausgerechnet Keie die üblen Absichten des Ritters auf dem Bock als einziger durchschaut [V.25135–139], sich nicht an die Gebote des Königs hält [V.24983f.] – was ihm unter den üblichen Bedingungen Schelte (von Erzähler, Hof oder König) eingetragen hätte – und den Hof vor der sich anbahnenden Katastrophe warnt. Es ist überdies der Funktion nach musterkonform, wenn er diese Warnung nur in einem schimpff [V.25155] formulieren kann, weshalb alle in Lachen ausbrechen und die Situation nicht ernst genommen wird. Auch Andreas Daiber bestätigt anhand vorgenannter Szenen »die tradierte Konzeption Keies« werde »beibehalten«,394 spricht aber von Keies typischem »Verkenn[en] der Realität« und »nach wie vor defizitär[en]« Aktionen.395 Doch trifft dies wirklich zu; verkennt Keie die Realität? Ist es nicht gerade der Truchsess, der eben immer der erste ist, der in Hofkrisen die Gefährdungspotentiale durchschaut, die zutagetretenden Schwächen anspricht, der manchmal das Nest beschmutzt, weswegen ihm Hass und Aggression entgegenschlagen. Diese Typik kann nicht auf einem Verkennen der Realität beruhen, sondern im Gegenteil nur auf einer scharfen Beobachtungsgabe. Keies Fehlleistungen bestehen stattdessen in der Wahl falscher Mittel als Reaktion auf die korrekt erkannte Gefährdung in Situationen der Krise. Dafür wird er in der Regel bestraft. Es kommt aber darauf an, dass Heinrichs Keie (hier völlig übereinstimmend mit der Rolle Keus in den vier altfranzösischen Romanen) in allen seinen Aktionen immer hofkonform motiviert ist, gleich ob er gehässig spottet oder zurecht warnt. Hartmann hat diese Disposition der Figur in seinen Adaptationen wie gesagt nicht realisiert, womöglich weil er den Antagonismus zwischen Gauvain und Keu als einen intentionalen anstatt einen der Mittel missverstand. Heinrich bringt daher mit vollem Recht in jener fiktiven Quellenberufung [V.16940f.] zum Ausdruck, dass auch Chrétien seine Keufigur in ähnlicher Weise hätte agieren lassen können, wie es Keie in der Crône auf Gygamecs Pro394 395
S. Anm. 393, S. 176. S. Anm. 393, S. 178.
317
vokation hin tut, nämlich früher als alle anderen Ritter in der Rolle desjenigen, der als einziger die Krise kommen sieht, die Dinge beim Namen nennt, die Ereignisse vorantreibt, dafür Widerspruch, Gelächter oder Missgunst erntet und zuletzt bestraft wird oder scheitert. (Auch als Gralsritter wird Keie im Gegensatz zu Gawein nie den Gral zu Gesicht bekommen, sondern in der gefährlichen Kapelle gefangen gesetzt, wo er wie erwähnt dafür büßen muss, dass er ein solcher Spötter ist [V.29065 f.]. Das bedeutet, Keie wird auch als Protagonist nicht etwa zu einem »Doppelgänger Gaweins« aufgewertet,396 sondern er spielt nach wie vor die zweite Geige, scheitert dort, wo der Musterheld erfolgreich ist. Auch Keie bleibt in der Crône trotz seiner erstaunlichen Aufwertung zuletzt der, der er immer war. Der Erzähler kann an dieser Figur das ›Andere‹ ihres präformierten Charakters herauskehren, gerade weil er ausreichend klar zu verstehen gibt, dass dieses ›Andere‹ die gattungstypische Funktion der Figur nicht berührt. Diesen Befund scheint Stein ganz überraschend mit der Einschätzung zu bestätigen, dass »Heinrich die der Figur innewohnende Widersprüchlichkeit erkennt und, im Gegensatz zu seinen auf Abmilderung und rationale Erklärung bedachten Vorgängern, systematisch ausgestaltet.«397 Man kann ihm nur zustimmen, dass Heinrichs Erzählen der Keierolle wirklich ›im Gegensatz zu seinen Vorgängern‹ diejenigen Aspekte aufgreift und zuende denkt, die Chrétien – also doch die französische Tradition – vorgab und die den deutschen Autoren zunächst große Schwierigkeiten bereitete (vgl. u. a. III. 3.3). Die metaliterarische Alterität Keies bestätigt durch ihre ironische Vorzeichensetzung ein weiteres Mal das Gattungswissen der Rezipienten und damit die Konstanten des genretypischen Erzählens. Das Publikum darf sich also sicher sein, dass auch der ›neuartige‹, als Frauenritter stilisierte und sogar beliebte Keie am Ende der Gralhandlung durch den Erzählerkommentar quasi auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird: Jch nym sin niht vf die truwe min, Das die rede also geschehe. Jch vörchte, das man noch sehe Vnd höre, das man spottes pflege Die schult ich vf in selbs lege, Tritt er irgent uszer dem wege. [V.29903–908] [Ich werde mich aber nicht für ihn verbürgen, dass es so eintreten wird, wie es gesagt wurde. Ich befürchte, dass man noch sehen und hören wird, dass Keie wieder seinen Spott treiben wird. Wenn er wieder einmal entgleisen sollte, dann gebe ich ihm selber die Schuld daran.]
396 397
Baisch: Welt ir: er vervellet, 2003, S. 179. Stein: Integration, 2000, S. 271.
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Auf die narrative Syntax bezogen hat diese Erzählerrede eine vergleichbare Funktion wie die in der Figurenrede Gaweins ausgesprochene Ermahnung des Königs, sich nicht als scheuelier errand auf den Weg zur Gralssuche zu begeben. Sie markiert die Reduktion der Figur auf den gattungstypischen Bewegungsrahmen, so dass ein Publikum beruhigt davon ausgehen kann, der Truchsess werde bei nächster Gelegenheit (also zu Anfang der nächsten Artusgeschichte) wieder einen derartigen Spott treiben, dass man ihn mustergetreu dafür hinter sein Pferd setzen wird, worauf zweifellos die Gaweinfigur zum Einsatz kommt, um die Problematik des Hofes zu rektifizieren. Weder an der Verknüpfung der Figuren noch an der Dynamik, die durch ihre Einsätze ausgelöst wird, hat sich etwas geändert. Auch in Zukunft kann arthurisch erzählt werden, und auch in Zukunft werden alle an ihrem angestammten Platz auf ihr Stichwort warten. Die zwischenzeitlich realisierte angebliche ›Beliebtheit‹ der Keiefigur in der Crône war ein Spiel Heinrichs einerseits mit den fiktiven Erwartungen des innerliterarischen Publikums bei Hof, welches dem beißenden Spott des Seneschalls ausgesetzt blieb, also wenig Grund hatte, sich auf seine Einsätze zu freuen und andererseits den Erwartungen des außerliterarischen Publikums der Rezipienten, für die mit Keie so etwas wie die Figur eines beliebten Bösewichts auf der Bühne erschien, auf dessen Kapriolen man gespannt wartete. Diese Beliebtheit der für das Genre unersetzlichen Keiefigur wurde in der Crône zeitweilig von der außerliterarischen Sphäre in die narrative Ebene hereingeholt und als ›Beliebtheit der Keiefigur beim Publikum‹, mehr noch als ›Unverzichtbarkeit der Keiefigur für den Artushof‹ erzählt. In letzterem scheint erneut der metaliterarische Diskurs auf, dringt das Bewusstsein diesmal nicht der Figur, sondern des Hofes von der gattungsmäßigen Determination an die Textoberfläche, denn aus gattungspoetischer Sicht kann arthurisches Erzählen wenigstens in den Versromanen kaum ohne eine Keiefigur stattfinden. Und damit ist doch eine Keiefigur gemeint, die aufgrund ihrer Aufstellung in der Lage ist, die notwendigen erzählerischen Funktionen zu erfüllen, ohne welche die Handlung nicht aus dem Nullpunkt der Stasis herausgetrieben werden kann. Es muss also auch in Zukunft bei einem Keie bleiben, der verspottet, provoziert, sich blamiert und bestraft wird. III.4.2.4 Zusammenfassung In beiden zuletzt betrachteten Romanen, sowohl dem Roman van Walwein als auch der Crône, musste von den Autoren das Paradox gelöst werden, dass – obwohl Walewein bzw. Gawein als der Protagonist dieser Romane aufgestellt und eingesetzt wurde – sich die Funktion der klassischen Gauvainfigur, des Hofakteurs, nicht vollständig mit den narrativen Bewegungsmustern der klassischen Protagonistenrolle zur Deckung bringen lassen. Aus dieser Unvereinbarkeit resultierten Reibungen zwischen der nachklassischen Disposition der 319
Figur und den Gattungskonstanten arthurischen Erzählens, die die Autoren selbst erkannten und in unterschiedlicher Weise an der Textoberfläche markierten. Die Mittelniederländer, die sich mit der Wahl ihres Stoffes bereits von der matière de Bretagne entfernt und damit in gattungsfremdes Gebiet begeben hatten, verfolgten bezüglich der Figurenrollen eine defensive Strategie des Spuren-Verwischens und des sukzessiven Entzerrens der Spannungen zwischen Waleweins Funktionen als Hofakteur und Protagonist, indem sie im Verlauf der Erzählung gerade die Elemente betonten, die der entsprechende Kontext jeweils erforderte. Trotzdem kam Pieter Vostaert in Erzählerkommentaren um das mehr oder weniger deutliche Eingeständnis nicht herum, keine rechte Antwort beispielsweise auf die Frage der Verheiratung Waleweins zu haben, mit anderen Worten nicht recht zu wissen, wie er die Widersprüche zwischen den zwei Dispositionen lösen solle. Heinrich von dem Türlin entschied sich für eine offensive Strategie. Im Gegensatz zu den Mittelniederländern hatte er seinen Stoff auch inhaltlich aus Elementen der matière de Bretagne gewonnen, weshalb es ihm nicht – wie jenen – notwendig vorgekommen sein mag, schon die stoffliche Auswahl seiner Erzählung als solche legitimieren zu müssen. Was er stattdessen zu legitimieren versuchte, war sein Experiment, dem Kernpersonal des Hofes, welches nach dem Fortfall der ›klassischen‹ Protagonistenfigur in den Fokus des Erzählens trat, Bewegungsmöglichkeiten zuzuweisen, die in den Spielregeln der Gattung bis dahin nicht vorgesehen, ja ausdrücklich ausgeschlossen waren. Er konnte dies allerdings nur unter der Voraussetzung glaubhaft als arthurisches Erzählen legitimieren, indem er sowohl deutliche Signale setzte, wonach sich sein Erzählen streng an den Gattungskonstanten orientierte als auch indem er – mit einem Augenzwinkern – zu verstehen gab, dass sich die präformierten Rollen der Figuren in ihrer Substanz gar nicht geändert hatten. So wird an den Figuren deutlich, dass in dem Augenblick, wo sie das gattungskonforme Verhaltensmuster durchbrechen, das Erzählen vom Handeln der Figuren zu einem Erzählen über deren Handlungsmöglichkeiten, d. h. über das Erzählen selber wird, nämlich zum Diskurs über die narrativen Interaktionsmuster und Funktionen von Figuren, die dem Publikum als Gattungswissen vertraut waren. Heinrich verlegt dieses metaliterarische Erzählen weniger in die Erzählerkommentare, sondern vor allem in die situative Anordnung von Szenen, die eine (nicht selten ironische) Diskrepanz zwischen erwarteter Figurenrolle und tatsächlich erzähltem Agieren aufbauen, aus der durchaus eine Erzählspannung resultiert. Denn das Gattungswissen vorausgesetzt mündet ein solches narratives Spiel mit dem, was nicht sein kann und nicht sein darf, automatisch in die Frage, wie die jeweilige Transgression glaubhaft zurückgenommen und die Integrität der jeweiligen Figur trotz ihrer momentanen Travestie fortgeschrieben werden kann. Anstatt als auktorialer Erzähler auf den Plan zu treten, was für einen Dichter des frühen 13. Jahrhunderts absolut nahe gelegen 320
hätte, und die Figuren von oben herab auf ihre genrebedingten Plätze zurückzubeordern, bedient sich Heinrich eines ›Tricks‹, der der Erzählung sehr zustatten kommt: er verlegt den Diskurs über die Bewegungsgrenzen des Hofensembles schlankerhand in die Figurenrede. Die Figuren selbst also sprechen von ihren Verunsicherungen oder belehren sich gegenseitig über ihre typischen Funktionen und Rollen. Das gesamte Experiment des metaliterarischen Figurendiskurses ist wie gesagt fest eingebettet in ein Fundament gattungstypischer Motive, Szenen und vor allem Erzählmuster. Insbesondere das narrative Schwungrad Chrétiens hat Heinrich demonstrativ wiederholt, nicht nur um nach jedem Zwischenabschluss am Hof die Handlung neu anzutreiben, sondern auch, um über die beim Publikum bestens bekannten Elemente dieses Erzählmusters ein weiteres Mal den Nachweis zu führen, dass sein nachklassischer Roman noch immer fest in der Tradition verankert war. Bei keinem deutschen Autor arthurischer Versromane vor ihm sind diese Elemente Chrétien’schen Erzählens so oft, so eindeutig und so mustergültig nachzuweisen wie in der Crône. Sogar in seinem Entwurf der Keiefigur, die bei Heinrich eindeutig funktional gedacht und trotz allen gegenteiligen Anscheins eben doch nach klassischem Muster aufgestellt ist, steht er Chrétien wieder näher als der etwas hilflos psychologisierende Hartmann, weshalb Heinrich sich eigentlich das Attribut eines konservativen Revolutionärs verdient hätte. Der genaue Vorgang der fünf Umläufe des narrativen Schwungrades ist in den vorausgegangenen Betrachtungen schon detailliert erörtert worden und soll zum Abschluss dieses Kapitels noch ins Bild gesetzt werden – womit erneut kein Strukturschema, sondern eine graphische Veranschaulichung der dynamisierenden Elemente der Crône gemeint ist. Aufgrund von fünf Umläufen des Schwungrades statt des üblichen einen waren die Ergebnisse nicht in einem Kreis unterzubringen, weshalb aus rein praktischen Erwägungen die Abbildung in einer Sinuskurve realisiert wurde. Hier repräsentiert jeder Halbkreis einen vollen Umlauf, also das einmalige ›Abrollen‹ aller beteiligten, dynamisierenden Elemente.
321
HOFFEST TINTAGUEL 1. Provokation Becherprobe innere Krise: ›valsche‹ INERTIA Gaweins (Mitverantw.: übersprechen) I. ANLAUF des Schwungrades (Leerlauf)
1. Intervention Keies (Spott, tiostivre)
Bestrafung (1. Pferdabwurf) INTEGRATION Zauberbecher
2. Provokation Ginovers Untreue (Ginover+Gasozein) INERTIA: Gawein zum Turnier (Mitverantwortung: Gürtelraub) 2. Intervention Keies, Intervention von Artus als ›Protagonist‹
II. ANLAUF des Schwungrades
Bestrafung Keies (2.Pferdabwurf) Intervention Gaweins (Gasozeinkampf) INTEGRATION fin amors /Gasozein
3. Provokation: Sgoidamurs [12702] âventiure-Nachricht INERTIA Gawein krank und abwesend [V 12888]
III. ANLAUF des Schwungrades
3. Intervention Keies scheitert bei Schwertbrücke Bestrafung entfällt Intervention Gaweins (Enthauptungsspiel und Untierkämpfe) u.a. Zaumzeugerwerb
4. Provokation: Gygamec [16787] INERTIA: Gawein ›tot‹ (Mitverantw.: Übergabe Aamantz an Feinde) 4. Intervention Keies Stasis infolge Totenklage Bestrafung Keies entfällt
IV. ANLAUF des Schwungrades (rückwärtige Motivation)
Intervention Gaweins Rückkehr: Revitalisierung Hof durch freuden [21942]) INTEGRATION Saelde -Objekte, Verwandte
5. Provokation: Handschuh und Ritter auf dem Bock (Mitverantwortung: Gürtelraub) Stasis auf Befehl Artus [24975ff.] V. ANLAUF des Schwungrades
5. Intervention Keies (Spott, WARNUNG) Bestrafung Keies (Gefangen in Kapelle) ...des must er nu zü bůsze stan [29066]
Intervention Gaweins REINTEGRATION Saelde -Objekte, Beseitigung Gralswelt
HOFFEST KARIDOL
322
III.5 Fazit: Figuraler Funktionswandel und Konstanz arthurischen Erzählens Die Funktion der Gauvainfigur unterlag einem historischen Wandel. Als Hofakteur der klassischen Romane reagierte er im Interesse der Artusgesellschaft auf deren Defizienzen, wodurch die von den Störungen provozierte Handlung zur Ruhe kam. In den späteren Romanen setzte ein Emanzipationsprozess zur Rolle des Protagonisten ein. Die mit dieser Rolle verbundene, personale Motivation stand im Widerstreit zu der im Gattungswissen verankerten Funktion der Gauvainfigur, was zu Kausalitätsproblemen in den Texten führte. Trotz ihres Emanzipationsprozesses aber blieb die Figur in einem konstanten Erzählmuster von erstaunlich hoher Festigkeit verankert. In diesem Muster hatte Chrétien de Troyes die Figur antagonistisch zu der des Protagonisten und der Figur Keus, des anderen Hofakteurs, eingesetzt. Dieses Muster beschreibt die Einsätze und Handlungstendenz der verschiedenen Figuren und konnte in allen Romanen Chrétiens als Grundstruktur des Agierens Gauvains verifiziert werden, erwies sich aber insbesondere in den Romanen mit Gauvainqueste als Motor seines Handelns. Sowohl die Funktion der Gauvainfigur, für die Belange des Hofes aufzukommen und die Krise der arthurischen Utopie zu bereinigen, als auch das Interaktionsmuster wurde in den altfranzösischen Romanen durch außerliterarische Faktoren bzw. Thematiken umgrenzt, die im Verlauf dieser Studie wiederholt zur Sprache kamen. Man kann folglich davon sprechen, dass in den von Chrétien entworfenen Mustern axiologische Setzungen aufscheinen, die auf eine Lebenswirklichkeit verweisen, aus der heraus und in die hinein erzählt wurde. So wurde zum Beispiel die Funktion Gauvains als Vasall und Neffe des Herrschers, die sich in den Texten in seiner Pflicht zur Beratung und Hilfe niederschlug, in einer konstanten Verspätung des Zum-Einsatz-Kommens der Figur auffällig markiert und ironisch bestätigt. Bezüglich der Handlungstendenz der Figur wiederum wurde ein durchgängiger Bezug auf das prekäre höfische Geschlechterverhältnis als typisch erkannt. Diese lebensweltlichen Aspekte zu konstatieren heißt, die eruierten narrativen Muster im Horizont der zeitgenössischen Verhältnisse und Realitäten zu situieren; sie zu interpretieren war nicht Aufgabe der zurückliegenden Betrachtungen. Der funktionale Wandel der Gauvainfigur in der mittelhochdeutschen und mittelniederländischen Rezeption kam erst allmählich zustande. Die ersten mittelhochdeutschen Adaptationen der altfranzösischen Romane setzten vor allem auf eine Typisierung, kehrten also zum Zweck einer Vereindeutigung das vermeintlich ›Charakteristische‹ an den Figuren heraus. Das Chrétien’sche Interaktionsmuster ist infolgedessen nur als eine Sammlung loser Elemente durch Übernahme von Szenen in den betreffenden Texten stehengeblieben, während der ursprünglich zugrundeliegende Motivationszusammenhang verloren ging. 323
Mit ›charakteristisch‹ ist bereits ein psychologisierender Aspekt angedeutet, der zumindest in den Texten Hartmanns ansatzweise in die Figuren der Artusliteratur eingetragen ist. Die spätere Literatur sowohl im mittelhochdeutschen wie im mittelniederländischen Sprachraum verfolgt diesen Weg Hartmanns jedoch nicht offensiv weiter, sondern erkennt genauer die Vorteile des funktionalen Erzählens, welches bei Hartmann und teilweise auch bei Wolfram durch veränderte Motivationen diskontinuiert worden war. Für Wolframs Gawan und Keie konnten unterdessen Hinweise auf eine Refunktionalisierung ermittelt werden, die der Handlungstendenz der Figuren bei Chrétien ähnlicher war, auch wenn die Motivationen sich verschoben hatten. Die veränderte Motivation führte bei Wolfram zu einer neuen Aufstellung der Gaweinfigur als ›Partner‹ des Protagonisten, womit die Figur erstmals der Protagonistenrolle angenähert wurde. Dazu passte auch, dass Wolfram Gawan verheiratete. Die nachklassischen Autoren, deren Texte untersucht wurden, haben unterschiedliche Strategien und Gründe, warum sie sich wieder enger an das Interaktionsmuster Chrétiens angenähert haben als der zeitlich frühere Hartmann. Die Mittelniederländer Penninc und Pieter Vostaert dürften sowohl wegen der viel direkteren Wechselwirkung des flämischen Sprachraums mit der französischen Leitkultur als auch aufgrund der Notwendigkeit, einen nicht der matière de Bretagne entnommenen Stoff verantworten zu müssen, dazu geneigt haben, die narrativen Konstanten des Chrétien’schen Erzählens als Ausweis der arthurischen Qualität ihrer avonture zu nutzen. Sie standen allerdings genau wie Heinrich von dem Türlin vor dem Problem, dass ihre Waleweinfigur nicht mehr nur noch Hofakteur sein durfte, sondern auch Held, d. h. Protagonist sein musste. Ihre Strategie bestand im Entzerren und Verschleiern der narrativen Ungereimtheiten, die sich aus diesen unvereinbaren Funktionen ergaben. Unterdessen hatte die ihrem Roman zugrundeliegende Märchenquelle noch weitere Umstellungen in der personalen Besetzung des narrativen Schwungrades erfordert. So musste nicht nur Walewein zeitweilig vom Hofakteur in die Rolle des Protagonisten wechseln, sondern die Königsfigur musste zeitweilig die Funktion Keies übernehmen, also desjenigen, der durch einen Affront die Lähmung der Hofgesellschaft durchbricht, welche typischerweise in arthurischen Versromanen auf eine Provokation von außen erfolgt. Ähnliche funktionale Transgressionen wurden in Heinrichs Crône beobachtet, wo gleichfalls nicht nur Gawein von der Rolle des Hofakteurs in die des Protagonisten wechselte, sondern auch der König und sogar Keie allesamt in Umkehrungen dessen gezeigt wurden, was sie nach der Gattungstypik eigentlich zu sein hätten. Sowohl bei Heinrich wie bei den beiden Mittelniederländern erweist sich das narrative Schwungrad als erstaunlich flexibles Instrument, denn es ermöglicht eine relativ freie Besetzung der dynamisierenden Elemente der Erzählung. Während eben im Roman van Walewein einmal der König die Eskalation betreiben kann, die notwendig ist, um die Handlung aus dem 324
Nullpunkt der Stasis herauszutreiben, kann er in Heinrichs Roman umgekehrt einmal derjenige sein, der als Protagonist auf Queste ausreitet. Alle diese funktionalen Positionen waren von jeher im narrativen Schwungrad vorgegeben und werden in den nachklassischen Romanen zu neuen Besetzungen genutzt. Als experimentelle oder ironische Rollenentwürfe ermöglichen sie das Spiel mit dem Gattungswissen der Rezipienten und den Gattungsgrenzen der Figuren. Wenn die erstaunlich hohe Konsistenz des arthurischen Erzählens in den postklassischen Romanen auch ein klares Signal dafür ist, dass das bei Chrétien eruierte Muster des narrativen Schwungrades ein fester Bestandteil der Gattung der Artus-Aventiureromane war, so belegen doch Erzählstrategien wie die Hartmanns oder Wolframs zugleich, dass bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Offenheit des Genres bestand, Handlungszusammenhänge und Figurenaufstellungen – und sei es durch kreative Missverständnisse – anders als in den Vorlagen zu gestalten. Man wird daher keinen Vorhersagewert von diesem Interaktionsmuster erwarten, sondern in jedem Einzelfall erneut die Position des Dichters bestimmen müssen, die er im jeweiligen Werk zu den Konstanten des klassischen, arthurischen Erzählens eingenommen hat.
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IV.
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