IMPRESSUM HISTORICAL GOLD erscheint vierwöchentlich im CORA Verlag GmbH & Co. KG, 20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1 Redaktion und Verlag: Brieffach 8500, 20350 Hamburg Telefon: 040/347-25852 Fax:040/347-25991 Geschäftsführung: Redaktionsleitung: Cheflektorat: Lektorat/Textredaktion: Produktion: Grafik: Vertrieb: Anzeigen: Es gilt die aktuelle Anzeigenpreisliste.
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© 2007 by Julie Cotler Pottinger Originaltitel: „The Secret Diaries Of Miss Miranda Cheever" erschienen bei: Avon Books, New York © Deutsche Erstausgabe in der Reihe: HISTORICAL GOLD Band 213 (9) 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: Petra Lingsminat Fotos: Harlequin Books S.A. Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. HISTORICAL GOLD-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig. Satz und Druck: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany Aus Liebe zur Umwelt: Für CORA-Romanhefte wird ausschließlich 100 % umweltfreundliches Papier mit einem hohen Anteil Altpapier verwendet. Der Verkaufspreis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer. Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag: BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYLADY, MYSTERY, TIFFANY HOT & SEXY, TIFFANY SEXY
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Julia Quinn
Für immer und ewig, Viscount
Julia Quinn . . . auch als zeitgenössische Jane Austen bezeichnet, studierte zunächst Kunstgeschichte an der Harvard Universität. Ihre überaus erfolgreichen historischen Romane präsentieren den Zauber einer vergangenen Epoche und begeistern durch ihre warmherzigen, humorvollen Schilderungen. Julia Quinn lebt mit ihrer Familie im Nordwesten der USA.
Für all die Leute, die mir bei „Friendly's" ein ordentliches Trinkgeld gegeben haben, sodass ich mir davon meinen ersten Computer zusammensparen konnte, einen Mac SE. (Ohne Festplatte - danke, Dad!) Und für Paul, auch wenn er sein Versprechen nicht gehalten hat, besagten Computer in ein Aquarium umzubauen.
AUSZUG AUS MISS MIRANDA CHEEVERS TAGEBUCH 8. Juni 1819 Man hat mich in Kenntnis gesetzt, dass gewisse vornehme Matronen der Ansicht seien, Turner betrachte mich in einem romantischen Licht. Das wäre wa hrhaftig ein Grund zum Feiern, wenn ... 1. ... es wahr wäre. 2. ... er nicht gelacht hätte, als er dies Gerücht hörte. 3. ... seine Mutter nicht den Kopf geschüttelt und gesagt hät te: „Ich habe mich wirklich bemüht, ihnen klarzumachen, dass das völlig unmöglich ist." 4. ... er darauf nicht erwidert hätte: „Miranda ist jedenfalls das am wenigsten unausstehliche Mädchen in London." 5. ... er mir dann nicht zugegrinst hätte, als erwartete er von mir, diese Bemerkung als Kompliment zu nehmen. Natürlich habe ich gelacht, offensichtlich hatte er es ja scherzhaft gemeint. Wahrscheinlich sollte ich dankbar sein, dass er mich als Freundin betrachtet, die man aufziehen kann. Aber ich will nicht nur seine Freundin sein. Ich wünsche mir so viel mehr.
PROLOG Im Alter von zehn Jahren zeigte Miss Miranda Cheever keinerlei Anzeichen, je zur Schönheit heranzureifen. Ihr Haar war - leider - braun, ebenso ihre Augen, und ihre ungewöhnlich langen Beine weigerten sich schlichtweg, auch nur eine Spur von Anmut zu zeigen. Ihre Mutter sagte oft, dass sie ja förmlich durchs Haus springe. Leider legte die Gesellschaft, in die Miranda hineingeboren war, bei Frauen großen Wert auf das äußere Erscheinungsbild. Und obwohl sie erst zehn war, wusste sie, dass sie den meisten anderen Mädchen in der Nachbarschaft in dieser Hinsicht als unterlegen galt. Kinder finden so etwas schnell heraus, meist von anderen Kindern. Eben solch ein unangenehmer Zwischenfall ereignete sich anlässlich der Feier des elften Geburtstags von Lady Olivia und dem Ehrenwerten Winston Bevelstoke, den Zwillingen des Earl und der Countess of Rudland. Miranda lebte ganz in der Nähe von Haverbreaks, dem Familiensitz der Rudlands, der bei Ambleside im Lake District von Cumberland lag, und wenn Olivia und Winston zu Hause waren, nahm sie an deren Unterricht teil. Über die Zeit waren die drei vollkommen unzertrennlich geworden und gaben sich kaum mit anderen Kindern ab, von denen die meisten ohnehin eine Reitstunde entfernt lebten. Aber einige Male im Jahr, vor allem an Geburtstagen, kamen die Kinder des hiesigen Dorf- und Landadels zusammen. Aus diesem Grund stieß Lady Rudland auch ein höchst undamenhaftes Stöhnen aus: Achtzehn unartige Kinder trugen fröhlich trampelnd Schlamm in ihren Salon, nachdem die Gartenparty durch einen Regenguss beendet worden war.
„Du hast Dreck an der Wange, Livvy", meinte Miranda und streckte die Hand aus, um ihn wegzuwischen. Olivia seufzte theatralisch auf. „Dann gehe ich wohl am besten nach oben, um ihn abzuwaschen. Ich möchte nicht, dass Mama mich so sieht. Sie kann Dreck nicht leiden, und ich kann es nicht leiden, wenn sie mir erzählt, wie sehr sie Dreck nicht leiden kann." „Ich kann mir nicht vorstellen, was sie gegen ein bisschen Dreck in deinem Gesicht einzuwenden haben sollte, wenn ihr ganzer Teppich voll davon ist." Miranda blickte zu William Evans hinüber, der sich eben unter Kriegsgeheul aufs Sofa warf. Sie spitzte die Lippen, sonst hätte sie lächeln müssen. „Und ihre Möbel." „Trotzdem sollte ich lieber gehen und mich waschen." Sie schlüpfte aus dem Raum, und Miranda blieb allein an der Tür zurück. Eine Weile sah sie dem Chaos zu, vollauf zufrieden mit ihrem üblichen Beobachterposten, bis sie aus den Augenwinkeln jemanden auf sich zukommen sah. „Was schenkst du Olivia denn zum Geburtstag, Miranda?" Miranda wandte sich um und sah Fiona Bennet vor sich stehen, hübsch angetan mit einem weißen Kleidchen und einer rosa Schärpe. „Ein Buch", erwiderte sie. „Olivia liest gern. Und du?" Fiona hielt eine bunt bemalte Schachtel empor, die von einer silbernen Kordel zusammengehalten wurde. „Ein paar Bänder. Aus Seide und Satin und sogar aus Samt. Möchtest du sie mal sehen?" „Aber ich will nicht, dass die Verpackung kaputtgeht." Fiona zuckte mit den Schultern. „Man braucht doch nur vorsichtig die Kordel zu lösen. Das mache ich Weihnachten auch immer." Sie schob die Kordel herunter und hob den Deckel der Schachtel hoch. Miranda hielt den Atem an. Mindestens zwei Dutzend Bänder lagen auf dem schwarzen Samtfutter, jedes zart zur Schleife gebunden. „Die sind ja wunderschön, Fiona. Darf ich eines rausnehmen?" Fiona kniff die Augen zusammen. „Meine Hände sind auch ganz sauber. Schau!" Miranda streckte ihr die Hände zur Inspektion hin.
„Ach, na schön." Miranda suchte sich ein veilchenblaues Band aus. Weich und glatt, fast verboten sinnlich schmiegte sich der Satin in ihre Hand. Kokett hielt sie sich die Schleife ans Haar. „Was meinst du?" Fiona rollte mit den Augen. „Doch nicht veilchenblau, Miranda.Veilchenblau passt nur zu blondem Haar, das weiß doch jeder. Neben Braun sieht man die Farbe kaum. Du kannst das auf keinen Fall tragen." Miranda gab das Band zurück. „Welche Farbe passt dann zu braunem Haar? Grün? Meine Mama hat auch braunes Haar, und sie trägt manchmal grüne Bänder." „Grün ginge wohl, nehme ich an. Aber in blondem Haar sieht es auch schöner aus. Alles sieht schöner aus mit blondem Haar." Miranda verspürte einen Funken Entrüstung. „Na, Fiona, dann weiß ich aber nicht, was du machen willst, denn dein Haar ist genauso braun wie meines." Empört fuhr Fiona zurück. „Ist es nicht!" „Ist es wohl!" „Ist es nicht!" Miranda beugte sich vor und kniff drohend die Augen zusammen. „Schau lieber mal in den Spiegel, Fiona, denn deine Haare sind nicht blond." Fiona legte das veilchenblaue Band in die Schachtel zurück und knallte den Deckel zu. „Nun, jedenfalls war es früher mal blond, und deines nicht. Außerdem ist mein Haar jetzt hellbraun, und das ist viel besser als dunkelbraun, so wie deines, das weiß ja wohl jeder." „Gegen dunkelbraunes Haar gibt es überhaupt nichts einzuwenden!", fuhr Miranda auf. Aber sie wusste bereits, dass beinahe ganz England in diesem Punkt anderer Meinung war. „Und außerdem", fügte Fiona boshaft hinzu, „hast du dicke Lippen!" Rasch schlug Miranda die Hand vor den Mund. Dass sie nicht schön war, wusste sie, sie wusste auch, dass sie nicht einmal als hübsch galt. Aber bisher war ihr nicht bewusst gewesen, dass mit ihren Lippen etwas nicht in Ordnung war.
Sie sah zu dem hämisch grinsenden Mädchen auf. „Du hast Sommersprossen!", platzte sie heraus. Fiona zuckte zurück, als wäre sie geschlagen worden. „Sommersprossen verblassen. Bis ich achtzehn bin, sind sie verschwunden. Meine Mutter reibt sie jeden Abend mit Zitronensaft ein." Sie schniefte verächtlich. „Aber für dich gibt es kein Heilmittel, Miranda. Du bist einfach hässlich." „Ist sie nicht!" Beide Mädchen drehten sich zu Olivia um, die soeben vom Waschen zurückgekehrt war. „Ach, Olivia", wandte Fiona sich an sie, „ich weiß, dass du mit Miranda befreundet bist, weil sie so nah bei dir wohnt und den Unterricht mit dir teilt, aber du musst zugeben, dass sie nicht hübsch ist. Meine Mama sagt, dass sie nie einen Ehemann abkriegt." Olivias blaue Augen blitzten gefährlich auf. Die einzige Tochter des Earl of Rudland war schon immer entschieden loyal gewesen, und Miranda war ihre beste Freundin. „Miranda bekommt bestimmt einen besseren Ehemann als du, Fiona Bennet! Ihr Vater ist ein Baronet, während deiner nur ein einfacher Mister ist." „Tochter eines Baronets zu sein bringt einem gar nichts, es sei denn, man sieht gut aus oder hat Geld", posaunte Fiona hinaus, was sie offensichtlich zu Hause gehört hatte. „Und Miranda hat weder noch." „Sei still, du blöde alte Kuh!", rief Olivia aus und stampfte mit dem Fuß auf. „Das ist meine Geburtstagsfeier, und wenn du nicht nett sein kannst, dann kannst du gehen!" Fiona schluckte. Sie wusste, dass sie Olivia nicht gegen sich aufbringen durfte, da deren Eltern gesellschaftlich den höchsten Rang in der Gegend einnahmen. „Tut mir leid, Olivia", murmelte sie. „Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen. Entschuldige dich bei Miranda." „Tut mir leid, Miranda." Miranda schwieg so lange, bis Olivia ihr einen Stoß versetzte. „Ich nehme deine Entschuldigung an", sagte sie widerstrebend. Fiona nickte und lief davon.
„Ich kann nicht fassen, dass du sie eine blöde alte Kuh genannt hast", meinte Miranda. „Du musst lernen, für dich einzustehen, Miranda." „Bis du gekommen bist, konnte ich prima für mich einstehen, Livvy. Ich bin dabei nur nicht so laut geworden." Olivia seufzte. „Mama sagt, ich habe keinerlei Spur Zurückhaltung oder Vernunft." „Stimmt." „Miranda!" „Ist doch wahr! Ich hab dich aber trotzdem lieb." „Ich dich auch, Miranda. Mach dir wegen der dummen Fiona keine Gedanken. Du kannst ja Winston heiraten, wenn du erwachsen bist, dann sind wir echte Schwestern." Miranda sah quer durch den Raum und betrachtete Winston zweifelnd. Er zog gerade ein kleines Mädchen an den Haaren. „Ich weiß nicht", meinte sie zögernd, „ich bin mir nicht sicher, ob ich Winston heiraten will." „Unsinn. Er wäre genau das Richtige. Außerdem, schau nur, er hat Fiona gerade Punsch über das Kleid geschüttet." Miranda grinste. „Komm mit!", forderte Olivia sie auf und ergriff ihre Hand. „Ich will meine Geschenke aufmachen. Ich verspreche dir auch, dass ich bei deinem am lautesten jubele." Die beiden Mädchen gesellten sich wieder zu den anderen, und dann packten Olivia und Winston ihre Geschenke aus. Zum Glück (fand zumindest Lady Rudland) war um Punkt vier Uhr Schluss; um diese Zeit sollten die Kinder nach Hause gehen. Kein einziges Kind wurde von Dienstboten abgeholt; eine Einladung nach Haverbreaks galt als große Ehre, und die Eltern wollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit dem Earl und der Countess zu plaudern. Mit Ausnahme von Mirandas Eltern. Um fünf Uhr saß sie immer noch im Salon und begutachtete mit Olivia die Geburtstagsausbeute. „Ich frage mich, was mit deinen Eltern ist, Miranda", bemerkte Lady Rudland. „Ach, ich weiß schon", erwiderte Miranda munter. „Mama ist nach Schottland zu ihrer Mama gefahren, und Papa hat mich bestimmt vergessen. Das tut er nämlich oft, wenn er an
einem Manuskript arbeitet. Er übersetzt aus dem Griechischen." „Ich weiß." Lady Rudland lächelte. „Aus dem Altgriechischen." „Ich weiß", wiederholte Lady Rudland seufzend. Dies war nicht das erste Mal, dass Sir Rupert Cheever seine Tochter vergaß. „Nun, irgendwie musst du nach Hause kommen." „Ich könnte sie begleiten", schlug Olivia vor. „Du und Winston müsst eure neuen Sachen wegräumen und Dankesbriefe schreiben. Wenn ihr das nicht gleich heute macht, wisst ihr nicht mehr, wer euch was geschenkt hat." „Aber du kannst Miranda doch nicht mit einem Dienstboten nach Hause schicken. Dann hat sie ja niemanden, mit dem sie plaudern kann!" „Ich kann mit dem Dienstboten plaudern", meinte Miranda. „Mit denen zu Hause rede ich auch immer." „Mit unseren geht das nicht", flüsterte Olivia. „Die sind so steif und stumm und schauen mich immer missbilligend an." „Meist hast du das auch verdient", warf Lady Rudland ein und tätschelte ihrer Tochter liebevoll den Kopf. „Aber ich habe etwas Besonderes für dich, Miranda: Nigel kann dich heimbringen." „Nigel!", kreischte Olivia. „Miranda, du Glückspilz!" Miranda hob die Brauen. Sie kannte Olivias großen Bruder noch nicht. „Also gut", sagte sie langsam. „Ich würde mich freuen, ihn endlich mal kennenzulernen. Du sprichst so oft von ihm, Olivia." Lady Rudland klingelte nach einer Zofe, damit sie Nigel hole. „Du kennst ihn nicht, Miranda? Wie seltsam. Nun ja, er ist für gewöhnlich nur an Weihnachten zu Hause, und da bist du ja immer in Schottland. Ich musste drohen, ihn zu enterben, wenn er nicht zum Geburtstag der Zwillinge kommt. Trotzdem, an der Feier wollte er nicht teilnehmen, vor lauter Angst, eine der Mütter würde versuchen, ihn mit einer Zehnjährigen zu verheiraten." „Nigel ist neunzehn und eine sehr gute Partie", erklärte Olivia ernsthaft. „Er ist ein Viscount. Und er ist sehr attraktiv. Er sieht genauso wie ich aus."
„Olivia!", tadelte Lady Rudland. „Nun, stimmt doch, Mama. Wenn ich ein Junge wäre, wäre ich auch sehr attraktiv." „Du bist auch als Mädchen sehr hübsch, Livvy", erklärte Miranda loyal und streifte die blonden Locken ihrer Freundin mit einem Blick, der nur ganz wenig Neid verriet. „Du aber auch. Da, nimm ein Band von Blödkuh Fiona. Alle brauche ich ja nicht." Miranda lächelte über diese Schwindelei. Olivia war eine wunderbare Freundin. Sie sah auf die Bänder und wählte aus reinem Trotz das veilchenblaue. „Danke, Livvy. Ich werde es am Montag zum Unterricht tragen." „Du hast mich gerufen, Mutter?" Beim Klang der tiefen Stimme wandte Miranda den Kopf und schnappte nach Luft. In der Tür stand das herrlichste Wesen, das sie je gesehen hatte. Olivia hatte gesagt, dass Nigel neunzehn war, aber Miranda erkannte sofort den Mann in ihm. Seine Schultern waren wunderbar breit, außerdem war er auch noch groß und schlank. Sein Haar war dunkler als das von Olivia, aber immer noch golden getönt. Aber das Schönste an ihm waren seine Augen: Sie waren strahlend blau, genau wie Olivias. Und sie zwinkerten auch genauso verschmitzt. Miranda lächelte. Ihre Mutter sagte immer, dass man einen Menschen nach seinen Augen beurteilen könne, und Olivias Bruder hatte gute Augen. „Nigel, wärst du so nett, Miranda nach Hause zu bringen?", bat Lady Rudland. „Ihr Vater hat sich anscheinend verspätet." Miranda fragte sich, warum er zusammenzuckte, als seine Mutter ihn mit diesem Namen ansprach. „Gewiss, Mutter. Na, Olivia, hattest du ein schönes Fest?" „Wunderbar." „Wo ist Winston?" Olivia zuckte mit den Schultern. „Er spielt irgendwo mit dem Säbel, den Billy Evans ihm geschenkt hat." „Hoffentlich kein echter." „Himmel hilf", meinte Lady Rudland. „Also schön, Miranda, dann sehen wir mal zu, dass du nach Hause kommst. Ich glaube, dein Mantel ist im Nebenraum." Sie verschwand
durch die Tür und kam kurz darauf mit Mirandas braunem, praktischem Mantel zurück. „Wollen wir aufbrechen, Miranda?" Die gottgleiche Gestalt streckte ihr die Hand hin. Miranda schlüpfte in den Mantel und legte ihre Hand in die seine. Himmlisch! „Ich sehe dich dann am Montag", rief Olivia. „Und bekümmer dich nicht mehr deswegen, was Fiona zu dir gesagt hat. Die ist doch bloß eine blöde alte Kuh." „Olivia!" „Na, stimmt doch, Mama. Ich will nicht, dass sie noch mal herkommt." Miranda lächelte, während sie sich von Olivias Bruder durch die Halle führen ließ. „Danke, dass Sie mich nach Hause bringen, Nigel", meinte sie leise. Wieder zuckte er zusammen. „Tut ... tut mir leid", meinte sie rasch. „Ich sollte Sie wohl ,Mylord' nennen, nicht? Aber Olivia und Winston reden von Ihnen immer als Nigel, und ich ..." Verlegen senkte sie den Blick. Zwei Minuten in Gesellschaft dieses herrlichen Geschöpfs, und schon hatte sie alles verdorben. Er blieb stehen und ging vor ihr in die Hocke, sodass sie ihm ins Gesicht blicken konnte. „Wegen des ,Mylord' mach dir mal keine Gedanken, Miranda. Ich verrate dir ein Geheimnis." Miranda riss die Augen auf und vergaß zu atmen. „Ich kann meinen Vornamen nicht ausstehen." „Das ist aber kein großes Geheimnis, Nig... ich meine, Mylord, ich meine, wie immer Sie genannt werden wollen. Sie sind vorhin zusammengezuckt, als Ihre Mutter Sie so ansprach." Er lächelte sie an. Etwas hatte ihn tief im Herzen berührt, als er dieses kleine Mädchen mit der viel zu ernsten Miene neben seiner unbezähmbaren Schwester gesehen hatte. Sie war ein merkwürdig aussehendes kleines Ding, aber ihre großen, seelenvollen braunen Augen hatten etwas sehr Liebenswertes an sich. „Wie wollen Sie denn genannt werden?", fragte Miranda. Er lächelte angesichts dieser direkten Frage. „Turner." Einen Augenblick dachte er schon, sie würde nicht antwor-
ten. Sie stand einfach da, stocksteif, und blinzelte ein wenig. Dann, als sei sie zu einem Schluss gekommen, sagte sie: „Das ist ein schöner Name. Ein bisschen seltsam, aber er gefällt mir." „Viel besser als Nigel, meinst du nicht?" Miranda nickte. „Haben Sie sich den selbst ausgesucht? Ich habe mir schon öfter gedacht, dass man sich seinen Namen selbst aussuchen dürfen sollte. Die meisten Leute würden vermutlich etwas ganz anderes wählen." „Und was würdest du nehmen?" „Ich weiß nicht, aber nicht Miranda. Irgendetwas Einfacheres, glaube ich. Von einer Miranda erwartet man einfach etwas anderes, und wenn die Leute mich dann sehen, sind sie enttäuscht." „Unsinn", widersprach Turner. „Du bist eine wunderbare Miranda." Sie strahlte ihn an. „Danke, Turner. Darf ich Sie so nennen?" „Natürlich. Allerdings habe ich mir diesen Namen nicht selbst ausgesucht. Es ist nur mein Titel. Viscount Turner. Den verwende ich schon seit Eton anstelle von Nigel." „Oh. Er passt zu Ihnen, finde ich." „Danke", erwiderte er feierlich, vollkommen bezaubert von diesem ernsthaften Kind. „Und jetzt gib mir deine Hand, wir wollen weiter." Er erhob sich und reichte ihr die linke Hand. Rasch gab Miranda das Haarband von der Rechten in die Linke. „Was ist das?" „Das? Ach, ein Band. Fiona Bennet hat Olivia zwei Dutzend geschenkt, und Olivia hat gesagt, ich darf mir eines nehmen." Turner machte schmale Augen, als ihm wieder einfiel, was Olivia als Letztes gesagt hatte. Und bekümmer dich nicht mehr deswegen, was Fiona zu dir gesagt hat. Er nahm ihr das Band aus der Hand. „Bänder gehören wohl ins Haar, glaube ich." „Oh, aber das passt doch gar nicht zu meinem Kleid", protestierte Miranda schwach. Aber er hatte das Band schon an ihrem Kopf befestigt. „Wie sieht es aus?", flüsterte sie.
„Umwerfend." „Wirklich?" Zweifelnd riss sie die Augen auf. „Wirklich. Ich finde immer, veilchenblaue Bänder sehen in dunkelbraunem Haar ganz besonders hübsch aus." In diesem Augenblick verliebte Miranda sich in ihn. So heftig war das Gefühl, dass sie vollkommen vergaß, ihm für das Kompliment zu danken. „Wollen wir los?", fragte er. Sie nickte nur, weil sie ihrer Stimme nicht traute. Zusammen gingen sie aus dem Haus und zu den Ställen. „Ich dachte, wir könnten reiten", meinte Turner. „Es ist viel zu schön draußen, um in der Kutsche zu sitzen." Miranda nickte noch einmal. Für März war es ungewöhnlich warm. „Du kannst Olivias Pony nehmen, sie hat bestimmt nichts dagegen." „Livvy hat gar kein Pony", meinte Miranda, die endlich ihre Stimme wiederfand. „Sie hat jetzt eine Stute. Ich hab zu Hause auch eine. Wir sind keine Babys mehr, wissen Sie." Turner unterdrückte ein Lächeln. „Nein, das sehe ich selbst. Wie dumm von mir, ich habe einfach nicht nachgedacht." Ein paar Minuten später waren die Pferde gesattelt, und dann brachen sie zu dem viertelstündigen Ritt zum Anwesen der Cheevers auf. Miranda war anfangs ziemlich schweigsam, weil sie so glücklich war, dass sie den Augenblick nicht durch Reden zerstören wollte. „Hast du dich auf der Feier gut amüsiert?", erkundigte sich Turner schließlich. „O ja, größtenteils war es wunderschön." „Größtenteils?" Er sah, wie sie zusammenzuckte. Offensichtlich hatte sie nicht so viel sagen wollen. „Nun erklärte sie langsam, nahm die Unterlippe zwischen die Zähne und ließ sie langsam wieder los, „... ein Mädchen war recht unfreundlich zu mir." „Ach?" Er wusste, wann er sich mit Fragen zurückhalten musste. Und offensichtlich hatte er recht, denn als sie schließlich fortfuhr, fühlte er sich an seine Schwester erinnert, wie sie
mit offenem Blick zu ihm aufsah, während die Worte aus ihrem Mund sprudelten. „Es war Fiona Bennet", erklärte sie naserümpfend, „und dann hat Olivia sie eine blöde alte Kuh genannt, und ich muss sagen, es tut mir gar nicht leid." Turner bemühte sich um einen angemessen ernsten Blick. „Mir tut es auch nicht leid, wenn Fiona unfreundlich zu dir war." „Ich weiß, dass ich nicht hübsch bin", platzte Miranda heraus, „aber es ist furchtbar unhöflich, das auszusprechen, um nicht zu sagen direkt gemein." Turner sah sie einen langen Moment an. Er war sich nicht ganz sicher, wie er das kleine Mädchen trösten sollte. Sie war wirklich nicht schön, und wenn er ihr nun sagte, sie sei es, würde sie ihm nicht glauben. Aber hässlich war sie auch nicht. Sie war einfach nur ... ziemlich ungelenk. Mirandas nächste Bemerkung rettete ihn aus diesem Dilemma. „Es liegt an meinem braunen Haar, glaube ich." Er hob fragend die Augenbrauen. „Es ist überhaupt nicht in Mode", erklärte Miranda. „Und braune Augen auch nicht. Und außerdem bin ich viel zu dünn, und mein Gesicht ist zu lang, und ich bin zu blass." „Nun, das alles stimmt", meinte Turner. Mit weit aufgerissenen, traurigen Augen sah sie ihn an. „Du hast braune Haare und braune Augen. Da gibt es gar nichts zu deuteln." Er legte den Kopf schief und tat so, als nähme er sie genau in Augenschein. „Du bist auch ziemlich dünn, und dein Gesicht ist in der Tat ein wenig lang. Und blass bist du auch." Ihre Lippen zitterten. Turner konnte sie nicht länger aufziehen. „Aber zufällig", fuhr er lächelnd fort, „sind mir persönlich Frauen mit braunen Haaren und Augen lieber." „Das glaube ich nicht!" „Doch. Schon immer. Und es gefällt mir auch, wenn sie dünn und blass sind." Misstrauisch sah Miranda ihn an. „Und was ist mit dem langen Gesicht?" „Also, ich muss zugeben, dass ich darüber noch nie nachgedacht habe. Es stört mich jedenfalls nicht weiter."
„Fiona Bennet hat gesagt, ich hätte dicke Lippen", erklärte sie beinahe trotzig. Turner verbiss sich das Lächeln. Sie seufzte tief. „Dabei ist mir noch nicht mal aufgefallen, dass ich dicke Lippen habe." „So dick sind sie ja gar nicht." Sie warf ihm einen misstrauischen Blick zu. „Das sagen Sie nur, damit es mir besser geht." „Ich möchte tatsächlich, dass es dir besser geht, aber deswegen habe ich es nicht gesagt. Und wenn Fiona das nächste Mal behauptet, du hättest dicke Lippen, sag ihr, dass sie sich täuscht. Du hast volle Lippen." „Wo liegt da der Unterschied?" Gespannt sah sie ihn an. Turner schöpfte tief Atem. „Nun", erklärte er zögernd, „dicke Lippen sind hässlich. Volle Lippen nicht." „Oh." Das schien sie zufriedenzustellen. „Fiona hat dünne Lippen." „Volle Lippen sind viel, viel besser als dünne", sagte Turner nachdrücklich. Er hatte Gefallen an diesem komischen kleinen Mädchen gefunden und wollte es aufheitern. „Warum?" Während er insgeheim die Götter des Anstands und der Sitte um Verzeihung bat, erwiderte er: „Volle Lippen eignen sich besser zum Küssen." „Oh." Miranda errötete, und dann lächelte sie. „Gut." Ohne genau zu wissen, warum, war Turner sehr zufrieden mit der Wirkung seiner Antwort. „Weißt du, was ich glaube, Miss Miranda Cheever?" „Was denn?" „Ich glaube, du musst einfach noch in dich hineinwachsen." Kaum hatte er dies gesagt, bereute er es. Sicher würde sie ihn fragen, was er damit meinte, und er hatte keine Ahnung, was er ihr darauf antworten sollte. Doch das frühreife kleine Mädchen legte nur den Kopf schief, während es über seine Bemerkung nachdachte. „Wahrscheinlich haben Sie recht", erklärte es schließlich. „Schauen Sie sich nur meine Beine an." Ein diskretes Hüsteln überdeckte das Lachen, das in Turners Kehle aufstieg. „Wie meinst du das?"
„Nun, sie sind viel zu lang. Mama sagt immer, dass sie schon an den Schultern anfangen." „Mir scheint, dass sie ganz normal an der Taille wachsen." Miranda kicherte. „Das war bildlich gesprochen." Turner blinzelte. Diese Zehnjährige verfügte über einen erstaunlichen Wortschatz. „Ich will damit nur sagen", fuhr sie fort, „dass meine Beine die falsche Größe haben, verglichen mit dem Rest von mir. Ich glaube, das ist der Grund, warum ich einfach nicht tanzen kann. Ich steige Olivia dauernd auf die Füße." „Olivia?"
„Wir üben zusammen", erklärte Miranda energisch. „Ich glaube, wenn der Rest von mir meine Beine eingeholt hat, bin ich nicht mehr so ungeschickt. Ich glaube also, dass Sie recht haben. Ich muss einfach noch in mich hineinwachsen." „Wunderbar", entgegnete Turner, froh, dass es ihm anscheinend irgendwie gelungen war, genau das Richtige zu sagen. „Ach, hier sind wir ja schon." Miranda sah an dem grauen Steinhaus empor, in dem sie wohnte. Es stand an einem der vielen Flüsse, welche die Seen in der Gegend miteinander verbanden, und um zur Haustür zu gelangen, musste man eine kleine gepflasterte Brücke überqueren. „Danke, dass Sie mich heimgebracht haben, Turner. Ich verspreche Ihnen, dass ich nie Nigel zu Ihnen sage." „Versprichst du mir auch, Olivia zu kneifen, wenn sie mich Nigel nennt?" Miranda kicherte und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie nickte. Turner stieg ab und half dann der Kleinen vom Pferd. „Weißt du, was ich glaube, das du tun solltest?", fragte er plötzlich. „Was denn?" „Du solltest Tagebuch führen." Überrascht blinzelte sie ihn an. „Warum? Wer würde das wohl je lesen wollen?" „Niemand, du Gänschen. Das schreibt man für sich selbst. Und vielleicht werden es eines Tages nach deinem Tod deine Enkel lesen, um zu erfahren, was für ein Mensch du in deiner Jugend warst."
Sie legte den Kopf schief. „Und wenn ich keine Enkel habe?" Impulsiv streckte Turner die Hand aus und zauste ihr die Haare. „Du stellst ja eine Menge Fragen, Kätzchen." „Aber was ist, wenn ich keine Enkel habe?" Himmel, das Kind war ganz schön hartnäckig. „Vielleicht wirst du ja berühmt." Er seufzte. „Und die Kinder, die dich in der Schule durchnehmen, wollen dann alles über dich erfahren." Miranda betrachtete ihn zweifelnd. „Ach, na schön, willst du wissen, warum ich wirklich glaube, dass du ein Tagebuch führen solltest?" Sie nickte. „Weil du eines Tages in dich hineinwachsen wirst, und dann wirst du ebenso schön sein, wie du jetzt schon klug bist. Und dann kannst du in deinem Tagebuch nachlesen und sehen, wie albern kleine Mädchen wie Fiona Bennet sind. Und du wirst lachen, wenn du dich daran erinnerst, wie deine Mutter gesagt hat, dass deine Beine schon an den Schultern anfangen. Und vielleicht hast du auch für mich ein kleines Lächeln übrig, wenn du an unser nettes Gespräch heute zurückdenkst." Miranda sah zu ihm auf und dachte bei sich, dass er wohl einer jener griechischen Götter sein musste, über die ihr Vater dauernd las. „Wissen Sie, was ich glaube?", flüsterte sie. „Olivia hat großes Glück, Sie zum Bruder zu haben." „Und ich glaube, sie hat großes Glück, dich zur Freundin zu haben." Mirandas Lippen zitterten. „Für Sie reserviere ich ein ganz großes Lächeln, Turner", wisperte sie. Er beugte sich herunter und küsste ihr anmutig die Hand, als wäre sie die schönste Dame Londons. „Vergiss es nicht, Kätzchen." Er lächelte und nickte ihr zu, bevor er aufstieg, Olivias Stute im Schlepptau. Miranda starrte ihm nach, bis er am Horizont verschwunden war, und dann starrte sie noch einmal zehn Minuten in diese Richtung. An diesem Abend schlenderte Miranda in die Studierstube ihres Vaters. Er saß über einen Text gebeugt und merkte gar
nicht, wie seine Kerze Wachs auf den Schreibtisch tropfte. „Papa, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du auf die Kerzen achten musst?" Sie seufzte und stellte die Kerze in einen passenden Ständer. „Was? Ach je." „Und du brauchst auch mehr als eine. Hier drin ist es doch viel zu dunkel zum Lesen." „Wirklich? Ist mir gar nicht aufgefallen." Er blinzelte und sah seine Tochter dann scharf an. „Müsstest du nicht längst im Bett liegen?" „Nanny hat gesagt, ich darf heute Abend eine halbe Stunde länger aufbleiben." „Ja? Na dann." Er beugte sich wieder über sein Manuskript. Sie war entlassen. „Papa?" Er seufzte. „Was ist denn, Miranda?" „Hast du ein Notizbuch für mich übrig? So eines, in das du deine Übersetzungen schreibst, ehe du sie zum letzten Mal überarbeitest." „Ich glaube schon." Er zog die unterste Schublade seines Schreibtisches auf und räumte darin herum. „Hier. Aber was willst du damit anfangen? Das ist ein gutes Notizbuch und war nicht billig, weißt du." „Ich will ein Tagebuch führen." „Ach ja? Nun, das ist wohl ein würdiges Vorhaben." Er reichte ihr das Notizbuch. Miranda strahlte über das Lob. „Danke. Ich lass dich wissen, wenn ich es vollgeschrieben habe und ein neues brauche." „In Ordnung. Gute Nacht, mein Liebes." Er wandte sich wieder seinen Papieren zu. Miranda drückte das Notizbuch an die Brust und lief hinauf in ihr Schlafzimmer. Sie holte Tintenfass und Feder und öffnete das Buch auf der ersten Seite. Zunächst schrieb sie das Datum nieder, und nach einiger Überlegung fügte sie einen einzigen Satz hinzu. Das schien genug. 2. März 1810 Heute habe ich mich verliebt.
1. KAPITEL Nigel Bevelstoke - Turner für all jene, denen an seiner Gunst gelegen war - wusste eine Menge Dinge. Er konnte Lateinisch und Griechisch lesen, und er wusste, wie man eine Frau auf Französisch und Italienisch verführte. Er konnte ein bewegliches Ziel treffen, während er auf einem Pferd ritt, und er wusste genau, wie viel er trinken konnte, ehe er seine Würde einbüßte. Er konnte boxen und mit einem Meister fechten, und dabei konnte er auch noch gleichzeitig Shakespeare oder John Donne zitieren. Kurzum, er wusste alles, was ein Gentleman wissen sollte, und hatte sich auf jedem Gebiet ausgezeichnet. Die Leute nahmen ihn wahr. Die Leute sahen zu ihm auf. Aber nichts - keine Sekunde seines prominenten, privilegierten Lebens - hatte ihn auf dies hier vorbereitet. Und nie zuvor hatte er die Blicke der anderen schwerer auf sich lasten gefühlt als in diesem Augenblick, da er vortrat und eine Schaufel Erde auf den Sarg seiner Ehefrau warf. Es tut mir so leid, sagten die Leute. Es tut mir so leid. Es tut uns so leid. Und die ganze Zeit fragte Turner sich, ob Gott ihn wohl mit einem Blitz niederstrecken würde, weil er nichts anderes denken konnte als . .. Mir tut es nicht leid. Ah, Leticia. Er verdankte ihr eine ganze Menge. Mal sehen, wo sollte er anfangen? Erst einmal war da natürlich der Verlust seines Rufs. Weiß der Teufel, wie vielen Leuten bewusst war, dass sie ihm Hörner aufgesetzt hatte.
Immer wieder. Dann der Verlust seiner Unschuld. Jetzt konnte er sich daran kaum noch erinnern, aber es hatte Zeiten gegeben, da er gewillt war, der Menschheit eine Chance einzuräumen. Früher einmal hatte er in seinen Mitmenschen meist nur das Beste gesehen, hatte geglaubt, wenn er sie ehrenhaft und mit Respekt behandelte, würden sie mit ihm dasselbe tun. Und dann der Verlust seiner Seele. Denn als er zurücktrat, die Hände steif im Rücken verschränkt, und zuhörte, wie der Pfarrer Leticias Leichnam bestattete, konnte er vor sich selbst die Tatsache nicht leugnen, dass er sich dies gewünscht hatte. Er hatte sie loswerden wollen. Und er würde nicht um sie trauern. Er trauerte nicht um sie. „Wie traurig", hörte er es hinter sich flüstern. Turners Kinn zuckte. Traurig war es nicht, es war lächerlich. Und nun durfte er das nächste Jahr Trauer um eine Frau tragen, die mit dem Kind eines anderen zu ihm gekommen war. Sie hatte ihn bezaubert, ihm den Kopf verdreht, bis er alles daran gesetzt hatte, sie zu gewinnen. Sie hatte behauptet, ihn zu lieben, und sie hatte voll süßer Unschuld und Glückseligkeit gelächelt, als er ihr sein ganzes Herz und seine ewige Liebe versprochen hatte. Sie war sein Traum gewesen. Und dann sein Albtraum. Sie verlor das Baby, jenes Baby, das ihre Heirat herbeigeführt hatte. Der Vater war irgendein italienischer Graf gewesen, zumindest hatte sie das behauptet. Er war bereits verheiratet oder nicht geeignet oder beides. Turner war bereit gewesen, ihr zu vergeben; jeder machte einmal einen Fehler, und außerdem, hatte er nicht auch versucht, sie vor der Hochzeitsnacht zu verführen? Doch Leticia hatte seine Liebe nicht gewollt. Er wusste nicht, was zum Teufel sie eigentlich gewollt hatte - Macht vielleicht, das berauschende Gefühl der Befriedigung, einen weiteren Mann in den Bann gezogen zu haben. Turner fragte sich, ob es das war, was sie empfunden hatte, als er ihren Reizen erlegen war. Vielleicht war es auch einfach Erleichterung gewesen. Bei ihrer Hochzeit war sie bereits im
dritten Monat. Viel Zeit wäre ihr nicht mehr geblieben. Und hier lag sie nun. Oder eher dort. Turner war sich nicht sicher, welche Ortsangabe passender war, wenn man sich auf einen Leichnam in der Erde bezog. Wie auch immer. Er bedauerte nur, dass sie die Ewigkeit auf seinem Grund und Boden verbringen würde, unter lauter verblichenen Bevelstokes. Ihr Grabstein würde seinen Namen tragen, und wenn jemand in hundert Jahren die gemeißelte Inschrift betrachtete, würde er wohl denken, dass in dem Grab eine feine Dame lag und was für eine Tragödie es gewesen sei, dass sie so jung sterben musste. Turner sah zu dem Pfarrer auf. Er war noch ziemlich jung, neu in der Gemeinde und wahrscheinlich noch überzeugt davon, dass er die Welt verbessern könnte. „Asche zu Asche", sagte der Pfarrer gerade und blickte den Mann an, den er für den trauernden Witwer hielt. Ah ja, dachte Turner bitter, das wäre dann ja wohl ich. „Staub zu Staub." Hinter ihm schniefte doch tatsächlich jemand. Und der Pfarrer, in dessen Augen ein fürchterlich unangebrachtes Mitgefühl schimmerte, redete immer weiter ... „... schauen wir im Glauben der Auferstehung ..." O Gott.
„... und dem Leben der zukünftigen Welt entgegen." Der Pfarrer sah Turner an und zuckte tatsächlich zurück. Turner fragte sich, was genau er in seiner Miene entdeckt hatte. Nichts Gutes, das stand fest. Mehrere Amen ertönten, und dann war die Beerdigungszeremonie vorüber. Alle sahen erst zum Pfarrer, dann zu Turner, und dann sahen alle zu, wie der Pfarrer Turners Hände umfasste und sagte: „Wir werden sie vermissen." „Ich nicht", fuhr Turner ihn an. Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.
Miranda blickte auf die Worte, die sie soeben notiert hatte. Im Moment war sie auf Seite zweiundvierzig ihres dreizehnten Tagebuchs angelangt, und zum ersten Mal - zum ersten Mal seit jenem schicksalhaften Tag vor neun Jahren - wusste sie
nicht, was sie schreiben sollte. Selbst wenn ihre Tage nichts als Langeweile enthielten (was oft der Kall war), gelang ihr doch immer ein Eintrag. Im Mai ihres vierzehnten Lebensjahres: Aufgewacht. Angezogen. Zum Frühstück: Toast, Eier, Schinkenspeck. Verstand und Gefühl gelesen, von einer Unbekannten geschrieben. Verstand und Gefühl vor Vater versteckt. Zum Lunch: Hühnchen, Brot, Käse. Französische Verben konjugiert. Brief an Großmutter aufgesetzt. Zum Dinner: Beefsteak, Suppe, Nachtisch. Verstand und Gefühl weitergelesen, Autorin immer noch unbekannt. Zu Bett gegangen. Geschlafen. Von ihm geträumt.
Dies durfte man nicht mit dem Eintrag vom 12. November desselben Jahres verwechseln: Aufgewacht. Frühstück: Eier, Toast, Schinken. Mir größte Mühe gegeben, eine griechische Tragödie zu lesen. Ohne Erfolg. Die meiste Zeit aus dem Fenster geschaut. Zum Lunch: Fisch, Brot, Erbsen. Lateinische Verben konjugiert. Brief an Großmutter aufgesetzt. Zum Dinner: Braten, Kartoffeln, Nachtisch. Tragödie am Abendbrottisch (d. h., hab mein Buch mitgenommen, keine echte). Vater hat es nicht bemerkt. Ins Bett gegangen. Geschlafen. Von ihm geträumt.
Aber jetzt, wo wirklich etwas Wichtiges und Großes passiert war, was sonst nie der Fall war, fiel ihr nichts ein, außer: Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich gesagt hat.
„Nun, Miranda", murmelte sie und sah zu, wie die Tinte an ihrem Federkiel trocknete, „als Tagebuchschreiberin wirst du jedenfalls nicht berühmt. „Was hast du gesagt?" Hastig schlug Miranda das Tagebuch zu. Sie hatte nicht bemerkt, dass Olivia den Raum betreten hatte. „Nichts", meinte sie rasch. Olivia schritt über den Teppich und ließ sich aufs Bett fallen. „Was für ein schrecklicher Tag." Miranda nickte und wandte sich zu ihrer Freundin um. „Ich bin froh, dass du dabei warst", seufzte Olivia. „Danke, dass du über Nacht bleibst." „Natürlich", erwiderte Miranda. Das war gar keine Frage, schließlich hatte Olivia gesagt, dass sie sie brauche. „Was schreibst du denn da?" Miranda blickte auf das Tagebuch und merkte erst in diesem Moment, dass sie die Hände beschützend über den Einband gelegt hatte. „Nichts." Olivia hatte an die Decke gestarrt, doch nun blickte sie in Mirandas Richtung. „Das kann nicht sein." „Leider doch." „Warum leider?" Miranda blinzelte. Typisch Olivia, die offenkundigsten Fragen zu stellen - und solche, auf die man keine Antwort wusste. „Na ja", meinte Miranda, die nicht direkt auf Zeit spielte, aber doch Zeit brauchte, um sich eine plausible Antwort zurechtzulegen. Sie nahm die Hände weg und blickte auf das Tagebuch, als wäre die Antwort wie von Zauberhand auf dem Einband erschienen. „Das ist alles, was ich habe. Das ist, was ich bin." Zweifelnd sah Olivia sie an. „Das ist ein Buch." „Das ist mein Leben." „Und da sagen die Leute immer über mich", meinte Olivia, „ich wäre theatralisch!"
„Ich sage ja nicht, dass dies mein Leben ist", erklärte Miranda mit einer Spur Ungeduld. „Mein Leben ist darin enthalten. Alles. Ich schreibe alles auf. Seit meinem zehnten Lebensjahr." „Alles?" Miranda dachte an die vielen Tage, an denen sie pflichtbewusst aufgezeichnet hatte, was sie gegessen hatte, wenn auch sonst nichts. „Alles." „Ich könnte nie Tagebuch führen." „Nein." Olivia rollte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. „So schnell hättest du jetzt auch nicht zuzustimmen brauchen." Miranda lächelte nur. Olivia ließ sich wieder auf die Matratze fallen. „Wahrscheinlich schreibst du jetzt, dass ich eine kurze Aufmerksamkeitsspanne habe." „Hab ich schon." Schweigen, dann: „Wirklich?" „Ich glaube, ich habe geschrieben, dass du dich schnell langweilst." „Nun ja", erwiderte ihre Freundin in einem seltenen Moment der Nachdenklichkeit, „das stimmt wohl auch." Miranda sah auf den Schreibtisch. Ihre Kerze warf flackernde Schatten auf das Tagebuch, und plötzlich fühlte sie sich müde. Müde, aber leider nicht schläfrig. Eher erschöpft. Unruhig. „Ich kann kaum noch die Augen offen halten", erklärte Olivia und glitt vom Bett. Ihre Zofe hatte ihr Nachtgewand auf der Tagesdecke ausgebreitet, und Miranda wandte diskret den Blick ab, während Olivia sich umzog. „Was meinst du, wie lange bleibt Turner hier auf dem Land?", fragte Miranda, obwohl sie es sich lieber verkniffen hätte. Sie hasste es, dass sie immer noch so verzweifelt darauf erpicht war, ihn zu sehen, aber das war nun schon seit Jahren ihr Los. Selbst als er geheiratet und sie bei seiner Hochzeit in der Kirchbank gesessen und zugesehen hatte, wie er seine Braut mit derselben Liebe und Hingabe musterte, die auch in ihrem Herzen brannte ...
Dennoch hatte sie zugesehen. Sie liebte ihn immer noch. Wurde ihn immer lieben. Er hatte sie dazu gebracht, an sich zu glauben. Sicher hatte er keine Ahnung, was er für sie getan hatte, würde es vermutlich nie erfahren. Aber Miranda sehnte sich immer noch nach ihm. Und würde das vermutlich immer tun. Olivia kroch ins Bett. „Bleibst du noch lange auf?", fragte sie schlaftrunken. „Nein, nicht mehr lange", beruhigte Miranda sie. Olivia konnte nicht schlafen, wenn in ihrer Nähe eine Kerze brannte. Zwar konnte Miranda das nicht ganz nachvollziehen, schließlich störte sich die Freundin auch nicht am Feuer im Kamin, doch sie hatte selbst mit angesehen, wie Olivia sich ruhelos im Bett herumwälzte. Als sie daher merkte, dass sie einfach nicht zur Ruhe kam und „nicht lange" vermutlich gelogen war, beugte sie sich vor und blies die Kerze aus. „Ich schreibe einfach woanders weiter", sagte sie und nahm das Tagebuch unter den Arm. „Dankchrrr", murmelte Olivia, und als Miranda einen Morgenmantel übergezogen hatte und hinaus auf den Gang getreten war, war sie schon eingeschlafen. Miranda klemmte das Tagebuch unter dem Kinn fest, um die Hände frei zu haben und den Gürtel des Morgenmantels zu binden. Auch wenn sie oft in Haverbreaks übernachtete, gehörte es sich nicht, dass sie nur im Nachthemd durch ein fremdes Haus wanderte. Die Nacht war dunkel, von draußen fiel nur etwas Mondlicht durch die Fenster, aber den Weg von Olivias Zimmer zur Bibliothek hätte Miranda auch mit verbundenen Augen gefunden. Olivia schlief immer vor ihr ein - ihre Freundin behauptete, ihr brause viel zu viel durch den Kopf -, und so nahm Miranda ihr Tagebuch oft in ein anderes Zimmer mit, um sich dort die Geschehnisse des Tages durch den Kopf gehen zu lassen. Vermutlich hätte sie darum bitten können, ein eigenes Zimmer zu bekommen, aber Olivias Mutter hielt nichts von sinnloser Verschwendung und sah daher keinerlei Veranlassung, zwei Zimmer zu heizen, wenn eines auch ausreichte. Miranda machte das nichts aus. Eigentlich war sie sogar
dankbar für die Gesellschaft. Ihr Zuhause war in letzter Zeit viel zu ruhig geworden; seit ihre geliebte Mutter vor beinahe einem Jahr gestorben war, lebte Miranda allein mit ihrem Vater. Der hatte sich vor Kummer in seinen kostbaren Manuskripten vergraben und seine Tochter sich selbst überlassen. Miranda hatte Liebe und Trost bei den Bevelstokes gesucht und war mit offenen Armen empfangen worden. Olivia trug Lady Cheever zu Ehren sogar drei Wochen lang Trauer. „Wenn einer meiner Cousins sterben würde, müsste ich das auch tun", hatte Olivia bei der Beerdigung gesagt. „Und ich habe deine Mutter viel mehr geliebt, als ich meine Cousins liebe." „Olivia!" Miranda war gerührt, dachte aber auch, dass sie das eigentlich schockieren müsste. Olivia rollte mit den Augen. „Kennst du meine Cousins?" Darauf hatte sie gelacht. Auf der Beerdigung ihrer eigenen Mutter hatte Miranda lachen müssen. Später hatte sie erkannt, dass dies das kostbarste Geschenk war, das ihr die Freundin hätte machen können. „Ich hab dich lieb, Livvy", sagte sie. Olivia ergriff ihre Hand. „Ich weiß", erwiderte sie leise. „Ich dich auch." Dann straffte sie die Schultern und nahm ihre ursprüngliche Haltung wieder ein. „Ohne dich wäre ich vollkommen unverbesserlich, weißt du. Meine Mutter sagt oft, dass du der einzige Grund bist, warum ich noch kein unverzeihliches Verbrechen begangen habe." Wahrscheinlich war dies der Grund, warum Lady Rudland ihr angeboten hatte, sie eine Saison lang in die Londoner Gesellschaft einzuführen. Nachdem die Einladung gekommen war, hatte ihr Vater erleichtert aufgeseufzt und sie rasch mit dem nötigen Geld ausgestattet. Sir Rupert Cheever war kein außergewöhnlich reicher Mann, aber er hatte genug Geld, um seiner einzigen Tochter eine Saison in London zu bezahlen. Woran es ihm mangelte, das war die nötige Geduld - oder, ehrlich gesagt, das Interesse -, sie selbst einzuführen. Ihr Debüt verzögerte sich um ein Jahr. Miranda konnte nicht gehen, während sie Trauer um ihre Mutter trug, und Lady Rudland hatte sich entschlossen, Olivia auch warten zu lassen. Zwanzig wäre genauso gut wie neunzehn, hatte sie
erklärt. Und es stimmte; keiner zweifelte daran, dass Olivia eine großartige Partie machen würde. Bei ihrem atemberaubenden Äußeren, ihrer lebhaften Persönlichkeit und, wie Olivia selbst ironisch erklärte, ihrer saftigen Mitgift würde sie sicher ein Erfolg werden. Doch Leticias Tod war nicht nur tragisch, sondern auch zeitlich ziemlich ungünstig gewesen: Nun mussten sie eine weitere Trauerzeit abwarten. Allerdings konnte Olivia es bei sechs Wochen bewenden lassen, schließlich war Leticia keine Blutsverwandte gewesen. Sie würden einfach ein wenig zu spät nach London kommen. Da konnte man nichts machen. Insgeheim war Miranda froh, denn der Gedanke an London machte ihr furchtbar Angst. Es war nicht direkt so, dass sie schüchtern gewesen wäre, aber sie fühlte sich in großen Menschenmengen nicht wohl, und der Gedanke, dass so viele Leute sie prüfend betrachten würden, war einfach schrecklich. Kann man nicht ändern, dachte sie, als sie die Treppe hinunterging. Jedenfalls wäre es viel schlimmer, ohne Olivia in Ambleside festzusitzen. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und überlegte, wohin sie sich wenden sollte. In der Bibliothek stand der bessere Schreibtisch, doch im Salon war es meist wärmer, und die Nacht war ziemlich frisch. Andererseits ... Nanu ... was war das? Sie beugte sich vor und sah den Gang hinunter. Jemand hatte in Lord Rudlands Arbeitszimmer ein Feuer entzündet. Miranda konnte sich nicht vorstellen, dass noch jemand auf war - die Bevelstokes gingen normalerweise früh zu Bett. Leise tappte sie über den Läufer, bis sie die offene Tür erreicht hatte. „Oh!" Turner sah vom Schreibtisch seines Vaters auf. „Miss Cheever", sagte er schleppend, ohne sich aus seiner lässigen Haltung aufzurichten. „Quelle surprise!" Turner war sich nicht sicher, warum er keineswegs überrascht war, Miss Miranda Cheever in der Tür zum Arbeitszimmer
seines Vaters stehen zu sehen. Als er draußen auf dem Gang Schritte gehört hatte, hatte er sich schon gedacht, dass sie es war. Seine Familie schlief wie die Toten, und es war kaum vorstellbar, dass einer von ihnen auf der Suche nach einem Imbiss oder einem Buch nächtens durch die Flure geisterte. Aber nicht nur aus diesem Grund war er auf Miranda gekommen. Sie tendierte dazu, die Leute zu beobachten, schon immer; stets betrachtete sie alles und jeden mit ihren eulenhaften Augen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sie zum ersten Mal gesehen hatte - vermutlich war das kleine Ding damals noch am Gängelband geführt worden. Sie gehörte quasi zur Familie, war immer da, selbst zu einer Zeit wie dieser, wo die Familie eigentlich unter sich sein sollte. „Ich gehe schon", sagte sie. „Nein, bleiben Sie", erwiderte er, weil ... warum eigentlich?
Weil ihm nach Schabernack zumute war? Weil er zu viel getrunken hatte? Weil er nicht allein sein wollte? „Bleiben Sie", erklärte er mit weit ausholender Geste. Irgendwo würde sich für sie doch ein Sitzplatz finden lassen. „Trinken Sie ein Gläschen." Sie riss die Augen auf. „Und ich dachte, die könnten nicht größer werden", murmelte er. „Ich kann nicht trinken." „Sie können nicht?" „Ich sollte nicht", korrigierte sie sich, und er glaubte zu sehen, wie sie die Stirn runzelte. Gut, er hatte sie verärgert. Das freute ihn, dass er immer noch in der Lage war, eine Frau zu provozieren, selbst wenn sie nur so wenig von der Welt gesehen hatte wie sie. „Wenn Sie schon mal hier sind", meinte er achselzuckend, „können Sie auch einen Brandy trinken." Einen Augenblick stand sie ganz still, und er hätte schwören mögen, dass er es in ihrem Gehirn rattern hörte. Schließlich legte sie ihr schmales Buch auf einen Tisch an der Tür und trat vor. „Aber nur einen." Er lächelte. „Weil Sie Ihre Grenzen kennen?"
Sie begegnete seinem Blick. „Weil ich meine Grenzen nicht kenne." „So jung und schon so weise", murmelte er. „Ich bin neunzehn", erklärte sie, nicht trotzig, nur nüchtern konstatierend. Er hob eine Augenbraue. „Wie ich schon sagte ..." „Als Sie neunzehn waren ..." Er lächelte spöttisch, weil sie den Satz nicht beendete. „Als ich neunzehn war", wiederholte er und reichte ihr ein großzügig eingeschenktes Glas Brandy, „war ich ein Dummkopf." Er schaute das Glas an, das er sich selbst eingeschenkt hatte, eine ebenso große Portion wie für Miranda, und stürzte es in einem langen, befriedigenden Zug hinunter. Dumpf schlug das Glas auf dem Tisch auf, und Turner lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Wie alle Neunzehnjährigen, sollte ich hinzufügen", schloss er. Neugierig betrachtete er sie. Sie hatte ihren Brandy nicht angerührt. Hingesetzt hatte sie sich auch nicht. „Anwesende möglicherweise ausgenommen", berichtigte er sich. „Ich dachte, Brandy trinkt man aus einem Kognakschwenker", meinte sie. Er beobachtete, wie sie sich vorsichtig hinsetzte. Der Stuhl stand nicht neben ihm, aber auch nicht gegenüber. Ihre Blicke ließen ihn nicht los, und er fragte sich, was sie befürchtete. Dass er sich auf sie stürzte? „Brandy", begann er, als redete er vor einem Publikum, das mehr als eine Zuhörerin zählte, „wird am besten in dem Glas serviert, das gerade zur Hand ist. Im vorliegenden Fall ..." Er hob das schwere Wasserglas, beobachtete, wie der Feuerschein auf den Facetten tanzte, und machte sich nicht die Mühe, den Satz zu vollenden. Irgendwie schien das nicht nötig, und außerdem war es ihm gerade wichtiger, sich nachzuschenken. „Prost." Und runter damit. Er sah sie an. Sie saß immer noch da und beobachtete ihn. Ob missbilligend, das konnte er nicht beurteilen, dazu war ihre Miene zu undurchdringlich. Aber er wünschte, sie würde etwas sagen. Egal was, selbst wenn es irgendein Unsinn über Stielgläser war, Hauptsache, es lenkte ihn von dem Umstand
ab, dass es erst halb zwölf war und er immer noch dreißig Minuten totzuschlagen hatte, ehe dieser schreckliche Tag endgültig vorüber war. „Sagen Sie, Miss Cheever, wie hat Ihnen der Gottesdienst gefallen?", fragte er, und sein Blick forderte sie heraus, etwas jenseits der üblichen Plattitüden zu äußern. In ihrem Gesicht zeigte sich Überraschung - die erste Gefühlsregung an diesem Abend, die er eindeutig erkannte. „Sie meinen die Beerdigung?" „Einen anderen Gottesdienst gab es heute nicht", erwiderte er erstaunlich munter. „Ich fand es, nun, interessant." „Nun kommen Sie, Miss Cheever, Ihnen fällt doch sicher etwas Besseres ein." Sie biss sich auf die Unterlippe. Leticia hatte das auch immer gemacht, erinnerte er sich. Damals, als sie noch vorgab, ein unschuldiges junges Mädchen zu sein. Sobald sie seinen Ring am Finger stecken hatte, hatte sie damit aufgehört. Er goss sich einen weiteren Drink ein. „Meinen Sie nicht ..." „Nein", widersprach er energisch. An einem Abend wie diesem konnte man gar nicht genug Brandy trinken. Und dann streckte sie die Hand aus, hob ihr Glas und nahm einen Schluck. „Ich fand Sie wunderbar." Verdammt. Er hustete und spuckte, als wäre er hier die Unschuld, die ihren ersten Schluck Brandy kostete. „Wie bitte?" Sie lächelte gelassen. „Vielleicht wäre es eine gute Idee, kleinere Schlucke zu nehmen." Gereizt starrte er sie an. „Es kommt nicht oft vor, dass jemand ehrlich ist, wenn er von einem Verstorbenen redet. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob der Ort wirklich angemessen war, aber ... nun ja ... sie war wirklich nicht besonders nett, oder?" Sie wirkte so gelassen, so unschuldig, aber ihr Blick war scharf. „Aber Miss Cheever", murmelte er. „Ich glaube fast, Sie sind ein wenig rachsüchtig." Sie zuckte mit den Schultern und nahm noch einen Schluck
Brandy - einen kleinen, wie er bemerkte. „Keineswegs", behauptete sie, doch er war sich ziemlich sicher, dass er ihr das nicht glaubte, „aber ich bin eine gute Beobachterin." Er lachte leise. „Allerdings." Sie versteifte sich. „Wie bitte?" Offensichtlich hatte er sie aus der Ruhe gebracht. Er wusste nicht, warum er das so befriedigend fand, aber er konnte sich nicht helfen, er genoss es. Und er hatte schon lange nichts mehr genossen. Er beugte sich vor, nur um zu sehen, ob er sie noch weiter verunsichern konnte. „Ich habe Sie beobachtet." Sie wurde bleich. Das sah er selbst im schwachen Schein des Feuers. „Und wissen Sie, was ich entdeckt habe?", murmelte er. Sie öffnete den Mund, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Dass Sie mich beobachtet haben." Sie sprang auf, so unvermittelt, dass sie beinahe ihren Stuhl umgeworfen hätte. „Ich gehe jetzt besser", erklärte sie. „Das hier ist höchst ungebührlich, es ist spät, und ..." „Ach, kommen Sie, Miss Cheever", unterbrach er sie und erhob sich ebenfalls. „Regen Sie sich nicht auf. Sie beobachten doch jeden. Glauben Sie, ich hätte das nicht bemerkt?" Er streckte die Hand aus und fasste sie am Arm. Sie erstarrte. Doch sie drehte sich nicht um. Sein Griff verstärkte sich. Nur eine Spur. Nur so viel, um sie am Gehen zu hindern, denn er wollte nicht, dass sie ihn verließ. Er wollte nicht allein sein. Vor ihm lagen noch zwanzig Minuten, und er wollte, dass sie zornig war, genauso zornig wie er. Er war seit Jahren schon zornig. „Sagen Sie, Miss Cheever", flüsterte er und legte ihr sanft zwei Finger unters Kinn. „Sind Sie schon einmal geküsst worden?"
2. KAPITEL Es wäre keine Übertreibung gewesen zu sagen, dass Miranda jahrelang von diesem Augenblick geträumt hatte. In ihren Träumen hatte sie allerdings immer gewusst, was sie sagen sollte. In Wirklichkeit war sie leider weitaus weniger beredt. Sie konnte ihn nur anstarren, atemlos - wortwörtlich, dachte sie, denn sie bekam wirklich keine Luft. Seltsam, sie hatte es immer für eine Metapher gehalten. Atemlos. Atemlos.
„Dachte ich mir doch, dass nicht", sagte er gerade, und sie hörte ihn kaum, weil sich die Gedanken in ihrem Kopf überschlugen. Sie sollte weglaufen, doch sie war wie erstarrt, sie sollte es nicht tun, aber sie wollte es, zumindest dachte sie, dass sie es wollte - jedenfalls glaubte sie das, seit sie zehn Jahre alt war, obwohl sie gar nicht genau wusste, was sie da eigentlich wollte, und ... Und seine Lippen berührten die ihren. „Bezaubernd", murmelte er und hauchte ihr zarte, verführerische Küsse auf die Wange, bis hinab zu ihrem Kinn. Himmlisch fühlte es sich an. So etwas hatte sie noch nie gefühlt. In ihr herrschte eine merkwürdige Anspannung, etwas reckte und streckte sich. Sie wusste nicht genau, was sie tun sollte, und so blieb sie einfach stehen und empfing seine Küsse, vom Kinn zu den Wangen und zurück zu den Lippen. „Öffne den Mund", raunte er, und sie gehorchte, weil es Turner war, und weil sie es wollte. Hatte sie sich das nicht immer schon gewünscht? Sie spürte seine Zunge, und dann zog er sie noch enger an sich. Seine Finger forderten, und dann forderte auch sein Mund, und sie erkannte, dass das alles nicht richtig war.
Das war keineswegs der Augenblick, von dem sie seit Jahren träumte. Er wollte sie gar nicht. Auch wenn sie nicht wusste, warum er sie dann küsste, aber er wollte sie nicht. Und Liebe empfand er für sie erst recht keine. In seinem Kuss lag keinerlei Zärtlichkeit. „Küss mich, verdammt", knurrte er und presste die Lippen noch nachdrücklicher auf die ihren. Sein Kuss war hart und zornig, und zum ersten Mal keimte in Miranda Angst auf. „Nein", versuchte sie zu sagen, konnte sich seiner Lippen aber nicht erwehren. Mit der Hand umfasste er ihr Gesäß und drückte sie auf intimste Weise an sich. Und sie verstand einfach nicht, wie es möglich war, den Kuss zu wollen und dann doch nicht, gleichzeitig Erregung und Furcht zu empfinden, ihn zur selben Zeit und im selben Maß zu lieben und zu hassen. „Nein", sagte sie noch einmal und zwängte die Hände zwischen sich und ihn, die Handflächen gegen seine Brust gedrückt. „Nein!" Und dann trat er zurück, abrupt, ohne noch irgendein Anzeichen von Begehren zu zeigen. „Miranda Cheever", murmelte er schleppend, „wer hätte das gedacht?" Sie ohrfeigte ihn. Seine Augen wurden schmal, doch er schwieg. „Warum haben Sie das gemacht?", fragte sie. Ihre Stimme war fest, obwohl sie noch am ganzen Leib zitterte. „Sie geküsst?" Er zuckte mit den Schultern. „Warum nicht?" „Nein!", fuhr sie ihn an, entsetzt von dem schmerzvollen Unterton, den sie in ihrer Stimme hörte. Sie wollte zornig sein. Sie war zornig, aber sie wollte auch so klingen. Er sollte es wissen. „So einfach kommen Sie nicht davon. Dieses Vorrecht haben Sie verspielt." Der verfluchte Kerl lachte. „Als Domina sind Sie recht unterhaltsam." „Hören Sie sofort auf!", schrie sie. Dauernd redete er von Dingen, die sie nicht verstand, und sie hasste ihn dafür. „Warum haben Sie mich geküsst? Sie lieben mich doch nicht." Im nächsten Moment krallte sie die Nägel in ihre Hand-
fläche. Du dummes, dummes Ding! Warum hatte sie das gesagt? Doch er lächelte nur. „Ich habe vergessen, dass Sie erst neunzehn sind und daher nicht wissen, dass Liebe keine Grundvoraussetzung für einen Kuss ist." „Ich glaube nicht, dass Sie mich überhaupt mögen." „Unsinn. Natürlich mag ich Sie." Er blinzelte, als wollte er sich vergegenwärtigen, wie gut er sie eigentlich kannte. „Nun ja, jedenfalls habe ich nichts gegen Sie." „Ich bin nicht wie Leticia", flüsterte sie. Im nächsten Augenblick ergriff er ihren Oberarm und drückte so fest zu, dass es beinahe wehtat. „Lassen Sie sich nicht einfallen, ihren Namen jemals wieder zu erwähnen! Haben Sie mich verstanden?" Erschrocken sah Miranda ihm in die zornfunkelnden Augen. „Tut mir leid", sagte sie hastig. „Bitte lassen Sie mich los." Doch er hörte nicht auf sie. Zwar lockerte sich sein Griff, doch nur eine Spur, und er blickte durch sie hindurch, als hätte er einen Geist gesehen. Leticias Geist. „Turner, bitte", flüsterte Miranda. „Sie tun mir weh." Seine Miene klärte sich, und er trat zurück. „Tut mir leid", sagte er. Er blickte zur Seite - zum Fenster? Auf die Uhr? „Entschuldigen Sie bitte", sagte er knapp. „Den Übergriff. Alles." Miranda schluckte. Sie sollte jetzt gehen. Sie sollte ihm noch eine Ohrfeige geben und dann gehen, aber ihr war vollkommen elend zumute, und so sagte sie: „Es tut mir leid, dass sie Sie so unglücklich gemacht hat." Rasch sah er sie an. „Der Klatsch hat sich also bis ins Schulzimmer herumgesprochen, was?" „Nein!", widersprach sie hastig. „Es ist nur ... ich habe es gesehen." „Ach?" Sie biss sich auf die Unterlippe und fragte sich, was sie sagen sollte. Es stimmte, sie hatte den Klatsch mitbekommen. Aber vor allem hatte sie es sehen können. Auf seiner Hochzeit war er so verliebt gewesen. Seine Augen hatten gestrahlt, und wenn er Leticia ansah, hatte Miranda förmlich gespürt, wie
der Rest der Welt für ihn versank. Fast als wären die beiden in ihrer eigenen kleinen Welt, und sie beobachtete sie von außen. Als sie ihn beim nächsten Mal gesehen hatte, war es . . . anders gewesen. „Miss Cheever", drängte er. Sie blickte auf und sagte sanft: „Jeder, der Sie schon vor Ihrer Hochzeit gekannt hat, konnte sehen, dass Sie unglücklich waren." „Und wie das?" Er starrte sie an, und in seinem Blick lag etwas so Dringliches, dass Miranda ihm nur die Wahrheit sagen konnte. „Sie haben immer so viel gelacht", sagte sie leise. „Sie haben gelacht und mit den Augen gezwinkert." „Und jetzt?" „Jetzt sind Sie nur noch kalt und hart." Er schloss die Augen, und einen Augenblick glaubte Miranda, er leide Schmerzen. Doch am Ende sah er sie nur durchdringend an und hob in ironischer Travestie eines Lächelns einen Mundwinkel. „In der Tat." Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich frech an ein Bücherregal. „Verraten Sie mir doch, Miss Cheever, seit wann sind Sie so einfühlsam?" Miranda schluckte und kämpfte gegen die aufsteigende Enttäuschung an. Seine Dämonen hatten wieder einmal gewonnen. Einen Augenblick - als er die Augen geschlossen hatte - hatte es beinahe den Anschein gehabt, als hätte er sie gehört. Nicht die Worte selbst, sondern die dahinterstehende Bedeutung. „Ich war schon immer so", erwiderte sie. „Damals, als ich noch klein war, ist Ihnen das auch aufgefallen." „Ihre großen braunen Augen", meinte er mit herzlosem Lachen. „Überallhin sind mir Ihre Blicke gefolgt. Meinen Sie etwa, ich wüsste nicht, dass Sie damals ganz vernarrt in mich waren?" Miranda stiegen die Tränen in die Augen. Wie konnte er nur so grausam sein, es auszusprechen? „Sie waren sehr nett zu mir, als ich klein war", sagte sie leise. „Schon möglich. Aber das ist lange her."
„Das ist niemandem klarer als mir." Er schwieg, und auch sie sagte nichts. Und dann schließlich: „Gehen Sie." Seine Stimme klang heiser, bekümmert und voller Schmerz. Sie ging. In ihr Tagebuch trug sie an diesem Abend nichts mehr ein. Am nächsten Morgen wachte Miranda nur mit einem Ziel auf: Sie wollte nach Hause. Ihr war egal, ob sie das Frühstück versäumte, es hätte sie auch nicht gekümmert, wenn der Himmel seine Schleusen geöffnet und sie allein nach Hause hätte waten müssen. Sie wollte einfach nicht mehr hier sein, in seiner Nähe, im selben Gebäude, auf demselben Anwesen. Es war alles furchtbar traurig. Der Turner, den sie gekannt hatte, den sie so verehrt hatte, war fort. Es gab ihn nicht mehr. Natürlich hatte sie es schon gespürt, bei seinen Besuchen daheim. Beim ersten Mal hatte sie es in seinen Augen gesehen. Dann an seinem Mund, den Ärgerfalten, die sich um die Mundwinkel eingegraben hatten. Aber auch wenn sie es gespürt haben mochte, hatte sie es doch nicht wahrhaben wollen. „Du bist wach." Es war Olivia, voll angekleidet und reizend anzusehen, selbst in tiefstem Schwarz. „Leider", murmelte Miranda. „Was sagst du da?" Miranda öffnete schon den Mund, doch dann fiel ihr ein, dass Olivia kaum auf Antwort warten würde, warum sich also die Mühe machen? „Na los, beeil dich", mahnte Olivia. „Zieh dich an, meine Zofe kann dann letzte Hand anlegen. Bei deinem Haar vollbringt sie einfach wahre Wunder." Miranda fragte sich, wann Olivia bemerken würde, dass sie keinen Muskel gerührt hatte. „Nun steh doch auf, Miranda!" Miranda wäre beinahe in die Höhe gesprungen. „Gütiger Himmel, Olivia, hat dir noch keiner gesagt, wie unhöflich es ist, einem Mitmenschen ins Ohr zu schreien?"
Olivias Gesicht schwebte über ihr, eine Spur zu dicht. „Um ehrlich zu sein, wirkst du heute früh nicht besonders menschlic h." Ihre Freundin drehte sich um. „Ich fühle mich auch nicht besonders menschlich." „Nach dem Frühstück geht es dir besser." „Ich habe keinen Hunger." „Aber du kannst das Frühstück doch nicht ausfallen lassen!" Miranda biss die Zähne zusammen. Eine derartige Munterkeit sollte vormittags verboten sein. „Miranda."
Miranda schob sich ein Kissen über den Kopf. „Wenn du meinen Namen noch einmal erwähnst, muss ich dich leider umbringen." „Aber wir haben Arbeit zu erledigen!" Miranda hielt inne. Wovon zum Teufel sprach Livvy? „Arbeit?", wiederholte sie. „Ja, Arbeit." Olivia zog ihr das Kissen weg und warf es zu Boden. „Mir ist da eine ganz herrliche Idee gekommen. Sie ist mir im Traum erschienen!" „Du machst Witze." „Also gut, stimmt, aber es ist mir eingefallen, als ich heute früh im Bett lag." Olivia lächelte - ein ziemlich katzenhaftes Lächeln, von der Art, die entweder bedeutete, dass ihr etwas wirklich Brillantes eingefallen war oder dass sie die Welt in ihrer jetzigen Form zu zerstören gedachte. Und dann wartete sie ab - zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben -, daher belohnte Miranda sie mit einem „Also schön, was denn?" „Du." „Ich?" „Und Winston." Einen Augenblick war Miranda sprachlos. Dann stieß sie aus: „Du bist ja übergeschnappt." Olivia zuckte mit den Schultern und lehnte sich zurück. „Oder sehr, sehr klug. Denk darüber nach, Miranda. Es ist vollkommen." Momentan konnte Miranda sich nicht vorstellen, über irgendetwas nachzudenken, was mit irgendwelchen Herren zu
tun hatte, vor allem nicht, wenn sie Bevelstoke hießen, selbst wenn es sich nicht um Turner handelte. „Du kennst ihn gut, ihr seid im selben Alter", erklärte Olivia, die Vorteile an den Fingern abzählend. Miranda schüttelte den Kopf und entkam auf die andere Bettseite. Doch Olivia war flink. Innerhalb weniger Sekunden stand sie schon wieder neben ihr. „Du willst gar keine Saison", fuhr sie fort. „Das hast du schon oft gesagt. Und du hasst es, Konversation mit Leuten zu treiben, die du nicht kennst." Miranda versuchte ihr zu entkommen, indem sie zum Schrank flüchtete. „Da du Winston ja kennst - wie ich dir bereits auseinandergesetzt habe -, enthebt dich das der Notwendigkeit, dich mit Fremden zu unterhalten, und außerdem Olivias lächelndes Gesicht schob sich näher, „... heißt das, dass wir Schwestern werden." Miranda hielt inne und drückte das Tageskleid, das sie aus dem Schrank herausgeholt hatte, zwischen ihren Fingern. „Das wäre wunderbar, Olivia", erwiderte sie. Was hätte sie sonst sagen können? „Oh, ich bin ja so begeistert, dass du mir zustimmst!", rief Olivia aus und warf die Arme um ihre Freundin. „Es wird wunderbar! Herrlich! Mehr als herrlich. Es wird vollkommen sein." Miranda stand immer noch ganz still und fragte sich, wie um alles in der Welt sie in diese verfranste Lage gekommen war. Olivia lockerte die Umarmung, strahlte dabei aber immer noch über das ganze Gesicht. „Winston wird überhaupt nicht wissen, wie ihm geschieht." „Was hast du eigentlich vor: eine Ehe zu stiften oder deinem Bruder eins auszuwischen?" „Nun ja, beides natürlich", gab Olivia freimütig zu. Sie gab Miranda frei und ließ sich auf dem nächstbesten Stuhl nieder. „Spielt das denn eine Rolle?" Miranda öffnete den Mund, doch Olivia war schneller. „Natürlich nicht", sagte sie. „Es geht hier einzig und allein um das angestrebte Ziel, Miranda. Wirklich, es überrascht mich,
d as s wir nicht schon früher ernsthaft darüber nachgedacht hab e n." Da sie mit dem Rücken zu Olivia stand, gestattete Miranda sich, die Augen zu verdrehen. Natürlich hatte sie nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Sie war viel zu beschäftigt damit gewesen, von Turner zu träumen. „Und ich habe bemerkt, wie Winston dich gestern Abend angesehen hat." „Es waren nur fünf Leute im Zimmer, Olivia. Da hätte er mich kaum nicht anschauen können." „Es geht hier nur um das Wie", beharrte Olivia. „Es war, als hätte er dich nie zuvor gesehen." Miranda begann sich anzuziehen. „Da irrst du dich aber ganz bestimmt." „Keineswegs. So, dreh dich mal um, ich schließe für dich die Knöpfe. In solchen Sachen irre ich mich nie." Geduldig wartete Miranda, während Olivia ihr das Kleid zuknöpfte. Und dann kam ihr ein Gedanke ... „Wann hattest du denn Gelegenheit, in solchen Sachen recht zu behalten? Wir leben hier mitten auf dem Land. Es ist nicht so, als hätten wir schon mal zugesehen, wie sich jemand verliebt." „Aber natürlich. Zum Beispiel Billy Evans und ..." „Die beiden mussten heiraten, Olivia. Das weißt du doch." Olivia schloss den letzten Knopf, fasste Miranda an den Schultern und drehte sie zu sich herum. Ihre Miene war schelmisch, selbst für Olivias Verhältnisse. „Ja, aber warum mussten sie letztendlich heiraten? Weil sie verliebt waren." „Ich kann mich nicht erinnern, dass du diese Ehe vorhergesagt hättest." „Unsinn. Natürlich hab ich das. Nur warst du in Schottland. Und schreiben konnte ich dir das wohl nicht - auf Papier wirkt das alles immer so schäbig und verkommen." Miranda war sich nicht sicher, warum dem so sein sollte - eine ungewollte Schwangerschaft war eine ungewollte Schwangerschaft, Punktum. Ob man es nun niederschrieb oder nicht, machte da keinen Unterschied. Dennoch hatte Olivia in einem recht: Miranda fuhr jedes Jahr sechs Wochen nach Schottland zu ihren Großeltern mütterlicherseits, und
Billy Evans hatte in der Tat in ihrer Abwesenheit geheiratet. Typisch Olivia, das eine Argument anzuführen, das Miranda nicht widerlegen konnte. „Wollen wir zum Frühstücken hinuntergehen?", fragte Miranda müde. Sie würde wohl nicht darum herumkommen, und außerdem war Turner in der Nacht davor schon ziemlich angeheitert gewesen. Wenn es auf dieser Welt noch eine Gerechtigkeit gab, wäre er den ganzen Morgen mit einem Brummschädel ans Bett gefesselt. „Erst wenn Maria deine Haare gerichtet hat", entschied Olivia. „Wir dürfen nichts dem Zufall überlassen. Es ist ab jetzt deine Aufgabe, schön auszusehen. Ach, nun starr mich nicht so an. Du bist viel hübscher, als du glaubst." „Olivia." „Nein, nein, ich habe mich schlecht ausgedrückt. Du bist nicht hübsch. Ich bin hübsch. Hübsch und langweilig. Du hast mehr zu bieten." „Ein langes Gesicht." „Eigentlich nicht. Zumindest nicht mehr so wie damals, als du noch klein warst." Olivia legte den Kopf schief. Und sagte nichts. Nichts. Ausgerechnet Olivia. „Was denn?", fragte Miranda misstrauisch. „Ich glaube, du bist in dich hineingewachsen." Genau das hatte Turner zu ihr gesagt, vor all den Jahren. Eines Tages wirst du in dich hineinwachsen, und dann wirst du ebenso schön sein, wie du jetzt schon klug bist. Miranda
ärgerte sich, dass sie sich daran erinnerte. Und am meisten ärgerte sie sich darüber, dass ihr dabei die Tränen in die Augen stiegen. Olivia sah ihre Bewegung und bekam ebenfalls feuchte Augen. „Ach, Miranda", sagte sie und umarmte ihre Freundin fest. „Ich liebe dich auch. Wir werden die wunderbarsten Schwestern. Ich kann es gar nicht erwarten." Als Miranda schließlich zum Frühstück erschien (volle dreißig Minuten später; sie erklärte Olivia, dass sie noch nie so viel Zeit damit verbracht habe, ihr Haar zu richten, und wei-
terhin, dass sie dies auch nie wieder zu tun gedenke), knurrte ihr der Magen. „Guten Morgen, liebe Familie", sagte Olivia fröhlich, als sie einen Teller von der Anrichte nahm. „Wo ist Turner?" Miranda stieß ein stilles Dankesgebet aus, dass er nicht da war. „Noch im Bett, könnte ich mir vorstellen", erwiderte Lady Rudland. „Der arme Kerl. Er hat einen schweren Schlag erlitten. Was für eine schreckliche Woche." Die anderen schwiegen. Keiner hatte Leticia gemocht. Olivia durchbrach die Stille. „Nun denn", meinte sie. „Hoffentlich leidet er nicht zu großen Hunger. Gestern Abend hat er auch nicht mit uns diniert." „Olivia, gerade erst ist seine Frau gestorben", mahnte Winston. „Hat sich das Genick gebrochen. Üb doch ein wenig Nachsicht mit ihm." „Gerade weil ich ihn liebe, mache ich mir Sorgen um sein Wohlergehen", erwiderte Olivia mit einer Gereiztheit, die sie speziell für ihren Zwillingsbruder reserviert hielt. „Der Mann isst doch nichts." „Ich habe ihm ein Tablett aufs Zimmer bringen lassen", wandte ihre Mutter ein, um der Kabbelei ein Ende zu bereiten. „Guten Morgen, Miranda." Miranda zuckte zusammen. Sie war vollauf beschäftigt gewesen, Olivia und Winston zu beobachten. „Guten Morgen, Lady Rudland", sagte sie rasch. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen." „So gut, wie man erwarten durfte." Die Countess seufzte und nahm einen Schluck Tee. „Wir machen gerade eine schwierige Zeit durch. Aber ich muss dir noch einmal danken, dass du bei uns übernachtet hast. Für Olivia war das ein großer Trost." „Natürlich", murmelte Miranda. „Ich war froh, dass ich helfen konnte." Sie folgte Olivia zur Anrichte und suchte sich ihr Frühstück zusammen. Als sie zum Tisch zurückkehrte, musste sie feststellen, dass Olivia ihr den Platz neben Winston frei gelassen hatte. Sie setzte sich und sah sich am Tisch um. Die Bevelstokes lächelten sie alle an, Lord und Lady Rudland wohlwollend,
Olivia mit einer Spur Durchtriebenheit, und Winston ... „Guten Morgen, Miranda", sagte er warm. „Hast du gut geschlafen?" Und in seinen Augen stand ... Interesse? Lieber Himmel, konnte Olivia recht haben? In seinem Blick lag tatsächlich etwas Ungewohntes. „Sehr gut, danke", erwiderte Miranda, die nun völlig verunsichert war. Winston war doch praktisch ihr Bruder, oder nicht? Er konnte sie sich doch unmöglich vorstellen als ... Und sie konnte es auch nicht. Aber wenn er es konnte, könnte sie es dann vielleicht auch? Und ... „Hast du vor, den ganzen Morgen in Haverbreaks zu verbringen? Ich dachte, wir könnten vielleicht ausreifen. Wie wäre es nach dem Frühstück?" Lieber Gott, Olivia hatte recht. Miranda musste vor Überraschung nach Luft schnappen. „Ich, ähm, habe mich noch nicht entschieden." Unter dem Tisch versetzte Olivia ihr einen Tritt. „Oh!" „Ist die Makrele schlecht?", erkundigte sich Lady Rudland. Miranda schüttelte den Kopf. „Verzeihung", sagte sie und räusperte sich. „Ich glaube, ich habe eine Gräte erwischt." „Deswegen esse ich auch nie Fisch zum Frühstück", warf Olivia ein. „Was meinst du, Miranda?", hakte Winston nach. Er lächelte - ein träges, jungenhaftes Meisterlächeln, das gewiss noch Tausende von Herzen brechen würde. „Sollen wir ausreiten?" Vorsichtig schob Miranda ihre Beine außerhalb Olivias Reichweite. „Ich habe leider keinen Reitdress dabei." Das entsprach der Wahrheit, und es war wirklich schade, denn allmählich gelangte sie zu der Überzeugung, dass ein Ausritt mit Winston genau das Richtige sein könnte, um Turner aus ihren Gedanken zu verbannen. „Du kannst dir einen von mir ausleihen", erklärte Olivia und lächelte sie über ihren Toast hinweg süß an. „Er ist bestimmt nur ein kleines bisschen zu groß." „Dann ist es also abgemacht", erklärte Winston. „Ich freue
mich schon darauf, unsere Neuigkeiten auszutauschen. Wir hatten schon eine Ewigkeit keine Gelegenheit mehr dazu." Miranda ertappte sich bei einem Lächeln. Winstons Gesellschaft war immer so angenehm, selbst jetzt, wo seine Absichten sie ein wenig verwirrten. „Ein paar Jahre nicht mehr, glaube ich. Irgendwie bringe ich es immer fertig, gerade dann nach Schottland zu fahren, wenn du von der Schule nach Hause kommst." „Heute aber nicht", erwiderte er fröhlich. Er hob seine Teetasse an die Lippen und blickte sie über den Rand hinweg lächelnd an. Erstaunt stellte Miranda fest, wie sehr er doch Turner in jüngeren Jahren ähnelte. Winston war jetzt zwanzig, ein Jahr älter als Turner damals, als sie sich in ihn verliebt hatte. Als sie ihn kennengelernt hatte, korrigierte sie sich. Sie hatte sich nicht in ihn verliebt, das hatte sie nur geglaubt. Jetzt wusste sie es besser. 11. April 1819 Herrlicher Ausritt heute mit Winston. Er ist seinem Bruder sehr ähnlich - wenn sein Bruder freundlich und rücksichtsvoll wäre und immer noch Sinn für Humor besäße.
Turner hatte nicht gut geschlafen, aber das überraschte ihn nicht: Er schlief nur noch selten gut. Und an diesem Morgen war er immer noch gereizt, immer noch zornig - hauptsächlich auf sich selbst. Was zum Teufel hatte er sich nur dabei gedacht? Miranda Cheever zu küssen. Das Mädchen war wie eine kleine Schwester für ihn. Gut, er war zornig gewesen und vielleicht auch eine Spur betrunken, aber das war keine Entschuldigung für ein derart schlechtes Benehmen. Leticia hatte viel in ihm abgetötet, aber bei Gott, er war doch immer noch ein Gentleman! Was bliebe ihm denn sonst noch? Er hatte sie nicht einmal begehrt. Nicht richtig. Er wusste, wie sich das anfühlte, kannte das unbändige Bedürfnis, jemanden zu erobern und zu besitzen, und das, was er für Miranda empfunden hatte ... Nun, er konnte es nicht ganz einordnen, aber das war es jedenfalls nicht gewesen.
Es lag an ihren großen, braunen Augen. Die sahen einfach alles. Sie brachten ihn aus der Fassung. Immer schon. Selbst als Kind hatte sie bereits weise gewirkt. Wie er da so im Arbeitszimmer seines Vaters gestanden hatte, hatte er sich entblößt gefühlt, wie transparent. Sie war noch ein junges Ding, kaum dem Schulzimmer entwachsen, und doch durchschaute sie ihn. Dieses Eindringen in sein Innerstes hatte ihn wütend gemacht, und er hatte sich dagegen auf eine Art gewehrt, die ihm in dem Moment als die angebrachteste erschienen war. Allerdings hätte nichts unangebrachter sein können. Und nun würde er sich bei ihr entschuldigen müssen. Himmel, schon die Vorstellung war unerträglich. Viel leichter wäre es, so zu tun, als wäre es nie passiert, und sie für den Rest des Lebens zu ignorieren, aber damit würde er wohl nicht durchkommen, nicht wenn er seiner Schwester auch weiterhin in Freundschaft verbunden sein wollte. Außerdem hoffte er, doch noch einen Rest von Ehre zu besitzen. Leticia hatte größtenteils abgetötet, was gut und unschuldig in ihm war, aber etwas war sicherlich übrig geblieben. Und wenn ein Gentleman einer Dame Unrecht tat, entschuldigte er sich. Als Turner endlich zum Frühstück erschien, war seine Familie schon fort, was ihm ganz recht war. Er aß rasch und stürzte den Kaffee hinunter - um sich selbst zu strafen, trank er ihn schwarz, und er zuckte nicht einmal, als er ihm heiß und bitter die Kehle hinabrann. „Wünschen Sie sonst noch etwas?" Turner blickte zu dem Lakaien auf, der neben ihm stand. „Nein", sagte er, „jetzt nicht." Der Lakai trat zurück, verließ den Raum jedoch nicht. In diesem Moment entschied Turner, dass es an der Zeit war, Haverbreaks zu verlassen. Es trieben sich viel zu viele Menschen dort herum. Verdammt, wahrscheinlich hatte seine Mutter die Dienstboten angewiesen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Mit finsterer Miene schob er den Stuhl zurück und ging in die Halle. Er würde seinen Kammerdiener in Kenntnis setzen, dass sie umgehend aufbrechen würden. In einer Stunde konnten sie schon fort sein. Alles, was ihm noch zu tun blieb,
war, Miss Cheever zu suchen und diese verflixte Sache aus der Welt zu schaffen, damit er sich endlich in sein eigenes Heim flüchten konnte ... Gelächter. Er sah auf. Winston und Miranda waren eben hereingekommen, beide mit rosigen Wangen und blühend vor frischer Luft und Sonnenschein. Turner hob eine Augenbraue und blieb stehen. Wie lange es wohl dauerte, bis sie seine Anwesenheit bemerkten? „Und in d e m Moment", sagte Miranda gerade, offensichtlich zum Abschluss einer längeren Geschichte, „war mir klar, dass man Olivia die Schokolade nicht anvertrauen konnte." Winston lachte und betrachtete sie mit einem warmen Ausdruck in den Augen. „Du hast dich verändert, Miranda." Sie errötete leicht. „Nicht sehr. In der Hauptsache bin ich wohl erwachsen geworden." „Das bist du allerdings." Turner glaubte, sich gleich übergeben zu müssen. „Dachtest du, du könntest fortgehen und studieren, und wenn du wiederkommst, bin ich noch genau wie damals, als du weg bist?" Winston grinste. „So ähnlich. Aber ich muss sagen, mir gefällt, wie du dich entwickelt hast." Er berührte ihr Haar, das zu einem adretten Knoten aufgesteckt war. „Daran werde ich jetzt wohl eher nicht mehr ziehen." Sie errötete noch einmal. Also wirklich, das konnte nicht länger geduldet werden. „Guten Morgen", sagte Turner laut, ohne sich von seinem Standpunkt auf der anderen Seite der Eingangshalle wegzubequemen. „Ich glaube, jetzt ist bereits Nachmittag", versetzte Winston. „Höchstens für die Uneingeweihten", meinte Turner mit einem spöttisch-schiefen Lächeln. „In London dauert der Vormittag bis zwei Uhr?", erkundigte sich Miranda kühl. „Nur wenn der Abend davor enttäuschende Ergebnisse zeitigte." „Turner", sagte Winston vorwurfsvoll.
Turner zuckte mit den Schultern. „Ich muss mit Miss Cheever sprechen", erklärte er, ohne seinen Bruder anzusehen. Mirandas Lippen öffneten sich - sie war wohl überrascht, nahm er an, vielleicht auch ein wenig zornig. „Ich würde sagen, das ist Mirandas Entscheidung", erklärte Winston. Turner hielt den Blick auf Miranda gerichtet. „Teilen Sie mir mit, wann Sie so weit sind, nach Hause zurückzukehren. Ich begleite Sie." Winston öffnete erbost den Mund. „Hör mal", sagte er. „Miranda ist eine Dame, und es würde dir wohl anstehen, sie vorher um Erlaubnis zu bitten." Turner drehte sich zu seinem Bruder um und starrte ihn schweigend an, bis der jüngere Mann sich vor Verlegenheit wand. Dann drehte er sich wieder zu Miranda um und wiederholte: „Ich begleite Sie." „Ich ..." Er unterbrach sie mit einem vielsagenden Blick, und sie fügte sich mit einem Nicken. „Natürlich, Mylord", sagte sie mit ungewohnt steifen Lippen. Sie wandte sich an Winston. „Er wollte mit meinem Vater über eine illuminierte Handschrift sprechen, ich hatte das ganz vergessen." Kluge Miranda. Turner hätte beinahe gelächelt. „Turner?", fragte Winston zweifelnd. „Eine illuminierte Handschrift?" „Eine neue Leidenschaft von mir", erläuterte Turner ausdruckslos. Winston sah von ihm zu Miranda und wieder zurück, und schließlich gab er mit steifem Nicken nach. „Also schön", sagte er. „Es war mir ein Vergnügen, Miranda." „Mir auch", erwiderte sie, und ihr Ton verriet Turner, dass dies nicht gelogen war. Turner stand nun zwischen den beiden jungen Liebenden und rührte sich nicht von der Stelle. Winston warf ihm einen verärgerten Blick zu und wandte sich dann an Miranda: „Sehe ich dich noch, bevor ich nach Oxford zurückkehre?" „Hoffentlich. Ich habe mir die nächsten Tage noch nichts vorgenommen, und ..." Turner gähnte.
Miranda räusperte sich. „Ich bin sicher, dass sich etwas arrangieren lässt. Vielleicht kannst du mit Olivia zum Tee vorbeikommen?" „Da s würde mir gefallen." Turner brachte das Kunststück fertig, die gelangweilte Miene bis zu den Fingerspitzen auszudehnen, die er mit vielsagendem Desinteresse betrachtete. „Wenn Olivia nicht mitkommen kann", fuhr Miranda unbeirrt fort, „kannst du ja vielleicht alleine kommen." Winstons Blick wurde warm. „Sehr gern", murmelte er und beugte sich über ihre Hand. „Sind Sie endlich so weit?", knurrte Turner. Miranda verzog keine Miene, als sie hervorstieß: „Nein." „Nun, dann beeilen Sie sich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit." Ungläubig wandte Winston sich an seinen Bruder. „Was ist denn mit dir los?" Das war eine gute Frage. Vor einer Viertelstunde war all sein Trachten darauf ausgerichtet gewesen, sein Elternhaus so schnell wie möglich zu verlassen, und im nächsten Moment bestand er praktisch darauf, Miranda nach Hause zu begleiten. Nun, er hatte tatsächlich darauf bestanden, aber er hatte seine Gründe. „Mir geht es prima", versetzte Turner. „So gut wie schon lange nicht mehr. Zum letzten Mal 1816, wenn du es genau wissen willst." Unbehaglich trat Winston von einem Fuß auf den anderen, und Miranda wandte sich ab. Wie sie alle nur zu gut wussten, hatte Turner 1816 geheiratet. „Juni", fügte er hinzu, nur um sie zu ärgern. „Wie bitte?", fragte Winston steif. „Juni. Juni 1816." Und dann schenkte er ihnen beiden ein strahlendes, offenkundig falsches und selbstgefälliges Lächeln. Zu Miranda gewandt, sagte er: „Ich warte hier in der Eingangshalle auf Sie. Seien Sie pünktlich."
3. KAPITEL Seien Sie pünktlich? Seien Sie pünktlich??!
Wie kommt er dazu, schäumte Miranda zum etwa sechzehnten Mal, während sie hastig in ihre Kleider fuhr. Sie hatten doch gar keinen Zeitpunkt ausgemacht. Er hatte nicht einmal darum gebeten, Sie heimbegleiten zu dürfen. Er hatte es befohlen, und nachdem er sie angewiesen hatte, ihm zu sagen, wann sie zum Aufbruch bereit sei, hatte er ihre Antwort nicht einmal abgewartet. War er so erpicht darauf, sie loszuwerden? Miranda wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Verlässt du uns schon?" Es war Olivia, die von draußen ins Zimmer schlüpfte. „Ich muss nach Hause", erwiderte Miranda und zog sich hastig das Kleid über den Kopf. Sie wollte nicht, dass Olivia ihr Gesicht sah. „Dein Reitdress liegt auf dem Bett", fügte sie hinzu, ihre Stimme leicht gedämpft vom Musselin. „Aber warum? Dein Vater wird dich kaum vermissen." Wie nett, mich darauf hinzuweisen, dachte Miranda gereizt, obwohl sie zu Olivia oft genau dasselbe gesagt hatte. „Miranda", beharrte Olivia. Miranda wandte ihr den Rücken zu, damit Olivia ihr die Knöpfe schloss. „Ich will nicht so lange bleiben, bis ihr mich hinauswerft." „Was? Nun sei nicht albern. Meine Mutter hätte am liebsten, dass du gleich bei uns wohnst, wenn das möglich wäre. Wirst du ja auch, sobald wir in London sind." „Wir sind aber nicht in London." „Was hat das mit der Sache zu tun?"
Nichts. Miranda biss die Zähne zusammen. „Hast du dich mit Winston gestritten?" „Natürlich nicht." Wirklich, wer könnte sich wohl mit Winston streiten? Bis auf Olivia natürlich. „Was ist denn dann los?" „Nichts." Miranda zwang sich, etwas ruhiger zu werden, und griff nach ihren Handschuhen. „Dein Bruder möchte meinem Vater wegen einer illuminierten Handschrift ein paar Fragen stellen." „Winston?", fragte Olivia zweifelnd. „Turner." „Turner?" Lieber Himmel, gingen ihr denn niemals die Fragen aus? „Ja", erwiderte Miranda, „und er möchte bald abreisen, deswegen kommt er jetzt gleich mit." Letzteres entsprang Mirandas Fantasie, doch unter den gegebenen Umständen fand sie ihre Erklärung ziemlich genial. Außerdem würde Turner jetzt vielleicht tatsächlich nach Northumberland zurückkehren müssen, wo er zu Hause war, woraufhin ihre Welt hoffentlich wieder ihren alten Gang aufnähme, sich in aller Ruhe um die eigene Achse drehte und ihre Bahnen um die Sonne zog. Olivia lehnte sich an den Türrahmen und stellte sich dabei so hin, dass Miranda sie nicht ignorieren konnte. „Warum bist du dann in einer so verdrießlichen Stimmung? Du hast Turner doch schon immer gemocht, oder nicht?" Miranda hätte beinahe gelacht. Und dann beinahe geweint. Wie konnte er es nur wagen, sie wie irgendeine bockige Dirne herumzukommandieren? Wie konnte er es wagen, sie hier auf Haverbreaks so traurig zu machen, wo es doch während der letzten fünf Jahre eher ihr Heim gewesen war als seines? Sie wandte sich ab, um ihr Gesicht vor Olivia zu verbergen. Wie konnte er es wagen, sie zu küssen, ohne es ernst zu meinen? „Miranda?", fragte Olivia leise. „Alles in Ordnung?" „Vollkommen", stieß Miranda hervor und lief an ihrer Freundin vorbei zur Tür.
„Du klingst aber nicht ..." „Ich bin wegen Leticia traurig", fuhr Miranda sie an. Und das war sie auch. Jemand, der Turner das Leben derart zur Hölle gemacht hatte, musste einen einfach traurig machen. Aber Olivia ließ sich nicht abwimmeln, das gelang einem bei ihr nie, und als Miranda die Treppe zur Eingangshalle hinunterhastete, blieb Olivia ihr auf den Fersen. „Leticia!", rief sie. „Du machst wohl Witze!" Miranda schlidderte um den Treppenabsatz herum und hielt sich dabei am Geländer fest, um nicht davonzusegeln. „Leticia war eine ekelhafte alte Hexe", fuhr Olivia fort. „Sie hat Turner furchtbar unglücklich gemacht." Eben darum. „Miranda! Miranda! Oh, Turner. Hallo." „Olivia", sagte er höflich und nickte ihr zu. „Miranda sagt, sie trauert um Leticia. Ist das nicht unerträglich?" „Olivia!", keuchte Miranda. Turner mochte seine verstorbene Frau ja verabscheut haben - so sehr, dass er dies sogar auf der Beerdigung gesagt hatte -, aber manche Dinge überstiegen einfach die Grenzen des Anstands. Turner sah Miranda nur an, eine Augenbraue spöttisch fragend hochgezogen. „Ach, Unsinn. Er hat sie gehasst, das haben wir alle gewusst." „Freimütig wie immer, Schwesterherz", murmelte Turner. „Du sagst immer, du könntest Heuchelei nicht ausstehen", gab Olivia zurück. „Durchaus richtig." Er blickte Miranda an. „Wollen wir aufbrechen?" „Du bringst sie nach Hause?", fragte Olivia, obwohl Miranda ihr das doch eben gesagt hatte. „Ich muss mit ihrem Vater reden." „Kann Winston das nicht übernehmen?" „Olivia!" Miranda war sich nicht sicher, was sie mehr in Verlegenheit brachte - dass Olivia sie zu verkuppeln versuchte oder dass sie es in Turners Beisein tat. „Winston muss nicht mit ihrem Vater reden", erwiderte Turner glatt.
„Nun, kann er dann nicht wenigstens mitkommen?" „Nicht in meiner Karriole." Olivias Augen wurden vor Verlangen ganz rund. „Du fährst in deiner Karriole?" Die Kutsche war neu gebaut, hoch, schnell und elegant, und Olivia brannte schon die ganze Zeit darauf, die Zügel in die Finger zu bekommen. Turner grinste - und sah einen Augenblick wieder wie er selbst aus, wie jener Mann, den Miranda vor all den Jahren gekannt und geliebt hatte. „Vielleicht lasse ich sie sogar lenken", erklärte er, offenbar aus keinem anderen Grund, als seine Schwester zu necken. Natürlich funktionierte es. Olivia stieß ein merkwürdig gurgelndes Geräusch aus, als ersticke sie an ihrem eigenen Neid. „Bis dann, Schwesterherz!", verabschiedete sich Turner grinsend. Er hängte sich bei Miranda ein und zog sie zur Tür. „Ich sehe dich dann später ... oder vielleicht siehst du ja auch mich. Wie ich vorbeifahre." Miranda verbiss sich ein Lachen, als sie die Stufen hinunter zur Auffahrt gingen. „Sie sind schrecklich", meinte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Aber sie hat es auch verdient." „Nein", versetzte Miranda, die das Gefühl hatte, für ihre beste Freundin eintreten zu müssen, obwohl sie die Szene eben ungehörig genossen hatte. „Nicht?" „Also schön, doch, aber Sie sind trotzdem schrecklich." „Oh, absolut", stimmte er zu. Während Miranda sich von ihm in die Karriole helfen ließ, fragte sie sich erstaunt, wie es dazu hatte kommen können: dass sie nun neben ihm saß und tatsächlich lächelte und dachte, dass sie ihn vielleicht doch nicht hasste und er vielleicht erlöst werden könnte. Die ersten Minuten der Fahrt verliefen schweigend. Die Karriole war sehr schick, und so kam Miranda sich furchtbar elegant vor, während sie so dahinfuhren, hoch über der Straße thronend. „Sie haben heute Nachmittag ja eine richtige Eroberung gemacht", erklärte Turner schließlich. Miranda versteifte sich.
„Winston scheint ziemlich angetan von Ihnen." Sie schwieg immer noch. Es gab nichts, was sie hätte sagen können, zumindest nichts, was mit ihrer Würde zu vereinbaren gewesen wäre. Wenn sie es abstritt, klänge sie kokett, und eingebildet, wenn sie zustimmte. Oder spöttisch. Oder, Gott behüte, als wollte sie ihn eifersüchtig machen. „Da werde ich euch wohl meinen Segen geben müssen." Erschrocken sah sie ihn an, doch Turner hielt den Blick fest auf die Straße gerichtet, während er hinzufügte: „Für Sie wäre es sicherlich eine vorteilhafte Partie, und auch er könnte keine Bessere finden. Zwar mangelt es Ihnen an den Mitteln, die für einen jüngeren Sohn so wichtig sind, aber Ihre Vernunft macht das wieder wett. Ihr Einfühlungsvermögen übrigens auch." „Oh. Ich .. . ich . .." Miranda blinzelte. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf sagen sollte. Es war ein Kompliment, ganz ohne verborgenen Stachel, und doch fand sie es ein wenig matt. Sie wollte nicht, dass er von ihren hervorragenden Eigenschaften schwärmte, wenn er sie dann nur mit seinem Bruder zusammenbringen wollte. Außerdem wollte sie nicht vernünftig sein. Sie wollte endlich einmal schön oder exotisch oder bezaubernd sein. Lieber Himmel. Vernünftig. Was für eine elende Eigenschaft. Miranda wurde sich bewusst, dass er immer noch auf ihre Antwort wartete, daher murmelte sie: „Danke." „Ich würde meinem Bruder nicht wünschen, dass er dieselben Fehler begeht wie ich." Sie blickte zu ihm hinüber. Sein Gesicht war verkniffen, und er sah immer noch starr geradeaus, als könnte die ganze Welt zusammenstürzen, wenn er auch nur einen Blick in ihre Richtung wagte. „Dieselben Fehler?", wiederholte sie leise. „Denselben Fehler", sagte er knapp. „Es war nur einer." „Leticia." Endlich. Sie hatte es ausgesprochen. Die Karriole wurde langsamer, hielt schließlich an. Und dann sah er sie an. „Ja, allerdings." „Was hat Sie Ihnen angetan?", fragte sie leise. Die Frage war zu persönlich und völlig unangemessen, aber sie konnte
nicht anders, nicht wenn er ihr so aufmerksam in die Augen blickte. Aber sie hatte das Falsche gesagt. Das war offensichtlich, denn sein Kiefer spannte sich an, und dann wandte er sich ab. „Nichts, was man einer Dame erzählen könnte." „Turner ..." Mit loderndem Blick fuhr er zu ihr herum. „Wissen Sie, wie sie gestorben ist?" Miranda schüttelte den Kopf, noch während sie sagte: „Ihr Genick. Sie ist gefallen." „Sie fiel vom Pferd", präzisierte er beißend. „Sie wurde abgeworfen ..." „Ich weiß." „... während sie unterwegs zu ihrem Liebhaber war." Das hatte sie nicht gewusst. „Außerdem war sie guter Hoffnung." Lieber Gott. „Oh, Turner. Es tut mir so l..." Er fiel ihr ins Wort. „Sprechen Sie es nicht aus. Mir tut es nicht leid." Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. „Es war nicht mein Kind." Sie schluckte. Was sollte sie sagen? Es gab nichts zu sagen. „Das erste war auch nicht von mir", fügte er hinzu. Seine Nasenflügel bebten, seine Augen waren schmal geworden, und seine Lippen waren verzerrt - fast als forderte er sie heraus. Als forderte er sie still heraus, ihn doch nach Einzelheiten zu fragen. „T..." Sie versuchte, seinen Namen auszusprechen, weil sie meinte, etwas sagen zu müssen, doch dann war sie unendlich dankbar, als er sie unterbrach. „Sie war schon in anderen Umständen, als wir geheiratet haben. Wenn Sie es unbedingt wissen müssen, war dies überhaupt der Grund für die Hochzeit." Bitter lachte er auf. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen", wiederholte er. „Was für ein Witz, wenn man überlegt, dass ich es nicht wusste." Der Schmerz in seiner Stimme traf sie bis ins Mark, noch mehr allerdings der Selbsthass. Sie hatte sich gefragt, wie er so geworden war, und nun wusste sie es ... und wusste auch, dass sie ihn niemals würde hassen können.
„Tut mir leid", meinte sie, und das stimmte auch, und alles andere wäre zu viel gewesen. „Sie können doch nichts ..." Er unterbrach sich, räusperte sich. Nach kurzem Schweigen sagte er: „Danke." Er nahm die Zügel wieder auf, doch bevor er die Kutsche in Bewegung setzen konnte, fragte sie: „Was werden Sie jetzt tun?" Das brachte ihn zum Lächeln. Nicht richtig natürlich, doch ein Mundwinkel hob sich ein wenig. „Was ich tun werde?", wiederholte er. „Wollen Sie nach Northumberland? Nach London?" Wollen Sie wieder heiraten?
„Was ich tun werde", meinte er nachdenklich. „Nun, das, was mir gefällt, nehme ich an." Miranda räusperte sich. „Ihre Mutter hofft ja darauf, dass Sie zu Olivias Saison in London erscheinen." „Olivia braucht meine Hilfe nicht." „Nein." Sie schluckte. Es schmerzte. Das war ihr Stolz, der ihr die Kehle hinabrutschte. „Ich aber schon." Er wandte sich zu ihr und betrachtete sie mit erhobenen Augenbrauen. „Sie? Ich dachte, Sie hätten meinen kleinen Bruder längst in der Tasche." „Nein", erwiderte sie rasch. „Ich meine, ich weiß nicht. Er ist noch ziemlich jung, meinen Sie nicht?" „Älter als Sie." „Gerade einmal drei Monate", versetzte sie entrüstet. „Er geht noch zur Universität; so bald wird er wohl nicht heiraten wollen." Er legte den Kopf schief, und sein Blick wurde forschend. „Und Sie wollen?", murmelte er. Miranda kämpfte gegen das plötzliche Bedürfnis an, aus der Karriole zu springen. Es gab doch sicherlich Gespräche, die man einer Dame nicht zumuten durfte. Und dieses Gespräch zählte ganz gewiss dazu. „Eines Tages würde ich gern heiraten, ja", sagte sie zögernd. Wütend bemerkte sie, dass ihre Wangen heiß wurden. Er starrte sie an. Und dann starrte er sie noch ein wenig länger an. Und noch ein wenig. Vielleicht war es auch nur ein flüchtiger Blick. Sie konnte es
einfach nicht sagen, doch sie war unglaublich erleichtert, als er endlich das Schweigen - wie lang es auch gedauert haben mochte durchbrach: „Also schön, ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Das zumindest bin ich Ihnen schuldig." Lieber Himmel, ihr schwirrte der Kopf. „Was sind Sie mir schuldig?" „Erst einmal muss ich Sie um Verzeihung bitten. Was letzte Nacht passiert ist ... ist unentschuldbar. Deswegen habe ich auch darauf bestanden, Sie nach Hause zu fahren." Er räusperte sich, und für einen kurzen Moment wich er ihrem Blick aus. „Ich muss Sie um Verzeihung bitten, und ich dachte, ich mache das am besten unter vier Augen." Sie blickte starr geradeaus. „Mich vor allen bei Ihnen zu entschuldigen hätte bedeutet, dass wir meiner Familie erzählen, wofür genau ich Sie um Entschuldigung bitte", fuhr er fort. „Sie hätten doch sicher nicht gewollt, dass sie es alle erfahren, oder?" „Sie meinen, Sie hätten das nicht gewollt." Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Nein, das hätte ich nicht. Ich kann nicht behaupten, dass ich stolz auf mein Verhalten bin, und mir wäre es lieber, wenn meine Familie es nicht erführe. Aber ich habe dabei auch an Sie gedacht." „Ich nehme die Entschuldigung an", sagte sie leise. Turner stieß einen langen, müden Seufzer aus. „Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe", fuhr er fort. „Es war nicht mal Begierde. Ich weiß nicht, was es war. Ihre Schuld war es jedenfalls nicht." Sie warf ihm einen Blick zu, der nicht schwer zu entschlüsseln war. „Ach, verdammt ..." Verärgert stieß er den Atem aus und wandte den Blick ab. Großartig, Turner. Küsst erst ein Mäd chen und sagst dann, du hättest es nicht aus Begierde getan.
„Tut mir leid, Miranda. Das ist jetzt ganz falsch herausgekommen. Ich bin ein Esel. Anscheinend kann ich in letzter Zeit gar nicht anders." „Vielleicht sollten Sie ein Buch schreiben", erwiderte sie erbittert. „Hunderteins Methoden, eine junge Dame zu beleidigen. Die ersten fünfzig haben Sie bestimmt längst durch."
Er atmete tief ein. Er war es nicht gewohnt, sich zu entschuldigen. „Es ist nicht so, dass ich Sie nicht attraktiv fände." In Mirandas Miene spiegelte sich Ungläubigkeit. Nicht wegen der Worte an sich, wie er erkannte, sondern weil er sie überhaupt aussprach, weil sie dasitzen und sich anhören musste, wie er sie beide in Verlegenheit stürzte. Er sollte Schluss damit machen, das war ihm klar, aber ihr verletzter Blick hatte eine schmerzhafte Saite in ihm zum Erklingen gebracht, die er schon längst verloren geglaubt hatte, und nun verspürte er diesen merkwürdigen Drang, alles in Ordnung zu bringen. Miranda war neunzehn. Ihre Erfahrung mit Männern beschränkte sich auf Winston und ihn. Sie beide waren für sie bisher eher wie Brüder gewesen. Das arme Mädchen musste fürchterlich durcheinander sein. Winston hielt sie plötzlich für eine Mischung aus Venus, Königin Elizabeth und der Jungfrau Maria, und er selbst, Turner, hatte sich ihr förmlich aufgedrängt. Nicht gerade ein normaler Tag im Leben einer jungen Dame vom Lande. Umso mehr überraschte sie ihn: Mit kerzengeradem Rücken und hoch erhobenem Kinn saß sie da. Und sie verabscheute ihn nicht. Sie hätte ihn hassen sollen, doch sie tat es nicht. „Nein", sagte er und nahm ihre Hand. „Sie müssen mir zuhören. Sie sind attraktiv. Sehr." Er richtete den Blick auf ihr Gesicht und sah sie seit Jahren zum ersten Mal wirklich an. Klassisch hübsch war sie nicht zu nennen, aber ihre großen braunen Augen hatten etwas sehr Anziehendes. Ihr Teint, makellos und von zarter Blässe, stand in leuchtendem Kontrast zu ihrem dunklen Haar, das, wie Turner plötzlich feststellte, sehr dicht und leicht wellig war. Weich sah es auch aus. Am Abend vorher hatte er es berührt. Wieso erinnerte er sich nicht daran, wie es sich anfühlte? Die Struktur hätte ihm doch auffallen müssen. „Turner", sagte Miranda. Er starrte sie an. Warum starrte er sie so an? Sein Blick senkte sich zu ihren Lippen, als sie seinen Namen aussprach. Einen sinnlichen kleinen Mund hatte sie da. Volle Lippen, genau richtig zum Küssen.
„Turner?" „Sehr." „Sehr was?" „Sehr attraktiv." Er schüttelte den Kopf, entzog sich dem Zauber, den sie auf sonderbare Weise auf ihn auszuüben schien. „Sie sind sehr attraktiv." Sie seufzte auf. „Turner, bitte lügen Sie mich nicht an, nur um mich nicht zu verletzen. Damit zeigen Sie nur, dass Sie meinen Verstand nicht respektieren, und das ist beleidigender als alles, was Sie über meine äußere Erscheinung sagen könnten." Er lächelte überrascht. „Ich lüge Sie nicht an." Nervös biss Miranda sich auf die Unterlippe. „Oh." Sie klang ebenso erstaunt wie er. „Na dann, danke. Glaube ich." „Normalerweise sind meine Komplimente nicht so plump, dass man sie nicht als solche wahrnehmen kann." „Dessen bin ich mir sicher", erwiderte sie scharf. „Warum beschleicht mich plötzlich der Eindruck, dass Sie mir irgendetwas vorwerfen?" Sie riss die Augen auf. War ihr Ton so kalt gewesen? „Ich weiß nicht, was Sie meinen", sagte sie hastig. Einen Augenblick sah es so aus, als würde er ihr noch weitere Fragen stellen, doch dann entschied er sich wohl dagegen, denn er nahm die Zügel auf, lächelte sie höflich an und fragte: „Wollen wir?" Sie fuhren weiter. Miranda warf Turner verstohlene Blicke zu, wann immer sie konnte. Seine Miene war undurchdringlich. Überhaupt wirkte er ziemlich ruhig, was sie mehr als nur ein wenig ärgerlich fand, da ihre eigenen Gedanken in so großem Aufruhr waren. Er hatte gesagt, dass er sie nicht begehrt hätte, aber warum hatte er sie dann geküsst? Welchen Sinn hätte das haben sollen? Und dann rutschte es ihr einfach heraus: „Warum haben Sie mich denn nun geküsst?" Einen Augenblick hatte es den Anschein, als erstickte Turner, obwohl Miranda sich nicht vorstellen konnte, woran. Die Pferde verlangsamten ihren Schritt. Anscheinend spürten sie, dass der Kutscher es ein wenig an Aufmerksamkeit vermissen ließ. Turner warf ihr einen ausgesprochen bestürzten Blick zu.
Miranda sah ihm seine Not an und erkannte, dass es für ihn keine Möglichkeit gab, ihre Frage auf nette Art zu beantworten. „Vergessen Sie, was ich gesagt habe", wiegelte sie rasch ab. „Es spielt keine Rolle." Doch sie bedauerte es nicht, die Frage gestellt zu haben. Was hatte sie schon zu verlieren? Er würde sich nicht über sie lustig machen, und er würde keine Geschichten über sie verbreiten. Sie hatte nur diesen einen Moment der Verlegenheit zu überstehen, und der war kein Vergleich zu den Peinlichkeiten der letzten Nacht, daher ... „Es hat an mir gelegen", begann er plötzlich. „Nur an mir. Und Sie hatten leider das Pech, in diesem Augenblick neben mir zu stehen." Miranda sah die Trostlosigkeit in seinen blauen Augen und legte die Hand auf seinen Ärmel. „Sie haben das Recht dazu, wütend auf sie zu sein." Er gab nicht vor, nicht zu wissen, wovon sie sprach. „Sie ist tot, Miranda." „Was nicht bedeutet, dass sie nicht eine außergewöhnlich schreckliche Person war, als sie noch lebte." Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und brach dann in Gelächter aus. „Ach, Miranda, Sie sagen die verrücktesten Sachen." Sie lächelte. „Also dos betrachte ich jetzt wirklich als Kompliment." „Erinnern Sie mich daran, Sie nie als Sonntagsschullehrerin zu empfehlen." „Die christlichen Tugenden habe ich leider nie ganz gemeistert." „Ach nein?" Er wirkte amüsiert. „Ich bin immer noch ärgerlich auf die arme kleine Fiona Bennet." „Fiona Bennet ...?" „Dieses schreckliche Mädchen, das mich auf der Feier von Olivias und Winstons elftem Geburtstag hässlich genannt hat." „Lieber Himmel, wie lange ist das jetzt her? Da muss ich ja wirklich aufpassen, Sie nicht zu verärgern." Sie hob eine Augenbraue. „Allerdings."
„Sie mein liebes Kind, haben gewaltige Defizite aufzuweisen, was die christliche Nächstenliebe betrifft." Sie zuckte mit den Schultern und staunte, wie schnell es ihm gelungen war, dass sie sich sorglos und glücklich fühlte „Erwähnen Sie das bloß nicht Ihrer Mutter gegenüber, sie halt mich für eine Heilige." „Verglichen mit Olivia, sind Sie das sicher." Miranda drohte ihm mit dem Finger. „Ich möchte nichts Schlechtes über Olivia hören, wenn es Ihnen recht ist. Ich bin ihr sehr ergeben." „Sie sind treu wie ein Hund, wenn Sie den wenig attraktiven Vergleich entschuldigen möchten." „Ich liebe Hunde." Und in diesem Moment erreichten sie Mirandas Heim. Ich liebe Hunde. Das war ihre letzte Bemerkung. Na wunderbar. Nun würde er sie für den Rest seines Lebens mit Hunden assoziieren. Turner half ihr aus der Kutsche und blickte dann zum Himmel empor, der sich allmählich zuzog. „Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus, wenn ich Sie nicht nach drinnen begleite." „Natürlich nicht", erwiderte Miranda. Sie war praktisch veranlagt. Es wäre albern von ihm, sich nass regnen zu lassen, wenn sie ohne Weiteres in der Lage war, selbst ins Haus zu gelangen. „Viel Glück", sagte er und kletterte in die Karriole zurück. „Wobei?" „In London, Ihrem Leben." Er zuckte mit den Schultern. „Wobei Sie wollen." Sie lächelte wehmütig. Wenn er bloß wüsste. 19. Mai 1819 Heute sind wir in London eingetroffen. So etwas habe ich wirklich noch nie gesehen. Die Stadt ist groß und lär mend und voller Leute und außerdem ziemlich geruchs intensiv. Lady Rudland sagt, dass wir spät dran sind. Viele Leu te weilen schon in der Stadt, und die Saison hat vor über einem Monat begonnen. Aber daran ließ sich nichts än dern - es hätte schrecklich ungezogen gewirkt, wenn Liv -
vy in London herumgezogen wäre, während sie eigentlich noch um Leticia hätte trauern sollen. Ein bisschen haben wir allerdings geschummelt, wir sind früher gekommen, aber nur, um uns Kleider anmessen zu lassen und uns vorzubereiten. Auf Gesellschaften können wir erst gehen, wenn die Trauerzeit um ist. Gott sei Dank dauert sie für Livvy nur sechs Wochen. Der arme Turner hat ein ganzes Jahr vor sich. Ich habe ihm ganz und gar verziehen, fürchte ich. Ich weiß, dass es falsch ist, aber ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, ihn zu verachten. Bestimmt halte ich den Rekord für die längste Periode unerwiderter Liebe. Ich bin bedauernswert. Ich bin ein Hund. Ich bin ein bedauernswerter Hund. Und ich verschwende jede Menge Papier.
4. KAPITEL Ursprünglich hatte Turner geplant, Frühjahr und Sommer in Northumberland zu verbringen, wo er in aller Ruhe und Abgeschiedenheit nicht um seine Frau hätte trauern müssen, doch seine Mutter hatte eine erstaunliche Anzahl von Taktiken angewandt - die wirksamste davon war natürlich das Spiel mit den Schuldgefühlen -, um ihn dazu zu bewegen, zu Olivias Unterstützung nach London zu kommen. Als sie ihn darauf hingewiesen hatte, dass er tonangebend in der Gesellschaft war und seine Anwesenheit auf Olivias Ball dafür sorgen würde, dass die besten jungen Herren teilnehmen würden, hatte er nicht nachgegeben. Als sie ihn darauf hingewiesen hatte, dass er nicht auf dem Land vereinsamen sollte und es ihm guttäte, auszugehen und unter Freunden zu sein, hatte er auch nicht nachgegeben. Er hatte erst nachgegeben, als sie bei ihm in der Tür erschienen war und ohne weitere Einleitung gesagt hatte: „Sie ist deine Schwester." Und so fand er sich nun in Rudland House in London wieder, umgeben von den fünfhundert wenn nicht feinsten, so doch prunkvollsten und eingebildetsten Einwohnern Britanniens. Trotzdem, Olivia würde sich unter ihnen einen Ehemann suchen müssen, und Miranda auch. Turner jedenfalls wollte nicht zulassen, dass eine von ihnen eine so desaströse Ehe schloss, wie er es getan hatte. In London wimmelte es nur so von männlichen Ebenbildern von Leticia, und die meisten davon hießen Lord Dies oder Sir Das. Und Turner zweifelte sehr daran, dass seine Mutter eingeweiht war in den saftigen Klatsch, der in diesen Kreisen die Runde machte.
Allerdings hieß das alles nicht, dass seine Anwesenheit oft vonnöten wäre. Er war jetzt zu ihrem Debütball gekommen, und dann würde er sie hin und wieder zu Veranstaltungen begleiten, etwa ins Theater, wenn etwas gegeben wurde, was ihn auch interessierte. Darüber hinaus würde er ihre Fortschritte aus dem Hintergrund beobachten. Ende des Sommers wäre der ganze Spuk vorüber, dann könnte er zurückkehren nach ... Nun ja, er könnte dann das tun, wonach ihm gerade der Sinn stand. Er könnte zum Beispiel die Fruchtfolge in der Landwirtschaft studieren. Oder mit Bogenschießen anfangen. Oder in den Dorfkrug gehen, wo das Bier ziemlich gut schmeckte. Und wo ihn niemand nach der kürzlich verstorbenen Lady Turner fragen würde. „Mein Lieber, da bist du ja!" Plötzlich stand seine Mutter vor ihm, liebreizend anzusehen in ihrer purpurfarbenen Robe. „Ich habe dir doch versprochen, dass ich es rechtzeitig schaffe", erwiderte er und trank das Glas mit Champagner aus, das er in der Hand hielt. „Hat man dir denn nicht gesagt, dass ich da bin?" „Nein", erwiderte sie leicht abgelenkt. „Ich laufe schon die ganze Zeit herum wie eine Verrückte wegen all der Kleinigkeiten, die im letzten Augenblick noch anfallen. Bestimmt wollten mich die Dienstboten nicht stören." „Vielleicht konnten sie dich auch nicht finden", meinte Turner und ließ den Blick müßig über die Menschenmenge schweifen. Es herrschte ein fürchterliches Gedränge - was bedeutete, dass der Ball ein Riesenerfolg war. Von den beiden Ehrengästen war nichts zu sehen, aber er hatte sich in den zwanzig Minuten, die er nun schon da war, auch nur am Rand aufgehalten. „Ich habe für die beiden Mädchen eine Erlaubnis zum Walzertanzen besorgt", erklärte Lady Rudland, „also sei so gut, erfülle deine Pflicht und tanz mit den beiden." „Ein direkter Befehl", murmelte er. „Vor allem mit Miranda", fügte sie hinzu, als hätte sie seinen Kommentar nicht gehört. „Was soll das heißen, vor allem mit Miranda?"
Mit nüchternem Blick wandte sich seine Mutter zu ihm um. „Miranda ist ein bemerkenswertes Mädchen, und ich liebe sie von Herzen, aber wir beide wissen, dass sie nicht zu der Art Mädchen gehört, welche die Gesellschaft normalerweise favorisiert." Turner warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wir beide wissen auch, dass die Gesellschaft selten über eine gute Menschenkenntnis verfügt. Leticia hatte großen Erfolg, wenn du dich erinnerst." „Olivia auch, wenn man nach diesem Abend gehen kann", erwiderte seine Mutter. „Die Gesellschaft ist kapriziös; sie belohnt die Schlechten ebenso oft wie die Guten. Nur die Stillen belohnt sie nie." In diesem Moment fiel Turners Blick auf Miranda, die neben Olivia an der Tür zur Eingangshalle stand. Neben Olivia, und doch lagen zwischen den beiden Mädchen Welten. Es war nicht so, als würde Miranda ignoriert werden, das war sicher nicht der Fall. Eben lächelte sie einen jungen Gentleman an, der sie anscheinend zum Tanz aufforderte. Doch war sie keineswegs so umlagert wie Olivia, die strahlte wie ein Juwel, das man in die richtige Fassung gesetzt hatte. Olivias Augen glänzten, und wenn sie lachte, klang es wie reinste Musik. Seine Schwester hatte etwas ungemein Reizvolles an sich. Das musste selbst Turner zugeben. Aber Miranda war anders. Sie beobachtete. Sie lächelte, aber es wirkte beinahe so, als hätte sie ein Geheimnis, als würde sie sich im Geist Notizen machen über die Leute, denen sie begegnete. „Geh hin und tanz mit ihr", drängte seine Mutter. „Mit Miranda?", fragte er überrascht. Er hätte gedacht, seine Mutter würde sich wünschen, dass er den ersten Tanz mit Olivia absolvierte. Lady Rudland nickte. „Es wäre ein riesiger Coup für sie. Du hast nicht mehr getanzt seit ... seit ich weiß nicht wann. Lange vor Leticias Tod." Turner spürte, wie sich sein Unterkiefer anspannte. Er hätte etwas erwidert, wenn seine Mutter nicht plötzlich aufge-
keucht hätte, was bei Weitem nicht so überraschend war wie der Fluch, den sie daraufhin ausstieß; er war sich sicher, dass dies die erste Blasphemie war, die je über ihre Lippen gekommen war. „Mutter?", fragte er. „Wo ist deine Armbinde?", flüsterte sie drängend. „Meine Armbinde?", wiederholte er ironisch. „Für Leticia", fügte sie hinzu, als ob er das nicht wüsste. „Ich glaube, ich habe dir erklärt, dass ich mich entschlossen habe, nicht um sie zu trauern." „Aber das hier ist London", zischte sie. „Und das Debüt deiner Schwester." Er zuckte mit den Schultern. „Mein Rock ist schwarz." „Deine Röcke sind doch immer schwarz." „Vielleicht bin ich in ständiger Trauer", schlug er milde vor, „um meine verlorene Unschuld." „Das wird einen Skandal hervorrufen!", fauchte sie erregt. „Nein", widersprach er scharf, „für die Skandale war Leticia zuständig. Ich weigere mich einfach nur, um meine skandalöse Frau zu trauern." „Willst du deine Schwester ruinieren?" „Meine Taten werden sich weit weniger schlimm auf meine Schwester auswirken, als es diejenigen meiner lieben Verstorbenen getan hätten." „Das spielt jetzt überhaupt keine Rolle, Turner. Tatsache ist doch, deine Frau ist gestorben, und ..." „Ich habe die Leiche gesehen", fiel er ihr ins Wort. Lady Rudland zuckte zusammen. „Es besteht keinerlei Grund, vulgär zu werden." Turner begann der Kopf zu dröhnen. „Dann möchte ich mich für diese Bemerkung entschuldigen." „Ich wünschte, du würdest es dir noch einmal überlegen." „Ich würde es zwar vorziehen, dir keinen Kummer zu bereiten", antwortete er mit leisem Seufzen, „aber ich werde es mir nicht noch einmal überlegen. Du kannst mich ohne Armbinde hier in London haben, oder du kannst mich in Northumberland haben ... auch ohne Armbinde", fuhr er nach kurzer Pause fort. „Die Entscheidung liegt bei dir." Seine Mutter biss die Zähne zusammen, ohne noch etwas
zu sagen, daher zuckte er nur mit den Schultern und meinte: „Dann gehe ich jetzt Miranda suchen." Und das tat er. Miranda weilte seit zwei Wochen in der Hauptstadt, und auch wenn sie nicht genau wusste, ob sie sich als erfolgreich bezeichnen durfte, wusste sie doch, dass sie zumindest kein Misserfolg war. Sie befand sich genau da, wo sie es erwartet hatte - irgendwo in der Mitte. Ihre Tanzkarte war immer halb voll, und ihr Tagebuch quoll über vor Beobachtungen über die Geistlosen, die Geistesgestörten und hin und wieder auch die Schmerzreichen, etwa Lord Chisselworth, der auf dem Ball der Mottrams über eine Stufe stolperte und sich den Knöchel verstauchte. Von den Geistlosen und Geistesgestörten gab es zu viele, als dass man sie hätte zählen können. Alles in allem fand sie, für jemanden mit ihren gottgegebenen Talenten und Eigenschaften sei sie recht erfolgreich. In ihrem Tagebuch schrieb sie: Sollte eigentlich meine gesellschaftlichen Fertigkeiten verfeinern, aber, wie Olivia schon gesagt hat, müßiges Geplauder ist nicht gerade meine Stärke. Aber ich habe mein sanftes, leeres Lächeln vervollkommnet, und das scheint sehr gut anzukommen. Drei Herren wollten mich zum Souper führen!
Natürlich war es hilfreich, dass sie als Olivias beste Freundin galt. Olivia hatte den ton im Sturm erobert - wie alle vorausgesagt hatten -, und Miranda profitierte indirekt davon. Manche Gentlemen drangen zu spät zu Olivia vor, um sich noch einen Tanz zu sichern, andere waren zu schüchtern, um mit ihr zu reden. Letzteren erschien Miranda dann als die angenehmere Wahl. Doch trotz aller überfließenden Aufmerksamkeit stand Miranda allein da, als sie eine schmerzhaft vertraute Stimme hörte ... „Sagen Sie bloß nicht, dass ich Sie ohne Begleitung antreffe, Miss Cheever." Turner.
Sie musste lächeln, sie konnte nicht anders. In seiner schwarzen Abendgarderobe sah er umwerfend attraktiv aus, und das Kerzenlicht schimmerte golden in seinem Haar. „Sie sind da", sagte sie schlicht. „Dachten Sie, ich würde nicht kommen?" Lady Rudland hatte gesagt, dass sie darauf baue, aber Miranda war sich da nicht so sicher gewesen. Er hatte unmissverständlich klargemacht, dass er in diesem Jahr von der Gesellschaft nichts wissen wollte. Oder auch in jedem anderen Jahr. Im Augenblick war das noch schwer zu beurteilen. „Ich habe gehört, dass Ihre Mutter Ihre Anwesenheit mittels Erpressung erzwingen musste", meinte sie, während er sich neben sie stellte und sie beide müßig die Menschenmenge beobachteten. Er gab sich empört. „Erpressung? Was für ein hässliches Wort. Und es stimmt auch nicht." „Ach?" Er beugte sich ein winziges Stück vor. „Sie hat mit Schuldgefühlen gearbeitet." „Mit Schuldgefühlen?" Um ihre Lippen zuckte es, und sie wandte sich ihm mit spitzbübischem Lächeln zu. „Was haben Sie denn angestellt?" „Es geht um etwas, was ich nicht gemacht habe. Oder eher um etwas, was ich nicht tun wollte." Lässig zuckte er mit den Schultern. „Sie hat mir gesagt, mit meiner Unterstützung könnten Sie und Olivia ein rauschender Erfolg werden." „Olivia hätte vermutlich auch dann Erfolg, wenn sie weder Geld noch eine vornehme Geburt vorweisen könnte." „Ach, wegen Ihnen mache ich mir auch keine Sorgen", erwiderte Turner und lächelte aufreizend gütig auf sie herab. Dann verfinsterte sich seine Miene. „Überhaupt, womit sollte meine Mutter mich wohl erpressen können, würden Sie mir das bitte mal verraten?" Miranda lächelte in sich hinein. Es freute sie, wenn ihm die Contenance entglitt. Normalerweise wirkte er stets beherrscht, während ihr Herz bei seinem bloßen Anblick zu rasen begann. Zum Glück war ihr seine Gegenwart im Lauf der Jahre vertraut geworden. Wenn sie ihn nicht schon so lange kennen würde, wäre sie in seiner Nähe vermutlich überhaupt
nicht in der Lage, Konversation zu treiben. Und er würde sicherlich Verdacht schöpfen, wenn sie bei ihren Begegnungen nie ein Wort über die Lippen brächte. „Ach, ich weiß nicht", gab sie sich unentschlossen. „Vielleicht mit Geschichten von früher, als Sie noch klein waren." „Seien Sie still. Ich war der reinste Engel!" Zweifelnd hob sie die Brauen. „Sie müssen mich ja für sehr leichtgläubig halten." „Nein, nur für zu höflich, um mir zu widersprechen." Miranda rollte mit den Augen und wandte sich wieder den Gästen zu. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals hielt Olivia Hof; sie war vom üblichen Schwarm Gentlemen umgeben. „Livvy ist ein Naturtalent, nicht wahr?", meinte sie. Turner nickte zustimmend. „Wo sind denn all Ihre Verehrer, Miss Cheever? Ich kann nicht glauben, dass Sie keine haben." Sie errötete über dieses Kompliment. „Nun ja, einen oder zwei vielleicht schon. In Olivias Nähe neige ich dazu, mit dem Hintergrund zu verschmelzen." Er warf ihr einen ungläubigen Blick zu. „Zeigen Sie mir doch mal Ihre Tanzkarte." Widerstrebend gab sie sie ihm. Er musterte sie rasch und reichte sie ihr dann zurück. „Ich hatte recht", meinte er. „Sie ist fast voll." „Die meisten haben mich nur deswegen aufgefordert, weil ich neben Olivia stand." „Seien Sie nicht albern. Außerdem muss man sich deswegen nicht aufregen." „Aber ich rege mich doch gar nicht auf", erwiderte sie, überrascht, dass er auf diese Idee gekommen war. „Sehe ich so aus?" Er wandte sich zu ihr und betrachtete sie. „Nein. Stimmt. Wie merkwürdig." „Merkwürdig?" „Mir ist noch keine Dame untergekommen, die nicht davon geträumt hätte, auf einem Ball von einem Schwarm passender junger Männer umgeben zu sein." Miranda ärgerte sich über den gönnerhaften Ton und konn-
te sich ihrerseits eine Spur Herablassung in der Stimme nicht verkneifen. „Nun, jetzt kennen Sie eine." Doch er lachte nur. „Mein liebes Kind, wie wollen Sie denn mit dieser Haltung einen Ehemann finden? Ach, nun sehen Sie mich nicht so an, als wollte ich sie bevormunden ..." Worauf sie nur noch mehr die Lippen zusammenpresste. „... Sie selbst haben mir doch gesagt, dass Sie diese Saison einen Ehemann finden wollen." Er hatte recht, zum Kuckuck mit dem Kerl. Daher blieb ihr nur noch zu sagen: „Nennen Sie mich nicht ,mein liebes Kind', wenn ich bitten dürfte." Er grinste. „Aber, aber, Miss Cheever, entdecke ich da eine Spur Temperament an Ihnen?" „Das hatte ich schon immer", fuhr sie ihn an. „Offensichtlich". Er lächelte immer noch, was sie nur noch mehr aufbrachte. „Sollten Sie nicht launisch und trübsinnig sein?", murrte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Sie scheinen das Beste in mir zu wecken." Miranda sah ihn spitz an. Hatte er die Nacht nach Leticias Beerdigung vergessen? „Das Beste?", fragte sie in spöttischem Ton. „Wirklich?" Zumindest hatte er noch so viel Anstand, verlegen zu blicken. „Hin und wieder auch das Schlimmste. Aber heute Abend nur das Beste." Als er ihre erhobenen Brauen sah, fügte er hinzu: „Ich bin hier, um Ihnen pflichtschuldigst meine Dienste anzubieten." Pflichtschuldigst. Was für ein solides, langweiliges Wort. „Geben Sie mir noch einmal Ihre Tanzkarte, wenn ich bitten darf." Sie streckte sie ihm hin. Es war ein prächtiges kleines Ding, mit Schnörkeln verziert, und an einer Ecke war mit einem Band ein Bleistift befestigt. Turner sah sich die Karte an, und seine Augen wurden schmal. „Warum haben Sie all die Walzer freigelassen, Miranda? Meine Mutter hat mir ausdrücklich gesagt, dass sie für Sie und Olivia die Erlaubnis eingeholt hat, Walzer zu tanzen." „Ach, das ist es nicht." Sie biss kurz die Zähne zusammen
und versuchte die Röte zu unterdrücken, die ihr, wie sie spürte, jeden Moment in die Wangen zu steigen drohte. „Es ist nur, also, wenn Sie es unbedingt wissen müssen ..." „Heraus damit, Miss Cheever." „Warum sagen Sie immer Miss Cheever zu mir, wenn Sie sich über mich lustig machen?" „Das ist doch Unsinn. Ich nenne Sie auch Miss Cheever, wenn ich Sie ausschelte." Na, das war doch eine Verbesserung. „Miranda?" „Ach, es ist nichts", murmelte sie. Aber er ließ nicht locker. „Irgendetwas ist es ja wohl doch, Miranda, das ist offensichtlich. Sie ..." „Ach, na schön, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Ich hatte gehofft, dass Sie mit mir den Walzer tanzen würden." Er fuhr zurück, und sein Blick verriet, wie überrascht er war. „Oder Winston", ergänzte sie rasch, weil es sicherer war oder zumindest weniger peinlich - mehrere Namen zu nennen. „Dann sind wir also austauschbar?", fragte Turner. „Nein, natürlich nicht. Aber ich bin noch nicht sehr sicher im Walzer, und ich würde mich wohler fühlen, wenn ich den ersten Tanz in der Öffentlichkeit mit jemandem absolvieren würde, den ich kenne", improvisierte sie hastig. „Jemand, der nicht tödlich beleidigt wäre, wenn Sie ihm auf die Zehen träten?" „So ähnlich", murmelte sie. Wie hatte sie sich nur in diese dämliche Lage manövriert? Nun würde er entweder glauben, sie sei in ihn verliebt, oder sie für ein albernes junges Ding halten, das sich nicht traute, vor Zuschauern zu tanzen. Aber Turner sagte zum Glück schon: „Es wäre mir eine Ehre, mit Ihnen den Walzer zu tanzen." Er ergriff den kleinen Bleistift und trug seinen Namen auf ihrer Tanzkarte ein. „Hier. Jetzt sind Sie mir für den ersten Walzer versprochen." „Danke. Ich freue mich schon darauf." „Gut. Ich mich auch. Soll ich mich noch für einen weiteren einschreiben? Ich kann mir keine andere denken, mit der ich lieber vier Minuten - oder wie lange der Walzer eben dauert -
zwangsweise Konversation treiben würde." „Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich so eine Prüfung sein würde", erwiderte Miranda und verzog das Gesicht. „Oh, das sind Sie auch nicht", versicherte er ihr. „Aber die anderen sind es schon. Hier, ich trage mich auch noch für den letzten Walzer ein. Die übrigen müssen Sie allein durchstehen. Mehr als zweimal mit Ihnen zu tanzen, gehört sich nicht." Himmel, nein, dachte Miranda erbittert. Jemand könnte ja denken, dass er nicht gezwungen worden war, mit ihr zu tanzen. Aber sie wusste, was von ihr erwartet wurde, daher lächelte sie angespannt und sagte: „Nein, natürlich nicht." „Also dann", sagte Turner mit jener endgültigen Note in der Stimme, die Männer gern benutzen, wenn sie mit einem Thema abschließen wollen, unabhängig davon, was ihre Gesprächspartner wünschen. „Ich sehe, dass der junge Hardy sich bereit macht herüberzukommen, um Sie zum nächsten Tanz zu holen. Ich besorge mir etwas zu trinken. Wir sehen uns dann beim ersten Walzer." Mit diesen Worten ließ er sie in der Ecke stehen und begrüßte im Gehen noch Mr. Hardy. Miranda knickste pflichtschuldig vor ihrem Tanzpartner, ergriff seine behandschuhte Hand und folgte ihm zur Quadrille auf die Tanzfläche. Sie war nicht weiter überrascht, als er, nachdem er das Wetter und ihr Kleid kommentiert hatte, nach Olivia fragte. Miranda antwortete ihm so höflich sie konnte, ohne ihn zu sehr zu ermutigen. Der Verehrerschar nach zu urteilen, die sich um ihre Freundin drängte, standen Mr. Hardys Chancen denkbar schlecht. Zum Glück war der Tanz bald vorüber, und Miranda begab sich auf schnellstem Weg zu Olivia. „Oh, Miranda, meine Liebe", rief ihre Freundin aus. „Wo steckst du nur? Ich habe allen von dir erzählt!" „Tatsächlich?", erwiderte Miranda und hob ungläubig die Brauen. „Aber ja doch! Stimmt es etwa nicht?" Olivia stieß einen Gentleman in die Seite, worauf dieser sofort eifrig nickte. „Würde ich dich je anlügen?" Miranda unterdrückte ein Lächeln. „Wenn es dir gerade in den Kram passen würde."
„Ach hör auf, du bist schrecklich. Und wo hast du nun gesteckt?" „Ich brauchte ein wenig Frischluft, und so habe ich mich mit einem Glas Limonade in eine Ecke verzogen. Turner hat mir Gesellschaft geleistet." „Ach, dann ist er also gekommen? Ich werde einen Tanz für ihn reservieren müssen." Miranda blickte zweifelnd. „Ich glaube nicht, dass du noch einen übrig hast, den du ihm reservieren könntest." „Das kann nicht sein." Olivia sah auf ihre Tanzkarte. „Ach herrje. Ich werde einen der Herren streichen müssen." „Olivia, das kannst du nicht machen." „Aber warum denn nicht? Hör zu, Miranda, ich muss dir erzählen ..." Plötzlich hielt sie inne; sie war sich der Anwesenheit ihrer vielen Verehrer bewusst geworden. Rasch drehte sie sich zu ihnen um und lächelte sie alle strahlend an. Miranda wäre nicht überrascht gewesen, wenn die Gentlemen daraufhin ohnmächtig zu Boden gesunken wären, einer nach dem anderen. „Würde einer der Herren mir bitte ein Glas Limonade holen?", fragte Olivia in liebreizendem Ton. „Ich bin schon ganz ausgedörrt." Daraufhin ertönte allseits eifrige Zustimmung, und im nächsten Augenblick setzte sich die gesamte Schar in Bewegung. Miranda konnte ihnen nur ehrfürchtig nachstarren. „Wie eine Herde Schafe", flüsterte sie. „Nun ja, das ist schon richtig", stimmte Olivia zu. „Bis auf die Ziegenböcke." Miranda blieben ungefähr zwei Sekunden, um diese Bemerkung zu entschlüsseln, bevor Olivia hinzufügte: „Das war doch brillant von mir, sie alle auf einen Streich loszuwerden. Ich sage dir, allmählich werde ich darin ziemlich gut." Miranda nickte, eine Antwort sparte sie sich. Es hatte ja auch wirklich keinen Sinn, etwas zu formulieren, denn wenn Olivia erst einmal dabei war, zu erzählen ... „Was ich sagen wollte", fuhr Olivia fort, womit sie, ohne es zu wissen, Mirandas Überzeugung bestätigte, „ist, dass die meisten wirklich schrecklich langweilig sind." Miranda konnte es sich nicht verkneifen, ein wenig zu sti-
cheln. „Auf die Idee käme man allerdings nie, wenn man dich in Aktion sieht." „Ich sage ja nicht, dass es mir keinen Spaß macht." Olivia warf ihr einen leicht spöttischen Blick zu. „Ich meine, also wirklich, ich schneide mich doch nicht ins eigene Fleisch, um meine Mutter zu ärgern." „Ins eigene Fleisch schneiden, um deine Mutter zu ärgern", wiederholte Miranda und überlegte, woher dieses Sprichwort ursprünglich stammte. „Irgendwo dreht sich jetzt bestimmt jemand im Grab um." Olivia legte den Kopf schief. „Meinst du vielleicht Shakespeare?" „Nein." Verflixt, nun würde sie nicht mehr aufhören können, darüber nachzugrübeln. „Shakespeare nicht." „Machiavelli?" In Gedanken ging Miranda alle berühmten Schriftsteller durch, die ihr einfielen. „Ich glaube nicht." „Turner?" „Wer?" „Mein Bruder." Rasch sah Miranda auf. „Turner?" Olivia beugte sich zur Seite und reckte den Hals, um an Miranda vorbeizuschauen. „Er wirkt ziemlich entschlossen." Miranda schaute auf ihre Tanzkarte. „Anscheinend ist es Zeit für unseren Walzer." Olivia neigte nachdenklich den Kopf. „Er sieht doch auch ziemlich attraktiv aus, findest du nicht?" Miranda blinzelte und versuchte nicht zu seufzen. Turner sah tatsächlich attraktiv aus. Fast unerträglich attraktiv. Und jetzt, wo er verwitwet war, würden sich doch bestimmt alle unverheirateten jungen Damen - samt ihrer Mütter - auf ihn stürzen. „Meinst du, dass er wieder heiratet?", fragte Olivia. „Ich ... ich weiß nicht." Miranda schluckte. „Ich könnte mir denken, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, meinst du nicht?" „Nun ja, Winston ist ja auch noch da, um einen Erben hervorzubringen. Und wenn du ... uff!"
Mirandas Ellbogen. Mitten in die Rippen. Turner trat zu ihnen und verbeugte sich höflich. „Wie nett, dich zu sehen, Bruderherz", begrüßte ihn Olivia mit breitem Lächeln. „Ich hätte beinahe nicht mehr mit deinem Kommen gerechnet." „Unsinn. Mutter hätte mich vierteilen lassen." Dann verengten sich seine Augen - fast unmerklich, aber Miranda neigte ja dazu, alles an ihm zu bemerken -, und er fragte: „Warum hat Miranda dir einen Rippenstoß versetzt?" „Habe ich doch gar nicht!", protestierte Miranda. Als sie seinen ungläubigen Blick sah, korrigierte sie sich: „Es war doch eher ein Stößchen." „Stoß, Stößchen - jedenfalls sah es nach einem verdammt unterhaltsamen Gespräch aus, unterhaltsamer jedenfalls als die ganzen anderen hier im Ballsaal." „Turner!" Turner nickte seiner Schwester lässig zu und wandte sich dann an Miranda. „Was meinen Sie - hat sie was an meiner Ausdrucksweise auszusetzen, oder stört sie sich daran, dass ich die Gäste auf ihrem Ball als Idioten bezeichnet habe?" „Ich glaube, es war Ihre Ausdrucksweise", meinte Miranda milde. „Sie hat selbst gesagt, dass die meisten Leute hier Idioten sind." „Von wegen, das habe ich überhaupt nicht gesagt!", wandte Olivia ein. „Ich habe gesagt, sie wären langweilig." „Und Schafe", bestätigte Miranda. „Ziegenböcke", fügte Olivia achselzuckend hinzu. Turner wirkte allmählich besorgt. „Lieber Himmel, verständigt ihr beide euch in irgendeiner Geheimsprache?" „Nein, es ist doch sonnenklar, was wir sagen", versetzte Olivia. „Sag mir lieber, ob du weißt, wer als Erstes gesagt hat, man soll sich nicht ins eigene Fleisch schneiden?" „Den Zusammenhang kann ich jetzt nicht recht erkennen", murmelte Turner. „Shakespeare war es nicht", warf Miranda ein. Olivia schüttelte den Kopf. „Wer sollte es denn sonst gewesen sein?" „Nun ja", vermutete Miranda, „irgendeiner der vielen bedeutenden englischen Schriftsteller."
„Deswegen also das Rippenstößchen?", erkundigte sich Turner. „Ja", erwiderte Miranda, die Gelegenheit nutzend. Leider kam Olivia ihr eine halbe Sekunde zuvor. „Nein." Amüsiert blickte Turner von einer zur anderen. „Es ging um Winston", erklärte Olivia ungeduldig. „Ah, Winston." Turner sah sich um. „Er ist auch da, nicht wahr?" Neugierig nahm er Miranda die Tanzkarte aus der Hand. „Warum hat er sich nicht einen oder mehrere Tänze reserviert? Plant ihr beide nicht schon eure Hochzeit?" Miranda presste die Lippen zusammen und ließ sich nicht zu einer Antwort herab. Was vollkommen vernünftig war, wusste sie doch, dass Olivia diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen würde. „Natürlich ist es noch nicht abgemacht", sagte ihre Freundin, „aber jeder findet, dass sie hervorragend zusammenpassen." „Wirklich jeder?", fragte Turner leise und sah Miranda an. „Wer denn nicht?", erwiderte Olivia mit ungeduldiger Miene. In diesem Augenblick nahmen die Musiker die Instrumente auf, und dann ertönten die ersten Walzerklänge. „Ich glaube, dies ist mein Tanz", sagte Turner, und Miranda wurde sich bewusst, dass er ihr die ganze Zeit in die Augen gesehen hatte. Sie zitterte. „Wollen wir?", murmelte er und streckte ihr den Arm entgegen. Sie nickte; für einen Augenblick versagte ihr die Stimme. Irgendetwas stellte er mit ihr an. Etwas Seltsames, das sie zum Zittern brachte und ihr den Atem raubte. Er brauchte sie nur anzusehen - nicht, wie es im Gespräch üblich war, sondern sie wirklich anzusehen, sie mit seinen blauen Augen Forschend und aufmerksam zu betrachten, dann kam sie sich nackt vor, und ihre Seele lag vor ihm bloß. Und das Schlimmste war - er hatte keine Ahnung davon. Sie stand vor ihm, ihre Gefühle lagen bloß, und Turner sah vermutlich nichts anderes als langweilige braune Augen. Sie war die kleine Freundin seiner kleinen Schwester, und
aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie für ihn nie etwas anderes sein. „Dann lasst ihr mich hier einfach allein?", fragte Olivia, nicht beleidigt, aber doch mit einem leisen Seufzen. „Keine Angst", versicherte Miranda ihr, „lange bleibst du nicht allein. Da kehrt schon die Herde mit der Limonade zurück." Olivia verzog das Gesicht. „Ist dir schon einmal aufgefallen, Turner, was für einen trockenen Humor Miranda hat?" Miranda legte den Kopf schief und verbiss sich ein Lächeln. „Warum beschleicht mich nur der Verdacht, dass dies alles andere als schmeichelhaft gemeint ist?" Olivia winkte ab. „Fort mit euch. Viel Spaß bei deinem Tanz mit Turner." Turner fasste Miranda am Ellbogen und führte sie auf die Tanzfläche. „Sie haben tatsächlich einen recht seltsamen Humor, wissen Sie?", murmelte er. „Ach ja?" „Ja, aber das mag ich an Ihnen am liebsten, also bitte ändern Sie sich nicht." Sie versuchte, von dieser Bemerkung nicht hochbeglückt zu sein. „Ich werde mir Mühe geben, Mylord." Er zuckte zusammen, als er sie zum Walzer um die Taille fasste. „Mylord heiße ich jetzt bei Ihnen? Warum so förmlich?" „Es liegt an London. Ihre Mutter hat mir die ganze Zeit die Etikette eingetrichtert." Sie lächelte süß. „Nigel." Seine Miene Verfinsterte sich. „Da ist mir ja Mylord noch lieber." „Ich ziehe Turner vor." Der Griff um ihre Taille wurde fester. „Gut. Belassen Sie es dabei." Miranda stieß einen leisen Seufzer aus, und dann schwiegen sie. Was den Walzer betraf, so war dieser ein relativ gesetzter. Es gab kein atemloses Herumwirbeln, nichts, bei dem ihr schwindelig geworden wäre. Und so hatte sie alle Muße, den Moment auszukosten, das Gefühl zu genießen, von ihm gehalten zu werden. Sie atmete seinen Duft ein, spürte die
Wärme, die von seinem Körper ausging, und erfreute sich einfach daran. Es fühlte sich so vollkommen an ... vollkommen richtig. Sie konnte kaum glauben, dass er es nicht auch spürte. Aber das tat er nicht. Sie gab sich nicht der Illusion hin, dass sie sein Begehren einfach herbeiwünschen könnte. Wenn sie zu ihm aufsah, starrte er mit abwesendem Blick in die Menge, als ginge er in Gedanken irgendein Problem durch. Dies war nicht der Blick eines verliebten Mannes. Und auch das, was folgte, als er endlich zu ihr hinabsah, kündete nicht von einem verliebten Herzen. „Sie tanzen den Walzer gar nicht schlecht, Miranda. Eigentlich sogar sehr gut. Ich kann mir gar nicht erklären, warum Sie deswegen so aufgeregt waren." Seine Miene war freundlich. Brüderlich. Es brach ihr schier das Herz. „Ich bin in letzter Zeit nicht viel zum Üben gekommen", improvisierte sie, da er anscheinend eine Antwort erwartete. „Auch nicht mit Winston?" „Winston?", wiederholte sie. Seine Augen funkelten amüsiert. „Mein jüngerer Bruder, wenn Sie sich erinnern." „Ach so", sagte sie. „Nein, ich meine, nein, ich habe schon seit Jahren nicht mehr mit Winston getanzt." „Wirklich?" Rasch sah sie zu ihm auf. In seiner Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit, beinahe - aber nur beinahe eine Spur Befriedigung. Eifersucht war es leider nicht - sie glaubte nicht, dass es ihn wirklich interessierte, ob sie nun mit seinem Bruder tanzte oder nicht. Aber sie hatte das seltsame Gefühl, als beglückwünsche er sich für etwas, als hätte er ihre Antwort korrekt vorhergesagt und freue sich nun über seine Scharfsichtigkeit. Lieber Himmel, sie dachte viel zu viel nach. Sie übertrieb es mit dem Denken - das warf Olivia ihr ja immer wieder vor, und dieses eine Mal musste Miranda zugeben, dass ihre Freundin recht hatte. „Ich bekomme Winston nicht oft zu sehen", fuhr sie fort und hoffte, dass die Unterhaltung sie davon abhalten würde, wilde Mutmaßungen über vollkommen ungewisse Fragen an-
zustellen - zum Beispiel über die wahre Bedeutung des Wortes „wirklich". „Ach ja?", hakte Turner nach und verstärkte den Druck in ihrem Rücken, als er sie in eine Rechtsdrehung dirigierte. „Normalerweise ist er auf der Universität. Das Semester ist auch jetzt noch nicht zu Ende." „Im Sommer bekommen Sie sicher eine ganze Menge von ihm zu sehen." „Vermutlich." Sie räusperte sich. „Wie lange werden Sie denn bleiben?" „In London?" Sie nickte. Mit leichtem Schwung wirbelten sie einmal links herum, ehe er antwortete: „Ich weiß noch nicht genau. Wohl nicht allzu lange, glaube ich." „Verstehe." „Eigentlich sollte ich ohnehin Trauer tragen. Mutter war entsetzt, weil ich die Armbinde abgelegt habe." „Ich nicht", erklärte sie. Lächelnd sah er auf sie herunter, und diesmal hatte sein Blick nichts Brüderliches. Zwar lagen auch keinerlei Leidenschaft oder Begehren darin, aber doch immerhin etwas Neues. Seine Miene war verschmitzt und verschwörerisch, als wären sie eine eingeschworene Gemeinschaft. „Aber Miss Cheever", murmelte er spitzbübisch, „entdecke ich da eine Spur Rebellentum in Ihnen?" Energisch reckte sie das Kinn vor. „Ich habe nie verstehen können, warum man für jemanden, den man überhaupt nicht kennt, schwarze Kleidung anlegen sollte, und genauso wenig will mir einleuchten, warum man es für jemanden tun sollte, den man nicht ausstehen konnte." Einen Augenblick blieb seine Miene ausdruckslos, und dann grinste er. „Wen mussten Sie denn betrauern?" Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Einen Cousin." Er beugte sich ein Stückchen vor. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass es sich nicht gehört zu lächeln, wenn man über das Ableben eines Anverwandten spricht?" „Ich habe den Mann doch nicht mal gekannt."
„Trotzdem ..." Miranda stieß ein damenhaftes Schnauben aus. Sie wusste, dass er sie anstachelte, doch es machte ihr viel zu viel Spaß, um die Sache zu beenden. „Er hat sein ganzes Leben in der Karibik verbracht", fügte sie hinzu. Ganz stimmte das nicht, aber fast. „Was für ein blutrünstiges kleines Ding Sie doch sind", meinte er. Sie zuckte mit den Schultern. Von Turner klang es wie ein Kompliment. „Ich glaube wirklich, dass wir Sie in unserer Familie willkommen heißen sollten", fuhr er fort. „Vorausgesetzt, Sie halten es längere Zeit mit meinem kleinen Bruder aus." Miranda bemühte sich um ein aufrichtiges Lächeln. Winston zu heiraten, war für sie nicht der erwünschte Weg, um ein Familienmitglied der Bevelstokes zu werden. Und obwohl Olivia sie bestürmte und bedrängte, glaubte Miranda nicht, dass etwas daraus werden würde. Es gab viele gute Gründe, eine Ehe mit Winston in Betracht zu ziehen, doch es gab einen überwältigenden Grund, davon abzusehen, und dieser Grund stand direkt vor ihr. Wenn Miranda jemanden heiraten würde, den sie nicht liebte, würde es ganz sicher nicht der Bruder des Mannes sein, den sie liebte. Oder von dem sie glaubte, dass sie ihn liebte. Immer wieder versuchte sie sich davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht liebte, dass das alles eine mädchenhafte Schwärmerei sei, der sie bald entwachsen würde - der sie bereits entwachsen war und es nur noch nicht bemerkt hatte. Sie war einfach so an den Gedanken gewöhnt, dass sie in ihn verliebt sei. Das war alles, mehr steckte nicht dahinter. Aber dann tat er etwas ganz Abscheuliches, zum Beispiel lächeln, und all ihre Überzeugungsarbeit war zunichte und sie musste von vorn anfangen. Eines Tages würde es gelingen. Eines Tages würde sie aufwachen und feststellen, dass zwei Tage voll vernünftiger, turnerfreier Gedanken vergangen waren, bald wären es drei Tage, dann vier und ... „Miranda?"
Sie sah auf. Er beobachtete sie mit einer Miene leiser Belustigung; es hätte herablassend gewirkt, wenn nicht die Fältchen um seine Augenwinkel gewesen wären ... und für einen Moment sah er sorgenfrei und jung aus, vielleicht sogar zufrieden. Und sie liebte ihn immer noch. Zumindest für den Rest dieses Abends würde sie sich nichts anderes einreden können. Am nächsten Morgen würde sie wieder anfangen, aber heute Abend war jeder Versuch sinnlos. Die Musik endete, Turner ließ ihre Hand los, trat zurück und verneigte sich elegant. Miranda knickste, hängte sich dann bei ihm ein und ließ sich von ihm zum Rand der Tanzfläche geleiten. „Was meinen Sie, wo könnte Olivia stecken?", fragte er und reckte den Hals. „Ich werde wohl einen der Gentlemen darum bitten müssen, mir einen Tanz mit ihr zu überlassen." „Liebe Güte, nun lassen Sie es doch nicht wie eine lästige Pflicht klingen", gab Miranda zurück. „So schrecklich sind wir doch gar nicht." Überrascht wandte er sich ihr zu. „Von Ihnen habe ich doch gar nicht gesprochen. Ich habe nicht das Geringste dagegen, mit Ihnen zu tanzen." Was Komplimente anging, so war dieses bestenfalls als lau zu bezeichnen, doch Miranda fand einen Weg, sich davon das Herz wärmen zu lassen. Und das, dachte sie elend, ist ja wohl Beweis genug, dass ich tiefer nicht mehr sinken kann. Unerwiderte Liebe, entdeckte sie gerade, war viel schlimmer, wenn man das Objekt seiner Anbetung tatsächlich zu Gesicht bekam. Fast zehn Jahre hatte sie damit verbracht, von Turner zu träumen, dabei geduldig abzuwarten, welche Neuigkeiten am Teetisch der Bevelstokes für sie abfielen, und bei seinen ein, zwei Besuchen pro Jahr ihr Entzücken und ihre Freude zu verbergen (ganz zu schweigen von der Angst, entlarvt zu werden). Sie war überzeugt gewesen, dass es nichts Erbärmlicheres gab als das, doch anscheinend hatte sie sich geirrt. Das hier war entschieden schlimmer. Bis vor Kurzem war sie für Turner nicht existent gewesen. Jetzt war sie wie ein gemütlicher alter Schuh.
Du liebe Güte. Verstohlen sah sie ihn an. Er blickte gerade nicht in ihre Richtung. Nicht dass er sie bewusst nicht angesehen hätte oder ihren Blicken ausgewichen wäre, nein, er sah sie einfach nicht an. Sie beschäftigte ihn einfach in keinster Weise. „Da ist Olivia ja", sagte sie und seufzte. Wie immer war ihre Freundin von einem lächerlich großen Herrensortiment umgeben. Turner betrachtete seine Schwester mit scharfem Blick. „Sieht nicht so aus, als würde sich einer von denen danebenbenehmen, oder? Es war ein langer Tag, und mir wäre es lieber, wenn ich heute Abend nicht auch noch den grimmigen großen Bruder spielen müsste." Miranda stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen besseren Blick zu erlangen. „Ich glaube, das wird nicht nötig sein, Sie können sich beruhigen." „Gut." Und dann fiel ihm auf, dass er den Kopf auf die Seite gelegt hatte und merkwürdig gedankenverloren zu seiner Schwester hinübersah. „Hmmm." „Hmmm?" Er wandte sich wieder Miranda zu, die immer noch neben ihm stand und ihn nun mit ihren stets wachen braunen Augen betrachtete. „Turner?", hörte er sie sagen, und er antwortete mit einem weiteren „Hmmm?" „Sie sehen ein wenig seltsam aus." Kein „Alles in Ordnung mit Ihnen?" oder „Geht es Ihnen nicht gut?" Einfach nur „Sie sehen ein wenig seltsam aus." Das entlockte ihm ein Lächeln. Und der Gedanke stieg in ihm auf, wie sehr er dieses Mädchen mochte, wie unrecht er ihr in der Nacht nach Leticias Beerdigung getan hatte. Er verspürte den Wunsch, ihr einen Gefallen zu tun, etwas Nettes. Ein letztes Mal blickte er zu seiner Schwester, und dann sagte er, während er sich langsam umdrehte: „Wenn ich noch ein junger Springinsfeld wäre, was ich nicht bin ..." „Turner, Sie sind noch nicht einmal dreißig." Ihre Miene drückte nun leise Ungeduld aus - auf eine etwas gouvernantenhafte Weise, die er merkwürdig unterhaltsam
fand, und er zuckte lässig mit einer Schulter und erwiderte: „Ja, schon wahr, ich fühle mich aber älter. Zurzeit sogar uralt, um die Wahrheit zu sagen." Dann wurde er sich bewusst, dass sie ihn erwartungsvoll anstarrte. Er räusperte sich und meinte: „Ich wollte nur sagen, dass mir, wenn ich das diesjährige Angebot an Debütantinnen unter die Lupe nähme, Olivia gar nicht weiter auffallen würde." Miranda hob die Brauen. „Nun ja, schließlich ist sie Ihre Schwester. Abgesehen davon, dass es illegal ist ..." Himmel noch Eigentlich wollte ich Ihnen gerade ein Kompliment machen", unterbrach er sie. „Oh." Sie räusperte sich. Und errötete ein wenig, obwohl es in dem schwachen Licht nicht eindeutig zu erkennen war. „Nun, in dem Fall möchte ich Sie bitten, sofort weiterzusprechen." „Olivia ist wirklich schön", fuhr er fort. „Selbst ich als ihr älterer Bruder kann das sehen. Aber in meinen Augen fehlt ihr irgendetwas." Ungläubig keuchte sie auf. „Turner, was für eine schreckliche Bemerkung! Sie wissen genauso gut wie ich, dass Olivia sehr intelligent ist. Weitaus intelligenter als die meisten Männer, die sie umschwärmen." Er betrachtete sie nachsichtig lächelnd. Was für ein loyales kleines Ding. Es war nicht zu bezweifeln, dass sie sich für Olivia erschießen ließe, käme sie je in diese Lage. Gut, dass sie da war. Ganz abgesehen von dem beruhigenden Einfluss, den sie auf seine Schwester ausübte - in seinen Augen war ihr die gesamte Familie Bevelstoke deswegen zu großem Dank verpflichtet -, war Miranda auch das Einzige, was ihm den Aufenthalt in London erträglich machen würde, dessen war er sich gewiss. Er hatte weiß Gott keinerlei Sehnsucht nach der Stadt verspürt. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, waren Frauen, die es auf Rang und Namen abgesehen hatten und in Leticias erbärmlich kleine Fußstapfen treten wollten. In Mirandas Gegenwart konnte er sich wenigstens sicher sein, gute Unterhaltung geboten zu bekommen. „Natürlich ist Olivia intelligent", entgegnete er nun besänftigend. „Erlauben Sie, dass ich es anders ausdrücke. Mich persönlich würde sie einfach nicht fesseln können."
Sie spitzte die Lippen, und die Gouvernante war zurück. „Nun ja, so zu empfinden ist wohl Ihr gutes Recht, nehme ich an."
Er lächelte und beugte sich eine Spur vor. „Ich glaube, ich würde weitaus eher dazu neigen, mich Ihnen zu nähern." „Seien Sie doch nicht albern", murmelte sie. „Bin ich nicht", versicherte er ihr. „Aber ich bin natürlich alter als die meisten Dummköpfe, die meine Schwester umschwänzeln. Vielleicht ist mein Geschmack reifer geworden. Aber das ist alles reine Mutmaßung, nehme ich an, denn ich bin kein junger Springinsfeld mehr, und ich nehme auch nicht das diesjährige Angebot an Debütantinnen unter die Lupe." „Und Sie halten nicht nach einer Ehefrau Ausschau." Das war eine Feststellung, keine Frage. „Himmel, nein!", platzte er heraus. „Was um alles in der Welt sollte ich wohl mit einer Frau anfangen?" 2. Juni 1819 Lady Rudland hat beim Frühstück erklärt, der Ball ges tern Abend sei ein berückender Erfolg gewesen. Ich konnte mir ein Lächeln nicht ganz verkneifen ob dieser Wort wahl - obwohl ich es eher einen erdrückenden als einen berückenden Erfolg genannt hätte. Ich glaube nicht, dass irgendwer die Einladung ausgeschlagen hat, und im Ball saal war es so voll, wie ich es voller noch nicht erlebt habe. Jedenfalls wurde ich von allen möglichen, mir völ lig fremden Gästen schier erdrückt. Ich vermute, im Her zen bin ich ein Mädchen vom Land geblieben, denn ich glaube nicht, dass ich meinen Mitmenschen je wieder so nahe kommen möchte. Das habe ich beim Frühstück auch gesagt, worauf Tur ner seinen Kaffee ausgespuckt hat. Lady Rudland hat ihm einen mörderischen Blick zugeworfen, aber ich kann nicht glauben, dass sie ihre Tafelwäsche so liebt. Da Turner nur ein, zwei Wochen in London bleiben will, wohnt er bei uns in Rudland House. Für mich ist das herr lich und schrecklich zugleich. Lady Rudland hat berichtet, dass irgendeine griesgrä mige alte Schachtel (ihre Wortwahl, nicht die meine, sie
wollte aber nicht verraten, wen sie damit gemeint hat) ge sagt hätte, ich wäre VIEL ZU VERTRAUT mit Turner und dass die Leute einen FALSCHEN EINDRUCK gewinnen könnten. Sie hat gesagt, sie hätte der alten Scharteke (meine Wortwahl, nicht ihre) erklärt, dass T urner und ich praktisch wie Bruder und Schwester seien und dass es nur normal wäre, wenn er mir bei meinem Debütball zur Sei te stünde, es also keinen FALSCHEN EINDRUCK zu ge winnen gebe. Ich frage mich, ob es in ganz London wohl auch RICH TIGE EINDRÜCKE gibt.
5. KAPITEL Etwa eine Woche später schien die Sonne so strahlend vom Himmel, dass Miranda und Olivia, die den Aufenthalt auf dem Land vermissten, beschlossen, den Vormittag damit zu verbringen, London zu erkunden. Auf Olivias Wunsch hin begannen sie im Einkaufsviertel. „Ich brauche ganz gewiss nicht noch ein Kleid", sagte Miranda, während sie die Straße entlangschlenderten, die Zofen in respektvollem Abstand hinter sich. „Ich auch nicht, aber es macht immer viel Spaß zu bummeln, und außerdem finden wir vielleicht ein Schmuckstück, das du dir von deinem Nadelgeld kaufen könntest. Ehe wir uns versehen, ist dein Geburtstag. Du solltest dir etwas kaufen." „Vielleicht." Sie schlenderten durch Läden voller Kleider, Hüte, Schmuck und Süßigkeiten, bis Miranda etwas gefunden hatte, von dem sie gar nicht gewusst hatte, dass sie es suchte. „Schau dir das an, Olivia", hauchte sie. „Ist das nicht herrlich?" „Was ist herrlich?", erwiderte Olivia und betrachtete das geschmackvoll dekorierte Schaufenster einer Buchhandlung. „Das da." Miranda deutete auf eine erlesen gebundene Ausgabe des Morte D'Arthur von Sir Thomas Malory. Kostbar und wunderschön sah das Buch aus, und Miranda wünschte sich nichts mehr, als den Kopf durch das Fenster zu stecken und den Duft einzuatmen, den das alte Buch verströmte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie etwas entdeckt, was sie einfach haben musste. Zum Teufel mit der Sparsamkeit. Zum Teufel mit der Vernunft. Sie seufzte - ein tiefes, see-
lenvolles, sehnsüchtiges Seufzen - und sagte: „Ich glaube, jetzt endlich verstehe ich, was du immer mit Schuhen hast." „Mit Schuhen?", wiederholte Olivia und sah auf ihre Füße. „Mit Schuhen?" Miranda machte sich nicht die Mühe, es näher zu erklären. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, den Kopf schräg zu halten, um den Goldschnitt zu betrachten, mit dem das Buch geschmückt war. „Wir haben es doch schon gelesen", fuhr Olivia fort. „Ich glaube, vor zwei Jahren, als Miss Lacey als unsere Gouvernante eingestellt wurde. Weißt du nicht mehr? Sie war ganz entsetzt, dass wir es noch nicht durchgenommen hatten." „Es geht nicht ums Lesen", sagte Miranda und drückte sich noch enger an die Scheibe. „Ist das nicht das Schönste, was du je gesehen hast?" Olivia betrachtete ihre Freundin mit zweifelndem Blick. „Ähm ... nein." Miranda schüttelte leise den Kopf und sah zu Olivia auf. „Ich denke, das ist es, was ein Kunstwerk ausmacht. Eine Person gerät deswegen vor Entzücken außer sich, die nächste lässt es vollkommen kalt." „Miranda, es ist nur ein Buch." „Dieses Buch", erklärte Miranda entschieden, „ist ein Kunstwerk." „Es wirkt ziemlich alt." „Ich weiß." Miranda seufzte beglückt. „Hast du vor, es zu kaufen?" „Wenn ich genug Geld habe." „Das hast du bestimmt. Du hast doch seit zwei Jahren nichts von deinem Nadelgeld ausgegeben. Du steckst es immer in die Porzellanvase, die deine Mutter dir vor fünf Jahren zum Geburtstag geschenkt hat." „Vor sechs." Olivia blinzelte. „Sechs was?" „Es war vor sechs Jahren." „Vor fünf Jahren, vor sechs Jahren - was macht das für einen Unterschied?", platzte Olivia heraus, offensichtlich ziemlich aufgebracht über Mirandas Genauigkeit. „Was ich sagen will, du hast eine ganze Menge Geld gespart, und wenn du das
Buch wirklich willst, dann kauf es dir zur Feier deines zwanzigsten Geburtstags. Du kaufst dir ja sonst nie etwas." Miranda wandte sich wieder zu der Versuchung im Schaufenster um. Das Buch ruhte auf einem kleinen Podest und war in der Mitte aufgeschlagen. Eine bunte Illumination zeigte Artus und Guinevere. „Das ist bestimmt teuer", sagte sie zögernd. Olivia versetzte ihr einen kleinen Schubs. „Wenn du nicht reingehst und fragst, wirst du es nie erfahren." „Du hast recht! Ich tue es!" Miranda warf ihr ein Lächeln zu, das zwischen Erregung und Nervosität schwankte, und begab sich in den Laden. Die behagliche Buchhandlung war in dunklen, maskulinen Tönen gehalten, mit strategisch platzierten Ledersesseln, damit interessierte Kunden sich hinsetzen und in aller Ruhe in einem Buch blättern konnten. „Ich sehe den Ladeninhaber nicht", flüsterte Olivia Miranda ins Ohr. „Da drüben." Miranda wies mit dem Kopf auf einen dünnen, kahl werdenden Mann im Alter ihrer Eltern. „Schau, er ist gerade einem Herrn behilflich, ein Buch zu finden. Ich Warle einfach, bis er Zeit für mich hat. Ich will ihm nicht lästig fallen." Die beiden warteten geduldig ein paar Minuten, während der Buchhändler bediente. Hin und wieder warf er ihnen einen finsteren Blick zu, was Miranda ziemlich verblüffte. Sie und Olivia waren vornehm gekleidet und konnten sich die ausgestellten Bücher offensichtlich leisten. Schließlich war er mit dem Kunden fertig und kam auf sie zugeeilt. „Ich habe mich gefragt, Sir begann Miranda. „Das hier ist ein Buchladen für Gentlemen" , eröffnete er ihnen in feindseligem Ton. „Oh." Miranda zuckte zurück, ziemlich abgestoßen von seinem Gebaren. Doch sie wollte den Malory unbedingt, und so schluckte sie ihren Stolz hinunter, lächelte liebreizend und fuhr fort: „Tut mir leid, dessen war ich mir nicht bewusst. Aber ich hatte gehofft, dass ich ..." „Ich sagte, dies ist ein Buchladen für Gentlemen." Seine kleinen Augen glitzerten böse. „Seien Sie so nett und verlassen Sie meinen Laden."
Nett? Sie starrte ihn an. Vor Überraschung war ihr der Mund offen geblieben. Nett? Bei dem Ton? „Komm, Miranda", sagte Olivia und zupfte sie am Ärmel, „wir sollten jetzt gehen." Miranda biss die Zähne zusammen und wich keinen Schritt. „Ich möchte ein Buch kaufen." „Kann ich mir gut vorstellen", höhnte der Buchhändler. „Der Buchladen für Damen ist gerade einmal eine Viertelmeile entfernt." „Der Laden führt aber nicht das, was ich haben will." Er grinste affektiert. „Dann sollten Sie es vielleicht auch nicht lesen." „Ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, sich darüber ein Urteil zu erlauben", erklärte Miranda kalt. „Miranda!", flüsterte Olivia mit weit aufgerissenen Augen. „Einen Moment noch", erwiderte sie, wobei sie den widerwärtigen kleinen Mann nicht aus den Augen ließ. „Sir, ich versichere Ihnen, dass ich über reichlich Bargeld verfüge. Und wenn Sie mir gestatten würden, den Morte d'Arthur in Augenschein zu nehmen, könnte ich mich vielleicht dazu durchringen, es auszugeben." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „An Frauen verkaufe ich keine Bücher." Wirklich, das war einfach zu viel. „Wie bitte?" „Gehen Sie", fauchte er sie an, „sonst lasse ich Sie mit Gewalt hinauswerfen." „Das wäre ein schwerer Fehler, Sir", erwiderte Miranda scharf. „Wissen Sie überhaupt, wer wir sind?" Es war sonst nicht ihre Art, mit ihrer Herkunft aufzutrumpfen, aber wenn es die Umstände erforderten, war sie nicht abgeneigt, es zu tun. Den Buchhändler beeindruckte das wenig. „Das ist mir vollkommen einerlei." „Miranda", bat Olivia. Sie sah äußerst unbehaglich drein. „Ich bin Miss Miranda Cheever, Tochter von Sir Rupert Cheever, und dies", erklärte Miranda energisch, „ist Lady Olivia Bevelstoke, die Tochter des Earl of Rudland. Ich schlage vor, dass Sie Ihr Geschäftsgebaren noch einmal überdenken." Er begegnete ihrem arroganten Blick mit einer nicht min-
der hochnäsigen Miene. „Und wenn Sie die verdammte Prinzessin Charlotte wären: Raus aus meinem Laden!" Miranda kniff die Augen zusammen und wandte sich dann zum Gehen. Es war schon schlimm genug, dass er sie beleidigt hatte. Aber das Andenken der Prinzessin zu beleidigen - das war einfach unerhört. „Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen, Sir." „Hinaus!" Miranda nahm Olivia am Arm, rauschte empört aus dem Buchladen und knallte aus purem Trotz die Tür hinter sich zu. „Ist das zu fassen?", rief sie, als sie draußen waren. „Das war entsetzlich. Kriminell. Es war ..." „Ein Buchladen für Gentlemen", unterbrach Olivia sie und sah sie an, als wäre ihr plötzlich ein zweiter Kopf gewachsen. „Und?" Olivia versteifte sich, als sie den streitsüchtigen Tonfall hörte. „Es gibt Buchläden für Gentlemen, und es gibt Buchladen für Damen. So ist das nun mal." Miranda ballte die Hände zu festen kleinen Fäusten. „Und verdammt dämlich ist das, wenn du mich fragst." „Miranda!" Olivia keuchte hörbar auf. „Was hast du eben gesagt?" Miranda besaß den Anstand, wegen ihrer unfeinen Ausdrucksweise zu erröten. „Hast du gesehen, wie mich dieser Mann aufgebracht hat? Hast du mich je zuvor laut fluchen hören?" „Nein, und ich will, glaube ich, lieber nicht wissen, wie viel du im Stillen fluchst." „Es ist zu dumm", schäumte Miranda. „Absolut dumm. Er hatte etwas, was ich kaufen wollte, ich hatte das Geld, es zu bezahlen. Eigentlich sollte es eine ganz simple Sache sein." Olivia sah die Straße hinunter. „Gehen wir doch einfach in die Buchhandlung für Damen." „Unter normalen Umständen gäbe es nichts, was ich lieber täte. Natürlich würde ich es vorziehen, den Laden dieses grässlichen Kerls nicht zu besuchen. Aber ich bezweifle, dass es dort die gleiche Ausgabe des Morte d'Arthur gibt, Livvy. Ich bin mir sicher, dass dieses Buch einmalig ist. Und schlim-
mer noch Miranda erhob die Stimme, als ihr die ganze Ungerechtigkeit so richtig bewusst wurde, „... schlimmer noch ..." „Es kommt noch schlimmer?" Miranda warf ihr einen ärgerlichen Blick zu, erwiderte aber dennoch: „Ja, allerdings. Das Schlimmste ist, selbst wenn es zwei Ausgaben gäbe, wobei ich mir sicher bin, dass es sie nicht gibt, würde der Buchladen für Damen keine davon führen, denn niemand würde damit rechnen, dass eine Dame nach so einem Buch verlangt." „Nein?" „Nein. Vermutlich gibt es dort nur Byron und Mrs. Radcliffes Romane." „Ich mag Byron und Mrs. Radcliffes Romane", erklärte Olivia leicht beleidigt. „Ich auch", versicherte Miranda ihr, „aber mir gefällt auch andere Literatur. Und ich bin gewiss der Ansicht, dass dieser Mann", zornig deutete sie auf das Schaufenster der Buchhandlung, „mir nicht vorzuschreiben hat, was ich lesen darf." Nachdem sie sie einen Augenblick angestarrt hatte, erkundigte Olivia sich höflich: „Bist du jetzt fertig?" Miranda strich ihre Röcke glatt und rümpfte die Nase. „Ja." Olivia stand mit dem Rücken zum Buchladen und warf einen gequälten Blick über die Schulter, ehe sie Miranda beruhigend die Hand auf den Arm legte. „Wir schicken Vater, damit er es dir kauft. Oder Turner." „Darum geht es nicht. Ich kann nicht fassen, dass du dich nicht genauso aufregst wie ich." Olivia seufzte. „Seit wann bist du so kämpferisch, Miranda? Ich hatte eigentlich immer gedacht, von uns beiden sei ich die Unbeherrschte." Miranda tat allmählich das Kinn weh, weil sie dauernd die Zähne zusammenbiss. „Möglicherweise liegt das daran", stieß sie hervor, „dass ich bisher keinen Grund hatte, mich derart aufzuregen." Olivia zuckte ein wenig zurück. „Erinnere mich daran, dass ich mir Mühe gebe, dich niemals aufzuregen."
„Ich werde das Buch bekommen." „Schön, wir können einfach ..." „Und er wird erfahren, dass ich es bekommen habe." Miranda warf der Buchhandlung einen letzten angriffslustigen Blick zu und marschierte dann Richtung Rudland House davon. „Natürlich kaufe ich das Buch für Sie, Miranda", erklärte Turner leutselig. Er hatte einen ruhigen Nachmittag genossen, die Zeitung gelesen und sich Gedanken über das Leben als ungebundener Gentleman gemacht, als seine Schwester ms Zimmer geplatzt war und verkündet hatte, dass Miranda verzweifelt der Hilfe bedürfe. Eigentlich war alles recht unterhaltsam gewesen, vor allem der tödliche Blick, den Miranda Olivia zugeworfen hatte, als diese das Wort „verzweifelt" benutzt hatte. „Ich will nicht, dass Sie es für mich kaufen", stieß Miranda hervor, „ich will, dass Sie es mit mir kaufen." Turner lehnte sich in seinem bequemen Sessel zurück. „Besteht da ein Unterschied?" „Ein riesiger Unterschied!" „Riesig", bestätigte Olivia, doch sie grinste, und er hatte den Verdacht, dass sie den Unterschied auch nicht sah. Miranda warf ihr einen weiteren finsteren Blick zu, worauf Olivia tatsächlich zurückscheute und ausrief: „Was? Ich unterstütze dich doch!" „Halten Sie es denn nicht für falsch", fuhr Miranda empört mit ihrer Brandrede fort, wobei sie sich wieder an Turner wandte, „dass ich in einem bestimmten Laden nicht einkaufen kann, nur weil ich eine Frau bin?" Er lächelte sie geduldig an. „Miranda, es gibt gewisse Orte, die einer Frau verschlossen bleiben." „Ich fordere ja gar nicht, dass man mich in einen eurer exklusiven Klubs lässt. Ich möchte einfach ein Buch kaufen, daran ist überhaupt nichts Anstößiges. Meine Güte, es handelt sich um eine Antiquität." „Miranda, wenn jenem Herrn der Laden gehört, so ist es seine Entscheidung, wem er etwas verkaufen möchte." Energisch verschränkte sie die Arme vor der Brust. „Nun,
vielleicht sollte man ihm das nicht erlauben. Vielleicht sollte es ein Gesetz geben, das Buchhändlern verbietet, Frauen aus ihren Läden zu verbannen." Ironisch hob er eine Augenbraue. „Sie haben nicht zufällig dieses Traktat von Mary Wollstonecraft gelesen?" „Von welcher Mary?", fragte Miranda zerstreut. „Gut." „Nun wechseln Sie doch bitte nicht das Thema, Turner. Stimmen Sie mir nun zu, dass mir erlaubt sein sollte, das Buch zu kaufen, oder nicht?" Er seufzte, ganz erschöpft von ihrem unerwarteten Starrsinn. Und das wegen eines Buchs. „Miranda, warum sollten Sie zu einer Buchhandlung für Gentlemen Zutritt haben? Sie dürfen ja nicht einmal wählen gehen." Ihr Empörungsschrei war kolossal. „Und das ist noch etwas ..." Schnell hatte Turner erkannt, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte. „Vergessen Sie, dass ich das Frauenwahlrecht erwähnt habe. Bitte. Ich gehe das Buch mit Ihnen kaufen." „Ja?" Ihre braunen Augen leuchteten auf. „Danke." „Wie wäre es mit Freitag? Ich glaube, da habe ich nachmittags noch nichts vor." „Oh, ich möchte auch mitgehen", mischte sich Olivia ein. „Kommt nicht infrage", erklärte Turner fest. „Mit mehr als einer von euch werde ich nicht fertig. Meine Nerven, weißt du." „Deine Nerven?" Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Ihr könnt sie manchmal sehr strapazieren." „Turner!", rief Olivia aus. Sie wandte sich an Miranda. „Miranda!" Doch Mirandas Aufmerksamkeit war noch auf Turner gerichtet. „Könnten wir nicht sofort gehen?", fragte sie. Anscheinend hatte sie die geschwisterliche Kabbelei gar nicht mitbekommen. „Ich will nicht, dass mich der Buchhändler bis dahin vergessen hat." „Wenn ich nach dem gehe, was Olivia von Ihrem Abenteuer erzählt hat", erklärte Turner ironisch, „steht das wohl kaum zu befürchten."
„Könnten wir trotzdem heute gehen? Bitte. Bitte." „Ihnen ist klar, dass Sie betteln?" „Das ist mir egal", erwiderte sie prompt. Er überlegte. „Mir kommt da der Gedanke, dass ich die Sit uation zu meinem Vorteil nutzen könnte." Miranda sah ihn verblüfft an. „Wie meinen Sie das?" „Ach, ich weiß nicht. Man weiß nie, wann man vielleicht mal einen Gefallen einfordern möchte." „Nachdem ich nichts habe, was für Sie möglicherweise interessant sein könnte, schlage ich vor, Sie vergessen Ihre schändlichen Pläne und begleiten mich einfach in die Buchhandlung." „Also schön, gehen wir." Einen Moment lang glaubte er, sie würde einen Freudentanz aufführen. Lieber Himmel. „Es ist nicht weit", erklärte sie. „Wir können zu Fuß gehen." „Bist du sicher, dass ich nicht auch mitkommen kann?", fragte Olivia, die ihnen in die Halle folgte. „Bleib du hier", befahl Turner freundlich, während er Miranda nachsah, wie sie zur Tür stürmte. „Jemand muss ja die Wache rufen, wenn wir nicht zurückkommen." Zehn Minuten später stand Miranda wieder vor dem Buchladen, aus dem sie an diesem Tag hinausgeworfen worden war. „Himmel, Miranda", hörte sie Turner neben sich murmeln, „Sie sehen ein wenig Furcht einflößend aus." „Gut", erwiderte sie knapp und tat einen Schritt nach vorn. Turner legte ihr die Hand auf den Arm, um sie aufzuhalten. „Erlauben Sie, dass ich vorausgehe", schlug er vor. In seinen Augen glitzerte es belustigt. „Bei Ihrem Anblick trifft den armen Mann am Schluss noch der Schlag." Miranda sah ihn finster an, ließ ihm jedoch den Vortritt. Diesmal würde der Buchhändler sie jedenfalls nicht besiegen: Sie war mit einem Herrn von Adel und einer gesunden Portion Wut bewaffnet. Das Buch gehörte ihr schon so gut wie sicher. Ein Glöckchen ertönte, als Turner den Laden betrat. Mi-
randa folgte ihm, so dicht, dass sie ihm beinahe in die Hacken trat. „Darf ich Ihnen behilflich sein, Sir", fragte der Buchhändler, ganz schmeichlerische Höflichkeit. „Ja, ich interessiere mich für ..." Seine Stimme verklang, während er sich im Laden umsah. „Dieses Buch", sagte Miranda entschieden und wies auf die Auslage im Schaufenster. „Ja, genau, das ist es." Turner lächelte den Buchhändler ausdruckslos an. „Sie!", stieß der Buchhändler hervor und lief vor Zorn rot an. „Hinaus! Verlassen Sie meinen Laden!" Er packte Miranda am Arm und versuchte, sie zur Tür zu zerren. „Aufhören! Hören Sie gefälligst auf!" Miranda, die nicht die Absicht hatte, sich von diesem Grobian misshandeln zu lassen, packte ihr Retikül und schlug es ihm über den Schädel. Turner stöhnte auf. „Simmons!", schrie der Buchhändler nach seinem Assistenten. „Holen Sie einen Konstabier. Die junge Dame ist geistesgestört!" „Ich bin nicht im Geringsten geistesgestört, Sie ausgewachsener Ziegenbock!" Turner überlegte, welche Möglichkeiten er hatte. Das konnte kein gutes Ende nehmen. „Ich bin eine zahlende Kundin!", fuhr Miranda erbost fort. „Und ich will den Morte d'Arthur kaufen!" „Eher sterbe ich, als dass ich das Buch in Ihre Hände gebe, Sie ungezogene Dirne!" Dirne? Das war wirklich zu viel für Miranda, eine junge Dame, die weitaus empfindsamer war, als ihr derzeitiges Benehmen vermuten ließ. „Sie widerlicher, ekelhafter Kerl!", zischte sie und hob erneut ihr Retikül. Dirne? Turner seufzte. Eine derartige Beleidigung konnte er wirklich nicht durchgehen lassen. Andererseits konnte er auch nicht erlauben, dass Miranda den armen Mann noch einmal angriff. Er riss ihr das Retikül aus der Hand, worauf sie ihn mit Blicken maß, die hätten töten können. Warnend sah er sie an.
Er räusperte sich und wandte sich an den Buchhändler. „Sir, ich bestehe darauf, dass Sie sich bei der jungen Dame entschuldigen." Trotzig verschränkte der Buchhändler die Arme vor der Brust. Turner blickte zu Miranda. Sie hatte die Arme ganz ähnlich verschränkt. Er schaute zurück zu dem Mann und wiederholte energischer: „Sie werden sich bei der jungen Dame entschuldigen." „Die ist ja eine Gefahr für die Allgemeinheit", erklärte der Buchhändler bösartig. „Was fällt Ihnen ein, Sie ..." Miranda hätte sich auf ihn gestürzt, wenn Turner sie nicht geistesgegenwärtig am Kleid Festgehalten hätte. Der ältere Mann ballte die Fäuste und ging in Kampfstellung, was zu seinem durchgeistigten Äußeren nicht recht passen wollte. „Seien Sie still", zischte Turner sie an. Allmählich keimte in seiner Brust Zorn auf. Der Buchhändler warf Miranda einen triumphierenden Blick zu. „Oh, das war ein Fehler", erklärte Turner. Lieber Himmel, besaß der Mann denn überhaupt keinen Verstand? Miranda sprang vor, was bedeutete, dass Turner ihr Kleid noch fester packen musste, was wiederum bedeutete, dass der Buchhändler noch mehr feixte, und das bedeutete, dass sich die ganze verflixte Farce zu einem handfesten Sturm auswachsen würde, wenn Turner die Sache nicht an Ort und Stelle beendete. Er warf dem Buchhändler seinen eisigsten, aristokratischsten Blick zu. „Entschuldigen Sie sich bei der Dame, sonst sorge ich dafür, dass es Ihnen leidtut." Doch der Buchhändler war offensichtlich vollkommen übergeschnappt, denn er ging nicht auf den Handel ein, den Turner ihm, wie er meinte, so großzügig angeboten hatte. Stattdessen reckte er streitlustig das Kinn vor und verkündete: „Es gibt nichts, weswegen ich mich entschuldigen müsste. Diese Frau hat meinen Laden betreten ..." „Ach, zur Hölle", brummte Turner. Nun war es nicht mehr zu umgehen. „... die Kunden belästigt, mich beleidigt..."
Turner ballte die Hand zur Faust, holte aus und schlug den Buchhändler sauber auf die Nase. „O mein Gott", hauchte Miranda. „Ich glaube, Sie haben ihm die Nase gebrochen." Turner warf ihr einen vernichtenden Blick zu, ehe er auf den am Boden liegenden Buchhändler hinabsah. „Ich glaube nicht. Dazu blutet er nicht genug." „Schade", murmelte Miranda. Turner packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. Das blutrünstige Weib würde sich noch ernsthaft in Schwierigkeiten bringen. „Kein Wort, ehe wir draußen sind." Miranda riss die Augen auf, schloss aber klugerweise den Mund und ließ sich von ihm aus dem Laden ziehen. Als sie draußen am Fenster vorüberkamen, fiel ihr Blick jedoch auf den Morte d'Arthur, und sie platzte heraus: „Mein Buch!" Jetzt reichte es Turner. Abrupt blieb er stehen. „Ich will kein Wort mehr über Ihr verdammtes Buch hören, haben Sie verstanden?" Ihr blieb der Mund offen stehen. „Ist Ihnen eigentlich klar, was eben passiert ist? Ich habe einen Mann niedergeschlagen!" „Aber finden Sie nicht auch, dass er es verdient hatte, niedergeschlagen zu werden?" „Bei Weitem nicht so sehr, wie Sie es verdient hätten, erwürgt zu werden!" Sie zuckte zurück, offensichtlich beleidigt. „Im Gegensatz zu allem, was Sie von mir denken mögen", sagte er beißend, „verbringe ich meine Tage nicht damit, mir zu überlegen, wann und wo ich das nächste Mal auf Gewalt zurückgreifen muss." „Aber ..." „Aber gar nichts, Miranda. Sie haben den Mann beleidigt..." „Er hat mich beleidigt!" „Ich hatte die Sache gut in der Hand", stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Deswegen haben Sie mich doch mitgenommen, damit ich alles regle. Oder nicht?" Miranda setzte eine finstere Miene auf und nickte widerstrebend.
„Was zum Teufel ist mit Ihnen los? Was wäre denn gewesen, wenn der Mann sich nicht so zurückgehalten hätte? Was wäre ..." „Sie finden, er hat sich zurückgehalten?", fragte sie fassungslos. „Mindestens ebenso wie Sie!" Er fasste sie an den Schultern und hätte sie beinahe geschüttelt. „Lieber Himmel, Miranda, Ihnen ist doch klar, dass es jede Menge Männer gibt, die nicht davor zurückschrecken, eine Frau zu schlagen? Oder Schlimmeres", fügte er bedeutsam hinzu. Er wartete auf eine Antwort, doch sie starrte ihn nur mit großen Augen an. Und er hatte das höchst beunruhigende Gefühl, dass sie etwas sah, was ihm verborgen war. Etwas in ihm. Und dann sagte sie: „Es tut mir leid, Turner." „Was denn?", fragte er ungnädig. „Dass Sie inmitten einer ruhigen Buchhandlung eine Szene hingelegt haben? Dass Sie den Mund nicht gehalten haben, als sie still hätten sein sollen? Dass Sie ..." „Dass ich Sie so aufgeregt habe", erwiderte sie ruhig. „Tut mir leid. Das war nicht richtig von mir." Ihre leisen Worte drangen durch seinen Zorn, und er seufzte. „Tun Sie es nur nicht wieder, ja?" „Das verspreche ich." „Gut." Ihm wurde bewusst, dass er sie immer noch an den Schultern festhielt, und er lockerte den Griff. Dann merkte er, dass sie sich ziemlich gut anfühlte. Überrascht ließ er sie ganz los. Sie legte den Kopf schief, und ein besorgter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. „Zumindest glaube ich, dass ich es verspreche. Ich werde jedenfalls versuchen, Sie nicht wieder derart aufzuregen." Turner hatte eine plötzliche Vision, wie Miranda versuchte, ihn nicht aufzuregen. Allein die Vorstellung regte ihn auf. „Was ist bloß über Sie gekommen? Wir sind darauf angewiesen, dass Sie vernünftig bleiben. Sie haben Olivia weiß Gott schon aus mehr als einer brenzligen Situation gerettet." Sie presste die Lippen aufeinander. Dann sagte sie: „Verwechseln Sie Vernunft nicht mit Sanftmut, Turner. Das ist
nicht dasselbe. Sanftmütig bin ich ganz gewiss nicht." Das sollte keine Herausforderung sein, erkannte er. Sie konstatierte einfach eine Tatsache - eine, die seine Familie wohl all die Jahre übersehen hatte. „Keine Angst", sagte er müde, „sollte ich je der Vorstellung gehuldigt haben, Sie seien sanftmütig, dann haben Sie mich heute Nachmittag eines Besseren belehrt." Aber - Himmel, hilf - sie war immer noch nicht fertig. „Wenn ich etwas mitbekomme, was ganz offensichtlich falsch ist", erklärte sie ernsthaft, „kann ich doch nicht danebenstehen und nur zuschauen." Sie würde ihn noch umbringen, dessen war er sich gewiss. „Versuchen Sie einfach, sich von allzu offensichtlichem Unfug fernzuhalten. Könnten Sie das für mich tun?" „Aber ich finde nicht, dass das eben Unfug war. Und ich habe ..." Er hob die Hand. „Genug. Kein Wort mehr zu diesem Thema. Nur darüber zu reden, lässt mich schon um zehn Jahre altern." Er nahm sie am Arm und lenkte sie in Richtung Rudland House. Lieber Himmel, was war nur los mit ihm? Sein Puls raste immer noch, und dabei war sie nicht einmal in Gefahr gewesen. Nicht richtig. Er bezweifelte, dass der Buchhändler einen ordentlichen Schlag hätte landen können. Außerdem, warum zum Teufel machte er sich solche Sorgen um Miranda? Sicher, er mochte sie. Sie war wie eine kleine Schwester für ihn. Aber dann versuchte er, sich die ganze Szene mit Olivia vorzustellen, und alles, was er empfand, war milde Belustigung. Irgendetwas stimmte nicht, wenn Miranda ihn derart in Rage versetzen konnte.
6. KAPITEL „Winston ist gleich da." Mit dieser Ankündigung kam Olivia i n den rosa Salon gerauscht und schenkte Miranda ihr strahlendstes Lächeln. Miranda sah von ihrem Buch auf - einer eselsohrigen und entschieden nüchternen Ausgabe des Morte d'Arthur, die sie aus Lord Rudlands Bibliothek geborgt hatte. „Wirklich?", murmelte sie, obwohl sie genau wusste, dass Winston an diesem Nachmittag erwartet wurde. „Wirklich?", äffte Olivia sie nach. „Ist das alles, was du dazu zu sagen hast? Entschuldige bitte, aber ich stand unter dem Eindruck, dass du in den Jungen verliebt bist - oh, Entschuldigung, inzwischen ist er ja wohl ein Mann." Miranda vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht in ihn verliebt bin." „Das solltest du aber", gab Olivia zurück. „Und du wärst es auch, wenn du dich dazu herablassen würdest, mehr Zeit mit ihm zu verbringen." Mirandas Blick, der bisher entschlossen über die Seite geglitten war, hielt abrupt inne. Sie sah auf. „Entschuldige bitte. Aber er ist doch meist in Oxford?" „Das stimmt schon", sagte Olivia und wischte den Einwand weg, als wären die sechzig Meilen Entfernung bedeutungslos, „aber letzte Woche war er hier, und du hast kaum Zeit mit ihm verbracht." „Das ist nicht wahr", widersprach Miranda. „Wir sind im Hyde Park ausgeritten, haben bei „Gunter's" Eis gegessen, und an dem einen Tag, an dem es richtig warm geworden ist, sind wir sogar mit dem Boot gefahren." Olivia ließ sich in den nächsten Sessel plumpsen und ver-
schränkte die Arme vor der Brust. „Das reicht nicht." „Du bist ja übergeschnappt", meinte Miranda. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder ihrem Buch zu. „Ich weiß, dass du ihn lieben wirst. Du musst nur genügend Zeit in seiner Gesellschaft verbringen." Miranda presste die Lippen aufeinander und hielt den Blick entschlossen ins Buch gerichtet. Dieses Gespräch würde kaum zu etwas Vernünftigem führen. „Er ist nur für zwei Tage hier", meinte Olivia nachdenklich. „Wir müssen rasch arbeiten." Miranda blätterte die Seite um und erklärte: „Du kannst tun, was du möchtest, Olivia, aber ich habe nicht vor, mich an deinen Intrigen zu beteiligen." Dann sah sie erschrocken auf. „Nein, ich habe es mir anders überlegt. Tu nicht, was du willst. Wenn ich die Sache dir überlasse, finde ich mich am Ende bewusstlos in einer Kutsche wieder, unterwegs nach Gretna Green." „Eine faszinierende Idee." „Livvy, keine Kuppelei. Das musst du mir versprechen." Olivias Miene wurde spitzbübisch. „Ich will nichts versprechen, was ich nicht halten kann." „Olivia!"
„Ach, na schön. Aber du kannst Winston nicht aufhalten, wenn er eine Ehe im Sinn haben sollte. Und dem Benehmen nach zu urteilen, das er in letzter Zeit an den Tag legt, könnte das gut möglich sein." „Solange nur du dich nicht einmischst." Olivia schniefte und bemühte sich um eine beleidigte Miene. „Es tut mir weh, dass du von mir so etwas auch nur denken kannst." „Ach, ich bitte dich." Miranda wandte sich wieder ihrem Buch zu, doch es war ihr beinahe unmöglich, sich darauf zu konzentrieren, da sie in Gedanken rückwärts zählte ... zwanzig, neunzehn, achtzehn ...
Länger als zwanzig Sekunden konnte Olivia nicht schweigen. Siebzehn ... sechzehn ...
„Winston würde meinst du nicht?"
einen
wunderbaren
Ehemann
abgeben,
Fünf Sekunden. Das war selbst für Olivias Verhältnisse erstaunlich. „Er ist natürlich noch jung, aber das sind wir ja auch." Miranda ignorierte sie geflissentlich. „Turner wäre auch ein wunderbarer Ehemann gewesen, wenn Leticia ihn nicht verdorben hätte." Hastig hob Miranda den Kopf. „Findest du nicht, dass dies eine recht unfreundliche Bemerkung ist?" Olivia lächelte. „Wusste ich doch, dass du mir zuhörst." „Es ist fast unmöglich, es nicht zu tun", brummte Miranda. „Ich habe nur gesagt..." Olivia hob den Kopf, und ihr Blick wanderte zur Tür hinter Miranda. „Ach, da ist er ja. Was für ein Zufall." „Winston", sagte Miranda fröhlich und drehte sich, um über die Sofalehne zu linsen. Doch es war nicht Winston. „Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muss", erklärte Turner und hob ironisch den Mundwinkel. „Entschuldigung", murmelte Miranda und kam sich unerwartet ziemlich albern vor. „Wir haben gerade von ihm gesprochen." „Von dir haben wir auch gesprochen", informierte Olivia ihn. „Sogar als Letztes, weswegen ich die Bemerkung zu deinem Eintreffen gemacht habe." „Hoffentlich nur Aufregendes." „Ja, natürlich", sagte Olivia. Miranda rang sich ein schmallippiges Lächeln ab, als er ihr gegenüber Platz nahm. Das Kinn kokett in die Hand gelegt, beugte Olivia sich vor. „Ich habe Miranda gerade erzählt, dass du meiner Meinung nach einen schrecklichen Ehemann abgeben würdest." Belustigt lehnte er sich zurück. „Wie wahr." „Aber was ich noch sagen wollte: Mit dem richtigen Training könnte man dich durchaus rehabilitieren." Turner erhob sich. „Ich gehe." „Nein, geh nicht!", rief Olivia lachend. „Ich ziehe dich doch nur auf. Du bist natürlich rettungslos verloren. Aber Winston ... nun, Winston ist wie ein Klumpen Lehm." „Ich werde ihm nicht verraten, dass du das gesagt hast", murmelte Miranda.
„Sag jetzt nicht, dass du mir nicht zustimmst", erklärte Olivia lebhaft. „Er hatte noch keine Zeit, so grässlich zu werden wie die meisten Männer." Turner betrachtete seine Schwester mit offenem Erstaunen. „Wie ist es möglich, dass ich hier sitze und mir anhöre, wie du dich über den richtigen Umgang mit Männern auslässt?" Olivia öffnete schon den Mund, um etwas zu sagen - sicher etwas Kluges und Gewitztes -, doch in diesem Augenblick erschien der Butler in der Tür und rettete sie alle. „Ihre Mutter verlangt nach Ihrer Gesellschaft, Lady Olivia." „Ich komme wieder", warnte Olivia, als sie den Raum verließ. „Ich bin sehr erpicht darauf, diese Unterhaltung zu Ende zu führen." Und damit ging sie hinaus, wobei sie ihnen boshaft zugrinste und mit dem Finger drohte. Turner unterdrückte ein Stöhnen - irgendwann würde seine Schwester noch jemanden umbringen, hoffentlich nicht ihn - und blickte zu Miranda. Sie kuschelte sich auf das Sofa, die Füße untergeschlagen, auf dem Schoß ein großes, staubiges Buch. „Schwere Lektüre?", murmelte er. Sie hielt das Buch hoch. „Oh", sagte er. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. „Lachen Sie nicht." „Das würde mir niemals einfallen." „Lügen sollen Sie auch nicht", erklärte sie, und ihr Mund verzog sich zu jenem gouvernantenhaften Ausdruck, der ihr so gut zu liegen schien. Grinsend lehnte er sich zurück. „Also das kann ich Ihnen nicht versprechen." Einen Augenblick saß sie nur da, wirkte gleichermaßen ernst und streng, und dann änderte sich ihre Miene. Nichts Dramatisches, nichts, was einen beunruhigt hätte, aber es zeigte doch deutlich, dass sie irgendeine innere Debatte mit sich führte. Und dass sie zu einer Entscheidung gekommen war. „Was halten Sie denn von Winston?", fragte sie. „Mein Bruder?" Sie wedelte mit der Hand, als wollte sie sagen: Wer sonst?
„Nun ja", begann er, um auf Zeit zu spielen - wirklich, was erwartete sie denn von ihm? „Er ist mein Bruder." In ihren Augen blitzte es sarkastisch auf. „Was für eine Erkenntnis." „Was genau wollen Sie eigentlich von mir wissen?" „Ich will wissen, was Sie von ihm halten", beharrte sie. Das Herz hämmerte ihm in der Brust, ohne dass er gewusst hätte, warum. „Fragen Sie mich etwa", erkundigte er sich vorsichtig, „ob ich glaube, dass Winston einen guten Ehemann abgäbe?" Sie warf ihm einen ihrer eulenhaften Blicke zu, und dann blinzelte sie, und - wirklich seltsam war das - er hatte fast den Eindruck, als machte sie den Kopf frei, bevor sie im Plauderton sagte: „Es hat wirklich den Anschein, als ob jeder uns zusammenbringen wollte." „Jeder?" „Nun ja, Olivia." „Kaum die Person, die ich in Liebesdingen um Rat fragen würde." „Sie glauben also nicht, dass ich versuchen sollte, Winston zu erobern?", fragte sie und beugte sich vor. Turner blinzelte. Er kannte Miranda, kannte sie seit Jahren, daher war er sich auch sicher, dass sie ihre Haltung nicht deswegen geändert hatte, um ihm ihren überraschend aufreizenden Busen zu präsentieren. Doch darauf lief es hinaus - und es brachte ihn vollkommen durcheinander. „Turner?", murmelte sie. „Er ist zu jung!", platzte er heraus. „Für mich?" „Für jede. Lieber Himmel, er ist doch gerade mal einundzwanzig." „Eigentlich ist er noch zwanzig." „Genau", sagte er unbehaglich und wünschte sich, es gäbe eine Möglichkeit, sein Krawattentuch zu lockern, ohne wie ein Dummkopf auszusehen. Ihm war ziemlich warm geworden, und es fiel ihm immer schwerer, sich auf etwas anderes als Miranda zu konzentrieren, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Sie setzte sich wieder zurück. Gott sei Dank.
Und sie schwieg. Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Haben Sie denn vor, ihn zu erobern?" „Winston?" Sie schien darüber nachzudenken. „Ich weiß nicht." Er schnaubte. „Wenn Sie es nicht wissen, sollten Sie es besser bleiben lassen, so viel steht fest." Sie richtete sich auf und sah ihm direkt in die Augen. „Ist es das, was Sie denken? Sollte die Liebe klar und offensichtlich sein?" „Wer redet denn von Liebe?" Seine Stimme klang ein wenig unfreundlich, was er bedauerte, aber sie verstand doch sicher, dass diese Unterhaltung einfach unmöglich war. „Hm." Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, dass er gewogen und für zu leicht befunden worden war. Ein Eindruck, der noch bestärkt wurde, als sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch in ihrem Schoß zuwandte. Und er saß da wie ein Idiot und sah ihr beim Lesen zu, während er sich den Kopf nach einer schlauen Bemerkung zermarterte. Endlich sah sie auf. Ihre Miene war seltsam gelassen. „Haben Sie Pläne für heute Nachmittag?" „Nein", entgegnete er knapp, obwohl er vorhatte, auf seinem Wallach auszureiten. „Winston wird heute erwartet." „Das weiß ich." „Deswegen haben wir auch vorhin von ihm geredet", erklärte sie, als spielte das eine Rolle. „Er kommt zu meinem Geburtstag." „Ja, natürlich." Wieder beugte sie sich vor, der Himmel möge ihm helfen. „Sie haben es nicht vergessen?", fragte sie. „Morgen Abend gibt es ein Dinner im Familienkreis." „Natürlich erinnere ich mich daran", brummte er, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. „Hmmm", murmelte sie, „danke jedenfalls für Ihre Meinung." „Meine Meinung?" Wovon zum Teufel sprach sie?
„Zu Winston. Es gibt viel zu bedenken, und ich wollte gern wissen, was Sie davon halten." „Nun, jetzt wissen Sie es." „Ja." Sie lächelte. „Darüber bin ich froh, denn ich habe großen Respekt vor Ihnen." Irgendwie brachte sie es fertig, dass er sich wie ein uralter Greis vorkam. „Sie haben großen Respekt vor mir?" Fast angeekelt kamen ihm die Worte über die Lippen. „Nun ja. Dachten Sie, das hätte ich nicht?" „Ehrlich, Miranda, meist habe ich überhaupt keine Ahnung, was in Ihnen vorgeht." „Ich denke an Sie." Sein überraschter Blick traf den ihren. „Und an Winston natürlich. Und an Olivia. Als könnte man mit ihr im selben Haus wohnen und nicht an sie denken." Sie schlug das Buch zu und stand auf. „Ich glaube, ich sollte nach ihr sehen. Sie und Ihre Mutter haben eine Meinungsverschiedenheit über ein paar Kleider, die Olivia ordern möchte, und ich habe versprochen, sie zu unterstützen." Er stand auf und geleitete sie zur Tür. „Olivia oder meine Mutter?" „Na, Ihre Mutter natürlich", erwiderte Miranda lachend. „Ich bin jung, aber ich bin nicht dumm." Und damit verließ sie den Raum. 10. Juni 1819 Diesen Nachmittag merkwürdige Unterhaltung mit Turner geführt. Eigentlich wollte ich nicht versuchen, ihn eifersüchtig zu machen, obwohl man es wohl dahingehend hätte interpretieren können, wenn die anderen wüssten, was ich für ihn empfinde, aber das weiß natürlich keiner. Es war jedoch meine Absicht, gewisse Schuldgefühle in ihm zu wecken, was den Morte d'Arthur angeht. Ich glaube allerdings nicht, dass ich darin erfolgreich war.
Als Turner später an diesem Nachmittag von einem Ausritt im Hyde Park mit seinem Freund Lord Westholme zurückkehrte, traf er Olivia in der Eingangshalle an. „Psst", wisperte sie.
Daraufhin wäre jeder neugierig geworden, und so trat Turner sofort zu ihr. „Warum müssen wir still sein?", fragte er, wobei er sich zu flüstern weigerte. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu. „Weil ich lausche." Turner konnte sich nicht vorstellen, wem sie wohl lauschen sollte, da sie an der Treppe stand, die in den Küchentrakt hinunterführte. Aber dann hörte er es - glockenhelles Gelächter. „Ist das Miranda?", fragte er. Seine Schwester nickte. „Winston ist gerade gekommen, und sie sind nach unten gegangen." „Warum?" Olivia linste um die Ecke und wandte sich dann wieder Turner zu. „Winston hatte Hunger." Turner riss sich die Handschuhe von den Händen. „Und Miranda muss ihn mit Essen versorgen?" „Nein, er ist runtergegangen, um sich bei der Köchin ein paar Butterkekse zu holen. Ich wollte eigentlich zu ihnen hinuntergehen, weil ich es hasse, allein zurückzubleiben, aber jetzt, wo du da bist, darfst du mir Gesellschaft leisten." Turner schaute an ihr vorbei, obwohl er seinen Bruder und Miranda unmöglich sehen konnte. „Ich bin selbst ziemlich hungrig", murmelte er gedankenvoll. „Verkneif es dir", befahl Olivia ihm. „Die beiden brauchen Zeit." „Zum Essen?" Sie rollte mit den Augen. „Um sich ineinander zu verlieben." Es war ziemlich ärgerlich, von der kleinen Schwester einen so verächtlichen Blick zu ernten, und Turner beschloss, dass er, wenn er sie schon nicht ganz ernst nahm, ihr doch wenigstens etwas entgegenkommen könnte. Er sah sie daher verschmitzt an und erwiderte: „Und das wollen sie bei Tee und Keksen an einem einzigen Nachmittag vollbringen?" „Es ist ein Anfang", meinte Olivia. „Ich sehe nicht, dass du irgendetwas tätest, um die beiden zusammenzubringen." Das, dachte Turner mit unerwarteter Überzeugung, lag daran, dass jeder Dummkopf sehen konnte, was für eine schreckliche Mesalliance es wäre. Er liebte Winston von Herzen, schätzte ihn, wie man einen zwanzigjährigen jungen Mann
nur schätzen konnte, aber für Miranda war er eindeutig der Falsche. Es stimmte, dass er sie erst während der letzten Wochen besser kennengelernt hatte, doch selbst er konnte sehen, dass sie weitaus klüger war, als ihr Alter vermuten ließ. Sie brauchte jemanden, der reifer war, älter und besser imstande, ihre feineren Charakterzüge zu würdigen. Und jemanden, der sie im Zaum halten konnte, wenn ihr Temperament einen seiner seltenen Auftritte hatte. Vielleicht könnte Winston dieser Mann sein ... in zehn Jahren. Turner sah seine Schwester an und sagte entschlossen: „Ich brauche etwas zu essen." „Turner, nicht!" Doch Olivia konnte ihn nicht aufhalten. Noch ehe sie den Arm nach ihm ausgestreckt hatte, war er schon halb die Treppe hinunter. Die Bevelstokes hatten schon immer einen relativ ungezwungenen Haushalt geführt, zumindest wenn sie keine Gäste hatten, und so war keiner der Dienstboten überrascht gewesen, als Winston den Kopf zur Küchentür hereingesteckt, die Köchin mit seinem traurigsten Hundeblick erweicht und sich dann mit Miranda an einen Tisch gesetzt hatte, um zu warten, während die Köchin ein paar ihrer berühmten Butterkekse buk. Gerade waren sie vor ihnen auf den Tisch gebracht worden, immer noch dampfend und himmlisch duftend, als Miranda hinter sich einen lauten Knall hörte. Erschrocken drehte sie sich um und entdeckte Turner, der am Fuß der Treppe stand und gleichzeitig verwegen, verlegen und absolut anbetungswürdig aussah. Sie seufzte. Sie konnte es sich nicht verkneifen. „Hab zwei Stufen auf einmal genommen", erklärte er, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, was das zu bedeuten hatte. „Turner", knurrte Winston, zu beschäftigt mit seinem dritten Keks, um seinen Bruder ausführlicher zu begrüßen. „Olivia hat mir erzählt, dass ihr beiden hier unten seid", erklärte Turner. „Da komme ich ja gerade richtig. Ich bin am Verhungern." „Wir haben frisch gebackene Kekse, wenn Sie welche möch-
ten", sagte Miranda und wies auf den Teller vor sich auf dem Tisch. Turner zuckte mit den Schultern und setzte sich zu ihr. „Von Mrs. Cook?" Winston nickte. Turner nahm drei und wandte sich dann mit demselben Hundeblick an Mrs. Cook, den Winston vorher aufgesetzt hatte. „Ach, na schön", brummte die Köchin, welche die Aufmerksamkeit offensichtlich in vollen Zügen genoss. „Ich backe noch ein paar." Gerade in diesem Augenblick tauchte Olivia in der Tür auf. Sie presste die Lippen zusammen und maß ihren älteren Bruder mit finsteren Blicken. „Turner", sagte sie mit ärgerlicher Stimme. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir das neue, ähm, Buch zeigen wollte, das ich bekommen habe." Miranda unterdrückte ein Stöhnen. Sie hatte Olivia doch gebeten, mit der Kuppelei aufzuhören. „Turner", stieß Olivia hervor. Miranda entschied, dass sie, sollte Olivia je nachfragen, antworten würde, sie habe einfach nicht widerstehen können. Sie blickte auf, lächelte süß und fragte: „Welches Buch meinst du denn?" Olivia durchbohrte sie mit Blicken. „Du weißt schon." „Vielleicht das Buch über das Osmanische Reich, oder das über die Trapper in Kanada, oder vielleicht das über die Philosophie von Adam Smith?" „Das über diesen Smith", erwiderte Olivia knapp. „Wirklich?", fragte Winston und betrachtete seine Zwillingsschwester mit neuem Interesse. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass dir so etwas gefällt. Wir haben dieses Jahr Reichtum der Völker von Smith studiert, eine recht interessante Mischung aus Philosophie und Wirtschaftslehre." Olivia lächelte angespannt. „Da bin ich mir sicher. Ich sage dir, was ich davon halte, wenn ich es ausgelesen habe." „Wie weit bist du denn schon?", erkundigte sich Turner. „Ich habe erst ein paar Seiten gelesen." Zumindest glaubte Miranda, dass Olivia das gesagt hatte. Bei all dem Zähneknirschen war es allerdings ein wenig schwer zu verstehen.
„Möchtest du auch einen Keks, Olivia?", fragte Turner, und dann warf er Miranda ein Grinsen zu, als wollte er sagen: Wir beide stecken unter einer Decke. Er sah so charmant aus, so jungenhaft, so ... fröhlich. Und Miranda schmolz dahin. Olivia durchquerte die Küche und setzte sich zu Winston, doch auf dem Weg dorthin beugte sie sich zu Miranda hinunter und zischte ihr ins Ohr: „Ich wollte dir helfen!" Doch Miranda musste sich immer noch von Turners Lächeln erholen. Ihr Magen fühlte sich an, als wäre er gerade zu ihren Füßen niedergesunken, ihr war schwindelig im Kopf, und ihr Herz trommelte eine ganze Symphonie. Entweder war sie verliebt, oder sie hatte sich die Influenza eingefangen. Verstohlen warf sie einen Blick auf Turners markantes Profil und seufzte. Alles deutete auf Liebe hin. „Miranda. Miranda!" Sie blickte zu ihrer Freundin auf, die schon die ganze Zeit ungeduldig ihren Namen rief. „Winston möchte doch wissen, was ich von Reichtum der Völker halte, wenn ich es ausgelesen habe. Ich habe ihm erzählt, dass du es mit mir zusammen liest. Wir können doch sicher noch eine Ausgabe kaufen." „Was? O ja, natürlich, ich lese furchtbar gern." Erst als sie Olivias triumphierendes Grinsen sah, merkte Miranda, worauf sie sich eben eingelassen hatte. „Nun, Miranda", sagte Winston, beugte sich über den Tisch und tätschelte ihr die Hand. „Erzähl doch mal, wie dir die Saison bisher gefallen hat." „Diese Kekse sind einfach köstlich", erklärte Turner laut und griff nach einem. „Entschuldige, Winston, könntest du bitte deinen Arm wegnehmen?" Winston zog die Hand zurück, worauf Turner einen Keks nahm und ihn sich in den Mund steckte. Er grinste breit. „Wie immer wunderbar, Mrs. Cook." „In ein paar Minuten ist die nächste Ladung fertig", versicherte die Köchin ihm. Das Lob ließ sie über das ganze Gesicht strahlen. Miranda wandte sich an Winston: „Es war ziemlich schön.
Ich wünschte nur, dass du öfter hier wärst, um auch daran teilzuhaben." Winston schenkte ihr ein träges Lächeln, bei dem ihr Herz eigentlich einen kleinen Satz hätte machen müssen. „Ich auch", meinte er. „Einen Teil des Sommers bin ich aber da." „Da wirst du nicht viel Zeit für die Damen haben, fürchte ich", mischte sich Turner eifrig ein. „Wenn ich mich recht entsinne, habe ich den Großteil meiner Ferien damit verbracht, mit meinen Freunden zu feiern. Das war immer ein Riesenspaß, das wirst du nicht verpassen wollen." Miranda sah ihn zweifelnd an. Er klang fast ein wenig zu jovial. „Das war bestimmt prima", meinte Winston. „Aber ich möchte auch gern an ein paar Veranstaltungen des ton teilnehmen." „Gute Idee", stimmte Olivia zu. „Da kannst du dir gleich ein bisschen großstädtischen Schliff aneignen." Winston sah etwas beleidigt drein. „Ich habe genügend Schliff, vielen herzlichen Dank." „Natürlich, aber es geht doch nichts über echte Erfahrungen, um einen Mann, ähm, aufzupolieren." Winston errötete. „Ich habe Erfahrung, Olivia." Mirandas Augen weiteten sich. Im selben Moment erhob sich Turner in einer einzigen fließenden Bewegung. „Ich glaube wirklich, das Niveau dieser Unterhaltung ist derart rapide im Sinken begriffen, dass sie für zarte Ohren kaum noch geeignet ist." Winston sah aus, als hätte er gern noch etwas gesagt, doch zum Glück für den Familienfrieden klatschte Olivia in die Hände und rief fröhlich: „Gut gesprochen!" Aber Miranda hätte es besser wissen müssen, als ihr zu vertrauen - zumindest wenn eine Ehestiftung in der Luft lag. Und wie nicht anders zu erwarten war, wurde sie bald mit Olivias verschlagenstem Lächeln bedacht. „Miranda", sagte ihre Freundin trügerisch freundlich. „Ähm, ja?" „Hast du nicht gesagt, du wolltest Winston den Handschuhladen zeigen, den wir letzte Woche entdeckt haben? Dort gibt es erstaunlich fein gearbeitete Handschuhe", fuhr Olivia, an
Winston gewandt, fort. „Für Damen und Herren. Wir dachten uns, dass du vielleicht ein Paar gebrauchen könntest. Wir waren uns nicht sicher, wie gut die Handschuhe sind, die man in Oxford bekommt, weißt du." Es war wirklich zu offensichtlich, und Miranda war sich sicher, dass Olivia sich dessen bewusst war. Sie warf Turner einen verstohlenen Blick zu, der die Vorgänge amüsiert verfolgte. Vielleicht war er auch angewidert. Manchmal konnte man das nicht so genau unterscheiden. „Was meinst du, mein lieber Bruder?", fragte Olivia mit ihrer charmantesten Stimme. „Hast du Lust?" „Ich kann mir nichts denken, was mir größere Freude bereiten würde." Miranda öffnete den Mund, um etwas zu sagen, erkannte dann aber, dass es völlig sinnlos wäre, und schloss ihn wieder. Sie würde Olivia umbringen. Sie würde sich in ihr Schlafzimmer schleichen und das lästige Ding bei lebendigem Leib häuten. Jetzt aber blieb ihr erst einmal nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Sie wollte nichts tun, was bei Winston den Eindruck erweckte, sie hege romantische Gefühle für ihn, aber es wäre äußerst unsensibel, wenn sie sich in seinem Beisein vor dem Ausflug zu drücken versuchte. Als sie daher merkte, wie sich drei Augenpaare erwartungsvoll auf sie richteten, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu sagen: „Wir könnten heute noch gehen. Das wäre wunderbar." „Ich komme auch mit", erklärte Turner entschieden. Überrascht blickte Miranda ihn an, ebenso Olivia und Winston. Zu Hause in Ambleside hatte er nie das geringste Interesse gezeigt, sie auf einem ihrer Ausflüge zu begleiten, und wirklich, warum sollte er auch? Er war neun Jahre älter als sie. „Ich brauche ein Paar Handschuhe", erklärte er schlicht, die Lippen verächtlich geschürzt, als wollte er sagen: Warum sonst sollte ich wohl mitkommen? „Natürlich", erwiderte Winston, der immer noch überrascht blinzelte ob der unerwarteten Aufmerksamkeit seines großen Bruders. „Schön, dass du es vorgeschlagen hast", lobte Turner lebhaft. „Danke, Olivia."
Sie sah nicht so aus, als wollte sie sagen: Gern geschehen. „Wie nett, Sie dabeizuhaben", meinte Miranda, vielleicht eine Spur enthusiastischer, als sie beabsichtigt hatte. „Es stört dich doch nicht, Winston, oder?" „Nein, natürlich nicht." Doch seine Miene verriet, dass er log. Zumindest ein bisschen. „Bist du fertig mit deiner Milch und deinen Keksen, Winston?", erkundigte sich Turner. „Wir sollten aufbrechen. Es sieht aus, als könnte es bald zuziehen." Trotzig nahm Winston noch einen Keks, den größten auf dem Teller. „Wir können eine geschlossene Kutsche nehmen." „Ich hole meinen Mantel", erklärte Miranda und stand auf. „Ihr beide könnt entscheiden, welche Kutsche wir nehmen und so weiter. Wollen wir uns im rosa Salon treffen? In zwanzig Minuten?" „Ich begleite dich nach oben", sagte Winston rasch. „Ich brauche etwas aus meinem Koffer." Die beiden verließen die Küche, worauf Olivia sich sofort auf Turner stürzte. Ihre Miene verhieß nichts Gutes. „Was ist nur los mit dir?" Er sah sie ausdruckslos an. „Wie bitte?" „Da strenge ich mich an bis zum letzten Atemzug, die beiden zusammenzubringen, und du gehst hin und machst alles kaputt." „Sei doch bitte nicht so theatralisch", erwiderte er kopfschüttelnd. „Ich will einfach ein Paar Handschuhe kaufen. Das wird die Hochzeit wohl kaum verhindern können, sollte sie wirklich bevorstehen." Olivia setzte eine finstere Miene auf. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, du bist eifersüchtig." Einen Augenblick konnte Turner sie nur anstarren. Als er dann seine Sinne - und seine Stimme - wiedergefunden hatte, fuhr er sie an: „Nun, du weißt es ja besser. Also unterlasse doch bitte diese grundlosen Anschuldigungen." Mirandas wegen eifersüchtig. Lieber Himmel, was würde ihr als Nächstes einfallen? Olivia verschränkte die Arme vor der Brust. „Nun, du hast dich jedenfalls ziemlich seltsam benommen."
Im Laufe der Jahre war Turner seiner kleinen Schwester auf verschiedene Arten begegnet. Im Allgemeinen hielt er sich an wohlwollende Missachtung. Hin und wieder schlüpfte er in eine eher onkelhafte Rolle und überraschte sie mit Geschenken und Schmeicheleien, wenn es ihm gerade zupass kam. Doch der Altersunterschied verhinderte, dass er sie je als Gleichgestellte behandelte, dass er je anders zu ihr sprach als zu einem Kind. Doch jetzt, wo sie ihm mit solch hanebüchenen Vorwurf en kam, ihm unterstellte, Miranda zu begehren, ausgerechnet Miranda, fuhr er auf sie los, ohne seine Worte zu bedenken, ohne ihre Wucht und die darin ausgedrückten Gefühle abzumildern. Mit harter, beißender Stimme sagte er: „Wenn du nicht nur dein eigenes Bedürfnis vor Augen hättest, Miranda fortan von früh bis spät herumkommandieren zu können, würdest du erkennen, dass sie und Winston überhaupt nicht zusammenpassen." Olivia keuchte ob dieses unerwarteten Angriffs, doch sie erholte sich rasch wieder. „Herumkommandieren?", wiederholte sie zornentbrannt. „Wer ergeht sich hier jetzt in unbegründeten Anschuldigungen? Du weißt ganz genau, dass ich Miranda von Herzen liebe und mir nichts mehr wünsche, als dass sie glücklich wird. Außerdem mangelt es ihr an Schönheit und Vermögen, und ..." „Oh, zum ..." Rasch schloss Turner den Mund, ehe er noch vor seiner Schwester zu fluchen begann. „Du tust ihr Unrecht", fuhr er sie an. Warum sahen die Leute in Miranda immer noch hartnäckig das schlaksige Mädchen, das sie einmal gewesen war? Auch wenn sie, im Gegensatz zu Olivia, dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprach, hatte sie doch etwas weitaus Interessanteres zu bieten. Wenn man sie ansah, erkannte man sofort, dass sie über Verstand und Tiefgang verfügte. Und wenn sie lächelte, wirkte das nicht einstudiert, nicht spöttisch - na gut, spöttisch schon, aber darüber konnte er hinwegsehen, schließlich besaß er genau denselben Sinn für Humor wie sie. Und da sie nun beide die Saison über in London festsaßen, stolperten sie fast zwangsweise über jede Menge Dinge, über die sich trefflich spotten ließ. „Winston wäre eine hervorragende Partie für sie", fuhr Oli-
via empört fort. „Und sie für ihn ..." Sie hielt inne, keuchte auf und schlug sich die Hand vor den Mund. „Ach, was denn nun schon wieder?", fragte Turner enerviert. „Es geht gar nicht um Miranda, habe ich recht? Sondern um Winston. Du findest, sie ist nicht gut genug für ihn." „Nein", erwiderte er prompt und in merkwürdigem, fast entrüstetem Ton. „Nein", wiederholte er, diesmal etwas moderater. „Nichts könnte der Wahrheit ferner liegen. Die beiden sind einfach zu jung. Vor allem Winston." Daran nahm Olivia sofort Anstoß. „Das stimmt nicht, wir ..." „Er ist zu jung", unterbrach er sie kalt, „und du brauchst nicht weiter zu schauen als bis zu diesem Raum, um zu sehen, warum ein Mann nicht zu jung heiraten sollte." Erst verstand sie nicht, was er meinte. Turner erkannte genau, wann sie begriff, und dann sah er das Mitleid. Und er hasste das Mitleid. „Tut mir leid", platzte Olivia heraus - drei Worte, die ihn noch mehr aufregten. Und dann sagte sie es noch einmal: „Tut mir leid." Und lief davon. Miranda wartete schon einige Zeit im rosa Salon, als eine Zofe erschien und sagte: „Bitte um Verzeihung, Miss, aber Lady Olivia hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass sie nicht kommt." Miranda setzte die Porzellanfigur ab, die sie betrachtet hatte, und sah die Zofe überrascht an. „Geht es ihr nicht gut?" Die Zofe schien zu zögern, und da Miranda sie nicht in eine schwierige Lage bringen wollte, sagte sie nur: „Ach, egal, ich frage sie selbst." Die Zofe knickste, und Miranda drehte sich zu dem Tischchen neben ihr, um sich zu vergewissern, dass sie die Porzellanfigur richtig hingestellt hatte. Mit einem letzten Blick zurück - Lady Rudland war äußerst genau, was ihre Nippes betraf - ging sie Richtung Tür. Und stieß mit einem großen, männlichen Körper zusammen.
Turner. Sie wusste es, noch bevor er etwas sagte. Es hätte auch Winston oder ein Lakai sein können, oder auch - Himmel, wie peinlich das gewesen wäre! - Lord Rudland, aber es war Turner. Sie wusste, wie er roch. Sie wusste, wie sich sein Atem anhörte. Sie wusste, wie sich die Luft anfühlte, wenn sie in seiner Nähe war. Und in diesem Augenblick wusste sie auch, dass es Liebe war, jetzt und für immer. Es war Liebe, die Liebe, die eine Frau für einen Mann empfand. Das junge Mädchen, das ihn für einen Ritter in schimmernder Rüstung gehalten hatte, war verschwunden. Sie war jetzt eine Frau. Sie kannte seine Makel, seine Fehler, und trotzdem liebte sie ihn. Sie liebte ihn, sie wollte ihn heilen, sie wollte ... Sie wusste nicht, was sie wollte. Sie wollte alles. Alles und das Ganze. Sie ... „Miranda?" Seine Hände ruhten noch auf ihren Armen. Sie sah auf, obwohl sie wusste, dass es fast unerträglich wäre, dem Blau seiner Augen zu begegnen. Sie wusste, was sie darin nicht finden würde. Und sie fand es auch nicht. Keine Liebe, keine Offenbarung. Aber er sah irgendwie seltsam aus, anders. Und ihr war heiß. „Tut mir leid", stammelte sie und entzog sich ihm. „Ich sollte besser aufpassen." Aber er gab sie nicht frei. Nicht gleich. Er sah sie an, sah auf ihren Mund, und Miranda dachte eine herrliche, selige Sekunde lang, dass er sie vielleicht küssen wollte. Sie hielt den Atem an, öffnete die Lippen, und ... Und dann war es vorüber. Er trat zurück. „Bitte um Entschuldigung", sagte er beinahe völlig ausdruckslos. „Auch ich sollte besser aufpassen." „Ich wollte zu Olivia", erklärte sie, hauptsächlich deswegen, weil sie nicht wusste, was sie sonst hätte sagen sollen. „Sie hat ausrichten lassen, dass sie nicht mitkommt." Seine Miene wandelte sich - und sie erkannte, dass er wusste, was los war.
„Lassen Sie nur", sagte er. „Ihr geht es gut." „Aber ..." „Lassen Sie Olivia doch nur ein Mal selbst mit ihren Problemen fertig werden!" Miranda öffnete den Mund, überrascht von seinem scharfen Ton. Doch ihr blieb eine Antwort erspart, da in diesem Augenblick Winston eintrat. „Seid ihr fertig?", erkundigte er sich freundlich, vollkommen unempfänglich für die Spannung im Raum. „Wo ist Olivia?" „Sie kommt nicht mit", erwiderten Miranda und Turner im Chor. Winston sah von einem zum anderen, leicht verwirrt von der einstimmigen Antwort. „Warum denn nicht?" „Es geht ihr nicht gut", schwindelte Miranda. „Das ist bedauerlich", versetzte Winston, wobei er nicht sonderlich betrübt klang. Er bot Miranda den Arm. „Wollen wir?" Miranda sah zu Turner. „Wollen Sie immer noch mit?" „Nein." Für diese Antwort brauchte er nicht einmal nachzudenken. 11. Juni 1819 Mein Geburtstag heute - herrlich und seltsam zugleich. Die Bevelstokes haben mir zu Ehren ein Essen im Familienkreis veranstaltet. Es war so lieb und freundlich von ihnen, vor allem, weil mein eigener Vater höchstwahrscheinlich völlig vergessen hat, dass heute nicht nur deswegen ein besonderer Tag ist, weil irgendein griechischer Gelehrter an diesem Tag irgendeine spezielle mathematische Berechnung angestellt hat oder irgendetwas ähnlich brennend Wichtiges geschehen ist. Von Lord und Lady Rudland habe ich bekommen: ein Paar wunderschöne Aquamarin-Ohrringe. So ein teures Geschenk sollte ich ja eigentlich nicht annehmen, ich weiß, aber bei Tisch wollte ich kein großes Theater machen, und ich habe ja gesagt (wenn auch ohne echte Überzeugung): „Ich kann doch nicht..." und wurde entschieden zum Schweigen gebracht.
Von Winston: ein Sortiment wunderhübscher Spitzentaschentücher. Von Olivia: Briefpapier mit meinem Namen. Sie hat eine kleine Nachricht dazugelegt mit dem Vermerk „Nur für Deine Augen". Darin stand: „Ich hoffe, Du wirst dies nicht mehr lange benutzen!" Was natürlich bedeutet, sie hofft, dass mein Name bald Bevelstoke lautet. Ich habe mich nicht dazu geäußert. Und von Turner eine Flasche Parfüm. Veilchen. Ich musste sofort an das veilchenblaue Band denken, das er mir ins Haar gesteckt hat, als ich zehn war, aber natürlich würde er sich an dergleichen nicht erinnern. Ich habe es nicht erwähnt; es wäre mir peinlich gewesen, als so sentimental dazustehen. Aber ich fand, dass es ein herrliches, reizendes Geschenk war. Ich kann nicht einschlafen. Zehn Minuten sind vergangen, seit ich den letzten Satz geschrieben habe, aber obwohl ich dauernd gähne, werden mir die Lider überhaupt nicht schwer. Ich glaube, ich gehe hinunter in die Küche und schaue mal, ob ich ein Glas warme Milch auftreiben kann. Vielleicht gehe ich auch lieber nicht hinunter. Jetzt ist sicher niemand mehr da, der mir helfen könnte, und auch wenn ich ohne Weiteres in der Lage bin, mir etwas Milch zu wärmen, wird die Köchin sich vermutlich furchtbar aufregen, wenn sie sieht, dass jemand ohne ihr Wissen einen ihrer Töpfe verwendet hat. Und vor allem: Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt. Wenn ich will, darf ich auch ein Glas Sherry trinken, um besser einschlafen zu können. Ich glaube, das mache ich.
7. KAPITEL Turner hatte bereits eine Kerze abgebrannt und drei Gläser Brandy getrunken und saß nun im Arbeitszimmer seines Vaters im Dunkeln, starrte aus dem Fenster und hörte zu, wie die Blätter eines nahen Baumes im Wind raschelten und gegen die Scheibe schlugen. Das war vielleicht langweilig, aber Langeweile kam ihm im Moment gerade recht. Noch immer drehten sich seine Gedanken um die Ereignisse des Vortages. Zuerst Olivia, die ihn beschuldigte, Miranda zu begehren. Und dann Miranda, und er hatte ... Lieber Himmel, er hatte sie begehrt. Er wusste noch genau, in welchem Moment er das erkannt hatte. Nicht, als sie in ihn hineingelaufen war. Auch nicht, als er sie an den Oberarmen festgehalten hatte, damit sie nicht fiel. Sie hatte sich angenehm angefühlt, aber sonst war ihm nichts weiter aufgefallen. Das war es nicht gewesen. Der Moment ... der Augenblick, der sich möglicherweise noch als sein Ruin erweisen würde, war einen Wimpernschlag später gekommen, als sie aufgesehen hatte. Ihre Augen waren es gewesen. Es waren schon immer ihre Augen. Er war nur zu dumm gewesen, es zu erkennen. Und als sie da so standen, eine halbe Ewigkeit lang, spürte er, wie er sich verwandelte. Er spürte, wie sich sein Körper zusammenzog, wie er beinahe aufhörte zu atmen, wie sich seine Finger anspannten - und dann wurden ihre Augen noch größer. Und er wollte sie. Sein Begehren überraschte ihn, so stark war es, und es war weder anständig noch gut. Er wollte sie. Dieses Begehren erfüllte ihn selbst mit Abscheu.
Er liebte sie nicht. Er konnte sie nicht lieben. Er war sich ganz sicher, dass er niemanden mehr lieben konnte, nicht nach den Verwüstungen, die Leticia in seinem Herzen angerichtet hatte. Es war schlicht und einfach Lust, was er empfand - und das für die vermutlich unpassendste Frau in ganz England. Er goss sich noch einen Brandy ein. Es hieß ja, was einen nicht umbringe, mache einen stark, aber das ... Das hier würde ihn umbringen. Und während er so dasaß und über all seine Schwächen nachsann, sah er sie. Es war eine Prüfung. Etwas anderes konnte es gar nicht sein. Irgendwo war irgendjemand fest entschlossen, seine Standfestigkeit als Gentleman zu prüfen, und er würde den Test nicht bestehen. Er würde sich bemühen, er würde sich so lange zurückhalten, wie er konnte, aber tief im Innersten, in einem Winkel seines Herzens, den er nicht gern genauer unter die Lupe nahm, wusste er Bescheid. Er würde versagen. Wie ein Geist kam sie herein, leuchtete fast in ihrem weißen, bauschigen Nachtgewand. Vermutlich war es aus schlichter Baumwolle, züchtig, schicklich und absolut jungfräulich. Und schon verzehrte er sich nach ihr. Er packte die Armlehnen des Sessels und hielt sich mit aller Macht daran fest. Als sie Lord Rudlands Arbeitszimmer betrat, fühlte Miranda sich ein wenig unruhig, aber im rosa Salon hatte sie nicht gefunden, wonach sie suchte, und sie wusste, dass auf einem Regal an der Tür eine Karaffe stand. Sie könnte das Ganze in weniger als einer Minute hinter sich bringen - und die paar Sekunden zählten doch sicher nicht als Eindringen in die Privatsphäre. „Und wo sind jetzt die Gläser?", murmelte sie und stellte die Kerze auf dem Tisch ab. „Ach, hier." Sie nahm die Karaffe mit Sherry und goss sich ein Gläschen ein. „Hoffentlich machen Sie sich das nicht zur Gewohnheit", ertönte eine schleppende Stimme. Das Glas rutschte ihr aus den Fingern und landete mit lautem Krachen auf dem Boden.
„Tss, tss, tss." Sie folgte dem Klang der Stimme, bis sie ihn sah. Er saß in einem Ohrensessel, die Hände irgendwie merkwürdig um die Armlehnen geklammert. Es war düster im Zimmer, doch den Ausdruck auf seinem Gesicht konnte sie auch im Dämmerlicht erkennen: bitter und trocken. „Turner?", flüsterte sie etwas albern, als bestünde auch nur die geringste Möglichkeit, dass es sich um jemand anderen handelte. „Genau der." „Aber was machen Sie ... warum sind Sie hier?" Sie trat einen Schritt vor. „Autsch!" Eine Scherbe hatte sich in ihren Fußballen gebohrt. „Sie dummes Ding. Barfuß hier runterzukommen." Er erhob sich und kam durch den Raum. „Ich hatte ja nicht vor, ein Glas zu zerbrechen", verteidigte sich Miranda. Sie beugte sich hinunter und zog sich den Splitter aus dem Fuß. „Das spielt keine Rolle. Sie holen sich noch den Tod, wenn Sie so in der Kälte herumlaufen." Er hob sie auf die Arme und trug sie weg von den Glasscherben. Miranda dachte bei sich, dass sie dem Paradies in ihrem kurzen Leben noch nie so nahe gewesen war wie in diesem Augenblick. Sein Körper war warm, sie spürte die Hitze durch ihr Nachthemd. Ihre Haut prickelte, und ihr Atem ging auf einmal in ein merkwürdiges leises Keuchen über. Es war sein Geruch. Das musste es sein. Nie zuvor war sie ihm so nahe gewesen, nie so nahe, um seinen einzigartigen männlichen Duft wahrzunehmen. Er roch nach warmem Holz und nach Brandy, und nach etwas, was sie nicht genau benennen konnte. Etwas, was einfach Turner war. Sie schlang die Arme um seinen Hals, um sich festzuhalten, und senkte den Kopf auf seine Brust, um noch einmal seinen Geruch einzuatmen. Und dann, gerade als sie zu der Überzeugung gelangt war, dass das Leben nicht vollkommener werden konnte, ließ er sie ohne Umschweife aufs Sofa plumpsen. „Was sollte das denn?", fragte sie und setzte sich mühsam aufrecht hin. „Was machen Sie hier?"
„Was machen Sie denn hier?" Er setzte sich ihr gegenüber auf einen niedrigen Tisch. „Ich habe zuerst gefragt." „Wir klingen ja wie kleine Kinder", erklärte sie und schlug die Beine unter. Doch sie gab ihm trotzdem eine Antwort auf seine Frage. Es kam ihr albern vor, über dergleichen herumzustreifen. „Ich konnte nicht schlafen. Ich dachte, ein Glas Sherry wäre jetzt vielleicht genau das Richtige." „Weil Sie nun das reife Alter von zwanzig Jahren erreicht haben?", fragte er spöttisch. Doch sie biss nicht an, neigte nur anmutig den Kopf, als wollte sie sagen: Genau. Darüber musste er schmunzeln. „Dann gestatten Sie, dass ich Sie in Ihrem Niedergang unterstütze." Er stand auf und ging zu einem Schränkchen. „Aber wenn Sie schon trinken wollen, dann tun Sie es gefälligst ordentlich. Sie brauchen Brandy, vorzugsweise Schmuggelware aus Frankreich." Miranda sah zu, wie er zwei Schwenker von einem Regalbrett nahm und auf den Tisch stellte. Seine Hände waren ruhig - konnten Hände schön sein? -, als er die zwei Gläser großzügig füllte. „Als ich noch klein war, hat mir meine Mutter manchmal Brandy gegeben. Wenn ich im Regen nass geworden bin", erklärte sie. „Nur ein Schlückchen, um mich aufzuwärmen." Er wandte sich zu ihr um. Selbst im Dunkeln war sein Blick durchdringend. „Ist Ihnen jetzt kalt?" „Nein. Warum?" „Sie zittern." Miranda sah auf ihren verräterischen Arm. Sie zitterte tatsächlich, aber es lag nicht an der Kälte. Hastig schlang sie die Arme um sich und hoffte, Turner würde die Sache nicht weiter verfolgen. Mit geschmeidiger, maskuliner Anmut ging er durch den Raum zurück und reichte ihr den Brandy. „Trinken Sie nicht alles auf einmal." Wegen seines herablassenden Tons warf sie ihm einen äußerst verärgerten Blick zu und nahm dann einen Schluck. „Warum sind Sie hier?", fragte sie.
Er setzte sich ihr gegenüber hin und stützte lässig einen Knöchel auf dem Knie des anderen Beines ab. „Ich hatte mit meinem Vater ein paar Gutsangelegenheiten zu besprechen, und er hat mich nach dem Abendessen auf einen Drink mit hereingebeten. Ich bin nicht wieder gegangen." „Und seither sitzen Sie hier ganz allein in der Dunkelheit?" „Ich mag die Dunkelheit." „Niemand mag die Dunkelheit." Darauf lachte er laut auf, und sie fühlte sich schrecklich jung und unerfahren. „Ach, Miranda", sagte er, immer noch lachend. „Sie sind köstlich." Sie sah ihn scharf an. „Wie viel haben Sie getrunken?" „Eine impertinente Frage." „Aha, dann haben Sie also zu viel getrunken." Er beugte sich vor. „Mache ich auf Sie den Eindruck, als wäre ich betrunken?" Unwillkürlich zuckte sie zurück; sie war nicht auf seinen durchdringenden Blick gefasst gewesen. „Nein", erwiderte sie langsam. „Aber Sie sind weitaus erfahrener als ich, und ich könnte mir denken, dass Sie nicht so schnell betrunken wirken. Wahrscheinlich könnten Sie acht Mal so viel trinken wie ich, und man würde es Ihnen trotzdem nicht anmerken." Turner lachte harsch. „Wie wahr, alles. Und Sie, mein liebes Mädchen, sollten sich von Männern fernhalten, die ,weitaus erfahrener' sind als Sie." Miranda nahm noch einen Schluck und widerstand dabei gerade noch der Versuchung, das Glas auf einmal hinunterzustürzen. Denn dann würde der Brandy brennen, sie würde husten müssen, und er würde sie auslachen. Und dann würde sie vor lauter Scham im Erdboden versinken wollen. Er war schon den ganzen Abend übel gelaunt gewesen. Wenn sie allein waren, gab er sich verletzend und spöttisch, wenn jemand dabei war, schweigend und mürrisch. Sie verdammte ihr verräterisches Herz, dass es ihn so liebte; es wäre weitaus einfacher, Winston anzubeten, dessen Lächeln freundlich und
offen war und der sie den ganzen Abend liebevoll umsorgt hatte. Aber nein, sie wollte Turner. Turner, dessen launisches Naturell dafür sorgte, dass er im einen Moment mit ihr lachte und scherzte und sie im nächsten wie etwas Giftiges behandelte. Die Liebe war nur etwas für Dummköpfe. Und sie war der größte Dummkopf von allen. „Woran denken Sie?", wollte er wissen. Widerborstig antwortete sie: „An Ihren Bruder." Ein bisschen stimmte es ja sogar. „Ah", sagte er und goss sich Brandy nach. „Winston. Netter Kerl." „Ja", antwortete sie. Beinahe trotzig. „Fein." „Reizend." „Jung."
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich bin auch jung. Vielleicht passen wir doch gut zusammen." Er schwieg, während sie ihr Glas austrank. „Finden Sie nicht?" Er schwieg immer noch. „Sagen Sie doch etwas", bedrängte sie ihn. „Er ist Ihr Bruder. Sie wollen doch, dass er glücklich ist, nicht? Meinen Sie, ich wäre die Richtige für ihn? Glauben Sie, dass ich ihn glücklich machen würde?" „Warum fragen Sie mich das?" Seine Stimme war leise, in der Dunkelheit beinahe körperlos. Sie zuckte mit den Schultern und steckte dann den Finger ins Glas, um die letzten Tropfen aufzutupfen. Dann leckte sie den Finger ab und sah auf. „Stets zu Diensten", murmelte er und schenkte ihr zwei Fingerbreit Brandy in den Schwenker. Miranda dankte ihm mit einem Nicken und beantwortete dann seine Frage. „Ich will es eben wissen", sagte sie einfach, „und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen sollte. Olivia ist so erpicht darauf, mich mit Winston zu verheiraten, sie würde das sagen, von dem sie glaubt, dass es mich am schnellsten vor den Traualtar bringt."
Sie wartete, zählte die Sekunden, bis er etwas sagte. Eins, zwei, drei ... und dann atmete er tief durch. Es klang beinahe wie eine Kapitulation. „Ich weiß nicht, Miranda." Er klang müde und erschöpft. „Ich wüsste nicht, warum Sie ihn nicht glücklich machen sollten. Sie würden jeden glücklich machen." Selbst dich? Miranda sehnte sich danach, es auszusprechen, doch stattdessen fragte sie nur: „Glauben Sie, dass er mich glücklich machen würde?" Diesmal brauchte er noch länger für die Antwort. Schließlich erklärte er langsamen und gemessenen Tons: „Ich bin mir nicht sicher." „Warum nicht? Was fehlt ihm denn?" „Gar nichts. Ich weiß nur nicht sicher, ob er Sie glücklich machen würde." „Aber warum?" Sie war impertinent, das wusste sie, aber wenn sie ihn dazu bringen könnte, ihr zu sagen, warum Winston sie möglicherweise nicht glücklich machte, würde Turner vielleicht erkennen, warum er sehr wohl dazu in der Lage war. „Ich weiß nicht, Miranda." Er fuhr sich durch die goldblonden Haare, bis sie ihm wild um den Kopf standen. „Muss dieses Gespräch unbedingt sein?" „Ja", sagte sie gespannt. „Ja." „Also schön." Er beugte sich vor, die Augen zusammengekniffen, als wollte er sie auf unangenehme Neuigkeiten gefasst machen. „Sie entsprechen nicht dem momentan geltenden Schönheitsideal der Gesellschaft, Sie sind viel zu sarkastisch, und Sie machen sich nichts aus höflicher Konversation. Wirklich, Miranda, ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich eine typische Gesellschaftsehe wünschen." Sie schluckte, „Und?" Einen langen Augenblick schaute er in die andere Richtung, ehe er sie schließlich wieder ansah. „Und die meisten Männer wüssten Sie nicht zu würdigen. Wenn Ihr Ehemann versuchte, etwas aus Ihnen zu machen, was Sie nicht sind, würden Sie furchtbar unglücklich werden." In der Luft lag eine fast fühlbare Spannung; Miranda konnte den Blick nicht von Turner wenden. „Und glauben Sie, dass
es irgendwo jemanden geben könnte, der mich zu würdigen weiß?", wisperte sie. Schwer hing die Frage zwischen ihnen, hypnotisierte sie förmlich, bis Turner endlich sagte: „Ja." Doch dann senkte er die Augen auf sein Glas und trank den letzten Schluck Brandy, und sein Seufzen klang wie von einem Mann, der seinen Drink genossen hatte, nicht wie von einem Mann, der über Liebe und Romantik nachsann. Sie wandte den Blick ab. Der Moment - wenn er überhaupt existiert hatte, wenn er nicht einfach nur ein Fantasiegebilde ihrerseits gewesen war - war vorüber, und das Schweigen, das zurückblieb, war nicht tröstlich. Es war unbehaglich und verlegen, sie fühlte sich unbehaglich und verlegen. Um den leeren Raum zwischen sich zu füllen, platzte sie mit der erstbesten Bemerkung heraus, die ihr einfiel. „Gehen Sie nächste Woche auf den Ball der Worthingtons?" Er blickte auf und hob angesichts dieser unerwarteten Frage die Augenbrauen. „Vielleicht." „Ach, bitte. Sie sind immer so nett, zweimal mit mir zu tanzen. Sonst würde es mir leider an Partnern mangeln." Sie redete wirr daher, aber das war ihr ziemlich gleichgültig. Aufhören hätte sie ohnehin nicht können. „Wenn Winston kommen würde, brauchte ich Sie nicht, aber soweit ich weiß, muss er an diesem Morgen nach Oxford zurück." Turner warf ihr einen seltsamen Blick zu. Es war nicht direkt ein Lächeln, Spott war es auch nicht, nicht einmal Ironie. Miranda hasste es, wenn er so undurchdringlich war, sie hatte dann keinen Anhaltspunkt, wie sie sich verhalten sollte. Doch sie machte trotzdem weiter. Was hatte sie jetzt noch groß zu verlieren? „Werden Sie kommen?", fragte sie. „Ich würde mich so darüber freuen." Er betrachtete sie einen Augenblick und versprach dann: „Ich werde da sein." „Danke. Das weiß ich wirklich zu schätzen." „Es freut mich, Ihnen von Nutzen sein zu können", erwiderte er trocken. Sie nickte, eine Bewegung, die mehr auf ihre innere Unruhe
zurückzuführen war als auf irgendetwas anderes. „Sie brauchen auch nur einmal mit mir zu tanzen, wenn Sie nicht öfter können. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das gleich zu Anfang tun würden. Die anderen Männer richten sich ja anscheinend immer nach Ihnen." „So merkwürdig einem das vorkommen mag", murmelte er. „Ach, merkwürdig finde ich es nicht", erwiderte sie und zuckte mit einer Schulter. Allmählich begann sie die Auswirkungen des Brandys zu spüren. Noch war sie nicht beschwipst, aber ihr war warm, und sie fühlte sich ein wenig draufgängerisch. „Sie sind recht gut aussehend." Er schien nicht zu wissen, was er darauf erwidern sollte. Miranda beglückwünschte sich, schließlich gelang es ihr nicht oft, ihn aus der Fassung zu bringen. Das Gefühl war berauschend, daher nahm sie noch einen Schluck Brandy, ließ ihn diesmal langsamer die Kehle hinabgleiten und sagte: „Sie sind Winston ziemlich ähnlich." „Wie bitte?" Seine Stimme war scharf, was sie sich vermutlich als Warnung hätte dienen lassen sollen, doch irgendwie kam sie nicht mehr heraus aus der Grube, die sie sich eben selbst grub. „Nun, ihr habt beide blaue Augen und blondes Haar, obwohl seines eine Spur heller ist. Und ihr habt dieselbe Haltung, obwohl ..." „Es reicht, Miranda." „Oh, aber ..." „Ich sagte, es reicht." Als sie den beißenden Ton hörte, verstummte sie erst einmal. Nach einem Augenblick murmelte sie: „Kein Grund, wütend zu werden." „Sie haben zu viel getrunken." „Seien Sie nicht albern. Ich bin nicht im Geringsten betrunken. Sie haben doch mindestens zehnmal so viel getrunken wie ich." Der Blick unter seinen halb gesenkten Augenlidern war undefinierbar. „Das stimmt nicht ganz, aber wie Sie vorhin schon sagten, habe ich viel mehr Erfahrung als Sie." „Das habe ich gesagt, nicht wahr? Ich glaube, ich hatte
recht. Ich glaube nicht, dass Sie überhaupt betrunken sind." Er neigte den Kopf und meinte leise: „Betrunken nicht. Höchstens eine Spur unbesonnen." „Ach ja, unbesonnen?", murmelte sie und kostete das Wort auf der Zunge aus. „Was für eine interessante Beschreibung. Ich glaube, ich bin auch unbesonnen." „Für Sie gilt das sicher, sonst wären Sie sofort wieder hinaufgegangen, als Sie mich gesehen haben." „Und ich hätte Sie nicht mit Winston verglichen." Seine Augen blitzten auf. „Allerdings nicht." „Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?" Darauf trat ein langes, tiefes Schweigen ein, und Miranda glaubte schon, sie sei zu weit gegangen. Wie hatte sie nur so dumm und eingebildet sein können zu glauben, er könnte sie begehrenswert finden? Warum um alles in der Welt sollte es ihn interessieren, ob sie ihn mit seinem kleinen Bruder verglich? Für ihn war sie nichts weiter als ein Kind, das unansehnliche kleine Mädchen, zu dem er nett gewesen war, weil es ihm leid getan hatte. Sie hätte nie davon träumen dürfen, dass er sich eines Tages in sie verlieben könnte. „Verzeihen Sie", stieß sie hervor und stand hastig auf. „Ich bin zu weit gegangen." Und weil noch Brandy in ihrem Glas war, trank sie ihn schnell aus und stürzte dann zur Tür. „Aaah!" „Was zum Teufel?" Turner sprang auf. „Ich habe vergessen, dass da noch ein Glas liegt", wimmerte sie. „Die Scherben." „Ach du liebe Güte. Miranda, nun weinen Sie nicht." Er ging rasch zu ihr und hob sie hoch, zum zweiten Mal an diesem Abend. „Ich bin so dämlich. So verdammt dämlich", erklärte sie schniefend. Die Tränen galten allerdings eher ihrer verletzten Würde als ihrem schmerzenden Fuß, deswegen waren sie auch schwerer zu unterdrücken. „Fluchen Sie nicht. Ich habe Sie noch nie fluchen hören. Wenn Sie nicht aufhören, muss ich Ihnen den Mund mit Seife auswaschen", neckte er und trug sie zurück zum Sofa. Sein sanfter Ton berührte sie weitaus mehr, als strenge Worte es vermocht hätten, und so atmete sie ein paar Mal tief
durch, um die Schluchzer zu unterdrücken, die ihr noch in der Kehle saßen. Sanft ließ er sie auf das Sofa gleiten. „Erlauben Sie, dass ich mir den Fuß mal ansehe?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich kümmere mich schon darum." „Seien Sie nicht albern. Sie zittern ja wie Espenlaub." Er ging zum Schränkchen und nahm die Kerze auf, die sie vorhin dort abgestellt hatte. Sie sah zu, wie er zu ihr zurückkam und die Kerze auf einem Tischchen abstellte. „Hier, jetzt haben wir ein wenig Licht. Lassen Sie mich den Fuß mal sehen." Widerstrebend ließ sie zu, dass er ihren Fuß nahm und in seinen Schoß legte. „Ich bin so dumm." „Würden Sie bitte endlich damit aufhören? Sie sind keineswegs dumm." „Danke. Ich ... aua!" „Nun sitzen Sie doch still und winden sich nicht so." „Ich will sehen, was Sie da machen." „Nun, solange Sie kein Schlangenmensch sind, geht das aber nicht. Es bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen." „Sind Sie bald fertig?" „Bald." Er packte eine weitere Glasscherbe und zog sie heraus. Sie versteifte sich vor Schmerzen. „Jetzt sind nur noch ein oder zwei Splitter übrig." „Und wenn Sie nicht alle erwischen?" „Keine Sorge, ich kriege sie alle." „Und wenn nicht?" „Liebe Güte, Weib, habe ich Ihnen eigentlich schon mal gesagt, dass Sie schrecklich hartnäckig sind?" Sie hätte beinahe gelächelt. „Ja." Beinahe hätte er ebenfalls gelächelt. „Wenn ich einen übersehe, macht das auch nichts, in ein paar Tagen hat sich das Problem von selbst erledigt. Für gewöhnlich wachsen Splitter einfach heraus." „Wäre es nicht schön, wenn alles im Leben so einfach wäre?", meinte sie traurig.
Er sah auf. „Wenn sich die Probleme von selbst erledigten?" Sie nickte. Er hielt ihren Blick noch einen Augenblick länger fest und wandte sich dann wieder seiner Aufgabe zu. Schließlich zog er den letzten Splitter aus ihrem Fuß. „Da haben wir es. Jetzt sind Sie wieder so gut wie neu." Doch er machte keinerlei Anstalten, ihren Fuß von seinem Schoß herunterzuschieben. „Tut mir leid, dass ich so ungeschickt war." „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, es war ein Unfall." Bildete sie es sich nur ein, oder flüsterte er? Und er blickte so zärtlich. Miranda drehte sich so, dass sie aufrecht neben ihm saß. „Turner?" „Sag jetzt nichts", raunte er heiser. „Aber ich ..." „Bitte!" Miranda verstand das Drängen in seiner Stimme nicht, erkannte die Begierde nicht, die in seinen Worten mitschwang. Sie wusste nur, dass er ihr nahe war, sie konnte ihn spüren, ihn riechen ... und sie wollte ihn schmecken. „Turner, ich ..." „Still", sagte er rau, und dann zog er sie an sich, bis sich ihre Brüste an seinen muskulösen Oberkörper drückten. Seine Augen glänzten fiebrig, und plötzlich wurde ihr klar plötzlich wusste sie -, dass ihn nun nichts mehr aufhalten könnte. Er würde sie küssen. Und dann presste er seine Lippen heiß und voll Verlangen auf die ihren. Seine Begierde war heftig, roh und verzehrend. Er wollte sie. Sie konnte es gar nicht glauben, brachte kaum genügend Geistesgegenwart auf, um es in klare Gedanken zu fassen, aber sie wusste es. Er wollte sie. Dieses Bewusstsein verlieh ihr Mut. Sie fühlte sich weiblich. Es weckte irgendein geheimes Wissen, das tief in ihr verborgen lag, vielleicht schon seit ihrer Geburt, und sie erwiderte den Kuss in ungekünsteltem Staunen. Turner legte die Hände auf ihren Rücken und presste sie
eng an sich, und dann konnten sie nicht länger aufrecht sitzen und sanken in die Kissen, sein Körper auf ihrem. Er war wild geworden. Oder verrückt. Das war die einzige Erklärung, aber er konnte einfach nicht genug von ihr bekommen. Seine Hände waren überall, erforschten, berührten, drückten, und währenddessen konnte er nur denken - wenn er überhaupt dazu in der Lage war -, dass er sie begehrte. Er wollte sie auf jede nur erdenkliche Weise. Er wollte sie verschlingen. Er wollte sie anbeten. Er wollte sich in ihr verlieren. Leise flüsterte er ihren Namen, hauchte ihn auf ihre Haut. Und als sie darauf den seinen wisperte, schoben sich seine Hände wie von selbst zu den Schlaufen an ihrem Nachthemd. Unter seinen Fingern schienen sie förmlich zu schmelzen, bis er alle geöffnet hatte und er ihr den Stoff nur noch über den Körper ziehen musste. Er spürte die Rundung ihrer Brüste unter dem Nachthemd, aber er wollte mehr. Er wollte sie fühlen, riechen, schmecken. Er ließ die Lippen an ihrer Kehle nach unten wandern, folgte dem eleganten Bogen bis hinab zum Schlüsselbein, wo er auf den Ausschnitt ihres Nachthemds stieß. Er schob ihn nach unten, kostete den freigelegten Zoll Haut, die weiche, salzige Süße und bebte vor freudiger Erregung, als er nach dem flachen Dekollete die sanfte Wölbung ihrer Brüste spürte. Lieber Himmel, er begehrte sie so sehr. Er umfasste ihr Hinterteil durch das Nachthemd und presste sie noch enger an sich, näher an seinen Mund. Sie stöhnte, und er hatte große Mühe, sich zurückzuhalten, sich zu zwingen, langsam vorzugehen. Seine Lippen näherten sich den zarten Spitzen ihrer Brust, während er die Hand unter ihr Nachthemd gleiten ließ und an ihrem glatten Unterschenkel nach oben strich. Als er an ihrem Oberschenkel ankam, hätte sie beinahe geschrien. „Schschsch", flüsterte er und brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. „Sonst wachen noch die Nachbarn auf. Und meine ..." Eltern.
Es war, als hätte man einen Kübel eiskalten Wassers über ihm ausgegossen.
„O Gott!" „Was ist, Turner?" Ihr Atem ging keuchend, stoßweise. „O Gott. Miranda." In seiner Stimme lag all der Schrecken, der ihn überkommen hatte. Es war, als hätte er geschlafen, hätte geträumt, und nun war er plötzlich geweckt worden und ... „Turner, ich ..." „Still", flüsterte er harsch und rollte sich so heftig von ihr herunter, dass er auf dem Teppich landete. „Ach, lieber Gott", sagte er, und dann noch einmal, weil es eine Wiederholung vertrug. „Ach, lieber Gott." „Turner?" „Steh auf. Du musst aufstehen." „Aber ..." Er blickte sie an, und das war ein großer Fehler. Das Nachthemd bauschte sich immer noch um ihre Hüften, und ihre Beine - Himmel, wer hätte gedacht, dass sie so lang und wohlgeformt ... und er wollte einfach nur ... Nein.
Er zitterte, so sehr musste er sich zurückhalten. „Sofort, Miranda", stieß er hervor. „Aber ich will n..." Er zerrte sie auf die Füße. Obwohl er sie lieber nicht angefasst hätte, da er sich selbst nicht traute, und sei die Berührung noch so unromantisch. Aber er musste sie dazu bringen, sich zu bewegen. Er musste sie hier rausschaffen. „Geh", befahl er. „Um der Liebe Christi willen, wenn du auch nur einen Funken Verstand hast, dann geh jetzt." Doch sie stand nur da und starrte ihn erschrocken an. Ihr Haar war zerzaust, ihre Lippen geschwollen, und er begehrte sie. Lieber Gott, er wollte sie immer noch. „Das hier wird nicht noch einmal vorkommen", erklärte er mit angespannter Stimme. Sie schwieg. Besorgt betrachtete er ihr Gesicht. Bitte, bitte fang jetzt nicht an zu weinen.
Er hielt sich ganz still. Wenn er sich jetzt bewegte, würde er sie vielleicht berühren. Er würde gar nicht anders können. „Geh lieber nach oben", sagte er leise.
Sie nickte abrupt und lief aus dem Zimmer. Turner starrte auf die Tür. Verdammt, verdammt, verdammt. Was hatte er getan? 12. Juni 1819 Ich bin sprachlos. Ganz und gar.
8. KAPITEL Am nächsten Morgen erwachte Turner mit hämmernden Kopfschmerzen, die nicht das Geringste mit seinem Alkoholkonsum zu tun hatten. Er wünschte, es läge am Brandy. Mit Brandy hätte er sehr viel besser umgehen können als mit dem hier. Miranda.
Was zum Teufel hatte er sich nur dabei gedacht? Nichts. Offensichtlich hatte er überhaupt nicht nachgedacht. Zumindest nicht mit dem Kopf. Er hatte Miranda geküsst. Zum Teufel, er war praktisch über sie hergefallen. Und es war kaum vorstellbar, dass es in England eine Frau gab, die weniger geeignet war für seine Aufmerksamkeiten als Miss Miranda Cheever. Irgendwann würde er für all das schmoren müssen. Wenn er ein besserer Mensch wäre, würde er sie heiraten. Eine junge Frau konnte ihren Ruf für weitaus weniger verlieren. Aber niemand hat uns gesehen, beharrte eine leise innere Stimme. Niemand außer ihnen beiden wusste etwas davon. Und Miranda würde nichts verraten, das entsprach nicht ihrer Art. Und er war kein besserer Mensch, dafür hatte Leticia schon gesorgt. Sie hatte alles in ihm abgetötet, was gut und freundlich war. Aber die Vernunft war ihm geblieben. Ab jetzt würde er Miranda nicht mehr zu nahe kommen. Dass er ein Mal, nach der Beerdigung, einen Fehler begangen hatte, war ja vielleicht noch verständlich. Der zweite gestern hätte nicht geschehen dürfen. Und ein dritter ... Lieber Gott, an ein drittes Mal durfte er beim besten Willen gar nicht erst denken.
Er brauchte Abstand, das war es. Abstand. Wenn er Miranda fernblieb, konnte er nicht in Versuchung geraten. Sie würde ihr verbotenes Zusammentreffen irgendwann vergessen und sich irgendeinen netten Kerl zum Heiraten suchen. Die Vorstellung, Miranda könnte in den Armen eines anderen liegen, war unerwartet unangenehm, doch Turner führte es auf die frühe Stunde zurück und darauf, dass er noch müde war und sie erst vor sechs Stunden geküsst hatte, und ... Und es könnte hundert andere Gründe geben, keiner von ihnen wichtig genug, um ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Doch ab jetzt würde er ihr aus dem Weg gehen müssen. Vielleicht sollte er London ganz verlassen, sich davonmachen. Er könnte aufs Land fahren. Schließlich hatte er ohnehin nicht lange in der Stadt bleiben wollen. Er öffnete die Augen und stöhnte. Hatte er denn keinerlei Selbstbeherrschung? Miranda war ein unerfahrenes junges Ding von zwanzig Jahren. Sie war nicht wie Leticia, die alle weiblichen Tricks kannte und bereit war, sie zu ihrem Vorteil einzusetzen. Miranda war verführerisch, aber er würde ihr widerstehen können. Er war Manns genug, in ihrer Nähe einen kühlen Kopf zu bewahren. Dennoch sollte er vielleicht lieber nicht im selben Haus wohnen. Und wenn er schon dabei war, etwas zu verändern, könnte er auch gleich die Damen des ton inspizieren. Es gab viele diskrete junge Witwen. Viel zu lang schon hatte er auf weibliche Gesellschaft verzichtet. Nichts half so gut, eine Frau zu vergessen, wie eine andere Frau. „Turner zieht aus." „Was?" Miranda war gerade dabei, Blumen in einer Porzellanvase zu arrangieren. Es war nur auf ihre geschickten Finger und eine gehörige Portion Glück zurückzuführen, dass die antike Vase nicht zu Bruch ging. „Er ist schon weg", sagte Olivia achselzuckend. „Sein Kammerdiener packt gerade seine Sachen." Ganz behutsam stellte Miranda die Vase auf den Tisch zurück. Langsam, ruhig, einatmen, ausatmen. Und als sie
schließlich sicher war, dass sie ohne zu zittern würde sprechen können, fragte sie: „Verlässt er London?" „Nein, ich glaube nicht", erwiderte Olivia und setzte sich gähnend auf das Sofa. „Ursprünglich hatte er nicht so lang in London bleiben wollen, deswegen sucht er sich jetzt eine Wohnung." Er suchte sich eine Wohnung? Miranda kämpfte gegen die schreckliche Leere an, die sich in ihrer Brust auszubreiten drohte. Er suchte sich eine Wohnung. Nur, um ihr zu entkommen. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, wäre es demütigend. Vielleicht war es ja beides. „Vermutlich ist es ganz gut so", meinte Olivia, ohne die Qual ihrer Freundin zu bemerken. „Ich weiß, er sagt, dass er nie wieder heiraten will ..." „Das hat er gesagt?" Miranda erstarrte. Wie war es nur möglich, dass sie nichts davon wusste? Sie wusste, dass er gesagt hatte, er halte nicht nach einer Frau Ausschau, aber das sollte doch sicher nicht für alle Zeiten gelten. „O ja", erwiderte Olivia. „Neulich erst. Er war vollkommen unerbittlich. Ich dachte schon, Mutter bekommt einen Anfall. Na ja, sie ist beinahe in Ohnmacht gefallen." „Was, deine Mutter?" Miranda konnte sich das gar nicht vorstellen. „Nun ja, nicht direkt, aber wenn sie nicht so gute Nerven hätte, wäre es sicher dazu gekommen." Meist genoss Miranda die Weitschweifigkeit ihrer Freundin, doch in diesem Augenblick hätte sie sie am liebsten erwürgt. „Jedenfalls", erklärte Olivia und lehnte sich mit wohligem Seufzen zurück, „hat er gesagt, dass er nicht wieder heiratet, aber ich bin mir ganz sicher, dass er sich das noch einmal überlegen wird. Er muss einfach nur über seinen Kummer hinwegkommen." Sie hielt inne und sah mit ironischer Miene zu Miranda hinüber. „Oder über den Mangel daran." Miranda lächelte angespannt. So angespannt, dass es wohl kaum noch als Lächeln gelten konnte. „Aber trotz allem, was er sagt", fuhr Olivia fort, rutschte auf dem Sofa noch ein wenig tiefer und schloss die Augen, „würde er nie eine Braut finden, solange er hier bei uns
wohnt. Liebe Güte, wie sollte er eine Frau umwerben, wenn Mutter, Vater und zwei jüngere Schwestern dabei sind?" „Zwei Schwestern?" „Nun, eigentlich natürlich nur eine, aber du könntest schon als zweite Schwester gelten. In deiner Anwesenheit könnte er sich jedenfalls nicht so benehmen, wie er sich vielleicht gerne benehmen würde." Miranda wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Und selbst wenn er sich so bald keine Braut sucht", fügte Olivia hinzu, „sollte er sich wenigstens eine Geliebte nehmen. Das würde ihm sicher dabei helfen, Leticia zu vergessen." Dazu fiel Miranda kein Kommentar ein. „Und das kann er ja nun wirklich nicht tun, solange er hier wohnt." Olivia öffnete die Augen und stützte sich auf die Ellbogen. „Daher ist es wirklich das Beste. Findest du nicht?" Miranda nickte. Weil sie musste. Weil sie zu benommen war, um zu weinen. 19. Juni 1819 Er ist jetzt seit einer Woche weg, und ich bin völlig am Boden zerstört. Wenn er einfach nur ausgezogen wäre - das hätte ich noch verzeihen können. Aber er ist seitdem nicht wieder hergekommen! Er hat mich nicht besucht. Hat mir keinen Brief geschrieben. Und obwohl ich gerüchteweise höre, dass er ausgeht und sich in der Gesellschaft sehen lässt, habe ich ihn noch nicht wieder zu Gesicht bekommen. Wenn ich bei irgendeiner Veranstaltung zugegen bin, ist er sicher nicht da. Einmal dachte ich, dass ich ihn auf der anderen Seite des Raums gesehen hätte, aber ich war mir nicht sicher, denn ich habe nur den Rücken gesehen, während derjenige sich verabschiedete. Ich weiß nicht, was ich unternehmen könnte. Besuchen kann ich ihn nicht. Das wäre unglaublich ungehörig. Lady Rudland hat sogar Olivia verboten, zu ihm zu gehen; er wohnt im Albany, und dort logieren nur Gentlemen. Keine Familien, keine Witwen.
„Was ziehst du zum Ball der Worthingtons heute Abend an?", erkundigte sich Olivia, während sie drei Zuckerstücke in ihren Tee rührte. „Ist der heute Abend?" Miranda krampfte die Finger um die Teetasse. Turner hatte ihr versprochen, dass er zu diesem Ball kommen und mit ihr tanzen würde. Sein Versprechen würde er doch gewiss nicht brechen. Er würde kommen. Und wenn nicht ... Sie würde einfach dafür sorgen müssen. „Ich ziehe mein Grünseidenes an", erklärte Olivia. „Es sei denn, du möchtest dein grünes Kleid tragen. Grün steht dir wirklich sehr gut." „Findest du?" Miranda richtete sich auf. Plötzlich schien es ihr furchtbar wichtig, so gut wie möglich auszusehen. „Mmmm-hmmm. Aber es geht nicht, dass wir beide in derselben Farbe erscheinen, daher wirst du dich bald entscheiden müssen." „Was empfiehlst du mir denn?" Wenn es um Mode ging, war Miranda zwar nicht direkt hoffnungslos, aber es würde ihr nie gelingen, sich so gut zu kleiden wie Olivia. Olivia legte den Kopf schief und betrachtete ihre Freundin. „Bei deiner Haarfarbe und deinem Teint fände ich es besser, wenn du lebhaftere Farben tragen würdest, aber Mama sagt ja, dass wir dazu noch zu neu sind. Aber vielleicht ..." Sie sprang auf, schnappte sich von einem Stuhl ein salbeigrünes Kissen und hielt es Miranda unters Kinn. „Hmmm." „Willst du mich umdekorieren?" „Halt mal", befahl Olivia, trat ein paar Schritte zurück und verfing sich mit einem damenhaften „Hoppla!" in einem Tischbein. Während sie sich am Sofa festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, murmelte sie vor sich hin: „Ja, ja, das ist perfekt." Miranda sah an sich herab. Und dann zu Olivia. „Ich soll ein Kissen anziehen?" „Nein, du kannst mein grünes Seidenkleid haben. Es hat genau dieselbe Farbe. Wir lassen es von Annie heute noch einnähen." „Und was willst du anziehen?" „Ach, irgendwas", erklärte Olivia und winkte lässig ab.
„Etwas in Rosa vielleicht. Die Herren scheinen alle ganz verrückt nach Rosa zu sein. Angeblich wirke ich darin wie Zuckerkonfekt." „Und es macht dir nichts aus, wie Zuckerkonfekt auszusehen?" Miranda fände das schrecklich. „Es stört mich nicht, wenn die anderen dieser Meinung sind", korrigierte Olivia sie. „Dann behalte ich die Oberhand. Oft ist es günstig, wenn einen die anderen unterschätzen. Aber du ..." Sie schüttelte den Kopf. „Du brauchst etwas Subtileres. Etwas Elegantes." Miranda griff nach ihrer Teetasse, um einen letzten Schluck zu nehmen. Dann erhob sie sich und strich ihr Musselinkleid glatt. „Am besten probiere ich es gleich an", sagte sie. „Damit Annie Zeit hat, es zu ändern." Außerdem hatte sie noch einen Brief zu schreiben. Als Turner mit geschickten Fingern sein Krawattentuch band, stellte er fest, dass sein Repertoire an Flüchen weitaus umfassender war, als er bisher angenommen hatte. Seit er am Nachmittag jene verflixte Nachricht von Miranda erhalten hatte, hatte er schon Dutzende von Dingen in Grund und Boden verdammt. Am meisten aber verfluchte er sich selbst und jenen Rest an Ehre, den er noch besitzen mochte. Zum Ball der Worthingtons zu gehen war einfach Wahnsinn - das Dümmste, was er überhaupt tun konnte. Aber er konnte ja wohl kaum das Versprechen brechen, das er dem Mädchen gegeben hatte, selbst wenn es zu ihrem Besten gewesen wäre. Verdammte Hölle. Das alles konnte er jetzt überhaupt nicht brauchen. Er sah noch einmal auf den Brief. Er hatte versprochen, mit ihr zu tanzen, wenn sie nicht genügend Partner fand, oder? Nun, das sollte kein Problem sein. Er würde einfach dafür sorgen müssen, dass sie vor lauter Partnern gar nicht mehr wusste, was sie mit ihnen anfangen sollte. Verdammt, er würde dafür sorgen, dass sie an diesem Abend die Ballkönigin war. Wenn er schon einmal verpflichtet war, diesen verflixten Ball zu besuchen, konnte er ihn genauso gut dazu nutzen, die
jungen Witwen unter die Lupe zu nehmen. Wenn er Glück hatte, würde Miranda genau sehen, in welche Richtung er seine Aufmerksamkeit zu lenken gedachte, und erkennen, dass sie anderswo nach einem Mann Ausschau halten sollte. Er verzog das Gesicht. Die Vorstellung, sie traurig zu machen, gefiel ihm nicht. Zur Hölle, er mochte das Mädchen. Hatte es immer gemocht. Doch dann schüttelte er den Kopf. Sicher würde er sie nicht traurig machen. Jedenfalls nicht sehr. Und außerdem würde er es wiedergutmachen. Die Ballkönigin, mahnte er sich, als er in die Kutsche stieg und sich auf einen höchst aufreibenden Abend gefasst machte. Die Ballkönigin.
Olivia entdeckte Turner im selben Moment, da er den Saal betrat. „Oh, schau", sagte sie und stieß Miranda mit dem Ellbogen in die Seite. „Mein Bruder ist da." „Wirklich?", erwiderte Miranda atemlos. „Ja." Olivia richtete sich auf und runzelte die Stirn. „Jetzt, wo ich daran denke, fällt mir auf, dass ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Du?" Abwesend schüttelte Miranda den Kopf, während sie auf der Suche nach Turner den Hals reckte. „Er steht da drüben und plaudert mit Duncan Abbott", sagte Olivia. „Worüber die wohl sprechen? Mr. Abbott interessiert sich sehr für Politik." „Ach ja?" „O ja. Ich würde liebend gern mit ihm diskutieren, aber vermutlich hat er keine Lust, mit einer Frau über Politik zu reden. Das regt mich auf." Miranda wollte zustimmend nicken, als Olivia erneut die Stirn runzelte und mit verärgerter Stimme sagte: „Und jetzt spricht er mit Lord Westholme." „Olivia, der Mann darf doch reden, mit wem er will", bemerkte Miranda, doch innerlich war auch sie verärgert, dass Turner nicht zu ihnen herüberkam. „Ich weiß, aber zuerst sollte er kommen und uns begrüßen. Wir gehören zu seiner Familie."
„Nun ja, du zumindest." „Sei nicht albern, Miranda. Du gehörst auch dazu." Olivias Lippen formten sich zu einem empörten kleinen O. „Nun schau dir das an! Er ist in die entgegengesetzte Richtung gegangen!" „Wer ist der Mann, mit dem er da spricht? Den kenne ich gar nicht." „Das ist der Duke of Ashbourne. Ganz schön gut aussehend, findest du nicht? Ich glaube, er war im Ausland. Auf Reisen, mit seiner Frau. Soweit ich weiß, sind sie sich treu ergeben." Miranda hielt es für ein gutes Zeichen, dass wenigstens eine Ehe des ton glücklich war. Trotzdem, Turner dachte offenbar nicht daran, sie um ihre Hand zu bitten, wenn er sich nicht einmal die Mühe machte, einen Ballsaal zu durchqueren, um sie zu begrüßen. Sie runzelte die Stirn. „Verzeihen Sie, Lady Bevelstoke, ich glaube, dies ist mein Tanz." Olivia und Miranda wandten den Kopf. Ein hübscher junger Mann, an dessen Namen sie sich beide nicht erinnern konnten, stand vor ihnen. „Natürlich", versetzte Olivia rasch. „Wie dumm von mir, dass ich das vergessen habe." „Ich glaube, ich hole mir ein Glas Limonade", meinte Miranda lächelnd. Olivia war es immer sehr unangenehm, wenn sie zum Tanzen ging und Miranda allein am Rand der Tanzfläche zurückließ. „Bist du sicher?" „Nun geh schon." Olivia glitt zur Tanzfläche, und Miranda wollte sich zu einem Lakaien begeben, der Limonade ausschenkte. Wie üblich hatte sie nur ungefähr die Hälfte der Tänze vergeben. Und wo blieb Turner, nachdem er versprochen hatte, mit ihr zu tanzen, wenn sie nicht genügend Partner bekam? Was für ein gemeiner Mensch. Irgendwie fühlte es sich gut an, ihn in Gedanken schlechtzumachen, auch wenn sie es sich nicht einmal selbst ganz abnahm. Miranda war auf halbem Weg zur Limonade, als sie eine
feste Hand am Ellbogen spürte. Turner? Sie wirbelte herum, doch zu ihrer Enttäuschung handelte es sich um einen Gentleman, den sie nicht kannte, der ihr aber vage vertraut erschien. „Miss Cheever?" Miranda nickte. „Dürfte ich um diesen Tanz bitten?" „Nun, natürlich, aber ich glaube, wir wurden einander noch nicht vorgestellt." „Oh, bitte verzeihen Sie. Ich bin Lord Westholme." Lord Westholme? War das nicht der Herr, mit dem sie Turner vorhin hatte reden sehen? Miranda lächelte ihn an, doch innerlich runzelte sie die Stirn. An Zufälle hatte sie noch nie recht glauben mögen. Lord Westholme erwies sich als hervorragender Tänzer, und so wirbelten sie mühelos über das Parkett. Als die Musik verklang, verbeugte er sich elegant vor ihr und führte sie an den Rand des Ballsaals. „Danke für den wunderbaren Tanz, Lord Westholme", sagte Miranda anmutig. „Ich habe Ihnen zu danken, Miss Cheever. Hoffentlich können wir dieses Vergnügen bald wiederholen." Miranda bemerkte, dass Lord Westholme sie an eine Stelle im Raum geführt hatte, die von dem Dienstboten mit dem Limonadentablett weit entfernt lag. Als sie Olivia erzählt hatte, sie sei durstig, war das geschwindelt, doch nun war ihr die Kehle wie ausgedörrt. Seufzend dachte sie, dass sie sich nun den ganzen Weg zurückkämpfen musste. Sie war jedoch keine zwei Schritte gegangen, als ein weiterer eleganter junger Gentleman vor sie hintrat. Diesen hier erkannte sie sofort: Es handelte sich um Mr. Abbott, den politisch interessierten Herrn, mit dem Turner ebenfalls gesprochen hatte. Innerhalb weniger Sekunden befand Miranda sich wieder auf der Tanzfläche, mittlerweile sehr irritiert. Nicht, dass sie an ihren Partnern etwas auszusetzen gehabt hätte. Falls Turner es für nötig befunden hatte, Männer zu bestechen, damit sie mit ihr tanzten, hatte er zumindest attraktive, wohlerzogene Exemplare ausgewählt. Trotzdem, als Mr. Abbott sie schließlich von der Tanzfläche führte und sie
den Duke of Ashbourne auf sich zukommen sah, trat Miranda hastig den Rückzug an. Glaubte er etwa, sie habe überhaupt keinen Stolz? Glaubte er, sie würde sich darüber freuen, dass er seine Freunde überredete, mit ihr zu tanzen? Es war demütigend. Und schlimmer noch war die Schlussfolgerung, die sich aus dem Ganzen ergab: dass er diese Männer dazu brachte, sie zum Tanzen aufzufordern, damit er selbst es nicht zu tun brauchte. Miranda stiegen die Tränen in die Augen, und sie eilte hinaus auf den verlassenen Flur, von panischem Schrecken erfüllt, sie könnte hier im Ballsaal vor dem versammelten ton zu weinen anfangen. Sie lehnte sich gegen die Wand und sog die Luft in tiefen Zügen ein. Seine Zurückweisung tat nicht nur ein bisschen weh. Sie riss ihr das Herz aus dem Leib. Das war nicht so wie in all den Jahren, als sie für ihn noch ein Kind gewesen war. Damals konnte sie sich zumindest damit trösten, dass er nicht wusste, was er versäumte. Aber jetzt wusste er es ja. Er wusste ganz genau, was er versäumte, und es interessierte ihn trotzdem kein bisschen. Miranda konnte nicht den ganzen Abend auf dem Flur herumstehen, aber sie war auch noch nicht bereit, in den Ballsaal zurückzukehren. Stattdessen begab sie sich hinaus in den Garten. Es handelte sich dabei nur um eine kleine Grünfläche, aber sie war wohlproportioniert und geschmackvoll angelegt. Miranda setzte sich auf eine Steinbank in einer Ecke des Gartens, von der aus sie das Haus beobachten konnte. Große Glastüren führten in den Ballsaal, und sie sah mehrere Minuten lang zu, wie sich die Damen und Herren zur Musik wiegten. Sie schniefte und streifte einen Handschuh ab, damit sie sich die Nase mit der Hand abwischen konnte. „Ein Königreich für ein Taschentuch", murmelte sie seufzend. Vielleicht konnte sie eine Krankheit vorschützen und nach Hause gehen. Sie probte ein leichtes Husten. Vielleicht war sie ja wirklich krank. Es hatte doch überhaupt keinen Sinn mehr, den restlichen Abend noch hierzubleiben. Auf einem Ball hatte man hübsch auszusehen, nett zu plaudern und die anderen zu bezaubern, oder nicht? Daraus würde an diesem Abend wohl nichts mehr werden.
Und dann sah sie es golden aufblitzen. Goldblondes Haar, um genau zu sein. Es war Turner. Natürlich. Wie sollte es auch anders sein, wo sie ganz allein hier herumsaß, einsam und erbärmlich? Er kam durch die Terrassentür, die in den Garten führte. Und hatte eine Frau am Arm. In Mirandas Kehle bildete sich ein merkwürdiger Kloß, und sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Ob ihr die Demütigung erspart blieb? Mit angehaltenem Atem rutschte sie zum einen Ende der Bank, wo die Schatten dichter waren. Wer war diese Frau? Sie hatte sie schon gesehen. Irgendeine Lady Soundso. Eine Witwe, wie sie sich erinnerte, und sehr, sehr reich und unabhängig. Sie sah gar nicht aus wie eine Witwe. Um ehrlich zu sein, wirkte sie kaum älter als Miranda. Miranda spitzte die Ohren, um irgendetwas von der Unterhaltung zu verstehen. Doch der Wind trug die Worte der beiden in die entgegengesetzte Richtung, sie hörte nur hier und da einen Gesprächsfetzen. Schließlich, nachdem die Dame etwas wie „Ich bin mir nicht sicher" gesagt hatte, beugte Turner sich herab und küsste sie. Miranda brach das Herz. Die Dame murmelte etwas, was Miranda nicht hören konnte, und ging in den Ballsaal zurück. Turner blieb im Garten, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah zum Mond empor. Sein Blick war undurchdringlich. Geh weg, wollte Miranda ihm zurufen. Fort hier! Vor ihm konnte sie hier nicht weg, und sie sehnte sich doch so danach, nach Hause zu fahren und sich im Bett zusammenzurollen. Und möglicherweise nie wieder aufzustehen. Aber im Augenblick stand ihr diese Möglichkeit nicht offen, daher versuchte sie nur, sich noch tiefer in den Schatten zu drücken. Abrupt drehte Turner den Kopf in ihre Richtung. Verflixt! Er musste sie gehört haben. Er kniff die Augen zusammen und tat ein paar Schritte auf sie zu. Dann schloss er die Augen und schüttelte langsam den Kopf. „Miranda", seufzte er. „Bitte sag mir, dass ich träume und das nicht du bist."
Und dabei war der Abend bisher so gut verlaufen. Er hatte Miranda ganz aus dem Weg gehen können, war endlich der hübschen Witwe Bidwell vorgestellt worden, die nicht älter war als fünfundzwanzig, und der Champagner war auch gar nicht so schlecht. Aber nein, die Götter waren ihm offensichtlich nicht günstig gestimmt. Da saß Miranda. Auf einer Bank. Und beobachtete ihn. Wahrscheinlich hatte sie gesehen, wie er die Witwe geküsst hatte. Lieber Himmel. „Miranda", seufzte er. „Bitte sag mir, dass das nicht du bist." „Ich bin es nicht." Sie versuchte, stolz zu klingen, doch ihre Stimme hatte einen hohlen Unterton, der ihn mitten ins Herz schnitt. Er schloss kurz die Augen, denn, verdammt noch mal, eigentlich hätte sie gar nicht da sein dürfen. Er sollte diese Komplikationen in seinem Leben nicht haben müssen. Warum konnte er es nie einfach und simpel haben? „Warum bist du hier?" Sie zuckte mit den Schultern. „Ich brauchte frische Luft." Er tat ein paar Schritte auf sie zu, bis er ebenso wie sie von tiefem Schatten umgeben war. „Hast du mir nachspioniert?" „Du musst ja eine sehr hohe Meinung von dir haben." „Hast du?", beharrte er. „Nein, natürlich nicht", erwiderte sie und reckte verärgert das Kinn. „Zu so etwas lasse ich mich nicht herab. Nächstes Mal, wenn du ein Stelldichein planst, suchst du am besten vorher den Garten ab." Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Es fällt mir schwer zu glauben, dass deine Anwesenheit hier draußen nichts mit mir zu tun haben soll." „Dann verrate mir doch", fuhr sie ihn an, „wie ich, wenn ich dir gefolgt bin, bis zu dieser hintersten Bank kommen konnte, ohne dass du mich gesehen hast?" Diese Frage ignorierte er, hauptsächlich, weil Miranda recht hatte. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar, packte einen Büschel und zerrte daran, was ihm irgendwie half, die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Du reißt es dir noch aus", erklärte Miranda mit betont gelassener Stimme. Er atmete tief durch. Ließ die Finger spielen. Seine Stimme war beinahe ruhig, als er fragte: „Was soll das alles, Miranda?" „Was das alles soll?", wiederholte sie und erhob sich. „Was das alles soll? Wie kannst du es nur wagen? Du ignorierst mich eine ganze Woche lang, behandelst mich wie etwas, was man unter den Teppich kehren müsste, glaubst, ich hätte so wenig Stolz, dass ich mich darüber freue, wenn du deine Freunde dazu überredest, mich zum Tanzen aufzufordern. Du bist unhöflich und selbstsüchtig, und dann fragst du, was das alles soll?" Hastig legte er ihr die Hand auf den Mund. „Um Gottes willen, nicht so laut. Was letzte Woche geschehen ist, war falsch, Miranda. Und es war dumm von dir, auf meinem Versprechen zu beharren und mich dazu zu zwingen, heute Abend zu kommen." „Aber du bist da", flüsterte sie. „Du bist gekommen." „Ich bin gekommen", zischte er, „weil ich mich nach einer Geliebten umsehe. Nicht nach einer Ehefrau." Sie taumelte zurück und starrte ihn an. So lange, bis er glaubte, ihr Blick würde Löcher in ihn brennen. Und schließlich sagte sie so leise, dass es schmerzte: „Ich mag dich jetzt nicht, Turner." Das passte ja wunderbar. Er mochte sich in diesem Augenblick auch nicht besonders. Miranda hob das Kinn, doch sie zitterte, als sie sagte: „Wenn du mich jetzt entschuldigen möchtest. Wir sind hier schließlich auf einem Ball. Dank dir habe ich recht viele Tanzpartner, und ich will sie nicht vor den Kopf stoßen." Er sah ihr nach, als sie davonstakste. Und dann sah er auf die Tür. Und er verließ den Ball. 20. Juni 1819 Ich habe diese Witwe wieder saal zurückgegangen bin. Ich ist, und sie sagte, sie hieße Countess of Pembleton. Sie
gesehen, als ich in den Ballhabe Olivia gefragt, wer sie Katherine Bidwell. Sie ist die hat Lord Pembleton geheira-
tet, als der beinahe sechzig war, und prompt einen Sohn bekommen. Lord Pembleton ist kurz darauf gestorben, und bis ihr Sohn großjährig ist, verfügt sie über das gesamte Vermögen. Schlaue Frau. So unabhängig zu sein. Vermutlich will sie nicht wieder heiraten, und das käme Turner ja genau recht. Als könnte der Abend nicht noch schlimmer werden, hat Lady Rudland mich beiseitegenommen und mich zu meiner plötzlichen Beliebtheit beglückwünscht. Der Duke of Ashbourne hat mit mir getanzt! (Das Ausrufezeichen stammt von ihr.) Er ist natürlich verheiratet, auch sehr glücklich, aber trotzdem, normalerweise verschwendet er seine Zeit nicht mit jungen Mädchen direkt aus dem Schulzimmer. Lady R. war einfach außer sich vor Freude und so stolz auf mich. Ich dachte, ich müsste weinen. Jetzt bin ich aber wieder zu Hause, und ich beschließe, dass ich mir irgendeine Krankheit zulege, damit ich eine Weile nicht ausgehen muss. Eine Woche, wenn es klappt. Und weißt du, was mich am meisten aufregt? Lady Pembleton gilt nicht mal als schön. Hässlich anzusehen ist sie auch nicht, aber sie ist auch keine Schönheit. Ihre Haare sind schlicht braun, ihre Augen auch. Genau wie meine.
9. KAPITEL Die nächste Woche verbrachte Miranda damit, so zu tun, als läse sie griechische Tragödien. Es war ihr unmöglich, sich lange genug auf ein Buch zu konzentrieren, um tatsächlich eine zu lesen, doch sie dachte sich, solange sie in der Lage war, hin und wieder auf die Seite zu starren, konnte sie genauso gut eine Lektüre wählen, die ihrer Stimmung entsprach. Komödien hätten sie zum Weinen gebracht. Und Liebesgeschichten, Gott behüte, hätten in ihr nur den Wunsch geweckt, auf der Stelle zu verenden. Olivia, noch nie sonderlich bekannt für ihr Desinteresse an den Angelegenheiten anderer Leute, suchte die Ursache für Mirandas verdrießliche Stimmung unerbittlich in Erfahrung zu bringen. Die einzige Zeit, in der sie Miranda nicht befragte, waren die Momente, in denen sie versuchte, ihre Laune zu heben. Sie befand sich gerade inmitten eines ihrer Aufheiterungsversuche und ergötzte Miranda mit Geschichten über eine gewisse Countess, die ihren Ehemann vor die Tür gesetzt hatte und erst dann wieder einlassen wollte, wenn er ihr gestattete, sich vier Zwergpudel zu kaufen, als Lady Rudland an die Tür klopfte. „Oh, gut", sagte sie und steckte den Kopf ins Zimmer. „Ihr seid beide da. Olivia, setz dich anständig hin, das sieht nicht sehr damenhaft aus." Pflichtbewusst nahm Olivia eine andere Haltung ein, ehe sie fragte: „Was ist denn, Mama?" „Ich wollte euch sagen, dass Lady ehester uns für nächste Woche auf ihren Landsitz eingeladen hat." „Wer ist Lady ehester?", fragte Miranda und senkte ihren eselsohrigen Aischylos-Band.
„Eine Kusine von uns", erwiderte Olivia. „Dritten oder vierten Grades, ich erinnere mich nicht." „Zweiten", korrigierte Lady Rudland. „Und ich habe die Einladung für uns alle angenommen. Da sie eine so enge Verwandte ist, wäre es unhöflich, nicht hinzufahren." „Kommt Turner auch mit?", erkundigte sich Olivia. Miranda hätte ihrer Freundin gern tausendmal dafür gedankt, dass sie die Frage gestellt hatte, die sie selbst nie zu fragen gewagt hätte. „Das möchte ich doch sehr hoffen. Er hat sich den Familienpflichten schon viel zu lange entzogen", erklärte Lady Rudland mit ungewohnter Strenge. „Wenn er nicht mitkommt, wird er mir einiges zu erklären haben." „Himmel", scherzte Olivia trocken, „was für eine schreckliche Vorstellung." „Ich weiß gar nicht, was mit dem Jungen los ist", meinte Lady Rudland kopfschüttelnd. „Mir kommt es fast so vor, als ginge er uns aus dem Weg." Nein, dachte Miranda mit traurigem Lächeln, nur mir. Ungeduldig tappte Turner mit dem Fuß, während er darauf wartete, dass seine Familie herunterkam. Zum ungefähr fünfzehnten Mal an diesem Morgen wünschte er, er wäre wie die anderen Männer des ton, die ihre Mütter für gewöhnlich entweder ignorierten oder wie Dummchen behandelten. Aber irgendwie hatte seine Mutter es fertiggebracht, ihm die Zusage abzuringen, mit zu dieser verdammten einwöchigen Hausgesellschaft zu kommen, der Miranda natürlich auch beiwohnte. Er war ein Idiot. Diese Tatsache wurde ihm von Tag zu Tag klarer. Ein Idiot, der offensichtlich das Schicksal beleidigt hatte, denn sobald seine Mutter in der Eingangshalle erschien, sagte sie: „Du wirst mit Miranda fahren." Anscheinend hatten die Götter einen eigenwilligen Sinn für Humor. Er räusperte sich. „Hältst du das für klug, Mutter?" Sie warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. „Du wirst das Mädchen ja wohl nicht verführen, oder?" Verdammte Hölle. „Natürlich nicht. Ich meine nur, dass
sie ihren Ruf zu bedenken hat. Was werden die Leute sagen, wenn wir in derselben Kutsche eintreffen? Jeder wird wissen, dass wir mehrere Stunden allein miteinander waren." „Jeder betrachtet euch als Geschwister. Und wir treffen uns eine Meile vor ehester Park und tauschen die Plätze, dann kannst du mit deinem Vater ankommen. Das ist alles kein Problem. Dein Vater und ich müssen ein ernstes Wort mit Olivia sprechen - allein." „Was hat sie jetzt schon wieder angestellt?" „Anscheinend hat sie Georgiana Elster eine alberne Gans genannt." „Georgiana Elster ist ja auch eine alberne Gans." „Sie hat es ihr aber ins Gesicht gesagt, Turner. Ins Gesicht!" „Das war sicher unklug von ihr, aber deswegen bedarf es doch keiner zweistündigen Standpauke, finde ich." „Das ist nicht alles." Turner seufzte. Seine Mutter war fest entschlossen. Zwei Stunden allein mit Miranda. Was hatte er nur getan, um diese Qual zu verdienen? „Sie hat Sir Robert Kent ein ausgewachsenes Rhinozeros genannt." „Das hat sie ihm auch ins Gesicht gesagt, nehme ich an." Lady Rudland nickte. „Was ist ein Rhinozeros eigentlich?" „Ich habe keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass es etwas Schmeichelhaftes ist." „Ein Rhinozeros ist eine Art Nashorn, glaube ich", erklärte Miranda, die eben in einem pastellblauen Reisekleid die Eingangshalle betrat. Sie lächelte die beiden an und wirkte dabei völlig gefasst, was Turner ein wenig ärgerte. „Guten Morgen, Miranda", sagte Lady Rudland energisch. „Du fährst in Turners Kutsche mit." „Ach wirklich?" Sie schien an den Worten zu würgen und verbarg dies hinter lautem Husten. Turner nahm es mit ziemlich kindischer Befriedigung zur Kenntnis. „Ja. Lord Rudland und ich müssen mit Olivia reden. Sie hat in der Öffentlichkeit eine Reihe unangebrachter Bemerkungen gemacht."
Von der Treppe ertönte ein Stöhnen. Die drei wandten den Kopf in diese Richtung und sahen zu, wie Olivia herabkam. „Ist das wirklich nötig, Mama? Ich habe es doch nicht böse gemeint. Wenn ich gewusst hätte, dass es ihr hintertragen wird, hätte ich Lady Finchcoombe doch nie eine elende Hexe genannt." Alles Blut wich aus Lady Rudlands Gesicht. „Du hast Lady Finchcoombe eine elende was genannt?" „Das hast du gar nicht gewusst?", fragte Olivia schwach. „Turner, Miranda, ich schlage vor, dass ihr euch jetzt auf den Weg macht. Wir sehen euch dann in zwei Stunden." Schweigend gingen die beiden zur wartenden Kutsche. Turner reichte Miranda die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. Ihre behandschuhten Finger riefen in ihm knisternde Spannung hervor, doch sie schien nichts dergleichen zu empfinden, denn sie klang vollkommen gleichgültig, als sie sagte: „Ich hoffe, meine Anwesenheit ist keine zu schwere Prüfung für Sie, Mylord." Turners Antwort lag irgendwo zwischen einem Knurren und einem Seufzen. „Ich habe das nicht arrangiert, weißt du." Er setzte sich ihr gegenüber. „Ich weiß." „Ich hatte keine Ahnung ..." Sie blickte auf. „Du weißt das?" „Ich weiß es. Mutter war fest entschlossen, Olivia allein zu sprechen." „Oh. Dann also danke, dass du mir glaubst." Er stieß den Atem aus und blickte eine Weile aus dem Fenster, während die Kutsche sich schwankend in Bewegung setzte. „Miranda, ich halte dich nicht für eine gewohnheitsmäßige Lügnerin." „Nein, natürlich nicht", entgegnete sie rasch. „Aber du hast ziemlich wütend ausgesehen, als du mir in die Kutsche geholfen hast." „Ich war auf das Schicksal wütend, Miranda, nicht auf dich." „Na, da bin ich aber erleichtert", versetzte sie kalt. „Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich habe mir ein Buch mitgebracht." Sie drehte sich so auf ihrem Sitz, dass sie ihm
möglichst viel Rücken zukehrte, und begann zu lesen. Turner wartete einen Moment, ehe er fragte: „Was liest du denn?" Miranda erstarrte und hielt dann ganz langsam das Buch hoch, als wäre es eine ausgesprochen unangenehme Aufgabe. „Aischylos. Wie deprimierend." „Passt zu meiner Stimmung." „Ach herrje, sollte das eine Stichelei sein?" „Sei nicht so herablassend, Turner. Unter den Umständen ist das kaum angemessen." Er hob eine Augenbraue. „Und was genau bedeutet das?" „Es bedeutet, dass deine überlegene Art nach allem, was zwischen uns, nun, vorgefallen ist, nicht länger gerechtfertigt ist." „Meine Güte, was für ein langer Satz." Miranda warf ihm nur einen wütenden Blick zu. Als sie diesmal das Buch hob, bedeckte es ihr gesamtes Gesicht. Turner lachte leise und lehnte sich zurück, überrascht, wie sehr er das Geplänkel genoss. Die stillen Menschen waren immer die interessantesten. Miranda stellte sich zwar nie in den Mittelpunkt, aber im Gespräch wusste sie sich mit Esprit und viel Stil zu behaupten. Sie zu provozieren bereitete ihm großen Spaß, und er hatte deswegen überhaupt kein schlechtes Gewissen. Denn trotz ihres mürrischen Benehmens zweifelte er nicht daran, dass sie ebenso viel Freude dabei empfand, mit ihm die Klingen zu kreuzen, wie er. Am Ende wurde die Reise doch nicht so höllisch, wie er befürchtet hatte. Er musste nur dafür sorgen, dass sie diese leichte, amüsante Konversation beibehielten und er nicht zu lang auf ihren Mund blickte. Ihr Mund gefiel ihm ausnehmend gut. Aber darüber würde er jetzt nicht nachdenken. Er würde das Gespräch wieder aufnehmen und versuchen, es so zu genießen wie früher, ehe sie sich in dieses scheußliche Durcheinander verstrickt hatten. Die Freundschaft mit Miranda fehlte ihm, und so dachte er, er könnte versuchen, die Beziehung zu kitten, solange sie beide in der Kutsche festsaßen. „Was liest du denn?", fragte er. Irritiert blickte sie auf. „Aischylos. Hast du mich das nicht schon gefragt?"
„Ich meine, was genau von Aischylos", improvisierte er. Zu seiner großen Belustigung musste sie auf das Buch schauen, ehe sie antwortete: „Die Eumeniden." Er verzog das Gesicht. „Magst du das nicht?" „All diese zornigen Frauen? Eher nicht. Mir ist eine schöne Abenteuergeschichte weitaus lieber." „Ich mag zornige Frauen." „Du fühlst mit ihnen, was? Ach herrje, nicht mit den Zähnen knirschen, Miranda, ein Besuch beim Zahnarzt würde dir bestimmt nicht gefallen, glaub mir." Als er ihre Miene sah, konnte er gar nicht anders, als zu lachen. „Ach, nun sei nicht so empfindlich, Miranda." Sie blickte ihn immer noch finster an und murmelte: „Tut mir schrecklich leid, Mylord." Dabei brachte sie mitten in der Kutsche irgendwie einen unterwürfigen Knicks zustande. Turners leises Lachen explodierte zu dröhnendem Gelächter. „Ach, Miranda", keuchte er und wischte sich die Augen, „du bist einfach unbezahlbar." Als er sich endlich erholt hatte, starrte sie ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Er dachte kurz daran, die Hände wie Klauen zu erheben und irgendwelche merkwürdigen fauchenden Tiergeräusche von sich zu geben, nur um ihren Verdacht zu bestätigen, sah dann aber davon ab. Stattdessen lehnte er sich zurück und grinste. Sie schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich einfach nicht." Er reagierte nicht, weil er nicht wollte, dass die Unterhaltung in ernste Gefilde zurückkehrte. Sie hob ihr Buch, und diesmal beschäftigte er sich damit abzuwarten, wie lange es dauerte, bis sie eine Seite umblätterte. Als er bei fünf Minuten und null umgeblätterten Seiten angelangt war, begann er zu lächeln. „Schwierige Lektüre?" Langsam senkte Miranda ihr Buch und warf einen tödlichen Blick in seine Richtung. „Wie bitte?" „Hat es eine Menge langer Worte?" Sie starrte ihn nur an. „Seit du angefangen hast zu lesen, hast du noch kein einziges Mal umgeblättert." Sie schnaufte wortlos und wendete höchst entschlossen
eine Seite um. „Ist das Englisch oder Griechisch?" „Wie bitte?" „Wenn es Griechisch ist, würde das erklären, warum du so lange brauchst." Empört sah sie ihn an. „Ich kann Griechisch!" „Ja, und das ist eine bemerkenswerte Leistung." Sie sah auf ihre Hände, das Buch so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. „Danke", stieß sie hervor. Aber er war noch nicht fertig. „Für eine Frau ziemlich ungewöhnlich, findest du nicht?" Diesmal beschloss sie, ihn zu ignorieren. „Olivia kann nicht Griechisch lesen", sagte er im Plauderton. „Olivia hat auch keinen Vater, der nichts anderes tut, als Griechisch zu lesen", versetzte sie, ohne aufzublicken. Sie versuchte, sich auf die ersten Worte der neuen Seite zu konzentrieren, aber das hatte nicht viel Sinn, da sie die Seite zuvor nicht beendet hatte. Sie hatte ja nicht einmal angefangen damit. Sie tippte mit dem Finger gegen das Buch, während sie so tat, als läse sie. Vermutlich konnte sie nicht zur vorigen Seite zurückblättern, ohne dass er es bemerkte. Aber eigentlich spielte das keine große Rolle, sie würde wohl ohnehin nichts von dem verstehen, was sie las, während er sie trägen Blickes musterte. Es war einfach unerträglich. Ihr wurde dabei heiß und kalt und zittrig, und zwar alles auf einmal, und das, wo sie doch unfassbar wütend auf den Mann war. Sie war sich ziemlich sicher, dass er kein Interesse daran hatte, sie zu verführen, und dennoch fing er die Sache ziemlich geschickt an. „Was für ein außergewöhnliches Talent." Miranda presste die Lippen aufeinander und sah zu ihm auf. „Ja?" „Zu lesen, ohne dabei die Augen zu bewegen." Sie zählte bis drei, ehe sie erwiderte: „Nicht jeder muss die Worte beim Lesen leise mitsprechen, Turner." „Touche, Miranda. Wusste ich es doch, dass in dir noch etwas Schwung steckt."
Sie krallte die Nägel in die Sitzpolster. Eins, zwei, drei. Zähl weiter. Vier, fünf, sechs. Wenn sie so weitermachte, würde sie bis fünfzig zählen müssen, um sich zu bezähmen. Turner sah, wie sie in irgendeinem unerkannten Rhythmus den Kopf bewegte, und wurde neugierig. „Was machst du da?" Achtzehn, neunzehn ... „Was?" „Was machst du da?" Zwanzig. „Du fängst an, mir furchtbar auf die Nerven zu gehen, Turner." „Ich bin eben hartnäckig." Er grinste. „Ich dachte, gerade du wüsstest diese Eigenschaft zu schätzen. Also, was hast du da gerade gemacht? Du hast höchst merkwürdig mit dem Kopf auf und ab genickt." „Wenn du es unbedingt wissen musst", fuhr sie ihn an, „ich habe leise gezählt, um die Beherrschung wiederzuerlangen." Er betrachtete sie einen Augenblick und meinte dann: „Mich schaudert, wenn ich daran denke, was du zu mir gesagt hättest, wenn du nicht erst innegehalten und gezählt hättest." „Ich verliere allmählich die Geduld." „Nein!", rief er in gespieltem Unglauben aus. Sie hielt sich das Buch wieder vor das Gesicht und versuchte, ihn zu ignorieren. „Hör doch auf, das arme Buch zu quälen, Miranda. Wir wissen beide, dass du es nicht liest." „Lässt du mich jetzt endlich einmal in Ruhe?", brach es schließlich aus ihr hervor. „Bei welcher Zahl bist du denn inzwischen angelangt?" „Was?" „Bei welcher Zahl? Du sagtest, du zählst, um meine zarte Empfindsamkeit nicht zu verletzen." „Ich weiß nicht. Zwanzig. Dreißig. Ich weiß es nicht. Ich habe schon vor vier Beleidigungen aufgehört zu zählen." „Du hast es bis dreißig geschafft? Du hast mich angelogen, Miranda. Ich glaube nicht, dass du überhaupt die Geduld mit mir verloren hast." „Habe ... ich ... aber", stieß sie hervor. „Glaube ich nicht."
„Aaaargh!" Sie warf mit dem Buch nach ihm. Es erwischte ihn sauber am Kopf. „Autsch!" „Sei nicht so wehleidig." „Sei nicht so tyrannisch." „Hör auf, mich zu provozieren!" „Ich habe dich nicht provoziert." „Oh, bitte, Turner." „Ach, schon gut", sagte er gereizt und rieb sich den Kopf. „Ich habe dich provoziert. Aber ich hätte es nicht getan, wenn du mich nicht ignoriert hättest." „Entschuldige, aber ich hätte gedacht, du willst, dass ich dich ignoriere." „Wie zum Teufel kommst du denn auf diese Idee?" Miranda blieb der Mund offen stehen. „Bist du verrückt geworden? Du hast mich die letzten vierzehn Tage gemieden, als wäre ich eine Aussätzige. Du bist sogar deiner Mutter aus dem Weg gegangen, nur um mir nicht begegnen zu müssen." „Also das ist nicht wahr!" „Erzähl das deiner Mutter." Er verzog das Gesicht. „Miranda, ich wünschte, wir könnten Freunde sein." Sie schüttelte den Kopf. Gab es Worte, die noch grausamer waren? „Das ist nicht möglich." „Warum nicht?" „Du kannst nicht alles haben", fuhr Miranda fort, wobei sie alle Kraft darauf verwendete, ihrer Stimme einen festen Klang zu verleihen. „Du kannst mich nicht erst küssen und dann sagen, du möchtest mit mir befreundet sein. Du kannst mich nicht demütigen, wie du es auf dem Ball der Worthingtons getan hast, und dann behaupten, du würdest mich mögen." „Wir müssen vergessen, was geschehen ist", erklärte er leise. „Wir müssen es hinter uns lassen, wenn schon nicht um unserer Freundschaft willen, dann wegen meiner Familie." „Kannst du das?", fragte Miranda. „Kannst du das wirklich vergessen? Ich kann es nämlich nicht." „Natürlich kannst du das, Miranda", widersprach er ihr ein wenig zu leichthin.
„Mir fehlt deine Weltgewandtheit", erwiderte sie und fügte dann bitter hinzu: „Oder vielleicht nur deine Oberflächlichkeit." „Ich bin nicht oberflächlich, Miranda", gab er zurück. „Ich bin nur vernünftig. Einer von uns muss es ja sein." Sie wünschte, dass ihr darauf etwas einfiel. Sie wünschte sich, dass sie irgendeine schneidende Antwort parat hätte, die ihn umwarf, die ihn sprachlos machte, die ihn als Häuflein zitternden, erbärmlichen Elends zurückließ. Doch sie war auf sich allein gestellt, und in ihren Augen brannten bereits schreckliche Tränen der Wut. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr noch ein wütender Blick gelänge, und so wandte sie sich ab, zählte die Gebäude, die draußen vorbeiflogen, und wünschte, dass sie irgendwo anders wäre. Irgendjemand anders. Und das war das Schlimmste, denn obwohl ihre Freundin hübscher, reicher und von besserer Geburt war als sie, hatte Miranda sich noch nie im Leben gewünscht, jemand anders zu sein als die, die sie eben war. Turner hatte im Leben schon manches getan, worauf er nicht stolz war. Er hatte zu viel getrunken und sich auf einen kostbaren Teppich übergeben. Er hatte Geld verspielt, das er eigentlich gar nicht besaß. Und einmal hatte er sogar ein Pferd zu hart und zu sorglos geritten, sodass es hinterher eine Woche lang lahmte. Und doch hatte er sich nie so erbärmlich gefühlt wie in diesem Augenblick, da er auf Mirandas Profil blickte, das so entschlossen zum Fenster gewandt war. So entschlossen weg von ihm. Eine lange Weile sagte er gar nichts. Sie verließen London, fuhren durch die Ausläufer, wo die Häuser spärlicher und die leeren Flächen größer wurden, und schließlich rollten sie zwischen weiten, offenen Feldern dahin. Sie blickte kein einziges Mal zu ihm herüber. Er wusste es, denn er beobachtete sie. Und da er das Schweigen nicht noch eine Stunde lang ertragen konnte und auch nicht darüber nachdenken wollte, was genau es zu bedeuten hatte, erhob er die Stimme.
„Ich will dich nicht beleidigen, Miranda", erklärte er ruhig, „aber ich weiß, wenn etwas keine gute Idee ist. Mit dir zu tändeln, wäre eine äußerst schlechte Idee." Sie drehte sich nicht zu ihm, doch er hörte, wie sie fragte: „Warum?" Ungläubig starrte er sie an. „Was denkst du denn, Miranda? Ist dir dein Ruf völlig egal? Wenn sich das mit uns herumspräche, wärst du ruiniert." „Oder du müsstest mich heiraten", erwiderte sie in leisem, spöttischem Ton. „Was ich keineswegs beabsichtige. Das weißt du." Er fluchte verhalten. Lieber Gott, das war jetzt vollkommen verquer herausgekommen. „Ich will überhaupt niemanden heiraten", erklärte er. „Das weißt du ebenfalls." „Was ich weiß", fuhr sie ihn an, und in ihren Augen loderte unverhohlener Zorn, „ist..." Und dann hielt sie inne, klappte den Mund zu und verschränkte die Arme. „Was?", wollte er wissen. Sie drehte sich wieder zum Fenster. „Du würdest es nicht verstehen." Und dann: „Du würdest gar nicht zuhören." Ihr verächtlicher Ton ging ihm unter die Haut. „Ach, bitte. Diese Launenhaftigkeit steht dir nicht." Darauf wirbelte sie erneut zu ihm herum. „Und wie soll ich mich benehmen? Sag mir, was soll ich empfinden?" Seine Lippen verzogen sich. „Dankbarkeit?" „Dankbarkeit?" Er lehnte sich zurück; seine ganze Haltung verriet Anmaßung. „Ich hätte dich verführen können, weißt du. Mit Leichtigkeit. Aber ich habe es nicht getan." Sie keuchte auf und rückte noch weiter von ihm ab, und als sie antwortete, war ihre Stimme leise und tödlich. „Du bist hassenswert, Turner." „Ich sage nur die Wahrheit. Und weißt du, warum ich nicht weiter gegangen bin? Warum ich dir nicht das Nachthemd ausgezogen, dich hingelegt und dich dort auf dem Sofa genommen habe?" Ihre Augen weiteten sich, und sie begann, vernehmlich zu keuchen. Er wusste, dass sein Verhalten roh, widerwärtig und, ja, hassenswert war, aber er konnte sich nicht bremsen,
musste in derselben Unverblümtheit weitersprechen, denn er musste es ihr begreiflich machen. Sie musste erkennen, wer er wirklich war, wessen er fähig war und wessen nicht. Und dieses ... dieses ... Sie. Es war ihm gelungen, um ihretwillen ehrenhaft zu handeln, und sie war ihm nicht einmal dankbar? „Ich verrate es dir", zischte er beinahe. „Ich habe aus Respekt vor dir aufgehört. Und ich sage dir noch etwas ..." Er hielt inne, fluchte, und sie sah ihn fragend an, herausfordernd, provozierend, als wollte sie spotten: Du weißt ja nicht einmal, was du sagen willst.
Aber genau da lag das Problem. Er wusste es, er war kurz davor gewesen, ihr zu sagen, wie sehr er sie begehrt hatte. Dass er sich nicht sicher sei, ob er auch aufgehört hätte, wenn es nicht im Haus seiner Eltern geschehen wäre. Ob er dann überhaupt hätte aufhören können. Aber das brauchte sie nicht zu erfahren. Sie sollte es auch nicht erfahren. Er wollte nicht, dass sie derartige Macht über ihn erlangte. „Auch wenn es kaum zu glauben ist", murmelte er, mehr für sich als zu ihr, „ich wollte deine Zukunft nicht ruinieren." „Überlasse meine Zukunft mir", antwortete sie erbost. „Ich weiß schon, was ich tue." Er schnaubte spöttisch. „Du bist zwanzig. Du glaubst, du weißt alles." Wütend starrte sie ihn an. „Als ich zwanzig war, habe ich auch geglaubt, ich wüsste alles", erklärte er achselzuckend. Ihr Blick wurde traurig. „Ich auch", erklärte sie leise. Turner versuchte, die unangenehmen Schuldgefühle zu ignorieren, die sich in seinem Magen zusammenballten. Er war sich nicht einmal sicher, weswegen er sich schuldig fühlte, eigentlich war die ganze Sache vollkommen lächerlich. Er sollte kein schlechtes Gewissen haben, weil er ihr nicht die Unschuld geraubt hatte, und alles, was ihm dazu einfiel, war: „Du wirst mir eines Tages noch dankbar sein." Ungläubig sah sie ihn an. „Du klingst wie deine Mutter." „Nun wirst du mürrisch." „Kannst du mir das zum Vorwurf machen? Du behandelst
mich wie ein kleines Kind, und dabei weißt du sehr wohl, dass ich eine Frau bin." Vor lauter Schuldgefühlen drehte sich ihm schier der Magen um. „Ich kann meine Entscheidungen selbst fällen", sagte sie trotzig. „Offenbar nicht." Er beugte sich vor, ein gefährliches Glitzern im Blick. „Sonst hättest du mir nicht erlaubt, dir das Nachthemd herunterzuziehen und dich auf die Brüste zu küssen." Vor Scham lief sie dunkelrot an, und ihre Stimme zitterte anklagend, als sie sagte: „Versuche nicht, die Schuld auf mich abzuwälzen." Er schloss die Augen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar; er war sich bewusst, dass er eben etwas sehr, sehr Dummes gesagt hatte. „Natürlich ist es nicht deine Schuld, Miranda. Bitte vergiss, dass ich das gesagt habe." „Genau wie ich vergessen soll, dass du mich geküsst hast." Ihr Ton war ausdruckslos. „Ja." Er blickte zu ihr hinüber und entdeckte in ihren Augen einen seltsam leeren Ausdruck, wie er ihn noch nie bei ihr gesehen hatte. „O Gott, Miranda, bitte schau nicht so." „Tu dies nicht, tu dafür das", platzte sie heraus. „Vergiss dies, vergiss aber das nicht. Entscheide dich, Turner. Ich weiß nicht, was du willst. Ich glaube, das weißt du selbst nicht." „Ich bin neun Jahre älter als du", versetzte er mit furchterregender Stimme. „Hör sofort auf, so herablassend mit mir zu reden." „Tut mir furchtbar leid, Euer Hoheit." „Hör auf, Miranda." Ihr Gesicht, das so verschlossen und bitter gewirkt hatte, floss plötzlich über vor Gefühlen. „Hör auf, mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe! Ist dir je der Gedanke gekommen, dass ich mir gewünscht haben könnte, von dir geküsst zu werden? Dass ich von dir begehrt werden wollte? Und dass du das tust, weiß ich. So naiv bin ich nun auch wieder nicht, dass du mich da eines Besseren belehren könntest." Turner konnte sie nur anstarren, und dann flüsterte er: „Du weißt ja nicht, was du da redest."
„Natürlich weiß ich das!" Ihre Augen blitzten, sie ballte die Hände zu zitternden Fäusten, und er hatte eine schreckliche Vorahnung, dass nun der Augenblick gekommen war, der Augenblick, von dem alles abhing, und er wusste, ohne daran zu denken, was sie sagen und was er erwidern würde, dass die Geschichte nicht gut ausgehen würde. „Ich weiß genau, was ich rede", erklärte sie. „Ich will dich." Sein Körper spannte sich an, und sein Herz trommelte wild in der Brust. Aber er durfte nicht erlauben, dass das so weiterging. „Miranda, du glaubst nur, dass du mich begehrst", unterbrach er sie rasch. „Du hast noch nie jemand anders geküsst, und ..." „Hör auf, mich so gönnerhaft zu behandeln." Ihr Blick verschmolz mit dem seinen, und in beiden loderte Begierde. „Ich weiß, was ich will, und ich will dich." Zittrig atmete er ein. Für die nächste Bemerkung verdiente er die Heiligsprechung. „Nein, das willst du nicht. Das ist nur eine Schwärmerei." „Zum Teufel mit dir!", schrie sie ihn an. „Bist du blind? Bist du taub, stumm und blind? Das ist keine Schwärmerei, du Dummkopf! Ich liebe dich!" O Gott.
„Ich habe dich schon immer geliebt! Seit ich dir vor neun Jahren zum ersten Mal begegnet bin. Ich habe dich die ganze Zeit geliebt, jede Minute." „O Gott." „Und versuche nicht, mir zu erzählen, das wäre eine Kinderliebe, denn das ist es nicht. Vielleicht war es das früher einmal, aber jetzt nicht mehr." Er schwieg. Er saß einfach nur da wie ein Schwachkopf und starrte sie an. „Ich ... ich kenne mein eigenes Herz, und ich liebe dich, Turner. Und wenn du auch nur die geringste Spur von Anstand besitzt, sagst du jetzt etwas, denn ich habe alles gesagt, was ich sagen könnte, und ich ertrage dein Schweigen nicht, und ... oh, um Himmels willen, könntest du nicht wenigstens blinzeln?" Aber er brachte nicht einmal das fertig.
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10. KAPITEL Zwei Tage später schien Turner immer noch wie betäubt. Miranda hatte nicht versucht, mit ihm zu reden, hatte sich ihm nicht einmal genähert, aber hin und wieder ertappte sie ihn dabei, wie er sie mit unergründlicher Miene betrachtete. Sie wusste, dass sie ihn aus der Fassung gebracht hatte, weil er nicht einmal die Geistesgegenwart aufbrachte wegzusehen, wenn sich ihre Blicke kreuzten. Er starrte sie dann noch ein paar Augenblicke lang an, ehe er blinzelte und sich ab wandte. Miranda gab die Hoffnung nicht auf, dass er ihr auch einmal zunicken würde. Den größten Teil des Wochenendes gelang es ihnen, nie zur selben Zeit am selben Ort zu sein. Wenn Turner ausritt, erging Miranda sich in der Orangerie, wenn Miranda im Park spazieren ging, spielte Turner Karten. Sehr zivilisiert. Sehr erwachsen. Und, dachte Miranda mehr als einmal, einfach herzzerreißend. Selbst bei den Mahlzeiten bekamen sie sich kaum zu sehen. Lady Chester war auf ihre Ehestiftungskünste sehr stolz, und da für sie ausgeschlossen war, dass Turner und Miranda in irgendeiner romantischen Verbindung stehen könnten, setzte sie die beiden nie nebeneinander. Turner war immer von einer Schar hübscher junger Dinger umgeben, während Miranda nicht selten abkommandiert wurde, irgendwelchen ergrauten Witwern Gesellschaft zu leisten. Vermutlich setzte Lady Chester nicht viel Vertrauen in ihre Fähigkeit, sich einen passenden Ehemann zu schnappen. Neben Olivia dagegen wurden immer drei außerordentlich attraktive und reiche Herren
platziert: einer zu ihrer Linken, einer zu ihrer Rechten, einer gegenüber. Miranda lernte eine Menge über Hausmittelchen gegen Gicht. Bei einer der Unterhaltungen, die Lady Chester für ihre Gäste geplant hatte, überließ sie die Gruppierung allerdings dem Zufall, und zwar bei der alljährlichen Schnitzeljagd. Die Gäste wurden in Zweierteams losgeschickt. Und nachdem das Ziel aller Gäste darin bestand, entweder zu heiraten oder eine Affäre anzufangen (je nachdem, wie es um ihren augenblicklichen Familienstand bestellt war), sollte jedes Team aus einem Mann und einer Frau bestehen. Lady Chester hatte die Namen ihrer Gäste auf Zettel geschrieben und dann die Damenzettel in einen Beutel und die Herrenzettel in einen anderen Beutel gesteckt. Gerade ließ sie die Hand in einen dieser Beutel gleiten. Miranda wurde übel. „Sir Anthony Waldove und Lady ehester zog einen Zettel aus dem anderen Beutel, „... Lady Rudland." Miranda stieß den Atem aus und merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. Sie würde alles tun, um mit Turner losgeschickt zu werden - und alles, um dies zu vermeiden. „Arme Mama", wisperte Olivia ihr ins Ohr. „Sir Anthony Waldove ist ziemlich schwer von Begriff. Die ganze Arbeit wird an ihr hängen bleiben." Miranda legte den Finger an die Lippen. „Still, ich höre nichts." „Mr. William Fitzhugh und ... Miss Charlotte Gladdish." „Mit wem würdest du gern gehen?", fragte Olivia. Miranda zuckte mit den Schultern. Wenn sie nicht Turner zugeteilt wurde, war es ihr ziemlich egal. „Lord Turner und ..." Miranda setzte das Herz aus. „... Lady Olivia Bevelstoke. Ist das nicht reizend? Wir veranstalten die Schnitzeljagd nun schon seit fünf Jahren, und dies ist unser erstes Geschwisterteam." Miranda begann wieder zu atmen; sie wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Olivia jedenfalls hatte keine Zweifel, was ihre Gefühle be-
traf. „Quel Katastrophe", murmelte sie in dem gebrochenen Französisch, das so typisch für sie war. „Da haben wir all diese Gentlemen, und ich bleibe an meinem Bruder hängen. Wann bekomme ich denn wieder Gelegenheit, allein mit einem Gentleman davonzuspazieren? Was für eine Verschwendung, sag ich dir, was für eine Verschwendung!" „Es hätte schlimmer kommen können", meinte Miranda pragmatisch. „Nicht all die Gentlemen hier sind, ähm, Gentlemen. Wenigstens kannst du sicher sein, dass Turner dir nicht zu nahe treten wird." „Ein ziemlich schwacher Trost, das kannst du mir glauben." „Livvy ..." „Psst, sie haben gerade Lord Westholme ausgerufen." „Und von den Damen zwitscherte Lady Chester, „Miss Miranda Cheever." Olivia stieß sie in die Seite. „Du Glückspilz." Miranda zuckte nur mit den Schultern. „Ach, nun tu doch nicht so entrückt", mahnte Olivia sie. „Findest du ihn denn nicht göttlich? Ich würde meinen linken Fuß hergeben, um mit dir zu tauschen. Hör mal, warum tauschen wir nicht wirklich? Die Spielregeln verbieten das nicht. Und du magst Turner schließlich." Nur zu sehr, dachte Miranda düster. „Nun? Machst du mit? Es sei denn, du hättest auch ein Auge auf Lord Westholme geworfen?" „Nein", erwiderte Miranda und versuchte, nicht allzu entsetzt zu klingen. „Nein, natürlich nicht." „Na, worauf warten wir dann noch?", meinte Olivia aufgeregt. Miranda wusste nicht, ob sie die Chance ergreifen oder lieber in ihr Zimmer rennen und sich im Schrank verstecken sollte. Jedenfalls fiel ihr keine Ausrede ein, warum sie Olivias Bitte abschlagen sollte. Livvy würde sicher wissen wollen, warum sie nicht mit Turner allein sein wollte. Und was sollte sie dann sagen? Ich habe deinem Bruder erklärt, dass ich ihn liebe, und nun befürchte ich, dass er mich hasst? Ich kann mit Turner nicht allein sein, weil ich befürchte, dass er mir zu nahe treten könnte? Ich kann nicht mit ihm allein sein, weil ich befürchte, ich könnte ihm zu nahe treten?
Schon bei der Vorstellung hätte Miranda am liebsten gelacht. Oder geweint. Aber Olivia sah sie erwartungsvoll an, auf die für sie so typische Art, die sie schon im Alter von vielleicht drei Jahren vervollkommnet hatte, und Miranda erkannte, dass es gar keine Rolle spielte, was sie sagte oder tat - am Ende würde sie doch mit Turner als Partner dastehen. Olivia war nicht direkt verzogen, höchstens ein bisschen. Es war nur so, dass jeder Versuch Mirandas, diese Angelegenheit zu umgehen, auf eine so drängende und peinliche Befragung stoßen würde, dass sie schließlich alles preisgeben würde. Und dann würde sie das Land verlassen müssen, oder wenigstens ein Bett finden, unter dem sie sich verkriechen konnte. Für eine Woche. Also seufzte sie. Und nickte dann. Und sie dachte an Sonnenseiten und Silberstreifen am Horizont, musste aber feststellen, dass nichts davon zu sehen war. Olivia ergriff ihre Hand und drückte sie. „Ach, Miranda, danke!" „Hoffentlich macht es Turner nichts aus", meinte Miranda vorsichtig. „Ach, sicher nicht. Vermutlich dankt er dem Schicksal auf Knien, dass er den Nachmittag nicht mit mir verbringen muss. Er hält mich für eine Göre." „Das tut er nicht." „Doch. Er sagt mir oft, ich sollte mehr wie du sein." Überrascht wandte Miranda den Kopf. „Wirklich?" „Mmmm-hmmm." Doch Olivias Aufmerksamkeit galt schon wieder Lady Chester, die mit der Bildung der Teams fortfuhr. Als sie die Paare alle eingeteilt hatte, erhoben sich die Männer, um ihre Partnerin zu suchen. „Miranda und ich haben getauscht!", rief Olivia aus, als Turner zu ihr kam. „Das macht dir doch nichts aus, oder?" „Natürlich nicht", antwortete er, aber Miranda hätte nicht einmal einen Penny darauf gewettet, dass er die Wahrheit sprach. Was hätte er schließlich sagen sollen? Nun trat auch Lord Westholme zu ihnen, und obwohl er
so höflich war, seine Gefühle zu verbergen, merkte man ihm doch an, dass er von dem Tausch entzückt war. Turner schwieg. Olivia warf Miranda ein erstauntes Stirnrunzeln zu, das diese aber ignorierte. „Hier ist der erste Hinweis!", rief Lady Chester. „Würden die Herren bitte vortreten und ihn abholen?" Turner und Lord Westholme gingen in die Raummitte und kehrten kurz darauf jeder mit einem schneeweißen, sauber gefalteten Zettel zurück. „Wir machen unseren am besten draußen auf", sagte Olivia zu Lord Westholme und warf Turner und Miranda ein verschmitztes Lächeln zu. „Ich will nicht belauscht werden, während wir unsere Strategie durchsprechen." Die anderen Wettstreiter dachten offensichtlich dasselbe, denn einen Augenblick später standen Turner und Miranda allein im Zimmer. Er atmete tief durch und stemmte die Hände in die Hüften. „Das mit dem Tausch war nicht meine Idee", erklärte Miranda hastig. „Olivia hat mich darum gebeten." Er hob eine Augenbraue. „Es stimmt!", rief sie aus. „Livvy interessiert sich für Lord Westholme, und sie meint, dass du sie für eine Göre hältst." „Sie ist ja auch eine Göre." Miranda neigte dazu, ihm beizupflichten, sagte aber stattdessen: „Sie konnte ja nicht wissen, was sie tat, als sie uns zusammengebracht hat." „Du hättest dich weigern können zu tauschen", bemerkte er spitz. „Ach, und mit welcher Begründung?", fragte Miranda gereizt. Er hätte nicht ganz so bestürzt reagieren müssen, nur weil sie bei dem Spiel seine Partnerin geworden war. „Wie hätte ich ihr denn deiner Meinung nach erklären sollen, dass wir den Nachmittag besser nicht miteinander verbringen sollten?" Turner antwortete nicht, weil er, wie sie glaubte, darauf keine Antwort hatte. Er drehte sich nur auf dem Absatz um und stolzierte aus dem Zimmer.
Miranda blickte ihm einen Augenblick nach, und als deutlich wurde, dass er nicht die Absicht hatte, auf sie zu warten, stieß sie ein leises Schnauben aus und lief ihm nach. „Turner, nun warte doch!" Er blieb stehen, und das mit so übertriebener Haltung, dass man ihm seine Ungeduld deutlich ansah. Als sie bei ihm ankam, zeigte seine Miene einen gelangweilten, verärgerten Ausdruck. „Ja?", sagte er gedehnt. Sie bemühte sich nach Kräften, die Beherrschung zu wahren. „Könnten wir wenigstens versuchen, höflich zueinander zu sein?" „Ich bin nicht zornig auf dich, Miranda." „Nun, du erweckst jedenfalls diesen Eindruck." „Ich bin enttäuscht", erklärte er, und die Art, in der er es sagte, weckte in ihr den Verdacht, dass er sie schockieren wollte. Und dann brummte er: „In mehr als einer Hinsicht, was du dir wahrscheinlich nicht vorstellen kannst." Miranda konnte es sich sehr wohl vorstellen, tat es auch oft, und errötete. „Falte den Zettel auf, ja?", murmelte sie. Er reichte ihn ihr, sie faltete ihn auseinander und strich ihn glatt. „Der nächste Hinweis findet sich unter einer kleinen Sonne", las sie. Sie sah zu ihm hinüber. Er schaute sie nicht einmal an. Er wich ihrem Blick auch nicht aus, er starrte einfach nur ins Leere. Und sah aus, als wäre er lieber anderswo. „Die Orangerie", erklärte sie. Inzwischen war sie fast an einem Punkt angelangt, wo es ihr gleichgültig war, ob er mitmachte oder nicht. „Ich habe schon immer gefunden, dass Orangen wie kleine Sonnen aussehen." Er nickte brüsk und bedeutete ihr mit einem Winken vorauszugehen. Seinen Bewegungen haftete etwas so Unhöfliches und Herablassendes an, dass sie das überwältigende Bedürfnis verspürte, mit den Zähnen zu knirschen und laut zu knurren. Wortlos marschierte sie aus dem Haus und wandte sich zur Orangerie. Er konnte es gar nicht abwarten, dass diese verflixte Schnitzeljagd vorüber war? Nun, da war sie ihm nur allzu gern zu Diensten. Sie war ziemlich klug, und die Hinweise waren wohl nicht besonders schwer zu entschlüsseln. Binnen
einer Stunde konnten sie in ihren jeweiligen Zimmern zurück sein. Wie erwartet, fanden sie unter einem Orangenbäumchen einen Stapel mit gefalteten Zetteln. Schweigend bückte Turner sich nach einem und reichte ihn an sie weiter. Ebenso schweigend entfaltete Miranda die Botschaft. Sie las den Hinweis und gab ihn Turner. Die Römer könnten weises helfen.
bei
der
Auffindung
des
nächsten
Hin-
Wenn er sich über ihr Schweigen ärgerte, ließ er es sich nicht anmerken. Er faltete das Papier einfach nur wieder zusammen und sah sie mit einer Miene gelangweilter Erwartung an. „Der nächste Hinweis befindet sich unter einem Bogen", erklärte sie nüchtern. „Die Römer haben ihn als Erste in der Architektur eingesetzt. Im Park gibt es mehrere davon." Zehn Minuten später sammelten sie den nächsten Hinweis ein. „Weißt du, wie viele von diesen Zetteln wir noch lösen müssen, bis wir fertig sind?", erkundigte sich Turner. Seit sie angefangen hatten, war dies sein erster Satz, und er handelte davon, wann er sie loswurde. Miranda biss die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf und faltete den Zettel auseinander. Sie musste die Contenance wahren. Wenn sie ihm erlaubte, ihrer Fassade auch nur einen Kratzer zuzufügen, würde sie komplett zusammenbrechen. Sie setzte eine gleichgültige Miene auf, strich den Zettel glatt und las: „Den nächsten Hinweis muss man jagen." „Etwas, was mit der Jagd zu tun hat, könnte ich mir vorstellen", meinte Turner. Sie hob die Brauen. „Du hast dich also entschlossen, doch noch mitzumachen?" „Sei nicht kleinlich, Miranda." Verärgert stieß sie die Luft aus und beschloss, seine Bemerkung zu ignorieren. „Im Osten steht eine kleine Jagdhütte. Zu Fuß sind wir in einer Viertelstunde dort." „Und wie hast du die Jagdhütte entdeckt?"
„Ich bin ziemlich viel spazieren gegangen." „Vermutlich immer dann, wenn ich mich im Haus aufgehalten habe." Miranda sah keinerlei Veranlassung, ihm zu widersprechen. Turner blickte zum Horizont. „Glaubst du, Lady Chester würde uns so weit vom Haupthaus weglotsen?" „Bis jetzt habe ich immer recht behalten", erwiderte Miranda. „Ja, stimmt", sagte er und zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Dann geh voraus." Sie waren etwa zehn Minuten im Wald unterwegs, als Turner zweifelnd zum dunkler werdenden Himmel aufsah. „Sieht nach Regen aus", meinte er lakonisch. Miranda schaute auf. Er hatte recht. „Was möchtest du tun?" „Jetzt gleich?" „Nein, nächste Woche. Natürlich jetzt gleich, du Gimpel." „Gimpel?" Er lächelte, und seine weiß aufblitzenden Zähne blendeten sie fast. „Das schmerzt mich." Miranda kniff die Augen zusammen. „Warum bist du auf einmal wieder nett zu mir?" „War ich das denn?", murmelte er, und sie war gekränkt. „Oh, Miranda", fuhr er herablassend seufzend fort, „vielleicht gefällt es mir, nett zu dir zu sein." „Vielleicht auch nicht." „Vielleicht aber doch", widersprach er spitz. „Und vielleicht machst du es einem manchmal auch nur schwer." „Vielleicht", versetzte sie ebenso arrogant, „fängt es jetzt gleich an zu regnen und wir sollten uns sputen." Ein Donnerschlag übertönte ihr letztes Wort. „Vielleicht hast du recht", erwiderte Turner und sah mit gerunzelter Stirn zum Himmel. „Sind wir näher am Haus oder näher an der Jagdhütte?" „An der Jagdhütte." „Dann mal los. Ich möchte nicht mitten im Wald von einem Gewitter erwischt werden." Trotz ihrer Bedenken wegen der Schicklichkeit konnte Miranda ihm da nicht widersprechen, und so hasteten sie
in Richtung Jagdhütte. Doch sie waren kaum zehn Schritte gegangen, als die ersten Tropfen fielen. Nach weiteren zehn Schritten goss es bereits in Strömen. Turner nahm sie bei der Hand und begann zu laufen. Miranda stolperte hinter ihm her und fragte sich, ob die Lauferei überhaupt etwas brachte, schließlich waren sie bereits nass bis auf die Haut. Ein paar Minuten später standen sie vor der Jagdhütte. Turner drehte den Türknauf, doch die Tür gab nicht nach. „Verdammte Hölle", stieß er hervor. „Ist sie abgesperrt?", fragte Miranda mit klappernden Zähnen. Er nickte knapp. „Was machen wir denn jetzt?" Seine Antwort bestand darin, die Schulter gegen die Tür zu rammen. Miranda biss sich auf die Lippen. Das hatte doch sicher wehgetan. Prüfend rüttelte sie an einem Fenster. Ebenfalls verschlossen. Turner warf sich noch einmal gegen die Tür. Währenddessen umrundete Miranda das Haus und versuchte es bei einem anderen Fenster. Es ließ sich ohne große Anstrengung aufschieben. Im selben Augenblick hörte sie, wie Turner durch die Tür krachte. Kurz überlegte sie, trotzdem durch das Fenster zu klettern, entschied dann aber, sich großzügig zu zeigen, und schloss es wieder. Es hatte ihn große Mühe gekostet, die Tür aufzubrechen. Das Wenigste, was sie im Gegenzug tun konnte, war, ihn in dem Glauben zu belassen, dass er ihr Ritter in der schimmernden Rüstung war. „Miranda!" Sie eilte zum Eingang zurück. „Hier bin ich." Dann lief sie in die Hütte und schloss die Tür hinter sich. „Was zum Teufel hast du da hinten getrieben?" „Ich bin netter gewesen, als du dir vorstellen kannst", murmelte sie in sich hinein und wünschte sich, sie wäre doch durch das Fenster gekrabbelt. „Hmm?" „Ich habe mich nur umgesehen", erklärte sie. „Hast du die Tür beschädigt?"
„Nicht sehr. Allerdings ist der Riegel zerbrochen." Sie zuckte zusammen. „Ist deine Schulter verletzt?" „Nein, alles in Ordnung." Er streifte den klatschnassen Mantel ab und hängte ihn an einen Haken in der Wand. „Zieh dein ...", er wies auf ihre leichte Pelisse, „... wie es auch heißt, aus." Miranda schlang die Arme um sich und schüttelte den Kopf. Er warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. „Für zimperliche Sittsamkeit ist es jetzt ein bisschen zu spät." „Es könnte jederzeit jemand hereinkommen." „Wohl kaum", meinte er. „Ich könnte mir vorstellen, dass sie alle sicher und gemütlich in Lord Chesters Arbeitszimmer sitzen und sich die Jagdtrophäen ansehen, die er sich an die Wand genagelt hat." Miranda versuchte, den Kloß zu ignorieren, der sich in ihrer Kehle bildete. Sie hatte vergessen, was für ein passionierter Jäger Lord Chester war. Rasch sah sie sich im Raum um. Turner hatte recht. Weit und breit kein weißer Zettel in Sicht. Also war es höchst unwahrscheinlich, dass sie in nächster Zeit überrascht wurden, und es sah auch nicht so aus, als würde der Regen bald aufhören. „Bitte sag jetzt nicht, dass du zu den Damen gehörst, denen die Sittsamkeit wichtiger ist als ihre Gesundheit." „Nein, natürlich nicht." Sie legte die Pelisse ab und hängte sie neben seinem Mantel auf. „Kannst du Feuer machen?", erkundigte sie sich. „Vorausgesetzt, wir haben trockenes Holz." „Oh, sicher findet sich hier Brennholz. Es ist schließlich eine Jagdhütte." Hoffnungsvoll sah sie zu Turner auf. „Wollen die Männer es beim Jagen nicht warm haben?" „Nach dem Jagen", korrigierte er sie abwesend, während er sich nach Holz umsah. „Und die meisten Männer, Lord Chester eingeschlossen, sind sicher so bequem, dass sie lieber den kurzen Weg zum Haus zurücklegen, als sich die Mühe zu machen, hier ein Feuer anzuzünden." „Oh." Miranda stand einen Augenblick still da und sah zu, wie er im Zimmer herumging. Dann sagte sie: „Ich schaue
mal in dem anderen Zimmer nach, ob es dort irgendwelche trockenen Kleider gibt, die wir benutzen können." „Gute Idee." Turner sah ihr nach, als sie nach nebenan verschwand. Der Regen hatte ihr das Oberteil an den Leib geklebt, und durch den nassen Stoff sah er ihre warme, rosafarbene Haut. Seine Lenden, eben noch eiskalt von den patschnassen Sachen, wurden erstaunlich schnell heiß und schwer. Er fluchte, und als er den Deckel einer Holzkiste anhob, um dort nach Brennholz zu suchen, stieß er sich den Zeh an. Lieber Gott, womit hatte er das nur verdient? Wenn man ihm Stift und Papier gereicht hätte, damit er die schlimmsten Torturen aufschrieb - auf so etwas wäre er nie verfallen. Und er besaß eine sehr lebhafte Fantasie. „Hier ist etwas Holz!" Turner folgte dem Klang von Mirandas Stimme in den nächsten Raum. „Hier ist es." Sie wies auf einen Stapel Brennholz neben dem Kamin. „Anscheinend zieht Lord Chester diesen Kamin vor, wenn er hier ist." Turner sah zu dem großen Bett mit den weichen Decken und den bauschigen Kissen. Er konnte sich ungefähr vorstellen, warum Lord Chester dieses Zimmer lieber war, und es hatte nichts mit der recht stattlichen Lady ehester zu tun. Sofort schichtete er Holz im Kamin auf. „Meinst du nicht, dass wir lieber den im anderen Zimmer nehmen sollten?", fragte Miranda. Auch sie hatte das große Bett entdeckt. „Der hier ist offensichtlich regelmäßig in Gebrauch. Es ist gefährlich, einen schmutzigen Kamin zu benutzen. Er könnte verstopft sein." Miranda nickte langsam, und er sah, dass sie sich große Mühe gab, ihr Unbehagen zu verbergen. Während Turner sich um das Feuer kümmerte, suchte sie weiter nach trockener Kleidung, fand aber nichts als ein paar kratzig wirkende alte Decken. Sie legte sich eine um die Schultern. „Kaschmir?", fragte er gedehnt. Ihre Augen weiteten sich. Offenbar war sie sich nicht bewusst gewesen, dass er sie beobachtete. Er lächelte, eigentlich bleckte er eher die Zähne. Gut möglich, dass sie sich
nicht wohlfühlte, aber ihm behagte die Situation auch nicht. Glaubte sie etwa, für ihn wäre es leicht? Lieber Himmel, sie hatte ihm erklärt, dass sie ihn liebte. Warum zum Teufel hatte sie das gemacht? Hatte sie von Männern denn gar keine Ahnung? War ihr möglicherweise nicht klar, dass dies der sicherste Weg war, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen? Er wollte ihr Herz nicht anvertraut bekommen. Er scheute die Verantwortung. Er war verheiratet gewesen, und sein eigenes Herz war zerbrochen, zertrampelt und weggeworfen worden. Das Letzte, was er jetzt wollte, war, das Herz eines anderen in seine Obhut zu nehmen, vor allem, wenn es sich bei diesem Herz um Mirandas handelte. „Nimm die Bettdecke", sagte er achselzuckend. Sicher war die bequemer als die Decken, die sie gefunden hatte. Doch sie schüttelte den Kopf. „Lieber nicht, ich möchte nicht, dass jemand unsere Anwesenheit hier bemerkt." „Hmm, ja", erwiderte er unfreundlich. „Dann müsste ich dich wohl heiraten, nicht?" Sie wirkte so verstört, dass er eine Entschuldigung murmelte. Lieber Gott, er verwandelte sich allmählich in einen recht unangenehmen Menschen. Er wollte sie nicht verletzen. Er wollte nur ... Zum Teufel, er wusste nicht, was er wollte. Er konnte nicht mal zehn Minuten weit nach vorn denken, konnte sich auf nichts anderes konzentrieren als darauf, die Hände bei sich zu behalten. Eifrig befasste er sich mit dem Feuer und stieß schließlich ein zufriedenes Schnaufen aus, als endlich eine winzige orangerote Flamme an den Holzscheiten leckte. „Vorsichtig jetzt", murmelte er und schob langsam etwas Kleinholz zu der Flamme hin. „Vorsichtig, vorsichtig ... ja!" „Turner?" „Hab das Feuer in Gang gebracht", brummte er und schämte sich ein wenig für seine Begeisterung. Er stand auf und drehte sich um. Sie hatte immer noch die dünne Decke um die Schultern gelegt. „Das wird dir auch nichts nützen, wenn sich die Decke erst einmal mit Wasser vollgesogen hat."
„Etwas anderes bleibt mir ja wohl nicht übrig, oder?" „Das liegt ganz bei dir. Was mich angeht, so trockne ich mich jetzt ab." Er machte sich daran, sein Hemd aufzuknöpfen. „Vielleicht sollte ich ins andere Zimmer gehen", flüsterte sie. Turner bemerkte, dass sie sich keinen Zoll bewegte. Er zuckte mit den Schultern, und dann fiel sein Hemd. „Ich sollte gehen", flüsterte sie noch einmal. „Dann geh", erwiderte er. Doch seine Lippen zuckten. Sie öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, schloss ihn dann wieder. „Ich ..." Sie unterbrach sich, und auf ihrem Gesicht malte sich Entsetzen. „Was denn?" „Ich sollte gehen." Und diesmal verließ sie wirklich eilig den Raum. Turner schüttelte den Kopf. Frauen. Konnte man die je verstehen? Zuerst sagte sie, dass sie ihn liebte. Dann sagte sie, sie wollte ihn verführen. Dann ging sie ihm zwei Tage lang aus dem Weg. Und jetzt sah sie aus, als hätte sie furchtbare Angst. Er schüttelte erneut den Kopf, diesmal schneller, sodass sein Haar überall im Zimmer Tropfen herumschleuderte. Dann wickelte er sich eine Decke um die Schultern, stellte sich vor das Feuer und ließ sich trocknen. Seine Beine fühlten sich allerdings verdammt ungemütlich an. Verstohlen sah er zur Tür. Miranda hatte sie hinter sich geschlossen, als sie hinausgegangen war, und wenn er an ihre momentane jungfräuliche Verlegenheit dachte, bezweifelte er, dass sie eintreten würde, ohne anzuklopfen. Hastig streifte er die Pantalons ab, und sofort begann ihn das Feuer zu wärmen. Wieder sah er zur Tür. Nur um sicherzugehen, schob er die Decke nach unten und steckte sie sich um die Taille herum fest. Es erinnerte fast ein wenig an einen Kilt. Wieder dachte er an ihren Gesichtsausdruck, als sie aus dem Zimmer gelaufen war. Jungfräuliche Verlegenheit, aber auch noch etwas anderes. War es Faszination? Begierde? Und was hatte sie ursprünglich sagen wollen? Jedenfalls
nicht „Ich sollte gehen", was sie dann tatsächlich gesagt hatte. Wenn er vor sie hingetreten wäre, ihr Gesicht mit beiden Händen umfasst und geflüstert hätte: Sag es mir - was hätte sie dann wohl geantwortet? 3. Juli 1819 Beinahe hätte ich es glaube, er wusste es. wollte.
noch einmal zu ihm gesagt. Und ich Ich glaube, er wusste, was ich sagen
11. KAPITEL Turner war in Gedanken so damit beschäftigt, wie sehr er sich danach sehnte, Miranda zu berühren, dass er vollkommen vergaß, wie sehr sie nebenan frieren musste. Erst als er merkte, dass sein Körper sich nun wohlig warm anfühlte, fiel ihm wieder ein, dass ihr wohl immer noch eiskalt war. Er verfluchte sich ausgiebig als Idioten, eilte zur Tür, die sie hinter sich geschlossen hatte, und riss sie auf. Im nächsten Moment stieß er einen weiteren Schwall an Flüchen aus, da er sie heftig zitternd am Boden kauern sah. „Du dummes Ding", sagte er, „willst du dir den Tod holen?" Sie sah auf, und ihre Augen weiteten sich bei seinem Anblick. Turner fiel plötzlich wieder ein, dass er kaum etwas anhatte. „Verflixt", murmelte er vor sich hin, schüttelte dann ungeduldig den Kopf und zog sie auf die Füße. Miranda erwachte aus ihrer Benommenheit und begann, sich zu wehren. „Was machst du da?" „Dich zur Vernunft bringen." „Mir geht es ausgezeichnet", erklärte sie, obwohl ihr Zittern das Gegenteil bewies. „Von wegen. Mir wird schon kalt, wenn ich dich nur ansehe. Komm ans Feuer." Sehnsüchtig sah sie auf die orangeroten Flammen, die nebenan im Kamin knisterten. „Nur wenn du hierbleibst." „Von mir aus", versetzte er. Hauptsache, sie konnte sich aufwärmen. Mit einem nicht sonderlich sanften Schubs schob er sie in die richtige Richtung. Am Feuer blieb Miranda stehen und streckte die Hände aus.
Ein leiser Seufzer der Zufriedenheit entschlüpfte ihr, wehte durch den Raum und fuhr Turner direkt in die Lenden. Er trat vor, wie gebannt von der hellen, beinahe durchscheinenden Haut in ihrem Nacken. Miranda seufzte noch einmal und drehte sich dann um, um sich den Rücken zu wärmen. Als sie ihn so nah vor sich sah, sprang sie erschrocken beiseite. „Du hast gesagt, du würdest im anderen Zimmer bleiben", sagte sie anklagend. „Ich habe gelogen." Er zuckte mit den Schultern. „Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich ohne mich wirklich ordentlich abtrocknen würdest." „Ich bin doch kein Kind." Er blickte auf ihre Brüste. Ihr Tageskleid war weiß, und nach dem Regenguss klebte es ihr so eng am Körper, dass er die dunklen Brustspitzen darunter schimmern sah. „Offensichtlich nicht." Sie riss die Arme hoch und bedeckte ihre Brüste. „Dreh dich um, wenn du nicht willst, dass ich dich ansehe." Das tat sie, und ihr Mund blieb ob so viel Kühnheit offen stehen. Turner starrte lange auf ihren Rücken. Er war beinahe so hübsch wie die Frontansicht. Auch ihr Nacken war wunderschön anzusehen; ein paar Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und ringelten sich nun vor Feuchtigkeit. Sie roch nach nassen Rosen, und es kostete ihn alle Selbstbeherrschung, nicht die Hand auszustrecken und über ihren Arm gleiten zu lassen. Nein, nicht den Arm, die Hüfte. Oder ihr Bein. Oder ... Mühsam atmete er ein. „Ist irgendetwas?" Sie drehte sich nicht um, doch ihre Stimme klang nervös. „Nein, nichts. Wird dir allmählich warm?" „O ja." Doch im selben Augenblick zitterte sie wieder. Bevor Turner es sich noch ausreden konnte, hatte er schon den Arm ausgestreckt und ihren Rock aufgehakt. Ein erstickter Schrei entrang sich ihrer Kehle. „Du wirst dich nie aufwärmen, solange dieses Ding wie ein Eiszapfen an dir klebt." Er begann, am Stoff zu zerren.
„Ich glaube nicht ... ich weiß ... also wirklich ..." „Ja?" „Das ist keine gute Idee." „Vermutlich nicht." Der Rock fiel zu einem durchweichten Haufen zusammen, und sie stand in einem dünnen Hemd vor ihm, das sich wie eine zweite Haut an sie schmiegte. „O Gott." Sie versuchte, sich zu bedecken, wusste aber offensichtlich nicht, wo sie anfangen sollte. Sie verschränkte die Arme, schob dann eine Hand nach unten, wo ihre Beine zusammentrafen. Dann fiel ihr wohl ein, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand, denn sie griff nach hinten und legte sich die Hände auf den Po. „Würdest du bitte einfach weggehen?", flüsterte sie, vor Scham wie erstarrt. Er hatte es vor. Lieber Himmel, er wusste, dass er ihrer Bitte Folge leisten müsste. Aber seine Beine weigerten sich standhaft, sich zu bewegen, und er konnte einfach den Blick nicht abwenden von ihrem exquisit gerundeten Hinterteil und den schlanken Händen darauf. Hände, die immer noch vor Kälte zitterten. Wieder fluchte er, weil ihm einfiel, warum er ihr ursprünglich den Rock ausgezogen hatte. „Geh näher ans Feuer", befahl er. „Noch ein Schritt, und ich stehe mittendrin!", fuhr sie ihn an. „Geh einfach weg." Er trat zurück. Wenn sie Gift und Galle spuckte, war sie ihm lieber. „Raus!" Er ging zur Tür und machte sie zu. Miranda stand einen Augenblick lang ganz still, dann kniete sie sich vor das Feuer. Turner hämmerte das Herz in der Brust - so laut, dass sie eigentlich auf ihn hätte aufmerksam werden müssen, fand er. Sie seufzte und reckte sich. Er wurde noch härter - was er bisher nicht für möglich gehalten hätte. Dann hob sie die schweren Flechten in ihrem Nacken hoch und rollte träge den Kopf. Turner stöhnte.
Miranda fuhr herum. „Du Schuft!", fauchte sie ihn an und vergaß dabei ganz, sich zu bedecken. „Schuft?" Er hob eine Braue, als er das altmodische Schimpfwort hörte. „Schuft, Schurke, Wüstling, wie du es auch nennen möchtest." „Schuldig im Sinne der Anklage, fürchte ich." „Wenn du ein Gentleman wärst, würdest du gehen." „Aber du liebst mich", sagte er, ohne zu wissen, warum er sie daran erinnerte. „Wie gemein von dir, das ausgerechnet jetzt anzusprechen", wisperte sie. „Warum?" Miranda sah ihn scharf an, empört, dass er diese Frage überhaupt stellte. „Warum ich dich liebe? Ich weiß nicht. Verdient hast du es bestimmt nicht." „Nein", stimmte er zu. „Außerdem spielt es keine Rolle. Ich glaube nicht, dass ich dich überhaupt noch liebe", erklärte sie rasch. Hauptsache, sie konnte ihren angeschlagenen Stolz retten. „Du hattest recht. Es war eine Schulmädchenschwärmerei." „Nein, war es nicht. Und so schnell entliebt man sich nicht." Miranda riss die Augen auf. Was sagte er da? Wollte er etwa, dass sie ihn liebte? „Turner, was willst du nur?" „Dich." Das Wort war nur ein Hauch, so als fiele es ihm schwer, es auszusprechen. „Du willst mich doch gar nicht", widersprach sie, doch das Herz pochte ihr bis zum Hals. „Das hast du selbst gesagt." Er trat einen Schritt vor. Wahrscheinlich musste er dafür eines Tages in der Hölle schmoren, aber zuerst würde er im Paradies weilen. „Ich will dich." Und so war es auch. Er wollte sie - so machtvoll, so hitzig, so intensiv, dass er es selbst kaum begriff. Über bloßes Begehren ging das hier weit hinaus. Es ging hinaus über ein bloßes Bedürfnis. Er konnte es sich nicht erklären, es überstieg jede Vernunft, und doch empfand er so, er konnte es nicht ableugnen. Langsam ging er auf Miranda zu. Sie stand wie erstarrt am
Kamin, die Lippen geöffnet, und ihr Atem ging flach. „Was willst du tun?", flüsterte sie. „Inzwischen sollte das ja wohl offensichtlich sein." Und in einer geschmeidigen Bewegung umfasste er sie und hob sie hoch. Miranda bewegte sich nicht, wehrte sich auch nicht. Sie war wie berauscht von seiner Hitze. Seine Körperwärme ging auf sie über, drang ihr bis in die Knochen, bis sie sich köstlich warm fühlte. „Oh, Turner", seufzte sie. „Oh, ja." Sanft und ehrerbietig legte er sie auf dem Bett ab, strich dabei mit den Lippen an ihrem Kinn entlang. In jenem letzten Moment, bevor er sich auf sie legte, sah Miranda zu ihm auf und dachte, dass sie ihn ihr Leben lang geliebt hatte, dass all ihre Träume, all ihre Gedanken auf diesen einen Augenblick hingeführt hatten. Zwar hatte er die Worte noch nicht ausgesprochen, die ihr Herz zum Singen bringen würden, doch in diesem Moment spielte es keine Rolle. Seine blauen Augen leuchteten so hell, so strahlend, dass sie überzeugt war, er liebte sie ein wenig. Und das schien ihr genug. Genug, um es möglich zu machen. Genug, um es richtig zu machen. Genug, um es vollkommen zu machen. Miranda sank in die Matratze ein, als sein Körper den ihren bedeckte. Verzückt streckte sie die Hand aus, um sein dichtes Haar zu berühren. „Es ist so weich", flüsterte sie. „Was für eine Verschwendung." Turner hob den Kopf und sah sie belustigt an. „Eine Verschwendung?" „An einen Mann ist es verschwendet", erklärte sie und lächelte schüchtern. „Genau wie lange Wimpern. Frauen würden dafür töten." „Ach wirklich?" Er grinste sie an. „Und wo rangieren meine Wimpern?" „Ganz, ganz oben." „Würdest du auch für lange Wimpern töten?" „Für deine schon." „Wirklich? Meinst du nicht, dass sie für dein dunkles Haar zu hell wären?" Spielerisch versetzte sie ihm einen Klaps. „Du alberner
Kerl, ich will sie doch nicht an meinen Lidern hängen haben! Ich will, dass sie mir übers Gesicht streichen." „Hast du mich eben albern genannt?" Sie grinste. „Ja." „Fühlt sich das albern an?" Er strich ihr mit der Hand über das nackte Bein. Sie schüttelte den Kopf. Alle Luft schien plötzlich aus ihren Lungen gewichen zu sein. „Und das?" Er bedeckte ihre Brust mit der Hand. Sie stöhnte etwas Undeutliches. „Wie bitte?" „Nein", stieß sie hervor. „Wie fühlt es sich dann an?" „Gut." „Ist das alles?" „Wunderbar." „Und?" Miranda atmete keuchend auf, versuchte, nicht auf seinen Zeigefinger zu achten, der eben Kreise um ihre nur mit dem dünnen Seidenhemd bedeckte Brustspitze beschrieb. Und sie sagte das einzige Wort, das es für ihre Begriffe angemessen zu beschreiben schien: „Funkelnd." Überrascht lächelte er. „Funkelnd?" Sie konnte nur noch nicken. Seine Hitze strömte überall in sie, und er war so fest und schwer und männlich. Miranda hatte das Gefühl, als rutschte sie über die Kante eines Abgrunds. Sie fiel und fiel, aber sie wollte nicht gerettet werden. Stattdessen wollte sie ihn mitnehmen. Er knabberte gerade an ihrem Ohr, und dann bewegte er sich zu ihrer Schulter, machte sich mit den Zähnen am dünnen Träger ihres Hemds zu schaffen. „Wie fühlst du dich?", fragte er rau. „Heiß." Dieses eine Wort schien jeden Zoll ihres Körpers genau zu beschreiben. „Mmmm, gut. Das gefällt mir." Er ließ die Hand unter die dünne Seide gleiten und umfasste ihre bloße Brust. „Oh, lieber Gott! Oh, Turner!" Unwillkürlich drückte sie den Rücken durch, sodass er sie noch besser zu fassen bekam. „Gott oder ich?"
Mirandas Atem ging keuchend. „Ich ... weiß ... nicht." Turner ließ die andere Hand ebenfalls unter das dünne Hemdchen gleiten und schob es nach oben, bis er ihre wohlgerundeten Hüften spürte. „Unter den Umständen", murmelte er an ihrem Hals, „bin es wohl ich." Sie lächelte schwach. „Bitte, jetzt keine Religion." Sie brauchte nicht daran erinnert zu werden, dass ihr Verhalten gegen alle Glaubenssätze verstieß, die sie in der Kirche, der Schule, zu Hause und überhaupt überall gelernt hatte. „Unter einer Bedingung." Fragend riss sie die Augen auf. „Du musst dieses verflixte Ding ausziehen." „Ich kann nicht." Sie erstickte beinahe an den Worten. „Es ist sehr hübsch und sehr weich, ich kaufe dir Hunderte davon, aber wenn du es jetzt nicht ausziehst, wird es noch in Stücke gerissen." Wie um die Dringlichkeit zu unterstreichen, drängte er sich mit den Hüften an sie, um sie daran zu erinnern, wie mächtig seine Begierde war. „Ich kann nicht. Ich weiß nicht, warum." Sie schluckte. „Aber du kannst es." Er hob einen Mundwinkel zu einem wissenden Grinsen. „Nicht die Antwort, die ich erwartet habe, aber sie gefällt mir." Er kniete sich neben sie, schob das Hemd immer weiter nach oben, bis es über ihre Brüste und dann über ihren Kopf glitt. Miranda spürte, wie die kalte Luft über ihre bloße Haut strich, doch merkwürdigerweise hatte sie nicht mehr das Bedürfnis, sich zu bedecken. Auf einmal kam es ihr vollkommen natürlich vor, dass dieser Mann alles von ihr sehen, alles berühren konnte. Besitzergreifend musterte er ihren nackten Körper, und die Intensität seines Blicks erregte sie. Sie wollte ihm auf jede Weise gehören, in der eine Frau einem Mann gehören konnte. Sie wollte sich in seiner Hitze, seiner Kraft verlieren. Und sie wollte, dass er sich ihr ebenso allumfassend ergab. Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf die Brust, strich ihm mit der Fingerspitze über die flache, braune Brustwarze. Er zuckte zusammen. „Habe ich dir wehgetan?", flüsterte sie ängstlich.
Er schüttelte den Kopf. „Mach weiter", stöhnte er. In Nachahmung seiner Zärtlichkeiten nahm Miranda die Spitze seiner Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger. Als sie sich unter ihrer Berührung verhärtete, lächelte sie entzückt. Wie ein Kind, das ein neues Spielzeug entdeckt hat, streckte sie die Hand aus und spielte mit der anderen Warze. Turner bedeckte ihre Hand mit der seinen, da er sonst unter ihren neugierigen Fingern rasch die Beherrschung verloren hätte. Eine ganze Weile sah er auf sie hinunter, und seine blauen Augen loderten. So intensiv war dieser Blick, dass Miranda gegen das Bedürfnis wegzusehen ankämpfen musste. Doch sie zwang sich, ihm in die Augen zu schauen. Er sollte wissen, dass sie keine Angst und keine Scham empfand und, für sie am wichtigsten, dass sie ihn wirklich liebte. „Berühre mich", wisperte sie. Doch er schien wie erstarrt, hielt ihre Hand immer noch an seine Brust gedrückt. Er wirkte merkwürdig, irgendwie zerrissen, beinahe ... verängstigt. „Ich will dir nicht wehtun", sagte er heiser. Sie wusste zwar nicht, wie es anging, dass nun sie ihn beruhigte, doch sie murmelte: „Das wirst du auch nicht." „Ich ..." „Bitte", flehte sie. Sie brauchte ihn. Sie brauchte ihn jetzt. Ihre leidenschaftliche Bitte ließ ihn seine Zurückhaltung vergessen, und er zog sie stöhnend zum Kuss an sich, bevor er sie wieder auf das Bett herabsinken ließ. Diesmal folgte er ihr, sein harter Brustkorb drückte gegen ihre Brüste. Seine Hände waren überall, er stöhnte ihren Namen, und jede Berührung, jedes Geräusch fachte das Feuer in ihr nur noch mehr an. Sie wollte ihn spüren. Jeden Zoll. Und so zerrte sie an seinem behelfsmäßigen Kilt, um die letzte Barriere zwischen ihnen zu beseitigen. Sie zog die Wolldecke weg, und dann spürte sie nur noch ... Turner. Als sie seine Erregung bemerkte, keuchte sie auf. „O Gott!" Darüber musste er leise lachen. „Nein, nur ich." Er schmiegte das Gesicht in die Kuhle an ihrem Hals. „Das hab ich dir doch schon gesagt" „Aber du bist so ..."
„Groß?" Er lächelte. „Dafür bist allein du verantwortlich, meine Süße." „O nein." Sie wand sich unter ihm. „Das kann ich nicht getan haben." „Pssst." „Aber ich will ..." „Du wirst." Er brachte sie mit einem heißen Kuss zum Schweigen, ohne genau zu wissen, was er ihr eben versprochen hatte. Sobald sie wieder zu seufzen begann, löste er seine Lippen von den ihren und zog einen Pfad aus glühenden Küssen bis zu ihrem Nabel. Mit der Zunge beschrieb er einen Kreis darum und glitt dann einmal hinein. Die Hände hatte er an ihren Oberschenkeln, drückte sie auseinander, bereitete sie auf sein Eindringen vor. Am liebsten hätte er sie dort geküsst, sie geschmeckt, doch er glaubte, dass sie für derartige Intimitäten noch nicht bereit war. Stattdessen schob er eine Hand nach oben ... ... und ließ einen Finger hineinschlüpfen. „Turner!", schrie sie auf, und er konnte sich ein befriedigtes Lächeln nicht verkneifen. Mit dem Daumen strich er über die weichen, rosigen Blütenblätter und kostete es aus, wie sie sich unter ihm wand. Er musste sie mit der freien Hand festhalten, damit sie nicht vom Bett rutschte. „Lass mich ein", stöhnte er und begann wieder, sie auf den Mund zu küssen. Er hörte, wie sie einen leisen Schrei ausstieß, dann öffneten sich ihre Beine wie von selbst, so weit, bis er ihre feuchte Hitze spüren konnte. Turner flüsterte ihr ins Ohr: „Jetzt ist der Moment gekommen." Atemlos nickte sie. „Jetzt mache ich dich zu der meinen." „O ja, bitte." Langsam schob er sich vor, drang behutsam in ihre jungfräuliche Enge. Auch wenn es ihn umbrachte, er würde sich zurückhalten. Mehr als alles hätte er mit Macht in sie eindringen wollen, mit wilden, heftigen Stößen, doch damit würde er bis zu einem anderen Mal warten müssen. Beim ersten Mal musste er vorsichtig sein. „Turner?", wisperte sie, und ihm wurde bewusst, dass er
sich mehrere Sekunden nicht bewegt hatte. Er biss die Zähne zusammen und zog sich ganz langsam aus ihr zurück, bis nur noch die Spitze in ihr verharrte. Miranda packte ihn an den Schultern. „O nein, Turner, hör nicht auf!" „Psst. Keine Sorge. Ich bin ja noch da." Wieder drang er in sie ein. „Verlass mich nicht", bat sie ihn. „Bestimmt nicht." Er stieß auf einen Widerstand und stöhnte - ihre Jungfernschaft. „Das wird jetzt ein bisschen wehtun, Miranda." „Ist mir egal." Ihre Finger gruben sich in sein Fleisch. „Später denkst du darüber vielleicht anders." Er schob sich noch ein Stück vorwärts, nach Kräften bemüht, möglichst sanft vorzugehen. Sie drückte den Rücken durch und stöhnte seinen Namen. Die Arme hatte sie um ihn gelegt, die Finger in seinen Rücken gepresst. „Bitte, Turner", keuchte sie. „O bitte, bitte, bitte." Turner war nicht länger in der Lage, sich zu beherrschen, und drängte ganz hinein, schaudernd ob der köstlichen Enge. Aber Miranda versteifte sich unter ihm, und er hörte, wie sie einen leisen Schmerzenslaut ausstieß. „Tut mir leid", sagte er rasch und versuchte, ganz still zu halten und das schmerzliche Drängen seines Körpers zu ignorieren. „Tut mir leid. Tut mir so leid. Hat es wehgetan?" Sie kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Er küsste die winzigen Tränen weg, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. „Lüg mich nicht an!" „Nur ein bisschen", räumte sie leise ein. „Aber es war vor allem die Überraschung." „Es wird gleich besser werden", versprach er mit zärtlicher Stimme. „Glaub mir." Um sie zu entlasten, stützte er sich auf die Unterarme und begann sich wieder zu bewegen - mit langsamen, festen Stößen, jeder ein Quell höchster Lust und tiefsten Entzückens. Und die ganze Zeit biss er konzentriert die Zähne aufeinander, jeder Muskel in seinem Körper war aufs Äußerste angespannt - so sehr strengte es ihn an, sich zurückzuhalten. Rein und raus, rein und raus, murmelte er im Stillen vor sich hin.
Wenn er diesen Rhythmus auch nur ein einziges Mal verfehlte, würde er vollkommen die Kontrolle über sich verlieren. Er wollte unbedingt, dass es für sie eine schöne Erfahrung wurde. Um sich selbst machte er sich keine Gedanken - er wusste, dass er früher oder später ebenfalls auf seine Kosten kommen würde. Aber Miranda ... Er wusste nur, dass er eine drängende Verantwortung empfand, dafür zu sorgen, dass auch sie den Gipfel der Lust erreichte. Bisher hatte er noch nie mit einer Jungfrau das Bett geteilt, er wusste also nicht, wie wahrscheinlich dies war, aber er würde es auf jeden Fall versuchen. Mühsam stieß er hervor: „Wie fühlst du dich?" Miranda schlug blinzelnd die Augen auf. „Gut." Sie klang überrascht. „Es tut nicht mehr weh." „Gar nicht mehr?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich fühle mich wunderbar. Und ... hungrig." Zögernd ließ sie die Hand über seinen Rücken wandern. Turner erschauerte unter dieser federleichten Berührung. Allmählich entglitt ihm die Kontrolle. „Wie fühlst du dich denn? Er ächzte etwas, was sie nicht verstand, und begann sich schneller zu bewegen. Miranda spürte eine steigende Erregung im Bauch, dann eine unerträgliche Enge. Ihre Finger und Zehen begannen zu prickeln, und gerade als sie überzeugt war, sie müsste in tausend Stücke zerbrechen, barst etwas in ihr, und ihre Hüften bäumten sich so heftig auf, dass sie ihn mit nach oben hob. „Oh, Turner!", schrie sie. „Hilf mir!" Sein unermüdlicher Rhythmus wurde noch schneller. „Gleich", stöhnte er, „ich schwöre es." Und dann stöhnte er auf, seine Miene wirkte beinahe schmerzerfüllt, und schließlich atmete er tief durch und sank auf sie. Mehrere Minuten lagen sie so da, ineinander verschlungen und schweißfeucht vor Anstrengung. Miranda fand es herrlich, wie sich sein Gewicht auf ihr anfühlte, und sie genoss das Gefühl träger Befriedigung. Mit einer Hand strich sie ihm müßig über das Haar und wünschte sich dabei, die Welt um sie möge versinken. Wie lange sie wohl in der Geborgen-
heit der Jagdhütte bleiben konnten, bevor man sie vermissen würde? „Wie geht es dir?", fragte sie weich. Seine Lippen verzogen sich zu einem jungenhaften Lächeln. „Was meinst du denn, wie ich mich fühle?" „Gut, wie ich hoffe." Er rollte sich von ihr herunter, stützte sich auf einen Ellbogen und hob ihr Kinn mit zwei Fingern an. „Gut, wie ich weiß", sagte er und betonte dabei das letzte Wort. Miranda lächelte. Etwas Besseres konnte man sich nicht erhoffen. „Und wie geht es dir?", fragte er ruhig und ein wenig besorgt. „Hast du Schmerzen?" „Ich glaube nicht." Sie drehte sich um, wie um ihren Körper zu prüfen. „Vielleicht kommt das noch." „Mit Sicherheit." Miranda runzelte die Stirn. Hatte er denn so viel Erfahrung mit der Entjungferung von Frauen? Er hatte behauptet, Leticia sei bei ihrer Heirat bereits schwanger gewesen. Und dann verbannte sie diesen Gedanken einfach aus ihrem Kopf. Sie wollte nicht an Leticia denken. Nicht jetzt. Turners verstorbene Frau hatte in ihrem Bett nichts zu suchen. Und sie ertappte sich dabei, wie sie von Babys träumte. Von kleinen blonden Kindern mit blauen Augen, die entzückt zu ihr auflächelten. Ein kleiner Turner, das war es, was sie sich wünschte. Gut möglich, dass das Baby nach ihr geriet und ihre weniger bemerkenswerte Haar- und Augenfarbe mitbekam, aber in ihrer Vorstellung war es wie Turner, inklusive der Grübchen. Als sie schließlich die Augen aufschlug, blickte Turner auf sie herab, und er berührte ihren Mundwinkel, der sich eben noch zum Lächeln gehoben hatte. „Wovon träumst du denn?", murmelte er, die Stimme noch belegt vor Befriedigung. Miranda wandte den Blick ab, verlegen über die Richtung, welche ihre Gedanken eingeschlagen hatten. „Ach, von nichts weiter", wehrte sie ab. „Regnet es noch?" „Ich weiß nicht", erwiderte er und erhob sich, um aus dem Fenster zu sehen. Miranda zog die Laken über sich und wünschte, dass sie
sich nicht nach dem Wetter erkundigt hätte. Wenn der Regen nachgelassen hatte, würden sie zum Haupthaus zurückkehren müssen. Inzwischen wurden sie sicherlich vermisst. Sie konnten behaupten, dass sie sich im Regen untergestellt hatten, aber diese Ausrede würde nicht sehr glaubwürdig klingen, wenn sie nicht beim ersten Aufklaren zurückkehrten. Er schob die Vorhänge wieder zu und drehte sich zu ihr um. Miranda stockte der Atem ob all seiner männlichen Schönheit. In den Büchern ihres Vaters hatte sie oft Zeichnungen von Statuen gesehen, er besaß sogar eine Miniaturnachbildung von Michelangelos berühmtem David. Doch verglichen mit dem lebenden, atmenden Mann vor ihr war das alles gar nichts. Sie senkte den Blick, weil sie befürchtete, schon sein bloßer Anblick könnte sie erneut verführen. „Es regnet immer noch", sagte er ruhig. „Aber es klart allmählich auf. Wir sollten unser, ähm, Durcheinander beseitigen, damit wir los können, sobald es aufhört." Miranda nickte. „Reichst du mir bitte meine Kleider?" Er hob eine Augenbraue. „Auf einmal so schüchtern?" Sie nickte. Vielleicht war das nach all ihrem schamlosen Benehmen albern, aber sie war nicht so welterfahren, dass sie ohne Weiteres nackt aus einem Bett aufstehen konnte, während jemand anderes im Raum war. Sie deutete auf ihren Rock, der immer noch zusammengeknüllt auf dem Boden lag. „Wärst du so nett?" Er hob ihn auf und reichte ihn ihr. Stellenweise war das Kleidungsstück immer noch nass, weil sie es nicht zum Trocknen ausgebreitet hatte, aber da es ziemlich nah am Feuer gelegen hatte, war es nicht mehr allzu schlimm. Rasch zog sie sich an und machte das Bett, zog die Laken glatt, wie sie es bei den Zofen zu Hause beobachtet hatte. Die Aufgabe gestaltete sich schwieriger als erwartet, vor allem, da das Bett an die Wand geschoben war. Als sie selbst und die Jagdhütte dann wieder vorzeigbar waren, tröpfelte es draußen nur noch. „Ich glaube nicht, dass unsere Kleider jetzt noch nasser werden, als sie schon sind", erklärte Miranda, während sie die Hand prüfend zum Fenster hinausstreckte. Turner nickte, und so machten sie sich zum Haupthaus auf.
Er legte den Weg schweigend zurück, und Miranda brachte nicht den Mut auf, das Schweigen zu brechen. Wie ging es jetzt weiter? Musste er sie heiraten? Natürlich sollte er das, und wenn er der Gentleman war, für den sie ihn immer gehalten hatte, würde er es auch tun. Allerdings wusste niemand, dass sie kompromittiert worden war, und er kannte sie gut genug, um sich keine Sorgen zu machen, dass sie es jemandem erzählen könnte, um ihn zur Ehe zu zwingen. Eine Viertelstunde später standen sie vor der Treppe, die zum Eingang von Chester House hinaufführte. Turner hielt inne und sah Miranda an. Sein Blick war ernst und aufmerksam. „Kommst du auch zurecht?", erkundigte er sich sanft. Sie blinzelte mehrmals. Warum stellte er ihr diese Frage? „Drinnen werden wir uns kaum unterhalten können", erklärte er. Sie nickte und versuchte, das ungute Gefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Irgendetwas stimmte nicht. Er räusperte sich und reckte den Hals, als wäre das Krawattentuch zu eng. Er räusperte sich noch einmal, und dann ein drittes Mal. „Du gibst mir Bescheid, falls sich eine Situation ergeben sollte, in der wir schnell handeln müssen." Miranda nickte wieder und überlegte, ob dies eher eine Feststellung oder eine Frage gewesen war. Etwas von beidem. Und sie wusste nicht recht, wieso ihr das jetzt wichtig erschien. Turner atmete tief durch. „Ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken." „Worüber?", fragte sie, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Sollte jetzt nicht alles ganz einfach sein? Was gab es da zu überlegen? „Vor allem über mich", erwiderte er ein wenig heiser und vielleicht auch ein wenig distanziert. „Aber bald sehen wir uns, und dann bringe ich alles in Ordnung. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen." Und dann, weil sie es so satt hatte zu warten, und auch, weil sie es satt hatte, so schrecklich pflegeleicht zu sein, platzte sie heraus: „Heiratest du mich jetzt?" Es kam ihr vor, als würde dieser Mann wie durch einen Nebel mit ihr reden.
Ihre schrille Frage schien ihn ein wenig zu bestürzen, doch er sagte trotzdem kurz: „Natürlich." Und während Miranda auf das Hochgefühl wartete, das sich jetzt doch sicher einstellen sollte, fügte er hinzu: „Aber ich sehe keinen Grund, dass wir uns beeilen, es sei denn, wir werden mit einem zwingenden Grund konfrontiert." Sie nickte und schluckte. Ein Baby. Er wollte sie nur heiraten, wenn sie schwanger war. Ansonsten würde er es auch tun, sich damit aber Zeit lassen. „Wenn wir jetzt überstürzt heiraten", fuhr er fort, „wäre allen sofort klar, dass wir heiraten müssen." „Dass du mich heiraten musstest", murmelte Miranda. Er beugte sich vor. „Hmm?" „Nichts." Es wäre demütigend für sie, dies zu wiederholen. Es war schon demütigend genug, dass sie es überhaupt gesagt hatte. „Wir sollten reingehen", meinte er. Sie nickte. Allmählich wurde sie recht gut im Nicken. Immer ganz Gentleman, neigte Turner den Kopf und ergriff ihren Arm. Dann führte er sie in den Salon und benahm sich dabei, als hätte er auf dieser Welt keine Sorgen. 3. Juli 1819 Und nachdem es passiert ist, hat er kein einziges Mal mit mir geredet.
12. KAPITEL Als Turner am nächsten Tag nach Hause zurückkehrte, zog er sich mit einem Glas Brandy und einem verwirrten Geist in die Bibliothek zurück. Lady Chesters Hausgesellschaft endete erst in ein paar Tagen, doch er hatte irgendeine Geschichte von dringenden Geschäften in der Stadt erfunden und die Gesellschaft vorzeitig verlassen. Er war sich zwar ziemlich sicher, dass er sich benehmen konnte, als wäre nichts geschehen, doch bei Miranda war er da nicht so zuversichtlich. Sie war eine unschuldige junge Frau - war es zumindest gewesen - und es nicht gewohnt, sich zu verstellen. Es musste aber alles vollkommen normal erscheinen, wenn sie ihren guten Ruf wahren wollte. Dass er ihr die Gründe für seine vorzeitige Abreise nicht hatte darlegen können, bedauerte er, glaubte aber nicht, dass sie deswegen gekränkt sein würde. Schließlich hatte er ihr gesagt, dass er Zeit zum Nachdenken brauchte. Er hatte ihr auch gesagt, dass sie heiraten würden; sicher würde sie seine Absichten nicht in Zweifel ziehen, nur weil er sich ein paar Tage Zeit nahm, um mit dieser unerwarteten Situation fertigzuwerden. Er war sich der Tragweite seines Handelns durchaus bewusst: Er hatte eine junge, unverheiratete Dame verführt. Eine, die er eigentlich mochte und respektierte. Die von seiner Familie geliebt wurde. Für einen Mann, der nicht wieder heiraten wollte, hatte er ganz offensichtlich nicht mit dem Kopf gedacht. Stöhnend ließ er sich in einen Sessel sinken und dachte an die Regeln, die er und seine Freunde vor Jahren niedergelegt hatten, als sie Oxford in Richtung London verließen, um sich
in die Vergnügungen des ton zu stürzen. Es gab nur zwei. Keine verheirateten Frauen, außer es war absolut offensichtlich, dass sich ihre Ehemänner nicht daran störten. Und vor allem: keine Jungfrauen. Niemals, wirklich niemals eine Jungfrau verführen. Niemals. Er nahm noch einen Schluck Brandy. Lieber Himmel. Wenn er eine Frau brauchte, gab es Dutzende, die sich besser eigneten. Mit der liebreizenden jungen, verwitweten Countess zum Beispiel hatte es sich sehr gut angelassen. Katherine wäre die perfekte Geliebte gewesen, es hätte keinerlei Veranlassung bestanden, sie zu heiraten. Heirat. Einmal hatte er es schon getan, mit Liebe im Herzen und einem Leuchten in den Augen, und er war bitter enttäuscht worden. Eigentlich war es zum Lachen. Die englischen Gesetze verliehen dem Gatten oberste Autorität in der Ehe, aber er hatte sich nie so hilflos gefühlt wie in der Zeit, als er verheiratet war. Leticia hatte sein Herz in den Staub getreten und ihn als zornigen, seelenlosen Mann zurückgelassen. Er war froh, dass sie tot war. Froh. Was war er nur für ein Mensch? Als der Butler ihn in seinem Arbeitszimmer aufgesucht und ihm zögernd berichtet hatte, dass es einen Unfall gegeben habe und seine Frau umgekommen sei, hatte Turner keine Erleichterung empfunden. Erleichterung wäre ja noch eine unschuldige Reaktion gewesen. Nein, Turners erster Gedanke damals war: Gott sei Dank. Und egal wie verachtenswert Leticia auch gewesen sein mochte, egal wie oft er sich gewünscht hatte, sie nie geheiratet zu haben, hätte er bei ihrem Tod nicht etwas nachsichtiger empfinden sollen? Oder zumindest nicht vollkommen unnachsichtig? Und jetzt... und jetzt... Nun, die Wahrheit war die, dass er nicht heiraten wollte. Das hatte er beschlossen, als Leticias leblose Gestalt ins Haus getragen wurde, und noch einmal bekräftigt, als er an ihrem Grab gestanden hatte. Er hatte schon eine Frau gehabt. Er wollte keine andere. Zumindest nicht so bald.
Aber obwohl Leticia sich größte Mühe gegeben hatte, hatte sie anscheinend doch nicht alles in ihm abgetötet, was gut und redlich war, denn hier stand er nun - und plante seine Hochzeit mit Miranda. Er wusste, dass sie eine gute Frau war, und er wusste, dass sie ihn nie betrügen würde, aber, lieber Gott, sie konnte ganz schön halsstarrig sein. Turner dachte an die Episode im Buchladen, als sie mit dem Retikül auf den Inhaber losgegangen war. Und nun würde sie seine Ehefrau werden. Es wäre seine Aufgabe, sie aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Er fluchte und nahm noch einen Schluck. Eine derartige Verantwortung wollte er nicht. Es war mehr, als er tragen konnte. Er brauchte Ruhe. War das zu viel verlangt? Er wollte einfach eine Weile an niemanden anders denken als an sich selbst. Er wollte sich eine Weile um nichts kümmern, sein Herz nicht vor einem neuen Schlag schützen müssen. War das wirklich so selbstsüchtig? Vermutlich. Aber nach Leticia hatte er ein wenig Selbstsucht doch sicher verdient. Sicherlich. Andererseits würde ihm die Ehe ein paar willkommene Vorteile bieten. Ein Prickeln überlief ihn, wenn er nur an Miranda dachte. Im Bett. Unter ihm. Und als er sich dann vorstellte, was die Zukunft bringen mochte ... Miranda. In seinem Bett. Und wieder. Und wieder. Wer hätte das gedacht. Miranda. Verheiratet. Mit Miranda. Außerdem, überlegte er, während er sein Glas austrank, mochte er sie lieber als beinahe alle anderen. Jedenfalls war sie interessanter und unterhaltsamer als all die anderen Damen des ton. Wenn man schon eine Frau brauchte, konnte man genauso gut Miranda heiraten. Nein, sie war sogar sehr viel besser. Ihm fiel auf, dass er nicht besonders romantisch an die Angelegenheit heranging. Er brauchte noch Zeit zum Nachdenken. Vielleicht sollte er zu Bett gehen und hoffen, dass er morgen früh klarer denken konnte. Seufzend stellte er das Glas auf den Tisch und stand auf, überlegte es sich dann aber noch einmal und griff wieder nach dem Glas. Vielleicht wäre noch ein Brandy jetzt genau das Richtige.
Am nächsten Morgen dröhnte Turner der Kopf, und sein Verstand war auch nicht besser gerüstet als am Abend zuvor, mit den bestehenden Problemen zu ringen. Natürlich wollte er Miranda immer noch heiraten - ein Gentleman kompromittierte eine vornehme Dame nicht, ohne Konsequenzen daraus zu ziehen. Doch er hasste das Gefühl, bedrängt zu werden. Dabei spielte es auch keine Rolle, dass er ganz allein verantwortlich war für diese missliche Lage: Er brauchte einfach das Gefühl, dass er alles zu seiner eigenen Zufriedenheit in Ordnung gebracht hatte. Aus diesem Grund war der Brief, den er auf dem Frühstückstisch vorfand, eine höchst willkommene Ablenkung. Er kam von seinem Freund Lord Harry Winthrop, der beabsichtigte, ein Anwesen in Kent zu kaufen. Ob Turner wohl kommen könne, um es sich anzusehen und seine Meinung dazu kundzutun? Binnen einer Stunde war Turner aus der Tür. Es war ja nur für ein paar Tage. Um Miranda würde er sich kümmern, wenn er wieder da war. Miranda machte es gar nicht so furchtbar viel aus, dass Turner die Hausgesellschaft vorzeitig verlassen hatte. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie dasselbe getan. Außerdem konnte sie in seiner Abwesenheit klarer denken, und auch wenn es nicht viel zu überlegen gab - sie hatte sich auf eine Art und Weise benommen, die jedem Glaubenssatz ihrer Erziehung widersprach, und wenn sie Turner nun nicht heiratete, würde sie für den Rest ihres Lebens in Schande versinken -, empfand sie es als Erleichterung, nun zumindest wieder ansatzweise Herrin ihrer Gefühle zu sein. Als sie ein paar Tage später nach London zurückkehrten, erwartete Miranda allerdings, dass Turner sich umgehend bei ihnen einstellen würde. Sie wollte ihn zwar nicht unbedingt in die Ehe zwingen, aber ein Gentleman war ein Gentleman, eine Dame eine Dame, und wenn man die beiden zusammengab, kam üblicherweise eine Hochzeit heraus. Das wusste er auch. Er hatte gesagt, dass er sie heiraten würde. Und sicherlich würde er es doch auch wollen. Sie jedenfalls
war von dem, was in der Jagdhütte geschehen war, zutiefst aufgewühlt gewesen - er musste doch auch etwas gespürt haben. Es konnte nicht einseitig gewesen sein, zumindest nicht ganz. Es gelang ihr, einen beiläufigen Ton anzuschlagen, als sie Lady Rudland nach ihm fragte, doch seine Mutter erwiderte, sie habe nicht die geringste Ahnung, sie wisse nur, dass er die Stadt verlassen habe. Miranda wurde die Brust eng, und sie murmelte etwas wie „Oh" oder „Ach so", ehe sie in ihr Zimmer hinauflief, wo sie weinte, so leise sie konnte. Doch bald brach ihr Optimismus wieder durch, und sie entschied, dass er vielleicht wegen dringender Verwaltungsangelegenheiten aus der Stadt abberufen worden sei. Bis nach Northumberland war es ein weiter Weg, er wäre mindestens eine Woche fort. Die Woche ging vorüber, und Enttäuschung und Verzweiflung breiteten sich in Mirandas Herzen aus. Sie konnte sich nicht erkundigen, wo er steckte, denn keiner der Bevelstokes wusste, dass sie einander so nahe standen - Miranda hatte immer als Olivias Freundin gegolten, nicht als Turners -, und wenn sie dauernd nach seinem Verbleib fragte, würde das sicher verdächtig wirken. Und natürlich verstand sich von selbst, dass Miranda keinen logischen Grund hatte, zu Turners Wohnung zu gehen und dort selbst nachzufragen. Das würde ihren Ruf vollkommen zerstören. Bis jetzt war ihre Schande noch ein Geheimnis. Als eine weitere Woche vergangen war, entschied sie, dass sie es nicht länger ertrug, in London zu bleiben. Sie schützte eine erfundene Krankheit ihres Vaters vor und erzählte den Bevelstokes, dass sie sofort nach Cumberland zurückkehren müsste, um ihn zu pflegen. Die Familie reagierte darauf schrecklich besorgt, und Miranda hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen, als Lady Rudland darauf bestand, dass sie in der Familienkutsche und in Begleitung zweier Vorreiter und einer Zofe reiste. Aber es ging nicht anders. Sie konnte nicht länger in London bleiben, es tat zu sehr weh. Ein paar Tage später kam sie zu Hause an. Ihr Vater war verblüfft. Mit jungen Frauen kannte er sich zwar nicht son-
derlich gut aus, doch man hatte ihm versichert, dass sie alle sich nichts sehnlicher wünschten als eine Saison in London. Aber es machte ihm nichts aus; Mirandas Anwesenheit hatte ihn noch nie gestört. Meist bemerkte er gar nicht, dass sie da war. Daher tätschelte er ihr den Kopf und kehrte zu seinen kostbaren Manuskripten zurück. Was Miranda anging, so versuchte sie sich einzureden, dass sie glücklich war, wieder zu Hause zu sein. Sie hatte die grünen Felder und die saubere Luft des Lake Districts vermisst, das gemächlichere Leben auf dem Land, wo man mit den Hühnern aufstand und früh zu Bett ging. Nun ja, das vielleicht nicht - da sie keinerlei Pflichten hatte, schlief sie oft bis Mittag und schrieb dafür in den Nächten wie eine Wilde in ihr Tagebuch. Zwei Tage nach ihrer Ankunft kam schon der erste Brief von Olivia. Miranda lächelte, als sie ihn öffnete - typisch Olivia, diese Ungeduld, den Brief gleich nach ihrer Abreise abzuschicken. Miranda überflog das beschriebene Blatt auf der Suche nach Turners Namen, doch er wurde nicht erwähnt. Nicht sicher, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte, wandte sie sich wieder dem Anfang zu und begann zu lesen. London sei ohne sie furchtbar langweilig, schrieb Olivia. Ihr sei gar nicht klar gewesen, wie sehr sie Mirandas ironische Bemerkungen zum gesellschaftlichen Leben genossen hätte, bis sie ihr dann fehlten. Wann sie zurückkomme? Ob es ihrem Vater schon besser gehe? Wenn nicht, ob er dann wenigstens auf dem Weg der Besserung sei? (Dreimal unterstrichen, in charakteristischer Olivia-Manier.) Als Miranda diese Worte las, regte sich ihr Gewissen. Ihr Vater saß unten in seinem Arbeitszimmer und brütete über seinen Manuskripten, ohne auch nur vom kleinsten Schnupfen heimgesucht zu sein. Seufzend schob Miranda ihr schlechtes Gewissen beiseite, faltete Olivias Brief und schob ihn in eine Schreibtischschublade. Nicht immer war es eine Sünde zu lügen, entschied sie. Es war doch gerechtfertigt, dass sie alles tat, um von London wegzukommen, wo ihr nichts anderes übrig blieb, als herumzusitzen und zu warten und darauf zu hoffen, dass Turner vorbeikommen würde.
Auf dem Land tat sie allerdings auch nichts großartig anderes: Sie saß herum und dachte an ihn. Eines Abends zwang sie sich zu zählen, wie oft sein Name in ihrem Tagebucheintrag auftauchte, und zu ihrem Entsetzen kam sie auf siebenunddreißig Mal. Ihre Reise aufs Land trug offensichtlich auch nicht dazu bei, dass sie einen klaren Kopf bekam. Nach etwa anderthalb Wochen kam Olivia auf einen Überraschungsbesuch vorbei. „Livvy, was machst du hier?", fragte Miranda, als sie in den Empfangsraum stürzte, wo ihre Freundin auf sie wartete. „Ist etwas passiert? Jemand verletzt?" „Nein, keineswegs", entgegnete Olivia munter. „Ich bin hier, um dich zu uns zurückzuholen. Du wirst in London dringend gebraucht." Mirandas Herz begann wild zu klopfen. „Von wem?" „Von mir!" Olivia hängte sich bei ihr ein und führte sie in den Salon. „Lieber Himmel, ohne dich bin ich die reinste Katastrophe." „Deine Mutter hat dir während der Saison erlaubt, die Stadt zu verlassen? Das glaube ich nicht." „Sie hat mich praktisch zur Tür hinausgeschoben. Seit du weg bist, bin ich unausstehlich." Miranda musste unwillkürlich lachen. „So schlimm ist es bestimmt nicht gewesen." „Ich scherze nicht. Mama hat schon immer gesagt, dass du einen guten Einfluss auf mich ausübst, aber ehe du abgereist bist, war mir, glaube ich, nicht klar, wie groß der ist." Olivia lächelte schuldbewusst. „Ich kann meine Zunge einfach nicht im Zaum halten." „Das konntest du noch nie." Miranda lächelte und ging voraus zum Sofa. „Möchtest du etwas Tee?" Olivia nickte. „Ich verstehe einfach nicht, warum ich dauernd solche Schwierigkeiten bekomme. Das, was ich sage, ist meist bei Weitem nicht so schlimm wie das, was du sagst. Du hast die boshafteste Zunge von ganz London." Miranda läutete nach einem Dienstmädchen. „Das stimmt doch gar nicht." „O doch, Miranda. Du bist die Schlimmste, und das weißt
du auch. Und du gerätst deswegen nie in Schwierigkeiten. Das finde ich furchtbar ungerecht." „Nun ja, vielleicht sage ich die Dinge einfach nur nicht so laut wie du", erwiderte Miranda und unterdrückte ein Lächeln. „Du hast recht." Olivia seufzte. „Ich weiß, dass du recht hast, und trotzdem ist es furchtbar ärgerlich. Du hast wirklich einen boshaften Sinn für Humor." „Ach, komm schon. So schlimm ist es nicht." Olivia lachte auf. „O doch. Turner sagt das auch immer, daher weiß ich, dass es nicht nur mein Eindruck ist." Miranda schluckte rasch den Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle bildete, als sie seinen Namen hörte. „Dann ist er wieder in London?", fragte sie bemüht beiläufig. „Nein. Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Er ist irgendwo in Kent mit seinen Freunden." In Kent? In ganz England gab es keinen Ort, der weiter von Cumberland entfernt war, dachte Miranda düster. „Er ist schon ganz schön lange weg." „Ja, allerdings, nicht wahr? Aber er ist mit Lord Harry Winthrop unterwegs, und Harry war schon immer ein wenig wild, wenn du weißt, was ich meine." Miranda befürchtete, es zu wissen. „Bestimmt sind sie vollauf beschäftigt mit Wein, Weib und dergleichen mehr", fuhr Olivia fort. „Echte Damen werden dabei wohl nicht anwesend sein." Der Kloß in Mirandas Kehle kehrte zurück. Die Vorstellung, wie Turner bei einer anderen Frau lag, war ungemein schmerzhaft, vor allem jetzt, wo sie wusste, wie nah sich Mann und Frau kommen konnten. Sie hatte alle möglichen Entschuldigungen für seine Abwesenheit gefunden - ihre Tage waren erfüllt von all den Vernunftgründen und Ausreden, die sie sich für ihn ausdachte. Das war ihre einzige Beschäftigung, wie sie bitter feststellte. Aber sie war nie auf den Gedanken gekommen, dass er sich mit einer anderen Frau vergnügte. Er wusste doch, wie sehr es schmerzte, betrogen zu werden. Wie konnte er ihr nur dasselbe antun? Er wollte sie nicht. Die Wahrheit brannte und schmerzte
und trieb ihr ihre widerwärtigen kleinen Nägelchen direkt ins Herz. Er wollte sie nicht, und sie wollte ihn so sehr, dass es wehtat. Körperlich. Sie konnte es spüren, es zwickte und drückte sie - Gott sei Dank betrachtete Olivia gerade die kostbare griechische Vase ihres Vaters, denn sie war sicher, dass man ihr den Schmerz vom Gesicht ablesen konnte. Mit einem gemurmelten Kommentar, der gar nicht dazu gedacht war, dass man ihn verstand, erhob Miranda sich, trat ans Fenster und blickte hinaus zum Horizont. „Nun, sicher amüsiert er sich prächtig", stieß sie schließlich hervor. „Turner?", hörte sie Olivia hinter sich sagen. „Sicher, sonst würde er nicht so lange bleiben. Mama ist schon ganz verzweifelt, oder wäre es, wenn sie nicht so damit beschäftigt wäre, meinetwegen zu verzweifeln. Sag, macht es dir etwas aus, wenn ich hier bei dir bleibe? Haverbreaks ist so groß und zugig, wenn keiner zu Hause ist." „Natürlich kannst du hier wohnen." Miranda blieb noch ein paar Augenblicke am Fenster stehen, bis sie glaubte, sie könnte Olivia wieder ansehen, ohne in Tränen auszubrechen. In letzter Zeit war sie so empfindlich. „Das wäre wunderbar. Mit Vater allein zu sein, ist oft ein wenig einsam." „Ach, ja. Wie geht es ihm denn? Besser, hoffe ich." „Vater?" Miranda war dankbar, dass in diesem Augenblick das Dienstmädchen hereinkam und fragte, was sie wünsche. Sie bat um etwas Tee und wandte sich dann wieder an Olivia. „Nun, es geht ihm schon viel besser." „Ich werde mal bei ihm hereinschauen und ihm alles Gute wünschen. Mama hat mich auch gebeten, Grüße auszurichten." „O nein, das solltest du lieber nicht", sagte Miranda schnell. „Er wird nicht gern an seine Krankheit erinnert. Er ist sehr stolz, weißt du." Olivia, die nie ein Blatt vor den Mund nahm, erklärte: „Das ist aber sehr seltsam." „Nun ja, es war eine Männerkrankheit", improvisierte Miranda. Über Frauenkrankheiten hörte man des Öfteren etwas, da gab es sicher auch irgendwelche Gebrechen, die nur die Männerwelt heimsuchten. Und wenn nicht, wusste Olivia es
sicher auch nicht besser. Doch Miranda hatte nicht mit der unersättlichen Neugierde ihrer Freundin gerechnet. „Wirklich?", hauchte Olivia und beugte sich vor. „Was genau ist denn eine Männerkrankheit?" „Ich sollte nicht darüber reden", erklärte Miranda und bat ihren Vater im Geiste um Entschuldigung. „Es wäre ihm furchtbar peinlich." „Aber..." „Und deine Mutter wäre sehr zornig auf mich. Für zarte Ohren eignet sich das wirklich nicht." „Für zarte Ohren?" Olivia schnaubte. „Als ob deine Ohren weniger zart wären als meine." Die Ohren vielleicht nicht, aber der Rest schon, dachte Miranda reuig. „Genug davon", erklärte sie fest. „Den Rest überlasse ich deiner blühenden Fantasie." Olivia schmollte noch ein wenig, doch am Ende seufzte sie und fragte: „Wann kommst du nach Hause?" „Ich bin zu Hause", erinnerte Miranda sie. „Ja, ja, natürlich. Das hier ist dein offizielles Zuhause, ich weiß, aber lass dir gesagt sein, dass du von uns allen sehr vermisst wirst. Wann kommst du nach London zurück?" Miranda biss sich auf die Unterlippe. Von allen wurde sie ja offensichtlich nicht vermisst, sonst wäre ein gewisser Gentleman nicht so lange in Kent geblieben. Trotzdem, nach London zurückzukehren, wäre der einzige Weg, für ihr Glück zu kämpfen. Hier in Cumberland herumzusitzen, in ihr Tagebuch zu weinen und düster aus dem Fenster zu starren, gab ihr nur das Gefühl, ein rückgratloser Dummkopf zu sein. „Wenn ich schon ein Dummkopf bin", murmelte sie vor sich hin, „dann wenigstens einer mit Rückgrat." „Was hast du gesagt?" „Dass ich nach London zurückkomme", erklärte Miranda entschlossen. „Vater geht es schon wieder so gut, dass er ohne mich zurechtkommt." „Wunderbar! Wann wollen wir aufbrechen?" „Ach, in zwei, drei Tagen, denke ich." Miranda war nicht so mutig, dass sie das Unvermeidliche nicht ein paar Tage hinausschieben wollte. „Ich muss meine Sachen packen, und
du bist sicher noch müde von der Reise quer durchs ganze Land." „Ein bisschen, ja. Vielleicht sollten wir eine Woche bleiben. Vorausgesetzt, du hast das Landleben nicht schon satt. Ich hätte nichts dagegen, eine kurze Pause vom Londoner Trubel zu haben." „O nein, das können wir gern machen", versicherte Miranda ihr. Turner konnte warten. Jemand anderen würde er in der Zwischenzeit sicher nicht heiraten, und sie konnte die Zeit nutzen, ihren Mut zusammenzunehmen. „Wunderbar. Wollen wir heute Nachmittag ausreiten? Ich sehne mich nach einem schönen Galopp." „Das klingt herrlich." In diesem Augenblick kam der Tee, und Miranda machte sich daran, das dampfende Getränk auszuschenken. „Ich glaube, eine Woche ist genau richtig." Eine Woche später stand für Miranda jedoch zweifelsfrei fest, dass sie nicht nach London zurückkehren konnte. Niemals wieder. Ihre Regel, die sonst tatsächlich mit äußerster Regelmäßigkeit kam, war ausgeblieben. Eigentlich hätte sie schon längst vor Olivias Ankunft eintreffen sollen. Die ersten Tage hatte sie ihre Besorgnis noch beiseiteschieben können, indem sie sich sagte, es liege an ihrem in letzter Zeit so erregten Gemütszustand. In der ganzen Aufregung um Olivias Besuch hatte sie die Sache dann vergessen. Doch inzwischen war die Regel schon fast drei Wochen überfällig. Und jeden Morgen musste sie sich übergeben. Miranda hatte ein behütetes Leben geführt, doch sie lebte auf dem Land und wusste, was dies zu bedeuten hatte. Lieber Gott, ein Baby. Was sollte sie nur tun? Sie musste es Turner erzählen, daran führte kein Weg vorbei. Sosehr es ihr auch widerstrebte, ein unschuldiges neues Leben dazu zu benutzen, eine Ehe zu erzwingen, die das Schicksal offensichtlich nicht vorgesehen hatte - wie könnte sie ihrem Kind sein Geburtsrecht verweigern? Doch der Gedanke, jetzt nach London zu reisen, war schrecklich. Und sie hatte es satt, ihm nachzulaufen, auf ihn zu warten, zu hoffen und zu beten, dass er sie eines Tages vielleicht doch noch lieben könnte. Diesmal sollte er gefälligst zu ihr kommen.
Und das würde er ja auch, oder? Er war ein Gentleman. Auch wenn er sie nicht liebte - so sehr hatte sie sich doch sicher nicht in ihm getäuscht. Er würde seiner Pflicht nicht ausweichen. Miranda lächelte schwach. So weit war es also gekommen. Sie war eine Verpflichtung geworden. Sie würde ihn bekommen - nach so vielen Jahren des Träumens würde sie tatsächlich Lady Turner werden, aber sie wäre nichts als eine Verpflichtung. Sie legte die Hand auf den Bauch. Eigentlich hätte dies ein Moment der Freude und des Glücks sein sollen, doch stattdessen begann sie zu weinen. Es klopfte an ihre Schlafzimmertür. Erschrocken blickte Miranda auf, sagte aber nichts. „Miranda!" Olivias Stimme klang drängend. „Mach die Tür auf. Ich kann hören, dass du weinst." Miranda atmete tief durch und ging zur Tür. Es würde nicht leicht sein, dieses Geheimnis vor Olivia zu bewahren, aber sie musste es versuchen. Olivia war außerordentlich loyal, und sie würde Mirandas Vertrauen nie enttäuschen, doch Turner war ihr Bruder. Man konnte nicht wissen, was sie tun würde. Miranda konnte sich sogar vorstellen, dass sie ihm eine Pistole in den Rücken setzte und ihn höchstpersönlich nach Norden brachte. Rasch warf sie einen Blick in den Spiegel. Die Tränen konnte sie wegwischen, doch die rot geränderten Augen würde sie auf den sommerlichen Garten schieben müssen. Sie atmete noch ein paar Mal tief durch, setzte das strahlendste Lächeln auf, dessen sie fähig war, und öffnete die Tür. Olivia ließ sich jedoch keinen Moment täuschen. „Lieber Himmel, Miranda", sagte sie und schloss sie in die Arme. „Was ist denn passiert?" „Mir geht es gut", versicherte Miranda ihr. „Um die Jahreszeit jucken mir nur immer die Augen." Olivia trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre Freundin stirnrunzelnd. Dann schloss sie die Tür mit dem Fuß. „Aber du bist so blass." Mirandas Magen begann zu rebellieren, und sie schluckte heftig. „Ich glaube, ich habe mir irgendetwas eingefangen, was ..." Sie wedelte mit der Hand, in der Hoffnung, dass sich
ihr Satz dadurch vollenden würde. „Vielleicht sollte ich mich setzen." „Es kann nicht an irgendetwas liegen, was du gegessen hast", meinte Olivia und half ihr aufs Bett. „Gestern hast du kaum etwas angerührt, und außerdem habe ich dasselbe gegessen wie du, und viel mehr davon." Sie schüttelte die Kissen auf. „Und mir geht es prima wie eh und je." „Vielleicht eine Erkältung", murmelte Miranda. „Du solltest wohl ohne mich nach London zurückfahren. Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst." „Unsinn, ich kann dich doch nicht einfach allein lassen." „Ich bin nicht allein. Mein Vater ist auch da." Olivia sah sie bedeutsam an. „Du weißt, dass ich deinen Vater nie herabsetzen würde, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass er wüsste, was er mit einer Kranken anfangen sollte. Die halbe Zeit bin ich mir nicht mal sicher, ob er sich unserer Anwesenheit überhaupt bewusst ist." Miranda schloss die Augen und ließ sich in die Kissen sinken. Olivia hatte natürlich recht. Sie liebte ihren Vater von Herzen, aber es stimmte, im Umgang mit anderen Menschen war er ziemlich hoffnungslos. Olivia hockte sich auf die Bettkante, worauf die Matratze ein wenig einsank. Miranda versuchte, ihre Freundin zu ignorieren, versuchte, so zu tun, als spürte sie nicht, dass Olivia sie beobachtete und darauf wartete, dass sie ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm. „Bitte sag mir, was los ist, Miranda", bat Olivia schließlich leise. „Ist etwas mit deinem Vater?" Miranda schüttelte den Kopf, doch genau in diesem Augenblick verlagerte Olivia ihr Gewicht. Die Matratze geriet ins Schaukeln, und obwohl Miranda noch nie im Leben seekrank gewesen war, wurde ihr plötzlich übel, und sie musste dringend ... Sie sprang aus dem Bett, wobei sie Olivia fast zu Boden warf. Gerade noch rechtzeitig griff sie nach dem Nachttopf. „Ach herrje", sagte Olivia und hielt dabei respektvoll - und aus Selbstschutz - Abstand. „Wie lange geht das schon so?" Miranda antwortete ihr jedoch nicht. Stattdessen hob sich ihr Magen erneut.
Hastig trat Olivia einen Schritt zurück. „Kann ich etwas für dich tun?" Miranda schüttelte den Kopf, froh, dass ihr Haar ordentlich zurückgebunden war. Olivia sah sich die Sache noch ein wenig an, ging dann zur Wasserschüssel und benetzte ein Tuch. „Hier", sagte sie und reichte es ihrer Freundin mit ausgestrecktem Arm. Erleichtert nahm Miranda es entgegen. „Danke", wisperte sie und wischte sich das Gesicht ab. „Ich glaube nicht, dass das eine Erkältung ist", meinte Olivia. Miranda schüttelte den Kopf. „Ich bin mir ganz sicher, dass der Fisch gestern Abend absolut in Ordnung war, und ich kann mir nicht vorstellen ..." Miranda brauchte Olivia gar nicht anzusehen, um ihr Aufkeuchen zu interpretieren. Sie wusste es. Auch wenn sie es noch nicht ganz glauben konnte, wusste Olivia Bescheid. „Miranda?" Miranda rührte sich nicht, hing wie ein Häuflein Elend über dem Nachttopf. „Bist du ... hast du ...?" Miranda schluckte krampfartig. Und nickte. „O Gott. O Gott. Oh, oh, oh, oh, oh ..." Dies war vermutlich das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Olivia sprachlos erlebte. Miranda wischte sich den Mund ab, und nachdem ihr Magen sich endlich etwas beruhigt hatte, hob sie den Kopf und setzte sich gerade hin. Olivia starrte sie an, als hätte sie einen Geist gesehen. „Wie?", fragte sie schließlich. „Auf die übliche Weise", entgegnete Miranda. „Ich versichere dir, es besteht keinerlei Veranlassung, die Kirche zu benachrichtigen." „Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid", sagte Olivia hastig. „Ich wollte dich nicht verärgern. Es ist nur ... also ... du musst doch wissen ... also ... das ist so eine Überraschung." „Mich hat es auch überrascht", versetzte Miranda in trockenem Ton. „So sehr doch sicher auch nicht", sagte Olivia gedankenlos. „Ich meine, wenn du mit einem Mann ... wenn du ... " Sie ver-
stummte. Offensichtlich war ihr klar geworden, dass sie hier dünnes Eis betrat. „Es hat mich trotzdem überrascht, Olivia." Olivia schwieg ein paar Augenblicke, in denen sie den ersten Schock verdaute. „Miranda, ich muss dich fragen ..." „Nicht", warnte Miranda sie. „Bitte frag mich nicht, wer es war." „War es Winston?" „Nein!", sagte sie mit Nachdruck. Und ergänzte murmelnd: „Lieber Himmel." „Wer dann?" „Das kann ich dir nicht sagen", entgegnete Miranda mit brüchiger Stimme. „Es war ... es war jemand völlig Unpassendes. Ich ... ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, aber bitte, frag mich nicht mehr. Ich will nicht darüber sprechen." „Also schön", erklärte Olivia. Sie hatte eingesehen, dass es unklug war, ihre Freundin weiter zu bedrängen. „Ich werde dich nicht mehr fragen, das verspreche ich dir. Aber was sollen wir jetzt tun?" Miranda wurde warm ums Herz, als sie das Wörtchen „wir" hörte. „Hör mal, Miranda, bist du wirklich sicher, dass du guter Hoffnung bist?", fragte Olivia plötzlich, und in ihren Augen glänzte Hoffnung auf. „Vielleicht bist du diesen Monat nur ein wenig spät dran. Bei mir kommt es dauernd zu spät." Miranda warf einen vielsagenden Blick auf den Nachttopf und schüttelte den Kopf. „Bei mir ist es immer regelmäßig. Immer." „Du musst irgendwo hingehen", sagte Olivia. „Es wird einen furchtbaren Skandal geben." Miranda nickte. Sie plante, Turner einen Brief zu schreiben, aber das konnte sie Olivia nicht erzählen. „Am besten wäre es, wenn du England verlässt. Wie wäre es mit dem Festland? Wie steht es mit deinem Französisch?" „Furchtbar." Olivia seufzte erschöpft. „In Sprachen warst du ja noch nie sonderlich gut." „Du doch auch nicht", erwiderte Miranda gereizt.
Olivia ging nicht weiter darauf ein, sondern schlug stattdessen vor: „Warum fährst du nicht nach Schottland?" „Zu meinen Großeltern?" „Ja. Erzähl mir nicht, dass sie dich wegen deines Zustands auf die Straße setzen würden. Du redest immer davon, wie nett sie sind." Schottland. Ja, das war die Lösung. Sie würde Turner benachrichtigen, und er könnte dort zu ihr stoßen. In Schottland könnten sie ohne Aufgebot heiraten, und dann wäre alles, wenn schon nicht gut, so doch wenigstens geregelt. „Ich begleite dich", versprach Olivia entschlossen. „Ich bleibe, so lange ich kann." „Aber was wird deine Mutter dazu sagen?" „Ach, ich erzähle ihr, dass jemand krank geworden ist. Das hat doch schon einmal funktioniert." Sie warf Miranda einen durchdringenden Blick zu, mit dem sie ihrer Freundin eindeutig zu verstehen gab, dass sie um die erfundene Geschichte mit ihrem kranken Vater wisse. „Werden das nicht ein bisschen viel Kranke?" Olivia zuckte mit den Schultern. „Es handelt sich um eine Epidemie. Umso mehr Grund für sie, in London zu bleiben. Aber was sagst du deinem Vater?" „Ach, irgendetwas", erwiderte Miranda abschätzig. „Er achtet nicht sonderlich darauf, was ich tue." „Nun, diesmal erweist sich das als Vorteil. Wir reisen heute noch ab." „Heute?", wiederholte Miranda schwach. „Wir haben doch schon gepackt, und wir haben keine Zeit zu verlieren." Miranda sah auf ihren immer noch flachen Bauch. „Nein, wohl nicht." 13. August 1819 Olivia und ich sind heute in Edinburgh eingetroffen. Großmutter und Großvater waren ziemlich überrascht, mich zu sehen. Noch überraschter waren sie, als ich ihnen den Grund meines Besuches mitteilte. Sie waren sehr still und sehr ernst, aber sie haben mich keinen Augenblick glauben lassen, dass sie enttäuscht von mir wären
oder sich für mich schämten. Dafür werde ich sie immer lieben. Livvy hat ihren Eltern geschrieben und ihnen gesagt, dass sie mich nach Schottland begleitet hätte. Jeden Morgen fragt sie, ob meine Regel gekommen sei. Wie ich erwartet habe, ist sie das nicht. Ich schaue dauernd auf meinen Bauch. Ich weiß nicht, was ich dort zu sehen erwarte. Der Babybauch wächst doch nicht über Nacht, und sicher auch nicht so früh. Ich muss es Turner sagen. Ich weiß es, aber ich kann Olivia einfach nicht entkommen, und in ihrer Anwesenheit kann ich den Brief nicht schreiben. Sosehr ich sie auch liebe, ich werde sie wohl wegschicken müssen. Ich kann sie nicht hier haben, wenn Turner kommt, und der macht sich sicher auf den Weg, sobald er meinen Brief gelesen hat, vorausgesetzt, es gelingt mir in diesem Leben noch, ihn zu schreiben. O Himmel, hier ist sie schon wieder.
13. KAPITEL Turner war sich nicht ganz sicher, wieso er so lange in Kent geblieben war. Der zweitägige Ausflug weitete sich rasch aus, als Lord Winthrop beschloss, das Anwesen tatsächlich zu kaufen, und umgehend ein paar Freunde zu einer wilden Hausgesellschaft um sich versammeln wollte. Für Turner gab es keine halbwegs höfliche Möglichkeit, sich diesen Plänen zu entziehen, und wenn er ehrlich war, wollte er auch gar nicht abreisen, nicht wenn es bedeutete, umgehend nach London zurückzukehren und sich seiner Verantwortung zu stellen. Nicht dass er versuchte, sich aus der Ehe mit Miranda herauszuwinden. Ganz im Gegenteil. Nachdem er sich erst einmal mit der Vorstellung angefreundet hatte, wieder zu heiraten, kam es ihm gar nicht mehr so schrecklich vor. Dennoch zögerte er, nach London zurückzukehren. Wenn er nicht mit einer überaus dünnen Ausrede aus der Stadt geflüchtet wäre, hätte er die Angelegenheit sofort klären können. Doch je länger er jetzt wartete, desto länger wollte er es hinausschieben. Wie um alles in der Welt sollte er seine Abwesenheit erklären? Und so wurde aus dem zweitägigen Ausflug eine einwöchige Hausgesellschaft, und die wiederum verlängerte sich zu einer vierwöchigen Landpartie, auf der Jagd, Rennen und jede Menge lose Frauenzimmer geboten waren. Turner achtete peinlich darauf, sich mit keiner von Letzteren einzulassen. Er mochte sich vor den Pflichten drücken, die er Miranda gegenüber hatte, aber er konnte ihr zumindest treu bleiben. Dann kam Winston nach Kent herunter und warf sich mit derartigem Feuereifer ins Feiervergnügen, dass Turner das Gefühl hatte, er müsse dableiben und auf seinen kleinen Bru-
der achten. Dies erforderte weitere zwei Wochen seiner Zeit, die er aber gern drangab, linderte es doch etwas von seinem schlechten Gewissen. Seinen Bruder konnte er ja wohl nicht gut im Stich lassen, oder? Wenn er nicht auf Winston aufpasste, würde der arme Junge womöglich mit einem schlimmen Anfall der Franzosenkrankheit enden. Doch schließlich wurde ihm klar, dass er das Unvermeidliche nicht länger hinausschieben konnte, und kehrte nach London zurück. Er fühlte sich ziemlich verlegen. Miranda würde wahrscheinlich vor Wut schäumen, und er konnte von Glück sprechen, wenn sie ihn überhaupt noch wollte. So erklomm er die Treppe zum Haus seiner Eltern mit einiger Nervosität und betrat die Eingangshalle. Sofort erschien der Butler. „Huntley", grüßte Turner ihn. „Ist Miss Cheever da? Oder meine Schwester?" „Nein, Mylord." „Hm. Wann werden sie denn zurückerwartet?" „Ich weiß nicht, Mylord." „Heute Nachmittag? Zum Abendessen?" „Erst in ein paar Wochen, nehme ich an." „In ein paar Wochen!" Damit hatte Turner nicht gerechnet. „Wo zum Teufel stecken die beiden?" Huntley versteifte sich bei Turners derber Ausdrucksweise. „In Schottland, Mylord." „Schottland?" Verdammte Hölle. Was zum Teufel trieben die beiden dort? Miranda besaß Verwandte in Edinburgh, aber falls dieser Besuch geplant war, hatte man ihm zumindest nichts davon gesagt. Aber - Miranda war doch nicht etwa irgendeinem schottischen Gentleman versprochen, der mit ihren Großeltern befreundet war? Wenn dem so wäre, hätte ihm das irgendjemand doch sicher erzählt. Miranda zum Beispiel. Und Olivia konnte ja weiß Gott auch nichts für sich behalten. Turner ging zur Treppe und begann zu rufen: „Mutter! Mutter!" Dann wandte er sich wieder zu Huntley um. „Ich gehe mal davon aus, dass meine Mutter sich nicht auch nach Schottland verdrückt hat, oder?" „Nein, sie hält sich hier in London auf, Mylord." „Mutter!"
Lady Rudland kam die Treppe herabgeeilt. „Turner, was ist denn los, um alles in der Welt? Und wo warst du? Einfach nach Kent zu fahren, ohne uns davon zu erzählen!" „Warum sind Olivia und Miranda in Schottland?" Lady Rudland hob erstaunt eine Augenbraue angesichts seines Interesses. „Ein Krankheitsfall in der Familie. In Mirandas Familie, um genau zu sein." Turner sah davon ab, sie darauf hinzuweisen, dass dies offensichtlich sei, da die Bevelstokes keine Verwandten in Schottland hatten. „Und Olivia hat sie begleitet?" „Nun ja, die beiden sind eng befreundet, weißt du." „Wann werden sie zurückerwartet?" „Was Miranda betrifft, so weiß ich es nicht, aber ich habe Olivia schon geschrieben und ihr gesagt, dass sie zurückkommen soll. Ich erwarte sie in ein paar Tagen." „Gut", brummte Turner. „Bestimmt freut sie sich über so viel brüderliche Fürsorge." Turner kniff die Augen zusammen. Hatte er da eine Spur Sarkasmus aus der Stimme seiner Mutter herausgehört? Er war sich nicht sicher. „Ich sehe dich bald wieder, Mutter." „Bestimmt. Ach, und Turner?" „Ja?" „Warum verbringst du nicht ein wenig mehr Zeit mit deinem Kammerdiener? Du siehst ziemlich abgerissen aus." Knurrend verließ Turner das Haus. Einige Tage später hörte Turner, dass seine Schwester nach London zurückgekehrt sei. Sofort machte er sich auf den Weg, um sie aufzusuchen. Wenn er etwas hasste, dann diese Warterei. Und wenn er etwas noch mehr hasste, dann Schuldgefühle. Und er hatte ein verdammt schlechtes Gewissen, dass er Miranda über sechs Wochen hatte warten lassen. Bei seinem Eintreffen hielt Olivia sich in ihrem Schlafzimmer auf. Statt im Salon auf sie zu warten, lief Turner die Treppe hinauf und klopfte bei ihr an. „Turner!", rief Olivia aus. „Liebe Güte! Was machst du hier oben?" „Also wirklich, Olivia, ich habe auch einmal hier gewohnt. Erinnerst du dich?"
„Ja, ja, natürlich." Sie lächelte und setzte sich wieder. „Was verschafft mir das Vergnügen?" Turner öffnete den Mund und klappte ihn dann wieder zu; er war sich nicht sicher, was er sie eigentlich fragen wollte. Er konnte ja schlecht mit allem herausrücken und sagen: „Ich habe deine beste Freundin verführt und möchte nun die Sache in Ordnung bringen. Meinst du, es wäre passend, sie bei ihren Großeltern aufzusuchen, während einer von beiden krank ist?" Noch einmal öffnete er den Mund. „Ja, Turner?" Er schloss ihn wieder und fühlte sich wie ein rechter Dummkopf. „Wolltest du mich etwas fragen?" „Wie war es in Schottland?", platzte er heraus. „Schön. Warst du je dort?" „Nein. Und wie geht es Miranda?" Olivia zögerte, ehe sie erwiderte: „Es geht ihr gut. Sie lässt Grüße ausrichten." Irgendwie bezweifelte Turner das. Er atmete tief durch. Nun hieß es, behutsam vorzugehen. „Ist sie munter und guter Dinge?" „Ähm, ja. Ja." „Sie war nicht traurig, weil sie jetzt den Rest der Saison verpasst?" „Nein, natürlich nicht. Sie hatte ohnehin nicht so viel Freude daran, das weißt du doch." „Ach ja." Er drehte sich um und sah zum Fenster; gleichzeitig trommelte er sich ungeduldig mit der Hand aufs Bein. „Kommt sie bald zurück?" „Erst in ein paar Monaten, glaube ich." „Dann ist ihre Großmutter ernstlich krank?" „Ziemlich." „Ich werde ihr mein Beileid schicken müssen." „So weit ist es noch nicht", erwiderte Olivia schnell. „Der Arzt sagt, dass es eine langwierige Sache ist, es wird mindestens, ähm, ein halbes Jahr dauern, aber er glaubt, dass sie sich wieder erholen wird." „Aha. Und was ist das für eine Krankheit?"
„Eine Frauensache", erwiderte Olivia vielleicht eine Spur zu keck. Turner hob eine Augenbraue. Eine Frauensache bei einer Großmutter. Wie interessant. Und verdächtig. Er drehte sich wieder um und musterte seine Schwester scharfen Blicks. „Hoffentlich ist es nichts Ansteckendes. Ich sähe es nicht gern, wenn Miranda krank würde." „O nein. Die, ähm, Krankheit in diesem Haushalt ist bestimmt nicht ansteckend." Da Turner sie immer noch streng ansah, fügte sie hinzu: „Schau mich an. Ich war eine Woche dort, und ich bin gesund wie ein Pferd." „Ja, scheint so. Aber ich muss sagen, Mirandas wegen mache ich mir Sorgen." „Ach, das solltest du nicht", erklärte Olivia. „Es geht ihr prima, wirklich." Turner machte schmale Augen. Die Wangen seiner Schwester waren rosig angelaufen. „Irgendetwas verschweigst du mir." „Ich ... ich weiß nicht, wovon du sprichst", stammelte sie. „Und warum stellst du so viele Fragen über Miranda?" „Sie ist auch mit mir befreundet", entgegnete er samtweich. „Und ich rate dir, mir die Wahrheit zu sagen." Er ging auf Olivia zu, die sich auf die andere Seite ihres Bettes flüchtete. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst", wiederholte sie. „Hat sie etwas mit einem Mann?", wollte er wissen. „Ist es das? Hast du mir deswegen dieses unausgegorene Lügenmärchen von der kranken Großmutter aufgetischt?" „Es ist kein Lügenmärchen", protestierte sie. „Sag mir die Wahrheit!" Sie presste die Lippen zusammen. „Olivia!", beharrte er drohend. „Turner!" Ihre Stimme wurde schrill. „Mir gefällt nicht, wie du mich ansiehst. Ich rufe jetzt nach Mutter." „Mutter ist nur halb so groß wie ich. Sie kann mich nicht davon abhalten, dich zu erwürgen, du Göre." Die Augen traten ihr schier aus den Höhlen. „Turner, du bist übergeschnappt." „Wer ist es?"
„Ich weiß nicht!", platzte sie heraus. „Ich weiß nicht." „Dann gibt es also jemanden." „Ja! Nein! Jetzt nicht mehr!" „Was zum Teufel geht da vor sich?" Pure, heiß lodernde Eifersucht erfasste ihn. „Nichts!" „Sag mir, was mit Miranda los ist." Er umrundete das Bett, bis er Olivia in die Enge getrieben hatte. Eine überaus primitive Furcht überkam ihn. Die Furcht, dass er Miranda verlieren könnte, dass sie irgendwie verletzt worden war. Was wäre, wenn ihr etwas zugestoßen war? Nie hätte er sich träumen lassen, dass ihm vor Sorge um Mirandas Wohlergehen die Kehle eng werden könnte, aber genau so war es, und es war einfach schrecklich. Er hatte sich nie so viel aus ihr machen wollen. Auf der Suche nach einem Fluchtweg warf Olivia den Kopf hin und her. „Es geht ihr gut, Turner, das schwöre ich dir." Seine großen Hände pressten sich auf ihre Schultern. „Olivia", sagte er sehr leise, und in seinen blauen Augen blitzten Zorn und Furcht auf. „Ich sage das nur ein einziges Mal. Als wir klein waren, habe ich dich nie geschlagen, obwohl du mir doch jede Menge Anlass gegeben hast." Er hielt inne, beugte sich drohend vor. „Aber ich hätte gute Lust, jetzt noch damit anzufangen." Ihre Unterlippe begann zu beben. „Wenn du mir nicht sofort sagst, in welche Schwierigkeiten Miranda geraten ist, wird es dir leid tun." Die verschiedensten Gefühle huschten über Olivias Gesicht, die meisten verwandt mit Panik oder Furcht. „Turner", flehte sie, „sie ist meine beste Freundin. Ich kann ihr Vertrauen nicht verraten." „Was ist mit Miranda los?", stieß er hervor. „Turner ..." „Sag es mir!" „Nein, ich kann nicht, ich ..." Olivia wurde kreidebleich. „O Gott."
„Was?" „O Gott", hauchte sie. „Du bist es." Ein Ausdruck, den Turner noch nie gesehen hatte, weder an
seiner Schwester noch an sonst irgendjemandem, zeigte sich auf ihrem Gesicht, und dann ... „Wie konntest du nur!", kreischte sie und schlug mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Oberkörper ein. „Wie konntest du nur? Du bist ein Schwein! Hast du mich gehört! Ein Schwein! Und wie erbärmlich von dir, sie einfach so ihrem Schicksal zu überlassen." Turner stand stockstill während dieser Tirade, versuchte, ihre Worte und ihren Zorn zu begreifen. „Olivia", sagte er langsam, „wovon sprichst du?" „Miranda ist guter Hoffnung", zischte seine Schwester. „Verstehst du, was ich sage?" „O Gott." Turners Hände fielen von ihren Schultern, und er setzte sich bestürzt auf ihr Bett. „Ich nehme an, du bist der Vater", sagte Olivia kalt. „Das ist einfach ekelhaft. Mein Gott, Turner. Du bist praktisch ihr Bruder." Seine Nasenflügel blähten sich auf. „Wohl kaum." „Du bist älter als sie und erfahrener. Das hättest du nicht ausnutzen dürfen." „Vor dir werde ich mich für meine Taten nicht rechtfertigen", erklärte er kalt. Olivia schnaubte. „Warum hat sie mich nicht informiert?" „Wenn du dich erinnerst, du warst in Kent und hast dort herumgehurt. Du hast gesoffen und herumgehurt und ..." „Ich habe nicht herumgehurt", fuhr er sie an. „Seit Miranda habe ich bei keiner anderen Frau gelegen." „Du wirst schon entschuldigen, wenn ich Schwierigkeiten habe, das zu glauben, großer Bruder. Du bist verachtenswert. Verlasse sofort mein Zimmer." „Guter Hoffnung." Er wiederholte es, als fiele es ihm dann leichter, es zu glauben. „Miranda. Ein Baby. Mein Gott." „Für Gebete ist es jetzt ein wenig spät", sagte Olivia eisig. „Dein Benehmen war mehr als verwerflich." „Ich wusste nicht, dass sie in anderen Umständen ist." „Spielt das eine Rolle?" Turner antwortete nicht. Er konnte nichts sagen, nicht, wenn er wusste, dass er offensichtlich im Unrecht war. Er ließ
den Kopf in die Hände sinken, immer noch wie betäubt von der Neuigkeit. Lieber Gott, wenn er daran dachte, wie selbstsüchtig er gewesen war ... Er hatte die Konfrontation mit Miranda aus reiner Faulheit hinausgeschoben. Er hatte sich gedacht, wenn er zurückkäme, wäre sie schon hier und würde auf ihn warten. Weil ... Weil... Weil sie das doch immer tat. Hatte sie nicht jahrelang auf ihn gewartet? Hatte sie nicht gesagt... Er war ein Dummkopf. Eine andere Erklärung oder Ausrede gab es nicht. Er hatte einfach angenommen ... und es dann ausgenutzt ... und ... Nicht einmal in seinen kühnsten Träumen wäre er auf die Idee gekommen, dass sie sich etwa dreihundert Meilen weiter nördlich aufhalten könnte und sich mit einer unerwarteten Schwangerschaft herumschlug, aus der bald ein illegitimes Kind entstehen würde. Er hatte ihr gesagt, sie solle ihn benachrichtigen, wenn es so weit käme. Warum hatte sie ihm nicht geschrieben? Warum hatte sie nichts gesagt? Verlegen blickte er auf seine Hände. Seltsam sahen sie aus, fremd, und als er die Finger durchdrückte, fühlten sich seine Muskeln verkrampft und ungewohnt an. „Turner?" Er hörte seine Schwester, doch er konnte nicht reagieren. Er spürte, wie sich in seiner Kehle Laute bildeten, konnte sie aber nicht aussprechen, konnte nicht einmal ausatmen. Alles, was er in diesem Augenblick zustande brachte, war, wie ein Narr auf dem Bett zu sitzen und an Miranda zu denken. Ganz allein in Edinburgh. Sie war allein, und wahrscheinlich starr vor Angst. Sie war allein, während sie doch eigentlich mit ihm verheiratet sein sollte, gemütlich eingerichtet in seinem Heim in Northumberland, umgeben von frischer Luft und gesundem Essen. Ein Baby. Komisch, dass er immer gedacht hatte, er würde es Winston überlassen, den Familiennamen fortzuführen, denn nun wollte er nichts anderes, als Mirandas gerundeten Leib zu berühren und sein Kind in den Armen zu halten. Hoffentlich wurde es ein Mädchen. Hoffentlich hatte es braune Augen.
Einen Erben konnte er auch später noch bekommen. Solange Miranda in seinem Bett lag, machte er sich deswegen keinerlei Sorgen. „Was wirst du tun?", fragte Olivia. Langsam hob Turner den Kopf. Seine Schwester stand kämpferisch vor ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. „Was glaubst du denn, was ich tun werde?", gab er zurück. „Ich weiß nicht, Turner." Diesmal klang Olivias Ton nicht scharf. Turner erkannte, dass es keine Retourkutsche war, keine Herausforderung. Olivia war sich tatsächlich nicht sicher, ob er das Richtige tun und Miranda heiraten würde. So erbärmlich hatte sich Turner noch nie gefühlt. Er holte tief und zittrig Luft, stand auf und räusperte sich. „Olivia, wärst du so nett, mir Mirandas Adresse in Schottland zu geben?" „Gern." Sie ging zum Schreibtisch, zog ein Blatt Papier heraus und kritzelte ein paar Zeilen darauf. „Hier." Turner nahm den Zettel, faltete ihn und steckte ihn ein. „Danke." Olivia schwieg demonstrativ. „Wir werden uns eine ganze Weile nicht sehen, glaube ich." „Mindestens sieben Monate, möchte ich hoffen", erwiderte sie scharf. Turner jagte nach Schottland und erreichte Edinburgh in einer Rekordzeit von viereinhalb Tagen. Als er in der schottischen Hauptstadt ankam, war er müde und staubbedeckt, doch das spielte keine Rolle. Jeden Tag, den Miranda allein verbringen musste, war ein weiterer Tag, an dem sie - zur Hölle, er wusste nicht, was sie tun könnte, aber er wollte es auch nicht herausfinden müssen. Ein letztes Mal prüfte er die Adresse, dann eilte er die Treppe hinauf. Mirandas Großeltern wohnten in einem ziemlich neuen Haus in einem eleganten Viertel Edinburghs. Sie waren von einfachem Adel, hatte er einmal gehört, und besaßen weiter im Norden noch ein Anwesen. Er war froh, dass sie den Sommer hier in Grenznähe verbrachten. Nun auch noch hinauf in die Highlands zu reisen, hätte ihm nicht behagt, er
war ohnehin ziemlich erschöpft. Entschlossen klopfte er an die Tür. Der Butler öffnete ihm und begrüßte ihn mit einem ebenso hochnäsigen englischen Akzent, wie man ihn auch von der Dienerschaft eines Herzogs erwartet hätte. „Ich bin hier, um Miss Cheever zu besuchen", erklärte Turner knapp. Der Butler sah verächtlich auf Turners zerknitterte Kleidung. „Sie ist nicht da." „Ach ja?" Turners Ton verriet, dass er ihm nicht glaubte. Er wäre nicht überrascht gewesen zu erfahren, dass sie dem gesamten Haushalt seine Beschreibung gegeben und Anweisung erteilt hatte, ihn nicht einzulassen. „Sie werden zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen müssen. Ich übermittle jedoch gern eine Botschaft, wenn ..." „Ich warte." Turner schob sich an ihm vorbei in einen kleinen Salon, der von der Halle abging. „Also hören Sie mal, Sir!", protestierte der Butler. Turner zog eine Visitenkarte heraus und reichte sie ihm. Der Butler sah auf den Namen, dann auf Turner, und wieder auf den Namen. Offensichtlich hatte er nicht erwartet, dass ein Viscount so zerknittert aussah. Turner lächelte ironisch. Manchmal konnte ein Titel verdammt praktisch sein. „Wenn Sie warten möchten, Mylord", sagte der Butler nun etwas respektvoller, „lasse ich Tee servieren." „Ja, bitte." Nachdem der Butler hinausgegangen war, begann Turner im Zimmer auf und ab zu wandern und die Umgebung zu erkunden. Mirandas Großeltern besaßen offensichtlich guten Geschmack. Der Raum war klassisch elegant und zurückhaltend eingerichtet, ein Stil, der nie ganz aus der Mode kommen würde. Während er müßig ein Landschaftsbild betrachtete, überlegte er, wie er es seit seiner Abreise aus London schon Tausende Male getan hatte, was er zu Miranda sagen sollte. Der Butler hatte nicht nach der Wache gerufen, als er seinen Namen erfuhr. Vermutlich war das ein gutes Zeichen. Ein paar Minuten später wurde der Tee gebracht, und als Miranda nicht gleich danach auftauchte, kam Turner zu dem Schluss, dass der Butler nicht gelogen hatte. Aber egal. Er
würde so lange warten, wie er eben musste. Am Ende würde er sich ja doch durchsetzen - daran zweifelte er nicht. Miranda war eine vernünftige junge Frau. Sie wusste, dass die Welt für illegitime Kinder ein kalter, unfreundlicher Ort war. Und für ihre Mütter. Egal wie zornig sie auf ihn war und das war sie, daran zweifelte er nicht -, sie würde ihr Kind nicht zu einem so schwierigen Leben verdammen wollen. Es war auch sein Kind. Es hatte den Schutz seines Namens verdient. Miranda ebenso. Ihm gefiel die Vorstellung wirklich nicht, dass sie noch viel länger auf sich gestellt blieb, selbst wenn ihre Großeltern sich einverstanden erklärt hatten, sie in dieser schwierigen Lage aufzunehmen. Eine halbe Stunde lang saß Turner beim Tee und verdrückte dabei mindestens sechs süße Brötchen, die zum Tee serviert worden waren. Es war eine lange Reise gewesen, und er hatte nicht oft Pause gemacht. Er staunte gerade darüber, wie viel besser diese Brötchen schmeckten als alles, was er bisher in England bekommen hatte, als er die Haustür gehen hörte. „MacDownes!" Mirandas Stimme. Turner erhob sich, das halb gegessene Brötchen immer noch in der Hand. In der Eingangshalle waren Schritte zu hören, vermutlich die des Butlers. „Könnten Sie mir ein paar dieser Päckchen abnehmen? Ich weiß, ich hätte sie eigentlich nach Hause liefern lassen sollen, aber ich war zu ungeduldig." Turner hörte, wie die Päckchen weitergereicht wurden, und dann sagte der Butler: „Miss Cheever, ich muss Ihnen sagen, dass im Salon ein Besucher auf Sie wartet." „Ein Besucher? Auf mich? Wie merkwürdig. Vermutlich einer von den Macleans. Mit denen hatte ich immer freundschaftliche Beziehungen, wenn ich in Schottland war, bestimmt haben sie gehört, dass ich in Edinburgh bin." „Ich glaube nicht, dass es sich um einen Schotten handelt, Miss." „Wirklich, wer könnte dann ..." Turner hätte beinahe gelächelt, als sie mitten im Satz abbrach. Er konnte förmlich sehen, wie ihr der Mund offen stehen blieb. „Er war sehr hartnäckig, Miss", fuhr MacDownes fort.
„Hier habe ich seine Visitenkarte." Ein langes Schweigen trat ein, ehe Miranda schließlich sagte: „Richten Sie ihm bitte aus, dass ich nicht zu sprechen bin." Ihre Stimme zitterte dabei, und dann rannte sie die Treppe hinauf. Turner trat gerade rechtzeitig in die Halle, um mit MacDownes zusammenzustoßen, der sich vermutlich schon darauf freute, ihn hinauszuwerfen. „Sie möchte Sie nicht empfangen, Mylord", informierte der Butler ihn, nicht ohne ein leichtes Lächeln. Turner ging an ihm vorbei. „Das werden wir ja noch sehen." „Ich glaube nicht, Mylord." MacDownes packte ihn am Rock. „Hören Sie mal, guter Mann", sagte Turner und versuchte, dabei gleichzeitig eisig und leutselig zu klingen, falls dies überhaupt möglich war. „Ich hätte nichts dagegen, Ihnen ein paar Hiebe zu verpassen." „Und ich habe nichts dagegen, Ihnen ein paar Hiebe zu verpassen." Verächtlich musterte Turner den älteren Mann. „Aus dem Weg." Der Butler machte keine Anstalten, ihn freizugeben. Turner warf ihm einen finsteren Blick zu, riss sich los und ging zur Treppe. „Miranda!", schrie er. „Komm sofort runter! Sofort! Wir haben eine Menge zu bespre..." Zack!
Lieber Himmel, der Butler hatte ihm einen Kinnhaken verpasst. Fassungslos rieb Turner sich die schmerzende Stelle. „Sind Sie verrückt geworden?" „Keineswegs. Ich nehme meine Arbeit sehr ernst." Mit der Routine und der Eleganz des geübten Faustkämpfers war der Butler in Stellung gegangen. Typisch Miranda, einen Preisboxer als Butler einzustellen. „Schauen Sie", versuchte Turner es in besänftigendem Ton, „ich muss sofort mit ihr reden. Es ist von äußerster Wichtigkeit. Es geht um ihren guten Ruf!" Zack! Turner taumelte unter dem zweiten Schlag. „Das, Mylord, ist für Ihre Andeutung, dass Miss Cheever
nicht vollkommen ehrbar sein könnte." Turners Augen verengten sich zu drohenden Schlitzen, doch dann entschied er, dass er gegen Mirandas verrückten Butler keine Chance hatte, nachdem er bereits zwei heftige Schläge hatte einstecken müssen. „Richten Sie Miss Cheever aus", sagte er vernichtend, „dass ich wiederkomme, und dann sollte sie mich lieber empfangen, da kann sie sich verdammt sicher sein." Zornig verließ er das Haus und stapfte die Vordertreppe hinunter. Außer sich vor Wut darüber, dass sie nicht einmal mit ihm reden wollte, drehte er sich noch einmal um. Miranda stand an einem offenen Fenster im ersten Stock, die Hand erschrocken vor den Mund geschlagen. Turner warf ihr einen finsteren Blick zu, und dann sah er, dass er immer noch das angebissene Brötchen in der Hand hielt. So hart er konnte, warf er es in Richtung Fenster. Es traf sie mitten auf der Brust. Das zumindest war befriedigend. 28. August 1819 Ach herrje. Den Brief habe ich natürlich nicht abgeschickt. Ich habe einen ganzen Tag gebraucht, ihn aufzusetzen, und gerade als ich ihn losschicken wollte, wurde es unnötig. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll te. Und jetzt ist Turner da. Er muss die Wahrheit - oder das, was vor einiger Zeit noch die Wahrheit war - gewaltsam aus Olivia herausgeholt haben. Sie würde mich nie verraten. Die arme Livvy. Im Zorn kann er ziemlich schrecklich sein. Und anscheinend ist er noch zornig. Er hat mit einem Teebrötchen nach mir geworfen. Einem Teebrötchen! Das ist schwer zu verstehen.
14. KAPITEL Zwei Stunden später kehrte Turner wieder. Diesmal erwartete Miranda ihn. Noch bevor er überhaupt anklopfen konnte, riss sie die Haustür auf. Er stolperte jedoch nicht, sondern bewahrte sich seine vollkommene Haltung, den Arm halb erhoben, die Hand locker zur Faust geschlossen, um damit an die Tür zu klopfen. „Ach, du liebe Güte", erklärte sie gereizt. „Komm rein." Turner hob die Brauen. „Hast du etwa auf mich gewartet?" „Natürlich." Und weil sie wusste, dass sie die Aussprache nicht länger hinausschieben konnte, marschierte sie zum Salon, ohne sich noch einmal umzusehen. Er würde ihr schon folgen. „Was willst du?", fragte sie. „Reizende Begrüßung, Miranda", erwiderte er ruhig. Er sah sauber und frisch und attraktiv und vollkommen ungezwungen aus und - oh, sie hätte ihn umbringen können! „Wer hat dir deine Manieren beigebracht?", fuhr er fort. „Attila der Hunne?" Sie knirschte mit den Zähnen und wiederholte ihre Frage. „Was willst du?" „Dich heiraten natürlich." Auf diese Worte hatte sie gewartet, seit sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Und nie in ihrem Leben war sie so stolz auf sich gewesen wie jetzt, da sie sagte: „Nein danke." „Nein ... danke?"
„Nein danke", wiederholte sie keck. „Wenn das alles ist, bringe ich dich hinaus." Doch er fasste sie am Handgelenk, als sie Miene machte, den Raum zu verlassen. „Nicht so schnell." Sie konnte es tun. Sie wusste, dass sie es konnte. Sie hatte ihren Stolz, und inzwischen gab es keinen zwingenden Grund mehr, ihn zu heiraten. Und das wollte sie auch nicht. Wie sehr ihr Herz auch schmerzte, sie konnte dem nicht nachgeben. Er liebte sie nicht. Tatsächlich schätzte er sie so wenig, dass er sich in den acht Wochen, die mittlerweile seit dem Nachmittag in der Jagdhütte vergangen waren, kein einziges Mal bei ihr gemeldet hatte. Er mochte ein Gentleman sein, aber kein vollendeter. „Miranda", sagte er seidenweich, und sie wusste, dass er versuchte, sie zu verführen - nicht um sie ins Bett zu bekommen, sondern um ihre Einwilligung zu erlangen. Sie atmete tief durch. „Du bist hergekommen, du hast das Richtige gemacht, und ich habe abgelehnt. Es besteht keinerlei Grund mehr für Schuldgefühle. Du kannst mit reinem Gewissen nach England zurückfahren. Leb wohl, Turner." „Das finde ich nicht, Miranda", sagte er und packte sie fester. „Du und ich, wir haben viel zu bereden." „Nun, eigentlich nicht. Aber ich danke dir für deine Fürsorge." Da, wo er sie festhielt, kribbelte ihr der Arm. Wenn sie standhaft bleiben wollte, musste sie Turner so rasch wie möglich loswerden, das war ihr klar. Turner schloss die Tür mit einem Fußtritt. „Da bin ich anderer Meinung." „Turner, hör auf!" Miranda zerrte an ihrem Arm und versuchte, zur Tür zu gelangen, um sie wieder aufzumachen, doch er versperrte ihr den Weg. „Das ist das Haus meiner Großeltern. Ich lasse nicht zu, dass ihnen durch ungebührliches Benehmen Schande gemacht wird." „Ich würde meinen, dass du dir eher Gedanken darüber machen solltest, dass sie hören könnten, was ich dir zu sagen habe." Sie warf einen Blick auf seine entschlossene Miene und gab nach. „Also schön. Sag, was du zu sagen hast." Langsam begann er, Kreise in ihre Handfläche zu malen.
„Ich habe an dich denken müssen, Miranda." „Ach ja? Wie schmeichelhaft." Er ignorierte ihren höhnischen Ton und kam näher. „Hast du auch an mich denken müssen?" Lieber Gott, wenn er nur wusste. „Hin und wieder." „Nur hin und wieder?" „Sogar recht selten." Er zog sie an sich und ließ die Hand an ihrem Arm nach oben gleiten. „Wie selten?", murmelte er. „So gut wie nie." Aber ihre Stimme wurde weicher und weit weniger sicher. „Wirklich?" Ungläubig hob er eine Augenbraue. „Ich glaube, all das schottische Essen hat dir den Verstand vernebelt. Hattest du auch Haggis?" „Haggis?", fragte sie atemlos. Sie spürte, wie ihr die Brust leicht wurde, als enthielte die Luft selbst irgendeine berauschende Substanz, als reichte allein seine Nähe, um sie trunken zu machen. „Mmmm-hmmm. Ekelhaftes Zeug, finde ich." „Es ist... gar nicht so schlecht." Was redete er da? Und warum sah er sie so an? Seine Augen leuchteten wie Saphire. Nein, wie ein mondheller Nachthimmel. O je. War das etwa ihre eiserne Entschlossenheit, die da zum Fenster hinausflog? Turner lächelte nachsichtig. „Dein Gedächtnis ist ziemlich schlecht, Liebling. Ich glaube, du musst es dir ein wenig auffrischen lassen." Sanft drückte er seine Lippen auf die ihren, und im nächsten Augenblick brannte sie schon lichterloh. Sie sank gegen ihn und seufzte seinen Namen. Er zog sie noch enger an sich, sodass sie seine Begierde zu spüren bekam. „Merkst du, was du mit mir machst?", raunte er. „Kannst du es fühlen?" Miranda nickte zitternd, vergaß dabei beinahe, dass sie im Salon ihrer Großeltern stand. „Nur du kannst das, Miranda", murmelte er heiser. „Nur du." Diese Bemerkung erzeugte einen Misston in ihr, und sie versteifte sich. Hatte er nicht gerade mehr als einen Monat in Kent verbracht, mit seinem Freund Lord Harry Wie-auch-im-
mer? Und hatte Olivia ihr nicht fröhlich erzählt, dass es bei diesen Festivitäten Wein, Whisky und lose Weiber gab? Jede Menge lose Weiber? „Was ist los, Liebste?" Er wisperte die Worte eng an ihrem Gesicht, und am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt. Doch sie wollte sich nicht verführen lassen. Diesmal nicht. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, legte sie ihm die Hände auf die Brust und schob ihn von sich weg. „Versuch nicht, das mit mir zu machen", warnte sie ihn. „Was denn?" Er bot ein Bild reinster Unschuld. Wenn Miranda eine Vase in der Hand gehalten hätte, hätte sie sie ihm an den Kopf geworfen. Oder noch besser, ein angebissenes Teebrötchen. „Mich zu verführen, bis ich mich deinem Willen unterwerfe." „Warum nicht?" „Warum nicht?", wiederholte sie fassungslos. „Warum nicht? Weil ich ... Weil du ..." „Weil?" Er grinste. „Weil - oh!" Sie ballte die Hände zu Fäusten und stampfte wahrhaftig mit dem Fuß auf. Was sie noch zorniger machte. Zu einem solchen Benehmen gedrängt zu werden - es war demütigend. „Na, na, Miranda." „Hör auf mit deinem ,na, na', du anmaßender, überheblicher ..." „Ich entnehme dem, dass du wütend auf mich bist." Ihre Augen wurden schmal. „Du warst schon immer sehr klug, Turner." Er ignorierte den Sarkasmus. „Nun, dann also - es tut mir leid. Ich hatte nie vor, so lange in Kent zu bleiben. Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe, aber ich habe es gemacht. Es tut mir leid. Eigentlich sollte es ein Ausflug von zwei Tagen sein." „Ein zweitägiger Ausflug, aus dem beinahe zwei Monate werden?", spottete sie. „Du musst schon entschuldigen, dass es mir schwerfällt, das zu glauben." „Ich war nicht die ganze Zeit in Kent. Als ich nach London zurückkehrte, hat meine Mutter mir erzählt, du kümmerst
dich um kranke Verwandte. Erst als Olivia zurückkam, habe ich erfahren, was wirklich los ist." „Mir ist egal, wie lange du weg warst... und wo du warst!", schrie sie ihn an und verschränkte die Arme eng vor der Brust. „Du hättest mich nicht so im Stich lassen dürfen. Ich kann verstehen, dass du Zeit zum Nachdenken brauchtest, denn ich weiß, dass du mich nie heiraten wolltest, aber, lieber Himmel, Turner, mussten es wirklich acht Wochen sein? So kann man eine Frau doch nicht behandeln! Es ist rüde und gewissenlos und ... und richtig unfein!" War das etwa alles, was sie an Schimpfworten auf Lager hatte? Turner unterdrückte ein Lächeln. Die Konfrontation entwickelte sich bei Weitem nicht so schlimm, wie er erwartet hatte. „Du hast recht", sagte er ruhig. „Und außerdem ... was?" Sie blinzelte. „Du hast recht." „Findest du?" „Willst du denn nicht recht haben?" Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte schließlich: „Hör auf, mich durcheinanderzubringen." „Tue ich doch gar nicht. Ich stimme dir zu, falls du das nicht bemerkt haben solltest." Er schenkte ihr sein reizendstes Lächeln. „Ist meine Entschuldigung angenommen?" Miranda seufzte. So viel Charme bei einem einzelnen Mann sollte verboten sein. „Ja, schon gut, ich nehme sie an. Aber was", fuhr sie misstrauisch fort, „hast du in Kent gemacht?" „Hauptsächlich habe ich mich betrunken." „Ist das alles?" „Und ein wenig gejagt." „Und?" „Und ich habe mein Bestes versucht, Winston aus Schwierigkeiten herauszuhalten, als er von Oxford zu uns gestoßen ist. Diese Aufgabe hat mich noch einmal vierzehn Tage dort festgehalten, lass dir das gesagt sein." „Und?" „Versuchst du zu fragen, ob dort auch Frauen waren?" Sie wandte den Blick ab. „Vielleicht." „Ja, es waren welche da."
Sie versuchte, den riesigen Kloß hinunterzuschlucken, der sich plötzlich in ihrer Kehle gebildet hatte, während sie beiseitetrat, um ihm den Weg zur Tür freizumachen. „Ich denke, du solltest jetzt gehen", sagte sie ruhig. Er packte sie an den Oberarmen und zwang sie, ihn anzusehen. „Ich habe keine von ihnen angerührt, Miranda. Keine Einzige." Seine Stimme war so drängend, dass sie am liebsten geweint hätte. „Warum nicht?" „Ich wusste, dass ich dich heiraten würde. Ich weiß, wie es sich anfühlt, betrogen zu werden." Er räusperte sich. „Das würde ich dir nicht antun." „Warum nicht?" Ihre Worte waren kaum lauter als ein Wispern. „Weil mir deine Gefühle wichtig sind. Und weil ich dich so überaus schätze." Sie entzog sich ihm und ging zum Fenster. Es war früher Abend, aber die Tage waren lang während des schottischen Sommers. Die Sonne stand noch hoch am Himmel, und draußen liefen immer noch Leute herum und gingen ihren Geschäften nach, als hätten sie keine Sorgen auf der Welt. Miranda wäre gern eine von ihnen gewesen, wäre gern die Straße hinunter und weg von ihren Problemen gelaufen und nie zurückgekehrt. Turner wollte sie heiraten. Er war ihr treu geblieben. Eigentlich hätte sie vor Freude tanzen sollen. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass er es nur aus Pflichtbewusstsein tat, nicht aus Liebe oder Zuneigung für sie. Höchstens noch aus Begierde. Dass er sie begehrte, bezweifelte sie nicht. Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter. Es reichte nicht. Vielleicht wäre es genug gewesen, wenn sie ihn nicht so sehr geliebt hätte. Aber so ... Es war zu unausgewogen. Es würde sie langsam krank machen, bis sie nur noch ein einsamer, bedauernswerter Schatten ihrer selbst war. „Turner, ich ... ich weiß wirklich zu schätzen, dass du dich auf den weiten Weg gemacht hast, um mich zu sehen. Und es war wirklich ...", sie suchte nach dem richtigen Wort, „... ehrenhaft von dir, dich von all den Frauen in Kent fernzuhalten. Bestimmt waren sie sehr hübsch."
„Bei Weitem nicht so hübsch wie du", flüsterte er. Sie konnte kaum noch schlucken. Halt suchend fasste sie nach dem Fensterbrett. „Ich kann dich nicht heiraten." Absolute Stille. Miranda drehte sich nicht um. Sie konnte ihn nicht sehen, aber sie spürte den Zorn, der von seinem Körper abstrahlte. Bitte, bitte, geh einfach weg, flehte sie innerlich. Komm nicht her. Und bitte - o bitte, fass mich nicht an.
Ihre Gebete wurden nicht erhört. Grob packte er sie bei den Schultern und drehte sie zu sich um. „Was hast du da gesagt?" „Ich habe gesagt, dass ich dich nicht heiraten kann", erwiderte sie zitternd. Sie senkte den Blick, fühlte sich aber immer noch von seinen blauen Augen durchbohrt. „Schau mich an, verdammt! Was denkst du dir nur dabei? Du musst mich heiraten!" Sie schüttelte den Kopf. „Du kleine Närrin." Miranda wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und hielt den Mund. „Hast du das etwa vergessen?" Er riss sie an sich und presste hungrig seine Lippen auf die ihren. „Na?" „Nein." „Hast du dann vergessen, dass du mir gesagt hast, du liebst mich?", begehrte er zu wissen. Miranda wäre am liebsten im Boden versunken. „Nein." „Das sollte doch etwas zu heißen haben", sagte er und schüttelte sie, bis sich einige Locken aus den Haarnadeln zu lösen begannen. „Oder nicht?" „Aber hast du je gesagt, dass du mich liebst?", versetzte sie. Stumm starrte er sie an. „Liebst du mich?" Ihre Wangen brannten vor Zorn und Verlegenheit. „Liebst du mich?" Turner schluckte und hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. Die Wände schienen auf ihn zuzukommen, und er brachte keinen Ton heraus, konnte die Worte nicht aussprechen, die sie so gern hören wollte. „Verstehe", sagte sie leise.
Ein Muskel zuckte in seiner Kehle. Warum konnte er es nicht sagen? Er war sich nicht sicher, ob er sie liebte, aber er war sich auch nicht sicher, dass er sie nicht liebte. Und auf keinen Fall wollte er sie verletzen. Warum also brachte er diese drei Worte, die ihr so viel bedeuteten, einfach nicht über die Lippen? Er hatte Leticia gesagt, dass er sie liebe. „Miranda", begann er zögernd, „ich ..." „Sag es nicht, wenn du es nicht so meinst!", brach es aus ihr hervor, und ihre Stimme schwankte. Turner drehte sich um und ging zu dem Schränkchen, auf dem er zuvor eine Brandykaraffe gesehen hatte. Auf dem Regal darunter stand eine Flasche Whisky, und er goss sich ein Glas ein, ohne um Erlaubnis zu fragen. In einem energischen Schluck stürzte er den Whisky hinunter, doch danach fühlte er sich nicht besser. „Miranda", sagte er und wünschte sich, dass seine Stimme ein wenig fester klänge, „ich bin nicht vollkommen." „Das solltest du aber!", rief sie. „Weißt du eigentlich, wie wunderbar du dich mir gegenüber verhalten hast, als ich klein war? Und du hast dir dabei noch nicht mal sonderlich Mühe gegeben. Du warst einfach ... einfach du. Und du hast mir das Gefühl gegeben, dass ich doch kein so ungelenkes kleines Ding bin. Dann hast du dich verändert, aber ich dachte, ich könnte das rückgängig machen. Und ich habe mir solche Mühe gegeben, ach, solche Mühe, aber es war nicht genug. Ich war nicht genug." „Miranda, es liegt nicht an dir ..." „Versuch nicht, mich zu entschuldigen. Ich bin einfach nicht das, was du brauchst, und ich hasse dich dafür! Hast du mich gehört? Ich hasse dich!" Vollkommen überwältigt wandte sie sich ab, schlang die Arme um sich und versuchte, das Zittern unter Kontrolle zu bekommen, das sie erfasst hatte. „Du hasst mich nicht." Seine Stimme war weich und erstaunlich beruhigend. „Nein", gab sie zu und unterdrückte ein Schluchzen. „Aber ich hasse Leticia. Wenn sie nicht schon tot wäre, würde ich sie umbringen."
Einer seiner Mundwinkel hob sich zu einem kleinen ironischen Lächeln. „Ganz langsam und qualvoll." „Du kannst ganz schön bösartig sein, Kleines", sagte er und schenkte ihr ein schmeichelndes Lächeln. Sie versuchte zurückzulächeln, doch ihre Lippen wollten ihr nicht gehorchen. Eine lange Pause trat ein, ehe Turner sagte: „Ich will versuchen, dich glücklich zu machen, aber ich kann dir nicht alles geben, was du dir erhoffst." „Ich weiß", erwiderte sie traurig. „Ich dachte, du könntest es, aber ich habe mich getäuscht." „Aber wir könnten trotzdem eine gute Ehe führen, Miranda. Eine bessere als viele andere." Eine bessere als viele andere, das könnte auch nur bedeuten, dass sie mindestens einmal am Tag miteinander redeten. Ja, sie konnten eine gute Ehe führen. Gut, aber leer. Sie glaubte nicht, dass sie mit ihm zusammenleben könnte, wenn er sie nicht liebte. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Verdammt, Miranda! Du musst mich heiraten!" Als sie auf diesen Ausbruch nicht reagierte, rief er: „Um Himmels willen, du trägst mein Kind unter dem Herzen!" Das also war es. Sie hatte gewusst, dass es einen Grund geben musste, warum er die weite Reise auf sich genommen hatte und hier so zielstrebig auftrat. Und sosehr sie sein Ehrgefühl zu schätzen wusste - auch wenn es sich ein wenig spät eingestellt hatte -, führte kein Weg daran vorbei, dass das Baby nicht mehr da war. Sie hatte geblutet, ihr Appetit war zurückgekehrt, und ihr Nachttopf diente wieder seinem üblichen Zweck. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, hatte gesagt, dass sie vor Miranda genau dasselbe zweimal durchlebt hatte, und nach ihr noch dreimal. Für ein Mädchen, welches das Schulzimmer noch nicht verlassen hatte, war es vielleicht ein etwas unfeines Thema, aber Lady Cheever hatte gewusst, dass sie im Sterben lag, und sie wollte ihrer Tochter so viel weibliches Wissen mitgeben, wie sie konnte. Sie hatte Miranda gesagt, nicht zu trauern, wenn ihr dasselbe passierte; sie habe immer das Gefühl gehabt, dass die
verlorenen Babys nicht hatten sein sollen. Miranda leckte sich die Lippen und schluckte. Und dann sagte sie leise und feierlich: „Ich trage dein Kind nicht mehr. Es war so, aber jetzt nicht mehr." Turner schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Das glaube ich dir nicht." Verstört sah Miranda ihn an. „Wie bitte?" Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube dir nicht. Olivia hat mir erzählt, dass du guter Hoffnung bist." „War ich auch, als Olivia da war." „Woher soll ich wissen, dass du nicht einfach versuchst, mich loszuwerden?" „Weil ich nicht völlig verrückt bin", fuhr sie ihn an. „Glaubst du, ich würde mich weigern, dich zu heiraten, wenn ich in anderen Umständen wäre?" Darüber schien er einen Moment nachzudenken. Dann verschränkte er die Arme. „Nun, kompromittiert bist du dennoch, daher wirst du mich trotzdem heiraten." „Nein", versetzte sie verächtlich, „werde ich nicht." „O doch", widersprach er, und seine Augen funkelten unnachgiebig. „Du weißt es nur noch nicht." Sie wich vor ihm zurück. „Ich sehe nicht, wie du mich zwingen kannst." „Ich sehe nicht, wie du mich aufhalten willst." „Ich schreie nach MacDownes." „Das glaube ich nicht. „Doch, ich schwöre es." Sie öffnete den Mund und warf ihm einen Seitenblick zu, um zu sehen, ob er sich von ihrer Warnung beeindrucken ließ. „Nur zu", meinte er und zuckte lässig mit den Schultern. „Diesmal lasse ich mich nicht von ihm überrumpeln." „Mac..." Mit verblüffender Geschwindigkeit hielt er ihr den Mund zu. „Du kleiner Dummkopf. Mal abgesehen davon, dass ich von deinem alternden Preisboxer von Butler nicht in meiner Privatsphäre gestört werden möchte - hast du vielleicht schon mal darüber nachgedacht, dass es unsere Hochzeit nur beschleunigen wird, wenn er hier so hereinplatzt? Sicher würdest du nicht wollen, dass du in einer kompromittieren-
den Situation erwischt wirst, oder?" Miranda brummte etwas und boxte ihn dann in die Hüfte, bis er die Hand wegnahm. Aber sie versuchte nicht noch einmal, nach MacDownes zu rufen. So ungern sie es auch zugab, er hatte recht. „Warum hast du mich dann nicht nach ihm rufen lassen?", spöttelte sie. „Hmmm? Willst du mich vielleicht doch nicht heiraten?" „Doch, aber ich dachte, dir wäre es lieber, die Sache mit ein wenig Würde zu begehen." Darauf wusste Miranda keine Antwort. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und jetzt möchte ich, dass du mir zuhörst", sagte er mit leiser Stimme, packte sie am Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Und zwar gut, denn ich sage das nur ein einziges Mal. Du wirst mich heiraten, ehe die Woche um ist. Nachdem du praktischerweise nach Schottland davongelaufen bist, brauchen wir nicht mal eine Sondererlaubnis. Du kannst von Glück reden, dass ich dich nicht gleich in irgendeine Kirche zerre. Besorg dir ein Kleid und ein paar Blumen, denn du, meine Süße, bekommst nun einen neuen Nachnamen." Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu, unfähig, adäquate Worte zu finden, die ihrem Zorn Ausdruck verliehen hätten. „Und glaub bloß nicht, du könntest noch mal davonlaufen", erklärte er. „Zu deiner Information, ich habe mich nur zwei Türen weiter eingemietet und dafür gesorgt, dass dieses Haus rund um die Uhr beobachtet wird. Du kämst nicht mal bis ans Ende der Straße." „Mein Gott", hauchte sie. „Du bist verrückt geworden." Darüber musste er lachen. „Überleg dir das noch mal. Wenn ich zehn Leute herbrächte und erklärte, dass ich dir die Jungfernschaft geraubt und dir einen Heiratsantrag gemacht habe, du mich aber abgewiesen hast, was glaubst du, wen die Leute für verrückt hielten?" Sie war so zornig, dass sie meinte, jeden Augenblick explodieren zu müssen. „Nicht mich!", erklärte er munter. „Und jetzt Kopf hoch, sieh es mal von der positiven Seite. Wir machen noch mehr
Babys und werden uns dabei herrlich verlustieren. Ich verspreche, dir gegenüber nie Gewalt anzuwenden und dir nie irgendetwas abzuschlagen, es sei denn, es wäre absolut dumm, und außerdem wirst du endlich Olivias Schwester. Was willst du mehr?" Liebe. Aber sie brachte das Wort nicht über die Lippen. „Alles in allem, Miranda, könntest du dich in einer weitaus schlimmeren Lage befinden." Immer noch sagte sie nichts. „Viele Frauen würden begeistert mit dir tauschen." Sie fragte sich, ob es irgendeinen Weg gäbe, ihm das selbstgefällige Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, ohne ihm dauerhaften Schaden zuzufügen. Anzüglich beugte er sich vor. „Und ich kann dir versprechen, dass ich auf deine Bedürfnisse sehr, sehr gut eingehen werde." Sie verschränkte die Hände im Rücken, weil sie vor Zorn und Missmut zu zittern begannen. „Eines Tages wirst du mir noch dankbar dafür sein." Das war der letzte Tropfen. „Aaaargh!", schrie sie und stürzte sich auf ihn. „Was um alles in der Welt?" Turner wand sich unter den auf ihn einprasselnden Schlägen und versuchte, sie von sich wegzuschieben. „Sag mir nie, nie wieder, dass ich dir für irgendetwas noch einmal dankbar sein werde! Hast du gehört? Nie wieder!" „Hör auf, Frau! Lieber Gott, du bist verrückt geworden!" Er hob die Arme, um sein Gesicht abzuschirmen. Diese Haltung war für seinen Geschmack zwar etwas feige, aber die Alternative war, dass sie ihm versehentlich ein Auge auskratzte. Ihm blieb keine große Wahl, denn er konnte sich kaum richtig verteidigen. Er hatte noch nie eine Frau geschlagen und würde auch jetzt nicht damit anfangen. „Und rede nie wieder in diesem herablassenden Ton mit mir!", forderte sie und stieß ihn zornig gegen die Brust. „Nun beruhige dich doch, meine Liebe, ich verspreche dir, dass ich nie wieder in diesem herablassenden Ton mit dir rede." „Du tust es ja schon wieder", stieß sie hervor.
„Aber keineswegs." „Doch!" „Nein!" „Doch!" Lieber Himmel, allmählich wurde es langweilig. „Miranda, wir benehmen uns wie kleine Kinder." Sie schien ein Stück zu wachsen, und in ihre Augen trat ein wilder Ausdruck, der ihn in Angst und Schrecken hätte versetzen sollen. Und dann schüttelte sie den Kopf und fauchte: „Das ist mir egal!" „Nun, wenn du anfängst, dich wie eine Erwachsene zu benehmen, höre ich vielleicht auf, diesen sogenannten herablassenden Ton anzuschlagen." Ihre Augen wurden schmal, und aus ihrer Kehle drang ein Knurren. „Weißt du was, Turner? Manchmal benimmst du dich wirklich wie der letzte Mistkerl." Sprach es, ballte die Hand zur Faust, holte aus und schlug zu. „Verfluchte Hölle!" Ungläubig griff er sich an die Wange und befühlte die brennende Stelle. „Wer zum Teufel hat dir beigebracht, Boxhiebe auszuteilen?" Sie lächelte selbstgefällig. „MacDownes." 28. August 1819 - später am Abend MacDownes hat Großmutter und Großvater von meinem Besucher heute erzählt, und sie haben rasch erraten, um wen es sich handelte. Großvater hat ungefähr zehn Mi nuten darüber gepoltert, wie es diesem So hn einer Ichwage-nicht-es-hinzuschreiben einfallen konnte, sich hier sehen zu lassen. Großmutter hat ihn schließlich beruhigt und mich dann gefragt, warum er gekommen ist. Ich kann sie nicht anlügen. Das konnte ich noch nie. Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt - dass er gekommen ist, um mich zu heiraten. Beide haben mit großer Freude und noch größerer Erleichterung darauf reagiert, bis ich ih nen erzählt habe, dass ich abgelehnt habe. Großvater ließ daraufhin noch eine Schimpfkanonade vom Stapel, nur diesmal gegen mich und meinen Mangel an Vernunft ge richtet. Zumindest glaube ich, dass er das gesagt hat. Er stammt aus den Highlands, und obwohl er Englisch mit
vollkommenem Akzent spricht, schlägt doch das Schotti sche durch, wenn er sich aufregt. Er war, um es gelinde auszudrücken, recht aufgeregt. Und nun haben sich die drei gegen mich verbündet. Ich fürchte, dass ich auf verlorenem Posten stehe.
15. KAPITEL Bei all der Opposition gegen sie war es erstaunlich, wie lange Miranda durchhielt, nämlich drei ganze Tage. Ihre Großmutter führte den Angriff an, wobei sie sich die liebende Vernunft als Taktik auserkoren hatte. „Nun, mein Liebes", hatte sie gesagt, „wie ich höre, war Lord Turner vielleicht ein wenig saumselig in seiner Werbung, aber am Ende hat er dir doch einen Antrag gemacht, und, nun ja, schließlich hast du ja tatsächlich ..." „Du brauchst es nicht auszusprechen", hatte Miranda erwidert und war puterrot angelaufen. „Nun ja, jedenfalls hast du es getan." „Ich weiß." Herr im Himmel, und wie sie das wusste. Sie konnte ja kaum an etwas anderes denken. „Aber wirklich, Liebling, was gefällt dir denn am Viscount nicht? Er scheint ein recht netter junger Mann zu sein, und er hat uns versichert, dass er in der Lage ist, dich zu ernähren und ordentlich zu versorgen." Miranda knirschte mit den Zähnen. Turner war am Abend davor vorbeigekommen, um sich bei ihren Großeltern vorzustellen. Mal wieder typisch für ihn, dass er ihre Großmutter in weniger als einer Stunde bezaubert hatte. Diesen Mann sollte man von Frauen aller Altersstufen fernhalten. „Und so attraktiv, finde ich", fuhr ihre Großmutter fort. „Meinst du nicht auch? Aber natürlich. Er gehört nicht zu denen, die manche schön finden und manche nicht. Jemanden wie ihn finden einfach alle attraktiv. Meinst du nicht?" Miranda war durchaus dieser Meinung, aber sie hatte nicht die Absicht, es einzuräumen. „Natürlich ist Schönheit nur äußerlich, und viele schöne
Menschen haben einen hässlichen Charakter." Dazu wollte sich Miranda erst recht nicht äußern. „Aber er scheint Köpfchen zu haben, und er ist auch sehr umgänglich. Alles in allem könntest du es viel schlechter treffen, Miranda." Als ihre Enkelin nicht antwortete, ergänzte sie mit untypischer Strenge: „Und ich glaube nicht, dass du etwas Besseres findest." Es schmerzte, aber es entsprach der Wahrheit. Trotzdem erwiderte Miranda: „Ich könnte ja unverheiratet bleiben." Da dies für ihre Großmutter keine praktikable Alternative darstellte, ließ sie sich nicht dazu herab, darauf einzugehen. „Ich spreche nicht von seinem Titel", sagte sie scharf. „Oder seinem Vermögen. Er wäre auch dann ein guter Fang, wenn er keinen Penny besäße." Mirandas Antwort bestand aus einem unverbindlichen Kehllaut, einem leisen Kopfschütteln, einem angedeuteten Kinnrecken und einem Schulterzucken. Und damit, hoffte sie, war die Sache beendet. Doch das war sie nicht. Im Gegenteil, ein Ende war nicht in Sicht. Mit dem Versuch, an ihre romantische Natur zu appellieren, läutete Turner die nächste Runde ein. Alle zwei Stunden wurden üppige Blumenbouquets geliefert, jedes mit der Botschaft: „Heirate mich, Miranda." Miranda ignorierte die Sträuße nach Kräften, was nicht einfach war, da die Blumen bald jeden Winkel im Haus füllten. Ihre Großmutter war jedoch sehr beeindruckt und umso entschlossener, Miranda mit dem reizenden und großzügigen Viscount zu verheiraten. Ihr Großvater probierte es als Nächster, mit einem weitaus aggressiveren Vorstoß. „Um Christi willen, Mädchen", röhrte er, „hast du den Verstand verloren?" Da Miranda sich nicht mehr sicher war, ob sie auf diese Frage eine eindeutige Antwort hatte, schwieg sie lieber. Dann war Turner wieder an der Reihe. Diesmal beging er allerdings einen taktischen Fehler. Er schickte einen Brief, in dem geschrieben stand: „Ich verzeihe Dir, dass Du mich geschlagen hast." Miranda war anfangs sehr erzürnt. Hier war er wieder, dieser herablassende Ton, der sie ja überhaupt erst dazu gebracht hatte, ihn zu schlagen. Dann erkannte sie, was
der Brief wirklich bezweckte: Er war eine sanfte Warnung. Lange würde Turner sich ihre Sturheit nicht mehr gefallen lassen. Am zweiten Tag der Belagerung entschied sie, dass sie frische Luft brauchte - der Duft all dieser Blumen widerte sie nur noch an -, daher setzte Miranda ihren Hut auf und machte sich auf den Weg in den nahen Queen Street Garden. Turner nahm sofort die Verfolgung auf. Er hatte nicht gescherzt, als er ihr gesagt hatte, er würde das Haus beobachten lassen. Allerdings hatte er nicht erwähnt, dass er zu diesem Zweck nicht extra Männer anzuheuern gedachte. Sein armer, strapazierter Kammerdiener hatte die Ehre, und nachdem er acht Stunden aus dem Fenster gestarrt hatte, war er sehr erleichtert, dass die fragliche Dame endlich aus dem Haus ging und er seinen Posten verlassen konnte. Turner lächelte, als er Miranda raschen, entschiedenen Schrittes zum Park eilen sah, und runzelte dann die Stirn, als er bemerkte, dass sie keine Zofe dabeihatte. Edinburgh war nicht so gefährlich wie London, aber auch hier ging eine vornehme Dame wohl kaum ohne Begleitung aus. Derartiges Benehmen musste aufhören, wenn sie erst einmal verheiratet waren. Und sie würden heiraten. Und damit Schluss der Debatte. Allerdings würde er diese Angelegenheit mit einer gewissen Finesse angehen müssen. Im Nachhinein dachte er sich, dass es wahrscheinlich ein Fehler gewesen war, ihr einen Brief zu schreiben, in dem er ihr verzieh. Zum Teufel, noch während er ihn schrieb, hatte er gewusst, dass sie sich darüber ärgern würde, doch irgendwie hatte er sich nicht bremsen können. Vor allem, da er bei jedem Blick in den Spiegel mit seinem blauen Auge konfrontiert wurde. Miranda betrat den Park und ging eine Weile spazieren, bis sie eine unbesetzte Bank fand. Sie kehrte etwas Staub ab, setzte sich und nahm ein Buch aus ihrem Retikül. Turner, der sie aus etwa fünfzig Metern Entfernung beobachtete, lächelte. Es machte ihm Spaß, ihr zuzusehen, ja es überraschte ihn, mit welcher Zufriedenheit es ihn erfüllte, unter einem Baum zu stehen und nichts anderes zu tun, als ihr beim Lesen zuzuschauen. Ihre Finger bogen sich so zier-
lich, wenn sie umblätterte. Plötzlich sah er sie vor sich, wie sie in dem zu seinem Schlafzimmer gehörigen Salon zu Hause in Northumberland am Schreibtisch saß, einen Brief schrieb, vermutlich an Olivia, und beim Schreiben in sich hineinlächelte. Und ihm wurde klar, dass diese Ehe nicht nur das Richtige war, sondern auch etwas Gutes: Er würde mit ihr glücklich werden. Fröhlich vor sich hin pfeifend schlenderte er zu ihrer Bank hinüber und ließ sich neben ihr nieder. „Hallo Kätzchen." Sie sah auf, seufzte und rollte mit den Augen. „Ach, du schon wieder." „Ich möchte doch hoffen, dass niemand anders dich mit Kosenamen anspricht." Als sie ihm ins Gesicht blickte, zuckte sie zusammen. „Tut mir leid mit deinem Auge." „Oh, dafür habe ich dir ja längst vergeben, wenn du dich erinnerst." Sie versteifte sich. „Allerdings." „Ja", murmelte er. „Davon bin ich ausgegangen." Sie wartete einen Augenblick, vermutlich darauf, dass er sich verabschiedete. Dann wandte sie sich demonstrativ wieder ihrem Buch zu und verkündete: „Ich versuche zu lesen." „Das sehe ich. Sehr schön finde ich das. Ich bin immer dafür, dass eine Frau ihren Horizont erweitert." Er nahm ihr den Band aus der Hand und las den Titel. „Stolz und Vorurteil. Macht es dir Freude?" „Bis eben ja." Er ignorierte diesen Pfeil und blätterte zur ersten Seite, wobei er ihre Stelle mit dem Zeigefinger markierte: „,Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit'", las er laut vor, „,dass ein Junggeselle, der ein beachtliches Vermögen besitzt, zu seinem Glück nur noch einer Frau bedarf.'" Miranda versuchte, sich das Buch zurückzuerobern, doch er hielt es außerhalb ihrer Reichweite. „Hmmmm", überlegte er. „Ein interessanter Gedanke. Ich jedenfalls bedarf tatsächlich einer Frau." „Geh nach London", gab sie zurück. „Da findest du jede Menge Frauen."
„Und ein beachtliches Vermögen besitze ich auch." Er beugte sich vor und grinste sie an. „Nur für den Fall, dass du dir dessen nicht bewusst bist." „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich erleichtert, dass du niemals verhungern musst." Er lachte. „Ach, Miranda, gib doch einfach auf. Du kannst ohnehin nicht gewinnen." „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Pfarrer gibt, die ohne Einverständnis der Braut eine Ehe schließen." „Du wirst dein Einverständnis schon noch geben", sagte er freundlich. „Ach ja?" „Du liebst mich doch, schon vergessen?" Miranda presste die Lippen aufeinander. „Das ist lange her." „Was, zwei, drei Monate? So lange ist das nicht. Deine Gefühle kommen sicher wieder." „Nicht, wenn du dich weiter so benimmst." „Was für eine spitze Zunge du doch hast", bemerkte er mit jungenhaftem Lächeln. Und dann beugte er sich zu ihr. „Wenn du es unbedingt wissen willst, das ist eines der Dinge, die mir an dir am meisten gefallen." Sie musste sich bezähmen, um ihm nicht die Arme um den Hals zu werfen. „Ich glaube, nun habe ich genug frische Luft genossen", verkündete sie, nahm ihm das Buch aus der Hand und presste es an ihre Brust. „Ich gehe nach Hause." Sofort stand er auf. „Dann begleite ich dich, Lady Turner." Sie wirbelte herum. „Wie hast du mich gerade genannt?" „Ich habe den Namen nur einmal ausprobiert", murmelte er. „Er passt recht gut zu dir, finde ich. Du solltest dich ebenfalls sobald wie möglich daran gewöhnen." Miranda schüttelte den Kopf und machte sich auf den Heimweg. Sie versuchte, ihm immer ein paar Schritte voraus zu sein, doch seine Beine waren länger, und so hatte er keine Schwierigkeiten, mit ihr mitzuhalten. „Weißt du, Miranda", meinte er leutselig, „wenn du mir auch nur einen guten Grund sagen könntest, warum wir nicht heiraten sollten, würde ich dich in Ruhe lassen." „Ich mag dich nicht."
„Das ist gelogen, zählt also nicht." Sie dachte ein paar Augenblicke nach, ohne im Gehen innezuhalten. „Ich brauche dein Geld nicht." „Natürlich nicht. Olivia hat mir letztes Jahr erzählt, dass deine Mutter dir eine kleine Erbschaft hinterlassen hat. Genug, dass du davon leben kannst. Aber ist es nicht ein wenig kurzsichtig, jemandem einen Korb zu geben, nur weil man nicht noch mehr Geld haben will?" Sie presste die Lippen zusammen und eilte weiter. Schließlich langten sie bei der Treppe zum Haus ihrer Großeltern an, und Miranda lief hinauf. Doch bevor sie eintreten konnte, hatte Turner sie am Handgelenk gepackt, und das mit genügend Nachdruck, um ihr zu versichern, dass er es ernst meinte. Immerhin lächelte er noch, als er sagte: „Siehst du? Du kannst mir keinen einzigen Grund nennen." Sie hätte nervös sein müssen. „Vielleicht nicht", erwiderte sie eisig. „Aber es gibt auch keinen Grund, es zu tun." „Dein Ruf ist kein Grund?", fragte er leise. Wachsam sah sie ihn an. „Aber mein Ruf ist doch nicht in Gefahr." „Nicht?" Sie schnappte nach Luft. „Das würdest du nicht tun." Er zuckte mit den Schultern, eine winzige Bewegung nur, doch sie jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Normalerweise gelte ich nicht als rücksichtslos, Miranda, aber du solltest mich nicht unterschätzen. Ich werde dich heiraten." „Warum willst du das überhaupt?", rief sie aus. Er brauchte es nicht zu tun. Miranda hatte ihm den Ausweg praktisch auf einem Silbertablett serviert. „Ich bin ein Gentleman", fuhr er sie an. „Ich stehe für meine Fehltritte ein." „Ich bin also ein Fehltritt?", flüsterte sie. Ihr war die Luft weggeblieben, mehr als ein Wispern brachte sie nicht hervor. Er stand vor ihr und sah so unbehaglich drein, wie sie es bei ihm noch nie gesehen hatte. „Ich hätte dich nicht verführen dürfen. Ich hätte es besser wissen müssen. Und ich hätte dich
hinterher nicht so lange allein lassen dürfen. Dafür habe ich keinerlei Entschuldigung, nur meine eigene Unzulänglichkeit. Aber ich lasse nicht zu, dass meine Ehre einfach beiseitegefegt wird. Und du wirst mich heiraten." „Willst du mich oder nur deine Ehre?", flüsterte Miranda. Er sah sie an, als hätte sie eine wichtige Lektion nicht begriffen. Und dann erklärte er: „Das ist ein und dasselbe." 1. September 1819 Ich habe ihn geheiratet.
Die Hochzeit fand im kleinen Kreis statt. Eigentlich eher im winzigen: Die einzigen Gäste waren Mirandas Großeltern, die Frau des Pfarrers und, auf Mirandas Drängen hin, MacDownes. Turner bestand darauf, dass sie nach Northumberland aufbrachen, sowie die Zeremonie vorüber war, die, auch darauf hatte Turner bestanden, zu ungewöhnlich früher Stunde anberaumt worden war. Er wollte möglichst weit kommen auf der Reise nach Rosedale, dem Herrensitz aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in dem das Paar seinen Hausstand gründen sollte. Nachdem Miranda sich verabschiedet hatte, half er ihr in die Kutsche, wobei seine Hände an ihrer Taille verharrten, ehe er sie hinaufhob. Ein merkwürdiges, fremdes Gefühl überkam ihn, und zu seinem Erstaunen erkannte er, dass es sich dabei um Zufriedenheit handelte. In der Ehe mit Leticia hatte er vieles gespürt, aber nie Zufriedenheit. Anfangs hatte Turner schwindelerregende Begierde empfunden, die aber bald der Ernüchterung und einem schrecklichen Gefühl der Leere gewichen war. Und als er dies überwunden hatte, blieb ihm nur noch Ärger. Die Vorstellung, mit Miranda verheiratet zu sein, gefiel ihm. Ihr konnte man vertrauen. Sie würde ihn nie betrügen, weder körperlich noch mit Worten. Und obwohl er für sie nicht dieselbe Besessenheit empfand wie für Leticia, begehrte er sie Miranda - mit einer Intensität, die er selbst kaum zu glauben vermochte. Jedes Mal, wenn er sie sah, sie roch, ihre Stimme hörte ... begehrte er sie. Er wollte die Hand auf ihren Arm
legen, wollte ihre Körperwärme fühlen. Er wollte sie nah bei sich spüren, sie in sich aufsaugen. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, befand er sich wieder in der Jagdhütte, sein Körper auf dem ihren, angetrieben von etwas, was tief in ihm verborgen lag, etwas Primitives und Besitzergreifendes, etwas Wildes. Sie gehörte ihm. Und würde ihm bald wieder gehören. Er stieg nach ihr in die Kutsche und nahm auf derselben Bank Platz wie sie, wenn auch nicht direkt neben ihr. Am liebsten hätte er sich dicht neben sie gesetzt und sie auf den Schoß gezogen, doch er spürte, dass sie dazu noch nicht bereit war. Sie würden viele Stunden in der Kutsche verbringen. Er konnte sich Zeit lassen. Während die Kutsche Edinburgh verließ, beobachtete er sie mehrere Minuten lang. Sie hatte die Hände in die Falten ihres frühlingsgrünen Hochzeitskleids gekrallt, sodass die Knöchel weiß hervortraten, ein Zeichen ihrer zerrütteten Nerven. Zweimal streckte Turner die Hand aus, um sie zu berühren, und zog sie dann wieder zurück, weil er sich nicht sicher war, ob ihr sein Annäherungsversuch willkommen wäre. Nach ein paar Minuten sagte er schließlich leise: „Wenn du weinen möchtest, werde ich dich nicht dafür verurteilen." Sie drehte sich nicht zu ihm um. „Mir geht es gut." „Wirklich?" Sie schluckte. „Natürlich. Eben habe ich geheiratet. Ist es nicht das, was sich alle Frauen wünschen?" „Wünschst du es dir?" „Ein bisschen spät, um sich darüber Gedanken zu machen, oder?" Er lächelte schief. „So schlimm bin ich gar nicht, Miranda." Sie stieß ein angespanntes Lachen aus. „Natürlich nicht. Ich habe dich schließlich die ganze Zeit gewollt. Das hast du mir doch während der letzten Tage ständig erzählt, nicht? Dass ich dich schon immer geliebt habe." Er wünschte sich, dass ihre Worte keinen so spöttischen Unterton hätten. „Komm her", sagte er, ergriff sie am Arm und zog sie zu sich herüber.
„Mir gefällt es hier ... warte ... oh!" Sie wurde fest an ihn gepresst, und sein Arm legte sich wie ein Eisenband um sie. „So ist es doch viel besser, findest du nicht?" „Jetzt kann ich nicht mehr aus dem Fenster schauen", sagte sie verdrießlich. „Da draußen gibt es nichts, was du nicht schon gesehen hättest." Er schob die Vorhänge zur Seite und linste hinaus. „Bäume, Gras, hier und da ein Cottage. Alles recht gewöhnlich." Müßig ergriff er ihre Hand und begann sie zu streicheln. „Gefällt dir der Ring?", fragte er. „Er ist recht schlicht, ich weiß, aber in meiner Familie ist es Sitte, einen einfachen goldenen Ring zu tragen." Mirandas Atem ging schneller, und ihre Hände wurden unter seinen Liebkosungen warm. „Er ist wunderschön. Etwas ... etwas Protziges hätte mir gar nicht gefallen." „Das dachte ich mir auch. Du bist eine ziemlich elegante junge Dame." Errötend drehte sie den Ring an ihrem Finger. „Oh, eigentlich sucht Olivia all meine Kleider aus." „Trotzdem, ich bin mir sicher, du würdest dir von ihr nie etwas Auffälliges oder Grelles aufschwatzen lassen." Miranda warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Sanft, beinahe gütig lächelte er sie an, doch seine Hände stellten verboten aufregende Dinge mit ihrem Handgelenk an, die sie bis ins Innerste erschauern und erbeben ließen. Und dann hob er ihre Hand an den Mund und drückte einen überwältigend zärtlichen Kuss auf die Innenseite ihres Handgelenks. „Ich habe noch etwas für dich", murmelte er. Sie wagte es nicht, ihn noch einmal anzusehen. Nicht, wenn sie einen letzten Rest an Contenance wahren wollte. „Schau her", befahl er sanft. Er hob ihr Kinn mit zwei Fingern an und drehte es zu sich. Dann steckte er die Hand in die Rocktasche und zog eine samtbezogene Schmuckschatulle heraus. „Bei all der Aufregung in dieser Woche habe ich vergessen, dir einen richtigen Verlobungsring zu schenken." „Ach, aber das wäre doch nicht nötig gewesen", sagte sie rasch, allerdings ohne es so zu meinen. „Sei still, Kätzchen", versetzte er grinsend. „Und nimm mein Geschenk artig entgegen."
„Ja, Sir", erwiderte sie und nahm den Deckel von dem Schächtelchen. Innen lag ein blitzender Diamant, oval geschnitten und von zwei kleinen Saphiren flankiert. „Der ist ja wunderschön, Turner", flüsterte sie. „Er passt zu deinen Augen." „Das lag nicht in meiner Absicht, das versichere ich dir", erwiderte er heiser. Er nahm den Ring aus der Schatulle und ließ ihn auf ihren schlanken Finger gleiten. „Passt er?" „Wie angegossen." „Wirklich?" „Wirklich, Turner. Ich ... danke dir. Das war sehr aufmerksam von dir." Bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, beugte sie sich vor und küsste ihn rasch auf die Wange. Er umfing ihr Gesicht mit beiden Händen. „Ich werde dir gar kein so schlimmer Ehemann sein, du wirst schon sehen." Sein Gesicht kam näher, bis seine Lippen die ihren in einem sanften Kuss streiften. Sie beugte sich zu ihm, angezogen von seiner Wärme und seinem leisen Murmeln. „So weich", raunte er und zog ihr die Nadeln aus dem Haar, um sich die Strähnen durch die Finger gleiten zu lassen. „So weich, so süß. Ich hätte mir nie träumen lassen ..." Miranda legte den Kopf zurück, um seinen Lippen leichteren Zugang zu gewähren. „Was, Turner?" Zart ließ er die Lippen über ihre Haut gleiten. „Dass du so sein könntest. Dass ich dich so begehren könnte. Dass es so sein könnte." „Ich habe es immer gewusst. Ich habe es immer gewusst." Die Worte entschlüpften ihr, ehe sie darüber nachdenken konnte, ob es klug war, sie auszusprechen. Doch dann dachte sie sich, dass es sie nicht weiter kümmerte. Nicht, wenn er sie so küsste und sein Atem ebenso keuchend ging wie der ihre. „Was für ein kluges Kind", murmelte er. „Ich hätte schon vor Jahren auf dich hören sollen." Er begann, ihr das Kleid von den Schultern zu ziehen, und presste dann die Lippen auf den Ansatz ihrer Brüste. Das Feuer, das dies in Miranda entfachte, erwies sich als zu stark. Sie drängte sich an ihn, und als er sich an den Knöpfen ihres Kleids zu schaffen machte, wehrte sie sich nicht. Im nächsten Moment glitt ihr Kleid nach unten, und sein Mund schloss sich um ihre Brustspitze.
Miranda stöhnte vor Schreck und vor Begierde. „Oh, Turner, ich ..." Sie seufzte. „Mehr ..." „Ein Befehl, dem ich nur zu gern nachkomme." Seine Lippen wanderten zu ihrer anderen Brust, wo sie dieselbe Qual wiederholten. Er küsste und er saugte, und die ganze Zeit gingen seine Hände auf Entdeckungsreise. An ihrem Bein entlang, um die Taille - es war fast, als wollte er sie als die Seine kennzeichnen, als wollte er sie für immer brandmarken. Sie fühlte sich mutwillig. Weiblich. Und sie verspürte ein Begehren, das tief in ihr brannte, an einem verborgenen, feurigen Ort. „Ich will dich", hauchte sie und grub die Finger in sein Haar. „Ich will ..." Seine Finger wanderten weiter nach oben, zu ihrer zartesten Knospe. „Das will ich." Er lachte leise. „Zu Ihren Diensten, Lady Turner." Sie kam nicht einmal dazu, über ihren neuen Namen zu staunen. Er tat etwas - lieber Gott, sie wusste nicht einmal, was -, und sie musste alle Kraft darauf verwenden, um nicht laut aufzuschreien. Und dann zog er sich zurück - nicht die Finger, das hätte sie nicht ertragen, sondern den Kopf, nur weit genug, um verführerisch lächelnd auf sie hinabzublicken. „Ich weiß noch etwas, was dir gefallen könnte." Atemlos vor Überraschung sah Miranda zu, wie er vor ihr auf die Knie ging. „Turner?", flüsterte sie, denn von dort unten konnte er doch nichts machen. Er konnte doch nicht ... Sie keuchte auf, als sein Kopf unter ihren Röcken verschwand. Und dann keuchte sie noch einmal auf, als sie ihn spürte, heiß und fordernd, wie er auf ihrem Schenkel einen Pfad aus Küssen legte. Und dann konnte sie nicht mehr an seinen Absichten zweifeln. Seine Finger, die sie so herrlich erregt hatten, wechselten die Position. Sie spreizten sie, erkannte sie aufgeregt, um sie vorzubereiten auf ... Seine Lippen. Danach war kaum Platz mehr für vernünftige Gedanken.
Was immer sie beim ersten Mal zu verspüren gemeint hatte - und dieses erste Mal war wunderschön gewesen -, war nichts im Vergleich zu dem, was sie jetzt empfand. Seine Lippen vollbrachten unaussprechlich Verruchtes, und sie war wie verzaubert. Und als sie den Gipfel erklomm, tat sie das mit jedem Zoll ihres Körpers, jedem Tropfen ihrer Seele. Lieber Gott, dachte sie, während sie verzweifelt nach Atem rang. Wie konnte man so etwas nur überleben? Plötzlich tauchte Turners lächelndes Gesicht vor ihr auf. „Dein erstes Hochzeitsgeschenk", erklärte er. „Ich ... ich ..." „Ein einfaches Danke genügt mir", versetzte er, frech wie immer. „Danke", seufzte sie. Er küsste sie sanft auf den Mund. „Sehr, sehr gern geschehen." Miranda sah zu, wie er ihr Kleid richtete, sie sorgfältig bedeckte und ihr am Ende freundschaftlich den Arm tätschelte. Seine Leidenschaft war anscheinend vollständig abgekühlt, während sie in sich immer noch eine lodernde Flamme spürte. „Willst du nicht, nun, ..., du hast nicht..." Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Es gibt kaum etwas, was ich mir mehr wünsche, aber ich werde mich irgendwie beherrschen können - außer, du möchtest deine Hochzeitsnacht in einer fahrenden Kutsche erleben." „Das hier war keine Hochzeitsnacht?", fragte sie zweifelnd. Er schüttelte den Kopf. „Nur ein kleines Vergnügen für dich." „Oh." Miranda versuchte sich zu erinnern, warum sie sich so heftig gegen die Heirat gewehrt hatte. Ein Leben voll kleiner Vergnügungen klang sehr verheißungsvoll. Wohlige Erschöpfung stellte sich bei ihr ein, und sie lehnte sich schläfrig an ihn. „Machen wir das noch mal?", murmelte sie, während sie sich an ihn kuschelte. „O ja", flüsterte er und lächelte in sich hinein, während sie langsam einschlummerte. „Versprochen."
16. KAPITEL Für aristokratische Verhältnisse war Rosedale von bescheidenem Ausmaß. Das warme, elegante Haus befand sich schon seit mehreren Generationen im Besitz der Familie Bevelstoke und wurde gewöhnlich an den ältesten Sohn gegeben, damit er darin wohnte, bis er den Titel und das sehr viel großartigere Haverbreaks erbte. Turner liebte Rosedale, die schlichten Steinmauern und die zinnenbewehrten Dächer. Und vor allem liebte er die Landschaft ringsum, deren Wildheit nur durch ein Meer an Rosen rings ums Haus gemildert wurde. Sie trafen erst spät am Abend dort ein, nachdem sie im Grenzland eine ausgedehnte Mittagspause eingelegt hatten. Miranda war schon lange eingeschlafen - sie hatte ihn vorgewarnt, dass das Schwanken einer Kutsche sie immer müde machte -, doch Turner störte sich nicht daran. Er mochte die Ruhe der Nacht, nur durchbrochen vom Geräusch der Kutsche und der Pferde und dem Pfeifen des Winds. Er mochte den nächtlichen Mondschein, der durch die Fenster fiel. Und er schaute gern auf seine frischgebackene Ehefrau, die im Schlaf alles andere als elegant aussah - der Mund stand ihr offen, und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, sie schnarchte sogar ein wenig. Er wusste nicht, warum es ihm gefiel, aber es gefiel ihm. Und es gefiel ihm, dass er sich dessen bewusst war. Er sprang aus der Kutsche, legte den Finger an die Lippen, als einer der Vorreiter herbeigeeilt kam, um ihm zu helfen, und wandte sich zurück, um Miranda herauszuheben. Bisher war sie noch nie in Rosedale gewesen, obwohl es vom Lake District nicht weit entfernt war. Er hoffte, dass sie das Anwesen genauso lieb gewann wie er. In diesem Punkt war er guter
Hoffnung; ihm wurde bewusst, dass er sie inzwischen recht gut kannte. Er war sich nicht sicher, wann es passiert war, aber mittlerweile kam es vor, dass er etwas ansah und sich unwillkürlich dachte: Das würde Miranda gefallen. Auf dem Weg nach Schottland hatte Turner in Rosedale Station gemacht und die Dienstboten bei der Abreise angewiesen, das Haus herzurichten. Obwohl er nicht genau hatte sagen können, wann er zurückkehren würde, war alles vorbereitet, allerdings hatten die Dienstboten keine Gelegenheit gehabt, sich zu versammeln, um die neue Viscountess kennenzulernen. Da er Miranda nicht hätte aufwecken wollen, war Turner froh darum. Als er das Schlafzimmer erreicht hatte, stellte er dankbar fest, dass im Kamin ein Feuer brannte. Auch wenn man August schrieb - die Nächte in Northumberland konnten ziemlich kalt werden. Während er Miranda vorsichtig auf dem Bett ablegte, wurde ihr spärliches Gepäck von zwei Lakaien hereingebracht. Turner flüsterte dem Butler zu, dass seine Braut die Dienstboten am nächsten Morgen oder vielleicht später am Tag begrüßen würde, und schloss dann die Tür. Miranda, die statt zu schnarchen nun angefangen hatte, unruhig vor sich hin zu murmeln, wechselte die Lage und kuschelte sich an ein Kissen. Turner kehrte zu ihr zurück und murmelte ihr ein leises „Schscht" ins Ohr. Anscheinend hatte sie seine Stimme im Schlaf erkannt, denn sie stieß einen zufriedenen Seufzer aus und rollte sich auf die andere Seite. „Jetzt wird noch nicht geschlafen", murmelte er. „Erst muss ich dich noch aus deinen Sachen bekommen." Da sie auf der Seite lag, machte er sich an den Knöpfen in ihrem Rücken zu schaffen. „Würdest du dich kurz aufsetzen? Damit ich dir das Kleid ausziehen kann?" Wie ein schläfriges Kind ließ sie sich von ihm aufrichten. „Wo sind wir?", gähnte sie, noch halb im Schlaf. „In Rosedale. Deinem neuen Heim." Er schob ihr die Röcke über die Hüften, damit er sie ihr über den Kopf ziehen konnte. „Oh. Schön hier." Sie ließ sich wieder aufs Bett fallen. Er lächelte nachsichtig und hob sie noch einmal hoch.
„Gleich haben wir es." Mit einer geschickten Bewegung zog er ihr das Kleid über den Kopf, sodass sie im Hemd dasaß. „Gut", murmelte Miranda und versuchte, unter die Decke zu kriechen. „Nicht so schnell." Er hielt sie am Knöchel fest. „Hier schlafen wir nicht in den Kleidern." Das Hemd folgte dem Kleid auf den Fußboden. Miranda, die sich kaum bewusst wurde, dass sie nichts mehr anhatte, schlüpfte schließlich unter die Decke, seufzte noch einmal zufrieden auf und schlief ein. Turner lachte und betrachtete seine Frau kopfschüttelnd. War ihm eigentlich schon aufgefallen, was für lange Wimpern sie hatte? Vielleicht lag es nur am Kerzenlicht. Er war auch müde, und so streifte er sich rasch die Kleider ab und kroch ins Bett. Sie lag auf der Seite, zusammengerollt wie ein Kind, und so legte er den Arm um sie und zog sie zu sich in die Mitte des Betts, damit er sich an sie schmiegen konnte. Ihre Haut war unglaublich weich, und er strich ihr träge über den Bauch. Irgendwo musste er sie gekitzelt haben, denn sie quiekste leise auf und rollte sich herum. „Alles wird gut", flüsterte er. Sie mochten sich, sie fühlten sich zueinander hingezogen, und das war mehr, als die meisten Paare teilten. Er beugte sich vor und küsste sie auf den Mund, wobei er die Umrisse mit der Zunge nachfuhr. Flatternd schlug sie die Lider auf. „Du musst Dornröschen sein", murmelte er. „Von einem Kuss geweckt." „Wo sind wir?", fragte sie schlaftrunken. „In Rosedale. Das fragst du mich nun schon zum zweiten Mal." „Ach ja? Ich erinnere mich nicht." Er konnte einfach nicht anders, er musste sie noch einmal küssen. „Ach, Miranda, du bist so süß." Sie stieß einen leisen Seufzer der Zufriedenheit aus, doch war offensichtlich, dass sie kaum die Augen offenhalten konnte. „Turner?" „Ja, Kätzchen?" „Es tut mir leid." „Was denn?" „Es tut mir leid. Ich kann einfach nicht... ich bin so müde."
Sie gähnte. „Kann meine Pflicht nicht tun." Er lächelte verständnisvoll und nahm sie in die Arme." Schsch", raunte er und küsste sie auf die Schläfe. „Du darfst das nicht als Pflicht ansehen, dazu ist es viel zu großartig. Und ich bin kein solcher Schuft, mich einer Frau aufzudrängen, die vollkommen erschöpft ist. Wir haben jede Menge Zeit. Mach dir keine Gedanken." Doch sie schlief bereits. Er hauchte ihr einen Kuss aufs Haar. „Vor uns liegt das ganze Leben." Am nächsten Morgen erwachte Miranda als Erste. Sie öffnete die Augen und gähnte herzhaft. Das Tageslicht blinzelte durch die Vorhänge, aber es war keineswegs die Sonne, die ihr das Bett so warm und behaglich machte. Irgendwann in der Nacht hatte Turner den Arm über ihre Taille gelegt, und sie lag dicht neben ihm. Himmel, der Mann strahlte vielleicht eine Hitze ab! Sie wand sich herum, damit sie ihn besser ansehen konnte. Sein Gesicht hatte sich einen jungenhaften Reiz bewahrt, und im Schlaf war dieser Zug noch ausgeprägter. Wie ein Engel sah er aus, ohne eine Spur des Zynismus, der manchmal seinen Blick trübte. „Dafür dürfen wir uns bei Leticia bedanken", sagte Miranda leise und strich ihm über die Wange. Er regte sich und murmelte im Schlaf. „Noch nicht, mein Liebster", flüsterte sie. Solange sie sicher war, dass er schlief und sie nicht hören konnte, fand sie den Mut, Koseworte zu benutzen. „Ich schaue dir gern beim Schlafen zu." Turner schlummerte weiter, und sie hörte zu, wie er atmete. Es war himmlisch. Schließlich regte er sich, begann sich zu recken und zu strecken, und dann schlug er die Augen auf. Und da war er, sah sie noch etwas müde an und lächelte. „Morgen", sagte er verschlafen. „Guten Morgen." Er gähnte. „Bist du schon lange wach?"
„Nur ein Weilchen." „Hast du Hunger? Ich könnte Frühstück heraufschicken lassen." Sie schüttelte den Kopf. Er gähnte noch einmal und lächelte sie dann an. „Du bist morgens aber sehr rosig." „Rosig?" Das faszinierte sie nun doch. „Mmmm-hmmm. Deine Haut ... glüht richtig." „Tut sie nicht." „Doch. Vertrau mir." „Meine Mutter hat mir immer eingeschärft, ich soll mich vor Männern hüten, die sagen, man soll ihnen vertrauen." „Ja, schön, deine Mutter hat mich ja nicht gut gekannt", erklärte er sofort. Mit dem Zeigefinger berührte er ihre Lippen. „Die sind auch rosig." „Wirklich?", fragte sie heiser. „Mmmm-hmmm. Sehr rosig. Aber nicht so rosig wie so manch anderer Körperteil von dir." Miranda lief dunkelrot an. „Die hier, zum Beispiel", murmelte er und strich mit den Handflächen über ihre Brustspitzen. Dann hob er die Hand an ihre Wange und umfasste sie zärtlich. „Du warst letzte Nacht sehr müde." „Ja, allerdings." „Viel zu müde, um dich einer dringenden Angelegenheit zu widmen." Sie schluckte nervös und versuchte, nicht aufzustöhnen, als er ihr sanft über den Rücken strich. „Ich finde, es ist an der Zeit, unsere Ehe zu vollziehen", flüsterte er ihr ins Ohr, und seine Lippen fühlten sich warm und verführerisch an. Und dann zog er sie an sich, und ihr wurde klar, wie bald er sich dieser dringenden Angelegenheit zu widmen gedachte. Miranda schenkte ihm ein amüsiert-vorwurfsvolles Lächeln. „Das haben wir doch schon vor einer ganzen Weile erledigt. Wir waren damit ein wenig früh dran, wenn du dich erinnerst." „Das zählt aber nicht", erwiderte er heiter. „Damals waren wir ja nicht verheiratet."
„Wenn es nicht zählen würde, wären wir gar nicht erst verheiratet." Turner bestätigte ihr das mit einem verwegenen Grinsen. „Ah, na ja, vermutlich hast du recht. Aber am Ende hat sich ja doch alles zum Guten gewendet. Du wirst mir kaum zum Vorwurf machen, dass ich so enorm männlich bin." Miranda mochte noch ziemlich unschuldig sein, doch wusste sie genug, um jetzt mit den Augen zu rollen. Etwas sagen konnte sie jedoch nicht, da er in diesem Augenblick die Hand auf ihre Brust legte und irgendetwas mit der Brustspitze machte, was sie unbegreiflicherweise zwischen den Beinen spüren konnte. Als Nächstes begann sie vom Kissen zu rutschen, bis sie auf dem Rücken lag, und auch innerlich geriet sie ins Wanken, denn mit jeder Berührung schien ein Teil ihres Körpers dahinzuschmelzen. Er küsste sie auf die Brüste, den Bauch, die Beine. Anscheinend gab es kein Körperteil, das ihn nicht interessierte. Miranda wusste nicht, was sie tun sollte. Sie lag auf dem Rücken, unter seinen forschenden Händen, und wand sich und stöhnte, wenn die Empfindungen sie zu überwältigen drohten. „Gefällt dir das?", murmelte Turner, während er ihre Kniekehle mit den Lippen erkundete. „Mir gefällt alles", stieß sie atemlos hervor. Rasch tauchte er wieder auf und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr es mich freut, das zu hören." „Das kann doch nicht schicklich sein." Er grinste. „Auch nicht unschicklicher als das, was ich in der Kutsche mit dir gemacht habe." Sie errötete, als sie daran denken musste, und biss sich dann auf die Lippen, um ihn nicht zu bitten, es noch einmal zu tun. Doch er konnte ihre Gedanken - oder zumindest ihre Miene - lesen und stieß einen zufriedenen kehligen Laut aus, während er von ihren Lippen bis hinunter zu ihrer Weiblichkeit eine Spur von Küssen legte. Erst berührte er die Innenseite des einen Schenkels mit den Lippen, dann die des anderen. „O ja", seufzte sie und vergaß alle Verlegenheit. Es war ihr
egal, wenn dies ein schamloses Frauenzimmer aus ihr machte. Sie wollte diesen Genuss einfach ganz und gar auskosten. „So süß", murmelte er, legte eine Hand auf ihren Venushügel und spreizte sie noch ein wenig auseinander. Sein heißer Atem fächelte über ihre Haut, und sie verkrampfte die Beine, obwohl sie das doch wollte. „Nein, nein, nein", sagte er. Seine Stimme klang leise amüsiert, während er sie wieder sanft auseinanderzudrängen suchte. Und dann beugte er sich vor und küsste die empfindsame Knospe. Miranda, die nichts Zusammenhängendes mehr zu äußern vermochte, schrie vor Lust auf. War es Schmerz, oder war es Vergnügen? Sie war sich nicht mehr sicher. Ihre Hände, die zu Fäusten geballt neben ihren Hüften gelegen hatten, bewegten sich wie von selbst hinab zu Turners Kopf und krallten sich in sein Haar. Als ihre Hüften unter ihm zu kreisen begannen, machte er Anstalten, sich nach oben zu schieben, doch sie hielt ihn entschlossen fest. Schließlich gelang es ihm, sich ihrem eisernen Griff zu entziehen, und kam wieder nach oben, bis seine Lippen auf einer Höhe mit den ihren waren. „Ich dachte, du willst mich nicht einmal mehr Luft holen lassen." Miranda hätte es in diesem Augenblick nicht für möglich gehalten, aber sie errötete. Er knabberte an ihrem Ohr. „Hat dir das gefallen?" Sie nickte, nicht fähig, etwas zu sagen. „Du hast noch sehr, sehr viel zu lernen." „Kann ich ...?" Oh, wie sollte sie ihn das nur fragen? Nachsichtig lächelte er auf sie hinab. „Kannst du was?" Sie schluckte ihre Verlegenheit hinunter. „Kann ich dich anfassen?" Anstelle einer Antwort ergriff er ihre Hand und führte sie an seinem Körper hinab. Als sie seine Männlichkeit fühlte, zuckte sie unwillkürlich zurück. Er war viel heißer, als sie erwartet hatte, und sehr viel härter. Geduldig schob Turner ihre Hand zurück, und diesmal berührte sie ihn zögerlich, staunte, wie weich die Haut dort war. „Das fühlt sich so anders an", wisperte sie. „Wie merkwürdig." Er lachte leise, nicht zuletzt, weil dies der einzige Weg war, sein Begehren im Zaum zu halten. „Mir ist das noch nie merkwürdig vorgekommen."
„Ich möchte es sehen." „O Gott, Miranda." Er stieß die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Nein, wirklich." Sie schob die Decke nach unten, bis er bloß vor ihr lag. „Ach, du liebe Güte", hauchte sie. Das hatte in sie hineingepasst? Sie konnte es kaum glauben. Immer noch überaus neugierig legte sie die Hand darum und drückte sanft zu. Turner fiel beinahe vom Bett. Sofort ließ sie ihn los. „Habe ich dir wehgetan?" „Nein", keuchte er heiser. „Tu das noch mal." Zufrieden verzog Miranda die Lippen und wiederholte die Liebkosung. „Kann ich dich küssen?" „Lieber nicht", meinte er rau. „Ach. Ich dachte, weil du mich geküsst hast ..." Turner stieß ein primitives Knurren aus, legte sie auf den Rücken und schob sich zwischen ihre Schenkel. „Später. Das kannst du später machen." Er konnte seine Leidenschaft jetzt kaum mehr bezähmen und presste die Lippen mit erstaunlicher Heftigkeit auf die ihren, als wollte er seine Ansprüche auf sie geltend machen. Dann drückte er das Knie gegen ihre Schenkel, damit sie sich ihm noch weiter öffnete. Von drängender Begierde getrieben, hob Miranda die Hüften an, um ihm leichter Zutritt zu verschaffen. Er glitt mühelos in sie hinein, und wieder staunte sie, wie ihr Körper ihn aufnehmen konnte. Langsam begann er auf und ab zu reiten, bewegte sich in ihr in einem gemächlichen, aber gleichmäßigen Rhythmus. „Oh, Miranda", stöhnte er. „O Gott." „Ich weiß. Ich weiß." Ihr Kopf rollte hin und her. Sein Gewicht drückte sie aufs Bett, und trotzdem konnte sie nicht stillhalten. „Du gehörst mir", knurrte er und beschleunigte das Tempo. „Mir." Ihre Antwort bestand in einem Stöhnen. Plötzlich hielt er ganz still, sein Blick war eigenartig und durchdringend, und dann raunte er: „Sag es." „Ich gehöre dir", flüsterte sie. „Jeder Zoll von dir. Jeder köstliche Zoll. Von hier ...", er umfasste ihre Brust, „... bis hier ...", er fuhr ihr über die Wan-
ge, „... und hier." Er zog sich fast ganz aus ihr zurück und glitt dann wieder tief in sie hinein. „O Gott, ja, Turner. Alles, was du willst." „Ich will dich." „Ich gehöre dir, ich schwöre es." „Kein anderer, Miranda, versprich mir das." Wieder zog er sich fast aus ihr zurück. Ohne ihn fühlte sie sich vollkommen verlassen und hätte beinahe aufgeschrien. „Ich verspreche es dir", japste sie. „Bitte ... komm zurück." Er glitt wieder in sie hinein, worauf beide erleichtert aufseufzten. „Es wird keine anderen Männer geben. Hast du verstanden?" Miranda wusste, dass seine drängenden Worte von Leticias Untreue herrührten, doch sie war zu sehr in die Leidenschaft des Augenblicks verstrickt, um ihn dafür zu schelten, dass er sie mit seiner verstorbenen Frau verglich. „Keine, das schwöre ich. Ich habe nie einen anderen gewollt." „Und du wirst auch nie einen anderen wollen", erklärte er, als könnte er das einfach so festlegen. „Niemals! Bitte, Turner, bitte ... ich brauche dich. Ich brauche ..." „Ich weiß, was du brauchst." Er schloss die Lippen um eine Brustspitze, während er das Tempo erhöhte. Sie spürte, wie die Spannung in ihr stieg. Schauer der Lust rieselten ihr durch den Bauch, über die Arme und die Beine. Und plötzlich war sie überzeugt, dass sie es keinen Augenblick länger ertragen könnte, dass sie auf der Stelle vergehen musste, und dann zog sich ihr gesamter Körper zusammen und spannte sich um ihn wie ein seidener Handschuh. Sie schrie seinen Namen und packte ihn an den Armen, während sie sich auf dem Gipfel ihrer Leidenschaft wild aufbäumte. Die pure Sinnlichkeit ihres Höhepunkts riss auch Turner mit sich, und er schrie heiser auf, während er ein letztes Mal tief in sie eindrang. Seine Lust kannte keine Grenzen, er konnte nicht glauben, wie schnell er sich in sie ergossen hatte. Dann sank er auf ihr zusammen; er war vollkommen erschöpft. So gut war es noch nie gewesen, nie. Nicht einmal beim letzten Mal mit Miranda. Es war, als ob jede Bewegung,
jede Berührung noch gesteigert wurde durch das Bewusstsein, dass sie nun ihm gehörte, nur ihm. Ein wenig erschreckte ihn diese Besitzgier auch, er war fassungslos, auf welche Art er sie gezwungen hatte, ihm ewige Treue zu schwören, und peinlich berührt von der Tatsache, dass er ihre Leidenschaft ausgenutzt hatte, um seine kindischen Bedürfnisse zu befriedigen. War sie jetzt wütend? Hasste sie ihn deswegen? Er hob den Kopf und sah auf sie hinunter. Ihre Augen waren geschlossen, um ihre Lippen spielte ein Lächeln. Sie wirkte durch und durch wie eine Frau, die Befriedigung gefunden hatte, und er entschied rasch, dass er nicht von sich aus anfangen würde, wenn sie gegen seine Taten und Fragen nichts einzuwenden hatte. „Du siehst rosig aus, Kätzchen", murmelte er. „Immer noch?", fragte sie träge, ohne die Augen zu öffnen. „Noch mehr." Turner lächelte und stützte sich auf die Ellbogen, um sie ein wenig zu entlasten. Mit dem Finger strich er ihr über die Wange, vom Mundwinkel bis hinauf zur zarten Haut um das Auge. Vorsichtig zog er an den Wimpern. „Aufmachen." Sie hob die Lider. „Guten Morgen." „Und wie." Er grinste jungenhaft. Sie wand sich unter seinem intensiven Blick. „Wird dir das nicht unbequem?" „Mir gefällt es hier." „Aber deine Arme ..." „Sind stark genug, um mich noch eine Weile zu stützen. Außerdem genieße ich es, dich anzusehen." Schüchtern wandte sie den Blick ab. „Nein, nein, nein. Es gibt kein Entrinnen. Schau wieder her." Er nahm ihr Kinn und zog es herum, bis sie ihm wieder ins Gesicht sah. „Du bist sehr schön, weißt du das?" „Bin ich nicht", erwiderte sie im Brustton der Überzeugung. „Hörst du endlich auf, mit mir über diesen Punkt zu streiten? Ich bin älter als du und habe schon viele Frauen gesehen." „Gesehen?", fragte sie zweifelnd.
„Das, mein wertes Eheweib, ist ein ganz anderes Thema, eines, das keiner Diskussion bedarf. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass ich mich auf diesem Gebiet vermutlich besser auskenne als du, du dich also auf mein Wort verlassen solltest. Wenn ich sage, dass du schön bist, dann bist du schön." „Wirklich, Turner, das ist so nett..." Er beugte sich über sie, bis seine Nase gegen die ihre stieß. „Allmählich fängst du an, mich zu ärgern, Eheweib." „Lieber Himmel, das will ich auf keinen Fall." „Das möchte ich dir auch geraten haben." Nun verzogen sich ihre Lippen zu einem spitzbübischen Lächeln. „Du bist ein sehr schöner Mann." „Danke", erwiderte er großherzig. „Na, hast du gesehen, wie brav ich dein Kompliment angenommen habe?" „Indem du auf deine guten Manieren hingewiesen hast, hast du die Wirkung aber wieder zunichte gemacht." Er schüttelte den Kopf. „Was für ein freches Mundwerk du doch hast. Ich werde deswegen etwas unternehmen müssen." „Es küssen?", fragte sie hoffnungsvoll. „Mmmm, keine schlechte Idee." Er fuhr die Konturen ihrer Lippen mit der Zunge nach. „Sehr schön. Und schmackhaft." „Ich bin kein Obstkuchen, weißt du", gab sie zurück. „Schon wieder dieses freche Mundwerk", sagte er seufzend. „Du wirst mich wohl immer wieder küssen müssen." Er seufzte, als wäre das eine schreckliche Bürde. „Ach, na schön." Diesmal eroberte er mit der Zunge ihren Mund und ließ sie an ihren Zähnen entlanggleiten. Als er den Kopf wieder hob und auf sie hinuntersah, glühte sie. Es schien das einzige Wort, mit dem sich das Strahlen, das von ihr ausging, angemessen beschreiben ließ. „Mein Gott, Miranda", sagte er heiser. „Du bist wirklich schön." Er rollte sich auf die Seite und nahm sie in die Arme. „Nie habe ich jemanden so gesehen wie dich in diesem Augenblick", murmelte er und zog sie noch fester an sich. „Komm, legen wir uns noch ein Weilchen hin." Mit dem Gedanken, dass dies ein exzellenter Beginn seiner Ehe sei, schlummerte er langsam ein.
10. November 1819 Heute vor zehn Wochen haben wir geheiratet - und vor drei Wochen hätte ich bluten müssen. Es hätte mich nicht überraschen sollen, dass ich so schnell wieder guter Hoffnung bin Turner ist ein äußerst aufmerksamer Ehemann. Ich beschwere mich nicht. 12. Januar 1820 Als ich diesen Abend gebadet habe, hätte ich schwören können, dass ich zum ersten Mal eine leichte Rundung meines Bauchs gesehen habe. Jetzt kann ich an das Kind glauben. Ich glaube, diesmal bleibt es mir erhalten. 30. März 1820 Herrje, bin ich dick. Und beinahe drei Monate liegen noch vor mir. Turner scheinen meine Rundungen zu gefallen. Er ist überzeugt davon, dass es ein Mädchen wird. Er flüstert meinem Bauch zu: „Ich liebe dich." Aber nur meinem Bauch. Mir nicht. Um gerecht zu sein, ich habe es auch nicht zu ihm gesagt, aber ich bin sicher, er weiß, dass ich ihn liebe. Schließlich habe ich es ihm vor der Heirat gesagt, und er hat einmal gemeint, man entliebe sich nicht so schnell. Ich weiß, dass er mich mag. Warum kann er mich nicht lieben? Oder wenn er mich liebt, warum kann er es mir nicht sagen?
17. KAPITEL Die Monate vergingen, und das Paar fand zu einem behaglichen, freundschaftlichen Alltag. Turner, der an Leticias Seite durch die Hölle gegangen war, war immer wieder überrascht, wie angenehm sich die Ehe gestaltete, wenn man mit der richtigen Person verheiratet war. Miranda war für ihn ein Quell ständigen Entzückens. Er beobachtete sie so gern, wenn sie ein Buch las, sich das Haar kämmte, der Haushälterin Anweisungen gab - er beobachtete sie bei allem gern. Und er suchte dauernd nach einem Vorwand, sie anzufassen. Zum Beispiel wies er auf ein Stäubchen auf ihrem Kleid hin und wischte es für sie weg, oder er stellte fest, dass sich eine Strähne aus ihrer Frisur gelockert hatte, und schob sie wieder zurück. Miranda schien es nicht weiter zu stören. Manchmal wehrte sie seine Hand ab, wenn sie gerade mit etwas beschäftigt war, doch meistens lächelte sie nur. Manchmal bewegte sie auch den Kopf - nur ein Stückchen, nur so weit, dass sie die Wange in seine Hand schmiegen konnte. Manchmal jedoch, wenn ihr nicht bewusst war, dass er sie beobachtete, ertappte er sie dabei, wie sie ihn voll Sehnsucht ansah. Sobald sie seinem Blick begegnete, sah sie weg, oft so schnell, dass er fast zweifelte, ob es wirklich passiert war. Doch er wusste, dass er sich nicht täuschte, denn wenn er nachts die Augen schloss, sah er ihren Blick, mit jenem traurigen Ausdruck, der ihm schier das Herz zerriss. Er wusste, was sie sich wünschte. Eigentlich hätte es ganz leicht sein können. Drei schlichte Worte. Sollte er sie nicht einfach aussprechen, selbst wenn er sie gar nicht so meinte? Wäre ihr Glück das nicht wert? Manchmal versuchte er es, manchmal versuchte er sich zu
zwingen, die Worte auszusprechen, doch sie blieben ihm immer im Halse stecken, und er bekam keine Luft, als drückten die Worte sie ihm ab. Und die Ironie dabei war - er glaubte fast, dass er sie tatsächlich liebte. Er wusste, wenn ihr irgendetwas geschähe, wäre er außer sich vor Kummer. Aber er hatte ja auch geglaubt, Leticia zu lieben, und was hatte er davon gehabt? Er liebte alles an Miranda - von der Art, wie ihre Nase an der Spitze leicht nach oben wies, bis zu ihrem trockenen Humor, vor dem auch er nicht verschont blieb. Aber liebte er damit auch Miranda selbst? Und wenn er sie liebte, woher sollte er es wissen? Diesmal wollte er einfach sichergehen. Er wollte irgendeine Art wissenschaftlichen Beweis. Auf bloßen Glauben hin hatte er schon einmal geliebt, hatte geglaubt, diese schwindelhafte Mischung aus Begehren und Besessenheit müsste Liebe sein. Was hätte es denn sonst sein sollen? Aber inzwischen war er älter geworden. Auch klüger, was gut war, und zynischer, was nicht so gut war. Meist konnte er diese Überlegungen von sich schieben. Er war ein Mann, und Männer neigten eben dazu, derartige Überlegungen von sich zu schieben. Frauen konnten diskutieren und grübeln (und danach vermutlich wieder diskutieren), so viel sie wollten. Er zog es vor, über etwas einmal, höchstens zweimal nachzudenken und die Sache dann abzuhaken. Daher war es auch besonders ärgerlich für ihn, dass er mit diesem speziellen Problem anscheinend überhaupt nicht fertig wurde. Sein Leben war wunderbar. Glücklich. Entzückend. Was verschwendete er da kostbare Zeit und Energie darauf, sich über den Zustand seines Herzens Gedanken zu machen? Warum genoss er nicht lieber das, was er hatte, statt darüber nachzugrübeln? Genau das tat er gerade - er konzentrierte sich darauf, warum er nicht über all das nachdenken wollte -, als es an die Tür zu seinem Arbeitszimmer klopfte. „Herein!" Miranda steckte den Kopf zur Tür herein. „Störe ich dich?" „Nein, natürlich nicht. Tritt ein."
Sie drückte die Tür ganz auf und trat ins Zimmer. Turner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er sie sah. Seit einiger Zeit schien ihr Bauch fünf Sekunden vor dem Rest ihres Körpers ins Zimmer zu kommen. Sie sah das Grinsen und blickte kläglich an sich herab. „Ich bin wirklich dick, was?" „Ja, das kann man nicht leugnen." Sie seufzte. „Du hättest mich ruhig ein wenig schonen und mir sagen können, dass ich so dick nun auch wieder nicht bin. Frauen in meiner Lage sind sehr empfindlich, weißt du." Sie ging zu einem Sessel und ließ sich mühsam darauf nieder. Turner sprang sofort auf, um ihr zu helfen. „Ich glaube, mir gefällst du so." Sie schnaubte. „Dir gefällt es nur, einen greifbaren Beweis für deine Männlichkeit zu sehen." Er lächelte. „Hat sie dich heute schon getreten?" „Nein, und ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob es ein Mädchen wird." „Natürlich wird es ein Mädchen. Das ist ja wohl sonnenklar." „Als Nächstes willst du dich als hellseherische Hebamme niederlassen?" Er hob die Augenbrauen. „Pass auf dein loses Mundwerk auf, Weib." Miranda rollte mit den Augen und hielt ihm ein Blatt Papier hin. „Ich habe heute einen Brief deiner Mutter bekommen und dachte, du willst ihn vielleicht lesen." Er nahm den Brief entgegen und las ihn, während er im Raum auf und ab ging. Er hatte es immer wieder aufgeschoben, seiner Familie von seiner Vermählung zu erzählen, doch nach zwei Monaten hatte Miranda ihn schließlich überzeugt, dass er die Sache nicht noch länger hinausschieben konnte. Wie erwartet, waren seine Verwandten völlig überrascht gewesen (mit Ausnahme von Olivia, die schon eine leise Ahnung gehabt hatte) und hatten sich sofort nach Rosedale aufgemacht, um die Lage zu inspizieren. Seine Mutter hatte man mehrere Hundert Male „Ich hätte nie gedacht murmeln hören, und Winston war ein wenig vor den Kopf gestoßen, aber alles in allem gelang Miranda ein reibungsloser Über-
gang von Cheever zu Bevelstoke. Schließlich zählte sie schon seit Jahren so gut wie zur Familie. „Winston ist in Oxford in ein paar Schwierigkeiten geraten", murmelte Turner, während er den Brief seiner Mutter überflog. „Nun ja, das stand ja wohl zu erwarten." Amüsiert sah er auf. „Was soll das heißen?" „Du brauchst nicht zu glauben, dass ich über deine Heldentaten an der Universität nichts gehört habe!" Er grinste. „Jetzt bin ich natürlich viel reifer." „Das möchte ich hoffen." Er ging zu ihr und küsste sie erst auf die Nase und dann auf den Bauch. „Ach, wenn ich doch auch nach Oxford hätte gehen können", sagte sie sehnsüchtig. „Ich hätte mir all diese Vorlesungen so gern angehört." „Nicht alle. Glaube mir, manche waren sterbenslangweilig." „Trotzdem hätte es mir wohl gefallen." Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Du bist ein ganzes Stück intelligenter als viele von den Männern, die ich dort getroffen habe." „Nachdem ich eine Saison in London verbracht habe, muss ich sagen, dass es wohl nicht sonderlich schwierig ist, intelligenter als die meisten Männer des ton zu sein." „Anwesende ausgenommen, möchte ich hoffen." Sie nickte nachsichtig. „Natürlich." Kopfschüttelnd ging er zurück zu seinem Schreibtisch. Dies war einer der Gründe, warum er so gern mit ihr verheiratet war - die skurrilen kleinen Plaudereien, von denen ihre Tage erfüllt waren. Er setzte sich und nahm das Dokument auf, das er studiert hatte, als sie hereinkam. „Sieht aus, als müsste ich nach London fahren." „Jetzt? Ist zurzeit überhaupt jemand dort?" „Nicht sehr viele", räumte er ein. Das Parlament hatte gerade Pause, und der Großteil des ton hatte sich während dieser Zeit auf seine Landsitze zurückgezogen. „Aber ein guter Freund von mir ist dort, und er braucht Unterstützung bei einem geschäftlichen Vorhaben."
„Willst du, dass ich mitkomme?" „Nichts, was ich lieber wollte, aber ich möchte nicht, dass du in deinem Zustand auf Reisen gehst." „Mir geht es aber wunderbar." „Das glaube ich dir auch, aber ich fände es töricht, ein unnötiges Risiko einzugehen. Außerdem muss ich sagen, dass du inzwischen recht ...", er räusperte sich, „... schwerfällig geworden bist." Miranda verzog das Gesicht. „Ich kann mir nicht vorstellen, was du hättest sagen können, bei dem ich mich noch unattraktiver gefühlt hätte." Um seine Lippen zuckte es, und er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Ich werde nicht lange wegbleiben. Höchstens vierzehn Tage, denke ich." „Vierzehn Tage?", wiederholte sie traurig. „Für die Hin- und Rückreise brauche ich jeweils mindestens vier Tage. Bei all dem Regen, der in letzter Zeit gefallen ist, werden die Straßen in schauderhaftem Zustand sein." „Ich werde dich vermissen." Er hielt einen winzigen Augenblick inne, ehe er sagte: „Ich werde dich auch vermissen." Sie schwieg, und dann stieß sie einen Seufzer aus, einen leisen, sehnsüchtigen Laut, bei dem es ihm schier das Herz abdrückte. Dann jedoch gewann sie die Contenance wieder und sagte etwas munterer: „Sicher gibt es jede Menge Dinge, die mich in Atem halten. Ich würde den Westsalon gern umgestalten. Die Polster sind schon sehr verschossen. Vielleicht lade ich Olivia ein, sie ist in diesen Dingen so gut." Turner lächelte sie warm an. Es freute ihn sehr, dass sie sein Heim inzwischen schon ebenso liebte wie er selbst. „Ich vertraue auf dein Urteil. Du brauchst Olivia nicht." „Ich würde mich aber freuen, sie während deiner Abwesenheit zur Gesellschaft zu haben." „Dann lade sie dir ruhig ein." Er sah auf die Uhr. „Wie steht's, hast du Hunger? Es ist schon weit nach Mittag." Abwesend rieb sie sich den Magen. „Nicht sehr, glaube ich. Aber ein, zwei Bissen könnte ich schon vertragen." „Mehr als zwei", erklärte er bestimmt. „Sogar mehr als drei. Du isst ja nicht nur für dich allein."
Mit schiefem Lächeln blickte Miranda auf ihren gerundeten Leib. „Glaub mir, das weiß ich schon." Er stand auf und schritt zur Tür. „Ich laufe rasch in die Küche und hole uns etwas." „Du könntest auch einfach läuten." „Nein, nein, so geht es viel schneller." „Aber ich habe doch gar keinen ..." Zu spät. Er war schon aus der Tür und konnte sie nicht mehr hören. Sie lächelte in sich hinein, lehnte sich zurück und schob die Beine unter sich. Niemand konnte bezweifeln, dass Turner besorgt war um ihr Wohlergehen und das ihres Babys. Man sah es daran, wie er die Kissen für sie aufschüttelte, bevor sie ins Bett schlüpfte, daran, wie er darauf achtete, dass sie sich gut und ordentlich ernährte, und vor allem daran, wie er jeden Abend das Ohr an ihren Bauch legte, um zu hören, wie sich das Baby bewegte. „Ich glaube, sie hat getreten!", rief er dann oft aufgeregt. „Wahrscheinlich war es nur ein Rülpser", hatte Miranda ihn einmal aufgezogen. Turner war ihr ironischer Ton vollkommen entgangen; besorgt hatte er den Kopf gehoben und gefragt: „Können die da drin überhaupt rülpsen? Ist das normal?" Sie hatte leise gelacht. „Ich weiß nicht." „Vielleicht sollte ich den Arzt holen." Sie hatte seine Hand genommen und ihn zu sich hochgezogen, bis er neben ihr lag. „Ich bin mir sicher, dass alles in bester Ordnung ist." „Aber ..." „Wenn du nach dem Arzt schickst, wird er denken, du bist übergeschnappt." „Aber ..." „Lass uns einfach schlafen. Genau, halt mich fest. Noch fester." Seufzend hatte sie sich an ihn gekuschelt. „So. Jetzt kann ich schlafen." Miranda lächelte, als sie sich an dieses Gespräch erinnerte. Hundert Mal am Tag tat er etwas Ähnliches und zeigte ihr damit, wie sehr er sie liebte. Oder nicht? Wie sollte es möglich sein, dass er sie so zärtlich ansah und dabei nicht liebte? Warum war sie sich seiner Gefühle so unsicher? Weil er ihnen nie Ausdruck verlieh, gab sie sich still zur
Antwort. Oh, er machte ihr Komplimente und sagte auch oft, wie froh er doch sei, sie geheiratet zu haben. Sie empfand es jedoch als grausamste aller Foltern, und er hatte keine Ahnung, dass er sie ihr zufügte! Er dachte, er sei nett und aufmerksam, und das war er ja auch. Aber jedes Mal, wenn er sie ansah und ihr auf seine warme, verstohlene Art zulächelte, bis sie eine atemlose Sekunde lang glaubte, er würde sich vorbeugen und ihr zuflüstern: Ich liebe dich, dies aber nie geschah und er ihr stattdessen einen Kuss auf die Wange drückte, ihr das Haar zauste oder gar fragte, ob ihr der verflixte Nachtisch geschmeckt hätte ... ... jedes Mal spürte sie dann aufs Neue, wie in ihr etwas zerbrach. Nur ein kleiner Sprung, ein kleiner Stich im Herzen, doch all diese Sprünge und Stiche summierten sich, bis es ihr jeden Tag ein wenig schwerer fiel, so zu tun, als verliefe ihr Leben genau so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Sie versuchte, Geduld aufzubringen. Das Letzte, was sie sich von ihm wünschte, waren irgendwelche Lügen. Ein Ich liebe dich war entsetzlich, wenn kein echtes Gefühl dahintersteckte. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt, wo er gerade so charmant und aufmerksam war und sie eigentlich vor Glück hätte strahlen müssen. Und sie war glücklich. Wirklich. Beinahe. Größtenteils. Nur konnte sie diese winzige Sache einfach nicht vergessen, und allmählich begann es sie sogar zu ärgern, denn sie wollte nicht all ihre Gedanken und Lebensgeister auf etwas verschwenden, worauf sie ohnehin keinen Einfluss hatte. Sie wollte einzig im Hier und Jetzt leben und das genießen, was sie hatte, ohne dauernd darüber nachdenken zu müssen. Turner kam gerade im richtigen Moment zurück und drückte ihr sanft einen Kuss auf den Scheitel. „Mrs. Hingham sagt, dass sie in ein paar Minuten einen Teller mit Essen heraufschickt." „Ich habe dir doch gesagt, dass du dir nicht die Mühe machen sollst, selbst hinunterzugehen", schalt Miranda. „Ich wusste, dass unten nichts bereitstehen würde." „Wenn ich nicht selber hinuntergegangen wäre", entgegnete er nüchtern, „hätte ich warten müssen, bis ein Mädchen
kommt und fragt, was ich will, dann hätte ich warten müssen, bis sie in die Küche gegangen ist, und dann hätte ich warten müssen, bis Mrs. Hingham das Essen zubereitet hat, und dann ..." Miranda hob die Hand. „Schon gut. Ich verstehe, was du meinst." „So jedenfalls kommt das Essen schneller." Mit einem spitzbübischen Grinsen beugte er sich vor. „Ich bin kein besonders geduldiger Mensch." Ich auch nicht, dachte Miranda betrübt. Doch ihr Ehemann, der von ihren kummervollen Gedanken nichts ahnte, blickte nur lächelnd aus dem Fenster. Ein Lakai und ein Dienstmädchen brachten das Essen und trugen es auf Turners Schreibtisch auf. „Machst du dir keine Sorgen wegen der Papiere?", fragte Miranda. „Ach, das geht schon." Er schob sie alle auf einen Haufen zusammen. „Aber bringst du sie so nicht durcheinander?" Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe Hunger. Das ist wichtiger. Du bist wichtiger." Das Dienstmädchen stieß ob dieser romantischen Worte einen leisen Seufzer aus. Miranda lächelte angespannt. Die Dienstboten dachten vermutlich, dass er ihr eine Liebeserklärung nach der anderen machte, sobald sie außer Hörweite waren. „Also dann", sagte Turner energisch. „Hier ist Rindereintopf mit Gemüse, Kätzchen. Ich möchte, dass du alles aufisst." Zweifelnd sah Miranda auf die Terrine, die er vor sie hingestellt hatte. Um das alles aufzuessen, hätte es schon einer ganzen Armee von Schwangeren bedurft. „Du machst Witze", erklärte sie. „Keineswegs." Er tauchte den Löffel in den Eintopf und führte ihn an ihren Mund. „Wirklich, Turner, ich kann doch nicht ..." Rasch schob er ihr den Löffel in den Mund. Vor Überraschung verschluckte sie sich ein wenig, kaute dann und schluckte hinunter. „Ich kann selbst essen."
„Aber so macht es mehr Spaß." „Dir viellei..." Schon hatte er ihr den nächsten Löffel in den Mund geschoben. Miranda schluckte. „Das ist ja lächerlich." „Aber nein, gar nicht." „Willst du mich auf diese Art zwingen, nicht so viel zu reden?" „Nein, obwohl ich mir damit eine großartige Gelegenheit entgehen lasse." „Turner, du bist unverbess..." Schon wieder hatte er sie erwischt. „Unverbesserlich?" „Ja", spuckte sie. „Ach je", meinte er, „nun hast du etwas am Kinn." „Du bist es, der den Löffel führt." „Sitz mal still." Er beugte sich vor und leckte ihr ein Tröpfchen Suppe vom Kinn. „Mmmm, köstlich." „Iss doch auch etwas", schlug sie todernst vor. „Es ist jede Menge da." „Ach, aber ich möchte dir den guten Eintopf nicht wegessen." Sie schnaubte verächtlich. „Hier kommt noch ein Löffel ... o je, nun habe ich glatt schon wieder deinen Mund verfehlt." Rasch leckte er den Unfall fort. „Das hast du mit Absicht gemacht!", rief sie vorwurfsvoll. „Wie, ich soll absichtlich Essen vergeudet haben, von dem sich meine schwangere Frau hätte ernähren können?" In gespielter Empörung legte er die Hand an die Brust. „Du musst mich ja für einen schönen Schuft halten!" „Vielleicht nicht für einen Schuft, aber für einen verschlagenen kleinen ..." „Sieg!" Sie drohte ihm mit dem Finger. „Mmpf grmpf grmpf." „Nicht mit vollem Mund reden, das ist sehr ungezogen." Sie schluckte. „Ich habe gesagt, dass du mir das noch büßen wirst, du ..." Abrupt hielt sie inne, als der Löffel gegen ihre Nase stieß. „Jetzt sieh doch, was du gemacht hast", erklärte er und
schüttelte in übertriebenem Tadel den Kopf. „Du hast so herumgezappelt, dass ich deinen Mund verfehlt habe. Jetzt halt still." Sie spitzte die Lippen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Andeutung eines Lächelns entschlüpfte. „Braves Mädchen", murmelte er und beugte sich vor. Im nächsten Augenblick hatte er ihr alle Suppe von der Nasenspitze geleckt. „Turner!" „Die einzige Frau auf der Welt, die eine kitzlige Nase hat", sagte er mit leisem Lachen. „Und ich war so klug, sie zu heiraten." „Hör auf, hör auf!" „Womit soll ich aufhören, dir Suppe ins Gesicht zu schmieren oder dich zu küssen?" Ihr Herz schlug höher. „Mir Suppe ins Gesicht zu schmieren. Du brauchst keinen Vorwand, wenn du mich küssen willst." Erneut beugte er sich vor. „Nein?" „Nein." „Du kannst dir nicht vorstellen, wie mich das erleichtert." Seine Nase berührte die ihre. „Turner?" „Hmmmm?" „Wenn du mich nicht bald küsst, werde ich verrückt." Er neckte sie mit dem federleichtesten aller leichten Küsse. „Reicht das?" Sie schüttelte den Kopf. Er verstärkte den Kuss. „Und das?" „Ich fürchte, nein." „Was brauchst du dann", flüsterte er, und seine Stimme strich ihr heiß über die Lippen. „Was brauchst du denn?", konterte sie. Ihre Hände glitten an seinen Armen entlang zu den Schultern empor, und dann begann sie, aus purer Gewohnheit, zu kneten. Worauf sich seine Leidenschaft anscheinend sofort zerstreute. „O Gott, Miranda", stöhnte er, während sein Körper schlaff wurde, „das ist ja köstlich. Nein, hör nicht auf. Bitte hör nicht auf."
„Bemerkenswert", meinte sie mit leisem Lächeln. „Du bist wirklich Wachs in meinen Händen." „Wie auch immer", ächzte er, „hör nicht auf." „Warum bist du so verspannt?" Er öffnete die Augen und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. „Das weißt du ganz genau." Sie errötete. Ihr Arzt hatte ihr bei seinem letzten Besuch geraten, die ehelichen Beziehungen ab sofort auszusetzen. Turner war deswegen die ganze Woche über brummig gewesen. „Ich weigere mich zu glauben", sagte sie, nahm die Finger von seinen Schultern und lächelte, als er mit einem Knurren protestierte, „dass ich die einzige Ursache für deine schrecklichen Rückenschmerzen bin." „Das ist die Anspannung, weil ich nicht bei dir liegen kann, körperliche Überanstrengung, weil ich dich dauernd die Treppe hinauftragen muss ..." „Du hast mich noch kein einziges Mal die Treppe hinauftragen müssen!" „Ja, na gut, aber ich habe daran gedacht, und das hat wohl genügt, um Rückenschmerzen hervorzurufen. Und zwar genau ...", er verdrehte den Arm und zeigte auf einen Fleck im Kreuz, „... da." Miranda spitzte noch einmal die Lippen, begann aber trotzdem, ihn dort zu massieren. „Du, mein Lieber, bist ein großes Baby." „Mmmm-hmmm", stimmte er zu, während er wohlig den Kopf von einer Seite auf die andere rollte. „Hast du etwas dagegen, wenn ich mich hinlege? Du hättest es dann leichter." Wie, fragte Miranda sich im nächsten Augenblick, war es ihm nur gelungen, sie dazu zu bringen, ihm auf dem Teppich den Rücken zu massieren? Doch sie genoss es auch. Sie berührte ihn so gern, prägte sich so gern die Konturen seines Körpers ein. Sie lächelte in sich hinein, zog ihm das Hemd aus dem Hosenbund und schob ihre Hand darunter, bis sie seine Haut spürte. Warm und weich fühlte sie sich an, und unwillkürlich strich sie mit der Hand darüber, um das Gefühl auszukosten, die goldene Weichheit, die so typisch für ihn war. „Wenn du mir doch auch den Rücken massieren könntest",
hörte sie sich sagen. Es war viele Wochen her, seit sie zum letzten Mal auf dem Bauch hatte liegen können. Er drehte den Kopf, sodass sie sein Gesicht sehen konnte, und lächelte. Dann setzte er sich mit einem kleinen Stöhnen auf. „Halt still", befahl er leise und drehte sie so um, dass er nun ihr den Rücken massieren konnte. Es fühlte sich himmlisch an. „Oh, Turner", seufzte sie, „das ist so herrlich." Er stieß einen Laut aus, der irgendwie merkwürdig klang, und sie drehte den Oberkörper, damit sie sein Gesicht sehen konnte. „Tut mir leid", meinte sie, als sie erkannte, wie Begehren und Zurückhaltung in ihm rangen. „Ich vermisse dich auch, wenn dir das ein Trost ist." Unvermittelt zog er sie an sich, so fest, wie es möglich war, ohne ihr den Bauch zu zerdrücken. „Du kannst ja nichts dafür, Kätzchen." „Nein, ich weiß, aber es tut mir trotzdem leid. Ich vermisse dich schrecklich." Sie senkte die Stimme. „Manchmal bist du so tief in mir, dass ich das Gefühl habe, du berührst mein Herz. Das vermisse ich am meisten." „Rede nicht so", sagte er heiser. „Tut mir leid." „Und hör um Himmels willen auf, dich dauernd zu entschuldigen." Beinahe hätte sie kichern müssen. „Tut mir ... nein, ich nehme es zurück. Tut mir nicht leid. Aber es tut mir wirklich leid, dass du in so einem, ähm, Zustand bist. Das scheint mir nicht gerecht." „Es ist mehr als gerecht. Ich bekomme als Gegenleistung eine gesunde Frau und ein schönes Baby. Und dafür muss ich nicht mehr tun, als mich ein paar Monate zurückzuhalten." „Das musst du nicht unbedingt", murmelte sie vielsagend und schob die Hand zur Öffnung seiner Breeches. „Das musst du nicht." „Miranda, hör auf. Das halte ich nicht aus." „Brauchst du auch nicht", wisperte sie, während sie ihm das Hemd über den Kopf zog und ihm einen Kuss auf den flachen Bauch drückte.
„Was ... o Gott, Miranda." Er stieß ein heiseres Stöhnen aus. Ihre Lippen bewegten sich noch ein Stück weiter nach unten. „O Gott, Miranda!" 7. Mai 1820 Ich bin schamlos. Aber mein Ehemann beklagt sich nicht.
18. KAPITEL Am nächsten Morgen hauchte Turner einen sanften Kuss auf die Stirn seiner Frau. „Bist du sicher, dass du ohne mich zurechtkommst?" Miranda schluckte und nickte, blinzelte dabei die Tränen weg, von denen sie sich geschworen hatte, dass sie sie nicht vergießen wollte. Es war noch dunkel, doch Turner hatte früh aufbrechen wollen. Sie saß im Bett, die Hände auf dem Bauch, und sah zu, wie er sich anzog. „Deinen Kammerdiener trifft sicher der Schlag", sagte sie, um ihn zu necken. „Du weißt ja, er ist überzeugt, du könntest dich allein nicht richtig ankleiden." Nur in seine Breeches gewandet, trat Turner zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. „Bist du wirklich sicher, dass dir meine Abreise nichts ausmacht?" „Natürlich macht es mir etwas aus. Mir wäre es lieber, dich hier zu haben." Ein zittriges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber ich komme schon zurecht. Und höchstwahrscheinlich bekomme ich viel mehr erledigt, wenn du nicht da bist und mich ablenkst." „Ach? Ich lenke dich also ab?" „Sehr. Obwohl sie lächelte verlegen, „... in letzter Zeit bin ich nicht sehr ,ablenkbar'." „Hmmm. Traurig, aber wahr. Ich hingegen bin dauernd abgelenkt." Er umfasste ihr Kinn mit den Fingern und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. „Jedes Mal, wenn ich dich sehe", murmelte er. „Jedes Mal?", fragte sie zweifelnd. Er nickte feierlich. „Aber ich sehe aus wie eine Kuh."
„Mmmm-hmmm." Seine Lippen lagen immer noch auf den ihren. „Aber wie eine sehr hübsche Kuh." „Du Schuft!" Sie entzog sich ihm und knuffte ihn spielerisch in die Schulter. Er warf ihr ein verruchtes Lächeln zu. „Mir scheint, meine Reise nach London ist meiner Gesundheit überaus zuträglich. Oder zumindest meinem Körper. Zum Glück bekomme ich nicht so schnell blaue Flecken." Sie zog eine Grimasse und streckte ihm die Zunge heraus. Er schnalzte mit der Zunge, stand auf und ging durch das Zimmer. „Ich sehe, dass die Mutterschaft noch längst nicht die nötige Reife mit sich gebracht hat." Ihr Kissen kam quer durch den Raum gesegelt. Im nächsten Augenblick war Turner wieder an ihrer Seite und streckte sich neben ihr auf dem Bett aus. „Vielleicht sollte ich doch bleiben, und wenn es nur wäre, um dich im Zaum zu halten." „Ja, vielleicht." Er küsste sie noch einmal, diesmal mit kaum verhohlener Leidenschaft. „Habe ich dir schon gesagt", murmelte er, während er mit den Lippen ihr Gesicht erforschte, „wie gern ich mit dir verheiratet bin?" „H...heute noch nicht." „Es ist ja noch früh am Tag. Sicher kannst du diesen Lapsus entschuldigen." Zärtlich biss er sie ins Ohrläppchen. „Gestern habe ich es dir bestimmt gesagt, da bin ich mir sicher." Und auch am Tag davor, dachte Miranda wehmütig. Und am Tag davor. Aber dass er sie liebte, das hatte er noch nie gesagt. Warum sagte er immer nur: „Ich bin so gern mit dir zusammen", und „Es ist so herrlich, etwas mit dir zu unternehmen", aber nie „Ich liebe dich"? Er brachte es ja nicht einmal fertig, ihr zu sagen, er habe sie gern. Anscheinend war es sicherer, ihr zu sagen, wie gern er mit ihr verheiratet war. Turner bemerkte den melancholischen Ausdruck in ihren Augen. „Ist irgendetwas, Kätzchen?" „Nein, nein", wehrte sie ab. „Gar nichts. Ich ... ich werde dich nur einfach vermissen, das ist alles." „Ich werde dich auch vermissen." Er küsste sie ein letztes Mal und stand dann auf, um sein Hemd überzustreifen.
Miranda beobachtete ihn, während er im Zimmer herumging und seine Sachen einsammelte. Unter der Bettdecke hatte sie die Hände verkrampft, krallte sie zornig in die Laken. Er würde nichts sagen, solange sie nicht damit begann. Warum auch? Offensichtlich war er mit dem Stand der Dinge vollkommen zufrieden. Sie würde es zuerst ansprechen müssen, aber sie hatte so große Angst - Angst, dass er sie nicht in die Arme nehmen und ihr sagen würde, er habe nur darauf gewartet, dass sie ihm noch einmal ihre Liebe erklärte. Vor allem aber hatte sie panische Angst davor, dass er nur unbehaglich schlucken und dann mit etwas wie „Du weißt, wie sehr ich dich mag, Miranda ..." anfangen würde. Diese Vorstellung war so beängstigend, dass sie schauderte und einen großen Seufzer ausstieß. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?", fragte Turner besorgt. Wie leicht wäre es gewesen, ihn anzulügen. Nur ein paar Worte von ihr, und er würde bei ihr bleiben, sie in der Nacht halten und so zärtlich küssen, dass sie beinahe glauben könnte, er liebte sie. Aber wenn es eines gab, was ihrer Beziehung nottat, so war es Wahrhaftigkeit, daher nickte sie nur. „Ja, Turner, mir geht es wirklich gut. Das war nur so eine Art frühmorgendlicher Schauder. Mein Körper schläft noch, glaube ich." „Wie es auch der Rest von dir sollte. Ich will nicht, dass du dich überanstrengst, wenn ich weg bin. Dein Termin ist in weniger als zwei Monaten." Sie lächelte ironisch. „Das werde ich so schnell wohl nicht vergessen." „Gut. Du trägst schließlich mein Kind in dir." Turner zog den Rock an und beugte sich vor, um ihr einen Abschiedskuss zu geben. „Mein Kind ist es auch." „Mmmm, ich weiß." Er richtete sich auf und wandte sich zum Gehen. „Deswegen liebe ich sie ja auch jetzt schon so sehr." „Turner!" Er drehte sich um. Ihre Stimme klang merkwürdig, beinahe ängstlich. „Was ist denn, Miranda?" „Ich wollte dir nur sagen ... also, ich wollte, dass du weißt..." „Was denn, Miranda?"
„Du sollst wissen, dass ich dich liebe." Die Worte quollen wie ein Sturzbach aus ihr hervor, als befürchtete sie, sie könnte den Mut ganz verlieren, wenn sie langsamer spräche. Er erstarrte; sein Körper fühlte sich an, als gehörte er ihm gar nicht. Darauf hatte er gewartet. Oder? Und es war gut so, oder nicht? Wollte er ihre Liebe denn nicht? Ihre Blicke begegneten sich, und er konnte förmlich hören, was sie dachte Brich mir nicht das Herz, Turner. Bitte brich mir nicht das Herz.
Turner öffnete den Mund. Während der letzten Monate hatte er darauf gewartet, dass sie es noch einmal zu ihm sagte, doch jetzt hatte er das Gefühl, eine Schlinge hätte sich um seinen Hals gelegt. Er bekam kaum Luft. Er konnte nicht nachdenken. Und auch sein Augenlicht schien nicht mehr richtig zu funktionieren, denn alles, was er sah, waren diese großen, braunen, verzweifelten Augen. „Miranda, ich ..." Er würgte an den Worten. Warum konnte er es nicht sagen? Empfand er es nicht? Warum fiel ihm das so schwer? „Hör auf, Turner", flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Sag nichts. Vergiss es einfach." In seiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß, doch es gelang ihm zu sagen: „Du weißt, wie sehr du mir am Herzen liegst." „Viel Spaß in London." Ihre Stimme war ausdruckslos, furchtbar ausdruckslos, und er wusste, so konnte er sie nicht zurücklassen. „Miranda, bitte." „Sprich nicht mit mir!", schrie sie. „Ich will deine Ausreden nicht hören, und deine Plattitüden auch nicht! Ich will überhaupt nichts von dir hören!" Außer: Ich liebe dich. Die unausgesprochenen Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. Turner konnte spüren, wie sie ihm Schritt für Schritt entglitt, aber er fühlte sich außerstande, die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Er wusste, was er zu tun hatte, es hätte ihm nicht so schwerfallen dürfen. Herr im Himmel, es waren doch nur drei kleine Worte! Und er wollte sie aussprechen. Aber vor ihm lag die Ungewissheit, und er konnte
den letzten Schritt nach vorn einfach nicht tun. Es war nicht vernünftig. Es war nicht logisch. Er wusste nicht, ob er Angst hatte, sie zu lieben, oder ob er ihre Liebe fürchtete. Vielleicht war er innerlich längst tot, vielleicht hatte seine erste Ehe sein Herz absterben lassen, sodass er sich nun nicht mehr normal und vernünftig verhalten konnte. „Liebling", begann er und suchte krampfhaft nach etwas, was sie wieder glücklich machen würde - oder, wenn das schon nicht möglich war, zumindest das Entsetzen aus ihrem Blick vertrieb. „Nenn mich nicht so", sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand. „Nenn mich bei meinem Namen." Er wollte schreien. Er wollte brüllen. Er wollte sie bei den Schultern packen und ihr begreiflich machen, dass er nicht begriff. Aber er wusste nicht, wie er es hätte anfangen sollen, und so nickte er nur und sagte: „Wir sehen uns dann in zwei Wochen." Sie nickte. Einmal. Und wandte dann den Blick ab. „Vermutlich." „Wiedersehen", sagte er leise und schloss die Tür hinter sich. „Mit Grün hat man viele Möglichkeiten", erklärte Olivia, während sie die ausgefransten Vorhänge im Westsalon befühlte. „Außerdem hat dir Grün schon immer gut gestanden." „Ich habe nicht vor, die Vorhänge anzuziehen", erwiderte Miranda. „Ich weiß, aber im eigenen Salon möchte man doch besonders gut aussehen, findest du nicht?" „Möchte man wohl", machte Miranda sich über Olivias affektierte Formulierung lustig. „Hör bloß auf. Wenn du meinen Rat nicht willst, hättest du mich nicht einladen dürfen." Olivias Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln. „Aber ich bin so froh, dass du es getan hast. Ich habe dich schrecklich vermisst, Miranda. Im Winter war es in Haverbreaks so furchtbar langweilig. Stell dir vor, Fiona Bennet kommt ständig zu Besuch." „Wie entsetzlich", meinte Miranda. „Ich bin fast versucht, eine ihrer vielen Einladungen anzunehmen, aus purer Langeweile."
„Ach, tu das lieber nicht." „Du trägst ihr die Sache mit dem Band an meinem elften Geburtstag doch nicht immer noch nach, oder?" Miranda hielt Daumen und Zeigefinger etwa einen halben Zoll auseinander. „Nur noch so viel." „Meine Güte, vergiss es doch. Schließlich hast du Turner an Land gezogen. Und das vor unserer Nase." Olivia war immer noch etwas beleidigt, dass ihr Bruder und ihre beste Freundin einander umworben hatten, ohne sie einzuweihen. „Obwohl ich sagen muss, dass es wirklich garstig von ihm ist, einfach nach London zu fahren und dich hier allein zurückzulassen." Miranda lächelte angespannt und spielte mit dem Stoff ihres Kleids. „So schlimm ist es auch nicht", murmelte sie. „Aber dein Kind kommt bald auf die Welt", wandte Olivia ein. „Er hätte dich nicht allein lassen dürfen." „Hat er ja nicht", widersprach Miranda entschieden und versuchte, das Thema zu wechseln. „Du bist ja da, oder nicht?" „Ja, ja, und ich würde auch bis zur Geburt bleiben, wenn ich könnte, aber Mama sagt, das ziemt sich nicht für eine unverheiratete Dame." „Ich kann mir nichts Ziemlicheres denken", versetzte Miranda. „Es ist ja nicht so, als würdest du nicht auch in ein paar Jahren in diese Lage kommen." „Zuerst brauche ich einen Ehemann", erinnerte Olivia sie. „Da sehe ich keine größeren Probleme voraus. Wie viele Heiratsanträge hast du dieses Jahr bekommen? Sechs?" „Acht." „Dann beklag dich nicht." „Tue ich ja nicht, ich meine nur ... Ach, egal, sie sagt, ich darf in Rosedale bleiben, nur eben nicht bei dir." „Die Vorhänge", mahnte Miranda. „Ja, natürlich", entgegnete Olivia energisch, wieder ganz bei der Sache. „Wenn wir die Stühle und Sessel grün polstern, könnten wir für die Vorhänge eine andere Farbe wählen. Vielleicht eine weitere Farbe aus dem Polsterstorf?" Miranda nickte und lächelte, wenn es angebracht war, doch in Gedanken war sie weit weg. In London, um genau zu sein. Ständig drängte sich ihr Ehemann in ihre Gedanken. Wenn
sie etwa irgendeine Angelegenheit mit der Haushälterin besprach, stand ihr plötzlich sein Lächeln vor Augen. Sie konnte das Buch, das sie gerade las, nicht beenden, weil sie ständig sein Lachen in den Ohren hatte. Und nachts, wenn sie beinahe einschlief, spürte sie seine federleichten Küsse auf den Lippen, bis sie vor Sehnsucht verging, ihn neben sich zu spüren. „Miranda? Miranda!" Miranda hörte, wie Olivia ungeduldig ihren Namen wiederholte. „Wie? Oh, tut mir leid, Livvy, ich war in Gedanken woanders." „Ich weiß. Du scheinst zurzeit wenig in Rosedale zu weilen." Miranda gab vor zu seufzen. „Es liegt wohl am Baby, glaube ich. Es macht mich ganz gefühlsduselig." In weiteren zwei Monaten würde sie ihre Tagträumereien nicht mehr auf die Schwangerschaft schieben können - was dann? Sie lächelte Olivia freundlich an. „Was wolltest du mir sagen?" „Ich wollte nur sagen, wenn dir Grün nicht gefällt, könnten wir den Raum in einem gedämpften Rosaton umgestalten. Du könntest es das Rosenzimmer nennen. Das würde doch gut nach Rosedale passen, nicht?" „Meinst du nicht, dass das zu feminin wirken könnte?", fragte Miranda. „Turner nutzt den Raum auch recht oft." „Hmmm. Das ist wirklich ein Problem." Miranda merkte nicht einmal, dass sie die Fäuste geballt hatte, bis sie sich die Fingernägel in den Handballen grub. Merkwürdig, wie sie bei der bloßen Erwähnung seines Namens außer Fassung geriet. „Andererseits", meinte sie und kniff trotzig die Augen zusammen, „hat mir gedämpftes Rosa schon immer gut gefallen. Also los." „Meinst du wirklich?" Olivia klang unsicher. „Turner ..." „Zum Teufel mit Turner", unterbrach Miranda so heftig, dass Olivia die Augenbrauen hob. „Wenn er ein Mitspracherecht bei der Gestaltung hätte haben wollen, hätte er eben nicht nach London fahren dürfen." „Du solltest nicht so bissig werden", meinte Olivia beruhigend. „Bestimmt vermisst er dich ganz fürchterlich." „Unsinn. Wahrscheinlich verschwendet er keinen Gedanken an mich."
Sie verfolgte ihn Tag und Nacht. Turner hatte angenommen, dass er sich Miranda schon aus dem Kopf würde schlagen können, wenn er London mit all seinen Ablenkungen nach vier endlosen Tagen in einer stickigen Kutsche erreichte. Aber er hatte sich getäuscht. Ihr letztes Gespräch lief immer und immer wieder vor seinem inneren Auge ab, und jedes Mal, wenn Turner versuchte, seinen Text zu ändern, wenn er so tat, als hätte er etwas ganz anderes gesagt, als wäre ihm etwas anderes eingefallen, verschwand das Bild. Die Erinnerung löste sich auf, und alles; was ihm blieb, waren ihre großen, braunen Augen, vor Verzweiflung stumpf. Schuldgefühle waren für ihn etwas vollkommen Ungewohntes. Sie brannten, sie kribbelten, sie packten ihn an der Kehle. Zorn fand er viel leichter zu ertragen. Zorn war sauber. Sauber und präzise. Und es ging dabei nie um ihn. Der Zorn war gegen Leticia gerichtet gewesen. Es war um ihre vielen Männergeschichten gegangen, nicht um ihn. Aber das hier ... Es war etwas ganz anderes. So würde er niemals leben können. Und sie könnten doch sicher wieder glücklich werden, oder nicht? Davor war er glücklich gewesen. Sie auch. Auch wenn sie sich über seine Schwächen beklagte, er wusste, dass sie mit ihm glücklich gewesen war. Und das würde sie auch wieder werden, schwor er sich. Sobald Miranda akzeptiert hatte, dass sie ihm in jeder ihm bekannten Weise ans Herz gewachsen war, konnten sie wieder zu ihrem behaglichen Alltag zurückkehren, den sie sich nach ihrer Heirat aufgebaut hatten. Sie würde das Baby bekommen. Sie wären eine Familie. Er würde sie mit den Händen und den Lippen lieben, mit allem, nur nicht mit Worten. Er hatte sie schon einmal gewonnen. Und er konnte es wieder schaffen. Zwei Wochen später saß Miranda in ihrem neuen Rosenzimmer und versuchte zu lesen, verbrachte aber weitaus mehr Zeit damit, aus dem Fenster zu starren. Turner hatte Nachricht geschickt, dass er an diesem Tag eintreffen würde, und nun begann ihr Herz jedes Mal zu rasen, wenn sie draußen ein
Geräusch hörte, das wie eine Kutsche klang. Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, ehe ihr auffiel, dass sie noch keine einzige Seite ihres Buchs umgeblättert hatte. Ein besorgter Dienstbote brachte ihr Abendessen, das zu bestellen sie vergessen hatte. Miranda hatte kaum ihre Suppe ausgelöffelt, als sie auf dem Sofa einschlummerte. Ein paar Stunden später kam die Kutsche, nach der sie so eifrig Ausschau gehalten hatte, vor dem Haus zum Stehen, und Turner, der zwar müde von der Reise war, es aber kaum erwarten konnte, seine Frau zu sehen, sprang herunter. Er griff in eine der Taschen und holte ein hübsch eingewickeltes Päckchen heraus. Den Rest des Gepäcks überließ er den Lakaien. Er sah am Haus empor und bemerkte, dass in ihrem Schlafzimmer kein Licht brannte. Er hoffte, dass Miranda noch nicht schlief; er würde es nicht übers Herz bringen, sie zu wecken, aber er wollte noch an diesem Abend mit ihr reden und sich wieder mit ihr versöhnen. Mit kräftigen Schritten stapfte er die Treppe empor, um den Schlamm an seinen Stiefeln loszuklopfen. Der Butler, der beinahe so lang wie Miranda auf ihn gewartet hatte, öffnete die Tür, noch bevor Turner klopfen konnte. „Guten Abend, Brearly", grüßte Turner leutselig. „Dürfte ich Ihnen als Erster ein herzliches Willkommen entbieten, Mylord." „Danke. Ist meine Frau noch wach?" „Ich glaube, sie hält sich im Rosenzimmer auf, Mylord. Sie liest, glaube ich." Turner streifte den Mantel ab. „Das tut sie ja wirklich gern." „Wir können uns glücklich schätzen, eine so belesene Dame bei uns zu haben", fügte Brearly hinzu. Turner indes blinzelte. „Wir haben kein Rosenzimmer, Brearly." „Jetzt schon, Mylord. Früher war es der Westsalon." „Ach, dann hat sie den Salon also neu gestaltet? Wie schön. Ich will, dass sie dieses Haus als ihr Heim betrachtet." „Wie wir alle, Mylord." Turner lächelte. Miranda hatte in den Dienstboten große Loyalität geweckt. Vor allem die Dienstmädchen beteten sie förmlich an. „Ich gehe sie mal überraschen." Er lief durch
die Eingangshalle und hielt sich dann rechts, bis er vor dem Salon stand. Die Tür war einen Spalt breit offen, und Turner sah den Schein einer einzelnen Kerze. Albernes Ding. Sie sollte doch wissen, dass sie zum Lesen mehr als eine Kerze brauchte. Er schob die Tür noch ein Stück weit auf und steckte den Kopf ins Zimmer. Miranda lag mit leicht geöffnetem Mund auf dem Sofa und schlief. Auf dem Bauch hatte sie ein aufgeschlagenes Buch liegen, und auf dem Tisch neben ihr stand ein leerer Teller. Sie wirkte so jung und unschuldig, dass ihm das Herz wehtat. Er hatte sie so vermisst, hatte jeden Tag, beinahe jede Minute an ihren unglücklichen Abschied gedacht. Aber wie stark diese Sehnsucht gewesen war, wurde ihm erst jetzt in diesem Augenblick klar, als er sie wiedersah, auf dem Sofa liegend, die Augen geschlossen, während sich ihre Brust im Schlaf leise hob und senkte. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, sie nicht zu wecken, aber das war vorhin gewesen, als er noch gedacht hatte, sie läge schon im Bett. Aber damit sie hinauf ins Schlafzimmer kam, musste man sie ja wecken, daher konnte genauso gut er diese Aufgabe übernehmen. Er ging zum Sofa, schob ihr Abendessen beiseite und hockte sich auf den Tisch. Das Päckchen nahm er auf den Schoß. „Wach auf, Lieb..." Er brach ab, weil ihm etwas verspätet einfiel, dass sie ihm verboten hatte, sie mit Kosenamen anzusprechen. Vorsichtig berührte er sie an der Schulter. „Wach auf, Miranda." Sie blinzelte. „Turner?" Ihre Stimme klang erschöpft. „Hallo, Kätzchen." Er würde es nicht akzeptieren, wenn sie nicht mal diese Anrede mehr hören wollte. Wenn er Koseworte benutzen wollte, würde er es tun, und damit basta. „Ich habe beinahe sie gähnte, „... beinahe nicht mehr mit dir gerechnet." „Ich habe dir doch mitgeteilt, dass ich heute zurückkommen würde." „Aber die Straßen ..." „Waren gar nicht so schlecht." Er lächelte auf sie hinunter. Vor lauter Müdigkeit hatte sie sich noch nicht daran erinnert, dass sie eigentlich zornig auf ihn war, und er sah keinerlei
Veranlassung, es ihr ins Gedächtnis zu rufen. Er strich ihr über die Wange. „Ich habe dich vermisst." Miranda gähnte noch einmal. „Wirklich?" „Sehr." Er hielt kurz inne. „Hast du mich auch vermisst?" „Ich ... ja." Es zu leugnen hatte keinen Sinn, erkannte sie. Er wusste ja bereits, dass sie ihn liebte. „War es schön in London?", fragte sie höflich. „Schöner wäre es gewesen, wenn du bei mir gewesen wärst", entgegnete er, und es klang zu gemessen, als hätte er sich diese Bemerkung sorgfältig zurechtgelegt, um sie nicht vor den Kopf zu stoßen. Und in demselben höflichen Tonfall fuhr er fort: „Hattest du es während meiner Abwesenheit auch schön?" „Olivia ist auf ein paar Tage vorbeigekommen." „Wirklich?" Miranda nickte und ergänzte: „Davon abgesehen, hatte ich jede Menge Zeit zum Nachdenken." Schweigen senkte sich herab, und dann sagte er: „Verstehe." Sie sah zu, wie er sein Päckchen beiseitelegte, aufstand und zu der einzelnen Kerze hinüberging. „Hier ist es ganz schön dunkel", meinte er, doch es klang steif und gestelzt, und sie hätte gern sein Gesicht gesehen, während er mit der Kerze im Raum herumging und weitere Kerzen entzündete. „Als ich eingeschlafen bin, hat es noch gedämmert", sagte sie, weil ... nun ja, irgendwie schien zwischen ihnen die unausgesprochene Übereinkunft zu herrschen, ihre Begegnung höflich und bedacht zu halten, damit sie nur ja jede Berührung mit der Realität vermieden. „Wirklich?", erwiderte er. „Du musst ziemlich müde gewesen sein." „Es ist anstrengend, eine dritte Person mit sich herumzutragen." Er lächelte. Endlich. „Lange wird es nicht mehr dauern." „Nein, aber ich will mir den letzten Monat so angenehm wie möglich machen." Die Worte hingen in der Luft. Sie hatte sie nicht unbedacht ausgesprochen, und er missverstand sie auch nicht. „Was willst du damit sagen?", fragte er, jedes Wort so leise und so
deutlich artikuliert, dass die ernste Absicht dahinter nicht zu verkennen war. „Ich will damit sagen ..." Sie schluckte nervös und wünschte sich, sie stünde aufrecht, die Hände auf den Hüften oder vor der Brust verschränkt, alles, nur nicht diese furchtbar verletzliche Stellung mit dem Rücken auf dem Sofa. „Ich will damit sagen, dass ich nicht so weitermachen kann wie bisher." „Ich dachte, wir wären glücklich", meinte er vorsichtig. „Waren wir auch. Ich war es auch. Aber ... ich meine ... ich war es dann doch nicht." „Entweder du warst glücklich, oder du warst es nicht, Kätzchen. Du musst dich entscheiden." „Beides", sagte sie; ihr war sein endgültiger Ton sehr zuwider. „Verstehst du denn nicht?" Und dann sah sie zu ihm auf. „Nein, ich sehe, dass du es nicht verstehst." „Ich weiß nicht, was du von mir willst", erklärte er rundheraus. Doch sie wussten beide, dass dies eine Lüge war. „Ich muss wissen, woran ich bei dir bin, Turner." „Woran du bei mir bist?", wiederholte er ungläubig. „Woran du bei mir bist? Verdammt, Weib, ich bin dein Mann! Du bist meine Frau. Was willst du denn sonst noch wissen?" „Du sollst mir sagen, dass du mich liebst!", platzte sie heraus und stand schwerfällig auf. Er erwiderte nichts, sondern stand nur da, ein Muskel zuckte in seiner Wange, und so fügte sie hinzu: „Oder dass du mich eben nicht liebst." „Was zum Teufel soll das heißen?" „Es heißt, dass ich wissen will, wie du für mich empfindest, Turner. Ich muss wissen, welche Gefühle du hegst. Wenn du mich nicht ... wenn du mich nicht ..." Sie schloss die Augen und krampfte die Hände ineinander, während sie überlegte, was genau sie eigentlich sagen wollte. „Es macht nichts, wenn du mich nicht liebst", erklärte sie schließlich. „Aber ich muss es einfach wissen." „Wovon zum Teufel redest du da?" Zornig fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar. „Ich sage dir doch ständig, wie gern ich dich habe." „Du sagst mir überhaupt nicht, dass du mich gern hast. Du sagst, dass du gern mit mir verheiratet bist." „Und wo ist da der Unterschied?", schrie er beinahe.
„Vielleicht bist du einfach nur gern verheiratet." „Nach Leticia?", fauchte er. „Tut mir leid", meinte sie, und das stimmte auch. Aber nur die letzte Bemerkung. „Natürlich gibt es da einen Unterschied", sagte sie leise. „Einen großen sogar. Ich möchte wissen, ob du mich liebst oder nur das wohlige Gefühl, das dir unsere Ehe verschafft." Er stützte sich schwer auf das Fensterbrett und starrte in die Dunkelheit hinaus. Zwar konnte sie nur seinen Rücken sehen, hörte ihn aber deutlich, als er sagte: „Ich weiß nicht, wovon du sprichst." „Du willst es nicht wissen", platzte sie heraus. „Du hast Angst, darüber nachzudenken. Du ..." Turner fuhr herum und brachte sie mit einem Blick zum Schweigen, der so hart war, wie sie es bei ihm noch nie gesehen hatte. Selbst in jener Nacht, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte - der Nacht nach Leticias Beerdigung, als er allein im Zimmer gesessen und sich betrunken hatte -, hatte er nicht so ausgesehen. Er kam auf sie zu, seine Bewegungen waren langsam und verrieten glühenden Zorn. „Ich bin kein dominanter Ehemann, aber meine Nachsicht führt nicht so weit, dass ich mich einen Feigling heißen lasse. Wähle deine Worte in Zukunft also bedachtsamer, Gattin." „Sei du bedachtsamer, was dein Verhalten betrifft", fuhr sie auf, denn sein schneidender Tonfall war ihr kalt den Rücken hinuntergefahren. „Ich bin kein albernes kleines vor Wut zitterte sie am ganzen Körper, während sie nach Worten rang, „... Zuckerkonfekt, das du behandeln kannst, als wäre es vollkommen hirnlos." „Ach, du liebe Güte, Miranda. Wann hätte ich dich je so behandelt? Wann? Verrate mir das, ich bin verdammt neugierig." Miranda geriet ins Stammeln, denn dieser Herausforderung hatte sie nichts entgegenzusetzen. Schließlich sagte sie: „Ich mag es einfach nicht, wenn man so herablassend mit mir spricht, Turner." „Dann provoziere mich nicht!" Seine Miene kam einem Hohnlächeln ziemlich nahe. „Dich provozieren?", platzte sie ungläubig heraus und ging
auf ihn zu. „Du sollst mich nicht provozieren!" „Ich habe doch überhaupt nichts gemacht, Miranda. Im einen Moment glaube ich, wir sind überglücklich miteinander, im nächsten stürzt du dich wie eine Furie auf mich und beschuldigst mich Gott weiß was für schrecklicher Verbrechen, und ..." Er hielt inne, als sich ihre Finger schmerzhaft in seinen Oberarm krallten. „Du dachtest, wir wären überglücklich?", wisperte sie. Einen Augenblick sah er sie einfach nur überrascht an. „Natürlich", erwiderte er. „Das habe ich dir doch immer wieder gesagt." Doch dann schüttelte er sich, rollte mit den Augen und schob sie weg. „Ach, aber ich vergaß. Alles, was ich getan habe, alles, was ich gesagt habe - es spielt keine Rolle. Es interessiert dich nicht, ob ich glücklich mit dir bin. Es ist dir egal, ob ich gern mit dir zusammen bin. Du willst nur wissen, was ich empfinde." Und weil sie es sich nicht verkneifen konnte, flüsterte sie: „Und, was empfindest du für mich?" Es war, als hätte sie eine Nadel in ihn hineingestochen. Eben noch hatte er voll Energie, voll Bewegung gesteckt, die spöttischen Worte waren nur so aus ihm herausgesprudelt, und nun ... Nun stand er einfach da, völlig reglos, und starrte sie an, als hätte sie Medusa in ihrem Salon losgelassen. „Miranda, ich ... ich ..." „Was, Turner, was?" „Ich ... oh, verdammt, Miranda, das ist einfach nicht fair." „Du kannst es nicht sagen." Ihre Augen füllten sich mit Entsetzen. Bis zu diesem Moment hatte sie gehofft, dass er am Ende einfach damit herausplatzen würde, dass er vielleicht zu sehr über alles nachgrübelte, dass ihm die Worte in einem passenden, leidenschaftlichen Moment wie von selbst entschlüpfen würden und er dann erkennen würde, dass er sie liebte. „Mein Gott", hauchte Miranda. Der Teil ihres Herzens, der bis zuletzt geglaubt hatte, er würde sie eines Tages noch lieben, verdorrte, und auch ihre Seele erstarrte. „Mein Gott", wiederholte sie. „Du kannst es nicht sagen." Turner sah die Leere in ihren Augen und wusste, dass er sie verloren hatte. „Ich will dir nicht wehtun", meinte er lahm.
„Dazu ist es zu spät", stieß Miranda mit erstickter Stimme hervor und wandte sich zur Tür. „Warte!" Sie blieb stehen und drehte sich um. Er bückte sich und hob das Päckchen auf, das er ihr mitgebracht hatte. „Hier", sagte er in dumpfem, ausdruckslosem Ton. „Das ist für dich." Miranda nahm das Päckchen entgegen und starrte auf seinen Rücken, als er den Raum verließ. Mit zitternden Händen wickelte sie es aus. Le Morte d'Arthur. Genau die Ausgabe aus der Buchhandlung für Gentlemen, die sie so begehrt hatte. „Ach, Turner", flüsterte sie. „Warum musstest du jetzt hingehen und etwas so Reizendes tun? Warum lässt du mich dich nicht einfach hassen?" Viele Stunden später wischte sie das Buch mit dem Taschentuch sauber und hoffte, dass ihre salzigen Tränen den Ledereinband nicht dauerhaft beschädigt hatten. 7. Juni 1820 Heute sind Lady Rudland und Olivia eingetroffen, um auf die Geburt des „Erben" zu warten, wie der gesamte Bevelstoke-Clan mein Baby nennt. Der Arzt ist zwar der Ansicht, dass ich das Baby frühestens in drei Wochen zur Welt bringen werde, aber Lady Rudland sagte, sie wolle kein Risiko eingehen. Bestimmt haben sie bemerkt, dass Turner und ich nicht mehr im selben Zimmer schlafen. Natürlich ist es ungewöhnlich für ein verheiratetes Paar, sich ein Schlafzimmer zu teilen, aber bei ihrem letzten Besuch haben wir es noch getan, und ich bin mir sicher, dass sie sich über diese Trennung wundern. Zwei Wochen ist es jetzt her, dass ich meine Sachen in ein anderes Zimmer geräumt habe. Mein Bett ist zugig und kalt. Ich hasse es. Ich freue mich nicht einmal auf die Geburt des Kindes.
19. KAPITEL Die nächste Woche war schrecklich. Turner gewöhnte es sich an, die Mahlzeiten im Arbeitszimmer einzunehmen; Miranda beim Abendessen eine Stunde lang gegenüberzusitzen war mehr, als er ertragen konnte. Diesmal hatte er sie verloren, und für ihn war es reine Agonie, ihr in die Augen zu sehen und dort nur ausdruckslose Leere zu entdecken. Während Miranda nichts mehr empfinden konnte, empfand Turner nur allzu viel. Er war zornig auf sie, weil sie ihm das Messer auf die Brust gesetzt und ihn zu zwingen versucht hatte, Gefühle zu bekennen, von denen er nicht wusste, ob er sie wirklich empfand. Er war fuchsteufelswild, dass sie entschieden hatte, ihre Ehe aufzugeben, nachdem er irgendeine von ihr festgesetzte Prüfung nicht bestanden hatte. Er fühlte sich schuldig, weil er sie so unglücklich gemacht hatte. Er war verwirrt, weil er nicht wusste, wie er sich ihr gegenüber verhalten sollte, und er hatte panische Angst, dass er sie vielleicht niemals würde zurückgewinnen können. Er war zornig auf sich selbst, weil er nicht in der Lage war, ihr zu sagen, dass er sie liebte, und er fühlte sich irgendwie unzulänglich, weil er nicht einmal wusste, wie er feststellen sollte, ob er verliebt war. Vor allem aber fühlte er sich einsam. Er sehnte sich nach seiner Frau. Er vermisste sie und ihre witzigen kleinen Kommentare und skurrilen Bemerkungen. Hin und wieder begegnete er ihr auf dem Flur, und dann zwang er sich, ihr ins Gesicht zu sehen, ob er etwas von der jungen Frau entdecken konnte, die er geheiratet hatte. Doch sie war nicht mehr da.
Miranda war eine andere geworden. Sie schien sich nichts mehr aus ihm zu machen. Aus allem eigentlich. Seine Mutter, die bei ihnen bleiben wollte, bis das Kind auf der Welt war, hatte ihn aufgesucht, um ihm zu sagen, dass Miranda nur in ihrem Essen herumstochere. Er hatte leise vor sich hingeflucht. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass dies nicht gesund war. Aber er brachte es nicht fertig, sie aufzusuchen und zur Vernunft zu bringen. Stattdessen wies er ein paar Dienstboten an, ein wachsames Auge auf sie zu haben. Nun erstatteten sie ihm täglich Bericht, meist am frühen Abend, wenn er in seinem Arbeitszimmer saß und sich überlegte, ob er in einem Gläschen Alkohol Vergessen suchen sollte. Auch dieser Abend war keine Ausnahme: Er saß bei seinem dritten Brandy, als es scharf an die Tür klopfte. „Herein." Zu seiner großen Überraschung trat seine Mutter ins Zimmer. Er nickte höflich. „Wahrscheinlich bist du gekommen, um mir Vorwürfe zu machen." Lady Rudland verschränkte die Arme. „Und warum genau meinst du, Vorwürfe verdient zu haben?" Sein Lächeln war freudlos. „Sag du es mir doch. Ich bin mir sicher, dass du eine lange Liste mitgebracht hast." „Hast du deine Frau im Verlauf der letzten Woche einmal gesehen?" „Nein, ich glaube ni... Ach, Moment mal." Er nahm einen Schluck Brandy. „Vor ein paar Tagen bin ich im Flur an ihr vorbeigegangen. Ich glaube, das war am Dienstag." „Sie ist im neunten Monat, Nigel." „Glaub mir, ich bin mir dessen bewusst." „Du bist ein Schuft, sie in dieser schweren Zeit einfach allein zu lassen." Er trank noch einen Schluck. „Nur um alle Unklarheiten zu beseitigen: Sie will mich nicht sehen, nicht umgekehrt. Und nenn mich nicht Nigel." „Ich nenne dich, wie ich will, verdammt." Turner hob die Augenbrauen. Dies war das erste Mal, dass er seine Mutter fluchen hörte. „Herzlichen Glückwunsch, nun bist du auf mein Niveau herabgesunken."
„Her damit!" Sie stürzte sich auf ihn und riss ihm das Glas aus der Hand. Bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte auf den Schreibtisch. „Ich bin entsetzt von dir, Nigel. Du bist genauso schlimm wie damals, als du mit Leticia verheiratet warst. Du bist ekelhaft, grob ..." Sie brach ab, als er ihr Handgelenk packte. „Mach nie den Fehler, Miranda mit Leticia zu vergleichen", sagte er drohend. „Habe ich doch gar nicht!" Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Das würde mir nicht im Traum einfallen." „Gut." Er ließ sie ebenso plötzlich wieder los und ging hinüber zum Fenster. Es war ein verregneter und grauer Tag, und die Landschaft schien ihm ebenso trostlos wie seine Stimmung. Seine Mutter schwieg eine ganze Weile, aber schließlich fragte sie: „Wie dachtest du, deine Ehe zu retten, Turner?" Er stieß einen erschöpften Seufzer aus. „Warum bist du so sicher, dass ich derjenige bin, der sie retten muss?" „Um Christi willen, schau dir das Mädchen doch an. Sie ist ganz offensichtlich in dich verliebt." Er klammerte sich am Fensterbrett fest, bis die Knöchel weiß hervorstanden. „Davon habe ich in letzter Zeit nichts gesehen." „Wie auch? Du hast seit Tagen nicht mehr mit ihr geredet. Um deinetwillen hoffe ich, dass du das, was sie für dich empfunden hat, nicht abgetötet hast." Turner erwiderte gar nichts. Er wollte nur, dass das Gespräch so schnell wie möglich beendet war. „Sie ist ganz anders als noch vor ein paar Monaten", fuhr seine Mutter fort. „Sie war so glücklich. Sie hätte alles für dich getan." „Die Dinge ändern sich, Mutter", sagte er angespannt. „Das kann rückgängig gemacht werden", erklärte Lady Rudland leise, aber drängend. „Gesell dich heute Abend zum Essen doch zu uns. Ohne dich ist es schrecklich unbehaglich." „Mit mir wird es sicher noch viel unbehaglicher, glaub mir." „Dies zu beurteilen kannst du getrost mir überlassen."
Turner richtete sich auf und tat einen langen, zittrigen Atemzug. Hatte seine Mutter recht? Konnten er und Miranda ihre Schwierigkeiten lösen? „Leticia ist immer noch in diesem Haus", meinte seine Mutter leise. „Lass sie gehen. Lass dich von Miranda heilen. Das wird sie, weißt du, wenn du ihr nur die Gelegenheit dazu gibst." Er spürte die Hand seiner Mutter auf der Schulter, aber er drehte sich nicht um. Er war zu stolz, sie den Schmerz in seinem Gesicht sehen zu lassen. Der erste Wehenschmerz krampfte ihren Unterleib etwa eine Stunde vor dem Dinner zusammen. Erschrocken legte Miranda die Hand auf den Bauch. Eigentlich hatte der Arzt ihr gesagt, dass mit der Geburt erst in zwei Wochen zu rechnen sei. „Nun, anscheinend möchtest du gern früher kommen", sagte sie leise. „Bleib aber noch so lange drin, bis ich zu Abend gegessen habe, ja? Heute bin ich tatsächlich hungrig. Das war ich schon seit Wochen nicht mehr, weißt du, und ich brauche ein wenig Nahrung." Zur Antwort trat sie das Baby. „Ach, das also ist dein Plan, ja?", flüsterte Miranda und lächelte zum ersten Mal seit Wochen. „Ich schlage dir ein Geschäft vor. Du lässt mich in Frieden zu Abend essen, und ich verspreche dir, dich nicht auf einen Namen wie Iphigenie zu taufen." Wieder verspürte sie einen Tritt. „Natürlich nur, wenn du ein Mädchen bist. Wenn du ein Junge bist, verspreche ich, dich nicht... Nigel zu taufen!" Sie lachte, ein fremdes - und schönes - Geräusch. „Ich verspreche dir, dich nicht Nigel zu taufen." Das Baby hielt still. „Gut. Dann wollen wir uns jetzt mal anziehen, ja?" Miranda klingelte nach ihrer Zofe, und eine Stunde später ging sie die Treppe zum Speisesaal hinunter, wobei sie fest das Geländer umklammerte. Sie war sich nicht sicher, warum sie niemandem sagen wollte, dass das Kind unterwegs war vielleicht war es nur auf ihre naturgegebene Abneigung gegen jede Art von Aufheben zurückzuführen. Außerdem fühlte
sie sich gut, abgesehen von den Krämpfen alle zehn Minuten. Sie hatte jedenfalls nicht den Wunsch, jetzt schon ans Bett gefesselt zu werden, und hoffte, dass das Kind sich während des Essens noch ein wenig zurückhielt. Irgendwie haftete einer Geburt etwas vage Peinliches an, und sie hatte nicht die Absicht, dies aus erster Hand beim Abendessen zu ergründen. „Ach, da bist du ja, Miranda", rief Olivia aus. „Wir wollen im Rosenzimmer den Aperitif nehmen. Kommst du auch?" Miranda nickte und folgte ihrer Freundin. „Du siehst ein bisschen seltsam aus, Miranda", fuhr Olivia fort. „Geht es dir auch gut?" „Ich bin nur angeschwollen, vielen Dank." „Nun, bald wirst du ja wieder abschwellen." Früher, als euch bewusst ist, dachte Miranda für sich. Lady Rudland reichte ihr ein Glas Limonade. „Danke", sagte Miranda. „Ich habe auf einmal schrecklichen Durst." Ohne sich um die Etikette zu scheren, stürzte sie das ganze Glas auf einmal hinunter. Lady Rudland sagte kein Wort, als sie ihr nachgoss. Miranda leerte das Glas fast genauso schnell wie das erste. „Meint ihr, das Essen ist schon fertig?", fragte sie. „Ich habe schrecklichen Hunger." Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Wenn sie noch länger verweilten, würde sie das Kind auf dem Esstisch zur Welt bringen. „Gewiss", erwiderte Lady Rudland, etwas verblüfft über Mirandas Eifer. „Geh du voran, Miranda. Schließlich ist es dein Haus." „Stimmt." Sie legte den Kopf schief, umfasste den Bauch, wie um ihn zu stützen, und trat hinaus auf den Gang. Sie lief direkt in Turner hinein. „Guten Abend, Miranda." Seine Stimme klang heiser und voll, und sie spürte tief im Herzen ein leises Flattern. „Ich hoffe, es geht dir gut", sagte er. Sie nickte und versuchte, ihn nicht anzusehen. Die letzten Wochen hatte sie sich darin geübt, nicht vor Begehren und Sehnsucht dahinzuschmelzen, wenn sie ihn sah. Stattdessen hatte sie gelernt, eine Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen. Sie alle wussten, dass er sie ins Elend gestürzt hatte; es
brauchte nicht jeder daran erinnert zu werden, sobald sie einen Raum betrat. „Entschuldigung", murmelte sie, schob sich an ihm vorbei und wollte dann weiter Richtung Speisesaal eilen. Doch Turner hielt sie am Arm fest. „Gestatte, dass ich dich hineingeleite, Kätzchen." Mirandas Unterlippe begann zu zittern. Was hatte er vor? Wenn sie nicht so verwirrt - oder so schwanger - gewesen wäre, hätte sie sich vermutlich von ihm losgerissen, aber so ergab sie sich in ihr Schicksal und ließ sich zu Tisch führen. Während der ersten Gänge schwieg Turner, was Miranda ganz recht war, da sie sich dadurch umso besser der Nahrungsaufnahme widmen konnte. Lady Rudland und Olivia versuchten, sie ins Gespräch zu ziehen, aber Miranda hatte jedes Mal den Mund voll und brauchte nicht zu antworten. Stattdessen kaute und schluckte sie und murmelte dann: „Ich bin wirklich furchtbar hungrig." Dies funktionierte während der ersten drei Gänge, doch dann weigerte sich das Baby, weiter mitzuspielen. Miranda hatte geglaubt, sie sei ganz gut darin geworden, nicht auf die Schmerzen zu reagieren, doch sie musste wohl zusammengezuckt sein, denn Turner sah scharf in ihre Richtung und fragte: „Ist irgendetwas?" Sie lächelte matt, kaute, schluckte und murmelte: „Nein, gar nichts. Aber ich bin wirklich furchtbar hungrig." „Das sehen wir", meinte Olivia trocken, was ihr einen tadelnden Blick ihrer Mutter eintrug. Miranda nahm noch einen Bissen Mandelhühnchen und zuckte erneut zusammen. Diesmal war Turner sicher, etwas gesehen zu haben. „Du hast ein Geräusch gemacht", erklärte er entschieden. „Ich habe dich gehört. Was ist los?" Sie kaute und schluckte. „Nichts. Außer dass ich furchtbar hungrig bin." „Vielleicht isst du zu schnell", meinte Olivia. Miranda stürzte sich auf die Ausrede. „Ja, ja, das muss es sein. Ab jetzt esse ich langsamer." Zum Glück wandte sich das Gespräch in eine andere Richtung, als Lady Rudland Turner zu einer neuen Gesetzesvorlage befragte, über die im
Oberhaus abgestimmt worden war. Miranda war dankbar, dass seine Aufmerksamkeit abgelenkt war; zu genau hatte er sie beobachtet, und es fiel ihr zunehmend schwer, eine heitere Miene zu bewahren, während sie von einer Wehe überrollt wurde. Wieder krampfte sich ihr Bauch zusammen, und diesmal verlor sie die Geduld. „Hör auf", flüsterte sie und sah auf ihren Bauch. „Sonst nenne ich dich Iphigenie." „Hast du etwas gesagt, Miranda?", erkundigte sich Olivia. „Oh, nein, ich glaube nicht." Nach ein paar Minuten spürte sie die nächste Wehe nahen. „Hör auf, Nigel", flüsterte sie. „Wir hatten eine Abmachung getroffen." „Jetzt hast du aber bestimmt etwas gesagt!", rief Olivia scharf. „Hast du mich eben Nigel genannt?", fragte Turner im selben Moment. Komisch, dachte Miranda, Nigel genannt zu werden, scheint ihn mehr aufzuregen als der Umstand, dass ich unser Ehebett verlassen habe. „Natürlich nicht. Das bildet ihr euch nur ein. Aber ich muss sagen, ich bin müde. Wenn es euch nichts ausmacht, ziehe ich mich jetzt zurück." Sie schickte sich an aufzustehen, spürte dann aber einen Sturzbach zwischen den Beinen. Prompt setzte sie sich wieder. „Vielleicht warte ich doch auf den Nachtisch." Lady Rudland entschuldigte sich; sie wies darauf hin, dass sie gerade eine Abmagerungskur mache und es nicht ertragen könne, den anderen zuzusehen, wie sie ihren Nachtisch verputzten. Ihr Fehlen machte es noch schwieriger für Miranda, sich nicht am Gespräch zu beteiligen, doch sie bemühte sich nach Kräften, indem sie vorgab, vollkommen ins Essen vertieft zu sein, und im Übrigen hoffte, keiner würde sie etwas fragen. Endlich war das Dinner vorüber. Turner stand auf, trat zu ihr und bot ihr den Arm. „Nein, ich glaube, ich bleibe hier noch ein wenig sitzen. Ich bin müde, weißt du." Sie spürte, wie ihr die Röte den Hals hinaufstieg. Lieber Himmel, niemand hatte je ein Benimmbuch darüber geschrieben, was zu tun sei, wenn das Baby in einem formellen Speisesaal zur Welt kommen wollte. Miranda war
außer sich vor Scham und hatte so große Angst, dass sie nicht von ihrem Stuhl hochkam. „Möchtest du noch eine Portion?", fragte Turner trocken. „Ja, bitte", erwiderte sie mit ersterbender Stimme. „Miranda, bist du sicher, dass es dir gut geht?", fragte Olivia, während Turner den Lakaien herbeirief. „Du siehst wirklich höchst merkwürdig aus." „Hol deine Mutter", krächzte Miranda. „Sofort." „Ist es ..." Miranda nickte. „O Gott", hauchte Olivia und schluckte. „Es ist so weit." „Was ist so weit?", fragte Turner ärgerlich. Dann sah er Mirandas angsterfüllte Miene. „Verdammte Hölle. Das meinst du also." Er eilte an die Seite seiner Frau und nahm sie auf die Arme, ohne sich darum zu kümmern, dass ihre durchweichten Röcke seine feine Jacke befleckten. Miranda klammerte sich an seine kraftvolle Gestalt und vergaß all ihre Schwüre, ihm nichts als Desinteresse zu zeigen. Stattdessen barg sie das Gesicht in seiner Halsbeuge und sog seine Stärke in sich auf. Die würde sie in den Stunden, die vor ihr lagen, noch brauchen können. „Du dummes Gänschen", murmelte er. „Wie lange wolltest du denn dort sitzen bleiben und leiden?" Sie überhörte diese Frage; die Wahrheit hätte ihr ohnehin nur Schelte eingetragen. Turner trug sie die Treppe hinauf in das Gästezimmer, das für die Niederkunft hergerichtet worden war. Bis er sie auf dem Bett abgelegt hatte, kam Lady Rudland schon hereingestürmt. „Danke, Turner", sagte sie rasch. „Geh den Arzt rufen." „Darum hat Brearly sich schon gekümmert", erwiderte er. Besorgt blickte er auf Miranda herab. „Na dann, geh dich beschäftigen. Trink etwas." „Ich habe keinen Durst." Lady Rudland seufzte. „Brauchst du es vielleicht schriftlich, mein Sohn? Raus mit dir." „Warum?" Turner schien es gar nicht fassen zu können. „Männer haben bei einer Geburt nichts zu suchen." „Davor konnte man mich doch auch gebrauchen", brummte er unwillig.
Miranda lief dunkelrot an. „Turner, bitte", flehte sie. Er sah auf sie hinab. „Möchtest du, dass ich gehe?" „Ja. Nein. Ich weiß nicht." Er stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich zu seiner Mutter um. „Ich finde, ich sollte bleiben. Schließlich ist es auch mein Kind." „Ach, von mir aus. Geh aber rüber in die Ecke und steh uns nicht im Weg herum." Lady Rudland schwenkte die Arme und scheuchte ihn davon. Miranda krümmte sich unter der nächsten Wehe. „Aaaah", stöhnte sie. „Was war das?" Wie der Blitz war Turner an ihrer Seite. „Ist das normal? Sollte sie nicht lieber ..." „Turner, sei still!", mahnte Lady Rudland. „Du machst ihr nur Angst." Sie wandte sich zu Miranda und legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn. „Achte gar nicht auf ihn, mein Liebes. Das alles ist vollkommen normal." „Ich weiß. Ich ..." Sie hielt inne, um zu Atem zu kommen. „Könnte ich das Kleid ausziehen?" „Ach, du liebe Güte, natürlich. Tut mir leid, das habe ich ganz vergessen. Du musst dich ja schrecklich unwohl fühlen. Turner, komm her und hilf mir." „Nein!", rief Miranda scharf. Er hielt inne, und seine Miene wurde kalt. „Ich meine, entweder du machst es oder er", erklärte Miranda ihrer Schwiegermutter. „Aber nicht beide zusammen." „Das ist nur die Geburt", meinte Lady Rudland beruhigend. „Du kannst nicht klar denken." „Nein. Er kann es machen, wenn du möchtest, weil ... er hat mich ja schon gesehen. Du kannst es auch machen, weil du eine Frau bist. Aber ich will nicht, dass du zusiehst, wie er mich ansieht. Verstehst du nicht?" Mit ungewohnter Stärke drückte Miranda den Arm der älteren Frau. Turner, der wieder in seiner Ecke saß, unterdrückte ein Lächeln. „Ich überlasse dir diese Ehre, Mutter", sagte er, sorgsam um eine ausdruckslose Stimme bemüht, damit er nicht laut herauslachte. Mit einem kurzen Nicken verließ er das Zimmer. Er zwang sich, erst die halbe Strecke zur Halle zu-
rückzulegen, ehe er sich seinem Gelächter hingab. Was für komische kleine Skrupel seine Frau doch manchmal hatte. Im Gästezimmer kämpfte Miranda gerade mit zusammengebissenen Zähnen gegen eine neuerliche Wehe, während Lady Rudland ihr das Kleid vom Leib zog. „Ist er weg?", fragte sie. Sie hätte sich nicht darauf verlassen, dass er nicht noch einmal zur Tür hereinspitzte. Ihre Schwiegermutter nickte. „Er wird uns nicht mehr stören." „Er stört doch nicht", sagte Miranda, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Doch, natürlich. Männer haben bei einer Geburt nichts verloren. Eine Geburt ist eine schmutzige und schmerzhafte Angelegenheit, und keiner von ihnen weiß, wie er sich nützlich machen kann. Sollen sie lieber draußen sitzen und sich Mittel und Wege überlegen, wie sie einen für die harte Arbeit entlohnen könnten." „Er hat mir ein Buch geschenkt", flüsterte Miranda. „Ja? Ich hätte da eher an Diamanten gedacht." „Das wäre auch schön", gab Miranda schwach zu. „Ich werde ihm einen kleinen Wink geben." Lady Rudland hatte Miranda das Nachthemd angezogen und schüttelte nun das Kissen für sie auf. „So, hier. Hast du es nun bequem?" Die nächste Wehe rollte heran. „Eher nicht", stieß sie hervor. „Schon wieder eine?", fragte Lady Rudland. „Herrje. Die kommen ja schon ziemlich kurz auf einander. Vielleicht wird es eine ungewöhnlich schnelle Geburt. Hoffentlich kommt Dr. Winters bald." Miranda hielt den Atem an, während sie auf der nächsten Welle des Schmerzes ritt, und nickte. Lady Rudland ergriff ihre Hand und drückte sie, das Gesicht mitfühlend verzogen. „Vielleicht hilft es dir ja, wenn ich dir sage, dass Zwillinge noch viel schlimmer sind." „Nein", keuchte Miranda. „Es hilft dir nicht?" „Nein." Lady Rudland seufzte. „Damit habe ich, ehrlich gesagt, auch nicht gerechnet. Aber mach dir keine Sorgen", fügte sie
hinzu und blickte gleich ein wenig munterer. „Das alles ist bald vorüber." Zweiundzwanzig Stunden später hätte Miranda gern um eine Neudefinition des Wortes „bald" gebeten. Ihr Körper bebte vor Schmerzen, ihr Atem ging in keuchenden Stößen, und sie fühlte sich, als könnte sie einfach nicht genug Luft in den Körper bekommen. Und immer noch rollten die Wehen heran, jede schlimmer als die vorige. „Ich fühle schon wieder eine kommen", wimmerte sie. Sofort wischte Lady Rudland ihr mit einem kühlen Tuch die Stirn. „Halt durch, mein Liebling." „Ich kann nicht ... ich bin zu ... verdammte Hölle!", schrie sie, indem sie sich beim Lieblingsfluch ihres Mannes bediente. Draußen auf dem Gang versteifte Turner sich, als er sie schreien hörte. Nachdem sie Miranda aus dem Kleid geholfen hatte, war seine Mutter hinausgekommen und hatte ihn überzeugt, dass es für alle am besten wäre, wenn er im Flur wartete. Olivia hatte zwei Stühle herbeigeschleppt und leistete ihm nun gewissenhaft Gesellschaft, wobei sie versuchte, nicht zusammenzuzucken, wenn Miranda vor Schmerzen aufschrie. „Das klang jetzt übel", sagte sie nervös, in einem Versuch, Konversation zu treiben. Ihr Bruder starrte sie nur wütend an. Falsche Bemerkung. „Bestimmt ist es bald vorbei", versuchte Olivia es noch einmal, mit mehr Hoffnung als Überzeugung. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer wird." Wieder schrie Miranda gequält auf. „Glaube ich zumindest", fügte Olivia schwach hinzu. Turner stützte das Gesicht in die Hände. „Ich werde sie nie wieder anrühren", stöhnte er. „Er wird mich nie wieder anrühren", hörten sie hinter der Tür Miranda ausrufen. „Nun, es sieht nicht so aus, als würde dir deine Frau in diesem Punkt widersprechen", zwitscherte Olivia. Sie stieß ihn an. „Kopf hoch, Bruder. Du wirst Vater." „Ich hoffe, bald", brummte er. „Ich glaube nicht, dass ich das noch lange aushalte."
„Wenn du es schon schlimm findest, dann überleg mal, wie sich Miranda fühlen muss." Er warf ihr einen tödlichen Blick zu. Wieder die falsche Bemerkung. Olivia schloss den Mund. Im Gebärzimmer hielt Miranda derweil die Hand ihrer Schwiegermutter wie ein Schraubstock fest. „Mach, dass es aufhört", stöhnte sie. „Bitte mach, dass es aufhört." „Bald ist es vorbei, glaube mir." Miranda zog sie zu sich herunter, bis das Gesicht ihrer Schwiegermutter dicht vor dem ihren verharrte. „Das hast du gestern auch schon gesagt!" „Entschuldigen Sie bitte, Lady Rudland." Es war Dr. Winters, der eine Stunde nach Einsetzen der Wehen eingetroffen war. „Könnte ich Sie kurz sprechen?" „Ja, ja, natürlich", erwiderte Lady Rudland und entzog sich vorsichtig Mirandas Griff. „Ich komme gleich wieder, versprochen." Miranda nickte nur und packte die Laken - irgendwo musste sie sich festkrallen, wenn die Schmerzen wiederkamen. Ihr Kopf rollte hin und her, während sie versuchte, ruhig und tief zu atmen. Wo war Turner? Wusste er denn nicht, dass sie ihn brauchte? Sie brauchte seine Wärme, sein Lächeln, vor allem aber seine Kraft, denn sie glaubte nicht, dass sie noch genügend davon übrig hatte, um diese Tortur zu überstehen. Doch sie war auch stur, und sie hatte ihren Stolz, daher brachte sie es nicht fertig, Lady Rudland zu fragen, wo er war. Stattdessen biss sie die Zähne zusammen und bemühte sich, nicht vor Schmerzen zu schreien. „Miranda?" Besorgt sah Lady Rudland auf sie hernieder. „Miranda, Liebes, der Arzt sagt, du musst stärker pressen. Das Kind braucht beim Rauskommen Hilfe." „Ich bin zu müde", wimmerte sie. „Ich kann einfach nicht mehr." Ich will Turner. Aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. „Doch, du kannst noch. Wenn du jetzt ein bisschen stärker presst, ist es umso schneller vorbei." „Ich kann nicht ... ich kann nicht ... aahhhh!"
„So ist es recht, Lady Turner", meinte Dr. Winters energisch. „Pressen Sie." „Ich . .. es tut so weh! Es tut so weh!" „Pressen Sie. Ich kann den Kopf sehen." „Wirklich?" Miranda versuchte aufzuschauen. „Schsch, verrenk dir nicht den Hals", mahnte Lady Rudland. „Du kannst ohnehin nichts sehen, glaube mir." „Pressen Sie", sagte der Arzt. „Ich versuche es, ich versuche es." Miranda biss die Zähne zusammen und presste. „Ist es ... können Sie .. ." Sie atmete ein paar Mal tief durch. „Was ist es denn?" „Noch kann ich es nicht erkennen", erwiderte Dr. Winters. „Einen Augenblick, warten Sie ... hier haben wir es." Sobald der Kopf einmal draußen war, glitt der restliche Körper mühelos heraus. „Es ist ein Mädchen." „Wirklich?", hauchte Miranda. Sie seufzte erschöpft. „Natürlich, was sonst. Turner bekommt doch immer, was er will." Lady Rudland öffnete die Tür und trat hinaus in den Flur, während der Arzt das Baby versorgte. „Turner?" Er sah auf. Sein Gesicht war ganz verhärmt. „Es ist vorbei, Turner. Ein Mädchen. Du hast eine Tochter." „Ein Mädchen?", wiederholte Turner. Das lange Warten im Flur hatte ihn erschöpft, und nachdem er fast einen vollen Tag lang zugehört hatte, wie seine Frau vor Schmerzen schrie, konnte er nicht recht glauben, dass es nun vorbei und er Vater war. „Sie ist wunderschön", sagte seine Mutter. „Einfach vollkommen, in jeder Hinsicht." „Ein Mädchen", sagte er wieder, und in seiner Stimme schwang ehrfürchtiges Staunen. Dann wandte er sich zu seiner Schwester, die die ganze Nacht neben ihm ausgeharrt hatte. „Ein Mädchen, Olivia. Ich habe ein Mädchen!" Und dann, zu ihrer beider Überraschung, warf er die Arme um sie und zog sie an sich. „Ich weiß, ich weiß." Selbst Olivia hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Turner drückte sie ein letztes Mal und sah dann zu seiner Mutter. „Welche Farbe haben ihre Augen? Braun?"
Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf Lady Rudlands Gesicht aus. „Ich weiß nicht, mein Lieber. Ich habe noch nicht nachgesehen. Aber bei Babys ändert sich die Augenfarbe oft noch, während sie klein sind. Vermutlich werden wir es erst in einiger Zeit sicher wissen." „Bestimmt sind sie braun", erklärte Turner entschieden. Olivias Augen weiteten sich, als ihr eine Erkenntnis kam. „Du liebst sie." „Hm, was sagst du da, Göre?" „Du liebst sie. Du liebst Miranda." Merkwürdig, aber die Enge in der Kehle, die er immer verspürt hatte, wenn es um das Thema Liebe ging, war verschwunden. „Ich ..." Turner hielt inne; vor Überraschung blieb ihm der Mund offen stehen. „Du liebst sie", wiederholte Olivia. „Ich glaube, du hast recht", sagte er staunend. „Ich liebe sie. Ich liebe Miranda." „Es wird auch Zeit, dass dir das klar wird", meinte seine Mutter keck. Turner saß mit offenem Mund da, völlig erstaunt, wie leicht sich alles auf einmal anfühlte. Warum hatte er so lange gebraucht, dies zu erkennen? Es hätte ihm doch von Anfang an klar sein müssen. Er liebte Miranda. Er liebte alles an ihr, die zart gewölbten Augenbrauen, ihre oft sarkastischen Seitenhiebe und die Art, wie sie den Kopf schief hielt, wenn sie neugierig war. Er liebte ihren Esprit, ihre Wärme, ihre Loyalität. Selbst die Tatsache, dass ihre Augen ein wenig zu nah beieinander standen, fand er reizend. Und nun hatte sie ihm ein Kind geschenkt. Sie hatte in diesem Bett gelegen und stundenlang unter gewaltigen Schmerzen die Wehen ertragen, und das alles, um ihm ein Kind zu schenken. Tränen stiegen ihm in die Augen. „Ich will sie sehen." Bei den letzten Worten bekam er einen Kloß in der Kehle. „Der Arzt wird das Baby gleich versorgt haben", sagte seine Mutter. „Nein, ich will Miranda sehen." „Oh. Na schön, das kann wohl nicht schaden. Warte nur einen Moment. Dr. Winters?" Sie ging zur Tür zurück und öffnete sie.
In diesem Moment ertönte ein leiser Fluch, und dann bekam Lady Rudland das Baby in die Arme gedrückt. Turner riss die Tür ganz auf und stürmte ins Zimmer. „Was ist los?" „Sie verliert viel zu viel Blut", erklärte der Arzt grimmig. Turner blickte auf seine Frau hinunter und wäre vor Entsetzen beinahe gestrauchelt. Überall war Blut, es schien aus ihr herauszuströmen, und ihr Gesicht war totenblass. „O Gott", sagte er mit erstickter Stimme. „Oh, Miranda." Heute habe ich dich auf die Welt gebracht. Ich weiß noch nicht, wie du heißen sollst. Sie haben dich mir noch nicht einmal gebracht, damit ich dich in die Arme nehmen kann. Ich dachte, ich könnte dich vielleicht nach meiner Mutter nennen. Sie war eine wunderbare Frau, und vor dem Schlafengehen hat sie mich immer ganz fest umarmt. Sie hieß Caroline. Hoffentlich gefällt Turner der Name. Über Namen haben wir nie gesprochen. Schlafe ich? Ich kann sie alle hier im Zimmer hören, aber irgendwie kann ich nichts zu ihnen sagen. Ich versuche, mir das alles zu merken, damit ich es später in mein Tagebuch eintragen kann. Ich glaube, ich schlafe.
2 0 . KAPITEL Der Arzt konnte die Blutung stoppen, aber beim Händewaschen schüttelte er immer noch den Kopf. „Sie hat viel Blut verloren", meinte er grimmig. „Sie wird sehr schwach sein." „Aber sie wird durchkommen?", fragte Turner ängstlich. Dr. Winters hob die Schultern zu einem melancholischen Achselzucken. „Wir können nur hoffen." Die Antwort gefiel Turner nicht, und so schob er sich am Arzt vorbei und setzte sich am Bett seiner Frau auf einen Stuhl. „Sie kommt durch", erklärte er heiser. „Sie muss durchkommen." Lady Rudland räusperte sich. „Dr. Winters, haben Sie irgendeine Vorstellung, was die Blutung verursacht hat?" „Es könnte ein Riss in der Gebärmutter sein. Wahrscheinlich als die Nachgeburt sich gelöst hat." „Kommt so etwas öfter vor?" Der Arzt nickte. „Ich muss jetzt leider aufbrechen. Hier in der Gegend habe ich eine weitere Patientin, die guter Hoffnung ist, und ich muss etwas Schlaf bekommen, wenn ich mich richtig um sie kümmern will." „Aber Miranda ..." Lady Rudland brach ab und blickte voll Bestürzung und Angst auf ihre Schwiegertochter. „Ich kann nichts mehr für sie tun. Wir können jetzt nur noch hoffen und beten, dass der Riss verheilt und nicht wieder zu bluten anfängt." „Und wenn es wieder anfängt?", fragte Turner ausdruckslos. „Dann müssen Sie sauberes Verbandsmaterial dagegendrücken, so wie ich es gemacht habe. Und nach mir schicken."
„Bestünde denn eine verdammte Chance, dass Sie rechtzeitig hier eintreffen könnten?", fragte Turner beißend. Kummer und Angst ließen ihn alle Höflichkeit vergessen. Der Arzt antwortete nicht darauf, sondern verabschiedete sich mit einem Nicken. „Lady Rudland. Lord Turner." Als sich die Tür schloss, ging Lady Rudland zu ihrem Sohn hinüber. „Turner", sagte sie beruhigend, „du solltest ein wenig ruhen. Du warst die ganze Nacht a u f." „Du auch." „Ja, aber ich ..." Ihre Stimme verklang. Wenn ihr Ehemann im Sterben läge, würde sie auch bei ihm bleiben wollen. Sie drückte Turner einen Kuss auf den Scheitel. „Ich lasse dich mit ihr allein." Er fuhr zu ihr herum, und seine Augen blitzten gefährlich. „Verdammt, Mutter! Ich bin nicht hier, um mich ein letztes Mal von ihr zu verabschieden! Es besteht keinerlei Veranlassung, so zu reden, als läge sie im Sterben!" „Natürlich nicht." Doch ihr Blick, voll Mitleid und Kummer, sagte etwas anderes. Leise verließ sie den Raum. Turner starrte auf Mirandas bleiches Gesicht hinunter. An seiner Kehle zuckte ein Muskel. „Ich hätte dir sagen sollen, dass ich dich liebe", erklärte er heiser. „Ich hätte es dir sagen sollen. Das war alles, was du hören wolltest, nicht wahr? Und ich war zu dumm, es zu erkennen. Ich glaube, ich habe dich die ganze Zeit geliebt, mein Schatz. Die ganze Zeit. Seit jenem Tag in der Kutsche, wo du mir schließlich gesagt hast, dass du mich liebst. Ich war .. ." Er hielt inne, weil er glaubte, eine Bewegung in ihrem Gesicht wahrgenommen zu haben. Aber es war nur sein eigener Schatten, der im Kerzenlicht zuckte. „Ich war nur so überrascht", fuhr er fort, als er die Stimme wiedergefunden hatte. „So überrascht, dass jemand mich lieben konnte, ohne Macht über mich erlangen zu wollen. So überrascht, dass du mich lieben konntest, ohne mich ändern zu wollen. Und ich ... ich habe geglaubt, ich könnte nicht mehr lieben. Aber ich habe mich geirrt!" Seine Hände zuckten, und er musste gegen den Drang ankämpfen, Miranda bei den Schultern zu fassen und zu rütteln. „Ich habe mich geirrt, verdammt, und du konntest nichts dafür. Es war nicht dei-
ne Schuld, Kätzchen. Es war meine. Oder vielleicht Leticias, aber jedenfalls nicht deine." Er nahm ihre Hand und führte sie an die Lippen. „Dich trifft überhaupt keine Schuld, Kätzchen", sagte er flehend. „Bitte komm zurück zu mir. Bitte. Du machst mir solche Angst. Du willst mir doch keine Angst machen, oder? Ich versichere dir, es ist kein hübscher Anblick." Er erhielt keine Antwort. Wenn sie nur gehustet hätte oder sich herumgewälzt, irgendetwas. Aber sie lag einfach nur da, so reglos, so still, dass ihn plötzlich panische Angst überkam und er hastig ihre Hand umdrehte, um an der Innenseite ihres Handgelenks den Puls zu fühlen. Erleichtert seufzte er auf. Er konnte den Puls fühlen, schwach, aber er war da. Erschöpft begann er zu gähnen. Er war völlig abgekämpft, und die Augen fielen ihm zu, aber er durfte jetzt nicht schlafen. Er musste bei ihr bleiben, musste sie sehen, sie atmen hören, zusehen, wie das Licht über ihr Gesicht spielte. „Es ist zu dunkel", murmelte er und erhob sich. „Hier ist es ja wie in einer verdammten Leichenhalle." Er suchte im Zimmer herum, stöberte in Schubladen und Schränken, bis er Kerzen gefunden hatte. Rasch entzündete er sie alle und steckte sie in Halter. Es war immer noch zu dunkel. Er ging zur Tür, riss sie auf und schrie hinaus: „Brearly! Mutter! Olivia!" Acht Leute kamen sofort herbeigeeilt, und alle fürchteten das Schlimmste. „Ich brauche Kerzen", sagte Turner, und seine Stimme klang trotz seiner Erschöpfung, seiner Angst energisch. Ein paar Dienstmädchen hasteten sofort davon. „Aber hier drin ist es doch schon so hell", wandte Olivia ein, als sie den Kopf zur Tür hineinsteckte. Ihr Atem stockte, als sie Miranda, ihre beste Freundin seit Kindertagen, so still daliegen sah. „Wird sie wieder gesund?", flüsterte sie. „Natürlich wird sie wieder gesund", fuhr Turner sie an. „Vorausgesetzt, wir können hier noch ein wenig Licht machen." Olivia räusperte sich. „Ich möchte gern reingehen und etwas zu ihr sagen." „Sie wird nicht sterben", explodierte Turner. „Hast du ge-
hört? Sie wird nicht sterben. Es besteht keinerlei Anlass, so zu reden. Du brauchst dich nicht von ihr zu verabschieden." „Aber wenn doch", beharrte Olivia, während ihr die Tränen die Wangen hinunterrollten. „Ich würde mich so ..." Turner verlor die Beherrschung und schob seine Schwester gegen eine Wand. „Sie wird nicht sterben", sagte er mit leiser, gefährlicher Stimme. „Ich möchte dich wirklich bitten, dich nicht so zu benehmen, als läge sie im Sterben." Olivia nickte ruckartig. Im nächsten Moment ließ Turner sie los und starrte auf seine Hände, als wären sie ihm völlig fremd. „Mein Gott", stieß er aus, „was ist nur los mit mir?" „Schon gut, Turner", meinte Olivia beruhigend und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Du hast jeden Grund, überreizt zu reagieren." „Nein, habe ich nicht. Nicht, wenn ich jetzt stark für sie sein muss." Er ging ins Zimmer zurück und setzte sich wieder ans Bett seiner Frau. „Ich bin jetzt nicht wichtig", sagte er und schluckte krampfhaft. „Alles, was jetzt zählt, ist Miranda." Ein übernächtigtes Dienstmädchen brachte ein paar Kerzen. „Zünden Sie sie alle an", befahl Turner. „Ich will, dass es hier taghell ist. Haben Sie gehört? Taghell." Er wandte sich zu Miranda und strich ihr über die Stirn. „Sie hat Sonnenschein immer so gemocht." Entsetzt hielt er inne und sah seine Schwester an. „Ich meine, sie mag Sonnenschein so gern." Olivia ertrug es nicht, ihren Bruder so untröstlich zu erleben, nickte und verließ still das Zimmer. Ein paar Stunden später kam Lady Rudland in den Raum, in den Armen ein kleines Bündel in einer weichen rosa Decke. „Hier bringe ich dir deine Tochter", sagte sie weich. Turner sah auf und wurde sich schockiert bewusst, dass er die Existenz dieser winzigen Person vollkommen vergessen hatte. Ungläubig starrte er sie an. „Sie ist so klein." Seine Mutter lächelte. „Das sind Babys für gewöhnlich." „Ich weiß, aber ... sieh sie dir doch an." Er streckte den Zeigefinger nach ihrer Hand aus. Winzige Finger packten ihn
mit erstaunlicher Kraft. Turner sah zu seiner Mutter auf, und das Staunen über das neue Leben stand ihm deutlich in das erschöpfte Gesicht geschrieben. „Kann ich sie halten?" „Natürlich." Lady Rudland legte ihm das Bündel in die Arme. „Sie gehört dir, weißt du." „Ja, nicht wahr?" Er blickte auf das rosa Gesichtchen hinunter und versetzte ihrer Nase einen kleinen Stups. „Wie geht's? Willkommen auf der Welt, Kätzchen." „Kätzchen?", wiederholte Lady Rudland amüsiert. „Was für ein merkwürdiger Kosename." Turner schüttelte den Kopf. „Nein, gar nicht. Er ist genau richtig." Er sah zu seiner Mutter auf. „Wie lange bleibt sie denn so klein?" „Ach, ich weiß nicht. Ein Weilchen." Sie trat ans Fenster und zog die Vorhänge halb zurück. „Die Sonne geht langsam auf. Olivia hat mir gesagt, dass du es hell im Zimmer haben wolltest." Er nickte, konnte den Blick nicht von seiner kleinen Tochter wenden. Seine Mutter drehte sich wieder zu ihm um. „Übrigens, Turner ... sie hat braune Augen." „Wirklich?" Er sah auf das Baby hinunter, dessen Augen aber geschlossen waren. „Wusste ich es doch." „Nun, an ihrem allerersten Tag auf der Welt würde sie doch nicht gleich ihren Papa enttäuschen, oder?" „Oder ihre Mutter." Turner sah auf Miranda, die immer noch totenbleich war, und drückte das kleine Bündel neuen Lebens fester an sich. Lady Rudland blickte auf die blauen Augen ihres Sohnes, die den ihren so ähnelten, und meinte: „Ich könnte mir vorstellen, dass Miranda auf blaue Augen gehofft hat." Turner schluckte unbehaglich. So lange und so zärtlich hatte Miranda ihn geliebt, und er hatte sie verschmäht. Und nun verlor er sie vielleicht, und sie würde nie erfahren, dass er inzwischen klar erkannt hatte, was für ein Narr er gewesen war. Sie würde nie erfahren, dass er sie liebte. „Wahrscheinlich", sagte er mit erstickter Stimme. „Sie wird eben einfach auf das nächste Kind warten müssen." Lady Rudland biss sich auf die Unterlippe. „Natürlich,
mein Lieber", sagte sie tröstend. „Habt ihr euch schon Gedanken wegen des Namens gemacht?" Überrascht sah er auf. Daran, einen Namen auszusuchen, hatte er noch gar nicht gedacht. „Ich ... Nein, ich habe es vergessen", räumte er ein. „Olivia und ich haben ein paar hübsche Namen ausgesucht. Was hältst du von Julianna? Oder Claire? Ich habe noch Fiona vorgeschlagen, aber Olivia war dagegen." „Miranda würde nie zulassen, dass ihre Tochter auf den Namen Fiona getauft wird", sagte er dumpf. „Sie hat Fiona Bennet immer gehasst." „Dieses kleine Mädchen, das in der Nähe von Haverbreaks wohnt? Das wusste ich nicht." „Das alles ist ohnehin rein theoretisch, Mutter. Ich suche keinen Namen aus, ohne Miranda um ihre Meinung zu fragen." Lady Rudland schluckte. „Natürlich, mein Lieber. Dann . .. dann gehe ich jetzt lieber. Damit du mit deiner Familie ein wenig allein sein kannst." Turner sah zu seiner Frau und dann zu seiner Tochter. „Das ist deine Mama", flüsterte er. „Sie ist furchtbar müde. Dich auf die Welt zu bringen, hat sie sehr viel Kraft gekostet. Ich kann gar nicht verstehen, warum. Du bist doch nicht sehr groß." Um diesen Punkt zu unterstreichen, berührte er eines der winzigen Fingerchen. „Ich glaube nicht, dass sie dich überhaupt schon gesehen hat. Ich weiß aber, dass sie sich das wünscht. Sie möchte dich in die Arme nehmen und dich drücken und küssen. Weißt du, warum?" Ungeschickt wischte er eine Träne weg. „Weil sie dich liebt, darum. Ich möchte wetten, dass sie dich sogar noch mehr liebt als mich. Und ich glaube, mich muss sie schon sehr lieben, weil ich mich nicht immer so benommen habe, wie ich gesollt hätte." Er warf Miranda einen verstohlenen Blick zu, um sich zu vergewissern, dass sie nicht erwacht war, ehe er hinzufügte: „Männer können ganz schöne Esel sein. Wir sind albern, wir sind dumm, und nur selten machen wir die Augen weit genug auf, um all die guten Dinge direkt vor unserer Nase wahrzunehmen. Aber dich sehe ich", fügte er hinzu und lächelte auf seine Tochter hinab. „Und deine Mutter sehe ich auch, und ich hoffe, ihr Herz ist groß genug, um mir ein letztes Mal zu
vergeben. Ich glaube schon. Deine Mama hat ein sehr großes Herz." Das Baby gluckste, was Turner ein verzücktes Lächeln entlockte. „Aha, du stimmst mir also zu. Dafür, dass du erst einen Tag alt bist, bist du schon sehr klug. Andererseits, warum sollte mich das verwundern? Deine Mama ist ja auch sehr klug." Seine Tochter gurrte. „Du schmeichelst mir, Kätzchen. Aber einstweilen belasse ich dich in dem Glauben, dass ich auch klug bin." Er sah zu Miranda hinüber und flüsterte: „Nur wir beide brauchen zu wissen, wie dumm ich gewesen bin." Das Baby machte ein weiteres Babygeräusch, was Turner zu der Ansicht gelangen ließ, dass seine Tochter das klügste Kind von ganz Britannien sein müsse. „Möchtest du deine Mutter kennenlernen, Kätzchen? Hier, ich stelle euch einander vor." Seine Bewegungen waren ein wenig ungeschickt, schließlich hatte er noch nie ein Baby im Arm gehalten, doch irgendwie gelang es ihm, Miranda das Baby in die Arme zu legen. „Na also. Mmmm, ist es da warm, nicht wahr? Ich würde gern den Platz mit dir tauschen. Deine Mama hat ganz weiche Haut." Er streckte die Hand aus und berührte die Wange des Babys. „Nicht so weich wie du allerdings. Du, mein Kleines, bist einfach erstaunlich vollkommen." Das Baby begann zu zappeln, und nach einigen Momenten stieß es ein herzhaftes Geheul aus. „O je", murmelte Turner; er hatte keine Ahnung, was er nun tun sollte. Behutsam nahm er das Kind hoch und legte es sich an die Schulter, wobei er sorgfältig darauf achtete, den Kopf zu stützen, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte. „Na, na, na. Schsch. Sei still. Wird schon wieder gut." All sein Flehen nutzte offensichtlich nichts, denn sie heulte ihm in die Ohren. Es klopfte, und Lady Rudland schaute herein. „Soll ich sie dir abnehmen, Turner?" Er schüttelte den Kopf, unwillig, seine Tochter herzugeben. „Ich glaube, sie hat Hunger, Turner. Die Amme wartet im Nebenzimmer."
„Oh. Natürlich." Leicht verlegen reichte er seiner Mutter das Kind. „Hier." Nun war er mit Miranda allein. Während seiner Wache hatte sie sich kein einziges Mal geregt, abgesehen von dem leichten Heben und Senken ihrer Brust. „Jetzt ist Morgen, Miranda", sagte er, ergriff wieder ihre Hand und versuchte, seine Frau ins Bewusstsein zurückzuschmeicheln. „Zeit aufzuwachen. Willst du? Wenn nicht deinetwegen, dann für mich. Ich bin furchtbar müde, aber du weißt, dass ich nicht schlafen gehen kann, ehe du aufwachst." Doch sie bewegte sich nicht. Sie drehte sich nicht im Schlaf, sie schnarchte nicht, und sie jagte ihm schreckliche Angst ein. „Miranda", sagte er, hörte dabei die Panik in seiner Stimme, „es reicht. Hörst du? Es reicht. Du musst ..." Die Stimme versagte ihm. Er drückte ihre Hand und wandte den Blick ab. Tränen verschleierten ihm die Sicht. Wie sollte er nur ohne sie zurechtkommen? Wie sollte er ganz allein ihre Tochter großziehen? Er wusste ja nicht einmal, welchen Namen er ihr geben sollte. Und das Schlimmste: Wie sollte er mit sich leben, wenn sie starb, ohne ihn je sagen gehört zu haben, dass er sie liebte? Mit neuer Entschlossenheit wischte er die Tränen weg und drehte sich wieder zu ihr um. „Ich liebe dich, Miranda", sagte er laut und hoffte, dass es die Nebel durchdringen würde, selbst wenn sie nicht mehr aufwachte. Seine Stimme wurde drängend. „Ich liebe dich. Dich. Nicht das, was du für mich tust, oder das Gefühl, das ich in unserer Ehe habe. Nur dich." Ihren Lippen entschlüpfte ein Geräusch, so leise, dass Turner zuerst dachte, er hätte es sich eingebildet. „Hast du etwas gesagt?" Erregt suchte er ihr Gesicht ab, suchte nach irgendwelchen Anzeichen, dass sie sich bewegt hatte. Wieder zitterten ihre Lippen, und sein Herz sprang vor Freude. „Wie war das, Miranda? Bitte, sag es noch einmal, ich habe dich beim ersten Mal nicht verstanden." Er brachte sein Ohr ganz nah an ihren Mund. Ihre Stimme war schwach, doch das Wort kam laut und deutlich heraus: „Gut." Turner begann zu lachen, er konnte nicht anders. Typisch
Miranda, auch auf ihrem angeblichen Totenbett vergaß sie ihr Mundwerk nicht. „Du wirst wieder gesund, nicht wahr?" Ihr Kinn bewegte sich nur eine winzige Spur, doch es war eindeutig ein Nicken. Außer sich vor Glück und Erleichterung, rannte er zur Tür und schrie die gute Nachricht hinaus, damit der Rest des Hauses es auch erfuhr. Natürlich kamen daraufhin seine Mutter, Olivia und ein Großteil des übrigen Haushalts den Flur entlanggerannt. „Sie wird wieder gesund", keuchte er, ohne sich daran zu stören, dass sein Gesicht tränennass war, „sie wird wieder gesund." „Turner." Das Wort kam als leises Krächzen vom Bett. „Was ist, meine Liebste?" Hastig lief er zu ihr zurück. „Caroline", sagte sie leise und bot all ihre Kräfte auf, um sich ein Lächeln abzuringen. „Das Kind soll Caroline heißen." Er hob ihre Hand und küsste sie. „Dann also Caroline. Du hast mir ein vollkommenes kleines Mädchen geschenkt." „Du bekommst ja immer das, was du willst", flüsterte sie. Liebevoll blickte er auf sie hinunter; plötzlich wurde ihm klar, was für ein Wunder es war, dass er sie von den Toten zurückbekommen hatte. „Ja", sagte er heiser. „Anscheinend schon." Ein paar Tage später ging es Miranda schon viel besser. Auf ihre Bitte hin war sie in das Schlafzimmer verlegt worden, das sie und Turner in den ersten Monaten ihrer Ehe geteilt hatten. Sie empfand die Umgebung als tröstlich, und außerdem wollte sie ihrem Ehemann zeigen, dass sie sich eine echte Ehe wünschte. Sie gehörten zusammen. So einfach war das. Sie war immer noch ans Bett gefesselt, hatte aber schon viel von ihrer alten Kraft zurückgewonnen, und ihre Wangen glühten rosig gesund. Obwohl das vielleicht auch auf die Liebe zurückzuführen war. Nie zuvor war Miranda so mit Liebe überschüttet worden. Turner brachte keine zwei Sätze über die Lippen, ohne ihr seine Liebe zu beteuern, und Caroline rief in ihnen beiden so viel Liebe hervor, dass es unbeschreiblich war.
Olivia und Lady Rudland verwöhnten sie auch nach Kräften, aber Turner versuchte, ihre Einmischungen auf ein Minimum zu beschränken, denn er wollte seine Frau ganz für sich. So saß er auch an ihrer Seite, als sie eines Tages von einem Schläfchen aufwachte. „Guten Nachmittag", murmelte er. „Wirklich schon Nachmittag?" Sie gähnte herzhaft. „Zumindest nach Mittag." „Liebe Güte, so träge habe ich mich noch nie gefühlt." „Du hast es dir verdient", versicherte er ihr. Seine blauen Augen strahlten vor Liebe. „Jeden Moment." „Wie geht es dem Baby?" Turner lächelte. Diese Frage brachte sie zu Beginn eines jeden Gesprächs unter. „Sehr gut. Sie hat ziemlich kräftige Lungen, muss ich sagen." „Aber sie ist süß, nicht wahr?" Er nickte. „Genau wie ihre Mutter." „Ach, so süß bin ich nicht." Er drückte ihr einen Kuss auf die Nase. „Hinter deinem Temperament schon. Vertrau mir. Ich habe dich gekostet." Sie errötete. „Du bist unverbesserlich." „Ich bin glücklich", korrigierte er sie. „Wirklich und wahrhaftig glücklich." „Turner?" Aufmerksam blickte er auf sie hinab, weil er das leise Zögern gehört hatte. „Was denn, meine Liebste?" „Was ist passiert?" „Ich bin nicht sicher, wie du das meinst." Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, offensichtlich suchte sie nach den passenden Worten. „Warum hast du ... plötzlich ... erkannt ..." „Dass ich dich liebe?" Sie nickte stumm. „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich hatte es schon die ganze Zeit in mir. Ich war nur zu blind, es zu erkennen." Sie schluckte nervös. „War das, als ich beinahe gestorben wäre?" Auch wenn sie nicht recht wusste, warum, aber die Vorstel-
lung, er habe seine Liebe für sie erst erkannt, als sie ihm beinahe entrissen worden wäre, behagte ihr nicht. Er schüttelte den Kopf. „Es war, als du mir Caroline geschenkt hast. Ich habe sie schreien hören, und der Laut war so ... so ... ich kann es nicht beschreiben, aber ich habe sie sofort geliebt. Oh, Miranda, die Vaterschaft ist etwas Unglaubliches. Wenn ich sie in meinen Armen halte ... ich wünschte, du wüsstest, wie es ist." „So ähnlich wie die Mutterschaft, würde ich meinen", erwiderte sie trocken. Er tippte ihr mit dem Zeigefinger an die Lippen. „Schon wieder dieses Mundwerk. Lass mich doch ausreden. Freunde von mir, die auch Kinder haben, haben mir erzählt, wie unglaublich es ist, ein neues Leben geschenkt zu bekommen, welches ein Stück vom eigenen Fleisch und Blut ist. Aber ich ..." Er räusperte sich. „Aber ich habe erkannt, dass ich sie nicht deswegen so liebe, weil sie mein Fleisch und Blut ist, sondern weil sie von dir ist." Mirandas Augen füllten sich mit Tränen. „Oh, Turner." „Nein, lass mich ausreden. Ich weiß nicht, was ich gesagt oder getan habe, um dich zu verdienen, Miranda, aber jetzt, wo ich dich habe, lasse ich dich nicht mehr gehen. Ich liebe dich so sehr." Er schluckte, überwältigt von seinen Worten. „So sehr." „Oh, Turner, ich liebe dich auch. Das weißt du, nicht wahr?" Er nickte. „Ich danke dir dafür. Es ist das kostbarste Geschenk, das ich je bekommen habe." „Wir werden wirklich glücklich sein, nicht wahr?" Sie schenkte ihm ein zittriges Lächeln. „Unbeschreiblich, meine Liebste, unbeschreiblich." „Und wir werden noch mehr Kinder haben?" Seine Miene wurde streng. „Vorausgesetzt, du erschreckst mich nicht noch einmal so sehr. Außerdem ist Abstinenz der sicherste Weg zur Kinderlosigkeit, und ich glaube nicht, dass ich in der Lage wäre, das lange durchzuhalten." Sie errötete, sagte aber auch: „Gut." Er beugte sich vor und gab ihr einen so leidenschaftlichen Kuss, wie er es nur wagte. „Ich sollte dir etwas Ruhe gönnen", meinte er dann und riss sich widerstrebend von ihr los.
„Nein, nein, geh bitte nicht. Ich bin nicht müde." „Bist du sicher?" Welches Entzücken, jemanden zu haben, der so um das eigene Wohlergehen besorgt war. „Ja, ich bin sicher. Aber ich möchte, dass du mir etwas holst. Würdest du das tun?" „Natürlich. Was ist es denn?" Sie deutete mit dem Finger. „Auf dem Schreibtisch in meinem Salon steht eine seidenbezogene Schachtel. Darin liegt ein Schlüssel." Fragend hob Turner die Brauen, tat aber, wie ihm geheißen war. „Die grüne Schachtel?", rief er. „Ja." „Hier ist er." Er kam ins Schlafzimmer zurück und hielt den Schlüssel hoch. „Gut. Wenn du jetzt zu meinem Schreibtisch zurückgehst, findest du in der untersten Schublade einen hölzernen Kasten." Er begab sich wieder in den Salon. „Ah, da ist er ja. Meine Güte, ist der schwer. Was hast du da drin, Backsteine?" „Bücher." „Bücher? Wie können Bücher so kostbar sein, dass du sie wegschließt?" „Es sind meine Tagebücher." Er erschien wieder im Schlafzimmer, den Holzkasten auf beiden Armen. „Du führst Tagebuch? Das wusste ich ja gar nicht." „Es war auf deine Anregung hin." Erstaunt sah er sie an. „Das glaube ich nicht!" „Doch. Es war an dem Tag, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Ich habe dir von Fiona Bennet erzählt und wie ekelhaft sie zu mir war, und du hast mir geraten, ein Tagebuch zu führen." „Wirklich?" „Mmmm-hmmm. Ich weiß noch genau, was du zu mir gesagt hast. Ich habe dich gefragt, warum ich Tagebuch führen sollte, und du hast gesagt: ,Weil du eines Tages in dich hineinwachsen wirst, und dann wirst du ebenso schön sein, wie du jetzt schon klug bist. Und dann kannst du in deinem Tagebuch nachlesen und sehen, wie albern kleine Mädchen
wie Fiona Bennet sind. Und du wirst lachen, wenn du dich daran erinnerst, wie deine Mutter gesagt hat, dass deine Beine schon an den Schultern anfangen. Und vielleicht hast du auch für mich ein kleines Lächeln übrig, wenn du an unser nettes Gespräch heute zurückdenkst.'" Ehrfürchtig starrte er sie an. Bruchstückhaft kehrte die Erinnerung zurück. „Und du hast gesagt, du würdest für mich ein ganz großes Lächeln reservieren." Sie nickte. „Ich habe mir Wort für Wort eingeprägt, was du zu mir gesagt hast. So etwas Nettes hatte zuvor noch niemand zu mir gesagt." „Mein Gott, Miranda", hauchte er ehrerbietig. „Du liebst mich wirklich, nicht wahr?" Sie nickte. „Seit jenem Tag. Hier, bring mir mal den Kasten." Er setzte den Kasten auf dem Bett ab und reichte ihr den Schlüssel. Sie öffnete und zog mehrere Bücher heraus. Manche waren ledergebunden, andere waren mit mädchenhaftem Blümchenstoff bezogen, doch sie griff nach dem schlichtesten, einem kleinen Notizbuch, so ähnlich wie die, die er an der Universität benutzt hatte. „Das hier war das Erste", erklärte sie und blätterte den Umschlag mit ehrfürchtigen Fingern um. „Ich habe dich wirklich die ganze Zeit geliebt. Siehst du?" Er blickte hinunter auf den ersten Eintrag. 2. März 1810 Heute habe ich mich verliebt.
Eine Träne stieg ihm ins Auge. „Ich mich auch, meine Liebste, ich mich auch." - E NDE -