Julian Havil GAMMA
Leonhard Euler (1707–1783) Lest Euler, er ist unser aller Meister. Pierre-Simon Laplace (1749–1827) Euler rechnete ohne irgendeine bemerkliche Anstrengung, so etwa wie der Mensch atmet und der Adler in den Lüften schwebt. Dominique François Jean Arago (1786–1853) Das Studium der Werke Eulers ist und bleibt die beste Schule in den verschiedenen Gebieten der Mathematik und kann durch nichts anderes ersetzt werden. Carl Friedrich Gauß (1777–1855)
Julian Havil
GAMMA Eulers Konstante, Primzahlstrände und die Riemannsche Vermutung Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Stern
Mit 88 Abbildungen und 24 Tabellen
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Julian Havil Winchester College College Street Winchester, SO23 9NA, UK E-mail:
[email protected] Übersetzer:
Manfred Stern Kiefernweg 8 06120 Halle, Deutschland E-mail:
[email protected] Titel der englischen Originalausgabe Gamma – Exploring Euler’s Constant, erschienen bei Princeton University Press, 2003
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Mathematics Subject Classification (2000): 01-01, 01A05, 11-01, 11-03, 11M20, 11M26, 33-01, 33B15
ISBN 978-3-540-48495-0 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Satz: Datenerstellung durch den Übersetzer unter Verwendung eines Springer TEX-Makropakets Herstellung: LE-TEX Jelonek, Schmidt & Vöckler GbR, Leipzig Umschlaggestaltung: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier
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F¨ ur Simon und Daniel, die dieses Buch niemals lesen, aber immer stolz darauf sein werden, daß ich es schrieb, und f¨ ur Graeme, der diesen Stolz teilt, so wie er alles geteilt hat
Ich hatte einmal ein Gef¨ uhl in Bezug auf Mathematik – ich sah sie in ihrer Gesamtheit vor mir. Tiefen und Untiefen offenbarten sich mir – unermeßliche Abgr¨ unde. Ich sah – so wie man den Durchgang der Venus oder auch den Festzug des Lord Mayor sieht – eine Gr¨ oße durch das Unendliche schreiten, wobei sie ihr Vorzeichen von Minus zu Plus wechselte. Ich habe genau gesehen, weshalb das geschah und warum der Gesinnungswandel unvermeidlich war, aber es war nach dem Abendessen, und so beließ ich es dabei. Sir Winston Churchill (1874–1965)
Vorwort
Ich freue mich, diesem Buch Julian Havils einige Zeilen voranstellen zu d¨ urfen. Der Autor unterrichtet Mathematik an dem College, an dem ich vor sechzig Jahren studiert habe. Ich habe mich dort in die Mathematik verliebt und bin seither als professioneller Mathematiker t¨ atig. Das Buch wendet sich nicht an Berufsmathematiker, sondern an mathematikinteressierte Sch¨ uler und Studenten und an ihre Lehrer. Es ist ein anregendes Buch, das den Lesern eine Vorstellung davon vermittelt, wie bezaubernd Mathematik sein kann. Mathematik wird oft f¨ ur schwierig und langweilig gehalten. Viele Menschen meiden das Fach so gut sie k¨ onnen, und das hat dazu gef¨ uhrt, daß ein großer Teil der Bev¨ olkerung zu den mathematischen Analphabeten geh¨ort. Teilweise ist das jedoch auch auf den Umstand zur¨ uckzuf¨ uhren, daß der mathematischen Bildung in unserer Kultur zu wenig Bedeutung beigemessen wird. Auch die Art und Weise, in der die Mathematik in der Ausbildung vorgetragen wird, l¨aßt das Fach oftmals nicht gerade attraktiv erscheinen. Man k¨onnte meinen, die beiden – sowohl in der Schule als auch dar¨ uber hinaus – am meisten verbreitenen Unterrichtsmethoden h¨atten mit ihren Unbilden zur mathematischen Unbildung beigetragen. Die erste dieser Methoden war das Schleifen und Drillen“, bei dem die ” Sch¨ uler und Studenten zwar gut auf Pr¨ ufungen vorbereitet wurden, aber h¨aufig kein wirkliches Verst¨ andnis f¨ ur Mathematik entwickelten. Diese milit¨ arische Methode trug auch kaum dazu bei, ein Gef¨ uhl f¨ ur die Sch¨onheit des Faches zu vermitteln. Von meiner Schulzeit her erinnere ich mich noch an diesen Unterrichtsstil. Der zweite Methode wurde New Math“ genannt und war in Mode, als ” meine eigenen Kinder in die Schule gingen. Die neue Mathematik“ war eine ” Reaktion auf die alte, langweilige und seichte Unterrichtsmethode. Grundlage der neuen Methode war die Vorstellung, daß die Kinder zun¨achst moderne mathematische Begriffe lernen und verstehen sollten, bevor sie sich an die L¨osung praktischer Probleme machten. Daher schlugen sich die Sch¨ uler mit Mengen und Relationen herum, bevor sie die Multiplikation und Division
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Vorwort
beherrschten. Sie erlernten das Vokabular der modernen Mathematik, ohne deren Substanz zu verstehen. Nach einigen Jahren neuer Mathematik“ ging ” es mit der mathematischen Bildung steil bergab. Gibt es vielleicht eine dritte Methode, die erfolgreicher ist? Ich meine, daß es einen solchen vielversprechenden dritten Weg gibt, und Havils Buch zeigt uns, wie man diesen Weg beschreitet. Es ist die historisch-genetische Methode: die praktischen F¨ ahigkeiten, die ein Sch¨ uler oder Student ben¨otigt, werden im Kontext der historischen Entwicklung gelehrt. Havil hat das 18. Jahrhundert zum Kontext gew¨ahlt, und das ist die richtige Wahl. Im 18. Jahrhundert entwickelten sich die Ideen und Kunstgriffe der h¨oheren Mathematik auf nat¨ urliche Weise aus den praktischen Alltagsproblemen. Die ausgepr¨ agten Unterteilungen – in reine und angewandte, abstrakte und konkrete Mathematik – gab es damals noch nicht. Der geniale Leonhard Euler schuf die Sprache und den Stil, auf deren Grundlage sich die Mathematik seither entwickelt hat. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen Euler und die Ideen, die er der Nachwelt hinterließ. Eulers Ideen sind einfach genug, um zug¨ anglich zu sein, und sie sind auch tief genug, um ein Gef¨ uhl f¨ ur die Sch¨ onheit der Mathematik zu vermitteln. Wie es so oft in der Mathematik der Fall ist, er¨offnet sich auch in diesem Buch eine neue Ideenwelt, falls der Leser seinerseits etwas M¨ uhe investiert. Das Buch ist sehr viel mehr als ein Bericht u ¨ber einige innermathematische Themen oder eine Liste von Beispielen f¨ ur das Genie eines Euler. Jeder, der auch nur eine ungef¨ ahre Ahnung davon hat, wie wichtig, interessant und sch¨on die Mathematik ist, wird dieses Buch anregend und sehr vergn¨ uglich finden. Allen, die dieses Buch in die Hand nehmen, sage ich: Genießt es in vollen Z¨ ugen so, wie edlen Wein! Freeman Dyson
¨ Vorwort des Ubersetzers
F¨ ur Zitate, die urspr¨ unglich aus dem Deutschen stammen oder in authen¨ tischer deutscher Ubersetzung vorliegen, habe ich gr¨oßtenteils die deutschen Quellen verwendet. Leider ist es mir nicht in allen F¨allen gelungen, das urspr¨ ungliche deutschsprachige Zitat zu finden. Zu einer Reihe von Namen und Begriffen habe ich erl¨auternde Fußnoten eingef¨ ugt. Außerdem erschien es mir notwendig, in das Literaturverzeichnis eine Reihe von zus¨ atzlichen Quellen aufzunehmen, wobei ich insbesondere deutschsprachige Quellen ber¨ ucksichtigt und zum Teil auch in den laufenden Text eingearbeitet habe. Mit Einverst¨ andnis des Autors habe ich un¨ ubersetzbare humoristische Einlagen nach M¨ oglichkeit so abgewandelt, daß der trockene“ englische Humor ” dennoch durchklingt. F¨ ur das englische Scherzgedicht Die Riemannsche Ver” mutung“ am Ende von Kapitel 16 habe ich eine sinngem¨aße Nachdichtung“ ” verfaßt. Der st¨ andige E-Mail-Kontakt zu Julian Havil hat zur schnellen Kl¨arung von Fragen beigetragen. Ebenso gut und reibungslos verlief der Kontakt zum Springer-Verlag und zu Princeton University Press, wof¨ ur ich Ute McCrory ¨ (Springer-Verlag) danke. Als Pr¨ a-TEX-niker erhielt der Ubersetzer wertvolle Hilfe vom TEX-perten Frank Holzwarth (Springer-Verlag). Andrea K¨ohler von der LE-TEX Jelonek, Schmidt & Voeckler GbR (Leipzig) gab hilfreiche Hinweise zur Gestaltung der Endfassung. F¨ ur physischen und telefonischen technischen 24-Stunden-Service bedanke ich mich bei Gerd Richter (Angersdorf). Dank f¨ ur inhaltliche Ausk¨ unfte und Korrekturen schulde ich Karin Richter (Martin Luther Universit¨ at Halle, Institut f¨ ur Mathematik), Gerhard Betsch (Weil im Sch¨ onbuch) und last but not least“ R¨ udiger Thiele (Universit¨at ” Leipzig, Karl-Sudhoff-Institut f¨ ur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften). Halle an der Saale, Herbst 2006
Manfred Stern
Danksagungen
Der Autor eines Buchs ben¨ otigt Hilfe und Unterst¨ utzung; ein Erstautor braucht beides, und das nicht zu knapp. Ich danke meinen Kollegen Dr. James Hodgins und Fr¨ aulein Coralie Ovenden, die eine fr¨ uhe Form des Typoskripts durchsahen und Passagen aus dem Lateinischen des 18. Jahrhunderts ins Englische des 21. Jahrhunderts u ¨bersetzten. Ich danke Lachlan Mackinnon, einem anderen Kollegen und guten Freund, der Interesse zeigte und sich trotz seiner außerordentlichen beruflichen Beanspruchung als Literat auch Zeit f¨ ur einen Mathematiker nahm und ihm bei einer Reihe von Formulierungen half. Mein Dank geht auch an Charlotte Liu f¨ ur den ansteckenden Enthusiasmus, den sie f¨ ur das Projekt entwickelte, sowie an die Studenten Owen Jones und Andrei Pogonaru, die mutig Fragen stellten und dadurch das Typoskript wesentlich verbesserten. Ferner bedanke ich mich bei den vielen Freunden in meiner Stammkneipe“, dem College Pub Wykeham Arms“, die ein betr¨achtliches ” ” Interesse und großen Enthusiasmus f¨ ur ein Projekt zeigten, das weit von ihren eigenen Welten entfernt ist. Ebenso danke ich denjenigen Kollegen, die Previews und Reviews verfaßten, f¨ ur ihre hilfreichen Kommentare. Mein besonderer Dank gilt Professor Freeman Dyson f¨ ur das Vorwort, das er schrieb, obwohl er so viele andere und wichtigere Dinge zu tun hat. Viele Autoren von Artikeln und B¨ uchern haben mein Hintergrundwissen erweitert; insbesondere habe ich auf die Internetseite Mac Tutor History of Mathematics zur¨ uckgegriffen, wenn ich biographische Details und Angaben ben¨otigte. Das Paket Mathematica hat sich in vielerlei Hinsicht als ebenso n¨ utzlich erwiesen wie die Arbeit von Stan Wagon, der dem Autor durch die Ver¨offentlichung seiner Mathematical Explorer Software und durch sein Buch Mathematica in Action unz¨ ahlige Programmierstunden erspart hat. Mein besonderer Dank gilt dem amerikanischen Mathematiker Norton ¨ Starr f¨ ur seine akribischen Kommentare und Korrekturen sowie dem Ubersetzer Manfred Stern, dessen Sorgfalt zu einer signifikanten Verbesserung der ¨ englischen Version f¨ uhrte. Dem Ubersetzer ist es sogar gelungen, die von Jonathan P. Dowling stammende amerikanische Originalfassung des Scherzgedichtes Die Riemannsche Vermutung“ ( The Riemann Conjecture“) auf S. 250 ” ”
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Danksagungen
ins Deutsche zu u uhrt auch Jonathan Wainwright f¨ ur ¨bertragen. Dank geb¨ seine geduldige und sachkundige Typesetting-Arbeit, bei der er ohne Wider¨ spruch meine st¨ andigen Zus¨ atze und Anderungen zum fertigen“ Typoskript ” akzeptierte. Und schließlich bedanke ich mich bei meinem Herausgeber David Ireland f¨ ur seine ruhige, helfende, diplomatische, bereitwillige und professionelle Herangehensweise; ich kann mir nicht vorstellen, daß alle Herausgeber so gut sind. Das gegen¨ uber dem Titelblatt abgedruckte Portrait Eulers und die Abbildung der Napierschen St¨ abchen auf S. 29 wurden von Ann Ronan, Picture Library, zur Verf¨ ugung gestellt (Copyright Picture Library). Julian R. Havil
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII ¨ Vorwort des Ubersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die logarithmische Wiege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ein mathematischer Albtraum – und ein Erwachen . . . . . . . . . 1.2 Des Barons wunderbarer Kanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ein Hauch Kepler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ein Hauch Euler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Weitere Ideen Napiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 7 10 20 22 26
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Die harmonische Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Eine erzeugende Funktion f¨ u r Hn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Drei u ¨berraschende Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31 31 32 33
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Subharmonische Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ein gem¨ achlicher Start . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Harmonische Primzahlreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Kempnerreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Madelungschen Konstanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 37 38 42 44
4
Zeta-Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Mit einer positiven ganzen Zahl n . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Mit einer reellen Zahl x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zwei abschließende Resultate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 55 56
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Inhaltsverzeichnis
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Der Geburtsort von Gamma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5.1 Ankunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5.2 Niederkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
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Die Gamma-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Exotische Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 . . . weitere sinnvolle Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Gamma trifft Gamma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Komplement und Sch¨ onheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eulers wunderbare Identit¨ at . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7.1 Die Formel, auf die es ankommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 7.2 . . . und ein Hinweis auf ihre N¨ utzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
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Ein erf¨ ulltes Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
9
Was 9.1 9.2 9.3 9.4
ist Gamma . . . exakt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamma existiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gamma ist . . . was f¨ ur eine Zahl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine u ¨berraschend gute Verbesserung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ursprung einer großen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 65 69 69 71
83 83 87 89 93
10 Gamma als Dezimalbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 10.1 Die Bernoullischen Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 10.2 Die Euler–Maclaurinsche Summenformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 10.3 Zwei Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 10.4 Die Implikationen f¨ ur Gamma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 11 Gamma als rationaler Bruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 11.1 Ein R¨atsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 11.2 Ein Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 11.3 Eine Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 11.4 Drei Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 11.5 Irrationale Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 11.6 L¨ osungen der Pellschen Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 11.7 L¨ uckenf¨ uller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 11.8 Die harmonische Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 12 Wo ist Gamma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 12.1 Nochmals zur alternierenden harmonischen Reihe . . . . . . . . . . . 119 12.2 In der Analysis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 12.3 In der Zahlentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 12.4 Bei Vermutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 12.5 Bei Verallgemeinerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Inhaltsverzeichnis
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13 Die Welt ist harmonisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 13.1 Mittelwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 13.2 Geometrische Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 13.3 Musikalische Harmonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 13.4 Rekorde und Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 13.5 Zerst¨ orungspr¨ ufungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 13.6 Durchqueren der W¨ uste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 13.7 Kartenmischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 13.8 Quicksort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 13.9 Sammeln einer vollst¨ andigen Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 13.10 Eine Putnam-Preis-Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 ¨ 13.11 Maximal m¨ oglicher Uberhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 13.12 Wurm auf einem Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 13.13 Optimale Auswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 14 Die Welt ist logarithmisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 14.1 Ein Maß f¨ ur die Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 14.2 Das Benfordsche Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 14.3 Kettenbruchverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 15 Probleme mit Primzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 15.1 Einige schwierige Fragen zu Primzahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 15.2 Ein bescheidener Start . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 15.3 Eine Art Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 15.4 Veranschauliche das Problem! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 15.5 Das Sieb des Eratosthenes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 15.6 Heuristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 15.7 Ein Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 15.8 Die harmonische Approximation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 15.9 Verschieden – und doch gleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 15.10 Es sind wirklich nur zwei Fragen und nicht drei . . . . . . . . . . . . 210 15.11 Tschebyschew ist mit guten Einf¨ allen zur Stelle . . . . . . . . . . . . 211 15.12 Riemann tritt ein, Beweise folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 16 Die Riemannsche Initiative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 16.1 Z¨ ahlen der Primzahlen mit Riemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 16.2 Ein neues mathematisches Werkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 16.3 Analytische Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 16.4 Riemanns Verallgemeinerung der Zeta-Funktion . . . . . . . . . . . . 223 16.5 Eine Funktionalgleichung f¨ ur Zeta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 16.6 Die Nullstellen von Zeta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 16.7 Die Berechnung von Π(x) und π(x) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 16.8 Irref¨ uhrende Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 16.9 Von Mangoldts explizite Formel und der Primzahlsatz . . . . . . . 231 16.10 Die Riemannsche Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
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Inhaltsverzeichnis
16.11 Warum ist die Riemannsche Vermutung wichtig? . . . . . . . . . . . 236 16.12 Reelle Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 16.13 Ein indirekter Weg zur Unsterblichkeit – teilweise verschlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 16.14 Ansporn – damals und heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 16.15 Fortschritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 A
Das griechische Alphabet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
B
Die Gr¨ oßenordnung von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
C
Taylorreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C.1 Grad 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C.2 Grad 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 C.3 Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 C.4 Konvergenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
D
Funktionentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 D.1 Komplexe Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 D.2 Die Weierstraßsche Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 D.3 Komplexe Logarithmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 D.4 Komplexe Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 D.5 Eine n¨ utzliche Ungleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 D.6 Das unbestimmte Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 D.7 Ein folgenreiches Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 D.8 Eine erstaunliche Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 D.9 Taylorreihen – und eine wichtige Folgerung . . . . . . . . . . . . . . . . 275 D.10 Laurentreihen – und eine weitere wichtige Folgerung . . . . . . . . 278 D.11 Residuenkalk¨ ul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 D.12 Analytische Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
E
Anwendung auf die Zeta-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 E.1 Analytische Fortsetzung von Zeta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 E.2 Funktionalgleichung f¨ ur Zeta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Namensverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Einleitung Das Letzte, was man weiß, wenn man ein Buch schreibt, ist das, was man an den Anfang stellen soll. Blaise Pascal (1623–1662)
Es ist verlockend, sich vorzustellen, daß es nur drei spezielle mathematische Konstanten gibt: π, e und i. Tats¨ achlich gibt es aber viele Konstanten – jede hat ihre eigene Definition und entsteht auf nat¨ urliche Weise in einem Teilgebiet der Mathematik. Jede Konstante hat ein spezielles Symbol und auch einen eigenen Namen. Die Konstanten π und e sind kompliziert und bed¨ urfen dieser symbolischen Schreibweise, denn sie haben keine bequeme, endliche numerische Darstellung und auch keine unendliche Darstellung, die einem bestimmten Muster folgt: das Verh¨ altnis des Umfangs eines Kreises zu seinem Durchmesser ist nicht 3, 142 oder 22 7 , sondern 3, 14159 . . . und diese Zahl ist ebenso geheimnisvoll, wie die Funktion (2, 71828 . . .)x , die im Wesentlichen die einzige Funktion ist, die mit ihrer eigenen Ableitung u ¨bereinstimmt. In beiden F¨ allen weisen die drei Punkte auf die Irrationalit¨at dieser Zahlen hin, die sogar transzendent sind. Im Vergleich hierzu ist die Schreibweise von i f¨ ur √ −1 eine angenehme Sache. Die heute im Allgemeinen als Gamma bekannte Zahl wird als die bedeutendste obskure Konstante“ angesehen und ist als ” solche die viertwichtigste spezielle Konstante der Mathematik. Ihr Symbol ist der griechische Buchstabe γ und sie wird f¨ ur immer mit dem Namen des aus der Schweiz stammenden Genies Leonhard Euler (1707–1783) verbunden sein. Der Wert 0, 5772156 . . . von γ mutet nicht besonders einnehmend an, und die drei Punkte am Schluß sollen ebenfalls etwas u ¨ber die Natur dieser Zahl andeuten – aber im Gegensatz zur Beschaffenheit der obengenannten ber¨ uhmten Konstanten π und e sind diese Andeutungen bislang bloße Vermutungen: wir wissen immer noch nicht, ob die Konstante γ eine rationale oder eine irrationale Zahl ist. In diesem Buch loten wir γ aus und das bedeutet zwangsl¨aufig auch eine Erkundung der Logarithmen und der harmonischen Reihe, denn deren Wechselbeziehung veranlaßte Euler, seine Konstante als 1 1 1 1 γ = lim 1 + + + + · · · + − ln n n→∞ 2 3 4 n
2
Einleitung
zu definieren, wobei ln der allgegenw¨ artige Logarithmus naturalis“ ist, das ” heißt der Logarithmus zur Basis e. Dessen diskretes Gegenst¨ uck ist die harmonische Reihe 1 1 1 1 + + + ··· + , 2 3 4 n die in der mathematischen Literatur einen weniger propagierten Platz einnimmt. Mitte der 1970er Jahre kamen die tragbaren, batteriebetriebenen Rechner mit Mikrochips auf den Markt. Diese Rechner waren relativ preiswert und bedeuteten das Ende der Logarithmentafeln und des Rechenschiebers als Rechenhilfsmittel. Dennoch u ¨berrascht es kaum, daß die Logarithmen auch weiterhin in der Mathematik auftreten. Jeder, der sich mit der Differential- und Integralrechnung besch¨ aftigt hat, begegnet den Logarithmen hin und wieder – wahrscheinlich beim Integral gewisser Funktionen oder bei der zur Exponentialfunktion inversen Funktion, wobei e und π st¨andig um die Vorherrschaft“ ” wetteifern. Logarithmen k¨ onnen auch ohne Vorwarnung in Situationen auftreten, die weitab von ihrem Einflußgebiet zu liegen scheinen. Und wenn sie auftreten, dann u ¨ben sie – wie wir sehen werden – an unerwarteten Stellen eine u ¨berraschende Kontrolle aus. Wir werden uns auch davon u ¨berzeugen, daß die harmonische Reihe und andere verwandte Reihen ein ausgepr¨agtes Eigenleben f¨ uhren. Das Buch zerf¨ allt auf nat¨ urliche Weise in zwei Teile: die Kapitel 1–11 k¨ onnten als Theorie“ beschrieben werden und der Rest als Praxis“. ” ” Im Theorie“-Teil befassen wir uns mit Definitionen und einigen Folge” rungen, mit Approximationsmethoden und in gewissem Maße auch damit, die restlichen Kapitel vorzubereiten. Wir sehen uns zun¨achst die seltsame Art und Weise an, in der die Logarithmen anfangs definiert wurden. Diese Definition offenbart die gewaltigen intellektuellen Anstrengungen, die aufgeboten werden mußten, um die Multiplikation auf die Addition zur¨ uckzuf¨ uhren – eine aus der alten Welt stammende Idee, die dazu beitrug, eine neue Welt zu errichten. Wir diskutieren die harmonische Reihe mit ihren drei seltsamen Eigenschaften und kommen anschließend auf Spezialf¨ alle und Verallgemeinerungen dieser Reihe zu sprechen, bevor wir uns die Definition von γ ansehen. Wir u ¨berzeugen uns dann davon, daß diese Zahl tats¨ achlich existiert, und geben N¨aherungsverfahren zur Bestimmung ihres Wertes an, wobei wir sowohl dezimale“ als auch ” gebrochene“ Methoden verwenden. Wir beweisen ein nahezu unglaubliches ” Ergebnis u ¨ber teilerfremde ganze Zahlen und eine Identit¨at von Euler, die der Schl¨ ussel zu den modernen Untersuchungen u ¨ber Primzahlen ist. In den sp¨ ateren Kapiteln, die der Praxis“ gewidmet sind, sehen wir uns ” oglichkeiten an, unter denen die drei Objekte, die Gegenstand uneinige der M¨ serer Aufmerksamkeit sind, in der Mathematik und in gewissem Maße auch in ihren Anwendungen auftreten k¨ onnen. Wir sprechen u ¨ber die verschiedenen Rollen von γ in der Analysis und in der Zahlentheorie und sehen uns einige Beispiele f¨ ur das u ¨berraschende Auftreten der harmonischen Reihe und der Hn = 1 +
Einleitung
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Logarithmen an. Das Finale besteht aus einer weiteren Anwendung der Logarithmen, aber diese Anwendung bezieht sich auf den Primzahlsatz und auf die Riemannsche Vermutung1 und nimmt deswegen eine Sonderstellung ein. Unsere Reise f¨ uhrt zwangsl¨ aufig zu einer Mathematik, die einer ernsthaften ” ¨ Uberlegung wert“ ist, wie Euler in Bezug auf γ sagte. Zu dieser Mathematik geh¨ oren vor allem der ber¨ uhmte Primzahlsatz und die Ehrfurcht gebietende Riemannsche Vermutung. Der Primzahlsatz z¨ ugelt“ das launenhafte ” Verhalten der Primzahlen. Die Riemannsche Vermutung – das bedeutendste ungel¨ oste Problem der heutigen Mathematik – f¨ ugt dieser Kontrolle der Primzahlen eine Finesse hinzu: die Frage nach den Nullstellen einer Funktion, die keine zu haben scheint. Wie schwierig ist die Mathematik? Das ist nat¨ urlich eine subjektive Frage. Ich bin nicht vor der Verwendung von Symbolen zur¨ uckgeschreckt, denn andernfalls w¨ are es nur m¨ oglich gewesen, u ¨ber Mathematik zu reden, anstatt sie tats¨ achlich zu betreiben. Dennoch verwenden wir nur wenige wirklich fortgeschrittene Techniken; vielmehr sind es zumeist einfache Ideen, die wir an einigen Stellen in fortgeschrittener Weise verwenden. In der Mathematik wird zwischen den u ucken elementar“ und einfach“ ¨blicherweise synonymen Ausdr¨ ” ” unterschieden: elementar“ bedeutet, daß keine sehr tiefgr¨ undigen mathema” tischen Kenntnisse vorausgesetzt werden; mit einfach“ ist hingegen gemeint, ” daß keine u aßigen mathematischen F¨ ahigkeiten erforderlich sind. In die¨berm¨ sem Sinne ist der Inhalt des Buches h¨ aufig elementar, aber stellenweise nicht ganz einfach. Der Leser sollte sich mit Bleistift und Papier bewaffnen – Mathematik ist kein Zuschauersport! Meine Herangehensweise ist in angemessener Strenge gehalten, aber informell, denn dieses Buch ist kein Lehrbuch. Vielmehr handelt es sich um ein Kontextbuch“, und der Leser ist angehalten, sich ” nicht nur mit der Mathematik, sondern auch mit den betreffenden Mathematikern und mit der Zeit zu befassen, in der sich die Dinge abspielten. Mitunter gehe ich hierauf ausf¨ uhrlicher ein, manchmal aber auch nur auf einigen wenigen Zeilen, denn das Buch ist auch kein mathematikgeschichtliches Werk. Wichtig ist die Feststellung, daß Mathematik von Mathematikern geschaffen wird. Deswegen war ich bestrebt, auch die auftretenden Personen zumindest andeutungsweise zu beschreiben und ein Gef¨ uhl daf¨ ur zu vermitteln, wie sich ihre Ideen im Laufe der Zeit entwickelt haben. Ein Teil des letzten Kapitels, in dem es um die Riemannsche Vermutung geht, f¨ allt nicht in die Kategorie elementar“, denn in diesem Kapitel ben¨oti” gen wir Begriffe und Resultate aus der Funktionentheorie, insbesondere die ur diejenigen Lekomplexe Differentiation und Integration. Dieser Teil sollte f¨ ser kaum problematisch sein, die mit den betreffenden Ideen bereits vertraut sind. Weniger eingeweihte Leser bekommen da vielleicht erst einmal einen Schreck. Ist das der Fall, dann k¨ onnten sie die besagten Stellen einfach ignorieren – besser jedoch ist es, mehr u ¨ber diese wunderbaren und leistungsstarken Konstruktionen herauszufinden. Anhang D ist ein Crash Course“ zu ” 1
Keine dieser beiden Aussagen wird im vorliegenden Buch bewiesen!
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Einleitung
einigen Aspekten der Theorie der komplexen Funktionen. Die Riemannsche Vermutung ist – wie wir schon bemerkt hatten – das ber¨ uhmteste ungel¨oste Problem der Mathematik, und deswegen ist es nicht u ¨berraschend, daß der Sachverhalt weder elementar“ noch einfach“ ist. Sollte dieses Kapitel bei ei” ” nigen Lesern den Appetit anregen, sich eingehender mit Cauchys großartiger Erfindung zu besch¨ aftigen, dann ist unsere Darstellung schon allein deswegen vollauf gerechtfertigt. Wir hoffen, daß das Material eine Reihe von Lesern anspricht, die bereits etwas u uhrung ¨ber Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik wissen, eine Einf¨ in die Differential- und Integralrechnung hatten und vielleicht auch etwas u ¨ber Algebra geh¨ ort haben (falls es so etwas im Lehrplan u ¨berhaupt noch gibt). Wir wenden uns an motivierte Sch¨ uler der Oberstufe, die vielen Ideen erstmalig begegnen werden, an Universit¨ ats- und Fachschulstudenten, die einen m¨oglicherweise trockenen Vorlesungsstoff beleben und auflockern m¨ochten, und wir wenden uns an Lehrer, denen wir hier vielleicht die Synthese einiger sch¨oner Ideen vermitteln. Aber wir wenden uns auch an diejenigen, die sich lange nicht mehr mit Mathematik besch¨ aftigt haben und sich wieder in Erinnerung rufen m¨ ochten, was sie an dieser Wissenschaft so faszinierend fanden. Der Leser wird beurteilen k¨ onnen, in welchem Maß dieses Buch sein Ziel erreicht hat, interessante Mathematik auch interessant zu erkl¨aren. Im Buch treten die Namen vieler Mathematiker auf – Namen, die jeden in Erstaunen versetzen sollten, der sich f¨ ur Mathematik und ihre Geschichte interessiert. Mehr als alle anderen Namen wird jedoch der Name Euler zu lesen sein. Das liegt nicht so sehr daran, daß wir uns auf die Reise durch ein mathematisches Gebiet begeben, welches das seinige“ ist. Der Grund ist ” vielmehr, daß es schwierig, wenn nicht gar unm¨oglich ist, sich mit irgendeiner mathematischen Teildisziplin n¨ aher zu befassen, ohne seinen Einfluß zu sp¨ uren. Auf Euler geht zum Beispiel ein Teil der Notation zur¨ uck, die wir heute als selbstverst¨ andlich betrachten; hierzu geh¨ o ren insbesondere die Be zeichnungen e, i, f (x), , ∆, sin x, cos x und andere. Von Euler stammt auch die standardm¨ aßige Beschriftung von Dreiecken: wird eine Seite mit einem Kleinbuchstaben beschriftet, dann erh¨ alt die der Seite gegen¨ uberliegende Ecke den entsprechenden Großbuchstaben. Es ist schwierig, zu ermitteln, wieviele wichtige Ideen mit Eulers Namen verbunden sind; es f¨allt sogar schwer, aufzuz¨ ahlen, wieviele Begriffe und S¨ atze seinen Namen tragen. Er erfand zahlreiche wichtige Begriffe und streifte alle damals bekannten Teilgebiete – und alles, was er ber¨ uhrte, wurde zu Gold. Nach R. Calinger ([25]) umfassen Eu” lers B¨ ucher und Memoirs, von denen bislang 873 erfaßt worden sind, ungef¨ahr ein Drittel des gesamten Forschungskomplexes zur Mathematik und Mechanik, der in der Zeit von 1726 bis 1800 herausgegeben worden ist“. Die Opera Omnia, Eulers Gesammelte Werke, bestehen gegenw¨artig aus 74 B¨anden zu je 300 bis 600 Seiten; die letzte Serie ist noch nicht abgeschlossen und wird noch mindestens sieben weitere B¨ ande umfassen. Euler“ im Stichwortverzeichnis ” eines Mathematikbuches oder eines Werkes zur Geschichte der Mathematik
Einleitung
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kann eine frustrierende“ Erfahrung f¨ ur das Auge sein, denn mitunter treten ” listenm¨ aßige Zusammenstellungen auf, die etwa mit den Eintr¨agen Euler-Faktor, Euler-Lagrange-Gleichung, Euler-Maclaurinsche Summenformel, Euler-Mascheroni-Konstante, Euler-Polynome, Euler-Produkt, Euler-Reihe, Eulersche Charakteristik, Eulersche Differentialgleichung, Eulersche Folge, Eulersche Formeln, Eulersche Gerade, Eulerscher Graph, Eulersche Identit¨ at, Eulersche Knicklast, Eulersche ϕFunktion2 , Eulersche Polyederformel usw. beginnen, denen sich Dutzende weitere Eintr¨ age anschließen. Der Begriff Genie“ ist durch starke intellektuelle Kr¨afte, instinktive und ” ” außerordentlich einfallsreiche und kreative F¨ ahigkeiten“ definiert worden. Eine u aßige Verwendung dieses Begriffes verw¨assert aber nur dessen Bedeu¨berm¨ tung oder stellt die Urteilsf¨ ahigkeit eines Autors infrage. Wir haben jedoch dieses Wort bereits verwendet und riskieren, es bei weiteren Anl¨assen zu ver¨ wenden, insbesondere im Zusammenhang mit Euler. Unsere Uberzeugung ist: W¨ urde man ihn und viele andere nicht als Genie bezeichnen, dann d¨ urfte man niemanden so nennen. F¨ ur die Mehrheit der Menschen ist Eulers Name vermutlich ebenso geheimnisvoll, wie seine Konstante. Er hauchte Leben in γ durch seine Zeta-Funktionen (die Verallgemeinerungen von Hn ), deren Summierung zu einem langj¨ ahrigen Problem werden sollte, das die Analytiker zur Verzweiflung trieb – bis Eulers unglaubliche L¨osung diesem ein Ende setzte. Euler und seine Vorl¨ aufer, aber auch einige seiner Nachfolger, f¨ uhren uns in Zeiten zur¨ uck, die weit von unserer heutigen Hektik des publish or pe” rish“ entfernt sind. Aus diesem Grund ist es oft ganz und gar nicht leicht, Priorit¨ aten festzustellen. H¨ aufig handelt es sich hierbei eher um eine Notiz an einen Zeitgenossen oder um einen aufgeschriebenen Kommentar; weniger oft sind es Artikel in einem gelehrten Journal, und sogar dann k¨onnte es sein, daß dieser Artikel viele Jahre nach dem tats¨ achlichen Durchbruch erschienen ist. Die Kontroverse zwischen Newton und Leibniz um die Erfindung der Infinitesimalrechnung gilt als ber¨ uchtigtes Beispiel f¨ ur die Probleme, zu denen es kommen kann. Wir hoffen, der Leser hat Verst¨andnis daf¨ ur, daß unsere Geschichte nicht immer vollst¨ andig ist; ebenso hoffen wir auch auf Zustimmung, wenn wir eine unvollst¨ andige Darstellung zumindest als repr¨asentativ betrachten. Dr. Urs Burckhardt, der Pr¨ asident der Euler-Kommission der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft, hat folgende Worte geschrieben: Eu” ler wurde durch seine B¨ ucher, die sich durchweg durch das Streben nach h¨ ochster Klarheit und Einfachheit auszeichnen und die die ersten wirklichen Lehrb¨ ucher im modernen Sinn darstellen, zum f¨ uhrenden Lehrer, nicht nur im Europa seiner Zeit, sondern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein“. Euler ist zu weit von uns entfernt, als daß wir ihn erreichen oder auch nur deutlich sehen k¨ onnen. Dennoch wirken die M¨ uhen und Frustrationen auf dem Weg zu 2
F¨ ur den Goldenen Schnitt verwenden wir in diesem Buch die Bezeichnung φ.
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Einleitung
einem neuen Verstehen der alten Ideen auf wundervolle Weise belebend und anregend und erinnern uns an die alte Weisheit Lehrend lernen wir“ – un” abh¨ angig davon, ob es sich um das gesprochene oder um das geschriebene Wort handelt. Wir hoffen, daß der Leser unseren Enthusiasmus bei unseren kurzen Ausfl¨ ugen teilt – bei Ausfl¨ ugen in andere L¨ ander und Jahrhunderte, in Biographien und mathematische Arbeiten, in die Geschichte eines bedeutenden Teils der Mathematik und in das Leben einiger außerordentlicher Mathematiker.
1 Die logarithmische Wiege Der Nutzen dieses Buches ist sehr groß, mein lieber Freund, Ganz gleich, wie bescheiden es aussieht, Studieren Sie es sorgf¨ altig und Sie werden finden, Daß es so viel gibt, wie tausend große B¨ ucher. John Napier (1550–1617)
1.1 Ein mathematischer Albtraum – und ein Erwachen In unserer Zeit, in der das Wort Computer“ keinen Menschen1 , sondern ei” ne Maschine bezeichnet und Berechnungen von phantastischer Komplexit¨at routinem¨ aßig und blitzschnell ausgef¨ uhrt werden, scheinen nunmehr Schwierigkeiten und Hindernisse fernab zu liegen, die mit gew¨ohnlicher Arithmetik zu tun haben. Und tats¨ achlich sind diese Schwierigkeiten heute dem Blickfeld entr¨ uckt. Die Technologie hat die Mathematik von den Fesseln des Rechnens befreit, und wir nehmen das einfach als selbstverst¨andlich hin, obwohl diese Freiheit erst vor kurzem errungen wurde. Noch Mitte der 1970er Jahre benutzte man zur Durchf¨ uhrung von Berechnungen, die u ¨ber die elementarsten Rechenoperationen hinausgingen, mechanische Rechenmaschinen, Rechenschieber oder Logarithmentafeln – und die Benutzer waren dankbar daf¨ ur. Im fr¨ uhen 17. Jahrhundert gab es noch kein einziges dieser Hilfsmittel. Zwar war es eine Zeit gewaltigen wissenschaftlichen Fortschritts auf vielen Gebieten, aber die zunehmend schwierigere Handhabung der elementaren Arithmetik f¨ uhrte auch zu frustrierenden Hindernissen. Mit der Addition und der Subtraktion kam man noch einigermaßen zurecht. Aber wie ließen sich die weitaus schwierigeren Aufgaben der Multiplikation und der Division vereinfachen? Von den wichtigen, aber ungeheuer komplizierten Verfahren des Wurzelziehens wollen wir gar nicht erst reden. Die alten Zivilisationen hatten das Problem bereits in Angriff genom¨ men. Es ist zum Beispiel bekannt, daß die Babylonier ein Aquivalent von 1
Das Wort Computer“ taucht zum Beispiel 1704 in einer Satire von Jonathan ” Swift (1667–1745) auf, in der er u ¨ber moderne Gelehrte spottet, die im Unterschied zu den antiken weder lesen noch denken, sondern alles nur sammeln. Sie studieren B¨ ucher von hinten, bl¨ attern bloß in Zusammenfassungen und Registern und machen daraus viele weitere B¨ ucher. Swift behauptet, das von einem ve” ry skillful Computer“ zu wissen (vgl. A. Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Berlin (2004), [15]).
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1 Die logarithmische Wiege
¨ stellte – zusamab = 14 ((a + b)2 − (a − b)2 ) verwendeten. Dieses Aquivalent men mit einer Tafel der Quadrate – eine Rechenhilfe bereit. Das 16. Jahrhundert brachte raffiniertere Ideen mit sich, insbesondere den unwahrscheinlichen Kunstgriff der trigonometrischen Identit¨ aten, die das Geistesprodukt der beiden Mathematiker Wittich (1555(?)–1587) und Clavius (1537–1612) sind. ¨ Uberall in Europa wurden verschiedene Beziehungen zwischen den trigonometrischen Definitionen entdeckt. Zum Beispiel ist bekannt, daß Fran¸cois Vieta (1540–1603) neben anderen Formeln auch die Formel sin x cos y = 12 (sin(x + y) + sin(x − y))
(1.1)
abgeleitet hat, wobei der Sinus eines Winkels die L¨ange der Halbsehne eines Kreises bedeutete (vgl. Abb. 1.1), das heißt der Sinus hing vom Radius des definierenden Kreises ab. Trotz der Schwierigkeiten waren umfangreiche Tabellen der trigonometrischen Funktionen mit einer Genauigkeit von 12 oder mehr Dezimalstellen verf¨ ugbar (obwohl sie als ganze Zahlen geschrieben wurden, denn man w¨ ahlte eine große ganze Zahl als L¨ange des Zirkelradius). Die sorgf¨ altige Aufstellung dieser Tabellen war durch praktische Probleme der Navigation, des Kalenders und der Astronomie motiviert – und wurde durch die Genialit¨ at von Wittich und Clavius f¨ ur andere Zwecke ins Werk gesetzt.
tan D D
sin D
cos D
Abb. 1.1. Die mittelalterliche Sicht auf die trigonometrischen Funktionen
Die Identit¨ at (1.1) konnte in Verbindung mit trigonometrischen Tafeln und der Methode des Skalierens dazu verwendet werden, die Multiplikation auf die Addition und die Subtraktion (sowie auf die Division durch 2) zur¨ uckzuf¨ uhren – eine Technik, die unter dem Namen Prosthaphairesis“ 2 bekannt geworden ” ist. Die Division konnte auf ganz ¨ ahnliche Weise gehandhabt werden, indem man Identit¨ aten f¨ ur den Sekans und den Kosekans benutzte. Man setzte dieses karge Hilfsmittel u ¨berall dort ein, wo es bekannt wurde, und nirgendwo wurde es effektiver angewendet, als in den europ¨ aischen Observatorien – vor allem 2
Das griechische Wort prosthaphairesis“ bedeutet Zu-Abnahme“. Genauere ” ” Erl¨ auterungen findet man z. B. in der Geschichte der Elementarmathematik von Tropfke ([143]).
1.1 Ein mathematischer Albtraum – und ein Erwachen
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in der ber¨ uhmten Sternwarte Uraniborg ( Himmelsburg“) auf der Insel Hven, ” wo der schwedisch-d¨ anische k¨ onigliche Hofastronom Tycho Brahe (1546–1601) lebte und wirkte. Und hier kam es zu einer romantischen Geschichte, die einen gl¨ ucklichen Zufall mit sich brachte. Im Jahre 1590 segelte Jakob VI., K¨onig von Schottland, der sp¨ ater als Jakob I. den englischen K¨onigsthron bestieg, nach D¨ anemark, um dort Anne von D¨ anemark zu treffen, seine zuk¨ unftige Frau. Sein Arzt Dr. John Craig begleitete ihn. Entsetzliches Wetter hatte die Gesellschaft gezwungen, auf Hven zu landen, ganz in der N¨ahe von Tycho Brahes Sternwarte. So war es nur allzu nat¨ urlich, daß der große Astronom die vornehme Gesellschaft unterhielt, bis sich das Wetter aufkl¨arte. Dabei ließ es sich Brahe auch nicht nehmen, den Notgelandeten das Verfahren der Prosthaphairesis zu vorzuf¨ uhren. Dr. Craig war Schotte und hatte einen besonderen Freund, der in der N¨ ahe von Edinburgh lebte: es handelte sich um einen gewissen John Napier. John Napier, der Baron von Merchiston, glaubte, der Weltuntergang w¨ urde zwischen 1688 und 1700 stattfinden und ver¨ offentlichte diese seine Meinung anno 1593 in der polemischen Schrift A Plaine Discovery of the Whole Revelation of St. John, die gegen den Katholizismus gerichtet war. Napiers Hauptthese beinhaltete, daß der Papst der Antichrist sei. Das Buch hatte 21 Auflagen, 10 davon erschienen zu Lebzeiten Napiers. Deswegen war sein Glaube einigermaßen gerechtfertigt, daß dieses Werk sein gr¨oßter Anspruch auf den Ruhm der Nachwelt sei, falls es denn u ¨berhaupt eine solche geben sollte. Beide Prognosen erwiesen sich nat¨ urlich als falsch: weder ging die Welt unter, noch wurde seiner Polemik die bleibende Erinnerung der Nachwelt zuteil. Ber¨ uhmt wurde Napier hingegen durch seine Logarithmentafel ( Kanon der Logarith” men“) und durch die beiden Erl¨ auterungen hierzu, die 1614 erschienene Descriptio und die 1619 postum ver¨ offentlichte Constructio. Napier war ein stark engagierter Protestant, aber er war kein Spinner“. Neben seinen Beitr¨agen ” zu den allt¨ aglichen religi¨ osen und politischen G¨arungsprozessen fand er sogar noch Zeit, seine ausgedehnten G¨ uter effizient zu verwalten sowie prophetiur Kriegsmaschinen zu entwickeln, sche und u ¨berraschend exakte Konzepte f¨ zum Beispiel f¨ ur Waffen, die wir heute als Maschinengewehre, Panzer und U-Boote bezeichnen w¨ urden. Und nicht zuletzt nahm sich Napier nat¨ urlich auch noch die Zeit, Mathematik zu studieren. Das private Manuskript De ” Arte Logistica“, das erst 1839 herausgegeben wurde, gew¨ahrt einen Einblick in seine mathematischen Interessen, zu denen das Studium der Gleichungen ¨ und sogar Uberlegungen zu imagin¨ aren Zahlen sowie allgemeine Methoden zum Ziehen von n-ten Wurzeln geh¨ oren. Die Beziehung zwischen dem arithmetischen und dem geometrischen Verurden, war seit halten, die wir heute in der Form an × am = an+m schreiben w¨ dem Altertum bekannt. Das geht (f¨ ur positive ganze Zahlen m und n) zum Beispiel aus den Babylonischen Tafeln hervor und findet sich auch im Sandrechner des Archimedes von Syrakus (278–212 v. Chr.), auf den wir sp¨ater auf S. 109 noch zur¨ uckkommen werden. In dieser Abhandlung, die seinem Verwandtem, dem K¨ onig Gelon von Syrakus gewidmet war, entwickelte Archimedes eine
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1 Die logarithmische Wiege
systematische Methode zur Darstellung von beliebig großen Zahlen, wobei er die Anzahl der im bekannten Universum vorhandenen Sandk¨orner als handfeste große Zahl verwendete. Diese Arbeit liefert einen ersten Hinweis auf die Natur der Logarithmen. Die obige Identit¨ at u uhrt auf ihre eigene Weise die ¨berf¨ Multiplikation in eine Addition. Napier wußte durch seinen Freund, daß mit Findigkeit und Einfallsreichtum eine bessere Rechenhilfe m¨oglich war. Also legte er seine arithmetischen und algebraischen Studien beiseite und trachtete danach, das Schicksal der zeitgen¨ ossischen Wissenschaftler zu lindern, wobei er die besagte Eigenschaft der Exponenten verwendete. Zwanzig Jahre sp¨ater stellte sich der Erfolg ein. Im Vorwort zur Descriptio schrieb Napier: Wir sehen (liebe Studiosi der Mathematik), daß es nichts gibt, was in der mathematischen Praxis schwieriger ist und die Calculatoren in der That mehr molestiert und behindert, als die Multiplicationen und Divisionen großer Zahlen sowie die Extraction von quadratischen und cubischen Wurzeln aus großen Zahlen. Denn diese Operationen nehmen nicht nur einen u aßigen Zeitaufwand in Anspruch, sondern ¨berm¨ f¨ uhren ihrerseits meistentheils auch zu vielerlei gef¨ahrlichen Fehlern. Aus diesem Grunde habe ich damit begonnen, geistige Betrachtungen zu dem Zwecke anzustellen, mit Hilfe welcher sicheren und schnell griffbereiten Kunst ich diese Hindernisse beseitigen k¨onnte. Und nachdem ich zu diesem Behufe u ¨ber zahlreiche Dinge nachgedacht hatte, fand ich schließlich einige ganz excellente kurze Regeln, die vielleicht anschließend behandelt werden m¨ ogen. Aber unter all diesen ist keine mehr gewinnbringend als die, welche uns nicht nur von den schwierigen und erm¨ udenden Multiplicationen, Divisionen und Radicierungen, sondern auch von der Arbeit selbst befreit. Sogar die Zahlen selbst, die zu multipliciren, dividiren und zu radiciren sind, werden durch andere Zahlen ersetzt, die genau soviel leisten, und zwar allein durch Addition und Subtraction, Division durch zwei oder Division durch drei ...
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon Wir wollen den Weg Napiers ein wenig nachverfolgen und kommentieren einen kleinen Teil der zweiten Ver¨ offentlichung Constructio mirifici logarithmorum canonis 3 , die u blicherweise verk¨ urzt als Constructio bezeichnet wird. ¨ Die Arbeit beginnt mit 60 numerierten Paragraphen, in denen Napier seinen Ansatz erl¨ autert, eine eingeschr¨ ankte Logarithmentafel pr¨asentiert und dar¨ uber hinaus Anweisungen erteilt, wie man umfassendere Tafeln erstellen kann. 3
In englischer Sprache unter dem Titel The Construction of the Wonderful Canon of Logarithms erschienen ([103]).
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon
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(1) Eine Logarithmentafel ist eine kleine Tafel, mit deren Hilfe wir durch außerst leichte Calculatio Kenntnisse u ¨ ¨ber alle geometrischen Dimensionen und Bewegungen im Raum erlangen k¨onnen. Dieser erste Satz zeigt Napiers Interesse an den praktischen Anwendungen der Logarithmen, insbesondere an deren N¨ utzlichkeit f¨ ur Astronomen wie Tycho Brahe, mit dem er in dieser Zeit korrespondierte. Obwohl Napiers Kunstwort Logarithmus“ 4 im Titel auftritt, verwendete er im Text den Begriff numerus ” ” artificialis“ ( k¨ unstliche Zahl“) und f¨ ur Logarithmentafel“ schrieb er tabula ” ” ” artificialis“. Die Tafel wird ganz zu Recht als sehr klein bezeichnet, da sie in Bezug auf ihre Gr¨ oße eine Sinustafel nicht u ¨berschreitet; ¨außerst leicht sind die Calculationen deswegen, da die Tafel s¨ ammtliche Multiplicationen, Divisionen und die noch complizirteren Ausziehungen5 der Wurzel vermeidet; denn nur durch einige wenige und u ¨ber alle Maßen leichte Additionen, Subtractionen und Divisionen durch zwei mißt die Tafel ganz allgemein alle Zahlen und Bewegungen. Im Text verweist Napier auf die Bescheidenheit“ des Bandes und erl¨autert ” die arithmetischen Vorteile der Verwendung von Logarithmen, aber er bezieht sich hier nur auf das Ziehen der Quadratwurzeln. Es werden Zahlen ausgew¨ ahlt, die in gleichm¨aßiger Progression voranschreiten. Das ist ein Hinweis auf die Methode. (2) Bei den gleichm¨ aßigen Progressionen spricht man von einer arithmetischen Progression, falls sie in gleichen Intervallen zunimmt; von einer geometrischen Progression spricht man, falls sie in ungleichen und proportional zunehmenden oder abnehmenden Intervallen fortschreitet ... Das ist seine Definition der arithmetischen Folge und der geometrischen Folge. Nach dieser Definition gibt Napier einige Beispiele. (3) Bei diesen Progressionen fordern wir Genauigkeit und M¨ uhelosigkeit in Bezug auf die Handhabung. Genauigkeit wird dadurch erzielt, daß man große Zahlen als Basis verwendet; aber große Zahlen kann man durch kleine Zahlen am leichtesten dadurch generiren, indem man ciphers“ hin” zuf¨ ugt. Anstelle von 100 000, die von den weniger Erfahrenen zum gr¨oßten Sinus gemacht wird, setzt folglich der Erfahrenere die Zahl 10 000 000, wodurch die Differenz aller Sinus besser ausgedr¨ uckt wird. Weswegen auch 4
5
Aus l´ ogou arithm´ os“ (Verh¨ altniszahl), eine Zusammensetzung der griechischen ” W¨ orter l´ ogos“ (hier: Verh¨ altnis) und arithm´ os“ (Zahl). ” ” Vgl. A. G. K¨ astner, Geschichte der Mathematik seit der Wiederherstellung der Wissenschaften bis an das Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Dritter Band. G¨ ottingen 1799 ([76]).
12
1 Die logarithmische Wiege
wir dasselbe f¨ ur den Radius und f¨ ur die gr¨oßte unserer geometrischen Proportionalen verwenden. Unter cipher“ versteht man eine Null und wenn man diese rechts an eine Zahl ” dranh¨ angt, dann nimmt tats¨ achlich die Gr¨ oße der Zahl zu. Um die Verwendung von Bruchteilen zu vermeiden, war es u ¨blich, die Einheiten zu wechseln“ ” (so wie man Millimeter anstelle von Meter verwendet). Der gr¨oßte Sinus“ ist ” ◦ der Radius des Kreises, der f¨ ur α = 90 in Abb. 1.1 erreicht wird und Na7 pier w¨ ahlt diesen zur Darstellung von 10 Einheiten, anstatt daf¨ ur nur 105 Einheiten zu nehmen. (4) Bei der Berechnung von Tafeln k¨ onnen diese großen Zahlen noch gr¨oßer gemacht werden, indem man nach der Zahl einen Dezimalpunkt6 schreibt und weitere Nullen hinzuf¨ ugt. Bei Beginn der Berechnung von 10 000 000 nehmen wir folglich 10 000 000.000 000 0, damit auch nicht der kleinste Fehler durch h¨ aufige Multiplication sehr groß wird. Hier best¨ atigt er die Gefahren der Akkumulation von Rundungsfehlern und f¨ uhrt die Verwendung des Dezimalpunktes ein, um mit diesen Fehlern zurechtzukommen. Seine Idee ist, daß die Zwischenrechnungen so genau wie m¨oglich sein sollten, auch wenn der letzte Logarithmus auf eine ganze Zahl gerundet wird. Die Erweiterung des hinduistischen Stellenwertsystems durch die Einf¨ uhrung von Dezimalbr¨ uchen war eine der begrifflichen und bezeichnungsrelevanten Schwierigkeiten der Mathematik und eine ihrer wichtigsten Entwicklungen. Im Jahr 1530 verwendete Christoph Rudolff (ca. 1500–1550) eine Form von Dezimalbr¨ uchen in einer ver¨ offentlichten Sammlung von arithmetischen √ Beispielen; er war es auch, der in der Mathematik das Wurzelzeichen f¨ ur die Quadratwurzel einf¨ uhrte. Dennoch war es anerkanntermaßen der vielseitige holl¨ andische Kaufmann, Ingenieur, Mathematiker und Physiker Simon Stevin (1548–1620), der sich wohl mehr als jeder andere vor ihm f¨ ur den Gebrauch der Dezimalstellen einsetzte: 1585 ver¨ offentlichte er in seiner Abhandlung De Thiende ( Der zehnte Teil“) die erste bekannte systematische Darstellung der ” Regeln zur Handhabung der Dezimalstellen. Seine Ideen erreichten schnell ein weitaus gr¨ oßeres Publikum, denn das Werk wurde schon bald aus dem Holl¨ andischen ins Franz¨ osische u ¨bersetzt und erschien unter dem Titel La Disme mit folgendem Untertitel: Unterweisung, wie man alle gesch¨aftsm¨aßi” gen Berechnungen unter alleiniger Nutzung ganzer Zahlen und ohne die Hilfe von Br¨ uchen durchf¨ uhrt“. Es handelt sich mehr um eine Brosch¨ ure als um ein Buch und anhand der ganz ausgezeichneten Einf¨ uhrung k¨onnen wir feststellen, wie Napiers Ideen mitschwingen. 6
Anstelle des Napierschen Dezimalpunktes verwendet man in Kontinentaleuropa ein Dezimalkomma. Jedoch ist zu beachten, daß man in den fr¨ uheren deutschen Logarithmentafeln bei den Logarithmen die Kennziffer von der Mantisse h¨ aufig durch einen Punkt getrennt hat. Erst bei sp¨ ateren Logarithmentafeln wurde die Kennziffer von der Mantisse ebenfalls meistens durch ein Komma getrennt.
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon
13
Simon Stevin gr¨ ußt ganz allgemein alle Astrologen, Landvermesser, Tapisserievermesser, Inspectoren, Raumvermesser sowie alle M¨ unzamtleiter und Kaufleute. Jemand, der den geringen Umfang dieses Buchs mit Ihrer Gr¨oße – meine ehrenwertesten Herren, denen das Werk gewidmet ist – vergleicht, wird meine Idee f¨ ur absurd halten, besonders wenn er sich vorstellt, daß die Gr¨ oße dieses B¨ andchens im gleichen Verh¨altnis zur menschlichen Unwissenheit steht, wie dessen N¨ utzlichkeit zu den Eigenschaften von M¨ annern mit Ihren hervorragenden F¨ahigkeiten ... Was also wird hier dargelegt? Ein wunderbare Erfindung? Wohl kaum. Vielmehr geht es um eine so einfache Sache, daß sie die Bezeichnung Erfindung“ schwerlich verdient; denn es ist so, als ob irgendein dum” mer Dorfr¨ upel ohne jegliches Findergeschick zuf¨alligerweise auf einen großen Schatz gestoßen ist. Falls irgendjemand denkt, daß ich mich beim Darlegen der N¨ utzlichkeit von Dezimalzahlen meiner Klugheit r¨ uhme, dann zeigt der Betreffende ohne jeden Zweifel, daß er weder das Urteilsverm¨ ogen noch die Intelligenz besitzt, um einfache Dinge von schwierigen zu unterscheiden, oder daß er ansonsten eifers¨ uchtig auf eine Sache ist, die dem Gemeinwohl dient. Wie dem auch immer sein mag: ich werde es nicht verabs¨ aumen, die N¨ utzlichkeit dieser Zahlen sogar in Anbetracht der leeren Verleumdung dieses Mannes zu erw¨ ahnen. Aber gerade so, wie ein Seefahrer, der zuf¨alligerweise eine unbekannte Insel gefunden hat, all deren Reicht¨ umer dem K¨onig kundtun kann – zum Beispiel, die sch¨ onen Fr¨ uchte, die gef¨alligen Ebenen, die wertvollen Minerale usw. –, ohne der T¨auschung bezichtigt zu werden, genauso kann auch ich – ohne mich st¨andig meiner Leistungen zu r¨ uhmen – frei und offen von der großen N¨ utzlichkeit dieser Erfindung sprechen, von einer N¨ utzlichkeit n¨ amlich, die meiner Meinung nach gr¨ oßer ist als alles, was nur irgendjemand von Ihnen vorausahnt. Seine Schreibweise variierte von sehr unhandlich“ bis angemessen umst¨and” ” ur 3, 142 schrieb er zum Beispiel 3 ⊙1⊙4⊙2⊙, 3/142 oder 3142 . Napier lich“, f¨ war bei seiner eigenen Schreibweise nicht konsistent, aber seine Verwendung des Dezimalpunktes in der Constructio f¨ uhrte zumindest zu einer gewissen Standardisierung; auch heute noch schreiben die Amerikaner u ¨blicherweise 3.142, die Kontinentaleurop¨ aer 3,142 und die Engl¨ander 3·142. Ganz gewiß ist die Dezimalzahlschreibweise der Bruchschreibweise u ¨berlegen, wenn es darum geht, Gr¨ oßen zu vergleichen und Tafeln aufzustellen. Und es waren Napiers Logarithmentafeln, die am meisten dazu beitrugen, diese entscheidende Initiative zu popularisieren. (5) Bei Zahlen, die einen zwischen ihren Ziffern stehenden Dezimalpunkt aufweisen, bezeichnet also der nach dem Punkt befindliche Anteil einen Bruch, in dessen Nenner soviele Nullen stehen, wie nach dem Punkt Stellen angegeben sind.
14
1 Die logarithmische Wiege 4 ... Folglich ist 10 000 000.04 dasselbe wie 10 000 000 100
In der urspr¨ unglichen Descriptio werden die Dezimalbr¨ uche nicht explizit verwendet. In der Constructio gibt Napier weitere Beispiele zur Bedeutung der Dezimalschreibweise. Als n¨ achstes interessiert uns Abschnitt (25) N¨ ahert ein sich geometrisch bewegender Punkt einem festen Punkt und bleiben hierbei seine Geschwindigkeiten proportional zu seinen Abst¨anden von diesem festen Punkt ... ¨ Hieran schließt sich eine l¨ angere Ausf¨ uhrung an, die sich auf ein Aquivalent von Abb. 1.2 bezieht. In dieser Ausf¨ uhrung beweist Napier folgende Aussage: Startet ein Punkt P bei A und bewegt sich stetig derart in Richtung B, daß BPr :BPr+1 konstant ist (daher bewegt sich der Punkt geometrisch“), dann ” ist diese Konstante gleich dem Verh¨ altnis der Geschwindigkeiten Vr und Vr+1 des Punktes bei Pr und Pr+1 , das heißt Vr :Vr+1 = BPr :BPr+1 . Zum Beweis betrachtete Napier die Bewegung von P u ¨ber gleiche Zeitintervalle der L¨ ange t. Dabei approximierte er implizit die u ¨ber jedem Intervall variierende Geschwindigkeit durch deren Wert im jeweiligen Startpunkt – so wie wir es zum Beispiel bei schrittweisen L¨osungen von Differentialgleichungen machen. Unter Verwendung der heutigen Schreibweise nehmen wir an, daß sich der Punkt P zu irgendeinem Zeitpunkt in der Position Pr befindet und daß er sich nach einer gewissen festen Zeit t in der Position Pr+1 befindet. Nach Anwendung der obengenannten Approximation ergibt sich BPr = BPr+1 + Pr Pr+1 = BPr+1 + Vr t. Aus BPr+1 :BPr = k folurlich gen BPr = kBPr + Vr t und Vr = (1/t)(1 − k)BPr . Das bedeutet nat¨ Vr+1 = (1/t)(1 − k)BPr+1 und somit Vr+1 :Vr = BPr+1 :BPr , was zu zeigen war. In gewissem Sinne bewegte sich Napier hier mit der Anspielung auf die Augenblicksgeschwindigkeit“ auf einem subtilen mathematischen Unter” grund, denn dieser Begriff sollte erst siebzig Jahre sp¨ater von Newton behandelt werden.
A
P1
P2
Pr
Pr + 1
B
Abb. 1.2.
(26) Der Logarithmus eines gegebenen Sinus ist diejenige Zahl, die arithmetisch u ¨berall mit derselben Geschwindigkeit zugenommen hat, mit welcher der Radius begann, geometrisch abzunehmen, und gleichzeitig hat der Radius so abgenommen, daß er den gegebenen Sinus erreicht. In diesem entscheidenden Abschnitt definiert Napier seine Version des Logarithmus. Zun¨ achst nimmt Napier (wir beziehen uns auf Abb. 1.2) f¨ ur AB den
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon
15
asentiert die m¨oglichen Werte von sin α ausRadius“ der L¨ ange 107 und repr¨ ” gehend von B durch Abst¨ ande l¨ angs der Strecke, wobei er 107 mit A und 0 mit B identifiziert. Der Punkt P startet bei A und bewegt sich in Richtung B mit einer Geschwindigkeit, die numerisch gleich seinem Abstand von B ist. Das bedeutet, daß die Anfangsgeschwindigkeit des Punktes gleich 107 und seine Endgeschwindigkeit gleich 0 ist (obgleich es unm¨oglich ist, das zu realisieren). Der Schl¨ ussel zu dieser Sache besteht darin, daß Napier eine zweite Gerade einf¨ uhrte, um die Bewegung eines weiteren Punktes Q darzustellen, der gleichzeitig mit P von einem Ursprung O aus startet, sich aber stetig mit einer konstanten Geschwindigkeit von 107 bewegt (vgl. Abb. 1.3). Napier definiert nun folgendermaßen eine Menge von Punkten Qr l¨angs dieser zweiten Geraden: Qr ist der Punkt, der von Q genau dann erreicht wird, wenn P die Stelle Pr erreicht. Nach Voraussetzung sind die Zeitintervalle gleich und Q bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit. Hieraus folgt, daß die Intervalle zwischen den Qr alle gleich lang sind und die Bewegung des Punktes arithme” tisch“ ist. Nunmehr werden die OQr als die Logarithmen der entsprechenden BPr definiert, und wir dr¨ ucken diesen Sachverhalt durch OQr = NapLog(BPr ) aus.
O
Q1
Q2
Q3
Qr
Abb. 1.3.
Die Implikationen aller angedeuteten Dinge werden klarer, wenn wir damit anfangen, Napiers Logarithmentafel zu konstruieren. Im ersten Zeitintervall t bewegt sich P nach P1 , wobei BP1 = 107 − AP1 = 7 10 − 107 t = 107 (1 − t) und die Geschwindigkeit des Punktes u ¨ber das gesamte Intervall durch die Anfangsgeschwindigkeit 107 des Punktes approximiert wird. W¨ ahrend dieser Zeit bewegt sich Q nach Q1 , wobei OQ1 = 107 t, ur daß heißt NapLog107 (1 − t) = 107 t. Die Wiederholung dieser Analyse f¨ das n¨ achste Zeitintervall liefert BP2 = 107 − AP2 = 107 − (AP1 + P1 P2 ) = 107 −107 t−V1 t = 107 (1−t)−V1 t. Nun verwenden wir das Ergebnis des vorhergehenden Abschnitts und erhalten V1 :107 = BP1 :107 . Das wiederum impliziert V1 = BP1 = 107 (1 − t), das heißt BP2 = 107 (1 − t) − 107 (1 − t)t = 107 (1 − t)2 . Wegen OQ2 = 107 × 2t = 2(107 t) haben wir NapLog{107 (1 − t)2 } = 2(107 t). Das Verfahren wird auf diese Weise fortgesetzt. Tats¨achlich nimmt Napier alt dann t = 1/107 und erh¨ 1 1 NapLog 107 1 − 7 = NapLog(9 999 999) = 1, 10 2 1 7 NapLog 10 1 − 7 = NapLog(9 999 998) = 2 10
16
1 Die logarithmische Wiege
und allgemein r 1 NapLog 107 1 − = r, 107
r ∈ N.
Unter Verwendung der Tatsache, daß die Bewegung stetig ist, folgt weiter L 1 7 NapLog 10 1 − 7 = L f¨ ur jedes positive L. 10 Der letzte Abschnitt, den wir betrachten, ist (27) Falls Nichts der Logarithmus des Radius ist ... BA = 107 ist der Radius“ und mit P = A, Q = O gilt NapLog(107 ) = 0. ” Man kann sich das Verfahren so vorstellen, daß man Potenzen von (1 − 1/107 ) betrachtet, also Potenzen einer Zahl, die nahe bei 1 liegt. Hieraus folgt, daß die Potenzen nahe beieinander liegen und daß die Interpolation zwischen ihnen vergleichsweise exakt ist; der Faktor 107 eliminiert die Dezimalen. In der Constructio gibt Napier dann Interpolationsverfahren zum Auff¨ ullen der L¨ ucken l¨ angs AB. Insbesondere notiert er, daß das geometrische Mittel zweier Zahlen dem arithmetischen Mittel ihrer Logarithmen entspricht. Ist n¨amlich L1 = NapLog N1 und L2 = NapLog N2 , dann hat man 7
N1 = 10
1 1− 7 10
L1
,
L2 1 N2 = 107 1 − 7 , 10 L1 L2 1 1 × 107 1 − 7 N1 × N2 = 107 1 − 7 10 10 (L1 +L2 )/2 1 = 107 1 − 7 10 und somit
√ NapLog ( N1 × N2 ) = 21 (L1 + L2 ).
Man sieht leicht ein, daß ein weiteres wichtiges Konstruktionsmerkmal zutrifft: Gilt N1 :N2 = N3 :N4 , dann folgt NapLog(N1 ) − NapLog(N2 ) = NapLog(N3 ) − NapLog(N4 ). ¨ Eine kleine Variation der Uberlegung zeigt die N¨ utzlichkeit der Logarithmen als Rechenhilfe: L1 L2 1 1 × 107 1 − 7 N1 × N2 = 107 1 − 7 10 10
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon
17
L1 +L2 1 = 107 × 107 1 − 7 10 impliziert
L1 +L2 N 1 × N2 1 7 1 − = 10 107 107
und somit NapLog
N1 × N 2 107
= L1 + L2 = NapLog N1 + NapLog N2 ,
und das vertraute multiplikative Gesetz der Logarithmen tritt hier in einer modifizierten, aber immer noch n¨ utzlichen Form auf und unterscheidet sich nur durch die Position des Dezimalkommas: die Multiplikation ist in eine Addition transformiert worden. Napier bemerkte, daß es dieser – durch seine Logarithmen erf¨ ullte – funktionale Zusammenhang“ gestattet, den Logarith” mus einer beliebigen ganzen Zahl mit Hilfe der Logarithmen der Primfaktoren dieser Zahl zu berechnen. Daher treten die Primzahlen in vielen seiner B¨ ucher an vorderster Stelle auf. Da die L¨ ucken ausgef¨ ullt wurden, konnte die Multiplikation einer viel gr¨ oßeren Menge von Zahlen in eine Addition transformiert werden und der wunderbare Kanon“ als die bedeutsame Rechenhilfe ” betrachtet werden, die er tats¨ achlich war. F¨ ur immer wird Napiers Name als Entdecker der Logarithmen in Erinnerung bleiben. Er hat eine neue Br¨ ucke geschlagen, welche die Probleme der Multiplikation und der Division mit den Problemen der Addition und Subtraktion verband; die Prostaphairesis war nunmehr den Kinderschuhen entwachsen. Leider ist der Name des Schweizers Jost B¨ urgi (1552–1632) fast vollst¨andig angig von Napier hatte B¨ urgi dieselbe Idee, in Vergessenheit geraten.7 Unabh¨ wobei sich seine Methode nur in den Details von dem Napierschen Verfahren unterscheidet. B¨ urgi, der ber¨ uhmteste Uhrmacher seiner Zeit, verfertigte auch astronomische und mathematisches Instrumente, insbesondere ein h¨aufig verwendetes Instrument zum perspektivischen Zeichnen. B¨ urgi war mit Johannes Kepler (1571–1630) in Prag bekannt geworden und beide hatten einander urgi hatte seine Methode erst 1620 unter dem TiAnregungen gegeben.8 B¨ tel Aritmetische und Geometrische Progress-Tabulen sambt gruendlichem ” unterricht, wie solche nuetzlich in allerley Rechnungen zugebrauchen und verstanden werden sol“ ver¨ offentlicht, obwohl klar ist, daß er seine Ideen bereits 7
8
E. Vollmy hat 1948 die Kurzbiographie Jost B¨ urgi und die Logarithmen ([146]) verfaßt. Eine kurze Geschichte der Logarithmentafel findet man in Schl¨ omilch ([119]). Kepler wurde in der Freien Reichsstadt Weil geboren, die seit dem 19. Jahrhundert Weil der Stadt heißt. Der Ort liegt etwa 30 km westlich von Stuttgart am Nordrand des Landkreises B¨ oblingen. Auf dem Marktplatz von Weil der Stadt steht ein Denkmal Keplers, das August von Kreling anl¨ aßlich des 300. Geburtstags von Johannes Kepler schuf. Auf dem Denkmalssockel sind einige andere ber¨ uhmte Pers¨ onlichkeiten dargestellt, darunter Kopernikus, Tycho Brahe und Jost B¨ urgi.
18
1 Die logarithmische Wiege
1588 hatte. Aber erst 1707 wurde ein anderer Schweizer geboren, der nicht nur auf dem Gebiet der Logarithmen, sondern auch in fast allen anderen Zweigen der Mathematik seine unausl¨ oschliche Spur hinterlassen sollte: Leonhard Euler. Die Descriptio beginnt mit dem Vers, den wir diesem Kapitel vorangestellt hatten. Dieser Vers demonstriert in direkter und am¨ usanter Form die optimistische Einstellung, die Napier zu seiner Erfindung hatte. Und tats¨achlich l¨oste das Werk ein unmittelbares und anhaltendes Lob aus, das auf u ¨berzeugende Weise in den Worten von John Keill (1672–1721), Fellow of The Royal Society ur Astronomie in Oxford, zum Ausdruck kommt: und Savilian-Professor9 f¨ uher zu ihrem Vortheile betr¨achtlich entDie Mathematick10 wurde fr¨ wickelt; erstens durch die Einf¨ uhrung der indischen Zahlzeichen und danach durch die Erfindung der Dezimalbr¨ uche; doch hat sie seitdem mindestens ebenso viel von der Erfindung der Logarithmen profitiert, wie von den beiden anderen Erfindungen. Jeder weiß, daß sich der betreffende Nutzen in gr¨ oßtem Maße auf alle Teile der Mathematick erstreckt. Mit dem Mittel der Logarithmen erweist es sich, daß sich fast unendlich viele Zahlen, die ansonsten unbrauchbar w¨aren, rasch und mit Leichtigkeit handhaben lassen. Mit ihrer H¨ ulfe steuert der Seefahrer sein Schiff, untersucht der Geometer die Natur von h¨oheren Kurven, bestimmt der Astronom die Position der Sterne und erkl¨art der Philosoph weitere Ph¨ anomene der Natur; und schließlich berechnet der Wucherer damit die Zinsen seines Geldes. Die Arbeit fand die besondere Zustimmung von Henry Briggs (1561–1630). Briggs wurde 1596 der erste Professors f¨ ur Geometrie am Londoner Gresham ur College und 1620 in Oxford der erste Inhaber des Savilian-Lehrstuhls11 f¨ Geometrie. Sp¨ ater werden wir G. H. Hardy begegnen, der diesen ber¨ uhmten Lehrstuhl ungef¨ ahr 300 Jahre sp¨ ater innehatte – und ihn als Preis f¨ ur die L¨ osung eines Problems in Aussicht stellte! Briggs interessierte sich insbesondere f¨ ur die Untersuchung von Sonnen- und Mondfinsternissen und ganz allgemein f¨ ur Rechenhilfsmittel. Napiers Ideen waren also ein nat¨ urlicher Bezugspunkt f¨ ur Briggs, und in einem Brief vom 10. M¨arz 1615 schrieb er an seinen Freund James Ussher: ... g¨ anzlich besch¨ aftigt mit der pr¨ achtigen Erfindung der Logarithmen, die in der letzten Zeit entdeckt wurden ... Napper12 , Lord of 9
10 11
12
Benannt nach dem englischen Astronomen und Mathematiker Sir Henry Savile (1549–1622). Im englischen Original The Mathematicks ...“. ” Henry Savile gr¨ undete 1619 zwei Lehrst¨ uhle in Oxford. Er wollte damit den Mißstand abstellen, daß ... in England die Geometrie fast vollst¨ andig unbekannt ist ” und im Stich gelassen wird“. F¨ ur Napier findet man u.a. auch die Schreibweisen Neper und Napper.
1.2 Des Barons wunderbarer Kanon
19
Markinston, hat mit seinen neuen und bewundernswerten Logarithmen meinem Kopf und meinen H¨ anden Arbeit verschafft. Ich hoffe, ihn diesen Sommer zu sehen, so es Gott gef¨allt, denn noch nie bin ich einem Buch begegnet, das mir besser gefiel oder mich mehr zum Staunen anregte. Das Treffen fand in jenem Sommer statt und Briggs war einen Monat lang Napiers Gast. Die n¨achste Begegnung folgte 1616. Napiers Tod im April 1617 verhinderte eine weitere geplante Zusammenkunft. Im Laufe der Zeit diskutierten sie Varianten des Logarithmenbegriffs und Briggs stimmte dem Vorschlag Napiers zu, daß 0 zum Logarithmus von 1 und 100 000 &c zum Logarithmus ” des Radius gemacht werden sollte“. In der Constructio folgt ein Anhang von Briggs, der die Ver¨ offentlichung der Londoner Ausgabe besorgte. Der Anhang ¨ trug den Titel Uber die Konstruktion einer anderen und besseren Art von ” Logarithmen, n¨ amlich einer Art, bei welcher der Logarithmus der Einheit 0 ist“ 13 . Nach diesem wichtigen Schritt schrieb er im ersten Abschnitt ... und ” 10 000 000 000 als der Logarithmus von entweder einem Zehntel der Einheit oder dem Zehnfachen der Einheit. Die endg¨ ultige Form war noch nicht gefunden. Am Ende war es schließlich so, daß 0 der Logarithmus von 1 und 1 der Logarithmus von 10 wurde. Auf diese Weise entstanden die Logarithmentafeln, die in den n¨ achsten 350 Jahren verwendet werden sollten: die Briggsschen Logarithmen. Mit Napiers Verfall und Tod fiel es Briggs zu, die neuen Tabellen zu berechnen, und bereits 1617 ver¨ offentlichte er die Logarithmorum Chilias Prima, das heißt die Logarithmen der nat¨ urlichen Zahlen von 1 bis 1000. Im Jahre 1624 publizierte er die ungeheuer detaillierte Arithmetica Logarithmica. In diesem Werk entwickelte er viel umfassendere Tabellen und formulierte Hilfsmittel zur Berechnung und Nutzung ganzer Klassen von Logarithmen. Nat¨ urlich blieben L¨ ucken bestehen, und die Berechnungen, die zum Schließen dieser L¨ ucken erforderlich waren, erwiesen sich oft als undurchf¨ uhrbar. Edward Wright, der Napiers Arbeit aus dem Lateinischen ins Englische u ¨bersetzt hatte, bemerkte bei einer Gelegenheit, daß das Auffinden des Logarithmus einer Zahl mitunter schwieriger war, als die Ausf¨ uhrung der Berechnung ohne Logarithmen! Briggs schlug sogar vor, die Logarithmen von Teams berechnen zu lassen und bot die Bereitstellung von Papierb¨ ogen an, die eigens f¨ ur diesen Zweck gestaltet waren. Interessant ist auch die Feststellung, daß das Multiplikationszeichen ד ” erstmalig in aufgezeichneter Form in einem anonymen Anhang zu Edward ¨ Wrights Ubersetzung der Descriptio (1618) auftritt. Man nimmt an, daß dieser Anhang der Feder von William Oughtred (1574–1660) entstammt, der den Rechenschieber erfunden hat.
13
On the Construction of another and better kind of Logarithms, namely one in ” which the Logarithm of unity is 0“.
20
1 Die logarithmische Wiege
1.3 Ein Hauch Kepler Es ist nicht u ¨berraschend, daß die Astronomie eines derjenigen Gebiete war, in dem die Logarithmen ihre unmittelbarste und wichtigste Anwendung fanden. Als Tycho Brahe 1601 starb, erhielt Johannes Kepler dessen Stelle. Er trat damit nicht nur das Erbe der renommierten Position seines Meisters an, sondern bekam auch dessen umfangreiche Daten, die unglaublich genau waren. Das half Kepler, seinen Krieg gegen den Mars“ zu f¨ uhren – einen Krieg, ” den er schließlich gewann, indem er seine ersten beiden Gesetze der Planetenbewegung herausfilterte. 1. Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. 2. Der Radiusvektor“ 14 u ¨berstreicht in gleichen Zeiten gleiche Fl¨achen. ” Kepler ver¨ offentlichte 1609 seine Ergebnisse, die sich auf den Mars bezogen, in der Astronomia Nova und verallgemeinerte die Resultate sp¨ater auf die anderen Planeten. Seine Vermutung, daß es ein einfaches Gesetz u ¨ber den Zusammenhang zwischen der Umlaufzeit und der Bahngr¨oße eines Planeten gibt, blieb viele Jahre lang nur ein Verdacht. Kepler ¨außerte sich hierzu wie folgt15 : Am 8. M¨ arz dieses Jahres 1618, wenn man die genauen Zeitangaben w¨ unscht, ist sie16 in meinem Kopf aufgetaucht. Ich hatte aber keine gl¨ uckliche Hand, als ich sie der Rechnung unterzog, und verwarf sie als falsch. Schließlich kam sie am 15. Mai wieder und besiegte in einem neuen Anlauf die Finsternis meines Geistes, wobei sich zwischen meiner siebzehnj¨ ahrigen Arbeit an den Tychonischen Beobachtungen und ¨ ¨ meiner gegenw¨ artigen Uberlegung eine so treffliche Ubereinstimmung ergab, dass ich zuerst glaubte, ich h¨ atte getr¨aumt und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt. Allein es ist ganz sicher und stimmt vollkommen, dass die Proportion, die zwischen den Umlaufszeiten irgend zweier Planeten besteht, genau das Anderthalbfache der Proportion der mittleren Abst¨ ande, d.h. der Bahnen selber, ist, wobei man jedoch beachten muss, dass das arithmetische Mittel zwischen den beiden Durchmessern der Bahnellipse etwas kleiner ist als der l¨ angere Durchmesser.17 (Wenn man also von der Umlaufszeit z.B. der Erde, die ein Jahr betr¨ agt, und von der Umlaufszeit des Saturn, die 30 14 15
16 17
Damit ist der Strahl Sonne–Planet gemeint. ¨ J. Kepler, Weltharmonik. Ubersetzt und eingeleitet von Max Caspar. R. Oldenbourg Verlag, M¨ unchen 1990 ([78]). Drittes Kapitel des f¨ unften Buches, S. 291. Damit ist die wahre Proportion“ gemeint. ” Fußnote von Kepler: Denn ich habe in meinem Marswerk Kap. 48, S. 232 bewie” sen, daß dieses arithmetische Mittel entweder geradezu gleich dem Durchmesser des Kreises, der der L¨ ange nach gleich der Bahnellipse ist, oder aber ein ganz klein wenig kleiner ist“.
1.3 Ein Hauch Kepler
21
Jahre betr¨ agt, den dritten Teil der Proportion, d.h. die Kubikwurzeln nimmt und von dieser Proportion das Doppelte bildet, indem man jene Wurzeln ins Quadrat erhebt, so erh¨ alt man in den sich ergebenden Zahlen die vollkommen richtige Proportion der mittleren Abst¨ande der Erde und des Saturn von der Sonne. Denn die Kubikwurzel aus 1 ist 1, das Quadrat hievon 1. Die Kubikwurzel aus 30 ist etwas gr¨oßer als 3, das Quadrat hievon also etwas gr¨ oßer als 9. Und Saturn ist in seinem mittleren Abstand von der Sonne ein wenig h¨oher als das Neunfache des mittleren Abstands der Erde von der Sonne.) Er hatte das Ergebnis 1619 in seiner Harmonice Mundi in einem sp¨aten, aber wichtigen Zusatz zum Buch niedergeschrieben, das bereits im Druck war, als er die Beziehung T ∝ D3/2 entdeckte.18 Mit anderen Worten: Die Quadrate ” der Umlaufzeiten verschiedener Planeten verhalten sich wie die Kuben der durchschnittlichen Abst¨ ande des Planeten von der Sonne“. Wie ist es Kepler gelungen, das Gesetz zu entdecken? Das ist nicht eindeutig dokumentiert, aber Kepler hatte 1616 die Descriptio gelesen und die Logarithmen h¨atten ihm bestimmt geholfen, das versteckte Muster zu erkennen. In moderner Schreibweise w¨ urde eine graphische log T -log D-Darstellung die Gerade von Abb. 1.4 ergeben: im R¨ uckblick ist alles ganz offensichtlich! Man erkennt D m¨ uhelos als die L¨ ange der großen Halbachse der elliptischen Umlaufbahn. Die folgende kleine Rechnung best¨atigt das. Unter Bezugnahme auf Abb. 1.5 haben wir aufgrund der Ellipsendefinition die Beziehung x + y = 2a und somit
Abb. 1.4. Die log–log Darstellung offenbart das dritte Keplersche Gesetz 18
Das Zeichen ∝ steht f¨ ur proportional zu“. ”
22
1 Die logarithmische Wiege
P x
. S
T
y
.
. a
O
Abb. 1.5. Die elliptische Umlaufbahn eines Planeten
2π
(x + y) dθ =
2π
2a dθ = 4πa.
0
0
Es gilt demnach
2π
x dθ +
2π
2π
y dθ = 2
0
0
2π
x dθ = 4πa. 0
Deswegen hat der mittlere Abstand des Planeten von der Sonne den Wert 1 2π
0
x dθ =
2πa = a. 2π
Wie auch immer die Sachlage beim dritten Keplerschen Gesetz gewesen sein mag: es ist sicher, daß Kepler 1628 Logarithmen f¨ ur die Aufstellung seiner Rudolphinischen Tafeln“ (Tabulae Rudolphinae) verwendete, bei denen ” es sich um ein astronomisches Tabellenwerk f¨ ur die Berechnung der Gestirnspositionen handelt; das Werk wurde 1626/27 gedruckt. In der Tat enthalten die Rudolphinischen Tafeln“ Keplers eigene Form der Logarithmen mit acht” stelliger Genauigkeit. Pierre Simon Laplace (1749–1827) sagte von den Logarithmen, daß sie durch die Verk¨ urzung der Arbeit das Leben der Astronomen ” verdoppeln.“ Das ist eine poetisch formulierte und ungenaue, aber gleichzeitig auch eine ungeheuer aufschlußreiche Beobachtung.
1.4 Ein Hauch Euler Aus heutiger Sicht mutet Napiers Logarithmenansatz seltsam an. Seine Logarithmen sind durch die Bewegungen von Punkten definiert, es gibt keine Basis und der Logarithmus von 10 000 000 war urspr¨ unglich 0. Alles in allem scheinen sie weit weg von dem zu sein, wof¨ ur wir sie heute halten. Insbesondere werden sie ja auch schon lange nicht mehr f¨ ur den Zweck verwendet, f¨ ur den sie eigentlich erfunden worden waren, n¨ amlich als Rechenhilfe. Dennoch gab es einen fr¨ uhen Hinweis auf das, was wir als logarithmisches Verhalten
1.4 Ein Hauch Euler
23
bezeichnen w¨ urden. Vor 1636 hatten n¨ amlich Pierre Fermat (1601–1665) (auf den wir in einem sp¨ ateren Kapitel zur¨ uckkommen) und andere gezeigt, daß19
a an+1 xn dx = n+1 0 f¨ ur alle rationalen Zahlen n = −1 gilt, aber der Ausdruck f¨ ur die Fl¨ache unter der rechtwinkligen Hyperbel y = 1/x erwies sich auch weiterhin als unfaßlich. Die erste Ahnung des Zusammenhangs mit den Logarithmen schien wohl dem Jesuitenpriester Gregorius a St. Vincento (1584–1667) gekommen zu sein, der 1647 sein Opus Geometricum ver¨ offentlicht hatte. Die Methode der Fl¨ achenapproximation durch Rechtecke mit gleicher Grundlinie war damals bereits Allgemeingut, aber Gregorius verwendete in seinem Werk Rechtecke von gleicher Fl¨ ache und paßte die Grundlinie der Rechtecke dementsprechend an.
y = 1x
y1 y2 A
x1 x2
A
A x3
A x4
A x5
x6
Abb. 1.6. Das logarithmische Verhalten der Hyperbel
Da die Fl¨ achen der ersten beiden Rechtecke gleich sind, haben wir (vgl. Abb. 1.6) y1 (x2 − x1 ) = y2 (x3 − x2 ) und somit 1 1 x2 x3 (x2 − x1 ) = (x3 − x2 ): − 1 = − 1 und x1 x2 x1 x2
x2 x3 = . x1 x2
Das bedeutet: Sollen die Fl¨ achen arithmetisch wachsen, dann m¨ ussen die xKoordinaten geometrisch zunehmen – ein deutlicher Hinweis auf ein logarithmisches Gesetz, das zwischen der Fl¨ ache unter y = 1/x und x besteht. Isaac Newton (1642–1727) schrieb 1664 in seinem Waste Book sinngem¨aß: Bei einer Hyperbel ist die Fl¨ ache bis zu einer Zahl gleich dem Logarithmus ” dieser Zahl“.20 Newton und Nicolaus Mercator (1620–1687) entwickelten diese 19 20
Wir verwenden nat¨ urlich auch hier die heutige Schreibweise. In ye Hyperbola ye area of it bears ye same respect as its Asymptote which a logarithme doth its number.
24
1 Die logarithmische Wiege
Idee unabh¨ angig voneinander, indem sie f¨ ur 1/(1 + x) die Reihenentwicklung 1 − x + x2 − x3 + · · · verwendeten, anschließend gliedweise integrierten und dadurch auf den heutigen Standardausdruck log(1 + x) = x − 21 x2 + 31 x3 − · · · kamen, der ein sehr viel praktischeres Mittel zur Berechnung von Logarithmen darstellt. Die Logarithmen waren nun gleichzeitig die k¨ unstlichen“ Zahlen ” Napiers, die Fl¨ ache unter der rechtwinkligen Hyperbel und die Summe einer unendlichen Reihe. Ein Blick auf die vielen anderen einzelnen Beitr¨age lehrt, daß es vor allem Euler war, der die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart u uckte: ¨berbr¨ er hat am weitesten gesehen. Die Definition der Logarithmen, die Euler 1770 in seinem Bestseller Vollst¨ andige Anleitung zur Algebra ([46]) gab, ist eine Synthese der verschiedenen Ans¨ atze: 220 Wir betrachten also diese Gleichung ab = c, und bemercken zuf¨orderst, daß in der Lehre von den Logarithmen f¨ ur die Wurzel a eine gewiße Zahl nach Belieben festgestellet werde, also daß dieselbe immer einerley Werth behalte. Wenn nun der Exponent b also angenommen wird, daß die Potest¨ at ab einer gegebenen Zahl c genennt, und um dieselben anzuzeigen werde ich mich in zukumfft des Zeichens eines teutschen l bedienen, welches der Zahl c vorgesetzt wird; und also schreibt man b = lc wodurch angedeutet wird, daß b gleich sey dem Logarithmus der Zahl c, oder der Logarithmus von c sey b. 221 Nachdem also die Wurzel a einmahl festgestellet worden, so ist der Logarithmus einer jeglichen Zahl c, nichts anders als der Exponent derjenigen Potest¨ at von a, welche der Zahl c gleich ist. Da nun c = ab so ist b der Logarithmus der Potest¨ at ab . Setzt man nun b = 1, so ist 1 der Logarithmus vom a1 , das ist la = 1; setzt man b = 2, so ist 2 der Logarithmus vom a2 , das ist la2 = 2. Eben so wird man haben: la3 = 3, la4 = 4, la5 = 5 und so ferner. Seine Wortwahl klingt f¨ ur uns etwas altert¨ umlich, aber es handelt sich um diejenige Definition der Logarithmen, die man im Allgemeinen auch heute in diesbez¨ uglichen Einf¨ uhrungen antrifft. Das außergew¨ohnliche Buch wird durch den Umstand noch bemerkenswerter, daß Euler zu diesem Zeitpunkt schon nahezu blind war. Er diktierte das Manuskript einem Diener, der als mathematischer Sekret¨ ar f¨ ur ihn t¨ atig war. Euler hat auch einen Funktionsbegriff eingef¨ uhrt, der dessen moderner Definition nahekommt. Dabei ist y = ax ein Spezialfall und Euler definiert die hierzu inverse Funktion als die Logarithmusfunktion. Bereits 1749 hatte Euler in einer – die Sprachbarrieren u ¨berwindenden – Arbeit mit dem Titel De la controverse entre Messers. Leibnitz et ” Bernoulli sur les logarithmes n´egatifs et imaginaires“ die Reihenentwicklung f¨ ur den nat¨ urlichen Logarithmus verwendet und Ideen zu komplexen Zahlen entwickelt, um Gr¨ unde daf¨ ur anzugeben, daß der Logarithmus einer beliebigen Zahl mehrwertig ist. Nachstehend geben wir Eulers Argumentation wieder, bei der es einem die Sprache verschl¨ agt. Er verwendet dabei seinen ber¨ uhmten lo-
1.4 Ein Hauch Euler
25
garithmischen Grenzwert, der unabh¨ angig auch vom Kometenj¨ager“ Edmond ” Halley (1656–1742) entdeckt wurde. Unter Benutzung der Eulerschen Terminologie bezeichnen wir mit w eine unendlich kleine“ Zahl und mit n eine ” unendlich große“ Zahl, wobei l f¨ ur den Logarithmus steht. ” Nach Voraussetzung ist w unendlich klein“, das heißt wir haben l (1+w) = ” w und deswegen y = l (1 + w)n = nw. Es sei nun x = (1 + w)n . Dann folgt 1/n 1/n 1+w = x und w = x − 1. Das bedeutet l x = y = n(x1/n − 1). Euler argumentiert nunmehr weiter, daß es zu jedem x insgesamt n (komplexe) Werte von x1/n gibt. Da ferner n eine unendlich große Zahl ist, muß es auch unendlich viele Werte f¨ ur l x geben. Anschließend f¨ uhrt er aus, √ daß mit der Ausnahme eines einzigen Wertes s¨ amtliche anderen Werte mit −1 zu tun haben. Damit ahnte Euler eine der subtilsten Ideen der Theorie der komplexen Funktionen des nachfolgenden Jahrhunderts voraus: die Idee der Riemannschen Fl¨ache. Sowohl der besagte Grenzwert ln x = limn→∞ n(x1/n − 1) als auch die gleichermaßen ber¨ uhmte Formel ex = limn→∞ (1 + x/n)n treten beide in Eulers zweib¨ andiger Introductio in analysin infinitorum auf – dieses klassische Werk erschien 1748. Setzt man im zweiten Ausdruck x = −1, dann ergibt sich n 1 1 = lim 1 − e n→∞ n und wir k¨ onnen nun damit beginnen, Napiers Gedankeng¨ange zu entwirren. 7 Wegen NapLog{107 (1−1/107 )L } = L hat man NapLog{107 (1−1/107 )10 } 7 7 = 10 . Nun ist zwar 10 nicht unendlich groß“, aber immerhin groß genug 7 ” daf¨ ur, daß (1 − 1/107 )10 sehr genau durch 1/e approximiert wird und es folgt 107 1 7 7 71 10 = NapLog 10 1 − 7 ≈ NapLog 10 . 10 e Skalieren wir nun das Ganze um einen Faktor von 107 nach unten, dann haben wir NapLog (1/e) ≈ 1 und das wiederum legt den Gedanken nahe, daß es sich bei NapLog x sehr wohl um log1/e x handeln k¨onnte. Unter Verwendung der Infinitesimalrechnung k¨onnen wir den Sachverhalt nunmehr pr¨ azise formulieren. W¨ ahlen wir in Abb. 1.2 und in Abb. 1.3 die Werte PB = x, OQ = y und den Proportionalit¨ atsfaktor 1, dann haben wir dx/dt = −x und dy/dt = 107 . Die Anfangsbedingungen besagen, daß wir bei t = 0 die Werte x = 107 und y = 0 haben. Hieraus folgt dy dy dt 107 = =− dx dt dx x und somit ergibt sich y = −107 ln x + c, wobei 0 = −107 ln 107 + c ist. Das wiederum impliziert y = −107 ln x + 107 ln 107 = 107 ln
107 x
oder
y 107 . = ln 107 x
26
1 Die logarithmische Wiege
Aus der Feststellung ln λ = log1/e 1/λ erhalten wir nunmehr y x = log1/e 7 . 7 10 10 Bei den Napierschen Logarithmen handelt also um eine nach unten skalierte Version von Logarithmen zur Basis 1/e.
1.5 Weitere Ideen Napiers Napiers wesentliche Hinterlassenschaft ist also ein Rechenverfahren, das in seinen verschiedenen Formen den Mathematikern und den Naturwissenschaftlern jahrhundertelang geholfen hat, ihren Forschungen nachzugehen und Theorien zu entwickeln, ohne dabei u aßig von langwierigen arithmetischen Rech¨berm¨ nungen abgehalten zu werden. Die aktuelle Bedeutung der Logarithmen liegt sogar noch tiefer, wie wir sehen werden. Napier hinterließ uns aber auch andere Dinge. Einige der wichtigsten praktischen geometrischen Probleme seiner Zeit hingen mit der Himmelsnavigation zusammen (das Global Positioning System existierte noch nicht einmal im Reich der Science Fiction): die Erde war damals noch annehmbar kugelrund“ und deswegen arbeitete man mit sph¨ari” schen Dreiecken. Napier war aufgrund zweier Ideen anerkannt, die sich auf die sph¨ arische Trigonometrie bezogen: zum einen waren das die Napierschen ” Analogien“, das heißt vier n¨ utzliche Identit¨ aten zur Behandlung schiefwink” liger“ sph¨ arischer Dreiecke; zum anderen handelte es sich um zwei raffinierte Merkregeln f¨ ur die zehn Formeln, die bei der Behandlung rechtwinkliger sph¨ arischer Dreiecke verwendet werden. Beide sind noch heute in Gebrauch und wir geben sie unten an. Dabei verwenden wir die heute u ¨bliche Bezeichnungsweise f¨ ur (sph¨ arische oder ebene) Dreiecke, das heißt Großbuchstaben bezeichnen die Scheitel der Winkel und die entsprechenden Kleinbuchstaben bezeichnen die gegen¨ uberliegenden Seiten – auch das ist eine Hinterlassenschaft Eulers, wie wir bereits in der Einleitung bemerkt hatten. Hier ist zu beachten, daß man sich jede Seite eines sph¨ arischen Dreiecks als Winkel denken kann, der u ¨ber dem Mittelpunkt des definierenden Kreises aufgespannt wird. In dieser Schreibweise lauten Napiers Analogien: tan 21 (a − b) sin 12 (A − B) = , sin 12 (A + B) tan 21 c
cos 12 (A − B) tan 21 (a + b) = , cos 12 (A + B) tan 21 c
sin 12 (a − b) tan 21 (A − B) = , sin 12 (a + b) cot 12 c
cos 12 (a − b) tan 21 (A + B) = . cos 12 (a + b) cot 21 c
Ist das Dreieck rechtwinklig bei A, dann k¨ onnen die verbleibenden f¨ unf Buchstaben (zwei Winkel und drei Seiten) als Punkte auf einem Kreis so angeordnet
1.5 Weitere Ideen Napiers
90º C
27
90º a
b
c
90º B
Abb. 1.7. Napiers Kreis
werden, daß jeder Punkt zwei benachbarte“ Punkte und zwei gegen¨ uberlie” ” gende“ Punkte hat (vgl. Abb. 1.7). Die Napierschen Regeln lauten dann: • Der Sinus eines beliebigen Punktes ist gleich dem Produkt der Tangens der benachbarten Punkte. • Der Sinus eines beliebigen Punktes ist gleich dem Produkt der Kosinus der gegen¨ uberliegenden Punkte. Bewegt man sich rund um den Kreis, dann ergeben sich f¨ unf Mengen von jeweils zwei Formeln. Am ber¨ uhmtesten von allen seinen anderen Rechenhilfsmitteln sind die nach ihm benannten Rechenst¨ abchen: die Napierschen (Neperschen) St¨ abchen. Hieraus entwickelten sich die Rechenschieber von William Oughtred, Edmund Gunter (1581–1626) und Victor Mannheim (1831–1906). H¨atten wir nicht den Siliziumchip, dann w¨ urden wir auch heute noch Rechenschieber verwenden. Es ist wohl sicher, daß die Idee auf ein altes arabisches Schema zur¨ uckzuf¨ uhren ist, das eine Vereinfachung der Multiplikation darstellt: die elegante GelosiaMethode. Diese romantische Bezeichnung ist eine Anspielung auf das bei der Methode verwendete Gitter, das eine Art Jalousie“ 21 darstellt. Ausgangs” punkt des Verfahrens ist ein leeres Gitter“, in das die beiden zu multiplizie” renden Zahlen eingetragen werden. Als Beispiel betrachten wir das Produkt 21
Aus beweglichen Holz- oder Metall-Latten zusammengesetzter Fensterladen“. ” Das Fremdwort wurde im 18. Jahrhundert aus dem gleichbedeutenden franz¨ osischen jalousie“ entlehnt, das seinerseits auf das italienische gelosia“ zur¨ uckgeht ” ” und eigentlich Eifersucht“ bedeutet. Die Benennung bezieht sich darauf, daß der ” eifers¨ uchtige Ehemann seiner Frau zwar gestatten wollte, auf die Straße zu sehen, sie aber nicht den Blicken anderer preisgeben wollte – bei Jalousien kann man nur von innen nach außen hindurchsehen und ist vor Blicken von außen sicher. Vorbild waren wohl die typischen Fenstergitter, wie man sie zuerst bei orientalischen Harems beobachtete.
28
1 Die logarithmische Wiege
3284 × 6751 = 22 170 284. Die Ziffern der beiden Faktoren werden jeweils in die oberen und in die rechten Halbkreise geschrieben (in Abb. 1.8 fettgedruckt dargestellt). Die Ergebnisse der einstelligen Multiplikationen werden nun in die diagonal aufgesplitteten Quadrate geschrieben. Anschließend addiert man rechts unten beginnend die Ziffern der Diagonalstreifen und nimmt dabei erforderlichen¨ falls einen Ubertrag vor. Es ergibt sich also 4, 0 + 0 + 8 = 8, 8 + 2 + 0 + 0 + 2 = (1)2, (1) + 4 + 2 + 6 + 4 + 0 + 0 + 3 = (2)0, (2) + 2 + 8 + 5 + 4 + 1 + 5 + 0 = (2)7, (2) + 4 + 2 + 1 + 1 + 1 = (1)1, (1) + 1 + 8 + 2 = (1)2, (1) + 1 = 2.
2
3 11
8
1
4
4
2
2
6 8 2
8
2 1
5
4 2
2
7 1
1
1
4 1
4
5
7
0
0 0
2 2
5
0 0
3
8 2
0 0
0
6
1
8 8
4 4
Abb. 1.8. Die Gelosia-Methode in Aktion
Napier legte diese Idee in seiner Rabdologia 22 dar; das Werk erschien in seinem Todesjahr 1617 und erfreute sich großer Beliebtheit. Vielleicht waren die St¨ abchen ein Hilfsmittel f¨ ur diejenigen, denen der Begriff des Logarithmus zu abstrakt war. Er entwarf mehrere Varianten, von denen sich einige zum Wurzelziehen eignen. Am bekanntesten ist jedoch der Typ, mit dem sich die Grundoperationen der Multiplikation und der Division behandeln lassen. Hierbei enth¨ alt jedes der 10 m¨ oglichen Rechenst¨abchen zuoberst eine Ziffer, w¨ ahrend die Multiplikationstabelle f¨ ur diese Ziffer fortlaufend darunter geschrieben wird – ebenso, wie bei der Gelosia-Methode die Ziffern jedesmal ausgeschrieben wurden. Ein elftes St¨ abchen enth¨alt einfach der Reihe nach 22
Aus den griechischen W¨ ortern rhabdos“ (St¨ abchen) und logia“ (Sammlung) ” ” abgeleitet, wobei das h“ offenbar weggefallen ist. ”
1.5 Weitere Ideen Napiers
29
die Ziffern 1 bis 9, so wie auf der linken Seite von Abb. 1.9 dargestellt. Zur Multiplikation zweier Zahlen stellt man eine von ihnen als eine Reihe von St¨ abchen dar, wobei die betreffende Zahl in der obersten Zeile gebildet wird. Nat¨ urlich m¨ ussen f¨ ur mehrfach auftretende Ziffern auch entsprechend viele St¨ abchen verwendet werden. In unserem Beispiel steht die Zahl 5978 auf der rechten Seite von Abb. 1.9. Als n¨ achstes folgen in der Anordnung das Indexst¨ abchen“ und die zweite Zahl, wobei jeweils eine Ziffer multipliziert ” wird und die Ergebnisse unter Ber¨ ucksichtigung der Dezimalpositionen addiert werden. Zum Beispiel wird in der Abbildung die Ziffer 5 multipliziert und es ergibt sich 29 890, wobei man dieselbe Diagonaladdition verwendet, wie bei der Gelosia-Methode.
Abb. 1.9. Napiers St¨ abchen
Im Jahr 1890 entwickelte der franz¨ osische Bauingenieur Henri Genaille eine elegante Verfeinerung, die unter der Bezeichnung Genaillesche St¨abchen“ ” ¨ bekannt geworden ist. Bei diesen St¨ abchen muß kein Ubertrag mehr durchgef¨ uhrt werden und der Benutzer kann das Produkt einer Zahl mit einer einstelligen Zahl einfach und ohne Rechnung ablesen. Und schließlich enthielt die Rabdologia ein weiteres Schema zur Vereinfachung von Rechnungen, den Napierschen Abacus. Die Verwendung von Schachbrettern zum Rechnen war zu Napiers Zeiten verbreitet und bei seinem Abacus verwendete er ein solches Brett mit Spielmarken, bei denen die Bewegung eines L¨ aufers oder eines Turms zur Durchf¨ uhrung der vier arithmetischen Grundoperationen sowie zum Wurzelziehen verwendet wird. Hierzu nutzte er die alte Idee der Multiplikation durch Verdoppelung, das heißt die Darstellung von Zahlen als Potenzen von 2. Auf diese Weise verwendete er – ohne es zu erkennen – die bin¨ are Arithmetik und ahnte damit die modernen Computer um etwa 350 Jahre voraus.
2 Die harmonische Reihe Mathematiker sind wie Liebende. Gew¨ ahren Sie einem Mathematiker auch nur das allerkleinste Prinzip, und er wird daraus eine Schlußfolgerung ziehen, die Sie ihm ebenfalls gew¨ ahren m¨ ussen, und aus dieser Schlußfolgerung wird er eine weitere ziehen. Bernard Le Bovier Fontenelle (1657–1757)
2.1 Das Prinzip Am 11. Juli 1382 starb Nicole Oresme im Alter von 59 Jahren in der sch¨onen Stadt Lisieux, deren Bischof er seit 1377 war. Er wurde im sp¨aten Mittelalter um 1323 in Caen geboren und besaß eine umfassende Bildung. Seine Kenntnisse erstreckten sich von der Entwicklung der franz¨osischen Sprache bis hin zur Theorie der Besteuerung, und seine u ¨beraus glanzvolle Karriere schloß ¨ geistliche Amter und Dienste f¨ ur den franz¨ osischen Thron ein. So wurde er 1364 Dekan von Rouen und er hatte auch das Amt des Kaplans f¨ ur K¨onig Charles V. von Frankreich inne. Oresme u ¨bersetzte bedeutende Aristoteles¨ Texte ins Franz¨ osische, zum Beispiel das Werk Moral, Politik und Okonomie. Mehr als 100 Jahre vor der Geburt des Kopernikus lehrte Oresme bereits die heliozentrische Theorie und fast 200 Jahre vor Descartes’ Geburt machte er den Vorschlag, Gleichungen graphisch darzustellen. Seine Abhandlung De ¨ Moneta brachte ihm den Spitznamen Gr¨ oßter Okonom des Mittelalters“ ein, ” aber wir sind hier mehr an seinen mathematischen Untersuchungen interessiert. Wahrscheinlich war er der Erste, der das Zeichen +“ f¨ ur die Addition ” verwendete, und er war es auch, der in seinem Algorismus proportionum die Potenzschreibweise auf Potenzen mit gebrochenen Exponenten und auf negative Potenzen erweiterte. Insbesondere interessieren wir uns hier daf¨ ur, wie er unendliche Reihen handhabte. Genauer gesagt: Wir befassen uns hier mit seiner Arbeit u ¨ber die harmonische Reihe und seinem Beweis einer Eigenschaft dieser Reihe. Bewußt ignorieren wir also fast alles, was dieser bedeutende Mann geleistet hat – das ist etwa so, wie wenn man Carl Friedrich Gauß (1777– 1855) nur wegen seiner Messung des magnetischen Induktionsflusses w¨ urdigte. Der Princeps mathematicorum wird auf den folgenden Seiten immer wieder in Erscheinung treten, aber zun¨ achst ist Oresme an der (harmonischen) Rei” he“. Zuallererst wollen wir uns jedoch eine erzeugende Funktion dieser Reihe ansehen.
32
2 Die harmonische Reihe
2.2 Eine erzeugende Funktion fu ¨ r Hn Die Definition der harmonischen Reihe Hn =
n 1 r=1
r
=1+
1 1 1 + + ··· + 2 3 n
ist ¨ aquivalent zu 1 Hr = Hr−1 + , r
r > 1 und H1 = 1,
und diese Beziehung l¨ aßt sich zur Aufstellung der erzeugenden Funktion verwenden: ∞ 1 1 ln Hr xr . = 1−x 1−x r=1
Machen wir keine Voraussetzungen u ¨ber die Hr , dann k¨onnen wir beide Seiten mit (1 − x) multiplizieren und erhalten − ln(1 − x) = (1 − x)
∞
Hr xr .
r=1
Wenden wir nun die von Newton und Mercator gegebene Reihenentwicklung von ln(1 − x) an, so ergibt sich ∞ ∞ x + 21 x2 + 31 x3 + · · · = r=1 Hr xr − r=1 Hr xr+1 , falls |x| < 1.
Der Koeffizientenvergleich der Potenzen von x liefert 1 = Hr − Hr−1 r
f¨ ur r > 1,
und somit 1 und H1 = 1. r Damit haben wir die Definition wiedergewonnen, und das Ergebnis ist bewiesen. In einem vom 15. Februar 1671 datierten Brief schrieb James Gregory (1638–1675): In Bezug auf Ihr Schreiben vom 24. Dezember kann ich, bis ” ich es sehe, schwerlich daran glauben, daß es eine allgemeine, kurzgefaßte & geometrische Methode f¨ ur die Summierung einer harmonischen Progression gibt ...“. Bis zum heutigen Tag teilen wir Gregorys Entt¨auschung, denn es ur ein allgemeines n, so sch¨on eine solche Formel gibt keine Formel f¨ ur Hn f¨ auch w¨ are. Die einfache Definition der Reihe t¨ auscht u ¨ber deren Subtilit¨at und u ¨ber die vielen Schlußfolgerungen hinweg, die daraus gezogen werden k¨onnen. Wir geben im Folgenden drei dieser Schlußfolgerungen. Hr = Hr−1 +
2.3 Drei u ¨berraschende Ergebnisse
33
2.3 Drei u ¨ berraschende Ergebnisse 2.3.1 Divergenz Keine Eigenschaft ist unerwarteter als die Divergenz von Hn und es war Oresme, der das bewiesen hat: F¨ ur n → ∞ hat man Hn → ∞, aber die Reihe divergiert sehr langsam. Die ersten 100 Glieder summieren sich zu 5, 187 . . ., die ersten 1000 zu 7, 486 . . . und die ersten 1 000 000 zu 14, 392 . . .. ur hinreichend große n jede beliebige Es ist kaum zu glauben, daß Hn f¨ Zahl u achlich der Fall. Man braucht wirklich ¨berschreitet, aber das ist tats¨ x-trem“ gute Augen, um die Divergenz numerisch auszumachen. John W. ” Wrench jun. berechnete 1968 die Minimalzahl der Glieder, die erforderlich sind, damit die Reihensumme die Zahl 100 u ¨berschreitet; diese Minimalzahl ist 15 092 688 622 113 788 323 693 563 264 538 101 449 859 497. Nat¨ urlich ging er dabei nicht so vor, daß er die Summanden addierte. Um ein Gef¨ uhl f¨ ur die hier auftretende Gr¨ oßenordnung zu bekommen, stelle man sich einen Comotigt, um jeweils einen neuen Summanden puter vor, der 10−9 Sekunden ben¨ zur bereits vorhandenen Summe zu addieren. Wir starten den Computer und lassen ihn f¨ ur unbestimmte Zeit laufen. Der Job ist dann in nicht weniger als 3, 5 × 1017 Milliarden Jahren erledigt. Der ber¨ uhmte Beweis von Oresme verl¨ auft in moderner Schreibweise folgendermaßen: 1 1 1 1 1 1 1 + + + + Hn = 1 + + + 2 3 4 5 6 7 8 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + + + ··· 9 10 11 12 13 14 15 16 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + > 1+ + 2 4 4 8 8 8 8 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + + + + + + ··· 16 16 16 16 16 16 16 16 8 1 1 1 1 1 2 + ··· = 1 + + + + + ··· = 1+ + + 2 4 16 2 2 2 2 und die Divergenz ist offensichtlich. Ein solches Ergebnis hat zwangsl¨ aufig viele Beweise und wir wollen uns zwei weitere ansehen. Das Streben nach Eleganz ist das Motiv f¨ ur diesen Beweis: 2 2 2 2 1 1 1 H∞ = 1 + + + + · · · = + + + + · · · 2 3 4 2 4 6 8 1 1 1 1 1 1 1 1 = + + + + + + + + ··· 2 2 4 4 6 6 8 8 1 1 1 1 1 1 1 + + + < 1+ + + + + ··· 2 3 4 5 6 7 8
34
2 Die harmonische Reihe
= H∞ ,
ein Widerspruch, wenn H∞ endlich w¨are.
Und schließlich gebietet uns der Respekt vor Euler, dessen Anteil an dieser Geschichte (und an zahllosen anderen) so groß ist, den nachstehenden Beweis zu geben:
0
0 ex ex (1 − ex )−1 dx dx = 1 − ex −∞ −∞
0
0 (ex + e2x + e3x + · · · )dx ex (1 + ex + e2x + e3x + · · · )dx = = −∞
= [ex + 21 e2x + 13 e3x + · · · ]0−∞ = 1 +
1 2
+
−∞ 1 3 + ···
= [− ln(1 − ex )]0−∞ .
Die Berechnung der oberen Grenze liefert offensichtlich einen unendlichen Wert. Und schon haben wir den Beweis mit seinem uneigentlichen Integral und seiner illegitimen Binomialentwicklung! Nat¨ urlich kann der Beweis in Ordnung gebracht werden, aber wir w¨ urden die alles u ¨berragende Eleganz nur verwischen, wenn wir alle diese Einzelheiten hineinzw¨angen. 2.3.2 Hn ist keine ganze Zahl ¨ ist, daß Zwar w¨ achst Hn u ¨ber alle Schranken, aber die zweite Uberraschung dabei (mit Ausnahme von n = 1) keine weitere ganze Zahl als Wert angenommen wird. Mehr noch: Keine der aufeinander folgenden Teilreihen von Hn ist eine ganze Zahl. Das heißt f¨ ur positive ganze Zahlen m, n mit m < n ist Smn =
1 1 1 1 + + + ··· + m m+1 m+2 n
niemals eine ganze Zahl. Der Beweis, den wir geben, ist fein gesponnen und etwas wortreich. Der springende Punkt ist der Nachweis dessen, daß Smn ein Bruch mit einem ungeraden Z¨ ahler und einem geraden Nenner ist. Hieraus folgt, daß es sich um keine ganze Zahl handeln kann. Zu diesem Zweck brauchen wir ein Zwischenresultat, das auf den ersten Blick etwas u ¨berraschend anmutet. In jeder endlichen, l¨ uckenlosen Teilfolge der Folge 1, 2, 3, . . . gibt es ein Glied, das eine eindeutig bestimmte gr¨ oßte Zweierpotenz als Faktor hat. Das heißt: Zerlegen wir die Glieder der Folge in Faktoren und sehen wir uns diejenigen Faktoren an, die Zweierpotenzen sind, dann gibt es genau ein Glied mit der gr¨ oßten Zweierpotenz. Man sieht diese Aussage folgendermaßen ein. Enth¨ alt die Folge Potenzen von 2, dann ist das Glied mit der gr¨oßten Zweierpotenz die Zahl, die wir suchen. Andernfalls liegt die Folge strikt zwischen zwei aufeinander folgenden Potenzen von 2, also etwa zwischen 2α und 2α+1 , das heißt zwischen 2 · 2α−1 und 4 · 2α−1 , und die gr¨oßte dazwischen liegenalt die Folge diese Zahl, dann ist das die den Zweierpotenz ist 3 · 2α−1 . Enth¨ Zahl, die wir suchen. Andernfalls liegt die Folge vollst¨andig innerhalb eines
2.3 Drei u ¨berraschende Ergebnisse
35
der beiden Intervalle, also etwa zwischen 2 · 2α−1 und 3 · 2α−1 , das heißt zwischen 4 · 2α−2 und 6 · 2α−2 , und die gr¨ oßte dabei auftretende Zweierpotenz ist 5 · 2α−2 . Dieses Verfahren wird solange fortgesetzt, bis die Folge eine der entscheidenden Zahlen enth¨ alt oder die L¨ ange 2 hat; im letzteren Fall w¨ahlen wir die gerade Zahl aus. Angenommen nun, wir zerlegen jeden der Nenner von Smn in ein Produkt von Primfaktoren und w¨ ahlen dasjenige eindeutig bestimmte Glied aus, dessen Nenner die gr¨ oßte Potenz von 2 enth¨ alt. Es bezeichne 1/k dieses Glied. Wird jedes Glied von Smn als Bruch mit einem Nenner geschrieben, der das kleinste gemeinsame Vielfache aller dieser Glieder ist, dann muß 1/k einen ungeraden Z¨ ahler haben und die Z¨ ahler aller anderen Glieder m¨ ussen gerade sein. Betrachtet man nun Smn als einzigen rationalen Bruch, dann muß also der Z¨ ahler von Smn ungerade sein. Der Nenner ist offensichtlich gerade, woraus das Ergebnis folgt. Setzt man m = 1, dann ergibt sich das Ergebnis f¨ ur Hn . 2.3.3 Hn ist fast immer ein unendlicher Dezimalbruch Wir haben H1 = 1, H2 = 1, 5 und H6 = 2, 45. Da Hn immer ein Bruch ist, muß dessen Dezimalentwicklung entweder endlich sein – wie in den soeben genannten Beispielen – oder aber sie ist ein unendlicher periodischer Dezimalbruch. ¨ Die abschließende Uberraschung ist, daß – mit Ausnahme der genannten drei F¨ alle – alle anderen Dezimalentwicklungen von Hn tats¨achlich unendlich periodisch sind. Unser Beweis dieser bemerkenswerten Tatsache wird uns von vergleichsweise flachen Gew¨ assern in sehr tiefes Wasser f¨ uhren, wobei wir ein tiefliegendes und bedeutendes Resultat der Zahlentheorie ben¨otigen: die Bertrandsche Vermutung. Im Jahr 1845 vermutete der franz¨osische Mathematiker Joseph Bertrand (1822–1900), daß es zu jeder positiven ganzen Zahl n > 1 mindestens eine Primzahl p gibt, so daß n < p < 2n (er verifizierte die Vermutung f¨ ur n < 3 000 000). Bertrand war vom Schicksal nicht dazu auserkoren, einen Beweis f¨ ur seine Vermutung zu geben, aber f¨ unf Jahre sp¨ater wurde sie von dem russischen Mathematiker Pafnuti Tschebyschew (1821–1894) bewiesen. Tschebyschew kam auch dem Beweis eines anderen bedeutenden Ergebnisses der Mathematik nahe, n¨ amlich dem Beweis des Primzahlsatzes. Mehr dazu sp¨ ater! Zun¨ achst ist klar, daß jede Zahl, die sich als endlicher Dezimalbruch darstellen l¨ aßt, als ein rationaler Bruch geschrieben werden kann, dessen Nenner eine Potenz von 10 ist. Zehn ist zweimal f¨ unf und somit ist der Nenner eine Potenz von zweimal f¨ unf, das heißt er hat nach eventuellem K¨ urzen die Form 2α 5β . Zum Beweis dessen, daß Hn kein endlicher Dezimalbruch ist, reicht es aus, folgendes zu zeigen: Wird Hn als ein einziger rationaler Bruch geschrieben, dann enth¨ alt er Primfaktoren, die gr¨ oßer als 5 sind. Durch einfaches Ausschreiben k¨ onnen wir feststellen, daß H3 , H4 und H5 unendliche periodische Dezimalbr¨ uche sind. Man schreibe nun Hn = an /bn , n ≥ 7, wobei an und bn als unverk¨ urzbar vorausgesetzt werden. Wir m¨ ussen zeigen, daß bn
36
2 Die harmonische Reihe
durch eine Primzahl p ≥ 7 teilbar ist. Zu diesem Zweck beweisen wir, daß f¨ ur alle Primzahlen p ∈ [ 12 (n + 1), n] die Zahl p ein Teiler von bn ist. Wir f¨ uhren den Beweis durch Induktion nach n. F¨ ur n = 7 haben wir das Intervall [4, 7], die Primzahlenmenge {5, 7} und sind wegen H7 = 363 140 fertig. Wir setzen nun die Richtigkeit des Ergebnisses f¨ ur n voraus. Wir m¨ ussen zeigen, daß f¨ ur alle p ∈ [ 12 (n + 2), n + 1] die Zahl p ein Teiler von bn+1 ist, wobei an+1 an (n + 1) + bn an 1 = . = + bn+1 bn n+1 bn (n + 1) Dieses neue Intervall kann h¨ ochstens die Zahl n + 1 zu unserer Primzahlenliste hinzuf¨ ugen. Ist nun n + 1 tats¨ achlich eine Primzahl, dann l¨aßt sich bn+1 = urzen. Damit haben wir alles, was wir brauchen, bn (n + 1) nicht gegen an+1 k¨ und das Ergebnis gilt aufgrund des Induktionsschrittes. Die (als zutreffend bewiesene) Bertrandsche Vermutung garantiert, daß die Intervalle [p, 2p − 1] f¨ ur p ≥ 7 u ¨berlappen und deswegen alle ganzen Zahlen n ≥ 7 enthalten, da zwischen jedem Paar p und 2p eine Primzahl liegt. Nun sind wir fast fertig! Ist n ≥ 7, dann gibt es eine Primzahl p ≥ 7, so daß n ∈ [p, 2p − 1]. Das bedeutet, daß p ∈ [ 21 (n + 1), n] und somit ein Teiler von bn ist. Wir u ¨berlassen es dem Leser, sich den Fall p = 5 genauer anzuschauen. Nachdem wir nun die vollst¨ andige harmonische Reihe untersucht haben, wollen wir uns im folgenden Kapitel einige interessante Teilreihen ansehen.
3 Subharmonische Reihen Der Mathematiker ben¨ otigt bei jedem seiner Arbeitsschritte Taktgef¨ uhl und einen guten Geschmack und er muß lernen, seinem eigenen Instinkt zu vertrauen und zwischen denjenigen Dingen zu unterscheiden, die der M¨ uhe wert sind, und denjenigen Dingen, die es nicht wert sind. James Glaisher (1848–1928)
Die unglaublich langsame Divergenz von Hn legt die Vermutung nahe, daß wir die Glieder der Reihe nicht allzu sehr a ussen, um eine Konvergenz zu ¨ndern m¨ ndern“ verstehen wir hier weglassen oder streichen von erzwingen. Unter a ¨ ” Gliedern. Genau das ist es, was wir in diesem Kapitel versuchen werden.
3.1 Ein gem¨ achlicher Start Wenn wir damit beginnen, Glieder auf strukturierte Weise zu entfernen, dann k¨onnten wir etwa folgendermaßen vorgehen: 1 1 1 1 1 1 1 1 + + + + ··· = 1 + + + + ··· . 2 4 6 8 2 2 3 4 Eine andere M¨ oglichkeit w¨ are: 1+
1 1 1 1 1 1 1 + + + ··· > 1 + + + + ··· = 1 + 3 5 7 4 6 8 2
1 1 1 + + + ··· 2 3 4
.
Beide Reihen sind offensichtlich divergent und das hat Implikationen (vgl. S. 120). Das Weglassen der H¨ alfte“ der Glieder reicht demnach nicht aus, die Kon” vergenz der ausged¨ unnten“ Reihe zu erzwingen. Auch das Weglassen eines ” Drittels“ oder irgendeines anderen Bruchteils w¨ urde nicht zur Konvergenz der ” verbleibenden Reihe f¨ uhren. Betrachten wir andererseits lediglich die Kehrwerte der Potenzen einer einzigen Zahl, dann erhalten wir eine konvergente geometrische Reihe. Die Konvergenz ist aber nicht verwunderlich, denn in diesem Fall haben wir wirklich extrem viele Glieder weggelassen, und das ist f¨ ur unsere Darstellung nicht sonderlich interessant. Gibt es da vielleicht irgendein Zwischending“? Eine verlockende M¨ oglichkeit w¨are, u ¨ber die Kehrwerte der ”
38
3 Subharmonische Reihen
ungeraden vollkommenen Zahlen zu summieren.1 Es ist bekannt, daß jede solche Summe endlich ist. Das Problem besteht darin, daß man keine Beispiele von ungeraden vollkommenen Zahlen kennt: es k¨onnte also sein, daß unsere Reihe gar nicht existiert!
3.2 Harmonische Primzahlreihen Die Primzahlen stehen seit jeher im Mittelpunkt des Interesses. Primzahlen sind knapp ges¨ at – wir werden sp¨ ater sehen, wie selten sie auftreten. Die Reihe, die man durch die Summierung der Kehrwerte der Primzahlen erh¨alt, ist also ziemlich ausged¨ unnt. Dar¨ uber hinaus treten die Primzahlen in unregelm¨aßiger Weise auf; auch das werden wir uns sp¨ ater genauer anschauen. Das alles macht 1 1 1 1 1 1 + + + + + + ··· 2 3 5 7 11 13 zu einer wirklich attraktiven Reihe. Tats¨ achlich haben wir sehr viele Glieder der Reihe H∞ weggelassen, aber erstaunlicherweise divergiert diese Reihe trotzdem. Hieraus folgt nat¨ urlich, daß es unendlich viele Primzahlen gibt – eine Tatsache, die schon Euklid um 300 v.Chr. bewiesen hatte. Wir wollen uns eine Version seines ber¨ uhmten Beweises und einen weiteren – moderneren und gleichermaßen eleganten – Beweis ansehen. Die M¨ uhe lohnt sich! Euklid hat den Vortritt. Wir nehmen an, daß es nur endlich viele Primzahlen gibt und daß N die gr¨ oßte dieser Primzahlen ist. Wir betrachten nun die wesentlich gr¨oßere Zahl P , die aus der Summe von 1 und dem Produkt s¨amtlicher Primzahlen einschließlich N besteht, das heißt P = 1 + 2 × 3 × 5 × 7 × · · · × N . Dann ist P entweder eine Primzahl (im Widerspruch zu unserer Annahme, daß N die gr¨ oßte Primzahl ist) oder P ist eine zusammengesetzte Zahl und somit durch Primzahlen teilbar. Dividiert man P durch jede der auftretenden Primzahlen, dann erh¨ alt man jeweils den Rest 1. Also muß es mindestens eine weitere Primzahl geben, die gr¨ oßer als N ist. Das ist erneut ein Widerspruch zu der Annahme, daß die Anzahl der Primzahlen endlich ist und N die gr¨oßte dieser Primzahlen bezeichnet. Es gibt also unendlich viele Primzahlen, was zu beweisen war. Ist P zuf¨ alligerweise eine Primzahl, dann bezeichnet man diese treffend als euklidische“ Primzahl. Wie verbreitet sind die euklidischen Primzahlen? ” Am Anfang sieht es ergiebig aus, denn P ist prim, falls N eine der ersten f¨ unf Primzahlen 2, 3, 5, 7 bzw. 11 ist (wobei P der Reihe nach die Werte 3, 7, 31, 211 und 2311 annimmt). Die n¨ achste euklidische Primzahl ergibt sich f¨ ur N = 31 und lautet P = 200 560 490 131. Das einzige weitere Beispiel f¨ ur ein 1
Eine Zahl heißt vollkommen, wenn sie gleich der Summe ihrer echten Teiler ist. Wegen 1 + 2 + 3 = 6 und 1 + 2 + 4 + 7 + 14 = 28 sind 6 und 28 Beispiele f¨ ur vollkommene Zahlen.
3.2 Harmonische Primzahlreihen
39
N kleiner als 1000 ist N = 379, aber in diesem Fall ist P schon zu groß, um hier angegeben zu werden! Das gr¨ oßte gegenw¨artig bekannte Beispiel einer euklidischen Primzahl ergibt sich f¨ ur N = 24 029. Gibt es unendlich viele euklidische Primzahlen? Niemand weiß es, aber sie werden mit zunehmendem N immer seltener. Ein moderner Zahlentheoretiker beweist das Ergebnis von Euklid ganz anders. Paul Erd˝ os (1913–1996) gab 1938 folgenden Beweis, bei dem eine Z¨ahltechnik und ein eleganter zahlentheoretischer Mechanismus verwendet werden. Letzterer besagt, daß sich jede ganze Zahl als Produkt eines Quadrates und einer quadratfreien ganzen Zahl schreiben l¨ aßt. Diese Tatsache ist hinreichend klar, wenn man die ganze Zahl in das Produkt ihrer Primfaktoren zerlegt und die wiederholt auftretenden Primfaktoren zusammenfaßt, zum Beispiel 2 851 875 = 33 × 54 × 11 × 132 = 3 × 11 × (3 × 52 × 13)2 . Im Falle einer Quadratzahl ist der quadratfreie Teil nat¨ urlich gleich 1. Bei unserer Diskussion der Riemannschen Vermutung werden wir der M¨ obiusschen Funktion2 begegnen und sehen, wie wichtig es sein kann, ob eine ganze Zahl wiederholt auftretende Faktoren enth¨ alt oder nicht. Der Beweis von Erd˝ os geht folgendermaßen. Es bezeichne N eine positive ganze Zahl und es sei p1 , p2 , p3 , . . . , pn die vollst¨ andige Menge der Primzahlen, die kleiner als N oder gleich N sind. Jede der positiven ganzen Zahlen, die kleiner als N oder gleich N sind, l¨aßt sich ucksichnat¨ urlich als ein Produkt der Potenzen der pi schreiben und unter Ber¨ tigung der obigen Bemerkung in der Form pe11 pe22 pe33 . . . penn × m2 darstellen, wobei ei ∈ {0, 1} in Abh¨ angigkeit davon gilt, ob eine bestimmte Primzahl auftritt oder nicht. Infolgedessen gibt es 2n M¨ oglichkeiten, die quadratfreie Prim√ faktorisierung zu w¨ ahlen und offensichtlich ist m2 ≤ N und somit m ≤ N . Das bedeutet: Die Anzahl der Wahlm¨ oglichkeiten f¨ ur die ganzen Zahlen, die √ n × N und deswegen kleiner als N oder gleich N sind, betr¨ a gt h¨ o chstens 2 √ √ gilt N ≤ 2n × N , woraus 2n ≥ N und n > 12 log2 N folgen. Aber N ist unbeschr¨ ankt und deswegen gibt es unendlich viele Primzahlen. Der Beweis ist atemberaubend und man fragt sich, wie jemand u ¨berhaupt darauf kommen konnte – aber das machte eben einen Teil des Genies von Erd˝ os aus. Die uns interessierende Reihe ist also definitiv unendlich und wir wollen nun ihre Divergenz beweisen. Es konnte gar nicht ausbleiben, daß Euler das Problem in Angriff nahm. Dabei fand er ein unglaubliches Ergebnis, das zur Entstehung der analytischen Zahlentheorie f¨ uhrte. Wir geben hier einen von Erd˝ os stammenden Beweis, der den Eulerschen Gedankengang verallgemeinert. Angenommen die Reihe konvergiert. Dann muß es einen Reihenrest geben, dessen Summe kleiner als 21 ist, das heißt es muß ein i geben, so daß 1 pi+1
2
+
1 pi+2
Auch M¨ obius-Funktion genannt.
+
1 pi+3
+ ···
√ 2 x. 1 i x Kombiniert man diese beiden Schranken, dann ergibt sich x < N (x) < 2 i 2 √ ur x < 22i+2 richtig ist. Nehmen wir also und somit 12 x < 2i x, was nur f¨ x > 22i+2 , dann haben wir unseren Widerspruch! Und es ist ein Widerspruch von vollkommener Sch¨ onheit. Die Summe der Kehrwerte der Primzahlen divergiert also – aber wie langsam? Sehr langsam. Zum Beispiel hat man p 1 folgendermaßen definiert sind: ∞ 1 1 1 = 1 + n + n + ··· . ζ(n) = n r 2 3 r=1
Man u ¨berzeugt sich von der Konvergenz, indem man entsprechende Klammern setzt und einen Vergleich mit der geometrischen Reihe durchf¨ uhrt: ∞ 1 1 1 1 = 1 + n + n + n ··· n r 2 3 4 r=1
50
4 Zeta-Funktionen
1 1 1 1 1 1 + + + + + + ··· 2n 3n 4n 5n 6n 7n 4 2 < 1 + n + n + ··· 2 4 2 3 1 1 1 = 1 + n−1 + + + ··· 2 2n−1 2n−1 1 = 1 , 1 − 2n−1 = 1+
wobei 1/2n−1 < 1 vorausgesetzt wird, das heißt 2n−1 > 1, n − 1 > 0 und n > 1. Der obige Fall (mit n = 2) blickt auf eine ruhmreiche Geschichte zur¨ uck: das Problem wurde 1650 aufgeworfen, als Pietro Mengoli (1625–1686) die Frage nach der Summe der Reihe stellte. John Wallis (1616–1703) berechnete 1665 diesen Wert auf drei Dezimalstellen, erkannte aber die Bedeutung von 1,645 nicht, was nicht verwunderlich ist. Oldenburg stellte Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) das Problem im Jahre 1673, aber Leibniz gab sich geschlagen. Auch f¨ ur andere bedeutende Mathematiker erwies sich das Problem als zu schwierig. Zu diesen geh¨ orte auch Jakob Bernoulli (1654–1705), der das Problem in seinem 1689 in Basel ver¨ offentlichten Tractatus de seriebus infinitis mit folgender dringenden Bitte zitierte: Falls jemand die L¨osung fin” det, die sich unseren bisherigen Anstrengungen entzogen hat, dann w¨aren wir außerst dankbar, wenn wir eine diesbez¨ ugliche Mitteilung bek¨amen“. Und so ¨ wurde das Problem als Baseler Problem“ bekannt; Montucla nannte es die ” Geißel der Analytiker“. Johann Bernoulli (1667–1748), der j¨ ungere der bei” den Br¨ uder (und Mentor des jungen Euler), versuchte sich ebenfalls an dem Problem, aber auch er scheiterte. Vielleicht war er es, der seinen brillanten Sch¨ uler ermutigte, das Problem in Angriff zu nehmen. Euler attackierte das Problem und zwang es schließlich zur Aufgabe. Er berechnete 1731 die Summe auf sechs Dezimalstellen und 1735 versch¨ arfte er sein Ergebnis durch den Wert 1,644 934 066 848 226 436 47.... Und im gleichen Jahr – es war noch zu Beginn seines kometenhaften Aufstiegs – schrieb er: G¨anzlich unerwartet ha” be ich eine elegante Formel f¨ ur die Quadratur des Kreises gefunden“, womit er π meinte. Seine genialen analytischen Umformungen und der f¨ ur ihn charakteristische großz¨ ugige“ Umgang mit mathematischer Strenge hatten ihn ” zu folgendem Ergebnis gef¨ uhrt: 1 1 π2 1 + + + · · · = . 12 22 32 6 Die seltsame Zahl 1,644 934... ist also 61 π 2 , ein erstaunliches Resultat, das wesentlich dazu beitrug, Eulers zunehmenden Ruf weiter zu st¨arken. Es liegt nahe, daß ihn dieses Ergebnis in Kombination mit der Divergenz der Summe der Kehrwerte der Primzahlen im Jahr 1737 zu der Bemerkung veranlaßt hat, daß es sehr viel mehr Primzahlen als vollkommene Quadrate gibt. Es
4.1 Mit einer positiven ganzen Zahl n
51
sollte noch u ¨ber 100 Jahre dauern, bis Georg Cantor, ein weiterer Gigant der Mathematik, die Bemerkung Eulers mit mathematischer Strenge formulieren konnte – wobei sich herausstellte, daß Euler hier nicht Recht hatte. Von Eulers urspr¨ unglichem Beweis geht eine magische Kraft aus und deswegen m¨ ussen wir alle anderen Beweise aufschieben – auch eine sp¨atere sorgf¨ altigere und vollkommen andere Version, mit der er seinen Kritikern antwortete. Der Originalbeweis beginnt mit der u ¨blichen Entwicklung von sin x in eine Taylorreihe: sin x = x −
x5 x7 x3 + − + ··· . 3! 5! 7!
Diese Reihe konvergiert f¨ ur alle x. Euler interpretierte die linke Seite als Polynom unendlichen Grades. Da es sich um ein Polynom handelt, kann es als Produkt von Faktoren geschrieben werden. Da ferner 0, ±π, ±2π, ±3π, . . . die Wurzeln sind, l¨ aßt sich das Polynom in der Form x(x2 − π 2 )(x2 − 4π 2 )(x2 − 9π 2 ) · · · schreiben, was sich seinerseits folgendermaßen umformulieren l¨aßt: x2 x2 x2 Ax 1 − 2 1− 2 2 1 − 2 2 ··· . π 2 π 3 π Wegen
sin x → 1 f¨ ur x → 1 x gilt A = 1. Somit haben wir x3 x5 x7 x2 x2 x2 sin x = x − + − + ··· = x 1 − 2 1− 2 2 1 − 2 2 ··· . 3! 5! 7! π 2 π 3 π Durch diesen genialen Handstreich wird das Ganze nun zu einem Bestandteil der Theorie der unendlichen Produkte und damit streng gefaßt. Der Vergleich der Koeffizienten von x3 auf beiden Seiten liefert nun −
1 1 1 1 1 = − 2 − 2 2 − 2 2 − 2 2 − ··· 3! π 2 π 3 π 4 π
oder 1 1 1 π2 + 2 + 2 + ··· = 2 1 2 3 6 und das Ergebnis steht da, als ob es aus dem Nichts aufgetaucht w¨are. Denken wir an das ger¨ uttelte Maß Findigkeit und Genie, die f¨ ur diese L¨ osung erforderlich waren, dann k¨ onnen wir nicht umhin, uns zusammen mit A. G. Howson dar¨ uber zu am¨ usieren, daß eine der Fragen bei den ersten ” Zulassungspr¨ ufungen der Universit¨ at London (im Jahre 1838) f¨ ur Sch¨ uler im
52
4 Zeta-Funktionen
Alter von 19 Jahren, die an der Universit¨ at immatrikuliert werden wollten, folgendermaßen lautete: Man finde die Summe der unendlichen Reihen ” 1 1 1 + 2 + 2 + ··· 2 1 2 3 und
1 1 1 + + + · · · .“ 1×2 2×3 3×4 Es gibt keinerlei Hinweis darauf, wie sich der Pr¨ ufer die L¨osung vorstellte; der Pr¨ ufungsplan, der weder die Differentialrechnung noch die Integralrechnung enthielt, bezog sich nur auf arithmetische und geometrische Progressionen“ ” sowie Arithmetik und Algebra“. Wie wir sehen werden, tritt die Zahl 61 π 2 , ” zum Teil aufgrund ihres Zusammenhangs mit 1 1 1 + 2 + 2 + ··· 12 2 3 u ¨berraschend oft und zudem an unerwarteten Stellen auf. Ein ganz erstaunliche Stelle ist beispielsweise diese: W¨ ahlen wir zwei positive ganze Zahlen zuf¨ allig aus, dann ist 1 zu 61 π 2“ exakt die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß bei” de Zahlen teilerfremd sind (das heißt, daß sie den gr¨oßten gemeinsamen Teiler 1 haben). Diese Tatsache ist so schockierend, daß wir keine M¨ uhe scheuen werden, den Beweis vorzuf¨ uhren. Bevor wir das jedoch tun k¨onnen, sind wir auf eine weitere Hilfestellung Eulers angewiesen und m¨ ussen deswegen den Beweis auf sp¨ ater verschieben. Im letzten Kapitel erw¨ ahnen wir drei ber¨ uhmte Listen mathematischer Probleme: eine Liste, die um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert entstand; eine zweite Liste gegen Ende des 20. Jahrhunderts und eine dritte Liste, die um die Jahrhundertwende zum 21. Jahrhundert aufgestellt wurde. Euler ¨ stellte vier derartige Listen zusammen. Uber die erste dieser Listen referierte er am 6. September 1742 als neues Mitglied der Berliner Akademie.1 Im Protokoll der ersten Sitzung der mathematischen Klasse heißt es, daß verschiedene ” Mitglieder und Sonderlich der ber¨ uhmte Prof. Matheseos Herr Euler, den Seine Majest¨ at aus der Peterburgischen Academie anhero beruffen, ihren Beytrag theils u berreicht, theils annoch bald zu u ¨ ¨berreichen versprochen“ (vgl. [54]). Die Liste besteht aus sieben Problemkreisen, die nicht (wie die anderen Listen) als Herausforderung an die Mathematiker gedacht war. Es handelte sich vielmehr um eine Zusammenfassung von Ideen, die Euler f¨ ur wichtig hielt und an denen er gerade arbeitete. Die sieben Abhandlungen sind: ¨ 1. Uber die Bahnbestimmung des im M¨ arz 1742 beobachteten Kometen.
1
Die Akademie hatte zun¨ achst den Namen K¨ oniglich Preußische Soziet¨ at der ” Wissenschaften“. Diese wurde 1744 mit der 1743 gegr¨ undeten Nouvelle Soci´et´e ” Litt´eraire“ zur K¨ oniglichen Akademie der Wissenschaften“ vereinigt. ”
4.1 Mit einer positiven ganzen Zahl n
53
¨ 2. Uber Theoreme zur Reduktion von gewissen Integralformeln auf die Kreisquadratur. 3. Zur Theorie bestimmter Integrale. ¨ 4. Uber die Summation reziproker Reihen, die aus Potenzen nat¨ urlicher Zahlen hervorgehen. ¨ 5. Uber die Integration von Differentialgleichungen h¨oherer Ordnungen. ¨ 6. Uber gewisse Eigenschaften der Kegelschnitte, welche einer Vielzahl anderer Kurven entsprechen. ¨ 7. Uber die Aufl¨ osung der linearen Differentialgleichung dy + ayy dx = bxm dx. In Abhandlung 7 geht es um eine Form der Riccattischen Differentialgleichung, die wir heute als dy + ay 2 = bxm dx schreiben w¨ urden und in Abhandlung 4 sehen wir einen Hinweis auf ZetaReihen. Es gibt zahlreiche Anhaltspunkte daf¨ ur, daß Eulers diesbez¨ ugliche Bem¨ uhungen in seiner Introductio in analysin infinitorum von 1748 teilweise von Erfolg gekr¨ ont waren. Zum Beispiel verglich er andere Koeffizienten miteinander und gab die Werte von ζ(x) f¨ ur x = 2, 4, 6, . . . , 26 an. Auf diese Weise erhielt er 1 1 1 π4 . ζ(4) = 1 + 4 + 4 + 4 + · · · = 1 2 3 90 Um die Schwierigkeit des Problems zu demonstrieren, betrachten wir die Summe f¨ ur x = 26: 1 1 1 + 26 + 26 + · · · 26 1 2 3 224 × 76977927 × π 26 = 27! 1315862 = π 26 . 11094481976030578125
ζ(26) = 1 +
Dabei muß man bedenken, daß Euler keine Rechenmaschine zur Verf¨ ugung hatte. Mit Hilfe a ¨hnlicher Ideen bewies er zum Beispiel auch 1 1 π2 1 + 2 + 2 + ··· = 2 1 3 5 8 1 1 1 π4 + 4 + 4 + ··· = 14 3 5 96
54
4 Zeta-Funktionen
1 1 1 − 3 + 3 − ··· = 13 3 5 1 1 1 − 5 + 5 − ··· = 5 1 3 5
π3 32 5π 5 . 1536
In einer sp¨ ateren Arbeit, die 1750 ver¨ offentlicht wurde, verbuchte Euler einen seiner gr¨ oßten Triumphe durch die L¨ osung des allgemeinen Problems f¨ ur gerades n: ∞ (2π)2n 1 B2n , ζ(2n) = = (−1)n−1 2n r 2(2n)! r=0
wobei die B2n die sogenannten Bernoullischen Zahlen sind, die wir in Kapitel 10 diskutieren werden. Erstaunlicherweise ist keine allgemeine Formel f¨ ur ζ(n) bekannt, wenn n ungerade (und nat¨ urlich gr¨ oßer als 1) ist. Das macht die beiden letzten der oben aufgelisteten Ergebnisse nur noch reizvoller. Interessehalber geben wir hier einige Dezimalstellen der ersten Summen an: 1 1 1 + 3 + 3 + · · · = 1, 2020569031 . . . 3 1 2 3 1 1 1 ζ(5) = 1 + 5 + 5 + 5 + · · · = 1, 0369277551 . . . 1 2 3 1 1 1 ζ(7) = 1 + 7 + 7 + 7 + · · · = 1, 0083492773 . . . . 1 2 3 ζ(3) = 1 +
Hierbei ist ζ(3) eine weitere der vielen mathematischen Konstanten, die einen Namen haben: sie heißt Ap´erysche Konstante – so genannt zu Ehren von Roger Ap´ery, der 1978 bewies, daß diese Zahl irrational ist. Nicht einmal das ist f¨ ur jede der beiden anderen Zahlen bekannt, obwohl die Summen f¨ ur gerade n offensichtlich transzendent sind. Unter Ber¨ ucksichtigung des Musters, das f¨ ur die geraden Potenzen existiert, ist die Vermutung verlockend, daß ζ(2n + 1) =
∞ r=0
1 p = π 2n+1 r2n+1 q
f¨ ur gewisse ganze Zahlen p und q gilt. Im Falle von n = 2 w¨ urde dies auf den Beweis hinauslaufen, daß 1, 0369277551 . . . = 0, 003388434 . . . π5 eine rationale Zahl ist. Uff. Aber der Fortschritt ist unaufhaltsam. Im Jahr 2000 bewies T. Rivoal, daß es unendlich viele ganze Zahlen n gibt, so daß ζ(2n + 1) irrational ist, und danach bewies er im Jahr 2001, daß mindestens eine der Zahlen ζ(5), ζ(7), ζ(9), . . . , ζ(21) irrational ist. Zudilin hat dieses Ergebnis 2001 dahingehend versch¨ arft, daß er 21 durch 11 ersetzte.
4.2 Mit einer reellen Zahl x
55
4.2 Mit einer reellen Zahl x Wir hatten uns ζ(n) f¨ ur positive ganze Zahlen n angesehen. Der oben angegebene Beweis hat gezeigt, daß der Ausdruck ζ(n) =
∞ 1 , n r r=1
n > 1,
auch dann sinnvoll ist, wenn n keine ganze Zahl ist. Ersetzen wir n durch die stetige reelle Variable x > 1, dann ergibt sich die reelle Zeta-Funktion“, die ” in Abb. 4.1 graphisch dargestellt ist. 25 20
] (x) 15 10 5
2
4
x
6
8
10
Abb. 4.1. Die Zeta-Funktion
Die vertikale Asymptote liegt wegen der Divergenz von ζ(1) bei x = 1 und die horizontale Asymptote liegt bei y = 1, denn die Glieder von ζ(x), die nach dem ersten Glied folgen, tragen f¨ ur x → ∞ nur verschwindend kleine Anteile bei. Das asymptotische Verhalten l¨ aßt sich exakter messen. Sch¨atzen wir die ur ein festes x zwischen u = 1 und u = n + 1 Fl¨ ache unterhalb von y = 1/ux f¨ durch Rechtecke der Breite 1 nach oben ab (so wie in Abb. 4.2 dargestellt), dann ergibt sich n
n+1 1 du − < 1, ux ux 1 u=0
denn diese Gr¨ oße ist gleich der Summe der Fl¨ achen der schattierten gekr¨ ummten Dreiecke an der Spitze eines jeden Bereiches und diese Dreiecke k¨onnen nach links verschoben werden, so daß sie alle in das erste Rechteck passen, das die Fl¨ ache 1 hat. Das bedeutet
56
4 Zeta-Funktionen
y
y = 1x u
1
2
3
…
n
n+1
u
Abb. 4.2.
n 1 1 1 1. ≤ < = 1 − pn p2 r2 6 r=2
p prim
p prim
Das ist nicht viel, aber f¨ ur so wenig Arbeit konnten wir in diesem extrem schwierigen Teilgebiet der Mathematik auch kaum mehr erwarten.
4.3 Zwei abschließende Resultate
57
Zum Schluß geben wir ein optisch sehr gef¨alliges Resultat, das Johann Bernoulli 1697 erzielte. Es handelt sich um
1 1 1 1 1 dx = 1 + 2 + 3 + · · · . x 1 2 3 0 x Das Integral ist uneigentlich mit der Unbestimmten 00 , aber wir haben auch das wohlbekannte Ergebnis limx→0 xx = 1 und k¨onnen nunmehr in einem partiellen Integrationsfestgelage“ schwelgen, das uns zum Beweis folgender ” Formel f¨ uhrt:
1
1
1 ∞ 1 (−x ln x)r −x ln x dx e dx = dx = x r! 0 x 0 r=0 0
∞ ∞ (−1)r 1 r r 1 1 = (−x ln x)r dx = x ln x dx r! 0 r! 0 r=0 r=0
∞ (−1)r 1 r r = 1+ x ln x dx. r! 0 r=0 Nun attackieren wir das Integral durch partielle Integration und unter Verwendung der Tatsache, daß ln x sehr viel langsamer als jede Potenz von x w¨ achst. Wir erhalten 1 r+1
1
1 r+1 x x r lnr x − lnr−1 x dx xr lnr x dx = r+1 r + 1 x 0 0 0
1 r r =− x lnr−1 x dx r+1 0
1 r! r = . . . (−1) xr dx (r + 1)r 0 r! = (−1)r (r + 1)r+1 und somit
0
1
∞ (−1)r r! 1 dx = 1 + (−1)r x x r! (r + 1)r+1 r=0
= 1+
∞ r=0
1 (r + 1)r+1
1 1 1 = 1 + 2 + 3 + ··· . 1 2 3
5 Der Geburtsort von Gamma Der Mathematiker kann mit einem Modesch¨ opfer verglichen werden, der die Kreaturen vollst¨ andig vergessen hat, denen seine Kleidungsst¨ ucke passen k¨ onnten. Selbstverst¨ andlich hatte seine Kunst ihren Ursprung in der Notwendigkeit, Kleider f¨ ur diese Gesch¨ opfe anzufertigen, aber das liegt weit zur¨ uck. Jedoch kommt es gelegentlich vor, daß eine Gestalt so in das Kleid paßt, als ob dieses maßgeschneidert w¨ are. In ¨ diesem Fall sind Uberraschung und Freude grenzenlos! Tobias Dantzig
5.1 Ankunft Die harmonische Reihe divergiert also, wenn auch nur langsam. Und wie langsam sie divergiert, kann gemessen werden, indemman sich ihre Interpretation n als diskreter Logarithmus anschaut. Die Fl¨ ache 1 (1/x) dx = ln n wird (vgl. Abb. 5.1 und Abb. 5.2) von unten durch einbeschriebene Rechtecke und von oben durch umbeschriebene Rechtecke beschr¨ankt, was zu der Ungleichung
n 1 1 1 1 1 1 1 + + ··· + < dx < 1 + + + · · · + , 2 3 n x 2 3 n − 1 1 das heißt zu
Hn − 1 < ln n < Hn −
1 n
oder ln n +
1 < Hn < ln n + 1 n
f¨ uhrt. Wir haben eine Absch¨ atzung von Hn als ln n mit einem Fehler von wenigstens 1/n und h¨ ochstens 1, wobei Hn zwischen den Kurven liegt, die in Abb. 5.3 dargestellt sind. Mit anderen Worten gilt 1 < Hn − ln n < 1 n und somit haben wir 0 ≤ limn→∞ (Hn −ln n) ≤ 1, falls der Grenzwert existiert. Verwenden wir zur Absch¨ atzung nach oben Trapeze (vgl. Abb. 5.4), dann gewinnen wir einen anderen Einblick:
60
5 Der Geburtsort von Gamma
y
y = 1x
1 2 1 3
1
2
3
n1
n
x
Abb. 5.1. Absch¨ atzung nach unten durch Rechtecke
1
n
1 dx x = ln n 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 ≈ + + + 1+ + + + ··· + 2 2 2 2 3 2 3 4 2 n−1 n 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + = 1 + + + + + + + ··· + 2 2 2 3 3 4 4 n−1 n−1 n 1 1 1 1 1 1 + + + ··· + = 1+2 + 2 2 3 4 n−1 n 1 1 1 = 1 + 2 Hn − 1 − + 2 n n 1 1 = 2Hn − 1 − 2 n 1 1 = Hn − − . 2 2n
Deswegen haben wir Hn ≈ ln n +
1 1 + 2 2n
und das bedeutet
1 1 + , 2 2n so daß wir vern¨ unftigerweise annehmen d¨ urfen, daß Hn − ln n ≈
lim (Hn − ln n) ≈ 0, 5.
n→∞
Es sieht also so aus, als ob die Differenz zwischen der harmonischen Reihe und dem nat¨ urlichen Logarithmus gegen eine Zahl zwischen 0 und 1 strebt, die in der N¨ ahe von 0,5 liegt.
5.1 Ankunft
y 1 y = 1x
1 2 1 3
1
2
n1
3
x
n
Abb. 5.2. Absch¨ atzung nach oben durch Rechtecke
ln n + 1 Hn
5
ln n + 1/n
4 3 2 0
20
40
60
80
100
Abb. 5.3. Die eingeschlossene“ harmonische Reihe ”
y 1 y = 1x
1 2 1 3 1 n
1
2
3
n1
n
x
Abb. 5.4. Absch¨ atzung nach oben durch Trapeze
61
62
5 Der Geburtsort von Gamma
5.2 Niederkunft Wir hatten bereits gesehen, daß Euler 1735 die bemerkenswerte Tatsache bewies, daß 1 1 π2 1 , ζ(2) = 2 + 2 + 2 + · · · = 1 2 3 6 womit er das Baseler Problem“ l¨ oste, an dem sich die Mathematiker jahrelang ” die Z¨ ahne ausgebissen hatten. Dieses Ergebnis erschien aber erst 1740 im Druck ([44]). Im gleichen Jahr erschien auch die Arbeit De Progressionibus ” harmonicis observationes“ ([45]), die sein weiteres nat¨ urliches Interesse an Zeta-Funktionen offenbarte und zur Geburt von Gamma f¨ uhrte. Wir sehen uns den relevanten Teil der Arbeit an und benutzen dabei Eulers eigene Erfindung des Zeichens , obwohl er das Sigma-Zeichen bei dieser Gelegenheit noch nicht benutzte. Unter Verwendung des allgegenw¨artigen Resultates ln(1 + x) = x − 21 x2 + 13 x3 − 41 x4 + · · ·
−1<x≤1
ersetzte er x durch 1/r und erhielt 1 1 1 1 1 ln 1 + = − 2 + 3 − 4 + ··· , r r 2r 3r 4r also 1 = ln r
r+1 r
+
1 1 1 − 3 + 4 − ··· 2r2 3r 4r
und somit n 1
r
r=1
=
n
ln n
r=1
r+1 r
n
+
n
n
1 1 1 1 1 1 − + − ··· . 2 3 2 r=1 r 3 r=1 r 4 r=1 r4
Deswegen hat man n 1 r=1
und
r
=
n r=1
n 1 r=1
r
n
(ln(r + 1) − ln r) +
= ln(n + 1) +
und das f¨ uhrt zu n 1 r=1
n
n
1 1 1 1 1 1 − + − ··· 2 3 2 r=1 r 3 r=1 r 4 r=1 r4
n
n
n
n
n
n
1 1 1 1 1 1 − + − ··· , 2 3 2 r=1 r 3 r=1 r 4 r=1 r4
1 1 1 1 1 1 − ln(n + 1) = − + − ··· . r 2 r=1 r2 3 r=1 r3 4 r=1 r4
5.2 Niederkunft
63
Als Grenzwert f¨ ur n → ∞ haben wir die Differenz zwischen der divergenten harmonischen Reihe und den divergenten nat¨ urlichen Logarithmen – ausgedr¨ uckt durch eine unendliche Anzahl von konvergenten Zeta-Reihen, weswegen es ausgesprochen sch¨ on w¨ are, deren Summen zu kennen. Wir hatten gesehen, daß Euler schließlich das allgemeine Problem der Summierung der Zeta-Reihen f¨ ur geradzahlige Exponenten l¨ oste. Wir hatten aber auch festgestellt, daß das Problem f¨ ur ungerade Exponenten bis zum heutigen Tage offen ist, und nat¨ urlich mußte Euler auf numerische Methoden zur¨ uckgreifen, um die Summe auf der rechten Seite zu approximieren, und er gab den Wert in De Progressionibus“ als 0,577 218 an. ” Bringen wir den Logarithmus auf die andere Seite, dann erhalten wir Eulers urspr¨ ungliche Formulierung: n 1 r=1
n
n
n
1 1 1 1 1 1 − + − ··· . = ln(n + 1) + r 2 r=1 r2 3 r=1 r3 4 r=1 r4
In De Progressionibus“ dr¨ uckt sich Euler folgendermaßen aus1 : ” Quae series cum sint convergentes, si proxime summentur prodibit 1+
1 1 + · · · + = log(i + 1) + 0, 577 218. 2 i
Si summa dicatur s, foret, ut supra fecimus, ds =
di i+1
ideoque s = log(i + 1) + C.
Huius igitur quantitatis constantis C valorem deteximus, quippe est C = 0, 577 218. Aus der lateinischen Sprache des 18. Jahrhunderts in die deutsche Sprache des 21. Jahrhunderts u ¨bersetzt: Da diese Reihen konvergent sind, erh¨ alt man, wenn sie nacheinander summiert werden, den Wert 1+
1 1 + · · · + = log(i + 1) + 0, 577 218. 2 i
Wird die Summe s genannt, dann gilt, wie wir oben ausgef¨ uhrt haben. ds =
di i+1
und somit s = log(i + 1) + C.
Wir haben also den Wert dieser Konstanten C entdeckt und es ist C = 0, 577 218. 1
Dabei verwendet Euler f¨ ur log“ den Buchstaben l“. ” ”
64
5 Der Geburtsort von Gamma
Eine Geburt wird hier unter dem Namen C registriert. In der Folgezeit sind auch andere Buchstaben f¨ ur diese Zahl benutzt worden, bis sie ihre endg¨ ultige heutige Bezeichnung γ erhielt. Euler hielt seine Zahl, wie wir in der Einleitung erw¨ ahnt hatten, einer ernsthaften Betrachtung f¨ ur w¨ urdig“. Er selbst widme” te dieser Zahl eine erhebliche Aufmerksamkeit und hoffte, sie mit Hilfe einer anderen bekannten Konstanten oder Funktion ausdr¨ ucken zu k¨onnen. Im Jahr 1781 ver¨ offentlichte er unter Verwendung der Bezeichnung C (wenn auch mit dem Logarithmus von n anstelle von n + 1) die Denkschrift De Numero Me” morabili in Summatione Progressionis Harmonicae Naturalis Occurente“ bei der Petersburger Akademie. Die Schrift war g¨ anzlich der Untersuchung seiner Zahl gewidmet und Euler bekennt, daß er ihrer Natur noch immer nicht habhaft werden konnte. Er bemerkt auch, daß er die Hoffnung hatte, seine Zahl C w¨ urde sich als Logarithmus einer anderen wichtigen Zahl erweisen. Nachdem er aber keine derartige Zahl zu identifizieren vermochte, gab er eine ganze Liste von Reihen an, mit deren Hilfe man einen N¨aherungswert berechnen kann. Zwei dieser Reihen sind ∞ 1 i=2
und
∞ i=1
i
(ζ(i) − 1) = 1 − γ
1 (ζ(2i) − 1) = 1 − γ − ln 32 . (2i + 1)22i
Er verwendete die erste Reihe (die wir im Kapitel 12 beweisen werden), um f¨ unf Dezimalstellen der Konstanten zu berechnen. Mit Hilfe der zweiten Reihe berechnete er die Konstante mit einer Genauigkeit von 12 Dezimalstellen. Die Jahre sind vergangen und viele Mathematiker haben der Zahl eine erhebliche Aufmerksamkeit“ gewidmet. Leider hat sich die Zahl ihrerseits ” kaum kooperativ verhalten und ungeachtet ihres ehrw¨ urdigen Alters von 267+ ist sie immer noch so geheimnisumwittert, daß man noch nicht einmal weiß, ob sie rational ist. Tats¨ achlich hat G. H. Hardy, u uhrlicher ¨ber den wir bald ausf¨ sprechen werden, das Angebot gemacht, seine Savilian-Professur in Oxford an denjenigen abzutreten, der als Erster die Irrationalit¨at von γ beweist!
6 Die Gamma-Funktion Es gibt keinen Zweig der Mathematik, so abstrakt er auch sein m¨ oge, der nicht vielleicht eines Tages auf die Ph¨ anomene der realen Welt angewendet werden kann. Nikolai Lobatschewski (1792–1856)
Wir sehen uns jetzt die bereits genannte zweite h¨ohere“ Funktion und deren ” Zusammmenhang mit der Eulerschen Konstanten und mit der Zeta-Funktion an.
6.1 Exotische Definitionen . . . Das bemerkenswerte Integral
1
0
ln
x−1 1 dt t
¨ nahm einige der vielen mathematischen Uberlegungen Eulers in den Jahren 1729 und 1730 in Anspruch und in einem vom 8. Januar 1730 datierten Brief an Christian Goldbach (1690–1764) schlug er eine verbl¨ uffende Anwendung dieses Integrals vor. Es konvergiert f¨ ur x > 0 und kann in diesem Bereich als eine Funktion von x betrachtet werden – eine Funktion, deren Eigenschaften u utzlich sind. Adrien-Marie Legendre (1752– ¨berraschend und unerwartet n¨ 1833) gab ihr 1809 den Namen Gamma und das dazu passende Symbol Γ . Wir haben also
1 x−1
1 1 Γ (x) = ln (− ln t)x−1 dt, x > 0. dt = t 0 0 Die Substitution t → − ln t f¨ uhrt zu der n¨ utzlichen Alternative
∞ Γ (x) = tx−1 e−t dt, x > 0. 0
Offensichtlich gilt Γ (1) =
0
∞
e−t dt = [−e−t ]∞ 0 =1
66
6 Die Gamma-Funktion
und auch Γ (x + 1) =
∞
tx e−t dt
0
= [−tx e−t ]∞ 0 +x
∞
tx−1 e−t dt = xΓ (x).
0
Die letztgenannte Eigenschaft ist die funktionale Beziehung“ der Gamma” Funktion (im letzten Kapitel werden wir einer weiteren Funktionalgleichung von entscheidender Bedeutung begegnen). Die obige Beziehung kann dazu verwendet werden, die Definition u ¨ber die Einschr¨ankung x > 0 hinaus zu erweitern, indem wir die Identit¨ at in der Form Γ (x) =
Γ (x + 1) x
aufschreiben und somit zum Beispiel Γ (− 12 ) = −2Γ ( 21 ) haben. Die vertikale Asymptote bei x = 0 verhindert, daß die Funktion f¨ ur die negativen ganzen Zahlen sinnvoll ist, aber ansonsten gilt die Verallgemeinerung f¨ ur ganz R (und, wie wir sp¨ ater sehen werden, f¨ ur ganz C, abz¨ uglich der betreffenden ganzen Zahlen). Die graphische Darstellung der Funktion ist in Abb. 6.1 zu sehen.
10 5
2
4
x
Abb. 6.1. Die verallgemeinerte Gamma-Funktion
Die Funktion offenbart einige ihrer subtilen Eigenschaften, wenn wir x = n als positive ganze Zahl betrachten, denn die funktionale Beziehung wird dann zu Γ (n) = (n − 1)Γ (n − 1) = (n − 1)(n − 2)Γ (n − 2) = (n − 1)(n − 2)(n − 3)Γ (n − 3) = · · · = (n − 1)!, und die Gamma-Funktion kann somit als Verallgemeinerung der Fakult¨at aufgefaßt werden, die nur f¨ ur positive ganze Zahlen definiert ist. Gestatten wir die
6.1 Exotische Definitionen . . .
67
Benutzung des Ausrufezeichens in diesem erweiterten Sinne, dann entdecken wir den unangenehmen Fakult¨ atsfakt“ ” 0! = (1 − 1)! = Γ (1) = 1, der von vielen Studenten angezweifelt wird. Akzeptieren wir das Standardresultat √
∞ π −u2 , e du = 2 0 dann k¨ onnen wir m¨ uhelos weitere exotisch anmutende Dinge gewinnen, wie zum Beispiel √
∞
2 π 1 ∞ −1/2 −t ( 12 )! = Γ ( 32 ) = ( 12 )Γ ( 12 ) = e−u du = t e dt = 2 0 2 0 und die m¨ oglicherweise noch u ¨berraschendere Beziehung √ (− 21 )! = Γ ( 12 ) = π. Nat¨ urlich kann man auf diese Weise unendlich viele exakte Werte von Γ erur zeugen. Interessanterweise ist aber kein exakter Wert f¨ ur Γ ( 13 ), Γ ( 41 ) und f¨ unendlich viele andere x-Werte bekannt, obwohl man weiß, daß viele Funktionswerte transzendent sind. Tats¨ achlich hatte Euler bereits am 13. Oktober 1729 Goldbach den Vorschlag gemacht, die Definition Γ (x) = lim Γr (x) r→∞
zu verwenden, wobei r!rx x(1 + x)(2 + x) · · · (r + x) rx , = x(1 + x1 )(1 + x1 ) · · · (1 + xr )
Γr (x) =
was sich f¨ ur den Moment im Vergleich zu den fr¨ uheren beiden Formen als n¨ utzlicher erweist. Es ist kaum offensichtlich, daß es sich hier wirklich um die GammaFunktion handelt. Wir k¨ onnen aber die urspr¨ ungliche Definition wiedergewinnen, indem wir uns davon u ¨berzeugen, daß die funktionale Beziehung und die Nebenbedingung beim Grenz¨ ubergang erf¨ ullt sind. Es gilt n¨amlich r!rx+1 (x + 1)(x + 2) · · · (x + r)(x + 1 + r) r xΓr (x) = x+r+1
Γr (x + 1) =
68
6 Die Gamma-Funktion
und somit Γ (x + 1) = lim Γr (x + 1) = lim r→∞
r→∞
r xΓr (x) = Γ (x), x+r+1
womit wir die funktionale Beziehung wiedergewonnen haben. Außerdem haben wir r r! r= Γr (1) = (1 + 1)(1 + 2) · · · (1 + r) r+1
und deswegen
r = 1, r→∞ r→∞ r + 1 das heißt die Nebenbedingung ist tats¨ achlich erf¨ ullt. Γ (1) = lim Γr (1) = lim
120 x!
100 80 60 40 20 0
2
3
4
x
5
ln(* (x))
Abb. 6.2. Die Fakult¨ atsfunktion
14 12 10 8 6 4 2 0
2
4
6
8
x
10
Abb. 6.3. Graphische Darstellung von ln(Γ (x))
6.3 Gamma trifft Gamma
69
6.2 . . . weitere sinnvolle Definitionen Das mag alles ein wenig gek¨ unstelt anmuten. Warum verallgemeinern wir die Fakult¨ at auf eine scheinbar so bizarre Weise? Wir veranschaulichen den Sachverhalt geometrisch. Die diskrete Fakult¨ at ist in Abb. 6.2 dargestellt und wir wollen die Punkte auf n¨ utzliche Weise miteinander verbinden. Zur Herstellung dieser Verbindung m¨ ochten wir eine explizite Formel haben und wenn wir die Verallgemeinerung in der Form f (x) darstellen, dann m¨ochten wir auf jeden Fall auch, daß die Bedingungen f (1) = 1 und f (x + 1) = xf (x) erf¨ ullt sind. F¨ uhren diese Bedingungen dazu, daß wir die Punkte in eindeutiger Weise verbinden k¨ onnen? Die Antwort ist nein“, aber wir brauchen nur noch eine ” einzige weitere vern¨ unftige Bedingung, damit aus dem nein“ ein ja“ wird. ” ” Auf diese zus¨ atzliche Bedingung weist ein 1922 ver¨offentlichtes bedeutendes Ergebnis hin, das als Satz von Bohr–Mollerup bekannt ist. Betrachten wir die graphische Darstellung von ln(Γ (x)) f¨ ur x > 0 (vgl. Abb. 6.3), dann sehen wir, daß die Funktion immer konvex ist. Der Satz von Bohr–Mollerup besagt, daß f (x) die Gamma-Funktion sein muß, falls die beiden obengenannten Bedingungen erf¨ ullt sind und zus¨ atzlich vorausgesetzt wird, daß ln(f (x)) konvex ist. Unter diesen Voraussetzungen leistet keine andere Funktion das Verlangte!
6.3 Gamma trifft Gamma Karl Weierstraß (1815–1897) gab eine neue Definition und stellte damit einen Zusammenhang zwischen der Zahl Gamma und der Gamma-Funktion her: Γr (x) = =
ex ln r x(1 + x1 )(1 + x2 ) · · · (1 + xr )
ex(ln r−1−1/2−1/3−···−1/r) e(x+x/2+x/3+···+x/r) x(1 + x1 )(1 + x1 ) · · · (1 + xr )
= ex(ln r−1−1/2−1/3−···−1/r) ex/2 ex/3 ex/r 1 ex · · · × x (1 + x1 ) (1 + x2 ) (1 + x3 ) (1 + xr ) =
e−x(1+1/2+1/3+···+1/r−ln r) x 1 ex ex/2 ex/3 ex/r × , x x x ··· x (1 + 1 ) (1 + 2 ) (1 + 3 ) (1 + xr )
und daher gilt ∞ 1 1 x −x/r e = lim = xeγx 1+ Γ (x) r→∞ Γr (x) r r=1
mit
70
6 Die Gamma-Funktion
1 1 1 1 + + + · · · + − ln r = lim (Hr − ln r) = γ. r→∞ r→∞ 1 2 3 r F¨ uhren wir das noch etwas weiter, dann ergibt sich ∞ x x ln 1 + − ln Γ (x) = ln x + γx + − . r r r=1 lim
Differenzieren beider Seiten nach x und Hin¨ uberschaffen“ des Minuszeichens ” liefert ∞ 1 1 1/r Γ ′ (x) = − −γ+ − Γ (x) x r 1 + x/r r=1 ∞ 1 1 1 − = − −γ+ , x r r+x r=1
was eine Definition der Digamma-Funktion (oder Psi-Funktion) darstellt: Ψ (x) = Γ ′ (x)/Γ (x). Die Berechnung an der Stelle x = 1 liefert nun ∞ 1 1 Γ ′ (x) = −1 − γ + − Ψ (1) = = −γ, Γ (x) r r+1 r=1
das heißt Γ ′ (−1) = −γ. Damit haben wir das geometrisch ansprechende Resultat, daß γ numerisch der Anstieg der Gamma-Funktion im Punkt mit der x-Koordinate 1 ist. Nehmen wir das 1/x mit in die Summe hinein, dann folgt ∞ 1 1 Ψ (x) = −γ + − r r+x−1 r=1 und somit
Ψ (x + 1) − Ψ (x) =
∞ 1 r=1
r
−
1 r+x
−
∞ 1 r=1
r
−
1 r+x−1
=
1 , x
das heißt, wir haben die uns vertraut erscheinende rekursive Beziehung 1 . x Diese Beziehung ist uns deswegen vertraut, weil wir uns an die rekursive Definition der harmonischen Reihe erinnern: 1 Hr = Hr−1 + r f¨ ur r > 1 und mit H1 = 1. Nehmen wir f¨ ur x eine nichtnegative ganze Zahl n und verwenden dabei die Bedingung Ψ (1) = −γ, dann ergibt sich – wenn man die Rekursion vollst¨ andig bis nach unten“ durchf¨ uhrt – die sch¨one Beziehung ” Ψ (n) = −γ + Hn−1 . Ψ (x + 1) = Ψ (x) +
6.4 Komplement und Sch¨ onheit
71
6.4 Komplement und Sch¨ onheit In diesem abschließenden Abschnitt leiten wir eine wichtige (und urspr¨ unglich ebenfalls von Euler entdeckte) Formel ab, in der die Gamma-Funktion auftritt und ein sch¨ oner und weitreichender Zusammenhang zwischen ihr und der ZetaFunktion zum Ausdruck kommt. Unter Verwendung des Ergebnisses aus 6.3 u ¨ber den Kehrwert von Γ (x) haben wir ∞ 1 x 1 x x/r −x/r = −x2 eγx e−γx , 1− e e 1+ Γ (x) Γ (−x) r r r=1
aber es gilt Γ (1 − x) = −xΓ (−x) und somit folgt ∞ 1 1 x2 =x 1− 2 . Γ (x) Γ (1 − x) r r=1 Mit Hilfe der magischen Eulerschen Formel x2 x2 x2 1− 2 1 − 2 ··· sin(πx) = πx 1 − 2 1 2 3 erhalten wir nun
1 1 sin(πx) = , Γ (x) Γ (1 − x) π
das heißt die
Komplementformel
Γ (x)Γ (1 − x) =
π sin(πx)
die gilt, wenn x und 1 − x weder 0 noch negative ganze Zahlen sind. Eine Spiegelungsformel“ f¨ ur eine Funktion f (x) ist eine Formel, welche f¨ ur eine ” Konstante a die Werte von f (x) und f (a − x) zueinander in Beziehung setzt. Die Komplementformel ist also die Spiegelungsformel der Gamma-Funktion f¨ ur a = 1. Wir erinnern uns nun an
∞ tx−1 e−t dt f¨ ur x > 0 Γ (x) = 0
und f¨ uhren die Variablentransformation t = ru durch. Das liefert
∞
∞ Γ (x) = ux−1 e−ru du. (ru)x−1 e−ru r du = rx 0
0
72
6 Die Gamma-Funktion
Daher f¨ uhren
1 1 = rx Γ (x)
und
∞
ux−1 e−ru du
0
∞ ∞
1 1 ∞ x−1 −ru ζ(x) = u e du = rx Γ (x) r=0 0 0
∞ ∞ 1 = ux−1 e−ru du Γ (x) 0 r=0
nach Durchdr¨ ucken“ des Sigmazeichens durch das Integral und Summierung ” der unendlichen geometrischen Reihe zu
∞ 1 e−u ζ(x) = du. ux−1 Γ (x) 0 1 − e−u Damit erhalten wir die Sch¨ one Formel
ζ(x)Γ (x) =
0
∞
ux−1 du. eu − 1
Diese Formel gilt f¨ ur x ∈ / {1, 0, −1, −2, . . . }. Wir werden sp¨ater sehen, daß dieser Zusammenhang weitreichende Konsequenzen hat.
7 Eulers wunderbare Identit¨ at In großer Mathematik findet sich immer etwas ¨ außerst Un¨ erwartetes in Kombination mit Unvermeidbarkeit und Okonomie. G. H. Hardy (1877–1947)
7.1 Die Formel, auf die es ankommt . . . Euler wollte die Divergenz der Summe der Kehrwerte der Primzahlen beweisen. Wir hatten uns bereits den eleganten Beweis angesehen, den Erd˝ os hierf¨ ur gegeben hat. Das wird uns jedoch nicht davon abhalten, den Einfallsreichtum Eulers in vollen Z¨ ugen zu genießen – dies um so mehr, weil ein Ergebnis abf¨ allt, das der Eckpfeiler der analytischen Zahlentheorie ist. Wir werden dieses Ergebnis sp¨ ater h¨ aufig benutzen. Die positiven ganzen Zahlen sind ein Bereich mit eindeutiger Primfaktorzerlegung, das heißt jede positive ganze Zahl l¨ aßt sich auf eindeutige Weise als ein Produkt von Primzahlen ausdr¨ ucken (weswegen man u ¨brigens 1 nicht als Primzahl betrachtet). Aus dieser harmlosen Tatsache leitete Euler mit Hilfe der folgenden Umformungen etwas Wunderbares ab. Jede positive ganze Zahl r l¨ aßt sich f¨ ur irgendwelche r1 , r2 , r3 , . . . ∈ {0, 1, 2, 3, . . . } in der Form r = 2r1 3r2 5r3 · · · schreiben und deswegen haben wir 1 1 1 = xr1 xr2 xr3 = r1 r2 r3 rx (2 3 5 · · · )x 2 3 5 ··· und f¨ ur x > 1
∞ 1 1 = x xr1 3xr2 5xr3 · · · r 2 r=1 r1 ,r2 ,r3 ,...≥0 ⎛ ⎞⎛ ⎞⎛ ⎞ 1 1 1 ⎠⎝ ⎠⎝ ⎠··· =⎝ 2xr1 3xr2 5xr3 r1 ≥0 r2 ≥0 r3 ≥0
∞ ∞ 1 1 = = . pxα (px )α α=0 α=0
ζ(x) =
p prim
p prim
Jeder Term ist eine geometrische Reihe und deren Summe betr¨agt
74
7 Eulers wunderbare Identit¨ at
1 1 = , x 1 − 1/p 1 − p−x das heißt wir haben die Eulersche Formel
ζ(x) =
∞ 1 1 = , x r 1 − p−x r=1
x > 1.
p prim
Dieses Resultat stellt einen untrennbaren Zusammenhang zwischen den Primzahlen – den Bausteinen der ganzen Zahlen – und den Zeta-Funktionen her und war der Ausgangspunkt f¨ ur die analytische Zahlentheorie.
7.2 . . . und ein Hinweis auf ihre Nu ¨ tzlichkeit Wir hatten uns bereits Beweise daf¨ ur angesehen, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Eulers Resultat liefert rasch zwei weitere Beweise. Nimmt man den Grenzwert f¨ ur x → 1, so ergibt sich ∞ 1 r=1
r
=
p prim
1 1 − p−1
und die Divergenz der harmonischen Reihe f¨ uhrt zwangsl¨aufig zu dem Schluß, daß das Produkt unendlich ist; also muß es unendlich viele Primzahlen geben. Und mit dem Resultat f¨ ur ζ(2) haben wir π2 1 = ζ(2) = , 6 1 − p−2 p prim
wobei die rechte Seite eine rationale Zahl w¨ are, wenn es nur endlich viele Primzahlen g¨ abe. Da aber π 2 irrational ist (wie Legendre 1796 bewiesen hat), k¨ onnen wir ein weiteres Mal schlußfolgern, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Denken wir an den Beweis (durch reductio ad absurdum), den Erd˝ os f¨ ur die Divergenz von 1 p p prim
erbracht hat, dann k¨ onnen wir jetzt eine Kostprobe der Eulerschen Herangehensweise vorf¨ uhren und diese auch dazu verwenden, eine n¨ utzliche Absch¨ atzung f¨ ur die Gr¨ oße von
7.2 . . . und ein Hinweis auf ihre N¨ utzlichkeit
75
1 px p zu geben. Um das zu tun, logarithmieren wir die Eulersche Identit¨at und erhalten ln ζ(x) =
p prim
−1 1 . ln 1 − x p
Wenden wir nun die u utzliche logarithmische Reihe ln(1 − t) = ¨beraus n¨ −t − 21 t2 − 13 t3 − · · · auf t = 1/px an, dann ergibt sich −1 1 1 1 1 1 ln 1 − x = x+ + + + · · · p p 2p2x 3p3x 4p4x und
−1 1 ln ζ(x) = ln 1 − x p p prim 1 1 1 1 = + + + + · · · px 2p2x 3p3x 4p4x p prim 1 1 1 1 = , + + + + · · · px 2p2x 3p3x 4p4x
p prim
p prim
wobei 1 1 1 1 1 1 + 3x + 4x + · · · < 2x + 3x + 4x + · · · 2p2x 3p 4p 2p 2p 2p
2 3 1 1 1 1 = 2x 1 + x + + + ··· 2p p px px −1 1 1 = 2x 1 + x . 2p p Herumschaukeln“ mit den Ungleichheitszeichen liefert nun px > 2 und des” wegen erhalten wir 1 1 < px 2 was zu
und
1−
1 1
k=n
1 . = 24(n + 1)2
∞ ∞ 1 1 x−3 dx, (k + 1)−3 > 12 12 n+1 k=n
Damit ist der Beweis erbracht. M¨ ochten wir wieder eine Genauigkeit von m Dezimalstellen, dann fordern wir ρn − γ < 5 × 10−m−1 , und deswegen ist # 1 10m+1 −m−1 ≈ 0, 288 675 × 10m/2 . < 5 × 10 und n > 2 24n 5 × 24 Wir ben¨ otigen wieder die echte Ungleichung, denn wir haben −2 1 1 1 1 2 ρn − γ > > = 1 + 1 − 24(n + 1)2 24n2 n 24n2 n
9.4 Der Ursprung einer großen Idee
und somit gilt f¨ ur n = δn − γ >
5 × 24 24 × 10m+1
93
10m+1 /(5 × 24) die Beziehung
√ 2 120 −(m+1) 1 − (m+1)/2 = 4, 999 , 999 45 · · · × 10 999 10 (m−1)mal
die ihrerseits wieder garantiert, daß die Approximation an der mten Dezimalstelle inkorrekt ist.
9.4 Der Ursprung einer großen Idee ¨ Durch ein m¨ oglicherweise zu starkes Uberdehnen der Eigenschaften von ≈ k¨ onnen wir die Aussage γn = Hn − ln n ≈
1 1 + 2 2n
⇒
γ ≈ 0, 5
folgendermaßen umformulieren: γn − γ ≈
1 2n
oder γ ≈ γn −
1 . 2n
F¨ ur n = 1000 erhalten wir γ ≈ 0, 577 215 581 568 204 . . . mit einer Genauigkeit von sechs Dezimalstellen und f¨ ur n = 1 000 000 ergibt sich γ ≈ 0, 577 215 664 901 481 . . . mit einer Genauigkeit von zw¨olf Dezimalstellen. Unsere Vorgehensweise ist vielleicht nicht ganz streng, aber wir sind bei der Approximation von γ auf der richtigen Spur! Tats¨achlich handelt es sich um den ersten einer Reihe von N¨ aherungswerten, die sich in geheimnisvoller Weise folgendermaßen fortsetzen: γ ≈ γn −
1 1 1 1 1 1 + − + − + ··· + ··· . 2 4 6 8 2n 12n 120n 252n 240n 12n14
Das Geheimnis wird nur noch gr¨ oßer, wenn wir wissen, daß der Bruch, bei ahler die Zahl −691 und im Nenner die Zahl 32 760 hat. dem n12 auftritt, im Z¨ Tats¨ achlich l¨ aßt sich die Approximation vollst¨andiger in der Form ∞
B2r 1 1 + γ ≈ γn − 2n r=1 2r n2r schreiben, die einen Spezialfall der Euler–Maclaurinschen Summenformel darstellt, wobei die B2r die sogenannten Bernoullischen Zahlen1 sind. Wir werden uns beides im n¨ achsten Kapitel genauer ansehen.
1
Auch als Bernoulli-Zahlen bezeichnet.
10 Gamma als Dezimalbruch Ein Mathematiker ist wie ein Blinder, der in einem dunklen Raum nach einer schwarzen Katze sucht, die gar nicht dort ist. Charles Darwin (1809–1882)
10.1 Die Bernoullischen Zahlen Unsere bisherige Hinwendung zu den Zeta-Reihen bedeutet, daß wir – bez¨ uglich der Reihensummation – in gewisser Weise auf der zweiten Leitersprosse begonnen haben, wobei die erste Sprosse von der Familie 1k + 2k + 3k + · · · + nk f¨ ur k ∈ N besetzt ist. Im Jahr 1784 hatte Gauß im Alter von sieben Jahren die ganzen Zahlen von 1 bis 100 zum Erstaunen seines Lehrers in wenigen Sekunden addiert – Gauß hatte bemerkt, daß man sich die Reihe als 50 Paare von Zahlen vorstellen kann, die sich jeweils zu 101 summieren. Nat¨ urlich konnte das junge Genie nicht wissen, daß die alten Griechen, Hindus und Araber bereits ihre eigenen Summierungsregeln f¨ ur k ≤ 4 hatten. Auch konnte Gauß die Arbeit von Johann Faulhaber (1580–1635) nicht kennen. Faulhaber, seines Zeichens Rechenmeister zu Ulm, hatte (wie fast alle m¨annlichen Familienmitglieder) zun¨ achst das Weberhandwerk erlernt. Nach einem erfolglosen Versuch, in Biberach als Schulmeister Fuß zu fassen, bewarb sich Faulhaber im Alter von 20 Jahren beim Rat der Stadt um die Stelle eines deutschen Schulmeisters in Ulm, die ihm nach einer Examinierung“ durch die Herrn ” ” Bawpfleger“ zugestanden wurde.1 Danach wurde er als Rechenmeister, Eichmesser und Feldmesser von der Stadt Ulm angestellt. Er entwarf Wasserr¨ader, war im Wehrbau t¨ atig und verbesserte viele mathematische Instrumente und Feldmeßger¨ ate. Faulhaber besorgte auch die erste deutsche Herausgabe der Briggschen Logarithmen. Tats¨ achlich war er eher ein Cossist“ als ein Re” ” chenmeister“ und seine 1631 ver¨ offentlichte Academiae Algebrae enthielt nicht nur die Summen bis k = 17, sondern auch die wichtige Feststellung ein Polynom in n(n + 1) f¨ ur ungerades k, k k k k 1 +2 +3 +· · ·+n = (2n + 1) × ein Polynom in n(n + 1) f¨ ur gerades k. 1
vgl. I. Schneider Johannes Faulhaber, Rechenmeister in einer Welt des Umbruchs. Birkh¨ auser Verlag, Basel 1993 ([121]).
96
10 Gamma als Dezimalbruch
(Der Begriff Cossist leitet sich vom italienischen Wort cosa“ ab, das Ding, ” ” Sache“ bedeutet. Die damaligen Mathematiker dr¨ uckten mit diesem Wort die Unbekannten aus. Einen Cossisten“ w¨ urden wir heute eher als Algebraiker“ ” ” bezeichnen.) Fermat ben¨ otigte 1636 eine Antwort, da er derartige Summen k in seiner Entwicklung der Quadratur von f (x) = x berechnete, noch bevor Newton seinen Calculus“ ( Kalk¨ ul“) ver¨ offentlichte. Fermat fand eine rekur” ” sive Relation, welche die Summe f¨ ur k zu den Summen f¨ ur k − 1, k − 2, ... in Beziehung setzte. Das war genial, erwies sich aber bald als nicht handhabbar, und obwohl Blaise Pascal (1623–1662) im Jahr 1654 eine Verbesserung gab, mußte das Problem noch bis zum darauffolgenden Jahrhundert warten, bevor es von einem der gr¨ oßten Mathematiker gel¨ ost wurde. Die ersten paar Ausdr¨ ucke lassen sich folgendermaßen schreiben: 1 + 2 + 3 + · · · + n = 21 n(n + 1),
12 + 22 + 32 + · · · + n2 = (2n + 1) 16 n(n + 1), 13 + 23 + 33 + · · · + n3 = 14 [n(n + 1)]2 ,
1 n(n + 1)[3n(n + 1) − 1]. 14 + 24 + 34 + · · · + n4 = (2n + 1) 30
Das ist nichts anderes als Faulhabers Bemerkung und die sehr sch¨one Beziehung 13 + 23 + 33 + · · · + n3 = (1 + 2 + 3 + · · · + n)2 . Jakob Bernoulli l¨ oste das Problem und gab die L¨osung in seinem ber¨ uhmten Traktat Ars Conjectandi 2 bekannt, das 1713 postum ver¨offentlicht wurde. Bei der Auflistung der Resultate bis k = 10 beschrieb Bernoulli das Muster, auf das es ankam. Er setzte in großz¨ ugiger Weise voraus, daß andere den gleichen Durchblick haben, und schrieb (ohne Beweis): Wer aber diese Reihe in Bezug auf ihre Gesetzm¨assigkeit genauer betrachtet, kann auch ohne umst¨ andliche Rechnung die Tafel fortsetzen. Bezeichnet c den ganzzahligen Exponenten irgend einer Potenz, so ist
1 1 1 nc+1 + nc + cAnc−1 nc ∝ c+1 2 2 c.c − 1.c − 2 c.c − 1.c − 2.c − 3.c − 4 c−3 + Bn + Cnc−5 2.3.4 2.3.4.5.6 c.c − 1.c − 2.c − 3.c − 4.c − 5.c − 6 Dnc−7 , + 2.3.4.5.6.7.8
2
wobei die Exponenten der Potenzen von n regelm¨assig fort um 2 abnehmen bis herab zu n oder nn. Die Buchstaben A, B, C, D bezeichucken f¨ ur nach die Coefficienten von n in den Ausdr¨ nen der Reihe amlich nn, n4 , n6 , n8 , . . . , n¨
In deutscher Sprache unter dem Titel Wahrscheinlichkeitsrechnung erschienen; Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1899 ([13]).
10.1 Die Bernoullischen Zahlen
97
A = 1/6, B = −1/30, C = 1/42, D = −1/30, . . . . Diese Coefficienten aber haben die Eigenschaft, dass sie die u ¨brigen Coefficienten, welche in dem Ausdrucke der betreffenden Potenzsumme auftreten, zur Einheit erg¨ anzen; so haben wir z.B. den Werth von D gleich −1/30 angegeben, weil 7 2 1 1 1 1 + + − + + (+D) − = 1 oder 9 2 3 15 9 30
1 +D =1 30
sein muss. Mit H¨ ulfe der obigen Tafel habe ich innerhalb einer halben Viertelstunde gefunden, dass die 10ten Potenzen der ersten tausend Zahlen die Summe liefern: 91 409 924 241 424 243 424 241 924 242 500. Hieraus sieht man, wie unn¨ utz die M¨ uhe gewesen ist, welche Isma¨el Bullialdus auf die Abfassung seiner sehr umfangreichen Arithmetica ” Infinitorum“ verwendet hat; denn er hat darin nichts weiter geleistet, als dass er nur die Potenzsummen f¨ ur c = 1 bis c = 6 – einen Theil dessen, was wir auf einer einzigen Seite erreicht haben – mit ungeheurer M¨ uhe berechnet hat. Der vernichtende Kommentar bezog sich auf die außerordentlichen Anstrengungen des Ismael Bullialdus (1605–1694), der ein sechsb¨andiges Werk3 verfaßt hatte, in dem er die Ergebnisse f¨ ur die ersten sechs Potenzen angibt. Zu beachten ist die von Bernoulli verwendete Bezeichnungsweise: das umgedreh” ur =“, den Ausdruck nn f¨ ur n2 , das Integralzeite Proportionalzeichen“ ∝ f¨ ” chen f¨ ur die Summation (Eulers Einfluß hatte sich noch nicht durchgesetzt), ein Punkt f¨ ur die Multiplikation und die impliziten Klammern in den Ausdr¨ ucken, bei denen c auftritt. Nebenbei bemerkt gab er f¨ ur den Koeffizienten 3 1 anstelle des korrekten Wertes − 20 an. ur k = 9 irrt¨ umlicherweise − 12 von n2 f¨ Bei der Identifikation der von ihm als A, B, C, D, . . . bezeichneten Zahlen hatte Bernoulli diejenigen Zahlen in der Entwicklung isoliert, die von den Potenzen unabh¨ angig sind. Die Auflistung dieser Zahlen – einschließlich derer, die gleich Null sind – liefert 1,
1 , 2
1 , 6
0,
−
1 , 30
0,
1 , 42
0,
−
1 , 30
0,
5 , 66
0,
...,
die von Euler passenderweise als Bernoullische Zahlen B0 , B1 , B2 , . . . bezeichnet wurden. Das Bildungsgesetz dieser Folge ist alles andere als durchsichtig. Das n¨achste Glied ist 691/2730 und danach kommen 3
Ismael Bullialdus, auch Boullaud oder Boulliau, geh¨ orte zum Bekanntenkreis von Girard Desargues, Pater Mersenne, Roberval und anderen. Sein Opus novum ad ” arithmeticam infinitorum“ ist 1682 in Paris erschienen.
98
10 Gamma als Dezimalbruch
7 , 6
−
3617 , 510
43 867 , 798
....
In moderner Formulierung und unter Verwendung der Standardnotation n n! = r r!(n − r)! f¨ ur die Binomialkoeffizienten bewies Bernoulli also 2 2 1 2 1 2 1 1 + 2 + 3 + · · · + n = 2n + 2n = B1 n B0 n + 1 2 0 12 + 22 + 32 + · · · + n2 = 13 n3 + 21 n2 + 61 n 3 3 3 1 3 2 = B1 n + B0 n + B2 n 1 3 0 2
13 + 23 + 33 + · · · + n3 = 14 n4 + 21 n3 + 41 n2 4 4 1 4 = B1 n3 B0 n + 1 4 0 4 4 2 + B2 n + B3 2 3
1 n 14 + 24 + 34 + · · · + n4 = 15 n5 + 21 n4 + 31 n3 − 30 5 5 5 1 5 4 = B1 n + B0 n + B2 n3 1 5 0 2 5 5 2 + B3 n + B4 n . 3 4
Obwohl die Bernoullischen Zahlen keinem offensichtlichen Bildungsgesetz gen¨ ugen, lassen sie sich rekursiv definieren, wie Bernoulli durch seine Berechnung von D ank¨ undigte. Seine Erkl¨ arung bezog sich auf die Entwicklung f¨ ur k = 8, f¨ ur die er 18 + 28 + 38 + · · · + n8 =
7 2 1 1 9 1 8 2 7 n + n + n − n5 + n3 − n 9 2 3 15 9 30
angab. F¨ ur n = 1 m¨ ussen beide Seiten gleich 1 sein und somit ist es m¨oglich, jede Zahl mit Hilfe der anderen auszudr¨ ucken. Das ist es, was Bernoulli f¨ ur sein D machte, wobei er eine etwas merkw¨ urdige algebraische Form verwendete. Jede ungerade Bernoullische Zahl (mit Ausnahme der ersten) ist gleich 0 und jede gerade Bernoullische Zahl l¨ aßt sich mit Hilfe der rekursiven Relation gewinnen, auch wenn es langwierig und erm¨ udend ist. Es gibt eine Vielzahl von alternativen M¨ oglichkeiten, die Bernoullischen Zahlen zu erzeugen, und sie treten als Bestandteil der Koeffizienten einer Reihe von Entwicklungen auf, zum Beispiel in der von Euler gegebenen Entwicklung von x . ex − 1
10.1 Die Bernoullischen Zahlen
99
Dar¨ uber hinaus lassen sie sich in effizienter Weise durch die sogenannten Tangentzahlen“ erzeugen, aber niemandem w¨ urde es einfallen, die Bernoul” lischen Zahlen als kooperativ zu bezeichnen. Euler berechnete sie bis B30 , Martin Ohm (1792–1872), der Bruder des bekannten Physikers, dehnte dieses Ergebnis 1840 bis B62 aus, und im darauffolgenden Jahr berechnete John Couch Adams (1819–1872) die Bernoullischen Zahlen bis B124 . Der Z¨ahler der letztgenannten Zahl hat 110 Stellen, w¨ ahrend der Nenner einfach die Zahl 30 ist. Die Berechnungen schreien geradezu nach den Rechenhilfsmitteln, die wir heute als selbstverst¨ andlich betrachten: nach einem Einsatz von Computern, von denen Augusta Ada King (1815–1852), Countess of Lovelace (eine Tochter von Lord Byron), 1843 eine Vorahnung hatte. Ada Lovelace schlug Charles Babbage vor, er solle unter Verwendung seiner Analytical Engine“ ” einen Plan“ zur Berechnung der Bernoullischen Zahlen entwerfen. Dem ita” lienischen Ingenieur, Mathematiker und Staatsmann Luigi Federico Menabrea (1809–1896), einst Professor der Mechanik in Turin und 1867–1869 Ministerpr¨ asident, kommt das Verdienst zu, die Mitschriften der Vortr¨age, die Babbage w¨ ahrend seines Italienaufenthaltes u ¨ber seine geplante universelle Rechenma¨ schine hielt, einer breiten Offentlichkeit zug¨ anglich gemacht zu haben. Ada Lovelace u ¨bersetzte die von Menabrea herausgegebenen Mitschriften und verfaßte sogar einen Anhang dazu: Sketch of the analytical engine, invented by ” C. Babbage. With Notes upon the memoir by the translator A. Countess of ¨ Lovelace“. In ihrer kommentierten Ubersetzung legte Ada Lovelace verschiedene Pl¨ ane“ vor, die als die ersten schriftlich belegten Computerprogramme ” f¨ ur ein Ger¨ at angesehen werden k¨ onnen, f¨ ur das sie eine romantische Beschreibung gab: es webt algebraische Muster, so wie der Jacquard-Webstuhl Blu” men und Bl¨ atter webt“. Zu den von Ada Lovelace angegebenen Programmen geh¨ ort auch ein Programm zur Berechnung der Bernoullischen Zahlen. Nachdem Fermats Letzter Satz nunmehr bewiesen ist, wollen wir noch aus historischen Gr¨ unden anf¨ uhren, daß die Bernoullischen Zahlen bei fr¨ uheren L¨ osungsversuchen eine Rolle spielten. Ernst Eduard Kummer (1810–1893) hat gegen 1850 beweisen k¨ onnen, daß Fermats Letzter Satz f¨ ur alle Exponenten gilt, die regul¨ are Primzahlen sind. Kummers urspr¨ ungliche Regularit¨atsdefinition verlangt umfangreiche algebraische Vorkenntnisse; er zeigte aber, daß eine Primzahl p > 2 genau dann regul¨ ar ist, wenn sie keinen der Z¨ahler der urzten Darstellung) Bernoullischen Zahlen B2 , B4 , B6 , . . . , Bp−3 (in ihrer gek¨ teilt. Wendet man das Kummersche Kriterium an, so erkennt man die Regularit¨ at der Primzahlen 3, 7, 11, 13, 17 und 19. Seit Kummer vermutet man, daß es unendlich viele regul¨ are Primzahlen gibt, aber das Problem ist bis zum heutigen Tage offen. Dagegen ist seit 1915 bekannt, daß es unendlich viele irregul¨ are (das heißt nicht regul¨ are) Primzahlen gibt. Die erste irregul¨are = − 208360028141·37 Primzahl ist u ¨brigens 37, denn es ist B32 = − 7709321041217 510 510 und 32 < 37 − 3. Unterhalb von 100 sind lediglich die Primzahlen 37, 59 und 67 irregul¨ ar.
100
10 Gamma als Dezimalbruch
10.2 Die Euler–Maclaurinsche Summenformel Wir hatten festgestellt, daß γ = lim
n→∞
1 1 1 1 + + + · · · + − ln n 1 2 3 n
als Differenz zwischen der Summe und dem Integral der Funktion f (x) = 1/x aufgefaßt werden kann, denn wir haben 1 1 1 1 γ = lim + + + · · · + − ln n n→∞ 1 2 3 n
n 1 n1 − dx = lim n→∞ k 1 x k=1 n
n = f (x) dx f (k) − 1
k=1
und wenn wir γ als zweitrangig ansehen, dann k¨onnten wir
n n 1 1 − dx ≈ γ k x 1
k=1
und somit
n n 1 1 ≈ dx + γ k x 1
k=1
schreiben. Mit dieser Verschiebung der Betonung approximieren wir eine Summe durch ein Integral. Zwar kann sich eine Integration als schwieriges Unterfangen erweisen, aber sie kann auch sehr viel leichter als eine Summation sein. Vielleicht sind wir hier einer guten Idee auf der Spur? Ja, das sind wir, aber Euler und Colin Maclaurin (1698–1746) waren fast 300 Jahre schneller, als sie die Formel fanden, die sp¨ ater unter der Bezeichnung Euler–Maclaurinsche ” Summenformel“ bekannt wurde. Wir werden diese Formel hier nicht beweisen, aber wir werden sie f¨ ur unsere Zwecke nutzen. Die Formel wird in vielen Teilgebieten der Mathematik verwendet – vor allem in der numerischen Analysis, in der analytischen Zahlentheorie und in der allgemeinen Theorie der asymptotischen Entwicklungen. Im Jahr 1736 hatte Euler zun¨achst die einfachste Formulierung der Formel und etwas sp¨ater im gleichen Jahr die allgemeine Form gefunden. Unabh¨ angig hiervon hatte Maclaurin die Formel entdeckt und 1742 in seinem Treatise of Fluxions ver¨offentlicht. In einer ihrer allgemeinsten Formulierungen lautet die Formel n
k=1
f (k) =
1
n
1 f (x) dx + (f (1) + f (n)) 2
10.3 Zwei Beispiele
101
m B2k 2k−1 (f (n) − f 2k−1 (1)) + Rn (f, m), (2k)! k=1
n 2 Rn (f, m) ≤ |f 2m+1 (x)| dx, (2π)2m 1
+
wobei die B2k nat¨ urlich die Bernoullischen Zahlen sind und die (2k − 1)ten Potenzen“ der Funktion in Wirklichkeit deren (2k−1)te Ableitungen bezeich” nen. Die Anwendung der Entwicklung kann sich als subtil erweisen und hier haben wir einen Fall, in dem die Vernachl¨ assigung des Restglieds (Rn (f, m)) verh¨ angnisvoll sein kann, denn die Reihe divergiert f¨ ur die meisten Funktionen, die in den Anwendungen auftreten. Gl¨ ucklicherweise braucht man meistens nicht viele Glieder, um eine gute Genauigkeit zu erzielen, das heißt die N¨ aherungswerte, die durch die Reihe geliefert werden, sind im Allgemeinen hervorragend. Diese Tatsache ließ Euler keine Ruhe, aber es blieb Poisson (1781–1840) vorbehalten, das Restglied im Jahr 1823 eingehend zu untersuchen.
10.3 Zwei Beispiele 1. Als erstes k¨ onnen wir im Rahmen einer vertrauensbildenden Maßnahme zeigen, daß die Euler–Maclaurinsche Summenformel f¨ ur f (x) = x3 zu dem erwarteten Resultat f¨ uhrt. Die Ableitungen sind nat¨ urlich f ′ (x) = 3x2 , f ′′ (x) = 6x ′′′ und f (x) = 6; die u ¨brigen Ableitungen sind gleich Null, und somit ist auch das Fehlerglied gleich Null: n
3
k =
n
x3 dx + 21 (13 + n3 ) +
1
k=1
= =
1 4 4n 1 4 4n
B2 B4 (3n2 − 3 × 12 ) + (6 − 6) 2! 4!
− 41 + 21 + 12 n3 + 21 × 16 (3n2 − 3) + 21 n3 + 41 n2 = ( 12 n(n + 1))2 .
2. Als zweite Anwendung der Formel schauen wir uns ein zu Recht ber¨ uhmtes (wenn auch unzutreffend benanntes) Resultat an, n¨amlich die N¨aherungsformel f¨ ur n! f¨ ur große n. Wir nehmen diesmal f (x) = ln x und haben somit f ′ (x) =
1 , x
f ′′ (x) = −
1 x2
2 (n − 1)! , · · · , f (n) (x) = (−1)n−1 . 3 x xn Wir unterdr¨ ucken nun das Fehlerglied und erhalten f ′′′ (x) =
n
k=1
ln k =
1
n
1 ln x dx + (ln 1 + ln n) 2
102
10 Gamma als Dezimalbruch
+
B2 2!
1 1 − n 1
+
B4 4!
2 2 − 3 n3 1
+
B6 6!
24 24 − 5 n5 1
+ ··· .
Unter Anwendung der Standardeigenschaften der Logarithmen auf der linken Seite und des fiesen partiellen Integrationstricks“ auf der rechten Seite (indem ” wir ln x = 1 × ln x schreiben) ergibt sich ln n! = n ln n − n +
1 1 1 1 ln n + − + + Cn + · · · , 2 12n 360n3 1260n5
wobei Cn die Konstante bis zu dieser Anzahl von Gliedern ist. Potenzieren beider Seiten liefert nun √ Cn 1 1 1 n −n − ne exp + + ··· . n! = n e 12n 360n3 1260n5 Mit Hilfe der Taylor-Entwicklung von ex erhalten wir (wie der Leser u ¨berpr¨ ufen m¨ oge) √ 1 1 139 + − n! = nn − en neCn 1 + 12n 288n2 51840n3 571 163879 − + + · · · , 2488320n4 209018880n5 was eine exzellente Approximation f¨ ur n! sein k¨onnte, wenn wir nur den asymußten – vorausgesetzt, daß der Grenzwert u ptotischen Wert von eCn w¨ ¨berhaupt existiert. Bei der Reihe handelt es sich um die wohlbekannte Stir” lingsche N¨ aherungsformel“, die James Stirling (1692–1770) im Jahr 1730 in seinem bedeutendsten Werk Methodus Differentialis ver¨offentlichte – genauer gesagt, gab er die ersten acht Glieder der Reihe an. Stirling interessierte sich f¨ ur die Logarithmen der Fakult¨ aten und er beließ die Reihe in ihrer logarithmischen Form, wobei er log10 1000! auf 10 Dezimalstellen berechnete und einen N¨ aherungswert f¨ ur die Konstante verwendete. Im gleichen Jahr ver¨ offentlichte Abraham de Moivre (1667–1754) seine Miscellanea Analytica; dieses Werk enthielt – von allem anderen abgesehen – seine eigene Logarithmentafel, die sp¨ ater korrigiert werden mußte, seine eigene Form der Approximation sowie einen Beweis f¨ ur die Existenz der Konstanten. Es dauerte noch einige Jahre, bis√Stirling die exakte Form der Konstanten fand und feststellte, daß eCn −−−−→ 2π gilt. Die Reihe hat somit die Form n→∞
1 1 139 + n! = n − e 2πn 1 + − 12n 288n2 51840n3 571 163879 − + + ··· . 2488320n4 209018880n5 n
n
√
Hier haben wir einen Fall, in dem sich das Fehlerglied schlecht benimmt, denn f¨ ur beliebiges festes n nimmt es ab, wenn wir mehr Glieder hinzunehmen – bis
10.4 Die Implikationen f¨ ur Gamma
103
wir an eine Stelle kommen, an der es zu wachsen beginnt. Gl¨ ucklicherweise geht das Fehlerglied bei festem m und bei wachsendem n gegen Null und damit erhalten wir f¨ ur n! immer bessere N¨ aherungswerte. Wir werden einige Male auf die n¨ utzliche Stirlingsche N¨aherungsformel zur¨ uckgreifen. An dieser Stelle wollen wir aber noch eine weitere Konstante nennen, auf die wir sp¨ ater ebenfalls zur¨ uckkommen werden. Diese Konstante ergibt sich in gewisser Weise aus der Stirlingschen N¨aherungsformel. Wir schreiben zun¨ achst die Approximation erster Ordnung in der Form n! nn+1/2 e−n Diese Form bedeutet lim
n→∞
≈
n! nn+1/2 e−n
√ 2π.
=
√
2π.
Ersetzt man n! durch eine andere asymptotisch große Gr¨oße und √dividiert man durch einen geeigneten Ausdruck, dann kann sich eine von 2π verschiedene Konstante ergeben. Insbesondere f¨ uhren die sympathischen Gr¨oßen 2 2 00 11 22 33 · · · nn und f (n) = nn /2+n/2+1/12 e−n /4 zu 00 11 22 33 · · · nn = A, n→∞ f (n) lim
der Konstanten von Glaisher–Kinkelin, deren Wert ungef¨ahr bei 1, 282 427 13 . . . liegt. So exotisch diese Konstante auch sein mag: auch sie wird sich als n¨ utzlich erweisen, wie wir sehen werden.
10.4 Die Implikationen fu ¨ r Gamma Wenden wir die Euler–Maclaurinsche Formel auf f (x) = 1/x an, dann erhalten wir 1 2 f ′ (x) = − 2 , f ′′ (x) = − 3 x x f ′′′ (x) = −
13 × 2 , x4
··· ,
f r (x) = (−1)r
r! xr+1
.
Das bedeutet, daß n 1 1 1 1 = ln n + + k 2 1 n k=1 m B2k 2k−1 (2k − 1)! 2k−1 + − (−1) (2k − 1)! (−1) (2k)! n2k k=1
+Rn (f, m)
104
10 Gamma als Dezimalbruch
1 = ln n + 2
1 1 + 1 n
m
k=1
B2k 2k
1 1 − 2k n
+ Rn (f, m),
wobei sich die Fakult¨ aten aufgehoben haben und die ungeraden Potenzen von −1 durch −1 ersetzt wurden. Es gilt aber
n 1 − ln n γ = lim n→∞ k k=1
=
1 + 2
m B2k
k=1
2k
+ R∞ (f, m)
und somit n m 1 1 B2k 1 = ln n + γ + − + (Rn (f, m) − R∞ (f, m)). k 2n 2k n2k
k=1
k=1
Ber¨ ucksichtigen wir die ersten paar Glieder (und ignorieren wir das Fehlerglied), so ergibt sich n 1 1 1 1 1 = ln n + γ + − + − + ··· k 2n 12n2 120n4 252n6
k=1
und wir haben γ=
n 1 1 1 1 1 − ln n − + − + + ··· . 2 4 k 2n 12n 120n 252n6
k=1
Das ist die Verallgemeinerung der Reihe f¨ ur γ, die wir auf S. 93 angedeutet hatten. Euler verwendete diese Reihe bis zum Glied 1/12n14 zusammen mit n = 10, H10 = 2, 928 968 253 968 253 9 und ln 10 = 2, 302 585 092 994 045 684, um die folgenden 16 Stellen von γ zu berechnen: 0, 577 215 664 901 532 5 . . .. Nat¨ urlich war der Wunsch u achtig, die Genauigkeit der Absch¨atzung ¨berm¨ zu vergr¨ oßern und der italienische Geometer Lorenzo Mascheroni (1750–1800) ver¨ offentlichte 1790 in seinen Adnotationes ad calculum integrale Euleri einen auf 32 Dezimalstellen genauen N¨ aherungswert von γ, den er auf ¨ahnliche Weise berechnet hatte; der Sch¨ atzwert betrug nun 0, 577 215 664 901 532 860 618 1 . . . . So weit so gut – bis zum Jahr 1809, als Johann von Soldner (1766–1833) seine Funktion
x 1 dx, Li(x) = ln x 2 auf die wir sp¨ ater noch zur¨ uckkommen werden, dazu verwendete, den Wert 0, 577 215 664 901 532 860 606 5 . . .
10.4 Die Implikationen f¨ ur Gamma
105
anzugeben, der sich von dem obigen Wert ab der 20. Dezimalstelle unterschied. Die Sache wurde (ohne Behebung der Konfusion) gekl¨art, als Gauß den 19-j¨ ahrigen Rechenk¨ unstler F.G.B. Nicolai (1793–1846) in Beschlag nahm, um die Ergebnisse zu u ufen. Das tat Nicolai denn auch und berechnete ¨berpr¨ mit Hilfe der Euler–Maclaurinschen Summenformel f¨ ur n = 50 und danach nochmals f¨ ur n = 100 den Wert von γ auf 40 Dezimalstellen – und fand dabei, daß sein Ergebnis mit dem Resultat u ¨bereinstimmt, das von Soldner angegeben hatte. Dennoch zirkulierten beide Werte und erschienen sogar zusammen in einer Ver¨ offentlichung. Das veranlaßte in der Folgezeit eine Reihe von unerm¨ udlichen Kalkulatoren“ (erneut unter Verwendung der Euler– ” Maclaurinschen Summenformel), ihre eigenen unabh¨angigen Best¨atigungen der Soldnerschen Absch¨ atzung zu liefern. Abgesehen von einem Fehler, der zu mindestens acht nachfolgenden Neuberechnungen der Zahl f¨ uhrte, besteht Mascheronis bleibender Beitrag zur Story von γ darin, daß er die Bezeichnung γ pr¨ agte; wir hatten gesehen, daß Euler urspr¨ unglich den Buchstaben C benutzte und auch die Buchstaben O und A wurden verwendet. Dieser gl¨ uckliche Zufall f¨ uhrte dazu, daß die Zahl auch unter dem Namen Euler” Mascheroni-Konstante“ bekannt ist. Zur Hinterlassenschaft von Mascheroni geh¨ ort vor allem sein Resultat, daß alle mit Zirkel und Lineal l¨osbaren geometrischen Konstruktionsaufgaben auch mit dem Zirkel allein gel¨ost werden k¨ onnen. Zwangsl¨ aufig haben sich die Dinge seitdem voranbewegt: 1962 verwendete Donald Knuth 250 Glieder der Euler–Maclaurinschen Reihe f¨ ur n = 10 000 und berechnete damit 1271 Dezimalstellen von γ, im Jahr 1997 berechnete Thomas Papanikolaou 1 000 000 Dezimalstellen (die millionste Dezimalstelle ist 9) und 1999 berechneten P. Demichel and X. Gourdon 108 000 000 Dezimalstellen! Nat¨ urlich liegt eine derartige Genauigkeit weit jenseits dessen, utzlich“ erweisen k¨onnte, aber was sich in irgendeiner denkbaren Weise als n¨ ” darum geht es gar nicht. Vielmehr geht es um einen Sachverhalt, den James Glaisher (1848–1928) im Jahr 1915 ansprach: Zweifellos ist der Wunsch, viele Stellen dieser Zahlen zu berechnen, teilweise auch auf die Tatsache zur¨ uckzuf¨ uhren, daß die meisten dieser Zahlen an und f¨ ur sich interessant sind; denn e, π, γ, ln 2 und viele andere dieser numerischen Gr¨ oßen haben einen eigenartigen und zum Teil geheimnisumwobenen Platz in der Mathematik, so daß es eine nat¨ urliche Tendenz ist, alles Erdenkliche zu tun, um den Wert m¨ oglichst pr¨ azise zu bestimmen.
11 Gamma als rationaler Bruch Ein Mensch ist wie ein Bruch, dessen Z¨ ahler er selbst darstellt und dessen Nenner wiedergibt, wie dieser Mensch von sich eingenommen ist. Je gr¨ oßer der Nenner, desto kleiner der Bruch. Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910)
11.1 Ein R¨ atsel Es ist eine einfache arithmetische Tatsache, daß man die Dezimalapproximationen einer Zahl dazu verwenden kann, f¨ ur diese Zahl N¨aherungswerte in Form von rationalen Br¨ uchen1 zu erzeugen. Zum Beispiel erhalten wir f¨ ur γ = 0, 577 215 664 901 532 860 606 5 . . . folgende N¨ aherungswerte: 1 57 577 2881 57 721 5 57 577 5772 57 721 , , , , ,··· = , , , , ,.... 10 100 1000 10 000 100 000 2 100 1000 5000 100 000 Man vergleiche jedoch die Genauigkeit der N¨ aherungswerte mit der r¨atselhaften Folge 3 4 11 15 71 228 3035 , , , , , , ,.... 5 7 19 26 123 395 5258 007 Und was ist mit 323 uffenden Zahlen um 559 595 ? Es handelt sich bei diesen verbl¨ immer genauere N¨ aherungswerte f¨ ur γ, die besser sind als jeder derjenigen Br¨ uche, die sich auf die oben beschriebene Weise aus der Dezimalbruchdarstellung gewinnen lassen. Wollen wir γ durch rationale Br¨ uche approximieren, dann tun wir gut daran, uns diese Zahlen n¨ aher anzuschauen. Die Frage ist, woher sie kommen.
11.2 Ein Problem Fermat hatte die Neigung, zahlentheoretische Probleme zu stellen. Das ber¨ uhmteste dieser Probleme ist sein Letzter Satz“ (der so genannt wurde, weil es ” 1
Die rationalen Br¨ uche werden auch als gew¨ ohnliche Br¨ uche oder gemeine Br¨ uche bezeichnet. Es gibt auch Autoren, die unter der Bezeichnung Bruch“ einen ra” tionalen Bruch verstehen.
108
11 Gamma als rationaler Bruch
die letzte seiner Behauptungen war, die sich einem Beweis widersetzten). Aber Fermat warf auch zahlreiche andere Probleme auf. Euler beantwortete viele dieser Fragen. Eines der Probleme wurde 1759 von Euler teilweise und dann 1768 von Joseph-Louis Lagrange (1736–1813) vollst¨andig gel¨ost. Es handelte sich um die H¨ alfte einer Frage, die Fermat den europ¨aischen Mathematikern im Januar 1657 vorgelegt hatte: Man finde eine Kubikzahl, die – wenn man ” sie um die Summe ihrer echten Teiler erh¨ oht – zu einer Quadratzahl wird“. Die andere H¨ alfte des Problems war die analoge Frage, die bei Vertauschen der Begriffe Quadrat“ und Kubik“ entsteht. Bernard Fr´enicle de Bessy (1605– ” ” 1675), Berater am M¨ unzamt zu Paris, war ein ausgezeichneter Amateurmathematiker und Computator2 ; er hatte brieflichen Kontakt zu einigen der großen Mathematiker seiner Zeit, insbesondere zu Fermat. Fr´enicle de Bessy gab vier L¨ osungen des ersten Problems an dem Tag, als er es erhielt; am darauffolgenden Tag gab er sechs weitere L¨ osungen. Der Widerhall des Problems ¨ war auch jenseits des Armelkanals zu vernehmen, stieß aber bei Wallis, an den es wohl haupts¨ achlich gerichtet war, auf taube Ohren. Wallis sah sich zu folgendem Kommentar veranlaßt: Was auch immer die Einzelheiten dieser ” Angelegenheit sein m¨ ogen, ich sehe mich momentan aufgrund zahlreicher anderer Bet¨ atigungen nicht dazu in der Lage, dem Problem umgehend meine Aufmerksamkeit zu widmen ...“. Das reichte nicht zur Abschreckung, denn schon im n¨ achsten Monat folgte ein zweites Problem; ein Teil dieses Problems ur jede positive bestand darin, eine ganze Zahl y derart zu finden, daß dy 2 +1 f¨ ganze Zahl d zu einer Quadratzahl wird, oder – falls das nicht gelingt – die beiden Spezialf¨ alle d = 61, 109 zu l¨ osen. Wieder machte sich Fr´enicle de Bessy ans Werk, berechnete die kleinsten L¨ osungen f¨ ur alle d < 150 und forderte die anderen dazu heraus, wenigstens die F¨ alle d = 150 und d = 313 zu l¨osen. Dabei vers¨ aumte er nicht, darauf hinzuweisen, daß das zweite Beispiel wohl jenseits der F¨ ahigkeiten aller angesprochenen Personen liegt! Fermat heizte die intellektuelle Unruhe weiter an: Wir erwarten die L¨osungen und wenn ” diese weder von England, noch vom belgischen Gallien, noch vom keltischen Gallien geliefert werden, dann wird sich das narbonnaisische Gallien darum k¨ ummern“ (die Narbonnaise war eine der vier Provinzen des r¨omischen Galliens, zu der die Gegend von Toulouse geh¨ orte, wo Fermat lebte.) Doch schließlich ließ sich Wallis k¨ odern und fand in sehr kurzer Zeit spezielle L¨osungen f¨ ur beide Werte. Dabei n¨ aherte er sich – wie wir unten sehen werden – der L¨osung des ignorierten urspr¨ unglichen Problems. Die Fragen hatten das Interesse an einem Problem erweckt, das 500 Jahre ¨alter als Fermat war. Dieses Problem war Gegenstand von Untersuchungen und gelehrten Abhandlungen vieler Autoren, zu denen auch William Brouncker (1620?–1684) geh¨orte, der erste Pr¨ asident der Royal Society. 2
Beispielsweise sprach Joseph Justus Scaliger an einer Stelle von den Tr¨ aumen ” der alten computatores, an Albernheit un¨ uberbietbar“ (vgl. A. Borst, Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004) ([15]).
11.3 Eine Antwort
109
Betrachten wir das erste Problem und nehmen vern¨ unftigerweise an, daß Fermat die dritte Potenz einer Primzahl meinte, dann fordern wir 1 + p + p2 + p3 = q 2 , das heißt (1+p)(1+p2 ) = q 2 . Da 2 und nur 2 beide Klammerausdr¨ ucke teilt (wovon sich der Leser u oge), l¨aßt sich die Gleichung in der ¨berzeugen m¨ Form ab = ( 12 q)2 mit teilerfremden a und b schreiben. Aus der Teilerfremdheit von a und b k¨ onnen wir berechtigterweise schlieur gewisse ganze Zahlen m und n gilt. Deswegen ßen, daß a = m2 und b = n2 f¨ haben wir 1 + p = 2a = 2m2 und 1 + p2 = 2b = 2n2 , so daß p den beiden Gleichungen p = 2m2 − 1 und p2 = 2n2 − 1 gen¨ ugen muß. Wir suchen Primzahlen der Form 2m2 − 1, deren Quadrate die Form 2n2 − 1 haben. Das sieht nach einer schwierigen Frage aus. Diese Analyse zeigt uns, daß die beiden Probleme im Wesentlichen die gleichen sind. Die zweite Gleichung ist die anspruchsvollere der beiden und stellt einen Spezialfall des Problems dar: Zu einer gegebenen ganzen Zahl d, die keine Quadratzahl ist, finde man alle x und y, f¨ ur die x2 = dy 2 ± 1 gilt. Diese Gleichung ist als Pellsche Gleichung bekannt und wurde nach John Pell (1611–1685) benannt, einem weiteren Gr¨ undungsmitglied der Royal Society. Pell hatte u ¨brigens 1659 die Teutsche Algebra eines gewissen Johann Rahn ins Englische u ¨bersetzt und damit der anglophonen Mathematikergemeinde das Zeichen ÷ f¨ ur die Division gegeben; es ist nicht ausgeschlossen, daß Pell diese Bezeichnung selbst eingef¨ uhrt hat (der obelus“ 3 war schon lange da” vor f¨ ur die Subtraktion verwendet worden). Euler war es, der Pells Namen mit der Gleichung in Zusammenhang brachte, wobei das im Allgemeinen als ziemlich großz¨ ugige (oder versehentliche) Ehrerbietung angesehen wird. Mit dem Pluszeichen und d = 4 729 494 tritt die Gleichung auch als L¨osung eines u ¨berraschend schwierigen Problems auf, des sogenannten Rinderproblems ( problema bovinum“), bei dem es um die Gr¨oße einer Rinderherde geht. ” Angeblich hatte Archimedes dieses Problem (m¨ oglicherweise aus Rache) dem Apollonius als intellektuelle Herausforderung gestellt. Aber unabh¨angig davon, ob Archimedes das Problem urspr¨ unglich formuliert hat, erschien es in seinem Sandrechner , den wir bereits auf S. 9 erw¨ahnt hatten. Das Problem bekam sp¨ ater auch den Namen Rache des Archimedes“, denn es stellte sich ” heraus, daß die Gr¨ oße der Herde eine Zahl mit 206 545 Stellen ist.
11.3 Eine Antwort Was hat das Ganze mit jenen r¨ atselhaften Br¨ uchen zu tun, die so gute N¨aherungswerte f¨ ur γ (und beliebige andere Zahlen) liefern? Es handelt sich um 3
obelus (sp¨ atlateinisch): liegender Spieß.
110
11 Gamma als rationaler Bruch
die N¨ aherungsbr¨ uche“ der sogenannten Kettenbr¨ uche“, die fr¨ uher im Eng” ” lischen auch als anthyphairetic ratios“ 4 bezeichnet wurden. Wallis spricht ” in der 1653 erschienenen Ausgabe seines Buches Arithmetica Infinitorum von uche einer fractio, quae denominatorem habeat continue fractum“.5 Kettenbr¨ ” wurden im Laufe der Zeit von vielen Mathematikern untersucht, zum Beispiel im 6. Jahrhundert von dem indischen Mathematiker Aryabhata (in dessen Arbeiten sie erstmalig auftreten) und sp¨ater von Johann Lambert und Joseph-Louis Lagrange (die bedeutende Beitr¨ age zur Theorie leisteten), von Christiaan Huygens (der sie in seinem mechanischen Modell des Sonnensystems verwendete) sowie von Euler (der wesentliche Grundlagen der modernen Theorie der Kettenbr¨ uche schuf und sie f¨ ur seinen Beweis der Irrationalit¨at von e und e2 verwendete) und von Gauß (der viele ihrer tiefliegenden Eigenschaften erforschte). Die Bl¨ utezeit der Kettenbr¨ uche war vielleicht das 19. Jahrhundert, aber gegenw¨ artig nimmt das Interesse an ihnen wieder zu, was teilweise auf ihren Zusammenhang mit der Chaostheorie und mit ComputerAlgorithmen zur¨ uckzuf¨ uhren ist. Und auch in unserer Erz¨ahlung werden die Kettenbr¨ uche eine Rolle spielen, wobei wir uns nur einen winzigen Ausblick auf dieses vergleichsweise u ¨bersichtliche Teilgebiet der Mathematik gestatten. Dabei werden wir einerseits erkennen, daß die Kettenbr¨ uche wichtiger sind, als es auf den ersten Blick erscheint; andererseits werden wir auch sehen, daß sie leichter zu handhaben sind, als es zun¨ achst aussieht. Zuerst aber geben wir ihre Definition. Ein Kettenbruch ist ein Ausdruck der Form 1 , a0 + 1 a1 + 1 a2 + 1 a3 + a4 + · · ·
wobei a0 eine ganze Zahl ist (m¨ oglicherweise negativ oder gleich Null) und a1 , a2 , . . . von Null verschiedene positive ganze Zahlen sind. Der Ausdruck kann endlich sein ( endlicher Kettenbruch“), aber es kann auch sein, daß er ” sich unendlich fortsetzt ( unendlicher Kettenbruch“). Die Standardschreibwei” se f¨ ur Kettenbr¨ uche ist etwas sperrig und wird deswegen durch die alternative Schreibweise [a0 ; a1 , a2 , . . . ] ersetzt, bei der das Semikolon den ganzzahligen Teil der Zahl von ihrem gebrochenen Teil trennt und die Kommata die sogenannten Teilbr¨ uche“ voneinander trennen. Zum Beispiel hat man ” 1 1 3+ = 3+ 1 1 2+ 2 + 21 1 5+ 4 (4) 4
5
´ Szab´ Gem¨ aß A. o, The Beginning of Greek Mathematics, Budapest 1978 ([135]), ist die anthyphairesis“ eine griechische Version der Methode, mit der wir das ” Verh¨ altnis zweier Zahlen als Kettenbruch berechnen. Peter Barlow verwendete den englischen Begriff continued fraction“ in seinem ” 1811 erschienen Werk An Elementary Investigation in the Theory of Numbers.
11.4 Drei Ergebnisse
111
1 1 4 = 3 + 46 2 + 21 ( 21 ) 21 159 = 3+ = 46 46 = 3+
oder in kompakterer Schreibweise [3; 2, 5, 4] = gliedweise auf, so ergibt sich 3+
7 1 = 2 2
und
3+
159 46 .
1 2+
1 5
Bauen wir den Ausdruck
=
38 , 11
wodurch man die N¨ aherungsbr¨ uche“ des Teilbruches erzeugt. Mit anderen ” Worten: 159 aherungswerte 72 und 38 46 hat die N¨ 11 , wobei der letztgenannte Wert der bessere N¨ aherungswert ist. Es ist offensichtlich, daß man jeden endlichen Kettenbruch auf diese Weise teleskopartig“ durch N¨aherungsbr¨ uche approxi” mieren kann, wobei diese N¨ aherungsbr¨ uche sukzessiv bessere N¨aherungswerte f¨ ur den betreffenden Bruch liefern. Die Umwandlung eines rationalen Bruches in einen Kettenbruch erfordert nur, daß wir den ganzzahligen Teil abtrennen und danach den Prozeß umkehren und wiederholen. Zum Beispiel haben wir 18 5 1 = 1+ = 1 + 13 13 13 (5) 1 1 = 1+ =1+ 2 + 53 2 + ( 15 ) 3
= 1+
1 1 2+ 1+
1
=1+ 2+
2 3
1 1 + ( 13 ) 2
1
= 1+
1
2+ 1+
1 (1 + 21 )
3 5 7 oder [1; 2, 1, 1, 2] und 18 13 wird sukzessiv und immer genauer durch 2 , 3 und 5 approximiert. Damit haben wir auch eine m¨ ogliche Quelle der Zweideutigkeit geortet, denn bei der obigen Vorgehensweise h¨ atten wir 21 in 2 invertieren und danach in zwei Einsen aufsplitten k¨ onnen; in der Standardpraxis vereinbart man jedoch stillschweigend, daß der Bruch nicht mit einer 1 endet.
11.4 Drei Ergebnisse Kettenbr¨ uche haben viele Eigenschaften und sind ein faszinierendes Gebiet, aber wir m¨ ussen hier der Versuchung widerstehen, mehr als die drei von uns ben¨ otigten Eigenschaften zu betrachten, und selbst diese werden wir nicht beweisen.
112
11 Gamma als rationaler Bruch
1. Jeder N¨ aherungsbruch ist unverk¨ urzbar, das heißt Z¨ahler und Nenner sind teilerfremd. 2. Sind die pn /qn N¨ aherungsbr¨ uche, die eine irrationale Zahl x approximieren und gilt q ≤ qn sowie p/q = pn /qn , dann folgt nicht nur |pn /qn − x| < |p/q − x|, sondern sogar die st¨ arkere Ungleichung |pn − qn x| < |p − qx|. Das bedeutet, daß jeder N¨ aherungsbruch eines Kettenbruches den bestm¨ oglichen gebrochenen N¨ aherungswert f¨ ur x unter den gebrochenen Zahlen darstellt, die den gleichen Nenner oder einen kleineren Nenner haben. 3. Ist x eine irrationale Zahl und sind a und b teilerfremde ganze Zahlen mit 1 a x − < 2 , b 2b dann ist a/b ein N¨ aherungsbruch der Kettenbruchdarstellung von x.
11.5 Irrationale Zahlen Die Umwandlung einer irrationalen Zahl in einen Kettenbruch erfordert eine ahnliche Behandlung der Dezimalentwicklung, wie wir es bei einer rationalen ¨ Zahl getan hatten. Zum Beispiel haben wir
π = 3 + 0, 141 59 · · · = 3 +
1 =3+ 7, 062 513 . . .
1 7+
1 15, 996 594 . . .
1
= 3+
1
7+
1 1, 003 417 . . . 1 = 3+ 1 7+ 1 15 + 1 1+ 292 + 0, 654 . . . 15 +
und das setzt sich fort in der Form π = [3; 7, 15, 1, 292, 1, 1, 1, 2, 1, 3, 1, 14, 2, 1, 1, 2, 2, 2, 2, 1, 84, . . . ], 333 355 103 993 mit den ersten N¨ aherungsbr¨ uchen 22 7 , 106 , 113 und 33 102 . 22 aherungswert, den wir am besten kennen, und es Nat¨ urlich ist 7 der N¨ handelt sich um einen der ersten aufgezeichneten Versuche, die Zahl π zu ap¨ proximieren: Archimedes gibt in seiner Arbeit Uber Kreismessung die Schran22 < π < an. Er fand diese Schranken, als er einem Kreis jeweils ein ken 223 71 7
11.5 Irrationale Zahlen
113
regelm¨ aßiges Vieleck mit 96 Seiten ein- und umbeschrieb. Der Bruch 22 7 wird universell und aus gutem Grund als derjenige N¨aherungswert akzeptiert, der sich am besten handhaben l¨ aßt. Aufgrund der obigen Ausf¨ uhrungen wissen wir n¨ amlich, daß es keinen besseren approximierenden Bruch mit einem klei333 der neren Nenner gibt. Aus dem gleichen Grund ist der genauere Wert 106 bestm¨ ogliche rationale N¨ aherungswert f¨ ur π mit dem Nenner ≤106. Das ist eine gute Nachricht in Bezug auf die europ¨ aischen Mathematiker des 16. Jahrhunderts, denn sie kannten und benutzten diesen Wert. Noch besser aber war der chinesische Mathematiker Tsu Chung-chih (430–501), der 22 7 als einen 355 ungenauen Wert“ und 113 als den genauen“ Wert von π beschrieb. Man ” ” beachte, daß die andere Archimedische Schranke kein N¨aherungsbruch ist. (Wir k¨ onnen hier unm¨ oglich der Versuchung widerstehen, das sch¨one Ergebnis
1 4 x (1 − x)4 22 dx = −π 2 1+x 7 0
anzugeben, das man unter Verwendung der Polynomdivision und der gliedweisen Integration beweisen kann, um das unbestimmte Integral 71 x7 − 23 x6 + x5 − 34 x3 + 4x − 4 tan−1 x zu erhalten.) Kettenbr¨ uche f¨ ur andere√ Zahlen lassen sich auf ¨ahnliche Weise gewinuchen nen. Zum Beispiel hat man 2 = [1; 2, 2, 2, 2, . . . ] mit den N¨aherungsbr¨ 3 7 10 2, 5, 7 . . . . Der Goldene Schnitt“ ” √ 1 φ = (1 + 5) = [1; 1, 1, 1, 1, . . . ] 2 hat die Fibonaccischen Zahlen6 2 3 5 1, 2, 3, . . . ,
als N¨ aherungsbr¨ uche und e = [2; 1, 2, 1, 1, 4, 1, 1, 6, 1, 1, 8, 1, 1, 10, 1, 1, 12, . . . ] 19 73 hat die N¨ aherungsbr¨ uche 52 , 38 , 11 4 , 7 , 32 , . . . . Man beachte, daß die Darstellung dieser Zahlen in Form von Kettenbr¨ uchen ein Muster erkennen l¨ aßt, das ansonsten verborgen geblieben w¨are. Das Muster gibt diesen Zahlen in signifikanter und merkw¨ urdiger Weise einen exzeptionellen Status, den wir im Kapitel 14 diskutieren werden. unfte N¨aheEs gilt auch π 4 = [97; 2, 2, 2, 2, 16 539, 1, . . . ], weswegen der f¨ 444 733 rungsbruch 35363 ein besonders genauer rationaler N¨ a herungswert f¨ ur π 4 875 ist. (Aus diesem Grund ist dessen vierte Wurzel eine besonders genaue Dezimalapproximation f¨ ur π, denn erst an der dreizehnten Dezimalstelle tritt eine Abweichung auf.) 6
Auch Fibonacci-Zahlen genannt.
114
11 Gamma als rationaler Bruch
Die an fr¨ uherer Stelle genannten N¨ aherungsbr¨ uche f¨ ur γ leiten sich nat¨ urlich aus dem Kettenbruch γ = [0; 1, 1, 2, 1, 2, 1, 4, 3, 13, 5, 1, 1, 8, 1, 2, 4, 1, 1, 40, 1, 11, 3, 7, 1, 7, 1, 1, 5, 1, 49, 4, 1, 65, . . . ] ab, der folgende N¨ aherungsbr¨ uche hat: 323 007 1 3 4 11 15 71 228 3035 , , ,..., ,.... 1, , , , , , 2 5 7 19 26 123 395 5258 559 595 Die erreichte Genauigkeit erkennt man anhand von 323 007 = 1, 025 × 10−12 . − γ 559 595
Thomas Papanikolaou, den wir bereits genannt hatten, berechnete den Kettenbruch f¨ ur γ bis einschließlich zum 470 006ten Teilbruch und konnte daraus folgenden Schluß ziehen: ist γ rational, dann muß der Nenner des urlich gibt es unendlich viele Br¨ uche Bruches gr¨ oßer als 10242 080 sein. Nat¨ mit solchen und gr¨ oßeren Nennern, aber eine unzuverl¨assige Intuition suggeriert uns die Vorstellung, daß sich eine in nat¨ urlicher Weise auftretende“ ” Zahl wie γ einfach nicht so extrem verhalten w¨ urde. Um diese Vorstellung ins Wanken zu bringen, m¨ ußte jemand einen akzeptierten nat¨ urlichen“ Bruch ” angeben, der einen solchen Nenner hat! Dieser Aspekt des Verhaltens von γ wurde von David Hilbert (1862–1943) in dessen ber¨ uhmten Vortrag Mathe” matische Probleme“ auf dem Internationalen Mathematikerkongreß 1900 in Paris angesprochen. Hilbert sagte in seinem Vortrag, aus dem wir sp¨ater noch ausf¨ uhrlicher zitieren werden: Man lege sich irgendein bestimmtes ungel¨ ostes Problem vor, etwa die Frage der Irrationalit¨ at der Euler-Mascheronischen Konstante C oder die Frage, ob es unendlich viele Primzahlen der Form 2n + 1 gibt. So unzug¨ anglich diese Probleme uns erscheinen und so ratlos wir zur Zeit ¨ ihnen gegen¨ uber stehen – wir haben dennoch die sichere Uberzeugung, daß ihre L¨ osung durch eine endliche Anzahl rein logischer Schl¨ usse gelingen muß. Die Mathematik harrt noch immer der Entdeckung dieser speziellen endli” chen Anzahl rein logischer Schl¨ usse“. Der Zusammenhang mit der Pellschen Gleichung ist tiefgr¨ undig.
11.6 Lo ¨sungen der Pellschen Gleichung Die L¨ osungen der Pellschen Gleichung lassen sich kaum vorhersehen: nehmen ur d = 60 als kleinste L¨osung a = 31, b = 4; wir a2 − db2 = 1, dann haben wir f¨
11.7 L¨ uckenf¨ uller
115
f¨ ur d = 62 ist a = 63, b = 8, aber f¨ ur d = 61 ergibt sich a = 1 766 319 049, b = 226 153 980! Erf¨ ullen a und b die Gleichung a2 − db2 = 1, dann k¨onnen sie keinen gemeinsamen Teiler haben. Ber¨ ucksichtigen wir das, dann kommt das zugrundeliegende Muster in folgender Weise zum Ausdruck: √ √ a √ 1 √ . a2 − db2 = 1 ⇔ (a − b d)(a + b d) = 1 ⇔ − d = b b(a + b d) √ Die Faktorisierung macht deutlich, daß a > b d gilt und deswegen k¨onnen wir die nachstehende Ungleichung hinschreiben: √ √ d d 1 a √ √ = 2. √ √ = 0< − d< b 2b b(b d + b d) 2b2 d Unter Beachtung der oben genannten dritten Eigenschaft der Ketten√ br¨ uche sehen wir, daß a/b ein N¨ aherungsbruch von d sein muß. Demnach sollte man die L¨ osungen der Fermatschen Probleme unter den Kettenbruchentwicklungen der entsprechenden Zahlen suchen. Zum Beispiel lautet f¨ ur das erste Fermatsche Problem (vgl. Abschnitt 11.2) die erste L¨osung p = 7 und n = 5 und somit ergibt sich p = 7 und q = 20 als kleinste L¨osung, also kurz gesagt 1 + 7 + 72 + 73 = 202 .
11.7 Lu ¨ ckenfu ¨ ller Kettenbr¨ uche sind die erste Wahl von vielen M¨oglichkeiten f¨ ur eine rationale Approximation, aber es bleiben dabei auch viele L¨ ucken in der Liste der bestm¨ oglichen N¨ aherungsbr¨ uche. Bei γ hatten wir gesehen, daß 1 3 4 11 15 71 228 3035 , , ,... 1, , , , , , 2 5 7 19 26 123 395 5258 die aufeinanderfolgenden N¨ aherungsbr¨ uche f¨ ur den Kettenbruch sind, aber wenn wir einen Computer nach den bestm¨ oglichen rationalen Approximationen bis zu einem gegebenen Nenner (und einschließlich dieses Nenners) suchen lassen, dann erhalten wir 1 3 4 11 15 41 56 71 157 228 , , ,... 1, , , , , , , , 2 5 7 19 26 71 97 123 272 395 und das nachfolgende Intervall wird aufgef¨ ullt durch 228 1667 1895 2123 2351 2579 2807 3035 ..., , , , , , , , ,.... 395 2888 3283 3678 4073 4468 4863 5258 Nat¨ urlich werden die L¨ ucken immer gr¨ oßer und somit w¨achst auch die Liste der Br¨ uche, die zum F¨ ullen der Liste erforderlich sind. Kurzum: Die Kettenbr¨ uche sind eine sch¨ one Methode der rationalen Approximation und erweisen sich als ungemein n¨ utzlich f¨ ur die allgemeine Theorie, aber sie erz¨ ahlen uns nicht die ganze Geschichte. Allerdings gibt es nur wenige Dinge, die das tun.
116
11 Gamma als rationaler Bruch
11.8 Die harmonische Alternative Wir f¨ uhren hier – ohne die Idee umfassend darzulegen – nur eine der alternativen Methoden der Approximation durch Br¨ uche ein. Unser Hauptziel dabei ist es, gedanklich tiefer in unser Dezimalsystem einzudringen. Außerdem liefert diese Methode ein erstes Beispiel f¨ ur die N¨ utzlichkeit der Glieder der harmonischen Reihe. Es muß aber auch gesagt werden, daß die Methode nicht die besten Br¨ uche findet; dennoch ist sie es wert, untersucht zu werden. Tats¨ achlich interessiert uns hier der gebrochene Teil einer Zahl und daher zerlegen wir einen Dezimalbruch in seinen ganzen Teil – der als eine einzige Zahl betrachtet wird – und in seinen gebrochenen Teil, der seinerseits in Komponenten zerlegt wird. Zum Beispiel ist der Ausdruck 62, 372 58 eine Kurzschreibweise f¨ ur 62 + 3 ×
1 1 1 1 1 +7× 2 +2× 3 +5× 4 +8× 5, 10 10 10 10 10
was sich wiederum in noch komplizierterer Form durch 1 1 1 1 1 62 + 3+ 7+ 2+ 5+ 8 10 10 10 10 10 ausdr¨ ucken l¨ aßt. Nat¨ urlich k¨ onnte man derartige Ausdr¨ ucke in Abh¨angigkeit von der gegebenen Zahl beliebig erweitern. Die Folge 3, 7, 2, 5, 8 ist nichts anderes als ein Spezialfall einer beliebigen Folge von nichtnegativen ganzen Zahlen, die alle kleiner als 10 sind. Wir k¨ onnten f¨ ur die obige Zahl eine Schreibweise verwenden, die der Schreibweise f¨ ur Kettenbr¨ uche ¨ahnelt, das heißt wir k¨ onnten die Zahl in der Form [62; 3, 7, 2, 5, 8] schreiben. Allgemeiner haben wir 1 1 1 [n; a, b, c, . . . ] = n + a+ b+ c + ··· , 10 10 10 wobei n der ganze Teil und a, b, c, . . . der gebrochene Teil ist, der sich demnach aus nichtnegativen ganzen Zahlen ≤9 zusammensetzt. Bis jetzt bedeutet das Ganze nur, daß wir durch Herumspielen mit der Notation die offensichtlichen Dinge aus einem anderen Blickwinkel betrachtet haben. Jedoch legt die erweiterte Form des Ausdrucks mit den sich wiederho1 den Gedanken nahe, daß wir diese Zahl durch eine andere ersetzen, lenden 10 um eine Darstellung bez¨ uglich einer anderen Basis zu erhalten (die Zahlen a, b, c, . . . w¨ urden dabei nat¨ urlich dadurch beschr¨ankt werden, daß sie kleiner als die besagte Basis sind). Auch das ist nichts Neues. Ersetzen wir beispiels1 durch 21 , dann haben wir das aus 0 und 1 bestehende Dualsystem; weise 10 1 ersetzt man hingegen 10 durch 31 , dann erh¨ alt man die triadische Darstellung usw. Noch interessanter ist die Frage: Was w¨ are eigentlich, wenn wir die Basen mischen“ und die Zahl in einem Zahlensystem mit gemischter Basis – mit ” Hilfe der Glieder der harmonischen Reihe – darstellen? Das w¨ urde bedeuten, daß sich unsere Zahl in der Form
11.8 Die harmonische Alternative
n+
1 2
a+
1 3
b+
1 c + ··· 4
117
darstellen ließe, wobei rationale N¨ aherungswerte irgendeinen Anfangsteil dieses Ausdrucks darstellen und a < 2, b < 3, c < 4, . . .. Ein genauerer Blick auf diese Darstellungsform zeigt, daß wir anstelle von n+
1 1 a + 2b + ··· 10 10
mit
a, b, · · · ≤ 9
die betreffende Zahl eigentlich in folgender Form schreiben: n+
1 1 1 a + b + c + ··· 2! 3! 4!
mit
a < 2, b < 3, c < 4, . . . .
Beginnen wir mit π, dann ergibt sich 1 1 1 1 1 1 1 π =3+ 0+ 0+ 3+ 1+ 5+ 6+ 5 + ··· , 2 3 4 5 6 7 8 das heißt in kompakterer Schreibweise π = [3; 0, 0, 3, 1, 5, 6, 5, . . . ] mit den N¨ aherungsbr¨ uchen 3, 3, 3,
25 47 2261 15 833 42 223 11 400 211 , , , , , ,.... 8 15 720 5040 13 440 3 628 800
Die Taylorentwicklung von ex ist 1+x+
x2 x3 x4 + + + ··· . 2! 3! 4!
Setzen wir hier x = 1, dann ergibt sich f¨ ur e die Darstellung 1 1 1 1 1 1 1 1+1+ 1+ 1+ 1+ 1+ 1+ 1+ 1 + ··· , 2 3 4 5 6 7 8 das heißt die sehr sch¨ one kompakte Form e = [2; 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, . . . ] mit den N¨ aherungsbr¨ uchen 5 8 65 163 1957 6855 109 601 , , , , , , ,.... 2 3 24 60 720 252 40320 Und schließlich haben wir f¨ ur γ die Darstellung 1 1 1 1 1 γ =0+ 1+ 0+ 1+ 4+ 1+ 2 3 4 5 6 1 1 1 1 + 4+ 1+ 3+ 0 + ··· , 7 8 9 10
118
11 Gamma als rationaler Bruch
das heißt in Kurzschreibweise [0; 0, 1, 0, 1, 4, 1, 4, 1, 3, 0, . . . ] mit den rationalen N¨ aherungswerten 1 1 13 23 83 2909 23 273 3491 3491 , , , , , , , , ,.... 2 2 24 40 144 5040 40 320 6048 6048 Der Leser kann sich davon u ¨berzeugen, daß diese verschiedenen N¨aherungswerte gar nicht schlecht sind. Man beachte, daß das Auftreten von 0 als m¨oglicher Koeffizient dazu f¨ uhrt, daß sukzessive Approximationen u ¨bereinstimmen k¨ onnen, aber nicht notwendigerweise voneinander verschieden sind. In K¨ urze werden wir uns eine Vielzahl von anderen M¨oglichkeiten ansehen, bei denen die harmonische Reihe auftritt.
12 Wo ist Gamma? Man kann sich dem Gef¨ uhl nicht entziehen, daß diese mathematischen Formeln eine unabh¨ angige Existenz und eine eigene Intelligenz haben, daß sie kl¨ uger als wir und sogar weiser als ihre Entdecker sind, daß wir mehr von ihnen bekommen, als urspr¨ unglich in sie hineingesteckt wurde. Heinrich Hertz (1857–1894)
Schreibt man die Definition von Gamma, das heißt γ = limn→∞ (Hn − ln n) in Form der asymptotischen Approximation Hn ≈ ln n + γ auf, dann ergibt sich eine einfache und genaue Methode zur Approximation der Teilsummen der harmonischen Reihe. Das Fehlen einer expliziten Formel f¨ ur Hn und die schneckentempohafte Divergenz der Reihe machen die Approximation um so wichtiger. Dar¨ uber hinaus f¨ uhrt diese Approximation zwangsl¨aufig zu einer Erscheinungsform von γ. Bei einigen Gelegenheiten hatten wir den Sch¨atzwert bereits verwendet. Der Zusammenhang mit der Gamma-Funktion ist gewissermaßen eine Garantie f¨ ur die Bedeutung von γ in der Analysis. Außerdem gew¨ ahrleistet der Zusammenhang der Gamma-Funktion mit den ZetaFunktionen, daß γ auch in der Zahlentheorie eine wichtige Rolle spielt. Diese Zahl tritt in der Mathematik zwangsl¨ aufig und h¨aufig in komplizierter Weise auf, gibt sich aber im Bereich der elementaren Mathematik nur widerstrebend zu erkennen. Es w¨ are ein leichtes, das vorliegende Kapitel zu einer langen Liste von Integralen, Summen, Produkten und Grenzwerten zu degradieren, an denen γ beteiligt ist, aber wir beschr¨ anken uns auf einige wenige, repr¨asentative Beispiele und u ¨berlassen es dem Leser, zus¨atzlich Beispiele zu finden. Dabei legen wir in Bezug auf die w¨ unschenswerte ernsthafte Betrachtung“ ” nur ein Lippenbekenntnis ab. Wir beginnen mit einem weiteren Beispiel f¨ ur γ, mit dessen Hilfe man die harmonische Reihe durch Logarithmen ersetzen kann, wobei diesmal kein Sch¨ atzwert, sondern ein exakter Grenzwert auftritt.
12.1 Nochmals zur alternierenden harmonischen Reihe Der Name Riemann ist im Zusammenhang mit dem Wort Vermutung“ bereits ” mehrere Male aufgetaucht. Es ist noch nicht an der Zeit, auf den Mathematiker und das Problem einzugehen, aber wir k¨ onnen an dieser Stelle ein spezielles Resultat von Riemann zur Reihenkonvergenz und dessen neue Implikationen in Bezug auf γ (und beliebige andere Zahlen) nennen.
120
12 Wo ist Gamma?
Die geometrische Reihe 1− 12 + 41 − 81 · · · konvergiert gegen 23 und die Reihe 1 + 12 + 41 + 18 · · · der positiven Glieder konvergiert gegen 2. Dennoch ist es nicht immer der Fall, daß das Weglassen des Minuszeichens derart harmlose Konsequenzen hat und die harmonische Reihe ist ein Beispiel daf¨ ur: Wir wissen, daß die alternierende harmonische Reihe konvergiert (gegen ln 2) und daß die harmonische Reihe divergiert. Dieses Ph¨anomen ist eingekapselt“ in ” den Begriff der bedingten Konvergenz“, wobei die alternierende harmonische ” Reihe bedingt konvergent und die obengenannte alternierende geometrische Reihe absolut konvergent“ ist. Bedingt konvergente Reihen sind eine heikle ” Sache; so zeigen etwa die Umformungen 1−
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 − + − − + − − + − − + ··· 2 4 3 6 8 5 10 12 7 14 16 1 1 1 1 1 1 1 = 1− − − − + − + 2 4 3 6 8 5 10 1 1 1 1 − + ··· − + − 12 7 14 16 1 1 1 1 1 1 1 1 − + − + ··· = − + − + 2 4 6 8 10 12 14 16 1 1 1 1 1 1 1 1 = 1 − + − + − + − + ··· 2 2 3 4 5 6 7 8 =
1 2
ln 2,
daß die alternierende harmonische Reihe jetzt gegen die H¨alfte ihrer Summe konvergiert! Das obengenannte Riemannsche Ergebnis besagt, daß man jede bedingt konvergente Reihe so umordnen kann, daß sie gegen eine beliebige Zahl konvergiert! Wollen wir beispielsweise die alternierende harmonische Reihe so √ anordnen, daß sie gegen den Goldenen Schnitt φ = 12 (1 + 5) konvergiert, dann beginnt diese Anordnung folgendermaßen: φ=1+
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 + + − + + + + + + − + ··· 3 5 7 2 9 11 13 15 17 19 4 1 1 1 1 1 1 1 + + + + − + ··· . + + 21 23 25 27 29 31 6
Wir k¨ onnen eine Anordnung herstellen, die gegen eine beliebige Zahl l konvergiert, indem wir so viele der positiven ungeraden Glieder addieren, daß die Summe die Zahl l u ¨berschreitet; anschließend nehmen wir die negativen geraden Glieder hinzu, um die Summe unter die Zahl l zu bringen. Dieses Hin und Her wird so lange fortgesetzt, wie wir wollen; die Divergenz der beiden Teilreihen gew¨ ahrleistet, daß wir das auch immer tun k¨onnen. Es gibt allgemeine Ergebnisse, die mit diesem Ph¨anomen zusammenh¨angen. Der Beweis eines dieser Resultate bringt nat¨ urlich γ ins Spiel (und l¨aßt γ auch wieder verschwinden). Hierzu brauchen wir den Begriff einer einfachen“ ”
12.1 Nochmals zur alternierenden harmonischen Reihe
121
Umordnung der alternierenden harmonischen Reihe. Bei einer solchen Umordnung handelt es sich definitionsgem¨ aß um eine Anordnung, bei der die Glieder der beiden Teilfolgen der positiven und der negativen Glieder in absteigender Reihenfolge auftreten. Zum Beispiel sind die Neuanordnungen, die uhrten, beide einfach; hingegen ist die Neuanordnung zu 21 ln 2 und zu φ f¨ 1 + 12 − 31 + 16 − 15 + 41 − · · · keine einfache Umordnung. Nach Einf¨ uhrung dieser Definition bezeichne nun pn die Anzahl der positiven und qn die Anzahl der negativen Glieder unter den ersten n Gliedern einer einfach angeordneten harmonischen Reihe. Das uns hier interessierende Resultat besagt, daß die Neuanordnung dann und nur dann konvergiert, wenn α = lim
n→∞
pn qn
existiert und in diesem Fall betr¨ agt die Summe ln 2 + 12 ln α. Hier haben wir 1 α = 2 und somit ist die Summe ln 2 + 12 ln 21 = 12 ln 2. Zum Beweis des Ergebnisses schreibe man die Summe der ersten n Glieder n der Reihe in der Form k=1 ak . Damit haben wir n
ak =
k=1
pn
k=1
qn
1 1 − . 2k − 1 2k k=1
Es gilt aber pn
k=1
und somit n
k=1
2pn
pn
k=1
k=1
1 1 1 = − 2k − 1 k 2k
pn qn 2pn 1 1 1 − − ak = k 2k 2k k=1 1 2 Hpn
k=1
= H2pn − = (ln 2pn − = ln 2 +
1 2
k=1 1 − 2 Hqn γ2pn ) − 21 (ln pn
ln
pn qn
− γpn ) − 12 (ln qn − γqn )
− γ2pn + 21 γpn + 21 γqn ,
aherungswerte von γ bis zu dieser Anzahl von Gliedern wobei die γn die N¨ sind. Deswegen gilt lim
n→∞
n
ak = ln 2 +
1 2
= ln 2 +
1 2
k=1
ln limn→∞ ln α,
pn qn
− γ + 21 γ + 21 γ
und der Beweis ist damit erbracht. M¨ ochten wir beispielsweise ln 3 mit Hilfe der Glieder der alternierenden harmonischen Reihe ausdr¨ ucken, dann muß
122
12 Wo ist Gamma?
ln 3 = ln 2 +
1 2
ln α
gelten, was zu α = 49 f¨ uhrt. Tats¨ achlich hat die Darstellung die Form 1 1 1 1 1 1 1 ln 3 = 1 + − + + − + + 3 2 5 7 4 9 11 1 1 1 1 1 1 + − + + − + 6 13 15 8 17 19 1 1 1 1 1 1 + + − + + − 21 10 23 25 12 27 1 1 1 1 1 1 1 + + − + + + − 29 14 31 33 16 35 37 1 1 + ··· ··· , + − 39 18 wobei die Klammern jeweils gleiche Anzahlen von Gliedern entsprechend den Vorzeichenmustern zusammenfassen. Jede Gruppe enth¨alt neun Pluszeichen und vier Minuszeichen. Dieses Muster wiederholt sich in der gesamten Entwicklung und – wie gefordert – erhalten wir α = 94 . Nat¨ urlich ist α der Grenzwert von pn /qn und im allgemeinen k¨onnen wir nicht erwarten, daß sich der Grenzwert durch eine einfache Wiederholung zu erkennen gibt. Erinnern wir uns nur daran, wie sehr Euler gehofft hatte, γ k¨ onnte der Logarithmus einer wichtigen Zahl sein. W¨are das der Fall, dann k¨ onnte man γ = ln 2 + 12 ln α schreiben, wobei α der wichtige“ Grenzwert des Verh¨altnisses der Pluszeichen ” und der Minuszeichen in der entsprechenden einfach angeordneten“ Darstel” lung mit Hilfe der alternierenden harmonischen Reihe ist. Diese Darstellung w¨ urde folgendermaßen beginnen:
γ =1− +
1 3
1 2
− − − − −
1 1 1 1 1 − + − + 4 6 5 8 7 1 1 1 1 − + − 14 16 13 18 1 1 1 1 − + − 24 26 21 28 1 1 1 1 − + − 34 36 29 38 1 1 1 1 − + − 44 46 37 48
− + + + +
1 10 1 15 1 23 1 31 1 39
+ − − − −
1 1 1 − + 9 12 11 1 1 1 + − + 20 17 22 1 1 1 + − + 30 25 32 1 1 1 + − + 40 33 42 1 1 1 + − + 50 41 52
1 19 1 27 1 35 1 43
12.2 In der Analysis
1 1 1 1 1 1 1 − + − + − + 54 56 45 58 47 60 49 1 1 − − ··· ··· . − 62 64 −
123
Innerhalb der Paare von geschweiften Klammern stehen jeweils f¨ unf Paare von runden Klammern, von denen jedes Paar neun Glieder mit identischen Vorzeichenmustern enth¨ alt; am Schluß steht ein Paar von runden Klammern mit sieben Gliedern. Wird dieses Verfahren fortgesetzt, dann w¨ urden wir 23 Pluszeichen und 29 Minuszeichen in dem sich wiederholenden Zyklus von 52 23 23 Gliedern haben. Das wiederum w¨ urde α = 29 und γ = ln 2 + 21 ln 29 bedeuten, womit wir den großen Euler u atten! Seine Konstante w¨are dann ¨bertroffen h¨ # 23 . γ = ln 2 29 Ungl¨ ucklicherweise ist das nicht der Fall, denn die Berechnung liefert den Wert 0,577246. . . . Dieser Zyklus war leider zu groß und das Muster bricht etwa beim 550sten Glied ab. Gibt es vielleicht ein Muster mit einer l¨angeren Wiederholung? Wer weiß? Ist γ = ln 2 + 12 ln α, dann haben wir α = 14 e2γ und die N¨ aherungsbr¨ uche f¨ ur den Kettenbruch dieser Zahl sind 3 4 19 23 548 571 1119 2809 6737 63 442 450 831 , , , , , , , , , , , .... 4 5 24 29 691 720 1411 3542 8495 79 997 568 474 Mindestens einem dieser N¨ aherungsbr¨ uche sind wir bereits begegnet, als unser 23 in Erscheinung trat. 29
12.2 In der Analysis Eines der vielen Probleme bei der Integration besteht darin, daß wir eine Funktion nicht immer in geschlossener Form“ integrieren k¨onnen. Das bedeutet, ” daß sich die u ¨blichen mathematischen Funktionen nicht zu einer Stammfunktion der betreffenden Funktion kombinieren“ lassen. Aber oft ist nur eine ” geringf¨ ugige Modifikation erforderlich, um das M¨ogliche unm¨oglich zu machen oder umgekehrt. Beispielsweise lassen sich die Funktionen ln u, u ln u, (ln u)/u und 1/(u ln u) alle in unkomplizierter Weise integrieren, w¨ahrend das ¨ bei 1/ ln u und u/ ln u nicht m¨ oglich ist. Argerlich hierbei ist auch, daß einige dieser schwierigen“ Integrale so h¨ aufig und in so vielen wichtigen Anwendun” gen auftreten, daß sie mit eigenen Namen bedacht worden sind und somit ihre Anonymit¨ at verloren haben. Zum Beispiel gibt es f¨ ur
−u
2 cos u 1 e sin u du, du, e−u du, du, du u u u ln u keine geschlossene Form und diese Integrale f¨ uhrten zur Definition der folgenden Funktionen:
124
12 Wo ist Gamma?
x 2 2 √ erf(x) = e−u du (Fehlerfunktion), π 0
x 1 du (Integrallogarithmus), Li(x) = 2 ln u
∞ cos u du (Integralkosinus), Ci(x) = u x
x sin u Si(x) = du (Integralsinus), u 0
∞ −u e Ei(x) = du (Exponentialintegral). u x Alle diese Funktionen treten auf verschiedene Weise und an unterschiedlichen Stellen auf. Es ist unschwer zu erkennen, daß es sich bei der Laplaceschen Fehlerfunktion erf(x) im Wesentlichen um die Wahrscheinlichkeitsdichtefunktion der Normalverteilung handelt (die Konstante wird ben¨otigt, um die Gesamtfl¨ache gleich 1 zu machen). Der Integrallogarithmus Li(x) tritt regelm¨aßig in der Zahlentheorie bei Absch¨ atzungen asymptotischer Werte auf, so zum Beispiel auch in einer Hypothese von Littlewood und Hardy in Bezug auf die Goldbachsche Vermutung, auf die wir weiter unten in K¨ urze zur¨ uckkommen werden. Der Integrallogarithmus wird sp¨ater im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen, wenn er als Gauß’ Absch¨ atzung f¨ ur die Funktion π(x) in Erscheinung tritt (π(x) bezeichnet die Anzahl der Primzahlen ≤ x). Nat¨ urlich hatte auch Euler diese Funktion bereits betrachtet (1768). In der Folgezeit trat der Integrallogarithmus in den Arbeiten von Mascheroni (1790) und Caluso (1805) auf; prominent wurde der Integrallogarithmus aber erst 1809 durch Soldners1 Theorie einer neuen transcendenten Funktion, in der auch die Bezeichnung Integralloga” rithmus“ gepr¨ agt wurde, wobei Soldner zugegebenermaßen mit der unteren Grenze 0 arbeitete. Wir hatten Soldners Arbeit auf S. 104 zitiert. In dieser Arbeit gab Soldner den korrekten Wert von γ und die folgende Reihenentwicklung von Li(x): Li(x) = γ + ln ln x +
∞ lnr x r=1
rr!
.
Ci(x) hat die ¨ ahnliche Form 1
Johann Georg von Soldner (1776–1833) arbeitete als Physiker, Mathematiker und Astronom in Berlin und kam 1808 als Geod¨ at nach M¨ unchen. Er leitete die Sternwarte Bogenhausen und war Mentor der bayerischen Landesvermessung. Auf ihn geht das Soldnersche Koordinatensystem zur¨ uck, das in weiten Teilen Deutschlands noch bis ins 20. Jahrhundert benutzt wurde.
12.2 In der Analysis
Ci(x) = −γ − ln x −
∞ (−x2 )r r=1
2r(2r)!
125
,
aber bei der folgenden Reihenentwicklung von Si(x) treten weder ln noch γ auf: ∞ x2r−1 Si(x) = . (−1)r−1 (2r − 1)(2r − 1)! r=1
Das letztgenannte Funktionentrio tritt Hand in Hand bei vielen Anwendungen und in ganz unterschiedlichen Bereichen der Mathematik auf, zum Beispiel in der Quantenfeldtheorie, in der Theorie des Elektromagnetismus, in der Halbleiterphysik und bei Untersuchungen der Gibbsschen Ph¨anomene in der Fourieranalyse. Das Exponentialintegral Ei(x) ist zum Teil auch deswegen wichtig, weil man Folgendes zeigen kann: Das Integral einer beliebigen Funktion der Form R(x)ex , wobei R(x) eine rationale Funktion bezeichnet, l¨aßt sich auf elementare Integrale und Ei(x) zur¨ uckf¨ uhren. Unser γ tritt auch in den sogenannten modifizierten Bessel-Funktionen ” zweiter Art“ auf, die nach dem deutschen Astronomen F. W. Bessel (1784– 1846) benannt wurden, obwohl sie bereits fr¨ uher von Daniel Bernoulli (1700– 1782) und nat¨ urlich auch – was nicht ausbleiben konnte – von Euler untersucht worden waren. Diese Funktionen kommen unter den L¨osungen der Besselschen Differentialgleichung x2
d2 y dy + (x2 − α2 )y = 0 +x dx2 dx
vor, wobei α ≥ 0 konstant ist. Das Exponentialintegral tritt bei der Untersuchung von Problemen auf, bei denen es um die Schwingungen von Membranen, um den W¨ armefluß in Zylindern und um die Ausbreitung von elektrischen Str¨ omen in zylindrischen Leitern geht, aber es kommt auch bei einigen Problemen der analytischen Zahlentheorie vor. M¨ uhelos lassen sich weitere namenlose Integrale und Grenzwerte finden, bei denen γ in Erscheinung tritt. Zum Beispiel erhalten wir mit der Beziehung γ = −Γ ′ (1) (vgl. Abschnitt 6.3) unter Verwendung einer der Definitionen der Gammafunktion (sowie durch Differentiation unter dem Integralzeichen) die Darstellung
∞
∞ x−1 −u e(x−1) ln u e−u du u e du = Γ (x) = 0
0
und somit ′
Γ (x) =
0
das heißt
∞
u
x−1 −u
e
′
ln u du und Γ (1) =
0
∞
e−u ln u du,
126
12 Wo ist Gamma?
γ=−
∞
e−u ln u du.
0
Eine weitere Steigerung des Einfallsreichtums f¨ uhrt zu einem etwas exotischeren Resultat:
∞
∞
1 −γ = e−u ln u du. e−u ln u du + e−u ln u du = 1
0
0
Wir f¨ uhren jetzt jeweils eine partielle Integration durch. Beim zweiten Integral geht das ganz unkompliziert, indem man e−u zu −e−u integriert. Beim ersten Integral wenden wir jedoch den hinterh¨altigen Trick an, daß wir e−u in −e−u + 1 einbinden. Insgesamt erhalten wir dadurch −γ = [(−e−u + 1) ln u]10
1
∞ (−e−u + 1) −e−u −u ∞ du + [−e ln u]1 − du. − u u 0 1 Die beiden berechneten Komponenten sind jeweils gleich 0 und die Exponentialfunktion ertr¨ ankt“ den Logarithmus. Somit haben wir ”
∞ −u
1 e (−e−u + 1) du + du −γ = − u u 1 0 und γ=
0
1
(1 − e−u ) du − u
1
∞
e−u du. u
F¨ uhren wir schließlich im zweiten Integral die Substitution u = 1/t durch und tauschen die Variablen wieder in u zur¨ uck, dann erhalten wir
1
1 −1/u
1 e 1 − e−u − e−1/u (1 − e−u ) γ= du − du = du. u u u 0 0 0 Damit haben wir nicht nur ein f¨ urchterliches Integral bezwungen, sondern auch eine Definition von γ mit Hilfe eines Integrals u ¨ber ein endliches Intervall gewonnen. Wir k¨ onnen dieses Ergebnis zur Berechnung des Wertes von γ verwenden – unter der Voraussetzung, daß wir aus Stetigkeitsgr¨ unden vereinbaren, den Wert des Integranden an der Stelle u = 0 gleich 1 zu setzen. Die graphische Darstellung der Funktion ist ein guter Test f¨ ur einen Graphikdrucker; ein noch besserer Test ist die numerische Approximation der Fl¨ache. Mit diesem Resultat k¨ onnen wir die Reihenentwicklung der Funktion Ei(x) ableiten, wobei wir auf ein Verfahren zur¨ uckgreifen, das der Soldnerschen Methode f¨ ur Li(x) ¨ ahnelt. Wir setzen x ≥ 1 voraus (aber das Ganze funktioniert auch f¨ ur x < 1). Damit ergibt sich
∞ −u
x −u
∞ −u e e e du = du − du Ei(x) = u u u x 1 1
12.2 In der Analysis
127
x −u e −1 1 e−u du − + du u u u 1 1
∞ −u
x −u
x e e −1 1 = du − du − du u u u 1 1 1 x −u x
∞ −u
1 −u e e −1 1 e −1 = du − du − du − du u u u u 1 0 1 0
x −u
1 −u
x
∞ −u e −1 e −1 1 e du − du + du − du = u u u 0 0 1 u 1
∞ −u
1 −u
x −u
x e −1 e −1 1 e = du + du − du − du u u u 0 0 1 u 1
x ∞ r−1 ru = −γ − du − ln x (−1) r! 0 r=1
x ∞ r 1 = −γ − ur−1 du − ln x (−1) r! 0 r=1 r x ∞ u r 1 = −γ − (−1) − ln x r! r 0 r=1
=
∞
= −γ −
∞
(−1)
r=1
r
∞ xr (−x)r − ln x = −γ − ln x − . rr! rr! r=1
Wir haben hier die u ¨bliche Taylorentwicklung von e−u verwendet, um mit dem dritten Integral fertig zu werden. Es gibt zahllose andere Integrale, Summen und Produkte, in denen γ vorkommt. Im Folgenden geben wir einige weitere anonyme Beispiele:
1
0
1 ln ln dx = −γ, x
1
1 1 + dx = γ, 1−x 0 ln x 1 lim n − Γ = γ, n→∞ n ∞ 1 1 lim − n = γ, nx x x→1+ n=1 ∞ Λ(r) − 1 r=2 ∞ i=2
r
= −2γ,
1 (ζ(i) − 1) = 1 − γ, i
∞
0
∞
−x2
e
√ π (γ + 2 ln 2), ln x dx = − 4
π2 + γ2, 6 0 −1 1 1 = eγ , 1− lim n→∞ ln n p p≤n 1 1 6eγ lim 1+ = 2, n→∞ ln n p π p≤n
∞ 1 1 e−x − dx = γ, −x 1 − e x 0
∞
∞ {x} x − ⌊x⌋ dx = dx = 1 − γ. 2 x x2 1 1 e−x ln2 x dx =
128
12 Wo ist Gamma?
Die beiden Integrale, bei deren Berechnung π auftritt, demonstrieren eine sch¨ one Beziehung zwischen π, e und γ. Die beiden Produktformen wurden 1874 von Franz Mertens (1840–1927) gefunden und wir werden eine dieser Formen im Kapitel 15 verwenden. Das hier auftretende p ist eine Primzahl, und f¨ ur die erste Form l¨ aßt sich die folgende wundersch¨one Darstellung ableiten: ⎧ ⎫ ⎨ 1 ⎬ ln 1 − γ = lim − ln ln n − n→∞ ⎩ p ⎭ p≤n ⎧ ⎫ ⎨ 1 ⎬ 1 +O = lim . − ln ln n n→∞ ⎩ ⎭ p p2 p≤n
Diese Darstellung erinnert an die Definition von Gamma, aber hier werden nur Primzahlen verwendet. Beim zweiten Summationsresultat tritt die von Mangoldtsche Funktion ln p, falls r = pm und p prim Λ(r) = 0, andernfalls
auf, die wir im Kapitel 16 eingehender betrachten werden. F¨ ur jeden Ausdruck in der obigen Liste gibt es einen gesonderten Beweis, aber wir begn¨ ugen uns hier mit zwei derartigen Beweisen: der eine verwendet die Abrundungsfunktion ( floor function“) und der andere die Zeta-Funktion, ” womit wir ein Versprechen von S. 64 einl¨ osen. Zuerst betrachten wir
∞ {x} dx, x2 1
wobei die Schreibweise {x} f¨ ur den gebrochenen Teil von x verwendet wird, der demnach zur Abrundungsfunktion durch {x} = x−⌊x⌋ in Beziehung steht. Es scheint ein Ding der Unm¨ oglichkeit zu sein, jemals einen exakten Wert f¨ ur so ein merkw¨ urdiges Integral zu erhalten, aber wir werden sehen, daß γ in nat¨ urlicher Weise auftritt und das Problem l¨ ost. Aufgrund der Definition der Abrundungsfunktion haben wir zun¨achst ⎛ ⎞
n
n ⌊x⌋ 1 ⎝ 1⎠ dx. dx = 2 2 x x 1 1 1≤r≤x
Wir m¨ ussen diesen Ausdruck umformulieren und stellen uns deswegen vor, daß das Intervall in Einheits-Teilintervalle unterteilt ist, wobei wir den rechtsseitigen Endpunkt ausschließen. Wir haben dann ⎛ ⎞
n 1 ⎝ ⎠ 1 dx 2 1 x 1≤r≤x
12.2 In der Analysis
2
4
+
2
=
=
1
3
1
+
4
3
⎛
⎛
⎞
129
⎞
3 1 ⎝ ⎠ 1 ⎝ ⎠ dx + 1 1 dx 2 2 x 2 x 1≤r≤x 1≤r≤x ⎛ ⎛ ⎞ ⎞
n 1 ⎝ ⎠ 1 ⎝ ⎠ 1 dx + · · · + 1 dx 2 x2 n−1 x 1≤r≤x 1≤r≤x
3 1 1 (1) dx + (2) dx 2 x2 x 2
n 1 1 (3) dx + · · · + (n − 1) dx. (12.1) 2 2 x n−1 x
Nun betrachte man den Ausdruck
n
n
n n 1 1 1 1 dx = dx + dx + dx 2 2 2 2 x 1 x 2 x 3 x 1≤r≤n r
n
n 1 1 + dx + · · · + dx. 2 2 n−1 x 4 x In dieser Summe wird das Intervall [1, 2) genau einmal u ¨berdeckt, das Intervall [2, 3) wird zweimal u ¨berdeckt, das Intervall [3, 4) wird dreimal u ¨berdeckt, ... und das Intervall [n − 1, n) wird (n − 1)-mal u ¨berdeckt. Das ist genau der Sachverhalt, der durch Gleichung (12.1) zum Ausdruck gebracht wird. Beides ist gleichbedeutend. Deswegen gilt
n n 1 ⌊x⌋ dx = dx x2 x2 1 1≤r≤n r n 1 1 1 = − = Hn − n × = Hn − 1. r n n r=1 Somit haben wir
n ⌊x⌋ x − {x} Hn = 1 + dx = 1 + dx 2 x x2 1 1
n
n 1 {x} x {x} − 2 dx = 1 + − 2 dx = 1+ 2 x x x x 1 1
n {x} = 1 + ln n − dx. x2 1 n
Das bedeutet γ = lim (Hn − ln n) = 1 − n→∞
wie gefordert.
1
∞
{x} dx und x2
1
∞
{x} dx = 1 − γ, x2
130
12 Wo ist Gamma?
Euler sah sich (ebenso wie wir) außerstande, γ als Logarithmus einer wichtigen Zahl zu identifizieren. Aber wir hatten auf S. 64 erw¨ahnt, daß er eine Reihe von Formeln zur Berechnung von γ angab und eine dieser Formeln war ∞ 1 i=2
i
(ζ(i) − 1) = 1 − γ,
die er dazu verwendete, f¨ unf Dezimalstellen von γ zu berechnen. Wir wollen nun seine Formel ableiten:
n n n 1 1 r γ = lim − ln n = lim − ln n→∞ n→∞ r r r=2 r−1 r=1 r=1 n
∞ 1 r r−1 1 − ln + ln = 1 + lim =1+ n→∞ r r−1 r r r=2 r=2
∞ ∞ ∞ 1 1 1 1 + ln 1 − − = 1+ =1+ r r r i=1 iri r=2 r=2 ∞ ∞
∞ ∞ 1 1 = 1− =1− iri iri r=2 r=2 i=2 i=2 ∞
∞ ∞ 1 1 1 (ζ(i) − 1), = 1 − = 1− i i r=2 r i i=2 i=2 woraus das Resultat unmittelbar folgt. Ein weiteres Mal haben wir hier die Reihenentwicklung von ln(1 − x) verwendet, um den Logarithmus zu eliminieren. Um Eulers Weg noch ein wenig weiter zu verfolgen, ben¨otigen wir 15 Glieder der Reihe, wenn wir eine Genauigkeit von f¨ unf Dezimalstellen haben m¨ ochten, also γ ≈ 1 − 12 (ζ(2) − 1) − 13 (ζ(3) − 1) − 41 (ζ(4) − 1)
1 (ζ(15) − 1) − 51 (ζ(5) − 1) − · · · − 15 = 1 − (0, 322 467 + 0, 067 352 3 + 0, 020 580 8 + · · · + 0, 000 002 039 22)
= 0, 577 217 . . . ,
und das l¨ aßt sich m¨ uhelos auf einem modernen Computer ausrechnen, der mit der entsprechenden Software ausgestattet ist ...
12.3 In der Zahlentheorie ¨ Obgleich das Auftreten von γ in der Zahlentheorie keine Uberraschung ist, kann die Art und Weise des Auftretens dennoch verbl¨ uffend sein. Wir geben einige der Stellen an, bei denen γ in Erscheinung tritt.
12.3 In der Zahlentheorie
131
• Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805–1859) bewies 1838, daß n
1 #(Teiler(r)), n r=1 die durchschnittliche Anzahl der Teiler aller ganzen Zahlen von 1 bis n, mit wachsendem n gegen ln n + 2γ − 1 strebt (vgl. Abb. 12.1).
Abb. 12.1. Das Ergebnis von Dirichlet
So haben wir etwa f¨ ur 1000 1 #(Teiler(r)) 1000 r=1
den Wert 7,069 und ln 1000 + 2γ − 1 = 7, 062 19 . . . . ¨ • Uberraschend war es auch, als Charles de la Vall´ee Poussin (1866–1962), u ater mehr h¨ oren werden, 1898 folgende Aussage bewies: ¨ber den wir sp¨ Dividiert man eine ganze Zahl n durch alle ganzen Zahlen, die kleiner als diese Zahl sind, und mittelt man die Defizite, die jeder Quotient in Bezug auf die dar¨ uberliegende ganze Zahl bildet, dann strebt dieser Mittelwert f¨ ur n → ∞ gegen γ. Der entsprechende Ausdruck n−1 1 * n + n − n r=1 r r
hat die in Abb. 12.2 gezeigte graphische Darstellung. Beispielsweise erhalten wir f¨ ur 9999 , 10 000 1 10 000 − 10 000 r=1 r r
132
12 Wo ist Gamma?
1 n n r¦ =1
0.7
J
_ rn _ rn
0.6 0.5 0.4
0
20
40
60
80
n
100
Abb. 12.2. Das Ergebnis von de la Vall´ee Poussin
den Wert 0,577 216. . . . Es ist unglaublich, aber das Ergebnis bleibt richtig, wenn man die Teiler einer beliebigen arithmetischen Folge betrachtet oder wenn man lediglich die Primteiler ber¨ ucksichtigt. • Ebenso tritt γ (in ziemlich verkorkster“ Weise) auch bei den drei asympto” tischen Standardmessungen f¨ ur die Effizienz des Euklidischen Algorithmus auf. In jedem dieser F¨ alle tritt γ aufgrund des impliziten Auftretens der Glaisher–Kinkelin–Konstante (vgl. S. 103) und des expliziten Auftretens der Porterschen Konstante in Erscheinung, wobei die Portersche Konstante durch den folgenden beeindruckenden Ausdruck gegeben ist: 24 ′ 6 ln 2 3 ln 2 + 4γ − 2 ζ (2) − 2 = 1, 467 07 . . . . π2 π • Auf S. 45 nannten wir Eulers Ergebnis zur M¨oglichkeit der Darstellung einer ganzen Zahl als Summe zweier Quadrate. Falls das u ¨berhaupt m¨oglich ist, dann geht die Sierpi´ nskische Konstante 2,584 981 7... in die Anzahl der asymptotischen Absch¨ atzungen dieser M¨oglichkeiten ein. Die Eulersche Konstante γ ist Bestandteil der Sierpi´ nskischen Konstante, deren Definition ziemlich sperrig ist! • Zum Verst¨ andnis des letztgenannten Beispiels ist es erforderlich, u ¨ber eine m¨ ogliche Konvergenz Bescheid zu wissen, die sich aus einer divergenten Folge extrahieren l¨ aßt. Konvergiert eine unendliche Folge {an } gegen einen Grenzwert l, dann konvergieren auch alle unendlichen Teilfolgen dieser Folge gegen den gleichen Grenzwert. Das ist vollkommen einleuchtend. Wir nehmen nun an, daß die Folge nicht konvergiert und betrachten die Menge der Grenzwerte L aller unendlichen konvergierenden Teilfolgen (ein technisches Resultat, das als Satz von Bolzano–Weierstraß bekannt ist,
12.3 In der Zahlentheorie
133
gew¨ ahrleistet die Existenz mindestens einer derartigen Folge). Demnach hat L ein Maximum l− und ein Minimum l− , die als Limes superior bzw. Limes inferior bezeichnet werden, und wir schreiben l− = lim sup an n→∞
und l− = lim inf an . n→∞
Zum Beispiel ist es klar, daß die oszillierende Folge −1, 1, −1, 1, −1, 1, . . . nicht konvergiert, aber sie hat die beiden konvergenten Teilfolgen 1, 1, 1, 1, 1, 1, . . . und −1, −1, −1, −1, . . . , die nat¨ urlich die Grenzwerte 1 bzw. −1 haben. Das bedeutet lim sup an = 1 und n→∞
lim inf an = −1. n→∞
Ein etwas subtilerer Sachverhalt ist, daß die Folge 1 1 2 1 2 3 1 2 3 4 1 , , , , , , , , , , ,... 2 3 3 4 4 4 5 5 5 5 6 nicht konvergiert, aber die Teilfolgen 12 , 31 , 14 , 51 , . . . und 21 , 23 , 43 , 54 , . . . gegen 0 bzw. 1 konvergieren, das heißt lim sup an = 1 und n→∞
lim inf an = 0. n→∞
Mit diesen Begriffen k¨ onnen wir jetzt unmittelbar eine wichtige Idee f¨ ur die Untersuchung der Primzahlen nennen, eine wahrhaft beeindruckende Formel angeben, ein weiteres Mal Erd˝ os zitieren, ein zus¨atzliches Beispiel f¨ ur das Auftreten von γ bringen und sogar einen der typischerweise geschmacklosen mathematischen Witze erz¨ ahlen. Die Intervall-L¨ange pn+1 − pn zwiurlich schen zwei benachbarten Primzahlen pn+1 und pn erweist sich nat¨ als wichtig und eine der Folgerungen aus dem Primzahlsatz, dem wir uns unerbittlich n¨ ahern, besteht darin, daß die Intervall-L¨ange pn+1 − pn im Mittel bei ln pn liegt. Das bedeutet, daß der Durchschnitt u ¨berhaupt nicht typisch f¨ ur das Verhalten der Folge ist, denn pn+1 − pn oszilliert wild und ist eher ein Kandidat f¨ ur eine Untersuchung des lim supn→∞ und des lim inf n→∞ . Der Limes inferior ist der problematischere, denn man weiß nicht einmal, ob lim inf (pn+1 − pn ) < ∞, n→∞
obwohl Erd˝ os und andere einige Fortschritte erzielt haben. Andererseits gibt es f¨ ur den lim supn→∞ eine phantastische Formel, die 1990 von Maier und Pommerance gefunden wurde. Diese Formel, die sich auf ein 1935 von Erd˝ os bewiesenes Resultat und auf weitere in der Zwischenzeit erzielte Ergebnisse st¨ utzt, lautet lim sup n→∞
4eγ (pn+1 − pn )(log log log pn )2 ≥ , (log pn )(log log pn )(log log log log pn ) c
134
12 Wo ist Gamma?
wobei c = 3 + e−c . Jeder Kommentar scheint u ussig, außer vielleicht ¨berfl¨ die Bemerkung, daß es sich hier um den nat¨ urlichen Logarithmus handelt. Die Bezeichnung ln w¨ urde uns hier jedoch der M¨oglichkeit berauben, den besagten Witz unterzubringen: Welche Laute gibt ein ertrinkender analytischer Zahlentheoretiker von sich? log . . . log . . . log . . .2 Nunmehr k¨ onnen wir die wild divergente Folge angeben, die durch die Eulersche ϕ-Funktion erzeugt wird, der Euler den Namen totiens-Funktion gegeben hat (das lateinische Wort totiens“ bedeutet so oft“ oder so ” ” ” viele“). Die Funktion ϕ(n) ist definiert als die Anzahl der zu n teilerfremden ganzen Zahlen x mit 1 ≤ x ≤ n. Diese Funktion wird in sehr vielen zahlentheoretischen Untersuchungen verwendet. Edmund Landau (1877– 1938) bewies, daß zwar lim sup ϕ(n) = ∞, n→∞
aber
ϕ(n) ln ln n = e−γ . n Er bewies auch, daß f¨ ur große N die Beziehung lim inf n→∞
N
1 ≈ A ln N + B ϕ(n) n=1 gilt, wobei A den eleganten Ausdruck ζ(2)ζ(3) ζ(6) bezeichnet, der Ausdruck B hingegen ausgesprochen unelegant ist, aber die Zahlen π, ζ(3) und γ enth¨ alt. Als Beispiel f¨ ur die Eleganz und N¨ utzlichkeit der Eulerschen Funktion sollte sich der Leser bewußt machen, daß diese Funktion ihren Beitrag zur mathematischen Unsterblichkeit in folgendem Sinne leisten k¨onnte: W¨are die Goldbachsche Vermutung richtig ( Jede gerade Zahl ≥ 4 l¨aßt sich als Summe ” zweier Primzahlen darstellen“)3 , dann gibt es zu allen positiven ganzen Zahlen n stets Primzahlen p, q derart, daß ϕ(p) + ϕ(q) = 2n.
2
3
¨ Ahnelt in der Aussprache den englischen Lauten glug ... glug ... glug“, also gluck ” ” ... gluck ... gluck“. Genauere Ausf¨ uhrungen zu Goldbachs Vermutung bzw. zu den GoldbachProblemen findet man bei A.P. Juˇskeviˇc und J.Kh. Kopeleviˇc Christian Goldbach ([75]), in P. Ribenboim Die Welt der Primzahlen. Geheimnisse und Rekorde ([113]) und im Lexikon der Mathematik ([93]).
12.4 Bei Vermutungen
135
M (n) 80 60 40 20
0
20
40
60
80
n
100
Abb. 12.3. Die Eulersche ϕ-Funktion ( totiens-Funktion“) ”
12.4 Bei Vermutungen • Angenommen, wir werfen eine ideale M¨ unze beliebig oft und zeichnen die Folgen auf, die von Wappen“ und Zahl“ gebildet werden. Wir w¨ahlen ” ” nun eine ganze Zahl n aus und listen alle m¨oglichen Folgen der L¨ange n auf, die sich aus Wappen“ und Zahl“ bilden lassen. Wie oft m¨ ussen wir ” ” die M¨ unze werfen, um jede dieser aufgelisteten Folgen der L¨ange n in der urfe Gesamtfolge zu sehen? Es ist bekannt, daß mindestens 2n + n − 1 W¨ erforderlich sind und man vermutet, daß die durchschnittliche Anzahl f¨ ur große n gegen 2n (γ + n ln 2) geht. • Eine zweite Vermutung bezieht sich auf die Mersenneschen Primzahlen, das heißt auf Primzahlen der Form 2p − 1, wobei p eine Primzahl ist (die Mersenneschen Primzahlen sind ein nat¨ urliches Terrain f¨ ur die Treibjagd nach großen Primzahlen). Es bezeichne M (x) die Anzahl der Primzahlen p ≤ x, f¨ ur die 2p − 1 √ eine Primzahl ist. Man hat gemutmaßt, daß M (x) ∼ k ln x, wobei k = eγ / 2. Da zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches nur 44 Mersennesche Primzahlen4 bekannt sind, muß diese Vermutung als etwas zu mager angesehen werden.
4
Die von den beiden Amerikanern Curtis Cooper und Steven Boone von der Central Missouri State University am 4. September 2006 entdeckte Primzahl 232582657 − 1 ist die gr¨ oßte bislang bekannte Primzahl. Sie hat ausgeschrieben 9808358 Ziffern, wie das Internet-Primzahlprojekt GIMPS (Great Internet Prime Search) in Orlando mitteilte. Diese Primzahl hat 650000 Stellen mehr, als die 43. Mersennesche Primzahl, die am 15. Dezember 2005 ebenfalls von Cooper und Boone gefunden wurde. Die neuentdeckte Primzahl hat etwas zu wenig Stellen f¨ ur den Preis der Electronic Frontier Foundation: das Preisgeld in H¨ ohe von 100000 US-Dollar wird erst f¨ ur eine Mersennesche Primzahl gezahlt, die mehr als 10 Millionen Stellen hat.
136
12 Wo ist Gamma?
12.5 Bei Verallgemeinerungen Carl Gustav Jacobi (1804–1851) wird als Urheber des Ausspruchs Man muß ” immer generalisieren“ zitiert und eine solche Ansicht ist stets auch Bestandteil einer entsprechenden mathematischen Philosophie. H¨aufig gibt es jedoch unterschiedliche M¨oglichkeiten, einen Sachverhalt zu verallgemeinern. So verh¨alt es sich auch mit γ. • Wir k¨ onnten uns etwa in zwei Dimensionen begeben – aber wie soll das geschehen? Wir beschreiben eine M¨ oglichkeit, die zur Masser–Gramain– Konstanten f¨ uhrt und eine andere Herangehensweise an die harmonische Reihe erfordert. Man betrachte hierzu die reelle Gerade und die darauf befindlichen positiven ganzzahligen Punkte. W¨ahlen wir den Ursprung als festen Bezugspunkt, dann ist das Intervall [0, 1] der L¨ange 1 das kleinste Intervall, das die ganze Zahl 1 enth¨ alt; das Intervall [0, 2] der L¨ange 2 ist das kleinste Intervall, das die ganze Zahl 2 usw., und wir k¨onnen uns den Ausdruck n 1 − ln n lim n→∞ r r=1 als
lim
n→∞
n r=1
1 − ln n L¨ ange des Intervalls [0, r]
denken. Nachdem wir nun den Intervallbegriff verallgemeinert haben, ¨ m¨ ussen wir noch den Begriff der ganzen Zahl verallgemeinern. Uber einen Zeitraum von 300 Jahren war Fermats Letzter Satz die Ursuppe“, aus ” der sich riesige und ungemein wichtige Teilgebiete der Mathematik entwickelten. Wir hatten bereits den Zusammenhang zwischen Fermats Letztem Satz und den Bernoullischen Zahlen genannt. Nachdem Andrew Wiles (geb. 1953) das Fermatsche Problem schließlich gel¨ost hatte, kann es sein, daß die Sache nun abgeschlossen ist. In der brodelnden mathematischen Atmosph¨ are des 19. Jahrhunderts f¨ uhrte√Fermats Fragestellung jedoch zur Entwicklung von Zahlen der Form a + b −1 mit rationalen Zahlen a und b; sind diese rationalen Zahlen sogar ganze Zahlen, dann spricht man von Gaußschen ganzen Zahlen. Nun k¨ onnen wir zum H¨ohenflug“ in zwei Di” mensionen abheben und von R zu C u ¨bergehen: wir definieren den exotischen Ausdruck n 1 − ln n , δ = lim n→∞ π(ρr )2 r=2 das heißt die Masser–Gramain–Konstante (wir m¨ ussen bei 2 beginnen, um die Definition sinnvoll zu machen). Die Nenner sind die zweidimensionalen ¨ Aquivalente der Intervall-L¨ ange und die Werte f¨ ur ρr sind folgendermaßen definiert:
12.5 Bei Verallgemeinerungen
137
ρr = min{ρ: es gibt eine abgeschlossene Kreisscheibe mit Radius ρ, die mindestens r verschiedene Gaußsche ganze Zahlen enth¨alt}. ¨ Es ist vielleicht keine Uberraschung, daß der exakte Wert der Konstanten nicht bekannt ist! Euler nahm nat¨ urlich die Idee einer Verallgemeinerung wahr und f¨ uhrte sie auch durch, indem er den Ausdruck lim
n→∞
in der Form lim
n→∞
n r=1
n r=1
1 − ln n r
f (r) −
1
n
f (x) dx
betrachtete, wobei f (x) = 1/x lediglich eine spezielle positive und abnehmende Funktion ist. Er verallgemeinerte das zu f (x) =
1 xα
mit 0 < α < 1,
um zwei divergente Komponenten zu erzeugen, deren Kombination“ ge” gen endliche Summen konvergiert – die unter der Bezeichnung verallge” meinerte Eulersche Konstanten“ bekannt geworden sind. Mit f (x) = lnm x/x, wobei m eine positive ganze Zahl bezeichnet, haben wir eine weitere uns interessierende Familie von Verallgemeinerungen, die als Stieltjes-Konstanten γm bekannt sind, und u ¨ber die man nicht allzu viel weiß. Ihre Definition ist
n m n ln x lnm r − dx γm = lim n→∞ r x 1 r=1 m+1 n n ln lnm r x = lim − n→∞ r m+1 1 r=1 n lnm r lnm+1 n − = lim . n→∞ r m+1 r=1 Nat¨ urlich gilt γ0 = lim
n→∞
n r=1
1 ln n − r 1
= γ.
Die Stieltjes-Konstanten sind besonders wichtig, da sie in der Reihenentwicklung der komplexen Form der Zeta-Funktion auftreten (n¨amlich in der sogenannten Laurentreihe, u ¨ber die wir in Anhang D diskutieren). Genauer gesagt geht es um
138
12 Wo ist Gamma?
ζ(z) =
∞
(−1)r 1 + γr (z − 1)r . z − 1 r=0 r!
Es gibt noch andere Verallgemeinerungen, einschließlich einer Gittersumme von enormer Komplexit¨ at. Wir haben nunmehr aber wohl deutlich gemacht, daß Eulers einfache und nat¨ urliche urspr¨ ungliche Definition zu interessanten und mitunter wichtigen Verallgemeinerungen f¨ uhren kann. Um Andrew Wiles zu paraphrasieren: Wir denken, daß wir an dieser ” Stelle Schluß machen“.
13 Die Welt ist harmonisch Die Besch¨ aftigung mit der Mathematik, sage ich, ist das beste Mittel gegen die Kupidit¨ at. Thomas Mann (1875–1955)
Wir werfen jetzt einen kurzen Blick auf mehrere Erscheinungsformen der Reihe Hn und ihrer Glieder 1, 21 , 31 , . . . in einer u ¨berraschenden Vielfalt von Bereichen. Unsere Auswahl ist keineswegs umfassend und jeder Bereich, den wir anschneiden, l¨ aßt sich (in einigen F¨ allen betr¨achtlich) weiterentwickeln. Eine weitergehende Diskussion und ein tieferes Eindringen w¨ urde jedoch mehr Seiten in Anspruch nehmen, als wir uns in diesem Buch leisten k¨onnen. Zuallererst wollen wir uns jedoch mit der Bezeichnung harmonisch“ befassen. ”
13.1 Mittelwerte M¨ ußte man f¨ ur zwei Zahlen a und b drei Beispiele f¨ ur Mittelwerte dieser beiden Zahlen a und b angeben, dann w¨ urde man vermutlich der Reihe nach ihr arithmetisches, geometrisches und harmonisches Mittel nehmen. Diese Mittel sind durch √ 2 A = 21 (a + b), G = ab bzw. H = 1/a + 1/b definiert und stehen in einer sch¨ onen und geordneten Beziehung zueinander. Die Babylonische Identit¨ at ab = 41 ((a + b)2 − (a − b)2 ), die wir auf S. 7 genannt hatten, l¨ aßt sich in der Form 2 2 a−b a+b = ab + 2 2 schreiben und das bringt uns auf 2 a+b ≥ ab, 2 weswegen A G gilt. Es ist auch vollkommen klar, daß A und G zwischen a und b liegen. Ferner gilt
140
13 Die Welt ist harmonisch
H=
ab G2 , = A + b)
1 2 (a
√ was zu der sch¨ onen Beziehung G = AH und zu der Anordnung H ≤ G ≤ A f¨ uhrt. Man u uhelos davon, daß H gr¨oßer ist, als die ¨berzeugt sich auch m¨ kleinere der beiden Zahlen a und b, das heißt alle drei Mittel sind innerhalb des Intervalls in angemessener Weise angeordnet – aber es gibt auch andere Definitionen von Mitteln. Zwar interessieren wir uns vor allem f¨ ur H, aber dennoch w¨ are es eine sch¨ andliche Unterlassung, w¨ urden wir nicht wenigstens den gr¨ oßeren Rahmen andeuten, in dem alle drei Definitionen ihren Platz finden. Der ber¨ uhmte Satz, der den Namen des Pythagoras von Samos (ca. 569 – ca. 475 v.Chr.) tr¨ agt, ist nur ein winziger Teil dessen, was Pythagoras der Welt gegeben hat. Dieser Meinung schloß sich auch Bertrand Russell (1872–1970) an: Es ist dieser Gentleman, dem wir die reine Mathematik verdanken. Das kontemplative Ideal war, da es zur reinen Mathematik f¨ uhrte, die Quelle einer n¨ utzlichen T¨ atigkeit. Das steigerte das Prestige der reinen Mathematik und befl¨ ugelte ihren Erfolg in der Theologie, in der Ethik und in der Philosophie. Es ist unm¨ oglich, zwischen dem zu unterscheiden, was Pythagoras selbst entdeckte, und was von seiner religi¨ osen Bruderschaft entdeckt wurde, denn die Pythagoreer waren ¨ außerst verschwiegen. Aber es ist klar, daß er die drei von uns genannten Mittelwerte kannte. Klar ist auch, daß die Pythagoreer sp¨ater mindestens sieben weitere Mittelwerte als Teil des folgenden allgemeinen Schemas definierten. Zu zwei gegebenen Zahlen a und c definiere man eine Zahl b als Mittel” wert“ der anderen beiden Zahlen derart, daß a b c. Gilt diese Ungleichung, dann sind die Zahlen b − a, c − b und c − a alle 0 und die Pythagoreer verglichen bei ihren Untersuchungen die Verh¨altnisse von Paaren dieser Differenzen mit den (nicht notwendigerweise verschiedenen) Verh¨altnissen der urspr¨ unglichen Zahlen. Nehmen wir zum Beispiel das Verh¨altnis b−a a b c = = = , c−b a b c dann erhalten wir b = 21 (a + c), das heißt A. Alternativ k¨onnten wir c−b b c = = b−a a b
nehmen und erhalten b = sich aus
√ ac, das heißt G. Das harmonische Mittel H ergibt c c−b = . b−a a
13.1 Mittelwerte
141
Spielt man mit den M¨ oglichkeiten, was die Pythagoreer zweifellos taten, dann erh¨ alt man verschiedene neue Definitionen f¨ ur Mittelwerte. Zum Beispiel f¨ uhrt c−b a = b−a c
zu dem eleganten symmetrischen Mittel S=
a2 + c2 , a+c
wohingegen
c−b a = b−a b den folgenden Wert liefert, der ausgesprochen unelegant und unsymmetrisch ist: √ c − a + a2 − 2ac + 5c2 b= . 2 Diese letzte Definition gewinnt ein wenig von ihrer W¨ urde zur¨ uck, denn sie liefert als Mittelwert von 1 und 2 den Goldenen Schnitt φ = 1, 618 033 9 . . .. Wir u ¨berlassen es dem Leser, die u ¨brigen Alternativen zu untersuchen, von denen einige zusammenfallen, w¨ ahrend andere genauso seltsam sind, wie das obige Beispiel. Mit Ausnahme der ersten drei Definitionen sind alle anderen im Laufe der Jahrtausende verschwunden, aber es fehlte die Definition eines Mittelwertes, der heute wichtig ist: das quadratische Mittel“ ” # 2 a + c2 . 2 √ Der Leser kann ufen, daß sich dieser Mittelwert durch 2A2 − G2 ¨berpr¨ √ jedoch u oder durch AS gewinnen l¨ aßt. Verallgemeinerungen der Definitionen des arithmetischen Mittels, des geometrischen Mittels und des harmonischen Mittels auf n Zahlen liegen auf der Hand und wir werden diese Verallgemeinerungen in sp¨ateren Kapiteln ben¨otigen. Tats¨ achlich gibt es moderne Verallgemeinerungen der Mittelwertdefinitionen; zu nennen sind insbesondere 1/p p p , p = 0; • das H¨ oldersche Mittel, definiert durch Hp (a, c) = a +c 2 ap +cp ap−1 +cp−1 ; 1/(p−1) p −cp , = apa−pc
• das Lehmersche Mittel, definiert durch Lp (a, c) = • das Stolarskysche Mittel, definiert durch Sp (a, c) p = 0, 1.
Und es ist leicht zu sehen, daß A = H1 = L1 = S2 , G = limp→0 Hp = L1/2 = S−1 und H = H−1 = L0 .
142
13 Die Welt ist harmonisch
13.2 Geometrische Harmonie Die Pythagoreer vertraten die Auffassung Alles ist Zahl“, womit sie positive ” ganze Zahlen oder deren Verh¨ altnisse meinten, wobei die ganzen Zahlen vorzugsweise auch klein sein sollten. Die ganzen Zahlen wurden mit qualitativen Attributen ausgestattet, zum Beispiel mit einem Geschlecht, mit dem sich heute eher die Numerologen befassen. Dennoch sind einige Begriffe u ¨ber die Jahrtausende erhalten geblieben, zum Beispiel die figurierten Zahlen“ (Qua” dratzahlen, Dreieckszahlen, Kubikzahlen, Pyramidenzahlen usw.). Pythagoras verkn¨ upfte in seinem Mystizismus die ihm bekannten f¨ unf pythagoreischen ” K¨ orper“(vgl. Tabelle 13.1), das heißt den W¨ urfel, das Tetraeder, das Oktaeder, das Ikosaeder und das Dodekaeder jeweils mit der Erde, dem Feuer, der ¨ Luft, dem Wasser und dem Ather. Der Pythagoreer Philolaos soll den W¨ urfel als eine geometrische Harmonie“ bezeichnet haben, weil die Zahlen 6, 8 und ” 12 eine harmonische Folge darstellen, wobei 8 das harmonische Mittel von 6 und 12 ist (aber auch das Oktaeder hat diese Eigenschaft, wenn man die Reiuhrt zu der sch¨onen Frage, welche henfolge der Zahlen außer Acht l¨ aßt1 ). Das f¨ anderen Polyeder harmonisch im Sinne von Philolaus. sind (diese Frage wurde von John Webb gestellt und beantwortet (vgl. [149])). Tabelle 13.1. Die pythagoreischen K¨ orper Fl¨ achen F W¨ urfel Tetraeder Oktaeder Ikosaeder Dodekaeder
6 4 8 20 12
Ecken E
Kanten K
8 4 6 12 20
12 6 12 30 30
Auch ein weiteres Resultat von Euler beantwortet diese Frage: die fundamental wichtige topologische Tatsache, daß f¨ ur ein konvexes Polyeder die Anzahlen der Ecken, Fl¨ achen und Kanten durch die Beziehung E + F = K + 2 miteinander verkn¨ upft sind.2 Nimmt man nun die Bedingung der geometrischen ” Harmonie“ hinzu, das heißt E=
2 , 1/K + 1/F
dann ergibt sich unter Ber¨ ucksichtigung einiger Tatsachen der umsichtigen Webbschen Algebra die Beziehung 1
2
Vgl. Tabelle 13.1, wobei die Zahl 8 nat¨ urlich nicht außer Acht“ gelassen, sondern ” sehr wohl beachtet“ wird. ” Ecken plus Fl¨ achen = Kanten plus 2“. ”
13.3 Musikalische Harmonie
143
(K − F − 1)2 − 2(F − 1)2 = −1,
√ die nichts anderes ist als die Pellsche Gleichung. Die Approximationen von 2 durch Kettenbr¨ uche f¨ uhrt dann zu einer Liste von unendlich vielen M¨oglichkeiten f¨ ur harmonische Polyeder“. Diese Liste beginnt mit den in Tabelle 13.2 ” gegebenen Werten. Das erste harmonische Polyeder wird W¨ urfel genannt ... Tabelle 13.2. Harmonische Polyeder Fl¨ achen F
Ecken E
6 30 170
12 70 408
Kanten K 8 42 240
13.3 Musikalische Harmonie Die Folge 6, 8 und 12 tritt wiederholt in der pythagoreischen Welt auf. Man betrachte etwa eine Saite, die 12 Einheiten lang ist und beim Zupfen ein eingestrichenes C ert¨ onen l¨ aßt. Wird diese Saite auf 8 Einheiten verk¨ urzt, dann ist ein G zu h¨ oren – eine vollst¨ andige Quinte u urzung ¨ber C. Und bei Verk¨ auf 6 Einheiten ist das C eine Oktave h¨ oher zu h¨oren. Es wird berichtet, daß dem jungen Pythagoras dieses Verhalten der T¨one aufgefallen sei, als er, an einer Schmiedewerkstatt vorbeigehend, in den T¨onen der fallenden H¨ammer die Zusammenkl¨ ange Oktave, Quinte und Quarte erkannte. Der Gleichklang und die Dissonanzen veranlaßten ihn, Untersuchungen mit unterschiedlich gespannten Saiten durchzuf¨ uhren. Dabei soll er entdeckt haben, daß Musikintervalle, die als harmonisch erkannt werden, durch kleine ganzzahlige Verh¨altnisse miteinander in Beziehung stehen.3 Allgemeiner gesagt ergibt eine halbe L¨ ange ein Schwingungszahlenverh¨ altnis von 2:1 (Oktave), ein Drittel der L¨ange ein Schwingungszahlenverh¨ altnis von 3:2 (Quinte), eine Viertell¨ange ein Schwingungszahlenverh¨ altnis von 4:3 (Quarte) und eine F¨ unftell¨ange ein Tabelle 13.3. Die Pythagoreische Tonleiter
3
Note
do
re
mi
fa
sol
la
si
do
Verh¨ altnis
1:1
9:8
81:64
4:3
3:2
27:16
243:128
2:1
Vgl. jedoch B. L. van der Waerden, Die Pythagoreer. Religi¨ ose Bruderschaft und Schule der Wissenschaft. Artemis Verlag, Z¨ urich und M¨ unchen (1979) [144], S. 368–369.
144
13 Die Welt ist harmonisch
Schwingungszahlenverh¨ altnis 5:4 (große Terz). Das Auftreten der arithmetischen Folge 1, 2, 3, 4, 5 st¨ arkte nur den Glauben an die heilige Natur der ganzen Zahlen. Man sieht leicht ein, daß die Kehrwerte einer beliebigen arithmetischen Zahlenfolge eine harmonische Folge bilden; auch die Pythagoreer wußten das. Und so sind wir bei der modernen Definition einer harmonischen Folge angekommen. Dem Pythagoreer Iamblichos werden folgende Worte zugeschrieben: Das harmonische Mittel wurde damals subkontr¨ar“ genannt, aber ” der Kreis um Archytas und Hippasos gab diesem Mittelwert das neue Adjektiv harmonisch“, da es offenbar harmonische und melodische ” Verh¨ altnisse erzeugte. Bei unserer Diskussion der pythagoreischen Beitr¨age zur Musiktheorie sollten wir auch die Tonleiter erw¨ ahnen, die den Namen des Pythagoras tr¨agt. Diese Tonleiter beruhte auf der Auffassung, daß die Quinte ein besonders angenehmes Verh¨ altnis ist und daß die Tonleiter hieraus und aus der Oktave 2:1 konstruiert werden sollte. Nehmen wir also die Quinten von Quinten“ und ” skalieren wir das Ganze mit Hilfe des Faktors 2 nach unten, bis es innerhalb der Oktave liegt, dann erhalten wir Tabelle 13.3 und die griechische Tonleiter der pythagoreischen Schule. Das Verfahren wird nie die Oktave ausf¨ ullen; √ viele Zahlen werden verfehlt, nicht zuletzt die peinliche irrationale Zahl 2. Auch wird niemals eine Oktave exakt erreicht, denn keine Potenz von 23 ist eine Potenz von 2. W¨ are das n¨ amlich der Fall, dann h¨atten wir ( 32 )n = 2m , n m+n und Logarithmieren erg¨abe das hieße 3 = 2 m+n ln 3 = = 0, 405 465 . . . . n ln 2 Die Kettenbruchdarstellung 0, 405 465. . . = [1, 1, 1, 2, 2, 3, 1, 5, . . . ] liefert nun als beste Approximationen die Br¨ uche m+n 1 2 3 8 19 65 = , , , , , , .... n 1 1 2 5 12 41 Deswegen ist es arithmetisch optimal, eine Tonleiter auf der Grundlage der Quinte unter Verwendung von 1, 2, 5, 12, 41, . . . f¨ ur die Oktave zu konstruieren. Wie das klingen w¨ urde, ist eine ganz andere Sache. Jedenfalls ist die pythagoreische Tonleiter im oben beschriebenen Sinne nicht optimal. Eine andere Sichtweise auf diese Unexaktheit besteht darin, daß in der Tonleiter das Intervall zwischen aufeinanderfolgenden T¨onen entweder ein Ton“ von ” 9:8 oder ein diatonischer Halbton“ von 256:243 ist. Ungl¨ ucklicherweise ist ” der diatonische Halbton kein ganzer Halbton, denn zwei diatonische Halbt¨one ergeben ein Schwingungszahlenverh¨ altnis von (256 : 243)2 = 9:8. Durch Primfaktorzerlegung erkennen wir, daß der Fehler auf die Approximation 219 ≈ 312 oder ( 32 )12 ≈ 27 zur¨ uckzuf¨ uhren ist. Gehen wir also 12 Quinten nach oben und anschließend 7 Oktaven nach unten, dann kommen wir – beinahe – an unseren
13.3 Musikalische Harmonie
145
Ausgangspunkt zur¨ uck. Die Differenz ist unter dem Namen pythagoreisches ” Komma“ bekannt.4 Mit diesem Komma setzen wir den Punkt unter unseren Abstecher. Tabelle 13.4. Gradus suavitatis Gradus Verh¨ altnis suavitatis 1/2 (Oktave) 2 3/2 (Quinte) 4 4/3 (Quarte) 5 5/4 (große Terz), 5/3 (große Sexte) 7 6/5 (kleine Terz, 9/8 (großer Ganzton), 8/5 (kleine Sexte) 8 10/9 (kleiner Ganzton), 9/5 (kleine Septime), 15/8 (große Septime) 10 16/15 (diatonischer Halbton) 11 81/64 (pythagoreische große Terz), 45/32 (Tritonus) 14
Die Harmonie lag auch Euler am Herzen. W¨ahrend des Mittelalters umfaßte das Quadrivium die vier mathematischen K¨ unste“ – Arithmetik, Musik, ” Geometrie und Astronomie – und bildete den gehobenen Teil des Wissens im Gegensatz zum Trivium, dem elementaren Teil, der aus Grammatik, Rhetorik und Dialektik bestand. Euler lebte sp¨ ater, aber es war verst¨andlich, daß ein Mann wie er Interesse an Musik hatte – insbesondere auch deswegen, weil sich sein langes Leben teilweise mit dem Leben von Bach, H¨andel, Haydn und Mozart u ¨berschnitt. Im Alter von 24 Jahren schrieb er 1731 seine Musiktheo” rie“ (Tentamen novae theoriae musice), die erst 1739 erschien. Von Zeit zu Zeit kam er auf die Musiktheorie zur¨ uck, wobei er seine Ideen entwickelte und verfeinerte. Wir haben hier nicht vor, Euler auf diesem Weg zu folgen – allein seine Musiktheorie umfaßt 263 Seiten. Wir erw¨ahnen hier nur, daß er Primzahlen verwendete, um den Wohlklang zu quantifizieren, den er als gradus ” suavitatis“ bezeichnete. F¨ ur den gradus suavitatis eines einzelnen Tons nahm er 1 und wenn dar¨ uber hinaus m:n das Schwingungszahlenverh¨altnis zweier T¨one ist und L das kleinste gemeinsame Vielfache von m und n bezeichnet, dann gab er die Definition (p − 1), G(m, n) = 1 + p prim
p teiltL
wobei die Multiplizit¨ aten ber¨ ucksichtigt werden. Zum Beispiel ist G(4, 3) = 1 + (2 − 1) + (2 − 1) + (3 − 1) = 5 und umfassender gilt Tabelle 13.4. 4
Das pythagoreische Komma ist der erste akustische Widerspruch“. Er erscheint ” bereits in der pythagoreischen Skala und ergibt sich aus der Differenz von zw¨ olf u ¨bereinander geschichteten Quinten und sieben Oktaven ( his“ ist nicht c“). ” ” Das pythagoreische Komma l¨ aßt sich dadurch errechnen, daß man diese sieben 74 . (Die IntervallsubOktaven von den zw¨ olf Quinten subtrahiert: ( 32 )12 : ( 12 )7 = 73 traktion erfolgt durch Division.)
146
13 Die Welt ist harmonisch
Nachdem wir nun das Adjektiv harmonisch“ so richtig begr¨ undet haben, ” sehen wir uns jetzt einige der Stellen an, bei denen die Reihe vorkommt.
13.4 Rekorde und Aufzeichnungen Der Ausdruck Rekord“ f¨ ur (sportliche) H¨ ochstleistung“ wurden gegen Ende ” ” des 19. Jahrhunderts aus dem Englischen entlehnt. Das Wort ist von dem Verb to record 5 abgeleitet, das schriftlich aufzeichnen, beurkunden“ bedeutet. Es ” gibt eine Reihe von Beispielen f¨ ur Zahlenfolgen, die in nat¨ urlicher Weise bei Aufzeichnungen auftreten und bei deren Analyse Hn eine ebenso nat¨ urliche Rolle spielt. Man betrachte etwa die Niederschlagsmengen und nehme an, daß der Niederschlag eines Jahres keinen Einfluß auf die Niederschl¨age der nachfolgenden Jahre hat. Das heißt, die j¨ ahrlichen Niederschlagsmengen sind unabh¨ angige Zufallsvariable. Das erste Aufzeichnungsjahr ist per Definition ein Rekord“. Im zweiten Jahr k¨ onnte die Niederschlagsmenge mit gleicher ” Wahrscheinlichkeit niedriger oder h¨ oher sein, als im ersten Jahr. Die voraussichtliche ( erwartete“) Anzahl der Rekordjahre“ in den ersten beiden Jahren ” ¨ ” f¨ ur das dritte Jahr fort, dann ist also 1 + 21 . Setzen wir diese Uberlegungen gibt es bei zwei der sechs m¨ oglichen Anordnungen von Niederschlagsmengen f¨ ur die drei Jahre im dritten Jahr ein Rekordjahr“, das heißt die Anzahl der ” ¨ in entvoraussichtlichen Rekordjahre ist 1 + 21 + 13 . Setzt man die Uberlegung sprechender Weise f¨ ur n Jahre fort, dann ergibt sich f¨ ur die voraussichtliche Anzahl der Rekordjahre der Wert 1+
1 1 1 + + · · · + = Hn . 2 3 n
Zwei willk¨ urlich gew¨ ahlte Beispiele sind aufschlußreich. Die Wetterstation Radcliffe in Oxford hat die Daten f¨ ur die Niederschlagsmengen in Oxford zwischen 1767 und 2000 festgehalten und es gibt f¨ unf Rekordjahre; es handelt ur sich um eine Spanne von 234 aufgezeichneten Jahren und H234 = 6, 03. F¨ den Central Park in New York City gibt es zwischen 1835 und 1994 sechs Rekordjahre in diesem Zeitraum von 160 Jahren und H160 = 5, 65. Das ist ein guter Beleg daf¨ ur, daß das englische Wetter etwas unberechenbarer ist! Eine interessante Implikation der u ¨berraschend kleinen Werte von Hn (beispielsweise hat man f¨ ur H1000 und H1 000 000 die Werte 7,49 bzw. 14,39) besteht darin, daß – ohne Klimaver¨ anderung – die Rekordjahre sogar in diesen großen Zeitspannen sehr selten auftreten w¨ urden. Die Genauigkeit der Vorhersagen kann – unter Voraussetzung einer statistischen Unabh¨ angigkeit zwischen den Ablesungen – ihrerseits als ein Maß 5
Der Ursprung des Wortes ist das lateinische Verb recordari“ (sich vergegenw¨ arti” gen, sich erinnern) mit dem Stammwort cor“ (Herz, Gem¨ ut, Geist, Verstand ” usw.). Man ruft sich also etwas in das Herz zur¨ uck, das als Sitz des Verstandes angesehen wurde.
13.5 Zerst¨ orungspr¨ ufungen
147
dieser Unabh¨ angigkeit verwendet werden. Wir zitieren hierzu insbesondere Ned Glick ([64]): ... bei einer Versammlung der Royal Statistical Society im Jahre 1954 f¨ uhrten F. G. Foster und A. Stuart aus, daß Rekordtiefstwerte und Rekordh¨ ochstwerte bei den j¨ ahrlichen Niederschlagsmengen in Oxford viel seltener auftraten als Rekorde (niedrige Zeiten oder weite Distanzen) in den j¨ ahrlichen Leichtathletikveranstaltungen der British Amateur Athletic Association. Dieser Kontrast ist nicht u ¨berraschend: Anwerbung und Training der Athleten sind im vergangenen Jahrhundert intensiviert worden, aber niemand hat sich besonders eingehend um das Wetter gek¨ ummert. Obwohl sportliche Leistungen schwanken, gibt es u ur nationale ¨ber Jahrzehnte einen durchschnittlichen Trend f¨ Teilnehmer (und daher auch f¨ ur Gewinner), schneller zu laufen, h¨oher zu springen und weiter zu werfen. Hingegen sind die Wetterbedingungen in einem Jahrhundert auf intuitivere“ Weise zuf¨allig und weisen ” keinen dramatischen linearen Trend auf. Nat¨ urlich ist es m¨oglich, 100 zuf¨ allige Beobachtungen so anzuordnen, daß die Folge 10, 50 oder sogar 100 Aufzeichnungshochs hat. Eine detaillierte Rechnung zeigt jedoch, daß die Wahrscheinlichkeit von 10 oder mehr Aufzeichnungshochs in einer Zufallsfolge von 100 Beobachtungen unter 5% liegt. In Situationen, in denen die Daten weniger bekannt als Niederschl¨age oder Laufzeiten sind, liegt deswegen der Schluß nahe, daß das Auffinden von vielen Aufzeichnungshochs oder -tiefs nicht auf eine einfache Zufallsstichprobe hindeutet. Das heißt, es sollte nach einer Alternativhypothese gesucht werden, um den Daten besser gerecht zu werden. Foster und Stuart gaben mit Hilfe der Summe oder der Differenz der Frequenzen der Aufzeichnungshochs und Aufzeichnungstiefs formelle Verfahren an, um die Zuf¨ alligkeitshypothese zu testen oder eine entsprechende Anpassung vorzunehmen. Auch andere Statistiker haben derartige Inferenzverfahren betrachtet.
13.5 Zersto ¨rungspru ¨ fungen Angenommen wir haben n Holzbalken, die bei Bauprojekten als L¨angstr¨ager verwendet werden sollen. Nat¨ urlich m¨ ochten wir gerne wissen, wie stark diese Balken sind, wobei die minimale Bruchbelastung der entscheidende Faktor ist. Zum Testen dieser Bruchbelastung stellen wir uns vor, daß wir den Balken mit den beiden Balkenenden auf zwei St¨ utzen legen und dann eine allm¨ahlich zunehmende Kraft auf die Balkenmitte wirken lassen. Bricht der Balken, dann zeichnen wir seine Bruchbelastung auf. Die Anwendung dieser Technik liefert uns mit Sicherheit alle Informationen, die wir haben m¨ochten – aber leider werden dabei auch alle Balken zerst¨ ort. Wir wissen in diesem Fall, welche Bruchbelastungen zutreffend waren, aber das n¨ utzt uns nun auch nichts mehr.
148
13 Die Welt ist harmonisch
Kosteng¨ unstiger und n¨ utzlicher w¨ are folgende Herangehensweise: Es bezeichne Br (1 ≤ r ≤ n) die Bruchbelastung des r-ten Balkens und wir wenden das nachstehende Verfahren an. • F¨ uhre die Zerst¨ orungspr¨ ufung mit dem ersten Balken durch, so daß B1 bekannt ist. • Teste den zweiten Balken durch allm¨ ahliches Steigern der Kraft bis zum ¨ Wert B1 , aber nicht weiter. Uberlebt der Balken, dann wissen wir, daß B2 > B1 ; bricht der Balken, dann zeichnen wir seine Bruchbelastung B2 auf. • Teste den dritten Balken durch allm¨ ahliches Steigern der Kraft bis zum Wert min{B1 , B2 }. Bricht der Balken, dann zeichnen wir B3 auf; andernfalls nehmen wir den n¨ achsten Balken. ¨ Mit Hilfe derselben Uberlegungen, wie bei den Rekordjahren und unter der Voraussetzung, daß die Balkenbeschaffenheit eine unabh¨angige Variable ist, erhalten wir den folgenden Wert f¨ ur die voraussichtliche Anzahl der gebrochenen Balken: 1 1 1 Hn = 1 + + + · · · + . 2 3 n Anstatt also alle 1000 Balken zu zerbrechen, w¨ urden wir voraussichtlich nur H1000 ≈ 7, 5 von ihnen zerst¨ oren m¨ ussen, um die maximale Bruchbelastung zu ermitteln. Zweifellos w¨ urden wir damit der Baufirma eine große Freude bereiten. Man kann auch zeigen, daß die Varianz der Anzahl der zerbrochenen Balken gleich Hn − π 2 /6 ist und ein weiteres Mal tritt π 2 /6 in Erscheinung.
13.6 Durchqueren der Wu ¨ ste Wir sehen uns das Problem in seiner Form als R¨atsel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs an, obwohl es viel weiter zur¨ uck zu datieren ist. Die Aufgabe wurde 1947 von N. J. Fine gel¨ ost. Das Problem besteht darin, daß Sie die W¨ uste mit einem Jeep durchqueren sollen. Es gibt keine Kraftstoffquellen in der W¨ uste, und Sie k¨onnen im Jeep nicht gen¨ ugend viel Kraftstoff mitnehmen, um die W¨ uste in einem Ritt“ zu ” bezwingen. Auch haben Sie keine Zeit, Kraftstoffdepots anzulegen, aber Sie haben eine große Reserve an Jeeps und Fahrern und m¨ochten weder Fahrzeuge noch M¨ anner verlieren. Wie schaffen Sie es, mit einem Minimum an Kraftstoff durch die W¨ uste zu kommen? Wir messen die Entfernung, die ein Jeep zur¨ ucklegen kann, durch die Tankf¨ ullungen; ein Jeep kann f¨ ur sich die Entfernung einer Tankf¨ ullung zur¨ ucklegen. Fahren zwei Jeeps zusammen los, dann sollten sie die Entferullung zur¨ ucklegen. Danach u nung von 13 einer Tankf¨ ¨bergibt Jeep 2 einen Anteil von 31 seiner Tankf¨ ullung an Jeep 1 und kehrt mit dem verbleibenden
13.7 Kartenmischen
149
1 3
der Tankf¨ ullung zur Basis zur¨ uck. Jeep 1 ist nun in der Lage, insgesamt eine Entfernung von 1 + 31 Tankf¨ ullungen zur¨ uckzulegen. Drei Jeeps sollten nach Zur¨ ucklegen von 15 einer Tankf¨ ullung anhalten. Jeep 3 f¨ uhrt anschließend je 51 seiner Tankf¨ ullung an Jeep 1 und Jeep 2 ab, die dann beide einen vollen Tank haben. Jeep 3 hat nun 25 einer Tankf¨ ullung. Jeep 1 und Jeep 2 verfahren (und fahren) nun wie oben beschrieben, wobei Jeep 2 mit einem leeren Tank zu Jeep 3 zur¨ uckkehrt. Insgesamt haben sie (das heißt Jeep 2 und Jeep 3) gen¨ ugend viel Kraftstoff, um zur Basis zur¨ uckzukehren. Unterdessen hat Jeep 1 eine Entfernung von insgesamt 1 + 13 + 51 Tankf¨ ullungen zur¨ uckgelegt. ¨ Dieselbe Uberlegung zeigt, daß man mit vier Jeeps eine Entfernung von ullungen zur¨ ucklegen kann und mit n Jeeps kann man 1 + 31 + 15 + 17 Tankf¨ einen Jeep durch eine W¨ uste bringen, die einer Breite von 1 1 1 1 + + + ··· + 3 5 7 2n − 1 Tankf¨ ullungen entspricht. Die Divergenz der Reihe bedeutet, daß wir mit Hilfe des beschriebenen Systems der Kraftstoff¨ ubergabe eine W¨ uste von beliebiger Gr¨ oße u onnen – nat¨ urlich unter der Voraussetzung, daß wir hin¨berwinden k¨ reichend viele Jeeps und Fahrer zur Verf¨ ugung haben.
13.7 Kartenmischen Ein zuf¨ alliges Hineinmischen der oberen Karte“ ist ein Mischvorgang, bei ” dem die oberste Karte eines aus n Karten bestehenden Spiels entfernt und auf zuf¨ allige Weise in den Kartenstoß hineingemischt wird. Wie oft muß dieser Mischvorgang wiederholt werden, bevor wir den gesamten Kartenstoß als zuf¨ allig“ gemischt betrachten k¨ onnen? ” Wir verfolgen den Weg der Karte, die sich zu Anfang ganz unten im Kartenstoß befindet. Diese (durch B gekennzeichnete) Karte bleibt solange ganz unten, bis eine andere Karte unterhalb von ihr zu liegen kommt. Es gibt n Stellen, an die eine von oben weggenommene Karte gelangen kann und deswegen ist 1/n die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß diese Karte unter die Karte B gelangt. Man ben¨ otigt also durchschnittlich n Vorg¨ange des zuf¨alligen ” Hineinmischens der oberen Karte“, bis eine Karte unterhalb der Karte B zu liegen kommt. Ist das geschehen, dann ist 2/n die Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß eine zuoberst liegende und zuf¨ allig hineingemischte Karte unter die Karte B gelangt. Es gibt n¨ amlich jetzt zwei Stellen unterhalb von B, und n/2 ist die voraussichtliche Anzahl der Mischvorg¨ ange, bis eine zweite Karte unterhalb von B zu liegen kommt, w¨ ahrend voraussichtlich n + n/2 Mischvorg¨ange ben¨ otigt werden, bis zwei Karten unter die Karte B gelangen. Man beachte, daß nunmehr die Karten unterhalb von B in zuf¨alliger Weise angeordnet sind. Setzen wir das Verfahren auf diese Weise fort, dann sehen wir, daß
150
13 Die Welt ist harmonisch
n+
n 1 1 1 1 n n n + + + ··· + = n 1 + + + + ··· + 2 3 4 n−1 2 3 4 n−1
die voraussichtliche Anzahl der Vorg¨ ange des zuf¨alligen Hineinmischens der ” oberen Karte“ ist, bis die Karte B ganz oben liegt. Ist das erfolgt, dann sind die unterhalb von B liegenden Karten zuf¨ allig angeordnet. Nun muß man nur noch einmal mischen, um die Karte B auf zuf¨allige Weise einzuordnen und damit den gesamten Kartenstoß zu randomisieren. Die Gesamtzahl der erforderlichen Mischvorg¨ ange betr¨ agt demnach n+
n n n n + + + ··· + +1 2 3 4 n−1 1 1 1 1 1 = n 1 + + + + ··· + + 2 3 4 n−1 n = nHn .
F¨ ur ein gew¨ ohnliches Bridge-Spiel mit 52 Karten bedeutet das ungef¨ahr 230 Mischvorg¨ ange.
13.8 Quicksort Von den vielen verschiedenen Algorithmen, die zum Sortieren von Daten entwickelt worden sind, wird im Allgemeinen das von C. A. R. Hoare gefundene Sortierverfahren Quicksort bevorzugt, da es relativ wenig Zeit in Anspruch nimmt. Die Idee des Verfahrens besteht darin, die zu sortierende Eingabemenge, die als Datenfeld abgespeichert ist, derart in zwei nichtleere Teilfelder umzuordnen, daß jedes im ersten Teilfeld abgespeicherte Element kleiner als oder gleich jedem im zweiten Teilfeld abgespeicherten Element ist. Zentraler Bestandteil des Verfahrens ist der Partionierungsschritt, in dem ein Pivot-Punkt P ausgew¨ ahlt wird. Durch den Partitionierungsschritt wird das urspr¨ ungliche Datenfeld so in zwei Teilfelder aufgeteilt, daß alle Elemente des ersten Teilfeldes kleiner als oder gleich P und alle Elemente des zweiten Teilfeldes gr¨ oßer als oder gleich P sind. Das Verfahren wird nunmehr fortlaufend mit jedem Teilfeld wiederholt, bis die Daten sortiert sind, das heißt bis die L¨ange eines jeden Teilfeldes gleich 1 ist; hierbei erfolgt keine Anordnung der Daten in s¨ amtlichen weiteren Teilfeldern. Wir wollen nun einen Blick auf die Mathematik werfen, die bei Quicksort angewendet wird. Hierzu bezeichnen wir mit Tn die durchschnittliche Zeit, die der Algorithmus ben¨otigt, um eine Liste von n Elementen zu sortieren, die in irgendeiner unbekannten Reihenfolge angeordnet sind. Wir nehmen an, daß das r-te Element der Liste als anf¨anglicher Pivot-Punkt ausgew¨ ahlt wird, wozu nach Voraussetzung eine Einheit der Vergleichszeit verbraucht wird. Wir brauchen dann n − 1 Vergleiche, um die Elemente in die zwei Partitionen plus die 1 aufzuteilen und somit haben wir
13.8 Quicksort
Tn = n + Tr−1 + Tn−r ,
r = 1, 2 . . . , n
mit
151
T0 = 0.
Durch Summieren k¨ onnen wir r eliminieren und erhalten n
Tn =
n
n+
r=1
r=1
nTn = n2 +
n
(Tr−1 + Tn−r ),
r=1
n
Tr−1 +
n
also Tn = n + Das ergibt
n−1 2 Tr = n n+ n r=0
n−1
Tr ,
r=0
r=1
r=1
nTn − (n − 1)Tn−1
Tn−r = n2 + 2
n−1 2 Tr . n r=0
= n2 − (n − 1)2 + 2
n−2 2 − (n − 1) n − 1 + Tr n − 1 r=0
n−1 r=0
Tr − 2
n−2 r=0
Tr = 2n − 1 + 2Tn−1 ,
und somit erhalten wir nTn = 2n − 1 + 2Tn−1 + (n − 1)Tn−1 = (n + 1)Tn−1 + 2n − 1,
n = 1, 2, . . .
mit T0 = 0. Ein magischer Sprung u ¨ber den Abgrund der rekursiven Beziehungen liefert uns die L¨ osung Tn = 2(n + 1)
n+1 r=1
1 − 3n − 2, r
f¨ ur n ≥ 1,
die wir u ufen k¨ onnen. Wenn das geschehen ist, k¨onnen wir fortfahren: ¨berpr¨
n 1 (n + 1)Tn−1 + 2n − 1 = (n + 1) × 2n − 3(n − 1) − 2 + 2n − 1 r r=1 = 2n(n + 1) = 2n(n + 1)
n 1
r=1 n r=1
= 2n(n + 1)
n+1 r=1
r
+ (n + 1)(−3n + 1) + 2n − 1
1 − 3n2 − 2n + 1 + 2n − 1 r 1 − 2n − 3n2 = nTn . r
152
13 Die Welt ist harmonisch
Damit sind wir nun am Ende, denn wir haben auch T0 = 2(0 + 1)
1 1 r=1
r
− 3 × 0 − 2 = 0.
Mit diesem Ergebnis k¨ onnen wir ein Maß f¨ ur die Effizienz von Quicksort angeben, indem wir Hn durch den nat¨ urlichen Logarithmus absch¨atzen und n f¨ ur große n durch n + 1 ersetzen: Tn = 2(n + 1)
n+1 r=1
1 3n + 2 − 3n − 2 ≈ 2(n + 1) ln(n + 1) + γ − r 2(n + 1)
= O(n ln n).
Dieses Ergebnis schneidet im Vergleich zu Alternativen wie dem einfachen Bubblesort ganz gut ab, bei dem der gleiche Durchschnittswert ungef¨ahr O(n2 ) betr¨ agt; aber nat¨ urlich kann es zu Worst-Case-Szenarios kommen, bei denen n ln n zwangsl¨ aufig gegen n2 geht.
13.9 Sammeln einer vollst¨ andigen Menge Es gibt viele Anl¨ asse, bei denen als Marketingtrick gewisse Mengen von Produkten verteilt werden, um deren Absatz zu f¨ordern – das geschieht insbesondere bei Produkten, die f¨ ur Kinder bestimmt sind. Wir modellieren die Situation mit Packungen von Fr¨ uhst¨ ucks-Cerealien und nehmen an, daß n verschiedene Spielsachen (das ist eine großz¨ ugige Annahme) so verteilt werden, daß jeder Packung ein Spielzeug zugeordnet wird, und daß die Anzahl der Packungen unbegrenzt ist. Die Frage lautet: Was ist die voraussichtliche Anzahl der Packungen, die f¨ ur ein Kind gekauft werden m¨ ussen, damit es den ganzen Spielzeugsatz bekommt? Zun¨ achst brauchen wir ein Ergebnis zur Vorbereitung. Die unendliche geometrische Reihe 1 + x + x2 + x3 + · · · =
1 1−x
f¨ ur |x| < 1,
die wir bereits einige Male verwendet hatten, l¨ aßt sich in legitimer Weise nach x differenzieren, und dabei erhalten wir 1 + 2x + 3x2 + 4x3 + · · · =
1 (1 − x)2
mit dem gleichen Konvergenzbereich. Wir kommen nun auf das Problem zur¨ uck. Es sei Er die voraussichtliche Anzahl der Packungen, die ge¨offnet werden m¨ ussen, um das r-te neue Spielzeug zu bekommen (Abb. 13.1 illustriert den
13.9 Sammeln einer vollst¨ andigen Menge
E2 1
153
E3 2
3 Abb. 13.1.
Sachverhalt). Die erste Packung enth¨ alt eine neues Spielzeug und deswegen gilt E1 = 1. Wir haben nun 2 3 1 1 n−1 n−1 1 n−1 n−1 +2 +3 +4 + ··· E2 = 1 n n n n n n n
3 2 1 1 n−1 1 = 1+2 +4 + ··· . +3 n n n n Setzt man im obigen Ergebnis x = 1/n, dann ergibt sich E2 =
1 n n−1 . = n (1 − 1/n)2 n−1
Die Fortsetzung dieser Argumentation liefert 2 3 2 2 n−2 n−2 2 n−2 n−2 E3 = 1 +2 +3 +4 + ··· n n n n n n n
3 2 2 2 n−2 2 = 1+2 +4 + ··· +3 n n n n =
1 n n−2 . = 2 n (1 − 2/n) n−2
Die voraussichtliche Anzahl der Cerealien-Packungen, die zum Sammeln eines vollst¨ andigen Satzes von Spielsachen gekauft werden m¨ ussen, betr¨agt demnach T n = E1 + E2 + E3 + · · · + E n n n 1 n =n = nHn . = n − r + 1 r r=1 r=1 Eine nicht zuf¨ allige Verteilung w¨ urde diese Anzahl nat¨ urlich erh¨ohen. Der Leser k¨ onnte das zum Beispiel durch Werfen eines idealen W¨ urfels modellieren, bis alle sechs Zahlen oben liegen. In diesem Fall hat man n = 6 und T6 = 14, 7. Nimmt man ein u ¨bliches Bridge-Spiel und hebt so lange ab, bis alle Karten zu sehen sind, dann hat man n = 52 und braucht sehr viel mehr Geduld: T52 ≈ 205.
154
13 Die Welt ist harmonisch
13.10 Eine Putnam-Preis-Frage Die William Lowell Putnam Mathematical Competition“ ist ein j¨ahrlicher ” Wettbewerb f¨ ur College-Studenten in den Vereinigten Staaten, der 1938 in Erinnerung an W. L. Putnam ins Leben gerufen wurde. In Problem B5 des Putnam-Wettbewerbs des Jahres 1992 ging es um Determinanten, und das Problem lautete folgendermaßen. Ist ∆n /n! beschr¨ankt, wenn ∆n die nachstehende Determinante bezeichnet? 3 1 1 1 ··· 1 1 1 4 1 1 ··· 1 1 5 1 ··· 1 ∆n = 1 1 1 1 6 ··· · · · · · · 1 1 1 1 ··· n + 1
Wir geben die wesentlichen Schritte einer eleganten L¨osung dieses Problems an und u ¨berlassen dem interessierten Leser die Details der Determinantenrechnung! 3 1 1 1 ··· 1 4 1 1 ··· 1 1 5 1 ··· ∆n = 1 1 1 6 · · · · · · · · 1 1 1 1 ··· 0 0 0 0 ··· 2 0 0 0 3 0 0 0 4 = 0 0 0 · · · 0 0 0 −1 −1 −1 2 0 0 0 ··· 0 3 0 0 ··· 0 0 4 0 ··· = 0 0 0 5 · · · · · · · · 0 0 0 0 ··· 0 0 0 0 ···
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 n + 1 1 0 1
0 · · · 0 1 0 · · · 0 1 0 · · · 0 1 5 · · · 0 1 · · 0 1 0 · · · n 1 −1 · · · −1 1 0 1 0 1 0 1 0 1 = n!Hn . 0 1 n 1 0 Hn
Demnach ist ∆n /n! = Hn und aufgrund der Divergenz von Hn lautet die Antwort, daß die Determinante unbeschr¨ ankt ist.
¨ 13.11 Maximal m¨ oglicher Uberhang
155
¨ 13.11 Maximal mo ¨glicher Uberhang Wir wollen zum Beispiel die Spielkarten eines Kartenstoßes auf der Kante ¨ eines Tisches derart plazieren, daß die Karten einen Uberhang bilden (vgl. ¨ Abb. 13.2). Wir k¨onnen die Frage stellen, welches der maximal m¨ogliche Uberhang ist. Dabei soll vorausgesetzt werden, daß die Karten eine Breite von 2 ¨ Einheiten haben. Nat¨ urlich erhalten wir einen maximalen Uberhang von einer Karte zur n¨ achsten, wenn die obere Karte derart verschoben wird, daß sich ihr Schwerpunkt gerade u ¨ber der Kante der unmittelbar darunterliegenden Karte befindet. Es sei dr der Abstand der rechten Kante der ganz oben liegenden Karte zur rechten Kante der r-ten Karte von oben. Dann ist d1 = 0 und falls dr+1 den Schwerpunkt der ersten r Karten bezeichnet, hat man dr+1 =
(d1 + 1) + (d2 + 1) + (d3 + 1) + · · · + (dr + 1) , r
1 ≤ r ≤ n.
Deswegen gilt rdr+1 = r + d1 + d2 + · · · + dr−1 + dr ,
r ≥ 0,
und (r − 1)dr = r − 1 + d1 + d2 + · · · + dr−1 ,
r ≥ 1.
Subtraktion liefert rdr+1 − (r − 1)dr = 1 + dr ,
r ≥ 1.
Aus diesem Grund haben wir dr+1 = dr + 1/r,
r ≥ 1,
das heißt, die zweite Formel zur Definition der harmonischen Reihe, und somit ergibt sich dr+1 = Hr . Setzen wir r = n, dann stellt Hn den Gesamt¨ uberhang ¨ dar. Die Divergenz von Hn bedeutet nun wieder, daß der Uberhang theoretisch beliebig groß gemacht werden kann.
d2 d3 d4 d5 ¨ Abb. 13.2. Uberh¨ angende Karten
156
13 Die Welt ist harmonisch
13.12 Wurm auf einem Band Dieses faszinierende Problem scheint 1972 von Denys Wilquin gestellt worden zu sein. Ein elender mathematischer Wurm beginnt auf einem Ende eines mathematischen Gummibandes zu kriechen, das eine Anfangsl¨ange von 1 m hat. Der Wurm kriecht mit einer konstanten Geschwindigkeit von 1 cm min−1 und am Ende jeder Minute dehnt sich das Band sofort um einen weiteren Meter. Nach 1 min Kriecharbeit und Speichellecken ist der Wurm 1 cm vom Startpunkt und 99 cm vom Endpunkt entfernt, aber in diesem Augenblick dehnt sich das Band um 1 m. Bei diesem Dehnungsprozeß bleibt der Wurm relativ zum Band station¨ ar: da er sich 1% vom Startpunkt und 99% vom Endpunkt entfernt befindet, ist er in diesem Moment 2 cm vom Startpunkt und 198 cm vom Endpunkt entfernt. Genau am Ende der zweiten Minute ist der Wurm 3 cm vom Startpunkt und 197 cm vom Endpunkt entfernt, das heißt (1+ 21 )% = 1, 5% vom Startpunkt und 98,5% vom Endpunkt. Das Band dehnt sich erneut und wird 3 m lang; der Wurm ist nun also 4,5 cm vom Startpunkt und 295,5 cm vom Endpunkt entfernt. Genau am Ende der dritten Minute ist der Wurm 5,5 cm vom Startpunkt und 194,5 cm vom Endpunkt entfernt, daß heißt (1 + 21 + 13 ) = 1 56 % vom Startpunkt und 98 16 % vom Endpunkt. Das Verfahren wird auf diese Weise fortgesetzt und der Wurm kriecht und kriecht und windet sich ... Die Frage ist, ob der Wurm jemals das Ende erreicht. Die Antwort h¨ angt in kritischer Weise von folgender Tatsache ab: w¨ahrend sich das Gummiband dehnt, bleibt der prozentuale Anteil konstant, den der Wurm zur¨ uckgelegt hat. Das bedeutet, daß unser Kriechtier“ in der ersten Minu” 1 1 der Bandl¨ ange zur¨ ucklegt, in der zweiten Minute 200 der Bandl¨ange, te 100 1 in der dritten Minute ein 300 usw. Nach n Minuten betr¨agt der Anteil der durchkrochenen Bandl¨ ange 1 1 1 1 1 Hn + + + ··· + . = 100 1 2 3 n 100 Wir verwenden erneut die logarithmische Absch¨atzung f¨ ur Hn und erhalten Hn = 100 wenn ln n + γ ≈ 100. Dieser Fall tritt dann ein, wenn n ≈ e100−γ Minuten verflossen sind. Unser unerm¨ udlicher Wurm braucht sehr viel Zeit, um sein Ziel zu erreichen: mehr Zeit, als das gesch¨atzte Lebensalter des Universums.
13.13 Optimale Auswahl Wir kommen nun zu einem letzten, u ¨berraschenden Auftreten der harmonischen Reihe. Bemerkenswert ist insbesondere die kontraintuitive Natur dieses Beispiels, das in vielen Formen vorkommt: Auswahl eines Ministers, eines Freiers, eines Autos, eines Restaurants usw. Die gemeinsame Grundlage besteht darin, daß es eine Liste gibt, aus der eine einzige Auswahl getroffen werden
13.13 Optimale Auswahl
157
muß. Die Liste ist in zuf¨ alliger Weise geordnet und es gibt genau eine optimale Wahlm¨ oglichkeit – und wir m¨ ochten nat¨ urlich diese ausw¨ahlen. Selbstverst¨ andlich k¨ onnten wir jeden Kandidaten beurteilen und damit den Erfolg garantieren; am anderen Ende des Spektrums k¨onnten wir uns aber schlichtweg nur faul verhalten und einfach nach dem Zufallsprinzip einen Kandidaten ausw¨ ahlen. Gibt es insgesamt n Wahlm¨ oglichkeiten, dann w¨aren die Chancen, den besten Kandidaten auszuw¨ ahlen, beim ersten Verfahren gleich 1 und beim zweiten Verfahren gleich 1/n. Gibt es eine optimale Strategie, die irgendwo dazwischen liegt, und bei der wir ein bißchen arbeiten m¨ ussen, aber nicht zu viel? Die Antwort ist Ja“ und u ¨berdies ist es ein sehr elegantes Ja“. Die ” ” Strategie besteht darin, die ersten r Kandidaten auf der Liste zu verwerfen und dann den ersten Kandidaten auszuw¨ ahlen, der besser ist, als der beste verworfene Kandidat. Warum ist diese Vorgehensweise vern¨ unftig und wann ist sie optimal? Welchen Wert hat r? Angenommen, der beste Kandidat ist B. Dann erleiden wir also Schiffbruch, falls sich B unter den ersten r Kandidaten befindet: da n¨ amlich alle nachfolgenden Kandidaten mit B verglichen werden, m¨ ussen wir zwangsl¨ aufig den u ucklichen n-ten Kandidaten ausw¨ahlen. Ist aber ¨bergl¨ B nicht unter den ersten r Kandidaten, dann haben wir eine Erfolgschance – aber was f¨ ur eine Chance? Die Antwort h¨ angt davon ab, wo sich B unter den verbleibenden Auswahlm¨ oglichkeiten befindet; wir m¨ ussen jede dieser M¨ oglichkeiten gesondert betrachten. Liegt Kandidat B an der (r + 1)-ten Position, dann w¨ahlen wir ihn mit Sicherheit aus und das erfolgt mit der Wahrscheinlichkeit 1/n. Nehmen wir jetzt an, daß sich B an der (r + 2)-ten Position befindet. Ist nun der Kandidat an der (r + 1)-ten Position der bislang beste, dann verfehlen wir unser Ziel, wenn wir ihn ausw¨ ahlen; andernfalls werden wir trotzdem B ausw¨ahlen. Das bedeutet: Wir werden B ausw¨ ahlen, falls der bislang beste Kandidat der ersten r + 1 Auswahlm¨ oglichkeiten schon unter der ersten r dieser Auswahlm¨oglichkeiten zu finden ist – und das erfolgt mit der Wahrscheinlichkeit r/(r + 1). Wir ben¨ otigen den Kandidaten B in der (r + 2)-ten Position und er befindet sich dort mit derselben Wahrscheinlichkeit 1/n, so daß in diesem Fall die Gesamterfolgswahrscheinlichkeit folgenden Wert hat: r 1 × . n r+1 Setzen wir nun das Verfahren fort, indem wir annehmen, daß sich B in der (r + 3)-ten, (r + 4)-ten, . . . , n-ten Position befindet, dann ergeben sich die Erfolgswahrscheinlichkeiten 1 r × , n r+2
1 r × , n r+3
...,
1 r × . n n−1
Die Gesamterfolgswahrscheinlichkeit (der Auswahl von B) betr¨agt dann bei Anwendung dieser Strategie
158
13 Die Welt ist harmonisch
P (n, r) =
1 n
1+
r r r r + + + ··· + r+1 r+2 r+3 n−1
.
F¨ ur ein gegebenes n ist das die Wahrscheinlichkeit, die wir maximieren m¨ ochten, wenn r zwischen 0 und n−1 variiert. Offensichtlich tritt hier die harmonische Reihe ein weiteres Mal in Erscheinung. Mit Hilfe der harmonischen Reihe k¨ onnen wir n¨ amlich die Wahrscheinlichkeit folgendermaßen ausdr¨ ucken: P (n, r) =
1 {1 + r(Hn−1 − Hr )}. n
Das l¨ aßt sich f¨ ur kleine Werte von n leicht berechnen, zum Beispiel f¨ ur n = 5, 10, 100, 1000 und das Verhalten ist in Abb. 13.3 dargestellt. 0.4
n=5
0.4 0.3
0.3
0.2
0.2
0.1
0.1
0
1
2
3
4
5
n = 100
0.3
n = 10
0
2
0.2
0.1
0.1 20
40
60
80
100
6
0.3
0.2
0
4
0
8
10
n = 1000
200
400
600
800 1000
Abb. 13.3. Stetige Form von P (n, r)
Wir haben die Punkte verbunden, um das Verhalten hervorzuheben. Es ist ein deutlicher Trend erkennbar, bei dem der Maximalwert von P (n, r) von etwas u uckgeht, der etwas darunter liegt und f¨ ur ¨ber 0,4 auf einen Wert zur¨ einen Wert von r erreicht wird, der etwas mehr als ein Drittel von n betr¨agt. Tabelle 13.5 stellt die Maximalwahrscheinlichkeiten und die Werte von r dar, bei denen diese Wahrscheinlichkeiten f¨ ur die ersten paar Werte und f¨ ur einige gr¨ oßere Werte von n erreicht werden. Hieraus ist ersichtlich, daß die Strategie zu einer Erfolgswahrscheinlichkeit (in Bezug auf die Auswahl von B) von mindestens 37% f¨ uhrt – und zwar unabh¨ angig davon, wie groß n ist. Das ist zwar keine Gewißheit, aber es ist viel besser als die immer kleiner werdenden 1/n des Zufallsprozesses. ur Die vollst¨ andige Analyse des Problems veranlaßt uns erneut, die Hn f¨ große n (und somit f¨ ur hinreichend große r) durch den nat¨ urlichen Logarith-
13.13 Optimale Auswahl
159
Tabelle 13.5. Wertetafel einer optimalen Auswahl n 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 20 50 100 200 300 400 500 1 000 5 000 10 000
Opt. r 0 0/1 1 1 2 2 2 3 3 3 7 18 37 73 110 147 184 368 1839 3678
Max. P (n, r) 1,000 0,500 0,500 0,458 0,433 0,428 0.414 0,410 0,406 0,399 0,384 0,374 0,371 043 0,369 461 0,369 352 0,368 671 0,368512 0,368 195 0,367 942 0,367 911
mus zu approximieren: 1 1 (n − 1) P (n, r) ≈ {1 + r([ln(n − 1) + γ] − [ln r + γ])} = 1 + r ln . n n r Betrachten wir r als stetige Variable, dann k¨ onnen wir mit Hilfe der Infinitesimalrechnung die n¨ aherungsweisen Koordinaten des Maximums finden, das wir in den graphischen Darstellungen gesehen hatten: 1 1 n−1 1 n−1 dP (n, r) = −r× −1 . ln = ln dr n r r n r F¨ ur beliebige station¨ are Punkte haben wir also die Beziehung ln(n − 1)/r = 1 und somit gilt (n − 1)/r = e. Ohne großen Verlust ist deswegen n/r = e. Der optimale Wert f¨ ur r ist demnach ungef¨ ahr n/e und liefert f¨ ur das Maximum P (n, r) den N¨ aherungswert 1 1 (n − 1) r n 1 + r ln ≈ ln ≈ ≈ 0, 37, n r n r e also die Basis der Napierschen Logarithmen. Dennoch bleibt eine kleine Faszination. Die Darstellung von 1/e als Kettenbruch ist nichts anderes als die um eine Stelle verschobene Kettenbruchdarstellung von e, das heißt wir haben
160
13 Die Welt ist harmonisch
1/e = [0; 2, 1, 2, 1, 1, 4, 1, 1, 6, 1, 1, 8, 1, 1, 10, 1, 1, 12, . . . ]. 4 7 32 39 71 Die ersten paar N¨ aherungsbr¨ uche sind also 12 , 13 , 83 , 11 , 19 , 87 , 106 , 193 , .... In Tabelle 13.5 findet man einige Werte von n und die entsprechenden optimalen r zusammen mit dem Wert von P (n, r). Eine andere Auswahl der Werte von n liefert die ¨ aquvalente Tabelle 13.6. 465 536 1264 , 1457 ,
Tabelle 13.6. Wertetafel einer weiteren optimalen Auswahl n 2 3 8 11 19 87 106 193 1264 1457
Opt. r 1 1 3 4 7 32 39 71 465 536
Max. P (n, r) 0,500 0,500 0,409 8 0,398 4 0,385 0 0,371 5 0,370 9 0,369 5 0,368 13 0,368 10
Die Auswahl der n ist alles andere als willk¨ urlich: es handelt sich nat¨ urlich um die Nenner der N¨ aherungsbr¨ uche von 1/e und die optimalen Werte r sind nichts anderes als die entsprechenden Z¨ ahler. Ein gr¨oßerer Test ist n = 14 665 106, der Nenner des zwanzigsten N¨ aherungsbruches von 1/e; der Z¨ahler ist 5 394 991 – und was ist wohl das Optimum r? Korrekt. Das liegt nahe, aber warum ist es korrekt? Ein besonderes Merkmal des Verfahrens besteht darin, daß jedem Kandidaten das Ergebnis des Auswahlgespr¨ achs sofort nach Gespr¨achsende mitgeteilt werden kann – falls es u ¨berhaupt zu einem solchen Gespr¨ach kommt! Sollten wir den Wunsch haben, dieses Merkmal zu opfern, dann k¨onnen wir die Dinge aus einem geringf¨ ugig anderen Blickwinkel betrachten. Angenommen, wir ersetzen das Verb ablehnen“ durch den alternativen Ausdruck in die Re” ” serve“ u ¨bernehmen. Wird dann mit dem besten Kandidaten unter den ersten r Bewerbern ein Auswahlgespr¨ ach gef¨ uhrt, dann f¨ uhren wir die Gespr¨ache zwangsl¨ aufig bis zum letzten Kandidaten durch; aber nachdem wir das hinter uns gebracht haben, w¨ urden wir dennoch den besagten besten Kandidaten aus unseren Anfangsreserven ausw¨ ahlen. Nat¨ urlich ist das Verfahren in gewissem Sinne gescheitert, da wir keinerlei Aufwand eingespart haben. Wir k¨onnen jedoch beispielsweise fragen, wie der Wert von r beschaffen sein sollte, um sicherzustellen, daß sich die Erfolgschancen zu unseren Gunsten gestalten. Nun haben wir r 1 P (n, r) = {1 + r(Hn−1 − Hr )} + , n n
13.13 Optimale Auswahl
161
wobei der zus¨ atzliche Ausdruck die Wahrscheinlichkeit bezeichnet, daß sich der beste Kandidat unter den ersten r Kandidaten befindet. Sogar bei der logarithmischen Approximation, die zu einem r mit P (n, r) = 12 f¨ uhrt, ist keine Analyse m¨ oglich, aber wir k¨ onnen sehen, was beispielsweise bei n = 1000 geschieht. 1.0 0.8 0.6 0.4 0.2
0
200
400
600
800
1000
Abb. 13.4. Die alternative Strategie
¨ Die Funktion erreicht ihr Maximum 1 bei r = 1000 (was keine Uberra1 schung ist), aber wir m¨ ochten wissen, wo sie den Wert 2 annimmt. Durch etwas Herumrechnen sehen wir, daß dieser Wert bei r = 186 angenommen wird und gehen wir zu gr¨ oßeren n u ¨ber, dann sehen wir, daß eine asymptotische Form r/n ≈ 0, 186 682 2 . . . vorliegt – was auch immer das ist. Zusammengefaßt gesagt: Wenden wir das Verfahren an, nachdem wir mit etwas weniger als 20% der Kandidaten Auswahlgespr¨ ache gef¨ uhrt haben, dann besteht eine echte Chance, den besten Kandidaten auszuw¨ ahlen!
14 Die Welt ist logarithmisch Wie kann es sein, daß sich die Mathematik, die ein Produkt menschlichen Denkens unabh¨ angig von der Erfahrung ist, so wunderbar f¨ ur die Objekte der Realit¨ at eignet? Albert Einstein (1879–1955)
Wie schon in der Einleitung gesagt, braucht der Leser dieses Buches kaum davon u ¨berzeugt zu werden, daß Logarithmen mit großer H¨aufigkeit in der Mathematik und deren Anwendungen auftreten, insbesondere bei vielen einschl¨ agigen Differentialgleichungen. In der Natur wimmelt es nur so von diesbez¨ uglichen Gesetzen (Kraftgesetzen): das dritte Keplersche Gesetz, das Universalgesetz der Gravitation, das Boylesche Gesetz, usw. In jedem naturwissenschaftlichen Buch findet man zahlreiche Beispiele – und wo es ein Kraftgesetz gibt, dort gibt es auch einen Linearisierungslogarithmus, wie bereits Kepler erfahren haben mag. Die Intensit¨ at von Erdbeben wird auf der logarithmischen Richterskala gemessen, die fraktale Dimension wird mit Hilfe von Logarithmen definiert, der Abstand im Poincar´eschen Modell der hyperbolischen Geometrie ist logarithmisch und so setzt sich die Liste fort. Die beiden letzten Kapitel sind einer speziellen und signifikanten Anwendung der Logarithmen gewidmet: es geht um ein Maß f¨ ur die Anzahl der Primzahlen unterhalb einer positiven ganzen Zahl. Wir werden uns hier drei weitere Beispiele ansehen, die sich zwangsl¨ aufig bei der L¨osung gewisser Probleme ergeben. Diese Beispiele sind vielleicht nicht allzu repr¨asentativ, aber jedes ist auf seine Weise attraktiv und zu wichtigen Ideen weiterentwickelt worden.
14.1 Ein Maß fu ¨ r die Unsicherheit Im W¨ orterbuch findet man f¨ ur Entropie“ zum Beispiel die Definition Maß ” ” f¨ ur die Unordnung eines Systems“ – ein Begriff, der bekanntlich mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zusammenh¨angt. Aber im Jahr 1948 fand auch der geniale amerikanische Wissenschaftler Claude Shannon (1916–2001) Verwendung f¨ ur diesen Begriff. Shannon war der Vater des Informationszeit” alters“, auf dessen Theorien die Ideen der modernen digitalen Kommunikation beruhen. Als un¨ ubertroffener Exzentriker hatte er in seinem Haus f¨ unf Klaviere und 30 weitere Instrumente, Schachautomaten (darunter befand sich ein Automat, der die Figuren mit einem dreifingrigen Arm bewegte, Piepst¨one von
164
14 Die Welt ist logarithmisch
sich gab und ironische Kommentare machte), Plastikwurfscheiben mit Raketenantrieb, motorisierte Springst¨ ocke, eine Gedankenlesemaschine, eine mechanische Maus, die in einem Irrgarten navigieren konnte, und ein Ger¨at, das den Rubikschen W¨ urfel in seine Grundstellung zur¨ uckbringen konnte. Shannons Liebe zum Jonglieren brachte ihn auf die Erfindung einer Maschine mit weichen Knautschmaterial-H¨ anden, die mit Stahlkugeln jonglierte; er baute auch eine kleine B¨ uhne, auf der drei Clowns mit 11 Ringen, 7 B¨allen und 5 Keulen jonglierten – angetrieben von einem unsichtbaren Uhrenmechanismus und diversen Gest¨ angen. Seine Vorliebe f¨ ur das Einrad veranlaßte ihn, mit einem solchen auf den Korridoren der Bell Laboratories herumzufahren, wo er viele Jahre arbeitete. Einrad und Jonglieren, seine beiden Hobbys, brachten ihn auf die Konstruktion eines Einrads mit asymmetrischer Gangauslegung, so daß er leichter jonglieren konnte ... wenn er mit dem Einrad fuhr. 1/2 1/2
1/2 1/3 1/6
1/2
2/3
1/3
1/3
1/6
Abb. 14.1. Abbildung 6 aus Claude Shannons Buch
Als Angestellter der Bell Telephone Company war er nat¨ urlich an Problemen interessiert, die sich aus der Kommunikation in all ihren Formen ergaben. Dieses Interesse f¨ uhrte 1948 zu einer einflußreichen Arbeit, die er sp¨ater – zusammen mit dem Mathematiker Warren Weaver – in Buchform unter dem Titel The Mathematical Theory of Communication ([125]) ver¨offentlichte. Aleksandr Chintschin, dessen Arbeit zu den Kettenbr¨ uchen wir an sp¨aterer Stelle in diesem Kapitel streifen werden, griff diese Ideen auf, stellte sie auf exakte Grundlagen und verallgemeinerte sie in zwei wichtigen Arbeiten, die 1959 in Englisch als Buch mit dem Titel Mathematical Foundations of Information Theory ([79]) erschienen. Seit dieser Zeit hat sich die Thematik zu einem signifikanten Gebiet der modernen angewandten Mathematik entwickelt. Unser erstes Beispiel ist dem Buch von Shannon–Weaver entnommen: es geht um die Quantifizierung des Begriffes der St¨ orung in einem Kommunikationssystem, wobei der Begriff mit Hilfe von Wahrscheinlichkeiten formuliert wird. Wir werden uns jedoch hier nicht mehr ansehen, wie aus diesem Ansatz heraus eine Reihe von grundlegenden Ergebnissen u ¨ber moderne Kommunikationssysteme abgeleitet werden. F¨ ur ein vertiefendes Studium verweisen wir den Leser auf die beiden genannten B¨ ucher. Wie l¨aßt sich Unsicherheit messen
14.1 Ein Maß f¨ ur die Unsicherheit
165
und wie treten dabei Logarithmen auf nat¨ urliche Weise als Maß auf? Claude Shannon sagt es uns (vgl. Abbildung 14.1): 6 Auswahl, Unsicherheit und Entropie Wir haben eine diskrete Informationsquelle als einen Markowschen Prozeß dargestellt. K¨ onnen wir eine Gr¨ oße definieren, die in irgendeinem Sinne mißt, wieviel Information durch einen solchen Prozeß erzeugt“ wird oder besser gesagt, mit welcher Geschwindigkeit Infor” mation erzeugt wird? Angenommen, wir haben eine Menge von m¨ oglichen Ereignissen, deren Auftrittswahrscheinlichkeiten p1 , p2 , . . . , pn sind. Diese Wahrscheinlichkeiten sind bekannt, aber das ist auch schon alles, was wir u ¨ber die auftretenden Ereignisse wissen. K¨ onnen wir ein Maß daf¨ ur finden, welche M¨ oglichkeiten“ es im Zusammenhang mit der Auswahl ” des Ereignisses gibt oder wie unsicher wir in Bezug auf das Ergebnis sind? Falls es ein solches Maß gibt, etwa H(p1 , p2 , . . . , pn ), dann ist es vern¨ unftig, f¨ ur dieses Maß folgende Eigenschaften zu fordern: 1. H sollte in den pi stetig sein. 2. Sind alle pi gleich, das heißt pi = 1/n, dann sollte H eine monoton wachsende Funktion von n sein. Bei gleichwahrscheinlichen Ereignissen gibt es mehr Auswahlm¨ oglichkeiten oder Unsicherheit, wenn es mehr m¨ ogliche Ereignisse gibt. 3. Wird eine Auswahlm¨ oglichkeit in zwei aufeinanderfolgende Auswahlm¨ oglichkeiten zerlegt, dann sollte das urspr¨ ungliche H gleich der gewichteten Summe der individuellen Werte von H sein. Die Bedeutung dieser Aussage ist in Abbildung 6 illustriert.1 Links haben wir die drei M¨ oglichkeiten p1 = 21 , p2 = 13 und p3 = 16 . Rechts w¨ ahlen wir zuerst zwischen zwei M¨ oglichkeiten, von denen jede die Wahrscheinlichkeit 21 hat; und falls die zweite M¨oglichkeit eintritt, dann treffen wir eine weitere Wahl mit den Wahrscheinlichkeiten 1 2 3 und 3 . Das Endresultat hat die gleichen Wahrscheinlichkeiten wie zuvor. In diesem Spezialfall fordern wir H( 12 , 31 , 61 ) = H( 12 , 21 ) + 12 H( 32 , 31 ). Der Koeffizient 21 wird verwendet, weil diese zweite Auswahlm¨oglichkeit nur halb so oft auftritt. Satz 2. Das einzige H, welches die drei obengenannten Voraussetzungen erf¨ ullt, hat die Form: 1
Abbildung 6 aus Claude Shannons Buch ist hier in Abb. 14.1 wiedergegeben.
166
14 Die Welt ist logarithmisch
f ( p)
0
0.5
p
1.0
Abb. 14.2. Eine akzeptable Entropie-Kurve mit 2 Zust¨ anden
H = −K
n
pi log pi ,
i=1
wobei K eine positive Konstante ist.
Wir gehen hier nicht weiter auf die Bedeutung des ber¨ uhmten wissenschaftlichen Nachlasses von Andrei Markow (1856–1922) ein, der ein Sch¨ uler von Tschebyschew war. Von den obigen drei Bedingungen sind die ersten beiden intuitiv einsichtig, aber die dritte erfordert mehr Sorgfalt. Wir wollen nun ein Gef¨ uhl daf¨ ur entwickeln, was hier eigentlich vor sich geht. Hierzu nehmen wir zun¨ achst an, daß nur ein Ereignis m¨ oglich ist: in diesem Fall gibt es keine Unsicherheit und wir w¨ urden uns w¨ unschen, daß H(p1 ) = H(1) gleich 0 ist. Als n¨ achstes nehmen wir an, daß es zwei M¨ oglichkeiten gibt. In diesem Fall k¨onnen wir H(p1 , p2 ) = H(p, 1 − p) schreiben. Liegt p nahe bei 0 oder 1, dann besteht eine nur geringe Unsicherheit und wir sp¨ uren intuitiv, daß H in diesen F¨allen nahe bei 0 liegen sollte, wobei die maximale Unsicherheit bei p = 21 erreicht wird. Vern¨ unftigerweise w¨ urden wir dann f¨ ur die graphische Darstellung von f (p) = H(p, 1 − p) ein Aussehen erwarten, das dem Kurvenverlauf von Abb. 14.2 ¨ ahnelt. Die dritte Bedingung hat die u ¨bliche Bedeutung von Baumdiagrammen und wird am besten in zwei Stufen betrachtet. Sind alle n Auswahlm¨ oglichkeiten gleichwahrscheinlich, dann schreiben wir (wie es auch Shannon tat) 1 1 1 1 , , ,..., A(n) = H . n n n n ur gewisse positive ganze Zahlen s und Wir nehmen nun an, daß n = sm f¨ m gilt. Dann kann die Auswahl in zwei Stufen vorgenommen werden (vgl. Abb. 14.3). Das f¨ uhrt zu 1 A(sm ) = A(s) + A(sm−1 ) × s = A(s) + A(sm−1 ), s
14.1 Ein Maß f¨ ur die Unsicherheit
167
Abb. 14.3. Baumdiagramm f¨ ur gleichwahrscheinliche Auswahlm¨ oglichkeiten
wobei wir die Tatsache verwenden, daß wir die verbleibenden sm−1 Wahlm¨ oglichkeiten auf s gleichwahrscheinliche Weisen treffen k¨onnen, von denen jede die Wahrscheinlichkeit 1/s hat. Wiederholte Anwendung des Verfahrens liefert A(sm ) = mA(s)+A(1) und wegen A(1) = H(1) = 0 ergibt sich A(sm ) = mA(s) und wir sehen allm¨ ahlich, wie sich die Eigenschaften der Logarithmen abzeichnen. ¨ Wir folgen Shannon auch weiterhin bei seinen Uberlegungen, bei denen er zun¨ achst das vollkommen logarithmische Verhalten dieser gleichwahrscheinlichen Formen der Unsicherheit entwickelt und anschließend das Ergebnis in seiner allgemeinsten Form ableitet. Zu einer beliebig groß gew¨ ahlten positiven ganzen Zahl n w¨ahle man eine positive ganze Zahl m und positive ganze Zahlen s und t, so daß sm tn sm+1 . Das liefert (zu einer beliebigen Basis) log sm ≤ log tn ≤ log sm+1 ,
m log s ≤ n log t ≤ (m + 1) log s, m log s n log t (m + 1) log s ≤ ≤ , n log s n log s n log s m log t m 1 ≤ ≤ + , n log s n n log t m 1 0≤ − ≤ , log s n n was wir in der Form
log t 1 m − log s n n
schreiben. Shannon stellt anschließend eine ¨ ahnliche Ungleichung f¨ ur die Funktion A auf. Wir haben A(sm ) A(tn ) A(sm+1 ) und wegen A(sm ) = mA(s) und n A(t ) = nA(t) ergibt sich mA(s) ≤ nA(t) ≤ (m + 1)A(s), mA(s) nA(t) (m + 1)A(s) ≤ ≤ , nA(s) nA(s) nA(s) m A(t) m 1 ≤ ≤ + , n A(s) n n
168
14 Die Welt ist logarithmisch
und es folgt – wie oben – die Beziehung A(t) 1 m . − A(s) n n
Kombiniert man die entsprechenden Ungleichungen, dann ergibt sich A(t) 2 log t A(s) − log s n .
Da n beliebig groß gew¨ ahlt werden kann, erhalten wir A(t) log t = A(s) log s
und
A(t) A(s) = log t log s
f¨ ur alle diese s und t, und das bedeutet zwangsl¨aufig, daß A(t) = K1 log t mit einer gewissen Konstanten K1 gilt. ¨ Der Ubergang zum allgemeinen Ausdruck f¨ ur H geschieht folgendermaßen. Angenommen wir haben n verschiedene Auswahlm¨oglichkeiten cr , wobei jede dieser M¨ oglichkeiten nr -mal auftritt, 1 ≤ r ≤ n. Das bedeutet n=
n
nr
und pr =
r=1
nr . n
Wir k¨ onnen uns die verf¨ ugbaren Auswahlm¨ oglichkeiten auf zweierlei Weise vorstellen. Die M¨ oglichkeiten lassen sich so auflisten, wie in Abb. 14.4 dargestellt, und die Wahl kann getroffen werden, indem man sie als n gleichwahrscheinliche M¨ oglichkeiten betrachtet, die A(n) ergeben. Oder wir gruppieren die identischen M¨ oglichkeiten zusammen und schauen zun¨achst, welche Gruppe gew¨ ahlt wird, und anschließend, welches Element dieser Gruppe gew¨ahlt wird. Dieser Vorgang ist in Abb. ur die Auswahl ist n 14.5 dargestellt. Unser Maß f¨ nun H(p1 , p2 , . . . , pn ) + r=1 pr A(nr ), wobei sich der erste Teil auf die Unsicherheit bezieht, welche Box gew¨ ahlt wird, w¨ahrend sich der zweite Teil auf die Unsicherheit bezieht, mit der die gleichwahrscheinlichen Auswahlm¨oglichkeiten innerhalb einer Box getroffen werden.
c1
c1
c1 n1
c2
c2
c2 n2
Abb. 14.4.
cn
cn nn
cn
14.1 Ein Maß f¨ ur die Unsicherheit
. . . c1. . . . c2 .. . . . . . . . . . . . . . . n1
. .. . .
.
...
169
. . cn . . .
n2
nn
Abb. 14.5.
Gleichsetzen der beiden Formen liefert A(n) = H(p1 , p2 , . . . , pn ) +
n
pr A(nr ),
r=1
und das f¨ uhrt zu K1 log n = H(p1 , p2 , . . . , pn ) + K1
n
pr log nr .
r=1
Somit haben wir H(p1 , p2 , . . . , pn ) = K1 log n − K1 = K1 log n
n r=1
= K1 = K1
n
r=1 n
n
pr log nr
r=1
pr − K1
pr log n − K1 pr log
r=1
n
pr log nr
r=1 n
pr r=1 n
log nr
n = K1 pr log pr . nr r=1
Man beachte, daß K1 negativ gew¨ ahlt werden muß, da die Logarithmen alle negativ sind; außerdem w¨ achst H als Funktion von n. Schreiben wir also K = −K1 mit K > 0, dann ergibt sich H(p1 , p2 , . . . , pn ) = −K
n
pr log pr .
r=1
Die Wahl eines Wertes f¨ ur K ist beliebig, ebenso auch die Basis der Logarithmen und Shannon f¨ uhrt aus, daß sein Entropiebegiff ... als derjenige ” zu erkennen ist, der in gewissen Formulierungen der statistischen Mechanik definiert wird ...“. Wir f¨ uhren eine kleine Probe f¨ ur den Fall n = 2 durch, indem wir K = 1 setzen und die nat¨ urlichen Logarithmen w¨ ahlen. Dabei ergibt sich f (p) = H(p, 1 − p) = −p ln p − (1 − p) ln(1 − p) und das sieht so aus, wie die Kurve in Abb. 14.6 – so wie wir es gehofft hatten. Unsicherheit ist logarithmisch – und sehr wichtig.
170
14 Die Welt ist logarithmisch
0
0.5
1.0
Abb. 14.6. Darstellung von H im Fall von 2 Zust¨ anden
14.2 Das Benfordsche Gesetz Logarithmentafeln haben – seit ihrer Erfindung durch Napier – dazu beigetragen, unz¨ ahlige Probleme zu l¨ osen. Jedoch haben die Logarithmentafeln auch ein Problem aufgeworfen – ein besonders merkw¨ urdiges Ph¨anomen, das auf den ersten Blick kaum plausibel erscheint, aber die Tafeln sind auch der Schl¨ ussel zur L¨ osung dieses Problems. Nehmen wir an, daß ein Englisch sprechender Student Franz¨ osisch lernt und ein W¨ orterbuch hat, das aus zwei H¨alften besteht: die eine H¨ alfte besteht aus der Richtung Englisch/Franz¨osisch, die andere H¨ alfte aus der Richtung Franz¨ osisch/Englisch. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Teil Englisch/Franz¨ osisch h¨aufiger verwendet wird, als der andere Teil und wir w¨ urden erwarten, daß das W¨orterbuch im Laufe der Zeit ungleichm¨ aßige Verschleißerscheinungen aufweist. Diese Erwartung kommt nicht u ¨berraschend. Eine Logarithmentafel ist jedoch anders beschaffen als ein W¨ orterbuch der oben beschriebenen Art. Wird eine Logarithmentafel u angere Zeit f¨ ur die verschiedensten Berechnungen verwendet, dann ¨ber l¨ w¨ urden wir eine gleichm¨ aßig verteilte Abnutzung der Seiten erwarten, aber das ist nicht der Fall. Der amerikanische Mathematiker und Astronom Simon Newcomb (1835– 1909) wurde 13. Dezember 1877 zum ausl¨ andischen Mitglied der Royal Society gew¨ ahlt, genau am gleichen Tag, als Tschebyschew diese Ehre zuteil wurde. Wir hatten Tschebyschew bereits genannt und werden weitere seiner mathematischen Ergebnisse im Kapitel 15 behandeln. Auf Newcombs ungew¨ohnliche Beobachtung wollen wir aber bereits an dieser Stelle eingehen. Er stellte fest, daß bei den Logarithmentafeln, die er sich mit anderen Wissenschaftlern teilte, die am Anfang befindlichen Seiten st¨ arker abgenutzt waren, als die Schlußseiten. Da die Zahlen in den Logarithmentafeln in aufsteigender numerischer Reihenfolge angeordnet sind, lag der Gedanke nahe, daß bei den Berechnungen sehr viel mehr Zahlen mit kleinen ersten Ziffern verwendet wurden, als Zahlen mit großen ersten Ziffern. Das war aber nicht so, denn man arbeitete
14.2 Das Benfordsche Gesetz
171
Tabelle 14.1. Verteilung der ersten Ziffern Intuitive Wahr- Empirische Wahrd scheinlichkeit scheinlichkeit 1 0,111. . . 0,301 03 2 0,111. . . 0,176 09 3 0,111. . . 0,124 94 4 0,111. . . 0,096 91 5 0,111. . . 0,079 18 6 0,111. . . 0,066 95 7 0,111. . . 0,057 99 8 0,111. . . 0,051 15 9 0,111. . . 0,045 78
Abb. 14.7.
mit allen Arten von Zahlen s¨ amtlicher Gr¨ oßenordnungen. Warum also waren die Seiten der Logarithmentafeln nicht gleichm¨aßig zerfleddert? Newcombs Untersuchungen f¨ uhrte ihn zu dem empirischen Gesetz, daß der Anteil der Dezimalzahlen, die mit der Ziffer d beginnen, keinesfalls der intuitiv naheliegende Bruch 91 ist, sondern vielmehr die bemerkenswerte Zahl log10 (1 + 1/d). Er diskutierte das Ph¨ anomen 1881 in einem kurzen Artikel im American Journal of Mathematics, gab aber keine mathematische Begr¨ undung daf¨ ur an, so daß die ganze Sache nicht mehr als eine Kuriosit¨at war, die alsbald wieder von der mathematischen Bildfl¨ ache verschwand – bis zum Jahr 1938, als der Physiker Frank Benford (1883–1948), der bei der General Electric Company arbeitete, genau dieselbe Feststellung machte. Die ersten Ziffern weisen demnach keine gleichm¨aßige Verteilung mit dem alt es sich so: Bezeichnet d die erste Ziffer einer Wert 19 auf. Vielmehr verh¨ Dezimalzahl, dann tritt d mit der Wahrscheinlichkeit log10 (1 + 1/d) auf. Eine Zusammenfassung findet man in Tabelle 14.1 und in Abbildung 14.7, in der
172
14 Die Welt ist logarithmisch
die intuitiven Wahrscheinlichkeiten der ersten Ziffern mit deren empirischen Wahrscheinlichkeiten verglichen werden. Sind die empirischen Wahrscheinlichkeiten das richtige Maß f¨ ur die Auftrittsh¨ aufigkeit von Zahlen, die in ihrer nat¨ urlichen Reihenfolge auftreten, dann ist es wohl kaum ein Wunder, wenn irgendwer irgendwann einmal feststellt, daß im vorderen Teil von Logarithmentafeln ungef¨ahr sechsmal mehr Fettfinger“ gesichtet werden, als im hinteren Teil. ” Um der Hypothese Gewicht zu verleihen, stellte er eine Tabelle von 20 229 Zahlen auf, einschließlich Zahlen aus ganz unterschiedlichen Kategorien, wie zum Beispiel Fl¨ usse, Sterblichkeitsraten, Baseballstatistiken, Zahlen in Zeitschriftenartikeln und Straßenadressen der ersten 342 Personen, die im Buch American Men of Science aufgelistet sind. Das in Tabelle 14.2 reproduzierte Ergebnis2 entspricht im Wesentlichen der Hypothese, daß diese scheinbar unzusammenh¨ angenden Zahlenmengen dem gleichen Gesetz der ersten Ziffer“ ” folgen, wie die abgegriffenen Seiten der Logarithmentafeln. Die Behauptung, daß die Verteilung der ersten Ziffern durch den Wert log10 (1 + 1/d) wiedergegeben wird, ist in der Folgezeit unter dem Namen Benfordsches Gesetz“ bekannt geworden. Aber wo ist die Mathematik, auf ” die sich dieses Gesetz st¨ utzt? Die kontraintuitive Natur des Gesetzes ist an einem Ph¨ anomen zu erkennen, dem man an anderer Stelle in der Wahrscheinlichkeitstheorie begegnet. Dieses Ph¨ anomen ist vielleicht am ehesten unter der Bezeichnung Geburtstagsparadoxon“ bekannt: es zeigt uns, daß nur 23 Men” schen gebraucht werden, um eine mehr als f¨ unfzigprozentige Chance zu haben, daß zwei von ihnen am gleichen Tag Geburtstag feiern. Theodore Hill vom Georgia Institute of Technology nimmt Bezug auf ein anderes Paradoxon, wenn er seine Studenten w¨ ahlen l¨ aßt, ob sie eine ideale M¨ unze 200-mal werfen oder die Ergebnisse lieber f¨ alschen. F¨ ur die F¨ alscher ist es nat¨ urlich, die Folgen von Wappen und Zahl“ so oft wie m¨ oglich miteinander zu vermischen, aber ” – so Hill – die Chancen sind u altigend, daß man in einer Serie von 200 ¨berw¨ ” W¨ urfen an irgendeiner Stelle sechs oder mehr aufeinanderfolgende Wappen oder Zahlen antrifft“. Gewiß gibt es viele Zahlenmengen, die nicht dem Benfordschen Gesetz folgen: hier sind die Zufallszahlen zu nennen und am entgegengesetzten Ende“ ” des Spektrums die Zahlen, die irgendeiner anderen statistischen Verteilung unterliegen, zum Beispiel einer Gleichverteilung oder einer Normalverteilung. Es hat den Anschein, daß die Daten gerade das richtige Maß an Struktur ben¨ otigen, um dem Benfordschen Gesetz zu gen¨ ugen. Die letzte Zeile der Datenmittelwerte in der Benfordschen Tabelle, die so exzellent mit dem Gesetz u ¨bereinstimmt, offenbart etwas von dem Geheimnis, und Hill erkannte das. Er bewies 1996 folgende Aussage: W¨ ahlt man Verteilungen zuf¨allig aus und entnimmt man jeder dieser Verteilungen Zufallsstichproben, dann w¨ urden die Erstziffernh¨ aufigkeiten“ der kombinierten Probe gegen das Benfordsche Ge” 2
Die Herkunft einiger Eintr¨ age in dieser Tabelle ist unklar und es geht beispielsweise nicht daraus hervor, was mit Design“ gemeint ist. ”
Tabelle 14.2. Benfords Daten Bezeichnung
3
4
31.0 33.9 41.3 30.0 24.0 29.6 30.0 26.7 27.1 47.2 25.7 26.8 33.4 32.4 27.9 32.7 31.0 28.9 25.3 27.0 30.6 (+ve/−ve)
16.4 20.4 14.4 18.0 18.4 18.3 18.4 25.2 23.9 18.7 20.3 14.8 18.5 18.8 17.5 17.6 17.3 19.2 16.0 18.6 18.5 0.8
10.7 14.2 4.8 12.0 16.2 12.8 11.9 15.4 13.8 5.5 9.7 14.3 12.4 10.1 14.4 12.6 14.1 12.6 12.0 15.7 12.4 0.4
11.3 8.1 8.6 10.0 14.6 9.8 10.8 10.8 12.6 4.4 6.8 7.5 7.5 10.1 9.0 9.8 8.7 8.8 10.0 9.4 9.4 0.4
Erste Ziffer 5 7.2 7.2 10.6 8.0 10.6 8.3 8.1 6.7 8.2 6.6 6.6 8.3 7.1 9.8 8.1 7.4 6.6 8.5 8.5 6.7 8.0 0.3
6
7
8
9
Stichproben
8.6 6.2 5.8 6.0 4.1 6.4 7.0 5.1 5.0 4.4 6.8 8.4 6.5 5.5 7.4 6.4 7.0 6.4 8.8 6.5 6.4 0.2
5.5 4.1 1.0 6.0 3.2 5.7 5.1 4.1 5.0 3.3 7.2 7.0 5.5 4.7 5.1 4.9 5.2 5.6 6.8 7.2 5.1 0.2
4.2 3.7 2.9 5.0 4.8 4.4 5.1 2.8 2.5 4.4 8.0 7.3 4.9 5.5 5.8 5.6 4.7 5.0 7.1 4.8 4.9 0.2
5.1 2.2 10.6 5.0 4.1 4.7 3.6 3.2 1.9 5.5 8.9 5.6 4.2 3.1 4.8 3.0 5.4 5.0 5.5 4.1 4.7 0.2
335 3259 104 100 1389 703 690 1800 159 91 5000 560 308 741 707 1458 1165 342 900 418 1011 0.3
173
2
14.2 Das Benfordsche Gesetz
Fl¨ usse Bev¨ olkerung Physikalische Konstanten Zahlen aus Zeitungsartikeln Spezifische W¨ armekapazit¨ at Druck Hochdruckverlust Molekulargewicht Drainage Atomgewicht n−1 , n1/2 Design Angaben aus Readers digest“ ” Kostendaten R¨ ontgenstrahlen, Volt American League Schwarze Strahlung Adressen Mathematische Konstanten Sterblichkeitsziffern Durchschnitt Wahrscheinlicher Fehler
1
174
14 Die Welt ist logarithmisch
setz konvergieren“, obwohl die ausgew¨ ahlten individuellen Verteilungen sich ” nicht so verhalten m¨ ussen. Hill bezeichnet das als Zufallsstichproben von ” zuf¨ alligen Verteilungen“. In einem gewissen Sinne ist das Benfordsche Gesetz die Verteilung von Verteilungen! Es gibt andere M¨ oglichkeiten, dieses Ph¨ anomen anzupacken. Soll ein derartiges Gesetz universell sein, dann muß es sich zum Beispiel auf das Zahlensystem (zur Basis 5) der nordamerikanischen Arawaks, das Zahlensystem (zur Basis 20) der Tamanas vom Orinoco und das Sexagesimalsystem (Basis 60) der Babylonier, aber auch auf das exotische baskische System anwenden lassen, das die Basis 10 bis zur Zahl 19 und die Basis 20 f¨ ur die Zahlen 20 bis 99 verwendet und anschließend zur Basis 10 zur¨ uckkehrt. Das Gesetz muß basisunabh¨ angig sein. Und so ist es tats¨ achlich, denn man hat bewiesen, daß die Basisunabh¨ angigkeit der Daten das Benfordsche Gesetz impliziert. Auch die Maßeinheiten sollten keine Rolle spielen. Als Beispiel geben wir das im Verschwinden begriffene britische Maßsystem f¨ ur L¨angen und Gewichte: 12 3 5 12 4 10 8
inches feet yards poles chains furlongs
= = = = = =
1 1 1 1 1 1
foot, 16 ounces yard, 14 pounds pole (oder rod, oder perch) 2 stones chain, 4 quarters furlong, 20 hundredweights mile.
= = = = =
1 1 1 1 1
pound, stone, quarter, hundredweight, ton,
¨ Im Ubrigen handelt es sich hierbei um nichts anderes als um Beispiele f¨ ur ein Maßsystem mit einer endlichen gemischten Basis (vgl. S. 116). Nehmen wir etwa an, im Britischen Maßsystem sei eine L¨ ange durch 7 miles, 5 furlongs, 3 ” chains, 1 pole, 2 yards, 1 foot und 11 inches“ gegeben. In britischen Landmeilen ausgedr¨ uckt handelt es sich hierbei um 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 +3× × +1× × × +2× × × × 1 8 8 10 8 10 4 8 10 4 5 2 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 × × × × × + 11 × × × × +1 × × 8 10 4 5 12 3 8 10 4 5 12 3 12 1 1 1 1 1 1 = 7+ 5+ 3+ 1+ 1 2+ 1+ 11 8 10 4 3 12 52
7+5 ×
= [7; 5, 3, 1, 2, 1, 11] = 7, 6672
britische Landmeilen.
In Eulers Manuskript Meditatio in experimenta explosione tormentorum ” nuper instituta“ geht es um sieben im Jahr 1727 durchgef¨ uhrte Versuchsreihen, die f¨ ur immer den Buchstaben e f¨ ur die Basis der nat¨ urlichen Logarithmen besetzt haben. Euler maß in seiner Arbeit den Durchmesser von Kano-
14.2 Das Benfordsche Gesetz
175
nenkugeln in Rheinischen F¨ ußen“ 3 . Ganz gewiß h¨angt es nicht vom Maßsys” tem ab, ob die Kanonenkugeln dem Benfordschen Gesetz gen¨ ugen oder nicht. Es ist also egal, ob ihre Durchmesser im englischen Maßsystem, von Euler, in unserem modernen metrischen System oder in einem beliebigen anderen ¨ Maßsystem gemessen werden. Dieselbe Uberlegung kann auch f¨ ur die Massen der Kanonenkugeln angestellt werden. Roger Pinkham, Mathematiker an der Rutgers University in New Brunswick (im US-Staat New Jersey), bewies 1961, daß Skaleninvarianz das Benfordsche Gesetz impliziert. Wir werden uns auf diese Tatsache konzentrieren und zeigen, wie man dieses Ergebnis beweisen kann. Ein Wechsel der Einheiten erfolgt durch Multiplikation mit einer Skalierungszahl, und bevor wir uns in die Mathematik vertiefen, verschaffen wir uns ein Gef¨ uhl f¨ ur den Sachverhalt, indem wir einen Spezialfall betrachten. Wir betrachten eine hypothetische Menge von 100 Kanonenkugeln“ mit den ” (in Rheinischen F¨ ußen gemessenen) Durchmessern von 1 bis 100, ordnen die Kugeln absteigend nach ihrer Gr¨ oße und stellen die Wertefolge in Abh¨angigkeit vom Durchmesser so dar, wie in Abbildung 14.8(a). Danach ¨andern wir die Einheiten dadurch, daß wir jeden Durchmesser mit einer Zufallszahl multiplizieren (die in diesem Fall zwischen 0 und 1 liegt); anschließend tun wir dasselbe ein weiteres Mal und noch einmal, so daß wir nach Umordnen die graphischen Darstellungen von Abbildung 14.8(b)–(d) erhalten. 100 80 60 40 20 0
(a)
60 40 20 20
40
60
80
80
100 (c)
0
60
30
40
20
20
10
0
(b)
80
20
40
60
80
100
0
20
40
60
80
100 (d)
20
40
60
80
100
Abb. 14.8. Die Wirkung des Skalierens
3
Der Rheinische Fuß“ (31,385 cm) wurde im 18. und im 19. Jahrhundert ver” wendet. Der englische Fuß ist etwas k¨ urzer (1 foot = 30,48 cm). (Vgl. W. Trapp (1998) ([142]), Kleines Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und Zeitrechnung, Philipp Reclam, Stuttgart.)
176
14 Die Welt ist logarithmisch
Dieselben Formen ergeben sich nach beliebigen Skalierungen und die Konkavit¨ at der entstehenden Kurven f¨ uhrt zwangsl¨aufig dazu, daß gr¨oßere Zahlen immer seltener werden. Das Auge best¨ arkt den Gedanken, daß sich die graphischen Darstellungen einer Grenzkurve n¨ ahern. Welcher Kurve? Abb. 14.9 ist eine skalierte graphische Darstellung von log10 (1 + 1/Durchmesser) – was uns nachdenklich macht. 70 60 50 40 30 20 10 0
20
40
60
80
100
Abb. 14.9. Das logarithmische Ideal
Insbesondere wollen wir die ersten gleichverteilten Ziffern betrachten und nehmen dann an, daß wir die Einheiten durch Multiplikation mit 2 ¨andern. Die ersten Ziffern der Daten nach der Neuskalierung sind in Tabelle 14.3 gegeben, die zum Balkendiagramm von Abbildung 14.10 f¨ uhrt. Gleichwahrscheinliche Ziffern sind nicht skaleninvariant. Tabelle 14.3. Auswirkung der Multiplikation mit 2 Intervall Erste signifikante Ziffer nach ×2
Intervall Erste signifikante Ziffer nach ×2
[1, 1.5) [1.5, 2) [2, 2.5) [2.5, 3) [3, 3.5) 2 3 4 5 6 [3.5, 4) [4, 4.5) [4.5, 5) [5, 10) 7 8 9 1
Nun noch ein wenig Mathematik: wir geben eine statistische Definition der Skaleninvarianz und verwenden sie zum Beweis dessen, daß Skaleninvarianz tats¨ achlich das Benfordsche Gesetz impliziert. Wir brauchen die Begriffe der Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion (WVF) ϕ(x) und der kumulativen Verteilungsfunktion Φ(x) einer stetigen Zufallsvariablen.4 Es handelt sich hier um die u ¨blichen Definitionen 4
In diesem Abschnitt bezeichnet ϕ(x) nicht die Eulersche ϕ-Funktion.
14.2 Das Benfordsche Gesetz
177
Abb. 14.10. Erwartete H¨ aufigkeit und tats¨ achliche H¨ aufigkeit (Verteilung der ersten Ziffern)
P (a ≤ X ≤ b) =
b
ϕ(x) dx
a
x mit Φ(x) = P (X ≤ x) = ϕ(t) dt und deswegen haben wir dΦ(x)/dx = ϕ(x). Wir bezeichnen eine Zufallsvariable X als skaleninvariant, falls die Wahrscheinlichkeiten daf¨ ur, daß sie vor und nach dem Skalieren (d.h. Multiplizieren) mit irgendeinem Faktor (zum Beispiel 1/a) in irgendeinem Intervall liegt, gleich groß sind – wobei wir uns nicht um die Details irgendeines Definitionsbereiches k¨ ummern. Halten wir eine untere Grenze fest und variieren wir die obere Grenze, dann k¨ onnten wir das in der Form 1 P (α < X < x) = P α < X < x = P (aα < X < ax) a schreiben, und das bedeutet: Φ(ax) − Φ(aα) = Φ(x) − Φ(α)
oder Φ(ax) = Φ(x) + Ka
f¨ ur alle a.
Differenzieren wir beide Seiten der obigen Identit¨at nach x, dann ergibt sich aϕ(ax) = ϕ(x) und somit ϕ(ax) = (1/a)ϕ(x). Es bezeichne nun Y die Zufallsvariable Y = logb X, wobei ψ(y) und Ψ (y) analog definiert sind. Dann haben wir Ψ (y) = P (Y ≤ y) = P (logb X ≤ y) = P (X ≤ by ) = Φ(by ) = Φ(x). Das bedeutet d Ψ (y) = dy d = Φ(x) × dx
ψ(y) =
und
d Φ(x) dy dx dy
178
14 Die Welt ist logarithmisch
ψ(y) = ϕ(x) ×
dx = xϕ(x) ln b, dy
und somit folgt ψ(logb x) = ϕ(x) ×
dx = xϕ(x) ln b, dy
was seinerseits ψ(logb ax) = axϕ(ax) ln b bedeutet. Unter Verwendung der Skaleninvarianz erhalten wir nun ψ(logb ax) = axϕ(ax) ln b 1 = ax ϕ(x) ln b a = xϕ(x) ln b = ψ(logb x). Deswegen folgen ψ(logb x + logb a) = ψ(logb x) und ψ(y + logb a) = ψ(y). Der Wert f¨ ur a kann beliebig gew¨ ahlt werden, und daher wiederholt sich ψ(y) u ¨ber beliebigen Intervallen, das heißt es muß konstant sein. Der Logarithmus einer skaleninvarianten Variablen hat eine konstante Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion. Wir k¨ onnen dies nun zum Ph¨ anomen der ersten Ziffer in Beziehung setzen, indem wir die Zahlen in der Schreibweise x × 10n ausdr¨ ucken, wobei 1 ≤ x < 10. Die erste Ziffer d der Zahl ist dann einfach die erste Ziffer von x. Skalieren wir die Zahl, dann skalieren wir x, indem wir den Wert modulo 10 anpassen. Auf diese Weise k¨ onnen wir immer 1 ≤ x < 10 setzen – unabh¨angig davon, ob wir skaliert haben oder nicht. Nehmen wir nun 10 als Basis der Logarithmen, dann hat y = log10 x eine auf [0, 1] definierte konstante Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion. Deswegen ergibt sich unter Voraussetzung der Skaleninvarianz und f¨ ur n ∈ {1, . . . , 9} die Gleichheit P (d = n) = P (n ≤ x < n + 1)
= P (log10 n ≤ log10 x < log10 (n + 1)) = P (log10 n ≤ y < log10 (n + 1))
= (log10 (n + 1) − log10 n) × 1 n+1 1 = log10 = log10 1 + , n n
die nichts anderes ist, als das Benfordsche Gesetz. Wir k¨ onnen die Analyse ausdehnen und uns die H¨aufigkeit der nachfolgenden Ziffern in den Daten ansehen. Schreiben wir zum Beispiel die Zahl in der
14.2 Das Benfordsche Gesetz
179
Form x1 x2 × 10n mit 10 x1 x2 99 und definieren wir die Zufallsvariable X dementsprechend, dann ergibt sich P (Die erste Ziffer ist x1 und die zweite Ziffer ist x2 ) = P (x1 x2 X < x1 x2 + 1) 1 = log10 1 + . x1 x2 Eine Verallgemeinerung der Argumentationsweise liefert P (Die zweite Ziffer ist x2 ) =
9 r=1
log10 1 +
1 , xr x2
usw. Tabelle 14.4 enth¨ alt die vollst¨ andige Menge der Wahrscheinlichkeiten f¨ ur das Auftreten der zweiten Ziffern, wobei 0 jetzt ein m¨oglicher Wert ist. Tabelle 14.4. Wahrscheinlichkeiten der zweiten Ziffern d 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Theoretische Wahrscheinlichkeit 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1 0,1
Tats¨ achliche Wahrscheinlichkeit 0,119 68 0,113 89 0,108 82 0,104 33 0,100 31 0,096 67 0,093 37 0,090 35 0,087 57 0,084 99
Unter Verwendung der Standardbeziehung P (A | B) = P (A und B)/P (B) der bedingten Wahrscheinlichkeit erhalten wir P (Zweite Ziffer ist x2 | Erste Ziffer ist x1 ) . 1 1 = log10 1 + log10 1 + . x1 x2 x1 Nehmen wir beispielsweise an, daß die erste Ziffer einer Zahl eine 6 ist. Unter dieser Voraussetzung ergibt sich der folgenden Wert als Wahrscheinlichkeit daf¨ ur, daß die zweite Ziffer der Zahl eine 5 ist:
180
14 Die Welt ist logarithmisch 1 ) log10 (1 + 65 = 0, 0990. 1 log10 (1 + 6 )
H¨ atten wir dagegen mit 9 angefangen, dann w¨are die Wahrscheinlichkeit 1 log10 (1 + 95 ) = 0, 0994. 1 log10 (1 + 9 )
Als der wahrscheinlichste Start f¨ ur eine Zahl stellt sich die 10 heraus und deren Wahrscheinlichkeit ist 1 log10 (1 + 10 ) = 0, 1375. 1 log10 (1 + 1 )
Die 0 ist jetzt, nachdem sie in Erscheinung trat, die zweith¨aufigste Ziffer, aber die Wahrscheinlichkeiten beginnen, sich zu nivellieren und n¨ahern sich 1 . Bewegen wir uns entlang der Ziffern der dem intuitiv einsichtigen Wert 10 betreffenden Zahl, dann n¨ ahert sich die Verteilung einer Gleichverteilung, so daß die Intuition schließlich zu ihrem Recht kommt. Wir hatten gesehen, daß alle Arten unterschiedlicher Daten dem Gesetz gen¨ ugen. Tabelle 14.5 legt die Vermutung nahe, daß es auch bei den FibonacciZahlen so ist. Tabelle 14.5. Die ersten Ziffern der ersten 1000 Fibonacci-Zahlen Ziffer H¨ aufigkeit Prozentsatz
1 301 30
2 177 18
3 125 13
4 96 10
5 80 8
6 67 7
7 56 6
8 53 5
9 45 5
Eine Studie von B. Buck and A. C. Merchant von der Universit¨at Oxford und S. M. Perez von der Universit¨ at Kapstadt zeigt, daß die AlphazerfallHalbwertszeiten (das heißt die Zeit, die Atomkerne ben¨otigen, um die H¨alfte ihrer Radioaktivit¨ at durch die Emission von Alphateilchen zu verlieren) das Benfordsche Gesetz sowohl empirisch als auch theoretisch erf¨ ullen. Die Autoren stellten auch fest, daß dasselbe Verhalten f¨ ur die monatlichen Stromrechnungen auf den Salomoninseln, f¨ ur die Straßenadressen bedeutender amerikanischer Wissenschaftler und f¨ ur die Anfangsziffern von 20 der wichtigeren physikalischen Konstanten zutrifft. Von einem viel praktischeren Interesse ist, daß wohl auch finanzielle Angaben dem Gesetz gen¨ ugen; tats¨achlich kann das Benfordsche Gesetz dazu verwendet werden, Einkommensteuererkl¨arungen und andere Berichte u ogenslage auf betr¨ ugerische Angaben zu te¨ber die Verm¨ sten. Mark Nigrini hat sich auf die Art von forensischer Wirtschaftspr¨ ufung“ ” spezialisiert, die als digitale Analyse bezeichnet wird. Er hat hierzu Folgendes geschrieben:
14.3 Kettenbruchverhalten
181
Das Benfordsche Gesetz liefert den Buchpr¨ ufern die erwarteten Zif¨ fernh¨ aufigkeiten in Datentabellen. Durch Uberpr¨ ufen der Ziffern und der Ziffernh¨ aufigkeiten k¨ onnen die Buchpr¨ ufer einen Einblick in die Daten gewinnen, den die traditionellen analytischen Verfahren und Stichprobenmethoden m¨ oglicherweise außer Acht lassen. Die Ziffernund Zahlenmuster k¨ onnten auf erfundene Zahlen, systematischen Betrug, Datenfehler oder auf systematische Datenfehler hinweisen. Gegenw¨ artig arbeit man mit Hilfe von fortgeschrittenen Pr¨ ufverfahren daran, Normabweichungen in Daten-Teilmengen zu entdecken. Als Beispiel betrachten wir einen Fall, bei dem Nigrini einbezogen war. Mit Hilfe der digitalen Analyse entdeckte der Wirtschaftspr¨ ufer einer Gesellschaft etwas Merkw¨ urdiges in den Forderungen der Leiterin der Krankenkassenabteilung. Daraufhin wurden die ersten beiden Ziffern der Krankenkassenzah¨ lungen auf ihre Ubereinstimmung mit dem Benfordschen Gesetz gepr¨ uft und die Pr¨ ufung ließ eine Spitze bei den Zahlen erkennen, die mit den Ziffern 65 beginnen. Eine Revision f¨ uhrte auf 13 betr¨ ugerische Schecks zwischen 6500 und 6599 Dollar – es handelte sich um gef¨ alschte Forderungen f¨ ur herzchirurgische Eingriffe und die Schecks landeten in den H¨anden der betreffenden Leiterin. Die Analyse deckte auch andere betr¨ ugerische Forderungen auf, die sich auf einen Gesamtbetrag von ungef¨ ahr einer Million Dollar beliefen. Diese neuartige und wichtige Buchf¨ uhrungstechnik hat nat¨ urlich auch zu Websites gef¨ uhrt, die der Erzeugung von Benford-kompatiblen Daten gewidmet sind – nat¨ urlich nicht zu unmoralischen oder illegalen Zwecken!
14.3 Kettenbruchverhalten Ein Blick zur¨ uck auf die Kettenbr¨ uche im Kapitel 11 k¨onnte den Leser auf die Idee bringen, daß die 1 h¨ aufig in der Kettenbruchform einer Zahl auftritt, und daß die Teilbr¨ uche u ¨berwiegend klein sind, obwohl das keinesfalls ausschließlich so ist, denn der 431ste Teilbruch von π ist 20 776, der 5040ste von γ ist 11 626 und schon der 5te Teilbruch von π 4 ist 16 539. Auch Gauß hatte das bereits festgestellt und ging sogar noch viel weiter, als er Laplace am 30. Januar 1812 von einem merkw¨ urdigen Problem“ schrieb, das ihn 12 Jahre ” lang besch¨ aftigte, ohne daß er dazu imstande war, es zu seiner Zufriedenheit ¨ zu l¨ osen. Wir geleiten den Leser durch die Uberlegungen, die Gauß vermutlich angestellt hat – und die zu einem der bemerkenswertesten Ergebnisse f¨ uhrten, die man sich u berhaupt vorstellen kann. ¨ Es sei X eine auf R+ definierte Zufallsvariable und es bezeichne {X} den gebrochenen Teil von X. Ist der gebrochene Teil von X gleichverteilt, dann ist P ({X} < x) = x, 0 x < 1. Andernfalls ¨ andert sich diese Wahrscheinlichkeit entsprechend dem Wert von {X} und wir m¨ ußten die reelle Gerade so wie in Abb. 14.11 aufteilen, um
182
14 Die Welt ist logarithmisch
P ({X} < x) =
∞
(P (X < k + x) − P (X < k))
k=1
zu erhalten. Alles sch¨ on und gut, aber nun wenden wir diese Idee auf Kettenbr¨ uche an. Man definiere ξn durch ξn = an +
1 1 . = an + 1 ξn+1 an+1 + an+2 +···
In diesem Fall ist 1/ξn+1 der gebrochene Teil von ξn . Es sei nun ωn (x) = P ({ξn } < x) ∞ (P (ξn < k + x) − P (ξn < k)) = k=1 ∞
1 1 1 1 > > −P ξn k+x ξn k k=1 ∞ 1 1 1 1 1−P = < < − 1−P ξn k+x ξn k k=1 ∞ 1 1 1 1 < < P = −P ξn k ξn k+x k=1 ∞ 1 1 P {ξn−1 } < = − P {ξn−1 } < k k+x k=1 ∞ 1 1 ωn−1 = − ωn−1 , k k+x =
P
k=1
womit wir eine rekursive Relation f¨ ur ωn (x) gefunden haben. Die Frage ist, ob wir eine explizite Formel finden k¨ onnen. Eine intuitive Vorw¨artsargumentation ¨ ist folgende Uberlegung: Die Relation gilt f¨ ur alle n und falls der Grenzwert ω(x) f¨ ur n → ∞ existiert, dann k¨ onnen wir vern¨ unftigerweise hoffen, daß er die Beziehung ∞ 1 1 ω −ω ω(x) = k k+x k=1
erf¨ ullt. Wir erinnern uns nun daran, daß ω(x) der Grenzwert der Wahrscheinlichkeit daf¨ ur ist, daß ein Bruch kleiner als x ist. Deswegen sollte ω(0) = 0 und ω(1) = 1 sein und das ist die Stelle, bei der es gew¨ohnliche Sterbliche belassen w¨ urden. Gauß erw¨ ahnte in seinem Brief an Laplace, daß er mit Hilfe eines sehr ein” fachen Arguments beweisen k¨ onne“, daß ω(x) = log2 (1+x) gilt. Das bringt uns zu dem versprochenen u urlich ¨berraschenden Auftreten der Logarithmen. Nat¨
14.3 Kettenbruchverhalten
183
x 1
2
k
k+1
Abb. 14.11.
gen¨ ugt dieser Ausdruck den beiden obigen Bedingungen und wir werden zeigen – so wie es zweifellos auch Gauß getan hat –, daß der Ausdruck auch die rekursive Relation erf¨ ullt. Man kann sich jedoch nur schwer den geheimnisvollen Gedankenprozeß vorstellen, der Gauß auf die L¨osung gebracht hatte. Ist also ω(x) = log2 (1 + x), dann haben wir N
k=1
log2
k+1 k+x × k k+x+1
N k+1 k+x × = log2 k k+x+1 k=1 2 1+x 2+ x 3+ x 3 4 × × × = log2 ... 1 2 3 2 + x 3+ x 4+ x N + x N +1 × ... N N +x+1 (1 + x)(N + 1) −−−−→ log2 (1 + x). = log2 N →∞ N +x+1
Gauß hatte es nicht vermocht, diese Ideen zu der Aussage P ([0; a1 , a2 , a3 , . . . , an ] < x) = ωn (x) = log2 (1 + x) + εn zusammenzuschweißen und somit in rigoroser Weise das niederzuschreiben, was man als seine zweite statistische Verteilung“ ansehen k¨onnte (obwohl ” die erste und allgegenw¨ artige Gaußsche Verteilung“ oder Normalverteilung“ ” ” oder Fehlerverteilung“, die Gauß 1809 zur Analyse astronomischer Daten ” benutzt hatte, bereits 1783 von Laplace bei der Untersuchung von Meßfehlern verwendet worden war und auf die Arbeiten von de Moivre zur¨ uckging, der diese Verteilung 1733 als Approximation der Binomialverteilung gefunden hatte). Das Problem ist schließlich unabh¨ angig von zwei Mathematikern gel¨ost uche εn = worden. R. O. Kuzmin zeigte 1928, daß f¨ ur fast alle5 Kettenbr¨ √ n O(q ) mit 0 < q < 1 gilt und 1929 bewies Paul L´evy (1886–1971) auf vollst¨ andig andere Weise, daß εn = O(q n ) mit q = 0, 7 gilt und daß die Fehlerglieder nicht nur relativ klein, sondern asymptotisch gleich Null sind. Aus diesem unglaublichen Ergebnis k¨ onnen wir ein weiteres ableiten, n¨ amlich die Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion der Teilbr¨ uche 5
Der Begriff fast alle“ wird zur Spezifizierung einer Teilmenge verwendet, deren ” Komplement das Maß 0 hat.
184
14 Die Welt ist logarithmisch
P (an = k)
=
P (k < ξn < k + 1) = P (ξn < k + 1) − P (ξn < k) 1 1 = ωn−1 − ωn−1 k k+1 1 1 −−−−→ log2 1 + − log2 1 + n→∞ k k+1 2 (k + 1) k(k + 2) + 1 = log2 = log2 k(k + 2) k(k + 2) 1 = log2 1 + , k(k + 2)
was zu Tabelle 14.6 f¨ uhrt. Wir k¨ onnen nachpr¨ ufen, daß es sich tats¨achlich um eine Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion handelt: N 1 log2 1 + k(k + 2) k=1 N (k + 1)2 log2 = k(k + 2) k=1
=
N
k=1
=
N
k=1
{2 log2 (k + 1) − log2 k − log2 (k + 2)} {log2 (k + 1) − log2 k} +
N
k=1
{log2 (k + 1) − log2 (k + 2)}
= log2 (N + 1) + log2 2 − log2 (N + 2) N +1 = log2 2 + log2 2 −−−−→ log2 2 = 1, N + 2 N →∞ wobei sich die Glieder der beiden Reihen aufheben. Tabelle 14.6. Verteilung der Teilbr¨ uche f¨ ur fast alle Kettenbr¨ uche Wahrscheinlichkeiten in % f¨ ur Teilbr¨ uche und f¨ ur große n k P (an = k)
1 41
2 17
3 9
4 6
5 4
6 3
7 2
8 2
9+ 16
Zum Beispiel erhalten wir hieraus, daß bei der Approximation von γ Folgendes zutrifft: 1 P (an = 11 626) = log2 1 + ≈ 10−8 . 11 626 × 11 628
Tabelle 14.7 unterst¨ utzt nachdr¨ ucklich die These, daß sich γ wie fast jede“ ” andere Zahl verh¨ alt, aber dennoch muß e eine Ausnahme sein, denn 1 ist
14.3 Kettenbruchverhalten
185
die einzige ungerade Zahl, die in der betreffenden Kettenbruchentwicklung auftritt und jede gerade Zahl tritt genau einmal auf; offensichtlich ist auch der Goldene Schnitt φ eine Ausnahme. Tabelle 14.7. Ziffernh¨ aufigkeit bei 1000 Teilbr¨ uchen von γ k an Tats¨ achlicher Wert (%) P (an = k)
1 417 42 41
2 168 17 17
3 75 8 9
4 57 6 6
5 41 4 4
6 33 3 3
7 22 2 2
8 19 2 2
9+ 168 17 16
Da wir nunmehr eine Wahrscheinlichkeitsverteilung haben, stellt sich die nat¨ urliche Frage, was der Mittelwert der an ist – und hier kommt die n¨achste ¨ ¨ Uberraschung: es gibt keinen solchen, wie wir der folgenden Uberlegung entnehmen k¨ onnen. Nach Definition betr¨ agt der Mittelwert ∞
k=1
kP (an = k) −−−−→ n→∞
∞
k=1
k log2 1 +
1 k(k + 2)
und das sieht zun¨ achst auch ganz gut aus. Nimmt jedoch k große Werte an, dann haben wir k(k + 2) ≈ k 2 und 1 1 1 1 1 1 ln 1 + 2 ≈ , log2 1 + ≈ log2 1 + 2 = k(k + 2) k ln 2 k ln 2 k 2 was zu ∞
k,n groß
kP (an = k) ≈
∞ ∞ 1 1 1 1 k× 2 = ln 2 k ln 2 k k,n groß
k,n groß
f¨ uhrt, und die divergente harmonische Reihe tritt ein weiteres Mal u ¨berraschend – und in unerfreulicher Weise – in Erscheinung. Nat¨ urlich funktioniert diese Analyse f¨ ur φ und e nicht, obwohl es offensichtlich ist, daß der durchschnittliche N¨ aherungsbruch von φ gleich 1 ist. Er ist undefiniert f¨ ur e, wie wir ¨ aus der Uberlegung erkennen k¨ onnen, daß die Addition der N¨aherungsbr¨ uche gleichbedeutend ist mit der Addition von aus 1 bestehenden Paaren (linear in n) und der (in n quadratischen) arithmetischen Reihe 2 + 4 + 6 + · · · . Division durch n liefert etwas in der Gr¨ oßenordnung von n und ist divergent. Zwar ist das arithmetische Mittel f¨ ur die an nicht entsprechend definiert, aber Aleksandr Chintschin (dem wir bereits auf S. 164 begegnet sind), hat bewiesen, daß das geometrische Mittel konvergiert, und daß f¨ ur fast alle Zahlen die Beziehung (a1 a2 a3 · · · an )1/n → κ = 2, 685 45 . . . gilt. Die Zahl κ wird
186
14 Die Welt ist logarithmisch
2.75 2.70
γ
2.65
π
2.60
κ
2.55 5
10
15
20
25
Abb. 14.12. Die Tendenz in Richtung Chintschin-Konstante
zutreffenderweise als Chintschin-Konstante bezeichnet; die graphischen Darstellungen in Abb. 14.12 legen die Vermutung nahe, daß auch γ, π und κ dem Gesetz von Chintschin gen¨ ugen. Das geometrische Mittel f¨ ur φ ist offensichtlich 1 und f¨ ur e ist es undefiniert, wie man unter Verwendung der Stirlingschen N¨aherungsformel erkennt, die wir im Kapitel 10 entwickelt hatten. Es sei daran erinnert, daß sich in √ erster Ann¨ aherung n! ≈ 2πnnn e−n ergibt. Eine Pr¨ ufung des Musters in der Kettenbruchform von e zeigt 3n−1 k=1
ak =
3n
k=1
ak =
3n+1
ak = 2n n!,
k=1
das heißt f¨ ur N = 3n haben wir N
k=1
ak
1/N
# 1/N 1 1 1 (2N/3 ( N )!)1/N ≈ 2N/3 2π N ( N )N/3 e−N/3 3 3 3 √ 1/N 1 1 = ( 2π) ( N )1/(2N ) ( N )1/3 21/3 e−1/3 3 3 1/3 2 −−−−→ 1 × 1 × N 1/3 = 0, 6259 · · · N 1/3 N →∞ 3e =
und dieser Ausdruck divergiert gegen ∞. Das Ergebnis von Chintschin l¨ aßt sich noch etwas ausbauen, wenn wir an die Verwendung der harmonischen Reihe beim Messen der Unabh¨angigkeit von Aufzeichnungen denken, die wir auf S. 146 diskutiert hatten. Bei fast allen Kettenbr¨ uchen fluktuieren die geometrischen Mittel der an um κ und steuern“ diesen Wert an. Es ist sinnvoll, diejenigen n aufzuzeichnen, f¨ ur die ” aufig besten“ bei der Approximation das geometrische Mittel der an die vorl¨ ” von κ sind; zum Beispiel beginnt die Folge f¨ ur κ mit 1, 2, 3, 15, 23, 26, 81, 104, 109, 111, 120, 127, 135, 136, 141, 142, 144, 145, 146, 147, 148, 5920, 5943, 8381, 8401, 89 953, 91 368, . . . .
14.3 Kettenbruchverhalten
187
F¨ ur 91 368 N¨ aherungsbr¨ uche haben wir somit 27 Aufzeichnungen und H91 368 = 12. Die gleichen Rechnungen f¨ ur π zeigen, daß es 27 Aufzeichnungen f¨ ur 4 497 058 N¨ aherungsbr¨ uche gibt und H4 497 058 = 16. Das deutet in beiden F¨ allen auf eine nicht u angigkeit zwischen den N¨aherungs¨berraschende Abh¨ br¨ uchen hin. Erinnern wir uns nun daran, daß die Definition der statistischen Unabh¨ angigkeit zweier Ereignisse A und B durch P (A und B) = P (A) × P (B) gegeben ist, dann k¨ onnen wir den ge¨ außerten Verdacht quantifizieren: unter Verwendung der obigen Verteilung kann n¨ amlich gezeigt werden, daß die Teilbr¨ uche schwach abh¨ angig“ sind, da ” P (an = r und an+k = s) = P (an = r) × P (an+k = s) × (1 + O(q k )) f¨ ur 0 < q < 1 gilt. Bei der merkw¨ urdigen Zahl 2, 685 45 . . . , das heißt bei der Chintschinschen Konstanten, handelt es sich um ∞ 1+
r=1
1 r(r + 2)
ln r/ ln 2
.
Chintschin identifizierte diese Zahl, als er das folgende allgemeine Ergebnis bewies: Ist f (r) eine auf den positiven ganzen Zahlen definierte Funktion mit hinreichend gutem Verhalten, dann gilt n ∞ 1 1 1 f (ar ) −−−−→ f (r) ln 1 + . n→∞ ln 2 n r=1 r(r + 2) r=1 Seine Konstante ergibt sich dann f¨ ur f (r) = ln r. Nat¨ urlich stehen alle Arten der Auswahl von f (r) zur Verf¨ ugung und nimmt man f (r) = 1/r, dann liefert die Verallgemeinerung des harmonischen Mittels von S. 141 die Beziehung
1.77 1.76 1.75
J
1.74
S
1.73 1.72
N 10
20
30
40
Abb. 14.13. Eine weitere Chintschin-Konstante
188
14 Die Welt ist logarithmisch
ln 2 n −−−−→ ∞ n→∞ (1/a ) (1/r) ln(1 + 1/r(r + 2)) r r=1 r=1 = 1, 745 405 68 . . . ,
Hn = n
das heißt, das harmonische Mittel fast aller Kettenbr¨ uche konvergiert ebenfalls gegen einen Grenzwert, der unabh¨ angig von den Br¨ uchen ist (vgl. Abb. 14.13). Es sieht so aus, als ob der Grenzwert in diesem Fall keinen Namen hat – vielleicht sollten wir ihn als zweite Chintschin-Konstante bezeichnen.
15 Probleme mit Primzahlen Die Mathematiker haben sich bis jetzt vergeblich bem¨ uht, irgendeine Ordnung in der Folge der Primzahlen zu entdecken, und man ist geneigt zu glauben, dies sei ein Geheimnis, das der menschliche Geist niemals durchdringen wird. Leonhard Euler1
15.1 Einige schwierige Fragen zu Primzahlen Primzahlen sind bereits mehrmals in diesem Buch aufgetreten. Ihre Untersuchung steht seit langem im Mittelpunkt der Zahlentheorie und das Verhalten der Primzahlen, das mitunter so undiszipliniert zu sein scheint, sieht bisweilen so aus, als w¨ urde es von einer unbekannten und u ¨berm¨achtigen Autorit¨at determiniert werden, die nicht willens ist, den zugrunde liegenden Plan zu offenbaren. Das Zitat zu Beginn des Kapitels zeigt, wie frustriert der große Euler war. Erd˝ os paraphrasierte Einstein, als er sagte Gott w¨ urfelt vielleicht nicht ” mit dem Universum, aber mit dem Primzahlen hat es schon etwas Seltsames auf sich“. Und R. C. Vaughan sprach f¨ ur viele, als er sagte, es ist offensicht” lich, daß die Primzahlen zuf¨ allig verteilt sind, aber leider wissen wir nicht, was Zufall bedeutet“. Das sind nur drei der vielen Ausspr¨ uche, die im Laufe der Jahrhunderte gepr¨ agt wurden und das Erstaunen dar¨ uber zum Ausdruck bringen, wie sich die Primzahlen verhalten. Von all den Fragen, die gestellt werden k¨onnen, sind vielleicht die drei folgenden die wichtigsten. (1) Ist eine gegebene Zahl prim? (2) Wieviele Primzahlen gibt es, die kleiner als oder gleich (≤) einer gegebenen Zahl x sind? (3) Welches ist die x-te Primzahl px ? F¨ ur kleine Zahlen lassen sich diese Fragen m¨ uhelos beantworten: 101 ist prim, die 50ste Primzahl ist 229 und es gibt 1229 Primzahlen die kleiner als 10 000 sind. Je gr¨ oßer die Zahlen werden, desto schwieriger sind jedoch die Antworten, und immerhin gibt es ja auch unendliche viele Primzahlen. Ist 252 097 800 623 eine Primzahl? Wieviele Primzahlen gibt es, die kleiner als 1
Euler, Opera omnia, vol. 2, p. 241. Euler hatte diesen Text in Franz¨ osisch geschrieben.
190
15 Probleme mit Primzahlen
100 000 000 000 000 000 000 sind? Welches ist die 1 000 000 000 000 000 000ste Primzahl? Diese Fragen lassen sich nicht ann¨ahernd so leicht beantworten – und dabei handelt es sich immer noch um kleine“ Zahlen. ” Wir werden uns nicht bei der ersten Frage aufhalten, aber der Leser kann sich leicht davon u ur große Zah¨berzeugen, daß die Primzahltestverfahren f¨ len viel subtiler sind, als der Versuch, den Kandidaten durch alle Primzahlen zu teilen, die kleiner als seine Quadratwurzel sind. Die Frage h¨angt mit der Suche nach der gr¨ oßten bekannten Primzahl zusammen, einer Suche, die sich zwangsl¨ aufig auf Mersennesche Primzahlen konzentriert, die wir auf S. 135 bereits erw¨ ahnt hatten. Diese Primzahlen sind nach Marin Mersenne benannt, einem M¨ onch des 16. Jahrhunderts; sie haben die Form 2p − 1 mit einer Primzahl p und auf einen Kandidaten dieser Form l¨aßt sich der Test von Lucas– Lehmer anwenden. Auch hatten wir im Kapitel 12 bereits notiert, daß Ende 2005 im Rahmen der Great Internet Mersenne Prime Search (GIMPS) das bislang gr¨ oßte dieser Monster gefunden wurde: es ist die Primzahl 232582657 − 1. Diese Zahl hat fast 10 Millionen Ziffern! Um uns an die zweite Frage heranzutasten – und damit, wie sich herausstellen wird, auch an die dritte Frage – verwenden wir die Standardbezeichnung π(x) f¨ ur die Funktion, die f¨ ur x > 0 die Anzahl der Primzahlen ≤ x angibt. Man nennt π(x) auch die Primzahlfunktion; im Englischen wird sie auch als prime counting function“ ( Primzahlz¨ahlfunktion“) bezeichnet. ” ” Wir erinnern uns, daß 2 eine Primzahl ist, 1 hingegen nicht. Also haben wir π(3) = 2, π(17) = 7 und π(22) = 8, usw. Offensichtlich ist π(x) eine zunehmende Treppenfunktion von x und da es unendlich viele Primzahlen gibt, haben wir mit x → ∞ auch π(x) → ∞. Aber wie schnell w¨achst diese Funktion? Die Identifikation der pr¨ azisen Beschaffenheit von π(x) ist unter dem Namen Primzahlsatz“ bekannt geworden. Dieser Satz wird uns zeigen, wie ” eng die Primzahlen mit Logarithmen zusammenh¨angen – ein Zusammenhang, der ¨ außerst bemerkenswert ist. Wir zitieren L. J. Goldstein: Die Geschichte des Primzahlsatzes ist ein sch¨ones Beispiel daf¨ ur, wie sich bedeutende Ideen entwickeln, miteinander in Beziehung treten und einander befruchten, so daß im Endergebnis eine koh¨arente Theorie entsteht, welche die beobachteten Ph¨ anomene ziemlich vollst¨andig erkl¨ art.
15.2 Ein bescheidener Start Ein genauerer Blick auf Euklids Beweis, daß es unendlich viele Primzahlen gibt, gestattet uns die Angabe einer ersten und ziemlich d¨ urftigen unteren Schranke f¨ ur die Gr¨ oße von π(x). Obwohl wir im urspr¨ unglichen Beweis auf S. 38 die ersten n Primzahlen verwendeten, ist es klar, daß sich mit Hilfe einer beliebigen Menge von n Primzahlen die Zahl Pn = 1 + p1 p2 · · · pn konstruieren l¨ aßt, die entweder selbst eine Primzahl ist oder nicht. Unabh¨angig hiervon
15.2 Ein bescheidener Start
191
sei pn+1 die kleinste Primzahl, die Pn teilt. Dann haben wir pn+1 Pn = 1 + p1 p2 · · · pn 2p1 p2 · · · pn , eine riesige und aufwendige obere Schranke. Nehmen wir etwa p1 = 2, dann ergibt sich p2 2p1 = 2×2 = 22 , p3 2p1 p2 = 2 × 2 × 22 = 24 , p4 2p1 p2 p3 = 2 × 2 × 22 × 24 = 28 und im Allgemeinen n pn+1 22 als Sch¨ atzwert f¨ ur die Gr¨ oße der n-ten Primzahl. Da f¨ ur alle k = n 1, 2, . . . , n die Beziehung pk < pn+1 gilt, folgt p1 , p2 , p3 , . . . , pn , pn+1 22 . 2n 2n Das bedeutet, daß π(2 ) n + 1. Wir schreiben nun x = 2 , so daß n = log2 log2 x und es folgt π(x) log2 log2 x + 1 > log2 log2 x. Offensichtlich n gilt diese Ungleichung auch f¨ ur alle x 22 und wir erhalten die Schranke π(x) > log2 log2 x, wobei erstmalig Logarithmen auftreten. Mit etwas mehr Arbeit k¨ onnen wir die Sache verbessern. Die Fakult¨ aten und die Abrundungsfunktion k¨onnen dazu verwendet werden, den Beitrag zu z¨ ahlen, den jeder Primfaktor von n! zu dieser Fakult¨at leistet. Wir werden uns sp¨ ater davon u ¨berzeugen, daß das tiefere Auswirkungen hat. Um eine Vorstellung von dem zu bekommen, was hier vor sich geht, betrachten wir zum Beispiel 10! = 3 628 800 = 28 × 34 × 52 × 7. Die 2 tritt hier 8-mal auf, die 3 tritt 4-mal auf usw., und nat¨ urlich k¨onnen wir theoretisch spezielle gr¨ oßere Fakult¨ aten faktorisieren und eine entsprechende Frage beantworten. Es ist jedoch sch¨ oner und bei weitem praktischer, den allgemeinen Fall zu betrachten. In den Vorbereitungen zum Teilerfremdheitsbeweis im Kapitel 8 hatten wir festgestellt, daß es x = ⌊N/r⌋ Zahlen bis zu und einschließlich N gibt, die r als Teiler haben. Also gibt es zu einer gegebenen Primzahl p < n insgesamt ⌊n/p⌋ ganze Zahlen bis zu und einschließlich n, die durch p teilbar sind. Deswegen tritt p in n! genau ⌊n/p⌋-mal auf. Analog tritt p2 in n! genau ⌊n/p2 ⌋-mal auf, p3 tritt ⌊n/p3 ⌋-mal auf usw. bis pk , das ⌊n/pk ⌋-mal auftritt, wobei pk+1 > n. Der Gesamtexponent von p in n! l¨aßt sich dann bequem ausdr¨ ucken durch ep (n!) =
∞ n r=1
pr
,
wobei die Glieder der scheinbar unendlichen Reihe f¨ ur r k + 1 gleich Null sind. Das bedeutet ∞ r n! = p r=1 ⌊n/p ⌋ , pep (n!) =
pn
pn
ein Resultat, das Legendre zugeschrieben wird. Wie wir bereits gesehen hatten, leistete Legendre Beitr¨ age zur Theorie der Gammafunktion und wir werden ihm in diesem Kapitel erneut begegnen. Das ist der Ausdruck, den wir zur Absch¨ atzung von π(x) verwenden werden. Bevor wir das jedoch tun, werfen wir schnell und ohne zus¨atzlichen Aufwand einen Blick auf den Beitrag dieser Absch¨atzung zur L¨osung eines wohlbekannten Problems: Wieviele Nullen stehen am Ende einer gegebenen
192
15 Probleme mit Primzahlen
Fakult¨ at?2 Weiter oben hatten wir beispielsweise gesehen, daß 10! auf zwei Nullen endet. Um eine systematische Antwort zu finden, k¨onnen wir etwa mit Hilfe des obigen Ergebnisses feststellen, wie oft 2 und 5 jeweils in 10! auftreten und dann die kleinere der beiden Zahlen verwenden, um festzustellen, wie oft 10 = 2 × 5 auftritt, das heißt wieviele Nullen am Ende der Zahl stehen. Die 2 tritt demnach 10 10 10 + 2 + 3 =5+2+1=8 2 2 2 Mal auf und die 5 tritt
10 =2 5
Mal auf. Die 10 tritt deswegen 2-mal auf und 10! muß auf zwei Nullen enden, wie wir oben durch direkte Rechnung schon gesehen hatten. Betrachten wir nun 1000! als n¨ utzlicheres Beispiel. Hier tritt die 2 1000 1000 1000 1000 + + ··· + + 2 22 23 29 = 500 + 250 + 125 + 62 + 31 + 15 + 7 + 3 + 1 = 994 Mal auf und die 5 tritt 1000 1000 1000 1000 + + = 200 + 40 + 8 + 1 = 249 + 5 52 53 54 Mal auf. Also endet 1000! mit 249 Nullen. Die Anzahl der Nullen wird nat¨ urlich dadurch bestimmt, wie oft die 5 auftritt. Wir gehen folgendermaßen vor, um π(x) mit Hilfe des Ergebnisses von Legendre abzusch¨ atzen. Es sei Tabelle 15.1. Ein Vergleich der Sch¨ atzwerte x
π(x) 6
10 107 108 109 1010 1011 1012 1013 2
78 498 664 579 5 761 455 50 847 534 455 052 511 4 118 054 813 37 607 912 018 346 065 536 839
log2 log2 x 4,32 4,54 4,73 4,90 5,05 5,20 5,32 5,43
1 n
log2 n! 18,4 21,8 25,1 28,5 31,8 35,1 38,4 41,7
Das inverse Problem“, das heißt wieviele Nullen gegebenenfalls an der Spitze ” einer Fakult¨ at stehen, ist hingegen kaum untersucht worden und geh¨ ort auch nicht zum Gegenstand des vorliegenden Buches.
15.2 Ein bescheidener Start
193
n n n ep (n!) = + 2 + 3 + ··· , p p p wobei die Reihe an einer Stelle schließlich abbricht. Wir k¨onnen eine obere Schranke f¨ ur ep (n!) finden, indem wir die Abrundungsfunktion ⌊ ⌋ entfernen und zulassen, daß die dabei entstehende geometrische Reihe unendlich fortgesetzt wird. Dadurch erhalten wir 1 n 1 n n n n n 1 = , ep (n!) < + 2 + 3 + · · · = 1 + + 2 + ··· = p p p p p p p 1 − 1/p p−1 was zu pep (n!) < pn/(p−1) f¨ uhrt. F¨ ur eine beliebige Zahl n ≥ 2 gilt n 2n−1 und wir haben pep (n!) < pn/(p−1) < (2p−1 )n/(p−1) = 2n sowie n! < (2n )π(n) = 2nπ(n) . Logarithmieren zur Basis 2 liefert nπ(n) > log2 n! und π(n) > (1/n) log2 n!, unseren neuen Sch¨ atzwert. Das bedarf einiger Rechnung f¨ ur große n, aber da wir die Stirlingsche N¨ aherungsformel haben, k¨onnen wir f¨ ur unsere Zwecke eine hinreichend gute Absch¨atzung geben, indem wir nur das erste Glied der N¨ aherungsformel nehmen und auf beiden Seiten zur Basis 2 logarithmieren. Das liefert log2 n! ≈ n log2 n − n log2 e +
n 1 n 1 log2 2πn = n log2 + log2 2πn ≈ n log2 2 e 2 e
und wir haben die Absch¨ atzung π(n) >
n 1 log2 n! ≈ log2 n e
f¨ ur große n. Nun k¨ onnen wir Tabelle 15.1 aufstellen, um zu sehen, wie schlecht diese Absch¨ atzungen wirklich sind. Mit einer etwas optimistischeren Grundhaltung stellen wir fest, daß es sich zumindest um g¨ ultige Schranken handelt und daß wir mit Hilfe dieser Ideen immerhin eine geringf¨ ugige Kontrolle u ¨ber die Verteilung der Primzahlen haben. Wir haben nun zwei untere Schranken f¨ ur π(x). Das Argument auf S. 190 hat bereits eine obere Schranke f¨ ur die Gr¨ oße der n-ten Primzahl geliefert, und diese Schranke l¨ aßt sich signifikant verbessern, wenn wir die (auf S. 35 genannte) Bertrandsche Vermutung ein weiteres Mal verwenden: Schreiben wir n¨ amlich die Primzahlen in aufsteigender Reihenfolge als p1 , p2 , . . . , pn , dann impliziert die Vermutung die Beziehung pn < 2n (nat¨ urlich gilt p1 = 2 = 21 , aber von da an ist die Ungleichung echt). Am leichtesten sieht man das durch Induktion ein, wobei wir uns auf Abb. 15.1 beziehen: wir nehmen f¨ ur irgendein k an, daß pk < 2k ; dann liegt pk+1 entweder im Intervall (pk , 2k ) und es gilt pk+1 < 2k < 2k+1 , oder es liegt rechts von 2k und in diesem Fall muß es sich um die erste Primzahl handeln, die garantiert im Intervall (2k , 2k+1 ) liegt, und dann gilt wieder pk+1 < 2k+1 , womit der Induktionsbeweis erbracht ist.
194
15 Probleme mit Primzahlen
pk
2k
2k + 1 = 2 × 2k
Abb. 15.1.
15.3 Eine Art Antwort Was wir finden m¨ ochten, ist nat¨ urlich ein expliziter Ausdruck f¨ ur π(x) mit Hilfe von x, und wenn wir nicht allzu w¨ ahlerisch sind, dann schaffen wir das ohne M¨ uhe. Es gibt in der Tat sehr viele solcher Formeln und eine große Klasse von ihnen h¨ angt von einem zahlentheoretischen Ergebnis ab, das als Satz von Wilson bekannt geworden ist. Im Jahr 1770 gab der in Cambridge t¨ atige Mathematiker Edward Waring (1741–1793) das Werk Meditationes Algebraicae heraus, in dem er eine Reihe von neuen Ergebnissen der Zahlentheorie ver¨ offentlichte; an vorderster Stelle stand die Aussage, daß eine beliebige Primzahl p ein Teiler von (p − 1)! + 1 ist. Waring schrieb dieses Ergebnis seinem fr¨ uheren Studenten und Senior Wrangler3 John Wilson (1741–1793) zu, der das Resultat aufgrund empirischer Anhaltspunkte postulierte, ohne einen Beweis zu geben. In der Ver¨ offentlichung gab Waring zu, daß er sich außerstande sah, einen Beweis zu liefern, und f¨ ugte im Text noch hinzu, daß S¨atze ” dieser Art sehr schwer zu beweisen sein werden, da es keine Notation gibt, mit deren Hilfe man Primzahlen ausdr¨ ucken kann. Gauß, der sich von diesem Kommentar nicht sonderlich beeindrucken ließ, soll seinerseits notationes ver” sus notiones“ ge¨ außert haben. Damit wollte er sagen, daß es auf die Begriffe ( notiones“) und nicht auf die Schreibweisen ( notationes“) ankommt. In der ” ” Tat gab Lagrange schon 1773 einen Beweis der Aussage und ihrer Umkehrung. Dennoch ist die Aussage unter der Bezeichnung Satz von Wilson“ in die ma” thematische Folklore eingegangen – ein weiteres Beispiel f¨ ur einen gl¨ ucklichen mathematischen Zufall. Es ist sogar m¨ oglich, daß der Satz eher den Namen von Leibniz tragen sollte, denn in dessen unver¨offentlichten postumen Unterlagen finden sich Berechnungen, die sehr eng mit dem genannten Sachverhalt zusammenh¨ angen. Unter der Voraussetzung der Richtigkeit des Satzes von Wilson k¨onnen wir eine Art Antwort auf die letzten beiden Fragen geben, und wir tun das unter Bezugnahme auf einen Artikel von C. P. Willans ([153]). Diese Arbeit erschien in der Ausgabe der Zeitschrift Mathematical Gazette vom Dezember 1964 und f¨ uhrte in den nachfolgenden drei Jahren zu einer etwas aufgeregten und widerspr¨ uchlichen Korrespondenz, die allein schon deswegen unsere Aufmerksamkeit verdient. 3
Als Wrangler“ bezeichnete man seinerzeit einen Studenten in Cambridge, der ” die mathematische Abschlußpr¨ ufung mit Auszeichnung bestanden hatte. Senior ” Wrangler“ war der bestm¨ ogliche Abschluß beim Studium der Mathematik. Mann war schockiert, als Philippa Fawcett 1892 am Newnham College das Pr¨ adikat above the Senior Wrangler“ erhielt – Frauen waren angeblich f¨ ur ein h¨ oheres ” ” Studium“ ungeeignet.
15.3 Eine Art Antwort
195
Als direkte Folgerung aus dem Satz von Wilson haben wir die Funktion
F (n) =
cos π
(n − 1)! + 1 n
2
=
1, falls n = 1 oder n prim 0, andernfalls
und demzufolge π(x) = −1 +
x
cos π
n=1
(n − 1)! + 1 n
2
.
Zur Beantwortung der dritten Frage definieren wir die Funktion # n n An (a) = , n = 1, 2, . . . , a = 0, 1, 2, . . . . 1+a F¨ ur a < n √ist 1 n/(1 + a) n und deswegen haben wir 1 n n/(1 + a) n n < 2 und somit 1 An (a) 1, woraus sich nat¨ urlich zwangsl¨ aufig An (a) = 1 ergibt. Analog impliziert a n die Beziehung 0 < n/(1 + a) < 1 und somit gilt 0 An (a) 0, woraus sich zwingend An (a) = 0 ergibt. Zusammengefaßt haben wir dann also 1, falls a < n, An (a) = 0, falls a n. Wir k¨ onnen demnach die Formel px = 1 +
N
Ax (π(r))
r=1
aufstellen, bei der N eine hinreichend große ganze Zahl ist. Praktischerweise k¨ onnten wir N = 2x nehmen, denn px 2x gilt f¨ ur alle x. Die abschließende Formel war der Albtraum eines jeden Schriftsetzers im Pr¨a-TEX-nium4 : ⎢ ⎥ 1 2 r 2 ⎥ 2x ⎢ 2 ⎢√ (s − 1)! + 1 ⎥ n ⎣xx− 3 ⎦. px = 1 + cos π s s=1 r=1 Die Wirkungsweise dieser Formel mutet ziemlich r¨atselhaft an. Beispielsweise gibt Willans folgenden Wert: p5 = 1 + A5 (π(1)) + A5 (π(2)) + A5 (π(3)) + · · · + A5 (π(32)) = 1 + A5 (0) + A5 (1) + A5 (2) + · · · + A5 (11) = 1 + 1 + 1 + · · · + 0 = 11.
4
Damit ist das vor-TEX-nische Zeitalter gemeint.
196
15 Probleme mit Primzahlen
Es gibt andere ¨ ahnliche Formeln, einschließlich einer weiteren Formel im gleichen Artikel von Willans, aber ohne Verwendung von ⌊ ⌋. Die Ergebnisse sind neu, aber man erkennt unschwer, daß sie die Frage nicht im eigentlichen Sinne beantworten. Hiervon abgesehen erweisen sich die Formeln – ebenso wie alle anderen Formeln, die auf denselben Ideen beruhen – als praktisch nutzlos f¨ ur die Arbeit, f¨ ur die sie anvisiert worden waren.
15.4 Veranschauliche das Problem! Realistischer betrachtet wirft die urspr¨ ungliche Frage 2 das Problem auf, ob sich eine N¨ aherungsformel f¨ ur π(x) in der Form π(x) = f (x) + εx f¨ ur eine leicht berechenbare Funktion f (x) und ein absolutes Fehlerglied εx finden l¨ aßt, das hoffentlich nicht zu groß ist und asymptotisch abnimmt. Genauer gesagt m¨ ochten wir, daß der relative Fehler folgender Bedingung gen¨ ugt: lim
x→∞
S (x)
π(x) − f (x) εx = lim = 0. x→∞ π(x) π(x)
8 6 4 2 0
5
10
15
20
x
25
Abb. 15.2. Fr¨ uhes“ Verhalten von π(x) ”
Worum handelt es sich also bei diesem f (x)? Betrachten wir die graphische Darstellung von π(x) f¨ ur kleine x, dann erkennen wir eine erratische Treppenfunktion, die uns schwerlich Auftrieb gibt, die besagte Funktion zu finden (vgl. Abb. 15.2). Erweitern wir den Bereich auf 0 x 100, dann ist der Treppeneffekt immer noch offensichtlich, aber es ist auch eine Art Trend erkennbar (vgl. Abb. 15.3). Und f¨ ur 0 x 1000 kommt der Trend deutlicher zum Vorschein (vgl. Abb. 15.4). F¨ ur 0 x 5000 erhalten wir schließlich etwas, das mit bloßem Auge fast wie eine Gerade aussieht, aber nat¨ urlich keine Gerade ist (vgl. Abb. 15.5). In der Tat ist die Kurve, die wir in der graphischen Darstellung wahrnehmen, nach unten konkav; denn obwohl es unendlich viele Primzahlen gibt,
15.4 Veranschauliche das Problem!
S (x)
197
25 20 15 10 5 0
20
40
60
80
100
x
Abb. 15.3. Etwas sp¨ ater“ ”
S (x)
150 125 100 75 50 25 0
200
400
600
800
x
1000
Abb. 15.4. Noch sp¨ ater“ ... ”
S (x)
600 500 400 300 200 100 0
1000
2000
3000
4000
x
5000
Abb. 15.5. Und noch sp¨ ater“ ... ”
werden diese mit wachsendem x immer seltener. Der Treppeneffekt ist immer noch vorhanden, aber er ist einfach verborgen; und da die Abst¨ande zwischen den Primzahlen beliebig groß sein k¨ onnen, kann auch der Abstand zweier aufeinanderfolgender Stufen beliebig groß sein und die Ordinate der Funktion nimmt erst in diesem Fall um 1 zu. Am leichtesten u ¨berzeugt man sich hier-
198
15 Probleme mit Primzahlen
von durch die Feststellung, daß f¨ ur eine beliebige positive ganze Zahl n die Folge n! + 2, n! + 3, n! + 4, . . . , n! + n keine Primzahl enth¨alt. Don Zagier ([157]) gab 1975 in seiner Antrittsvorlesung an der Universit¨at Bonn folgenden Kommentar: Es gibt zwei Tatsachen u ¨ber die Verteilung der Primzahlen, von denen ich hoffe, Sie dermaßen zu u ur immer in Ihrem ¨berzeugen, daß sie f¨ Herzen eingraviert sind. Die eine ist, daß die Primzahlen, trotz ihrer einfachen Definition und Rolle als Bausteine der nat¨ urlichen Zahlen, zu den willk¨ urlichsten, widerspenstigsten Objekten geh¨oren, die der Mathematiker u ¨berhaupt studiert. Die Primzahlen wachsen wie Unkraut unter den nat¨ urlichen Zahlen, scheinbar keinem anderen Gesetz als dem Zufall unterworfen, und kein Mensch kann voraussagen, wo wieder eine sprießen wird, noch einer Zahl ansehen, ob sie prim ist oder nicht. Die andere Tatsache ist viel verbl¨ uffender, denn sie besagt just das Gegenteil – daß die Primzahlen die ungeheuerste Regelm¨aßigkeit aufzeigen, daß sie durchaus Gesetzen unterworfen sind und diesen mit fast peinlicher Genauigkeit gehorchen. Welches sind diese Gesetze, denen das Verhalten der Primzahlen gehorcht? Und worum handelt es sich insbesondere bei der Funktion f (x)?
15.5 Das Sieb des Eratosthenes Der griechische Gelehrte Eratosthenes (276–194 v.Chr.) war ein ber¨ uhmter Universalgelehrter. Er war auch der leitende Bibliothekar der großen Bibliothek von Alexandria und hatte entlang des Meridians die Entfernung von Alexandria bis nach Assuan gemessen, wodurch sich die Gr¨oße der Erde mit bemerkenswerter Genauigkeit berechnen ließ. Den Mathematikern ist er mehr wegen eines Verfahrens bekannt, mit dem sich die Primzahlen aussondern lassen: es handelt sich um das Sieb des Eratosthenes, mit dessen Hilfe sich ohne eine einzige Division die√Liste der Primzahlen bis x erstellen l¨aßt, wobei man nur die Primzahlen bis x kennt. Wir wenden das Sieb an, indem wir zun¨ achst alle nat¨ urlichen Zahlen von 2 bis x aufschreiben. Von diesen streichen wir dann zuerst alle Vielfachen von 2, die gr¨ oßer als 2 sind. Danach streichen wir alle Vielfachen von 3, die gr¨oßer als 3 sind. Anschließend sucht man die n¨ achste nicht gestrichene Zahl, das heißt die 5, und streicht alle Vielfachen davon, die gr¨oßer als 5 sind. Man setze dieses Verfahren nun fort, indem man bei jedem Schritt die n¨achstgr¨oßere nicht gestrichene Zahl √ p sucht, und alle Vielfachen von p streicht, die gr¨oßer als p sind. Ist p > x, dann kann man aufh¨oren, denn alle Vielfachen kp mit p < kp ≤ x sind bereits in den vorangegangenen Schritten gestrichen worden. Die am Ende u ¨briggebliebenen Zahlen sind genau die Primzahlen p ≤ x. Nat¨ urlich kann man unter Verwendung dieser neuen Menge den ganzen Prozeß wiederholen und dadurch die Primzahlen zwischen x und x2 , x2 und
15.5 Das Sieb des Eratosthenes
199
x4 usw. finden. Zum Beispiel erhalten wir Abb. 15.6 f¨ ur x = 50 und unter Verwendung der Primzahlen 2, 3, 5 und 7. Das Verfahren isoliert die Primzahlen und deswegen ist es kaum verwunderlich, daß man es zur Berechnung von π(x) verwenden kann. Daniel Meissel (1826–1895) tat das, wobei er eine Verfeinerung des Siebverfahrens anwendete. Wir hatten Meissel bereits auf S. 77 erw¨ahnt; 1870 erweiterte er das damalige Wissen gewaltig, indem er zeigte, daß π(108 ) = 5 761 455. Bertelsen setzte 1893 mit π(109 ) = 50 847 478 noch eins drauf, aber bedauerlicherweise wich dieser Wert vom korrekten Wert um 56 nach unten ab. Es ist interessant zu sehen, wie das Verfahren formalisiert werden kann; dadurch befassen wir uns realistischerweise mit großen Zahlen und wenden erneut die Abrundungsfunktion sowie das Prinzip der Ein- und Ausschließung an. Es sei x eine feste nat¨ √urliche Zahl und es bezeichne 2, 3, 5, . . . , px die Liste der Primzahlen bis zu x. Wir modifizieren nun das Verfahren, indem wir die jeweilige Primzahl zusammen mit ihren Vielfachen streichen. Beim ersten Aussieben (mit 2) werden dann also ⌊ 21 x⌋ Zahlen gestrichen und es bleiben x − ⌊ 21 x⌋ u ¨brig. Beim zweiten Aussieben (mit 3) werden alle Vielfachen von 3 gestrichen, aber dabei treffen wir Vielfache von 6 an, die bereits eliminiert worden sind, das heißt es bleiben x − ⌊ 12 x⌋ − ⌊ 31 x⌋ + ⌊x/(2 × 3)⌋ Zahlen u ¨brig. 1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 12
13 14
15
16
17
18
19
20
21 22 31 32
23 24 33 34
25 35
26 36
27 37
28 38
30 40
41 42
43 44
45
46
47
48
29 39 49
50
Abb. 15.6. Das Sieb des Eratosthenes
Das Verfahren wird mit 5 fortgesetzt, wobei wir diejenigen Vielfachen von 2 × 3 × 5 kompensieren m¨ ussen, die einmal zu oft abgezogen worden sind. Es handelt sich also um eine direkte Anwendung des Prinzips der Ein- und Ausschließung. Nach diesem Schritt bleiben x x x x x − ⌊ 12 x⌋ − ⌊ 31 x⌋ − ⌊ 15 x⌋ + + + − 2×3 2×5 3×5 2×3×5 Zahlen u ¨brig. Auf diese Weise wird das Verfahren bis zu der Primzahl px fortgesetzt. √ ¨ Ubrig bleiben die Zahl 1 und√alle Primzahlen zwischen x und x, das heißt es handelt sich um π(x) − π( x) + 1 Zahlen und somit haben wir √ π(x) − π( x) + 1 1 1 1 = x − ⌊ x⌋ − ⌊ x⌋ − ⌊ x⌋ − · · · 2 3 5
200
15 Probleme mit Primzahlen
x x x x + + + ··· − ..., 2×3 2×5 3×5 2×3×5 wobei die Punkte die oben beschriebene Erweiterung angeben. Es ist aufschlußreich, die Formel beispielsweise f¨ ur x = 100 anzuwenden: f¨ ur diesen Wert ergibt sich π(100) = 25.
15.6 Heuristik Wir kommen weiter, wenn wir ungenauer vorgehen. Wir wollen uns nicht um die Abrundungsfunktion und die Verdoppelung k¨ ummern, und wir wollen auch davon ausgehen, daß ungef¨ ahr die H¨ alfte der Zahlen durch 2 teilbar ist. Auf diese Weise erhalten wir (1 − 21 )x nach der ersten Runde des Weglassens. Ungef¨ ahr ein Drittel dieser Zahlen ist durch 3 teilbar, also bleibt (1 − 13 )(1 − 21 )x. Ungef¨ ahr ein F¨ unftel dieser Zahlen wiederum ist durch 5 teilbar und es bleibt 1 (1 − 15 )(1 − 31 )(1 ur s¨amtliche √ − 2 )x usw. Wiederholen wir dieses Verfahren f¨ ahernd Primzahlen x, dann erhalten wir ann¨ 1 1− x p √ p x
ganze Zahlen, und es ergibt sich der ungef¨ ahre Wert 1 1− π(x) ≈ x. p √ p x
Der Fehler akkumuliert sich und wir k¨ onnten mehr tun, um seine Gr¨oße zu verfolgen, aber das w¨ urde uns von den Marschrichtungen abbringen, in die unsere Reise gehen soll. Auf dem einen Weg rufen wir uns eine der beiden Mertensschen Produktformeln von S. 128 in Erinnerung: −1 1 1 = eγ . 1− n→∞ ln n p lim
pn
Wir k¨ onnen die Grenzwertnotation vermeiden und das Ergebnis in der Form 1 e−γ 1− ≈ p ln n pn
f¨ ur große n wiedergeben. Mit n = π(x) ≈
√
x f¨ uhrt das zu der Absch¨atzung
e−γ x x √ = 2e−γ , ln x ln x
15.6 Heuristik
201
wobei der außerordentlich wichtige Ausdruck x/ ln x erstmalig auftritt. Bei der Wahl eines zweiten Weges, der sogar noch holpriger ist, stellen wir uns vor, daß π(x) f¨ ur sehr große x differenzierbar ist, das heißt genau durch die glatte Kurve approximiert wird, die in Abb. 15.5 angedeutet ist und der wir den gleichen Namen geben. Dann folgt aus den obigen Ausf¨ uhrungen 1 1− . π ′ (x) ≈ p √ p x
Es bezeichne in der √ √ nun h das Durchschnittsintervall zwischen den ′Primzahlen aß der Tangentendefinition gilt dann π ( x) ≈ 1/h. Der N¨ ahe von √x. Gem¨ Ausdruck ( x + h)2 liegt nahe bei x und wir verwenden die Approximation √ 1 1 1 = 1 − √ π ′ (x), π ′ (( x + h)2 ) ≈ 1− 1− √ p x x √ p x
√ √ wobei wir die gr¨ oßte Primzahl, die kleiner als ( x + h) ist, durch x approximieren, was f¨ ur große x kein allzu schreckliches Vergehen ist. Unter Verwendung der Taylorschen Approximation erhalten wir √ √ √ π ′ (( x + h)2 ) = π ′ (x + 2h x + h2 ) ≈ π ′ (x) + 2h xπ ′′ (x).
Gleichsetzen der beiden Ausdr¨ ucke und anschließende Vereinfachung f¨ uhrt zu der f¨ urchterlichen Differentialgleichung: 2x
√ π ′′ (x) + π ′ ( x) = 0. π ′ (x)
Gl¨ ucklicherweise haben wir bereits einen Hinweis: versuchen wir es mit π(x) = x/ ln x. Der erste Term wird 2(2 − ln x) ln x(ln x − 1) und der zweite −
2(2 − ln x) . (ln x)2
Diese Terme unterscheiden sich in Bezug auf ihre Gr¨oße wie die Differenz von ln x und (ln x − 1). Die angef¨ uhrten Argumente k¨ onnen wohl kaum kritiklos bleiben, aber als heuristische Vorgehensweise sind sie in Ordnung. Sie haben das getan, wozu sie ben¨ otigt wurden, das heißt sie haben uns die richtige Richtung f¨ ur das weitere Vorgehen gewiesen. Die Funktion x/ ln x scheint wirklich eng mit π(x) zusammenzuh¨ angen.
202
15 Probleme mit Primzahlen
15.7 Ein Brief Am Heiligabend 1849 schrieb der 72 Jahre alte Gauß einen Brief an seinen lieben Freund“ und fr¨ uheren Sch¨ uler, den Astronomen Johann Encke (1791– ” 1865). Dieser Brief war die Antwort auf einen Brief von Encke. Wie aus dem Schreiben von Gauß hervorgeht, hatte er sich seit langer Zeit f¨ ur die Verteilung der Primzahlen interessiert und seine eigene Absch¨atzung f¨ ur π(x) gegeben: Die g¨ utige Mitteilung Ihrer Bemerkung u ¨ber die Frequenz der Primzahlen ist mir in mehr als einer Beziehung interessant gewesen. Sie haben mir meine eigenen Besch¨ aftigungen mit demselben Gegenstande in Erinnerung gebracht, deren erste Anf¨ange in eine sehr entfernte Zeit fallen, ins Jahr 1792 oder 1793, wo ich mir die Lambert’schen Supplemente zu den Logarithmentafeln angeschafft hatte. Im Jahr 1792 war Gauß 15 Jahre alt. Das zuf¨ allige Geschenk einer Logarithmentafel und eines Supplements, das die Tafeln der Primzahlen bis zu 1 Million enthielt, hatte den jungen Gauß in die Lage versetzt, mit dem Sturmangriff auf die Frage nach der Beschaffenheit von π(x) zu beginnen. Das Supplement war von dem deutsch–schweizerischen Mathematiker Johann Lambert (1728–1777) zusammengestellt worden, dessen Name bereits auf S. 110 im Zusammenhang mit der Theorie der Kettenbr¨ uche auftrat. Sp¨ater hatte Gauß Zugang zu Primzahltafeln bis zu 3 Millionen. Tabelle 15.2 zeigt die anf¨anglichen Informationen, mit denen der 15j¨ ahrige Gauß arbeiten mußte. Auf der Grundlage dieser sehr begrenzten Hinweise kam er auf die Idee, daß sich f¨ ur x = 10n das Muster π(x) ≈
1 1 ×x= ×x α×n α × log10 x
abzeichnete, wobei α eine Zahl zu sein scheint, die etwas u ¨ber 2 liegt – und Gauß wußte sehr wohl, daß ln 10 = 2, 30 . . . . Die u ¨blichen Logarithmengesetze f¨ uhren dann zu π(x) ≈ x/ ln x, was mit den anderen heuristischen Anzeichen in Einklang steht. Es ergibt sich also f (x) = G(x) = x/ ln x und π(x) =
x + εx = G(x) + εx . ln x
In Abb. 15.7 sehen wir zwei graphische Darstellungen von fr¨ uhen“ Verglei” chen zwischen π(x) und G(x). Gaußens Logarithmentafel ist erhalten geblieben, und auf deren R¨ uckseite liest man die in jugendlicher Schrift geschriebene Bemerkung Primzahlen unter a(= ∞)a/la“. ” In diesem Brief nahm Gauß nur auf seine verfeinerte Absch¨atzung Bezug, die durch eine Lokalisierung der Z¨ ahlung zustande kam: er betrachtete die Anzahl der Primzahlen in Bl¨ ocken von jeweils 1000 aufeinanderfolgenden ganzen Zahlen. Dabei bedient sich Gauß einer wunderbaren klassischen Sprache, indem er Hecatontade f¨ ur 100, Chiliade f¨ ur 1000 und Myriade in der exakten Bedeutung von 10 000 verwendet. Weiter schrieb er: ... und ich habe (da ich ”
15.7 Ein Brief
203
Tabelle 15.2. x 10 = 101 100 = 102 1 000 = 103 10 000 = 104 100 000 = 105 1 000 000 = 106
π(x) 4 25 168 1 229 9 592 78 498
150
4000
S (x ) 100
3000 G(x)
50 0
Primzahldichte 1:2,5 1:4 1:5,96 1:8,14 1:10,43 1:12,74
= = = = = =
1:(2, 5 × 1) 1:(2 × 2) 1:(1, 99 × 3) 1:(2, 04 × 4) 1:(2, 09 × 5) 1:(2, 12 × 6)
S (x) G(x)
2000 1000
200 400 600 800 1000 x
0
2
4
6
10 (×106)
8 x
Abb. 15.7. Die urspr¨ ungliche Absch¨ atzung von Gauß
zu einer anhaltenden Abz¨ ahlung der Reihe nach keine Geduld hatte) sehr oft einzelne unbesch¨ aftigte Viertelstunden verwandt, um bald hie bald dort eine Chiliade abzuz¨ ahlen; ich liess jedoch zuletzt es ganz liegen, ohne mit der Million ganz fertig zu werden ...“. Dadurch war er in der Lage, den Durchschnitt – anstatt u ¨ber das ganze Intervall – u ¨ber kleinere Teilintervalle zu bilden, danach als Grenzwert die Primzahlen durch Integration zu addieren“ und ” somit
x 1 du f (x) = Li(x) = ln u 2 zu erhalten und dadurch die Absch¨ atzung
x 1 π(x) = du + εx = Li(x) + εx . ln u 2
zu bekommen. Und hier tritt der Integrallogarithmus Li(x) in Erscheinung, den wir bereits auf S. 124 erw¨ ahnt hatten und der ein zentrales Objekt bei der Untersuchung der Primzahlverteilung geworden ist. Wie vorauszusehen war, hatte er es vers¨ aumt, die Idee ¨ offentlich anzuk¨ undigen; sie erschien 1863 postum in Band 10, Teil I, seiner Werke. Jedoch hatte er Tabelle 15.3 in den Brief aufgenommen. Jedenfalls ist die Primzahlz¨ahlung geringf¨ ugig falsch: der Fehler der vier gr¨oßten Werte geht zugunsten der Absch¨atzung von Li(x). Zweimalige partielle Integration von Li(x) liefert x x
x u 1 1 du = + du Li(x) = 2 ln u 2 2 ln u 2 (ln u)
204
15 Probleme mit Primzahlen Tabelle 15.3. x 500 000 1 000 000 1 500 000 2 000 000 2 500 000 3 000 000
175 150 125 100 75 50 25 0
π(x) 41 556 78 501 114 112 148 883 183 016 216 745
300 250 200 150 100 50
Li(x) S (x)
200
400
600
800
Li(x) 41 606,4 78 627,5 114 263,1 149 054,8 183 245,0 216 970,6
x
1000
Differenz 50,4 126,5 151,1 171,8 229,0 225,6
Li(x) S (x)
0
2
4
6
8
x
10 (×106)
Abb. 15.8. Verfeinerte Absch¨ atzung von Gauß
x x + = + ln x (ln x)2
2
x
2 du (ln u)3
und einen Vergleich zwischen den beiden logarithmischen Absch¨atzungen, den wir beliebig weit fortsetzen k¨ onnen. Vergleiche f¨ ur die neue Absch¨ atzung von π(x) sind in Abb. 15.8 zu sehen. Durch die Einf¨ uhrung dieser Absch¨ atzungen hatte Gauß im Kampf um die Z¨ ugelung des Verhaltens der Primzahlen einen Br¨ uckenkopf errichtet. Zwar arbeitete Gauß allein, aber er war nicht der einzige, der sich mit der Sache befaßte. In seinem Brief kommentierte er das auch zum Teil: Dass Legendre sich auch mit diesem Gegenstande besch¨aftigt hat, war mir nicht bekannt, auf Veranlassung Ihres Briefes habe ich in seiner Th´eorie des Nombres nachgesehen, und in der zweiten Ausgabe einige darauf bez¨ ugliche Seiten gefunden, die ich fr¨ uher u ¨bersehen (oder seitdem vergessen) haben muss. Gauß bezog sich hier auf Legendres Essai sur la Th´eorie des Nombres. Dieses Werk erschien urspr¨ unglich 1798 und dann 1808 in einer verbesserten zweiten Auflage. Im Originalband findet sich der Vorschlag π(x) ≈
x A ln x + B
mit gewissen Konstanten A und B. Unter Verwendung von Tafeln bis zu 400 000 gibt Legendre in der zweiten Auflage die etwas r¨atselhafte Verbesserung
15.7 Ein Brief
f (x) = L(x) = und somit π(x) =
205
x ln x − A(x)
x + εx = L(x) + εx , ln x − A(x)
wobei A(x) ≈ 1, 083 66. Der geniale norwegische Mathematiker Niels Henrik Abel (1802–1829) bezeichnete diese Formel in einem 1823 geschriebenen Brief als die bemerkenswerteste der gesamten Mathematik“. Die Vergleiche sind ” in Abb. 15.9 zu sehen. Die mysteri¨ ose Zahl 1, 083 66 . . . erweckte nat¨ urlich ebenso Gaußens Interesse wie die Tatsache, daß bis zu 3 000 000 der Wert von L(x) genauer war als sein Integrallogarithmus Li(x), wie wir anhand von Abb. 15.10 erkennen k¨ onnen. Gauß hielt in seinem Brief diejenigen Werte fest, die A(x) f¨ ur L(x) und π(x) annehmen muß, um u ¨ber Intervallen der L¨ange 500 000 u ¨bereinzustimmen; dabei erhielt er f¨ ur A(x) die Werte 1,090 40, 1,076 82, 1,075 82, 1,075 29, 1,071 79, 1,072 97 und setzte seinen Brief folgendermaßen fort: Es hat den Anschein, dass mit zunehmendem x der (durchschnittliche) Wert von A(x) abnimmt; jedoch wage ich keine Vermutung, ob f¨ ur x gegen Unendlich der Grenzwert 1 oder eine von 1 verschiedene Zahl 175 150 125 100 75 50 25 0
120 100 S x) 80 60 40 20 0 600 800 1000 x
L(x)
200
400
L(x) S (x)
1
2
x
Abb. 15.9. Die Absch¨ atzung von Legendre
150
Li(x) S (x)
100 50 L(x) S (x) 0
1
3 (×106)
2 x
Abb. 15.10. Vergleich zwischen den beiden Absch¨ atzungen
3 (×106)
206
15 Probleme mit Primzahlen
ist. Ich kann nicht sagen, daß irgendeine Berechtigung besteht, einen sehr einfachen Grenzwert zu erwarten. Sehen wir uns die Vergleiche von π(x) im Fall A(x) = 1 an, dann erkennen wir, warum Legendre seinen merkw¨ urdigen Wert 1, 083 66 bevorzugt h¨atte, der sicher das Ergebnis seines wiederholten Herumexperimentierens mit dem Ausdruck gewesen ist. Erst 70 Jahre nach Legendres Tode konnte bewiesen werden, daß sich Legendre auf lange Sicht get¨auscht hatte und daß Gauß zu zaghaft war, denn 1 ist tats¨ achlich der beste Wert. 150 100
3000
x / (ln x 1)
S (x)
50 0
200 400 600 800 1000 x
x / (ln x 1) S (x)
2000 1000 0
2
4
6
8
x
10 (×106)
Abb. 15.11. Der Fall A(x) = 1
¨ Zur Uberlegenheit von L(x) gegen¨ uber Li(x) gab Gauß den Kommentar Diese Unterschiede (zwischen L(x) und π(x)) sind sogar noch kleiner als ” diejenigen, die durch das Integral entstehen, aber sie scheinen mit x schneller zu wachsen, und somit ist es gut m¨ oglich, daß sie diese u ¨bertreffen k¨onnen“. Gauß hatte Recht, sie tun es auf lange Sicht wirklich und es dauerte eine Weile, bis er diese Tatsache beweisen konnte – mehr davon sp¨ater. Enckes eigene Absch¨ atzung steht nicht in dem Brief, aber die Feststellung ist interessant, daß Gauß deren asymptotische Form erkannte: ¨ Im Ubrigen k¨ onnte f¨ ur große x Ihre Formel als mit x ln x − (1/2k) zusammenfallend betrachtet werden, wobei k der modulus der Briggs’schen Logarithmen ist; das heißt mit Legendres Formel, wenn wir A(x) = 1/2k = 1, 1513 setzen. Hiermit scheint er k = log10 e gemeint zu haben. Zusammengefaßt haben wir den Vergleich in den Tabellen 15.4 und 15.5.
15.8 Die harmonische Approximation Ein letzter alternativer Ausdruck l¨ aßt sich aus der Definition des harmonischen Mittels der ersten x ganzen Zahlen ableiten. Wir erinnern uns daran, daß dieses Mittel die Form
15.8 Die harmonische Approximation
207
Tabelle 15.4. Eine Vergleichstabelle x 1 000 10 000 100 000 1 000 000 10 000 000 100 000 000 1 000 000 000 10 000 000 000
π(x) 168 1 229 9 592 78 498 664 579 5 761 455 50 847 534 455 052 511
G(x) 145 1 086 8 686 72 382 620 421 5 428 681 48 254 942 434 294 482
L(x) 172 1 231 9 588 78 543 665 140 5 768 004 50 917 519 455 743 004
Li(x) 178 1 246 9 630 78 628 664 918 5 762 209 50 849 235 455 055 614
Tabelle 15.5. Prozentuale Unterschiede im Vergleich zu π(x) x 1 000 10 000 100 000 1 000 000 10 000 000 100 000 000 1 000 000 000 10 000 000 000
%G(x) −13, 8305 −11, 6569 −9, 4465 −7, 7908 −6, 6446 −5, 7759 −5, 0988 −4, 5617
H = x
%L(x) 2,2027 0,1232 −0, 0375 0,0576 0,0844 0,1137 0,1376 0,1517
%Li(x) 5,9524 1,3832 0,3962 0,1656 0,0510 0,0131 0,0033 0,0007
x
r=1
1/r
hat. Unter Verwendung des Zusammenhangs zwischen dem harmonischen Mittel, ln und γ ergibt sich nun f¨ ur große x der N¨ aherungswert H ≈ x/(ln x − γ) sowie eine weitere Absch¨ atzung des Legendreschen Typs f¨ ur π(x). Das bedeutet, daß sich die Anzahl der Primzahlen bis x durch das harmonische Mittel der ganzen Zahlen bis x approximieren l¨ aßt und Abb. 15.12 zeigt diesen Vergleich. 1200 1000 800 600 400 200 0
200 S (x)
H(x)
150
S (x) H(x)
100 50
2000 4000 6000 8000 10 000 x
0
2000 4000 6000 8000 10 000 x
Abb. 15.12. Die harmonische Absch¨ atzung
208
15 Probleme mit Primzahlen
Die auf S. 139 f¨ ur zwei Zahlen aufgestellte Ungleichung zwischen dem harmonischen und dem geometrischen Mittel l¨ aßt sich m¨ uhelos auf eine beliebige Menge von Zahlen verallgemeinern und liefert dann H < G. Betrachten wir insbesondere die Menge der ersten x ganzen Zahlen, dann bedeutet das x x
r=1 1/r
< (1 × 2 × 3 × · · · × x)1/x = (x!)1/x ,
und bei erneuter Verwendung der logarithmischen Approximation f¨ ur die harmonische Reihe sowie der Stirlingschen N¨ aherungsformel f¨ ur die Fakult¨at (vgl. S. 102) erhalten wir √ x (2π)1/2x x1+1/2x < ( 2πxxx e−x )1/x = . ln x − γ e Gestatten wir uns schließlich den nicht unerheblichen Luxus, die GammaAbsch¨ atzung f¨ ur die Approximation von π(x) zu verwenden, dann haben wir mit π(x)
1 voraus. Dann gilt θ(x) ln p xα 1.
227
(16.1)
Besonders bemerkenswert an dieser Formel ist, daß Li(x) zusammen mit einer einfachen Konstante und einem weiteren jener unhandlichen Integrale auftritt, die f¨ ur beliebig gegebene x mit beliebiger Genauigkeit approximiert werden k¨ onnen; wir erkennen auch eine interessante Reihe, die u ¨ber die unendlich vielen Nullstellen der verallgemeinerten Zeta-Funktion summiert wird. Riemanns Beweisf¨ uhrung war nicht vollkommen streng, und wir machen hier keinen Versuch, diese zu wiederholen. Akzeptieren wir jedoch die mathematische Alchimie“ f¨ urs Erste, dann k¨ onnen wir u ¨ber eine beliebige endliche ” Anzahl von Nullstellen summieren und erhalten dadurch eine Approximatiur beliebige x und den entsprechenden Wertebereich von r. on von Π(x1/r ) f¨ Anschließend verwenden wir den Ausdruck π(x) =
∞ µ(r) r=1
r
Π(x1/r ),
um π(x) zu approximieren. Das scheint ein sehr umst¨andlicher Weg zu sein, aber die Kurven in Abb. 16.5 deuten darauf hin, daß es sich um einen vielversprechenden Weg handelt. Um die Mathematik einsichtig zu machen, ist es notwendig, die Treppenfunktion π(x) an den vertikalen Stufen f¨ ur alle Primzahlen so zu definieren, daß sich die Primzahlen immer im Mittelpunkt der jeweiligen Steigung befinden. Auf diese Weise erkennen wir, daß dieser Prozeß die lokalen Fluktuationen im Verhalten von π(x) ber¨ ucksichtigt. Sehen wir uns n¨amlich denjenigen Beitrag etwas genauer an, den jede der nichttrivialen Nullstellen der ZetaFunktion leistet, dann erkennen wir, daß die k-te Nullstelle den Beitrag
50
(a)
(b) S (x)
S (x)
48 46 44 42 200
210
220
230 x
200
210
230
220 x
Abb. 16.5. Die Riemannsche Approximation der Primzahl-Treppenfunktion mit (a) 10 Gliedern und (b) 200 Gliedern
228
16 Die Riemannsche Initiative
Li(x
ρk r
) + Li(x
ρ∗ k r
)
zur Summe und deswegen den Beitrag Tk (x) =
∞ µ(r)
r
r=1
(Li(x
ρk r
) + Li(x
ρ∗ k r
))
zu π(x) leistet. Die ersten dieser Komponentenfunktionen“ sind in Abb. 16.6 ” zu sehen; man beachte die vertikalen Stufen – die fr¨ uhen Nullstellen leisten einen signifikanteren Beitrag als die sp¨ ateren. Der ganze Prozeß erinnert an die Fourieranalyse und der Zusammenhang ist tats¨achlich tiefgr¨ undig: wir sehen“ ” hier die Musik der Primzahlen“. ” 0.3 0.2 0.1 0
0.2
T1
20
40
60
80
100
T3
40
60
80
100
60
80
100
60
80
100
T4
0.1 20
40
60
80
100
0.075 0.050 0.025 0
20
0.2
0.1 0
0
0.2
T2
0.1
0
20
40
0.06 0.04 0.02 0 100
T30
20
40
60
80
T50
20
40
Abb. 16.6.
16.8 Irrefu ¨ hrende Spuren Ein erneuter Blick auf Abb. 15.8 (vgl. S. 204) zeigt, daß zumindest bis zu 107 die Beziehung Li(x) > π(x) gilt. Diese Beziehung gilt auch weit u ¨ber
16.8 Irref¨ uhrende Spuren
229
den genannten Wert hinaus – in der Tat verh¨ alt es sich so, daß s¨amtliche numerischen Spuren auch gegenw¨ artig darauf hindeuten, daß Li(x) eine obere Schranke von π(x) ist. Gauß war der Meinung, daß die Absch¨atzung korrekt ist. Auch Riemann teilte diese Meinung und schrieb am Schluß seiner bahnbrechenden Arbeit ( Ueber die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen ” Gr¨ osse“): In der That hat sich bei der von Gauss und Goldschmidt vorgenommenen und bis zu x = drei Millionen fortgesetzten Vergleichung von Li(x) mit der Anzahl der Primzahlen unter x diese Anzahl schon vom ersten Hunderttausend an stets kleiner als Li(x) ergeben, und zwar w¨ achst die Differenz unter manchen Schwankungen allm¨ahlich mit x. Li(x) schien zu groß zu sein und Riemann nahm an, daß der Integrallogarithmus eine bessere Approximation f¨ ur eine gewichtete Summe der π(x) und nicht nur f¨ ur π(x) allein darstellt. Explizit dachte Riemann, daß in seinem Ausdruck ∞ 1 π(x1/r ) Π(x) = r r=1 das Π(x) vern¨ unftigerweise durch Li(x) ersetzt werden k¨onne, was zu Li(x) ≈ π(x) + 21 π(x1/2 ) + 31 π(x1/3 ) + · · · f¨ uhren w¨ urde und durch M¨ obius-Inversion π(x) ≈ Li(x) − 12 Li(x1/2 ) − 31 Li(x1/3 ) − · · · erg¨ abe – das heißt einen Ausdruck mit dem dominanten Term Li(x) und einer unendlichen Reihe von Verfeinerungen. Und so h¨atten wir eine endg¨ ultige N¨ aherungsfunktion ∞ µ(r) Li(x1/r ). R(x) = r r=1
Abb. 16.7 zeigt die graphischen Darstellungen dieser endg¨ ultigen Approximation R(x) sowie der Funktion π(x) und der Differenz beider Funktionen. Diese Darstellungen n¨ ahren die Hoffnung, daß es sich um eine Verbesserung f¨ ur alle x handelt, und f¨ ur den entsprechenden Nachweis ben¨otigen wir offensichtlich die Beziehung Li(x) > π(x). Ungl¨ ucklicherweise gilt diese jedoch nicht uneingeschr¨ ankt. Das Motto zu Beginn von Kapitel 7 stammt aus der Feder von Godfrey Harold Hardy, den wir bereits mehrfach erw¨ ahnt hatten. Hardy war ein vielseitiger, begnadeter, bescheidener und einflußreicher Mathematiker, der nicht nur aufgrund seiner eigenen tiefgr¨ undigen und individuellen Beitr¨age zur Zahlentheorie bekannt war, sondern insbesondere auch wegen seiner Zusammenarbeit mit seinem bedeutenden Zeitgenossen John Edensor Littlewood (1885–1977). Eine treffende und elegante Kurzbiographie von Littlewood erschien 1971/72 in der Zeitschrift Mathematical Spectrum:
230
16 Die Riemannsche Initiative
150
R(x) 100
0
0
S (x)
50
R(x) x S
200
400
600
200
400
600
800
x
800
1000 x
1000
Abb. 16.7. Die Riemannsche Absch¨ atzung
Fellow of The Royal Society und Tr¨ ager der Copley-Medaille, Ehrendoktor oder Mitglied zahlreicher Universit¨aten und Akademien, hervorragender mathematischer Analytiker seiner Generation. Geburtsjahr 1885, Fellow of Trinity College Cambridge seit 1908 und Rouse Ball Professor of Mathematics von 1928 bis 1950. Littlewoods Arbeiten zur Analysis und zur Zahlentheorie, von denen er mehr als 100 gemeinsam mit G. H. Hardy verfaßte, sind von u ¨berraschender Durchschlagskraft und f¨ ur gew¨ ohnliche Sterbliche geradezu u urlich. ¨bernat¨ Hardy stimmte dem zu: ... ich kannte keinen anderen, der u ¨ber eine derartige ” Kombination von Scharfblick, Technik und F¨ ahigkeiten verf¨ ugte ...“. Noch romantischer ist, daß Hardy und Littlewood f¨ ur immer mit dem Namen des genialen indischen Mathematikers Srinivasa Ramanujan (1887–1920) verbunden sind. Robert Karnigel erz¨ ahlt die Geschichte dieser ungew¨ohnlichen Verbindung in seinem Buch Der das Unendliche kannte ([77]). Ein typisches Beispiel f¨ ur eines der außergew¨ ohnlichen Ergebnisse von Ramanujan ist eine exakte Formel f¨ ur die Ableitung von π(x), mit der wir bereits an fr¨ uherer Stelle intuitiv gearbeitet hatten. Er bewies ∞
1 µ(r) 1/r dπ(x) = x , dx x ln x r=1 r wobei die Ableitung der Treppenfunktion mit Hilfe des u ¨blichen Grenzwerts definiert ist. Alle drei Mathematiker hatten ein tiefes Interesse an Zahlentheorie im Allgemeinen und insbesondere am Primzahlsatz. Littlewood bewies 1914, daß π(x) an einer gewissen Stelle die Funktion Li(x) u ¨berschreitet und daß sich die beiden Funktion von dieser Stelle an unendlich oft abwechseln“, das heißt ” mal ist die eine Funktion gr¨ oßer, mal die andere. Das bedeutet nat¨ urlich, daß die Funktion R(x) an diesen Stellen nicht die exakte Approximation ist, die wir erwarten w¨ urden. Ingham gab in seinem Buch The Distribution of Prime Numbers ([74]) folgenden Kommentar: Diese Funktion R(x) approximiert ” π(x) mit einer erstaunlichen Genauigkeit f¨ ur alle Werte von x, f¨ ur die π(x) ausgerechnet worden ist“. Aber – so f¨ ahrt Ingham mit Blick auf das Ergebnis
16.9 Von Mangoldts explizite Formel und der Primzahlsatz
231
¨ von Littlewood fort – die Uberlegenheit von R(x) u ¨ber die Funktion Li(x) ” ist illusorisch“ und f¨ ur spezielle (beliebig große) Werte von x weicht die eine ” Approximation (Li(x)) vom korrekten Wert genauso weit ab, wie die andere (R(x))“. Auf der positiven Seite r¨ aumt Ingham aber auch ein, daß im Mittel“ ” der erste Teil von R(x), das heißt Li(x) − 21 Li(x1/2 ) eine bessere N¨aherungsformel f¨ ur π(x) darstellt, als Li(x) allein – zumindest dann, wenn das richtig ist, was man als Riemannsche Vermutung bezeichnet. Eine offensichtliche Frage ist die folgende: Was ist der kleinste Wert von x f¨ ur den π(x) > Li(x)? Auf diese Frage gibt es keine definitive Antwort. Littlewood bewies in der gleichen Arbeit auch, daß die asymptotischen Schwankungen der Differenz der beiden √ Funktionen mindestens von der Ordnung Li( x) ln ln ln x sind, aber er gab keinen expliziten Sch¨ atzwert daf¨ ur, wo ungef¨ ahr der erste Vorzeichenwechsel stattfindet. Sp¨ ater zeigte Stanley Skewes, ein Sch¨ uler von Littlewood, daß dieser Vorzeichenwechsel vor der Zahl 1010
1034
erfolgt, die unter dem Namen Skewes-Zahl“ bekannt wurde und seinerzeit die ” gr¨ oßte jemals definierte n¨ utzliche“ Zahl war (heute wird sie von der Graham” ” schen Zahl“ in den Schatten gestellt, die in der Kombinatorik eine Rolle spielt). Im Jahr 2000 verbesserten Carter Bays und Richard Hudson die Schranke: sie zeigten, daß der erste Vorzeichenwechsel bereits vor 1, 398 22 × 10316 stattfindet. Das ist eine Zahl, die immer noch weit außerhalb der Reichweite der heutigen rechnerischen M¨ oglichkeiten liegt.
16.9 Von Mangoldts explizite Formel und der Primzahlsatz Es blieb anderen vorbehalten, Riemanns Ideen mit der letztlich erforderlichen mathematischen Strenge umzusetzen und in diesem Fall war es von Mangoldt1 , der nicht nur einen exakten Beweis der Riemannschen Gleichung (16.1) gab, sondern auch einen ¨ ahnlichen Ausdruck f¨ ur die auf S. 212 beschriebene Funktion ψ lieferte, welche die Funktion Π(x) bei den Untersuchungen zum Primzahlsatz sozusagen u ¨berholt hat. Wir wollen uns diesen Ausdruck etwas eingehender anschauen. Die komplexe Form der Eulerschen Identit¨ at ist 1
Hans von Mangoldt (1854–1925) studierte Mathematik bei Weierstraß und Kummer und promovierte 1878. Danach war er Mathematiklehrer in Straßburg. Er habilitierte sich bei Ferdinand von Lindemann an der Universit¨ at Freiburg und wurde 1894 auf einen Lehrstuhl der Universit¨ at Hannover berufen. Besonders bekannt wurde von Mangoldt durch sein mehrb¨ andiges Lehrbuch Einf¨ uhrung in die h¨ ohere Mathematik, das nach seinem Tod von Konrad Knopp (1882–1957) weitergef¨ uhrt wurde.
232
16 Die Riemannsche Initiative
ζ(z) =
p prim
1 , 1 − p−z
und diese gilt f¨ ur Re(z) > 1. Somit haben wir
ln ζ(z) = ln
p prim
=−
p prim
1 ln(1 − p−z ) = − 1 − p−z p prim
−z ln p
ln(1 − e
).
Differenzieren nach z liefert ∞ e−z ln p ln p p−z ln p ζ ′ (z) ln p =− = − = − . ζ(z) 1 − e−z ln p 1 − p−z prz p prim p prim
p prim
(16.2)
r=1
Nach dem letzten Gleichheitszeichen steht hier die Summe einer unendlichen geometrischen Reihe. Unter Verwendung der Form ψ(x) ∼ x des Primzahl satzes und der Definition ψ(x) = pr x ln p versuchen wir naturgem¨aß, den logarithmischen Bestandteil aus der rechten Seite von Gleichung (16.2) zu extrahieren, was sich mit Hilfe des geschlossenen Kurvenintegrals bewerkstelligen l¨ aßt: ⎧
c+i∞ z ⎨ 0, falls 0 < y < 1, y 1 dz = 21 , falls y = 1, ⎩ 2πi c−i∞ z 1, falls y > 1,
wobei c eine passend gew¨ ahlte reelle Zahl ist. Wer sich in der Fourier-Analyse ¨ auskennt, dem wird hier eine Ahnlichkeit der Techniken auffallen. Man kann ¨ diese Ahnlichkeit folgendermaßen beschreiben: die Fourier-Analyse findet die Harmonie der T¨ one und die obige Technik findet die Harmonie der Primzahlen. Multiplizieren wir beide Seiten des Ausdrucks (16.2) mit xz /z, dann ergibt sich nach Umordnung z ∞ ∞ x ln p ζ ′ (z) xz xz ln p = = − z p prim prz pr z ζ(z) z p prim r=1
r=1
und deswegen erhalten wir nach Integration beider Seiten l¨angs der geschlossenen Kurve die folgenden Beziehungen: 1 2πi ∞
c+i∞
c−i∞
1 ln 2πi p prim r=1
z
c+i∞ ∞ x ζ ′ (z) xz ln p 1 dz = dz, − pr z 2πi c−i∞ ζ(z) z p prim r=1
c+i∞
c−i∞
x pr
z
1 1 dz = z 2πi
c+i∞
c−i∞
−
ζ ′ (z) xz dz. ζ(z) z
16.9 Von Mangoldts explizite Formel und der Primzahlsatz
233
Setzen wir y = x/pr , dann ergibt sich ∞
1 ln p 2πi p prim
c+i∞
c−i∞
r=1
und ψ(x) =
∞
1 yz dz = z 2πi
ln p =
pr <x r
1 2πi
c+i∞
c−i∞
c+i∞
c−i∞
−
−
ζ ′ (z) xz dz ζ(z) z
ζ ′ (z) xz dz, ζ(z) z
denn p > x w¨ are gleichbedeutend mit y < 1 und damit, daß der Beitrag des Integrals gleich 0 ist. Die Zahl x darf keine Primzahlpotenz sein. Das noch verbleibende geschlossene Kurvenintegral wird mit Hilfe der Residuentheorie berechnet und s¨ amtliche Integrale m¨ ussen addiert werden, um die Antwort zu erhalten. Am besten denkt man sich das Integral in vier verschiedene Residuenkategorien aufgeteilt (vgl. Tabelle 16.2). Tabelle 16.2. Die vier Typen von Residuen Singularit¨ at 0
Grund
Residuum = ln 2π
1
Pol von ζ
− x1 = −x
−2, −4, −6, −8, . . .
Triviale Nullstellen von ζ
1 −2 1 −4 1 −6 1 −8 x , 4x , 6x , 8x ,... 2
ρ
Nichttriviale Nullstellen von ζ
xρ ρ
xz z
ζ ′ (0) ζ(0)
1
Einmal mehr tritt die Taylorentwicklung f¨ ur ln auf, diesmal als 1 −2 2x
+ 14 x−4 + 16 x−6 + 81 x−8 + · · · =
1 2
ln(1 − x−2 ),
und wir haben deswegen ψ(x) = x − ln(2π) −
1 2
ln(1 − x−2 ) −
xρ , ρ
ζ(ρ)=0
wobei sich die Summe u ¨ber die nichttrivialen Nullstellen erstreckt, das heißt es ¨ handelt sich um ein Aquivalent des Riemannschen Ausdrucks f¨ ur Π(x). Diese Formel ist als die von Mangoldtsche explizite Formel bekannt: von Mangoldt bewies sie 1895 ([96]) – es ist eine der wichtigsten Formeln der analytischen Zahlentheorie. Auf den ersten Blick sieht es widerspr¨ uchlich aus, daß auf der linken Seite eine reelle Funktion steht, die sich teilweise aus einer unendlichen Summe von komplexen Zahlen zusammensetzt; aber die Wurzeln treten in konjugierten Paaren auf, so daß sich insgesamt ein reeller Wert ergibt. Nun erkennen wir den Zusammenhang zwischen dem Primzahlsatz und den Nullstellen von ζ. Schreiben wir ρ = u + iv, dann w¨ urden |xρ | = xu und
234
16 Die Riemannsche Initiative
u < 1 bedeuten, daß mit x → ∞ jedes Fehlerglied in der Reihe von einer Ordnung kleiner als x w¨ are. Dies wiederum w¨ urde (unter Verwendung einer mathematisch etwas strengeren Formulierung) bedeuten, daß ψ(x)/x → 1 strebt, so wie es gefordert war. Das heißt, w¨ are der Realteil der nichttrivialen Nullstellen der verallgemeinerten Zeta-Funktion kleiner als 1, dann w¨ urde der Primzahlsatz folgen. Und diesen hatten, wie oben bereits bemerkt, de la Vall´ee Poussin und Hadamard unabh¨ angig voneinander bewiesen.
16.10 Die Riemannsche Vermutung Riemann definierte in seiner Arbeit eine mit ζ zusammenh¨angende Funktion ξ durch ξ(w) = π −z/2 (z − 1)Γ ( 12 z + 1)ζ(z),
wobei z = 21 + iw. Warum tat er das? Weil sich diese Funktion leichter handhaben l¨ aßt als ζ(z). Das (z − 1) eliminiert das Problem, das f¨ ur ζ(z) bei z = 1 bestand (auf S. 53 hatten wir erw¨ ahnt, daß (z − 1)ζ(z) → 1 f¨ ur z → 1 und somit ist ξ analytisch in der ganzen komplexen Ebene). Es l¨aßt sich auch unschwer u ufen, daß ξ(z) = ξ(1 − z) gilt, und aufgrund der Definition ist ¨berpr¨ klar, daß die Menge der Nullstellen von ξ mit der Menge der Nullstellen von ζ u ¨bereinstimmt. Mehr noch wiegt, daß die Aussage, daß alle nichttrivialen Nullstellen von ζ in 0 < Re(z) < 1 liegen, folgendes bedeutet: Schreiben wir ξ(w) = ξ(u + iv) = 0, dann gilt ζ(z) = 0, wobei z = ( 12 − v) + iu; somit haben wir 0 < 12 − v < 1 und deswegen − 21 < v < 12 . Das heißt, die Nullstellen von ξ m¨ ussen Imagin¨ arteile haben, die zwischen − 12 und 12 liegen. Wegen der Symmetrie der Nullstellen von ζ m¨ ussen wir nur diejenigen betrachten, die einen positiven Imagin¨ arteil haben. Das impliziert u > 0 und deswegen Re(w) > 0. Damit erhalten wir das Gebiet, das in Abb. 16.8 dargestellt ist. Riemann argumentierte – wiederum vage –, daß ungef¨ahr T T T ln − 2π 2π 2π der Nullstellen in einem derartigen Rechteck liegen, und als Test berechnete er die reellen Nullstellen. Dabei fand er, daß deren Anzahl mit dem Wert der Z¨ ahlfunktion nahezu u ¨bereinstimmte, und dieser Umstand ließ wenig Raum f¨ ur andere Dinge. Riemann gab folgenden Kommentar: Man findet nun in ” der That etwa so viel reelle Wurzeln innerhalb dieser Grenzen, und es ist sehr wahrscheinlich, dass alle Wurzeln reell sind“. Ist das der Fall, dann muß der Realteil der Nullstellen von ζ gleich 12 sein. Riemann setzte seine Bemerkungen folgendermaßen fort: Hiervon w¨are allerdings ein strenger Be” weis zu w¨ unschen; ich habe indess die Aufsuchung desselben nach einigen fl¨ uchtigen vergeblichen Versuchen vorl¨ aufig bei Seite gelassen, da er f¨ ur den n¨ achsten Zweck meiner Untersuchung entbehrlich schien“. Das bringt uns zu der ber¨ uhmten Riemannschen Vermutung.
16.10 Die Riemannsche Vermutung
235
Im w
i
0
Re w
i
T Abb. 16.8. Veranschaulichung der fr¨ uhen“ Nullstellen von ξ ”
Die Riemannsche Vermutung Alle nichttrivialen Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion haben den Realteil 12 Unter Bezugnahme auf Abb. 16.4 (vgl. S. 226) bedeutet das, daß die Nullstellen alle auf der Symmetriegeraden des kritischen Streifens und nur dort liegen. Die beiden graphischen Darstellungen in Abb. 16.9 zeigen das fr¨ uhe Verhalten der Funktion |ζ(z)| f¨ ur Punkte auf der kritischen Geraden z = 12 + xi und f¨ ur Punkte auf der parallelen Geraden z = 31 + xi. Die Abbildungen zeigen auch, daß ζ(z) sehr viele Nullstellen beim Beginn“ der vertikalen Geraden ” Re(z) = 12 hat, aber keine Nullstellen auf Re(z) = 13 , obwohl die Zeta-Funktion dieser Geraden gef¨ ahrlich nahe kommen kann, wie man in der N¨ahe des Punktes 31 + 14i sieht. Die graphische Darstellung von 1/|ζ(z)| in Abb. 16.10 offenbart eine weitere Sicht auf die nichttrivialen Nullstellen, die in Form von Spitzen entlang uhren dagegen zu der Geraden Re(z) = 12 auftreten. Die trivialen Nullstellen f¨ dem Berg“ auf der linken Seite. ” Ganz nebenbei“ bewies Hadamard die ¨ außerst befriedigende Form ” z z/ρ −Az 1− e , ξ(w) = −e ρ ζ(ρ)=0
wobei A = − 12 γ − 1 +
1 2
ln 4π.
236
16 Die Riemannsche Initiative
|M (z)|
3.5 3.0 2.5 2.0 1.5 1.0 0.5 0
|M (z)|
4
(a)
(b)
3 2 1 0
10
20
30
40
x
50
Abb. 16.9. Das Verhalten von Zeta auf der kritischen Geraden und in deren N¨ ahe. (a) z = 12 + xi; (b) z = 31 + xi
5 1/ |] (z)|
1 i
x 0
10i
20i y
30i
40i
Abb. 16.10. Eine dreidimensionale Ansicht der fr¨ uhen“ Nullstellen von Zeta ”
16.11 Warum ist die Riemannsche Vermutung wichtig? Die Riemannsche Vermutung besagt, daß alle nichttrivialen Nullstellen der Zeta-Funktion den Realteil 21 haben – eine weit st¨arkere Bedingung als diejenige, die f¨ ur den Beweis des Primzahlsatzes erforderlich war. Diese schw¨achere Bedingung setzte lediglich voraus, daß keine der nichttrivialen Nullstellen den Realteil 1 hat. Die unmittelbare Bedeutung der Vermutung besteht in der Messung der Fehlergr¨ oße bei der Approximation von π(x) durch Li(x). Aber die Vermutung ist sehr viel weitreichender – sie geht in die tiefsten Tiefen der Mathematik und wirkt sich auch auf den Fehler in vielen wichtigen asymptotischen Formeln aus: beispielsweise impliziert die Riemannsche Vermutung
16.12 Reelle Alternativen
237
eine schw¨ achere Form der Goldbachschen Vermutung. Diese schw¨achere Form besagt, daß jede ungerade Zahl die Summe dreier Primzahlen ist. Fieldsmedaillentr¨ ager Enrico Bombieri2 gab folgenden Kommentar: Die Unrichtigkeit ” der Riemannschen Vermutung w¨ urde zu einem Chaos bei der Verteilung der Primzahlen f¨ uhren“. Die Riemannsche Vermutung hat mit der Fehlergr¨oße bei der Approximation von ψ(x) durch x zu tun, und deswegen spielt sie auch beim Fehler der Approximation von π(x) durch Li(x) eine Rolle. Genauer gesagt, bewies von Koch3 im Jahr 1901 folgende Aussage (vgl. [87]): Ist die Riemannsche Vermutung richtig, dann w¨ urde die bekannte Absch¨atzung √ √ −c ln x π(x) = Li(x) + O(xe ) zu π(x) = Li(x) + O( x ln x) werden. Letztere ließe sich nach Bombieri kaum noch verbessern, da Littlewood ja bewiesen hatte, √ daß der Oszillationsgrad von π(x) − Li(x) asymptotisch von der Ordnung Li( x)×ln ln ln x ist. Abb. 16.11 vermittelt eine Vorstellung vom Unterschied zwischen den Fehlergr¨ oßen mit und ohne Voraussetzung der Richtigkeit der Riemannschen Vermutung. Der Beweis der Riemannschen Vermutung wurde in der Folge zum gr¨oßten Problem der Mathematik – die besten Mathematiker des 20. Jahrhunderts haben sich daran versucht, dabei aber kaum signifikante Fortschritte erzielt.
600 000 500 000
S (x)
400 000 300 000
xe
200 000 100 000
ln x
x ln x 2 × 106
4 × 106 6 × 106
8 × 106 × x
Abb. 16.11. Der Unterschied, den die Riemannsche Vermutung ausmacht
16.12 Reelle Alternativen Der Eindeutigkeitssatz gibt uns die Freiheit, die Definition von Zeta nach Belieben zu verallgemeinern und hierzu wurden verschiedene Methoden verwendet, einschließlich der Euler–Maclaurinschen Summenformel. Riemann verwendete nat¨ urlich das Kurvenintegral l¨ angs einer geschlossenen Kurve, was 2
3
Enrico Bombieri, geb. 1940 in Mailand, erhielt die Fields-Medaille 1974 auf dem Internationalen Mathematikerkongreß in Vancouver. Helge von Koch (1870–1924), schwedischer Mathematiker.
238
16 Die Riemannsche Initiative
eine Menge u ¨ber die Natur der verallgemeinerten Funktion aussagt. Eine weitere Methode verwendet die verallgemeinerte alternierende harmonische Reihe, die sogenannte alternierende Zeta-Funktion“, die durch ” ∞ (−1)r , ζa (z) = rz r=1 definiert ist und in dem gr¨ oßeren Gebiet Re(z) > 0 konvergiert. Das l¨ aßt sich in der Form 1 1 1 1 + z − z + z + ··· 2z 3 4 5 1 1 1 1 1 = 1 + z + z + z + z + ··· − 2 z + 2 3 4 5 2 1 1 1 1 2 = 1 + z + z + z + z + ··· − z 1 + 2 3 4 5 2
ζa (z) = 1 −
1 1 + z + ··· 4z 6 1 1 + z + ··· 2z 3
schreiben und somit haben wir ζa (z) = ζ(z) −
1 ζ(z). 2z−1
Das wiederum liefert ζ(z) =
∞ (−1)r 1 ζa (z) = 1 − 21−z 1 − 21−z r=1 rz
(16.3)
und ist f¨ ur Re(z) > 0 definiert. Die Verallgemeinerung wird durch eine weitere Technik von Euler vervollst¨ andigt, n¨ amlich durch die Eulersche Reihentransformation“, die zu dem ” Ergebnis ∞ r 1 1 k r (k + 1)−z (−1) ζ(z) = k 1 − 21−z r=0 2r+1 k=0
f¨ ur z = 1 f¨ uhrt. Das scheint Lichtjahre von der Form mit Kurvenintegral l¨angs einer geschlossenen Kurve entfernt zu sein – erinnern wir uns jedoch an den Eindeutigkeitssatz f¨ ur analytische Fortsetzungen! Wir k¨onnen die Verallgemeinerung (16.3) dazu verwenden, eine verlockend einfache Umformulierung der Riemannschen Vermutung zu geben, bei der u ¨berhaupt keine komplexen Zahlen auftreten. Mit Hilfe von Standardmethoden erhalten wir rz = ra+ib = ra rib = ra eib ln r = ra (cos(b ln r) + i sin(b ln r)) und somit gilt
1 1 = a (cos(b ln r) − i sin(b ln r)), z r r
16.13 Ein indirekter Weg zur Unsterblichkeit – teilweise verschlossen
239
das heißt ζ(z) = 0 ⇔ ⇔
∞ (−1)r r=1 ∞ r=1
rz
=0
(−1)r (cos(b ln r) − i sin(b ln r)) = 0. ra
Gleichsetzen der Realteile und der Imagin¨ arteile liefert uns die sehr verlockende Neuformulierung: Gilt
∞
r=1
(−1)r ra
cos(b ln r) = 0 und
∞
r=1
(−1)r ra
sin(b ln r) = 0
f¨ ur ein Paar reeller Zahlen a und b, dann ist a = 21 .
Der Leser m¨ oge das unter Verwendung der fr¨ uhen Nullstellen u ufen, die ¨berpr¨ wir in Tabelle 16.1 auf S. 226 angegeben hatten. Es ist merkw¨ urdig, daß sich das ber¨ uhmteste ungel¨ oste Problem der Mathematik so formulieren l¨aßt, daß nur die einfachsten mathematischen Begriffe auftreten: Summation, Trigonometrie, Logarithmen und nat¨ urlich auch – falls die Vermutung wahr ist – das √ Zeichen von Christof Rudolff. Es klingt alles so einfach und ist dennoch so unerreichbar! Es gibt auch andere ¨ aquivalente reelle Formulierungen der Riemannschen Vermutung. Zum Beispiel m¨ ussen asymptotisch die exakten Werte der ganzen Zahlen ⌊Li(x)⌋ und π(x) in Bezug auf ungef¨ahr“ die H¨alfte ihrer Stellen ” u ¨bereinstimmen. Bezeichnet σ(n) die Summe der Teiler von n, dann besagen weitere ¨ aquvalente Formulierungen der Riemannschen Vermutung, daß σ(n) < ur n 1, wobei ur n 5041 oder daß σ(n) Hn + eHn ln Hn f¨ eγ n ln ln n f¨ die Gleichheit nur f¨ ur n = 1 besteht. Wir beschr¨anken uns darauf, eine der ber¨ uhmteren Umformulierungen ausf¨ uhrlicher zu betrachten.
16.13 Ein indirekter Weg zur Unsterblichkeit – teilweise verschlossen Jede ganze Zahl l¨ aßt sich als Produkt einer Quadratzahl und einer quadratfreien Zahl schreiben, und im Kapitel 3 hatten wir gesehen, wie Erd˝ os diese einfache Tatsache ¨ außerst nutzbringend anwendete. Nat¨ urlich trifft f¨ ur jede spezielle ganze Zahl eine der folgenden M¨ oglichkeiten zu: entweder l¨aßt sie sich als Produkt von Quadratzahlen und quadratfreien Zahlen schreiben (z.B. 23 × 35 × 7 × 112 = (2 × 32 × 11)2 (2 × 3 × 7)), oder sie ist ein vollst¨andiges Quadrat (z.B. 36 × 54 × 132 = (33 × 52 × 13)2 ), oder sie ist quadratfrei (z.B. 2 × 5 × 13 × 17). Die bereits fr¨ uher genannte M¨ obiusfunktion µ wird dazu verwendet, zwischen den m¨ oglichen Faktorisierungstypen zu unterscheiden. Wir geben hier nochmals die Definition der M¨ obiusfunktion: µ(1) = 1 und
240
16 Die Riemannsche Initiative
⎧ ⎨ 0, µ(r) = 1, ⎩ −1,
falls r einen wiederholt auftretenden Faktor hat, falls r eine gerade Anzahl von Primfaktoren hat, falls r eine ungerade Anzahl von Primfaktoren hat.
Wir wollen nun die Gesamtheit der quadratfreien ganzen Zahlen betrachten. Wir machen die durchaus vern¨ unftige Annahme, daß der Allm¨achtige die quadratfreien Zahlen ziemlich gleich verteilt hat, so daß µ die Werte +1 und −1 gleich oft annimmt. Tats¨ achlich l¨ aßt sich zeigen, daß P (µ(r) = 1) = P (µ(r) = −1) = 3/π 2 und deswegen auch P (µ(r) = 0) = 1−6/π 2 gilt, was dieser allgegenw¨ artigen Zahl ein endg¨ ultiges Erscheinungsbild gibt. Nach diesen Ausf¨ uhrungen w¨ urden wir bei der Z¨ ahlung eine gewisse Schwankung erwarten, wenn wir uns entlang der Liste der ganzen Zahlen bewegen – genauso, wie wir Schwankungen bei der Genauigkeit der Approximation von π(x) durch Li(x) oder bei irgendeiner anderen asymptotischen Approximation erwartet hatten. Aber wie groß sind diese Schwankungen voraussichtlich? Ihre Gr¨ oße wird durch den absoluten Betrag der Mertensschen Funktion M (x) = rx µ(r) gemessen, die in Abb. 16.12 dargestellt ist. M(x)
2000
4000
6000
8000
10000 x
Abb. 16.12. Die Mertenssche Funktion
Das Verhalten der Funktion ist offensichtlich erratisch, aber dennoch behauptete Thomas Stieltjes (1856–1894), der Vater der analytischen Theorie ” der Kettenbr¨ uche“ im Jahr 1885 in einem Brief an Charles Hermite (1822– 1901), mit dem er eine intensive Korrespondenz hatte, daß M (x)x−1/2 unabh¨ angig von x zwischen zwei festen Schranken bleibt. Und er f¨ ugte (in Klammern) hinzu, daß es sich bei den Schranken wahrscheinlich um +1 und −1 han√ delt. Stieltjes vermutete also, daß |M (x)| < x gilt. Mertens4 ver¨offentlichte 1897 (vgl. [100]) eine Arbeit, die eine 50 Seiten lange Tabelle mit den Werten von µ(r) und M (r) f¨ ur r bis 10 000 enthielt; auf dieser evidenzbasierten Grundlage behauptete er, daß die von Stieltjes gegebene st¨arkere Absch¨atzung sehr wahrscheinlich“ sei und somit ging die Ungleichung ” √ ur x > 1 |M (x)| < x f¨ 4
Franz Carl Joseph Mertens (1840–1927) promovierte 1864 in Berlin und war danach Professor in Krakau, Graz und Wien.
16.13 Ein indirekter Weg zur Unsterblichkeit – teilweise verschlossen
241
als Mertenssche Vermutung“ in die Mathematik ein. In einer Reihe von Ar” beiten um die Jahrhundertwende ver¨ offentlichte von Sterneck die Werte von M (r) f¨ ur r bis zu 1 000 000 und a ußerte auf dieser Grundlage, daß die st¨arkere ¨ √ ur x > 200 gilt. Vermutung |M (x)| < 0, 5 x f¨ Der Beweis von Stieltjes ist nicht erschienen, denn die Behauptung ist falsch. Das bedeutet, daß auch die von Sternecksche Behauptung falsch ist und es kann sogar sein, daß auch die schw¨ acheren Formen mit gr¨oßeren Schranken nicht zutreffen. Erst 1963 wurde die st¨ arkere Form der Behauptung widerlegt: Gerhard Neubauer fand heraus, daß f¨ ur x = 7 725 038 629 die Schranke 0,5 verletzt ist, nicht aber die Schranke 1. Und erst 1985 wurde die urspr¨ ungliche Vermutung ins Jenseits bef¨ ordert: A.M. Odlyzko und H.J.J. te Riele bewiesen, daß irgendwann einmal die positive und die negative Schranke durchbrochen wird. Bei dem erratischen Verhalten der Funktion ist es kaum u ¨berraschend, daß sie ihr Ergebnis mit Hilfe der Ideen von S. 132 formulierten; genauer gesagt, zeigten sie, daß M (x) lim sup √ > 1, 06 x x→∞
und
M (x) lim inf √ < −1, 009. x→∞ x
Ihr Beweis war ein reiner Existenzbeweis und lieferte keine Absch¨atzung, ganz zu schweigen von einem Wert f¨ ur ein derartiges x. Im gleichen Jahr bewies J´ anos Pintz, daß das erste Gegenbeispiel kleiner als 3, 21 × 1064 ist – zweifellos eine große Zahl, aber man denke nur an die Skewes-Zahl und an die Grahamsche Zahl! Es ist ein Jammer, aber wir sind einmal mehr Zeugen dessen, wie die Intuition von der numerischen Evidenz in die Irre gef¨ uhrt wird: ein paar Millionen, ein paar Milliarden, ein paar Trillionen ... das ist hier alles nicht von Bedeutung. In der Zahlentheorie kann groß“ wirklich GRROOOSSS bedeuten! ” Aber was hat urde √das nun mit der Riemannschen Vermutung zu tun? Sie w¨ x folgen. Tats¨ a chlich w¨ u rde die Richtigkeit von |M (x)| < aus |M (x)| < √ ur eine beliebige Konstante C bedeuten, daß auch die Riemannsche C x f¨ Vermutung richtig ist – aber das ist eine offene Frage. Es ist also kein Wunder, daß die Vermutung auf ein derartiges Interesse gestoßen ist, daß zwei ihrer speziellen Formen widerlegt worden sind. Die Zeta-Funktion h¨ angt eng mit der M¨ obiusfunktion zusammen, denn es gilt ∞ µ(r) 1 = f¨ ur Re(z) > 1. ζ(z) r=1 rz Wir werden diese Tatsache hier nicht beweisen – es handelt sich um ein weiteres Standardresultat der Zahlentheorie. Mit diesem Ergebnis und mit einem letzten Blick auf die Theorie der komplexen Funktionen erkennen wir diesen verlockenden Zusammenhang, falls wir M (0) = 0 definieren: ∞
∞
µ(r) M (r) − M (r − 1) 1 = = ζ(z) rz rz r=1 r=1
242
16 Die Riemannsche Initiative
=
∞ M (r) r=1 ∞
rz
−
∞ M (r − 1) r=1
rz
=
∞ M (r) r=1 ∞
rz
−
∞ M (r) (r + 1)z r=1
r+1 1 z 1 M (r) z − M (r) dx = z z+1 r (r + 1) x r r=1 r=1
∞ ∞ r+1 M (x) M (x) dx = z dx, =z z+1 x xz+1 1 r=1 r
=
denn M (x) ist konstant auf jedem Intervall [r, r + 1). 0.4 0.2 0
2000
4000
6000
8000
10000
x
M (x) x
Abb. 16.13. Fr¨ uhe Anzeichen f¨ ur die Stieltjessche Vermutung
Ist die Mertenssche Vermutung richtig, dann gilt √ M (x) C x C 1 C 1 C 1 kon1 vergieren, die Re(z) > 2 bedeutet. Ist das der Fall, dann w¨ urde dadurch eine Funktion definiert werden, die analytisch f¨ ur Re(z) > 21 ist. Das wiederum erg¨ abe eine analytische Fortsetzung der Funktion 1/ζ(z) von Re(z) > 1 (in der urspr¨ unglichen Formel) auf Re(z) > 21 . Da ist er wieder, dieser Taschenspielertrick! Das w¨ urde bedeuten, daß 1/ζ(z) f¨ ur Re(z) > 12 definiert ist und deswegen kann ζ(z) dort keine Nullstellen haben. Aus Symmetriegr¨ unden k¨onnte ζ(z) dann auch keine Nullstellen f¨ ur Re(z) < 21 haben, das heißt die Nullstellen m¨ ussen alle auf Re(z) = 12 liegen – und das ist nat¨ urlich die Riemannsche Vermutung!
16.14 Ansporn – damals und heute Vortrag Mathematische Probleme gehalten auf dem Internationalen Mathematikerkongreß zu Paris 1900 von David Hilbert
16.14 Ansporn – damals und heute
Wer von uns w¨ urde nicht gern den Schleier l¨ uften, unter dem die Zukunft verborgen liegt, um einen Blick zu werfen auf die bevorstehenden Fortschritte unserer Wissenschaft und in die Geheimnisse ihrer Entwicklung w¨ ahrend der k¨ unftigen Jahrhunderte! Welche besonderen Ziele werden es sein, denen die f¨ uhrenden mathematischen Geister der kommenden Geschlechter nachstreben? Welche neuen Methoden und neuen Tatsachen werden die neuen Jahrhunderte entdecken – auf dem weiten und reichen Felde mathematischen Denkens? Die Geschichte lehrt die Stetigkeit der Entwicklung der Wissenschaft. Wir wissen, daß jedes Zeitalter eigene Probleme hat, die das kommende Zeitalter l¨ ost oder als unfruchtbar zur Seite schiebt und durch neue Probleme ersetzt. Wollen wir eine Vorstellung gewinnen von der mutmaßlichen Entwicklung mathematischen Wissens in der n¨achsten Zukunft, so m¨ ussen wir die offenen Fragen vor unserem Geiste passieren lassen und die Probleme u ¨berschauen, welche die gegenw¨artige Wissenschaft stellt und deren L¨ osung wir von der Zukunft erwarten. Zu einer solchen Musterung der Probleme scheint mir der heutige Tag, der an der Jahrhundertwende liegt, wohl geeignet; denn die großen Zeitabschnitte fordern uns nicht bloß auf zu R¨ uckblicken in die Vergangenheit, sondern sie lenken unsere Gedanken auch auf das unbekannte Bevorstehende. Die hohe Bedeutung bestimmter Probleme f¨ ur den Fortschritt der mathematischen Wissenschaft im allgemeinen und die wichtige Rolle, die sie bei der Arbeit des einzelnen Forschers spielen, ¨ ist unleugbar. Solange ein Wissenszweig Uberfluß an Problemen bietet, ist er lebenskr¨ aftig; Mangel an Problemen bedeutet Absterben oder Aufh¨ oren der selbst¨ andigen Entwicklung. Wie u ¨berhaupt jedes menschliche Unternehmen Ziele verfolgt, so braucht die mathematische Forschung Probleme. Durch die L¨ osung von Problemen st¨ahlt sich die Kraft des Forschers: er findet neue Methoden und Ausblicke, er gewinnt einen weiteren und freieren Horizont. Es ist schwierig und oft unm¨ oglich, den Wert eines Problems im voraus richtig zu beurteilen; denn schließlich entscheidet der Gewinn, den die Wissenschaft dem Problem verdankt. Dennoch k¨ onnen wir fragen, ob es allgemeine Merkmale gibt, die ein gutes mathematisches Problem kennzeichnen. Ein alter franz¨ osischer Mathematiker hat gesagt: Eine mathematische Theorie ist nicht eher als vollkommen anzusehen, als bis du sie so klar gemacht hast, daß du sie dem ersten Manne erkl¨aren k¨onntest, den du auf der Straße triffst. Diese Klarheit und leichte Faßlichkeit, wie sie hier so drastisch f¨ ur eine mathematische Theorie verlangt wird, m¨ ochte ich viel mehr von einem mathematischen Problem fordern, wenn dasselbe vollkommen sein soll; denn das Klare und leicht Faßliche zieht uns an, das Verwickelte schreckt uns ab. Ein mathematisches Problem sei ferner schwierig, damit es uns reizt, und dennoch nicht v¨ ollig unzug¨ anglich, damit es unserer Anstrengung nicht spotte; es sei uns ein Wahrzeichen auf den verschlungenen Pfaden zu verborgenen
243
244
16 Die Riemannsche Initiative
Wahrheiten – uns hernach lohnend mit der Freude u ¨ber die gelungene L¨ osung. Am 8. August 1900 erhob sich David Hilbert (1862–1943), begab sich an ein Rednerpult an der Sorbonne und begann mit dem vermutlich ber¨ uhmtesten Vortrag, den je ein Mathematiker gehalten hat (obwohl die Vortragsreihe von Andrew Wiles, in der er eine Form der Vermutung von Tanayama–Shimura und insbesondere Fermats Letzten Satz bewies – zugegebenermaßen mit einem sp¨ ater korrigierten Fehler – um einen ¨ ahnlichen Ruhm wetteifern k¨onnte). Hilbert, der sogar bei der eindrucksvollen Konkurrenz von Felix Klein und Henri Poincar´e der am meisten gefeierte Mathematiker seiner Zeit war, wurde von einem seiner Studenten (einem k¨ unftigen Nobelpreistr¨ager) als ... der viel” leicht gr¨ oßte Genius“ beschrieben, an den ich mich u ¨berhaupt erinnern kann.“ ” Hilbert war eingeladen, um auf dem zweiten Internationalen Mathematikerkongreß einen Vortrag zu halten und er w¨ ahlte die M¨oglichkeit, den Gang der Mathematik im 20. Jahrhundert zu skizzieren – teilweise durch die 23 Probleme, von deren Untersuchung oder L¨ osung er sich wesentliche Fortschritte f¨ ur die Mathematik erhoffte. Sein Vortrag beginnt mit den oben wiedergegebenen Worten, an die sich eine eingehendere Er¨orterung der betreffenden Probleme anschließt. In der Hilbertschen Liste ist keine offensichtliche Rangfolge erkennbar und einer der im Vortrag genannten Fragenkomplexe war das achte Problem. 8. Primzahlenprobleme In der Theorie der Verteilung der Primzahlen sind in neuerer Zeit ´e-Poussin, v. Mangoldt und durch Hadamard, de la Valle andere wesentliche Fortschritte gemacht worden. Zur vollst¨andigen ¨ L¨ osung der Probleme, die uns die Riemannsche Abhandlung Uber ” die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Gr¨oße“ gestellt hat, ist es jedoch noch n¨ otig, die Richtigkeit der ¨außerst wichtigen Behauptung von Riemann nachzuweisen, daß die Nullstellen der Funktion ζ(s), die durch die Reihe ζ(s) = 1 +
1 1 1 + s + s + ··· s 2 3 4
dargestellt wird, s¨ amtlich den reellen Bestandteil 21 haben – wenn man von den bekannten negativ ganzzahligen Nullstellen absieht. Sobald dieser Nachweis gelungen ist, so w¨ urde die weitere Aufgabe darin bestehen, die Riemannsche unendliche Reihe f¨ ur die Anzahl der Primzahlen genauer zu pr¨ ufen und insbesondere zu entscheiden, ob die Differenz zwischen der Anzahl der Primzahlen unterhalb einer Gr¨ oße x und dem Integrallogarithmus von x in der Tat von nicht h¨ oherer als der 21 ten Ordnung in x unendlich wird, und ferner, ob dann die von den ersten komplexen Nullstellen der Funktion ζ(s) abh¨angenden
16.15 Fortschritte
245
Glieder der Riemannschen Formel wirklich die stellenweise Verdichtung der Primzahlen bedingen, welche man bei den Z¨ahlungen der Primzahlen bemerkt hat. Das hohe Ansehen, das Hilbert genoß, befl¨ ugelte die Mathematiker in aller Welt, sich mit den aufgelisteten Problemen zu besch¨aftigen – jeder Fortschritt bei der L¨ osung dieser Probleme w¨ urde zu u uhren. Die ¨beraus großem Ruhm f¨ Mathematiker, die Erfolg bei der L¨ osung eines Hilbertschen Problems hatten oder einen signifikanten Beitrag zur L¨ osung leisteten, konnten sich zur Cr`eme ” de la Cr`eme“ der Mathematiker z¨ ahlen. Von den 23 Problemen5 geh¨orten 8 zur sogenannten reinen Mathematik; vollst¨ andig gel¨ost wurden 15 Probleme. Lediglich Problem 8 bewahrt sein Geheimnis auch ein Jahrhundert sp¨ater nahezu vollst¨ andig und ist praktisch unber¨ uhrt. ager der Fields-Medaille, ver¨offentlichte 1998 seine eigene Steven Smale6 , Tr¨ – im Sinne von Hilbert verfaßte – Liste von 18 Problemen. Am 13. Februar 2002 gab W. Tucker die L¨ osung des 14. Problems bekannt – es ist das bislang einzige Problem der Liste von Smale, das gel¨ ost wurde. Problem Nummer 1 der Liste ist die Riemannsche Vermutung. Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends sorgte das Clay Mathematics Institute f¨ ur neuen Ansporn. Das Institut bietet jeweils eine Million Dollar f¨ ur die L¨ osung von sieben offenen Problemen an – eines dieser Probleme ist die Riemannsche Vermutung.
16.15 Fortschritte Nat¨ urlich hat es Fortschritte gegeben. Hardy bewies 1914 in seiner Arbeit Sur les z´eros de la fonction ζ(z) de Riemann“, daß unendlich viele nichttri” viale Nullstellen auf der kritischen Geraden Re(z) = 21 liegen. Zusammen mit Littlewood bewies Hardy 1921 das sehr viel st¨ arkere Resultat, daß ζ( 21 + iy) f¨ ur eine gewisse positive Konstante A in jedem Interval −Y y Y mindestens AY Nullstellen hat. Selberg verbesserte 1942 Hardys urspr¨ ungliches Resultat und bewies, daß ein positiver Anteil aller nichttrivialen Nullstellen 5
6
¨ Uberblicke u ¨ber die Hilbertschen Probleme findet man in: P. S. Alexandrov (Herausgeber), Die Hilbertschen Probleme, Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig K.-G., Leipzig 1971 ([4]), F. E. Browder (ed.), Mathematical Developments Arising from Hilbert Problems, Proceedings of Symposia in Pure Mathematics, AMS, Providence 1976 ([18]), J. Gray, The Hilbert Challenge, Oxford University Press, Oxford 2000 ([66]) und B. H. Yandell, The Honors Class. Hilbert’s Problems and Their Solvers, A. K. Peters, Natick, MA, 2003 ([155]). In Erg¨ anzung hierzu sei auch auf R. Thiele, Hilbert’s Twenty-Forth Problem, American Mathematical Monthly 110 (Januar 2003), The Mathematical Association of America ([139]) verwiesen. Steven Smale, geb. 1930, erhielt die Fields-Medaille auf dem Internationalen Mathematikerkongreß 1966 in Moskau.
246
16 Die Riemannsche Initiative
auf der kritischen Geraden liegt. Das ist ein subtiler und wichtiger Unterschied. Zum Beispiel ist Z eine unendliche Menge, aber das pr¨azise Maß“ ” dieser Menge im Vergleich zu R ist gleich 0. Conrey ([31]) verbesserte dieses Ergebnis 1989 durch seinen Beweis, daß mindestens 40% der nichttrivialen Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen. Die Breite des kritischen Bereiches wurde zusammengequetscht, aber nicht auf Null. Man k¨onnte meinen, das w¨ are schon ziemlich u ¨berzeugend, aber die beiden oben genannten Vermutungen belehren uns eines Besseren. Littlewood war alles andere als u ¨berzeugt und vermutete seinerseits, daß die Riemannsche Vermutung falsch ist! Es ist also bekannt, daß es unendlich viele nichttriviale Nullstellen gibt, die kein erkennbares Muster aufweisen und deswegen ist deren Aufz¨ahlung keine Option – ganz im Gegensatz zu der Hoffnung, unter ihnen eine Nullstelle zu finden, die nicht auf der kritischen Geraden liegt. Zu diesem Zweck bewies J. P. Gram7 im Jahr 1903 mit Hilfe der Euler–Maclaurinschen Summenformel die Richtigkeit der Riemannschen Vermutung f¨ ur die H¨ohe“ 50, das heißt f¨ ur ” Im(z) < 50. In den 1930er Jahren wurden die Rechnungen bis zum Gram” punkt“ g1040 vorangetrieben, das heißt die Riemannsche Vermutung war f¨ ur die ersten 1041 Nullstellen richtig. Die Euler–Maclaurinsche Summenformel ist seit langem durch eine clevere Technik verdr¨angt worden, auf die wir kurz eingehen wollen. Erinnern wir uns daran, daß ξ(z) = ξ(1 − z) gilt, und daß die Funktion analytisch und f¨ ur reelles z reell ist. Das bedeutet, daß wir die Schwarzsche Spiegelungsformel erneut anwenden k¨ onnen. Insbesondere haben wir (ξ( 12 + it))∗ = ξ(( 12 + it)∗ ) = ξ( 12 − it) = ξ(1 − ( 21 + it)) = ξ( 12 + it), und die einzigen komplexen Zahlen, die mit ihren eigenen Konjugierten u ¨bereinstimmen, sind die reellen Zahlen. Die Funktion ξ ist reell auf der kritischen Geraden; die Suche nach einer Nullstelle auf der Geraden bedeutet demnach die Suche nach einem Vorzeichenwechsel der Funktion ξ. Die pr¨azise Methode hierf¨ ur ist technischer Natur und verwendet etwas, daß als Gramsches Gesetz bekannt ist. Wir m¨ ussen jetzt nur noch genau z¨ahlen, wieviele Nullstellen bis zu einer gewissen H¨ ohe existieren und anschließend diese Zahl mit der Anzahl derjenigen Nullstellen vergleichen, die auf der kritischen Geraden liegen: jegliche Diskrepanz w¨ urde beweisen, daß die Riemannsche Vermutung falsch ist. Und das f¨ uhrt uns hier zu unserem letzten Genius. Erinnern wir uns: Ada Lovelace hielt die Berechnung der Bernoullischen Zahlen f¨ ur ein Unterfangen, das eine angemessene Herausforderung f¨ ur die Rechenmaschine ( Calculating ” Engine“) von Babbage darstellt. Alan Turing (1912–1954), der exzentrische und erb¨ armlich behandelte geniale britische Mathematiker, meinte, daß die Lokalisierung der Nullstellen der Riemannschen Zeta-Funktion eine angemessene Aufgabe f¨ ur den Nachfolger der Maschine von Babbage sei – das heißt 7
J´ orgen Pedersen Gram (1850–1916), d¨ anischer Mathematiker, der im Zusammenhang mit Betrachtungen zur linearen Unabh¨ angigkeit die Gramsche Determinante eingef¨ uhrt hat.
16.15 Fortschritte
247
f¨ ur den elektronischen Computer, dessen geistige Form Turing ersonnen hatte. Turing ist vor allem wegen seiner immensen Beitr¨age zur Entschl¨ usselung des deutschen Enigma Code bekannt, die im englischen Bletchley Park w¨ahrend des Zweiten Weltkriegs erfolgte. Die fesselnde Geschichte von Ultra“ ist viel” fach erz¨ ahlt worden, seitdem nicht mehr der Schleier des Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen dar¨ uber liegt. Die intellektuelle Elite handelte im Einklang und verwirklichte dadurch etwas, das man f¨ ur unm¨oglich gehalten hatte. Aber sogar in diesem exklusiven Kreis war Turing, der Prof“, etwas beson” deres. Seine Geschichte wurde u.a. von Andrew Hodges in Alan Turing: The Enigma ([71]) und von Jon Agar in Turing and the Universal Machine ([1]) erz¨ ahlt. Wir begn¨ ugen uns hier mit einer kurzen Bemerkung zu einer der vielen genialen Ideen, die Turing hatte. Turing war 1948 an der Universit¨ at Manchester und schloß sich dort mit einiger Versp¨ atung dem Team an, das den ersten elektronischen Computer mit Speicherprogramm konstruierte. Hiervon ausgehend entwickelte er auch seine zukunftsweisenden Ideen zur k¨ unstlichen Intelligenz. Der Computer hatte sich 1951 zum Blue Pig“ oder MUC (Manchester University Computer) gemau” sert. Er bestand aus einer massiven Ansammlung von Verdrahtungen und R¨ ohren, die in Metallschr¨ anken verborgen waren, und wurde f¨ ur zahlreiche Aufgaben eingesetzt: beispielsweise mußte der Computer singen, Knittelverse verfassen und die Nullstellen von ξ(z) testen. Bei Nacht, wenn der Computer nichts anderes zu tun hatte, setzte ihn Turing darauf an, eine genaue Z¨ahlung der Anzahl der Nullstellen bis zu einer gegebenen H¨ohe durchzuf¨ uhren. Dabei verwendete Turing eine von ihm entwickelte Formel, die immer noch in Gebrauch ist. Die Riemannsche Vermutung konnte nicht widerlegt werden – auch nicht mit Hilfe der heutigen Computer, deren Kapazit¨aten weit u ¨ber die Leistungsf¨ ahigkeit von Blue Pig hinausgehen. Man weiß heute, daß 59 974 310 000 nichttriviale Nullstellen auf der kritischen Geraden liegen – und nat¨ urlich ist keine nichttriviale Nullstelle gefunden worden, die abseits der kritischen Geraden liegt! Wir hatten G. H. Hardy bereits einige Male erw¨ahnt: er war einer der herausragenden Mathematiker seiner Zeit und leistete viele bedeutende Bei-
Im (z)
‘
Abb. 16.14.
0
1/2
Re (z)
Beweis“ ohne Worte: die Riemannsche Vermutung ”
248
16 Die Riemannsche Initiative
tr¨ age zur Zahlentheorie. Seine unglaublich beeindruckende mathematische Troph¨ aensammlung enthielt jedoch eine große L¨ ucke, die sich nur durch den Beweis der Riemannschen Vermutung schließen ließ. Nat¨ urlich blieb die L¨ ucke bestehen, aber die folgenden drei Anekdoten geben uns einigen Aufschluß dar¨ uber, wie Hardy die Riemannsche Vermutung einordnete. • Zu seinen vier gl¨ uhendsten W¨ unschen geh¨ orten (in dieser Reihenfolge): 1. Beweise die Riemannsche Vermutung! 2. Erziele im Kricketstadion Lords8 in einem wichtigen internationalen Vergleichskampf hundert Punkte! 3. Beweise die Nichtexistenz Gottes! 4. Ermorde Benito Mussolini! Hardys Liste konnte von Jahr zu Jahr leicht variieren, aber stets blieb die Riemannsche Vermutung an erster Stelle. • Regelm¨ aßig reiste Hardy nach D¨ anemark, um dort seinen Freund, den Mathematiker Harald Bohr zu besuchen (Harald, dem wir bereits auf S. 69 begegnet sind, war der j¨ ungere Bruder des Physikers Niels Bohr). Zu den unersch¨ utterlichen Routinen bei der Ankunft geh¨orte es, eine Tagesordnung f¨ ur den Besuch aufzustellen. Der erste Punkt dieser Tagesordnung lautete stets: Beweise die Riemannsche Vermutung“! ” • Als Hardy von einem dieser Besuche zur¨ uckkehren wollte, stand ein st¨ urmischer Seegang bevor. Hardy schickte vor der Abfahrt schnell noch eine Postkarte an Littlewood ab, auf der er ihm mitteilte Habe die Riemann” sche Vermutung bewiesen“. Hardy war zwar Atheist, argumentierte aber vorsichtshalber folgendermaßen: Gott w¨ urde ihn nicht mit dem Schiff un” tergehen lassen. Andernfalls w¨ urden n¨ amlich – aufgrund der Postkarte – alle glauben, Hardy habe die Vermutung bewiesen, sei aber zusammen mit dem Beweis vom Meer verschlungen worden. Gott aber w¨ urde Hardy diesen ungerechtfertigten Ruhm nicht g¨ onnen“. Hardy kam sicher in England an. Als man Hilbert fragte, welches mathematische Problem das wichtigste sei, antwortete er: Das Problem der Nullstellen der Zeta-Funktion ist das ” wichtigste Problem, nicht nur f¨ ur die Mathematik, sondern das absolut wichtigste!“ Man k¨ onnte sich aber auch auf den Standpunkt von M. Kline stellen, der 1985 in einem Interview f¨ ur Mathematical People“ folgenden Kommentar ” gab: K¨ onnte ich nach f¨ unfhundert Jahren auf die Welt zur¨ uckkommen und feststellen, daß die Riemannsche Vermutung oder Fermats Letzter 8
Hardy war ein begeisterter Kricketspieler. Lords ist der Name eines ber¨ uhmten Londoner Kricketstadions, in dem internationale Wettk¨ ampfe stattfinden.
16.15 Fortschritte
249
Satz“ bewiesen ist, dann w¨ are ich entt¨ auscht. Angesichts der vielen ” vergeblichen Versuche, die f¨ ur den Beweis dieser Vermutungen unternommen wurden, w¨ are ich mir n¨ amlich ziemlich sicher, daß enorm viel Zeit f¨ ur den Beweis von S¨ atzen verwendet wurde, die f¨ ur das Leben der Menschen unwichtig sind. Aufgrund der Arbeit von Andrew Wiles zum Beweis von Fermats Letztem Satz d¨ urfte sich M. Kline bereits ziemlich ungl¨ ucklich f¨ uhlen und es gibt eine Reihe von professionellen Mathematikern und Amateurmathematikern, die ihn noch ungl¨ ucklicher machen m¨ ochten! Die Mathematiker m¨ ogen keine bedingten“ Beweise und wenn sie es doch ” tun, dann deutet das auf ihre Hochachtung vor der betreffenden unbewiesenen Aussage hin. In diesem Sinne beginnen viele Ergebnisse mit der Einleitung Angenommen, die Riemannsche Vermutung ist wahr ...“. Eine Beobachtung ” von Freeman Dyson hat zu bedeutsamen Zusammenh¨angen mit der Quantentheorie gef¨ uhrt. Wer weiß, vielleicht wird das gr¨oßte Problem der abstrakten reinen Mathematik von einem Physiker gel¨ ost – und vielleicht wird es experimentell gel¨ ost? Wer das Problem l¨ ost, dem wird gewiß Ruhm (und nunmehr auch ein Verm¨ ogen) zuteil. Der Werbespruch der British National Lottery lautet Du k¨ onntest es sein!“ – aber das umseitige Scherzgedicht9 m¨oge als ” Warnung dienen.
9
Die englische Originalfassung des Gedichtes stammt von Jonathan P. Dowling. ¨ Der Ubersetzer hat den Versuch unternommen, das englische Gedicht nachzuempfinden.
250
16 Die Riemannsche Initiative
Die Riemannsche Vermutung Herr Riemann, mein Lieber Ich leb wie im Fieber! Deine Nullstellen machen mich krank. Was ich auch tu, Komm nicht zur Ruh. Dein Problem bringt mich um den Verstand. Ich will Dir gern geben Mein Weib und mein Leben F¨ ur Deiner Vermutung Beweis! Wie soll ich mich schinden, Die L¨ osung zu finden? Wer sagt mir, was ich noch nicht weiß? Ich fang an, zu versinken, Und beginne zu trinken, Hysterisch wird langsam mein Lachen. Die Wurzeln von ζ, Das ganze Ge-Zeta Sind Sachen, die Kummer mir machen! Ich schlaf nicht bei Nacht Bis die Suche vollbracht Nach der verdammten L¨ osung. Mein letzter Beweis War wieder mal ... Find einfach keine Erl¨ osung. Mein PC lief zehn Jahre Und ich rauf mir die Haare, Denn immer noch ist nicht bekannt, Ob Zetas Wurzeln10 Wirklich so purzeln, Wie Riemann schon hatte erkannt. Ich hock in meinem Zimmer, In den Augen ein Flimmer, Bin auf der Suche des Lebens. Vielleicht kommt mir das Licht. Oder auch nicht ... Dann war die Suche vergebens.
10
Gemeint sind die nichttrivialen Nullstellen, aber nichttrivial“ ließ sich hier aus ” Reim-, Raum- und Zeitgr¨ unden nicht mehr unterbringen.
A Das griechische Alphabet
A B Γ ∆ E Z H Θ I K Λ M N Ξ O Π P Σ T Y Φ X Ψ Ω
α β γ δ ǫ ζ η θ ι κ λ µ ν ξ o π ρ σ τ υ φ χ ψ ω
Alpha Beta Gamma Delta Epsilon Zeta Eta Theta Jota Kappa Lambda My Ny Xi Omikron Pi Rho Sigma Tau Ypsilon Phi Chi Psi Omega
B Die Gr¨ oßenordnung von Funktionen
Die Notation O wurde 1894 von Paul Bachmann eingef¨ uhrt und in der Folgezeit von vielen Zahlentheoretikern verwendet. Sp¨ater benutzten die Informatiker das Symbol, um die Komplexit¨ at von Algorithmen zu messen.1 Mit dem Symbol gibt man die Gr¨ oßenordnung eines Ausdrucks an und unterdr¨ uckt gleichzeitig die unwesentlichen Details. Zum Beispiel geht f¨ ur n → ∞ auch 2n2 + 7n + 6 → ∞, aber dieser Ausdruck w¨ achst in Wirklichkeit nicht schneller als n2 . Mit zunehmendem n wird n¨ amlich der Ausdruck 7n + 6 immer weniger relevant und k¨onnte durch einen beliebigen anderen Ausdruck ersetzt werden, der in n linear ist. ur n → ∞. Auch die 2 Mit anderen Worten geht (2n2 + 7n + 6)/n2 → 2 f¨ f¨allt hier als konstanter Faktor nicht ins Gewicht und deswegen schreiben wir 2n2 + 7n + 6 = O(n2 ). Allgemeiner schreiben wir g(n) = O(f (n)) f¨ ur positive Funktionen f (n) und g(n), falls g(n) asymptotisch nicht gr¨oßer ist, als eine Konstante multipliziert mit f (n); das heißt f (n) ist der dominante asymptotische Bestandteil von g(n). Das bedeutet, daß O(1) eine Konstante darstellt und daß beispielsweise ln n + ln ln n = O(ln n) gilt. Ausdr¨ ucklich sei noch hervorgehoben, daß die Gleichungen, in denen das Symbol O auftritt, nat¨ urlich keine Gleichungen im Sinne der Grundgesetze der Arithmetik sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um Aussagen, die nur zur Abk¨ urzung in Form einer Gleichung geschrieben werden.
1
Im Englischen wird O auch als Big Oh bezeichnet.
C Taylorreihen
Die einfachsten Funktionen sind die Polynome, denn sie sind den standardm¨ aßigen mathematischen Verfahren im Allgemeinen sehr zug¨anglich. Ist eine Funktion kein Polynom, dann k¨ onnen wir nach der besten Approximation durch ein Polynom Ausschau halten – zumindest u ¨ber einem Intervall, denn global m¨ ussen wir mit Schwierigkeiten rechnen: zum Beispiel kann die Funktion eine vertikale Asymptote besitzen oder sie ist periodisch oder weist ein anderes, nicht polynomhaftes“ Verhalten auf. Wir gehen in nat¨ urlicher ” Weise nach dem Grad des Polynoms vor, das heißt nach der h¨ochsten Potenz von x.
C.1 Grad 1 Es ist intuitiv klar, daß f¨ ur eine gegebene Kurve in einem gegebenen Punkt die Tangente der Kurve in diesem Punkt die beste geradlinige“ Approximation ” der Kurve ist (vgl. Abb. C.1). Ist P der Punkt (a, f (a)), dann ist f ′ (a) der Anstieg der Kurve in P und die Tangentengleichung ist y−f (a) = f ′ (a)(x−a), das heißt wir haben die Approximation f (x) ≈ f (a) + (x − a)f ′ (a), die erste Taylorsche Approximation.
C.2 Grad 2 Wir hatten oben einfach nur unsere Intuition spielen lassen, um auf die beste approximierende Gerade zu kommen, aber wir h¨atten auch exakter vorgehen k¨ onnen. Die allgemeine Geradengleichung hat zwei unabh¨angige Parameter, die zusammen die Gerade auf eindeutige Weise festlegen: f¨ ur die Standardform y = mx + c der Geradengleichung sind das die Parameter m und c. Die
256
C Taylorreihen
f (x)
P
Abb. C.1.
Unabh¨ angigkeit der beiden Parameter bedeutet, daß wir der Geraden zwei unabh¨ angige Bedingungen auferlegen k¨ onnen, um die beste Approximation an die Kurve zu erreichen. Und welche Bedingungen w¨aren besser geeignet, als diejenigen, die eine Gerade durch P liefern, welche in P den gleichen Anstieg wie f (x) hat? Mit anderen Worten: bei der Geraden handelt es sich tats¨ achlich um die Tangente im Punkt P an die Kurve. Bei einer Approximation vom Grad 2 approximieren wir die Funktion in der N¨ahe von P durch eine Parabel, deren allgemeine Gleichung die Form y = Ax2 + Bx + C mit den drei unabh¨ angigen Parametern A, B und C hat. Es ist vollkommen nat¨ urlich, die beiden gleichen Bedingungen wie oben vorauszusetzen, aber was ist mit der dritten Bedingung? f (x)
P
Abb. C.2.
Betrachten wir Abb. C.2, dann sehen wir zwei Parabeln, die als Approximationen verwendet werden. Beide gehen durch P und beide haben in P den gleichen Anstieg wie f (x). Dennoch w¨ urden wir gewiß die obere Parabel gegen¨ uber der unteren bevorzugen, da die Kr¨ ummung in die richtige Richtung geht. Die besagte dritte Bedingung sollte zwischen den beiden M¨oglichkeiten unterscheiden und da die Konkavit¨ at durch die zweite Ableitung gemessen
C.4 Konvergenz
257
wird, bedingen wir uns aus, daß die zweiten Ableitungen der Funktion und der quadratischen Approximation in P u ¨bereinstimmen. Treffen wir die Vereinbarung, die Gleichung in der n¨ utzlicheren Form y = A(x−a)2 +B(x−a)+C zu schreiben, dann k¨ onnen wir die drei Parameter auf folgende Weise m¨ uhelos berechnen: d2 y dy = 2A(x − a) + B, = 2A. dx dx2 Setzen wir x = a in den Ausdr¨ ucken f¨ ur y, dy/dx und d2 y/dx2 und wenden wir unsere Bedingungen an, dann ergibt sich C = f (a), B = f ′ (a), A = 21 f ′′ (a) und die Approximation wird zu f (x) ≈ f (a) + (x − a)f ′ (a) + 12 (x − a)2 f ′′ (a). Allgemein k¨ onnen wir das Verfahren der Approximation durch eine Kurve dritter Ordnung, vierter Ordnung usw. durch die Forderung fortsetzen, daß jede h¨ ohere Ableitung einer solchen Kurve in P mit der Ableitung der Funktion in P u ¨bereinstimmt. Damit ergibt sich f (x) ≈ f (a) + (x − a)f ′ (a) +
(x − a)3 ′′ (x − a)2 ′′ f (a) + f (a) + · · · , 2! 3!
wobei nach dem Differenzieren – aufgrund des wiederholten Herunterholens“ ” der Exponenten – in den Nennern Fakult¨ aten auftreten.
C.3 Beispiele M¨ uhelos berechnet man (1 + x)α ≈ 1 + αx + α(α − 1)
x3 x2 + α(α − 1)(α − 2) + · · · , 2! 3!
x3 x2 + + ··· , 2! 3! x3 x5 sin x ≈ x − + − ··· , 3! 5! ex ≈ 1 + x +
indem man a = 0 nimmt; f¨ ur diesen Wert von a wird der Name Taylor h¨aufig durch den Namen Maclaurin ersetzt. Ein wichtiger Fall, bei dem wir durch Setzen von a = 0 keine Approximation durchf¨ uhren k¨onnen, tritt bei der Funktion ln x auf, denn die Funktion ist an dieser Stelle gar nicht definiert. Statt der Verwendung eines anderen Wertes f¨ ur a erweist es sich als praktischer, die Funktion um 1 seitw¨ arts zu verschieben: ln(1+x) ≈ x− 21 x2 + 13 x3 − 14 x4 +· · · .
C.4 Konvergenz Es ist klar, daß sich das Taylorsche Verfahren bei einer unendlich oft differenzierbaren Funktion beliebig fortsetzen l¨ aßt (obgleich auch hier Probleme
258
C Taylorreihen
auftreten k¨ onnen, wie wir sp¨ ater sehen werden) und nicht zu einem Polynom, sondern zu einer unendlichen Reihe f¨ uhrt. Zwar ist diese Reihe als Approximation in einem Punkt vorgesehen“, aber wir w¨ urden auch eine akzeptable ” Approximation in einer Umgebung des Punktes erwarten. Die Gr¨oße dieser Umgebung wird durch die Gr¨ oße des bei jedem Approximationsgrad auftretenden Fehlergliedes und insbesondere durch ihre asymptotische Gr¨oße bestimmt. Wir gehen hierauf nicht n¨ aher ein und umgehen deswegen den Satz von Taylor. Erstaunlicherweise ist jedoch f¨ ur viele wichtige Funktionen das Fehlerglied f¨ ur alle x asymptotisch gleich Null und somit stimmt in diesen F¨ allen die unendliche Reihe mit der Funktion u ¨berein. Setzt man α = −1 im obigen ersten Beispiel, dann ergibt sich 1/(1 + x) ≈ 1 − x + x2 − x3 + · · · und aus der Theorie der geometrischen Reihen wissen wir, daß dieses Ergebnis f¨ ur |x| < 1 exakt ist. Demnach f¨ uhrt die Approximation von 1/(1 + x) im Punkt ur |x| < 1. Noch (0, 1) zu einer exakten Alternative von 1 − x + x2 − x3 + · · · f¨ besser sieht es beispielsweise bei ex und sin x aus, da die unendliche Reihe f¨ ur alle x mit der Funktion u achlich kann man die Reihen zur ¨bereinstimmt. Tats¨ Definition der entsprechenden Funktionen verwenden – und nat¨ urlich k¨onnen die Reihen auch sinnvoll sein, wenn man x ∈ R durch z ∈ C ersetzt.
D Funktionentheorie
D.1 Komplexe Differentialrechnung F¨ ur eine reellwertige Funktion einer reellen Ver¨anderlichen ist die u ¨bliche Definition der Ableitung durch f (x + δx) − f (x) δx→0 δx
f ′ (x) = lim
unter der Voraussetzung gegeben, daß der Grenzwert existiert. Cauchy gab diese exakte Definition, die der geometrischen Vorstellung weitgehend entspricht: man denke an eine variable Sehne, die eine gegebene Tangente immer genauer approximiert. Wird die Sehne immer k¨ urzer und geht man durch Zoomen“ immer n¨ aher heran, dann akzeptiert das Auge, daß die Funkti” on, die Sehne und die Tangente immer mehr miteinander verschmelzen. Das macht es etwas leichter, daran zu glauben, daß es sich beim Grenzwert wirklich um den Anstieg der Tangente im besagten Kurvenpunkt handelt und daß dadurch die Tangente u ¨berhaupt erst definiert wird. Das Subtile bei der ganzen Sache ist jedoch die Richtung, in der der Grenz¨ ubergang δx → 0 erfolgt. Die Definition der Ableitung st¨ utzt sich n¨ amlich darauf, daß der Grenzwert unabh¨ angig davon ist, aus welcher Richtung der Grenz¨ ubergang δx → 0 erfolgt. Deswegen ist die Funktion f (x) = |x| im Koordinatenursprung nicht differenzierbar. Ersetzen wir x ∈ R durch z ∈ C, dann k¨onnen wir formal f (z + δz) − f (z) δz→0 δz
f ′ (z) = lim
schreiben. Die bequeme geometrische Interpretation l¨aßt uns nun jedoch im Stich und wir stoßen auf eine L¨ ucke, die sich nur durch eiskalte Analysis ausf¨ ullen l¨ aßt: wie im reellen Fall nimmt man die Formel zur Definition der Ableitung der Funktion im Punkt z. Denken wir nun wieder sorgf¨altig u ¨ber δz → 0 nach, dann erkennen wir, daß jetzt f¨ ur die Auswahl nicht nur zwei,
260
D Funktionentheorie
sondern unendlich viele Richtungen zur Verf¨ ugung stehen. Bestehen wir also darauf, daß der Grenzwert nicht von der Richtung abh¨angt, dann fordern wir zweifellos mehr, als im reellen Fall. Und genauso ist es! Denken wir nun daran, daß R in C enthalten ist, dann m¨ ussen wir drei F¨alle betrachten. Die ersten beiden F¨ alle sind schnell erledigt – nicht so der dritte. D.1.1 Reellwertige Funktionen einer komplexen Ver¨ anderlichen Als Beispiel betrachte man die einfache Funktion f (z) = x, wobei z = x + iy. N¨ ahern wir uns dem Grenzwert auf der reellen Achse, dann haben wir δz = δx und f (z + δz) − f (z) x + δx − x = lim = 1, f ′ (z) = lim δz→0 δx→0 δz δx w¨ ahrend auf der imagin¨ aren Achse δz = iδy und x−x f (z + δz) − f (z) = lim =0 iδy→0 iδy δz→0 δz
f ′ (z) = lim
gelten. Diese scheinbar ¨ außerst einfache Funktion hat also keine Ableitung. Schauen wir uns die Dinge n¨ aher an, dann erkennen wir die Ursache des Problems: n¨ ahern wir uns dem Grenzwert u ¨ber reelle Werte, dann bedeutet das, daß der Grenzwert reell sein muß, falls er existiert. N¨ahern wir uns dem Grenzwert hingegen u are Werte, dann bedeutet das, daß der Grenzwert ¨ber imagin¨ imagin¨ ar sein muß, falls er existiert – denn der Nenner ist imagin¨ar und der Z¨ ahler ist reell. Eine Auss¨ ohnung ist nur m¨ oglich, falls der imagin¨are Grenzwert 0 ist; soll in diesem Fall die Funktion differenzierbar sein, dann muß auch der reelle Grenzwert 0 sein. Kurzum: ist eine solche Funktion differenzierbar, dann muß ihre Ableitung identisch 0 sein. D.1.2 Komplexwertige Funktionen einer reellen Ver¨ anderlichen Schreiben wir f (x) = u(x) + iv(x), dann gilt (u(x + δx) + iv(x + δx)) − (u(x) + iv(x)) δx→0 δx u(x + δx) − u(x) + iv(x + δx) − iv(x) = lim δx→0 δx u(x + δx) − u(x) v(x + δx) − v(x) + i lim = lim δx→0 δx→0 δx δx ∂v ∂u +i = ∂x ∂x
f ′ (x) = lim
unter der Voraussetzung, daß die Ableitungen existieren. Die Angelegenheit reduziert sich demnach auf die beiden reellen F¨alle.
D.1 Komplexe Differentialrechnung
261
D.1.3 Komplexwertige Funktionen einer komplexen Ver¨ anderlichen Ist z = x+iy, dann k¨ onnen wir f (z) = u(x, y)+iv(x, y) schreiben. Dieser dritte und letzte Fall hat tiefliegende Konsequenzen, geh¨ort zum Wesen der Theorie ¨ der komplexen Funktionen – und f¨ uhrt zu Uberraschungen. Zuallererst wollen wir eine Bezeichnung einf¨ uhren. Hat eine in einem Gebiet definierte Funktion u ¨berall in diesem Gebiet eine sinnvolle Ableitung, dann heißt sie in diesem Gebiet analytisch (man verwendet auch die Bezeichnung holomorph). Ist das Gebiet die ganze komplexe Ebene, dann heißt die Funktion ganz. Angenommen, wir n¨ ahern uns erneut der 0 auf der reellen Achse und danach auf der imagin¨ aren Achse: f (z + δx) − f (z) δx u(x + δx, y) − u(x, y) v(x + δx, y) − v(x, y) +i = lim δx→0 δx δx ∂v ∂u +i = ∂x ∂x
f ′ (z) = lim
δx→0
und f (z + iδy) − f (z) iδy u(x, y + δy) − u(x, y) v(x, y + δy) − v(x, y) +i = lim δx→0 iδy iδy ∂u ∂v + . = −i ∂y ∂y
f ′ (z) = lim
iδy→0
Sollen beide Ausdr¨ ucke u ussen die folgenden Bezie¨bereinstimmen, dann m¨ hungen gelten: ∂v ∂u ∂v ∂u = und =− . ∂x ∂y ∂y ∂x Das ist nat¨ urlich einfach eine notwendige Bedingung daf¨ ur, die Ableitung ordnungsgem¨ aß zu definieren. Wie sich herausstellt, ist diese Bedingung nicht hinreichend, denn hierf¨ ur m¨ ußten alle vier partiellen Ableitungen auch stetig sein. Das sind die Cauchy–Riemannschen Gleichungen, mit deren Hilfe wir vier aquivalente M¨ oglichkeiten haben, die Ableitung einer analytischen Funktion ¨ zu schreiben; insbesondere haben wir f ′ (z) =
df ∂u ∂v = +i . dz ∂x ∂x
Man sieht unschwer, daß sich die u ¨blichen Differentiationsregeln – Linearit¨at, Produktregel, Quotientenregel und Kettenregel – ebenso auf den komplexen Fall u ¨bertragen lassen, wie eine Reihe von allgemeinen Ergebnissen, zum Beispiel: Ist f (z) = z n , dann gilt f ′ (z) = nz n−1 f¨ ur n ∈ R. Es lassen sich
262
D Funktionentheorie
auch noch allgemeinere Resultate u ur ¨bertragen, zum Beispiel: Ist f ′ (z) = 0 f¨ alle z, dann gilt f (z) = c unter der Voraussetzung, daß das Gebiet zusammenh¨ angend ist. Die Voraussetzung, daß das Gebiet zusammenh¨angend ist, wird sogar im reellen Fall ben¨ otigt; ist n¨ amlich 0, falls x < 1, f (x) = 1, falls x > 2, dann ist die Ableitung der Funktion offensichtlich gleich Null; der analoge komplexe Fall ist 0, falls |z| < 1, f (z) = 1, falls |z| > 2, und wieder haben wir klarerweise f ′ (z) = 0. Wir nehmen nun an, daß das Gebiet zusammenh¨angend ist. Ist f ′ (z) = 0, dann folgt ∂u ∂v ∂v ∂u +i = −i = 0, ∂x ∂x ∂y ∂y und das bedeutet nat¨ urlich ∂u ∂v ∂v ∂u = = = = 0. ∂x ∂x ∂y ∂y Wegen ∂u/∂x = 0 ist u(x, y) konstant l¨ angs horizontaler Streckenabschnitte; wegen ∂u/∂y = 0 ist ¨ ahnlicherweise u(x, y) konstant l¨angs vertikaler Streckenabschnitte. Die gleiche Argumentation gilt f¨ ur v(x, y). Deswegen ist f (z) = u(x, y) + iv(x, y) konstant l¨ angs jedem horizontalen und vertikalen Streckenabschnitt im betreffenden Gebiet. Aber das Gebiet ist zusammenh¨ angend und deswegen lassen sich zwei beliebige Punkte z1 und z2 des Gebietes durch eine Reihe von horizontalen und vertikalen Streckenabschnitten verbinden, die vollst¨ andig in dem Gebiet liegen und die Funktion ist konstant l¨ angs all dieser Abschnitte, weswegen f (z1 ) = f (z2 ) gilt. Aber z1 und z2 sind beliebig w¨ ahlbar und deswegen muß f (z) im gesamten Gebiet konstant sein. Ein zweites allgemeines Ergebnis: Gilt |f (z)| = c, dann ist f (z) konstant. Zum Beweis verwenden wir die Definition von | · | und erhalten |f (z)| = c ⇔ u2 + v 2 = c2 . Partielle Differentiation nach x und anschließend nach y ergibt 2u
∂v ∂u + 2v =0 ∂x ∂x
und
2u
∂u ∂v + 2v = 0. ∂y ∂y
K¨ urzen der 2 und Anwendung der Cauchy–Riemannschen Gleichungen liefert u
∂u ∂u −v =0 ∂x ∂y
und u
∂u ∂u +v = 0. ∂y ∂x
D.1 Komplexe Differentialrechnung
263
Wir behandeln das als zwei Gleichungen in zwei Unbekannten und erhalten (u2 + v 2 )
∂u ∂u = c2 = 0. ∂x ∂x
Somit gilt entweder c = 0 und f (z) = 0 (f (z) identisch 0) oder ∂u/∂x = 0. ¨ Ahnlicherweise gilt ∂u ∂v ∂v = = = 0. ∂y ∂x ∂y Deswegen ist f ′ (z) = 0 und nach den obigen Ausf¨ uhrungen ist f (z) konstant. Tats¨ achlich gilt das Ergebnis, wenn Ref (z) = c oder Imf (z) = c. Es ist wenig u ¨berraschend, daß die Funktion f (z) = z differenzierbar ist: wir haben u = x und v = y, womit sich ∂v ∂u = =1 ∂x ∂y
und
∂u ∂v =− =0 ∂y ∂x
ergibt. Man glaubt jedoch kaum, daß f (z) = z¯ nicht differenzierbar ist (hier haben wir n¨ amlich u = x und v = −y, womit die erste Cauchy–Riemannsche Gleichung versagt): f¨ ur die Intuition gibt es keinen Raum bei der Untersuchung des Verhaltens komplexer Funktionen! Verwenden wir die Taylorreihen zur Verallgemeinerung der u ¨blichen elementaren Funktionen, dann k¨ onnen wir den Ausdr¨ ucken z5 z3 + − ··· , 3! 5! z2 z4 cos z = 1 − + − ··· , 2! 4! z3 z2 ez = 1 + z + + + ··· 2! 3! sin z = z −
und anderen ¨ ahnlichen Ausdr¨ ucken eine formale Bedeutung geben – man kann zeigen, daß diese Ausdr¨ ucke f¨ ur alle z ∈ C konvergieren. Man beachte, daß gliedweises Differenzieren zu den erwarteten Ergebnissen d sin z = cos z, dz
d cos z = − sin z, dz
d z e = ez dz
f¨ uhrt. Dar¨ uber hinaus haben wir eiz = cos z + i sin z, sinh z =
eiz + e−iz eiz − e−iz , cos z = , 2i 2 ez + e−z cosh z = = cos iz, usw. 2
sin z =
ez − e−z = −i sin iz, 2
Alle diese und viele weitere derartige Ausdr¨ ucke sind nichts anderes, als ihre reellen Gegenst¨ ucke, bei denen x durch z ersetzt wurde, was eine behagliche Vertrautheit suggeriert – die aber schon bald dadurch zerst¨ort wird, daß die
264
D Funktionentheorie
Gleichung cos z = 2 L¨ osungen besitzt. Das ist tats¨achlich der Fall und f¨ uhrt zu eiz + e−iz = 2, eiz + e−iz = 4, e2iz + 1 = 4eiz , 2 √ √ √ 4 ± 12 4 ± 16 − 4 = = 2 ± 3. eiz = 2 2 Gestatten wir dann sehen wir uns gezwungen, ¨bliche Logarithmieren, √ √ das u 3) und z = −i ln(1 ± 3) zu schreiben. Das liefert eine L¨osung iz = ln(1 ± √ z = −i ln(1 + 3), was unangenehm ist, weil cos z = 2 u ¨berhaupt eine√L¨osung hat. Die Sache wird sogar noch unangenehmer, weil z = −i ln(1 − 3) eine weitere L¨ osung ist – und wir erinnern hier an die Tatsache“, daß eine negative ” Zahl keinen Logarithmus haben kann. Wir erkl¨aren diese Sophisterei“ an ” sp¨ aterer Stelle.
D.2 Die Weierstraßsche Funktion Mit unseren gegenw¨ artigen Kenntnissen u ¨ber Fraktale ist die Vorstellung einer reellen Funktion, die u ¨berall stetig und nirgendwo differenzierbar ist, nichts Ungew¨ ohnliches. Aber 1861 war keine derartige Funktion bekannt, obwohl man ihre Existenz vermutete. Insbesondere Riemann vermutete das, legte die Idee einem seiner Studenten vor und gab sogar – ohne Beweis – einen Kandidaten f¨ ur eine solche Funktion an. Weierstraß gab 1872 sein eigenes Beispiel f¨ ur eine solche Funktion an. Das war einer der Augenblicke, die dazu beitrugen, in der Mathematik eine gr¨ oßere Strenge durchzusetzen. Tats¨achlich bewies Weierstraß folgendes: Ist b eine ungerade ganze Zahl gr¨oßer 1 und ist 0 < a < 1, als ∞ dann impliziert ab > 1+ 32 π, daß die Funktion f (x) = r=1 ar cos(br x) u ¨berall stetig, aber nirgendwo differenzierbar ist. Hardy verallgemeinerte das Ergebnis sp¨ ater auf ab 1 (vgl. Abb. D.1). Im komplexen Fall m¨ ussen wir nicht ann¨ahernd so m¨ uhselig suchen, um ein solches Monster zu finden, denn die normale Betragsfunktion leistet das Verlangte. Wir hatten im reellen Fall gesehen, daß diese Funktion ein Problem verursacht, da sie im Koordinatenursprung nicht differenzierbar ist, obwohl sie offensichtlich u ¨berall stetig ist. Im komplexen Fall sind die Dinge viel schlimmer: f (z) = |z| ist eine stetige, reellwertige Funktion einer komplexen Ver¨ anderlichen und wir hatten gesehen, daß ihre Ableitung gleich 0 sein muß, falls sie u ¨berhaupt existiert – und das sieht verd¨achtig aus. Tats¨achlich verh¨alt es sich so, daß die Ableitung nirgendwo existiert und wir k¨onnen das mit Hilfe der Cauchy–Riemannschen Gleichungen beweisen. Wegen u(x, y) = x2 + y 2 und v(x, y) = 0 haben wir n¨ amlich ∂u 2x = , 2 ∂x x + y2
∂u 2y = , 2 ∂y x + y2
∂v ∂v = =0 ∂x ∂y
D.2 Die Weierstraßsche Funktion
265
f (x)
0.2
0.4
0.6
0.8
1.0 x
Abb. D.1. a = 0, 5 und b = 30
und sind x und y nicht beide gleich 0, dann sind offensichtlich auch die Cauchy–Riemannschen Gleichungen nicht erf¨ ullt; der Fall x = y = 0 f¨ uhrt zu der unbestimmten Form 0/0 und wir m¨ ussen zu den Anfangsgr¨ unden zur¨ uckgehen, um u(h, 0) − u(0, 0) ∂u = lim ∂x (0,0) h→0 h √ |h| h2 1, falls h → 0+ = lim = = lim −1, falls h → 0− h→0 h h→0 h zu erhalten, das heißt dasselbe wie bei f (x) = |x|. Die gleiche Argumentation lehrt, daß ∂u ∂y (0,0)
nicht existiert. Die Funktion f (z) = |z| ist offensichtlich kompliziert, aber sie ist nicht so schlimm, wie ihr Gegenst¨ uck f (z) = arg z. Die letztgenannte Funktion ist nicht einmal ordnungsgem¨ aß definiert, da sie nur bis auf ganzzahlige Vielfache von 2π bestimmt ist; schr¨ ankt man diese Funktion auf [−π, π] ein, dann wird sie u blicherweise mit dem großen Anfangsbuchstaben A“ geschrieben und ¨ ” man hat dann f (z) = Arg z = tan−1 (y/x). Es handelt sich wiederum um eine reellwertige Funktion einer komplexen Ver¨ anderlichen und daher wissen wir: existiert ihre Ableitung u ¨berall, dann muß sie gleich Null sein. Wenden wir erneut die Cauchy–Riemannschen Gleichungen an, dann ergibt sich y u(x, y) = tan−1 , v(x, y) = 0 x −y ∂u , = 2 ∂x x + y2
x ∂u , = 2 ∂y x + y2
∂v ∂v = = 0, ∂x ∂y
266
D Funktionentheorie
und wieder sind die Cauchy–Riemannschen Gleichungen nicht erf¨ ullt, falls x und y nicht beide gleich 0 sind. Die Funktion ist aber bei x = y = 0 nicht definiert und somit ist sie auch nirgendwo differenzierbar.
D.3 Komplexe Logarithmen Wir k¨ onnen die komplexen Logarithmen durch ihre formalen Potenzreihen definieren ln(1 + z) = z − 12 z 2 + 31 z 3 − · · · , |z| 1, und wie im reellen Fall haben wir 1+z ln = 2(z + 13 z 3 + 51 z 5 + · · ·), 1−z
|z| < 1,
wenn wir komplexe Zahlen außerhalb des Einheitskreises erreichen m¨ochten, aber das verschleiert einen wichtigen und subtilen Umstand, der aufgrund der Mehrdeutigkeit des Arguments einer komplexen Zahl ins Spiel kommt. Betrachten wir die Definition der Logarithmen als die Umkehrung der Exponentialfunktion, dann ist die Sache viel klarer. Wir schreiben also w = ln z, falls z = ew . Ist w = u+iv und z = r(cos θ +i sin θ), dann haben wir z = ew = eu+iv = eu eiv = eu (cos v + i sin v) = r(cos θ + i sin θ), was zwei Ausdr¨ ucke f¨ ur z und insbesondere |z| liefert, womit sich eu = r und somit u = ln r ergibt, ein echter reeller Logarithmus. Wir haben auch cos v + i sin v = cos θ + i sin θ und das bedeutet, daß cos v = cos θ und sin v = sin θ beide erf¨ ullt sein m¨ ussen, und somit ist v = θ + 2nπ mit n ∈ Z. All dies bedeutet, daß ln z = ln r + i(θ + 2nπ) eine mehrdeutige Funktion ist. Eine Einschr¨ ankung auf die Funktion Arg liefert n = 0 und die Logarithmus-Hauptfunktion wird in der Form ln z = ln r+iθ f¨ ur −π θ π oder ln z = ln |z| + iArgz geschrieben. In der obigen Reihe sollte der Kleinbuchstabe l“ durch den entsprechenden Großbuchstaben L“ √ ” ” ersetzt werden. Die fr¨ uhere L¨ osung z = −i ln(1 − 3) von cos z = 2 ist dann 1 1 z = i(ln 2 + i(− 3 π)) = 3 π + i ln 2. Nun k¨ onnen wir ln z in der u ¨blichen Weise differenzieren: y −1 2 2 ln z = ln x + y + i tan x und somit haben wir u(x, y) =
1 2
ln(x2 + y 2 ), v(x, y) = tan−1 (y/x) und
x ∂u = 2 , ∂x x + y2
∂u y = 2 , ∂y x + y2
∂v −y = 2 , ∂x x + y2
x ∂v = 2 . ∂y x + y2
Die Cauchy–Riemannschen Gleichungen sind erf¨ ullt und es ist
D.4 Komplexe Integration
267
d x y 1 ln z = 2 −i 2 = , dz x + y2 x + y2 z wie wir gehofft hatten. ¨ Die Mixtur aus Uberraschung und Vertrautheit ist ein unvermeidlicher Bestandteil der anspruchsvollen Definition der komplexen Differenzierbarkeit. Die Vermutung liegt nahe, daß die komplexe Integration mit ihrer geringeren Stetigkeitsanforderung in Bezug auf ihr Verhalten vorhersagbarer wird – aber die Intuition f¨ uhrt uns einmal mehr in die Irre.
D.4 Komplexe Integration D.4.1 Das bestimmte Integral Bevor wir die komplexe Integration richtig diskutieren k¨onnen, m¨ ussen wir den topologischen Begriff des einfach zusammenh¨ angenden“ Gebietes verstehen. ” Grob gesprochen bedeutet dies, daß das Gebiet keine L¨ocher hat. Mathematischer ausgedr¨ uckt sagen wir, daß ein Gebiet einfach zusammenh¨angend ist, wenn eine beliebige in diesem Gebiet gezeichnete geschlossene Kurve durch stetige Deformationen in eine beliebige andere geschlossene Kurve in diesem Gebiet so u uhrt werden kann, daß das Gebiet dabei nicht verlassen wird. ¨berf¨ Wir sind diesem Begriff bereits auf S. 261 begegnet. Eine geometrische Darstellung findet man in Abb. D.2.
Abb. D.2.
Es ist klar, daß zwei innerhalb einer Kreisscheibe gezeichnete geschlossene Kurven stetig ineinander deformiert werden k¨onnen, ohne daß man dabei die Kreisscheibe verl¨ aßt, aber beim Kreisring geht das nicht mehr. Wir k¨ onnen den Sachverhalt auch anders ausdr¨ ucken: Innerhalb eines einfach zusammenh¨ angenden Gebietes l¨ aßt sich jede geschlossene Kurve zu einem Punkt zusammenziehen. Auch zwei andere Definitionen werden sich als n¨ utzlich erweisen: eine Kurve heißt einfach, wenn sie sich nicht selbst ber¨ uhrt oder selbst u ¨berschneidet, und eine Kurve heißt glatt, wenn sie an jedem Punkt eine wohldefinierte Tangente hat. Nun zur Theorie.
268
D Funktionentheorie
Wie bei der Differentiation st¨ utzt sich die Definition des komplexen bestimmten Integrals vor allem auf dessen reelles Gegenst¨ uck und so ist es durchaus vern¨ unftig, wenn wir uns dieses zuerst ansehen. Es sei f (x) eine stetige reellwertige Funktion einer reellen Ver¨ anderlichen und die Funktion sei f¨ ur a x b definiert; man teile nun das Intervall [a, b] durch die Einf¨ uhrung der Punkte a = x0 , x1 , x2 , . . . , xn = b auf.
]1
a
]2
x1
x2
xn 1
b
Abb. D.3.
Jetzt definieren wir den Ausdruck Sn =
n r=1
f (ξr )(xr − xr−1 ) =
n
f (ξr )δxr ,
r=1
wobei ξr einen beliebigen Punkt des Intervalls [xr−1 , xr ] bezeichnet, als die Summe der Fl¨ achen der Rechtecke, welche die Fl¨ache unter der Kurve approb ximieren. Wir haben Sn → a f (x) dx als Grenzwert f¨ ur n → ∞. b
]1
]2
. .
z1
z2
.
z3
a
Abb. D.4.
Es sei jetzt C eine in der komplexen Ebene definierte glatte Kurve, die beim Punkt a beginnt und bis zum Punkt b verl¨auft und durch die Punkte uhren wir die inneren a = z0 , z1 , z2 , . . . , zn = b unterteilt ist. Auf der Kurve f¨ Punkte ζr ein (vgl. Abb. D.4) und erhalten Sn =
n r=1
f (ξr )(zr − zr−1 ) =
n r=1
f (ξr )δzr .
D.5 Eine n¨ utzliche Ungleichung
269
Nach Grenz¨ ubergang n → ∞ ergibt sich 6 Sn → f (z) dz. C
Die geometrische Interpretation der Fl¨ ache von Rechtecken, welche die Fl¨ache unter einer Kurve immer besser approximieren, geht nun zwar verloren. Aber daf¨ ur haben wir eine formale und nat¨ urliche Verallgemeinerung des Begriffes. Wir stellen C nun in der parametrisierten Form z(t) = x(t) + iy(t) dar, wobei z(α) = a und z(β) = b, und schreiben den Ausdruck in einer etwas anderen Form auf: z(t + δt) − z(t) δt f (z(t))(z(t + δt) − z(t)) = f (z(t)) δt
β dz(t) −−−→ dt. f (z(t)) δt→0 dt α Dadurch wird klar, warum die Kurve glatt sein muß. Kurz gesagt haben wir 6
β dz f (z) dt. f (z) dz = dt α C Die Standardregeln der Linearit¨ at vererben sich von auf die Integrale, das heißt wir haben 6 6 6 f2 (z) dz f1 (z) dz + f1 (z) + f2 (z) dz = und
C
C
C
6
ζf (z) dz = ζ
C
6
f (z) dz
C
f¨ ur ζ ∈ C.
Setzt sich C aus den beiden glatten Kurven C1 und C2 zusammen, dann haben wir aus dem gleichen Grund 6 6 6 f (z) dz = f (z) dz + f (z) dz C
C1
C2
und dar¨ uber hinaus
f (z) dz = − f (z) dz, C
C
wobei die Pfeile die Richtung angeben, in der C durchlaufen wird.
D.5 Eine nu ¨ tzliche Ungleichung Es sei |f (z)| M f¨ ur alle z ∈ C und es bezeichne L die L¨ange von C. Dann folgt
270
D Funktionentheorie
n n n |Sn | = f (ξr )δzr |δzr |. |f (ξr )||δzr | M r=1
r=1
r=1
Hierbei ist |δzr | die L¨ ange der Sehne, die zr und zr−1 verbindet, und deswegen haben wir f¨ ur n → ∞ die Beziehung n r=1
|δzr | → L
aufgrund der Definition der Kurvenl¨ ange. Hieraus folgt das Ergebnis 6 f (z) dz M L. C
D.6 Das unbestimmte Integral
Bei reellwertigen Funktionen einer reellen Ver¨anderlichen ist die Integration nat¨ urlich der Prozeß des Auffindens der vorzeichenbehafteten Fl¨ache unter der Kurve der betreffenden Funktion. Aber die Integration ist auch der zur Differentiation inverse Prozeß1 , bei dem es um das Auffinden der Stammfunktion geht. Beide Prozesse sind durch den Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung miteinander verkn¨ upft. Dieser Satz besagt
b f (x) dx = [F (x)]ba = F (b) − F (a), a
wobei F (x) als eine Funktion definiert ist, f¨ ur die dF (x)/dx = f (x). In diesem Fall heißt F (x) das unbestimmte Integral“ von f (x) und wird in der Form ” F (x) = f (x) dx geschrieben. Aufgrund dieses Ergebnisses wissen wir nun, daß das Auffinden der Fl¨ache unter einer Kurve auf die Bestimmung der Stammfunktion hinausl¨auft. Zum Beispiel haben wir 2 1
1 02 1 12 x − = . = x dx = 2 2 2 2 0 0 Es w¨ are sch¨ on, wenn wir dasselbe auch im komplexen Fall tun k¨onnten, um beispielsweise folgendes Ergebnis zu erhalten: 2 1+i
1+i z 02 (1 + i)2 − = i. = z dz = 2 0 2 2 0 Im reellen Fall hat man keine Wahl, auf welche Weise man sich der oberen Grenze von der unteren Grenze aus n¨ ahert. Der entscheidende Punkt im komplexen Fall besteht darin, daß das Ergebnis unabh¨angig von der unendlichen 1
Im Englischen auch als anti-differentiation“ bezeichnet. ”
D.6 Das unbestimmte Integral
271
Anzahl der Wege sein m¨ ußte, auf denen man von 0 bis zu 1+i gelangt. Gibt es einen Fundamentalsatz der Differential- und Integralrechnung im komplexen Fall, dann muß der Weg irrelevant sein – was eine u ¨bertrieben optimistische Hoffnung zu sein scheint. Man betrachte jedoch die triviale Funktion f (z) = 1 und integriere sie u ¨ber einem beliebigen Weg, der die Punkte a und b verbindet: 6 1 dz = lim ((z1 − a)1 + (z2 − z1 )1 + (z3 − z2 )1 + · · · + (zn − zn−1 )1) n→∞
C
= lim (zn − z0 ) = b − a. n→∞
Der Weg ist tats¨ achlich irrelevant und wir k¨ onnten 6
b 1 dz = [z]ba = b − a 1 dz = a
C
schreiben. Das ist ein vielversprechender Anfang, aber die Dinge gehen bald schief.
.
xi + y
C2
C1
Abb. D.5.
Ist zum Beispiel f (z) = Re(z) = x und integrieren wir von a = 0 bis b = x + iy l¨ angs C1 und C2 wie in Abb. D.5 gezeigt, dann erhalten wir C1 :
z(t) = xt + iyt,
mit z(t) ˙ = x + iy und
Re(z) dz =
0
C1
0 t 1,
1
xt(x + iy) dt = 21 x(x + iy) = 21 x2 + i 12 xy
sowie C2 :
z1 (t) = t,
0 t x,
z2 (t) = x + it,
und somit z˙1 (t) = 1 und z˙2 (t) = i, also
x
t · 1 dt + Re(z) dz = C2
0
was schwerlich dieselbe Antwort ist!
0
0 t y,
y
xi dt = 21 x2 + ixy,
272
D Funktionentheorie
Wir betrachten nun f (z) = 1/z, was wir auf zweierlei Weise tun k¨onnen: einerseits ist diese Funktion in jedem Kreisring mit Mittelpunkt im Koordinatenursprung definiert und analytisch; andererseits ist die Funktion im Ursprung nicht definiert und deswegen ist sie in keiner Kreisscheibe analytisch, deren Mittelpunkt der Koordinatenursprung ist. Angenommen, wir gestatten dem Kreisring und der Kreisscheibe, daß sie den durch |z| = 1 definierten Einheitskreis C enthalten. Dann haben wir z(t) = cos t + i sin t,
z(t) ˙ = − sin t + i cos t
und 6
C
1 dz = z =
2π
1 (− sin t + i cos t) dt cos t + i sin t
2π
i (cos t + i sin t) dt = 2πi, cos t + i sin t
0
0
was auf den ersten Blick vielleicht nicht u ¨berraschend ist. Aber es handelt sich hier um einen geschlossenen Kurvenzug und w¨ urde die Antwort von den Endpunkten abh¨ angen, dann sollte sie einfach 0 lauten.
D.7 Ein folgenreiches Ergebnis Wir werden das Ergebnis nicht beweisen, aber es steht in Einklang mit dem folgenden Satz: Cauchyscher Integralsatz Ist f (z) analytisch innerhalb eines einfach zusammenh¨ angenden Gebietes ∆, dann ist 7 f (z) dz konstant f¨ ur jeden geschlossenen Weg C, C der innerhalb von ∆ liegt. Verbindet der geschlossene Weg die Punkte a und b, dann folgt hieraus 6
C
f (z) dz =
a
b
f (z) dz = F (b) − F (a),
z wobei F (z) = f (ζ) dζ das unbestimmte Integral ist. Das impliziert seinerseits f¨ ur einen geschlossenen Weg C die Beziehung 7 f (z) dz = 0 und das obige Beispiel mit f (z) = 1/z lehrt, daß die obenC genannten Bedingungen analytisch“ und einfach zusammenh¨angend“ beide ” ” notwendig sind. Hieraus ist ersichtlich, daß
D.8 Eine erstaunliche Folgerung
6
f (z) dz =
C
6
273
f (z) dz
C1
gilt, falls C1 ein Weg ist, der bei festgehaltenen Endpunkten durch eine stetige Deformation aus C entsteht. C
.
z
CU
Abb. D.6.
D.8 Eine erstaunliche Folgerung Cauchysche Integralformel Ist f (z) analytisch in einem einfach zusammenh¨angenden Gebiet ∆, dann gilt f¨ ur jeden Punkt z ∈ ∆ und f¨ ur jeden einfachen geschlossenen Weg C ∈ ∆ die Beziehung 7 f (ζ) 1 f (z) = 2πi dζ. C ζ−z
Dieser Satz besagt: Wenn man von einer Funktion nur weiß, daß sie in einem Gebiet ∆ analytisch ist, und wenn man ihre Werte l¨angs eines geschlossenen einfachen Weges C in ∆ kennt, der keinen nicht zu ∆ geh¨orenden Punkt umschließt, so folgen daraus mit Notwendigkeit die Funktionswerte im Inneren von C. Dieses Ergebnis ist a urdig und zeigt, daß die Werte einer ¨ußerst merkw¨ analytischen Funktion durch ein sehr starkes inneres Band miteinander verkn¨ upft sind, derart, daß die Werte l¨ angs des Randes diejenigen im Inneren von C vollst¨ andig mitbestimmen. Zum Beweis zeichnen wir einen Kreis Cρ vom Radius ρ um z und erhalten dann nach der oben beschriebenen Deformation des Weges (vgl. Abb. D.6): 6 6 f (ζ) f (ζ) dζ = dζ. C ζ −z Cρ ζ − z Wir berechnen nun die rechte Seite des obigen Ausdrucks:
274
D Funktionentheorie
6
Cρ
f (ζ) dζ = ζ −z =
6
Cρ
6
Cρ
f (ζ) − f (z) dζ + ζ −z
6
f (z) dζ ζ −z Cρ 6 f (ζ) − f (z) 1 dζ + f (z) dζ. ζ −z ζ − z Cρ
Wir wissen bereits, daß eine einfache Verschiebung zu 6 1 dζ = 2πi ζ − z Cρ f¨ uhrt. Ferner ist (f (ζ) − f (z))/(ζ − z) f¨ ur alle ζ = z innerhalb und auf C beschr¨ ankt und es gilt lim
ζ→z
f (ζ) − f (z) = f ′ (z). ζ −z
Dieser Wert ist endlich, denn f (z) ist analytisch. Deswegen gilt f (ζ) − f (z) < M f¨ ur alle ζ in und auf C. ζ −z
Es folgt
6
Cρ
6 f (ζ) − f (z) f (ζ) − f (z) dζ dζ ζ −z ζ −z Cρ 6 < M dζ = 2πρM −−−→ 0.
Somit haben wir 6 f (ζ) dζ = 2πif (z) C ζ −z
ρ→0
Cρ
1 und f (z) = 2πi
6
C
f (ζ) dζ, ζ −z
was zu zeigen war. In einem gewissen Sinne bedeutet das, daß sich jede analytische Funktion f (z) durch eine einfache Umkehrfunktion 1/(ζ − z) ausdr¨ ucken l¨aßt. Das hat weitreichende Implikationen. Zum Beispiel hat eine analytische Funktion Ableitungen beliebiger Ordnung. Das steht erneut in einem starken Gegensatz zum reellen Fall, wo die Differenzierbarkeit einer Funktion ohne Weiteres aufh¨oren kann: zum Beispiel f¨ uhrt Differenzieren von f (x) = x|x| zu f ′ (x) = 2|x|. Der Beweis ist trivial, falls wir wiederholtes Differenzieren unter dem Integralzeichen zulassen (was sich ohne große M¨ uhe rechtfertigen l¨aßt). Wir betrachten irgendeinen geschlossenen Weg C, in dem f (z) analytisch, ist und schreiben 6 f (ζ) 1 dζ. f (z) = 2πi C ζ − z
D.9 Taylorreihen – und eine wichtige Folgerung
275
Das liefert 6 f (ζ) 1 f (z) = dζ, 2πi C (ζ − z)2 6 f (ζ) 1 f ′′ (z) = dζ usw. 2πi C (ζ − z)3 ′
Mit Hilfe dieses Ergebnisses k¨ onnen wir einen Teil der Theorie der Reihenentwicklungen analytischer Funktionen aufbauen.
D.9 Taylorreihen – und eine wichtige Folgerung Definieren wir die unendlich oft differenzierbare reelle Funktion 2 e−1/x , falls x = 0, f (x) = 0, falls x = 0, ubergang, dann erhalten und berechnen wir f (0), f ′ (0), f ′′ (0), . . . durch Grenz¨ wir f¨ ur jeden Ausdruck 0, wobei die exponentiellen Bestandteile die Potenzen von x dominieren. Im Ergebnis folgt: Obwohl die Funktion unendlich oft differenzierbar ist, erweist es sich als unm¨ oglich, sie als Taylorreihe in x = 0 darzustellen. Im komplexen Fall f¨ uhrt jedoch die starke Einschr¨ankung der Analyzit¨ at erneut zu einem st¨ arkeren Resultat. In diesem kurzen Abschnitt befassen wir uns mit der Taylorreihenentwicklung und bauen auf verschiedenen Ergebnissen auf, um zu einem ¨ außerst wichtigen Resultat zu gelangen. ζ
.
C
a
.z
Abb. D.7.
Es sei f (z) analytisch in und auf einem Kreis C mit Mittelpunkt in z = a; ferner liege z innerhalb des Kreises und ζ auf dem Kreis (vgl. Abb. D.7). Aus ζ − z = (ζ − a) − (z − a) folgt 1 1 = ζ −z (ζ − a) − (z − a) 1 1 = ζ − a 1 − (z − a)/(ζ − a)
276
D Funktionentheorie
−1 1 z−a . = 1− ζ −a ζ −a Offensichtlich gilt |z − a| < |ζ − a| und somit |(z − a)/(ζ − a)| < 1. Es ist demnach eine unendliche Binomialentwicklung m¨oglich und wir erhalten 2 z−a 1 1 z−a = + 1+ ζ −z ζ −a ζ −a ζ −a 3 n z−a z−a + ··· + + ··· + ζ −a ζ −a und 2 z−a f (ζ) z−a + 1+ ζ −a ζ −a C ζ −a 3 n z−a z−a + ··· + + · · · dζ, + ζ −a ζ −a 6 6 f (ζ) f (ζ) (z − a) 1 dζ dζ + f (z) = 2 2πi C ζ − a 2πi C (ζ − a) 6 6 f (ζ) f (ζ) (z − a)2 (z − a)n + dζ + · · · + dζ 3 n+1 2πi 2πi C (ζ − a) C (ζ − a) +··· (z − a)2 ′′ f (a) = f (a) + (z − a)f ′ (a) + 2! 3 (z − a) ′′′ (z − a)n (n) f (a) + · · · + f (a) . . . + 3! n! ∞ = Ar (z − a)r ,
f (z) =
1 2πi
6
r=0
wobei Ar =
1 2πi
6
C
f (ζ) dζ. (ζ − a)r+1
Wieder l¨ aßt sich die gliedweise Integration m¨ uhelos rechtfertigen und wir erhalten eine eindeutige und konvergente Taylorentwicklung der Funktion in der Kreisscheibe. Die bereits genannten formalen Reihendefinitionen einiger Standardfunktionen lassen sich auf diese Weise streng fassen. Kombinieren wir das mit dem ML“-Resultat auf S. 270, dann sehen wir, ” daß die Koeffizienten Ar die Ungleichung 6 1 1 M f (ζ) M dζ 2πρ = r |Ar | = r+1 r+1 2πi C (ζ − a) 2π ρ ρ
erf¨ ullen, wobei |f (ζ)| M auf C ist und C den Radius ρ hat.
D.9 Taylorreihen – und eine wichtige Folgerung
277
Das sehr einsichtige fr¨ uhere Ergebnis |f (z)| = c ⇒ f (z) = k wird somit auf eine ¨ außerst u ¨berraschende Weise zu einem Resultat verallgemeinert, das im reellen Fall einfach nicht stimmt. Beispielsweise ist die Funktion f (x) = 1/(1 + x2 ) unendlich oft differenzierbar und durch 1 beschr¨ankt, aber die Funktion ist gewiß nicht konstant. Demgegen¨ uber ist im komplexen Fall eine beschr¨ ankte analytische Funktion konstant – das ist die Aussage des Satzes von Liouville, der sich nun leicht beweisen l¨ aßt. Die Funktion ist analytisch in C und deswegen k¨onnen wir sie im Punkt 0 in ∞ eine Taylorreihe f (z) = r=0 Ar z r entwickeln. Ferner ist f (z) in C beschr¨ankt und deswegen gilt |f (z)| M auf jeder Kreisscheibe mit Mittelpunkt 0 und Radius ρ. Somit haben wir |Ar | M/ρr f¨ ur r 1. Aber ρ kann beliebig klein gew¨ ahlt werden und deswegen gilt |Ar | = Ar = 0 f¨ ur r 1. Demnach ist f (z) = A0 , das heißt die Funktion ist konstant. Nach diesem Beweis ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einem der Eckpfeiler der gesamten Mathematik: Fundamentalsatz der Algebra Jedes Polynom mit Koeffizienten in C hat eine Wurzel in C. Wir schreiben das Polynom in der Form P (z) = a0 + a1 z + a2 z 2 + · · · + an z n . Hat P (z) keine Wurzeln, dann ist f (z) = 1/P (z) eine analytische Funktion und f¨ ur ein hinreichend großes |z| (etwa f¨ ur |z| > R) gilt |P (z)| > 1 und somit |f (z)| < 1. In der Kreisscheibe |z| R ist |f (z)| offensichtlich stetig und deswegen auch beschr¨ ankt (letzteres folgt aufgrund eines bekannten Ergebnisses der Topologie). Weiter folgt, daß f (z) in ganz C beschr¨ankt ist. Der Satz von Liouville impliziert nun, daß die Funktion konstant ist. Hat das Polynom hingegen eine Wurzel in C, dann k¨ onnen wir durch Faktorisierung den Grad des Polynoms um 1 verringern und anschließend das Verfahren wiederholen. Insgesamt f¨ uhrt das zu dem Ergebnis, daß ein beliebiges Polynom n-ten Grades mit Koeffizienten in C genau n Wurzeln in C hat. Der sch¨ one und scheinbar m¨ uhelose Beweis dieses Ergebnisses t¨auscht u ¨ber die Schwierigkeiten hinweg, denen sich die Mathematiker seinerzeit gegen¨ uber sahen. Die Aufgabe wurde dadurch nicht leichter, daß manchen Mathematikern, die sich am Beweis versuchten, die komplexen Zahlen zutiefst achtig waren. Nach unvollst¨ andigen L¨ osungsversuchen von Descartes, Euverd¨ ler, d’Alembert und Lagrange gab Gauß – in einer der bedeutendsten jemals geschriebenen Dissertationen – im Jahr 1799 den ersten zufriedenstellenden Beweis, wenn auch nur f¨ ur reelle Koeffizienten. Tats¨achlich gab Gauß im Laufe seines Lebens vier verschiedene Beweise und sein letzter Beweis erledigte den Fall f¨ ur komplexe Koeffizienten.
278
D Funktionentheorie
D.10 Laurentreihen – und eine weitere wichtige Folgerung Analyzit¨ at in einem einfach zusammenh¨ angenden Gebiet ist eine wesentliche Voraussetzung f¨ ur Taylorentwicklungen, aber was passiert eigentlich, wenn das Gebiet nicht einfach zusammenh¨ angend ist oder wenn die Funktion nicht u ¨berall analytisch ist? Ab 1821 hatte Cauchy die Theorie der komplexen Funktionen mehr als 20 Jahre lang praktisch allein entwickelt, bevor einige seiner Landsleute begannen, seine vielf¨ altigen und tiefgr¨ undigen Ideen auszubauen. Im Jahr 1843 beantwortete Pierre-Alphonse Laurent (1813–1854) die obigen Fragen, indem er den Begriff der Taylorreihe verallgemeinerte und die Objekte definierte, die sp¨ ater als Laurentreihen bekannt wurden (Weierstraß war diese Verallgemeinerung bereits 1841 bekannt, aber er hat dar¨ uber nichts ver¨offentlicht). Wie bei der Funktion f (z) = 1/z kann man das Ergebnis entweder als Reihenentwicklung einer analytischen Funktion in einem Gebiet betrachten, in dem sich eine Kreisscheibe mit einem Loch befindet, oder aber als eine Funktion, die auf einer Kreisscheibe definiert ist, aber eine isolierte Singularit¨ at besitzt – die wir herausschneiden“ k¨ onnen, indem wir sie mit einem ” entfernbaren Kreis umgeben (vgl. Abb. D.8).
. .
CU
z
z0
Abb. D.8.
Der singul¨ are Punkt z0 sei von einem ¨ außeren Kreis C und einem inneren Kreis Cρ umgeben und wir f¨ uhren einen radialen Schnitt von C nach Cρ durch. Damit konstruieren wir einen geschlossenen Weg, der uns um C herumf¨ uhrt, radial inw¨ arts nach Cρ verl¨ auft, danach (in umgekehrter Richtung) um den inneren Kreis geht, anschließend l¨ angs des radialen Schnitts zur¨ uck geht und schließlich l¨ angs C verl¨ auft, bis wir zum Ausgangspunkt zur¨ uckkommen. Dieser Vorgang f¨ uhrt zu einem einfach zusammenh¨angenden Gebiet, in dem f (z) analytisch ist. Somit k¨ onnen wir die Cauchysche Integralformel anwenden und erhalten
D.10 Laurentreihen – und eine weitere wichtige Folgerung
f (z) =
1 2πi
6
C
f (ζ) 1 dζ − ζ −z 2πi
6
Cρ
279
f (ζ) dζ, ζ −z
wobei sich die beiden gleichgroßen und entgegengesetzt gerichteten Anteile des radialen Schnittes aufgehoben haben. ¨ F¨ ur ζ ∈ C haben wir |z − z0 | < |ζ − z0 | und die gleichen Uberlegungen, die wir bei den Taylorentwicklungen angestellt hatten, liefern 1 2πi
6
C
∞
f (ζ) dζ = ar (z − z0 )r , ζ −z r=0
wobei ar =
1 2πi
6
C
f (ζ) dζ. (ζ − z0 )r+1
Das Problem beim zweiten Integral besteht darin, daß ζ ∈ Cρ und somit |z − z0 | > |ζ − z0 |. Die entsprechende geometrische Reihe divergiert demnach; also stellen wir die Dinge auf den Kopf, denn wir k¨onnen auch ζ − z = (ζ − z0 ) − (z − z0 ), schreiben und deswegen gilt 1 1 = ζ −z (ζ − z0 ) − (z − z0 ) −1 1 = z − z0 1 − (ζ − z0 )/(z − z0 ) −1 −1 ζ − z0 = 1− z − z0 z − z0 2 ζ − z0 −1 ζ − z0 + = 1+ z − z0 z − z0 z − z0 3 n ζ − z0 ζ − z0 + ··· + + ··· , + z − z0 z − z0 −1 2πi
6
Cρ
f (ζ) dζ ζ −z
2 6 ζ − z0 1 f (ζ) ζ − z0 + 1+ 2πi Cρ z − z0 z − z0 z − z0 3 n ζ − z0 ζ − z0 + ··· + + · · · dζ + z − z0 z − z0 6 6 1 1 1 = (ζ − z0 )f (ζ) dζ + · · · f (ζ) dζ + 2πi z − z0 Cρ (z − z0 )2 Cρ
=
280
D Funktionentheorie
+ =
1 (z − z0 )n
∞ r=1
wobei
6
Cρ
(ζ − z0 )n−1 f (ζ) dζ + · · ·
br , (z − z0 )r 1 br = 2πi
6
Cρ
(ζ − z0 )r−1 f (ζ) dζ.
Insgesamt f¨ uhrt das zu f (z) =
∞ r=0
ar (z − z0 )r +
∞ r=1
br , (z − z0 )r
das heißt zur versprochenen Laurentreihe der Funktion. Die Taylorreihe f¨ ur eine gegebene Funktion ist innerhalb ihres Konvergenzbereiches eindeutig. Ebenso wichtig ist die Feststellung, daß die Laurentreihe innerhalb ihres Konvergenzbereiches eindeutig ist, obwohl sie u ¨ber konzentrischen Kreisringen variieren kann. Es gibt beliebig viele Beispiele f¨ ur dieses Ph¨ anomen, so etwa das folgende: 1 1 = (1 − z + z 2 − z 3 + · · ·) z(1 + z) z 1 = − 1 + z − z 2 − · · · , 0 < |z| < 1, z 1 1 1 1 1 1 = 2 = 2 1 − + 2 − 3 ... z(1 + z) z (1 + 1/z) z z z z 1 1 1 = 2 − 3 + 4 − · · · , 1 < |z| < 2, z z z wobei die 2 auf der rechten Seite der doppelten Ungleichung willk¨ urlich gew¨ ahlt wurde. Laurentreihen sind ebenso n¨ utzlich, wie Taylorreihen; als besonders n¨ utzlich erweist sich die Anwendung auf die Berechnung der sogenannten Residuen und dadurch auf die Berechnung von reellen und komplexen bestimmten Integralen.
D.11 Residuenkalku ¨l Es sei f (z) eine Funktion, die mit Ausnahme einer Singularit¨at in z = z0 (einer sogenannten Polstelle) u ¨berall in einem Gebiet ∆ definiert und analytisch ist. Wir konstruieren einen Kreis mit z0 als Mittelpunkt. Ist nun C ein geschlossener Weg in ∆, der diesen Kreis umschließt, dann hat f (z) also eine Laurent-Entwicklung innerhalb des Kreisringes und der Koeffizient des ersten negativen Potenzausdrucks ist
D.11 Residuenkalk¨ ul
b1 = und somit haben wir
6
1 2πi
6
281
f (ζ) dζ
C
f (ζ) dζ = 2πib1 .
C
K¨ onnen wir also den Wert von b1 finden, dann k¨onnen wir auch das Integral berechnen. Man nennt b1 das Residuum von f (z) im Punkt z = z0 und wir schreiben diesen Sachverhalt in der Form b1 = Resz=z0 f (z). Somit haben wir 6 f (ζ) dζ = 2πi Resz=z0 f (z). C
Das l¨ aßt sich leicht auf n Singularit¨ aten verallgemeinern, indem man um jede Singularit¨ at herum Kreise konstruiert. Dadurch erh¨alt man 6 n Resz=zr f (z), f (ζ) dζ = 2πi C
r=1
das heißt den Cauchyschen Residuensatz. Zur Berechnung des Integrals brauchen wir nun nur noch Methoden zur Berechnung der Residuen. An derartigen Methoden herrscht kein Mangel. Wir nehmen an, daß es sich um einen einfachen Pol handelt, das heißt um einen Pol, f¨ ur den die Laurentreihe nur einen negativen Potenzausdruck hat. Wir sehen uns zwei miteinander verwandte Methoden an. 1. Die Laurentreihe ist f (z) =
b1 + a0 + a1 (z − z0 ) + a2 (z − z0 )2 + · · · . z − z0
Multiplikation beider Seiten mit (z − z0 ) liefert (z − z0 )f (z) = b1 + (z − z0 ){a0 + a1 (z − z0 ) + a2 (z − z0 )2 + · · · }. Somit haben wir Resz=z0 f (z) = b1 = lim (z − z0 )f (z). z→z0
Als Beispiel betrachten wir f (z) = sin z/(z 2 + 1). Wir erhalten Resz=i f (z) = lim (z − i) z→i
und
sin i sin z = = 21 sinh 1 z2 + 1 2i
sin(−i) sin z = = 12 sinh 1. 2 z→−i z +1 −2i Integrieren wir l¨ angs eines geschlossenen Weges, der z = ±i nicht enth¨alt, dann ist die Funktion analytisch und das Integral muß deswegen 0 sein. Integrieren wir dagegen l¨ angs C = {z : |z| = 2}, dann ergibt sich Resz=−i f (z) = lim (z + i)
282
D Funktionentheorie
C
sin z dz = 2πi( 12 sinh 1 + 21 sinh 1) = (2π sinh 1)i. z2 + 1
2. Im ersten Beispiel konnten wir den Nenner des Bruches m¨ uhelos faktorisieren; angenommen, wir haben nun eine rationale Funktion von z, bei der das nicht der Fall ist. Wir schreiben f (z) = p(z)/q(z), wobei p(z) und q(z) analytisch sind. Wir nehmen weiter an, daß f (z) einen einfachen Pol im Punkt z = z0 hat, so daß p(z0 ) = 0 gilt und z0 eine einfache Nullstelle von q(z) ist. Wir entwickeln q(z) in eine Taylorreihe um z = z0 und erhalten (z − z0 )2 ′′ q (z0 ) + · · · 2! (z − z0 )2 ′′ q (z0 ) + · · · = (z − z0 )q ′ (z0 ) + 2! (z − z0 ) ′′ ′ q (z0 ) + · · · . = (z − z0 ) q (z0 ) + 2!
q(z) = q(z0 ) + (z − z0 )q ′ (z0 ) +
Somit haben wir Resz=z0 f (z) = b1 = lim (z − z0 )f (z) z→z0
= lim (z − z0 ) z→z0
p(z) q(z)
p(z) ) = lim X (z X −X zX 0 X ′ (z ) + ((z − z )/2!)q ′′ (z ) + · · · } X z→z0 ){q (z − z 0 0 0 0 X X p(z0 ) . = ′ q (z0 ) Betrachten wir beispielsweise f (z) = (z 2 + 1)/ sin z, dann ergibt sich Resz=0 f (z) =
02 + 1 =1 cos 0
und allgemeiner (kπ)2 + 1 = Resz=kπ f (z) = cos kπ
(kπ)2 + 1, falls k gerade, −((kπ)2 + 1), falls k ungerade.
D.12 Analytische Fortsetzung Wir hatten folgendes Ergebnis verwendet: Sind in einem komplexen Gebiet ∆ zwei analytische Funktionen definiert und haben sie in allen Punkten auf einem innerhalb von ∆ liegenden Weg C die gleichen Werte, dann stimmen die Funktionen auf ganz ∆ u ¨berein.
D.12 Analytische Fortsetzung
283
'
.
C
]
.
z0
D
Abb. D.9.
Wir k¨ onnen das jetzt folgendermaßen beweisen. Die beiden analytischen Funktionen f1 (z) und f2 (z) seien in einem Gebiet ∆ von C definiert und wir schreiben ihre Differenz als ϕ(z) = f1 (z) − f2 (z). Dann ist ϕ(z) analytisch in ganz ∆ und identisch 0 auf C. Angenommen, es gibt einen Punkt z0 ∈ ∆, bei dem ϕ(z0 ) = 0; offensichtlich gilt dann z0 ∈ / C. Nun setzen wir C innerhalb von ∆ durch einen Weg D fort, der auft. Es bezeichne ζ den letzten Punkt auf D, f¨ ur den in Richtung z0 verl¨ ϕ(z) = 0. Dann ist ζ = z0 und auf dem jenseits“ von ζ liegenden Segment ” der Kurve D gilt ϕ(z) = 0 gem¨ aß Definition von ζ. Differenzieren wir ϕ(z) in Punkten auf der Kurve bis zum Punkt ζ, indem wir den Grenzwert l¨angs der Kurve nehmen, dann muß ϕ(z) = ϕ′ (z) = ϕ′′ (z) = · · · = 0 und insbesondere ϕ(ζ) = ϕ′ (ζ) = ϕ′′ (ζ) = · · · = 0 gelten. Entwickeln wir nun ϕ(z) in eine Taylorreihe um den Punkt z = ζ, dann sind alle Koeffizienten gleich 0 und somit ist ϕ(z) = 0 in irgendeinem Kreis mit Mittelpunkt in z = ζ. Folglich gilt ϕ(z) = 0 auch irgendwo auf dem Weg jenseits von ζ. Das ist ein Widerspruch und die Aussage ist damit bewiesen (vgl. Abb. D.9). Falls eine gegebene Funktion u ¨berhaupt eine analytische Fortsetzung hat, dann kann es viele ¨ aquivalente M¨ oglichkeiten geben, diese Fortsetzung auszudr¨ ucken. Diese Ausdr¨ ucke sehen zwar verschieden aus, m¨ ussen aber gleich sein.
E Anwendung auf die Zeta-Funktion
E.1 Analytische Fortsetzung von Zeta Im ersten Teil seiner Ver¨ offentlichung f¨ uhrte Riemann die analytische Fortsetzung der Eulerschen Zeta-Funktion ζ(x) =
∞ 1 x r r=1
durch, von der wir bereits wissen, daß x > 1 zur Konvergenz notwendig ist. Die Funktion ist also so definiert, wie aus Abbildung E.1 ersichtlich. Ersetzen wir einfach x ∈ R durch z ∈ C, dann haben wir die Fortsetzung ζ(z) =
∞ 1 , rz r=1
das heißt eine komplexwertige Funktion in einer komplexen Ver¨anderlichen. Wir erwarten, daß die komplexe Form eine ¨ ahnliche Einschr¨ankung erbt. So ist es tats¨ achlich, wie wir aus folgender Rechnung ersehen: ∞ ∞ 1 1 = ez ln r rz r=1 r=1 ∞ 1 = e(Re(z)+i Im(z)) ln r r=1 ∞ 1 = eRe(z) ln r ei Im(z) ln r r=1 ∞ 1 = eRe ln r r=1 =
∞ r=1
1 . rRe(z)
286
E Anwendung auf die Zeta-Funktion
Wir wissen, daß dieser Ausdruck nur f¨ ur Re(z) > 1 konvergiert. Demnach ist die Definition von ζ(z) in diesem Gebiet sinnvoll; es handelt sich um das schraffierte Gebiet in Abbildung E.2.
1 ] (x) Abb. E.1.
Im z
0
1
Re z
Abb. E.2.
Eulers Produktformel beh¨ alt ihre G¨ ultigkeit f¨ ur komplexe Zahlen und dadurch ist klar, daß auch diese verallgemeinerte Funktion keine Nullstellen hat; so weit ist das eine ziemlich einfache Sache. Wir kommen nun zur analytischen Fortsetzung, die Riemann unter Verwendung der Integration l¨angs eines geschlossenen Weges durchf¨ uhrte. Die komplexe Verallgemeinerung
∞ z−1 u du ζ(z)Γ (z) = eu − 1 0 der auf S. 72 abgeleiteten Formel, die f¨ ur Re (z) > 1 gilt, legt ein Kurvenintegral 6 1 uz−1 I(z) = du, Re(z) > 1, −u 2πi u− e − 1
f¨ ur einen geschlossenen Weg u− nahe. Als n¨ utzliche Wahl erweist sich ein Weg, der knapp“ unterhalb und parallel zur reellen Achse aus −∞ kommt, gegen ” den Uhrzeigersinn einen Halbkreis um den Koordinatenursprung macht und dann knapp oberhalb und parallel zur reellen Achse wieder nach −∞ geht. Wir integrieren gesondert l¨ angs C1 , C2 und C3 und setzen deswegen
E.1 Analytische Fortsetzung von Zeta
287
C3 0 ρ
C2
C1 Abb. E.3.
u = re−πi ,
u = ρeiθ
u = reπi ,
bzw.
denn auf C3 gehen wir l¨ angs der negativen imagin¨aren Achse nach minus Unendlich, wodurch das Argument zu π wird; auf C1 kehren wir zur¨ uck und das Argument wird zu −π w¨ ahrend wir auf C2 einen Kreisbogen vom Radius ρ durchlaufen. Es folgt
π z−1 izθ −iϑ iϑ
∞ z−1 −πiz πi −πi ρ e e ρie r e e e dr + 2πiI(z) = − dθ r −1 e e−ρeiθ − 1 −π ρ
∞ z−1 πiz −πi πi r e e e dr + er − 1 ρ
π
∞ z−1 ρz eizθ i r dr + = −e−πiz dθ −ρeiθ − 1 er − 1 −π e ρ
∞ z−1 r dr. +eπiz r −1 e ρ Somit haben wir πI(z) = sin(πz)
ρ
∞
ρz rz−1 dr + er − 1 2
π
−π
eizθ dθ. e−ρeiθ − 1
Betrachten wir jedes Integral gesondert, dann folgt z π z π ρ ρ eizθ eizθ dθ = dθ iθ iθ 2 −ρe −ρe 2 −1 −1 −π e −π e Re(z) π izθ ρ e iθ dθ −ρe − 1 2 −π e
ρRe(z) π e−Im(z)θ A dθ 2 ρ −π
ρeiθ ρRe(z) π eizθ = −ρeiθ − 1 ρeiθ dθ 2 −π e
ρRe(z) π ρeiθ eizθ = −ρeiθ − 1 ρeiθ dθ 2 −π e
288
E Anwendung auf die Zeta-Funktion
ρRe(z) = 2 Aber
π
−π
ρeiθ e−Im(z)θ dθ. e−ρeiθ − 1 ρ
ρeiθ u = e−ρeiθ − 1 e−u − 1
ist f¨ ur ein beschr¨ anktes u ebenfalls beschr¨ ankt, etwa durch die Konstante A. Deswegen ist z π
ρ ρRe(z) π e−Im(z)θ eizθ dθ dθ A 2 −ρeiθ − 1 2 ρ −π e −π
AρRe(z)−1 2πeπ|Im(z)| = πAρRe(z)−1 eπ|Im(z)| 2
und falls Re(z) > 1, dann folgt mit ρ → 0 auch
ρz π eizθ dθ → 0 2 −π e−αeiθ − 1 und πI(z) = lim sin(πz) ρ→0
= sin(πz)
∞ 0
∞ ρ
rz−1 dr er − 1
rz−1 dr = sin(πz)Γ (z)ζ(z). er − 1
Somit gilt ζ(z) =
πI(z) sin(πz)Γ (z)
und wegen Γ (z)Γ (1 − z) = π/ sin(πz) haben wir 6 uz−1 Γ (1 − z) du, ζ(z) = −u 2πi −1 u− e was f¨ ur alle z = 1 definiert und endlich ist. Der Definitionsbereich ist in Abb. E.4 dargestellt.
E.2 Funktionalgleichung fu ¨ r Zeta Wir werden jetzt I(z) einfangen“, indem wir den Wert durch Integration ” l¨ angs eines zweiten geschlossenen Weges berechnen, der beim Grenz¨ ubergang mit dem obigen Weg zusammenf¨ allt. Hierzu betrachten wir das Kurvenintegral
1 uz−1 du, IN (z) = 2πi CN e−u − 1
E.2 Funktionalgleichung f¨ ur Zeta
289
Abb. E.4.
¨ Abb. E.5. Außerer Radius R = (2N + 1)π
wobei Re(z) < 0 mit dem auf Abbildung E.5 zu sehenden geschlossenen Weg f¨ ur eine positive ganze Zahl N gilt. Auf dem ¨ außeren Kreis haben wir u = Reiθ , −π ϑ π und z−1 (Reiθ )z−1 u = e−u − 1 e−u − 1 z−1 iθ(Re(z)+i Im(z)) −iθ R e e = e−u − 1 Re(z)−1 i Im(z) iθ Re(z) −θ Im(z)) R R e e = −u e −1 1 = e−θ Im(z) RRe(z)−1 −u e − 1 < RRe(z)−1 eπ Im(z) A < RRe(z) eπ Im(z) A,
denn 1 e−u − 1
ist in dem betreffenden Gebiet beschr¨ ankt.
290
E Anwendung auf die Zeta-Funktion
Mit N, R → ∞ geht demnach der Beitrag dieses Teils des geschlossenen Weges → 0 und deswegen gilt IN (z) → I(z). Die Funktion f (u) = uz−1 /(e−u − 1) hat Pole in e−u − 1 = 0 und somit in u = 2kπi f¨ ur k = 1, 2, . . . , N und f¨ ur k = −1, −2, . . . , −N (aus diesem Grund muß f¨ ur den ¨ außeren Radius der Wert (2N + 1)π genommen werden). Wollen wir den Cauchyschen Residuensatz zur Berechnung von IN (z) verwenden, dann brauchen wir die Residuen in jedem dieser Pole und mit Hilfe des Residuenkalk¨ uls finden wir: Resu=2kπi f (u) = Resu=2kπ
p(2kπi) (2kπi)z−1 p(u) = ′ = = −(2kπi)z−1 . q(u) q (2kπi) −1
Damit haben wir IN (z) =
1 2πi
=− =− =−
N
k=1 N
CN
uz−1 du e−u − 1
{(2kπi)z−1 + (−2kπi)z−1 } (2πk)z−1 (eπ(z−1)i/2 + e−π(z−1)i/2 )
k=1 N r=1
(2πr)
z−1
2 cos(π(z − 1)/2)
= −2(2π)z−1 sin(πz/2)
N
rz−1 .
r=1
Wir erkennen nun, daß wir f¨ ur I(z) = limN →∞ IN (z) l¨angs des geschlossenen Weges in der entgegengesetzten Richtung integriert haben. Deswegen gilt I(z) = − lim IN (z) = 2(2π)z−1 sin(πz/2) N →∞
= 2(2π)z−1 sin(πz/2)ζ(1 − z),
∞
rz−1
r=1
wobei die Konvergenz wegen Re(1 − z) = 1 − Re(z) > 1 garantiert ist. Jede der beiden Formen von I(z) wurde unter Verwendung von unterschiedlichen Voraussetzungen u ¨ber Re(z) berechnet, aber das kann in Anbetracht der Eindeutigkeit der analytischen Fortsetzung außer Acht gelassen werden. Kombinieren wir also diese beiden Formen von I(z), dann ergibt sich ζ(z) =
(2π)z sin(πz/2)ζ(1 − z) 2π(2π)z−1 sin(πz/2)ζ(1 − z) = sin(πz)Γ (z) sin(πz)Γ (z)
und damit haben wir die versprochene Funktionalgleichung ζ(1 − z) = χ(z)ζ(z), wobei sin(πz)Γ (z)ζ(z) = (2π)z sin(πz/2)ζ(1 − z) f¨ ur alle z = 1, das heißt ζ(1 − z) = 2(2π)−z cos(πz/2)Γ (z)ζ(z).
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Namensverzeichnis
Abel N.H. 205 Adams J.C. 99 Ap´ery R. 54 Archimedes von Syrakus Der Sandrechner 9 Potenzgesetze 9 Rinderproblem 109 Schranken f¨ ur π 112 Archytas 144 Aristoteles 31 Aryabhata 110
B¨ urgi J. 17 Bullialdus I. 97 9
Babbage C. 99 Baillie R. 44 Barnes C.W. 83 Bernoulli D. 125 Bernoulli Jakob Ausdruck f¨ ur Summen von n-ten Potenzen 96 Bernoullische Zahlen 98 Summierung ganzzahliger Potenzen 96 Bernoulli Johann 50, 57 Bertrand J. 35 Bessel F.W. 125 Bombieri E. 237 Boole G. 79 Brahe T. 17 Begegnung mit Jakob I. 9 Briggs H. 18 Brouncker W. 108 Brun V. Primzahlzwillingskonstante 41
Cauchy A.L. 221 Cauchy–Riemannsche Gleichungen 261 Integralformel 273 Integralsatz 272 Residuensatz 281 Chintschin A. 185 Beitrag zur Informationstheorie 164 Clavius C. 8 Craig J. 9 de la Vall´ee Poussin C. Auftreten von γ in Quotientendefiziten 131 Beweis des Primzahlsatzes 216 optimale Form der Legendreschen Absch¨ atzung 217 Demichel P. 105 de Moivre A. 102 DeTemple D.W. 90 Dirichlet P.G.L. Auftreten von γ in der durchschnittlichen Anzahl der Teiler einer Zahl 131 Primzahlen in arithmetischen Folgen 215 Encke J. 202 Eratosthenes 198 Erd˝ os P. 73, 133 u ¨ber Primzahlen
189
300
Namensverzeichnis
Beweis, daß es unendlich viele Primzahlen gibt 39 Divergenz der harmonischen Reihe der Primzahlen 39 Euklid 38 Euler L. 50, 51, 62 allgemeine Form von Zeta f¨ ur gerades n 54 Alternative Definition der GammaFunktion 67 Ausdr¨ ucke f¨ ur Gamma 64 Berechnung von Gamma 104 Beweise der Divergenz der Summe der Kehrwerte der Primzahlen 75 Bezeichnung e 174 Darstellung einer ganzen Zahl als Summe zweier Quadrate 45 Definition der Gamma-Funktion 65 Definition der Logarithmen 24 Erzeugung der Bernoullischen Zahlen 100 Euler–Maclaurinsche Summenformel 100 Geburt von Gamma 63 gradus suavitatis 145 Komplementformel 71 komplexe Logarithmen 25 Liste von Problemen 52 L¨ osung des Baseler Problems 50 Pellsche Gleichung 109 Polyederformel 142 Reihentransformation 238 totiens-Funktion 134 verallgemeinerte Konstanten 137 Verwendung von Kettenbr¨ uchen zum Beweis der Irrationalit¨ at von e 110 Zeta-Formel zur Berechnung von Gamma 130 Zusammenhang zwischen ZetaFunktion und Primzahlen 73 Fermat P. Integral von xn 23 zahlentheoretische Probleme Fr´enicle de Bessy B. 108
108
Gauß C.F. 31 Berechnung von Gamma 105 Brief an Encke 202 Brief an Laplace 181 Kettenbruchverhalten 181 Primzahlsatz, erster Versuch 202 Summierung der nat¨ urlichen Zahlen 95 verfeinerte Form des Primzahlsatzes 204 Genaille H. 29 Glaisher J. 105 Goldbach C. 65 Gourdon X. 105 Gregorius a St. Vincento 23 Gregory J. 32 Hadamard J. Beweis des Primzahlsatzes 216 Formel f¨ ur ξ(t) 235 Halley E. 25 Hardy G. H. Abtretung des Savilian-Lehrstuhls 64 Resultat zur Weierstraßschen Funktion 264 Resultate zu den Nullstellen der Zeta-Funktion 245 seine vier gr¨ oßten W¨ unsche 248 Zusammenarbeit mit Littlewood und Ramanujan 229 Hermite C. 240 Hilbert D. 244 Kommentar zu Gamma 114 Kommentar zur Riemannschen Vermutung 248 Mathematische Probleme 242 Hill T. 172 Hippasos 144 Howson A.G. 51 Huygens C. 110 Iamblichos 144 Ingham A.E. Kommentar zu einem reellen Beweis des Primzahlsatzes 216 Kommentar zur Riemannschen Approximation 230 zum Beweis des Primzahlsatzes 213
Namensverzeichnis Jacobi C.G.
136
Keill J. Ansichten u ¨ber Logarithmen 18 Kempner A.J. 42 Kepler J. 17 Gesetze der Planetenbewegung 20 King A.A. (Countess Lovelace) 99 Knuth D. 105 Kopernikus N. 17, 31 Kummer E. 99 Kuzmin R.O. 183
301
Meissel D. 199 Menabrea F. 99 Mengoli P. 50 Mercator N. 23 Mersenne M. 190 Mertens F. 240 Funktion, Vermutung 240 Produktformen f¨ ur γ 128 M¨ obius A.F. M¨ obiusfunktion 220 Umkehrformel 220 Napier J. 9 Abacus 29 Dezimalschreibweise Regeln 27 St¨ abchen 27 Newcomb S. 170 Newton I. 23 Nicely T. 41 Nicolai F.G.B. 105 Nigrini M. 180
Lagrange J.-L. 108, 110 Beweis des Satzes von Wilson 194 Lambert J. Beitrag zu Kettenbr¨ uchen 110 Supplement zu Logarithmentafeln 202 Landau E. 134 Laplace P.S. Beurteilung der Logarithmen 22 Brief von Gauß 181 Fehlerfunktion 124 Laurent P.-A. 278 Legendre A.-M. π 2 ist irrational 74 Absch¨ atzung von π(x) 205 Ausdruck f¨ ur n! 191 Benennung der Gamma-Funktion 65 Kommentar von Gauß 204 Leibniz G.W. 50 Littlewood J.E. 229 π(x) kann gr¨ oßer als Li(x) sein 230 Resultat zu den Nullstellen der Zeta-Funktion 246
Papanikolaou T. Berechnung der Dezimalstellen von Gamma 105 Kettenbruch f¨ ur Gamma 114 Pell J. 109 Philolaos 142 Pinkham R. 175 Poisson S. 101 Putnam W.L. 154 Pythagoras von Samos 140
Maclaurin C. Euler–Maclaurinsche Summenformel 100 Reihe 257 Madelung E. 46 Mangoldt H. von explizite Formel 231 Markow A. 166 Mascheroni L. Berechnung von Gamma 104 Bezeichnung Gamma 105
Ramanujan S. 230 Riemann B. analytische Fortsetzung der ZetaFunktion 285 Approximation f¨ ur Π(x) 229 Ausdruck f¨ ur Π(x) 226 die einzigartige Arbeit 215 Primzahlfunktion π(x) 219 Verallgemeinerung der Zeta-Funktion 223 Vermutung 234
13
Ohm M. 99 Oresme N. 31, 33 Oughtred W. 19
302
Namensverzeichnis
zur bedingten Konvergenz 119 Rudolff C. Dezimalbr¨ uche und Wurzelzeichen 12 Russell B. 140
Bertrandsche Vermutung 35 Primzahlsatz-Initiative 211 Tsu Chung-chih 113 Turing A. 246 Vieta F.
8
Selberg A. reeller Beweis des Primzahlsatzes 217 Resultat zu den Nullstellen der Zeta-Funktion 245 Shannon C. 163 Skewes S. 231 Soldner J. von Berechnung von Gamma 104 Verwendung der Funktion Li(x) 124 Stevin S. La Disme 12 Stieltjes T. 240 Konstanten 137 Stirling J. 102 Swift J. 7
Wallis J. Kettenbr¨ uche 110 Berechnung von ζ(2) 50 Problem von Fermat 108 Waring E. 194 Webb J. 142 Weierstraß K. Definition der Gamma-Funktion Weierstraßsche Funktion 264 Wiener N. 225 Wiles A. 136 Willans C.P. 194 Wilson J. 194 Wittich P. 8 Wrench jun. J.W. 33
Tschebyschew P.
Young R.M.
170
88
69
Sachverzeichnis
Abh¨ angigkeit von Teilbr¨ uchen 187 Ableitung von π(x) 230 Abrundungsfunktion 80 Absch¨ atzung von π(x) 190 alternierende Zeta-Funktion 238 Analytical Engine 99 analytische Fortsetzung 222, 282 anthyphairetic ratio 110 Anzahl der Nullen am Ende einer Fakult¨ at 191, 192 Anzahl der Nullen an der Spitze einer Fakult¨ at 192 Ap´erysche Konstante 54 arithmetisches Mittel im Vergleich zu anderen Mittelwerten 139 von Logarithmen von Zahlen 16 von Teilbr¨ uchen 185 Astronomia Nova 20 Aufrundungsfunktion 80 Babylonische Identit¨ at 7, 139 Babylonische Tafeln 9 Baseler Problem 50 bedingte Konvergenz 120 Benfordsches Gesetz 170 Bereich mit eindeutiger Primfaktorzerlegung 73 Bernoulli Jakob Baseler Problem 50 Bernoullische Zahlen 54, 93, 95, 97, 101, 224 Bernoullisches Integral 56 Bertrandsche Vermutung
Formulierung und Verwendung bei Hn 35 zur Angabe einer oberen Schranke von pn 193 Besselsche Differentialgleichung 125 Big Oh 253 Bletchley Park 247 Blue Pig 247 Briggssche Logarithmen 19 Brunsche Konstante 41 Cauchy–Riemannsche Gleichungen 261 Chintschin-Konstante 186 Constructio 9 Cossist 96 Der Sandrechner 109 Descriptio 9 Vorwort 10 Differenz zwischen 22/7 und π 113 Digamma-Funktion 70 digitale Analyse 180 Divergenz der harmonischen Primzahlreihe 74 Divergenzgeschwindigkeit der harmonischen Primzahlreihe 76 Durchqueren der W¨ uste 148 durchschnittliche Anzahl der Teiler 131 durchschnittliche Quotientendefizite 131 einfache Kurve
267
304
Sachverzeichnis
Enigma Code 247 Entropie 163 Eratosthenes Sieb des 198 euklidische Primzahlen 38 Euler–Maclaurinsche Summenformel 93, 100 Absch¨ atzung von Gamma 104 Verallgemeinerung der Zeta-Funktion 238 Verwendung bei der Riemannschen Vermutung 246 Eulers sieben Probleme 52 Eulers verallgemeinerte Konstanten 137 Eulersche Formel 74 Eulersche Reihentransformation 238 Exponentialintegral 124 Faulhaber J. 95 Fehlerfunktion 124 Fermats Letzter Satz 136 Fermatsche Probleme 107, 108 forensische Wirtschaftspr¨ ufung 180 Fundamentalsatz der Algebra 277 funktionale Beziehung der Gamma-Funktion 66 funktionaler Zusammenhang von Logarithmen 17 Funktionalgleichung der Zeta-Funktion 223, 288 Gamma Approximation 122 Ausdr¨ ucke f¨ ur 127 Definition von 65 funktionale Beziehung und deren Verallgemeinerung 66 Komplementformel 71 komplexe Verallgemeinerung 286 Nenner 114 sch¨ one Formel 72 Zusammenhang mit GammaFunktion 69 Gamma-Funktion 70 Alternative Form f¨ ur 67 Gauß, Absch¨ atzung der Funktion π(x) 202
Gauß, verfeinerte Absch¨ atzung von π(x) 203 Gaußsche ganze Zahlen 136 Geburtstagsparadoxon 172 gelosia 27 geometrische Harmonie 142 geometrisches Mittel im Vergleich zum arithmetischen und zum harmonischen Mittel 139 Konvergenz fast aller Kettenbr¨ uche 185 Verwendung in einer Absch¨ atzung von π(x) 208 Zusammenhang zum arithmetischen Mittel von Logarithmen 16 Glaisher–Kinkelin–Konstante 103, 132 glatte Kurve 267 Goldbachsche Vermutung 134 Goldener Schnitt als Ausnahme im Vergleich zu fast allen Zahlen 185 als Mittel von 1 und 2 141 alternierende harmonische Form 120 Kettenbruchform 113 gradus suavitatis 145 Gramsches Gesetz 246 Great Internet Mersenne Prime Search (GIMPS) 190 griechisches Alphabet 251 Harmonice Mundi 21 harmonische Br¨ uche 116 harmonische Polyeder 142 harmonische Reihe Approximation f¨ ur π(x) 207 Auftreten bei Aufzeichnungen von Rekorden 146 Coupon-Sammeln 152 Durchqueren der W¨ uste 148 Kartenmischen 149 ¨ maximal m¨ oglichem Uberhang 155 Messen der Unabh¨ angigkeit 146 Problem der optimalen Auswahl 156 Putnam-Preis-Wettbewerb 154 Quicksort 150 Wurm-auf-einem-Band-Puzzle 156
Sachverzeichnis Zerst¨ orungspr¨ ufungen 147 Definition 32 drei Ergebnisse 33 Rolle bei der Definition von Gamma 52 Schranken f¨ ur Divergenz 62 Verwendung bei Unabh¨ angigkeitsmessungen 186 von Primzahlen 38 Zusammenhang mit der Eulerschen Formel 75 harmonisches Mittel 139 Hilbert Mathematische Probleme 114 Hilberts Meinung u ¨ber die Riemannsche Vermutung 248 Hilberts Vortrag 243 H¨ oldersches Mittel 141 Integralkosinus 124 Integrallogarithmus 124 bei der Absch¨ atzung von π(x) Integralsinus 124
203
Kartenmischen 149 Kettenbruch Auftreten bei Auswahlgespr¨ ach 160 Definition 110 drei Ergebnisse 111 Form spezieller Zahlen 113 f¨ ur einen N¨ aherungswert von γ 123 Minimalgr¨ oße des Nenners bei rationalem γ 114 statistisches Verhalten 181 Verwendung bei geometrischer Harmonie 142 Verwendung bei musikalischer Harmonie 144 Zusammenhang mit der Pellschen Gleichung 114 kgV, kleinstes gemeinsames Vielfaches 212 Komplementformel 71 komplexe Differentialrechnung 259 komplexe Integration 267 komplexe Logarithmen 266 kritischer Streifen 226 Kummer und die Riemannsche Vermutung 250
305
La Disme 12 Laurentreihen 137, 278 Legendres Ausdruck f¨ ur π(x) 204 Legendres Ausdruck f¨ ur n! 191 Lehmersches Mittel 141 Limes superior und Limes inferior 133 Logarithmen Auftreten beim Verhalten von fast allen Kettenbr¨ uchen 182 Auftreten im Benfordschen Gesetz 170 Auftreten in der Definition der Unsicherheit 163 bei unteren Schranken von π(x) 191 Briggssche 19 Einklang mit Napiers Definition 26 Eulers Argument, daß sie mehrdeutig sind 25 Eulers Definition 24 Keills Ansichten 18 Keplers Verwendung 20 komplexe Form 266 Verwendung bei Gauß 202 zur Gewinnung unterer Schranken f¨ ur π(x) 193 London University Matriculation Examination 51 Madelungsche Konstanten 44 Manchester University Computer 247 Masser–Gramain–Konstante 136 ¨ maximal m¨ oglicher Uberhang 155 Mersennesche Primzahlen 135, 190 Mertenssche Funktion 240 Mertenssche Vermutung 241 Mittelwerte 139 Mittlere Entfernung eines Planeten von der Sonne 21 ML-Resultat 270 M¨ obiusfunktion 220, 239, 241 M¨ obiussche Umkehrformel 220 musikalische Harmonie 143 Napier Kanon der Logarithmen 10 Napiersche Analogien 26 Napiersche Logarithmen 15 Napiersche Regeln 27 Napierscher Abacus 29
306
Sachverzeichnis
nichttriviale Nullstellen Beitrag zu π(x) 227 diesbez¨ ugliche Ergebnisse 245 fr¨ uhe Beispiele und Symmetrie 225 Zusammenhang mit Riemannscher Vermutung 234 Niederschlagsmenge 146 N¨ aherungsbr¨ uche 111 optimale Auswahl
156
Pellsche Gleichung 109 Auftreten bei geometrischer Harmonie 143 Zusammenhang mit Teilbr¨ uchen 114 phantastische Formel 133 Portersche Konstante 132 Primzahlen 38 euklidische 38 Primzahlfunktion Definition 190 Riemanns Umformulierung 219 Primzahlsatz aquivalente Formulierungen 212 ¨ Beweis 216 Formulierung 190 Umformulierung 210 Zusammenhang mit den Nullstellen der Zeta-Funktion 225 Zusammenhang mit Riemannscher Vermutung 236 Zusammenhang mit von Mangoldts expliziter Formel 233 Primzahlzwillingsvermutung 41 Prinzip der Ein- und Ausschließung Definition 79 Verwendung bei der Primzahlz¨ ahlung 199 Verwendung beim Beweis der Teilerfremdheit 81 Prosthaphairesis 8 Putnam-Preis-Frage 154 Pythagoreer Tonleiter 144 pythagoreische K¨ orper 142 pythagoreisches Komma 145 quadratisches Mittel
141
Quadrivium 145 Quicksort 150 Quotientendefizite
131
Rabdologia 28 reelle Nullstellen der verallgemeinerten Zeta-Funktion 224 regul¨ are Primzahlen 99 Residuenkalk¨ ul 280 Riemann, gewichtete Primzahlfunktion 219 Riemanns Formel f¨ ur Π(x) 226 Riemanns Verallgemeinerung der Zeta-Funktion 223 Riemannsche Vermutung Formulierung 234 Hardys Respekt vor ihr 248 in den Hilbertschen Problemen 243 Littlewoods Meinung dazu 246 Umformulierungen 239 Wichtigkeit 236 Rundungsfunktionen 80 Sammeln einer vollst¨ andigen Menge 152 Sandrechner 9 Satz von Bohr–Mollerup 69 Satz von Liouville 277 Satz von Wilson 194 Scherzgedicht zur Riemannschen Vermutung 250 Schwarzsches Spiegelungsprinzip 225 Shannons Definition der Entropie 165 Sieb des Eratosthenes 198 Sierpi´ nskische Konstante 132 skaleninvariant 177 Skalierungseffekt 175 Skewes-Zahl 231 Stieltjes-Konstanten 137 Stirlingsche N¨ aherungsformel 102 Verwendung bei Angabe einer oberen Schranke von π(x) 208 Verwendung beim Verhalten des geometrischen Mittels der Kettenbruchform von e 186 zur Angabe einer unteren Schranke von π(x) 193 Stolarskysches Mittel 141
Sachverzeichnis Symmetrie der nichttrivialen Nullstellen von Zeta 226 Taylorreihen 255, 263, 275 Teilbr¨ uche Definition 110 Verhalten 181 von Gamma 113 totiens-Funktion 134 triviale Nullstellen der verallgemeinerten Zeta-Funktion Formel 225 Trivium 145 Tschebyschew gewichtete Primzahlfunktion 212 Unabh¨ angigkeit von Aufzeichungen 186 unbestimmtes Integral f¨ ur komplexe Funktionen 270 Unsicherheit 164 Vermutung von Legendre 215 vollkommene Zahlen 38 von Mangoldts explizite Formel 231, 233 von Mangoldtsche Funktion 128
307
Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion 176, 183 Weierstraßsche Funktion 264 Wurm auf einem Band 156 zahlentheoretischer Witz 134 Zerst¨ orungspr¨ ufungen 147 Zeta-Funktion alternierende Form 238 analytische Fortsetzung 285 Beziehung zur Gamma-Funktion 72 fr¨ uhe nichttriviale Nullstellen 226 Funktionalgleichung 223 f¨ ur positive ganze Zahlen 49 f¨ ur reelle x 55 nichttriviale Nullstellen und Primzahlen 227 reelle Nullstellen 225 Riemanns Verallgemeinerung 223 Zusammenhang mit M¨ obiusfunktion 241 Zusammenhang mit Primzahlen 74 Zusammenhang mit Primzahlsatz und Riemannscher Vermutung 234 zweite Gaußsche Verteilung 183