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Buch: Wie Modesto Orgullio, der hoffnungslos unbegabte Bildreporter einer Madrider Wochenillustrierten, während des Karnevals das Foto seines Lebens schießt, indem er das »Unsichtbare« auf die Platte bannt; wie der Amateurphysiker Smirny Strom aus Hufeisen erzeugt, die er in einer Kerzenflamme erwärmt; wie es unter zwanzig Doppelgängern, die in der Abgeschiedenheit eines Marslaboratoriums an wissenschaftlichen Problemen des Hyperraums arbeiten, zu einer Mordserie kommt; wie sich das sensationelle Unsterblichkeitselixier Sempiternin unter den Händen der Bürokratie zu einem Werkzeug der Manipulation verwandelt – von diesen und anderen denkwürdigen Begebenheiten ist die Rede in der vorliegenden Anthologie. Sie stellt vierzehn Autoren aus sieben europäischen sozialistischen Ländern mit Erzählungen vor, die zur Science Fiction und ihren Grenzbereichen gehören und das Thema Mensch und Maschine, technisch-wissenschaftlicher Fortschritt und Zukunft der Menschheit teils ernst, teils heiter, teils ironisch, teils sarkastisch abhandeln. Auf diese Weise ist für eine abwechslungsreiche Lektüre gesorgt, die dem Leser nicht nur spannende Unterhaltung bietet, sondern ihn auch zum Mit- und Weiterdenken anregt.
Der Fotograf des Unsichtbaren und andere phantastische Geschichten
Verlag Volk und Welt Berlin
Herausgegeben von Barbara Antkowiak, Jutta Janke, Karl-Heinz Jähn, Hannelore Menke, Veronika Riedel, Hans Skirecki Übersetzt von Barbara Antkowiak, Renate Bogdanowa, Hans Herrfurth, Hannelore Menke, Hubert Schumann, Hans Skirecki, Walter Sobota, Barbara Zulkarnain
3. Auflage 1983 © Verlag Volk und Welt, Berlin 1978 (deutschsprachige Ausgabe) L.N. 302, 410/201/83 Printed in the German Democratic Republic Alle Rechte an dieser Ausgabe für die Deutsche Demokratische Republik vorbehalten Redakteur: E.-A. Nicklas Einbandentwurf: Klaus Müller Satz: Druckerei Neues Deutschland Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck LSV 7294 Bestell-Nr. 6474068 DDR 6,80 M
Wladimir Sawtschenko Der Algorithmus des Erfolgs
Alle talentierten Menschen schreiben unterschiedlich, alle unbegabten gleich, ja sie haben sogar die gleiche Handschrift. 1. Ilf, Notizbücher
Zwei Gespräche mit dem Direktor Am 25. März wurde der Direktor des Instituts für Rechentechnik, Akademiemitglied Pantelejew, von zwei entschlossen eintretenden Ingenieuren der Produktionsabteilung in seinem Arbeitszimmer aufgesucht: von dem hageren, rothaarigen Wladimir Kaimenow und dem untersetzten, behäbig-rundgesichtigen Sergej Malyschew. »Valentin Georgijewitsch, wir bitten Sie, diesen Brief in Verwahrung zu nehmen«, sagte Kaimenow und sah den Direktor mit seinen grünen Augen durchdringend an. Pantelejew wog den kleinen Umschlag auf der Hand, der in großer Schrift das Datum trug: 25. März. Sonst nichts. »Oh, der ist ja sogar versiegelt!« Er betrachtete ihn genauer und erkannte auf dem Siegel die Zahl Dreihundertvier, die Türnummer des Rechnersaals. »Was ist denn da drin?« Die Ingenieure schwiegen verlegen. Kaimenow sah Malyschew an. Der zuckte gleichgültig mit den breiten Schultern, als wollte er Kaimenow zu verstehen geben: Du hast’s ausgeheckt, nun sieh zu, wie du dich rauswindest. »Da sind einige Unterlagen drin, die… Valentin Georgijewitsch, wir erklären Ihnen das alles später. Mehr noch: Sie werden selbst das Siegel lösen und sich mit dem Inhalt des Briefes bekannt machen.« »Na schön.« Der Direktor angelte lächelnd den Safeschlüssel aus der Tasche. »Verwahren wir ihn. Ich habe wie Sie eine Schwäche für Geheimnisse.« Das zweite Gespräch zwischen dem Direktor und Kaimenow fand zehn Tage später statt, am vierten April. Diesmal wurde Kaimenow durch die Sekretärin zu Pantelejew zitiert. Pantelejew schritt wütend in seinem Arbeitszimmer auf und ab.
»Hören Sie, Wladimir… äh, Michailowitsch, was haben Sie auf dem Institutsseminar für Unsinn geredet? Ich meine Ihre Mitteilung über die ›Arbeitsorganisation des Forschers‹. Erst muß man eine Sache zu Ende führen, und dann kann man sie, wenn Sie gestatten, an die große Glocke hängen.« »In der Mitteilung war nur die Aufgabenstellung formuliert, Valentin Georgijewitsch, mehr nicht.« »Man hat mir berichtet, wie sie formuliert war: als käme der Algorithmus des ›elektronischen Organisators‹ in unserem Institut kaum zur Anwendung. Ich will Sie nicht kränken, aber ein solches Vorgehen läßt mich an Ihren Fähigkeiten zweifeln, auch wenn ich Ihre Jugend, Ihre mangelnde Lebenserfahrung und dergleichen mehr berücksichtige. Man hat Ihnen eine ernst zu nehmende Arbeit übertragen, die riskant ist wie jedes gesellschaftliche Experiment. Eine vorzeitige, wenig begründete Reklame hat schon manche wissenschaftliche Idee kompromittiert.« Kaimenow öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch der Direktor ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und dann Ihr Zuspätkommen. Hier.« Pantelejew nahm Kaimenows Karteikarte vom Tisch. Auf solchen Karten vermerkten die automatischen Uhren in der Pförtnerloge, wann die Mitarbeiter eintrafen und gingen. »Vier rote Zahlen in den letzten zwei Monaten! Ganz hübsch für einen Ingenieur, der beabsichtigt, die Arbeit der Forscher zu organisieren. Habe ich recht?« »Ja, aber…« »Und dann Ihre gespannten Beziehungen zu Pawel Nikolajewitsch! Nicht genug, daß mich Akademiemitglied Feofan Stepanowitsch Mesosoiski seit der letzten Konferenz, auf der Sie die Güte hatten, sich über seinen Vortrag zu äußern, fast mit Blicken tötet, nein, Sie mußten auch noch im Beisein der Mitarbeiter die Zweckmäßigkeit des Verbleibens Pawel Nikolajewitschs auf dem Posten meines Stellvertreters und im Institut überhaupt in Zweifel ziehen! Finden Sie nicht, daß für die Klärung dieser Frage der Wissenschaftliche Rat, die Verwaltung und meine Wenigkeit zuständig sind? Pawel Nikolajewitsch Schischkin ist Kandidat der Wissenschaften und Abteilungsleiter. Sie mögen ein fähiger
Kopf sein, aber diese Dinge liegen doch, wenn Sie gestatten, alle noch in weiter Ferne.« »Jawohl!« sagte Kaimenow. »Ich verstehe. Valentin Georgijewitsch, entsiegeln Sie bitte das Kuvert, das Malyschew und ich Ihnen ausgehändigt haben.« »Das Kuvert? Ach ja… Aber was hat Ihr versiegeltes Geheimnis damit zu tun? Na bitte, wenn Sie wollen.« Die Safetür knarrte. Der Direktor erbrach das Siegel. Aus dem Umschlag fiel ein Wust mit Ziffern übersäter Papierstreifen und ein zur Hälfte zusammengefalteter Briefbogen. »Valentin Georgijewitsch, lesen Sie bitte Punkt eins.« Pantelejew wechselte die Brille. Diese Brille mit der runden schwarzen Fassung gab ihm große Ähnlichkeit mit einem vorrevolutionären Intellektuellen. »In der Zeit vom zweiten bis sechsten April wird P. N. Schischkin dem Direktor über Kaimenow einiges stecken…« Pantelejew runzelte die Stirn. »Er wird sich beschweren: 1) über Kaimenows Zuspätkommen 2) über sein herausforderndes Benehmen 3) über seine zweifelhaften gesellschaftlichen Beurteilungen…« Interessant! Pantelejew schielte auf das Datum seines Tischkalenders und danach auf das Datum des Briefumschlags. Interessant. »Punkt zwei. Ungefähr um dieselbe Zeit…« (Kaimenow machte eine Bewegung, als wollte er Pantelejew den Briefbogen entreißen, aber dann gewann die Subordination doch die Oberhand, und er ließ die Hand sinken.) »P. N. Schischkin wird den Direktor überreden, dienstliche Versetzungen und die Verteilung von Wohnraum und Prämien nicht in den Algorithmus des ›elektronischen Organisators‹ einzubeziehen. Falls es dem Direktor lästig sein sollte, sich damit zu befassen, wird P. N. Schischkin bereit sein, obengenannte Funktionen zu übernehmen. Motive: 1. Eine kluge Ausnutzung dieser Funktionen verbessert die Lenkbarkeit des Systems (des Instituts); 2. Kaimenow ist ein Mensch ohne gesellschaftliche und administrative Erfahrung und
könnte dem Rechenautomaten diese Funktionen falsch einprogrammieren…« »Hören Sie!« Pantelejew blickte zu Kaimenow auf und atmete hörbar aus. »Das Gespräch hat hinter verschlossenen Türen stattgefunden! Hm! Aber wer soll gelauscht haben, die Datierung stimmt nicht überein… Außerdem ist das Motiv Nummer eins nicht zur Sprache gekommen. Pawel Nikolajewitsch hat Ihr zweites Motiv angeführt und meinte dann noch…« »Ja, was meinte er?« Kaimenow wußte, daß er jetzt nicht die Geistesgegenwart verlieren durfte. »Daß dies als Versuch ausgelegt werden könnte, das Arbeitskollektiv durch eine Maschine zu ersetzen.« »Und was haben Sie darauf geantwortet?« Kaimenow ließ nicht locker. »Daß das Kollektiv bei uns nicht aus irgendwelchen Leuten besteht, sondern aus Wissenschaftlern. Wenn Kaimenow die Programmierung nicht bewältigt, dann kann man ihn immer noch korrigieren. Schließlich ist das nur ein Experiment… Aber hören Sie«, besann sich der Direktor, »nicht Sie sollen mich fragen, sondern ich Sie! Was haben Sie da ausgeheckt?« »Eine kleine Feierabendbeschäftigung… Auf gesellschaftlicher Grundlage.« Kaimenow zog sich zur Tür zurück. Als er Pantelejews Blick nicht länger ertragen konnte, legte er die Hände auf die Brust. »Valentin Georgijewitsch, falls es Sie beruhigt, möchte ich Ihnen sagen: Auf den Arbeitsplan für den ›elektronischen Organisator‹ wirkt sich das nicht aus, bei Gott! Valentin Georgijewitsch, und war von meinen gesellschaftlichen Beurteilungen die Rede?« »Ja!« antwortete der Direktor wütend. »Und noch eins: Sollten Sie die Absicht haben, mir künftig ähnliche Geheimpakete zuzustellen, dann gebrauchen Sie darin bitte nicht das Wort ›stecken‹.« Malyschew wartete auf dem Korridor. Als er Kaimenows schweißnasses Gesicht sah, fragte er mitfühlend: »Na, hat’s geklappt?« »So leidlich… Gut, daß ich ihn rechtzeitig gebeten hab, den Umschlag aufzumachen. Gib mir mal ‘ne Zigarette.« »Nun, was ist?«
»Im großen und ganzen stimmt alles, aber vieles haben wir nicht einkalkuliert. Schischkin geht raffinierter vor.« Die Geburt P. N. SCHs zwei Diesem Gespräch war eine Szene im Arbeitszimmer des Direktors vorangegangen, der das Projekt »elektronischer Organisator« entsprang. An einem Januartag hatte Pantelejew die Programmierer zu sich bestellt. Die Zusammenkunft war für 10 Uhr anberaumt, und selbstverständlich kam keiner zu spät. Bis 10.25 Uhr telefonierte Pantelejew äußerst stürmisch mit dem Direktor des Glawzwetmetsbytsnab. Den Schwingungen der Membrane nach zu urteilen, forderte dieser, die Aufträge der Hauptverwaltung vorrangig zu erledigen, und drohte mit einer Parteikontrolle. 10.26 Uhr traf der Beauftragte des Ökonomischen Rates der Republik ein, um das System der Plankalkulationen zu koordinieren. Die Koordinierung dauerte bis 11 Uhr und wurde von Telefongesprächen mit dem Geschäftsbüro von »Neftegas«, mit dem Gebietskomitee der Gewerkschaft Maschinenbau, mit drei Behörden des Volkswirtschaftsrates, mit der Staatlichen Autoinspektion, mit den Redaktionen einer wissenschaftlichen und einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift und mit zwei Privatpersonen in dringenden Angelegenheiten unterbrochen. Um 11 Uhr stürmte mit dem Ruf: »Valentin Georgijewitsch, der Staatsplan ist uns auf den Fersen!« der Kaderleiter ins Zimmer, um den Stellenplan für das bevorstehende Jahr abzustimmen. 11.30 Uhr fingen die bis dahin friedlich auf ihren Stühlen sitzenden Programmierer leise an zu murren. Pantelejew beendete das Gespräch mit dem Kaderleiter, schloß hinter ihm die Tür, stellte das erneut bimmelnde Telefon ab und wandte sich an die Programmierer: »Das gefällt Ihnen nicht, was? Mir auch nicht. Ich wollte, daß Sie mit eigenen Augen sehen, wie sich ein einigermaßen qualifizierter Mathematiker von Zeit zu Zeit in einen eingefleischten Bürokraten und Herzinfarktkandidaten verwandelt. Ja, genauso ist es. Ich habe einige
Rechenaufträge im Plan um vier Stellen verschoben, die Aufträge für das Glawmetzwet…« »… und für das Glawzwetmet«, soufflierte jemand. »Stimmt, ich danke Ihnen! Und was soll ich nun tun? Bei einer Parteikontrolle könnte ich natürlich anführen, daß die Bedeutung der Aufträge einiger Hauptverwaltungen in keinem Verhältnis zu der Hartnäckigkeit ihrer Direktoren steht, aber wieviel Zeit und Kraft ginge dabei verloren. Darum habe ich die Kalkulation mit dem Vertreter des Ökonomischen Rates recht und schlecht koordiniert, damit alles seine Ordnung hat, und wir haben den Stellenplan eilig aufgestellt, weil uns der Staatsplan tatsächlich auf den Fersen ist. Danach müssen wir um die notwendigen Kapazitäten betteln. Kurzum, es wird Zeit, damit Schluß zu machen.« Pantelejew schüttelte sein silbergraues Haupt. »Für andere lösen wir die organisatorischen Aufgaben nicht schlecht, und für uns selbst? Der Schuster geht barfuß. Darum lautet Aufgabe Nummer eins: operative Planung der Auftragsarbeiten. Aufträge gehen pausenlos ein. Manche sind wichtig, manche nicht. Wir können die Auftraggeber doch nicht der Reihe nach abfertigen wie eine Käuferschlange vor einem Geschäft. Darum schlage ich vor: Der Direktor oder der Wissenschaftliche Rat schaffen einen Wertmaßstab und stufen danach jeden Auftrag ein. Dieser Wertmaßstab in Form einer Skala und die Daten über die Möglichkeiten der Aufgabenerfüllung werden dem Rechenautomaten eingegeben. Dazu gehören: die Belastung der Automaten, der Werkstätten, wer von den Fachleuten womit beschäftigt ist, wer in Urlaub, wer auf Dienstreise und wer krank geschrieben ist. Der Rechenautomat arbeitet den optimalen Zeitplan für die Erfüllung der Aufträge aus: die Fristen, Anzahl und Qualifikation der Fachleute, die bei jeder Arbeit benötigt werden, die Zeit, die die Automaten brauchen, die Aufträge für die Werkstätten, für die Versorgungsabteilungen… Ein ähnliches Schema könnten wir auch bei unseren Perspektivforschungen verwenden. Es ist durchaus nicht notwendig, das Jahresende abzuwarten, um das zu Jahresbeginn erzielte Forschungsergebnis zu entwickeln oder, anders herum, eine Arbeit
einzustellen, deren Perspektivlosigkeit sich bereits im zweiten Quartal gezeigt hat. Hier können die Direktion und der Wissenschaftliche Rat ebenfalls die Wichtigkeit der Ergebnisse auf einer Skala festhalten. Aufgabe der Automaten wird es dann sein, Arbeitskräfte und Mittel für die erfolgreichen und erfolglosen Arbeiten operativ zu planen und einzuteilen. Und schließlich bitte ich Sie zu bedenken, ob wir die Rechenautomaten nicht bei verschiedenen innerbetrieblichen Problemen einschalten können. Zum Beispiel bei der Verteilung von Wohnraum. Es ist bekannt, daß die Anzahl der Wohnungen und der Zimmer, die uns vom Stadtsowjet bewilligt werden, immer bedeutend niedriger ist als die Zahl der Wohnungsuchenden. Es gibt fundierte Beschlüsse und Instruktionen, die festlegen, wer mit welchem Wohnraum zu versorgen ist. Zwar hat unsere Gewerkschaft ausreichende Angaben über die Dringlichkeit der Anträge, doch bei der Verteilung geht es, wie Sie wissen, nie ohne böses Blut und Streitigkeiten ab, die das Betriebsklima vergiften. Dabei ist dieses Problem meiner Ansicht nach nicht komplizierter als die maschinelle Projektierung eines Werkes. Und wir projektieren doch welche. Es lohnt sich auch, über eine Automatisierung dienstlicher Versetzungen nachzudenken. Wir kennen einander alle gut genug, außerdem sind wir Mathematiker. Es müßte uns doch möglich sein, nicht nur in vorsichtig gewählten Worten, sondern auch in Zahlen die wissenschaftlichen und arbeitsmäßigen Qualitäten jedes einzelnen auszudrücken, seine Verdienste, seine Erfahrung, seine Neigungen und Ideen in logische Schemata umzuwandeln. Natürlich« – der Direktor hob den Finger –, »ein entscheidendes Wort werden in jedem Falle die Verwaltung und das Kollektiv mitzureden haben. Aber unser Institut ist ein großes und kompliziertes System. Die Automaten werden uns helfen, es optimal und vollständig zu entwickeln. Darum rufe ich zu einem innerbetrieblichen Wettbewerb um die beste Idee für den Algorithmus des ›elektronischen Organisators‹ auf!« schloß Pantelejew feierlich. »Die Wettbewerbsfrist beträgt eine Woche. Denken Sie nach, bereiten Sie Vorschläge vor. Am nächsten Montag beraten wir darüber und bestimmen, wem wir die Ausarbeitung des Algorithmus übertragen.«
»Und Sie haben keinerlei Befürchtungen, Valentin Georgijewitsch?« fragte Kaimenow scheinheilig. »Die Automaten könnten doch Ihre Direktorenfunktionen übernehmen, und eines schönen Tages…« »… bringt der elektronische Direktor den lebenden zur Strecke?« führte Pantelejew Kaimenows Gedanken zu Ende. »Nein, ein kluger Mensch (und ich zähle mich dazu, wenn Sie gestatten) braucht die Automaten nicht zu fürchten. Es gibt eine Methode, die uns stärker macht als sie – wir müssen die Automaten nutzen. Was wir auch tun werden. Das war’s! Wir treffen uns in einer Woche wieder.« Der Direktor schaltete das Telefon ein, das sofort zu schrillen begann, als hätte es nur auf diesen Moment gewartet. »Er ist ein Träumer«, sagte Malyschew seufzend zu Kaimenow, als sie hinausgingen. »Mathematiker sind Träumer. Auf dem Papier ist alles einfach.« »Da hast du recht«, erwiderte Kaimenow gut gelaunt. »Jetzt ist die Zeit der Träumer, hast du das noch nicht bemerkt?« Eine Woche später legte Kaimenow seinen Plan für den Algorithmus des »elektronischen Organisators« vor. Er wurde angenommen, und Kaimenow bekam für die Ausarbeitung des Algorithmus den erst kürzlich gekauften Elektronenrechner »M-117« zugewiesen. Und dann geschah es, daß Wladimir Kaimenow den stellvertretenden Direktor Pawel Nikolajewitsch Schischkin einen Esel nannte. Hinter den riesigen Scheiben des Rechnersaals verdichtete sich die violette Abenddämmerung. Über den sechs grauen Schränken des Rechenautomaten »Molnija« (dem ältesten im Institut, noch mit Elektronenröhren bestückt) fauchten die Gebläse der Klimaanlage. Am Pult des Automaten, an dem Sergej Malyschew arbeitete, flammten Reihen von Lämpchen auf und erloschen wieder. Rechter Hand spie der Schnelldrucker klappernd Zahlen aus. Kaimenow saß mit dem Rücken zu seinem Kollegen an dem unlängst im Saal aufgestellten Automaten »M-117«. Der »M-117« war bedeutend kleiner als der »Molnija«, er bestand nur aus einem Kasten und einem
Pult von der Größe eines Nachttisches, aber er konnte die Aufgaben vieler Wissensgebiete lösen. Malyschew steckte das Lochband mit dem neuen Programm zwischen die Eingaberollen und löste den Startbefehl aus. Danach trug er Nummer und Bezeichnung der Aufgabe ins Tagebuch ein. »Aufstellung des optimalen Fahrplans für den Transport organischer Farbstoffe im südlichen und südwestlichen Streckenbereich«, las Kaimenow, über Malyschews Rücken gebeugt, und fluchte: »Dieser Schischkin! Hat sein Schäfchen ins trockne gebracht. Die optimale Strecke für den Transport pasteurisierter Milch, der optimale Fahrplan für den Transport von gebackenem Brot, der optimale Fahrplan für den Transport von Treibhausgemüse. Und schließlich, welch unerhörter Gedankenflug: der optimale Fahrplan für den Transport organischer Farbstoffe. Warum ausgerechnet organische Farbstoffe? Warum nicht Palech-Schatullen? Aha, ich verstehe: Das ist nicht zeitgemäß.« »Na, weißt du!« Malyschew hob die Brauen, warf den Kopf leicht zurück und spitzte bedeutsam die Lippen. »Immerhin werden dadurch doch die Anwendungsmöglichkeiten der Automaten erweitert.« »Ja, natürlich. Die Wissenschaft kann sich alles leisten. In einer Fabrik hätten sie längst gemerkt, daß der Mann immer wieder das gleiche Werkstück bearbeitet, daß nur der Maßstab variiert. Aber hier? Die Anwendungsmöglichkeiten werden erweitert, ha!« »Ach, laß mich in Ruhe«, knurrte Malyschew, der allmählich die Geduld verlor. »Ich hab Schischkin erklärt, daß es Zeit wäre, das Transportproblem aller Güter auf allen Strecken universell zu lösen.« »Und was hat er dazu gesagt?« »Er meint, spezielle Lösungen seien vorzuziehen.« »Und du?« »Ich hab um die Erlaubnis gebeten, den universellen Algorithmus in meiner Freizeit auszuknobeln.« »Und er?« »Das Wort ›Freizeit‹ hätte ich lieber nicht erwähnen sollen. Er hat mir gleich noch zwei Mappen mit speziellen Aufträgen für Be- und
Entladearbeiten, Hin- und Rücktransporte in die Hand gedrückt. Badeseife war auch dabei.« »Und du?« »Hör auf, mich zu löchern!« rief Malyschew wütend. »Du hast es gut, du bist Pantelejew unterstellt.« Auf dem Pult des »Molnija« blinkte die obere Reihe der Lämpchen auf: Der Automat hatte eine Serie von Operationen ausgeführt und wartete auf weitere Befehle. Malyschew drückte mit geübter Hand auf einige Tasten und startete den Befehl für die Kontrollrechnung. Kaimenow kehrte zu seinem Automaten zurück und schaltete ihn aus. Für heute war es genug. Er zog den Kittel aus, hängte ihn in den Schrank, verstaute die Papiere im Schreibtisch. »Sergej, bist du bald fertig?« »Noch zwanzig Minuten.« »Beeil dich, ich nehm dich auf dem Motorrad mit.« Kaimenow wanderte im Saal auf und ab. Als er am Fenster anlangte, kam ihm eine Idee. Er lief zu Malyschew, wartete, bis der sein Spiel mit den Schalthebeln und Tasten beendet hatte, und sagte: »Übrigens, Möglichkeit der Automaten! Warum ist bisher keiner daraufgekommen, die Kybernetik für die Organisation des persönlichen Lebens zu nutzen? Unser Leben ist kompliziert, es gibt tausend Dinge, Absichten, Probleme, Handlungsweisen, Geschehnisse. Wie soll man seine Zeit einteilen, damit noch ein paar Stunden bleiben für ein Rendezvous, fürs Theater, für Erholung? Wie organisiert man ein Treffen mit einem Menschen, den man braucht? Wie geht man Leuten aus dem Weg, die man nicht braucht? Was macht man, damit man nicht zu spät zur Arbeit kommt? Wie teilt man sein Geld bis zur nächsten Gehaltszahlung ein? Wie gestaltet man seine Beziehungen zu den Eltern möglichst reibungslos? Wie und wo soll man sich erholen? Welche Ideen lohnt es zu verwirklichen, welche nicht? Und in welcher Reihenfolge? Wie beschafft man sich Informationen? Wie richtet man sein Leben ein in dieser Stadt? Oder läßt man lieber alles liegen und stehen und fährt weg…«
»Nach Rio de Janeiro!« rief Malyschew prustend, während er die Zahlenausdrucke mit der Kontrollösung durchsah. »Nein, wozu? Zum Stillen Ozean, nach Kobeljaki, aufs Neuland. Wir leben empirisch, verstehst du? Das Leben schreitet rasch voran: Radio, Telefon, Flugzeuge… Von hier bis Moskau fliegst du in so kurzer Zeit, daß du unterwegs nicht dazu kommst, deinen Dienstreiseauftrag zu überdenken. Und so ist es mit allem: Das langsame menschliche Gehirn schafft es nicht, alles zu erfassen und zu überschauen, aus tausend Varianten die beste auszuwählen. Dabei ist diese Variante dein Leben – Mensch!« Kaimenows Stimme klang nachdenklich. »Die Wege, die wir wählen… Kein Stück wählen wir sie, wir leben, wie’s gerade kommt, greifen nach dem nächsten, das uns in die Augen fällt. Und danach plagt uns Unzufriedenheit. Hast du schon bemerkt: In Büchern, Filmen – guten natürlich – wird das Leben immer interessanter, eindrucksvoller, logischer beschrieben, als es in Wirklichkeit ist. Die Helden benehmen sich wie normale Menschen: Sie verlieben sich, arbeiten, streiten sich, leiden, halten Freundschaft, erfinden was, aber das alles wirkt bei ihnen souveräner, vollkommener.« Malyschew nickte. »Das stimmt eigentlich.« »Und weißt du, woran das liegt? Der Schriftsteller hat Zeit, die Handlungsweisen und die Taten seiner Helden zu überdenken. An einem Roman, der die Ereignisse eines Tages schildert, schreibt er vielleicht ein Jahr. Ein Film, den wir uns in anderthalb Stunden ansehen, hat Jahre gebraucht, bevor er fertig war. Wir haben nicht so viel Zeit, nachzudenken. Wir müssen jeden Tag leben, wie soll man da zur Besinnung kommen? Wir zwängen uns durch ein Dickicht von Alltagskleinkram, und manchmal reichen weder Zeit noch Kraft für das Wichtigste im Leben: für schöpferische Arbeit, große Taten, echte Liebe, echte Freundschaft. Ein schaler Nachgeschmack bleibt, und wir fühlen uns zwar nicht unglücklich, aber auch nicht besonders glücklich… Wenn der Mensch die grauen Alltagssorgen auf die Automaten abwälzt« – Kaimenow schnippte mit den Fingern –, »dann kann er jeden Tag interessant und sinnvoll verbringen – besser als in Romanen.« Malyschew blickte zu seinem Kollegen auf, dessen grüne Augen flackerten.
»Du hast Ideen, Wolodja, nur sind sie ziemlich gewagt. Sag, wieviel kostet ein Automat in der Stunde, zum Beispiel mein ›Molnija‹?« »Dreihundert Rubel.« »Dreihundertvierzig. Eine mittelschwere Aufgabe wird von ihm in acht bis zehn Minuten gelöst. Wer wird denn fünfzig Rubel ausspucken, um zu erfahren, warum ihm bis zur nächsten Gehaltszahlung ein paar Zehner fehlen?« »Das ist doch bloß jetzt so« – Kaimenow fuchtelte hitzig mit den Armen –, »bis sich alles eingespielt hat. Aluminium war früher teurer als Gold, und jetzt macht man Kochtöpfe daraus. Die Mikroelektronik entwickelt sich, bald wird man zur Serienproduktion übergehen, und in zehn Jahren werden die kybernetischen Maschinen die Größe und den Preis eines Radioapparates haben. Bis dahin brauchen wir allgemeinverständliche Algorithmen, damit die Kybernetik in das Leben, in die Arbeit jedes einzelnen Eingang findet. Jeden Tag sinnvoll verbringen«, wiederholte er, »darüber müssen wir schon jetzt nachdenken.« Der Drucker spie klappernd die Listen mit den Zahlenkolonnen aus dem Metallrachen. Malyschew wartete, bis er fertig war, riß den Streifen ab und trug die Zahlen ins Tagebuch ein. Kaimenow ging pfeifend im Saal auf und ab. Im selben Moment öffnete sich die Tür, und Pawel Nikolajewitsch Schischkin erschien. Alles an ihm war gerade und abgezirkelt: gerade Nase, rechtwinkliges energisches Kinn, glattes dunkles Haar, gerader Rücken und gerader Blick unter den schnurgeraden dunklen Brauen. Was ihn nach Dienstschluß hierherführte, ob er einfach nach dem Rechten sehen oder richtungweisende, die Wissenschaft vorantreibende Winke geben wollte, blieb ungeklärt. Schischkin kam die Treppe herunter, streifte den geschäftig übers Pult gebeugten Rücken Malyschews mit leutseligem Blick und gewahrte den untätig herumlungernden Kaimenow. Ein giftiger Dialog begann. »Warum sind Sie hier und arbeiten nicht?« »Ich arbeite ja. Ich denke nach.«
»Sie denken nach?« Schischkin straffte sich empört. »Ich muß Sie ersuchen, am Arbeitsplatz nicht nachzudenken!« Kaimenow blieb stehen, den Kopf gesenkt wie ein Ziegenbock, der zustoßen will. Eine Weile betrachtete er Schischkin wie einen Gegenstand, der Ärgernis erregt. Dann sprühten Fünkchen in seinen Augen, und er fragte in liebenswürdigstem Ton: »Hören Sie, Pawel Nikolajewitsch, hat Ihnen noch nie jemand gesagt, daß Sie ein Esel sind?« »Nein, das hat…« Vor Überraschung erschlaffte Schischkins energisches Gesicht und lief gleich darauf lila an. »Wa-a-a-s? D-a-s sagen Sie mir? Sie – mir?« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Brusttasche seines Jacketts. Kaimenow hatte nichts mehr zu verlieren. Seine Augen verengten sich. »Wenn Sie ein dumpfes Geräusch hören wollen, müssen Sie sich nicht an die Brust, sondern an die Stirn schlagen, Sie Nichtskönner!« Malyschew, erschrocken über solche Wendung der Dinge, bemerkte, daß sich auf Schischkins Gesicht nicht Zorn, sondern Angst abzeichnete. Schischkin schnappte nach Luft. »Ich werde Sie! Sie werden… einen Verweis… entlass… in vierundzwanzig Stunden! Ssss…« Er stürzte zur Treppe, riß zornig die Tür auf und rannte hinaus. Die Tür schwankte in den Angeln und erstarrte. »Dem hast du’s ja gegeben!« Malyschew schlug sich auf die Schenkel und blickte zu seinem Kollegen auf. »Konntest du deine Zunge nicht zügeln? Den hast du dir zum Feind gemacht, gratuliere!« »Aber er ist doch ein Esel. Warum habe ich das nicht eher gemerkt?« »Na, weißt du…« Malyschew schüttelte den Kopf. »Was heißt Esel? Das ist ein relativer Begriff. Übrigens glaube ich nicht, daß Schischkin dumm ist, ohne Verstand kann man sich auf solchem Posten nicht halten. Und dann hat er Hochschulbildung, ist Kandidat der Wissenschaften.« »Da irrst du dich aber gewaltig!« widersprach Kaimenow ärgerlich. Sein rechtes Ohr war knallrot angelaufen. »Esel ist kein relativer Begriff, sondern der absoluteste, den man sich denken kann. Hochschulbildung,
ha! Wenn man einem Dummkopf was beibringt, wird er nicht klug, er weiß nur mehr. Natürlich ist er kein klinischer Fall, die sind leichter zu erkennen. Esel, Nichtskönner, Mittelmäßigkeit – die Bezeichnung spielt keine Rolle. Aber er gehört zu einem bestimmten Menschentyp. Alles, was er anpackt, besudelt er.« Wieder klapperte der Schnelldrucker, aber Malyschew achtete nicht darauf und wandte sich zu Kaimenow um. »Angenommen, er ist ein Esel und Nichtskönner, aber er hat doch was erreicht. Das heißt, er kann was. Mit solchen Leuten muß man rechnen, gegen die kämpft man nicht wie Don Quijote gegen Windmühlenflügel.« Auf die letzten Worte reagierte Kaimenow nicht. Er saß da, die Ellbogen auf die Knie und die Fäuste gegen die Wangen gestemmt. »Das ist ja das Interessante. Sie erreichen was. Wie? Warum? Ich weiß es nicht. Dabei ist doch klar, was für ein Mensch er ist. Pantelejew müßte längst erkannt haben, daß Schischkin weder begabt noch klug ist noch Anstand hat. Und ihn wegjagen. Aber nein, im Gegenteil, er zieht ihn zu sich herauf, fördert ihn…« »Pantelejew ist zwar ein talentierter Mathematiker, aber er hat kein Talent, sich den richtigen Stellvertreter auszusuchen. Außerdem nimmt ihm Schischkin alle unbequemen Sachen ab: die Versorgung mit Rechenaufträgen, Arbeitskräften, alle möglichen heiklen Konflikte, die Pantelejew aus seinem hohen Gedankenflug reißen würden.« Kaimenow schüttelte den Kopf. »Du urteilst nicht gerade wissenschaftlich. In der Tat, wir schicken Sputniks in den Weltraum, bald werden wir die gesteuerte thermonukleare Synthese meistern, aber geistiger Beschränktheit und Gemeinheit stehen wir oft hilfloser gegenüber als junge Katzen. Warum gehen wir nicht wissenschaftlich an die Sache heran? Ist diese Aufgabe wirklich schwieriger als alle anderen? Vielleicht hat’s bloß noch keiner versucht.« »Dann versuch du’s doch«, spottete Malyschew. Kaimenow dachte laut nach: »Wenn wir das herausfinden… Wie Schischkin und seinesgleichen Karriere machen… Erstens verfolgen sie ein eng begrenztes Ziel: Wohlstand um jeden Preis. Sie plagen sich nicht mit der Suche nach dem Sinn des Lebens, mit der Analyse ihrer und
fremder Erlebnisse, mit Grübeleien über allgemein menschliche Probleme, mit überflüssigen Verstandesspielereien überhaupt. Ihre Logik ist vereinfacht. Zweitens ist ihr Verhalten in hohem Maße vorauszusagen. Wende dich mit der einfachsten Sache an Schischkin, und du weißt schon im voraus, daß er sie niemals sofort entscheiden wird. Entweder er lehnt sie ab, oder er verändert was daran, oder er ›vertagt die Frage‹, um seine Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit zu beweisen. Stimmt’s?« »Ja«, bestätigte Malyschew und klappte erleichtert das Tagebuch zu. Er stand auf, reckte den vom Sitzen steif gewordenen Körper und machte ein paar Lockerungsübungen. »Ich prophezeie dir, daß er dir das Leben jetzt zur Hölle machen wird.« »Das kannst du annehmen«, pflichtete ihm Kaimenow lebhaft bei. »Darum geht’s ja, verstehst du? Sie haben einen bestimmten Algorithmus des Verhaltens. ›Eine Hand wäscht die andere‹, ›Wer sich die Suppe eingebrockt hat, soll sie auch auslöffeln‹, ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹, ›Der Kluge steigt den Berg nicht hinauf, er umgeht ihn‹, ›Teile und herrsche‹, ›Jeder ist sich selbst der Nächste‹. Verstehst du, diese alltäglichen Redewendungen haben eine exakte logische Struktur. Man kann sie in Symbolen der mathematischen Logik und in elektronischen Schemata ausdrücken. ›Eine Hand wäscht die andere‹ ist ein typisches Schema mit positiver Rückkopplung. ›Auge um Auge…‹ ein Schema mit negativer Rückkopplung. ›Eile mit Weile‹ liegt auf der Linie der Hemmung. ›Der Kluge steigt den Berg nicht hinauf…‹ ist ein typisches Schema ›nicht – oder‹, ein universelles logisches Element aus einem Transistor und zwei Dioden. Und ›Teile und herrsche‹ ist allgemein das Prinzip der Zerschlagung einer komplizierten Information in elementare duale Symbole, die sich leicht verarbeiten lassen.« Kaimenow sprang auf. »Hör zu, Sergej, laß uns Schischkin modellieren, ja?« »Paß auf, daß er dich nicht modelliert«, erwiderte Malyschew kalt. Er ging ans Schaltbrett, drehte an zwei Knöpfen. Die Lämpchen am Pult des »Molnija« erloschen, die Klimaanlage hörte auf zu rauschen. Im Saal wurde es ungewohnt still. Malyschew streifte den Kittel ab, zog seinen Mantel an, setzte die Mütze auf, reichte Kaimenow die Lederjacke.
»Zieh dich an, wir fahren. Die Jacke ist gut. Was hast du dafür bezahlt?« Kaimenow stellte die Jacke auf den Boden. Sie blieb stehen wie eine Eins. »Hör zu, Spezialist für den Transport von Badeseife«, sagte Kaimenow nachdrücklich. »Ich schlage dir allen Ernstes vor, Schischkins Verhalten auf meinem ›M-117‹ zu modellieren. Das kann man jetzt gleich machen. Eine bessere Gelegenheit findet sich nicht.« »Ich fahre wohl doch besser mit dem Obus.« Malyschew wandte sich zur Treppe. »Mir wird schon unheimlich, wenn ich mich hier im leeren Saal mit dir unterhalte, und dann noch auf deinem Motorrad mitfahren, nein, danke.« »Ich seh schon, du bist bei deinen Be- und Entladearbeiten völlig abgestumpft. Zieh dein Mäntelchen aus, setz dich, ich erklär dir alles. Kennst du die Daten über das menschliche Gehirn?« »Ja«, erwiderte Malyschew gelangweilt. »Von mehreren Milliarden Nervenzellen der Großhirnrinde arbeiten selbst bei einem begabten. Menschen nur ein paar…zig Millionen und bei einem mittelmäßig begabten nur eine Million oder Hunderttausende. Warum fragst du? Das sind immer noch mehr, als dein ›M-117‹ Transistoren hat. Und ein Transistor ist noch keine Nervenzelle.« »Richtig. Nun hör weiter. Schischkins eine Million Nervenzellen verarbeiten alle Informationen, die er sozusagen im Rohzustand über seine Sinnesorgane erhält. Wir dagegen geben den Automaten nur vorbereitete Daten ein: in Dualzahlen verschlüsselte Informationen und logische Schemata. Das heißt, wir entlasten Schischkins Automatengehirn von dieser schweren Arbeit. Weiter. Wir werden nicht sein ganzes Verhalten modellieren, nur sein dienstliches, von neun bis fünf Uhr. Wir scheiden also von vornherein eine beachtliche Menge an Informationen aus: Familienangelegenheiten, Gesundheitszustand, Kindheitserinnerungen. Die dienstlichen Informationen sind aber in hohem Maße nicht den Emotionen unterworfen, sondern den Gesetzen der Logik – das hat Pantelejew theoretisch begründet. Wobei wir auch diese Informationen von einem Ballast an Einzelheiten befreien werden: Was für ein Gesicht ich gemacht habe, als ich ihm die Wahrheit sagte,
welche Augenfarbe Pantelejews Sekretärin hat… Uns interessiert nur das Wesentliche. Achtundzwanzigtausend Operativspeicherzellen des ›M117‹ werden das schon schaffen, das ist doch eine beachtliche Kapazität.« »Zugegeben«, sagte Malyschew. »Aber woher nehmen wir die erforderlichen dienstlichen Informationen? Und dann müssen wir sie ja auch noch verschlüsseln.« »Aus dem Schrank dort.« Kaimenow machte eine lässige Kopfbewegung. »Sie sind schon für die Speicherzuführung vorbereitet.« »Nicht möglich«, sagte Malyschew verwundert. »Sechs Mappen. Hast du vergessen, daß ich den Algorithmus des ›elektronischen Organisators‹ ausarbeite? Nun zieh doch den Mantel aus, du schwitzt ja schon. Ich erzähle dir das alles, weil sich solch eine Gelegenheit nicht noch einmal bietet. Erstens haben wir sämtliche schriftlichen Informationen in Händen: über die Struktur des Instituts, über die Mitarbeiter; die Schemata der Wechselbeziehungen mit anderen Betrieben sind fertig, die Instruktionen über alles – von der Titelverleihung bis zur Wohnraumverteilung. Zweitens wissen wir auch selber Bescheid, verfügen über mündliche Informationen für den Operativspeicher. Drittens gibt es einen Konflikt zwischen Schischkin und mir, das heißt eine Situation, in der die Eigenschaften eines Menschen besonders deutlich zutage treten. Und viertens haben wir den Automaten zu unserer Verfügung.« »Wirklich?« zweifelte Malyschew. »Der ist doch Staatseigentum.« »Das bedeutet ja gerade, daß ich jetzt das Recht habe, ja sogar verpflichtet bin, mit seiner Hilfe Aufgaben solcher Art auszuarbeiten, ehe ich den ›elektronischen Organisator‹ modelliere. Das steht in meinem Plan, verstehst du?« »Hm.« Malyschew knöpfte seinen Mantel auf. »Zeig mal die Mappen.« Kaimenow steckte die Hand in die Tasche. Stand auf. »Hier ist der Schlüssel, da der Schrank. Ich gehe rasch und kaufe was zu essen.« »Vergiß nicht, Zigaretten mitzubringen«, murmelte Malyschew, den Schrank aufschließend.
Kaimenow hatte wirklich gut gearbeitet. Die Angaben über die wissenschaftlichen Forschungen, die Unterlagen der Buchhaltung, der Kaderabteilung, des Gewerkschaftskomitees, die Anforderungen an die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse, die organisatorische und wissenschaftliche Struktur des Instituts, die Wechselbeziehungen der gesellschaftlichen Organisationen, die Angaben des thematischen Plans, die Beschlüsse, die die Institutsarbeit regelten – all das war in Bewertungsskalen und logische Schemata aufgeschlüsselt. »Die Bewertungsskala der Dienststellungen«, las Malyschew. »Direktor – 900, stellvertretender Direktor – 450, Abteilungsleiter – 360, und so weiter… Leitender Ingenieur – 160, Oberingenieur – 130… Ich erkenne dich, Gehaltsliste. ›Bewertungsskala wissenschaftlicher Grade und Titel‹.« Das war ebenfalls klar. »›Skala für administrative Maßnahmen: Versetzung in ein höheres Amt – 1000, Prämien 700-200, dienstliche Anerkennungen – 50…‹ Für den einfachen Mitarbeiter bleibt nichts – Null.« Malyschew grinste. Was denn, mathematisch stimmte alles. Wenn die Skala Plus- und Minuszahlen umfaßte, dann mußte es auch Nullen geben. »›Verweis – minus 50, Verweis mit Prämienentzug – minus 100 bis minus 600… Entlassung – minus 1500.‹« Hier hatte Wolodja vereinfacht. Für Entlassungen gab es verschiedene Paragraphen. Immerhin, für den Anfang mochte es gehen. Malyschew zog ein Blatt aus einer anderen Mappe. »Schema der Leitungsstruktur.« Der Direktor und sein Stellvertreter waren in Quadrate eingeschlossen, vom Direktor führten Linien zu Kreisen, in die die Abteilungsleiter eingetragen waren, von den Abteilungsleitern wiesen Verästelungen zu den Bereichsleitern und von diesen zu den ausführenden Mitarbeitern. Vom stellvertretenden Direktor Schischkin führten Verästelungen zur Kaderabteilung, zu der von ihm geleiteten Abteilung, zu den Werkstätten und Versorgungsabteilungen. Richtig. »Das Schema der innerbetrieblichen wissenschaftlichen Verbindungen: Direktor – Wissenschaftlicher Rat – Abteilungen – thematische Bereiche – ausführende Mitarbeiter…« Kaimenow kam zurück. Er zog eine Wurst, Semmeln, Zigaretten und zwei Flaschen Kefir aus den Taschen seiner Lederjacke.
»Und was sind das für punktierte Linien?« fragte Malyschew. »Wo?« »Na hier. Von den Mitarbeitern zu den Abteilungsleitern bis zum Wissenschaftlichen Rat…« »Das ist die Rückkopplung. Die Mitarbeiter haben doch auch Einfälle, Ideen. Die Initiative von unten, sozusagen.« »Streich sie lieber, verwirr den Automaten nicht«, riet Malyschew. »Schischkin unterstützt die Initiative von unten. Das ist der kürzeste Witz des Jahrhunderts.« »Das habe ich doch nicht für Schischkin gemacht. Wie findest du’s sonst?« Kaimenow sah seinen Kollegen hoffnungsvoll an. »Hm, es stimmt alles, jedenfalls scheint es so. Nur müßte man noch einiges vereinfachen. Wozu den Speicher mit Angaben über die Abteilungen, sämtliche Mitarbeiter, sämtliche Arbeiten vollstopfen? An dem Konflikt sind Schischkin und du beteiligt. Übrigens werden wir ohne Pantelejew nicht auskommen, das wären dann drei. Na und ich, als unfreiwilliger Zeuge. Ergibt also vier Personen – vier grundlegende Kodierungen.« Malyschew nahm ein Blatt Papier und schrieb: »001 – P. N. Schischkin 010 – W. G. Pantelejew 01 – W. M. Kaimenow 100 – S.A. Malyschew« »Auf diese vier Namen werden wir sämtliche Informationen verteilen, gut so? Wenn die Information für den betreffenden Adressaten günstig ist, ergibt das eine Pluszahl. Wenn nicht – eine Minuszahl.« »Richtig, Genosse 100. Vereinfache du die Schemata, ich werde inzwischen Schischkins Algorithmen programmieren. Also: ›Teile und herrsche‹. Hm… Das bezieht sich auf Personen und geht an drei Adressen. Die Eingabe der Information und der Rechenbefehle erfolgt über Objekt 001, über Schischkin. ›Auge um Auge…‹ Das ist das Programm reziproker Subtraktion. Als erstes verwandelt sich die kleinste Zahl in Null…«
»Stop.« Malyschew legte den Bleistift hin. »Glaubst du nicht, daß du Schischkin fälschlich beschuldigst?« Kaimenow sah ihn mit verschleierten Augen an. »Worauf willst du hinaus?« »Auf die Algorithmen, die du dir ausgedacht hast. Was hast du für Beweise, daß er sich von ›Teile und herrsche‹ und ›Auge um Auge‹ leiten läßt?« »Sein Gehirn habe ich natürlich nicht durchleuchtet, aber meiner Ansicht nach spricht alles dafür.« »Die Mathematik stützt sich nicht auf Vermutungen. Außerdem sollen wir nicht Verhaltensmuster vorschreiben«, erklärte Malyschew. »Es ist durchaus möglich, daß Schischkins Algorithmen nicht so einfach sind wie deine Sprichwörter und Redewendungen.« »Richtig!« rief Kaimenow begeistert aus. »Du bist ein kluger Kopf! Wir brauchen keine Algorithmen. Wir geben dem Automaten einen Lagebericht und formulieren das Ziel. Soll er sehen, wie er damit fertig wird. Er wird die optimale Verhaltensvariante ausknobeln. Und wir haben weniger Arbeit.« Er zerriß sein Blatt Papier. »Sergej, du bist ein Genie!« Das orangefarbene zuckende Licht der Lämpchen am Pult verschmolz zu bizarren Mustern. Der Elektronenstrahl auf dem Kontrollschirm zeichnete eine grüne horizontale Linie, die immer wieder von einer Impulsserie unterbrochen wurde. Dumpf surrten die Motoren des Magnettrommelspeichers. Im Plastewürfel des »M-117« hauste jetzt ein elektronisches Wesen. Rasch und lautlos schaltete es Transistoren ein und aus, lenkte die Elektronenstrahlen durch Dioden, tastete das Magnetfeld in den Ferritkernen ab. Im Leitungsnetz sprangen, einander beschleunigend oder auslöschend, elektrische Signale hin und her. Kaimenow und Malyschew warteten nervös. Zehn Minuten später hörten die Lämpchen am Pult auf zu flimmern. »So.« Kaimenow holte tief Luft. »Jetzt können wir Fragen stellen. Fangen wir bei 010 an. Wie stehen Sie zum Direktor, werter P. N. Sch. zwei?«
Er schaltete dreimal: zweimal nach rechts, einmal nach links. Sogleich ertönte das abgehackte Klappern des Schnelldruckers, und aus seinem rechtwinkligen Rachen schob sich eine weiße Papierschlange. Die Ingenieure beugten sich darüber. »Adresse 2, Unteradresse des ›elektronischen Organisators‹«, entschlüsselte Malyschew die Ziffern. »Subtraktionssymbole, Zahlen… Gib mal unsere Tabellen her, ohne die kriegen wir’s nicht raus. Soso. ›Es wird beabsichtigt, die Funktionen 14, 21 und 35 vom elektronischen Organisator zu subtrahieren…‹« »Prämienverteilung, Beförderungen, Gehaltserhöhungen und die Zuteilung von Wohnraum«, las Kaimenow von der Tabelle ab. »… und selbst zu übernehmen. Soso. In den nächsten Zeilen haben sich aus diesen Funktionen Schischkins zusätzliche gerade Verbindungen in den administrativen und gesellschaftlichen Schemata ergeben. Und sogar Rückkopplungen sind da.« »Dann ist das auch geklärt.« Kaimenow griff wieder zu den Schaltknöpfen. »Frag nach den Transportaufgaben«, sagte Malyschew rasch. »Soll er Farbe bekennen, warum er die spezielle Lösung einer generellen vorzieht.« »Ich gebe die Daten ein.« Der »M-117« ratterte die Antwort herunter. Kaimenow überflog den bedruckten Papierstreifen mit einem Blick. »›Adresse 4, Unteradresse Transporte.‹ Moment mal, er bewertet diese Aufgaben ja ganz anders.« Malyschew beugte sich über Kaimenow. »Aha, da haben wir’s. Die speziellen Aufgaben zählen einzeln. Eine generelle Regelung bedeutet nur einen Punkt. Stimmt genau: Die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten ist in der Wissenschaft immer noch Hauptkriterium für den Erfolg. Und Schischkin weiß das.« »Gar nichts weiß er«, entgegnete Malyschew wütend. »Na schön.« Kaimenow wandte sich zum Pult. »Jetzt befragen wir den Automaten über uns.«
Diesmal klang das Klappern des Schnelldruckers erstaunlich eintönig. Malyschew riß den Papierstreifen ab, betrachtete ihn. »Was hat das zu bedeuten? Lauter Nullen. Sogar deine Adresse fehlt.« Er blickte zu seinem Kollegen auf. »Hör mal, Wolodja, er hat dich ja umgebracht.« Der Mörder ändert das Programm Kaimenow betrachtete den Streifen, dann den Automaten. Sein Gesicht verzog sich. »Ach, wie primitiv! Wahrscheinlich ist der Automat schuld. Überprüfen wir den Operativspeicher.« Er drückte auf einige Knöpfe am Pult. Keins der Lämpchen flammte auf. Kaimenow fluchte und drückte auf ein paar weiße Tasten. »Meine Güte, die Angaben über mich werden nur noch im Langzeitspeicher aufbewahrt, zu dem der Automat keinen Direktzugriff hat. Ein Nekrolog, herrlich!« Er ging im Saal auf und ab. Malyschew beobachtete ihn. »Schischkin ist kein Schlappschwanz. Wenn er dir irgendwo mit einem Ziegelstein auflauert, ist das Problem 011 für immer gelöst.« Kaimenow blickte geistesabwesend durch ihn hindurch. »Warte, ich glaube, ich hab’s. Wir müssen die Gefahrenskala eingeben. Natürlich. Wir haben dem armen Automaten einen tödlichen Schreck eingejagt. Ich beabsichtige doch nicht, Schischkin das Leben zu nehmen oder ihn zum Krüppel zu schlagen.« Er ging an den Tisch und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier. »Leben – 10000, schwere Schädigung der Gesundheit, Verstümmelung, ähnliches… Wieviel?« »Fünftausend«, schlug Malyschew vor. »Schwere Krankheiten – 3 000, leichte Krankheiten – 1000. Fragt sich, was im Vergleich dazu das Hundertstel ausmacht, das mit dienstlichen Unannehmlichkeiten verbunden ist. Lohnt es sich, deswegen jemand umzubringen?« Kaimenow setzte sich ans Pult und legte den Zettel vor sich hin.
»Versuchen wir’s noch einmal«, sagte er, als das starre Licht der Lämpchen anzeigte, daß der Automat ein neues Bündel Informationen verarbeitete. Er stellte die Schalthebel auf 011 ein. Der Schnelldrucker hämmerte in dem stillen Saal wie ein Maschinengewehr: Der Papierstreifen war mit Zeilen von Nullen übersät. Kaimenow warf dem Automaten giftige Blicke zu. »Was sagst du dazu? Eine schöne optimale Variante!« Malyschew setzte sich, streckte die Beine aus. »Wenn du dein Testament machst, vererb mir deine Lederjacke und das Motorrad. Ich werde darauf fahren und dich in bester Erinnerung behalten.« »Sergej, Scherz beiseite, die ersten beiden Lösungen haben doch gestimmt. Und dann: Warum will er Pantelejew nicht umbringen? Er würde doch bestimmt gern Direktor werden.« »Für den Posten reichen seine Zahlen nicht!« Malyschew stellte sich vor, wie Schischkin mit verrutschtem Schlips Kaimenow packte und würgte. Er verzog das Gesicht. »Nein, so dumm ist er nicht.« Kaimenow blieb wie angewurzelt mitten im Saal stehen. »Du hast recht! Mein Gott, was sind wir für Idioten.« »Wieso wir?« »Wer denn sonst? Alles haben wir dem Automaten eingegeben: Schemata, Skalen, Beschlüsse, Instruktionen. Nur das Strafgesetzbuch nicht, verstehst du? Wie spät ist es? Halb elf? Ja. Nur ein Mensch kann mich zu so später Stunde retten.« Kaimenow wählte eine Telefonnummer. »Klawa? Hör zu, Kleines: Geh zu Michail Nikolajitsch, laß dir von ihm das Strafgesetzbuch geben, schnapp dir ein Taxi und komm hierher… Ins Institut. Was heißt, es ist schon spät? Michail Nikolajitsch hat alles da… Kleines, warum zierst du dich so? Hier wird ein Mord geplant, und wir wollen ihn verhindern… Das wär’s, ich warte! Ja. Laß dir von Michail auch noch das Arbeitsgesetzbuch geben. Unbedingt!«
Er legte den Hörer auf und sah den Automaten triumphierend an. »Er soll wissen, daß man mich nicht so einfach rausschmeißen kann!« Sie verließen das Institut nachts um halb eins. Klawa, Kaimenows Frau, saß rittlings auf dem Motorrad, das verwaist im Mondlicht glänzte. Ihr Geld hatte nicht gereicht, mit dem Taxi zurückzufahren. Kaimenow startete die Maschine, verabschiedete sich von Malyschew und brauste mit Klawa davon, in die Dunkelheit, die nach Frühling duftete. Malyschew ging zur Haltestelle. Die Stadt lag unter ihm. Bläulich leuchtende Gaslaternen durchzogen sie wie punktierte Linien. Von den Oberleitungen der Straßenbahnen und der Obusse sprühten Funken auf, die wie Blitzlicht zuckten. Die Mondsichel stahl sich hinter den niedrigen Wolken hervor. Kalt glänzte der glattgefahrene Asphalt. An der Haltestelle stand eine sechskantige, bleistiftförmige Betonsäule, die den Frühling mit einem großen Blechschild begrüßte: ACHTUNG, BÜRGER! Das Bepflanzen der Obst- und Gemüsegärten im Umkreis des Atomreaktors ist verboten. Pflanzbeete werden umgepflügt. Die Direktion des Kerninstituts »Das Atomzeitalter«, murmelte Malyschew, während er in den haltenden Bus stieg. Das Testgespräch Nach dem Mittagessen fuhr Pantelejew ins Physikalisch-Technische Institut, wo er Vorlesungen hielt. Schischkin war gerade in Pantelejews Arbeitszimmer übergesiedelt, als Sergej Malyschew zu ihm kam. Er trat über die Schwelle und wunderte sich, wie sehr sich hier alles verändert hatte. Die Seidenvorhänge an den Fenstern waren zugezogen und ließen nur gedämpftes Licht herein. Das gab dem Raum etwas Strenges, Weltabgeschiedenes. Die Einrichtungsgegenstände, die bei Pantelejew nicht weiter aufgefallen waren, sprangen jetzt ins Auge und wirkten ausgesprochen wuchtig. Ein Läufer in der Farbe von Generalslampassen führte zu demselben Fluchtpunkt wie die zu einem T zusammengestellten polierten Tische. Das Telefonaggregat aus Perlmuttplaste (ein Apparat für Hausgespräche, ein zweiter für
Außerhausgespräche und der dritte für Fernverbindungen) glänzte solide, jederzeit bereit, ein gewichtiges Läuten auszustoßen. Die kleine graue Schiefertafel, von der ein paar Kreideformeln flüchtig weggewischt waren, lehnte achtlos an der Wand. Das ganze Interieur deutete an, daß man in diesem Zimmer nicht einfach saß und arbeitete, sondern daß hier Entscheidungen getroffen wurden. Schischkin hatte sich dieser Umgebung völlig angepaßt. Er thronte gespreizt links vom Telefonaggregat, las stirnrunzelnd in einer Akte und hatte Miene Nr. 2 aufgesetzt. Lästerzungen im Institut behaupteten, Schischkin habe vier verschiedene Gesichter, die er morgens zusammen mit der Krawatte anlege und den ganzen Arbeitstag über trage, nur in der Mittagspause zwischen eins und zwei nicht. Miene Nr. 1 (für Besprechungen mit höhergestellten Kollegen im wissenschaftlichen und administrativen Bereich, für den Umgang mit hohen Kommissionen, ausländischen Delegationen und Korrespondenten großer Zeitungen): Liebenswürdigkeit, Aufmerksamkeit, Bereitschaft, zuzustimmen, behilflich zu sein und über einen gelungenen Witz zu lachen. Miene Nr. 2 (für Gespräche mit Untergebenen): Der Blick geht über den Gesprächspartner hinweg, wo er etwas sieht, was einem gewöhnlichen Mitarbeiter verborgen bleibt, mürrische Besorgtheit um Dinge, die unvergleichlich wichtiger sind als das, was gerade zur Debatte steht, rhythmisches Nicken, das andeutet, daß alles Gesagte längst bekannt ist. Miene Nr. 3 (für die Teilnahme an Seminaren, am Wissenschaftlichen Rat, an Konferenzen): herablassende Aufmerksamkeit, gelangweiltes Zuhören, satte Genugtuung über all das, was man selber vollbracht hat. Miene Nr. 4 (für Sitzungen im Gewerkschaftskomitee, im Parteibüro, am Präsidiumstisch und bei eigenen Reden): starrer, kämpferischer Blick, düstere Entschlossenheit, Besorgtheit um Probleme und Belange des Kollektivs. Das ist ein Zimmer! dachte Malyschew, während er über den himbeerroten Läufer schritt. Beim Näherkommen warf er einen flüchtigen Blick auf die Mappe, in der Schischkin blätterte, und spürte
eitle wissenschaftliche Befriedigung: Kaderakte Wladimir Michailowitsch Kaimenows. Als der stellvertretende Direktor den Zeugen des gestrigen Skandals vor sich sah, verfinsterte sich seine Miene, und er schob hastig die Mappe beiseite. Malyschew zuckte nicht mit der Wimper. Er hatte mehrere Anliegen an Schischkin, den Wissenschaftler, Leiter und Funktionär; denn all das verkörperte Schischkin in einer Person. (Der all das in einer Person Verkörpernde richtete die ohnehin geraden Schultern noch gerader.) Malyschew erkundigte sich bei ihm, ob man den Artikel über die Errechnung des optimalen Fahrplans für den Farbstofftransport so akzeptieren könne. Der Artikel sei eigentlich so gut wie fertig. Hier sei er. Nur müsse noch einiges erwogen und präzisiert werden. Schischkins Miene schwankte zwischen Nr. 2 und Nr. 1. Ein Nicken und ein Lächeln zeugten davon, daß er bereit war, zu erwägen und zu präzisieren. Zwanzig Minuten lang bekundeten beide ihr reges Interesse für das Problem der Farbstofftransporte. »Hier muß man noch einen Absatz über die optimalen Farbstofftransporte einfügen«, bemerkte Schischkin. »Ja, natürlich«, stimmte Malyschew zu. »Das habe ich versäumt.« »Und das muß man vorsichtiger formulieren. Statt ›ausgearbeitet‹ lieber ›erscheint es möglich‹. Sie wissen ja, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit.« »Ja, meinetwegen.« »Und hier sollte man Valentin Georgijewitschs Verdienste hervorheben, seine Ideen erwähnen…« »Die Monographie auch?« »Unbedingt. Un-be-dingt!« Endlich konnte Schischkin nicht länger an sich halten: »Und dieser… Wie heißt er doch?«
Er rieb sich die Stirn, um sich an Wolodja Kaimenows unbedeutenden Namen zu erinnern. Dabei hätte Malyschew schwören können, daß der Name in seinem Gedächtnis brannte wie eine Neonreklame. »Dieser…« – Schischkin zog die Mappe zu sich heran – »Kaimenow… Wie weit ist er mit dem Algorithmus des ›elektronischen Organisators‹?« Malyschew beschloß, sich abzugrenzen. »Kaimenow? Wir arbeiten meist in verschiedenen Schichten. Ich weiß nicht genau.« »Ja, ja… Na, dann ändern Sie den Artikel entsprechend, und dann schicken wir ihn der Zeitschrift ›Chemische Industrie‹.« »Aber Pawel Nikolajewitsch, die hat doch ein anderes Profil, befaßt sich nicht mit Kybernetik!« platzte Malyschew heraus. Schischkin sah ihn mit klaren Augen an. »Dafür mit Chemie. Und was wir machen, ist Chemie plus Kybernetik.« »Plus Transport?« »Ja. Warten Sie. Sie haben mich da auf einen Gedanken gebracht. Wir könnten ihn auch an die Zeitschrift ›Eisenbahnwesen‹ schicken. Na, warten wir erst mal ab.« Schischkin verstummte, besorgt die Stirn krausend. »Und dieser… Kaimenow… kennen Sie ihn gut?« »Ja… wie soll ich sagen? Etwas schon…« Malyschew war auf der Hut, jetzt kam das zweite Verhaltensmuster zur Anwendung: Eine Hand wäscht die andere. »Wir haben an derselben Fakultät studiert.« »Hat er sich damals auch mit solchen… äh… Ausfällen hervorgetan?« »Mit solchen eigentlich nicht, aber…« Dieses Aber genügte Schischkin. »Ja, ja, er ist äußerst undiszipliniert, bildet sich wer weiß was ein. Seine Beurteilung vom Institut ist auch nicht berühmt. Keineswegs. Hier heißt es: ›Ist taktlos im Umgang mit Studienkollegen, hat sich wenig an gesellschaftlicher Arbeit beteiligt…‹ Wir kennen ja den Liberalismus solcher Beurteilungen: Er hat sich nämlich überhaupt nicht beteiligt, ist ausfallend geworden. Da werden ausweichende Auskünfte gegeben, um
ihm nicht die Karriere zu verderben. Und was kommt dabei heraus? Bei uns hat er sich auch schon etliches geleistet.« Gleich erwähnt er Kaimenows Unpünktlichkeit, dachte Malyschew. »Und die Arbeitsdisziplin? In diesem Jahr ist er schon viermal zu spät gekommen.« Er wohnt weit außerhalb, wollte Malyschew sagen, besann sich aber rechtzeitig. Er durfte nicht von dem Algorithmus ablenken. »Und dann der gestrige Vorfall«, ereiferte sich Schischkin. »Heute beschimpft er mich, morgen Valentin Georgijewitsch, und übermorgen…« Er brach ab, als scheute er sich auszusprechen, wen Kaimenow übermorgen einen Esel nennen könne. »Und solchem Menschen hat man eine wichtige wissenschaftliche Arbeit übertragen! Was?« Malyschew merkte, daß es höchste Zeit war, den Algorithmus »Eile mit Weile« ins Gespräch zu bringen. Sein Gesicht wurde hart und abweisend. Schischkin verstummte, er sah Malyschew katzenfreundlich an. »Und was haben Sie sonst noch auf dem Herzen, Sergej… äh… Alexejewitsch?« säuselte er. »Ich glaube doch, es wird Zeit, Pawel Nikolajewitsch, daß wir die Transportfrage generell lösen. Denn die speziellen Transportpläne sind Eintagsfliegen.« Schischkin setzte Miene Nr. 2 auf, doch Malyschew ließ sich dadurch nicht beirren. »Gegenwärtig werden auf den großen Eisenbahnknotenpunkten, den Umschlagbasen schon Computer eingesetzt. Bald wird es überall welche geben. Wir können für sie Standardprogramme ausarbeiten, die für jede beliebige Fracht verwendbar sind, Programme, die für sämtliche Computer im Land zutreffen. Natürlich ist das komplizierter als die Berechnung eines optimalen Transportplans für Milch, aber bedenken Sie doch, welche Wissenschaftliche Bedeutung dieser Algorithmus hat. Und die ökonomische? Die Transporte werden beschleunigt, es gibt keine Wartezeiten, die Waren verderben nicht, Millionen Rubel könnten eingespart werden.«
Malyschew redete sich selbst in Feuer, als er Schischkin auseinandersetzte, wie man den universalen Transport-Algorithmus aufbauen müsse. Schischkin bewegte rhythmisch den Kopf. Habe ich ihn nicht überzeugt? dachte Malyschew. Er begegnete Schischkins Blick und bemerkte in dessen Augen einen Glanz, der nicht seiner wissenschaftlichen Qualifikation entsprach. Doch gleich darauf brachte Schischkin seine Gesichtszüge mit Miene Nr. 2 in Einklang. »Interessant, natürlich ist das interessant… Aber das muß man sich noch gut überlegen… gut überlegen, ja…«, sagte Schischkin gedehnt. »Gründlich… ja…« Malyschew erinnerte sich, daß der »M-117« gestern abend diese Information ebenfalls mehrmals durchgerechnet hatte, ehe er sie in den logischen Blöcken verdaute. »Das muß alles begründet sein… durchdacht, ja. Auf diese Frage kommen wir noch zurück.« Schischkin hatte die Information nicht verdaut, sie war in sein passives Gedächtnis eingegangen. Malyschew stand auf, verabschiedete sich. Nach diesem Kontrollgespräch hatten Kaimenow und Malyschew dem Direktor den ersten versiegelten Brief ausgehändigt. Am Abend desselben Tages hatten beide dem »M-117« diese Zusatzinformation für das Modell P.N.SCH. eingegeben. Das Verhalten P.N.SCHs wurde für zwei Wochen im voraus berechnet. Die Kombinationen der Zahlen und Befehle sagten aus: 1) Schischkin wird Kaimenow die Zeit für die Arbeit am Algorithmus des »elektronischen Organisators« radikal kürzen. 2) Er wird sich weigern, den von Kaimenow angeforderten Ingenieur Wlassjuk in Kaimenows Arbeitsgruppe aufzunehmen. 3) Er wird Malyschews Idee des universalen Transport-Algorithmus für seine eigene ausgeben. »Ach, wie banal!« rief Kaimenow enttäuscht aus, während er die Papierstreifen mit den Lösungszahlen des Automaten und die entschlüsselten Prophezeiungen auf die Kuverts verteilte. »Da steckt kein göttlicher Funke drin, kein Geheimnis des Madrider Hofs. Nur Boshaftigkeit, und die auch nur, weil wir nicht aufgepaßt haben.«
Die ersten beiden Prophezeiungen wurden im Laufe einer Woche wahr. Nach dem Mittagessen war Kaimenow im Rechnersaal aufgekreuzt. Er schwenkte ein Papierchen in der Hand und rief Malyschew zu: »Es stimmt! Guck dir das an: ›Abgelehnt wegen mangelnder Qualifikation. P. Schischkin, 10. April‹. Alles verläuft wissenschaftlich.« Malyschew nahm die Erklärung, überflog sie. »Ich bitte um Einstellung in die Produktionsabteilung des Instituts für Rechentechnik als…« »Fehlen ihm tatsächlich die fachlichen Voraussetzungen?« »Formal ja. In seinem Diplom steht ›Funkingenieur‹. Aber mit derselben Begründung könnte man zwei Drittel unserer Ingenieure aus dem Institut entlassen. Als wir studierten, galt die Kybernetik doch noch als Pseudowissenschaft. Ich bin auch Funkingenieur, und du bist Elektroingenieur. Übrigens hat Wlassjuk in seinem Werk eine Brigade geleitet, die Rechenautomaten einrichtet. Merkst du was?« »Ist der Junge gut?« »Sehr gut, mit Ideen, hat in seinem Werk schon mehrere Erfindungen gemacht.« Kaimenow verstaute den Bescheid traurig in der Tasche. »Vielleicht solltest du mit Pantelejew reden?« »Bist du noch zu retten?« Kaimenow sah Malyschew verwundert an. »Dann verderben wir alles. Es hilft nichts, die Wissenschaft verlangt Opfer.« »Du mußt’s ja wissen.« Am Tag darauf erschien Schischkin im Saal. Er schlenderte an den Arbeitsplätzen der Ingenieure vorbei, gab der Rechnerin Lidotschka Tschainik einen Verweis, weil sie das Tagebuch nicht akkurat genug geführt habe, und näherte sich dann Kaimenow. Malyschew trat neugierig ans Regal und blätterte in seinen Nachschlagewerken. »Na, wie weit sind Sie mit Ihrem ›elektronischen… äch-hä… Direktor‹, Wladimir… äh Michailowitsch?« »Der elektronische Direktor steht nicht in meinem Plan, aber seinen elektronischen Stellvertreter könnte ich vielleicht schon programmieren«, antwortete Kaimenow forsch.
»Aha… hm…« Schischkins Miene verdüsterte sich leicht, aber er setzte das Gespräch fort. »Sehr schön, daß bei Ihnen alles so gut läuft und Sie den Plan schon überrundet haben. Dann könnten Sie wohl bis zum ersten Mai den ›elektronischen Organisator‹ aus der Taufe heben?« »Bis zum ersten Mai?« Kaimenow sah seinen Vorgesetzten prüfend an. »Nach Plan ist der erste Test für Ende Mai angesetzt. Mir fehlen noch viele Angaben.« »Aber Sie sagen doch selbst, daß Sie diesen… Stellvertreter schon programmieren könnten. Was darf man denn nun glauben? In den Seminaren preisen Sie Ihren ›elektronischen Organisator‹ so an, daß jeder denkt, der Automat könne die Verwaltung und das Arbeitskollektiv ersetzen, und in Wirklichkeit… Wollen Sie kneifen? Sie müssen bis Mai fertig werden, unbedingt.« Bei der Erwähnung der Seminare lief Kaimenows rechtes Ohr rot an und hob sich kaum von seinem roten Haarschopf ab. »Dann also bis zum Ersten Mai? Zum Feiertag aller Werktätigen?« »Ja, zum Feiertag aller Werktätigen«, antwortete Schischkin würdevoll. »Damit Sie mit großen Worten berichten können? Und das, nachdem Sie abgelehnt haben, Wlassjuk einzustellen?« Kaimenow hielt Schischkin mit dramatischer Geste ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber hin. »Das geben Sie mir bitte schriftlich. Damit man mir nachher nicht vorwirft, ich hätte geschludert.« Schischkin sah unschlüssig das Blatt Papier an. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er setzte sich an den Tisch. »Noch ein Vorstoß zu unsern Gunsten«, sagte Kaimenow triumphierend, als Schischkin gegangen war. »An den leitenden Ingenieur Kaimenow W. M. Da die Ausarbeitung des Algorithmus ›elektronischer Organisator‹ reibungslos abläuft, bin ich der Meinung, daß man die Arbeit in kürzerer Frist erledigen kann. Ich schlage Ihnen vor, das Experimentierprogramm vorzubereiten und den Probetest bis zum ersten Mai dieses Jahres vorzunehmen. Abteilungsleiter P. Schischkin.« »Unterschrift, Datum… Das kann man sich leicht ausrechnen: Wenn die Frist verkürzt wird, muß man entweder den Arbeitsumfang
beschneiden, oder man erlebt überhaupt eine Pleite. Bei einer so komplizierten Aufgabe wie der Ausarbeitung eines elektronischen Modells des ganzen Instituts ist das nicht ausgeschlossen. Verstehst du, wie er vorgeht?« »Ja, kriminell«, sagte Malyschew. »Du kannst doch bis Mai nicht fertig werden.« »Mit dem elektronischen Organisator natürlich nicht. Aber mit dem elektronischen stellvertretenden Direktor… Wer weiß? Entweder er macht mich fertig oder ich ihn.« Malyschew programmiert Erfolg Im Seminar, das am darauffolgenden Montag in Pantelejews Arbeitszimmer stattfand, erfüllte sich auch die dritte Prophezeiung. Die Planarbeiten für das zweite Halbjahr wurden besprochen. Pantelejew kritisierte den Laborleiter des Instituts wegen mangelnder Ideen. (»Mit Flickwerk können sich die Kollegen in den Werkstätten befassen, aber Ihnen, Valeri Semjonowitsch, sind doch Forscher unterstellt.«) Nach Valeri Semjonowitschs verworrenen Rechtfertigungen erhob sich Schischkin. »In unserer Abteilung«, begann er gewichtig, »haben wir uns für das zweite Halbjahr die Aufgabe gestellt, universale Programme für den Gütertransport auszuarbeiten, und zwar unter Anwendung des Automatenkomplexes auf den Eisenbahnknotenpunkten und Großhandelsbasen.« Er entwickelte den Arbeitsplan für diese Aufgabe, wobei er fast wörtlich wiederholte, was ihm Malyschew eine Woche zuvor dargelegt hatte. Man hörte ihm aufmerksam zu, und Pantelejew sagte mit blitzenden Brillengläsern: »Das ist eine äußerst wichtige Aufgabe! Wem wollen Sie sie übertragen, Pawel Nikolajewitsch?« »Ich denke, wir übertragen sie…« – Schischkin wandte den Kopf in Malyschews Richtung – »Genossen Malyschew. Er hat genügend Erfahrungen bei der Lösung der speziellen Transportaufgaben gesammelt und wird, denke ich, damit fertig werden. Man muß Sergej…
äh… Alexejewitsch Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. Na, und wenn er es nicht allein schafft, dann helfen wir ihm.« Malyschew hatte zwar eine ähnliche Wendung der Dinge vorausgesehen, aber er war nicht darauf gefaßt gewesen, so dreist und skrupellos abgespeist zu werden. Verwirrt sah er die vor ihm Sitzenden an, ihre ruhigen, klugen Gesichter mit Brille und ohne Brille, mit Glatze und ohne Glatze. Es war völlig klar, daß der Kandidat der Wissenschaften und Abteilungsleiter Pawel Nikolajewitsch Schischkin als Urheber dieser weitreichenden wissenschaftlichen Idee galt und daß er, Ingenieur Malyschew, nur das ausführende Organ sein konnte, dem man Gelegenheit geben wollte, sich zu entwickeln. So mußte es ja auch sein. Er hätte sich gewundert, wenn es anders gekommen wäre. Wenn er jetzt wie Garschins Frosch quakte: »Ich war’s!«, dann würde er unweigerlich in die Pfütze plumpsen. Malyschew sah Kaimenow an – der saß schweigend da, den Blick unverwandt auf Schischkin gerichtet. Pantelejew bedankte sich mit heiserer Stimme bei Schischkin und den anderen Rednern und bat sie, die schriftliche Fixierung der Pläne nicht auf die lange Bank zu schieben. Das Seminar war beendet. Kaimenow und Malyschew blieben im Zimmer. Pantelejew, der gleich nach Seminarschluß an die Tafel geeilt war, um etwas auszurechnen, sah sie fragend an. »Valentin Georgijewitsch«, sagte Kaimenow, »ich fürchte, Sie halten mich für einfallslos, aber öffnen Sie bitte unser viertes Kuvert.« »Ach ja, Ihr Geheimnis!« Der Direktor lachte kurz auf, legte die Kreide hin, nahm aus dem Safe das Kuvert und reichte es Kaimenow. »Bitte.« Kaimenow erbrach das Siegel und zog einen Papierbogen aus dem Kuvert. »Lesen Sie bitte.« »In der Zeit vom 10. bis 15. April wird P. N. Schischkin einen Plan vortragen, der die Ausarbeitung eines universalen Algorithmus für die Aufstellung optimaler Fahr- und Streckenpläne bei sämtlichen Gütertransporten vorsieht… und so weiter.«
Pantelejew sah die Programmierer an. »Stimmt alles, eine wertvolle Idee. Na und?« »Da fragen Sie noch?« entgegnete Kaimenow verblüfft. »Haben Sie auf das Datum geachtet?« »Ja. Ihre Mitteilung stammt vom sechsten April, heute ist der fünfzehnte. Es ist doch ganz natürlich, daß man eine Idee erst haben muß, ehe man sie ausspricht. Merkwürdig, wenn es umgekehrt wäre.« »Die Sache ist nur die, daß Sergej Malyschew diese Idee hatte und sie Pawel Nikolajewitsch dargelegt hat«, platzte Kaimenow heraus. »So?« Pantelejew sah Malyschew interessiert an. Der senkte den Kopf und schwieg. »Hm… Pawel Nikolajewitsch, Sie und Genosse Malyschew haben zusammengearbeitet, stimmt’s? Da haben Sie natürlich ihre Ansichten über die Arbeit ausgetauscht, Probleme diskutiert, Ideen ausgesprochen. Es kann schon passieren, daß mehrere Forscher gleichzeitig dieselbe Idee haben, daß sie gewissermaßen in der Luft liegt. Warum daraus ein Drama konstruieren?« Der Direktor wurde ungehalten und sah ungeduldig zur Tafel. »Und dann, Wladimir Michailowitsch, wenn Sie wußten, daß nicht Schischkin, sondern… äh… Genosse Malyschew der Schöpfer dieser Idee ist, warum haben Sie es dann nicht im Seminar gesagt? Warum hielten Sie es für bequemer, mir das auf vertrauliche Weise zu… wie nannten Sie es doch?… zu ›stecken‹?« Kaimenow sah ihn fassungslos an: Einen solchen Schlag hatte er nicht erwartet. »Entschuldigen Sie, Valentin Georgijewitsch«, mischte sich Malyschew ein, »wir wollten nicht… Ich selbst stelle keinerlei Ansprüche an Pawel Nikolajewitsch. Komm, Wolodja!« »Eine Sekunde.« Pantelejew hielt die beiden Ingenieure zurück. »Ich sehe, Sie haben irgendein Spiel ausgeheckt. Wahrscheinlich hat es was mit Kybernetik zu tun. Ich möchte mich da nicht einmischen, weil ich weiß, daß man auch Ideen haben kann, die nicht in den Themenplan des Instituts passen. Jeder Wissenschaftler hat bei uns das Recht, ungehindert zu forschen. Aber da Sie mich… hm… zum Mittler oder, besser gesagt, zum ›Briefkasten‹ in Ihrem Spiel auserkoren haben,
möchte ich doch hoffen, daß es nicht in Intrigen ausartet. Es gibt nichts Widerwärtigeres als Intrigen. Nichts ist geisttötender als Intrigen…« Der Direktor ließ sich noch fünf Minuten über dieses Thema aus. Als Malyschew und Kaimenow auf den Korridor traten, brannten ihnen die Gesichter, so gedemütigt fühlten sie sich. »Mach dir nichts draus, Sergej.« Kaimenow legte Malyschew die Hand auf die Schulter. »Wir rechnen trotzdem mit ihm ab, im wahrsten Sinne des Wortes. Treffen wir uns heute abend?« Malyschew bewegte die Schulter, um die Hand abzustreifen, konnte aber nichts mehr erwidern. Ihnen entgegen die Treppe herauf kam Schischkin. Genug geknobelt, Schluß mit der Schwärmerei! Wie sich alles gewendet hat. Schischkin kann man mit Berechnungen allein nicht aus dem Feld schlagen. Das schafft auch Kaimenow nicht. Offenbar bleibt alles, wie es ist, es lohnt nicht, die Automaten in das Spiel einzubeziehen. Malyschew saß allein am Pult des »Molnija«, der Luftzug der Klimaanlage fuhr ihm durchs Haar. Züge rasen über blitzende Gleise, Lastzüge ächzen an Kreuzungen, Dampfer fahren auf Flüssen und Meeren. Sie sind beladen mit Weizen, Kohle, Werkbänken, Erz, Stoffen, Spielzeug, Äpfeln. Auf den Rangierbergen und Umschlagbasen stellen Elektronenrechner die Weichen; sie dirigieren Selbstlader, lassen auf der Tafel des Dispatchers die günstigsten Strecken aufflammen, auf denen es keine Wartezeiten, keine Stockungen geben wird. Im Laufe der Zeit wird das Transportwesen automatisiert. Kraftfahrer, Lokomotivführer, Dispatcher und Schaffner werden sich anderen Arbeiten zuwenden. Die Rechenautomaten werden das Herz im Organismus des Landes sein. Aber das wird nicht sein Verdienst sein, selbst wenn er es realisiert. »Unter der Leitung des Kandidaten der Wissenschaften Pawel Nikolajewitsch Schischkin wurde im Institut für Rechentechnik ein Algorithmus geschaffen… ausgearbeitet…«, werden die Zeitungen hocherfreut berichten. Wer schreibt schon über jene, die die Arbeit
gemacht haben! Malyschew stellte sich das starre, selbstzufriedene Gesicht Schischkins in der Zeitung vor, und ihm wurde übel. Um dieselbe Zeit eilte Pawel Nikolajewitsch Schischkin an stillen, vom graugrünen Mond beschienenen Häusern und Bäumen vorbei. Er hatte sich bis zum späten Abend im Institut aufgehalten, um Malyschew und Kaimenow nicht zu begegnen, und verwünschte sich nun dafür. Im Seminar hatte ihm Malyschew einen bedeutungsschweren Blick zugeworfen, und dieser Bandit Kaimenow hatte sogar die Lippen zu einer tonlosen Drohung gespitzt. Pawel Nikolajewitsch hatte das Wort nicht verstanden. Aber in seine Seele stahlen sich Zweifel und Trauer. Und danach auf der Treppe: »Wir rechnen mit ihm ab… Treffen wir uns heute?« Was hatten sie ausgeheckt? In einer Seitengasse hallten Schritte. Jetzt rannte Schischkin beinahe, und der Mond sprang über die Dächer hinter ihm her. Pawel Nikolajewitsch hatte bereits als Student begriffen, daß die Wissenschaft ein Gebiet ist, auf dem sich jeder nur in dem auskennt, was er selbst macht. Er hatte sich den unkomplizierten Algorithmus für die Erlangung eines wissenschaftlichen Grades rasch angeeignet: Artikel, die von ihm betreute Diplomanden geschrieben hatten, eine Dissertation, die sich aus ihren Arbeiten zusammensetzte, Examen, die bei einem guten Bekannten abgelegt wurden, »zwanzig Minuten Schande« bei der Verteidigung… Als Pawel Nikolajewitsch im Institut antrat, fand sein Instinkt bald den Kreis der Aufgaben und Pflichten heraus, für dessen Erfüllung man als zuverlässiger, gewissenhafter Mitarbeiter galt und sogar zu Erfolg gelangte. Man rechnete mit ihm, achtete ihn – und er bekam allmählich selbst Achtung vor sich. Trotzdem fühlte er sich unsicher. Jede neue Idee, jeder neue Mitarbeiter, jede neue Arbeit zwangen ihn, auf der Hut zu sein. Er hatte Angst vor allem Unbekannten und fürchtete, die anderen könnten merken, daß er es nicht verstand. Wenn der Direktor ihm begeistert von seinen neuesten Plänen erzählte, starb er manchmal fast vor Angst. Der Direktor konnte ja mitten im Satz abbrechen und zornig rufen: »Was nicken Sie denn dauernd? Das ist doch alles Humbug, ich hab Sie
angeführt.« Er scheute sich, Ideen vorzutragen, vielleicht blamierte er sich damit. Aber keine vorzubringen war auch nicht gut, dann merkten sie womöglich, daß er keine hatte. All diese Ängste zermürbten ihn, so wie andere eine schwere, kaum zu bewältigende Arbeit zermürbt. Im Augenblick beunruhigten Pawel Nikolajewitsch die schwarzen Schatten der Häuser und der Kioske, die feuchten Dünste, die ihm aus den Torwegen entgegenschlugen. Sie können mir nichts nachweisen, das Recht ist auf meiner Seite, hatte er sich den ganzen Tag nervös eingeredet. Aber wenn sie mir nun irgendwo auflauern? Sie sind zu zweit, sind jung und kräftig, die schrecken vor nichts zurück. Besonders dieser Kaimenow nicht. Von seinem Haus trennten ihn noch ein paar Wohnblocks. Die Straße war still und leer. Vielleicht wollen sie mich verprügeln, dachte Pawel Nikolajewitsch und umging die Schatten. Der Gedanke, daß sie ihn, einen intelligenten Mann in den besten Jahren, der den Frauen gefiel, schlagen würden, war erniedrigend und kaum zu ertragen. Sergej Malyschew stand am Fenster und betrachtete den Mond. Da sieht man’s wieder, wenn man nicht selber für sich sorgt, setzt sich niemand für einen ein. Diese Arbeit werde ich noch zu Ende führen: Dienst ist Dienst. Aber mich darf ich dabei nicht vergessen, sonst muß ich mein Leben lang vor Schischkin katzbuckeln. Was aber, wenn ich…? Verdammt, warum bin ich nicht eher daraufgekommen. Ich habe ständig mit Automaten zu tun, stelle alle möglichen Be- und Entladepläne auf, helfe Kaimenow, Schischkin zu modellieren – und was tue ich für mich? Malyschew war Ingenieur – die frische technische Idee gab ihm sofort Gedankenschärfe und gute Laune zurück. Wer sagt, daß der Automat nur imstande ist, Situationen für Schischkin zu modellieren? Warum sollte man ihm nicht Ziele und Bestrebungen S. A. Malyschews einprogrammieren können? Malyschew schaltete den »M-117« ein, fand auf dem Tisch Kaimenows Papiere, auf denen sie die Informationen kodiert hatten, setzte sich an den Tisch. Also Ergänzung zur Situation: Ich bin bereit, für Schischkin zu arbeiten, ich werde seine Zahlen nicht subtrahieren, aber ich will… Was will ich? Erstens: den Kandidatengrad. Zweitens: eine Wohnung… Na?
Er beobachtete das Spiel der orangefarbenen Lämpchen auf dem Pult. »M-117«, für dich haben sie einen erstklassigen Saal mit Klimaanlage geschaffen – nun will ich auch mal an mich denken. Der Automat hatte Erfahrungen gesammelt und zählte nicht mehr wie früher sämtliche Varianten auf. Der Papierstreifen mit der Lösung sprang nach einer Minute heraus. Malyschew überflog die Zahlen, die sich um die Adressen 01, 03 und 04 gruppierten, und quittierte sie mit einem Grinsen. Was denn, das hätte man sich auch so denken können. Pawel Nikolajewitsch stieg die erleuchtete Treppe seines Hauses hinauf, von Stufe zu Stufe wurde er ruhiger. Warum hatte er sich so aufgeregt? Sie waren doch ordentliche Menschen. Er schloß die Tür auf, trat in den dunklen Vorraum. Es war eine 3Zimmer-Neubauwohnung, die Wände atmeten noch die Baugerüche aus. Ihm war ein wenig unheimlich im Dunkeln (er blieb abends selten so lange im Institut, und an diesem Tag war seine Frau obendrein nach Riga gefahren, um Möbel zu kaufen), immerhin stand diese Angst in keinem Verhältnis zu den Ängsten außerhalb der behaglichen Wohnung. Er trat ins Zimmer, tastete nach dem Lichtschalter an der Wand. Die Augen, die sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sahen nichts. Plötzlich vernahm er ein anhaltendes Knarren, und rechts von ihm bewegte sich langsam eine grau-grüne Visage mit schwarzen Augenhöhlen und einer dunklen Binde über dem Kinn auf ihn zu. Da! »Wer? Was? A-a-a-a!« schrie Pawel Nikolajewitsch hysterisch auf und schlug ohne Sinn und Verstand mit Arm und Bein um sich. Das Klirren herabfallender Spiegelscherben ertönte. Die Schranktür flog zurück und klappte zu. Schischkin kroch übers Parkett, sammelte die Scherben ein. Und als wäre nichts gewesen, blickte die runde, höhnische Physiognomie des Mondes zum Fenster herein. Sergej Malyschew kam ebenfalls spät nach Hause, ins. Wohnheim. Seine drei Zimmerkollegen schliefen bereits. Er zündete sich eine Zigarette an
und stieß den Rauch zur Lüftungsklappe hinaus, in die feuchte Dunkelheit. Er hatte noch keine Lust zu schlafen, ging zu den Regalen, auf denen jeder seine Bücher hatte, streckte die Hand nach einem grünen Bändchen von Kuprins Werken aus und ließ sie wieder sinken. »Eine allmähliche Verderbnis der menschlichen Seele ist schlimmer auf der Welt als Hinrichtungen und Barrikaden.« Diesen Satz hatte er vor langer Zeit in einer Erzählung von Kuprin gelesen. Er ließ den Blick unentschlossen über die Regale schweifen. Über die orangefarbenen Bände von Ilf und Petrow, über die weißen Schutzumschläge der Werke von Maxim Gorki (»Was soll ich tun für die Menschen?« rief Danko), über die lange Reihe blauer Bände von Mark Twain, Capek, Alexej Tolstoi, Majakowski, Jessenin, Puschkin (»… und nicht beneid ich das Geschick des Bösewichts und Narrn in falscher Purpurhülle…«), Jack London, Remarque… Die verschiedenfarbigen Pappbände bargen die Gedanken, den Zorn und die Liebe vieler Menschen, ihre Trauer und ihre Heiterkeit, ihren Gram, ihr Lächeln, ihre Kraft und Zärtlichkeit, ihre Taten, die bei aller Torheit überzeugten – das menschliche Leben, tausendfach verstärkt durch die Kunst. Schlag eines der Bücher auf, und ein Seelensturm umfängt dich, wirft dich aus der Bahn. Malyschew schien es, daß nicht er die Bücher betrachtete, sondern sie ihn – aufmerksam und streng. Nein, ich muß jetzt wie ein Automat sein, dachte er, zog den Vorhang vor das Regal, breitete sein Bettzeug aus, löschte das Licht. Am nächsten Tag betrat Malyschew entschlossen Schischkins Zimmer. Schischkin empfing ihn mit kaltem, lauerndem Blick. Nach dem gestrigen Vorfall war er sichtlich abgemagert. Malyschew setzte sich in den ledernen Besuchersessel. »Wie steht’s mit der Wohnung, Pawel Nikolajewitsch? Und dann möchte ich Material sammeln für meine Dissertation. Was halten Sie davon?« Schischkin hatte sich ungewöhnlich rasch gefaßt, in zehn Sekunden.
»Ja, wegen der Wohnung müssen Sie sich an Kaimenow wenden, Sergej… äh… Alexejewitsch«, erklärte er hastig. »Er kann jetzt alles für sich und für Sie im ›elektronischen Organisator‹ programmieren.« »Ich fürchte, das übersteigt seine Kräfte«, erwiderte Malyschew unverblümt. »Ja, ja, das glaube ich auch.« Schischkins Gesicht verzog sich zu Miene Nr. 2. »Ich hab schon mit Valentin Georgijewitsch darüber gesprochen… Und was die Dissertation betrifft, so begrüße ich Ihren Entschluß, es ist längst Zeit. Ich werde gern Ihr Betreuer sein.« In den fünfzehn Gesprächsminuten wurde der Algorithmus »Eine Hand wäscht die andere« von dem Algorithmus »Auge um Auge« abgelöst, dann trat eine Phase der Hemmungen und Rückkopplungen ein, und zum Schluß wurden die Zellen »nein – oder« aufgerufen. Schischkin begleitete Malyschew bis an die Tür. An diesem Tag mußte Malyschew in der zweiten Schicht an seinem »Molnija« arbeiten. Schischkin hatte den Automaten wegen der bevorstehenden Feiertage bis zum äußersten belastet. Als Malyschew in den Saal kam, stürzte ihm Kaimenow mit einem bedruckten Papierstreifen entgegen. »Sergej, hast du gestern dem ›M-117‹ Zusatzziele und eine Veränderung der Situation eingegeben?« »Ja.« »Hier ist die Lösung der Aufgabe. Wenn du in allen Punkten gegen Adresse 03 auftrittst, also gegen mich, dann wird P. N. SCH. für deine Zukunft und für eine Wohnung sorgen, Sergej, das ist eine komplexe Lösung, die muß noch überprüft werden.« »Das habe ich schon.« »Na und?« »Es stimmt alles.« »Wunderbar.« Kaimenow drehte sich auf der Stelle. »Bald werden wir Schischkins Verhalten in allen Einzelheiten voraussagen können!«
Malyschew grinste. »Soll ich dir noch eine Einzelheit voraussagen? In zwei Tagen wird eine Institutsversammlung stattfinden, auf der Schischkin Adresse 03, das heißt dich, völlig auseinandernehmen wird. Er wird ein Referat über Disziplin und den Stand der Arbeiten halten.« »Wirklich?« Das Lächeln auf Kaimenows Gesicht erlosch. »Hm… Und wenn wir nun Kaimenows Referat vom ›M-117‹ zusammenstellen lassen? Das wäre eine Dynamitladung, was? Übrigens, das wird nicht gehen, es ist zu kompliziert. Na schön, wir haben auch so genug Material. Wir müssen uns nur gut überlegen, wie wir ihn abservieren.« »Nicht wir.« Malyschew schüttelte den Kopf. »Mir reicht der gestrige Vorfall. Ich steige aus.« Erst jetzt dämmerte es bei Kaimenow. Er wurde blaß. »Sergej, meinst du das im Ernst?« »Ja.« »Und du hast mit Schischkin gesprochen… im Ernst? Wirst du auf der Versammlung den… Vorfall schildern?« »Na weißt du, das gehört doch der Vergangenheit an.« »Und die Sache mit der Wohnung und der Möglichkeit zu promovieren?« »Na weißt du! Laß uns mathematisch urteilen. Das Schlimmste, was dir passieren kann, ist ein Verweis mit Prämienentzug oder – Entlassung. (Von siebenhundert bis anderthalbtausend bedingter Einheiten auf deiner Skala…) Eine Wohnung plus wissenschaftlicher Grad ist mehr wert.« Sie schwiegen. Kaimenow musterte Malyschew. »Lange hast du nicht durchgehalten.« »Du auch nicht«, entgegnete Malyschew aufgebracht. »Das einzige, was du konntest, war, Schischkin einen Esel zu schimpfen. Jetzt tut’s dir selber leid. Und sonst? Du bist weder zu Pantelejew noch zum Parteikomitee gegangen, um dich für den Ingenieur einzusetzen, den Schischkin abgewiesen hat. Hast dich an sein ›abgelehnt‹ geklammert, und das war alles. Als Schischkin dir einen Termin setzte, der offensichtlich nicht zu schaffen war, hast du auch nicht Krach geschlagen und dich nur mit einem Papierchen abgesichert, das dir die
Verantwortung abnimmt. Und im Seminar… Valentin Georgijewitsch hat ja recht: Wenn du’s gewußt hast, warum hast du geschwiegen?« »Wir machen doch ein Experiment! Ich hätte alles verdorben.« »Ein Experiment! Ich fürchte, das ist jetzt nicht der rechte Augenblick, Menschen durch Automaten zu ersetzen. Wir hinterlegen wieder unsere Päckchen, und weiter? Valentin Georgijewitsch wird wieder sagen: ›Na und?‹« Kaimenow setzte sich. »Ach, warum muß bei mir alles schiefgehen? Man denkt, man hätte alles richtig geplant, strengt sich wer weiß wie an…« Er zuckte mutlos mit den Schultern. »Soll ich dir einen guten Rat geben?« fragte Malyschew herablassend. »Weih den Automaten in dein Ziel ein. Laß ihn die optimale Variante ausrechnen. Vielleicht gelingt’s dir doch noch, deine Zahlen zu verteidigen.« »Du kannst es wohl nicht lassen, gratis gute Ratschläge zu erteilen?« Kaimenow sah Malyschew scharf an. »Mein Ziel programmieren… Da müßte ich zuviel in Dualzahlen umsetzen: daß ich die Wissenschaft liebe – nur sie und nicht die damit verbundenen Vorteile – und möchte, daß durch sie das Leben der Menschen leichter, interessanter, ehrlicher wird… Daß ich gern was erfinde und das Zeug dazu habe. Daß ich nicht die Achtung vor mir selbst verlieren möchte, indem ich solchen Leuten wie Schischkin nachgebe. Und daß es mir jetzt leid tut um dich. Ich fürchte, daß ich für all das nicht die richtigen logischen Schemata und Programme finde. Soll alles kommen, wie’s will.« Er stand auf, streifte seinen Kittel ab, zog seine Lederjacke an und drehte sich zu Malyschew um: »Weißt du, warum es uns relativ leicht gelungen ist, Schischkin zu programmieren? Weil er nicht wie ein Mensch lebt, sondern wie eine Maschine. Das Leben eines Menschen im Automaten modellieren, nein, das wird nichts.« »Aber du hast doch vor kurzem selbst gesagt, daß man die Kybernetik für die Organisation des persönlichen Lebens nutzen müsse.« »Du hast nicht ein bißchen von dem verstanden, was ich gesagt habe. Soll ich dir auch mal was prophezeien? Schischkin wird auf der Versammlung kein Wort über den Vorfall verlauten lassen… Na, daß ich ihn einen Esel genannt habe. Weil er ein Esel ist. Das ist sein schwacher
Punkt. Wenn du’s nicht glaubst, kannst du den Automaten fragen. Mach’s gut!« Kaimenow ging. Malyschew schritt noch lange im Saal auf und ab. Hinter den vergitterten Wänden des »Molnija« glimmte warm das Karree der Elektronenröhren, die Lämpchen auf dem Pult blinkten herausfordernd, er aber ging noch immer auf und ab und dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf, legte Papier auf den Tisch und setzte sich an die Arbeit. Er verließ das Institut erst nach Mitternacht. Und noch ein paar Fenster im ersten Stock des Institutsgebäudes waren an diesem Abend ungewohnt lange erleuchtet: Schischkin saß in Pantelejews Arbeitszimmer und verfaßte sein Referat. Seine Miene war gewichtig. Wie beschreibe ich die Versammlung? Meine Kraft reicht gerade noch, zu schildern, wie in dem überfüllten Konferenzsaal das gleichmäßige Stimmengewirr in Schweigen überging, wie das Präsidium hinter dem langen Tisch auf der Bühne Platz nahm, wie der Vorsitzende des Gewerkschaftskomitees die Versammlung eröffnete und Pawel Nikolajewitsch Schischkin das Wort erteilte für sein Referat: »Die Erhöhung der Arbeitsdisziplin, der Arbeitsproduktivität und unsere Aufgaben«, und wie sich auf den Gesichtern der Menge Schicksalsergebenheit ausbreitete. Doch als Schischkin das Podium bestieg und ans Rednerpult trat, unter die Losung: »In der Wissenschaft gibt es keine ausgefahrenen Wege«, als sein Gesicht Nr. 4 Sorge und Entschlossenheit ausdrückte, grenzenlosen Respekt vor der Wissenschaft und allen übergeordneten Organen, lichte Trauer um die Helden, die in den Schlachten gefallen waren, an denen er, Schischkin, nicht hatte teilnehmen können, und Befriedigung, daß diese Opfer nicht vergeblich waren… Als er mit wohltönender Stimme verkündete: »Genossen, in der seit Jahresbeginn verflossenen Periode hat unser Kollektiv…« Nein, ich kann nicht. Verdammte Prosa!
Eigentlich war es ein Vortrag wie jeder andere. Ausgehend von der erhöhten Bedeutung der Kybernetik im Licht der Beschlüsse der letzten Plenen, hob er die Notwendigkeit hervor, sich in den Kampf um die Erfüllung dieser Beschlüsse einzuschalten. Mit den Mängeln Schluß zu machen. Der Name Kaimenow fiel dreimal: in Verbindung mit der Konferenz, auf der Kaimenow das Akademiemitglied Feofan Stepanowitsch Mesosoiski kritisiert hatte, in Verbindung mit den Verspätungen und zuletzt in dem Sammelbegriff die Kaimenows. Kaimenow saß dicht am Podium, er machte ein abweisendes, verwirrtes Gesicht. Von Zeit zu Zeit erhob sich im Saal Gemurmel, durch die Reihen wanderten Zettel. Pantelejew, der vorn im Präsidium saß, sah irgendwelche Papiere durch, nickte dem Redner zu. Sergej Malyschew angelte mehrmals nach seiner Zigarettenschachtel und schielte zur Tür. Er hatte das dringende Bedürfnis zu rauchen. Der Redner erntete matten Applaus. Nach ihm betrat der ewig lächelnde Kandidat der Wissenschaften Alper-Sidorow die Bühne, er raufte sich die Reste seines Haarkranzes. »Natürlich muß-ß man neue Strömungen begrüß-ßen«, lispelte er. »Auch den Entschluß-ß Pawel Nikolajewitschs, den Text seiner Rede vor der Versammlung zu verbreiten. Das spart Zeit, die Mitarbeiter können seine Aus-sführungen in Ruhe überdenken. Aber diesmal liegt offenkundig ein ärgerliches Miß-ßverständnis vor. Pawel Nikolajewitsch, wenn die Rede schon verbreitet ist, weshalb muß-ß man sie dann noch verlesen?« »Welche Rede?« Schischkin sah ihn bestürzt an. »Ich habe sie nicht verbreitet.« »Wieso nicht, Pawel Nikolajewitsch?« Alper-Sidorow zog sanft lächelnd ein paar zusammengefaltete Papierbogen aus der Brusttasche seines Kittels. »Hier ist der Schreibmaschinentext. Über die Erhöhung der Dis-sziplin im Licht der Aufgaben bei der Entwicklung der Kybernetik und über Wladimir Michailowitsch Kaimenow… und hier sogar in der Mehrzahl über die Kaimenows, und alles-s das-s. Und über den neuen Aufschwung der schöpferischen Aktivität, über den aufsehenerregenden Arbeits-selan und alles-s das-s.« Schischkins Gesicht wurde grau. Im Saal herrschte beklemmende Stille.
Pantelejew erhob sich. »Ich kann, wenn Sie gestatten, die Situation klären. Die Sache ist die, daß der Text, den Semjon Borissowitsch AlperSidorow hier vorgezeigt hat, ohne Wissen Pawel Nikolajewitschs und unabhängig von ihm aufgezeichnet wurde. Mit Hilfe unseres neuen Elektronenrechners ›M-117‹.« Im Saal erhob sich Lärm und verebbte wieder. Pantelejew schwenkte einen Packen Papiere. »Ich habe hier die Angaben über ein ungewöhnliches Experiment, das die Ingenieure der Produktionsabteilung Wladimir Michailowitsch Kaimenow und Sergej Alexejewitsch Malyschew auf eigene Faust durchgeführt haben. Hier sind die Tabellen für die Eingabe der Informationen, des Programms, hier die Ausgabedaten des Rechners und die Kontrollergebnisse dieser Daten. Im Laufe eines Monats haben die beiden Ingenieure mit Hilfe des ›M-117‹ Pawel Nikolajewitschs Verhalten vorausgesagt. Wenn Sie gestatten, werde ich Sie als von den Experimentatoren gegen meinen Willen gewählter Zeitkontrolleur mit den vorliegenden Ergebnissen des Experiments bekannt machen. Das fällt mir um so leichter, da Pawel Nikolajewitsch mein Stellvertreter ist und ich über den größten Teil seiner administrativen und wissenschaftlichen Funktionen im Bilde bin.« Während Pantelejew den Inhalt der versiegelten Briefe vorlas und kommentierte, herrschte im Saal abwechselnd Stille und dröhnendes Gelächter. Die Kollegen klopften Kaimenow und Malyschew auf die Schultern. »Dem habt ihr’s aber gegeben, Jungs. Alle Wetter!« »Noch einige Bemerkungen zum Verfahren«, sprach der Direktor weiter. »Bekanntlich – das hat schon Professor Walter Ashby festgestellt – wird sinnvolles Verhalten durch drei Hauptfaktoren bestimmt: durch die Kenntnis des Milieus, durch das Vorhandensein eines Ziels und die Möglichkeiten, es zu erreichen. Für die Information über das Milieu haben die Kollegen im wesentlichen die objektiven Daten benutzt, die Wladimir Michailowitsch Kaimenow für die Ausarbeitung des Algorithmus ›elektronischer Organisator‹ gesammelt hatte. Sie sind bekannt und stellen die Datenverarbeitung nicht vor ungewohnte Probleme. Den begrenzten Möglichkeiten des Elektronenrechners kam natürlich noch ein weiterer Umstand zu Hilfe: Das Modellierobjekt ist nicht zu schöpferischen Entschlüssen fähig. Und schließlich haben die
Experimentatoren dem Rechner noch das Ziel des Programms eingegeben: Wohlstand und private Erfolge.« Der Direktor hob die Hand. »Das Ziel ist die Hauptsache! Es hat das Verhalten des elektronischen Modells bestimmt… und nicht nur des Modells.« Pantelejew sah sich suchend nach Kaimenow um, lächelte ihm zu. »Wladimir Michailowitsch, Sie haben mir erzählt, daß Sie dem Automaten Spezialskalen, aufbereitete Instruktionen und sogar Informationen über Parteibeschlüsse eingegeben haben, die gegenwärtig das Leben und die Wissenschaft unseres Landes bestimmen – und trotzdem hat das Modell nur der eigenen Person dienliche Entscheidungen getroffen. Ich bin überzeugt, selbst wenn Sie dem ›M117‹ die Werke der großen Denker, den Inhalt der Musik Beethovens, die Gedichte genialer Dichter eingegeben hätten – das genannte Ziel hätte sich all das untergeordnet. All das wäre für die Erreichung privaten Wohlstandes eingesetzt worden. Das ist ein schreckliches Ziel, Genossen! Es tötet im Menschen sämtliche Gefühlsregungen, macht alles zunichte. Edelmut wird nur aus Berechnung geübt, damit es die andern bemerken und anerkennen, Liebe empfindet man nur mit Vorbedacht, Ergebenheit nicht der Pflicht, sondern übergeordneten Instanzen gegenüber. Und wenn solch ein Mensch keine Verbrechen begeht, dann nicht aus Abscheu vor dem Verbrechen, sondern nur aus Angst, dabei ertappt zu werden. Und ich finde es sehr bedauerlich, daß sich die äußerst kränkenden Vermutungen über die privaten Ziele und Möglichkeiten Pawel Nikolajewitschs durch diesen Versuch ganz und gar bestätigt haben.« Pantelejew und alle im Saal wandten den Blick zu der Stelle, wo Schischkin gesessen hatte, doch der war nicht mehr da. Nach der Versammlung begaben sich Malyschew und Kaimenow in den Rechnersaal. Sie hatten beide Nachtschicht. Auf dem Korridor versetzte Kaimenow seinem Kollegen ein paar kräftige Nackenschläge. »Schon gut, schon gut«, knurrte der. »Sonst streichle ich dich mal.«
»Hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt, du Halunke. Wie steht’s überhaupt mit deinem Algorithmus des Erfolgs? Oder hast du aufgegeben?« »Weißt du« – Malyschew hob die Brauen, warf den Kopf zurück und spitzte bedeutsam den Mund –, »erst müßte man sich mal verständigen, was unter Erfolg zu verstehen ist.« Sie schlossen die Tür auf, betraten den schummrigen Saal. Der Mond schien herein, es sah aus, als wäre der Saal in durchsichtiges grünes Wasser getaucht. Malyschew ging zum Schaltbrett. Die Neonröhren an der Decke flammten auf, die Klimaanlage begann zu fauchen. Die Ingenieure zogen ihre Kittel über. »Ach ja«, erinnerte sich Kaimenow, »zeig mir mal, wie du Schischkins Rede programmiert hast. Wie hast du das geschafft? Ich war hundertprozentig überzeugt, daß der ›M-117‹ eine solche Aufgabe nicht bewältigen würde.« Malyschew warf die Kippschalter am Pult des »Molnija« herum. »Ich muß mich bei Valentin Georgijewitsch entschuldigen«, sagte er grinsend. »Ich habe den Alten hinters Licht geführt. Du hast recht, der ›M-117‹ schafft das nicht. Ich hab mich einfach hingesetzt und die Rede aufgeschrieben. An zwei Abenden.« Kaimenow ließ sich wortlos auf einen Stuhl fallen. »Wir haben alle Karten auf das elektronische Modell gesetzt«, fuhr Malyschew fort. »Dabei hast du doch selbst gemerkt, wie banal seine Entscheidungen waren. Und dann die Algorithmen, die du ihm angedichtet hast: ›Eine Hand wäscht die andere‹, ›Wer klug ist; steigt den Berg nicht hinauf…‹, ›Auge um Auge…‹, Schischkin läßt sich tatsächlich davon leiten. Das stimmt alles. Aber um Leute wie ihn zu entlarven, muß man nicht unbedingt die Kybernetik bemühen. Das kann man auch so.« Kaimenow schwieg lange. Seine Augen verengten sich. »Ja, aber was nützt das?« sagte er. Aus dem Russischen von Hannelore Menke
Alexander Shitinski Der Brumm-Effekt Erzählung mit kleinen Übertreibungen
Erstes Kapitel: Ich schreibe einen Brief Eigentlich glaube ich nicht an Wunder. Das habe ich mir schon in der Schule abgewöhnt. Ich glaube an die Wissenschaft und eine schöne Zukunft, das ist greifbarer. Doch manchmal geschehen auch Wunder. Damit muß man rechnen. Eines Tages fand ich auf meinem Schreibtisch eine Mitteilung vom Chef. Der Chef verkehrt gern schriftlich mit mir. Unser Schriftverkehr spielt sich so ab: Er schreibt, und ich lese, was er schreibt. Oft sitzt der Chef bis spät in die Nacht im Labor und hat dann allerhand Einfälle. Am nächsten Morgen studiere ich sie. Zum Beispiel diesen: »Petja! Denken Sie darüber nach, ob man die Anomalien im infraroten Spektralbereich nicht auf eine interzonale Dispersion zurückführen kann.« Oder ähnlich. Gewöhnlich nehme ich mir Zeit, auf dergleichen zu reagieren. Wer weiß, vielleicht sind es Hirngespinste? Das sagt der Chef oft selbst. Genauer, er stürzt ins Labor herein und schreit: »Was gestern war, ist alles gesponnen und Hundestuß.« Warum Hundestuß, weiß ich nicht. Menschlicher Stuß, wie er gang und gäbe ist. Und nicht einmal der schlimmste. Doch diesmal war es etwas Besonderes. Auf dem Tisch lag ein Briefumschlag, auf den mit violetter Tinte ziemlich schwungvoll die Adresse unseres Instituts gekrakelt war, und darunter stand: »An den obersten Chef.« Nicht mehr und nicht weniger. An den Brief war ein Zettel mit Aktennotizen geheftet. »An Pimenow. Klären.« Unterschrift des Rektors. »An Turtschin. Überprüfen.« Unterschrift Pimenows. »An Dsholdadse. Binnen einer Woche beantworten.« Unterschrift Turtschins. »An Barsow. Ich verstehe überhaupt nichts. Was soll der Quatsch?« Unterschrift Dsholdadses. »An P. Werluchin. Petja, klären Sie um alles in der Welt diesen Unsinn und verfassen Sie eine Antwort.« Unterschrift des Chefs.
Werluchin, das bin ich. Unter mir gibt es in der Rangordnung unseres Instituts nur den Papierkorb. Darum verkniff ich mir, meinen Namen auch noch darunterzusetzen, und widmete mich dem Brief. Er interessierte mich. Mit derselben violetten Handschrift teilte der Briefschreiber auf sechs Seiten mit, daß er elektrischen Strom in einem geschmiedeten Stück Eisen nachgewiesen habe. In Klammern war hinzugesetzt: (Hufeisen). Er hatte das Eisen über einer Kerze erhitzt, und dabei war Strom entstanden. Ziemlich starker sogar. Er hatte den Akku seines Motorrads damit aufgeladen und war dann ein halbes Jahr damit gefahren. Das bestätige die Theorie Brumms, hieß es weiter. Der Briefschreiber bat uns, das Experiment zu wiederholen und ihm seine Urheberschaft amtlich zu bestätigen. Darunter stand die Adresse. »Werchnije Petuschki, Jaroslawler Gebiet, Wassili Fomitsch Smirny.« Ich begriff nur eins nicht: Woher kannten sie in Wernije Petuschki die Theorie Brumms? Ich selbst hatte keine blasse Ahnung davon. Ich nahm ein Lehrbuch zur Hand. Die Theorie Brumms wurde dort überhaupt nicht erwähnt. Ich schlug die physikalische Enzyklopädie auf. Unter dem Buchstaben B fand ich nach Max Born tatsächlich einen gewissen Hans Friedrich Brumm, der, wie sich herausstellte, vor zweihundertzwanzig Jahren gestorben war. Irgend etwas hatte er in seiner Zelle ausgeheckt. Er war nämlich Mönch gewesen, vielleicht sogar Alchimist. Später hatte man seine Theorie natürlich widerlegt und drei Kreuze darüber gemacht. Und Wassili Fomitsch wollte diese Kreuze erschüttern. So sah ich das. Na, dann war ja alles ganz einfach. Ich setzte mich sofort hin und schrieb: »Sehr geehrter Genosse Smirny! In Anbetracht dessen, daß die Theorie Brumms durch die Arbeiten von Maxwell, Hertz und sowjetischen Gelehrten der Pseudowissenschaftlichkeit überführt wurde, ist Ihr Vorschlag nicht akzeptabel. Offensichtlich hat sich in Ihre Versuche ein Irrtum eingeschlichen.«
Im übrigen »kann das nicht sein, weil es theoretisch undenkbar ist«. Schonungslos rechnete ich mit ihm ab, wobei ich Brumm noch einmal anprangerte. Für solche Leute war bei uns kein Platz! Dann trug ich auf dem Unterschriftenregister noch Amt und Würden ein. Das wirkte. Rektor des Instituts, korrespondierendes Mitglied. Stellvertretender Leiter des Lehrstuhls, Professor. Und so weiter. Und ganz am Schluß vermerkte ich bescheiden: wissenschaftlicher Assistent P. N. Werluchin. Ich brachte den Schrieb zur Sekretärin und kehrte zufrieden und völlig geschafft an meinen Schreibtisch zurück. Als der Chef kam, berichtete ich ihm kurz über Brumm, und der Chef griente. Übrigens hörte auch er zum erstenmal von Brumms Ideen, das merkte ich an seinem Blick. Hätte er geahnt, was uns in dieser Sache noch alles bevorstand, wäre ihm das Grienen vergangen. Gleich darauf erschien Lissozki. Lissozki gilt bei uns als solider Mensch. Er schreibt seit zehn Jahren an seiner Dissertation. Als ich Student war, hieß es schon, er schreibe daran. Wenn er sie eines Tages abschließt, wird das ein weltbewegendes Ereignis sein. So wie »Krieg und Frieden« von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. In den Lehrstuhlberatungen beruft er sich immer auf Schwierigkeiten. Das schätzt man an ihm, daß er schon zehn Jahre lang Schwierigkeiten überwindet und ihn das überhaupt nicht abschreckt. Lissozki hat einen phänomenalen Spürsinn. Wenn irgendwo im Institut Geburtstag gefeiert wird, kreuzt er unweigerlich auf und bittet um die Integraltabelle. Wozu er sie braucht, weiß keiner. Natürlich wird ihm was angeboten, man will ja nicht unhöflich sein. Er trinkt Kaffee, ißt Kuchen, entschuldigt sich und geht. Auch diesmal war er sicher wieder seinem Instinkt gefolgt. »Was Neues im infraroten Spektralbereich?« fragte Lissozki. Ob infrarot oder ultraviolett, war ihm völlig gleich, das wußte ich. Er wollte uns nur auf den Zahn fühlen. Der Chef fiel prompt darauf rein und erzählte ihm lachend von Brumm. Lissozki lachte ebenfalls, faselte was von Telepathie, und als er ging, nahm er die physikalische Enzyklopädie mit. Er sagte, er wolle den
zweiten Grundsatz der Thermodynamik in seiner Erinnerung auffrischen. Wahrscheinlich log er. Ich glaubte ihm jedenfalls nicht. Die Laborantin Nelja brachte den Brief, der auf einem Institutsbogen abgetippt war, der Chef und ich unterschrieben und schickten ihn nach oben. So trat er als amtliches Dokument ohne großes Aufheben den Weg nach Werchnije Petuschki an. Der Brief war fort, und wir hatten ihn bereits vergessen. Alles ging seinen geregelten Gang. Sascha Rybakow kam aus der Vorlesung und beugte sich wieder über seinen Oszillographen. Gena, der andere Assistent, nahm die Prüfung über Festkörper ab, wobei ich den Studenten aus Jux Spickzettel zuschob. Gena war zufrieden, daß sich die Gruppe den Stoff so gut angeeignet hatte. Er nickte fortwährend, bestimmt tat ihm der Hals schon weh. Gegen Abend brachte wieder jemand den Namen Brumm aufs Tapet. Es stellte sich heraus, daß Sascha den Brumm-Effekt kannte. Sascha weiß überhaupt alles, das ist nicht weiter verwunderlich. Er sah von seinem Oszillographen auf, putzte seine Brille und sagte: »Daran werdet ihr noch zu knabbern haben. Brumms Theorie hat’s in sich.« »Wieso denn?« wandte ich ein. »Die ist doch längst begraben.« Sascha räusperte sich und schaute ohne Brille in die Ferne. Wahrscheinlich ins achtzehnte Jahrhundert, in die Stadt Köln, wo Hans Friedrich Brumm gelebt hatte. Dabei nahm sein Gesicht die Miene eines Heiligen an. Übrigens hat man das häufig bei Kurzsichtigen, wenn sie die Brille absetzen.
Zweites Kapitel: Ich mache ein Experiment Drei Wochen später trat die Geschichte mit Brumm in eine neue Phase. Der Chef kam mürrisch zur Arbeit und ordnete lange seine Papiere auf dem Schreibtisch. Ich dachte schon, sie hätten ihn wieder nicht in die Wohnungsbaugenossenschaft aufgenommen. Aber das war es nicht. »Die Sache ist die, Pjotr Nikolajewitsch…«, sagte der Chef. Mir wurde schon ganz mulmig. Sonst redet er mich nicht so förmlich an.
Der Chef zog einen Schnellhefter aus der Aktentasche und entnahm ihm mehrere Papiere. Ich bemerkte sofort den obenauf liegenden Brief mit der bekannten violetten Handschrift. Und der Umschlag trug wieder den gleichen Aufdruck: »Wir gratulieren zum 8. März!« Dabei hatten wir inzwischen September. Diesmal hing ein Schreiben von einer Zeitungsredaktion an dem Brief. Natürlich fehlten auch nicht die Institutsvermerke. Nur waren sie diesmal in gehobenerem Ton gehalten. Der Chef legte alles schweigend vor mich hin und fing an zu rauchen. Ich spürte, daß er sich langsam erhitzte. Wie ein Dampfkessel. Dann sprang er auf und hieb so mit der Faust auf den Tisch, daß der Brief mit den violetten Buchstaben ein Stück weiterflog. »Unerhört!« schrie der Chef. »So was Obskures! Ich habe keine Lust, mich mit Alchimie zu befassen!« »Halb so schlimm, Viktor Ignatjewitsch«, sagte ich. »Wer weiß, wozu das gut ist. Regen Sie sich nur nicht auf, ich mach das schon.« »Sie müssen mir helfen, Petja«, bat der Chef. »Und formulieren Sie die Antwort etwas sanfter. Versprechen Sie ihm was.« »Ruhm nach dem Tode«, schlug ich vor. »Auf gar keinen Fall!« rief der Chef erschrocken. »Versprechen Sie ihm ein Gerät. Ein Amperemeter zum Beispiel. Mein Gott!« Der Chef lief nervös im Labor auf und ab. Er nimmt sich immer alles sehr zu Herzen. Wenn das so bleibt, dann macht er nicht mehr lange. In dem Schreiben der Zeitungsredaktion wurde es als unzulässig bezeichnet, Briefe Werktätiger so lieblos zu behandeln. Es sei notwendig, den Brumm-Effekt selbst zu überprüfen, statt sich auf irgendeinen Maxwell zu berufen, hieß es dort. »Summ-brumm-brumm«, sang der Chef im Marschrhythmus. »Hier zitiert er Engels«, bemerkte ich, als ich den Brief Wassili Fomitschs an die Zeitung gelesen hatte. »Summ-brumm-brumm«, sang der Chef noch lauter. Ich ließ mein Experiment sausen und beschäftigte mich mit Wassili Fomitschs Versuch. Als erstes mußte ich mir eine Kerze beschaffen. Im Institut gab es keine, wir benutzten seit langem keine mehr. Gena riet
mir, im Laden welche zu kaufen. Sascha Rybakow – in der Kirche. Zur Kirche war es näher als zum Laden; darum lief ich dorthin. Kirchen haben eine merkwürdige Zeiteinteilung. Manchmal sind sie den ganzen Tag geöffnet, dann wieder werden nachts Gottesdienste abgehalten. Ich hatte Glück. Die Kirche war in Betrieb. Am Eingang handelte eine alte Frau mit Kerzen. Die Kerzen waren dünn wie Makkaroni und teuer. Ich kaufte fünf Stück, und die alte Frau segnete mich. Mit dem Hufeisen war die Sache schon schwieriger. Ich wußte einfach nicht, wo ich in der Stadt ein brauchbares Hufeisen auftreiben sollte. Ich rief im Auskunftsbüro an. Dort ließen sie mich abblitzen. Ich solle sie nicht für dumm verkaufen, zeterten sie. Darauf bestellte ich das Hufeisen in einer mechanischen Werkstatt. Onkel Fedja, unser Glasbläser, hatte mir eins aus dem Gedächtnis aufgemalt. Er stammt nämlich vom Lande. Ich fertigte danach eine Zeichnung in allen drei Projektionen an. Genau nach Vorschrift, wie’s sich gehört. Füllte einen Auftragsschein aus und wartete. Tag für Tag lief ich in die Werkstatt und erkundigte mich, was mit dem Auftrag sei. Am vierten Tag war das Hufeisen endlich fertig. »Hat dein Pferd nur ein Bein?« fragte der Schlosser. »Die anderen sind Prothesen«, erwiderte ich kurz. »Stute oder Hengst?« »Eigentlich ein Hengst.« »Schade um das Tier«, meinte der Schlosser. Ich trug das Hufeisen ins Institut und bereitete den Versuch vor. Aus allen Abteilungen strömten sie zusammen. Der Chef wollte sich nicht aufregen und war in die Bibliothek geflüchtet. Ich hatte den Eindruck, daß er sich seiner Sache nicht ganz sicher war. Lissozki mengte sich unters Volk und spottete über das Hufeisen. Aber die Zeichnung sah er sich genau an. Das war wohl seiner natürlichen Neugier zuzuschreiben. Ich befestigte das Hufeisen auf einem Stativ, lötete die Leitungsdrähte an das Hufeisen, verband sie mit dem Amperemeter und zündete die Kerze an. Mit der Kerze in der Hand glich ich einem Bräutigam. Den Platz der Braut nahm Lissozki ein.
»Wir müssen erst das Halleluja singen«, schlug Rybakow vor. Ich hielt die Kerze unter das Hufeisen und erwärmte es. Der Zeiger des Amperemeters zuckte und rückte einen Grad weiter. »Thermoelektrischer Strom«, konstatierte Lissozki. Das wußte ich auch so. Keine Spur von einem Brumm-Effekt. Ich brannte drei Kerzen ab, während ich das Hufeisen an verschiedenen Stellen erwärmte. Es verlor seinen früheren Glanz, verrußte und sah schon ganz schäbig aus. Als wäre es alt und abgenutzt. »Null Komma nichts«, sagte Sascha Rybakow und kehrte zu seinen Geräten zurück. »Das war ja vorauszusehen«, ertönte hinter mir die Stimme des Chefs. Er war unbemerkt hereingekommen und hatte den Versuch mitverfolgt. »Geben Sie mir die Lötlampe«, sagte Lissozki. »Stör das Experiment nicht«, wies ihn der Chef zurecht. »Geben Sie mir die Lampe!« fauchte Lissozki. Man gab ihm die Lampe, und er brachte das Hufeisen binnen zehn Sekunden zur Weißglut. Die Leitungsdrähte waren durchgeschmort, aber das Ergebnis blieb das gleiche. »Das Hufeisen taugt nichts«, erklärte Lissozki. »Das ist eine Attrappe, aber kein Hufeisen. Wir brauchen ein richtiges, von einem Pferd. Von einem Pferdehuf sozusagen.« »Das reicht!« sagte der Chef. »Petja, schreiben Sie dem Mann einen höflichen Brief. Legen Sie ein Versuchsschema bei. Versprechen Sie ihm ein Amperemeter. Und vergessen Sie nicht: Hochachtungsvoll… Das ist ja unverantwortlich! Da haben wir nun eine Woche totgeschlagen! Vielleicht erklärt dieser Fomitsch morgen, die Erde habe die Form eines Kringels? Werden wir das auch nachprüfen? Ja?« »Warten Sie ab.« Rybakow tat geheimnisvoll. »Das ist erst der Anfang.« Lissozki bat sich das Hufeisen aus und nahm es mit in sein Labor. Er sagte, es werde ihm Glück bringen. Am Ende kam es auch so, doch das war bedeutend später. Ich schrieb wieder einen Brief nach Werchnije Petuschki. Redete Fomitsch mit Kollege an, gebrauchte eine Menge Termini und gab eine
theoretische Begründung mit den entsprechenden Formeln. Ich erwähnte sogar die Gleichung Schrödingers, obwohl die gar nichts damit zu tun hatte. Er sollte möglichst lange daran zu knabbern haben. Ich ahnte schon, daß uns ein langwieriger Kampf bevorstand. Und der Chef teilte meine Ahnung. »Petja, studieren Sie diesen Brumm gründlich«, sagte er, »damit wir gewappnet sind.« Am nächsten Tag begab ich mich in die Handschriften- und Inkunabel-Abteilung der Öffentlichen Bibliothek und vertiefte mich in das Original. Brumm hatte lateinisch geschrieben. Damit kam ich noch halbwegs zu Rande. Aber die Begründungen seiner Theorie waren recht mystisch. So hatte er beispielsweise allen Ernstes erklärt, der elektrische Strom sei eine Erscheinungsform des Teufels und das heilige Feuer zwinge den Teufel, die Leitung entlangzulaufen und Funken zu erzeugen. Wie der Teufel einen Akku aufladen konnte, schrieb Brumm nicht. Solche und ähnliche Ansichten fand ich bei ihm. Ich hatte erst eins von vierzehn Traktaten studiert, als Wassili Fomitsch schon den Gegenzug getan hatte.
Drittes Kapitel: Ich rüste zur Dienstreise Diesmal hatte Smirny die Öffentlichkeit auf die Beine gebracht. Die Öffentlichkeit läßt sich gern mobilisieren. Man kann sagen, sie wartet nur darauf. Sie reagiert auf die verschiedensten Methoden. Wassili Fomitsch hatte es mit einem Kollektivschreiben erreicht. Ich weiß nicht, wie er in Werchnije Petuschki soviel Volk aufgetrieben hatte. Vielleicht war er eigens in die Kreisstadt gefahren? Jedenfalls hatten fünfzig Leute hoch und heilig versichert, der Genosse Smirny habe seit sechs Monaten ein Motorrad mit Beiwagen, das er ziemlich häufig benutze. Der Akku sei von ihm einmal aufgeladen worden, an einem Hufeisen. Alle hätten es gesehen. Wo er das Hufeisen herhatte, gaben sie auch an: aus der Schmiede.
»Da siehst du. Nicht aus der Kirche, sondern aus einer Schmiede«, sagte Rybakow. »Ich hab die Kerzen aus der Kirche, nicht das Hufeisen«, antwortete ich entrüstet. »Ist doch egal«, bemerkte Sascha mißmutig. Rybakow hatte sich vorgenommen, mich mit allen Mitteln in den gleichen Zustand zu versetzen, in dem sich der Chef befand. Das würde er nicht schaffen. Der Chef sah mich bekümmert an, als ich ihm den Brief vorlas. In ihm reifte ein Gedanke. Er holte weit aus. »Petja, Sie sind noch jung«, sagte er schonend, »haben starke Nerven. Fahren Sie nach Petuschki. Sonst kommt Fomitsch noch auf seinem Motorrad angerattert. Dann kann ich nicht mehr für mich garantieren. Und ich habe doch Familie.« Ich ging, die Formalitäten für die Reise zu erledigen. Die Obrigkeit unterschrieb den Antrag unbesehen, nur in der Buchhaltung machten sie Sperenzchen. »Wo liegt denn dieses Petuschki-Grebeschki?« fragte der Hauptbuchhalter. »Und warum fährst gerade du dorthin? Willst wohl Pilze sammeln?« Ich erklärte ihm geduldig, daß in Werchnije Grebeschki ein internationales Symposium stattfinde. Das heißt… nein! Nicht in Grebeschki, sondern in Petuschki. Auf der Tagesordnung stünden Melkapparate auf Transistorbasis, Eiersuchen mit Hilfe eines Elektromagneten und die Verwendung eines Hufeisens als Generator. Das mit dem Hufeisen war nicht gesponnen. »Schnaps brennen sie dort wohl noch nicht auf Transistorbasis?« spottete der Hauptbuchhalter. »Das ist geplant, im nächsten Fünfjahrplan«, parierte ich. »Na, dann fahr«, sagte der Hauptbuchhalter. »Werden Ausländer dasein?« »Drei Autobusse voll«, antwortete ich.
Der Hauptbuchhalter war mit mir zufrieden. Ich auch. Nachdem ich meine Spesen erhalten hatte, marschierte ich los, um zu erkunden, wie man nach Petuschki gelangte. Ich kam zu der Überzeugung, daß ich wohl am besten zu Pferde dorthin reiste, weil sich ein Pferd überall fortbewegen kann. Flugzeuge flogen nicht nach Petuschki, Züge fuhren nicht hin, Dampfer auch nicht. Ich machte mir ernsthaft Gedanken um die Ausländer. Wie sollten sie dorthin kommen? Endlich klärte mich ein alter Mann auf dem Bahnhof auf. Ich sollte mit dem Zug in die Kreisstadt fahren, dann weiter mit dem Bus. »Hauptsache, du kannst dich reinquetschen«, sagte der Alte. »Und danach mußt du mit einem Kutter flußauf fahren. Das heißt, wenn der Kutter fährt«, meinte der Alte. »Und wenn er nicht fährt?« fragte ich. »Dann mußt du tippeln«, antwortete der Alte. »‘s ist nicht weit. Stücker fünfundzwanzig Werst.« Ich bedankte mich für die Auskunft und ging mir Gummistiefel kaufen. Und eine Wattejacke. Im Institut löste meine Abreise großes Hallo aus. Alle wollten getrocknete Pilze mitgebracht haben. Und Sascha Rybakow riet mir, eine Angel mitzunehmen, für den letzten Fischfang. »Es ist doch noch kein Frost«, sagte ich. »Wer weiß?« entgegnete Rybakow wieder geheimnisvoll. »Die Experimente können sich hinziehen.«. Die Laborantin Nelja weinte beinahe, als ich mich von ihr verabschiedete. Ich glaube, sie liebt mich. Das muß ich überprüfen, wenn ich zurück bin, dachte ich. Onkel Fedja kam zu mir mit einem Paket. Er bat mich, es in sein Dorf mitzunehmen, zu seinen Verwandten. In dem Paket waren Dörrobst und eine Schallplatte von Muslim Magomajew. Ich fragte Onkel Fedja, wo sein Dorf liege. »Im Tulaer Gouvernement«, antwortete er. »Onkel Fedja, kennst du dich in Geographie aus?« fragte ich. »Nein«, sagte er stolz. »Ich kenne nur Europa. Bin im Krieg viel rumgekommen. Aber hier habe ich schon manches vergessen. Was denn, ist das nicht auf deiner Strecke?«
Ich holte eine Landkarte und zeigte Onkel Fedja, wo Werchnije Petuschki lag. »Guck an«, sagte Onkel Fedja zerknirscht. »Na, macht nichts. Gib’s dort wem, Magomajew kennen die auch, bestimmt kennen sie den.« Mein wissenschaftliches Gepäck bestand aus einem Konspekt des Brummschen Traktats und einem Pyrometer, das ich sicherheitshalber mitgenommen hatte. Ein Pyrometer ist ein Gerät, mit dem man hohe Temperaturen messen kann. Es ist nicht allzu groß. Dann gab ich ein Telegramm an Fomitsch auf: »Kommission zur Überprüfung des Brumm-Effekts schickt Vertreter. Bereiten Sie Apparatur vor.« Zum Bahnhof brachte mich niemand. Auch meine Frau nicht. Der Zug fuhr nachts um drei. Sehr bequem für Leute, die heimlich verschwinden wollen. Ich wußte schon, warum die Abfahrt so spät angesetzt war. Der Zug war alles andere als ein Expreß. Ich schritt den Bahnsteig entlang und erinnerte mich der letzten Worte meiner Frau. »Petetschka, paß auf dich auf.« »Bei den Versuchen?« fragte ich. »Nein, wenn’s ums Trinken geht. Dort trinken doch alle.« »Das sind Gerüchte«, erwiderte ich. »Nicht alle können trinken. Kinder trinken nicht. Alte Leute auch nicht. Und überhaupt haben sie dort einen Spitzenkolchos.« »Iß Speck dazu«, hatte meine Frau geraten, »das soll helfen.«
Viertes Kapitel: Ich fahre Im Eisenbahnwagen war es dunkel wie in einem Bunker während eines Nachtangriffs. Meine Mutter hatte mir von Bunkern erzählt. Genauso stellte ich sie mir vor. Ich ging durch den Wagen, wobei ich über einen Koffer stolperte. Es war ein Wagen ohne Abteiltüren. Auf der mittleren Pritsche schlief
bereits jemand in Socken, das eine Bein weit von sich gestreckt. Ich stieß mit der Nase dagegen. Es tat nicht weh, war aber trotzdem unangenehm. Auf meiner Pritsche saßen zwei Leute. Sie sahen mich freundlich an, standen aber nicht auf. Sie meinten, ich solle ihnen Gesellschaft leisten, doch ich mußte an die Worte meiner Frau denken und setzte mich nicht zu ihnen. Nachdem ich das Pyrometer auf die oberste Pritsche geworfen hatte, ging ich Bettwäsche holen. Die Schaffnerin schmiß mir schweigend ein weißes Bündel zu. Ich fing es auf. Den Rubel Trinkgeld hielt sie ans Fenster und betrachtete ihn lange. Auf der mittleren Pritsche meines Abteils fand ich die Matratze, zusammengerollt wie eine Roulade. In der Matratze ballten sich fünf Watteklumpen. Ich versuchte, sie gleichmäßig zu verteilen, und breitete das Laken darüber. Das Kissen war auch nicht besonders. Als nächstes mußte ich mich ausziehen. Eine Entkleidungsszene im Gang fand ich unschicklich. Darum kletterte ich auf die Pritsche und versuchte es dort. Meine Socken behielt ich an, dem Beispiel der anderen folgend. Ein merkwürdiges Gefühl, in Socken zu schlafen. Trotzdem döste ich schließlich ein. Kurze Zeit später wachte ich auf. Das Pyrometer war von der obersten Pritsche auf das Tischchen gefallen, auf dem eine Flasche und zwei Gläser standen. Zum Glück waren sie leer, aber es hatte doch ganz schön gepoltert. Ich beugte den Kopf hinunter und überlegte, was zu tun sei. Seltsamerweise reagierte niemand im Abteil auf den horrenden Lärm. Statt dessen kam aus einem anderen Abteil ein Mann in Unterhosen und Turnhemd. »Was ist das, ein Fernglas?« fragte er krächzend und hob das Pyrometer auf. »Ein Pyrometer«, antwortete ich unwillig. Ich hatte nicht die geringste Lust, mich auf weitere Erklärungen einzulassen, weil ich spürte, daß ich dann beim Urschleim anfangen müßte. »Ach… ein Pyrometer«, sagte der Mann und kratzte sich durch das Hemd hindurch die Brust. »Das ist wohl zum Druckmessen?«
»Hm«, brummte ich verlegen. Es war mir peinlich, zu lügen. Ich nahm das Pyrometer und warf es, ohne hinzublicken, wieder auf die oberste Pritsche. Das war mein Fehler. Das Pyrometer stieß gegen etwas Weiches und fiel erneut herunter. Diesmal traf es den Freiwilligen in Unterhosen. Der fluchte, gab es mir aber trotzdem zurück. Ich machte einen Klimmzug und sah mich um. Auf der obersten Pritsche schlief jemand. Einfach so,’ ohne jeden Komfort, auf der blanken Fläche. Und ohne Kissen. Wahrscheinlich hatte er vorher auf dem Pyrometer geschlafen und es dann unbeabsichtigt runtergestoßen. Er schlief wie ein Toter. »Na schön. Ich gehe«, sagte der Mann in Unterhosen. Ich hielt ihn nicht. Es gab doch noch nette Leute. Da war er nachts barfuß hergekommen, um mir zweimal das Pyrometer aufzuheben. Und hatte dabei noch Schaden genommen. Man sollte es nicht für möglich halten. Am Morgen weckte mich die Schaffnerin. Wie sich herausstellte, wollte sie gar nichts von mir. Sie versuchte, das Laken unter mir vorzuziehen, und hatte mich dabei versehentlich geweckt. Ich erkundigte mich, wozu diese Eile nötig sei. Aber die Schaffnerin riß mir nur schweigend das Laken weg. Da merkte ich, daß wir sie alle anwiderten, und belästigte sie nicht mehr. »Wolln Sie eine Fahrkarte?« fragte sie plötzlich. Ihrem Ton entnahm ich, daß es auch ohne Karte ging. Ich entschuldigte mich bei ihr und erklärte: »Ich selbst brauche keine, aber die Buchhaltung verlangt eine.« Die Schaffnerin zuckte die Achseln und ging, um eine zu holen. Überhaupt war ihr Mienenspiel äußerst beredt. Mit solchem Mienenspiel kann man sich an jedem Theaterinstitut bewerben. Ich zog Stiefel und Wattejacke an und wartete. Ich mußte bis Mittag warten. Das heißt, Mittag gab es hier natürlich nicht, ich meine bloß die Tageszeit. Einer der Fahrgäste wickelte als erster sein Stullenpaket aus und fing an zu essen. Worauf alle wie auf Kommando ihre in Tücher oder Papier gewickelten Bündel auspackten, Eier aufschlugen, Pellkartoffeln schälten.
Ich bin prinzipiell gegen den Herdeninstinkt. Darum schluckte ich den Speichel hinunter und wartete. Als alle fertig waren, aß ich mein belegtes Brot. Ich hatte gerade den letzten Bissen runtergewürgt, als die Frau auf der gegenüberliegenden Pritsche ein gebratenes Huhn vorholte und wieder anfing zu essen. Dabei hatte sie doch eben erst eine Pirogge mit Kohl verdrückt. Ich mußte immer wieder hinsehen, darum wandte ich mich ab. Im Nebenabteil spielten sie Karten. Schiebekopf. Das Spiel war wohl sehr amüsant, denn von dort dröhnte nur Gelächter herüber. Plötzlich tauchten vor meiner Nase zwei Fersen auf. Danach sprang der Kerl herunter, der auf der obersten Pritsche geschlafen hatte. Er zwinkerte mir vertraulich zu und trollte sich. Wahrscheinlich brauchte er Bier.
Fünftes Kapitel: Ich fahre weiter Wir waren angelangt. Ich betrat den Bahnhofsplatz wie Kolumbus die Küste Amerikas. Gott sei Dank unterschied ich mich in meinem Aufzug kaum von der Menge. Es war ein Städtchen mit niedrigen Häusern. Über die Straße liefen Hühner und Küken. Wenn plötzlich ein Auto auftauchte, rannten sie lange vor dem Kühler her, ehe sie in den Straßengraben flatterten. Ich hatte gehört, daß der Bus in drei Stunden fuhr, und ging auf Entdeckungsreise. Ich kam an einen ziemlich großen Fluß. An der hölzernen Anlegestelle stand ein alter Mann mit Bart und Mütze. Wahrscheinlich ein Fischer. Oder der Bakenwärter. »Was ist das für ein Fluß, Opa?« fragte ich, ohne zu überlegen. »Die Wolga«, entgegnete er vorwurfsvoll. »Hab sie nicht erkannt«, murmelte ich und spürte, daß ich rot wurde. »Hast wohl lange gesessen?« erkundigte sich der Alte nach einem Blick auf meinen Koffer und die Wattejacke.
»Wo soll ich denn gesessen haben?« fragte ich verständnislos. »Wirst’s schon wissen«, erwiderte der Alte und kniff die Augen zu. »Drei Jahre«, sagte ich, um seine Erwartungen nicht zu enttäuschen. »Weswegen denn?« »Hab den Kolchostraktor ins Wasser gefahren.« »Das kommt vor«, meinte der Alte. »Habt ihr ihn wieder rausgezogen?« »Nein. Da war eine Untiefe. Im Schwarzen Meer.« »Und wohin willst du jetzt?« fragte der wißbegierige Alte. »Nach Werchnije Petuschki.« »Dann grüß mal Waska Smirny von mir. Sag ihm, Timofej läßt ihn grüßen, und das Aggregat funktioniert einwandfrei.« Waska Fomitsch schien eine bekannte Persönlichkeit zu sein. Davon konnte ich mich überzeugen, als ich zum Exekutivkomitee ging. Dort hing eine Ehrentafel. In der rechten oberen Ecke klebte ein Foto des Genossen Smirny. Darunter stand, er sei ein vorbildlicher Mechaniker und Rationalisator. Na, das wunderte mich nicht. Gegenüber dem Exekutivkomitee, am Kulturpalast, hing ebenfalls eine Tafel. Nur lautete das Thema anders: »Sie machen unserem Kreis Schande!« In der rechten oberen Ecke erblickte ich wieder ein Foto von Fomitsch. Genau das gleiche. Sicherlich stammte es vom selben Negativ. Dort hieß es, der Genosse Smirny befasse sich mit der Herstellung von Destillierapparaten. Alle anderen Abgebildeten waren Alkoholiker. Praktisch seine Opfer. Offenbar waren die Tafeln von verschiedenen Organisationen ausgehängt worden. Ohne vorherige Absprache. Fomitsch machte auf dem Foto einen ziemlich würdigen Eindruck. Nach seinem Äußeren zu urteilen, war er um die Fünfzig. Seine Frisur erinnerte an spärlich sprießenden Rasen. Ich konnte es kaum erwarten, diesen vielseitigen Mann kennenzulernen, und eilte zum Bus. Der Alte, der mich vor dem Gedränge im Bus gewarnt hatte, kannte die örtlichen Bedingungen gut. Niemand fuhr hier einfach so, zum Spaß. Alle schleppten etwas. Räder fürs Motorrad, eine Waschmaschine, einen Käfig mit einem
Kanarienvogel, zwei Fernseher und einen Gartenschlauch aus Gummi. Mein Pyrometer nicht mitgerechnet. Der Bus näherte sich der Haltestelle. Der Fahrer beugte sich zum Fenster raus und schrie: »Laßt mir ja den Bus heil!« Aber niemand hörte auf ihn. Die beiden Männer mit der Waschmaschine stürzten zum Bus. Unterwegs verhedderten sie sich im Gartenschlauch und verfehlten so die Tür. Der Bus erhielt an der Seite eine ganz schöne Delle. »Ich komme gleich raus!« versprach der Fahrer. Jeder stieß den andern schweigend mit den Armen weg. Es sah aus, als schwömmen sie alle in einem Morast. Ich hielt das Pyrometer an die Brust und drückte es gegen den Sack, den ein altes Weiblein auf dem Rücken schleppte. »Schieb nicht so, da ist Geschirr drin!« zeterte die Alte. Und auf einmal schrien alle durcheinander, wer was im Sack hatte. Es waren durchweg zerbrechliche Gegenstände. »Vorsicht!« brüllte ich. »Das Pyrometer ist nicht gesichert! Bei Erschütterungen explodiert es!« Ringsum bildete sich sofort ein Vakuum. Ich stieg in den Bus und setzte mich. Die anderen setzten ihre Bemühungen fort. Endlich wurde es dem Fahrer zu bunt, und er fuhr langsam an. Die Waschmaschine war erst zur Hälfte im Bus verstaut, der Gartenschlauch zu einem winzigen Teil. Der Gartenschlauch rollte sich auf und schleifte über die Straße wie eine Knute. Der Waschmaschinenbesitzer rannte neben dem Bus her und versuchte noch immer, die Maschine weiter hineinzuschieben, doch es wollte ihm nicht gelingen. Der Kanarienvogel sang vor Schreck ein Lied. Ein paar Übernervöse hätten ihm am liebsten den Hals umgedreht. Vierzig Kilometer wurde noch geschimpft, dann beruhigten sich alle. Mein Pyrometer betrachteten sie voll Ehrfurcht und lauschten, ob es innen nicht ticke. Schließlich stieg ich an einer Brücke aus. Neben der Brücke war die Anlegestelle. Dort warteten schon Leute auf den Kutter. Wie sie mir übereinstimmend erklärten, warteten sie seit dem
Abend zuvor. Die Gewißheit, daß der Kutter noch kommen würde, gab mir Auftrieb. Der Kutter kam wirklich. Aber erst am nächsten Morgen. Die Nacht verbrachten wir an einem Lagerfeuer. Gut, daß unter den Wartenden Touristen waren. Sie schlugen Zelte auf, und wir nächtigten ausgezeichnet. Am Morgen bewirteten sie mich mit Büchsenfleisch. Ich fragte, ob unter ihnen nicht jemand aus Petuschki sei. »Aus welchem Petuschki?« fragte ein Mädchen mit Fahrrad. Sie hatte am Lagerfeuer Volkslieder gesungen. »Bei uns gibt’s viele Petuschkis. Nishnije Petuschki, Werchnije Petuschki, Kriwyje Petuschki und Jasnyje Petuschki.« Ich sagte: »Werchnije Petuschki.« Und fügte hinzu, daß ich zu Genossen Smirny wolle. »Zu Onkel Wassja?« rief das Mädchen erfreut. Dann sah sie mich mißtrauisch an und fragte, ob ich auch nicht von der Miliz sei. Ich sagte: »Nein.« Das Mädchen musterte mich noch argwöhnischer und erkundigte sich: »Wollen Sie etwa einen Apparat? Er macht keine mehr. Durch diese Apparate wird er von der Wissenschaft abgelenkt. Kein Bewußtsein haben die Menschen bei uns!« Offenbar waren Fomitschs wissenschaftliche Leistungen ebenfalls hinreichend bekannt. Das Mädchen erzählte mir, daß Smirny aus einer Fernsehröhre ein Gerät gebastelt habe, mit dem er die Euter der Kolchoskühe bestrahle. Die Erträge seien danach erheblich gestiegen. Im übrigen seien Fomitschs geistige Interessen äußerst vielfältig. Zwei Stunden lang fuhren wir mit dem Kutter an den verschiedenen Petuschkis und anderen Ortschaften vorbei. Die Natur hier war unberührt, die Luft völlig keimfrei. Die Menschen waren rauh und an Schwierigkeiten gewöhnt. Die Landwirte, die Tierpfleger, die Dorfintelligenz. Früher hatte man den »Zusammenschluß von Stadt und Land« propagiert. Und nun beschleunigte ich diesen Zusammenschluß. Sie baten mich, ihnen mehr über das Pyrometer zu verraten. Ich ließ mich dazu hinreißen und ging unmerklich zu den Elementarteilchen über.
Danach erzählte ich ihnen von Laserstrahlen, kohärenter Strahlung und dergleichen mehr. »Söhnchen, kannst du mit deinen Laserstrahlen Wiesen mähen?« fragte ein altes Weiblein. »Im Prinzip ja«, erwiderte ich, »aber das ist nicht rationell. Genausogut könnte man mit einem Fotoapparat Nägel einschlagen.« Als wir in Werchnije Petuschki anlangten, hatten die Fahrgäste schon eine allgemeine Vorstellung von der Physik. Ich weiß nicht, wie sich das bei ihnen niederschlug. Sicherlich recht eigenartig. Und ich wiederum wußte jetzt über Pflügen, Säen, Melken und andere Dinge Bescheid. Endlich stieß der Kutter mit dem Bug, über dem ein Autodach hing, gegen das Ufer des gastfreundlichen Hafens von Werchnije Petuschki.
Sechstes Kapitel: Ich lerne Fomitsch kennen »Wo ist denn das Dorf?« fragte ich das Mädchen mit dem Fahrrad. »Dort«, sagte sie und wies mir die Richtung. »Ich kann Sie begleiten.« Auf einem Hügel standen fünf Häuschen ziemlich chaotisch beisammen. Ein Pfad führte zum Fluß hinunter. Hunde kläfften. Hähne krähten. Kurzum, es sah nicht so aus, als wäre hier das Zentrum der Weltwissenschaft. »Das ist Onkel Wassjas Haus«, sagte das Mädchen und schwenkte den Arm. Auf dem Schornstein des Häuschens war eine Vorrichtung aus dickem Stacheldraht angebracht. »Eine Magnetfalle«, erläuterte das Mädchen. »Ich verstehe«, murmelte ich. Wenn dieser Fomitsch in seinem Ofen Plasma gewinnt, lasse ich die Physik sausen, dachte ich. Ich ging auf Fomitschs Kate zu und klopfte ans Fensterchen. Die Gardine teilte sich, und ein Kopf kam zum Vorschein. Ich erkannte ihn sofort wieder. Er sah schlechter aus als an der Ehrentafel, dafür war er quicklebendig. Wassili Fomitsch machte erschrockene Augen und schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich komme geschäftlich!« rief ich. »Scher dich zum Teufel!« drang seine Stimme dumpf durch die Scheibe. »Ich hab keine Apparate!« »Ich komme wegen Brumm!« erklärte ich. »Brumm?« Seine fuchsroten Brauen hoben sich. Er verschwand vom Fenster und öffnete die Tür. Ich betrat den Vorraum. »Du lügst doch nicht?« fragte Fomitsch. »Dann komm rein.« Er hatte einen Trainingsanzug an und hielt in der Hand eine Ofengabel. Zwischen den Zinken war eine bikonvexe Linse befestigt. Demnach war das keine Ofengabel mehr, sondern ein physikalisches Gerät. Wenn Fomitsch erregt war, rollte er das R wie ein Spanier. Manchmal verstand man ihn überhaupt nicht, aber das lag vor allem an seiner Terminologie. Sie unterschied sich von der allgemein üblichen. »Die Apparatschiks lassen einem keine Ruhe«, sagte Fomitsch. »Ich nehme kein Geld von ihnen. Nur um sie loszuwerden. Sie sagen, bringt deine Wissenschaft doch wenigstens einen Nutzen. Und du, woher kommst du?« Ich sagte es ihm. Fomitsch war ehrlich erstaunt. Besonders darüber, daß unser Hufeisen keinen Strom erzeugt hatte. Er führte mich in die Stube. Dort sah es aus wie in unserem Labor. Eine Menge Drähte und Eisen. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe. Unter ihrem Glasschirm hing ein Hufeisen. Von dem Hufeisen führten Leitungsdrähte zu einem Radioapparat. Fomitsch zündete die Lampe an und drehte am Radio. Das Radio fing an zu spielen. »Direkte Umwandlung«, erklärte Smirny. »Ein tragbarer Stromspeiser.« Im selben Moment klopfte die Postbotin ans Fenster. Sie brachte Fomitsch mein Telegramm. Hätte ich das geahnt, dann hätte ich das Telegramm selbst mitgenommen, um der Post die Mühe zu ersparen. Fomitsch studierte das Telegramm aufmerksam. »Sie schicken einen Vertreter«, sagte er bedeutsam. »Auch wegen Brumm.« »Das bin ich doch«, klärte ich ihn auf. »Woher kennen Sie eigentlich Brumms Theorie?«
»Das ist eine Geschichte, die weit in die Vergangenheit zurückreicht«, begann Fomitsch literarisch. »Ich hab früher Häuser abgerissen. Hab Balken und Steine sortiert, was davon noch zu verwerten war. Und eines Tages fand ich auf einem Dachboden das Traktat. Ich hab nicht viel verstanden, aber es war intrrressant! Sehr intrrressant!« »Interessant«, stimmte ich ihm zu. »Selten hat einer so gesponnen.« »Gesponnen oder nicht, ein Körnchen Wahrheit steckt bestimmt drin«, nahm Fomitsch Brumm in Schutz. Er wollte mir wohl weismachen, daß er zu diesem Körnchen vorgedrungen sei. »Und der Satan?« fragte ich. »Nicht der Satan, sondern der Teufel«, berichtigte mich Fomitsch. »Elektron oder Teufel, da ist kein Unterschied, Hauptsache, es funktioniert.« »Na, das werden wir noch überprüfen«, sagte ich. »Der Morgen ist klüger als der Abend«, meinte Fomitsch. Es wurde Zeit, schlafen zu gehen. Da kam plötzlich Fomitschs Frau herein, ein lebenslustiges Persönchen. Sie nannte Fomitsch Wassjuta und hatte zur Physik ein liebevolles Verhältnis, wie zu einem Hauskätzchen. Ich wurde äußerst freundlich bewirtet. Vor dem Schlafengehen kontrollierte Fomitsch noch das Teleskop und machte sich Notizen. Meiner Meinung nach war er zu spät geboren. Er hätte gut zur Renaissance gepaßt. Nicht zu verwechseln mit Rosinante. Obwohl Rosinante diesem Ritter der Wissenschaft ebenfalls von Nutzen gewesen wäre. Mir lag die Frage auf der Zunge, ob Fomitsch nicht auch Gedichte mache. Oder Statuen. Aber ich fragte lieber nicht. Nachts träumte ich von Hans Friedrich Brumm. Er kam zu uns ins Institut, in einer Wattejacke, die er über seine schwarze Kutte gezogen hatte. In der Hand hielt er ein Blitztelegramm. Ich zeigte ihm das Hufeisen, und er lachte gräßlich. »Intrrressant! Sehr intrrressant!« schrie er. Dann ging Brumm zum Lateinischen über und redete lange auf mich ein. Das einzige, was ich davon verstand, war: »Quod licet Jovi, non licet bovi.« Was soviel heißt wie: »Was Jupiter erlaubt ist, ist dem Ochsen
noch lange nicht erlaubt.« Früher hatte ich mal eine Vorliebe für geflügelte Worte gehabt. Mir war nur nicht klar, wen Brumm mit dem Ochsen meinte.
Siebentes Kapitel: Wir experimentieren gemeinsam Als ich aufwachte, war Fomitsch nicht da. Er erschien eine halbe Stunde später mit einem Eimer, an den ein Kineskop montiert war. Anscheinend hatte er bereits die morgendliche Bestrahlung der Kühe durchgeführt. Er mußte schon lange wach sein. Das merkte ich am Pyrometer. Das Pyrometer war bis zum letzten Schräubchen in seine Bestandteile zerlegt. Die Teile lagen sorgsam ausgebreitet auf einem sauberen Lappen. Fomitsch hatte eine kindliche Methode, seine Umwelt zu erforschen. Als Kind hatte ich auch Spielzeug auseinandergenommen, um zu sehen, was drin war. »Brauchen wir das Pyrometer?« fragte Fomitsch, auf die Teile weisend. Donnerwetter, er kennt sogar die Bezeichnung dafür, dachte ich. »Ja«, antwortete ich, »wir brauchen es.« »Ich bau’s gleich zusammen«, versprach Fomitsch. Und wirklich, eine Viertelstunde später hatte er das Pyrometer wieder zusammengesetzt. Nicht ein Teilchen fehlte. Bei der Montage hatte er sogar einiges modernisiert, deshalb konnte man das Pyrometer jetzt nach seinen Worten auch als Mikroskop benutzen. »Haben Sie noch was?« fragte er hoffnungsvoll. »Nein«, antwortete ich. »Das nächste Mal bringe ich mehr mit.« »Ach, wenn ich eine Wilsonkammer hätte!« sagte Fomitsch träumerisch. »Dann könnte ich…« Wie ich den Gesprächen entnahm, war Fomitsch frei von Ehrgeiz. Für seine Briefe an wissenschaftliche Forschungszentren gab es eine einfache Erklärung. Fomitschs Landsleute hatten keine hohe Meinung von seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Soweit sie nicht die Apparate betraf. Sie
glaubten nicht an seinen guten Stern. Darum hatte er beschlossen, sich seine Urheberschaft amtlich bescheinigen zu lassen, um so sein Ansehen zu erhöhen. Außerdem hoffte er, daß sie ihn dann nicht mehr bei der Arbeit störten. »Sie sagen: Bring mal den Trrrecker in Schuß«, erklärte Fomitsch. »Ich hab aber keine Lust, den Trrrecker zu reparieren, wenn erst das Plasma an der Reihe ist.« Wir frühstückten, ehe wir mit den Versuchen begannen. Merkwürdig, daß wir immer nur Tee tranken. Gestern abend und heute wieder. Ich erfuhr, daß Fomitsch überhaupt nicht trank. Vielleicht sollte man als Maßnahme gegen den Alkoholismus Pflichtübungen in Physik einführen, schoß es mir durch den Kopf. Wir erhitzten ein Hufeisen. Mit einer Kerze. Mit der Petroleumlampe. Mit dem Daumen. Wir erzeugten am laufenden Band Strom. Der Radioapparat lief. Mein Elektrorasierer rasierte. Mit Strom vom Hufeisen! Wenn ich das im Institut erzählte, würden sie mich steinigen. Hypnose war ausgeschlossen. Hexerei ebenfalls. Blieb nur, sich den Fakten zu beugen. »Und du sagst, das ist gesponnen!« rief Fomitsch erfreut aus. »Die Natur ist einheitlich«, beharrte ich. »Es kann nicht sein, daß in Petuschki ein physikalisches Gesetz wirkt und in Leningrad ein anderes.« »Wie soll ich dir das erklären?« sagte Fomitsch, um das Hufeisen herumtänzelnd. »Ich glaube, da irrst du.« Ich überprüfte noch einmal das Schema, notierte den Stand der Geräte, maß die Temperatur und ging aufs Feld hinaus, um nachzudenken. Felder gab’s hier zum Glück genug. Da konnte man die ganze Physik überdenken, vom ersten Newtonschen Gesetz bis zu den letzten Entdeckungen Fomitschs. Wie war das denn? Ich hatte die Schule beendet, das Institut und bereitete mich auf die Aspirantur vor. Ich hatte mir ein kleines Teilgebiet der Physik angeeignet, auf dem ich, wie mir schien, mehr wußte als die anderen. Ein ganz kleines. Winziger ging’s nicht. Und hier forschte ein Mensch global, aus reinem Enthusiasmus. Dabei dachte er nicht daran,
zu promovieren. Es interessierte ihn, das war alles. Wer von uns beiden betrieb denn nun eigentlich Physik? Wassili Fomitsch, fand ich. Ich erforschte ja nur Bruchteile der Wahrheit, von denen keinem heiß oder kalt wurde. Die optischen Eigenschaften anisotroper Verbindungen des Wismut. Angenommen, ich verteidigte eines Tages meine Dissertation. Aber Fomitsch fuhr auf einem Motorrad, dessen Akku an einem Hufeisen aufgeladen war. Der Radioapparat spielte. Der Elektrorasierer rasierte. Und bald würde Fomitsch noch Plasma gewinnen. Und wenn er nun ein Scharlatan war? Ich erinnerte mich an seinen Blick, als er das Eisen über die Kerze hielt. Nein, er war kein Scharlatan. Scharlatane haben nicht so gläubige Augen. Ich kam zu keinem Schluß. Mir wurde allmählich kalt auf den Feldern. Es war schon spät. Die ersten Nachtfröste »fielen«. Ich glaube, so heißt es in der Sprache der Landwirtschaft. Das Gras war vergilbt. Mich drängte es plötzlich, aufs Land überzusiedeln. Warum nicht? Ich würde Fomitsch assistieren. Wir würden eine Wilsonkammer auftreiben und uns mit den Elementarteilchen rumschlagen. Ich würde mir eine Kuh kaufen. Und ein Motorrad. Ich war guten Mutes und gleich darauf wieder traurig, weil ich wußte, daß ich nirgends hinziehen würde. Ich würde mein Leben lang irgendwelche Werte messen und für die Zeitschrift »Physik der Festkörper« Artikel schreiben. Und diese Artikel würde außer mir und dem Chef nur ein kleines Häuflein von Fachleuten verstehen. Auf dem ganzen Erdball. Mißgestimmt kehrte ich zu Fomitsch zurück. Er gab mir kuhwarme Milch zu trinken, und nachts unterhielten wir uns über kosmische Strahlen und die Relativität von Raum und Zeit. Lange hatte ich solche Themen nicht mit einem so natürlichen, unverdorbenen Menschen debattiert. Denn das war Fomitsch, unbedingt. Ein paarmal brachte er mich in Verlegenheit. Da spürte ich deutlich, daß es in Raum und Zeit noch viele ungeklärte Fragen gab. »Wassjuta, schlaf!« meldete sich Fomitschs Frau vom Ofen her. »Ja doch! Dieser Einstein lastet mir auf der Seele. Wieso bin ich nicht vor ihm draufgekommen?«
»Er hat einfach früher gelebt«, beruhigte ich Fomitsch. »Wenn’s so ist«, beschied sich Fomitsch. »Trotzdem ist es ärgerlich.« Er wälzte sich noch lange hin und her, bis er endlich einschlief. Ich wandte den Blick zum Fenster und sah den aufgepflügten Acker im grünlichen Mondlicht liegen. Die Erdhuckel warfen Schatten. Mit gesenkter Schnauze lief ein Hund über den Acker. Oder ein Wolf. Und mich packte Sehnsucht nach zu Hause. Die Weite der Felder lastete auf meinem Nervensystem.
Achtes Kapitel: Wir fahren zurück »Machen Sie sich fertig, Wassili Fomitsch«, sagte ich am nächsten Morgen. »Packen Sie die Geräte ein. Wir fahren nach Leningrad.« »Was soll ich denn da?« fragte Fomitsch mißtrauisch. »Sie solln sich den Leuten zeigen«, erklärte ich. »Die kriegen mich nicht zu Gesicht. Das fehlte noch!« »Wir schenken Ihnen einen Oszillographen«, versprach ich. »Einen Oszillographen?« Fomitsch blinzelte verträumt. Sogar die Härchen auf seinem Kopf sträubten sich. »Nein, ich fahre nicht. Wer soll denn die Kühe bestrahlen? Der Vorsitzende läßt mich ganz bestimmt nicht weg.« Ich ging zum Vorsitzenden ins Nachbardorf. Dort war die Verwaltung. Der Vorsitzende wunderte sich nicht ein bißchen über meinen Besuch. Offenbar wurde er wegen Fomitsch häufig aufgesucht. Merkwürdig, daß er trotzdem noch Sympathie für ihn hegte. »Ein heller Kopf«, sagte der Vorsitzende. »Das zum ersten. Er trinkt nicht. Das zum zweiten. Aber er ist verantwortungslos, verstehst du? Weißt du, wieviel von diesen Apparaten er unter die Leute gebracht hat? Siebenundzwanzig Stück! Nicht eine Kopeke hat er dafür genommen. Er kann nicht nein sagen. Wie soll man auch nein sagen, wenn sie einem das Messer an die Kehle setzen!« Ich begriff, daß er das nicht im übertragenen Sinne meinte.
»Manchmal verzapft er Unsinn, das stimmt. Dann erfindet er was, was keinem nützt. Den Bestrahler, den er gemacht hat – der ist Klasse. Aber das Plasma – wer braucht das schon?« Nach den Worten des Vorsitzenden vermieteten sie Fomitschs hellen Kopf sogar. An die Nachbarkolchosen. Fomitsch machte ihnen einen Rationalisierungsvorschlag, und sie zahlten dem Kolchos Geld dafür. So wie bei uns im Institut Arbeitsverträge mit Betrieben abgeschlossen wurden. »Gut, du hast mich überzeugt«, sagte der Vorsitzende, als ich auf den Nobelpreis anspielte. »Wenn wir einen Preis kriegen, baun wir einen Kuhstall.« »Für den Preis könnt ihr einen Elefantenstall bauen«, sagte ich. »Wozu brauchen wir denn Elefanten?« fragte der Vorsitzende. »Richtet sie als Hähne ab«, antwortete ich. »Bringt ihnen das Krähen bei.« Der Vorsitzende musterte mich interessiert. Ich merkte, daß ich mit meinem Humor den Bogen überspannt hatte. Das kommt bei mir öfter vor. Darum lenkte ich ein: »Übrigens werden Elefanten in Indien als Arbeitstiere verwendet.« »Bei uns geht ja die ganze Ernte für die eigene Versorgung drauf«, meinte der Vorsitzende. »Wieviel kostet denn ein Elefant?« Ich ärgerte mich schon, daß ich das Gespräch auf Elefanten gebracht hatte. Nun wußte ich nicht, wie ich mich rauswinden sollte. »Man kriegt schwer welche. Das ist alles Importware«, beschwichtigte ich den Kolchosvorsitzenden. Er verlor sofort jegliches Interesse an den Elefanten und schrieb Fomitsch irgendwelche Reisepapiere aus. Zum Schluß bat er mich, dafür zu sorgen, daß Fomitsch dem Hütejungen Kolka zeigte, wie man die Kühe bestrahlte. Das versprach ich ihm. Einen Tag brauchten wir zum Packen. Aus der Schmiede holten wir einen Beutel voll Hufeisen. Er war ganz schön schwer. Wir nahmen auch Fomitschs Geräte mit, um die Reinheit des Experiments zu wahren. Und machten uns auf den Weg. Fomitschs Frau gab uns getrocknete Pilze mit und sagte: »Paß dort auf dich auf, Wassjuta!«
Was weiter folgte, glich dem Gespräch zwischen mir und meiner Frau. Nur bezog es sich bei ihnen auf die Versuche. Als wir die Kreisstadt erreichten, schrumpfte Fomitsch sichtlich zusammen. Er hob nicht einmal den Kopf. Wir gingen am Kulturpalast vorbei. Am Schwarzen Brett mit der Aufschrift »Sie machen unserm Kreis Schande« hing Fomitschs Foto nicht mehr. Auch nicht an der gegenüberliegenden Ehrentafel. Die beiden Fotografien hatten einander vernichtet, wie ein Teilchen ein Antiteilchen. Bei uns nennt man das Annihilation. Zum erstenmal lächelte Fomitsch. Ich weiß nicht, über welches Brett er sich mehr freute. Wir fuhren mit demselben Zug zurück, mit dem ich hergekommen war. Mit derselben Schaffnerin und demselben Komfort. Darum lasse ich die Bahnfahrt aus. Am Morgen langten wir an, und ich schleifte Fomitsch gleich ins Institut. Er sah sich die ganze Zeit ängstlich um und preßte dabei den Beutel mit den Hufeisen an den Leib. Zweimal zog ich ihn buchstäblich unter den Rädern eines Fahrzeugs hervor. Einmal er mich. Aber das war Zufall. Wir gingen den Institutskorridor entlang, ein Schwarm Neugieriger folgte uns. Am Eingang des Labors glichen wir schon einem Kometen. Den Kern bildeten Fomitsch und ich. Ich stieß Fomitsch ins Labor, trat selbst ein und erklärte wie auf einem Empfang: »Darf ich vorstellen? Wassili Fomitsch Smirny.« Der Chef wurde gerade von einer Studentin konsultiert. Er saß mit dem Rücken zu uns. Am Gesicht der Studentin las ich ab, was im Chef vorging. Ihre Pupillen weiteten sich, und sie stammelte: »Viktor Ignatjewitsch, ich komme später noch mal.« Der Chef drehte sich langsam um. Er schien sich in der Gewalt zu haben. Sascha Rybakow nahm die Brille ab und putzte sie. Eine stumme Szene folgte, wie in Gogols »Revisor«. Und Fomitsch fragte: »Erinnern Sie sich an mich? Ich habe Ihnen wegen Brumm geschrieben.« »Wir erinnern uns«, sagte der Chef. »Und ob wir uns erinnern.«
Neuntes Kapitel: Wir befassen uns mit Fomitsch (1) Das Publikum verteilte sich wie in einem Stadion, und der Wettkampf zwischen dem Chef und Fomitsch begann. Der Chef eröffnete das Spiel. Rybakow assistierte ihm. Ich war Schiedsrichter. Obwohl ich noch nicht wußte, was ich dabei zu tun hatte. Der Chef nahm ein Hufeisen mit dem Taschentuch auf und befestigte es. Die Leitungsdrähte wurden angelötet, nichts fehlte. Wir erwärmten das Eisen. Das Ergebnis war natürlich gleich Null. »Na also«, sagte der Chef. »Lassen Sie mich mal«, bat Fomitsch. »Geben Sie mir die Kerze.« Fomitsch trat hinter das Steuerpult und erzeugte auf der Stelle Strom. Das Spiel stand unentschieden. Eins zu eins. Wie aus dem Boden gewachsen, stand Lissozki plötzlich vor uns. Er trat zu Fomitsch und umfaßte freundschaftlich seine Schultern. Fomitsch wich erschrocken zurück. »Ai-jai-jai«, sagte Lissozki. »Schämt ihr euch nicht, Genossen? Einen Gast so zu empfangen? Wo bleibt unsere Leningrader Gastfreundschaft?« »Ich trinke nicht«, gab Fomitsch leise zu bedenken. »Pjotr Nikolajewitsch, ist der Genosse im Hotel untergebracht?« fragte mich Lissozki. »Er kommt doch nicht aus Paris, sondern aus Petuschki«, erwiderte ich. »Da versuchen Sie mal, ihn unterzubringen.« »Das übernehme ich«, sagte Lissozki. »Ich kann ja auf dem Bahnhof übernachten«, schlug Fomitsch vor. Das Hufeisen lieferte immer noch Strom. Einer der Laboranten hatte unbemerkt eine Lampe angeschlossen. Sie brannte natürlich. Der Chef hatte sich hingesetzt und rieb sich mit demselben Taschentuch die Stirn, mit dem er das Hufeisen aufgenommen hatte. Sascha Rybakow maß die Spannung und erklärte: »Zweihundertzwanzig Volt. Haben Sie auch Hufeisen für hundertsiebenundzwanzig Volt?« »Warum nicht? Ja«, sagte Fomitsch.
»Nicht nötig«, hauchte der Chef. »Wassili Fomitsch«, sagte Lissozki. »Jetzt bringen wir Sie erst mal unter, dann ruhen Sie sich aus, und morgen setzen wir die Forschungen fort.« »Was gibt’s denn da zu forschen?« fragte Fomitsch verwundert. »Es kann Nebeneffekte geben«, antwortete Lissozki ausweichend. »Außerdem müssen wir die Sache theoretisch begründen.« »Das hat doch schon Brumm gemacht«, warf ich ein. »Alles ist das Werk des Teufels. Oder des Satans.« Lissozki führte Fomitsch bereits hinaus. Der konnte mir gerade noch einen hilfeflehenden Blick zuwerfen, doch es nützte ihm nichts. Ich mußte den Bericht über meine Dienstreise schreiben. Das Publikum strömte aus dem Labor. Die Lampe brannte weiter. »Petja, entfernen Sie diese Illusion«, bat der Chef mit matter Stimme. »Da kann man nichts machen, es funktioniert«, sagte ich mit einer ratlosen Geste. »Ha!« rief Rybakow in seiner Ecke aus. Der Chef sprang auf und schleuderte die Lampe in den Müllkasten, wo sie klirrend zerbrach. Dabei bekam er einen Schlag vom Hufeisen. Kein schlechtes Argument. Aber der Chef war so in Rage, daß er gar nicht darauf reagierte. »Petja«, beschwor er mich, »schaffen Sie mir diesen Fomitsch vom Halse. Mitsamt seinen Hufeisen. Tun Sie mir den Gefallen. Ich gebe Ihnen eine Woche frei. Führen Sie ihn in die Ermitage, zeigen Sie ihm die eiförmige Uhr des Kulibin. Gehen Sie mit ihm in den Zirkus, auf den Rummelplatz, ins Hallenbad. Wohin Sie wollen!« »Und der Brumm-Effekt?« fragte ich. »Vergessen Sie dieses Wort!« wetterte der Chef. Sein Blick fiel auf das Hufeisen, ächzend stürzte er sich darauf. Ich hätte nie geglaubt, daß der Chef so ein Berserker ist. Im Nu hatte er das Hufeisen auseinandergebogen und schleuderte es in besagten Müllkasten. Die Kerze flog hinterher. Der Chef nahm eine Tablette und steckte sie sich unter die Zunge. Ich dachte, wenn er jetzt an einem Herzschlag stirbt, bin ich schuld und nicht Brumm. Darum wich ich rückwärts aus dem Labor.
Zehntes Kapitel: Wir befassen uns mit Fomitsch (2) Am nächsten Tag hatte Fomitsch seine Benefizvorstellung im Labor Lissozkis. Lissozki war schon in aller Frühe ins Institut gerast, was lange nicht passiert war. In seinen Händen baumelte der Beutel mit den Hufeisen. Gewiß hatte er sie wieder ausgeliehen. Damit sie ihm Glück brächten. Wenn es danach ging, mußte Lissozkis Glück bis zum Jahr zweitausend währen. »Pjotr Nikolajewitsch«, wandte er sich an mich. »Ich habe Smirny im Hotel Leningrad untergebracht. Fahren Sie zu ihm, der Korrespondent muß bald dasein.« »Welcher Korrespondent?« fragte ich. »Von der Zeitung«, antwortete Lissozki. Ich zuckte die Achseln und fuhr zu Fomitsch. Fomitsch hatte schon Sehnsucht nach mir. Beinahe hätte er mich geküßt. In dem Einzelzimmer mit den polierten finnischen Möbeln wirkte er wie ein Waldgeist in Zellophan. Er saß vor dem Spiegel, der die ganze Wand einnahm, und strich sich die Brauen glatt. Ohne sichtbaren Erfolg. Dabei sprach er voller Eifer mit seinem Spiegelbild. »Bist General geworden, was?« spottete er. »Wozu mußtest du Dämlack auch in die Stadt fahrn? Was schern dich ihre Forschungen? Aha, du schweigst!« Fomitsch machte eine Pause, damit sein Spiegelbild auch wirklich schwieg. Dann hob er den Stiefel auf, der unter dem Sessel stand, und schwenkte ihn in der Luft. »Du bist genauso kaputt wie der Stiefel, Waska!« »Ärgern Sie sich nicht, Wassili Fomitsch«, warf ich ein. »Ich ärgere mich ja gar nicht. Warum denkst du das?« erwiderte Fomitsch. Ich merkte, daß Fomitsch nicht im Bett geschlafen hatte, sondern auf dem Sessel. Das Bett war unberührt.
Wir gingen die mit Läufern bespannte Treppe hinunter. Die Etagenfrau starrte Fomitsch sprachlos nach. Wahrscheinlich hatte sie lange keinen einfachen Menschen gesehen. Wir trafen im Institut ein, wo der Korrespondent schon ungeduldig wartete. Lissozki ging mit ihm im Flur auf und ab und klärte ihn über die Hufeisen auf. Der Korrespondent warf mit wissenschaftlichen Termini nur so um sich, er war wohl sehr gebildet. »Ach, da ist ja unser Naturtalent!« rief Lissozki aus. Der Korrespondent zückte seinen Notizblock und musterte fachmännisch Fomitschs Pferdegebiß. Fomitsch verzog das Gesicht, als hätte er ein Kilo Moosbeeren gegessen. »Wir beginnen spannend«, sagte der Korrespondent und lachte. Er war glücklich über den Fang. »Als erstes bringen wir die Geschichte des Hufeisens. Angefangen bei den ägyptischen Pharaonen über die Kreuzzüge bis in unsere Zeit. Das Hufeisen ist heutzutage schon beinahe ein Anachronismus. Man kann sagen, es haucht sein Leben aus. Und plötzlich erfährt es – die zweite Geburt! Ja, so werden wir die Geschichte nennen.« Ich mußte den Korrespondenten schleunigst bremsen, denn Fomitsch wurde schon ganz blaß. Wahrscheinlich hatte er einen Anfall von Nostalgie. Ich lief in mein Zimmer und rief von dort Lissozkis Labor an. Verlangte den Korrespondenten. »Am Apparat«, meldete sich der Korrespondent. »Hier ist der Rundfunk«, sagte ich. »Wir brauchen dringend Material für eine Sendung: Neues aus den Laboratorien der Wissenschaftler. Zwei Schreibmaschinenseiten. Unterstreichen Sie die volkswirtschaftliche Bedeutung der Erfindung des Genossen Smirny.« »Wann brauchen Sie das?« fragte der Korrespondent. »In einer Stunde.« »Verstehe«, sagte der Korrespondent. »Ich gebe den Text telefonisch durch. Ihre Nummer?« Ich nannte ihm die Nummer meiner Tante. Sie ist eine alleinstehende Rentnerin. Für sie würde es interessant sein, ihm zuzuhören. Dann rief
ich meine Tante an und bat sie, für mich eine telefonische Durchsage entgegenzunehmen. Als ich in Lissozkis Labor zurückkehrte, war das Experiment schon in vollem Gange. Fomitsch sah müde aus. Wahrscheinlich war der Strom im Hufeisen darum schwächer als am Tag zuvor. Die Lampe brannte trübe. Aber der Korrespondent kritzelte bereits an seinem Elaborat über die volkswirtschaftliche Bedeutung. Er war schneller fertig als Fomitsch und diktierte meiner Tante den Text gleich von hier aus. Angefangen bei den ägyptischen Pharaonen. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung. Danach raste er in die Redaktion. »Ich muß das Fernsehen anrufen«, sagte Lissozki. »Tun Sie’s«, meinte ich. »Wir gehn inzwischen in die Ermitage. Der Mann war noch nie dort.« Den Weisungen meines Chefs folgend, zeigte ich Fomitsch in der Ermitage die Uhr des Kulibin. Leider konnte man sie nicht an Ort und Stelle auseinandernehmen. Darum strich Fomitsch unschlüssig um die Museumsvitrine herum. Wir gingen weiter zu den Gemälden. Fomitsch war erschüttert von Picasso. Er stand lange davor, betrachtete die Komposition und fragte plötzlich: »Wo kann man hier Fahrkarten kaufen?« Beim Weggehen sah er sich noch ein paarmal nach dem Gemälde um, als fürchtete er, es könne hinter ihm herstürzen wie ein Hund. Matisse gab ihm den Rest. Fomitsch verließ das Museum wie ein begossener Pudel. In den Zirkus mitzukommen, lehnte er strikt ab. »Gehn wir einen trinken, Petja«, schlug er vor. Das fand ich beunruhigend. Ich führte ihn zurück ins Hotel, in die Bar. Fomitsch setzte sich an den Schanktisch neben einen jungen Mann, der aussah wie ein Mädchen. Oder umgekehrt. Der Barmann schob ihm einen Cocktail mit Strohhalm zu. Fomitsch kippte den Cocktail mitsamt dem Eis hinunter und kaute melancholisch an dem Strohhalm. »Schmeckt nach nichts«, sagte er. »Na, wir können ja noch was essen.« Ringsum schnatterten Ausländer. Fomitsch war erschöpft und starrte nachdenklich seine Stiefelspitzen an.
Eine Touristengruppe wollte sich mit ihm fotografieren lassen, à la russe. Fomitsch stieg vom Barhocker, winkte bekümmert ab und entfernte sich. Zwei Ausländerinnen in schillernden Hosen stürzten hinter ihm her. Sie griffen Fomitsch unter die Arme, aber da sagte er etwas zu ihnen. Und sie verstanden es seltsamerweise. Die Augen quollen ihnen fast durch die Brillengläser. Sie kehrten zu ihren Landsleuten zurück und tuschelten lange miteinander. Fomitsch drehte sich in der Halle wie ein Blinder auf der Tanzfläche. Schon bildete sich ein Halbkreis um ihn. Der Portier wurde bereits auf ihn aufmerksam, aber da schritt ich ein. Ich faßte Fomitsch um die Schultern und führte ihn sanft in sein Zimmer. Dort brach er zusammen und schluchzte. Ich gab ihm eine der Beruhigungstabletten, die ich seit einiger Zeit immer bei mir hatte. Genauer gesagt, seit dem Tag, an dem die Geschichte mit Brumm begann. Oder glauben Sie etwa, mir hätte das alles nichts ausgemacht? Da irren Sie sich. Ich verfrachtete Fomitsch ins Bett, und er schlief ein, am ganzen Körper zitternd. Ich schlich mich auf Zehenspitzen hinaus und schärfte der Etagenfrau ein, gut auf ihn acht zu geben.
Elftes Kapitel: Wir treten auf Am nächsten Morgen schaute ich bei Lissozki vorbei. Er brodelte vor Schaffensdrang. An der Wand seines Labors hing bereits ein Schaltplan mit der Tuschzeichnung eines Hufeisens. Die Laboranten schliffen Metallhaken. »Ich hab alles abgesprochen«, murmelte Lissozki zwischen den Zähnen. »Heute macht das Fernsehen eine Aufzeichnung von uns. Fahr zu Smirny und laß ihn nicht aus den Augen. Die Aufzeichnung beginnt um vierzehn Uhr.« Ich war betrübt. Wann würde man mir endlich Gelegenheit geben, wissenschaftlich zu arbeiten? Andererseits war Fomitsch ohne mich verloren. Er hatte sich schon an mich gewöhnt, vertraute mir.
Wieder fuhr ich zu ihm. Wir gingen bis Mittag spazieren, und ich bemühte mich, ruhige Fleckchen auszusuchen. Den Sommergarten, den Taurischen Garten, das Suworow-Museum. Fomitsch litt unter Depressionen, ich kannte ihn kaum wieder. Endlich hatte ich ihn ein wenig abgelenkt, und wir fuhren beide ins Studio. Dort, im Vorraum, lief Lissozki schon im Sonntagsanzug umher. Der Regisseur musterte Fomitschs Stiefel und stöhnte. »Umziehen!« rief er über die Schulter. Fomitsch wurde gegriffen und irgendwohin gezerrt. Er sträubte sich, der Arme, und sah mich mit solchen Augen an, daß ich mir wie ein Verräter vorkam. Darum folgte ich ihm. Zwei Mädchen, die einen sehr energischen Eindruck machten, zogen Fomitsch in die Kostümabteilung. Mit ihm sprachen sie gar nicht. Das gehörte nicht zu ihren Pflichten. Sie redeten nur miteinander. »Ein Frack steht ihm nicht«, sagte die eine. »Das Gesicht ist zu bieder.« »Vielleicht eine Uniformjacke?« meinte die andere. »Sieht nach einem pensionierten Offizier aus.« »Dann schon lieber eine Uniformbluse«, warf Fomitsch ein. »Und eine Gasmaske«, sagte ich. Die Mädchen drehten sich nach mir um und starrten mich an wie einen Vollidioten. »Ein Jumper mit Hosen«, bestimmte die eine. »Das wird gehen.« Sie zwangen Fomitsch, sich in einen weißen Jumper und gestreifte Hosen zu zwängen. Wie Dean Reed. Die Stiefel wurden durch Lackstiefeletten ersetzt. Fomitsch sah richtig flott aus. Er kämmte sich einen Scheitel und wirkte jetzt wie ein Tschetschonka-Tänzer. »Ach, ihr Stubsnasigen!« rief Fomitsch aus und versuchte, beide Mädchen gleichzeitig zu kneifen. Dabei zwinkerte er mir zu. Die Mädchen bewahrten mühsam eisige Ablehnung. Mir war klar, was Fomitsch bezweckte. »Ich brauche auch ein Kostüm«, erklärte ich. »Der Regisseur hat sich was Mittelalterliches ausbedungen.«
Die Mädchen glaubten mir. Sie wunderten sich über nichts mehr. Fomitsch und ich mußten uns zwingen, nicht in schallendes Lachen auszubrechen. Lachen war im Studio verboten. Nebenan liefen Sendungen. Ich wählte eine schwarze Bluse mit Spitzenkrause und kam mir vor wie Romeo. Die Mädchen blieben erstaunlich ernst. Sie strengten sich mächtig an. Als sie uns zum Regisseur führten, bekam der beinahe einen Weinkrampf. Meiner Ansicht nach war den beiden Mädchen eine strenge dienstliche Rüge sicher. Wir mußten uns wieder umziehen. Diesmal erhielten wir etwas Neutrales. Wir betraten das Studio und übten unsere Rollen ein. Lissozki leitete die Aufzeichnung. Er sülzte so über die Hufeisen, daß uns der Kameramann nicht filmen konnte. Er hatte das Gesicht hinter der Kamera versteckt und lachte lautlos. Ich wunderte mich, daß sich Fomitsch so wacker hielt. Er machte eine Miene wie: Wenn schon sterben, dann mit Musik. Gleich nach den Proben, die mehr als oberflächlich waren, begann die Aufzeichnung. Der Kameramann hatte sich ausgelacht und war todernst. Sicherlich hatte er es satt, jeden Tag solchen Unsinn zu filmen. Ich verstand ihn. Als Fomitsch an der Reihe war, stand er auf, stellte sich hinter die vorbereitete Apparatur und zündete die Kerze an. Mit wichtiger Miene. Dann erwärmte er das Hufeisen. An das Eisen war ein Ventilator angeschlossen. »Achten Sie bitte darauf, gleich fließt der Strom in den Elektromotor, und der Ventilator dreht sich«, erläuterte Lissozki vor der Kamera. Der Ventilator reagierte nicht auf seine Worte. »Gleich«, sagte Lissozki, noch immer lächelnd. Fomitsch drückte die Kerze mit zwei Fingern aus, setzte sich auf seinen Platz und sprach die rätselhaften Worte: »Die Wissenschaft hat ihre Mucken.« »Stop!« rief der Regisseur über Funk und stürzte ins Studio. »Wo bleibt der Effekt?« fragte er.
»Die Courage reicht nicht«, sagte Fomitsch. »Was für eine Courage?« fragte Lissozki erbleichend. Da brauste Fomitsch auf. Er bewies Charakter. Er gab ihnen zu verstehen, daß er sich auch Gedanken machte. Ich war froh. »Die Dreharbeiten sind beendet!« rief der Regisseur aus. »Die Wissenschaft hat ihre Mucken. Großartig!« Nur Lissozki lachte nicht. Er sammelte seine Blätter ein und stahl sich aus dem Studio. Fomitsch und ich zogen uns wieder um und gingen die Fahrkarte für den Zug kaufen.
Zwölftes Kapitel: Ich begleite Fomitsch Fomitsch und ich saßen bei mir zu Hause und tranken Tee. Fomitsch schilderte mir seine Ansichten über das Leben. Und über die Physik. Und ich ihm meine. Es war für uns beide gleichermaßen interessant. »Verstehst du, was für uns beide das Wichtigste ist?« sagte Fomitsch. »Nicht daß wir die Leute verblüffen. Geldgierig sind wir auch nicht. Die Hauptsache ist, daß wir mit ganzer Seele bei der Arbeit sind und plötzlich etwas geschaffen haben. Und das bleibt nur bestehen, wenn wir uns mit Leib und Seele dafür einsetzen. Fehlt die Seele, dann bricht alles zusammen.« »Und die objektive Realität, die von Anfang an gegeben ist?« fragte ich. Ich spielte auf die Materie an. Schließlich war ich Materialist. »Gegeben?« fragte Fomitsch. »Von wem denn, hm?« »Na, die von Anfang an da war.« »Ach.« Fomitsch schwenkte den Zeigefinger. »Jemand muß sie doch geschaffen haben.« »Was denn, sind Sie etwa gläubig, Wassili Fomitsch?« fragte ich. »Ja«, antwortete Fomitsch. »Ich glaube an die Wissenschaft. Und an die Seele.« »Das ist nicht dasselbe«, wandte ich ein.
»Bei euch nicht, aber im allgemeinen ist es dasselbe. Du hast mir neulich von Einstein erzählt. Ich denke mir: Er hat so an seine Erfindung geglaubt, daß sie Wirklichkeit geworden ist. Hätte er für Geld oder was weiß ich wofür geforscht, dann gäbe es keine Relativitätstheorie.« »Ein anderer hätte sie entdeckt«, behauptete ich. »Wer denn? Na, vielleicht ich, oder du«, räumte Fomitsch gnädig ein. »Aber dieser Lissozki auf keinen Fall. Auch nicht, wenn er einen Kopf wie ein Siloturm hätte.« Ich stellte mir Lissozki mit einem Siloturm zwischen den Schultern vor. Ein imposanter Anblick. »Oder nehmen wir Brumm«, fuhr Fomitsch fort. »Er war auch ein guter Mann. Hat sich nicht ans Fernsehen verkauft.« Wir tranken Tee und packten Fomitschs Sachen. Eigentlich gab es gar nichts einzupacken. Die ganze Apparatur war bei Lissozki geblieben. Nur der Oszillograph war da, den wir Fomitsch geschenkt hatten. Wir fuhren durch die nächtliche Stadt. Fomitsch war in Gedanken versunken. Ich versuchte ihn abzulenken. »Auf so ein Fiasko war Lissozki nicht gefaßt«, sagte ich. »Figasko«, korrigierte mich Fomitsch. Ich wußte nicht, ob er spaßte oder es ernst meinte. »Im Grunde ist es ihm schnuppe«, meinte ich. »Das ist es ja eben.« Fomitsch seufzte. »Na, Gott wird ihm verzeihen.« Auf dem Bahnsteig umarmten wir uns. Fomitsch war ein guter Mensch. Er tat mir leid. »Komm mit, Petja«, schlug er vor. »Hier gehst du kaputt. Bei Gott.« »Und meine Familie?« fragte ich. »Und die Wissenschaft?« entgegnete Fomitsch. »Wenn sie dich liebt, kommt sie nach.« Die letzten Worte bezogen sich auf meine Frau. Aber ich fuhr trotzdem nicht mit. Ich paßte auf mich auf.
Der Zug pfiff, schnaufte, bewegte die Räder und trug Fomitsch in sein Dorf Werchnije Petuschki zurück. Die rote Lampe am letzten Waggon baumelte noch lange hin und her, während ich auf dem Bahnsteig stand.
Dreizehntes Kapitel: Ich bekomme einen Brief »Ich gratuliere«, sagte der Chef am nächsten Morgen. »Dir ist doch bestimmt ein Stein vom Herzen gefallen.« Ich hatte nicht das Gefühl. Ich mußte immer noch an Fomitschs selbstlose, gütige Augen denken. »Na schön, Petja«, sagte der Chef. »Wir haben uns mit Hufeisen die Zeit vertrieben, damit ist’s genug. Jetzt müssen wir an deine Dissertation denken.« Ich hatte absolut keine Lust, daran zu denken. Ich wollte mir lieber vorstellen, wie die Elektronen über ein Kristallgitter laufen, wie sie sich treffen, einander zuzwinkern, Hand in Hand weitereilen und elektrischen Strom bilden. Ich wollte ihre Absichten erkennen, in ihr Seelenleben eindringen, wie Fomitsch es nennen würde. Ich wußte, wenn mir ihre innere Welt verschlossen blieb, würde ich nie ein Wissenschaftler werden. Mit Brumm befaßten wir uns nicht mehr. Nur Lissozki brach noch immer eine Lanze für ihn und baute ihn eilig in seine Dissertation ein. Er hatte sämtliche Hufeisen ausprobiert, aber keinen Strom erzeugt. Er kam zu mir und erkundigte sich, ob Fomitsch nicht ein Geheimnis gehabt habe. »Ja«, sagte ich, »seine selbstlose Hingabe an die Wissenschaft.« Lissozki war beleidigt und behelligte mich nicht mehr. Trotzdem hielt er in verschiedenen Institutionen Vorträge über Brumm. Ich aber überdachte ruhig meine Versuche über die Anisotropie. Den ganzen Winter dachte ich darüber nach. Ich sah den Schnee fallen, hörte den Wind heulen. Das half mir. Als das Frühjahr nahte, waren meine Zweifel beseitigt. Ich wußte jetzt, was sein würde, wenn ich alles
miteinander verband und die Geräte anschloß. Anders konnte es nicht sein. Natürlich war das kein Brumm-Effekt, aber immerhin. Im Institut wurde ich jetzt anders behandelt. Ich war nicht mehr der Lückenbüßer. Sie hatten nun wohl Achtung vor mir. Selbst Rybakow sagte eines Tages: »Petja, du wirst ja allmählich erwachsen.« Woraus schloß er das? Im Frühjahr montierte ich die Schaltung. Als alles eingeschaltet war und ich das Versuchsmuster in der Halterung befestigt hatte, vollführten die Zeiger der Geräte einen stillen Tanz und erstarrten da, wo ich es wollte. Weil ich es wollte. Ich hatte gar nicht gemerkt, daß sich die Kollegen um mich scharten. Sie standen schweigend, wie damals bei Fomitschs Versuchen. Und noch nicht alle glaubten an den Erfolg. »Erstaunlich«, sagte der Chef. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, meinte Lissozki. »Fomitsch Nummer zwei.« »Apropos, Fomitsch«, sagte der Chef. »Er hat uns wieder geschrieben.« »Hahaha«, machte Lissozki und ging hinaus. Er schien sehr erregt zu sein. »Das ist nicht an uns, sondern an mich gerichtet«, sagte ich, den Brief öffnend. Ich las: »Sei gegrüßt, Pjotr Nikolajewitsch! Ich kann’s kaum erwarten, Dir meine Freude mitzuteilen. Ich habe Plasma hergestellt. Den ganzen Winter habe ich mich damit rumgeschlagen, und nun ist es soweit. Gestern hab ich den Ofen mit Birkenscheiten geheizt, hab noch Kohle Stückchen nachgelegt und bin rausgerannt auf die Treppe. Da sehe ich über dem Schornstein in der Magnetfalle eine bläuliche Kugel. Wie ein Stern oder ein Planet hing sie da und hat sogar ein bißchen geknistert. Mir wären beinahe die Tränen gekommen vor Freude. Lange hing sie da. Ich hab einen Schneeball geformt und hochgeworfen. Da ist sie zerplatzt. Der Himmel war voller Funken. Wie beim Salutschießen am Tag des Sieges. Schreib mir, wie Deine Forschungen vorangehen. Und komm im Sommer her und erhol Dich. Dann werden wir uns
Deine Anisotropie vornehmen. Auf baldiges Wiedersehen, Dein Wassili Smirny.« Ich war gerührt über Fomitschs naive Freude.
Epilog: Ich schreibe meine Dissertation Am Ende mußte ich doch noch meine Dissertation schreiben. Dabei kam ich nicht umhin zu erläutern, wie ich zu diesem für die Wissenschaft so erstaunlichen Ergebnis gekommen war. Lange zermarterte ich mir den Kopf und beschrieb dann alles von Anfang an. Wie ich Fomitschs Brief erhalten hatte, wie ich nach Petuschki gefahren und was daraus geworden war. Ich schrieb offen und ehrlich. Das heißt, was das Wesentliche betraf, in den Details beschönigte ich einiges. Damit sich die Dissertation interessant las. Als der erste Teil vorlag, den ich »Einführung in die Geschichte des Problems« genannt hatte, zeigte ich ihn dem Chef. Er las die »Einführung« wie eine Kriminalerzählung, ohne einmal abzusetzen. Mitunter lachte er schallend und wischte sich mit dem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Mit demselben, mit dem er seinerzeit das Hufeisen angefaßt hatte. Ich kann mich nicht entsinnen, daß er jemals wissenschaftliche Arbeiten mit solchem Interesse gelesen hätte. Schließlich hatte er die Lektüre beendet und legte die Dissertation beiseite. Sein Gesicht nahm einen leidenden Ausdruck an. »Petja, was ist, hast du den Verstand verloren?« »Nicht daß ich wüßte«, erwiderte ich. »Was soll das sein?« fragte der Chef und wies auf die Dissertation. »Eine Dissertation«, antwortete ich. »Merkt man das nicht?« »Haben Sie schon einmal eine Dissertation gesehen?« fragte der Chef. »Ja«, sagte ich. »Sie waren alle ziemlich langweilig. Aber meine nicht.« »Kein Wunder!« ereiferte sich der Chef.
»Ich habe bisher noch keine geschrieben«, entgegnete ich. »Wenn etwas nicht richtig ist, dann sagen Sie es mir. Ich bin nicht beleidigt.« »Woher haben Sie das alles! Ich hätte nie gedacht, daß Sie die Phantasie eines fünfjährigen Kindes haben, nur mit höherer physikalischmathematischer Bildung. Wo haben Sie die Hufeisen gesehen? Und das Plasma? Was soll das? So was hat’s doch nie gegeben!« »Wieso nicht?« fragte ich. »Und Fomitsch, hat’s den auch nicht gegeben?« »Den ja«, sagte der Chef. »Aber er hat doch die Hufeisen nicht heiß gekriegt. Und hat überhaupt keine überraschenden Ergebnisse erzielt.« »Meiner Ansicht nach ist das nicht ausschlaggebend. Wichtiger ist für mich seine Einstellung zur Arbeit. Dank dieser Einstellung habe ich Erfahrungen gesammelt. Ist es nicht so?« »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, erwiderte der Chef nachdenklich. Da ging ich zum Angriff über. Ich sagte, in der Wissenschaft müsse Spielraum bleiben für die Phantasie. Ich sagte, man müsse wissenschaftliche Arbeiten auch mit Interesse lesen. Und man dürfe diesem Interesse zuliebe einiges verändern, wenn es dem Kern der Sache nicht schade. Bei mir aber schade es nicht. Der Kern sei doch verständlich! Im Ernst, ich hätte ja auch schreiben können, daß in Werchnije Petuschki Wassili Fomitsch Smirny lebe, ein ungebildeter Mann, der eine große Schwäche für die Physik habe. Daß bei seinen Versuchen nichts Gescheites herauskomme, obwohl er sich allen Ernstes einbilde, er führe tagtäglich eine Wende in der Wissenschaft herbei. Aber dann hätte man ihn nur bedauert. Ist es nicht so? Es kommt darauf an, wie man’s betrachtet. Ich betrachtete es so, daß man Fomitsch beneiden konnte. Er beschäftigte sich mit seinen Hobbys. Glaubte an die Wissenschaft. Nur dafür lebte er. Und darüber hinaus schuf er einiges Nützliche. Das mußte man ihm gerechterweise zugestehen. Ehrenwort, nicht jeder Kandidat der physikalisch-mathematischen Wissenschaften hat so eine ritterliche Einstellung zur Wissenschaft. Nicht jeder. Das weiß ich. Und was
Fomitsch dort erhitzte oder in seinem Ofen herstellte, änderte doch nichts. »Das ist schon alles bemerkenswert«, sagte der Chef, »aber es ist keine Dissertation. Die Wissenschaftler werden lachen.« »Das wird ihnen guttun«, meinte ich. »Sollen sie lachen. Ist denn das schlecht?« »Für eine Dissertation ist das schlecht. Nennen Sie es – anders.« Und ich nannte es anders. Eine Dissertation schrieb ich nicht mehr, weil ich, wie sich herausgestellt hat, zum Promovieren nicht geeignet bin. Aus dem Russischen von Hannelore Menke
Stanislaw Lem Die Maske
Im Anfang waren Dunkelheit und kalte Flammen, anhaltender Lärm, rußgeschwärzte Haken, die mich in langen Funkenschnüren weiterreichten, metallene Schlangen, die mich mit ihren Köpfen wie mit platten Rüsseln berührten, der heftige, fast wollüstige Schauer, der mich bei jeder dieser Berührungen durchzuckte. Ein Blick von unermeßlicher Tiefe und Starrheit streifte mich aus runden Gläsern und entfernte sich, oder aber ich bewegte mich weiter und gelangte in den Bereich eines anderen Blicks, der Lähmung, Ehrfurcht und Angst hervorrief. Ich weiß nicht, wie lange ich so, auf dem Rücken liegend, dahintrieb, doch je weiter ich auf dieser Wanderung kam, desto mehr vergrößerte und erkannte ich mich, erahnte ich meine Grenzen. Ich kann nicht sagen, zu welchem Zeitpunkt ich schon genau die eigene Gestalt erfassen und jeden Ort bestimmen konnte, an dem ich innehielt. Dort begann lärmend, flammend und dunkel die Welt, dann erstarb die Bewegung, die dünnen Gliederfüße, die mich weitergereicht hatten, hoben sich in ansteigender Bahn, übergaben mich zangenförmigen Händen, schoben mich einem funkensprühenden flachen Maul entgegen und verschwanden. Ich blieb liegen, ohne mich zu rühren, obwohl ich bereits fähig war, mich zu bewegen. Indes war ich mir vollkommen bewußt, daß es noch nicht an der Zeit war. Aus dieser Erstarrung, in der ich auf der schiefen Ebene ruhte, weckte mich ein letzter Stromstoß, ein atemloses Viatikum, ein bebender Kuß. Das war das Zeichen, aufzubrechen und in die lichtlose, runde Öffnung zu kriechen. Ohne Eile berührte ich die kalten, glatt gewölbten Platten und ließ mich mit steinerner Erleichterung auf ihnen nieder. Vielleicht aber war das auch nur ein Traum. Von meinem Erwachen weiß ich nichts. An unverständliche Geräusche erinnere ich mich, an eine kalte Dämmerung und an mich mitten darin; die Welt öffnete sich vor mir mit breitem Licht, einem in Farben zerstobenen Glanz. Und ich weiß auch noch, welches Staunen in meiner Bewegung war, als ich die Schwelle überschritt. Ein heller Schein floß von oben auf ein buntes Gewirr aufrecht stehender Rümpfe, ich sah Kugeln, die mir wie Wasser glänzende Knöpfe zuwandten, das Stimmengewirr erstarb, und in der Stille, die nun eintrat, machte ich noch einen kleinen Schritt.
Mir war, als wäre in mir – mit einem Ton, der sich nicht hören, sondern nur fühlen ließ – eine haarfeine Saite gerissen, ich spürte den Sexus so heftig in mich einströmen, daß mir schwindelte und ich die Augen schließen mußte. Als ich aber so stand, drangen von allen Seiten Worte auf mich ein: Zusammen mit dem Sexus hatte ich die Sprache empfangen. Ich öffnete die Augen und lächelte, ich schritt vorwärts, und meine Kleider gingen mit mir. Von der Krinoline umgeben, schritt ich gemessen dahin, ohne das Ziel zu kennen. Doch ich setzte meinen Weg fort, denn dies war ein Ball bei Hofe, und die Erinnerung an meinen Irrtum vorhin, als ich die Köpfe für Kugeln und die Augen für nasse Knöpfe gehalten hatte, bereitete mir Vergnügen wie eine Kleinmädchendummheit. Darum lächelte ich, und das Lächeln galt mir ganz allein. Mit meinem scharfen Gehör unterschied ich distinguierte Worte der Anerkennung, die unterdrückten Atemzüge der Herren und die neidischen Schnaufer der Damen: Euer Gnaden, wer ist diese Dame? Ich aber schritt unter dem Kristall der Lüster durch den riesigen Saal, von der Decke tropften Rosenblätter, ich spiegelte mich in der Mißgunst, die auf die bemalten Gesichter der Frauen kroch, und in den begehrlichen Blicken dunkelhäutiger Pairs. Draußen, hinter den Fenstern, die von der Decke bis zum Parkett reichten, gähnte die Nacht, im Park brannten Fässer, in einer Nische zwischen den Fenstern, zu Füßen einer Marmorstatue, stand ein Mann, kleiner als die anderen, in einem Kreis von Höflingen, deren Gewänder rot und gelb gestreift waren. Sie schienen gegen den einen hinzudrängen, betraten aber nicht den Kreis. Er schaute nicht einmal auf, als ich mich näherte. Ich blieb stehen, und obgleich er gar nicht zu mir hinsah, erfaßte ich mit den Fingerspitzen die Krinoline und senkte den Blick, als wollte ich vor ihm einen tiefen Knicks machen. Ich schaute aber nur auf meine schmalen weißen Hände, und ich weiß nicht, warum dieses Weiß, das auf dem Blau der Krinoline schimmerte, so etwas Bestürzendes für mich hatte. Er jedoch, der von Höflingen umringte kleingewachsene Herr oder Pair, hinter dem ein bleicher Ritter im Brustpanzer mit entblößtem blondem Haupt stand, in der Hand einen Dolch, klein wie ein Spielzeug, dieser Mann schenkte mir keinen Blick, sondern sprach mit tiefer, gleichsam von Langeweile gedämpfter Stimme vor sich hin, ohne sich an jemanden zu wenden. Ich aber machte keinen Knicks,
sondern schaute ihn nur eine kleine Weile an, um mir sein Gesicht einzuprägen, meine Augen sogen sich an seinen Lippen fest, an dem Mund, dessen Winkel eine kleine weiße Narbe in der dunklen Haut die Miene des Überdrusses verlieh. Dann wandte ich mich auf der Ferse herum, daß die Krinoline rauschte, und ging weiter. Erst da schaute er mich an, und ich spürte sehr gut diesen flüchtigen, kalten Blick, den er mir aus zusammengekniffenen Augen nachsandte, als habe er an der Wange ein unsichtbares Gewehr und ziele zwischen die goldenen Lockenröllchen in meinem Nacken. Das war der zweite Anfang. Ich wollte mich nicht umwenden, tat es aber dennoch und versank in einem tiefen, sehr tiefen Knicks. Mit beiden Händen hielt ich die Krinoline, als wollte ich durch ihre Starre hindurch in den Glanz des Fußbodens sinken. Ich stand ja vor dem König. Dann ging ich weiter und dachte darüber nach, woher ich das so gut und genau wußte. Ich war nahe daran gewesen, etwas Ungehöriges zu tun, wieso hätte ich nicht wissen sollen, was ich wußte? Dreist und bedenkenlos wollte ich alles für einen Traum nehmen – was bedeutete es schon, im Traum an jemandes Nase zu fassen? Ich erschrak ein wenig, weil mir das nicht gelang, es war, als trüge ich in mir eine unsichtbare Schranke. So wanderte ich automatisch weiter, schwankend, ob ich das Ganze für Wirklichkeit oder Traum halten sollte. Gleichzeitig strömte das Wissen in mich ein, so wie Wellen an ein Ufer schlagen. Jede dieser Wellen aber ließ eine Neuigkeit zurück, Titel, wie aus Spitze gewoben. In der Hälfte des Saales, über der gleißend wie ein brennendes Schiff der Kandelaber schwebte, kannte ich mit Namen bereits all die Damen, denen beflissene Kunstfertigkeit zur Seite stand gegen den Verschleiß. Ich wußte schon so viel wie jemand, der aus einem Alptraum erwacht ist, sich seiner indes noch voller Widerstreben erinnert. In unzugänglichem Dunkel aber lagen für mich nach wie vor zwei Dinge: meine Vergangenheit und meine Gegenwart. Ich wußte immer noch nicht, wer ich war. Dafür aber spürte ich meine Nacktheit, den Körper, Brüste und Schenkel, Hals und Arme, die unter der reichen Kleidung verborgenen Füße. Ich griff nach dem goldgefaßten Topas, der wie ein Glühwürmchen zwischen meinen Brüsten funkelte. Ich spürte auch den Ausdruck meines Gesichts, das niemandem auch nur das Geringste bot, ein Ausdruck, der Verwunderung auslösen mußte, denn wer mich ansah,
gewann zuerst den Eindruck eines Lächelns, betrachtete er aber genauer meinen Mund, meine Augen und meine Brauen, so erkannte er, daß dort nicht die Spur einer wenn auch nur der Höflichkeit halber zur Schau getragenen Heiterkeit war. Suchte er dann noch einmal in den Augen und fand sie völlig ruhig, so prüfte er die Wangen und endlich das Kinn, aber ich hatte keine leichtsinnigen Grübchen, meine Wangen waren glatt und weiß, das Kinn ruhig, sachlich, bedächtig und ebenso vollkommen wie der Hals, der nichts verriet. Der Betrachter geriet in Bestürzung, er begriff nicht, wie er bei mir ein Lächeln zu sehen vermeint hatte. Verwirrt von seinen eigenen Zweifeln und von meiner Schönheit suchte er Zuflucht in der Menge oder machte mir eine tiefe Verbeugung, um sich wenigstens hinter dieser Geste verbergen zu können. Zwei Dinge aber wußte ich immer noch nicht, obwohl ich sie unklar als die wichtigsten empfand. Ich begriff nicht, weshalb der König mich nicht angeschaut hatte, als ich vorübergegangen war, warum er mir nicht ins Auge blicken wollte, da er doch meine Schönheit weder fürchtete noch begehrte. Natürlich, ich hatte gefühlt, daß ich ihm etwas galt, aber auf eine nicht in Worte zu fassende Weise, als achte er mich selbst für nichts, als gehöre ich für ihn nicht in diesen funkelnden Saal, als sei ich nicht dafür geschaffen, hier zu tanzen, wo das wachsblanke Parkett mit den vielfarbigen Intarsien wie ein Spiegel glänzte und erzgeschmiedete Wappen von den Portalen blickten. Als ich an ihm vorüberschritt, kam ihm nicht ein einziger Gedanke, in dem ich königlichen Willen hätte finden können, und als er mir seinen flüchtigen, nachlässigen Blick nachsandte, der über einem unsichtbaren Flintenlauf das Ziel suchte, verstand ich sogar, daß er nicht auf mich zielte mit seinen bleichen Augen, die besser hinter dunklen Gläsern verborgen gewesen wären, denn anders als das wohlgeformte Gesicht täuschten sie nichts vor, sie erschienen in der vornehmen Versammlung wie ein Rest schmutzigen Wassers in einer Schüssel. Nein, seine Augen waren wie etwas längst Verworfenes, das man verstecken muß und das das Tageslicht scheut. Vielleicht hatte er etwas von mir gewollt. Aber was? Ich konnte jetzt nicht darüber nachdenken, weil ich mich auf eine andere Sache konzentrieren mußte. Ich kannte hier alle, mich aber kannte niemand. Höchstens wohl er allein – der König. Ich hatte auch über mich selbst schon Kenntnisse bei der Hand, seltsame Gefühle erfaßten mich, als ich
meinen Schritt verlangsamte, nachdem ich drei Viertel des Saales durchmessen hatte. In der buntfarbenen Menge, zwischen knochigen Gesichtern mit dem silbernen Rauhreif der Backenbärte und anderen, rot und geschwollen vom Andrang des Blutes, verschwitzt unter klumpigem Puder, zwischen den Bändern und Schnüren der Orden öffnete sich ein Korridor, damit ich wie eine Königin auf diesem engen Pfad zwischen den Menschen dahinschreiten konnte, geleitet von den Zügeln der Blicke. Wohin ging ich? Zu jemandem. Wer aber war ich? Da mein Denken glatt und ungehindert funktionierte, begriff ich in einer Sekunde die sonderbare Dissonanz zwischen meinem Zustand und dem der vornehmen Menge. Ein jeder hier hatte seine Geschichte, seine Familie, Auszeichnungen, seinen durch Ränke und Intrigen erworbenen Adel, jeder prunkte mit seinem erbärmlichen Stolz, jeder zog seine Geschichte hinter sich her wie ein Fuhrwerk in der Wüste seine Staubfahne. Ich hingegen war aus so fernen Landen, es war, als hätte ich nicht nur eine Geschichte, sondern eine Vielzahl davon, denn ich konnte den Leuten hier mein Schicksal nur verständlich machen, indem ich es allmählich in die hiesigen Sitten übertrug, in diese fremde Sprache, die mir nun schon vertraut war. Ich konnte mich ihrem Begriffsvermögen also nur nähern, und je nach den Namen, die ich verwendete, wäre ich für sie immer ein anderes Wesen. Vielleicht auch für mich selbst? Nein… Und doch war es fast so, ich besaß kein Wissen außer dem, das an der Schwelle des Saales in mich eingeströmt war wie Wasser, wenn es brausend die bisher so dauerhaften Dämme zerbricht, den leeren Raum dahinter überschwemmt. Über dieses Wissen hinaus konnte ich logisch denken. Konnte man eine Vielheit auf einmal sein, aus vielen aufgegebenen Vergangenheiten stammen? Meine Logik, dem Wust der Erinnerungen entnommen, sagte mir: Nein, das ist nicht möglich, ich muß eine einzige Vergangenheit haben. Und da ich die Komtesse Tlenix, die Duena Zoroennay, die junge Virginia war, die jenseits des Meeres, im Lande der Langodotten, ihre Eltern verloren hat, da ich Erdachtes und Wirkliches nicht auseinanderhalten, mich selbst in der eigenen, wahrhaftigen Erinnerung nicht wiederfinden kann, mußte ich wohl doch träumen… Doch da setzte das Orchester ein, der Ball brach sich Bahn wie ein Steinschlag,
und es war nicht möglich, an eine noch wirklichere Wirklichkeit zu glauben, die durch das Erwachen aufbrechen könnte wie eine Knospe! In einer unangenehmen Benommenheit ging ich weiter und achtete auf jeden Schritt, denn der Schwindel, den ich vertigo nannte, war zurückgekehrt. Um ein Haar wäre ich aus meinem königlichen Schreiten gefallen, wenngleich dies eine gewaltige Anstrengung war, unsichtbar und eben durch diese Unsichtbarkeit vervielfacht, bis ich von weitem Beistand verspürte. Es waren die Augen eines Mannes, der in der niedrigen Nische eines angelehnten Fensters saß, über der Schulter lässig einen Schal des Brokatvorhangs mit rötlichgrauen, gekrönten Löwen, schrecklich alten Löwen, die Zepter und Äpfel, giftige Paradiesäpfel, in den Klauen hielten. Dieser von Löwen bedeckte Mann, dessen schwarze Kleidung Vermögen, aber auch jene natürliche Achtlosigkeit verriet, die nichts mit der künstlichen herrschaftlichen Unordnung zu tun hat, dieser Fremde, der kein Dandy und kein Cicisbeo, kein Höfling und kein Stutzer, jedoch auch noch nicht alt war, blickte mich an aus seiner Einsamkeit inmitten des allgemeinen Trubels. Er war ebenso allein wie ich. Und ringsum diejenigen, die ihre Zigarre vor den Augen ihrer Tarockpartner mit einer zusammengerollten Banknote anzündeten, Golddukaten auf das grüne Tuch warfen, als schleuderten sie den Schwänen auf dem Teich Muskatnüsse hin, Menschen, die weder etwas Dummes noch etwas Schändliches tun können, weil der Glanz ihrer Person jedes ihrer Werke adelt. Der Mann paßte überhaupt nicht in diesen Saal, und daß er es dem steifen Brokat mit den königlichen Löwen gleichsam unbewußt gestattet hatte, ihm über die Schulter zu hängen und den Widerschein des Purpurs über sein Gesicht zu gießen, erschien wie leiser Hohn. Er war nicht mehr so jung, all seine Jugend lebte in den dunklen, ungleichmäßig zusammengekniffenen Augen. Es war nicht zu sehen, ob er seinem Gesprächspartner zuhörte, einem dicken, kleinen Glatzkopf mit dem Gesicht eines überfütterten, sanften Hundes. Als sich der Sitzende erhob, glitt ihm der Vorhang von der Schulter wie Flittergold, das weggeworfen wird; unsere Augen trafen sich, doch mein Blick – ich schwöre es – floh den seinen sogleich wie gehetzt. Dennoch blieb sein Gesicht auf dem Grund meiner Augen, als sei ich für einen Moment erblindet, als hätte ich mein Gehör verloren, denn anstelle des
Orchesters hörte ich eine Weile nur meinen eigenen Pulsschlag. Übrigens, ich weiß nicht so recht. Sein Gesicht war ziemlich gewöhnlich. Natürlich war in seinen Zügen die Asymmetrie jener wohlgestalteten Häßlichkeit, die dem Verstand so eigen ist, doch offenbar war er der eigenen Intelligenz überdrüssig, die zu klarsichtig war und die ihn ein wenig mitgenommen hatte. Man sah, daß er sich in den Nächten selbst verzehrte, daß er es schwernahm und sich zu mancher Stunde dieser Bürde gern entledigt hätte, in der er dann mehr ein Gebrechen als ein Privileg oder eine Gabe erblickte. Der Gedanke, der nicht von ihm wich, setzte ihm zu, vor allem in der Einsamkeit, die ein häufiger Zustand für ihn war – überall, also auch hier. Sein Körper aber – verborgen unter der guten, anständig geschnittenen Kleidung, die jedoch nicht sehr eng anlag, so als hätte er des Schneiders Eifer mit tadelndem Wort gezügelt –, sein Körper aber zwang mich, an seine Nacktheit zu denken. Sie mußte recht kläglich sein, nicht großartig männlich, nicht athletisch und muskulös, ohne die sich ballend windenden Stränge, die schwellenden Bündel der Muskeln und Sehnen – ohne die Saiten, deren Klang die Gelüste jener alten Frauen weckt, die sich noch nicht mit allem abgefunden haben, die noch toll sind von der Hoffnung, ihren Laich abzulegen. Nur sein Kopf war männlich und schön durch die Genialität, die die Zeichnung des Mundes verriet, durch den leicht entflammbaren Jähzorn der Brauen, die Furche, die diese Brauen trennte wie ein Schnitt, das Gefühl der eigenen Lächerlichkeit in der kräftigen, fettig glänzenden Nase. O nein, das war kein schöner Mensch, und eigentlich war nicht einmal seine Häßlichkeit berückend. Er war ganz einfach ein Mann für sich, und wäre ich nicht im Innersten erstarrt, als sich unsere Augen trafen, so hätte ich sicher meinen Weg fortsetzen können. Hätte ich das getan, wäre es mir also gelungen, dieses Gravitationsfeld zu verlassen, so hätte sich Seine Majestät zwar durch ein Zucken seines Siegels, durch einen Blick aus seinen bleichen Augen, seinen nadelspitzen Pupillen meiner angenommen, und ich wäre zurückgekehrt, woher ich gekommen war. Aber damals, an jenem Ort, konnte ich das nicht wissen, ich begriff nicht, daß vorbestimmt war, was aussah wie flüchtig gekreuzte Blicke, die zufällige Begegnung schwarzer Pupillenlöcher in den Regenbogenhäuten
zweier Wesen, runde schlüpfrige Organe, die in Schädelhöhlen sitzen. Woher hätte ich das denn wissen sollen? Ich war schon weitergegangen, als er aufstand, sich das Ende des Brokats vom Ärmel streifte, wie um ein Zeichen zu geben, daß die Komödie zu Ende sei, und mir folgte. Nach zwei Schritten machte er halt, denn er hatte begriffen, wie impertinent solch ein Entschluß war, welche Dummheit es bedeutet hätte, einer unbekannten Schönen einfach hinterdreinzulaufen wie ein Trottel einer Musikkapelle. Er war also stehengeblieben. Ich ballte die eine Hand zur Faust und streifte mit der anderen die Schlaufe des Fächers vom Gelenk, so daß er zu Boden fiel. Sogleich eilte er herzu… Wir musterten einander aus der Nähe, über den Perlmuttgriff des Fächers hinweg. Es war ein großartiger und schrecklicher Augenblick, ein tödlich kalter Stachel durchbohrte mir die Kehle, so daß ich nicht sprechen konnte. Als ich merkte, daß ich statt eines Tons nur ein heiseres Räuspern herausbringen würde, nickte ich ihm zu – und diese Geste fiel fast genauso aus wie vorher, als ich vor dem König, der von mir fortblickte, nicht meinen Knicks vollendete. Er erwiderte die Gebärde nicht, viel zu sehr überrascht und erstaunt über das, was da mit ihm vorging, denn das hatte er nicht von sich erwartet. Ich weiß davon, weil er es mir später sagte, aber selbst ohne dieses Geständnis hätte ich es gewußt. Ihm lag daran, etwas zu sagen und sich nicht wie ein Tölpel zu benehmen, der er in diesem Augenblick dennoch war – und er wußte es. »Madame«, sagte er und grunzte wie ein Ferkel. »Madame, Euer Fächer…« Den hatte ich schon lange wieder in der Hand. Und mich selber auch. »Mein Herr«, sagte ich, und meine Stimme klang anders, dumpfer als sonst – er hatte sie ja noch nie gehört und mußte sie für meine gewöhnliche Stimme halten –, »mein Herr, soll ich ihn noch einmal fallen lassen?« Ich lächelte, ach nein, weder lockend noch verführerisch, nicht einmal strahlend. Ich lächelte nur, weil ich spürte, wie ich errötete. Zwar war diese Röte nicht die meine, sie ergoß sich über die Wangen und das
Gesicht, ließ die Ohrläppchen erglühen, was ich sehr gut merkte, dieser fremde Mensch versetzte mich weder in Entzücken noch in Verwirrung oder gar in Bewunderung, letzten Endes war er einer von vielen, verloren unter den Höflingen. Ich möchte es deutlicher sagen: Mit diesem Erröten hatte ich nichts zu tun, es war von gleichem Ursprung wie das Wissen, das an der Schwelle des Saales, beim Betreten der spiegelnden Fläche in mich eingeströmt war. Dieses Erröten schien ein Teil der höfischen Etikette zu sein, dessen, was sich gehörte, so wie der Fächer, die Krinoline, die Topase und die Frisur. Um also dieser Röte die Bedeutung zu nehmen, ihr entgegenzuwirken, mich vor falschem Verdacht zu schützen, lächelte ich ihm nicht zu, ich machte mir die Nachbarschaft von Heiterkeit und Spott zunutze und lächelte über ihn. Er aber brach in ein lautloses Lachen aus, lachte gewissermaßen nach innen, so wie ein Kind, dem das Lachen aufs strengste verboten ist und das sich gerade deshalb nicht mehr halten kann. Im Handumdrehen wirkte er dadurch viel jünger. »Hättet Ihr mir einen Augenblick Aufschub gewährt«, sagte er und hörte unvermittelt zu lachen auf, als sei er von einem neuen Gedanken ernüchtert worden, »so hätte ich mir eine Antwort ausgedacht, die Eurer Worte würdig gewesen wäre, eine höchst geistvolle also. Im allgemeinen aber kommen mir die besten Einfälle erst auf der Treppe.« »So übel steht es um Eure Geistesgegenwart?« fragte ich und richtete die Anstrengung meines Willens auf Gesicht und Ohren. Die Röte, die nicht weichen wollte, begann mich zu reizen, sie beeinträchtigte mein eigenes Wollen, ich begriff, daß sie ein Effekt der Absicht war, mit der der König mich meiner Bestimmung übergeben hatte. »Vielleicht sollte ich hinzufügen: Gibt es da keine Abhilfe? Aber dann werdet Ihr antworten, nein, es gäbe sie nicht angesichts der Schönheit, deren Vollkommenheit die Hypothese des Absoluten zu bestätigen scheint. Innerhalb von zwei Takten der Musik würden wir beide ernst und gelangten gewandt auf gewöhnlicheren höfischen Boden. Da ich aber sehe, wie unbehaglich Ihr Euch auf solchem Boden fühlt, wird es wohl besser sein, wenn wir in anderer Weise miteinander sprechen…« Er war wirklich erst vor mir erschrocken, als er diese Worte hörte, und er wußte tatsächlich nicht, was er darauf sagen sollte. In seinen Augen
war der Ernst, als stünden wir bei Blitz und Donner zwischen der Kirche und dem Wald – oder dort, wo gar nichts mehr ist. »Wer seid Ihr?« fragte er hart. Keine Spur mehr von Konvention oder Verstellung, er hatte nur noch Angst vor mir. Ich fürchtete ihn überhaupt nicht, obgleich ich mich hätte ängstigen sollen, als ich fühlte, wie sich mit seinem Gesicht, mit dessen großporiger Haut, den widerspenstigen buschigen Brauen und den großen Ohrmuscheln eine bisher in mir verschlossene Erwartung vereinigte, als hätte ich in mir sein Negativ getragen, das nun entwickelt würde. Doch selbst wenn er mein Urteil sein sollte – ich fürchtete ihn nicht, weder ihn noch mich selbst. Aber ich bebte vor der unbeweglichen Kraft dieser Vereinigung, die sich in mir vollzog, ich bebte nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Uhr, die sich anschickt, die Stunde zu schlagen – aber noch schweigt. Niemand konnte dieses Beben bemerken. »Ihr werdet es bald von mir erfahren«, antwortete ich sehr ruhig. Ich lächelte leicht, jenes winzige Lächeln, mit dem man Kranken und Schwachen Mut macht, und entfaltete den Fächer. »Ich möchte Wein trinken. Und Ihr?« Er nickte und suchte die Manieren, die ihm fremd, unbehaglich waren, nicht zu ihm paßten, überzustreifen wie eine Haut. Arm in Arm schritten wir dahin, über das Parkett, auf dem das von Kronleuchtern tropfende Wachs perlende Rinnsale bildete, dorthin, wo in glänzendes Perlmutt gekleidete Diener den Wein in die Kelche füllten. Ich sagte ihm an diesem Abend nicht, wer ich war. Ich wollte nicht lügen, denn ich kannte die Wahrheit selber nicht. Die Wahrheit kann nicht widersprüchlich sein, aber ich war die Duena, die Komtesse und die Waise, alle diese Genealogien kreisten in mir, jede würde sich erfüllen, sobald ich mich zu ihr bekannte. Ich hatte begriffen, daß die Wahrheit von meiner Wahl, meiner Laune abhing; was immer ich sagen würde, die übergangenen Bilder würden hinweggefegt werden, verwehen. Doch ich blieb schwankend zwischen jenen Chancen, die Tücke der Erinnerung lauerte mir in ihnen auf – wenn ich nun weiter nichts war wie eine Plaudertasche, die ihren Verstand nicht beisammen hatte und der Obhut ihrer besorgten Familie entlaufen war? Ich würde mit ihnen sprechen, so dachte ich, und sollte ich verrückt sein, dann nimmt alles
ein gutes Ende. Der Irrsinn entläßt einen wie ein Traum – bei beiden ist Hoffnung. Er wich nicht von meiner Seite, und als wir zu später Stunde beim König vorüberkamen, kurz bevor er sich in seine Gemächer verfügte, merkte ich, daß uns der Herrscher auch nicht einen Blick schenkte. Dies war eine böse Entdeckung. Er prüfte nicht mein Verhalten an der Seite Arrhodes’, es war offensichtlich überflüssig, als stünde für ihn zweifelsfrei fest, daß er mir vertrauen konnte wie einem gedungenen Mörder, der zuverlässig ist bis zum letzten Atemzug, weil sein Geschick in der Hand seines Auftraggebers liegt. Ich hätte mein Mißtrauen über die Gleichgültigkeit des Königs lieber abstreifen sollen, wenn er nicht nach mir hinsah, dann bedeutete ich ihm nichts. Da also der Verdacht, verfolgt zu werden, nicht weichen wollte, neigte sich die Schale zugunsten des Irrsinns. Als engelsschöne Idiotin lachte und trank ich Arrhodes zu, den der König haßte wie niemanden sonst. Doch er hatte der sterbenden Mutter geschworen, wenn je ein böses Los diesen Weisen treffe, dann nur durch dessen eigene Wahl. Ich weiß nicht, ob ich das während eines Tanzes gehört oder aus mir selbst erfahren hatte, die Nacht war lang und geräuschvoll, die riesige Menge drängte uns immer wieder auseinander, aber wir fanden uns unfehlbar wieder, als gehörten hier alle derselben Verschwörung an. Das war natürlich ein Hirngespinst, wir befanden uns ja nicht unter automatisch tanzenden Schaufensterpuppen. Ich unterhielt mich mit alten Herren, mit Fräulein, die mich um meine Schönheit beneideten. Ich sah die unzähligen Schattierungen jener Dummheit, die sich ehrbar gibt und so rasch bereit ist, Böses zu tun, ich geißelte und stach diese kläglichen Biedermänner und diese Mädchen mit einer Leichtigkeit, bis sie mir leid taten. Ich war die Vernunft in Person und schlug eine scharfe Klinge, meine Augen bekamen Glanz von der beeindruckenden Schnelligkeit meiner Worte – aus wachsender Furcht hätte ich gern ein Kalb gespielt, nur um Arrhodes zu retten. Dies eine aber konnte ich ganz und gar nicht, so vielseitig war ich leider nicht. Sollte mein Verstand, der als solcher doch Wahrhaftigkeit bedeutete, der Lüge unterliegen? Solchen Überlegungen hing ich nach, während ich mich im Menuett drehte. Arrhodes, der nicht tanzte, schaute mir von weitem zu, schwarz und schlank vor dem purpurfarbenen Brokat mit den gekrönten Löwen.
Der König war gegangen, und bald darauf verabschiedeten wir uns. Ich hieß ihn schweigen, nichts fragen, er versuchte es und erbleichte, als ich es ihm erst durch ein kurzes Nein und dann mit dem zusammengelegten Fächer verwehrte. Beim Hinausgehen wußte ich nicht, wo ich wohnte, woher ich gekommen war und wohin ich mich wenden sollte. Ich wußte nur, daß es nicht meine Sache war, mich darum zu kümmern, ich hatte es versucht, aber vergeblich. Wie ist das zu erklären? Jedermann weiß doch: Man kann den Augapfel nicht so drehen, daß die Pupille ins Innere des Schädels blickt. Ich ließ mich von ihm zum Tor des Palasts begleiten. Der Schloßpark lag bis auf die Stellen, die immer noch von brennenden Teerfässern erleuchtet waren, in tiefstem Dunkel. In der kalten Luft ertönte fernes Gelächter, nicht von Menschen stammend – die Springbrunnen der Meister aus dem Süden ahmten es perlend nach, vielleicht auch die schwatzenden Statuen, die wie weißlich schimmernde Vogelscheuchen über den Blumenbeeten schwebten. Die königlichen Nachtigallen sangen, obwohl sie keine Zuhörer hatten. In der Nähe der Orangerie saß einer der Vögel auf einem Zweig, groß und dunkel hob er sich von der Mondscheibe ab – ganz stilecht. Der Kies knirschte unter unseren Tritten, die vergoldeten Spitzen der Umzäunung ragten in einer Reihe aus dem nassen Laub. Mit bedenklicher Eile griff er nach meiner Hand, die ich ihm nicht sogleich entzog. Auf den Röcken der Königlichen Grenadiere glänzten die weißen Streifen, jemand rief nach meiner Kutsche, die Pferde stampften mit den Hufen, das Licht der violetten Laternen fiel auf den Wagenschlag, der Tritt wurde heruntergeklappt. Das konnte kein Traum sein. »Wann und wo?« fragte er. »Vielleicht besser: nie und nirgends.« Ich sprach aufrichtig aus, was ich glaubte, und fügte rasch, ungeschickt hinzu: »Ich will Euch nicht necken, weiser Mann, geht in Euch, und Ihr werdet begreifen, daß mein Rat gut ist.« Was ich außerdem sagen wollte, vermochte ich nicht mehr in Worte zu fassen. Wie war das doch seltsam, ich konnte alles denken, aber nicht
aussprechen, ich fand die Worte nicht. Räuspern, Schweigen, als sei ein Schlüssel herumgedreht, ein Riegel zwischen uns geschoben worden. »Es ist zu spät«, antwortete er leise mit gesenktem Kopf. »Es ist wirklich zu spät.« »Die königlichen Gärten sind von morgens bis mittags geöffnet«, sagte ich, einen Fuß auf dem Trittbrett. »Am Schwanenteich steht eine morsche Eiche. Morgen mittag findet Ihr dort entweder mich selbst oder in der Höhlung des Baumes eine Nachricht. Nun aber wünschte ich, Ihr würdet dank einem unbegreiflichen Wunder vergessen, daß wir einander begegnet sind. Ich würde am liebsten darum beten, wenn ich nur wüßte, wie.« Das waren sehr unangebrachte, banale Worte, aber durch nichts anderes wäre ich mehr dieser tödlichen Banalität entkommen, ich begriff das, als die Kutsche anfuhr. Er konnte sich meine Worte ja so erklären, daß ich die Gefühle fürchtete, die er in mir geweckt hatte. So war es auch: Ich fürchtete diese Gefühle tatsächlich, aber das hatte nichts mit Liebe zu tun, ich hatte nur gesagt, was ich sagen konnte, so wie man sich bei Dunkelheit in einem Sumpf mit ausgestrecktem Fuß vergewissert, daß der nächste Schritt nicht in die grundlose Tiefe führt. So setzte ich meine Worte, so tastete ich mit dem Atem ab, was ich sagen durfte und was zu sagen mir nicht vergönnt war. Er konnte das jedoch nicht wissen. Wir trennten uns mit stockendem Atem, betäubt, in einer Furcht, die der Leidenschaft ähnelte, weil so unser Untergang begann. Dennoch, ich, das schmiegsame, süße Mädchen, begriff deutlicher, daß ich sein Geschick war – in der schrecklichen Bedeutung, gegen die es keine Berufung gibt. Der Wagenkasten war leer. Ich suchte die Schnur, die zum Ärmel des Kutschers führte – vergebens. Auch Fenster gab es nicht, oder hatten sie vielleicht Scheiben aus schwarzem Glas? Die Dunkelheit war so vollkommen, als gehörte sie nicht der Nacht, sondern dem Nichts. Hier war kein Lichtmangel, hier war Leere. Ich tastete mit den Händen über die plüschbeschlagenen, gewölbten Wände, fand aber weder Fensterrahmen noch Türknopf, nichts außer den weich gepolsterten Flächen vor und über mir, ein erstaunlich niedriges Dach, als wäre ich nicht in dem Kasten einer Kutsche, sondern in einem bebenden,
schiefen Behälter eingeschlossen. Ich hörte weder Pferdegetrappel noch Räderrollen. Schwärze und Stille, weiter nichts. Da wandte ich mich mir selber zu, ich war mir doch ein Rätsel, bedrohlicher als alles, was bisher mit mir geschehen war. Mein Gedächtnis war erhalten geblieben. Ich denke, das mußte so sein, anders ließ es sich nicht einrichten. Ich dachte an mein erstes Erwachen, noch des Sexus beraubt, mir selber völlig fremd, als erinnerte ich mich eines Traums, der sich hämisch verpuppte. Auch das Erwachen an der Tür des Saales, als ich mich bereits in der Wirklichkeit befand, hatte ich behalten, ich erinnerte mich sogar an das leichte Knirschen, mit dem sich die geschnitzten Flügel auftaten, und an das maskenhafte Gesicht des Dieners, der durch seinen Diensteifer einer von Ehrerbietung erfüllten Puppe ähnelte – ein lebender Leichnam aus Wachs. All dies bildete nun in meiner Erinnerung eine Einheit, und ich konnte sogar noch weiter zurückdenken, bis dorthin, wo ich noch nicht gewußt hatte, was Türflügel sind, was ein festlicher Ball ist, was ich bin. Auf eine Weise, die mich erschauern ließ, weil sie so bösartig rätselhaft war, erinnerte ich mich daran, daß ich in meinen ersten, schon halb zu Worten geformten Gedanken von mir selbst als einem Neutrum gesprochen hatte, und dies so lange, bis der aus der offenen Tür brechende Glanz des Saales – was sonst, wenn nicht dieser Glanz? – in mir die Schieber und Riegel sprengte und mit der schmerzenden Heftigkeit der Heimsuchung das Menschentum in mich einzog, Worte, höfische Manieren, der Zauber des schönen Geschlechts, gleichzeitig mit der Erinnerung an die Gesichter, unter denen nicht die königliche Grimasse, sondern das Antlitz dieses Mannes das erste war. Und obwohl es mir niemand je erklären könnte, so wußte ich mit unerschütterlicher Sicherheit, daß ich vor dem König aus Versehen haltgemacht hatte, daß es ein Irrtum gewesen war, ein Mißverständnis zwischen dem, was mir aufgetragen war, und dem, was diesen Auftrag ausführte. Ein Irrtum? Also war dies, da es Fehler zuließ, kein wahres Schicksal? Also würde ich mich retten können? Nun, in dieser vollkommenen Isolation, die mich nicht entsetzte, sondern mir sogar angenehm war, weil ich hier so konzentriert nachdenken konnte, wollte ich mich prüfen, den Erinnerungen nachspüren, die nun schon so ordentlich und leicht bei der Hand waren wie die Gegenstände in einer alten Wohnung. Ich durchforschte mein Gedächtnis und fand alles, was in dieser Nacht
geschehen war – jedoch nur, seit ich auf der Schwelle des Saales gestanden hatte. Und vorher? Darum eben ging es. Wo war ich – eine Sie, ein Es – vorher gewesen? Woher war ich gekommen? Beruhigend klang der einfachste Gedanke: Ich war nicht ganz gesund, meine Genesung war wie die Rückkehr von einer exotischen, abenteuerlichen Reise, mich, ein feinsinniges Fräulein, das Romane las, das zerstreut und wunderlich war, zu zart für dieses brutale irdische Jammertal, mich hatten sonderbare Trugbilder heimgesucht. Vielleicht hatte ich mir in einem hysterischen Fieber eingebildet, durch eine metallene Hölle zu wandern, zweifellos indessen in einem Himmelbett liegend, mit Spitzen zugedeckt, die mir mitsamt dem Gehirnfieber nicht übel standen im Schein der Kerze, die den Alkoven so weit erhellte, daß ich beim Erwachen nicht wieder erschrecken, in den über mich gebeugten Gestalten jedoch sogleich die lieben Menschen erkennen würde, die mich pflegten: welch freundliche Lüge! Ich hatte Halluzinationen, war es nicht so? Sie verschmolzen mit meiner Erinnerung, die in einem klaren Strom dahinfloß, und spalteten sie. Ein gespaltenes Gedächtnis…? Ja, ich hörte auf meine Fragen in mir einen Chor von Antworten, die bereitlagen und warteten: die Duena, Tlenix, Angelita. Was war das nur wieder? Ich hatte alle diese Wendungen parat, zu jeder passend sogar die Bilder. Hätten sie doch eine einzige Kette gebildet! Sie standen jedoch nebeneinander wie die auseinanderstrebenden Wurzeln eines Baumes. Sollte ich, die Eine, die Einzige, einst eine Vielzahl von Verzweigungen gewesen sein, die sich in mir vereinigt hatten wie die Bäche in einem Fluß? Das kann nicht sein, sagte ich mir. Es konnte nicht sein. Dessen war ich mir sicher. Und so sah ich den Einschnitt in meinem bisherigen Schicksal: Bis zur Schwelle des Saales im königlichen Palast schien es aus verschiedenen Strängen zu bestehen, von der Schwelle an war es nur eines. Die Bilder des ersten Teils liefen parallel und straften einander Lügen. Die Duena: ein Turm, dunkle Granitblöcke, eine Zugbrücke, nächtliche Schreie, Blut in einer kupfernen Schüssel, Ritter, die wie Metzger aussahen, die verrosteten Äxte der Hellebarden, mein bleiches Gesicht in einem fast erblindeten ovalen Spiegel zwischen dem Rahmen des trüben, schmutzigen Fensters und der geschnitzten Bettstatt. Kam ich von dorther?
Als Angelita aber war ich aufbewahrt unter südlicher Hitze, und blickte ich nach jener Seite zurück, so sah ich weiße Wände, die ihre gekalkten Rücken der Sonne zukehrten, dürre Palmen, zu ihren Füßen wilde Hunde mit zerzaustem Fell, die schäumenden Urin auf die schuppigen Wurzeln rinnen ließen, Körbe voller Datteln, vertrocknet in klebriger Süßigkeit, Ärzte in grünen Gewändern, Stufen, steinerne Stufen hinab in das weite Halbrund der Stadt, die sich mit allen ihren Mauern gegen die Sonnenglut gekehrt hatte, Berge von Weintrauben, zu Rosinen vergilbend und Misthaufen ähnelnd. Und wieder sah ich mein Gesicht, nicht in einem Spiegel, sondern im Wasser, und das Wasser floß aus einem Krug von altersdunklem Silber. Ich wußte sogar noch, wie ich den Krug getragen, wie das Wasser, das darin schwerfällig schwappte, meine Hand benetzt hatte. Aber dieses Es und seine Wanderung, rücklings, die Küsse, die mir die beweglichen Schlangen aus Metall auf Hände und Füße, auf die Stirn gaben? Dieses Grauen war schon völlig verblaßt, nur mit größter Mühe erinnerte ich mich daran – wie an einen bösen Traum, der zum Reich der Worte keinen Zutritt hatte: Weder zur gleichen Zeit noch der Reihe nach konnte ich Geschicke erlebt haben, die einander derart widersprachen! Was stand also fest? Ich war schön. Welche Verzweiflung, welch Triumph waren in mir aufgestiegen, als ich mich in seinem Gesicht wie in einem lebenden Spiegel betrachtet hatte. Die Vollkommenheit meiner Züge war so absolut, daß die Schönheit auch nicht von meinem Gesicht gewichen wäre, wenn ich etwas Irrsinniges getan, mit schäumendem Munde geschrien oder meine Zähne in blutendes Fleisch geschlagen hätte. Warum übrigens dachte ich »mein Gesicht« und nicht einfach »ich«? War ich mit dem eigenen Körper, dem eigenen Gesicht uneins? Eine Hexe, bereit, Bannflüche zu schleudern? Eine Medea? Das fand ich unsinnig und dumm. Aber mein Denken, das scharf war wie die blanke Klinge in der Faust eines heruntergekommenen Raubritters, dieses wie von selbst funktionierende Denken, mit dem ich ohne Anstrengung jeden Gegenstand zerlegte, kam mir in seiner Perfektion zu kalt und gelassen vor – es schloß die Furcht nicht ein, die überaus sichtbar, allgegenwärtig war, aber gewissermaßen draußen blieb. Daher hatte ich auch mein eigenes Denken im Verdacht. Wogegen sollte sich aber meine Furcht und mein Mißtrauen richten, wenn ich weder meinem Gesicht
noch meinem Denken traute und es außer Seele und Körper nichts gab? Ein Rätsel. Die verstreuten Wurzeln meiner Vergangenheiten verrieten mir nichts Wesentliches, die Nachforschung wurde zum bloßen Blättern in bunten Bildern, die Duena des Nordens, die Angelita unter glutheißem Himmel, Mignonne – jedes Mal war ich eine Person anderen Namens, anderen Standes, anderer Herkunft, nichts hatte hier den Vorzug. Die Landschaft des Südens kam mir wieder vor Augen, sie wirkte überzogen in der Süßigkeit der Kontraste, in dem Azur, der allzu auffällig darüber prangte. Dieser Palmenstrand wäre mir gar zu blank, glatt wie eine Lüge erschienen ohne die räudigen Hunde, die halbblinden Kinder mit den eitrigen Augenlidern und aufgeblähten Bäuchen, die auf den knochig spitzen Knien ihrer verschleierten Mütter starben, ohne einen Laut von sich zu geben. Und der Norden der Duena, die Türme mit ihren Schneemützen, der stürmische graubraune Himmel, der Winter mit den krummen, vom Wind erdachten Gestalten aus Schnee, die über die Zinnen und Pfeiler zum Burggraben krochen, sich mit weißen Zungen vom Gebälk auf das Gestein herabließen und wie gelbe Tränen von der Kette der Zugbrücke hingen, wo der Rost die Eiszapfen gefärbt hatte. Im Sommer dagegen war das Wasser des Burggrabens von einem Algenteppich überzogen. So gut konnte ich mich an alles erinnern! Aber auch mein drittes Sein: Gärten, groß, kühl, gepflegt, Gärtner mit Scheren, eine Meute von Windhunden, die Dogge des Hofnarren, die auf den Stufen des Throns lag, eine blasierte Statue in der ungetrübten Grazie der Ruhe, nur bewegt vom Atmen der Rippen, in den gelblichen, gleichgültigen Augen der Schimmer verkleinerter Blüten von Wieswurz und Catharia. Ich wußte nicht mehr, was die Wörter »Wieswurz« und »Catharia« bedeuteten, aber ich mußte es einst gewußt haben, wenn ich in dieser Vergangenheit versinken konnte, daß ich sogar die zerkauten Stengel auf der Zunge schmeckte. Ich fühlte, daß ich auf diese Weise weder zu den längst ausgetretenen Kinderschuhen noch zu dem ersten langen Kleid mit der Silberstickerei zurückkehren durfte, mir war, als berge selbst das Kind, das ich einmal gewesen, in sich den Verrat. Daher rief ich mir ins Gedächtnis, was grausam fremd war: die Reise, tot auf dem Rücken liegend, die betäubenden Küsse des Metalls, das bei der Berührung meines nackten Körpers ein Klirren erzeugte, als sei meine
Nacktheit eine taube Glocke, die nicht tönen kann, weil sie noch keinen Klöppel hat. Als ich an diese unwahrscheinliche Begebenheit dachte, war ich nicht einmal mehr erstaunt, daß mir dieser Alptraum so fest im Gedächtnis haftete, ein Alptraum mußte es ja gewesen sein, und um mich in dieser Gewißheit zu bestärken, betastete ich mit den Fingerspitzen meine weichen Unterarme, meine Brüste. Es war zweifellos eine Zudringlichkeit, der ich bebend nachgab, als träte ich, den Kopf in den Nacken geworfen, unter die kalten Sturzbäche eines ernüchternden Regens. Nirgends eine Antwort auf meine Frage. Ich zog mich zurück vor diesem Abgrund, der der meine und zugleich nicht der meine war. Zurück also bis dorthin, wo nur ein Einziges war: der König, der Ballabend, der Hof und dieser Mann. Ich war für ihn geschaffen und er für mich, ich wußte es, aber wieder voller Furcht. Nein, es war keine Furcht, sondern das eiserne Vorhandensein einer unentrinnbaren, unerforschlichen Bestimmung, und eben diese Kunde, unausweichlich wie der Tod, daß man nicht mehr ablehnen, sich entziehen, seiner Wege gehen, fliehen, sondern am Ende nur umkommen, aber anders umkommen kann – dies war ein Wissen, in dessen eisiger Gegenwart ich atemlos versank. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, sprach ich nur mit den Lippen immer wieder: »Vater, Mutter, Geschwister, Freundinnen, Verwandte…« Wie gut verstand ich diese Wörter, bekannte, willfährige Gestalten erschienen, ich mußte mich vor mir selbst zu ihnen bekennen, aber es ist ja unmöglich, vier Mütter und vier Väter zu haben. War das also wieder diese Geistesverwirrung? So dumm und so hartnäckig? Schließlich versuchte ich es mit der Arithmetik: eins und eins ist zwei, aus Vater und Mutter entsteht ein Kind, du bist es gewesen, du hast Kindheitserinnerungen… Entweder bin ich verrückt gewesen, so sagte ich mir, oder ich bin es immer noch. Und habe ich ein Bewußtsein, so ist es verblaßt, verdämmert, weiß übertüncht. Es gab nie einen Ball, ein Schloß, einen König, einen Eintritt in eine Existenz, aus der plötzlich das Gebot entstand, eine frühere Harmonie wiederherzustellen. Einen Funken des Grolls verspürte ich, ein Sträuben, hervorgerufen von dem Gedanken, daß ich mich dann auch von meiner Schönheit trennen mußte. Aus
Elementen, die nicht zusammenpaßten, ließ sich nichts bauen, es sei denn, ich fände an dem Bau wieder heraus, was schief war, eine Spalte, in die ich mich zwängen konnte, um sie aufzusprengen und in die Tiefe zu dringen. War wirklich alles so gekommen, wie es kommen sollte? Wenn ich Eigentum des Königs war, wie hatte ich davon wissen können? Selbst das nächtliche Nachdenken darüber hätte man mir verbieten müssen. Weshalb hatte ich, als er hinter all den anderen stand, einen Knicks vor ihm machen wollen und es nicht sofort getan? Warum erinnerte ich mich, wenn alles fehlerlos präpariert war, so vieler Dinge, an die ich mich nicht hätte erinnern dürfen? Hätte ich mich nur auf die Erinnerung eines Kindes und eines jungen Mädchens stützen können, so wäre ich nicht in diesen Zwiespalt des Zweifels geraten, der mich an den Rand der Verzweiflung führte, die erste Stufe der Rebellion gegen das Schicksal. Ganz bestimmt aber hätte jene Wanderung gelöscht werden müssen, die ich, auf dem Rücken liegend, absolviert hatte, meine durch funkensprühende Küsse gelöste Erstarrung und mißtönende Nacktheit. Aber auch das war passiert, und ich trug es mit mir herum. Sollten sich in Plan und Ausführung Fehler verbergen? Versehen, Nachlässigkeiten, heimliche Leckstellen, angesehen als Rätsel oder böse Träume? Wenn es so war, so schöpfte ich wieder Hoffnung. Warten. Abwarten, bis sich während der weiteren Verwirklichung neue Unregelmäßigkeiten auftun, daraus die Spitze machen, die sich gegen den König oder mich selbst richten läßt, gleichgültig, gegen wen, Hauptsache, es entspricht nicht dem Schicksal, das seinen Lauf genommen hat. Sich also diesem Zauber unterwerfen, sich nicht daraus lösen, gleich am Morgen zu dem vereinbarten Rendezvous gehen? Ich kann nicht sagen, wie und woher ich wußte, daß mir dies nicht verboten war, im Gegenteil, daß mich alles gerade in diese Richtung drängte. Meine jetzige Umgebung aber war so primitiv, eine Wand, eine Verkleidung, die leicht dem Druck der Finger nachgab, darunter der Widerstand von Stahl oder Stein, ich wußte es nicht. Aber ich konnte ja mit den Fingernägeln dieses behagliche Weiche zerreißen! Ich stand auf, mein Kopf berührte die Wölbung des Daches. Das war um mich her und über mir – was aber war in mir, was war ich selbst?
Ich witterte hinter dieser Unkenntnis meiner selbst immer noch eine Gemeinheit, und da sich sogleich die Gedanken wie in Sprüngen übereinandertürmten, glaubte ich schon, ich müsse an meinem eigenen Urteil verzweifeln, denn wenn ich, geisteskrank und ertrunken, eingeschlossen wie ein Insekt in durchsichtigem Bernstein, mich in dieser obnubilatio lucida befinde, dann ist es doch begreiflich, daß… Moment mal! Woher kommen dieser gegliederte Wortschatz, diese gelehrten lateinischen Begriffe, die logischen Wendungen, die Syllogismen, diese Sachkenntnis? Das muß doch verwundern bei einem süßen Fräulein, dessen Anblick die Männerherzen wie Scheiterhaufen entflammte. Und woher kam dieses unselige Gefühl, die Dinge des Geschlechts so abgeschmackt zu finden, die kalte Verachtung, die Distanz, ach ja, vielleicht liebte er mich, vielleicht war er auch verrückt nach mir, er wollte mich sehen, meine Stimme hören, meine Finger berühren – und ich schaute auf seine Leidenschaft wie auf ein Präparat unter Glas. War das nicht erstaunlich, widersprüchlich und asynkategorematisch? Vielleicht hatte ich mir doch alles nur eingebildet, und der letzte Schluß war ein altes, erkaltetes Gehirn, verwickelt in die Erfahrungen ungezählter Jahre? Es konnte sein, daß nur geschärfte Klugheit meine einzige wirkliche Vergangenheit war, daß ich aus der Logik entstanden, daß diese meine echte Genealogie war… Daran glaubte ich nicht. Ich war unschuldig. Jawohl, und schrecklich schuldig zugleich. Unschuldig war ich in allen Bahnen der vergangenen, vollendeten Zeit, die in meiner Gegenwart zusammenliefen, ein junges Mädchen, ein trübsinnig schweigender Backfisch in grauen Wintern und in heißen, muffigen Palästen, ich trug keine Schuld an dem, was heute beim König vorgefallen war, denn ich konnte nicht anders sein, als ich war. Meine Schuld, meine grausame Schuld, lag nur darin, daß ich all das schon sehr wohl gewußt und für Flitter, Trug und blauen Dunst genommen hatte, daß ich beim Versuch, auf den Grund meines Rätsels zu dringen, diesen Drang gefürchtet, eine niederträchtige Dankbarkeit für die unsichtbaren Schranken empfunden hatte, die mir diesen Weg versperrten. So hatte ich also einen zugleich beschmutzten und rechtschaffenen Geist, etwas blieb mir außerdem noch – oh, gewiß, ich hatte noch meinen Körper und begann, ihn in meinem schwarzen Gefängnis zu betasten und zu untersuchen, wie ein erfahrener
Kriminalbeamter den Tatort eines Verbrechens untersucht. Es war eine Fahndung ganz eigener Art, denn während ich die Berührung meines nackten Körpers suchte, verspürte ich in den Fingern eine kribbelnde Lähmung – sollte ich Furcht vor mir selber haben? Aber ich war ja schön und hatte straffe, geschmeidige Muskeln, und als ich die Schenkel so umfaßte, wie man es nie bei sich selber tut, fühlte ich in erstarrendem Griff unter der glatten, duftenden Haut die langen Knochen. Doch vor der Berührung der Handgelenke und der Armbeuge hatte ich eine seltsame Scheu. Ich suchte diesen Widerstand zu überwinden, was sollte dort schon sein, meine Hände waren in Spitzen gehüllt, derb gestärkte Spitzen, es machte sich schlecht. Dann also zum Hals. Ein Schwanenhals, der Kopf saß darauf mit achtunggebietendem, ungekünsteltem, natürlichem Stolz. Feste Ohrläppchen, ohne Schmuck, nicht durchbohrt, wozu auch. Die Stirn, die Wangen, der Mund. Sein Ausdruck, mit dünnen Fingerspitzen ertastet, versetzte mich erneut in Unruhe. Er war anders, als ich geglaubt hatte. Fremd. Aber wie konnte ich mir selbst fremd sein, wenn ich nicht krank oder toll war? Mit einer verstohlenen Bewegung, der Naivität eines Kindes würdig, dem man mit Märchen den Kopf verdreht hat, griff ich schließlich doch zum Handgelenk und zum Ellenbogen. Dort, wo Oberarm und Unterarm sich trafen, war etwas Unbegreifliches. Ich verlor das Gefühl in den Fingerkuppen, als schnüre man mir Nerven und Blutgefäße ab. Wieder ein Gedanke, den mir das Mißtrauen eingab: Woher hatte ich solche Kenntnisse, weshalb untersuchte ich mich wie ein Anatom? Das war nicht die Art eines Fräuleins, Angelitas ebensowenig wie der blonden Duena oder der poetischen Tlenix. Zugleich aber spürte ich einen beruhigenden Zwang: Gerade das ist ja normal, wundere dich nicht über dich, launenhafte Grillenfängerin; wenn du ein wenig außer dir warst, so kehr dich nicht mehr daran, es ist gesünder, denk an dein Rendezvous… Aber die Ellenbogen, die Handgelenke? Unter der Haut die harten Klümpchen? Geschwollene Lymphknoten? Sklerose? Unmöglich, dagegen sprach die Schönheit, ihre absolute Gewißheit. Dort war jedoch ein winziger harter Kern. Ich spürte ihn erst bei starkem Druck, oberhalb der Hand, wo der Puls nicht hinreicht, und in der Armbeuge.
Also barg auch mein Körper Geheimnisse, er entsprach in seiner Eigenart der Eigenart des Geistes, dessen Furcht bei der Selbstbetrachtung. Darin lag eine Regel, eine Entsprechung, eine Symmetrie. Wie dort, so auch hier. Der Verstand, also auch die Glieder. Ich, also auch du. Ich, du – ich war der Rätsel müde, eine übermächtige Schlaffheit trat ins Blut, ich hätte mich ihr ergeben sollen. Einschlafen, in die Bewußtlosigkeit eines anderen, befreienden Dunkels sinken. Da durchfuhr mich der Entschluß, dieser Lust zu widerstehen, mich aufzulehnen gegen den Kasten der stilvollen Kutsche (deren Inneres längst nicht so stilvoll war!), gegen diesen Wechselbalg eines altklugen, gar zu scharfsinnigen Fräuleins! Auflehnung gegen die Schönheit, die ihre autonome Fleischlichkeit, aber auch ihre heimlichen Stigmata besaß! Wer bin ich? Meine Widerspenstigkeit war schon zur Wut geworden, von der mein Geist im Dunkel kochte, und dadurch schien er mir klarer zu werden. Sed tamen potest esse totaliter aliter, was war das, wo kam das her? Mein Geist? Gratia? Dominus meus? Nein, ich war allein, und allein sprang ich auf, stürzte mich mit den Zähnen auf die weich gepolsterten Wände, riß die Verkleidung herab, der trockene, rauhe Stoff knirschte, ich spie das Gewebe zugleich mit dem Speichel aus, die Fingernägel brachen mir ab, so ist es richtig, genau so, ich weiß nicht, gegen wen, gegen andere oder mich selbst, ich weiß nur: Ich will nicht. Nein, nein, nein! Vor mir blitzte etwas auf, schwoll hervor wie ein Schlangenkopf, ein metallener Stopfen. Eine Nadel? Oberhalb des Knies stach mich etwas in den Schenkel, ein winziger, kaum fühlbarer Schmerz, ein Stich. Dann war nichts mehr. Nichts. Der Park war düster. Königliche Gärten mit singenden Fontänen, geschorene Hecken, Geometrie der Bäume und Sträucher, Treppen, Statuen, Muscheln, Putten. Und wir zwei. Banal, alltäglich, romantisch, verzweifelt. Ich lächelte ihm zu und trug doch auf dem Bein ein Zeichen. Ich war gestochen worden. Demnach besaßen Geist und Körper einen Verbündeten, der Geist dort, wo ich aufbegehrt, der Körper dort, wo ich gehaßt hatte. Dieser Bundesgenosse hatte nur unzureichendes Geschick
bewiesen. Ich fürchtete ihn schon nicht mehr so, ich spielte bereits meine Rolle. Natürlich, geschickt war er schon, immerhin hatte er sie mir von innen aufgezwungen, war in die Festung eingedrungen. Und doch nicht geschickt genug – denn ich hatte die Falle gesehen. Ich begriff noch nicht den Zweck, aber ich hatte sie gesehen und gefühlt. Wer jedoch sieht, ist nicht mehr so erschrocken wie derjenige, der sich allein auf die Vermutung verlassen muß. Ich hatte so viel mit mir zu tun, hatte so viel Mühe, daß selbst der prangende Tag mich störte, die Gärten mir im Wege waren, wo der Majestät des Königs, nicht der Natur gehuldigt wurde. Ich hätte jetzt lieber meine Nacht gehabt statt dieses Tages. Aber es war Tag, und der Mann, der nichts wußte und nichts verstand, lebte in der brennenden Süße eines holden Wahns, in dem Bann, den niemand anderes als ich ausgesprochen hatte. Ein Garn, eine Schlinge, die Falle mit dem tödlichen Stachel – all das sollte ich sein? Und zu diesem Zweck auch die Peitschen der Fontänen, die königlichen Gärten, der ferne Dunstschleier? Wie dumm das war. Um wessen Untergang, um wessen Tod ging es? Reichten falsche Zeugen nicht aus, ehrwürdige Richter, ein Strick, ein Gift? Ging es um mehr? Tückische Intrigen, königlicher Gemächer würdig. Die Gärtner in hohen Stiefeln widmeten sich den Grünpflanzen Seiner Majestät und kamen nicht in unsere Nähe. Ich schwieg, weil es so bequemer war. Wir saßen auf der Stufe einer mächtigen Treppe, die in Erwartung eines Riesen gebaut schien, der sie eines Tages beim Abstieg aus den Wolken benutzen würde. Symbole, die sich aus Stein blähten, nackte Putten, Faune, Silene, schlüpfrig von dem Wasser, das den Marmor herabrieselte, ähnelten in ihrer Düsterkeit dem Grau des Himmels. Eine idyllische Szene, Laura und Philo, wieviel Süßholz! Richtig zu mir gekommen war ich in diesem Park erst, als die Kutsche weggefahren war und ich leicht dahinschritt, als verließe ich eben ein dampfendes, duftendes Bad. Mein Kleid war anders, jugendlicher. Sein gedämpftes Muster griff schüchtern Farben und Formen der Blumen auf, enthielt eine Anspielung auf sie, denn es weckte Achtung, es umgab mich mit einem Reif der Unantastbarkeit, Eos Rhododaktylos. Aber ich ging zwischen den tauglitzernden Hecken dahin mit einem Mal auf dem Schenkel, ich brauchte es nicht zu berühren, ja, ich konnte es nicht
einmal, aber die Erinnerung reichte mir, sie war nicht gelöscht worden. Ich war ein gefangener Verstand, in der Wiege gefesselt, in der Sklaverei geboren, aber ich war ein Verstand. Und als ich daher sah, daß jetzt meine Zeit war, daß sich weder Nadel noch Lauscher in der Nähe befanden, begann ich, ehe jener erschien, wie eine Schauspielerin, die sich auf ihren Auftritt vorbereitet, flüsternd die Dinge vor mich hin zu sprechen, von denen ich nicht wußte, ob ich sie vor ihm würde sagen können. Ich prüfte die Grenzen meiner Freiheit, tastete sie ab, bei Tageslicht im dunkeln tappend. Was also? Nichts als die Wahrheit, von Anfang an – die Wandlung der grammatischen Form, die Vielzahl meiner Plusquamperfekte, alles, was ich durchlebt hatte bis zu dem Stich, der den Aufruhr niederschlug. War es aus Mitgefühl, um ihn nicht zugrunde zu richten? Nein, ich liebte ihn ja nicht. Es war Verrat: Wir waren aus bösem Willen aneinandergeraten. Das also sollte ich sagen? Daß ich ihn durch Entsagung vor mir als dem Verderben retten wolle? Nein, das war es nicht. Die Liebe hatte ich woanders – ich weiß sehr wohl, wonach das klingt. Das war eine flammende, zärtliche und sehr normale Liebe. Ich wollte ihm Körper und Seele hingeben, aber nicht in Wirklichkeit, sondern im Stil der Mode, der Sitten, der höfischen Gepflogenheiten, denn dies sollte ja nicht irgendeine, sondern eine wunderbare, höfische Sünde sein. Es war eine sehr große Liebe, die mich in Bann schlug, mich erbeben, das Herz schneller schlagen ließ. Ich sah, daß sein Anblick mich glücklich machte. Und sie war sehr klein, denn sie hatte ihre Grenzen in mir, war dem Stil unterworfen wie ein sorgfältig ausgefeilter Satz, der das schmerzliche Entzücken eines Tête-à-tête zum Ausdruck bringt. Außerhalb des Rahmens jener Gefühle also lag mir gar nicht daran, ihn vor mir oder nicht nur vor mir zu retten, denn wenn ich in Gedanken die Grenzen dieser Liebe überschritt, ging er mich überhaupt nichts an, sondern ich brauchte einen Bundesgenossen im Kampf gegen das, was mich in der Nacht mit giftigem Metall gestochen hatte. Einen anderen Verbündeten hatte ich nicht, und er war mir in allem ergeben: Ich konnte auf ihn bauen. Ich wußte zwar, daß ich dies nicht außerhalb des Gefühls konnte, das er für mich hegte. Er gelangte an keine reservatio mentalis. Daher durfte ich ihm auch nicht die ganze Wahrheit entdecken:
daß nämlich meine Liebe zu ihm und der giftige Stich einer Quelle entstammten. Daß ich allein deswegen vor beidem Abscheu empfand, beides haßte und zertrampeln wollte wie eine Spinne. Das konnte ich ihm nicht offenbaren, er war in seiner Liebe in Konventionen befangen, wünschte sich nicht die Befreiung, nach der ich verlangte, die Freiheit für mich, die ihn abgestoßen hätte. Deshalb konnte ich nicht anders, mußte lügen, die Freiheit mit dem falschen Namen der Liebe nennen, mich ihm nur in dieser und durch diese als unbekanntes Opfer darstellen. Ein Opfer des Königs? Aber selbst wenn er sich an Seiner Majestät vergreifen würde, käme ich dadurch nicht frei, denn war der König auch der eigentliche Täter, so stand er doch in solcher Ferne, daß sein Tod mein Unglück nicht im geringsten gebessert hätte. Um also auszuprobieren, ob ich so anfangen konnte, blieb ich vor einer Statue der Venus stehen, in deren nacktem Hintern allen höheren und niederen Leidenschaften irdischer Liebe ein Denkmal gesetzt war. Hier, in der Einsamkeit, wollte ich diese monströse Aufklärung mit treffenden Argumenten, diese Diatribe vorbereiten, als wetzte ich ein Messer. Es war sehr schwierig. Immer wieder geriet ich an eine unüberschreitbare Grenze, ich wußte ja nicht, wo der Krampf meine Zunge lähmen, der Geist stolpern würde, denn dieser Geist schließlich war doch mein Feind. Nicht in allem lügen, aber auch nicht zum Kern der Wahrheit, zum Zentrum des Geheimnisses vordringen. Ich verringerte dessen Ausdehnung daher nur allmählich und strebte in diese Richtung wie in einer Spirale. Als ich ihn aber von fern erblickte, wie er auf mich zugeschritten und endlich beinahe zugerannt kam, begriff ich, daß dies alles nicht ging. Der Stil bot keinen Raum dafür. Was ist das für eine Liebesszene, in der Laura ihrem Philo gesteht, daß sie das Eisen ist, mit dem er durchbohrt werden soll! Auch der Stil des Märchens nützte hier nichts, denn selbst wenn er imstande gewesen wäre, den Fluch von mir zu nehmen, so hätte er mich in das Nichts zurückgestoßen, aus dem ich gekommen war. Seine ganze Weisheit wurde hier zuschanden. Ein traumschönes Fräulein, das sich für ein Werkzeug dunkler Kräfte hält, von Stichen und tödlichen Eisen redet, all dies in derartiger Weise sagt – solch ein Fräulein ist verrückt. Es stellt nicht der Wahrheit, sondern seiner Geistesverwirrung ein Zeugnis aus, ist also nicht nur der Liebe und Hingabe, sondern vor allem des Mitleids wert.
In einer Mischung dieser Gefühle hätte er vielleicht vorgegeben, das Gehörte zu glauben, wäre bekümmert gewesen und hätte versichert, er bereite die befreiende Tat vor. Was er in Wirklichkeit vorbereitet hätte, wären Arztbesuche gewesen, überall würde er die Kunde meines Unglücks verbreiten – lieber wollte ich ihn in Schande bringen. Bei dieser Komplikation der Kräfte – je mehr er Verbündeter war, um so weniger wurde er der Geliebte, der auf die Erfüllung seiner Wünsche hoffen durfte – würde er übrigens die Rolle des Geliebten nicht sehr weit hinter sich lassen wollen, seine Tollheit war normal, frisch, sachlich und solide: ach ja, lieben, mit den Zähnen den Kies auf meinem Weg zu Staub zermahlen, daß die Füßchen nicht leiden, aber nicht mit der Verschrobenheit spielen und herausfinden wollen, wo mein Geist seinen Ursprung nahm. Es sah also ganz danach aus, als wäre ich ganz auf sein Verderben ausgerichtet, er mußte sterben. Ich wußte nicht, was an mir ihm den Tod bringen sollte, vielleicht Ellenbogen oder Handgelenke während einer Umarmung? Aber das war wohl zu primitiv. Ich wußte jedoch, daß es nicht anders sein konnte. Ich mußte mit ihm gehen, die von der Hand erfahrener Gärtner verschönten Wege entlang, fort von der Venus Kallipygos, die das Ihre zu betont hervorkehrte und somit nicht zu uns paßte, die wir erst am Anfang des Romans, im Stadium idealer Affekte und schüchterner Erwähnungen des Glückes standen. Wir schritten an Faunen vorüber, die auch brutal waren, aber auf andere, besser entsprechende Weise, denn das Männliche dieser steinernen zottigen Figuren vermochte meine Reinheit nicht zu berühren, die jungfräulich genug war, so daß der Anblick mich nicht einmal aus der Nähe verletzte: Ich hatte das Recht, diese zu Marmor erstarrten Lüste nicht zu verstehen. Er küßte meine Hand an der Stelle, wo sich jenes Klümpchen befand, das er mit den Lippen nicht spüren konnte. Wo aber wartete mein Treiber? Im Kasten der Kutsche vielleicht? Sollte ich dem Manne hier nur unbekannte Geheimnisse entlocken, ein wunderbares Stethoskop an der Brust des Weisen, dem das Urteil gesprochen ist? Ich offenbarte ihm nichts.
Zwei Tage darauf nahm der Roman den gehörigen Fortgang. Mit einer kleinen, ausgesuchten Dienerschaft hatte ich meinen Wohnsitz nur tausend Schritt von der königlichen Residenz entfernt. Phloebe, mein Faktotum, hatte das kleine Palais am ersten Tag nach jenem Rendezvous gemietet, ohne über die Mittel zu sprechen, die diese Maßnahme in Anspruch nahm. Ich, ein Fräulein, das nichts von finanziellen Dingen verstand, fragte nicht danach. Ich glaube, daß ich ihn gleichzeitig einschüchterte und reizte, vielleicht war er in die eigentliche Sache nicht eingeweiht, gewiß war er es nicht, er handelte auf königlichen Befehl. In seinen Worten erwies er mir alle Ehre, in seinen Augen aber las ich aufsässige Geringschätzung. Sicher hielt er mich für die neue Favoritin des Königs, und über meine Spaziergänge und Begegnungen mit Arrhodes wunderte er sich nicht im Übermaß, denn ein Diener, der verlangt, der König solle mit seiner Buhle nach einem ihm verständlichen Plan verfahren, ist kein guter Diener. Ich glaube, er hätte auch nicht mit der Wimper gezuckt, wenn ich mit einem Krokodil gekost hätte. Ich war frei innerhalb des königlichen Willens, und übrigens kam der Monarch kein einziges Mal in meine Nähe. Ich wußte schon, daß es Dinge gab, die ich dem Manne nie sagen würde, denn allein von dem Versuch wurde die Zunge zu Stein, und die Lippen erstarrten ähnlich wie die Finger, mit denen ich in der ersten Nacht in der Kutsche meinen Körper betastet hatte. Ich hatte Arrhodes jeden Besuch verboten, er verstand das im Sinne der Konventionen, als Befürchtung meinerseits, daß ich mich kompromittieren könnte, und er mäßigte sich. Der Brave. Am Abend des dritten Tages ging ich endlich daran, aufzuklären, wer ich war. Schon zur Nacht bekleidet, zog ich mich vor dem Spiegel aus, blieb davor stehen, nackt wie eine Statue. Die silbernen Nadeln und stählernen Lanzetten lagen auf der Konsole, von einem samtenen Schal bedeckt, denn obgleich ich ihre Spitzen nicht fürchtete, scheute ich doch ihren Glanz. Die hoch angesetzten Brüste blickten mit ihren rosafarbenen Warzen nach oben und zur Seite, die Spur des Stiches am Oberschenkel war verschwunden. Wie ein Geburtshelfer oder ein Chirurg, der eine Operation vorbereitet, preßte ich beide Hände in den glatten weißen Leib, die Rippen bogen sich unter dem Druck. Ich hatte einen gewölbten Leib wie die Frauen auf gotischen Gemälden, und unter der warmen, weichen Oberfläche stieß ich auf einen Gegenstand, der nicht nachgab.
Die Hände von oben nach unten führend, bekam ich heraus, daß er eine ovale Form hatte. Je sechs Kerzen zur Rechten und zur Linken, ergriff ich mit den Fingern die kleinste Lanzette – nicht aus Angst, sondern aus Gründen des guten Geschmacks. Im Spiegel nahm sich das aus, als wollte ich mich erdolchen, eine dramatisch makellose Szene, stilvoll bis zum letzten Detail durch das große Bett mit dem Baldachin, das Spalier hoher Kerzen, das Blitzen in meiner Hand und meine Blässe. Der Körper nämlich war in entsetzlicher Angst, die Knie knickten ein, und nur die mit dem Stahl bewehrte Hand besaß die gehörige Sicherheit. Unterhalb des Brustkorbs, wo der ovale, unnachgiebige Widerstand am deutlichsten war, stieß ich die Lanzette tief hinein. Der Schmerz war gering und nur oberflächlich, ein einziger Tropfen Blut floß aus der Wunde. Außerstande, mit Gelassenheit und anatomischem Kalkül die Geschicklichkeit eines Fleischers zu beweisen, trennte ich, die Zähne zusammenbeißend, den Körper mit einem Schnitt fast bis zum Schoß in zwei Hälften. Auch die Augen hielt ich fest geschlossen – hinzusehen ging über meine Kräfte. Ich zitterte jedoch nicht mehr, sondern stand wie vor Kälte erstarrt, fremd und fern waren in dem Gemach nur meine krampfhaften, spasmatischen Atemzüge zu hören. Die weiße Haut klaffte auseinander, und im Spiegel sah ich eine zusammengerollte, silberne Gestalt wie einen großen Fetus, eine in mir verborgene, glänzende Larve, umrahmt von der gähnenden Öffnung in dem Körper, der nicht blutete, sondern nur rosa angelaufen war. Welch Grauen, so ins eigene Innere zu blicken! Ich wagte es nicht, die silberne, unbefleckte Oberfläche zu berühren, das Abdomen, länglich wie ein kleiner Sarg, glänzte und spiegelte verkleinert die Flammen der Kerzen wider. Als ich mich bewegte, erblickte ich daran Beine, dünne Zangen, die in meinen Körper gingen, und plötzlich begriff ich, daß da nicht etwas Fremdes, Anderes, sondern daß ich das immer noch selber war. Darum hatte ich auf dem feuchten Sand der Alleen so tiefe Spuren hinterlassen, darum war ich so stark! Das bin ich, das bin immer noch ich, wiederholte ich in Gedanken. Da betrat er das Zimmer. Die Türen waren nicht verschlossen gewesen – welche Nachlässigkeit! Er hatte sich hereingestohlen – von der eigenen Kühnheit berauscht, war er eingetreten, zur Rechtfertigung und als Schutzschild trug er einen
riesigen Strauß roter Rosen vor sich her. Als er mich erblickte, die ich mit einem erschrockenen Aufschrei herumgefahren war, sah er alles, erkannte und verstand aber noch nichts, konnte es nicht. Nicht aus Furcht, sondern aus Scham, die mir die Kehle zuschnürte, suchte ich die silberne Gestalt mit beiden Händen wieder in mir zu bergen, doch sie war zu groß und ich zu weit aufgeschlitzt, als daß es hätte gelingen können. Sein Gesicht, sein stummer Aufschrei und seine Flucht. Ich bitte darum, daß man mir diesen Bericht erspart. Er hatte es nicht erwarten können, eine Erlaubnis, eine Einladung zu bekommen, daher war er mit den Blumen erschienen, das Haus war leer, ich selbst hatte die ganze Dienerschaft fortgeschickt, um bei meinem Vorhaben ungestört zu sein – für mich gab es kein anderes Mittel, keinen anderen Weg mehr. Vielleicht nistete aber damals in ihm schon der erste Verdacht. Am Vortage hatten wir das ausgetrocknete Bett eines Baches, überquert, er hatte mich hinübertragen wollen, doch ich verwehrte es ihm – nicht aus wirklicher oder geheuchelter Schamhaftigkeit, sondern weil ich es mußte. Da sah er im weichen, nachgiebigen Schlamm die Spuren meiner Füße, so klein und so tief. Er wollte etwas sagen, einen unschuldigen Scherz machen, doch plötzlich besann er sich, zwischen den finsteren Brauen erschien die tiefe Falte, die ich schon kannte, und er erklomm das gegenüberliegende Ufer, ohne mir, die ich ihm folgte, hilfreich die Hand zu reichen. Vielleicht war es schon dort geschehen. Und als ich, oben angelangt, stolperte und nach einer derben Weidenrute griff, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, spürte ich, daß ich den ganzen Busch mit den Wurzeln ausreißen würde. Instinktiv ließ ich den abgebrochenen Ast fahren und warf mich auf die Knie, um meine unbezwingbare Kraft nicht offenbar werden zu lassen. Er wandte mir die Seite zu, schaute nicht zu mir, wie ich glaubte, aber dennoch hatte er aus den Augenwinkeln alles mit ansehen können. War er also heimlich hergekommen, um seinen Verdacht zu prüfen, oder hatte er seine Leidenschaft nicht mehr zügeln können? Es war alles eins. Mit den dicksten Gliedern meiner Fühler stemmte ich mich gegen die Ränder des offenen Körpers, um herauszuschlüpfen. Gewandt gelangte ich in die Freiheit, während Tlenix, die Duena, Mignonne in die Knie
brach und mit dem Gesicht auf die Seite stürzte. Ich kroch aus ihr hervor und richtete, langsam rückwärts gehend wie ein Krebs, sämtliche Beine auf. Die Kerzen flackerten noch von dem Durchzug, der bei der Flucht des Mannes entstanden war, ihr Licht erglänzte im Spiegel, die Nackte lag reglos mit häßlich gespreizten Beinen. Ich mochte sie nicht berühren, meinen Kokon, meine falsche Haut, ging um sie herum, richtete mich mit halbgekrümmtem Körper auf wie eine Heuschrecke und betrachtete mich im Spiegel. Das bin ich, sagte ich ohne Worte zu mir selbst, das bin immer noch ich. Die glatten, kräftig gepanzerten Insektenformen, die Gelenkwülste, der Hinterleib in kaltem Silberglanz, die zur Förderung der Schnelligkeit abgeflachten Seiten, der dunklere, hervorstehende Kopf – all das war ich. Ich wiederholte es, als wollte ich es auswendig lernen, und zugleich verblaßte und erlosch in mir die vielsträngige Vergangenheit der Duena, Tlenix und Angelita wie der Inhalt der einst im Kinderzimmer verschlungenen Bücher, der unwichtig und matt geworden war. Ich konnte mich noch daran erinnern, während ich den Kopf hin und her wandte, um im Spiegel meine Augen zu sehen, gleichzeitig aber, obzwar noch nicht vertraut mit dieser neuen Gestalt, begann ich zu verstehen, daß dieser Akt der Autoeventration nicht in allem mein Aufbegehren war, sondern das Teilchen der Pläne bildete, das gerade für diesen Umstand der Rebellion vorgesehen war, um endlich den vollkommenen Gehorsam herbeizuführen. Da ich die Geschmeidigkeit und Freiheit des Denkens behalten hatte, war ich gleichzeitig meinem neuen Körper Untertan, und sein gleißendes Metall trug in sich die Bewegungen, die ich auszuführen begann. Die Liebe war erloschen. Sie erlischt auch in euch, aber da dauert es Monate und Jahre. Ich erlebte diesen Vorgang innerhalb weniger Augenblicke, es war nun schon der dritte Anfang: Mit einem leichten, schleifenden Geräusch umkreiste ich dreimal das Zimmer und betastete mit den ausgestreckten, bebenden Antennen das Bett, auf dem ich nie wieder ruhen würde. Ich nahm die Witterung meines Ungeliebten, um seiner Fährte zu folgen, ich, für ihn bekannt und unbekannt in diesem neu eröffneten, wahrscheinlich letzten Spiel. Die Spur seiner tollen Flucht kennzeichneten zunächst die offenen Flügel der Tür und die verstreuten Rosen. Deren Duft konnte mir behilflich sein, denn er war wenigstens für eine Weile ein Teil seiner Witterung. Die Zimmer, die ich
durchquerte, erschienen mir von unten, aus meiner neuen Perspektive, vor allem zu groß, voller unbequemer, überflüssiger Dinge; die im schwindenden Licht vor sich hin dämmerten. Bald klirrten meine Klauen leise über die Stufen der steinernen Treppen, dann lief ich in den feuchten, dunklen Park hinaus. Eine Nachtigall sang, ich amüsierte mich darüber, denn das war nun schon ein ganz unnötiges Requisit, der nächste Akt machte andere notwendig. Eine Zeitlang schnüffelte ich zwischen den Sträuchern herum, ich spürte, wie unter meinen Füßen der Kies knirschte und nach den Seiten spritzte, dann drehte ich mich zweimal um die eigene Achse und schoß vorwärts, nachdem ich die Spur gefunden hatte. Sie bestand aus einer einmaligen Kombination leisester Gerüche, aus dem Beben der Luft, die er im Vorübereilen zerteilt hatte, und ich fand jede kleinste Substanz heraus. So nahm ich die Richtung, die von nun an bis ans Ende die meine sein sollte. Ich weiß nicht, wessen Wille es war, daß ich ihn einen großen Vorsprung gewinnen ließ, denn statt die Verfolgung aufzunehmen, trieb ich mich noch bis zum Morgengrauen im königlichen Park herum. In gewissem Maße war das angebracht, ich hielt mich dort auf, wo wir Hand in Hand zwischen den Hecken spaziert waren, ich konnte seine Witterung daher so genau nehmen, daß er mit keinem anderen mehr zu verwechseln war. Ich hätte ihm zwar auch einfach nacheilen, ihn in der völligen Ratlosigkeit von Bestürzung und Verzweiflung packen können, aber ich tat es nicht. Ich weiß, man kann die Kabalen, die ich in jener Nacht anwandte, auch ganz anders interpretieren, mit meiner Trauer und mit dem königlichen Willen nämlich. Ich hatte den Geliebten verloren und nur ein Opfer gewonnen, dem Monarchen indessen mochte das plötzliche und rasche Ende eines ihm verhaßten Mannes unzureichend erscheinen. Vielleicht eilte Arrhodes nicht nach Hause, sondern begab sich zu einem seiner Freunde, wo er sich in einem fieberhaften Gespräch seine Fragen selbst beantwortete (die Anwesenheit eines anderen Menschen brauchte er nur als ernüchternde Unterstützung) und alles ohne die Hilfe fremden Nachdenkens erriet. Übrigens erinnerte mein Tun in den Gärten in keiner Weise an Abschiedsschmerz. Ich weiß, wie unschön das zartbesaiteten Seelen erscheinen muß, aber ich konnte nicht die Hände ringen, nicht Tränen vergießen, nicht auf die Knie fallen und nicht die tagsüber gepflückten
Blumen an die Lippen drücken. Daher unterließ ich solche Gesten der Verzagtheit. Ich war in Anspruch genommen von dem außergewöhnlichen Unterscheidungsvermögen, das ich besaß. Bei meinem Lauf durch die Alleen fand ich keine Spur, die mich auch nur im geringsten von der abzubringen vermocht hätte, die jetzt meine Bestimmung war und mich zu unermüdlicher Anstrengung spornte. Ich fühlte, wie in meiner linken, kalten Lunge jedes Luftpartikel durch die Mäander unzähliger Zellen schlüpfte und dabei untersucht wurde, wie jedes verdächtige Teilchen in meine rechte, heiße Lunge gelangte, dort von meinem Prismaauge geprüft wurde, um es als richtig zu bestätigen oder als irreführend zu verwerfen. Das ging schneller, als die Flügelchen selbst des kleinsten Insekts vibrieren, schneller, als man es sich vorstellen kann. Im Morgengrauen verließ ich die königlichen Gärten. Das Haus des Arrhodes war leer, die Türen standen sperrangelweit offen. Ich hielt mich nicht damit auf, nachzusehen, ob er eine Waffe mitgenommen hatte, suchte die frische Spur und nahm ohne weiteren Verzug die Verfolgung auf. Ich glaubte keine lange Wanderschaft vor mir zu haben. Doch aus Tagen wurden Wochen, aus Wochen wurden Monate, und ich war noch immer hinter ihm her. Ich hielt das durchaus nicht für widerwärtiger als das Verhalten aller Geschöpfe, die ihr eigenes Geschick in sich tragen. Ich lief durch Regen und Hitze, über Ebenen, durch Schluchten und Dickicht, trockenes Schilf glitt mir über den Rumpf, das Wasser der Pfützen und Lachen, die ich durchquerte, spritzte in dicken Tropfen auf meinen ovalen Rücken und auf den Kopf, wo es Tränen glich, was jedoch keinerlei Bedeutung hatte. Bei dieser unermüdlichen Jagd sah ich, wie sich jedermann, der mich von fern erblickte, abwandte, sich an eine Wand, einen Baum oder eine Mauer drückte. Fehlte ihm solch eine Zuflucht, so sank er auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht, oder er fiel aufs Gesicht und blieb liegen, bis ich ihn weit hinter mir gelassen hatte. Ein Schlafbedürfnis kannte ich nicht, darum lief ich auch nachts durch Dörfer, Siedlungen und Städtchen, ich lief über Märkte mit tönernem Geschirr und Obst, das an langen Schnüren trocknete, die Menschen stoben vor mir auseinander, die Kinder versteckten sich schreiend in den Seitengassen, doch ich achtete nicht darauf und folgte meiner Fährte. Ich
war von ihrem Geruch erfüllt wie von einem Versprechen. Das Gesicht des Mannes hatte ich vergessen, und mein Geist, gleichsam weniger ausdauernd als mein Körper, verengte sich vor allem nachts so sehr, daß ich nicht wußte, wen ich jagte, ja, nicht einmal, ob ich jemanden jagte. Ich wußte nur, daß es mein Wille war, so vorwärts zu hetzen, daß die Spur der Luftpartikel, die in der Vielfalt der Welt für mich bestimmt waren, bestehenblieb und sich verstärkte, denn ihr Nachlassen hätte bedeutet, daß ich in eine falsche Richtung strebte. Ich stellte niemandem Fragen, und niemand wagte es, mich anzusprechen, obgleich ich spürte, daß der Raum zwischen mir und jenen, die sich bei meinem Erscheinen an die Wände drückten, auf die Erde fielen und mit den Händen den Kopf bedeckten, voller Spannung war. Ich faßte all das als erschrockene Huldigung auf, die man mir entgegenbrachte, denn ich war ja auf der Jagd nach königlichem Wild und besaß unermeßliche Macht. Manchmal nur brach bei meinem schweigenden, plötzlichen Erscheinen ein noch sehr kleines Kind, das die Erwachsenen nicht mehr ergreifen und in die Arme schließen konnten, in Weinen aus. Doch ich achtete nicht darauf, mußte weitereilen in unaufhörlicher, höchster Konzentration, die sich sowohl nach außen, auf die Welt aus Sand, Mauerwerk, Grün und Blau, als auch nach innen richtete, wo aus dem ungehinderten Spiel meiner beiden Lungen eine molekulare Musik entstand, die so schön war durch ihre großartige Unfehlbarkeit. Ich überwand Flüsse und Förden, Stromschnellen, morastige Becken austrocknender Seen, jedes Wesen mied mich, entfernte sich fluchtartig oder wühlte sich fieberhaft in den ausgedörrten Erdboden, sicherlich vergebens, wenn ich es aufs Korn genommen hätte, denn niemand war so blitzschnell und gewandt wie ich. Aber was gingen mich jene struppigen, schiefohrigen, auf allen vieren kriechenden Geschöpfe an, die heiser schrien, jaulten und wimmerten. Ich hatte ein anderes Ziel. Viele Male raste ich wie ein Geschoß durch große Ameisenhaufen, ihre roten, schwarzen oder gefleckten Bewohner taumelten hilflos über meinen glänzenden Panzer. Hin und wieder vertrat mir ein Geschöpf ungewöhnlicher Größe den Weg, und obgleich ich mit ihm nichts im Sinn hatte, spannte ich mich, um mir das Ausweichen und den Umweg zu ersparen, zum Sprung und durchbohrte es im Fluge, worauf ich mich im Krachen der Knochen und dem Plätschern roter Ströme auf meinem
Rücken und meinem Kopf so schnell entfernte, daß mir erst später der Gedanke an den Tod kam, dessen Spenderin ich auf so jähe Weise geworden war. Ich erinnere mich auch, wie ich Kriegsschauplätze durchquerte, Fronten, erfüllt von einem unordentlich verstreuten Gewimmel grauer und grüner Planen, von denen die einen sich bewegten, in anderen aber Gebeine steckten, verfault oder völlig vertrocknet und von der Farbe schmutzigen Schnees. Auch darauf achtete ich nicht, ich hatte eine wichtigere Aufgabe, die nur ich erfüllen konnte. Denn die Fährte wand sich dahin, zog Schleifen und schnitt sich, verschwand fast an den Ufern der Salzseen, von der Sonne zu Staub gebrannt, der meine Lungen reizte, vom Regen fortgespült, und allmählich begann ich zu verstehen, daß das, was vor mir floh, listig und verschlagen war, daß es alles tat, um mich in die Irre zu führen, das Band der Teilchen abreißen zu lassen, die den Stempel der Einmaligkeit trugen. Wäre der Verfolgte ein gewöhnlicher Sterblicher gewesen, so hätte ich ihn im rechten Augenblick eingeholt, nach Ablauf jener Zeit, die notwendig gewesen wäre, daß seine Furcht und Verzweiflung die bevorstehende Sühne vervielfachten. Dank meiner nie erlahmenden Schnelligkeit und der unfehlbaren Arbeit meiner Spürlungen hätte ich ihn bestimmt eingeholt – um ihn rascher auszulöschen, als ich selbst gedacht hätte. Anfangs blieb ich ihm nicht allzu dicht auf den Fersen, ich folgte der bereits abgekühlten Spur, um damit meine Meisterschaft zu zeigen und dem Gejagten zugleich, gutem Brauch folgend, Zeit zu lassen. Dadurch nämlich mehrte sich in ihm die Verzweiflung. Manchmal ließ ich es zu, daß er sich recht weit absetzte, denn das Gefühl meiner zu großen Nähe hätte ihn veranlassen können, sich in einem Anfall der Hoffnungslosigkeit etwas anzutun und sich damit meiner Sendung zu entziehen. Ich wollte ihn nicht so schnell und so plötzlich einholen, daß er nicht begriffen hätte, was ihn erwartete. Deshalb verhielt ich nächtelang, im Dickicht verborgen – nicht um auszuruhen, denn Ruhe brauchte ich nicht, sondern um wohlbedachten Aufschub zu erzielen und das weitere Vorgehen zu überlegen. Der Verfolgte war für mich nicht mehr Arrhodes, mein einstiger Geliebter, diese Erinnerung hatte sich verkapselt, und ich wußte, daß sie in Frieden ruhen mußte. Ich bedauerte nur, daß mir die Gabe des Lächelns versagt war, wenn ich der
verflossenen Bübereien gedachte, Angelitas, der Duena, der süßen Mignonne, und mehrfach betrachtete ich mich, den Vollmond über dem Kopf, in einem Wassertümpel, um mich zu überzeugen, wie wenig ich ihnen inzwischen ähnelte. Ich war zwar schön geblieben, doch war das jetzt eine todbringende Schönheit, die Grauen weckte, ein Grauen, so groß wie Entzücken. Ich benutzte den Aufenthalt in diesen nächtlichen Verstecken, um die vertrockneten Schlammbrocken von meinem silbernen Hinterleib zu streifen, und bevor ich mich wieder auf den Weg machte, schwenkte ich leicht den von den Sprungbeinen umschlossenen Schaft des Stachels hin und her, um seine Bereitschaft zu prüfen, denn ich kannte ja weder den Tag noch die Stunde. Manchmal schlich ich mich geräuschlos an menschliche Wohnsitze heran und lauschte den Stimmen. Dabei bog ich mich zurück und stützte meine blitzenden Antennen an den Festerrahmen, oder ich kroch auf das Dach und ließ mich von dessen Traufe frei herabhängen. Ich war ja kein toter, mit zwei Spürlungen ausgerüsteter Mechanismus, sondern ein Wesen, das den Verstand zu gebrauchen wußte. Jagd und Verfolgung aber währten nun schon lange genug, um berühmt zu werden, und ich hörte, wie die alten Frauen den Kindern mit mir drohten, ich erfuhr auch unzählige Fabeldinge über Arrhodes, den man begünstigte, wie man mich, die Botin des Königs, fürchtete. Was schwätzten also die einfachen Leute auf den Hausbänken? Eine Maschine sei ich, dem weisen Manne auf die Fährte gehetzt, der es gewagt habe, die Majestät zu beleidigen. Allerdings sollte ich nicht einfach eine Maschine zur Urteilsvollstreckung sein, sondern ein seltsames Instrument, das beliebige Gestalt annehmen konnte: die eines Bettlers, eines Kindes in der Wiege, eines hübschen Mädchens, aber auch die eines metallenen Reptils. Jene Gestalten seien nur eine Larve, in der sich die Botin des Todes dem Verfolgten zeige, um ihn zu täuschen, allen anderen aber erscheine sie als silberner Skorpion, der so flink dahinschieße, daß es noch niemandem gelungen sei, seine Beine zu zählen. Von hier an teilte sich die Geschichte in vielerlei Versionen. Die einen sagten, der Weise habe – dem königlichen Willen zum Trotz – dem Volk die Freiheit schenken wollen und damit den Zorn des Monarchen auf sich gezogen, andere behaupteten, er habe das Wasser des Lebens besessen und damit die zu Tode Gemarterten wiedererwecken können.
Auf allerhöchsten Befehl sei ihm das untersagt worden, er habe sich scheinbar dem Willen des Herrschers gebeugt, insgeheim aber eine Schar von Aufständischen gerüstet, die bei einer großen Hinrichtung in der Zitadelle gehängt worden waren. Wieder andere wußten gar nichts von Arrhodes und schrieben ihm keinerlei bedeutende Gaben zu, sondern hielten ihn für einen Verurteilten, dem allein aus diesem Grunde Wohlwollen und Beistand gebührte. Obgleich niemand die Ursachen kannte, die den königlichen Zorn so sehr entfacht hatten, daß er den herbeigerufenen Werkmeistern gebot, in ihrer Schmiede eine solche Maschine zu bauen, so wurde das doch als böser Plan und sündhafter Befehl bezeichnet, denn was der Gehetzte auch getan haben mochte, es konnte nicht so schlimm sein wie das Geschick, das ihm der König bereitete. Diese Fabeln, in denen die naive Phantasie dreiste Blüten trieb, nahmen kein Ende, nur in einem waren sie unwandelbar: Sie schrieben mir alle Scheußlichkeiten zu, die man sich nur denken kann. Ich hörte auch ungezählte Lügen über die Tapferen, die Arrhodes angeblich zu Hilfe gekommen, mir in den Weg getreten waren, um im ungleichen Kampf zu fallen – keine Menschenseele hatte das je gewagt. Es fehlte in diesen Sagen auch nicht an Verrätern, die mir die Fährte des Arrhodes gewiesen hatten, nachdem sie mir verlorengegangen war – ebenfalls eine Lüge, wie sie im Buche steht. Davon jedoch, wer ich war oder sein könnte, was ich im Kopfe hatte, ob ich Zweifel, inneren Widerstreit kannte, davon sprach niemand, aber auch darüber wunderte ich mich nicht. Ich erfuhr vielerlei aus des Volkes Kenntnis einfacher Maschinen, die den königlichen Willen, das Gesetz, vollstreckten. Manchmal verbarg ich mich gar nicht vor den Bewohnern der niedrigen Hütten, sondern wartete den Sonnenaufgang ab, um in seinem Licht wie ein silberner Blitz auf den Rasen zu springen und in den funkelnden Spritzern des Morgentaus das Ende des gestrigen Weges mit dem Anfang des heutigen zu verknüpfen. Rüstig voranstrebend, weidete ich mich daran, wie die Menschen aufs Gesicht fielen, wie die Blicke gläsern erstarrten, wie steinernes Grauen mich umgab – eine undurchschreitbare Aureole. Dann aber kam der Tag, da ich die Spur auf dem Boden verlor und auch vergebens die hügelige Gegend durchstreifte, um die Witterung in der Luft wiederzufinden. Ich erfuhr das Gefühl des Unglücks, das meine
ganze Vollkommenheit zuschanden werden ließ, bis ich – mit gekreuzten Armen auf dem Scheitel einer Höhe stehend, als flehte ich zu dem böigen Himmel, erfüllt vom schwachen Klingen des metallenen Leibes –, bis ich also begriff, daß doch nicht alles verloren war. Ich konnte, um den Plan Wirklichkeit werden zu lassen, auf eine längst verworfene Gabe zurückgreifen – die Sprache. Ich lernte sie nicht, weil ich sie ja schon beherrschte, mußte sie jedoch wiedererwecken. Anfangs sprach ich die Wörter scharf und schrill aus, bald aber klang meine Stimme wie die eines Menschen. Ich lief den Abhang hinab, um mit Worten zu erreichen, was der Geruchssinn mir weigerte. Ich verspürte keinen Haß auf den Verfolgten, obwohl er sich als so verschlagen und listig erwiesen hatte, ich begriff ja, daß er seinen Teil der Aufgabe erfüllte wie ich den meinen. Ich fand den Kreuzweg, an dem sich die Spur allmählich verlor, ich bebte, ohne mich von der Stelle zu rühren; das eine meiner Beinpaare zerrte blindlings zu einem kalkbestäubten Weg hin, während das andere, krampfhaft über die Felsen scheuernd, mich nach der entgegengesetzten Seite zog, wo inmitten alten Baumbestands weiß die Mauern eines kleinen Klosters leuchteten. Ich nahm mich zusammen und kroch schwerfällig, gleichsam widerwillig auf die Klosterpforte zu, in der ein Mönch stand. Er hielt das Gesicht dem Himmel zugewandt, wahrscheinlich betrachtete er die Morgenröte am Horizont. Ich näherte mich langsam, um ihn nicht zu erschrecken, und grüßte. Als er mich wortlos musterte, fragte ich ihn, ob ich ihm eine Angelegenheit bekennen dürfe, in der ich mir keinen rechten Rat wüßte. Zunächst glaubte ich, er sei vor Schrecken erstarrt, da er sich weder rührte noch etwas sagte. Doch er besann sich nur und war schließlich einverstanden. Wir gingen in den Klostergarten, er voran, ich hinterher. Wir müssen ein seltsames Paar abgegeben haben, doch um diese frühe Stunde war ringsum keine Menschenseele, die fähig gewesen wäre, die silberne Heuschrecke und den weißen Priester zu bestaunen. Unter einer Lärche ließ er sich nieder und nahm unwillkürlich, sichtlich aus Gewohnheit, die Haltung eines Beichtigers ein, er neigte mir das Haupt zu, ohne mich anzublicken. Zunächst, bevor ich auf die Fährte gelangte – so erzählte ich –, sei ich ein Mädchen gewesen, durch den Willen des Königs für Arrhodes bestimmt, den ich auf einem Ball bei Hofe kennen- und liebengelernt
hätte, ohne etwas von ihm zu wissen, ahnungslos hätte ich mich auf die Liebe eingelassen, die ich in ihm geweckt hätte, bis mir durch jenen nächtlichen Stich klargeworden sei, was ich für ihn sein könnte. Weder für ihn noch für mich ein anderes Mittel der Rettung sehend, hätte ich mich mit dem Messer durchbohrt, doch statt des Todes sei mir die Verwandlung begegnet. Seither habe mich der Zwang, den ich vorher nur vermuten konnte, auf die Spur des Geliebten geführt, ich sei zur Furie geworden, die ihn verfolgte. Diese Hetzjagd aber habe lange gedauert, so lange, bis mir alles zu Ohren gekommen sei, was die Leute von Arrhodes sagten. Obgleich ich nicht wisse, wieviel Wahres daran sei, hätte ich von neuem über unser gemeinsames Schicksal nachgedacht, Wohlwollen gegenüber diesem Menschen sei in mich eingekehrt, denn ich hätte verstanden, daß ich ihn unbedingt töten wolle, weil ich ihn nicht mehr lieben könne. So hätte ich die eigene Gemeinheit durchschaut, die gewandelte, erniedrigte Liebe, die nach Rache lechze an dem, der mir außer eigenem Unglück nichts schuldig geworden sei. Darum wolle ich die Jagd nicht fortsetzen, keinen tödlichen Schrecken mehr um mich verbreiten, sondern unbedingt dem Übel abhelfen. Ich wisse nur nicht, wie. Soweit ich bemerken konnte, gab der Mönch bis ans Ende dieses Gesprächs nicht sein Mißtrauen auf, und noch bevor ich zu sprechen anfing, hatte er den Vorbehalt gemacht, alles, was ich sagen werde, betrachte er nicht als Beichte, da er mich nicht für ein Wesen halte, das einen eigenen Willen besitze. Und auch danach mochte er sich fragen, ob ich nicht mit Vorbedacht zu ihm gesandt worden sei, es gab ja solche Sendlinge, die auf perfideste Weise verkleidet waren. Seine Antwort indessen schien ehrlicher Überlegung entsprungen. Er sagte: »Und was geschieht, wenn du den Gesuchten findest? Weißt du, was du dann tun wirst?« »Padre, ich weiß nur, was ich nicht tun will. Aber ich weiß nicht, welche in mir verborgene Kraft dann freigesetzt wird, und daher kann ich nicht sagen, ob ich nicht zum Mord gezwungen werde.« »Was für einen Rat kann ich dir geben? Willst du, daß dir diese Aufgabe erlassen wird?«
Wie ein Hund lag ich zu seinen Füßen, ich hob den Kopf und sah, wie er vor dem blendenden Sonnenstrahl, den mein silberner Schädel reflektierte, die Augen zusammenkniff. Ich sagte: »Nichts wünschte ich mehr, obwohl ich verstehe, daß mein Schicksal dann grausam sein würde, weil ich kein Ziel mehr vor mir hätte. Ich habe den Plan nicht gemacht, für den ich geschaffen bin, und gewiß werde ich teuer bezahlen müssen, weil ich gegen den Willen des Königs verstoße. Es ist nicht zulässig, einen solchen Verstoß ungestraft zu lassen, die Waffenschmiede in den Kellern des Schlosses werden also nun mich aufs Korn nehmen und stählerne Häscher entsenden, die mich vernichten sollen. Und sollte es auch dank den in mir verborgenen Künsten gelingen, zu entkommen und ans Ende der Welt zu fliehen, so werde ich doch, wo immer ich mich auch verstecke, von allen gemieden. Ich finde nichts, für das es sich lohnen würde fortzubestehen. Auch ein Leben wie das deine wird mir verschlossen bleiben, denn jeder, der ermächtigt ist wie du, wird mir die gleiche Antwort geben: Ich sei geistig nicht frei und könne daher nicht in den Genuß des Vorrechts klösterlicher Klausur gelangen!« Er versank in Gedanken, dann meinte er verwundert: »Ich kenne mich mit Apparaten, wie du einer bist, nicht im geringsten aus, aber ich sehe und höre dich, durch deine Rede erscheinst du mir als Verstand, der vielleicht einem beschränkenden Zwang ausgesetzt ist. Aber da du, wie du eben sagtest, gegen diesen Zwang kämpfst und dich befreit fühlen würdest, nähme man dir den Willen zum Töten, so sage mir, Maschine, wie lebst du mit diesem Willen?« »Padre, vielleicht lebe ich damit nicht gut, aber ich bin versiert darin, wie man jemanden jagt, seiner Spur folgt, ihn beobachtet und belauscht, sich versteckt und verbirgt, im Wege stehende Hindernisse zerbricht, sich heranpirscht, Finten anwendet, ein Opfer einkreist und die Kreise immer enger zieht. Darin kenne ich mich aus, und die perfekte Ausführung dieser Tätigkeiten, die mich zur Vollstreckerin eines erbarmungslosen Fatums macht, verschafft mir Befriedigung, die sicher mit Absicht in mein Inneres eingebrannt wurde.« »Ich frage dich noch einmal: Sprich, was wirst du tun, wenn du Arrhodes zu Gesicht bekommst?«
»Ich gebe dir noch einmal zur Antwort, daß ich es nicht weiß, denn obwohl ich ihm nichts Böses wünsche, kann das, was in mir geschrieben steht, mächtiger sein als mein Wollen.« Als er das hörte, beschirmte er die Augen mit der Hand und meinte: »Du bist meine Schwester.« »Wie soll ich das verstehen?« fragte ich höchst verwundert. »So, wie ich es sage«, versetzte er, »und das bedeutet, daß ich mich weder über dich erhebe noch vor dir erniedrige. Sosehr wir uns auch unterscheiden, deine Unwissenheit, die du mir bekannt hast und an die ich glaube, macht uns vor der Vorsehung gleich. Und deshalb folge mir, ich will dir etwas zeigen.« Hintereinander durchquerten wir den Klostergarten, bis wir zu einem alten Holzschuppen gelangten. Unter dem Druck der Hände des Mönchs gab die Tür knarrend nach, und in dem Dämmer sah ich auf den Strohgarben eine dunkle Gestalt. Durch die Nüstern stieg mir die Witterung, der ich unausgesetzt gefolgt war, so stark in die Lungen, daß ich spürte, wie der Stachel von selbst aus seinem Bett am Hinterleib hervortrat. Gleich darauf entdeckte ich mit dem Blick, der sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, meinen Irrtum. Auf dem Stroh lagen nur weggeworfene Kleidungsstücke. Der Mönch sah an meinem Beben, wie erschüttert ich war, und sagte: »Jawohl. Arrhodes ist hiergewesen. Er verbarg sich seit einem Monat in unserem Kloster, seit es ihm gelungen war, dich zu täuschen. Es tat ihm leid, daß er nicht mehr wirken konnte wie einst, deshalb gab er heimlich seinen Schülern Kunde. Sie besuchten ihn manchmal nachts, doch unter sie mischten sich zwei Verräter, die ihn vor fünf Tagen entführten.« »Willst du sagen ›Sendlinge des Königs‹?« fragte ich, immer noch zitternd und die gekreuzten Beine wie im Gebet an die Brust pressend. »Nein, ich sage ›Verräter‹, denn sie entführten ihn mit Heimtücke und Gewalt. Ein stummer kleiner Knabe, den wir bei uns aufgenommen haben, sah als einziger, wie sie ihn im Morgendämmer fortschleppten, gebunden und mit einem Messer an der Kehle.« »Sie haben ihn entführt?« Ich begriff überhaupt nichts. »Wer? Wohin? Wozu?«
»Ich denke, um Nutzen aus seiner Weisheit zu ziehen. Wir können nicht das Gesetz um Beistand anrufen, denn es ist das Gesetz des Königs. Sie werden ihn also zwingen, ihnen zu dienen, und sollte er sich weigern, so töten sie ihn und entkommen ungestraft.« »Padre«, sagte ich, »gelobt sei die Stunde, da ich es wagte, mich Euch zu nahen und Euch anzureden. Ich folge jetzt der Spur der Entführer und befreie Arrhodes. Ich kann einer Fährte folgen und die Jagd aufnehmen, nichts kann ich besser als das. Weist mir die Richtung, die Ihr von dem Stummen kennt!« »Aber du weißt doch nicht, ob du dich beherrschen kannst. Du hast es mir selber gestanden!« »So ist es, doch ich glaube, ich werde das rechte Mittel finden. Noch weiß ich es nicht, vielleicht suche ich einen geschickten Meister auf, der in mir den entsprechenden Schaltkreis ändert, damit der Gejagte für mich zum Auserwählten wird.« Der Mönch sagte: »Wenn du willst, kannst du vor deinem Aufbruch den Rat eines unserer Brüder einholen. Bevor er zu uns kam, war er in der Welt ein Sachverständiger in solchen Künsten. Jetzt leistet er uns Beistand als Arzt.« Wir standen bereits in dem sonnigen Garten. Obwohl er es sich nicht merken ließ, begriff ich, daß er mir nach wie vor mißtraute. Die Witterung war in den fünf Tagen verflogen, er konnte mir ebensogut einen richtigen Weg weisen wie einen falschen. Ich erklärte mich einverstanden. Der Arzt untersuchte mich unter Beachtung aller Vorsichtsmaßregeln, leuchtete mit einer Blendlaterne durch die Spalten der Panzerringe ins Innere meines Körpers und bewies überhaupt viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit. Dann erhob er sich, klopfte den Staub von seinem Rock und sagte: »Es kann passieren, daß einer Maschine, die mit dem bewußten Auftrag entsandt ist, von der Familie des Verurteilten, dessen Freunden oder auch anderen Leuten ein Hinterhalt gelegt wird, um die Ausführung zunichte zu machen. Um ihnen zuvorzukommen, legen die königlichen Waffenschmiede den bewußten Inhalt unter hermetischen Verschluß und koppeln ihn so mit dem Stachel, daß jede Manipulation das
Verderben herbeiführt. Wenn das letzte Siegel angebracht ist, können nicht einmal diese Meister mehr den Stachel entfernen. So ist es auch bei dir. Es kommt auch vor, daß der Gejagte die Kleidung, das Aussehen, sein Verhalten und seinen Geruch vertauscht, aber er kann seinen Verstand nicht wechseln, und daher begnügt sich die Maschine nicht nur damit, die Witterung am Boden und in der Luft zu verfolgen, sondern er unterzieht die Gesuchten auch peinlichen Befragungen, die die bedeutendsten Kenner der Besonderheiten menschlichen Geistes ersonnen haben. So steht es auch mit dir. Außerdem sehe ich in deinem Innern eine Vorrichtung, die keine deiner Vorgängerinnen je besaß: ein verzweigtes Gedächtnis von Dingen, deren eine solche Maschine eigentlich nicht bedarf. Dort sind nämlich weibliche Schicksale fixiert, voll von geistbetörenden Namen und Redewendungen, und von dort führt eine Leitung zu dem tödlichen Stachel. Du bist also eine Maschine, die in einer für mich unbegreiflichen Weise vervollkommnet ist, vielleicht bist du überhaupt die vollkommene Maschine. Niemand kann dir den Stachel entfernen, ohne zugleich das bewußte Ergebnis hervorzurufen.« »Den Stachel brauche ich«, sagte ich, immer noch auf dem Rücken liegend, »wenn ich dem Entführten zu Hilfe eilen soll.« »Ich kann weder ja noch nein dazu sagen, ob du bei Aufbietung aller Kräfte imstande bist, die Auslösung der Sperren über dem bewußten Stachel zu verhindern«, fuhr der Arzt fort, als hätte er meine Worte nicht vernommen. »Ich kann, wenn du willst, nur eines machen, nämlich die Pole des bewußten Ortes durch ein Röhrchen mit feinsten Eisenspänen bestäuben. Der Spielraum deiner Freiheit würde sich dadurch ein wenig vergrößern. Aber selbst wenn ich das tue, wirst du bis zum letzten Moment nicht wissen, ob du nicht doch ein gefügiges Werkzeug bleibst, auch wenn du jemandem zu Hilfe eilst.« Als ich sah, wie mich die beiden anblickten, erklärte ich mich mit dem Eingriff einverstanden. Er dauerte nicht lange, verursachte keine Beschwerden und auch keinerlei spürbare Veränderung in meinem geistigen Zustand. Um mich ihres Vertrauens noch stärker zu versichern, bat ich, die Nacht im Kloster verbringen zu dürfen, denn während der Gespräche, Überlegungen und Untersuchungen war der Tag vergangen. Sie gingen bereitwillig darauf ein, und ich widmete die Zeit einer genauen
Musterung des Holzschuppens, um mich mit der Witterung der Entführer vertraut zu machen. Ich konnte das, denn es geschah mitunter, daß der Botin des Königs statt des Gejagten ein anderer Wagehals den Weg vertrat. Vor dem Morgengrauen legte ich mich auf das Stroh, auf dem viele Nächte lang der angeblich Entführte geschlafen hatte, atmete reglos seine Witterung ein und wartete auf die Mönche. Ich meinte nämlich, daß sie fürchten würden, ich könnte voller Rachgier von dem falschen Weg zurückkehren, falls sie mich mit einer erfundenen Geschichte getäuscht hätten, diese dunkelste Stunde vor der Dämmerung ihnen also höchst geeignet erscheinen müßte, mich zu beseitigen, wenn sie dies beabsichtigten. Ich tat, als schliefe ich fest, lauschte jedoch jedem Geräusch, das aus dem Garten drang. Sie konnten ja auch von außen die Tür verrammeln und den Schuppen in Brand stecken, damit ich in den Flammen von der Frucht meines Leibes in Stücke gerissen würde. Dabei brauchten sie nicht einmal ihre Abscheu gegen das Töten zu überwinden, denn sie betrachteten mich ja nicht als Person, sondern als Hinrichtungsmaschine. Meine Überreste könnten sie im Garten verscharren, und nichts würde ihnen geschehen. Ich wußte nicht recht, was ich bei ihrer Annäherung tun sollte, und ich erfuhr es auch nicht, weil es nicht dazu kam. Ich blieb allein mit meinen Gedanken, in denen die erstaunlichen Worte wiederkehrten, die der ältere Mönch gesagt hatte, als er mir in die Augen blickte. »Du bist meine Schwester.« Ich verstand auch jetzt nichts davon, aber als ich dabei verweilte, zerfloß etwas heiß in mir, ich fühlte mich verwandelt, als sei die schwere Last, an der ich trug, von mir genommen. Am Morgen lief ich zur angelehnten Pforte hinaus, mied, dem Rat des Mönches folgend, die Klostergebäude und stürmte den fernen Bergen zu, die den Horizont begrenzten – diese Richtung hatte er meiner Jagd gewiesen. Ich beeilte mich sehr, und gegen Mittag lagen zwischen mir und dem Kloster schon über hundert Meilen. Wie ein Geschoß fegte ich zwischen den weißstämmigen Birken dahin, und als ich über die Almen stürmte, fiel das hohe Gras zu beiden Seiten wie unter den gleichmäßigen Streichen des Schnitters. In einem tiefen Tal, auf einem Steg, der über ein dahin schießendes Wasser führte, stieß ich auf die Fährte der beiden Entführer. Von Arrhodes jedoch keine Spur – ungeachtet der Mühe mußten sie ihn
abwechselnd getragen haben. Darin zeigte sich ihre Schlauheit, aber auch das Bewußtsein, sich durch ihre Tat gegen den Willen des Herrschers vergangen zu haben, denn niemand hatte das Recht, der Maschine des Königs bei dieser Sendung die Stelle zu vertreten. Sicher möchtet ihr wissen, welche Absichten auf diesem letzten Lauf ich wirklich verfolgte. Nun, ich hatte die Mönche hintergangen und hatte sie nicht hintergangen; in Wahrheit nämlich wünschte ich die Freiheit wiederzugewinnen oder vielmehr überhaupt zu erlangen, denn bisher hatte ich sie nie besessen. Was ich jedoch mit jener Freiheit zu tun gedachte, so weiß ich nicht, was ich sagen soll. Diese Unkenntnis war nichts Neues, denn als ich das Messer in den nackten Körper gestoßen hatte, war mir ja auch nicht bewußt gewesen, ob ich mich töten oder erkennen wollte, selbst wenn das eine nichts anderes sein sollte als das andere. Auch jener meiner Schritte war vorausgesehen worden, wie alle weiteren Vorfälle bezeugten, und so mochte auch die Hoffnung auf die Freiheit lediglich eine Illusion sein, nicht einmal meine eigene, sondern in mir angelegt, damit ich reger agiere, angestachelt von ebendiesem perfide eingesetzten Sporn. Ob die Freiheit aber gleichbedeutend damit war, einfach von Arrhodes abzulassen, das weiß ich nicht. Schließlich konnte ich ihn auch töten, während ich vollkommen frei war, denn die Tollheit hatte mich doch nicht so sehr gepackt, daß ich an das unmögliche Wunder glauben konnte, Gegenliebe zu wecken, jetzt, da ich aufgehört hatte, eine Frau zu sein. Und selbst wenn ich nicht in allem aufgehört hätte, es zu sein, wie sollte Arrhodes, nachdem er den aufgeschlitzten Leib seiner nackten Geliebten gesehen hatte, daran glauben können? Die Klugheit meiner Schöpfer hatte also auch die letzte Schranke rein mechanischer Kunstfertigkeit überschritten, zweifellos hatten sie bei mir auch einen Zustand in Betracht gezogen, in welchem ich dem Manne zu Hilfe eilte, der mir auf ewig verloren war. Wäre ich umgekehrt und fortgezogen, wohin die Füße mich trugen, so hätte ich ihm ebenfalls keinen besonderen Dienst geleistet, mit dem Tode schwanger, den ich niemandem gebären konnte. Ich glaube daher, ich bin von edler Niedertracht gewesen, von der Freiheit gefesselt, damit ich nicht tun konnte, was mir direkt aufgetragen war, sondern was ich in dieser meiner Verkörperung selbst wollte. Die verworrenen und durch ihre Überflüssigkeit quälenden Überlegungen sollten jedoch aufhören, wenn
ich am Ziel war. Ich würde die Entführer töten, den Geliebten retten und ihn auf diese Weise zwingen, Furcht und Abscheu vor mir in ohnmächtige Bewunderung zu verwandeln, ich konnte wenn nicht ihn, so doch wenigstens mich selbst wiedergewinnen. Wo das Gebirge terrassenförmig anzusteigen begann, zwängte ich mich durch dichtes Haselgesträuch und verlor plötzlich die Spur. Vergebens suchte ich sie wiederzufinden, an der einen Stelle war sie da, an der anderen nicht, als wären die Verfolgten zum Himmel aufgestiegen. Nachdem ich, der Besonnenheit folgend, zu dem Haselhain zurückgekehrt war, fand ich nicht ohne Mühe den Strauch heraus, von dem man einige der stärksten Äste abgeschnitten hatte. Ich beschnupperte die vom Blutungssaft überströmten Stümpfe und lief zurück an den Ort, wo die Spur verschwand. Nun fand ich sie wieder am Geruch des Haselholzes. Die Flüchtlinge hatten sich Stelzen gebaut, sie wußten, daß die obere Witterung nicht lange in der Luft bleiben und vom Bergwind verweht würde. Das spornte meinen Willen noch mehr an, und als der Haselgeruch schwand, durchschaute ich auch hier die List – sie hatten die Enden der Stelzen mit den Streifen eines Jutesacks umwickelt. An einem Felsabhang lagen die weggeworfenen Stelzen. Riesige Blöcke, auf der Nordseite mit Moos bewachsen, türmten sich übereinander, eine mächtige Halde, die nicht anders zu überwinden war als durch große Sprünge von einem Himbeerstrauch zum anderen. Das hatten die Fliehenden auch getan, jedoch nicht den geraden Weg genommen, sondern Haken geschlagen. Deswegen mußte ich dauernd von den Felsblöcken herunter und sie umschreiten, um den in der Luft zitternden Rest der Witterung zu finden. So gelangte ich an eine Wand, die sie emporgeklommen waren. Sie hatten dem Entführten dazu die Fesseln abnehmen müssen. Ich wunderte mich nicht darüber, daß er ihnen aus freien Stücken folgte – für ihn gab es ja keine Umkehr. Ich kletterte auf der deutlichen Spur hinauf, spürte die dreifache Witterung auf dem erhitzten Gestein. Senkrecht ging es empor, über Felsvorsprünge, durch Rinnen und Risse, es gab kein graues Moosbüschel, keine noch so winzige Spalte, die in der überhängenden Wand dem Fuß nicht flüchtig Halt geboten, die die Flüchtlinge nicht als Stufe benutzt hätten, wenn sie manchmal an den schwierigsten Stellen
verharrten, um den weiteren Weg auszumachen. Dort nämlich verstärkte sich jedesmal die Witterung. Ich selbst stürmte hinauf und berührte dabei kaum den Felsen. Ich fühlte meinen Puls stärker gehen, mein Inneres spielte und sang in der herrlichen Jagd, diese Männer waren nach meinem Maße, ich empfand für sie Bewunderung, zugleich aber Freude, denn was immer sie vollbracht hatten bei diesem halsbrecherischen Aufstieg, zu dritt und durch ein Seil gesichert, dessen Jutegeruch noch an den scharfen Kanten des Gesteins haftete, ich wiederholte es allein und leicht, und nichts konnte mich von diesem Pfade stürzen, auf dem ich gen Himmel strebte. Auf dem Gipfel packte mich ein heftiger Sturm, der messerscharf über den Grat pfiff. Doch ohne mich umzublicken, ohne das grüne Land zu betrachten, das sich unten bis zu den blau in der Luft verdämmernden Horizonten erstreckte, jagte ich auf dem Grat hin und her, suchte ich die Spur, bis ich sie in einer winzigen Ritze wiederfand. Eine weißlich gesplitterte Bruchstelle zeigte dann den Ort an, wo einer der Verfolgten abgestürzt war. Ich beugte mich über den Rand und sah eine kleine Gestalt in der Mitte des Steilhangs liegen. Mein scharfer Blick erkannte auch die dunklen Spritzer auf dem Kalkstein, es war, als sei dort für einen Augenblick ein blutiger Regen gefallen. Die anderen waren auf dem Grat weitergegangen, und bei dem Gedanken, daß für mich nur noch ein Gegner geblieben war, der Arrhodes bewachte, erfaßte mich Bedauern, denn noch nie hatte ich die Bedeutung meines Tuns so tief empfunden, noch nie eine solche Kampfesgier verspürt, die mich zugleich ernüchterte und berauschte. Ich lief also den Hang hinab, denn diese Richtung hatten die Flüchtlinge eingeschlagen, ohne sich um die Leiche dort im Abgrund zu kümmern, sie waren ja in Eile, und sein Tod war offensichtlich. Ich näherte mich einem Felsentor, das an eine riesige Kirchenruine erinnerte, von der nur die mächtigen Pfeiler des zertrümmerten Portals, das Strebewerk der Seitenwände und ein einziges Fenster erhalten waren. Durch das letztere schien der Himmel, und davor stand, des eigenen Heldentums nicht bewußt, ein schlankes Bäumchen, einem Samenkorn entwachsen, das der Wind in eine Handvoll Staub gesät hatte. Hinter dem Tor öffnete sich ein weiterer, höherer Talkessel, nebelverhangen, überwölbt von einer schweren Wolkendecke, aus der kleine funkelnde Schneeflocken fielen. Aus dem
Schatten, den die Felsenbastei warf, vernahm ich ein Rieseln, dann ein Dröhnen, und eine Steinlawine donnerte den Hang herab. Das Geröll stieß mich, daß mir Rauch und Funken aus den Seiten stoben, doch ich preßte mich in eine Höhlung hinter einem Himbeerstrauch, zog die Beine an und wartete gefahrlos ab, bis der letzte Stein vorüber war. Mir kam der Gedanke, der Verfolgte, der Arrhodes mit sich führte, könne diesen Ort absichtlich gewählt haben, um mich, die ich die Berge nicht kannte, in der Lawine zerschellen zu lassen. Obgleich es nur eine unbedeutende Möglichkeit war, so machte es mich doch froh, denn wenn der Gegner nicht nur auswich und Haken schlug, sondern angriff, dann war er des Kampfes würdiger. Auf dem schneebedeckten Grunde des Kessels stand ein Gebäude, halb Haus, halb Burg, errichtet aus schwersten Felsblöcken, die selbst ein Riese nicht von der Stelle gerückt hätte. Das mußte der Schlupfwinkel des Feindes sein, wo hätte er sonst sein können in dieser Einöde. Ohne mich weiter an die Fährte zu halten, ließ ich mich hinabgleiten, die Hinterbeine in den Gesteinsschutt grabend, mit den vorderen gleichsam über die kleinen Splitter schwimmend und mit. den mittleren die Fahrt bremsend, damit sie nicht in den Sturz überging. Wo die Schneedecke begann, schritt ich geräuschlos weiter und prüfte bei jedem Schritt, ob sich nicht eine bodenlose Spalte auftat. Ich mußte überlegt handeln, denn der andere wußte, daß ich über diesen Paß kommen würde. Daher näherte ich mich nicht zu sehr, und um nicht aus dem wehrhaften Gebäude gesehen zu werden, drückte ich mich unter einen pilzähnlichen Felsbrocken und wartete geduldig auf die Nacht. Es dämmerte rasch, aber es schneite immer noch, und die Dunkelheit hatte einen hellen Schimmer. Daher wagte ich es nicht, mich dem Gebäude zu nähern, sondern legte nur den Kopf auf die gekreuzten Beine, um es im Auge zu behalten. Nach Mitternacht hörte der Schnee auf zu fallen, ich schüttelte ihn nicht von meinem Körper, denn er machte mich der Umgebung ähnlicher und leuchtete im Mondschein, der durch einen Wolkenriß fiel, wie ein Hochzeitskleid, das ich niemals getragen hatte. Langsam kroch ich auf die verschwommene Silhouette; des Anwesens zu, ohne das Fenster im Obergeschoß aus dem Auge zu lassen, aus dem ein gelblicher Schein glomm. Ich mußte dazu die schweren Lider senken, denn ich war an die Dunkelheit gewöhnt, und
das Mondlicht blendete mich. In dem schwach erleuchteten Fenster glaubte ich einmal eine Bewegung zu sehen, als sei ein großer Schatten an der Wand entlanggehuscht, ich kroch daher schneller vorwärts, bis ich an das Mauerwerk gelangte. Meter um Meter klomm ich hinauf, es war nicht schwierig, denn die Fugen waren nicht verschmiert, die Steinblöcke nur durch ihre gewaltige Last fest verbunden. So kam ich zu den untersten Fenstern, schwarzen Maueröffnungen, gleichsam bestimmt für die Aufnahme von Kanonenschlünden. Dunkelheit und Leere gähnten aus ihnen, auch drinnen herrschte eine Stille, als sei der Tod seit Jahrhunderten der einzige Bewohner. Um besser sehen zu können, schaltete ich meinen Nachtblick ein, steckte den Kopf in die steinerne Kammer und öffnete die leuchtenden Augen an den Antennen. Ein phosphoreszierender Glanz erhellte den Raum. Gegenüber erblickte ich einen verrußten Kamin aus rauhen Platten, darin längst erkaltete Kloben und angekohltes Reisig. An der Wand sah ich eine Bank und verrostetes Werkzeug, eine zerdrückte Lagerstatt und in der Ecke irgendwelche Steinbrocken. Es erschien mir seltsam, daß der Eingang so ungeschützt war, ich traute der einladenden Leere nicht, obwohl oder vielleicht auch gerade weil im Innern eine Tür offenstand. Ich witterte eine Falle und zog mich so lautlos, wie ich gekommen war, zurück, um den Aufstieg fortzusetzen. Ich dachte nicht daran, mich dem Fenster zu nähern, aus dem der dämmrige Schein fiel. Endlich gelangte ich auf das Dach. Wie ein Wachhund legte ich mich auf seine verschneite Fläche, um den Tag abzuwarten. Ich hörte zwei Stimmen miteinander sprechen. verstand jedoch nichts. Unbeweglich blieb ich liegen, harrte voller Sehnsucht und voller Angst des Augenblicks, da ich mich auf den Feind stürzen würde, um Arrhodes zu befreien. In angespannter Reglosigkeit malte ich mir den Verlauf des Ringens aus, das mit dem tödlichen Stich sein Ende finden würde. Gleichzeitig aber horchte ich in mein Inneres, suchte dort jetzt nicht mehr die Quellen des Willens, sondern forschte nach einem noch so schwachen Zeichen, das mir zu erkennen gab, ob ich nur einen einzigen Menschen töten würde. Ich weiß nicht mehr, wann diese Angst von mir wich. Unsicher, in Unkenntnis meiner selbst lag ich da, aber gerade diese Unklarheit, ob ich als Erlöserin oder als Mörderin kommen würde, war etwas, was ich bisher nicht gekannt hatte, etwas Neues, das ich nicht
verstand, das jede meiner Bewegungen mit einer rätselhaften Unschuld erfüllte und das mich in Entzücken versetzte. Über dieses letztere war ich nicht wenig erstaunt, und ich fragte mich, ob sich nicht gerade in ihm die Weisheit meiner Schöpfer offenbarte: Sie hatten es doch so eingerichtet, daß ich eine Allmacht darin erblicken konnte, Hilfe oder Verderben zu bringen. Allerdings war ich dessen nicht sicher. Von unten drang plötzlich ein kurzer Lärm herauf, ich hörte das Stammeln einer Stimme und einen dumpfen Fall wie von einem schweren Gegenstand. Dann war es still. Ich ließ mich vom Dach herab, indem ich den Vorderteil des Körpers gegen die Wand preßte und mich mit dem hintersten Beinpaar sowie der Tülle des Stachels an der Traufe hielt. So herabhängend, näherte ich mich, vor Anstrengung mit dem Kopf pendelnd, der Fensteröffnung. Die Kerze war auf den Boden gefallen und erloschen, nur ihr Docht glomm noch. Mit meinen Nachtaugen erblickte ich unter dem Tisch einen Rumpf, von Blut überströmt, das in diesem Licht schwarz aussah. Obwohl alles in mir nach dem Sprung verlangte, schnupperte ich erst noch in die nach Blut und Stearin riechende Luft: Dieser Mann war mir fremd. Demnach war es zum Kampf gekommen, und Arrhodes hatte ihn vor mir getroffen – ich kam nicht dazu, darüber nachzudenken, wie, weshalb und wann, denn das Bewußtsein, nun mit ihm, dem Lebenden, allein in diesem leeren Haus zu sein, traf mich wie ein Blitzschlag. Ich bebte, Braut und Mörderin, gleichzeitig aber sah mein Auge, das ganz ruhig war, einen gleichmäßigen Krampf über den großen Körper laufen, der seinen letzten Atemzug tat. Jetzt also fortgehen, in aller Stille, hinaus in die schneebedeckte Bergwelt, nur nicht mit ihm unter vier Augen bleiben, unter sechs Augen, verbesserte ich mich, verurteilt zu auswegloser Schrecklichkeit und Lächerlichkeit. Und es war das Gefühl des Hohns, das die Schale zum Sinken brachte, es trieb mich vorwärts, daß ich, immer noch kopfüber hängend wie eine lauernde Spinne, herabglitt, ohne darauf zu achten, daß die Bauchschuppen über das Fensterbrett rasselten, mit einem gewandten Sprung über den Leichnam hinwegsetzte und zur Tür gelangte. Ich weiß nicht, wie und wann ich sie aufstieß. Jenseits der Schwelle war eine Wendeltreppe, darauf lag rücklings Arrhodes. Der Kampf mußte auf dieser Treppe stattgefunden haben, deswegen war davon fast nichts zu
mir gedrungen. Er lag also nun hier zu meinen Füßen, sein Brustkorb hob und senkte sich, jetzt sah ich seine Nacktheit, die ich mir damals nur vorgestellt hatte. Er röchelte, ich sah, wie er versuchte, die Lider zu heben. Sie öffneten sich, die Augäpfel erschienen. Mit zurückgebogenem Leib blickte ich von oben in sein abgewandtes Gesicht, ich wagte nicht, ihn zu berühren noch mich zurückzuziehen. Solange er lebte, war ich meiner nicht gewiß, obgleich er mit jedem Atemzug Blut verlor. Ich sah jedoch sehr wohl, daß meine Pflicht bis zum letzten Augenblick reichte, das königliche Urteil mußte auch in der Agonie vollstreckt werden, also konnte ich nichts riskieren, da er immer noch lebte, und ich wußte nicht, ob ich wirklich sein Erwachen wünschte. Hätte er mich erblickt, wie ich über ihm stand, mit der Geste des Gebets, kraftlos, aber immer noch todesträchtig, schwanger nicht von ihm – wäre das eine Hochzeit oder nur deren grausam geplante Parodie gewesen? Er erlangte jedoch das Bewußtsein nicht wieder. Das Schneetreiben heulte durch die Fenster des Hauses, und als mit stiebenden Schwaden funkelnder Flöckchen das Morgengrauen zwischen uns trat, stöhnte er noch einmal laut und hörte auf zu atmen. Beruhigt legte ich mich neben ihm nieder, schmiegte mich an ihn, umschlang und umarmte ihn. So blieb ich in Licht und Dunkel zwei Tage liegen. Der Schneesturm breitete über uns ein Laken, das nicht taute. Am dritten Tag brach die Sonne hervor. Aus dem Polnischen von Hubert Schumann
Marek Pąkciński Das Duell
Hermi entfuhr ein saftiger Fluch. Der Fuß im schweren Stiefel des Raumanzugs war abgerutscht – beinahe hätte er den Griff losgelassen und wäre hilflos in das All geschwebt, über sich die strahlenden Gestirne, unten die gierigen Wogen eines Ozeans von Wolken. Was für ein hinterhältiger Planet! Hermi beendete gerade das Schweißen, er verwünschte den Gedanken, ausgerechnet an diesem Tage diesen Spaziergang auf dem Panzer zu unternehmen und bei der Gelegenheit das zu erledigen, was die Aufgabe eines Roboters gewesen wäre. Die Funken sprühten und färbten die Außenhaut der Station violett. Bald war der Riß von einer erstarrenden Metallschicht bedeckt. Hermi klammerte sich fester an den Haltegriff und zog sich unbeholfen hinauf. Nur schnell zur Schleuse, wo keine Gefahr mehr drohte! Flüchtig blickte er hinunter auf den rotbraunen Dunst der Atmosphäre, dann durch eine gelb und rot glühende, opalisierende Schicht hinauf zum sternenübersäten Himmel. Dort irgendwo in diesen schrecklichen Schlünden der Schwärze funkelte die Sonne. 325 Lichtjahre entfernt… Dort waren die Heimatstadt, die Freunde, Helen. Longa hieß der düstere Ort an der Peripherie der Galaxis. Düster war er und unheilverkündend. Was mochten sich die Wissenschaftler gedacht haben, als sie die Praktikanten auf so isolierte Posten entsandten? Nur alle sechs Monate kam ein Raumfahrzeug von der Erde – und das war auch ganz gut so. Hermi war mit Arbeit überlastet. Auf normalen Stationen hatte ein Arbeitstag zwölf Stunden, hier jedoch achtzehn. Und als hätte es nicht mit den Meteoriten genug Ärger gegeben, lieferte der weiße Zwerg, jener Stern, um den »sein« Planet kreiste, ständig Beobachtungsstoff: Explosionen fanden statt, der Himmelskörper überzog sich mit Flecken und stieß Gaswolken aus. Zum Verrücktwerden! Ohne den Phantomator wäre ich längst wahnsinnig geworden, dachte Hermi. Auf die Frage, was ein Phantomator sei, hätten die Kybernetiker geantwortet: »Ein hochspezialisiertes Elektronenhirn, das imaginäre Situationen gestaltet und sie mit Hilfe von Elektroden auf das menschliche Gehirn überträgt.« Hermi kannte sich damit nicht aus, er wußte nur, daß der Phantomator eine feine Sache war, deren Benutzung den Kosmonauten – im Gegensatz zu Narkotika – nicht verboten war, sondern geradezu empfohlen wurde. Durch den Phantomator konnte
man jederzeit ein Kepler, ein Cäsar oder ein Napoleon werden. Auch jetzt lächelte Hermi bei dem Gedanken, daß er gleich vor dem Steuerpult des Geräts Platz nehmen würde. Durch die quadratische schwarze Einstiegsöffnung betrat er die Schleuse. Sorgfältig schloß er die Klappe, dann ließ er Luft einströmen und legte den Raumanzug ab. Hermi war »zu Hause«. Um zu seiner Kabine zu gelangen, folgte er einem kreisförmigen Korridor, der an der äußeren Seite Bullaugen, an der Innenwand jedoch Türen mit schwarzen Aufschriften hatte: »Chemielabor«, »Astrophysikalisches Labor«, »Solarisches Labor«. Die letzte Tür auf dem Gang stand offen, dort war Juno Hermis Kabine. Der Praktikant setzte sich auf sein Bett, das mit einer knisternden Folie überzogen war, und schaute das darüberhängende Bild Helens an. Ach, Helen, dachte er, wenn du wüßtest, wie einsam ich hier bin. Mit einer heftigen Bewegung stand er auf und ging auf den Korridor. Dort trat er an eines der Bullaugen heran und bohrte den Blick in die Düsternis. Wolken, nichts als Wolken. Angewidert spuckte er aus. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Auf seinem Weg bemerkte er einen kleinen schwarzen Gummiball. Er kickte ihn weiter und lief ihm nach, als wollte er sich in den Strom vergangener Jahre stürzen. Keuchend blieb er stehen und begann eine Melodie zu pfeifen, die er einst gehört hatte. Als er daran dachte, wie finster es vorhin draußen auf dem Panzer gewesen war, wurde ihm leichter ums Herz, er lachte laut auf. Dann stellte er fest, daß er vor der Tür des kybernetischen Labors stand. Überrascht betrachtete er die Losung: »Hoch der Phantomator«, die er selbst mit einem Lippenstift, einem Andenken an Helen, darangeschrieben hatte. Er drückte die Klinke nieder und betrat einen großen Raum. Er war mit Haltebolzen an der Vorderwand befestigt, ein unpersönliches Äußeres, ein Konglomerat von Halbleitern, und doch wie wertvoll und wie gut! Der Phantomator. Hermi setzte sich und fühlte die kalte Berührung der Elektroden an den Schläfen. Afrika, Entstehungszeit der Zivilisation, befahl er in Gedanken. Gleich darauf zerfloß die Wirklichkeit, und es erschienen scharfe, deutliche Bilder. Rings um Hermi wucherte undurchdringlicher, jungfräulicher Urwald. Papageien kreischten, am wolkenlosen Himmel zog goldgelb der
Sonnenball dahin. Die nackten schwarzen Füße der Priester stampften die hohen Grasbüschel nieder. Der Medizinmann erbebte und warf einen flammenden Blick gen Himmel. Er schrie auf und vollführte mehrere Sprünge, sein Gesicht verzog sich zu einer sonderbaren Grimasse. Der Kranz, den er in der Hand hielt, gab ein durchdringendes Klirren von sich. Der Medizinmann tanzte, er schrie und tanzte wie in Trance. Bald wurden auch die anderen Angehörigen des Stammes in den Strudel der Ekstase gerissen, in einen Strudel des Vergessens, wo die Sorgen des Alltags sich auflösten in pausenloser, verzückter Bewegung, im Rhythmus der Trommeln, im Tanz. Sie tanzten, so lange der Atem reichte. Schließlich warfen sie sich zu Boden, nur der Medizinmann des Stammes blieb auf dem Kultplatz. Er schwenkte die Arme und stieß unverständliche Schreie aus. Bis in die Dämmerung setzte er seinen Tanz fort, dann trat ein anderer Eingeweihter an seine Stelle… In diesem Augenblick wählte Hermi ein anderes Thema für seine Visionen: »Die Ruinen der Mayatempel von Copán in Honduras«. Nun war er in einer Welt, ganz anders als die vorhergehende. In der Nähe rauschte ein Fluß, und Hermi stand am Fuße eines in Stufen sanft ansteigenden Hügels, der dicht mit Gras bewachsen war. Erst eine Weile später fand er heraus, daß es ein uraltes Bauwerk war, eine Pyramide, von Kaffeesträuchern überwuchert. Er fühlte die Last der Jahrtausende auf der Gegend ruhen – im Raunen des Grasmeeres, in den schäumenden Wellen des Flusses, in den Vögeln, die hoch oben ihre Kreise zogen unter einer wie Edelmetall glühenden, silbrigen Sonne. Das war wirklich eine Sonne, nicht so ein häßlicher Zwergstern wie hier auf der noch abscheulicheren Longa! Hermi fühlte sich auf einmal wieder erschreckend einsam. Auge in Auge mit der Zeit, dachte er. Ja, das war gut. Die Zeit, dieser große, unumkehrbare Strom, der erst die Menschen ergreift und dann ihre Werke… Er sah die aufragenden uralten Säulen mit der unverständlichen Hieroglyphenschrift an, die umherliegenden Steine, die im Gras verstreut waren wie gebleichte Knochen, Abfälle der Arbeit jener alten Steinmetzen. Er wollte los von dieser Welt. Ein einziges Wort genügte.
Wieder eine andere Welt. Ein anderer Himmel, die Erde… Hermi spürte in der Faust den kalten Griff eines Schwertes. Er schritt vorwärts. Hinter ihm schlugen Tausende gepanzerter Beine den Takt. Die erste Linie der Feinde näherte sich. Schon waren unter den Helmen die einzelnen Gesichter zu erkennen, erstarrt in einem stumpfen Ausdruck des Hasses. Wie lange noch? Drei Meter, zwei Meter, klirrende Schläge von Eisen. Die Schlacht. Das Stöhnen der Verwundeten wie die furchtbare Wehklage des Todes selbst. Blut unter den Füßen. Krieg. Plötzlich wurde Hermi von jenem seltsamen Gefühl gepackt, das fast jedem Kosmonauten bekannt ist. Wahrscheinlich entsprang es der Einsamkeit: Hermi hatte auf einmal Lust, die Schaltungen des Phantomators durcheinanderzubringen, dessen Ordnung zu stören, damit er nicht mehr wie ein ergebener, anstelliger Diener jedem Rufe folgte, jeden Auftrag des Menschen erfüllte. Er sollte endlich einmal zaudern, in Verwirrung geraten! Hermi gab widersprüchliche Befehle. Die Bilder gerieten durcheinander und verwischten sich, ein fürchterliches, wüstes Chaos entstand. Das war wie eine Herausforderung, ein hingeworfener Fehdehandschuh. Von diesem Augenblick an war der Mensch ein Feind. Nein, nicht Feind – Gegner in einem Spiel. Ein Gegner, den man nicht töten, aber besiegen konnte. Hermi hörte ein Summen und sah auf: Er saß ganz normal in der Kabine des Phantomators an Bord der wie üblich um die Longa kreisenden Raumstation. »Übermüdung«, murmelte er vor sich hin, »das war zu erwarten.« Nachdem er die kalte Krone der Elektroden abgenommen hatte, erhob er sich und schaltete die Sicherung ein. Er entschloß sich, seine Zeit anders zu verbringen, nicht vor dem Phantomator. Auf dem emailleglänzenden Gang spürte er, daß ihn das Wohlgefühl verlassen hatte und er es trotz verzweifelter Anstrengungen nicht wiedererlangen konnte. Hermi trat an eins der Bullaugen heran. Hinter der dicken Scheibe aus einem organischen Material glühte hitzesprühend wie ein rundes Ofenloch der kleine Stern, weiter unten schob sich mit der räuberischen Bewegung eines schlüpfrigen Salamanders eine Wolkenkette vorbei. Als Hermi den Blick von der Landschaft abwandte, tanzten ihm bunte Ringe vor den Augen. Eine übertrieben grelle Welt!
Plötzlich durchfuhr ihn ein eigentümlicher Gedanke. Er war sonderbar und erschreckend: Wenn er nun noch immer unter dem Einfluß des Phantomators stand? Wenn dieser Gang, das Bullauge, der Zwergstern, die Wolken, der Kaktus in dem dreieckigen Topf – wenn all das Einbildung war? Je heftiger er diesen Gedanken abzuwehren suchte, um so stärker wirkte er auf sein Bewußtsein. Dann entschloß er sich, die Probe aufs Exempel zu machen. Es gab ein Mittel, das den Bluff unfehlbar ans Tageslicht bringen würde. Hermi brauchte in dem Hauptgang, der die Station ringförmig umlief, nur einige Runden zu drehen, und das Rätsel war gelöst. Ohne zu zögern, setzte er sich in Bewegung, erst langsam, gewissermaßen mit Bedacht, dann immer schneller. Dem eigenen Bewußtsein entrückt, jagte er wie ein Irrer den Korridor entlang und machte erst halt, als er einen Schmerz in der Herzgegend spürte. Die Ermüdung! Das konnte darauf hindeuten, daß er nicht von Hirngespinsten umgeben war. Und doch… Die sonderbare Vermutung wuchs in ihm zur Gewißheit. »Du willst mich unterkriegen?« stieß er flüsternd, mühsam hervor. »Das soll dir nicht gelingen.« Seine Wange zuckte nervös. Ruhig bleiben! Nur mit Ruhe und Logik konnte er der Lage Herr werden. Hermi setzte sich. Das wilde Klopfen seines Herzens ließ nach. Übrigens gab es ja noch ein besseres Mittel für seine Prüfung: Auf der kleinen Laufbühne, die sich außen um die Station zog, hatte er den Schweißbrenner liegenlassen. Der Phantomator konnte das nicht wissen, es war zu belanglos. Er konnte es eigentlich bestimmt nicht wissen. Lag der Brenner dort draußen, dann war um Hermi Wirklichkeit, war er nicht da, dann träumte er nur. Er stand auf, ging langsam zu der gelben Schleusentür, öffnete sie mit einem behutsamen Druck auf die Klinke und trat hinein. Vom Haken nahm er den steifen Raumanzug, legte ihn an und schloß die Dichtungsmanschetten an den Stiefeln. Bevor er den runden Helm festschraubte, dachte er daran, wie ungern er hinausstieg. Trotzdem öffnete er die Schleusenluke, ließ die Luft ab und quälte sich lange mit der Verriegelung der Hauptklappe herum. Als er endlich damit fertig war, spürte er im Kopf einen leichten Schwindel, der aber gleich vorüberging. Fest packte er den Stahlgriff und ließ sich auf die Laufbühne hinab. Dabei schaute er nicht in die Tiefe. Wozu auch? Sollte er sich zum hundertsten Male dasselbe ansehen? Das ging über seine
Kraft. Er hielt sich an dem Panzer fest und folgte wie ein Mondsüchtiger dem leicht gekrümmten Profil der Raumstation. War es nicht hier gewesen? Nein, ein Stück weiter, hinter dem sechsten Bullauge. Eins, zwei, drei, vier, fünf… Hier. Nun? Von dem Schweißbrenner keine Spur. Also doch! Da hörte er hinter sich ein metallisches Schlurfen, neben ihm blieb etwas stehen. Mit Mühe wandte er sich um – da stand ein zylinderförmiger Reparaturautomat und zielte mit dem oxydierten Röhrchen des Brenners gerade auf den Helm des Astronauten. Hermi sah genau hin: Ja, das konnte sein Brenner sein. »Was tust du hier, Mensch?« fragte der Automat. Woher ist er so klug? dachte Hermi. Soviel ich weiß, haben Reparaturautomaten… »Und du?« fragte er, ohne ganz bei der Sache zu sein. »Ich habe den Auftrag, die Schutzplatten über dem zentralen Raum der Station auszuwechseln. Was machst du auf dem Panzer?« »Ich suche einen Schweißbrenner.« »Einen Schweißbrenner? Den, der hinter dem sechsten Bullauge lag?« »Ja.« »Ich habe ihn genommen, um meinen Auftrag auszuführen.« »Kannst du ihn mir mal zeigen?« »Selbstverständlich.« Der schwarze Greifer des Automaten fuhr aus dem Körper und hielt ihm den glänzenden Metallgegenstand vor die Nase. Hermi ergriff ihn und betrachtete ihn genau. Ja, es war eindeutig derselbe. Er gab ihn dem Roboter zurück. »Darf ich jetzt meinen Auftrag ausführen?« »Ja.« »Paß auf dich auf, Mensch!« Der Sinn dieser Worte wurde Hermi erst später bewußt. Was hat er gesagt? Paß auf dich auf? Hahaha! Das ist wirklich gut! Hahaha! Hermi hatte einen Automaten nie zuvor so etwas sagen hören, deshalb hätte er – schon zum zweiten Male an diesem Tag – um ein Haar unter recht dramatischen Umständen die Laufbühne verlassen. Danach, als er an das noch immer ungelöste Rätsel dachte (daß der Roboter den Brenner
gebracht hatte, konnte ja ebensogut eine Art Verteidigungsreaktion des Phantomators ein), versank er in Apathie. Hermi griff nach dem kalten Panzer der Station. »Materiell, eindeutig materiell«, flüsterte er, um sich selbst zu überzeugen. Den Wolken warf er einen haßerfüllten Blick zu. Ohne jede Empfindung, fast wie ein Automat, kroch er in die Luke. Mit der Verzweiflung eines völlig erledigten Menschen schloß er die Hauptklappe und drehte die Muttern fest. Mit gewohnheitsmäßiger Pedanterie vollzog er das ganze Ritual, das mit dem Betreten der Station verbunden war. Schließlich stand er in dem sterilen Korridor, dessen makelloses Weiß das Auge blendete. Wie in einer Klinik, dachte Hermi gereizt. Schwankend schritt er weiter, wie am Rande eines Abgrunds, in dem das Sein ausgelöscht ist. Aber ja! Das Sein auslöschen, ins Nichts versinken! Das war der letzte Fluchtweg. Er ging in seine Kabine, zog die Schublade seines Nachtschränkchens auf und entnahm ihr einen in silbrige Folie gehüllten Gegenstand. Es war eine Pistole, eine altmodische, für seine Zwecke jedoch brauchbare Waffe. Ein kurzer brünierter Lauf, der Kolben, darin verborgen das Magazin. Sorgfältig wickelte Hermi die Folie auseinander. Lange betrachtete er die Pistole, als wollte er sich am Vorgeschmack des Todes erfreuen. Schließlich ergriff er das kalte Metall und schaute in die schwarze Mündung. Sein Blick fiel auf Helens Foto. Leb wohl, Helen, dachte er. Auf einmal packten ihn Zweifel an der Richtigkeit seines Vorhabens. Einen Schritt vor dem Abgrund machte er halt. »Sein oder Nichtsein« – die Worte des großen Dichters trafen auch auf seine Lage zu. Er legte die Pistole beiseite. Dazu habe er immer noch Zeit, dachte er. Er stand auf und ging hinaus. Wohin? In das kybernetische Labor. Der Phantomator war ein Laster, ein scheußliches, ebenso berauschendes wie verderbliches Laster. Wieder war er in der merkwürdigen Welt der Visionen, die ihn diesmal jedoch mit Furcht erfüllten. Er sah sich selbst erst ohne Besinnung im Sessel vor dem Phantomator liegen, dann in das Laboratorium hereinkommen. Die Zeit lief offenbar rückwärts. Die Bilder vermehrten sich, rasten mit zunehmender Geschwindigkeit durch sein Gehirn – er versuchte sie nicht einmal zu verstehen, so rasch flogen sie vorbei. Am Ende flossen sie zusammen in einen sausenden Strom, den unumkehrbaren Lauf der Zeit. Hermi fühlte, daß er fiel, sich immer
weiter von der Wirklichkeit entfernte. Er bekam keine Luft und fiel und fiel! Dort unten, irgendwo auf dem Boden des Abgrunds, erwarteten ihn Leere und Vernichtung, das Nichts. Verzweifelt suchte er eine der vorbeihuschenden Wirklichkeiten zu packen, vergebens. Nur eine Wand, ein rasender, reißender Strom, das Heulen des Falls! Nein, nein, er hielt es nicht länger aus! Plötzlich platzte etwas wie ein dünnes, durchsichtiges Häutchen. Alles wurde still, und ein roter Nebel trübte den Blick… Vier Monate später kam das Raumschiff. An Bord waren Menschen von der Erde, energische Leute voller Enthusiasmus, die des blauen Himmels und der wogenden grünen Felder überdrüssig waren. Sie schauten aus den Bullaugen ihrer durch die Leere schwebenden Festung und zeigten einander die purpurrote Scheibe des Planeten. Dann wunderten sie sich, weil sie die Peilung nicht von Juno, sondern von einem Automaten erhielten. Schließlich landeten sie auf der schwarzweißen Plattform der Station. Sie traten an die Luke heran und lauschten, hörten aber nichts als das leise Rauschen des flüssigen Sauerstoffs in den Rohrleitungen der Station. »Juno! Melde dich!« rief einer von ihnen, Francisco, ins Mikrofon. »Warum ist er denn so ungastlich, dein Juno?« fragte der Kommandant des Raumschiffs. »Er wird sich wohl gleich melden.« Sie beschlossen, durch die Reserveluke einzusteigen. Mit Mühe lösten sie die Verriegelung und traten ein. Rufend liefen sie durch die Gänge. Nichts. Der Kommandant ordnete an, die Station zu durchsuchen. Francisco gelangte zum kybernetischen Labor. Leise öffnete er die Tür. Über die Lehne des Sessels vor dem Phantomator ragten einige Büschel dunklen Haars. Das war Juno. Francisco rief die anderen, die gesamte Besatzung lief zusammen. Der Arzt untersuchte den Liegenden. »Der Tod ist vor vier Monaten eingetreten«, stellte er fest. »Hast du sein Gesicht gesehen?« »Ja, das Gesicht eines Menschen, der an der Grenze der Widerstandsfähigkeit angelangt ist.«
»Wie konnte das nur geschehen?« flüsterte der Kybernetiker und beugte sich über den Leichnam. Seiner Instrumententasche entnahm er ein Meßgerät für den Informationsfluß. »Ich hab es!« rief er plötzlich aus. Die anderen sahen ihn überrascht an. »Die Aufnahmefähigkeit seines Gehirns als Durchlaßkanal, ich wiederhole: als Durchlaßkanal für die Informationen aus dem Phantomator, war zu gering. Deshalb mußte er sterben. Der Phantomator hat ihn ganz unbeabsichtigt umgebracht, indem er ihm zu viele Informationen lieferte. Auf sein Geheiß übrigens.« Noch im selben Jahr wurde die Benutzung von Phantomatoren auf Raumstationen verboten. Damit waren die Besatzungen zu völliger Einsamkeit verurteilt. 1973
Aus dem Polnischen von Hubert Schumann
Jana Moravcová Grüner Kümmel
Früh am Morgen begann es. Er stand in der Dämmerung auf, ging mechanisch in die Küche und tastete mit noch verklebten Augen nach der Teekanne. Er langte über die Tischecke zum Ofen, und dabei hatte er das Gefühl, als schöbe etwas leicht seine Hand zurück. Als würde sie sacht weggepustet. Er versuchte es noch einmal, aber das wiederholte sich nicht, und so frühstückte er und zog sich an. Als er die Hand auf die Klinke legte, blickte er sich noch einmal um, und da bemerkte er, daß auf dem Tisch jemand Kümmel verschüttet hatte. Doch er hielt sich damit nicht mehr auf. Er hatte ein ordentliches Stück Weg vor sich, und draußen war nicht gerade das beste Wetter. Eine Weile hörte man ihn noch halblaut schimpfen, dann rief jemand: »Josef!«, Hufe klapperten, ein Wagen rasselte, und in diesem Augenblick hatte Josef sowohl den Kümmel als auch das merkwürdige Gefühl vor dem Frühstück vergessen. Bis zum Abend. Durchnäßt und müde kehrte er zurück und hörte gleich im Korridor jemanden weinen. Er lief in die Küche. Seine Frau saß am Tisch, die Schürze vor den Augen. »Was ist denn los?« »Ich hab Angst.« »Na hör mal!« rief er ärgerlich aus. »Wovor denn?« »Ich weiß nicht.« »Das wird ja immer schöner. Willst du mir kein Abendbrot geben?« »Ich kann nicht in die Speisekammer«, antwortete die Frau schluchzend, »mich schiebt’s weg.« »Was schiebt dich weg?« »Ich weiß nicht.« Josef setzte sich neben seine Frau. Eine Weile überlegte er, schließlich sagte er: »Na!«, stand auf, griff ihr an die Stirn, schüttelte den Kopf und fragte verwundert: »Hast du Fieber?« Da begann die Frau hemmungslos zu weinen. »Außerdem kriecht bei uns im Haus Kümmel rum.« In diesem Augenblick fiel Josef der Morgen ein.
»Na und? Dann hast du eben Kümmel verschüttet, das ist es! Ich hab ihn auch heut früh auf dem Tisch gesehen!« Aber die Frau war nicht zu beruhigen und behauptete, sie habe keinen Kümmel rumgeschmissen, im Gegenteil, sie habe ihn über den Fußboden kriechen sehen, und es war kein normaler Kümmel, er war ganz grün, und sie konnte nicht in die Speisekammer. Josef schaute sich ratlos um, und da bemerkte er tatsächlich ein bißchen Kümmel, auf dem Fußboden verstreut. Und dieser Kümmel war wirklich grün. Es sah aus, als hätte jemand damit gespielt, er bildete ein sonderbares Muster. Josef stand auf und betrachtete den Kümmel. »Geh nicht dahin«, schrie seine Frau. Josef nahm einen Kochlöffel vom Tisch und langte damit vorsichtig nach dem grünen Kümmel. Nichts geschah. Also kauerte er sich daneben und wollte mit einer raschen Bewegung den Kümmel zu einem Häufchen zusammenkratzen. Da war ihm, als stieße er gegen eine Gummiwand. Die Luft federte, schob seine Hand zurück, und der Kümmel setzte sich in Bewegung. Einige Körnchen schwebten jetzt deutlich über dem Boden, und der Kümmel bildete nicht mehr nur ein flächiges Muster. Es war mehr eine räumliche Gruppierung. Josef wich zurück und sah ratlos zu seiner Frau hin. Lange starrten sie einander an, und als sie sich endlich entschlossen, wieder auf den Fußboden zu blicken, war der Kümmel nicht mehr dort. Bis zum Morgen ereignete sich nichts. Weder Josef noch seine Frau schliefen, und gegen Morgen entsann sich Josef irgendwelcher Muster aus Eisenspänen und des Magnetfelds, er sagte, er fange an, das zu verstehen, und holte seinen Neffen, der Physik studierte. Der Neffe vermutete, sein Onkel habe am Tag zuvor einen zuviel getrunken. Zudem war der Kümmel nirgends zu finden, und so blieb nichts übrig, als den Gedanken an die Enthüllung des Wunders aufzugeben und arbeiten zu gehen. Die Frau öffnete mit gewissen Befürchtungen die Speisekammertür, aber diesmal schob nichts sie
zurück, sie schnitt ruhig Brot für Josef und den Neffen auf, bestrich es mit Butter und legte es auf den Tisch. Der Neffe aß, dankte und empfahl sich mit einem spöttischen Lächeln. Wenige Minuten später kam er wieder. »Von euch kann man nicht weggehn«, sagte er ziemlich verlegen und lächelte dümmlich. Die Frau fing nicht mal mehr an zu weinen. »Etwas hat mich zurückgeschoben, und ich hab’s nach allen Seiten versucht. Zehn Schritt weg vom Haus, und Schluß.« »Vielleicht könnte man aus dem Fenster rufen«, flüsterte die Frau. »Um Hilfe.« »Wie willst du das denn den Leuten erklären!« Josef winkte ab. »Und durch den Garten?« wandte er sich an den Jungen. »Auch nicht«, antwortete der Neffe, noch immer lächelnd, »sie haben uns gefangengenommen.« »Und das ist zum Lachen?« rief die Frau entsetzt aus. »Nein. Zum Lachen ist die ganze Physik. Seht mal!« Er öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Auf den sandbestreuten Wegen des Gartens waren auch von hier aus die Muster aus grünem Kümmel gut erkennbar. Der Neffe griff hinter sich und warf einen Löffel auf ein Muster. Er flog nicht bis hin, kam aber auch nicht zurück. Er rutschte ab, als schöbe ihn jemand vorsichtig von sich fort. »Und jetzt!« Der Neffe warf ein Papierknäuel. Damit geschah dasselbe. »Es reagiert auf jeden Stoff gleich.« »Reiz es nicht«, flüsterte die Frau. »Ach – das ist kein ES«, sagte der Neffe. »Und was ist es? Ein Magnetfeld?« fragte Josef. »Weiß ich nicht«, gab der Neffe zu und fragte, wo der Wasserschlauch sei. Es sah aus, als wäre das Haus in einer unsichtbaren Glasglocke „eingeschlossen. Das Wasser floß ein Stück hinter dem Fenster die
unbekannte Wand entlang, und als der Neffe den Schlauch nach oben richtete, kam der Wasserstrahl augenblicklich zurück. »Das ist das Ende«, sagte die Frau, setzte sich an den Tisch und schloß die Augen. »Das hat seinen Vorteil«, meinte Josef nach einer Weile. »Sie bewachen uns von draußen, und drin lassen sie uns in Ruhe. Glaubst du, daß das was Lebendes ist?« wandte er sich wieder an den Neffen. »Ich weiß nicht.« »Oder sind es Apparate?« »Weiß ich nicht. Ich setz es unter Strom«, antwortete der Neffe und suchte ein Kabel. »Das machst du nicht, denn das läßt nichts an sich ran. Und ich würde es dir auch nicht raten. Wenn es nun explodiert? Wenn es nun von einem anderen Planeten ist?« Der Neffe dachte nach, dann beugte er sich aus dem Fenster und pfiff. »Ja, das ist ein abgeschlossener Raum, dahinter werde ich überhaupt nicht gehört, da freß ich ‘nen Besen.« »Vielleicht wollen sie was von uns?« flüsterte die Frau, aber die Augen öffnete sie noch nicht. »Wenn das nun Kameras sind«, rief auf einmal der Neffe aus. »Betrachten wir’s doch logisch! Vorerst wollen sie mit uns nicht unmittelbar in Berührung kommen. Sie schieben alles von sich weg – und wenn sie das nun tun, damit niemand sie beschädigt? Na, und warum sollten sie uns sonst umzingeln? Wahrscheinlich brauchen sie Material über das Leben bei uns.« »Vielleicht«, meinte Josef, »aber vielleicht auch nicht. Das können lebende Wesen sein, die was von uns wollen.« »Und warum haben sie sich gerade auf euer Haus konzentriert? Habt ihr was Besonderes hier?« »Das wohl nicht.« Josef zuckte mit den Schultern. »Kommt, wir nehmen uns an der Hand und gehen alle drei hinaus. Wenn es denkende Wesen sind, lassen sie uns vielleicht durch.« Eine Weile herrschte Stille.
»Wenn wir nun nicht durchkommen?« fragte die Frau, aber endlich hatte sie die Augen geöffnet. Keiner antwortete ihr. Sie stellten sich also vor die Tür, nahmen einander an der Hand und gingen. Der Neffe preßte die Lippen zusammen und atmete heftig. Josef legte den Kopf ein wenig zur Seite, als fürchtete er Schläge ins Gesicht. Die Frau schloß wieder verzweifelt die Augen. Sie gingen etwa zehn Meter, und nichts geschah. Sie blieben stehen und sahen einander verständnislos an. »Sie haben uns durchgelassen«, sagte die Frau, erleichtert aufatmend. »Das will nichts heißen«, erwiderte der Neffe. »Vielleicht hat sich der Kreis hinter uns wieder geschlossen, das müssen wir feststellen. Ich geh zurück, mal sehen, ob ich durch kann.« Er ging zurück zum Haus. Dann kam er wieder zu ihnen. »Es ist weg«, sagte er erstaunt. »Nichts ist mehr da.« Er suchte im Gras, und gleich darauf schlossen sich ihm auch Josef und seine Frau an. »Schaut mal«, sagte der Neffe plötzlich und zeigte auf die Straße. Vor dem Haus standen ein paar Leute aus dem Dorf und sahen sie schweigend an. »Warum hat es auf euer Haus nicht geregnet?« fragte schließlich einer von ihnen. Josef blickte sich um. Tatsächlich. Die Dächer der anderen Häuser glänzten, die Wege waren eine einzige Pfütze – und nur um ihr Haus stach ein trockener Kreis in die Augen, der lediglich an einer Stelle etwas feucht war. Das war dort, wo der Neffe Wasser gespritzt hatte. »Klarer Fall!« Der Neffe strahlte. »Sie haben eine Kuppel über uns errichtet! Ich werd es mir nie im Leben verzeihn, wenn ich sie nicht finde!« Die Leute aus dem Dorf traten ein paar Schritte näher. »Sie waren also um euch herum?« »Waren sie«, sagte die Frau verstört. »Und wer?«
»Das – das wissen wir nicht«, gestand der Neffe. In der Menge lachte jemand. »Ich hatte Angst«, sagte die Frau. »Es ist schon weg.« Josef lächelte aufmunternd und reichte ihr die Hand. »Wir hatten nicht das Recht wegzulaufen«, jammerte der Junge, »wir haben keinen Kontakt mit ihnen aufgenommen.« Die Menge schob sich weiter vor. »Und wenn sie euch bestrahlt haben? Oder angesteckt?« Die Frau schrie auf. Dann trat Stille ein. »Gut, ruft einen Arzt«, stimmte Josef zu, aber das Ende des Satzes ging in plötzlichem Geschrei unter. Alle schrien. Alle aus dem Dorf, nur die drei standen schweigend da. Der Kreis um sie schloß sich. Wir müssen verschwinden, dachte Josef. Wir müssen hier weg. Zum Arzt oder zumindest ans Telefon. Aber vor allem ihnen aus den Augen. »Kommt, wir nehmen uns an der Hand«, schlug der Neffe wieder vor, »und gehn durch.« »Wer weiß, was für eine Krankheit die uns eingeschleppt haben!« »Wer weiß, was die hier überhaupt angestellt haben!« »Ordentliche Menschen haben solche Probleme nicht!« »Ordentlichen Leuten regnet’s aufs Haus!« Die Frau schloß wieder die Augen, und der Neffe preßte die Lippen zusammen. Josef wandte das Gesicht ein wenig zur Seite. Es war wie zuvor. Für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr ihn ein Glücksgefühl. Ihm schien, daß er mit dem Gesicht leicht an eine elastische Luftwand stieß. Doch es war der erste Stein, den sie geworfen hatten. Aus dem Tschechischen von Barbara Zulkarnain
Jaroslav Veis Vom Ursprung der Hoskovec-Hunde
Am Dienstag, kurz vor elf Uhr nachts, entschloß sich der Dozent Dr. Jindřich Hoskovec endgültig, nicht länger zu zögern. Sämtliche Versuche mit auserwählten Tierarten, vom Gliederfüßler bis zum Hund Biskuit, dessen zweites Exemplar im Verein mit seinem völlig identischen Vorbild schon seit längerem die Zeit der bedauernswerten Frau Hoskovcová beanspruchte, waren zur Zufriedenheit ausgefallen. Zwar ließ sich einwenden, jetzt, nach den Hunden, einige der Primaten vorzunehmen, einen Schimpansen etwa, doch Dozent Hoskovec konnte diese Testreihe unbesorgt überspringen. Erstens war ihm das Ergebnis ohnehin klar, zweitens war eine Gefährdung des Lebens ausgeschlossen – ganz im Gegenteil –, und schließlich war es weniger schwierig, einen geeigneten Menschen zu finden, als einen Affen aufzutreiben. Dozent Hoskovec lächelte selbstzufrieden. Endlich! Nach zwölf Jahren Arbeit – Arbeit? Zwölf Jahre knechtische Plackerei! – stand sein Apparat zur Verklonung des Menschen bereit. Seine Methode hatte bisher bei keinem Tierexperiment versagt. Große Leuchten der Wissenschaft hatten lange vor ihm von diesem erhabenen Augenblick geträumt. Steward mit seinen ins Monströse wuchernden Möhrenzellen. Gurdon, der sich mit schlüpfrigem Froschlaich abgab. Wer hätte geahnt, daß gerade in Prag-Vinohrady, im dritten Stockwerk des Biologischen Instituts, die Lösung gefunden würde? Von irgendeinem Hoskovec… Bloß, er mußte sich beeilen. Ein anderer konnte inzwischen ebensoweit vorgestoßen sein. Zum Beispiel dieser Vizner, dem mangelte es nie an kühnen Gedanken. Drei Wochen später würde das wissenschaftliche Kollegium des Instituts tagen. Bis dahin mußte Hoskovec es unbedingt schaffen. Aber wie dem Kollegium diese Entdeckung erklären? Als Homunkulus? Das klingt gruselig. Oder Schößling? Zu banal. Wahrhaftig, darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Schlicht und klangvoll müßte die Bezeichnung dieses Prozesses sein, den Kern der Sache treffend und für jeden Menschen leicht aussprechbar. Hoskovec erhob sich und öffnete den Hemdkragen. Der angenehme Gedanke, endlich am ersehnten Ziel zu sein, erwärmte ihn. Er schaute auf die Armbanduhr: zehn Minuten vor halb zwölf, Zeit also, nach Hause zu gehen.
Sein Blick wanderte durch das Laboratorium. Diese Giftküche wird man mir jetzt ordentlich einrichten. Ruhm ist Ruhm. Vielleicht erhalte ich einen Raum zusätzlich. Auch den Inkubator, um den ich seit drei Jahren bettele. Dann das Mikroskop. Eine dreifache Zuteilung von Aminosäure. Mehr Nukleinsäure, die reicht nie. Genügend Ribosen… Der Zorn packte ihn. Wenn ich sämtliche benötigten Materialien immer und rechtzeitig erhalten hätte, statt mehrmals im Monat pausieren zu müssen, weil diese oder jene Substanz fehlte, dann hätte mein Apparat schon vor zwei Jahren das Licht dieser Welt erblickt. Oder noch früher… Dozent Hoskovec zerdrückte die Zigarette in einer Petrischale und suchte den Abfalleimer. Doch den hatte, wie immer am Abend, die Reinemachfrau Mrázková vor die Labortür gestellt. Heute war ihm dies völlig einerlei; er öffnete den Fensterflügel, nahm die Schale und – nein, er kippte nicht wie üblich Asche und Zigarettenstummel auf den Sims, sondern warf sie in teuflischem Übermut schwungvoll ins nächtliche Dunkel, so weit er vermochte. Doch vergebens horchte er auf das Klirren zersplitternden Glases – Scherben bringen Glück! –, nur ein dumpfer Aufprall ertönte. Enttäuschung mischte sich mit Stolz. Sieh mal an, gar so arg kann es mit mir nicht stehen, wenn so ein weiter Wurf bis in die Sträucher hinter dem betonierten Parkplatz gelingt. Er schlüpfte aus dem Laborkittel und warf ihn achtlos auf einen Stuhl. Dann überzeugte er sich, daß nur die Apparaturen arbeiteten, die auch nachts in Betrieb blieben, und nahm seine Aktenmappe. Mit routiniertem Griff angelte er in der Hosentasche nach dem richtigen Schlüssel am Bund, löschte das Licht und verließ den Raum. Als er das Labor abschloß, entsann er sich, daß ihm noch kein Kandidat für die Verklonung eingefallen war. »Fräulein Burdová, woran arbeiten Sie jetzt?« »Rundschreiben der Sektionen. Ich übertrage sie ins reine, Herr Dozent. Die Koštálová ist plötzlich krank geworden, ich mußte einspringen. Aber spätestens in einer Stunde bin ich damit fertig.« Abwartend verstummte Fräulein Burdová und fügte hinzu: »Brauchen Sie etwas?«
»Nun, etwas… ich hätte schon etwas für Sie, Fräulein. Ich melde mich dann.« »Herr Dozent, ich rufe selbst an, sobald ich diese Arbeit erledigt habe.« »Hören Sie«, sagte Dozent Hoskovec unerwartet lebhaft, »läuten Sie nicht erst an, kommen Sie gleich nach oben. Das ist besser.« »Wie Sie wünschen, Herr Dozent. Sobald die Rundschreiben fertig sind, komme ich.« Dozent Hoskovec hielt den Telefonhörer noch eine Weile ans Ohr. Geistesabwesend starrte er den engbeschriebenen Papierbogen vor sich auf der Schreibtischplatte an. Von oben bis unten Namen über Namen. Vom frühen Morgen an hatte er sie durchgenommen, jedes Für und Wider gründlich erwogen, daraufhin einen nach dem anderen gestrichen, bis ein einziger Name übriggeblieben war, mit kräftigen Bleistiftstrichen gerahmt, sofort ins Auge springend: Burdová, Hausapparat 165. Müde seufzend wandte sich Dozent Hoskovec dem Fenster zu und vertiefte sich in den Anblick der bescheidenen Grünanlage vor dem Institutsgebäude. Über den Parkplatz hinweg waren es gut und gern dreißig bis fünfunddreißig Meter. Wenn er nun am Abend, nach seinem verrückten Einfall, die schwere Petrischale auf eins der auch nachts hier abgestellten Autos geschleudert hätte… Die Auswahl eines geeigneten Anwärters für den Versuch war nicht leicht. Am einfachsten wäre es, sich selbst dem Gerät anzuvertrauen und an der eigenen Person die Verklonung vorzunehmen. Da aber das Testergebnis der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte, kam dies nicht in Frage. Dozent Hoskovec hockte in dem engen Arbeitsraum neben dem Labor, aus dem er kurzerhand den Assistenten Čižek mit einem Auftrag in die Medizinische Bibliothek verbannt hatte. In den Mittagsstunden festigte sich in ihm immer mehr eine fixe Idee: Als Objekt des Abschlußexperiments eignet sich niemand besser als Fräulein Burdová, die Abteilungssekretärin, in deren Arbeitskraft er sich mit den Kollegen Vizner und Kyselák teilte. Dozent Hoskovec kannte Fräulein Burdová, seit er sich mit der Vermehrung der von einem Mutterorganismus abstammenden lebenden
Gewebezellen beschäftigte. Konkreter: seit dem Tage, an dem sie nach bestandenem Abitur für ein Jahr im Institut als Aushilfskraft angefangen hatte. Sie war versessen darauf, unbedingt Anglistik zu studieren, und nach Ablauf ihres Institutsjahres bewarb sie sich von neuem an der Fakultät um eine Aufnahmeprüfung. Sie konnte Englisch nicht schlechter als die anderen Bewerberinnen, aber diesem Mädchen war einfach das Glück nicht gewogen. Zum zweiten, zum dritten Male abgewiesen, gab sie auf. Sie verbannte den Traum von der Staatsprüfung am Fremdspracheninstitut endgültig aus ihrem Sinn, blieb im Institut und arbeitete sich von der Hilfskraft zur Abteilungssekretärin empor. Biologie, Chemie oder Physik interessierten sie nicht, doch sie gewöhnte sich an die Menschen um sich und diese an das Mädchen. Aber ebenso wie an der Schule hatte es Fräulein Burdová hier in jeder Hinsicht schwer. Offensichtlich war sie unter einem allzu profanen Stern geboren worden, und alles, was ihr in die Wiege gelegt worden war, entsprach dem allergewöhnlichsten Durchschnitt. Weder klug noch dumm, nicht hübsch, nicht häßlich, weder groß noch klein – diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Das einzig Vollkommene an Fräulein Burdová war ihre Unauffälligkeit. Obwohl sie nie ihre Fingernägel abnagte, sich weder geziert noch spröde gab – sie verstand es nicht, mit dem starken Geschlecht umzugehen, geschweige denn, sich einen Mann für die Ehe zu angeln. Zunächst bekümmerte sie das nicht. Doch allmählich näherte sie sich den Dreißigern, und obwohl sie sich nichts anmerken ließ, erriet Dozent Hoskovec mit einer Art sechstem Sinn, daß sie unter dieser Einsamkeit litt. Es geht also auch mit dir abwärts, Mädchen, dachte er damals. Ob du damit fertig wirst? Doch bald verschwendete er keinen Gedanken mehr an sie, sein Kopf war vollgestopft mit anderen Dingen, Spekulationen über junge oder alternde Mädchen fanden darin keinen Platz. So war eben Dozent Hoskovec: Die trockene Wissenschaft war ihm weit verständlicher und wichtiger als die Menschen. Jetzt allerdings kam ihm dieses unscheinbare Fräulein Burdová äußerst gelegen. Sie hat keinen Gatten und keine Kinder, die von einer doppelt oder gar mehrfach vorhandenen Hausfrau kaum begeistert wären, und soviel Hoskovec wußte, lebten auch ihre Eltern nicht mehr. Doch nicht
nur darin lagen die Vorzüge Fräulein Burdovás, sinnierte er. Sie arbeitete im Institut, nur eine Treppe tiefer. Es würde kaum auffallen, wenn sie bei ihm die paar Stunden zubrachte, die zur Entnahme der einzelnen Gewebezellen notwendig waren. Sie stand ihm für die ganze Dauer des Experiments zur Verfügung. Er konnte alle Phasen vergleichen, korrigieren und auswerten. Und sie war verschwiegen. Zudem geschah doch gar nichts Schlimmes, wenn dieses durchaus akzeptable dreißigjährige Frauenzimmer noch einmal in dieser Welt auftauchte, schloß er seine Überlegungen. Dann existierte eben ein Fräulein Burdová mehr, die Abteilung verfügte über zwei Sekretärinnen, die sich in die Arbeit teilten. Vielleicht war der zweiten das Glück holder, und sie stieg wenigstens in ein Englisch-Fernstudium ein. Oder sie heiratete. Bloß – wie sie überzeugen? Doch Dozent Hoskovec zweifelte auch hier nicht am Erfolg. Nie hatte sie ihm in den letzten Jahren etwas abgeschlagen – ob es sich um die Reinschrift seiner Schmierzettel handelte (Bis morgen neun Uhr!), um eine besonders aufmunternde Mischung von Kaffee und Tee (zwei Minuten nach ihrem Arbeitsschluß) oder um nicht kavaliermäßige Anliegen (Besorgen Sie mir aus dem Laden unter den Lauben hundertfünfzig Gramm Mortadella, zwei Semmeln, eine Flasche Zwölferbier, seien Sie mir nicht böse, Fräulein, aber ich habe absolut keine Zeit.). Manchmal unterhielten sie sich miteinander, er nachsichtsvoll und etwas zerstreut, sie mit spürbarer Verehrung gegenüber dem Wissenschaftler und Vorgesetzten. Außerdem war er kein junger Windbeutel mehr und hätte ihr ganz gut auch als Mann imponieren können. Er erhob sich und ging hochaufgerichtet nach nebenan ins Laboratorium. Prüfend betrachtete er sich in der mattglänzenden Scheibe des Instrumentenschrankes. Ein wenig dick war er geworden, das Haar rückte immer weiter nach hinten, aber gar so übel sah er nicht aus. Ein Blick zur Uhr; wenn Fräulein Burdová es bis halb drei schaffte, dann konnten sie noch heute mit dem Experiment beginnen. Fräulein Burdová hockte auf der äußersten Kante des Laborsessels und betrachtete abwechselnd die Möndchen ihrer Fingernägel und die
Spitzen ihrer Pumps. Diese Schuhe stehen ihr sehr gut, konstatierte Dozent Hoskovec im stillen. »Ich habe wirklich gedacht, Sie wüßten bedeutend mehr über das, was in unserem Institut gemacht wird«, sagte er fast streng. »Immerhin sind Sie länger als zehn Jahre bei uns, Fräulein.« Sie zuckte mit den Schultern und sah zu ihm auf. »Warum sollte mich das interessieren? Seit ich im Institut arbeite, hat darüber keiner mit mir gesprochen. Ich schreibe nur ins reine, was verlangt wird, laufe, wohin Sie mich schicken, bediene das Telefon, erledige, die Post und brühe Kaffee. Nichts Besonderes, was? Aber tun Sie es einmal, den ganzen Tag kommen Sie nicht zur Ruhe. Ich muß so viele Dinge im Kopf herumtragen, und wenn ich ein Wort mehr aufschnappe, dann rutscht es schnell zum anderen Ohr hinaus.« »Mag sein«, bemerkte Dozent Hoskovec unpersönlich. Mit dieser Komplikation hatte er nicht gerechnet. Eigentlich hatte er als erstes Fräulein Burdová um absolute Verschwiegenheit bitten und ihr dann in knappen Sätzen die Problematik seiner Versuche erläutern wollen. Natürlich würde sie begeistert sein, an einem so bedeutungsvollen Experiment mitwirken zu dürfen, und ließ sich bereitwillig erste Proben ihrer Gewebezellen entnehmen. Am nächsten Tag würde es dann weitergehen. Doch vorerst erfüllt sich nur Punkt eins. Fräulein Burdová versprach zwar zu schweigen, aber worüber, davon hatte sie keinen blassen Schimmer. »Sie wissen nicht, was ein Klon ist?« Resigniert lehnte sich Dozent Hoskovec in den bedrohlich wackligen Sessel neben dem abgeschlagenen alten Spülbecken zurück. Sie schüttelte den Kopf. Er warf einen verzweifelten Blick auf die Zimmerdecke. »Also, Fräulein, hören Sie mir gut zu. Ein Klon ist… in gewissem Sinne handelt es sich um eine Form der Vermehrung… nun, um ungeschlechtliche Vermehrung, verstehen Sie…« Fräulein Burdová wurde feuerrot. Keine glücklich gewählte Einleitung, dachte Hoskovec.
»Fräulein Burdová, ich bitte Sie, ich spreche von der allersachlichsten wissenschaftlichen Position aus. Und ich betone nochmals ausdrücklich: Es handelt sich um ungeschlechtliche Vermehrung. Seit langem ist den Biologen bekannt, daß eine Rübe…« Erschrocken hielt er inne. Das ist doch genauso einfältig wie das Beispiel mit den Schmetterlingen! Er hüstelte nervös. »Versuchen wir es anders.« Er drehte den Sessel zum Fenster, um Fräulein Burdová nicht ansehen zu müssen. »Kennen Sie sich ein wenig im Gartenbau aus? Wenn ja, dann ist Ihnen sicherlich der Begriff Setzling bekannt. Man nimmt zum Beispiel ein Stückchen von einer Rübenknolle, pflanzt sie in die Erde, und aus diesem Knollenstück entsteht eine neue Rübe. Nun stellen Sie sich diesen Vorgang bei einem Tier vor. Oder bei einem Menschen. Das ist zwar nur ein ungenauer Vergleich, aber so ähnlich vollzieht es sich.« Er schielte zu Fräulein Burdová hin. Sie saß an ihrem Tischchen, ihre Hände ruhten auf den Knien. Sie glich einer Musterschülerin, zumindest gelang es ihr, diesen Eindruck zu erwecken. »Im zweiten Weltkrieg unternahm ein gewisser Professor Steward Versuche mit Zellen von Möhrenwurzeln. Er legte die Gewebezellen in Nährlösungen und wartete ab, was geschehen würde. Eines Tages begannen die Zellen ungewöhnlich rasch zu wachsen und vermehrten sich – und zwar dann, wenn er der Lösung Kokosmilch hinzufügte. Er setzte die Versuchsreihe fort mit dem verblüffenden Ergebnis, daß sich neben erstaunlichen Mißbildungen auch kleine Möhrenembryos entwickelten. Einer einzigen Zelle entsprossen viele weitere, nahezu vollkommene Möhren derselben Art, die im Garten heranwächst. Verstehen Sie?« Fräulein Burdová nickte. Sie war also wirklich schweigsam. »Stewards Versuche waren natürlich nur ein Anfang. Wie er, experimentierten viele andere Wissenschaftler. Sie versuchten, auf vegetativem Wege nicht nur Pflanzen, sondern auch die viel komplizierteren Gewebezellen von Tieren zu vermehren. Sie träumten davon, dieses Wunder am Menschen zu vollbringen.« Sie sah aus, als ginge ihr allmählich ein Licht auf.
»Im Laufe der Zeit stieß man auf eine Menge merkwürdiger Erscheinungen. Zum Beispiel: Jede Zelle, selbst wenn sie ein noch so winziges Teilchen einer hochspezialisierten Materie ist, speichert alle unerläßlichen genetischen Informationen über den gesamten komplizierten Organismus. Nun geht es darum, die Zelle von der Spezialisierung zur Universalität zurückzuentwickeln, alle Informationen aus ihr zu lösen und sie dann in eine ganze Reihe spezialisierter Zellen zu vermehren. Notwendig war die Schaffung solcher äußerer Bedingungen, unter denen die Zelle bereitwillig diesen komplizierten Weg geht, gespeicherte Informationen freigibt, so daß sich aus ihr ein selbständiges Einzelwesen entwickelt – oder zum Beispiel eine unbegrenzte Anzahl von Einzelwesen, die Teil eines Stammkomplexes, eben eines Klons, sind. Ein Klon gleicht völlig dem anderen, in allem und überall, wie eineiige Zwillinge. Ist Ihnen bekannt, wie ähnlich sich eineiige Zwillinge sind?« Sie nickte und lächelte. »Selbstverständlich, Herr Dozent. Ich war nämlich ein Einzelkind. Als ich klein war, wünschte ich mir eine Schwester, die mir so ähnlich sein sollte, daß uns die Leute verwechselten.« Von der jähen Freude, die ihn durchrann, ließ er sich nichts anmerken. Die Vorsehung höchstpersönlich oder sonstwer hatte ihm dieses Fräulein Burdová gesandt. »Sie sind in der Tat ideales Material zum Exper…« Zu spät stockte er. »Ich wollte sagen, mit Ihnen würde man ausgezeichnet zusammenarbeiten«, fügte er hastig hinzu. Sie schüttelte den Kopf. »Wird man nicht, Herr Dozent. Sie brauchen ein Versuchskaninchen, und diese Funktion steht nicht in meinem Arbeitsvertrag.« Energisch strich sie das Kleid über die Knie, stand auf und schritt zur Tür. »Und jetzt wollen Sie mich gütigst entschuldigen, die Arbeit wartet. Wenn Sie wieder einmal einen Wunsch haben, einen Wunsch, den ich Ihnen erfüllen kann, dann bin ich gern dazu bereit.« Dozent Hoskovec war flinker. In drei Sätzen, die jedem Jüngling Ehre gemacht hätten, erreichte er die Labortür, hielt die Klinke fest, fuhr mit der freien Hand in die Kitteltasche und zog blitzschnell den Schlüsselbund heraus. Ebenso rasch fand er den richtigen Schlüssel, stieß
ihn ins Schloß, drehte zweimal um und steckte mit Siegerlächeln den Bund wieder ein. Erst dann warf ihn ein heftiger Schmerz im Knöchel zu Boden. In Fräulein Burdovás Augen stritt Furcht mit Mitgefühl. Mit einer fast pathetischen Geste streckte er die Arme nach ihr aus. »Sie müssen mich bis zu Ende anhören. Ein Klon ist keine Mißbildung, Fräulein. Verklonung ist die Erfüllung des uralten Menschheitstraumes von der künstlichen Erschaffung des Menschen.« Während er das sagte, versuchte er aufzustehen. Doch er zischte vor Schmerzen und klammerte sich an das nächste Instrumentenpult. »Es scheint, ich habe mir den Fuß verstaucht. Verdammter Knöchel, das schmerzt wie toll.« »Es wird ein Bluterguß sein«, meinte Fräulein Burdová. »Da ist ein Arzt nötig. Ich rufe einen.« »Um Gottes willen, nein!« Dozent Hoskovec hielt sie zurück. »Lassen Sie mich doch zu Ende erzählen.« Von neuem aufstöhnend, humpelte er zu dem Sessel und ließ sich vorsichtig nieder. »Nun brauchen Sie mich nicht mehr zu fürchten.« Womöglich denkt sie, ich spiele ihr mit dem Fuß etwas vor, fiel ihm ein. »Sehen Sie sich das an, es tut wirklich weh«, sagte er und entblößte den Fuß. Der Knöchel war schon bedenklich angeschwollen. »Das ist aber unangenehm«, bemerkte Fräulein Burdová unsicher. »Ich will Ihnen nur noch sagen, daß in unserem Institut am Problem der Verklonung gearbeitet wird, seit Sie hier beschäftigt sind. Und wir sind verdammt weit gekommen. Am weitesten auf unserer Welt.« Er atmete tief durch. »Noch etwas verrate ich Ihnen: Unlängst hatte ich eine Idee, eine unsinnige, wie es schien – doch ich wagte es. Und es erwies sich, daß diese meine Idee, nunmehr realisiert, das letzte Steinchen war, das unserem Bauwerk noch fehlte. Fragen Sie nicht, warum ich diese Entdeckung für mich behalten habe, eine einleuchtende Begründung kann ich nicht geben. Ich war besessen davon, alles allein zu schaffen, aus eigener Kraft, wie einst die Entdecker und Erfinder lange vor uns, die ihre Werke selbst vollendeten. Wie ich mich abgemüht habe, es zu verheimlichen – Sie ahnen nicht, welche Anstrengungen das gekostet hat. Aber jetzt stehe ich am Ziel. Ich habe nicht nur eine eigene Methode der Verklonung entdeckt, sondern auch herausgefunden, wie dieser
Prozeß um ein Mehrfaches beschleunigt werden kann. Ich habe eine Nährlösung, in der sich die Gewebezellen viel wohler fühlen als unter natürlichen Bedingungen. Der von mir konstruierte Apparat arbeitet nicht nur mit einer oder mehreren gleichen Zellen, sondern er kultiviert unabhängig voneinander Gewebeproben, die Dutzenden verschiedener Körperteile entnommen sind, so daß im Ergebnis dieses Prozesses ein mehrmals korrigierter und absolut fehlerfreier Embryo eines künstlichen Organismus entsteht, der seinem natürlichen Vorbild völlig gleicht. Ich bin in der Lage, diesen Embryo in beliebiger Anzahl zu produzieren. Liebes Fräulein Burdová« – stolz beschrieb er mit der Hand einen Kreis –, »dieser ganze Raum, dazu noch einiges hinter den Wänden, all das ist mein Apparat.« Fräulein Burdová schaute sich um. Verchromte Metallschränke, blitzende Retorten und Glasschalen, Gewirr von Rohren und Kabeln, mancherlei Zifferblätter und mattschimmernde Bildschirme – sie schienen ihr nichts zu sagen. »Möchten Sie ein Hündchen haben?« fragte der Dozent plötzlich. »Wozu?« entgegnete sie. »Ich wohne allein. Wer soll es ausführen?« »Schade. Sie brauchen es nur zu wünschen* und in zwei Tagen backe ich es… nein, in vier Tagen«, berichtigte er selbstkritisch. »Biskuit hat mich eine Woche lang beschäftigt, aber jetzt würde ich ihn in vier Tagen zustande bringen.« Sie starrte ihn ratlos und mit deutlichem Widerwillen an. »Biskuit ist mein Hund, verstehen Sie? So ein schwarzer Räuber, mit weißer Brust. Ich habe ihm einen so ähnlichen Doppelgänger gebacken, ich meine, erschaffen, daß selbst ich die beiden nicht auseinanderhalten kann. Und dasselbe schaffe ich mit einem Menschen. Also, Fräulein, könnten wir miteinander…« Bittend sah er sie an. »Tut mir leid, Herr Dozent, aber das gefällt mir gar nicht. Versuchen Sie bei jemand anderem Ihre Backkünste.« Er seufzte. »Dabei habe ich mich so fest auf Sie verlassen. Sie sind doch meine beste, meine allertüchtigste Mitarbeiterin!« Ich versuche es mit der Tour, auf die die Weiber hereinfallen, durchblitzte es ihn. »Denken Sie doch an die Menschheit, Fräulein. Mein Apparat kultiviert
nicht nur den gesamten Organismus, sondern auch seine Teile. Stellen Sie sich vor, wie viele Menschen vom Tode errettet werden können! Unheilbare Krankheiten, die schwersten Verstümmelungen… Täglich sterben auf unserem Planeten Tausende Patienten, nur weil Herz, Niere oder Lunge versagen. Dieser Apparat schenkt ihnen das Herz, die Hände, alles, was sie zum Leben brauchen, wieder. Ist das nicht wundervoll? Eine künftige Epoche neu erschaffener, auserwählt schöner und vervollkommneter Menschen – wie verlockend! Und wie ist es mit der Unsterblichkeit?« Er lehnte sich an das Spülbecken und senkte beschwörend die Stimme. »Ich biete Ihnen das ewige Leben, Fräulein Burdová. Kein Tod, denn Sie werden im zweiten, im dritten und in den folgenden Exemplaren leben. Für alle Zeiten bleiben Sie als der erste menschliche Klon auf Erden und haben die Tore eines neuen Zeitalters geöffnet. Mein Gott, so weit habe ich noch nie in die Zukunft geschaut. Ihnen wird es gehen wie in der Sache…« Gerade jetzt mußte ihm dieser komische Name entfallen. »Makropulos«, warf Fräulein Burdová ein. Diesmal kannte sie sich besser aus. »Ja, Makropulos. Nun, wollen Sie jetzt?« »Emilia Marty war als Unsterbliche todunglücklich. Ich will nicht.« Er wurde traurig. »Sie glauben mir also nicht. Einen Moment noch. Ich zeige Ihnen etwas.« Er versuchte aufzustehen, doch vergebens. Vor Schmerzen verzog er das Gesicht. »Fräulein Burdová, bitte, greifen Sie in die Box links. Dort liegen noch einige Gewebezellen von Biskuit.« Sie rührte sich nicht, er mußte selbst zu dem Apparat hinhumpeln. Geschickt brach er die Spitzen einiger Ampullen ab und schleppte sich mühselig, einen Stuhl als Stütze benutzend, in einen Winkel seines aus Glas und Metall bestehenden Labyrinths. Sein Rücken versperrte Fräulein Burdová die Sicht, doch gleich darauf ertönte das leise Summen eines Motors. Einer der hohen Blechzylinder begann plötzlich stark zu vibrieren. »Sehen Sie?« Sie sah nur einen leuchtenden Bildschirm, über den einige dunkle Punkte huschten. »Es geht schon los«, rief der Dozent freudig aus. Seine
Hände flogen über die Knöpfe des Leitpultes, ein Schaltkreis nach dem anderen wurde angeschlossen. »Es bäckt! Arme Anežka, jetzt bekommt sie ihr drittes Hündchen.« In diesem Augenblick rüttelte jemand an der Klinke, dann rasselte ein Schlüssel im Schloß. Fräulein Burdová und Dozent Hoskovec erstarrten. In der offenen Tür stand Assistent Čižek. »Oha!« entfuhr es dem Verdutzten. »Kollege Dvorák ist nicht zufällig hier?« Kollege Dvorák war gerade vor einem Monat zu einem halbjährigen Praktikum nach Leningrad abgereist, so daß Čižek keine Erwiderung abwartete und verschwand. »Das haben Sie fabelhaft gemacht«, sagte Fräulein Burdová aufgebracht. »Čižek geht mit Eliska aus dem sechsten Stock, und morgen weiß das ganze Institut, daß ich mit Ihnen eingeschlossen war.« Sie warf die Tür hinter sich zu. Dozent Hoskovec stellte mit Bedauern fest, daß er in seinen Ausführungen den äußerst wichtigen Hinweis auf die völlig schmerzlose Methode der Entnahme von Gewebezellen, die ihm soviel Mühe bereitet hatte, einfach vergessen hatte. Fräulein Burdová behielt recht. Noch am selben Abend hatte Čižek bei seiner geschwätzigen Eliska alles ausposaunt, und die wieder konnte am nächsten Morgen kaum das Aufstehen erwarten, um ihren zahlreichen Freundinnen brühwarm zu berichten, was es mit der Altjüngferlichkeit von Fräulein Blanka Burdová und der Sittsamkeit des gesetzten Sechzigers, des Dozenten Jindřich Hoskovec, auf sich hatte. Erst kurz vor Mittag kam Dozent Hoskovec ins Institutsgebäude gehumpelt. Sein Bein stak bis übers Knie in einem steifen Zinkleimverband; beim Gehen stützte er sich auf einen derben Stock, den man ihm in der chirurgischen Abteilung geliehen hatte für die drei Wochen, die das Bein bandagiert bleiben mußte. In seinem Schädel spukte Fräulein Burdová und die quälende Frage: Wie muß ich es bloß anstellen, um sie als Objekt für den Versuch zu gewinnen?
Er gelangte zu der bitteren Einsicht, daß er eben nicht verstand, mit Frauen umzugehen. Er war sich jetzt ziemlich sicher, daß vor vielen Jahren nicht er Anežka gefreit hatte, sondern Anežka ihn. Diese Erkenntnis brachte ihn völlig durcheinander. Gewiß, er konnte sich mit allen die Frauen betreffenden Fragen vertrauensvoll an Assistent Čižek wenden. Aber hatte er nicht andererseits schon oft vorgehabt, diesem Hallodri wegen seines allzu auffallenden Interesses für das sogenannte schöne Geschlecht ganz gehörig die Leviten zu lesen? Čižek wäre also der letzte, dem er sich anvertraut hätte, selbst mit einer so irdischen Problematik. In den nächsten Tagen ereilten den Dozenten Hoskovec und Fräulein Burdová weitere Schicksalsschläge. Das Gerede, er sei ein im zweiten Saft stehender Schürzenjäger und pflege sich mit dieser eigenartigen Sekretärin Burdová im Laboratorium einzuschließen, kam am Ende auch den beiden zu Ohren. Die Stimme des Volkes spaltete sich in zwei Lager. Das eine, vorwiegend von wissenschaftlichen Kadern, also von Männern, repräsentiert, meinte, Hoskovec sei eigentlich ein Mordskerl – warum auch nicht? Das andere, das namentlich die Verwaltungskräfte umfaßte, beklagte lauthals Frau Hoskovcová und verurteilte die sich jung gebärdende Burdová, die sogar mit graubärtigen alten Böcken vorliebnehme. So wurde die in Wirklichkeit hoffnungslos gescheiterte Verbindung der beiden von Volkes Stimme als festes Verhältnis besiegelt. Es half nichts, daß Fräulein Burdová vor dem Dozenten scheu in einen abgeschiedenen Winkel flüchtete, sobald an einem Gangende das Klopfen seines Stockes ertönte. Es half auch nichts, daß der Dozent kühl so tat, als sähe er sie nicht. All das war nur ein Beweis äußerster Gerissenheit, mit der sie ihr Verhältnis vor den anderen verbargen. Die Debatten über dieses Thema brachten erfrischende Abwechslung in die Langeweile des Arbeitstages. Die Männer, die Fräulein Burdová früher kaum gegrüßt hatten, sahen ihr jetzt dreist in die Augen, als wollten sie darin einen Schimmer jenes inneren Feuers entdecken, das der Dozent Hoskovec entfacht hatte. Fräulein Burdová, die solche Aufmerksamkeit nicht gewohnt war, senkte den Blick nur noch tiefer und zog sich rasch in ihre Einsamkeit zurück.
Der hartnäckige Dozent Hoskovec gewann nach überstandener Krise bald sein inneres Gleichgewicht zurück. Wegen irgendwelcher Klatschereien trug er seine in zwölf Jahren Schinderei gehegten Hoffnungen nicht zu Grabe! Da es nicht anders ging, rief er über den Hausapparat 165 Fräulein Burdová an und bat sie, über sein Angebot nochmals nachzudenken. Er lud sie zur Begutachtung des vortrefflichen Exemplars Biskuit ein, das ihm inzwischen in seinem Apparat gelungen war. Aber Fräulein Burdová verzichtete. Er nahm also den Hund zu seiner Anežka mit und schickte Fräulein Burdová anonym einige seiner Arbeiten zusammen mit Haidans altehrwürdiger philosophischer Abhandlung über Vorzüge und Klippen der Verklonung. Doch alles kam zurück. Dieser Skandal stand ihr einfach bis zum Hals. Als Dozent Hoskovec drei Wochen später ohne Zinkleimverband und Stock in der Tagung des Wissenschaftlichen Rates Platz nahm, wo er ursprünglich über seine großartige Entdeckung hatte referieren wollen, entstand in seinem Kopf ein ganz neuer Plan. Die ganzen drei Stunden schwieg er verbissen und starrte vor sich hin. Das war zwar bei ihm nichts Neues, aber diesmal vermutete man, er schweige und starre verträumt in die Ferne, weil er anderes im Sinn habe als die Wissenschaft. Eine Vermutung, die nur teilweise zutraf; denn kein Kollegiumsmitglied kannte die wahre Natur seiner Beziehungen zu Fräulein Burdová. Ebenso ahnte keiner, worüber der Dozent so angestrengt grübelte. Er versteckte sich hinter dem Hagedornstrauch dicht neben dem Fußpfad, den die Institutsangestellten durch das Gras zwischen den Parkbäumen getrampelt hatten, um den Weg zu den Haltestellen der Busse nach Ďáblice und Strašnice abzukürzen. Von den nahen Toiletten wehte ein übler Geruch herüber. Die undurchdringliche Finsternis mahnte Benutzer des Pfades zur Vorsicht. Dozent Hoskovec hatte bereits zwei Abende hinter diesem Strauch zugebracht. Doch bisher war Fräulein Burdová immer im ungeeignetsten Augenblick aufgetaucht. Vor zwei Tagen hatte jemand auf dem nahen Parkplatz die Autoscheinwerfer eingeschaltet und den vorgesehenen Tatort voll ausgeleuchtet. Tags zuvor wieder lehnte an einem Baum ein Liebespaar und hielt dort noch lange aus, nachdem Fräulein Burdová vorbeigegangen und in ihren Bus
gestiegen war. Dozent Hoskovec hatte ängstlich jede Bewegung vermieden, um nicht in den Ruf eines Voyeurs zu geraten. Er mußte also im Gebüsch ausharren, bis das Paar endlich verschwand. Auch für heute wappnete er sich mit Geduld. Aufzugeben kam weder morgen noch übermorgen in Frage. Er würde diese Stelle immer wieder aufsuchen, bis endlich seine Stunde schlug. Dann würde er aus dem Gebüsch hervorbrechen, den sandgefüllten Beutel (aus grobem Leinen heimlich selbst genäht, der Sand stammte vom Kinderspielplatz vor dem Haus) schwenken und fordern: »Stehenbleiben, Fräulein. Folgen Sie mir freiwillig oder gezwungen. Ich nehme Ihnen Gewebeproben ab, übrigens völlig schmerzlos, und die Sache hat sich. Eines Tages werden Sie mir noch danken.« Gehorcht sie ihm nicht, dann haut er ihr mit dem Sandbeutel ins Genick, ganz sacht nur, nicht totschlagen, sondern nur betäuben. Sie sinkt zu Boden, er zieht sie in die Sträucher, packt sich die Last auf den Rücken und schleppt sie durch die Pforte neben dem Treibhaus ins Institut. Im Labor entnimmt er Fräulein Burdová das benötigte Gewebe, schafft sie nebenan in den kleinen Arbeitsraum und sperrt sie vierzehn Tage ein. Diese zwei Wochen braucht sein Apparat, um die Doppelgängerin zu produzieren. In dieser Phase, so gestand sich der Dozent, verwischten sich die Konturen seines Planes. Aber er war überzeugt, daß der gelungene Start alle Schwierigkeiten überwinden würde. Von fern ertönte das Klappern von Absätzen auf dem Beton; Dozent Hoskovec hatte bereits den perfekten Spürsinn erworben, mit dem er Frauen- von Männerschritten unterscheiden konnte. Behutsam spähte er aus seinem Versteck und zog sich wieder zurück. Das war nicht Fräulein Burdová. Er stellte sich vor, wie sie den weißen Arbeitskittel ablegte, sich die Hände wusch und am Handtuch mit dem verwaschenen Institutsstempel abtrocknete. Sie kämmte sich vor dem Spiegel und malte sich diese modernen Schatten unter die Augen, nahm den Mantel mit dem Persianerkragen und den gestrickten Hut vom Kleiderhaken und zog die gestrickten Handschuhe aus der Tasche. Ich weiß ja schon verdammt viel von ihr, dachte er verwirrt. Zehn lange Jahre lang hatte er sie nur als Teil ihrer Schreibmaschine und als brauchbare Helferin beim Erledigen lästiger Angelegenheiten betrachtet. Und nun wußte er, wie sie sich kleidete, welche Farben sie bevorzugte, was für Hütchen sie trug.
Ich kümmere mich mehr um sie, als mir erlaubt ist, sagte er sich. Wenn ich’s bloß schon hinter mir hätte. Fest umspannte er den Sandbeutel und schlug ihn prüfend gegen den Oberschenkel. Die Gestalt, die im Lichtschein vor dem Portal des Instituts auftauchte, erkannte er sofort: Fräulein Burdová. Ringsum war großstädtische Stille. Sein Herz hämmerte wild – endlich war seine Stunde gekommen! Dozent Hoskovec bog die kahlen Zweige beiseite, stürzte auf den Pfad hinaus und rief mit gedämpfter, doch schrecklicher Stimme: »Stehenbleiben, Fräulein! Jetzt…« Mehr brachte er nicht heraus; denn Fräulein Burdová rollte wie von Sinnen die Augen und schrie durchdringend: »Aaaaa…!« Schon hob er den Arm, um ihr plangemäß den Schlag zu versetzen, ehe es zu spät war. »Aaaa«, kreischte Fräulein Burdová verzweifelt, »Hiiiilfe!«, und verschwand mit einem Satz im Park. Er rannte ihr nach. Obwohl sich seine Jahre und sein kaum genesener Fuß als nachteilig erwiesen, war die Flüchtende in ihren modischen Schuhen mit den Plateausohlen und den Zehnzentimeterabsätzen schlechter dran. Sie rannte durch den finsteren Park, stieß gegen Bäume und blieb an Ästen hängen. Dozent Hoskovec im flatternden Wintermantel stürmte ihr nach. Als er sie endlich am Ärmel packte, ließ er den Sandsack fallen. Sie versuchte sich loszureißen. Er zog sie mit aller Kraft an sich und holte tief Luft, um seinen Satz zu beenden, aber das gelang ihm auch jetzt nicht. Fräulein Burdová erschlaffte und sank willenlos in seine Arme. Sie war ohnmächtig geworden. So fand sie eine knappe Minute später die Polizeistreife vor, die auf Fräulein Burdovás Schrei hin herbeigeeilt war. »Sie behaupten also, Fräulein, daß dieser Bürger, ertappt bei dem Versuch, Sie mit physischer Gewalt Ihrer Bewegungsfreiheit zu berauben, wobei Sie das Bewußtsein verloren, Sie nicht überfallen hat?« Fräulein Burdová, bereits wieder frisch, doch mit Spuren der vorangegangenen Schreckminute im Gesicht, saß auf dem harten Stuhl vor dem Schreibtisch des ermittelnden Polizeioberwachtmeisters.
»Ja, wir waren dort verabredet.« Ein strenger Blick traf sie. »Schreit man bei einem Rendezvous um Hilfe? Sie haben so laut geschrien, Fräulein, daß man es fast hier im Revier gehört hat.« »Es war… es war nur ein Scherz, Genosse Polizist. Ja, ein Scherz, ich habe einfach zum Spaß geschrien. Als ob… ob…« »Was, als ob?« »Als ob ich… Ich weiß nicht, ich…« »Na schön, nur heulen Sie mir nicht. Wissen Sie, was Sie dieser Spaß kostet?« Sie schüttelte den Kopf. »Sechzig Kronen Ordnungsstrafe.« Erleichtert atmete sie auf. »Trotzdem müssen wir ein Protokoll aufnehmen.« Er stand auf und öffnete die Tür des Nebenraums. »Rufen Sie den Bürger…« Vergebens suchte er nach dem Namen. »Na, diesen… der das Fräulein überfallen hat.« »Nicht überfallen«, betonte sie nachdrücklich. »Na schön«, stimmte er zu. Dozent Hoskovec sah viel jämmerlicher aus als Fräulein Burdová; ein lebender Beweis dafür, daß sich ein ertappter Missetäter viel schlechter fühlt als sein Opfer. Man hatte ihm noch nicht gestattet, sich zu säubern. Er schien auch plötzlich gealtert und erschöpft, als wirkten sich erst in diesen Minuten die letzten Aufregungen und auch die Anspannung der vergangenen arbeitsreichen Jahre aus. Fräulein Burdová war wie versteinert und konnte den Blick nicht von diesem tragischen Antlitz wenden. »Setzen Sie sich«, forderte ihn der Oberwachtmeister auf. Ob er es überhört hatte oder sich nicht traute – er blieb stehen. Daß er uns hier bloß nicht eingeht, dachte der Oberwachtmeister. Verrückter Opa, jagt Mädchen im Park, ein Wunder, daß ihn kein Herzinfarkt erwischt hat. Dann diese alte Jungfer, erst brüllt sie, führt sich wie eine Wahnsinnige auf, und jetzt schaut sie ihn an, als wäre er ein
Heiliger. Eine seltsame Sache, diese Erotik. »Also, protokollieren wir«, sagte er laut und begann langsam und sorgfältig zu schreiben. Sie verließen das Polizeirevier und schlugen den Heimweg ein, entlang an altersgrauen Fassaden niedriger Mietshäuser zwischen den Stadtteilen Vinohrady und Vrsovice. Ohne sich dessen völlig bewußt zu sein, begleitete Dozent Hoskovec Fräulein Burdová nach Hause. Jeder Konzentration unfähig, den Blick wie ein Blinder starr nach vorn gerichtet, setzte er mechanisch Fuß vor Fuß. Auf einmal hörte er, daß Fräulein Burdová etwas sagte. Er riß sich zusammen und schaute sie an. »Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken…« Er schämte sich. Wahrhaftig, das war kein geeigneter Augenblick für konventionelle Lügen. Er korrigierte sich: »Eigentlich kann ich keinen klaren Gedanken fassen.« Er blieb stehen und sah Fräulein Burdová mutig in die Augen. »Ich bitte Sie, warum haben Sie das getan? Warum haben Sie nicht die Wahrheit gesagt?« Stumm zuckte sie mit den Schultern. Er schöpfte tief Luft und fand ein Stückchen seiner Mannhaftigkeit wieder. »Hören Sie, ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie aus Mitleid so gehandelt hätten.« »Aber Herr Dozent, warum so zimperlich?« erwiderte Fräulein Burdová ruhig und ausgeglichen. »Ich habe es eben getan. Hätte ich mich anders verhalten sollen? Wem würde es nützen, wenn Sie eingesperrt worden wären? Wer führt Ihre Versuche zu Ende?« Sie lachte. »Und überhaupt, mich interessiert, wie Sie weiterkommen. Hat sich ein Kandidat für die Unsterblichkeit in Ihrer Version gefunden?« »Mit solchen Dingen spaßt man nicht, Fräulein«, erwiderte der Dozent, bemüht, seine Würde zu wahren. »Die Wissenschaft gestattet nicht… Die Wissenschaft ist eine allzu ernste Angelegenheit und gehört nicht hierher!«
»Wirklich nicht?« fragte sie verwundert. »Immerhin hat sie uns ins Polizeirevier gebracht. Doch, sie gehört hierher. Außerdem beginnt mich Ihr Klon ernstlich zu interessieren.« Im tiefsten Herzen des Dozenten glomm ein winziger Hoffnungsschimmer auf. »Aber das ist kein Thema für eine Unterhaltung auf der Straße«, fuhr Fräulein Burdová fort. »Trinken wir doch irgendwo einen Kaffee.« In der Eckgaststätte »Am großen Bogen« fanden sie einen ungedeckten Tisch. Dozent Hoskovec bestellte Bier, Fräulein Burdová Kaffee und süßen Wermut. Sie hatten sich wirklich viel zu erzählen. Der dicke Gastwirt warf das Wischtuch auf den Schanktisch, um so auf den nahenden Lokalschluß hinzuweisen, und die Stammgäste trollten sich allmählich. Dozent Hoskovec und Fräulein Burdová blieben ungerührt sitzen. Wäre ich noch einmal jung, dachte der Dozent und sah Blanka Burdová in die Augen, dann würde mich keine Anežka heiraten, sondern ich nähme mir so ein Fräulein. Schade, mit sechzig ist die Liebe ein Faktor, der statistisch nicht ins Gewicht fällt. »Hören Sie, Blanka«, sagte er (so nannte er sie, nachdem sie angestoßen hatten), »solche Gedanken sind mir nie gekommen. Offen gestanden, ich wollte nie so weit denken. Meine Überlegungen waren: Wie kann meine Entdeckung und ihre Anwendung in der Medizin den Menschen helfen, Unsterblichkeit zumindest denen zu verschaffen, die sie wünschen oder die ihrer wert sind. Aber was Sie meinen… Nein, das würde ich nie zulassen.« »Sie sind komisch«, entgegnete Fräulein Burdová, »wer wird Sie erst fragen? Na schön, soll man ruhig zweihundert Plätze nach Ihnen benennen. Doch mit Ihrer Entdeckung macht man, was man will. Sie sollten mehr Capek lesen.« Sie trank einen Schluck Wermut, und ihr rätselhafter Blick traf den Dozenten. »Ihr Apparat züchtet eine neue Menschheit aus lauter unsterblichen Einsteins und ewig jungen Bardots heran – was hätten wir auf dieser Welt noch zu suchen? Sind wir wert, verklont zu werden?«
»Ja, was hätten wir noch auf dieser Welt zu suchen?« wiederholte Dozent Hoskovec verwundert. »Wir schließen, Herrschaften«, rief der Gastwirt ihnen lauter als nötig zu. An der Bushaltestelle fragte Fräulein Burdová lächelnd: »Was ist mit Ihren Hunden? Wie viele haben Sie schon erschaffen?« »Drei«, antwortete der Dozent schuldbewußt. »Vergangene Woche habe ich noch einen produziert, nur so, zur Übung. Nun sind es mit dem echten Biskuit vier.« An den Augenblick, der ihn zu Hause erwartete, mochte er nicht denken. Weit angenehmer war die Vorstellung, wie schön es doch wäre, das Experiment an Fräulein Burdová vorzunehmen. Es genügte, am Apparat eine geringfügige Veränderung vorzunehmen. Erst würde er sie erschaffen, dann sich selbst, beide jünger, mit viel Romantik. Dieser jüngere Hoskovec verliebt sich in die verjüngte Burdová, sie tun sich zusammen und fahren weit weg, dorthin, wo kein Mensch den anderen verklont. Und die beiden alten Exemplare? Die bleiben hier und leben weiter, wenn auch viele sich aufregen. Vielleicht wäre Blanka mit diesem Vorschlag einverstanden, wer weiß? Doch er wagte nicht, sie zu fragen. Anežka war noch auf. Sie wagte nicht einmal, nach dem Grund seines langen Ausbleibens zu fragen. Vier kohlschwarze Kläffer mit weißen Brustflecken, einander gleich wie ein Ei dem anderen, umsprangen ihn und bellten, was ihre Kehlen hergaben. »Jindřich, diese Hunde demolieren uns noch mal das Haus«, jammerte Anežka. »Hast du das gelesen, Blanka?« sagte ein stattlicher Herr in den besten Jahren zu einer jung aussehenden Frau, die durch das runde Fenster die Strandlinie betrachtete, die unter der Tragfläche des Flugzeugs blinkte. Sie wandte ihre strahlenden, unwahrscheinlich blauen Augen ihm zu. »Was soll ich gelesen haben, Jindřich?« Er reichte ihr die Zeitung und wies auf eine über die halbe Seite laufende Schlagzeile.
Unser Berichterstatter sprach mit leitenden Mitarbeitern des Instituts des Akademiemitglieds Hoskovec. BIOLOGISCHE REVOLUTION NOCH NICHT BEENDET Sie nahm die Zeitung und vertiefte sich in den Bericht. Im Institut des Akademiemitglieds Prof. Dr. rer. nat. habil. Jindřich Hoskovec, Dr. sc, Träger des Nobelpreises und geistiger Vater einer der größten Entdeckungen unseres Jahrhunderts – der Methode der Verklonung einzelner Körperorgane aus Zellen des Mutterorganismus – wird an weiteren aufsehenerregenden Forschungen gearbeitet. Am attraktivsten sind ohne Zweifel die Arbeiten des Dozenten Jaroslav Čižek, der das Gedankengut seines Lehrers, des Akademiemitglieds Jindřich Hoskovec, weiterführt. Es ist möglich, aus den Gewebezellen des menschlichen Körpers nicht nur die bereits heute verwendeten organischen Hoskovec-Prothesen zu bilden, sondern auch ein neues, zu selbständigem Leben fähiges Einzelwesen hervorzubringen. Der jahrtausendealte Traum von der Erschaffung des künstlichen Menschen wird in den nächsten Jahren wenn nicht gar Monaten – Wirklichkeit. Auf Wunsch des Biologischen Instituts, ausgesprochen gegenüber unserem Mitarbeiter von Dozent Čižek, schreibt unsere Zeitung einen öffentlichen Wettbewerb für einen zutreffenden Namen für diesen als Verklonung bezeichneten Prozeß aus. »Der Name ist die einzige Klippe, an der wir bisher gescheitert sind«, meinte Dozent Čižek, dessen Kollegen übereinstimmend erklärten, neben der Gelehrsamkeit sei der Sinn für Humor seine wertvollste Eigenschaft. »Da schau her: Čižek… Seine Witze sind mir stets auf die Nerven gegangen.« »Lies noch diese Stelle, das andere ist stinklangweilig.« Unserem Berichterstatter widerfuhr die Ehre, kurz von Akademiemitglied Hoskovec empfangen zu werden, dessen allgemeine Abneigung gegen Publizität und Interviews hinreichend bekannt ist. Akademiemitglied Hoskovec entschuldigte sich: Er sei in die Arbeit des Teams von Dozent Čižek kaum eingeweiht, da zahlreiche offizielle Pflichten und die Leitung des Instituts viel Zeit erforderten. Er versicherte nachdrücklich, Dozent Čižek sei einer seiner begabtesten Schüler und besitze sein vollstes Vertrauen. Er lehnte es ab, die Verklonung des Menschen zu kommentieren. »Hast du das Foto betrachtet? Nein, nicht Čižek und sein Apparat. Hier oben. Gelungen, wie?«
Unser Bildreporter hat das Akademiemitglied Jindřich Hoskovec beim Spaziergang im Institutsgarten aufgenommen. Wie üblich, begleiten ihn seine langjährige Sekretärin, Fräulein Blanko Burdová, und die Koppel von ihm gezüchteter Hunde einer neuen Rasse, über deren offizielle Anerkennung gegenwärtig die Internationale Kynologische Organisation berät. Eine detaillierte Beschreibung sowie Farbaufnahmen von dieser neuen, vorläufig »Hoskovec-Biskuit« genannten Hunderasse veröffentlichen wir in der Wochenendausgabe. Sie legte das Blatt auf das Tischchen zwischen den Sesseln und sah aus dem Fenster. Die Maschine setzte zur Landung an, die Erde rückte näher. Blanka griff nach dem Sicherheitsgurt und schnallte sich an. Aus dem Tschechischen von Walter Sobota
Gyula Hernádi RNS Paradoxon Homo prothesiensis
RNS Dr. Kalver, Chemieingenieur, achtundzwanzig Jahre alt, arbeitete im Arzneimittelwerk Terton in Serten. Er stellte Hustenpulver her. Seine Vorgesetzten und seine Kollegen kannten ihn als sehr fleißig und zielstrebig, hielten ihn aber für nur mäßig begabt. Er war unverheiratet und wohnte in einem bequemen kleinen Haus am Stadtrand. Er verreiste selten, und dann auch nur für ein paar Tage. Ganz plötzlich änderte sich alles. In den Chemischen Mitteilungen der Akademie erschienen erst eine nur kurze, im Laufe der Zeit aber immer mehr lange und bedeutsame Veröffentlichungen unter seinem Namen, besonders zur Problematik der ungeflügelten Verbindungen. Sein Aufstieg war kometengleich, und fünf Jahre später erhielt er für seine erfolgreichen Forschungen über starke, ungegenständliche Bewölkung den Nobelpreis für Chemie. Inzwischen war er Inhaber nicht nur der Terton, sondern noch zweier weiterer pharmazeutischer Fabriken und dreier Plastwerke. Die wissenschaftliche Öffentlichkeit zählte ihn zu den größten Chemikern. Er veröffentlichte einen umfangreichen Aufsatz, der die Plasmaphysik revolutionierte. Die Physiker seufzten neidisch und wehmütig auf. Er gab nicht Ruhe, bevor er den Nobelpreis für Physik erhielt. Alle Welt bewunderte ihn, beneidete ihn. Für die Lösung des Tumorproblems bekam er weitere fünf Jahre später auch den Nobelpreis für Medizin. Sein Name ward gepriesen, Serten errichtete ihm ein Denkmal, die berühmtesten Universitäten verliehen ihm die Ehrendoktorwürde. Er war der ungekrönte König der Wissenschaften. Wieder fünf Jahre später veröffentlichte er einen Roman. Er war interessant, spannend; Hunderttausende lasen ihn.
Chefinspektor Kolter, Mitarbeiter der Interpolizei, hielt ein ledergebundenes, auf feinstem Papier gedrucktes Buch in der Hand: Dr. Kaivers Roman. Er las es zum fünftenmal. Der Titel schrie geradezu: RNS. Der Roman handelte von einem jungen Chemieingenieur namens K. der in einem kleinstädtischen Arzneimittelwerk Hustenpulver herstellt. K. ist fleißig und strebsam. Er lebt allein am Stadtrand, er liest viel. Ihm gerät eine Veröffentlichung in die Hände, nach der Träger der Erinnerung und des Wissens die im Organismus und vor allem im Hirn gespeicherte Ribonukleinsäure ist, die, Versuchstieren injiziert, an diese die Erinnerungs- und Wissenssubstanz des Wirtstieres weitergibt. Nacht für Nacht experimentiert K. in seinem Hauslabor an Versuchstieren. Er arbeitet ein halbes Jahr lang, dann fährt er zwei Wochen in die Hauptstadt. Nach langen gründlichen Vorbereitungen tötet er Professor Teren, den weltberühmten Chemiker. Er schneidet ihm den Kopf ab, seinen Körper vergräbt er auf einer kleinen Lichtung in den ausgedehnten Waldungen nahe der Hauptstadt. Den Kopf verarbeitet er, die extrahierte Ribonukleinsäure führt er dem Gewebesystem seines eigenen Hirns zu. Er hat großartige Ideen, besonders zur Problematik der ungeflügelten Verbindungen und der starken, ungegenständlichen Bewölkung. Er erzielt immer beachtlichere Ergebnisse und erhält den Nobelpreis für Chemie. Mit Professor Terens Fähigkeiten ausgerüstet, entwickelt er eine Methode zur Annihilation des menschlichen Körpers, deren Hilfe Knochen und sogar Asche spurlos beseitigt werden können. Nach Professor Teren ist der Physiker Koll an der Reihe, dann Professor Holdin. Er tötet sie, entzieht ihren Hirnen die Ribonukleinsäure, eignet sich ihr Gedächtnis und ihre schöpferischen Fähigkeiten an. Die verstümmelten Leichname annihiliert er auf der Waldlichtung. Für seine Forschungen zur Plasmaphysik und für die Lösung des Tumorproblems erhält er die Nobelpreise für Physik und für Medizin.
Er ist der ungekrönte König der Wissenschaft. Er bekommt alles, was man nur bekommen kann; niemand schöpft Verdacht; trotzdem beginnt er sich zu fürchten. So tötet er einen der berühmtesten Anwälte der Welt, den Brasilianer Dr. Miguelo, und nimmt ihm mit dem üblichen Verfahren sein Wissen ab. Jetzt weiß er auch alles über die Verbrechen, die Prozeßordnung, die kleinsten Nuancen der Verteidigungsstrategie. Er beruhigt sich, heiratet eine junge Schauspielerin. Sie bekommen Kinder. Eines Tages erwacht er von einem eigentümlichen, unbekannten Durstgefühl. Die undeutliche, peinigende, zwanghafte Unruhe quält ihn wochenlang. Schließlich wird ihm klar, was ihm fehlt. Er sehnt sich nach künstlerischem Ruhm. Lange denkt er nach. Nervös spaziert er im Garten seiner Villa am Meer auf und ab, dann verreist er. Er tötet den Literatur-Nobelpreisträger Sorter, und nachdem er dessen Hirn die literarische Ribonukleinsäure entzogen hat, beseitigt er den Leichnam auf der Waldlichtung. Er beginnt zu schreiben. Er spürt einen unwiderstehlichen Zwang und schreibt einen Roman, der davon handelt, daß ein junger Chemieingenieur namens K. im Arzneimittelwerk einer Kleinstadt Hustenpulver herstellt… Chefinspektor Kolter überprüfte auch die kleinsten Einzelheiten. Die im Roman enthaltenen Angaben und Umstände entsprachen genau denen von fünf unaufgeklärten Verbrechen. Er teilte seinen Verdacht sofort seinem Chef mit, aber der lachte ihn aus. Kolter war zäh, er ließ sich nicht beirren; er lag seinen Vorgesetzten in den Ohren, bis Professor Kalver schließlich doch vernommen wurde. Kalver lachte, beleidigt und überlegen; die Beschuldigungen wies er mit einem Geschick zurück, das die berühmtesten Juristen beschämte.
Chefinspektor Kolter verreiste und kehrte erst am Tag der zweiten Vernehmung in die Hauptstadt zurück. Kalver selbst kam nicht, er schickte seinen Anwalt. Nach der Anhörung der Zeugen zog Kolter eine dünne literarische Zeitschrift aus der Tasche und las daraus eine Erzählung vor. Professor Kalver hatte die Kriminalerzählung unmittelbar nach dem Erscheinen seines Romans geschrieben. Er schilderte darin eine chemische Methode zur spurlosen Beseitigung von Leichen und die Umkehrung des Verfahrens, die Wiederherstellung der beseitigten Spuren. Dieses detailliert ausgearbeitete Verfahren war sehr kompliziert und angefüllt mit langen Formeln; die Zeitschrift hatte die Erzählung seinerzeit nur aus Rücksicht auf Kalver veröffentlicht. Sämtliche Lichtungen der ausgedehnten Waldungen nahe der Hauptstadt wurden abgesucht. Auf einem kleinen Grasplatz fanden sich schließlich Spuren, die nach Kaivers Verfahren identifiziert werden konnten. Kalver wurde gehenkt. Am Tag nach der Hinrichtung lag sein Leichnam ohne Kopf in der Leichenkammer. Seither stehen Gelehrte, die gleichzeitig bedeutende Ergebnisse in der Chemie, der Physik und der Medizin erreichen und außerdem Romane schreiben, unter Beobachtung.
Paradoxon Stark und aufdringlich leuchtete um F. die unermeßliche Nacht. Sie standen auf einem grasbewachsenen Platz, wortlos betrachtete das Mädchen mit dem schönen, strengen Gesicht den Mann. F. weinte, dann hörte er auf. Er sagte: »Wenn du mich beobachtet hättest, wüßtest du es.« »Ich habe dich nicht beobachtet, du bist alt«, antwortete das Mädchen. »Ich werde alles tun…« »Überflüssig. Versteh doch, ich brauche dich nicht.« »Ich bin fünfzig. Ist das so viel?« »In zwanzig Jahren bist du siebzig, ich achtunddreißig. Ich will nicht, ich gehe.« »Geh nicht weg, Maria!« »Laß mich los!« »Geh nicht! Bitte, geh nicht weg!« F.s Liebe erkaltete nicht. Am 13.Januar 1998 meldete er sich bei Professor T. S. W. der eine Mannschaft für das erste superphotonische Raumschiff der Erde zusammenstellte. Das Raumschiff war aus einem erstaunlichen, unbekannten Material gebaut, man hatte dafür einen erstaunlichen, unbekannten Treibstoff gefunden, seine mögliche Geschwindigkeit war ein beliebiges Mehrfaches der Lichtgeschwindigkeit; Professor T.S.W. bediente sich nämlich nicht des Raum-Zeit-Kontinuums, sondern des frustrativen Kranzes, und auf diesem kann das Unmögliche mehrfach umfahren werden. F. wurde mitgeteilt, er sei zu alt und werde die Beschleunigung nicht aushalten. Er bettelte und intrigierte, bis man ihn schließlich doch annahm. Auf dem Lehrgang lernte er fleißig, und er blieb auch nach den physiologischen Tests am Leben.
Sie starteten am 10. Juli 1998. F. spürte nichts Besonderes, ihn beschäftigte nur ein Gedanke: Sie würden drei Stunden lang zwischen den Milchstraßensystemen fliegen und dann zur Erde zurückkehren, er wäre unverändert fünfzig Jahre alt, Maria inzwischen vierundsechzig. Er würde sie aufsuchen, sie auslachen, ihr dann verzeihen und sie heiraten, sie würde ihn lieben. Träumend lehnte er sich in dem bequemen Sessel zurück. Als sie landeten, wartete F. nicht im Raketenflughafen die ärztliche Kontrolluntersuchung ab. Er eilte in die Stadt. Es war Nacht, unter dem gekippten bleichen Himmelsgewölbe brannten sonderbare Lichter, über weißen, glattgeschliffenen Rädern schwebten Menschen. Er versuchte nicht erst, Marias Haus zu finden, sondern ging in den sechshundertgeschossigen Turm, der im Zentrum der Stadt aufragte. Lange wanderte er durch fluoreszierende Räume und beriet sich mit Computern, dann ging er auf den Korridor hinaus, setzte sich auf das dicke elektromagnetische Feld an der Wand, nahm das opalen schimmernde Band heraus, das er vom Suchcomputer erhalten hatte, und las den trockenen Text. »Ich beantworte Ihre Fragen wie folgt: Maria T. verstarb 2069 im Alter von 89 Jahren in Bek.; sie liquidierte sich. Sie wurde im Gedenkpark von Bek. verwahrt, bis dieser 2170 zu kosmourbanistischen Zwecken geräumt und die vorgefundene Asche weiterverwendet wurde. Sie hatte keine Kinder. Heute, am 3. Dezember 2220, beträgt das Durchschnittsalter 320 Jahre. Und nun gehen Sie zum Flughafen zurück, die Ärzte suchen Sie. Ihr Raumschiff hat sich, wie aus den eigenen Koordinaten ersichtlich ist, wegen eines Meteoritenhagels um vier Sekunden verspätet und ist deshalb statt 2044 erst 2220 zur Erde zurückgekehrt. Hochachtungsvoll: 00101001110111, leitender Computer.« Stumm saß F. in dem bunten Summen und Surren und ließ die Arme sinken. Angst stieg auf in ihm. Er wußte, daß die ärztliche Kontrolluntersuchung mit einer Herzkatheterisierung beginnen würde.
Homo prothesiensis Traurig, des Lebens überdrüssig ging Kar. die Straße entlang. Er wußte nicht genau, wie alt er war, und er war zu faul, sich in der Zentrale zu erkundigen; er wußte lediglich, daß seit seiner letzten Generalüberholung 1500 Jahre verstrichen waren. Zweimal hatte er versucht, Selbstmord zu begehen. Er hatte sich mit Dynamit in die Luft gesprengt, aber eine halbe Stunde später stand er als nagelneuer Mensch an der Stelle der Explosion. Die Zentrale verwahrte in ihrem Eiweißraum alle Kennwerte aller Menschen, in den Magazinen waren alle nur denkbaren Körperteilprothesen vorhanden, und wenn irgendwem irgendein Organ entzweiging, war der Reparaturtrupp innerhalb einer Viertelstunde zur Stelle. Wenn sich jemand liquidierte, in die Luft jagte oder zu Staub zerquetschen ließ, erfuhr die Zentrale über ihre Radarstationen unverzüglich von dem Selbstmord oder dem Unfall, sie forderte bei ihren Speichern den genauen Gencode des Betreffenden an, seine gesamte Erinnerungssubstanz und den molekularen Zustandsmittelwert seiner Organe, sie wählte die entsprechende Ersatzteilkollektion aus, stellte sie zusammen, lud sie mit den nötigen Energie- und Bewußtseinsinformationen auf und lieferte das neue Wesen an den Ort des bedauerlichen Vorfalls. Einmal hatte sich Kar. in seiner Verzweiflung in den Codesaal geschlichen, zwei Nullen in seinem binären Gencode in Einsen umgeändert und sich dann gesprengt. Fünf Minuten später lebte er wieder; bei der unablässigen Parallelkontrolle der Maschinen war die Änderung entdeckt worden, und Kar. mußte sich weiter verbittert am Rand seines Schwimmbeckens sonnen. Seine Braut hatte ihn verlassen, das stimmte ihn traurig, wenngleich er wußte, daß das Mädchen in der unendlichen Zukunft unbedingt zu ihm zurückkehren würde, er brauchte nur zu warten. Er wartete, und er langweilte sich.
Er suchte uralte Bücher hervor und las. In den Büchern fand er zu prähistorischen Zeiten geschriebene Gedichte. Gelangweilt las er, bei einer Zeile schließlich hielt er inne; sie gefiel ihm: »Jetzt lebe ich im gefilterten Morgen des Gestern.« Das hatte ein Verrückter geschrieben, noch vor der Ewigkeit, in der als zwanzigstes Jahrhundert bezeichneten Zeitformation. Der unverständliche Text gefiel Kar. Am Nachmittag spazierte er durch das Zentrum der Hauptstadt. Immer wieder sagte er sich die sonderbare Verszeile auf. Am Ende einer Sackgasse blieb er vor einer breiten, mikrofonähnlichen Konstruktion stehen. Lächelnd sprach er den eigentümlichen Satz hinein: »Jetzt lebe ich im gefilterten Morgen des Gestern.« Der riesige Zeitkollutor hatte seit undenklichen Zeiten auf genau diese Signalvariante gewartet. Er wandte die beiden vermengten Zeitrichtungen des Textes, Vergangenheit und Zukunft, gegeneinander und ließ sie aufeinander los, so löste er eine Kettenreaktion aus, bei der sämtliche Zukunfts- und Vergangenheitsquanten der Erde in den dimensionslosen, lichten Gräben der Gegenwart zu einer spezifischen Zeitmaterie implodierten. Im nicht wahrnehmbaren Bruchteil einer Sekunde stürzte, eine undurchdringliche Schicht bildend, eine viele hundert Kilometer mächtige, rauhe, steinschaumartige Substanz auf die Erde. Alles blieb stehen. Endgültig. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
Lajos Mesterházi Sempiternin
Er mußte einen Umweg machen, auf dem Platz wurde gebaut. Hinter dem Bretterzaun reckte in gleichbleibenden Zeitabständen ein Bagger seinen Drachenkopf auf; gelbe, blaue, rote Stahlprofile, Kabel, Rohre. Hier entstand ein Fußgängertunnel. Er dachte daran, daß er nicht mehr auf der Nord-Süd-Linie der Metro fahren würde; doch wie viele Menschen würde sie befördern, wie viele würden sich Morgen für Morgen auf den Bahnsteigen drängen. Er würde nicht mehr auf der Rolltreppe hinab- und hinaufgleiten, für die der Bagger vielleicht gerade jetzt Raum freibiß. In seiner Kindheit hatte er an Gott geglaubt und viel gebetet, viel und verzweifelt. Denn Gott, nicht wahr, weiß am besten, was dem Heil förderlich ist; wenn es ihm gefällt, erfüllt er die Bitte, wenn nicht, dann nicht. Er hatte voll verkrampfter Verzweiflung gebetet, denn um was er bat, das brauchte er sehr, das war für ihn eine Frage von Leben und Tod. Und er hatte gewußt, daß seine Bitte ohnehin nicht erfüllt würde. Der Pförtner war neu. Sein Name klang wertlos, als er ihn durch das kleine Fenster nannte. Der Pförtner ließ sich den Ausweis geben, blätterte gelangweilt darin, nahm sich Zeit, telefonierte schließlich. Dann machte er sich an den Passierschein. Es war wie ein schlechter Traum. Noch kein halbes Jahr war es her, seit er in Rente gegangen war. Der Krampf der verzweifelten Kindheitsgebete packte ihn – Gott, gib, daß der Drahtkopf mich heut nur nicht aufruft! Es ist ohnehin vergebens! Doch Szterényi empfing ihn mit breiter Geste und Schulterklopfen. »Mein lieber Béluska! Welchem Umstand verdanke ich…« »Ich hätte eine Bitte.« »Aber gerne! Nimm doch Platz! Terike, Kaffee! Mir jetzt auch einen!« Egal, ich muß raus mit der Sprache – oder soll ich mit dem »Wie geht’s?« und dem Wetter anfangen? –, am besten, ich sage es ihm gleich. »Sempiternin.« Szterényis Gesicht umwölkte sich sorgenvoll. Er setzte sich auf seinen Platz hinter dem Schreibtisch. Rasch weitersprechen, bevor er nein sagt! »Mein Arzt im Zentralkrankenhaus würde die Kur übernehmen, er hätte ein Zimmer
für mich, sofort, jetzt ist die Zeit am geeignetsten. Ich muß nur das Medikament besorgen.« »Nur… Hm, ich hätte wetten mögen, hundert zu eins, daß… Wenn mich in letzter Zeit jemand anruft oder aufsucht, heißt es fast ausnahmslos: Sempiternin. Du weißt, daß es streng kontingentiert ist.« »Deshalb bin ich zu dir gekommen.« »Kontingentiert? Es gibt es gar nicht. Vorläufig nicht, und ich kann keins besorgen. Es gab ein paar tausend Ampullen, in den zentralen Dienststellen, auch bei uns hier, die Genehmigung galt nur bis zu den Hauptabteilungsleitern, je Bezirk die fünfzehn oder zwanzig wichtigsten Leute, aus den Kreisen überhaupt keiner, gut fünfzig Großbetriebe, die Leiter einiger spezieller Staatsgüter, die führenden Produktionsgenossenschaften – und dort nur der Vorsitzende und der Chefagronom, und zwar gegen Erstattung des Selbstkostenpreises! –, Akademiemitglieder, verdiente und hervorragende Künstler… Ein paar tausend Ampullen – muß ich dir erklären, was das ist? Ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Produktion läuft auf vollen Touren, aber du verstehst: Wir haben Verpflichtungen gegenüber dem Ausland, innerhalb des RGW ist das unser Profil, und in der anderen Richtung gibt es keine zweite Ware, für die wir so uneingeschränkt konvertierbare Valuta bekämen… Allmählich werden jetzt die Inlandbestände aufgefüllt, damit wir eine weitere Rate ausliefern können.« »Aber ich habe doch zu euch gehört, von hier aus bin ich in Rente gegangen, es ist noch kein halbes Jahr her! Freiwillig gegangen, niemand hat mich weggeschickt, man wollte mich hierbehalten, du weißt es!« »Ich weiß, Béla. Aber die Anordnung bezieht sich expressis verbis nur auf einen bestimmten Kreis der aktiv Tätigen.« »Ich verstehe das nicht. Was ist los mit diesem Sempiternin? Ist das Verfahren so kompliziert, so kostspielig? Du sagst, wir produzieren auf vollen Touren…« »Im Prinzip ist es überhaupt nicht kompliziert. Wenn es erst mal jemand herausgefunden hat, und das hat ja Professor Gergely. Das Altern ist letztlich, wie wir seit langem wissen, die Folge einer spezifischen Programmierung: Unablässig sterben Millionen unserer Zellen ab, und unablässig treten an ihre Stelle minderwertigere Zellen.
So, als würde ein Auto immer nur mit gebrauchtem Material repariert. Also muß die Programmierung geändert werden; unser Organismus kann auch einwandfreien Ersatz produzieren, im Alter von zwanzig Jahren haben wir keine andere Luft geatmet und nichts anderes gegessen und getrunken als heute, die meisten von uns haben sogar ziemlich viel entbehren müssen, nicht wahr. Der gesamte Betrieb muß umprogrammiert werden, damit er Elemente in gleichbleibender Qualität erzeugt. So, als würde das Auto an allen Stellen immer mit fabrikneuen Ersatzteilen repariert; dann ist es im Prinzip auch nach tausend Jahren noch nagelneu, stimmt’s? Wie die Argo der Griechen.« »Ja und? Wenn uns Gergely, wie ich hörte, die Lizenz doch unentgeltlich überlassen hat?« »Darauf wollte ich gerade kommen. Es ist im Prinzip einfach. Das Verfahren jedoch ist kompliziert und teuer. Erstens: Gegenwärtig können wir das Mittel noch nicht synthetisieren. Daran wird gearbeitet, die Forschungen beziehen sogar die radiophysikalische Methode ein. Der Prognose nach kann es zwanzig Jahre dauern, bevor das Problem gelöst ist. Du weißt ja, wie es ist: Vielleicht sprüht der ›göttliche Funke‹ schon morgen auf, vielleicht erst in fünfundzwanzig Jahren. Vorläufig verhält es sich noch so: Zu einer einzigen Kur benötigt man die Epiphysen der Neugeborenen von siebzig bis achtzig Kleintieren. Die pharmazeutischen Werke haben riesige Kaninchenfarmen überall im Land, sie schließen Verträge mit LPG und Einzelwirtschaften – momentan ist das die große Masche – über die Haltung von Millionen und aber Millionen Kaninchen. Das Kaninchen frißt, und zwar nicht irgendwas, sondern es bekommt Vitamine, Hormone, es steht unter ständiger tierärztlicher Kontrolle. Dann das hochempfindliche Filtrierund Reinigungsverfahren. Bedenke: Allein die sexualhemmende Wirkung des Neugeborenenhormons muß in elf Prozessen neutralisiert werden. Und dann die Kur selbst. Ich begreife gar nicht, davon reden die Leute wie meinetwegen vom Plombieren eines Zahnes. Zwei Monate Krankenhaus, strenge ärztliche Kontrolle, danach ein halbes Jahr Kontrolluntersuchungen!« »Du hast es hinter dir?«
»Schon im letzten Winter. Weißt du, in unserem Alter plagt sich jeder mit einer kleinen Arteriosklerose herum. Jetzt habe ich erfahren, was das bedeutet. Als die Regeneration der Gefäßwände anfing, hatte ich solche Kopfschmerzen, manchmal richtige Körperschmerzen, daß ich zwei Wochen lang nur Ridol geschluckt habe.« »Entschuldige, aber dafür hast du jetzt das ewige Leben!« Szterényi winkte ab. »Nur im Prinzip! Auch das ist nicht so einfach. Du siehst also, ob man es nun von den Kostenauswirkungen oder von der Krankenhauskapazität her betrachtet, wir müssen die Staffelung, die Stufenfolge sehr ernst nehmen.« »Die Krankenhauskapazität habe ich, wie gesagt. Ich brauche nur das Sempiternin.« »Ich habe keins. Das sage ich dir von Kollege zu Kollege. Ich könnte in diesem Augenblick nicht eine einzige Ampulle herbeizaubern.« »Und die nächste Rate?« »Wer weiß, das hängt von vielem ab. Sogar von der Nationalbank. Und wenn wir sie erhalten, müssen wir, den maßgeblichen Richtlinien entsprechend – schließlich sind wir eine Volksrepublik der Arbeiter und Bauern –, ein bestimmtes Kontingent den tatsächlich an der Maschine arbeitenden Werktätigen, vor allem den Bergarbeitern und den Bauarbeitern, außerdem den Genossenschaftsbauern zur Verfügung stellen. Ein bestimmtes Kontingent kommt, auch das ist logisch, der Jugend und den Frauen zu. Sowie dem Dienstleistungswesen, das jetzt stark in den Vordergrund getreten ist. Gleichzeitig werden wir von anderen Seiten bestürmt, du verstehst: bewaffnete Organe, Hochschullehrer, Funktionäre der Massenorganisationen, und zudem gibt es auch hier im Haus noch genug Kollegen, die etwas erwarten. Ich kann dir gar nicht sagen, welchem Druck wir ausgesetzt sind.« »Glaub mir, ich würde dich nicht drängen, wenn es nicht eilig wäre. Mein Blutdruck beträgt zweihundertzwanzig, der diastolische hundertvierzig. Sonst wäre ich ja noch gar nicht in Rente gegangen!« »Béla, mein Bester! Hypertonie ist doch heutzutage… Ich brauche dir das nicht zu erklären. Wie die Zuckerkrankheit. Du kannst zwischen Dutzenden ausgezeichneter Mittel wählen. Dein behandelnder Arzt stellt
dich auf eins davon ein, du nimmst deine Dosis und kannst froh und heiter achtzig Jahre alt werden. Obendrein jetzt, als Rentner!… Ad vocem! Beneide uns nur nicht! Die Dienstzeit der mit Sempiternin Behandelten ist auf hundertfünfzig Jahre heraufgesetzt worden. Vorerst einmal! Im Klartext: Ich zum Beispiel kann in hundertzwanzig Jahren in Rente gehen, dann bin ich also rund hundertachtzig Jahre alt. Nur damit du’s weißt!« »Trotzdem, sag, wann ist damit zu rechnen, daß ich…?« »Ich will dir kein X für ein U vormachen, Béla. Verlang das nicht von mir!« »Nur ungefähr.« »Ungefähr? Falls in der Fertigung und Verteilung des Mittels keine erhebliche strukturelle Veränderung eintritt, wird die Sempiterninisierung der Gesamtbevölkerung im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende erfolgen. Stufenweise, natürlich.« »Jahrhundertwende, wo bin ich bis dahin! Gesamtbevölkerung, sagst du. Soll ich das so verstehen, daß ich Gesamtbevölkerung bin?« »Nun ja… Innerhalb des Projektes ja. Als Rentner.« »Aber ich bin doch quasi… Ich habe doch bis zuletzt hier in diesem Amt gearbeitet! Noch vor sechs Monaten!« »Stichtag ist der erste Januar dieses Jahres. Wer am einunddreißigsten Dezember in Rente gegangen ist, fällt schon in die Kategorie der Rentner.« Verzweifelt begehrte er auf: »Du willst doch nicht etwa sagen, daß ich für die schäbigen paar Monate mit dem ewigen Leben zahle!« Szterényi versuchte durch seine Ruhe auf ihn einzuwirken. »Du hast hier in diesem Sessel gesessen, Béla«, sagte er, »so viele Jahre lang. Du weißt, wozu das verpflichtet. Hier gibt es Richtlinien, Verordnungen, Anweisungen, hier gibt es ja und nein, aber hier gibt es keine Hintertürchen und keine Winkelzüge. Ich tue nur, was du auch tätest, wenn du noch hier wärst.« Wenn ich noch hier wäre… Und wo wäre Szterényi? Er säße noch immer in der Kreislungenambulanz, wenn ich – ja, ich – nicht auf ihn aufmerksam geworden wäre und ihn nach Budapest geholt hätte. Und
hier? Er wäre stellvertretender Hauptabteilungsleiter und hätte kein Sempiternin bekommen, nein, er nicht, er wäre knapp unter der Grenze gewesen, wenn ich nicht in Rente gegangen wäre und ihm meinen Platz mit allen Privilegien überlassen hätte. Die Sekretärin brachte den Kaffee. Szterényi fragte, ob er Kognak wünsche. Er schüttelte den Kopf. Sie nahmen Zucker, rührten um, tranken. Jetzt über etwas anderes sprechen, dachte er. »Und wie geht es dir? Ich meine, nach der Behandlung?« Szterényi lachte auf. »Hervorragend. Ganz merkwürdig. Mit annähernd sechzig Jahren auf dem Buckel ist man auf einmal zwanzig oder fünfundzwanzig. Die äußerliche Regeneration – Haut, Haarfarbe – dauert ein, zwei Jahre. Ansonsten zeigt das Mittel aber schon auf allen Gebieten Wirkung… Aha, du denkst natürlich an die Regeneration der Potenz, wie alle. Nun ja, das auch. Und da verfährt man wirklich taktvoll: Bei Verheirateten nimmt in jedem Fall auch die Ehefrau an der Kur teil. Man kann einen ewig Jungen nicht dazu verurteilen, daß er auf den Tod einer alten Frau warten soll, und man wollte nicht fünftausend Scheidungsprozesse auf einmal; ausgerechnet in unseren Kreisen. Sehr klug! Nebenbei gesagt, ich weiß von Fällen, wo die Sempiternindosis für die Ehegattin nicht die Ehegattin erhalten hat.« Er kicherte. »Aber ich will gar nicht darüber… Es sind vor allem die Empfindungen. Man merkt plötzlich, wie anders die Jugend alles sieht, wie anders sie hört, schmeckt, riecht als wir im sogenannten besten Alter, oder wie man das nennt. Das Spektrum ist anders. Viel nuancierter, viel breiter. Und dann zum Beispiel das Muskelgefühl. Ich ertappe mich morgens, daß ich nicht auf den Fahrstuhl warte, sondern die Treppen hinaufsause. Drei Stufen auf einmal, und es macht Spaß! Verstehst du? Als würde eine alte, angenehme Erinnerung plötzlich Wirklichkeit. Und das auf Schritt und Tritt, im Geruch der Hausflure, den ich seit Unzeiten vergessen hatte, in den Farben des Abends, die für mich längst nur noch Schwarz und Weiß waren, genauer: Schwarz und ein verletzendes Leuchten… Übrigens mache ich mir entsprechende Notizen für eine gelegentliche Veröffentlichung. Denn darüber schreibt nicht einmal Professor Gergely in seiner Studie.« »Interessant.«
»Apropos, weißt du, daß Gergely nächstes Jahr Ungarn besuchen will? Zu einem internationalen Symposium über das Sempiternin. Dort möchte ich dann auch meine Arbeit vorlesen. Aber…« Er lachte laut. »Was ist denn?« »Mit der Vorbereitung des Symposiums ist…« – er konnte vor Lachen kaum sprechen – »ist Thoma beauftragt worden. Verstehst du?« »Nein.« »Thoma war es doch, der ihn sechsundfünfzig abgeschossen hat, seinetwegen ist Gergely ins Ausland gegangen. Er hatte sich um eine Chefarztstelle in der Inneren Abteilung des Krankenhauses Cegléd beworben. Und Thoma schrieb ans Ministerium, Gergelys Vater sei Vorbeter oder so etwas in der Glaubensgemeinschaft von Sajószentpéter gewesen und Gergely selbst habe ein Zizit, oder wie das heißt, unterm Hemd getragen. So etwas wie bei uns das Skapulier. Vor allem aber habe er eine kulakische Karnickelfarm in Vécses gehabt. Und das stimmte. Er experimentierte schon mit dem Sempiternin und hielt auf eigene Kosten Kaninchen.« »Unerhört!« »Gergely berief sich darauf. Es wurde sehr gründlich untersucht. Aber die Akademie meinte, eine Kaninchenfarm sei eine Kaninchenfarm und das Sempiternin ein Hirngespinst. So ging der Ärmste also sechsundfünfzig ins Ausland. Der Ärmste? Unsinn! Und jetzt Thoma! Ist das nicht verrückt?« »Ja.« »Das Symposium wird übrigens sehr interessant, glaube ich. Denn inzwischen liegen ja weltweite Erfahrungen vor. Die Schweizer haben sie mit Athanatin gesammelt, die Holländer mit Antimortin, die Bundesdeutschen mit Nixexitin, die Amerikaner mit Regenerin…« »Sicherlich. Aber ich bitte dich, gerade weil ich so viele Jahre hindurch an diesem Schreibtisch gesessen habe: Ich weiß, was die sogenannte eiserne Reserve ist. Die gibt es auch von den seltensten Medikamenten, logisch. Ein ausländisches Staatsoberhaupt kann zu Besuch kommen, was weiß ich… Kurz, eine Dosis, eine einzige! Sag nicht, es sei nichts da!«
»Nun ja. In diesem Sinne schon. Natürlich ist welches da. Aber unter strengstem Verschluß. Unter allerstrengstem. Jedes Milligramm. Strenger als bei Morphium. Ich kann nichts tun.« »Aber wer, wenn nicht du? Entschuldige.« »Ich bin dir nicht böse, und ich verstehe dich. Aber du mußt mich auch verstehen. Hier gelten die strengste Planwirtschaft und die weitestgehenden sozialen Gesichtspunkte. Ich möchte sagen: auf einmalig gerechte und humane Weise. Sieh dir an, was man beispielsweise im Westen macht. Da gibt es zwei Methoden. Nennen wir sie die englische und die amerikanische. Die Engländer bringen das Mittel frei in den Handel, ebenso die meisten Länder des Gemeinsamen Marktes, und zwar zu einem Preis, der allein schon einem Zensus gleichkommt, grausam und einschränkend. Die Dosis kostet zehntausend Dollar. Mit der Kur zusammen fünfzehntausend, zwanzigtausend. Wer kann sich das leisten? Muß ich erwähnen, welche Klassengesichtspunkte da eine Rolle spielen? In Amerika kommt zur Auslese nach dem Vermögen die politische: Das FBI beaufsichtigt die Verteilung, die operative Verteilung obliegt den Bundesstaaten; auch das mußt du wissen: In einundzwanzig der fünfzig Staaten können Farbige, Neueinwanderer oder als Rote verdächtige Personen kein Regenerin erhalten. Bei uns? Erstens ist das Sempiternin sozusagen unentgeltlich. Wir erheben nicht einmal die üblichen SVK-Prozente, denn der einfache Werktätige brächte selbst die nicht auf. Das Entgelt für die Kurbehandlung ist minimal. Und nun vergiß einmal die ersten fünftausend Dosen: Ein wichtiger gesellschaftlicher Aspekt ist die Sicherung der Uninteressiertheit im Apparat, und damit begann der Prozeß überall in der Welt, schon wegen der Stabilität der inneren Ordnung. In manchen Ländern bezweckt das die Kontinuität der Gewalt – ganz anders als bei uns, wo sich völlig neue Perspektiven für Verwaltung und Planung eröffnen. Bedenke außerdem, daß wir quasi die klinischen Versuchsobjekte sind. Das ist unsere Pflicht, wenn eine solche gesamtgesellschaftliche Aktion eingeleitet wird. Und nun beachte, was jetzt kommt! Ich will dir kein Seminar halten – ausgerechnet dir! –, aber hier zeigt sich die Überlegenheit unseres Systems. Bisher kann auch das reichste kapitalistische Land noch nicht die Behandlung der Gesamtbevölkerung anvisieren, nicht einmal perspektivisch. Überlege:
Was für eine neue gesellschaftliche Spannung! Zwischen Herr und Diener besteht nicht einmal mehr die Gemeinsamkeit des Totentanzes! Die Ausbeuter sind unsterblich, die Ausgebeuteten sterben. Wie zwei verschiedene Tierarten; das ist nicht mehr nur ein Klassengegensatz! Wir aber, hier, arbeiten bereits am Plan des Rechtes auf Unsterblichkeit für alle Staatsbürger. Überleg dir das einmal! Und es handelt sich nicht nur darum, daß dies gerecht und humanitär ist. Der Humanismus zeigt sich gleichzeitig auch auf höherer Ebene, in umfassenderem Sinn, und das ist nur hier, nur in unserem System möglich. Worum geht es? Um nichts weniger als die bewußte Formung der Menschheit der Zukunft und der fernen Zukunft. Ich könnte es auch so ausdrücken: um die Verwirklichung einer streng wissenschaftlichen Eugenik. Denn durch das Sempiternin sind wir selbst, vorwiegend wir selbst gewissermaßen auch unsere eigenen Nachkommen. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug…« »Natürlich.« »Dann begreifst du jetzt also, warum das Mittel unter Verschluß ist.« »Um Vorräte zu sammeln?« »Zum Teil. Vor allem aber: Eine wissenschaftliche Kommission ist zur Zeit dabei, die Kriterien für die Reihenfolge auszuarbeiten. In unserem Land stirbt gegenwärtig alle drei Minuten ein Mensch. Also ein permanenter Verlust. Der Verlust wird zwar zahlenmäßig durch die Geburten ausgeglichen, aber deren Qualität ist ungewiß, und sie können noch jahrzehntelang eine Last für die Gesellschaft bedeuten. Stimmt’s?« »Wie viele Leute könnt ihr behandeln?« »Mit Konzentration aller Kräfte, mit Notkrankenhäusern, mit im Schnellsystem ausgebildetem Personal, mit umfassender Erweiterung des Herstellerbetriebes und der Kaninchenfarmen vielleicht schon in zwei Jahren tausend pro Tag. Aber was für eine organisatorische Aufgabe bedeutet das! Zugegeben, wenn wir Sempiternin als Lockmittel einsetzen, werden wir keine Arbeitskräftesorgen haben.« »Tausend am Tag, das bedeutet… immer noch fünfundzwanzig Jahre für zehn Millionen, und mit der natürlichen Bevölkerungszunahme…« »Die wird es eine Zeitlang noch geben, wenngleich mit stetig sinkender Tendenz.«
»Wie meinst du das?« »Es liegt auf der Hand, daß parallel zur Unsterblichkeit eine immer strengere Bevölkerungsplanung durchgesetzt werden muß. Teils mit Maßnahmen – Aufhebung des Kindergeldes, progressive Kindersteuer –, teils auch spontan: Die ewig Zwanzigjährigen werden außer sich selbst kaum Nachkommen haben wollen.« »Trotzdem, ein paar Kinder werden doch wohl noch geboren werden.« »Auch deshalb sprach ich vorhin vom ersten Jahrzehnt des kommenden Jahrhunderts. Dann werden wir so weit sein, daß die Gesamtbevölkerung behandelt ist und der Bevölkerungszuwachs im Alter von zwanzig Jahren das Sempiternin ebenso erhält wie heute jedes Kind die Pockenimpfung oder die Schluckimpfung gegen die Poliomyelitis.« »Und derweil stirbt alle drei Minuten ein Mensch.« »Feuerwehrarbeit. Gerade deshalb handelt es sich hier nicht einfach um Lebensrettung, sondern zugleich um die Rettung von Werten. Die Reihenfolge muß so festgelegt werden, daß schon von morgen an sowenig gesellschaftliche Werte verlorengehen wie nur möglich.« »Und wie?« »Maschinell. Mittels Rechenmaschinen. Das Kollektiv arbeitet eben die Kriterien aus.« »Aber was für welche?« »Die Kriterien der gesellschaftlichen Nützlichkeit. Gemeinschaftsmoral, Intelligenzquotient, biologische Wertigkeit, alles, alles, bis ins kleinste Detail. Ich hörte, daß sogar Schönheit und ästhetischer Wert berücksichtigt werden. Und natürlich die Erfordernisse der Arbeitsteilung, damit zwischenzeitlich keine Störungen auftreten. Wenn das fertig ist, folgt die Programmierung, und der Computer kann loslegen.« »Mit den Daten jedes einzelnen Staatsbürgers?« »Du kannst dir vorstellen, was für eine Riesenarbeit das ist. Und nun wirst du auch verstehen, warum ich so ablehnend sein muß. Weshalb jede Art von Protektion strengstens verboten ist.«
Er verstand. Natürlich verstand er. »Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn… Was Hypertonie bedeutet, weißt du. Vielleicht werde ich achtzig, du hast recht. Aber das ist sehr unwahrscheinlich. Unsere Generation mit ihrem aufgebrauchten Organismus und zerschundenen Nervensystem… Vielleicht lebe ich dann noch, vielleicht bringt mir schon der nächste Wetterumschwung die Koronarembolie. Die nächste Aufregung oder körperliche Anstrengung die Apoplexie. Sonst wäre ich nicht gekommen. Mein Diplom, meine Erfahrungen, mein theoretisches und praktisches Wissen und Können… Ich könnte noch viel tun.« »Deine Lochkarte wird das alles ausweisen.« »Außerdem bin ich Mitglied der Partei.« »Ach, Béla! Wie oft hast du gehört und selbst gesagt: Das bedeutet mehr Verantwortung, aber nicht mehr Rechte. Außer einem: Du kannst eine Parteifunktion übernehmen. Überleg nur, welche politischen Spannungen entständen…« »Aber als altes Mitglied, nicht wahr… Als Veteran…« »Gerade von dir hätte ich nicht erwartet, daß du dich darauf berufst.« »Das war auch nie meine Art.« »Was gut an dir ist, wird ohnehin in deine moralische Beurteilung aufgenommen. Und im übrigen… Alte Verdienste? Bester Béla! Mit dir kann ich offen reden: Liegt es denn im Interesse der künftigen Gesellschaft, daß es auch in zehntausend Jahren noch Leute gibt, die sich nur auf ihre Verdienste vor fünfundvierzig berufen? Aber das nur unter uns; wenn du es weitererzählst, streite ich es ab.« Er lachte. »Alle Privathandwerker haben die Kur hinter sich.« »Alle? Das ist wohl übertrieben.« »Alle Materialeinkäufer.« »Aber, aber!« »Alle Tankwarte.« »Bestimmt nicht alle.« »Alle Würstchenverkäufer, alle Fußballer, alle Schlagerkomponisten, alle PGH-Vorsitzenden, alle Jahrmarkthändler, alle Hotelnutten.« »Nanana, wir wollen nicht übertreiben!«
»Die Ärzte richten in ihren Wohnungen Privatkliniken ein.« Eine hilflose Geste. »Das ist uns bekannt.« »Massenhaft ausländische Wagen vor ihren Häusern.« »In Wien wird der Forint bereits mit zwei Schilling gehandelt. Das wissen wir.« »In den Dollarläden liegt Sempiternin im Schaufenster!« »Das ist was anderes, das ist so, als exportierten wir es. Mit diesem Geld führen wir die Leichtbaukonstruktionen für die Notkrankenhäuser ein; du hast in diesem Büro gearbeitet, das mußt du doch verstehen.« »Ich verstehe nicht, wieso man auf dem Großen Ring, vor dem Hotel National, für vierhunderttausend Sempiternin bekommen kann. In der Originalverpackung des Werkes.« »Du verstehst das nicht! Wo lebst du denn, Béla? Es ist so, ja, leider. Wir wissen es. Aber letztlich sind das alles nur Randerscheinungen.« »Ausländische Verwandte schicken Regenerin und Athanatin. Wie früher Autos. Glaubst du wirklich, sie schicken es nur als Geschenk?« »Wieso? Hast du das bei den Autos geglaubt? Gab es einen einzigen Dummkopf in Ungarn, der es geglaubt hat? Noch werden Fehler gemacht. Wir haben das nie bestritten.« »Vor dem Royal ist eine regelrechte Börse. Sempiternin, Antimortin, Regenerin. Jedes Budapester Kind weiß, daß Nixexitin am besten wirkt. Und am teuersten ist: fünfhundertfünfzigtausend.« »Du, daß ich nicht lache! Ich verrate dir kein großes Geheimnis: Nixexitin wird bei uns hergestellt, in Újpest, in Kesselwagen geliefert und dort nur in Ampullen abgefüllt. Auf denen steht: Nixexitin Bayer. Vorschriftsmäßig wird es noch ein letztes Mal gereinigt. Gegen eine Allergie, die bei dreihundert Behandelten einmal auftritt. Aber Wirkstoff, Wirkungsgrad und so weiter sind gleich. Von wegen, Nixexitin ist am besten! Nur weil es aus der Bundesrepublik kommt!« »Woher haben Leute hier eine halbe Million Forint, einfach so?« »Du, es geht um Leben oder Tod, im wortwörtlichen Sinn, da setzen viele ihre ganze Habe in Geld um.«
»Das täte ich auch. Alles, was ich mit der Arbeit meines Lebens zusammengekratzt habe. Ich käme, hoch gerechnet, auf fünfzigtausend Forint, nicht auf fünfhunderttausend.« »Es sind nicht alle so wie du oder ich. Geld ist da. Das haben wir bisher schon gesehen. Auf Ungarn entfielen schon vor Jahren die meisten Mercedes pro tausend Personenwagen, um nur ein Beispiel zu nennen.« »Sind das denn Hammel, die Arbeiter, die Lehrer, die… alle anständigen, schuftenden Werktätigen, daß sie das dulden?« »Keine Demagogie, Béla! Das paßt nicht zu dir. Und betrachte die Frage nicht wie ein dogmatischer Tugendbold. Sieh es mit den Augen des Ökonomen! Wenn es sich schon so verhält, nimmt es uns einerseits eine Menge Verpflichtungen ab. Wer Sempiternin erhalten hat, dem brauchen wir keins mehr zu geben. Andererseits bedenke, welche Kaufkraft Sempiternin von anderen Gebieten abzieht, vor allem vom privaten Bauen. Dort nämlich würde ein Großteil der halben Millionen landen, in Villen und Sommerhäusern am Plattensee. Kannst du dir einen Begriff machen von der Material- und Arbeitskräftekapazität, die auf diese Weise frei wird? So können wir den Wohnungsbauplan erfüllen. Zum Beispiel… Übrigens, auch daran kannst du ermessen, unter welchem Druck wir stehen, wie vielen Versuchungen wir ausgesetzt sind und wie ernst wir jetzt die Disziplin zu nehmen haben. Wenn wir jetzt nur an einer Stelle nachgeben, wenn nur ein kleiner Riß entsteht, dann stürzt unsere ganze großangelegte Aktion zusammen.« »Ich habe keine fünfhunderttausend Forint, auch keine vierhunderttausend, ich kann Forint nicht ins Ausland schmuggeln. Ich darf morgen ruhig vom Stuhl kippen.« »Siehst du, das darfst du wirklich nicht: dich so aufregen. Mit dem Vom-Stuhl-Kippen kannst du noch warten, Béla, noch lange warten. Aber so aufregen darfst du dich nicht.« »Richtig. Ich soll in aller Ruhe und schön langsam krepieren. Nur weil ich vor einem knappen halben Jahr in Rente gegangen bin.« Szterényi langte zum Klingelknopf. »Kann ich dir nicht doch einen Kognak anbieten? Terike! Ich darf nicht, leider, aber du kannst ruhig trinken. Der Tropfen schadet dir nicht, auf meine Verantwortung als
Arzt.« Und nachdem die Sekretärin das Glas gefüllt hatte und gegangen war: »Weißt du, Béla, nimm das nicht als Gefühlsduselei, aber ich träume in letzter Zeit immer öfter von diesem schönen, alten endlichen Menschenleben. Dieser Rummel hier! Und das noch hundertzwanzig Jahre lang – vorerst! Alt zu werden, müde zu werden und dann – ja – eines schönen Tages vom Stuhl zu kippen, das ist so übel gar nicht. Und zu schlafen, nur zu schlafen. Bei unseren Ahnen zu ruhen. Ich verstehe nicht, wirklich nicht, weshalb man so versessen auf die Wundermittel ist. Weißt du, was das ewige Leben ist? Ich ahne es bereits. Vielleicht erinnerst du dich, was Engels darüber schreibt: öde, graue Langeweile. Die Rentengrenze ist auf hundertfünfzig Dienstjahre heraufgesetzt. Vorerst. Wir wissen, was das bedeutet. Eine Verordnung ist in Arbeit: Jedes Diplom verliert alle fünfzig Jahre seine Gültigkeit, nach einem anderen Vorschlag alle dreißig Jahre. Dann kann ich mich wieder auf die Schulbank setzen. Und noch etwas. Ich spreche nicht gern darüber: Das Sempiternin löst nicht das Problem der Abnutzung des Hirns und der Beschränktheit seiner Speicherkapazität. Deshalb darf ich nicht trinken und nicht rauchen, keine Medikamente und keine Beruhigungsmittel nehmen. Na gut, geschenkt! Aber nach einiger Zeit ist die Speicherkapazität so und so erschöpft. Tausend Jahre? Manche meinen: Keine Gefahr, das menschliche Hirn hält drei- bis viertausend Jahre. Und dann? Meine Augen bleiben gut, meine Ohren auch. Trotzdem kann ich nicht sehen und nicht hören. Ich perzipiere, aber ich kann nicht mehr apperzipieren. Denn mein Hirn wird nur noch Erinnerungen enthalten. Ich betrachte einen blühenden Baum, und statt daß ich ihn sehe, erwachen in mir Erinnerungen an ihn. Verstehst du? Wahnsinn! Schlimmer als jeder Tod: lebend in mich selbst begraben… Die Futurologen sagen, das Problem des Hirns werde die Wissenschaft in längstens fünfzig Jahren lösen. Meinetwegen in fünfhundert, das ist mir schnurz! Aber wenn sie es nicht löst? Und falls sie es löst – wird dieses regenerierte Hirn noch ich sein? Wie wird sie diese Frage lösen? Und dann: Ist dieses ganze sogenannte ewige Leben nicht nur eine Illusion? Der regenerierte Organismus kann den Giften, dem Verbluten oder dem Ersticken vorläufig noch nicht Widerstand leisten. Auch ich kann sterben, aber eben nur eines gewaltsamen Todes – und schlimmer. Es ist nicht einmal geklärt, inwieweit Sempiternin gegen die Strahlungen
schützt. Ich lese die Nachrichten in der Zeitung anders als du. Hier Konflikte, dort Krisen. Apropos, die Chinesen wettern seit Wochen gerade gegen das Sempiternin als den ›biologischen Papiertiger der vereinigten imperialistischen und sozialimperialistischen Front‹. Angesichts der Frage von Krieg und Frieden läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Wie lange halten wir den Tanz auf des Messers Schneide durch? Für dich sind das Sorgen, die nur eine Generation lang dauern… Ach, Béla, wie könnte ich es dir nur klarmachen! Du weißt, daß du stirbst. Für dich ist es nur ein Lotteriespiel, wann und wie. Für mich aber geht dieses Spiel ums Ganze: Leben oder Tod. Ich hätte das ewige Leben für mich, wäre aber – zum Beispiel – eben doch nicht unverletzlich. Weißt du, mit welchem Gefühl ich in ein Flugzeug steige? Und das muß ich, wenigstens sechsmal im Jahr. Kann jemand ewig im Flugzeug reisen, ohne abzustürzen? Oder kann man auf der Straße spazierengehen, ohne irgendwann von einem Lastwagen überfahren zu werden? Und wenn ich alles, all das ausgezeichnet überstehe – wie überstehe ich den kosmischen Untergang der Erde? Nun? Und wenn der Tod weit weg ist, er bleibt der Tod. Und daß er nicht sicher ist, macht alles noch schrecklicher.« Er stand auf. Er war ohnehin schon ungebührlich lange geblieben. Und hatte auch den Kognak ausgetrunken, allein. »Wenn ich Zeit habe, wenn ich in diesem kurzen, winzigen Leben einmal noch Zeit habe, werde ich dich bedauern«, sagte er. »Weißt du, wie das alles ist? Als wartete ich in der Todeszelle auf meine Hinrichtung, während du, der teilnahmsvolle Besucher, über Bauchschmerzen klagst.« Und er konnte nicht an sich halten, wieder laut zu werden. »Ein halbes Jahr, alles hängt von knapp einem halben Jahr ab. Ich säße dort, dort auf deinem Platz.« »Ich begreife dich nicht.« Auch Szterényi stand auf. »Ich begreife die ganze Welt nicht mehr. Seid ihr denn alle übergeschnappt? Todeszelle! Komm zur Vernunft, hast du denn nicht dein ganzes Leben in dieser Todeszelle gelebt? Seit du denken kannst, weißt du doch, daß der Tod unumgänglich ist. Sind denn nicht auch dein Vater und deine Mutter gestorben, Tausende, Millionen Vorfahren bis hin zu den Einzellern? Hatten sie nicht alle das gleiche Schicksal, mit dem auch du dich längst abgefunden hattest? War es jemals dein Bedürfnis, ewig zu leben? Hättest du nicht jeden, der nach ewigem Leben jammert, für verrückt
erklärt? Was ist nur geschehen? Wie kann in den Menschen gleichzeitig und so aggressiv dieses unmögliche Bedürfnis entstehen? Daß sie sogar beleidigt sind, wenn jemand ihnen sagt – sagt? geduldig und verständnisvoll erklärt! –, daß es nicht geht. Und die großen Sorgen der Welt, die wirklich großen Sorgen – Bauchschmerzen?« Beim Abschied hieß es natürlich: »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« So hatte auch er seine Besucher abgeschüttelt. Er spürte den Krampf, den seiner Kindheitsgebete. Als er gewußt hatte: Es ist ohnehin vergebens. Er schlug den Weg zur Innenstadt ein, um seinen Kopf ein wenig durchzulüften. Er betrachtete die Menschen auf der Straße. Ihm fiel auf, wie anders sie waren, schon äußerlich, wie Erlöste. Und zur Innenstadt hin gab es viele von ihnen. Sie bewegten sich anders, ihre Blicke waren anders, ihre Sicherheit. In der Konditorei Vörösmarty – er nannte sie noch Gerbeaud – waren alle Tische besetzt. Lauter Erlöste. Wie auch könnte sich heiter und gelassen auf die Terrasse vor der Konditorei setzen, wer nicht erlöst ist? Auf dem Heimweg blieb er wieder an der Baustelle stehen und sah zu, wie der rot-blau-gelbe Stahldrache hinter dem Bretterzaun rhythmisch den Kopf reckte. Und ich werde nicht mehr mit der Nord-Süd-Metro fahren, dachte er. Wie viele Menschen wird sie befördern, wie viele werden sich auf den Bahnsteigen drängen. Auch auf dem, der hier unten entsteht. Wie viele! Plötzlich fühlte er sich so einsam wie das letzte Exemplar einer aussterbenden Tierart. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki Anmerkung: Die Erzählung »Sempiternin« erhielt 1972 den Sonderpreis des I. Europäischen SF-Kongresses.
Jossif Perez Das Ende der achten Basis
Wird wohl ‘ne Havarie sein, dachte ich, als die rote Lampe am Schaltpult aufleuchtete. Bereits einen geschlagenen Monat versah ich den Dienst vor diesem idiotischen Pult, löste tagtäglich drei Stunden lang Schachaufgaben und hatte schon jegliche Hoffnung aufgegeben, noch mal von jemandem gebraucht zu werden. Ich schaltete das Videophon ein. »Hier der Diensthabende vom Zentrum für nichtstandardgemäße Probleme.« Zum erstenmal in meiner Praxis sprach ich diese geheiligten Worte aus. Vom Bildschirm her schaute mich das behaarte Gesicht meines unmittelbaren Vorgesetzten Mag an. Offiziell hieß er Magarditsch Tepelikjan. Seine widerspenstige Pferdemähne und die buschigen Augenbrauen reichten offenbar nicht aus, auch ein Bart mußte noch sein. Er war genau so ein Sonderling wie wir alle hier. »Grüß dich, Schek«, sagte er. »Wie fühlst du dich?« »Ausgezeichnet«, antwortete ich finster. »Wie ‘n Rentner.« Mag lächelte. Das konnte ich übrigens nur an seinen Augen erkennen, denn die untere Gesichtshälfte war unsichtbar. »Aus ist es mit dem Rentnerdasein«, teilte er mir mit. »Ich habe einen Auftrag für dich.« »Soll ich vielleicht ausfegen?« fragte ich grinsend. »Im Zeitalter der automatischen Staubschlucker wäre das doch ein klassisches nichtstandardgemäßes Problem.« »Einen Mord aufklären«, sagte Mag. »Blödsinn«, wehrte ich ab. »Was für einen Mord denn?« Mag seufzte und betrachtete mich nachdenklich. »Schek, es tut mir leid, daß das ausgerechnet während deiner Dienstzeit geschehen mußte. Eine recht komplizierte Angelegenheit für einen Anfänger. Wenn du willst, kann ich auch jemand anders einsetzen. Überleg es dir.« Diese Aufforderung war überflüssig, ich dachte ohnehin fieberhaft nach. Verdammter Mist, meine Schicht ist in einer halben Stunde zu Ende. Hätte dieser idiotische Mörder nicht noch so lange warten können? Das vernünftigste wäre, zu verzichten. Schließlich kommt ja ein Mord zum Glück nicht alle Tage vor. Soweit ich mich erinnere, liegt der
letzte zehn Jahre zurück… Nein, mag sich ein anderer damit befassen, einer mit mehr Erfahrung. »Eine vorsätzliche Tat?« erkundigte ich mich zerstreut. »Scheint so«, antwortete Mag leise. Natürlich vorsätzlich – wäre es ein Zufall, dann wäre es nicht bis zu uns durchgedrungen, zum Zentrum für nichtstandardgemäße Probleme… Was hatte ich nicht alles durchgemacht, ehe ich hierhergeriet. Ich hatte mich hierin und darin versucht; aber alle gewöhnlichen Arbeiten waren mir bald über. Bei der Aufnahmeprüfung waren wir dreiundsiebzig, sogar vom Titan war einer herübergeflogen. Und ich wurde angenommen. Warum, weiß ich nicht. Die Prüfung selbst war eher etwas für geistig Minderbemittelte – wir spielten mit bunten Bauklötzchen, genau wie die Knirpse im Kindergarten, konstruierten eine Vogelfalle (eigens zu diesem Zweck hatte man aus dem Zoologischen Garten in Oslo einen Spatzen schicken lassen) und mußten dämliche Fragen beantworten. Anscheinend kam ich der Prüfungskommission verdrehter vor als alle anderen. Ich glaube, dies ist der einzige Ort im gesamten Sonnensystem, wo verrückte Kerle gefragt sind. Na ja, aber so verrückt bin ich auch wieder nicht, daß ich mir nach so langer Wartezeit den ersten bedeutenden Auftrag durch die Lappen gehen lasse. »Wieso denn einen anderen einsetzen?« entfuhr es mir schroffer als gewollt. »Ich habe doch wohl Dienst, oder?« »Okay«, sagte Mag, und mir schien, er war zufrieden. »Die Umstände, unter denen das Verbrechen verübt worden ist, sind recht… tja, wie soll ich es ausdrücken…« »Umstände interessieren mich nicht«, unterbrach ich ihn. »Nenn mir einfach den Ort des Geschehens, damit ich mit der Arbeit beginnen kann.« »Ganz wie’s beliebt!« Mag zuckte mit den Schultern. So ein ungezwungener Ton Vorgesetzten gegenüber war nur hier möglich. Außerdem sahen die Chefs nachsichtig über unsere Kauzigkeiten hinweg. Sie unterstützten sie sogar. Offenbar galt bei ihnen die Regel: Nichtstandardgemäße Probleme sind nur von
nichtstandardgemäßen Persönlichkeiten – und zwar aus der ganzen Welt – zu lösen. Und was hatten sie nicht für seltsame Vögel aus aller Welt hierhergeholt! Deshalb redeten wir einander auch mit diesen närrischen Namen an: Mag, Schek, Ram. Nicht jeder ist eben in der Lage, den japanischen Namen Zutaro Nakakubo halbwegs anständig auszusprechen, oder den indischen Sarwapali Tschandrasekhars. Oder aber meinen – Straschimir Schekerdshiew. Nur der Pole Scibor Krzelicki bestand darauf, daß wir ihn mit all seinen Konsonanten zierten. Das war sein Tick. »Mars«, sagte Mag, »achte Basis.« »Womit befaßt man sich denn in dieser achten Basis?« »Wirst du an Ort und Stelle erfahren«, erwiderte Mag und schaltete das Videophon aus. Also auf den Mars mußte ich mich begeben. Zweimal bin ich schon drüben gewesen, und ich muß Ihnen sagen, daß es da ziemlich ungemütlich ist. Vor allem damals, als die Basen noch nicht richtig eingerichtet waren und der innerplanetare Transport erst recht nicht klappte. Ich drückte die Taste, um den nächsten Diensthabenden herbeizurufen, und warf meinen Muskelstarter in Richtung Flugplatz an (ich bin noch immer Anhänger des Muskelstarters, obwohl alles, was kreucht und fleucht, mit einem Hubschrauber durch die Gegend saust; ich vertraue lieber meinem eigenen Organismus als so einem winzigen Reaktor). Unterwegs machte ich noch einen Abstecher in die Bibliothek und stopfte mir die Hosentaschen mit Mikrofilmen von Romanen über merkwürdige Mordaffären voll. Ich glaubte nicht, daß sie mir weiterhelfen würden, aber schließlich mußte ich mir ja während des Fluges die Zeit irgendwie sinnvoll vertreiben. Auf dem Kosmodrom langte ich etwas zu früh an. Während ich durch den Warteraum schlenderte, traf ich einen ehemaligen Mitschüler, den ich schon fast vergessen hatte; der war gerade vom Mars zurückgekehrt, wo er drei Jahre in den Erzbergwerken gearbeitet hatte. Ich fragte ihn nach der achten Basis.
»Was willst du denn dort?« fragte er. Offensichtlich war er verblüfft. »Hab da was zu erledigen«, antwortete ich ausweichend. »Achte Basis… Allerlei Gerüchte sind über sie in Umlauf, aber ich glaube nichts davon.« »Was denn für Gerüchte?« »Das wirst du an Ort und Stelle erfahren.« Genau Mags Worte. Er lachte. »Wenn man dich überhaupt vorläßt.« Allmählich wurde es interessant. Nachdem ich mich mit der Karte vom Zentrum ausgewiesen hatte, stellte mir der Kommandant des Raumschiffes eine Einzelkabine zur Verfügung. Einen ganzen Monat lang aalte ich mich auf der Couch und schmökerte in den Romanen. Lauter unterhaltsame Geschichten, wenn auch stellenweise ziemlich unverständlich. Sherlock Holmes, Nat Pinkerton, Pater (was wohl »Pater« heißen mochte?) Brown… An die Namen der Autoren erinnere ich mich nicht, ich glaube, der eine hieß Deele oder Doyle, und auch eine Frau war darunter – Agatha Christie. Als einziges wurde mir klar, daß es bei fast allen Mordtaten um Geld ging. Aber das brachte mich keinen Schritt weiter, denn Geld hatte ich nur mal in einem Museum gesehen. In Marsburg, der damaligen Hauptstadt des Planeten, nahm ich mit dem Hauptkoordinator Verbindung auf. Ich bat ihn um ein Transportmittel zur achten Basis. Sein Gesicht wurde todernst. »Sie wissen natürlich, was es mit dieser Basis für eine Bewandtnis hat, nicht wahr?« fragte er vorsichtig. »Selbstverständlich«, log ich dreist in der stillen Hoffnung, ihm dadurch einige nützliche Angaben entlocken zu können. Doch der Koordinator kratzte sich nur an der Nase und fragte mich, ob ich einen Planetoplan steuern könne. Ich antwortete, daß ich mich mit diesen alten Kisten einigermaßen auskenne. Das erheiterte ihn denn doch, und er ordnete daraufhin an, einen Gleitwagen vorzufahren. »Ich hoffe, Sie verstehen mich«, erklärte er, »ich müßte Ihnen sonst einen Piloten mitgeben. Aber je weniger Leute von der achten Basis wissen, desto besser.«
Der Gleiter war zu meinem Leidwesen gar keine alte Kiste, sondern ein brandneues Modell. Es war die reinste Qual für mich, ihn zu steuern. Zweimal hätte ich beinahe diese scheußlichen grauen Krater gerammt; häßlichere habe ich nicht mal auf dem Mond gesehen. Endlich gelang es mir, die Maschine zu bändigen und sie obendrein haargenau vor einer der Schleusen der von Geheimnissen umwitterten (so hieß es in den altertümlichen Romanen) achten Basis zum Stehen zu bringen. Die Schleuse öffnete sich sofort, und ich ging in die Kammer. Nachdem die grüne Lampe angezeigt hatte, daß rings um mich genügend Luft vorhanden war, streifte ich meinen Raumanzug ab und sah mich um, ob jemand mich abzuholen erschienen war. Doch da war niemand. Dafür ließ sich über mir ein angenehmer Bariton hören. »Guten Tag«, sagte der Bariton. »Treten Sie ein.« Ich machte die innere Schleusentür auf und war in einer typischen Marsstraße, einem langen Korridor, von dem rechts und links lauter gleiche Türen abgingen. Ich lief an drei Abzweigungen vorbei. An der vierten Ecke befahl mir der Bariton, links abzubiegen. Ich tat es und stieß auf eine Art Fahrstuhl. Der Bariton forderte mich auf, ihn zu betreten. Der Lift brachte mich nach unten. Dann hielt er an, und ich fand mich in einem Korridor wieder, der genauso aussah wie der obere. Der Bariton schickte mich von neuem nach links. Ich folgte seiner Weisung, platzte aber bald vor Wut, denn ich kann es nun mal nicht leiden, wenn sich andere Leute so überaus wichtig machen. Am liebsten wäre ich stehengeblieben und hätte losgewettert. Doch noch ehe ich mich dazu entschließen konnte, öffnete sich eine der Türen, und ein großer, leicht gebeugter Mann erschien auf der Schwelle. »Treten Sie näher«, sagte er mit derselben Baritonstimme und ließ mich an sich vorbei in den Raum. »Ich komme vom Zentrum für nichtstandardgemäße Probleme«, stellte ich mich vor. »Mein Name ist Schekerdshiew. Sind Sie der Leiter dieser Basis?« »Man könnte sagen, ich bin es.« »Man könnte es sagen, oder sind Sie es tatsächlich?« fragte ich streng wie ein Untersuchungsrichter. Meine Wut über die Scheucherei durch die Korridore war noch nicht verflogen.
»Ich bin es«, sagte er. Ich mußte ihm glauben, obwohl es nicht sehr wahrscheinlich klang. Er war viel zu jung für einen solchen Posten, jünger als ich, ungefähr fünfundzwanzig Jahre alt. Ach was, in unserer Zeit mußte man auf alles gefaßt sein. Ein schmales, intelligentes Gesicht mit einer leicht gebogenen Nase, kurzer Haarschnitt. Erinnerte mich an jemand. Nein, Unsinn. Woher sollte ich ihn kennen? »Sie können sich sicherlich denken, weshalb ich hier bin«, sagte ich. »Ja, natürlich«, antwortete er. »Wegen der Mordsache.« »Dann erzählen Sie mal, wie es dazu gekommen ist, und gehen Sie dabei auch auf Einzelheiten ein.« »Einzelheiten?« wiederholte der Leiter. »Wüßte ich Einzelheiten, dann hätten Sie sich nicht herzubemühen brauchen.« »Na schön«, entgegnete ich resigniert. »Dann sagen Sie mir wenigstens, was Sie wissen.« »Das ist nicht viel«, erwiderte er. »Es handelt sich um einen unserer Mitarbeiter. Wir haben ihn im Labor gefunden. Von einem Bündel Laserstrahlen durchbohrt.« »Könnte immerhin ein Unfall sein.« »Ausgeschlossen«, widersprach der Leiter. »In seinem Labor gibt es keinen Laser.« »Und Selbstmord?« »Sein Kittel ist am Rücken versengt«, erklärte er. »Also ist von hinten geschossen worden.« »Aha«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Vom Zentrum ist angeordnet worden, den Leichnam einzufrieren«, fügte der Leiter hinzu. »Wollen Sie ihn sich ansehen?« »Ja, sofort.« Ich stand auf. Wieder gingen wir durch die Korridore – rechts, links und nochmals rechts. Wir fuhren zwei Stockwerke tiefer. Die Basis war weitläufig, aber menschenleer; in der ganzen Zeit begegneten wir niemandem. Dann betraten wir die Kühlanlage. Der Leichnam lag, mit einem weißen Tuch bedeckt, auf dem Fußboden. Ich hatte keine Lust, einen
Toten zu untersuchen (bis zu diesem Augenblick hatte ich noch keinen gesehen), aber es half nichts. Eine Gänsehaut überlief mich, die mehr von diesem unangenehmen Gefühl herrührte als von der Kälte, die in dem Raum herrschte. Doch dann schlug ich entschlossen das Tuch zurück. Und beinahe hätte ich vor Überraschung aufgeschrien: Vor mir am Boden lag der Leiter der Basis. Tot. Das gleiche schmale und gescheite Gesicht mit der gebogenen Nase. Das gleiche Haar. Nur die weit aufgerissenen Augen starrten gläsern und ausdruckslos zur Decke. Zum Glück gehöre ich nicht zu den Leuten, die gleich bei jeder Kleinigkeit den Verstand und die Sprache verlieren. Und wenn ich sie doch mal verliere, so finde ich sie stets sehr rasch wieder. Langsam drehte ich mich zu dem Lebenden um und fragte so beherrscht wie möglich: »Ein Zwillingsbruder?« »Aber ja«, antwortete er mit einem Anflug von Verwunderung in der Stimme. Darauf musterte er mich seinerseits, nickte und fügte hinzu: »Klarer Fall. Man hat Sie über unsere Basis nicht aufgeklärt. Stimmt’s?« »Stimmt«, gab ich zu. Er deckte seinen Zwillingsbruder wieder sorgfältig zu, richtete sich auf und sagte: »Kommen Sie. Wir gehen nach oben. Das ist eine lange Geschichte.« Nachdem wir uns im Arbeitszimmer des Leiters niedergelassen hatten, versank dieser zunächst in Schweigen. Er mußte sich offenbar erst einmal sammeln. Dann stieß er plötzlich hervor: »Mein Name ist Rosenthal.« In der Tat, vor mir saß Professor Rosenthal. Ich kannte ihn von vielen Bildern her. Als Student im dritten Studienjahr hatte ich als Prüfungsfrage sein Theorem über die Krümmung des Weltraums gezogen. Beinahe wäre ich damit durchgefallen. Professor Rosenthal war acht Jahre zuvor im Alter von dreiundneunzig Jahren verstorben. »Der Sohn von Professor Rosenthal?« erkundigte ich mich. »Nein«, antwortete der Leiter. »Professor Rosenthal.« Ich nahm mir vor, mich über nichts mehr zu wundern.
»Und der Ermordete?« »Ist Professor Rosenthal.« »Das ist ja wirklich großartig, in der Tat«, sagte ich mit wachsender Ungeduld. »Und wie viele Professoren Rosenthal gibt es?« »Jetzt sind wir neunzehn«, antwortete er gelassen. »Ehe Professor Rosenthal umgebracht wurde, waren wir zwanzig.« »Na, dann erzählen Sie mal der Reihe nach«, forderte ich ihn auf. »Wenn Sie nicht einfach von Sinnen sind, versteht sich.« Sein Bericht war lang und pedantisch, wie es einem richtigen Professor zukommt. Den genauen Wortlaut seiner Schilderung vermag ich allerdings nicht wiederzugeben, er überschüttete mich regelrecht mit Fachausdrücken, die über mein Begriffsvermögen gingen, und das immer in dem naiven Glauben eines echten Wissenschaftlers, daß jedermann mit Begriffen wie Quadrupel oder Ethnogenese völlig vertraut ist. Aber die Hauptsache wurde mir doch wenigstens einigermaßen klar. Ich erfuhr, daß die Biologen bereits hundert Jahre zuvor eine interessante Entdeckung gemacht hatten. Einem beliebigen Organismus, sei es nun einer Rübe oder einem Elefanten, wird eine lebende Zelle entnommen, und daraus werden genetische Informationen gezogen. Wie das vonstatten geht, kann ich Ihnen nicht sagen, und das tut ja in diesem Falle auch nichts zur Sache. Dann werden diese Informationen einer befruchteten Eizelle eingegeben. Die Eizelle entwickelt sich dann ganz normal weiter, und nach einiger Zeit entsteht daraus ein Organismus, der dem ursprünglichen aufs Haar gleicht. Diese Entdeckung erregte seinerzeit großes Aufsehen. Verstehen Sie recht, hier ging es nicht nur darum, daß man in der Lage war, das genaue Ebenbild eines Organismus zu schaffen, sondern daß man viele solcher Ebenbilder herstellen konnte, so wie eine Rotationsmaschine Zeitungen herstellt. Die Zeitungen erwähne ich nicht rein zufällig. »Was würde geschehen«, schrieben damals die Journalisten, die die Fakten ebenso aufzubauschen pflegten, wie es heute üblich ist, »wenn irgendein Gangster eine Großproduktion von kleinen Ganoven aufnähme? Die Menschheit würde zugrunde gehen.«
Nun, der Menschheit ist nichts passiert, denn die Verbrecher haben einfachere Mittel und Wege gefunden, und außerdem sind sie im Laufe der Zeit ausgestorben. Im übrigen stellte sich bald heraus, daß die Biologen eher eine theoretische als eine praktische Möglichkeit gefunden hatten. Die einzigen, die einen Nutzen daraus zogen, waren die Agronomen, während die ganze Angelegenheit bei den anderen Gelehrten bald in Vergessenheit geriet. Nur einige wenige Eigenbrötler waren auch weiter fest überzeugt, daß etwas dabei herausspringen würde. Und eines Tages war es soweit. Vor ungefähr vierzig Jahren erarbeiteten zwei Brasilianer (die Namen sind mir nicht mehr gegenwärtig) eine Methode, menschliche Ebenbilder zu schaffen. Danach suchten sie nach einer Anwendungsmöglichkeit und hatten sie auch sehr bald gefunden, und zwar in der Person des Professors Rosenthal. Professor Rosenthal ist zweifellos der größte Physiker unseres Jahrhunderts (an dieser Stelle entschuldigte sich der Erzähler wegen seiner Unbescheidenheit). Seine Untersuchungen der Weltraumeigenschaften, die mir sicherlich bekannt seien (ich nickte mit gewichtiger Miene), könnten der Menschheit ungeahnte Perspektiven eröffnen. Verstehen Sie, der Professor hat bewiesen, daß Reisen außerhalb der Zeit möglich sind. Dazu müssen die Raum-ZeitDimensionen durchbrochen werden, die eine Folge des Zusammenwirkens der Neutrinos zwischen den Lambdahyperonen sind. Na, und so weiter. Wenn man all das in eine menschliche Sprache überträgt, so kommt heraus, daß Professor Rosenthal dem Problem der interstellaren Flüge ziemlich nahe gekommen war. Allerdings gelang es ihm nicht, dieses Problem zu lösen. Er begann zu altern, allmählich verließen ihn die Kräfte, und die Arbeit ging nicht voran. Natürlich hatte er nicht nur einen oder zwei Mitarbeiter, doch auch diese errangen keine wesentlichen Erfolge. Die Aufgabe schien so schwierig, daß sie nur jemand vom Format eines Rosenthal zu bewältigen vermochte, eines Rosenthal in jungen Jahren. Und da beschloß irgendein hohes Gremium, die Methode der Brasilianer anzuwenden. Man nahm Zellen von Professor Rosenthal,
bearbeitete sie – und siehe da, zwanzig kleine Rosenthals erblickten das Licht der Welt. »Ich weiß, daß es nicht leicht ist, all das zu begreifen«, sagte Rosenthal. »Wir sind nicht Professor Rosenthals Kinder, sondern seine Doppelgänger. Jeder von uns ist Professor Rosenthal, mit seiner äußeren Erscheinung, seinem Charakter und seinen geistigen Fähigkeiten. Feder von uns ist ein Physiker vom Format Professor Rosenthals, und wir alle schlagen uns mit dem Problem des Durchbrechens der Hyperraumfalte herum. Die achte Basis ist also ein Laboratorium mit einem Wissenschaftler in zwanzig Ausführungen, das heißt, augenblicklich sind es nur noch neunzehn.« Das viele Sprechen schien den Professor ermüdet zu haben, und er ließ sich in den Sessel zurücksinken. Dann fügte er hinzu: »Da haben Sie in groben Zügen die Situation hier. Noch irgendwelche Fragen?« »Ja«, entgegnete ich. »Wo werde ich schlafen?« Er führte mich in ein für Marsverhältnisse ganz ordentliches Zimmer. Ich hatte eine leise Ahnung, daß man mir da die Behausung des verstorbenen Professors Rosenthal überließ. Typische Wissenschaftleratmosphäre. Bett, Tisch und ein erstklassiges Lesegerät für Mikrofilme. Und auf zwei Regalen sogar ein paar richtige Bücher. Ich sah sie durch. Alles nur Physik. Unter anderem sechs Bände ausgewählte Werke von Professor Rosenthal. Höchstwahrscheinlich von dem echten, nicht von der ermordeten Nachbildung. Ich war hundemüde und schlief sofort ein. Da ich nie schlecht träume, erwachte ich erfrischt und guter Dinge. Dann fiel mir ein, weshalb ich hergekommen war, und meine gute Laune war wie weggeblasen. Ich mußte den Mörder herbeischaffen. Um jeden Preis. Erstens, weil es in unserer Zeit keine Mörder geben durfte, und zweitens, weil man mich, sollte ich an meiner ersten Aufgabe scheitern, aus dem Zentrum hinausfeuern würde. Ich entschloß mich, dem Beispiel jenes komischen Kauzes aus der Vergangenheit, Holmes hieß er wohl, zu folgen und durch logisches Denken den Hergang des Verbrechens zu rekonstruieren. Also, auf der Basis leben zwanzig Personen. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen. Sie arbeiten an einem sehr wichtigen Problem. Plötzlich finden
sie einen von ihresgleichen tot auf. Demzufolge muß einer der Doppelgänger der Mörder sein. Eine brillante Schlußfolgerung, zu der jeder Einfaltspinsel hätte gelangen können! Ich ärgerte mich über diese Logik, stand auf und ging den langen Korridor hinunter. Jetzt gab mir keine Stimme Anweisungen, wohin ich mich zu wenden hätte, deshalb schlenderte ich ein wenig umher, öffnete schließlich aufs Geratewohl eine Tür und trat ein. Der Raum war groß, diente wohl als Labor – überall waren Apparaturen. Mittendrin stand mein Bekannter vom Vortag und bastelte an einer Vorrichtung herum. »Guten Tag«, grüßte ich. Dann fiel mir ein, daß das vielleicht gar nicht der von gestern war, sondern einer seiner Doppelgänger. Deshalb erkundigte ich mich höflich: »Sind Sie der Leiter der Basis?« »Der Leiter?« Er blickte verwundert zu mir auf, zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »Man könnte sagen, daß ich es bin.« »Man könnte es sagen, oder sind Sie es?« fragte ich und merkte zugleich, daß ich dieses Gespräch wortwörtlich schon einmal am Tag zuvor geführt hatte. Deshalb änderte ich jetzt meine Frage: »Habe ich gestern abend mit Ihnen gesprochen?« »O nein«, erwiderte er. »Gestern abend war ich im Laboratorium. Sie müssen nämlich wissen, daß im Feinspektrum der Ionisationspotentiale…« Zehn Minuten ließ ich ihn reden. Dann unterbrach ich ihn: »Einer von Ihnen beiden lügt.« »Wie bitte?« fragte er. »Der gestrige Professor Rosenthal behauptete, er sei der Leiter der Basis. Jetzt beanspruchen Sie diesen Posten. Also…« »Also operieren Sie hier mit Kategorien, die auf unsere Verhältnisse nicht zutreffen«, unterbrach er mich. »Was ist denn ein Leiter? Ein Mensch, der geeignet ist, anderen zu gebieten. Hier gibt es aber keine Leiter. Oder wenn Sie wollen, sind wir es alle. Denn wir sind gleich. Begreifen Sie das, vollkommen gleich.« Etwas in seinem Ton mahnte mich, auf der Hut zu sein. »Ist es Ihnen persönlich unangenehm, daß Sie alle gleich sind?«
Er lachte. »›Ihnen persönlich‹ ist auch so ein Ausdruck, der hier nicht ganz zutrifft.« »Na schön«, korrigierte ich mich, »ist es Ihnen allen unangenehm, daß Sie gleich sind?« »Keineswegs«, sagte er. »Wir sind nun mal so geschaffen. Wir sind zusammen aufgewachsen, fast isoliert von anderen Menschen. Wir arbeiten an einem ausnehmend interessanten Problem, einem so schwierigen Problem, daß ein Mensch allein wohl kaum damit zu Rande käme. Was scheint Ihnen unangenehm an alledem?« »Nichts«, antwortete ich. »Aber warum haben Sie Professor Rosenthal dann umgebracht?« »Ich persönlich habe niemanden…« »Sie persönlich?« unterbrach ich ihn. Rosenthal betrachtete mich aufmerksam. »Sie sind gescheit«, sagte er. »Doch ich glaube nicht, daß Sie dahinterkommen, was hier gespielt wird. Das ist einfach Ihrer Denkweise zu fremd.« »Ja, ja, ich sehe«, brummte ich finster. »Trotzdem verlasse ich mich auf meinen gesunden Menschenverstand. Vielleicht komme ich noch mal bei Ihnen vorbei.« »Bitte sehr«, sagte er. »Nur sollten Sie lieber anklopfen, bevor Sie hereinkommen. Wenn der Laser eingeschaltet ist…« Ich stutzte. »Der Laser?« »In der Basis existieren dreiundsechzig Laser, die beschädigten nicht gerechnet«, erklärte er. »Daraus werden noch lange keine Indizien abzuleiten sein. Aber klopfen Sie am besten überall vorher an.« Das war die nützlichste Auskunft, die ich aus diesem Rosenthal herauszuholen vermochte. Von jetzt an klopfte ich überall erst an, denn so furchtbar verlockend fand ich die Aussicht nun doch nicht, von einem zufälligen Laserstrahl durchbohrt zu werden und dem bereits durchlöcherten Rosenthal im Kühlraum Gesellschaft leisten zu müssen. Nach jedem Anklopfen gelangte ich entweder in das Laboratorium oder in das Arbeitszimmer eines Theoretikers und führte ein langes und unergiebiges Gespräch mit einem der Doppelgänger. Alle Rosenthals waren ausgesprochen höflich, genau wie das Personal von
»Kosmotourist«. Doch die Informationen der Wissenschaftler waren genauso unnütz wie das Geschwafel der Reiseleiter. »Links sehen Sie einen Asteroiden. Die Asteroiden sind kleine Planeten. Sie drehen sich um die Sonne…« Als ich bei Nummer sechs angelangt war, fing ich an, alles durcheinanderzubringen. Offenbar sprach ich mit einigen mehrmals, ohne es zu merken. Wahrscheinlich habe ich dann auch zwei oder drei übersprungen. Doch schließlich war das unwichtig. Ihre Zurückhaltung ging mir langsam, aber sicher auf die Nerven. Sie schienen etwas vor mir zu verbergen. Nicht etwa die Tatsache – im Gegenteil, auf konkrete Fragen antworteten sie stets genau und ausführlich, mit der Gewissenhaftigkeit eines Professors. Und doch blieb da immer etwas Unausgesprochenes, etwas Ungreifbares… Im übrigen hatten die Leute recht. Weshalb sollten sie mir denn offen und ehrlich begegnen, mir, einem Menschen, den sie bis gestern weder gekannt noch jemals gesehen hatten? Außerdem war ich ihnen gegenüber ja auch nicht ganz offen. Konnte es einfach nicht sein, weil ich wußte, daß eins dieser in Serie produzierten Genies ein Mörder war. Von allem, was ich an diesem verdrehten Tag zu hören bekam, habe ich nur drei Begebenheiten im Gedächtnis behalten. Während des Gespräches wurde einer der Professoren nachdenklich, strich sich mit der allen Rosenthals eigenen Geste über die Stirn und sagte: »Strenggenommen ist das gar kein richtiger Mord. Wir stellen keine Gruppe dar, sondern in gewissem Sinne einen einzigen Menschen. Jeder ist so etwas wie eine Zelle in einem komplizierten Organismus. Manchmal muß der Organismus operiert werden, damit die erkrankten, bösartig wuchernden Zellen entfernt werden können.« »Sie sind also der Meinung, daß der Ermordete krank und bösartig war?« »Meine Überlegung ist rein theoretisch«, entgegnete der Professor trocken. Mit einem anderen Rosenthal unterhielt ich mich darüber, wie sie selbst einander zu unterscheiden vermögen.
»Haben Sie keine Nummern, Spitznamen oder sonst etwas?« fragte ich. »Das brauchen wir nicht«, antwortete er. »Jeder von uns hat sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert. Sobald einer zu sprechen beginnt, ist sofort zu erkennen, wer es ist.« So. Um sie also auseinanderhalten zu können, mußte ich die gesamte derzeitige Physik pauken und mir wenigstens die Kenntnisse eines Professors aneignen. Bei dem dritten Gespräch erfuhr ich, daß sich die Rosenthals allabendlich um sieben Uhr zusammenfanden, um Gedanken zu ihren Hyperraumproblemen auszutauschen. Das hatte wenigstens einen praktischen Wert. Bisher hatte ich mich mit jedem einzeln unterhalten. Jetzt würde ich sie alle auf einem Haufen haben. Fünf Minuten vor sieben ließ ich mich auf der letzten Bank im Sitzungssaal nieder. Die Professoren erschienen einer nach dem anderen. Sie blieben stehen, unterhielten sich, machten Witze. Genau wie vor jedem gewöhnlichen theoretischen Seminar. Wenn doch nur nicht diese gleichen Gesichter gewesen wären, diese gleichen Stimmen, Gesten und Bewegungen… Sie nahmen Platz, und pünktlich um sieben Uhr begann die Beratung. Und nun mußte ich erkennen, daß das gar keine Konferenz im herkömmlichen Sinne war. Als Student und Aspirant habe ich oft an Seminaren teilgenommen. Die gekünstelte Atmosphäre mit ihrer altmodischen übertriebenen Höflichkeit hatte mich stets gestört. »Es sei mir gestattet, eine Frage zu stellen.« »Wenn der verehrte Opponent nichts dagegen einzuwenden hat.« – »Trotz der unbestreitbaren wissenschaftlichen Qualitäten des Vortrages…« Davon war hier nicht die Spur, weder von altmodischer noch von sonst einer Höflichkeit. Einer fing an zu reden, die anderen unterbrachen ihn, stritten miteinander, schrien, einer lief an die Tafel, kritzelte griechische, lateinische und weiß der Teufel was noch für Buchstaben darauf, ein anderer stürzte herbei und wischte sie wieder weg. So ein Drunter und Drüber hatte ich noch nie gesehen!
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Waren diese Leute identisch mit den ehrwürdigen Gelehrten, denen ich tagsüber begegnet war? Nein, das war nicht nur Unhöflichkeit, sie waren nervös und aufgebracht gegeneinander. In ihren Beziehungen lag etwas Lächerliches und Bösartiges zugleich. Doch allmählich gewöhnte ich mich an den Lärm und begriff dessen Ursachen. Hier ging es ums Prinzip. Alle persönlichen Angriffe, Spötteleien und Beschimpfungen hatten nur ein einziges Ziel: die Wahrheit, und zwar die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. Das war kein Meinungsstreit im althergebrachten Sinne. Ich war bei der angestrengten Tätigkeit eines einzigen großen und übergenialen Gehirns zugegen. Die Leute in jenem hohen Gremium hatten offenbar gewußt, was sie damit erreichen wollten, daß sie zwanzig Rosenthalkopien schufen. Nachdem ich zu diesem Schluß gelangt war, begann ich mich mehr und mehr zu langweilen. Ich kapierte überhaupt nichts, weder ihre Worte noch die Formeln an der Tafel. Und letztlich hatte ja mein bescheidenes Normalgehirn auch nicht den Ehrgeiz, mit einem solchen Superverstand zu wetteifern. Außerdem störte mich der Lärm bei meinen detektivischen Kombinationen. Um die Zeit totzuschlagen, griff ich zu einem alten Trick: gleiche Gegenstände zu zählen. Das hatte ich vor Jahren getan, als mich eine Bekannte in Symphoniekonzerte schleppte. Damals zählte ich die Kristalleuchter an den Gipsdecken; in diesem Raum waren die Beleuchtungskörper verdeckt, deshalb zählte ich die Professoren. Eins, zwei, drei… acht, neun… Hier geriet ich durcheinander, denn zwei hatten ihre Plätze gewechselt, während ein anderer aufs Podium stieg. Ich zählte nochmals von vorn. Sechzehn, siebzehn, achtzehn. Achtzehn also. Eine schöne Zahl, eine gerade. Läßt sich durch zwei, drei, sechs und neun teilen… Und wo ist der neunzehnte? Mich überrieselte es kalt. Ich glaube weder an Wahrsagereien noch an Vorahnungen, aber ich könnte schwören, daß mir bereits in diesem Moment klar wurde, was geschehen war, während ich meine Zeit mit ihrem unverständlichen Gerede vergeudete.
Ich erhob mich. Meine Stimme tönte fremd in diesem Gewirr von lauter gleichen Baritonstimmen. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich. »Warum fehlt denn einer?« Der Professor an der Tafel verstummte bestürzt. Alle wandten sich mir zu und starrten mich an. Sie waren offensichtlich verblüfft, daß ich es wagte, ihre Hyperraumweisheiten mit solch einer dummen Frage zu unterbrechen. Dann funkte es aber doch bei einem Rosenthal, was meine Worte zu bedeuten hatten. »Das ist wahr«, meinte er. »Ich habe auch schon bemerkt, daß die Tensormatrizen-Methode heute nicht vertreten ist.« »Wissen Sie, wo der Tensormatrizen-Professor arbeitet?« »Selbstverständlich«, versicherte der Angesprochene. »Ich bitte, daß alle hierbleiben. Und Sie« – ich deutete auf den findigen Rosenthal – »begleiten mich.« Korridor, Fahrstuhl, wieder ein Korridor. Einmal links abbiegen. Rosenthal blieb vor einer Tür stehen. »Hier.« Ich klopfte an. Niemand meldete sich. Da schlug ich die Warnung in den Wind und riß die Tür sperrangelweit auf. Der fehlende Rosenthal war da. Er war von seinem Stuhl heruntergerutscht, ein Teil seines Körpers lag unter dem Instrumententisch. Ein lebender Mensch würde niemals in einer solchen Stellung daliegen. Ich trat näher und sah mir den Leichnam an. Der weiße Kittel war an einer Stelle durchgebrannt. Wieder Laser. Der Mörder schien keine besonders blühende Phantasie zu haben. Ziemlich primitiv für ein Genie. Merkwürdig, in diesem Augenblick empfand ich gar nichts, weder Empörung noch Zorn, ja nicht einmal Verwunderung. All das hatte ich bereits im voraus gefühlt, nämlich beim Seminar, nachdem ich entdeckt hatte, daß die Professoren nicht vollzählig waren. Die Verwunderung stellte sich ein, als ich den neben mir stehenden lebenden Rosenthal ansah: Er lächelte. »Komisch, was?« fragte ich.
Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. »Sie verlangen doch nicht etwa von mir, daß ich in Tränen ausbreche?« fragte er ruhig. »Das wäre jedenfalls natürlicher gewesen. Es sei denn, Sie hätten das hier selbst vollbracht.« »Ich bin es nicht gewesen«, entgegnete er. »Wäre ich es gewesen, so hätte ich auf der Versammlung keinen Ton gesagt.« Dem konnte man eine gewisse Logik nicht absprechen. Der Mörder hatte nichts davon, meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, unter seinesgleichen fiel er ja nicht weiter auf. Als wir in den Saal zurückkehrten, ging es dort noch ebenso stürmisch zu wie zuvor, so, als wäre nichts geschehen. Ich stieg auf das Podium, schob den Rosenthal, der eben dort stand, etwas unsanft beiseite und rief: »Die Beratung ist zu Ende. Jeder sucht sein Zimmer auf und bleibt bis auf weiteres dort!« Ich war einfach begeistert von mir selbst – niemals hätte ich geglaubt, so einen Kommandoton anschlagen zu können. Aber das war auch schon alles, wovon ich begeistert sein konnte. Sonst war die Lage recht verworren. Ganze vierundzwanzig Stunden war ich nun schon hier, trotzdem war es mir nicht gelungen, mich auch nur einigermaßen zu orientieren. Und nun vor meiner Nase noch ein zweiter Mord. Und das schlimmste war, daß ich nicht einmal die leiseste Ahnung hatte, wie ich die Sache anpacken sollte. Mit dem festen Entschluß, mir unter allen Umständen etwas einfallen zu lassen, zog ich mich in mein Zimmer zurück. Kein sehr empfehlenswerter Entschluß, denn das lähmt viel zu sehr die Denkfähigkeit. Ich ging einige Kilometer im Zimmer auf und ab und erreichte nur, daß ich müde wurde. Ich war ein As im Lösen von Schachaufgaben, doch diese Aufgabe hatte nichts mit Schach zu tun, sie glich eher einem Damespiel. Dabei gab es nicht einmal schwarze und weiße Steine, sondern alle waren gleich. Vollkommen gleich, wie heute einer von ihnen gesagt hatte. Mit diesem Gedanken schlummerte ich ein. Ich schlief nicht fest, sondern döste nur vor mich hin. Im Traum sah ich ein riesiges, schachbrettartig aufgeteiltes Feld. Darauf bewegten sich nach den Regeln
lauter gleiche Figuren. Ich versuchte, ihren Bewegungen zu folgen, geriet jedoch bald durcheinander, weil es so viele waren. Dann erreichte einer der Bauern den Brettrand und verwandelte sich in eine viel größere Figur. Der Bauer war eine Dame geworden! Das Spiel ging weiter, und nun konnte ich in aller Ruhe die Züge der Dame mitten unter den zahlreichen gleichen Bauern beobachten. Ich fuhr hoch und hatte das Empfinden, daß mir im Traum eine überaus wichtige, ja die entscheidende Idee gekommen war. Minutenlang saß ich reglos, damit sie mir ja nicht entglitt. Allmählich tauchte der Gedanke aus dem Unterbewußtsein auf und nahm greifbare Formen an. Er war so klar, daß er sich mit wenigen Worten ausdrücken ließ. Der Schlüssel zu dem Geheimnis war der alte Professor Rosenthal. Das war ein ziemlich einfacher Gedanke, aber gerade seine Einfachheit bewies mir, daß ich auf dem richtigen Wege war. Meine ganze Verwirrung rührte von der dummen Faszination her, die von den einander gleichen Figuren ausging. Aber hier handelte es sich eben nicht um Figuren, sondern um lebende Menschen, mit ihren Gewohnheiten, ihrem Charakter, ihrer Weltanschauung, das heißt mit den Gewohnheiten, dem Charakter und der Weltanschauung des echten, des ersten Professors Rosenthal. In der kurzen Zeit hatte ich natürlich keinen von ihnen richtig kennenlernen können. Deshalb waren mir auch die Motive, die zu diesem Verbrechen geführt hatten, nicht klargeworden. Aber ich brauchte mich auch nicht erst damit abzuquälen, den Charakter des Originals zu analysieren, denn über ihn waren genug Bücher erschienen: Biographien, Untersuchungen, seine eigenen Schriften. All das war sorgfältig gesammelt und, mit Anmerkungen versehen und kommentiert, in einer mehrbändigen Akademieausgabe herausgekommen. Im Moment hatte ich diese Akademieausgabe nicht zur Hand. Sicherlich hätte ich sie irgendwo in der Basis auftreiben können, aber ich hatte weder Zeit zum Suchen, noch mochte ich einen der Rosenthals um Hilfe bitten. Vielleicht würden mir die sechs Bände ausgewählte Werke in meinem Zimmer schon genug Hinweise geben. Hastig blätterte ich sie durch: Formeln, Formeln, Formeln. Der kurze Text zwischendurch war in jener trockenen, unpersönlichen Sprache
abgefaßt, in der Wissenschaftler schreiben, aber niemals reden. Am Anfang des ersten Bandes fand ich einen langen biographischen Abriß und in der zweiten Hälfte des letzten Bandes einen Teil der persönlichen und der wissenschaftlichen Korrespondenz. In der Biographie entdeckte ich nichts für mich Interessantes. Es ist ja allgemein bekannt, wie diese offiziellen Lebensbeschreibungen großer Persönlichkeiten aussehen: Da und da geboren, in der und der Familie, sein Vater, seine Mutter, die Universität; der erste wissenschaftliche Grad. Mit fünfundzwanzig Jahren veröffentlicht er eine abgeschlossene Theorie über seine Idee. Anerkennung. Professur. Folgende Arbeiten. Kongresse, Reden, Beziehungen zu anderen Wissenschaftlern. Lehrtätigkeit. Stirbt an dem und dem Tag. Ende. Daraus soll nun einer ermitteln, was für ein Mensch das gewesen ist! Bei den Briefen sah die Sache dann schon ganz anders aus. Einfach nicht zu glauben, daß das derselbe Professor Rosenthal war, der die präparierten Phrasen in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen geschrieben hatte. Seine Korrespondenz zeugte von einer ungewöhnlichen Breite der Anschauungen, von feinem Humor, erstaunlichen Interessengebieten und Liebhabereien (wer hätte zum Beispiel vermuten können, daß der alte Professor eine so große Vorliebe für Hunde hatte und ebenso große Kenntnisse über sie). Und eine Eigenschaft hatte er, die meiner Meinung nach nur wirklich große Menschen haben, nämlich die Fähigkeit, über sich selbst zu spotten, ohne dabei der Würde Abbruch zu tun. Ich muß gestehen, daß ich nach der Lektüre der Briefe des ersten Rosenthal dessen zahlreichen Abbildern mehr Achtung entgegenzubringen begann. Und doch war einer von ihnen ein Mörder! Ich ging die Korrespondenz noch einmal von vorn durch. Dabei blieb mein Blick zufällig an einem scheinbar unbedeutenden Satz hängen. Der Brief war an seine einige Jahre jüngere Schwester gerichtet, die Philologin war (alle diese Einzelheiten erfuhr ich aus einer Fußnote). Der Professor schrieb: »Mit meiner geringen Sprachbegabung hätte ich wohl niemals Japanisch gelernt, wenn nicht in unserer Schule ein Wunderkind (aus ihm ist, glaube ich, nie etwas Besonderes geworden) nach zweiwöchigem Unterricht angefangen hätte, japanisch zu sprechen.«
Professor Rosenthal erinnerte sich daran im Alter von siebzig Jahren, mehr als ein halbes Jahrhundert nachdem er die Schule verlassen hatte! Dieser Satz brachte mich auf eine Spur. Nun notierte ich mir verschiedene Einzelheiten, Redewendungen und sogar einzelne Wörter. Lauter Dinge, die mir beim ersten Lesen nicht aufgefallen waren. Als ich das Buch weglegte und aufsprang, zeigte die Uhr an, daß es nach Greenwicher Zeit auf der Erde“ bereits dämmerte. Mir schien – nein, ich war fest überzeugt –, daß ich des Rätsels Lösung gefunden hatte. Und deshalb wollte ich nicht auch nur eine Minute länger zögern. Ich lief die mir schon vertrauten, widerlich langen Korridore entlang. Links, rechts. Lift. Dann wieder rechts. Durch eine Türritze drang ein heller Lichtschein. Hier. Diesmal befolgte ich den gutgemeinten Rat nicht, sondern stürmte hinein, ohne anzuklopfen. Rosenthal saß am Tisch, den Kopf auf die linke Hand gestützt, wodurch sich sein Gesicht verzogen und einen fast tragischen Ausdruck angenommen hatte. Mit der rechten warf er hastig ein paar Formeln aufs Papier. »Waren Sie vorhin bei mir?« fragte ich. Ich sah die Verwunderung in seinen Augen, redete aber gleich weiter, um ihm keine Möglichkeit zum Antworten zu lassen: »Ich habe vergessen, Ihnen etwas sehr Wichtiges zu sagen. Bitte teilen Sie keinem von Ihren Leuten mit, daß Sie die Lösung gefunden haben. Zumindest nicht, bevor wir die Erde informiert haben.« Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Gut. Ich werde niemandem etwas davon sagen.« Ich zwang mich zu lächeln, nickte und verließ den Raum. Jetzt brauchte ich nur zu warten. Wenn ich ins Schwarze getroffen hatte, würde in wenigen Stunden alles vorüber sein. Und wenn nicht… Ich sah mich schon in meiner Sonntagsschrift auf ein Blatt schreiben: »An den Direktor des Zentrums für nicht-standardgemäße Probleme. Wegen Unfähigkeit bitte ich hiermit um meine Entlassung…« Höchstens zehn Minuten waren vergangen, doch mir schien das Warten im Korridor endlos zu dauern. Da öffnete sich ganz langsam die Tür, und Rosenthal schlüpfte vorsichtig heraus. Mich bemerkte er nicht.
Ich hatte allerdings keinen Anlaß, mich länger zu verstecken. Nicht allzusehr überzeugt von der Wirksamkeit meiner Geste, legte ich ihm die Hand auf die Schulter – so haben es die Polizeikommissare von einst sicherlich auch gemacht. »Kommen Sie mit.« Ich hätte mir nie träumen lassen, daß ein derart intelligenter Mensch so fassungslos sein könnte. Mir war es einfach unangenehm, ihn anzusehen. Zu seiner Ehrenrettung muß jedoch gesagt werden, daß er sich rasch wieder in der Gewalt hatte. »Was wollen Sie von mir?« fragte er kühl. »Sie sind verhaftet«, antwortete ich. Ich hatte nicht das Recht, jemanden zu verhaften, hoffte aber, daß er das nicht wußte. Und so war es auch. Rosenthal murmelte nur, daß ich mich dafür zu verantworten hätte (was mich nicht im geringsten aufregte), und folgte mir ergeben. Ich verlangte von ihm, mich in die Funkstation zu führen, und setzte mich von dort aus mit Marsburg in Verbindung. Ich bat den Diensthabenden, den Hauptkoordinator herbeizurufen. »Jetzt, um diese Zeit?« fragte der Diensthabende erstaunt. »Der schläft doch.« »Wecken Sie ihn«, forderte ich ihn auf. »Ich bin vom Zentrum für nichtstandardgemäße Probleme.« Eine kurze Pause folgte, dann meldete sich aus dem Radio eine ganz andere Stimme: »Grüß dich, Schek. Was gibt’s denn?« »Mag!« Also bis auf den Mars war er sogar gekommen, dieser bärtige Teufel! Wollte wohl in der Nähe sein, falls der Neue sich nicht zurechtfinden sollte… Eigentlich hätte mich das kränken müssen, doch das war jetzt belanglos. »Hör zu, Mag«, sagte ich, »ich weiß inzwischen, was hier los ist. Eine ziemlich ernste Angelegenheit. Kannst du unverzüglich Planetoplane herschicken, die achtzehn Personen aufnehmen können?« »Achtzehn?« fragte er. »Ja, mit mir neunzehn«, antwortete ich. »Und beeil dich, daß nicht noch ein Platz frei wird.«
»Wir kommen sofort«, sagte Mag. Den Rest der Nacht verbrachte ich in der Funkstation. Der verhaftete Rosenthal saß in einer Ecke und beobachtete mich aufmerksam. Ich sah wohl, daß er mir etwas sagen wollte, aber ich tat, als bemerkte ich es nicht. Schließlich hielt er es dann doch nicht länger aus und fragte mit einer gewissen Hinterhältigkeit in der Stimme: »Und was für Beweise haben Sie, daß gerade ich der Mörder bin?« »Ich brauche keine Beweise«, knurrte ich. »Sie meinen, daß man Ihnen einfach so, auf Ihr Wort hin, glauben wird?« Ich war nicht verpflichtet, ihm Erklärungen zu geben, aber zu verbergen hatte ich auch nichts. »Die Wahrscheinlichkeit, daß Sie der Mörder sind, beträgt ein Achtzehntel«, sagte ich deshalb. »Und ob Sie der Mörder sind oder sonstwer, spielt gar keine so große Rolle mehr. Von Bedeutung sind nur die Motive, die zu den Mordtaten geführt haben.« »Und warum halten Sie mich dann fest?« »Wenn Sie wollen, betrachten Sie es nicht so, sondern als Quarantäne«, beruhigte ich ihn. »Ich möchte bloß nicht, daß die anderen von unserem nächtlichen Gespräch etwas erfahren.« Rosenthal schwieg eine Zeitlang, dann sagte er überraschend freundschaftlich: »Es wäre gut, wenn ich mit meinen Vermutungen über Ihr Vorhaben recht behielte.« »Und was habe ich Ihrer Meinung nach vor?« fragte ich interessiert. »Dieses«, er suchte nach Worten, »dieses Nest zu sprengen.« Wie widersinnig! Er war verhaftet, ich hatte ihn zu bewachen, und doch kam ein Gespräch in Gang. Zum erstenmal unterhielt ich mich mit einem der Rosenthals ohne Umschweife, ohne Argwohn. Die Ursache dafür lag vielleicht darin, daß mein Auftrag ziemlich erledigt war. Drei Stunden später erschien Mag mit seinem ganzen Geschwader von Planetoplanen. Wir holten alle Rosenthals zusammen und verfrachteten sie. Einige protestierten, daß sie die Arbeit gerade an der interessantesten Stelle abbrechen mußten, doch wir blieben unerbittlich.
In den letzten Planetoplan stiegen Mag und ich ein. Er steuerte, während ich berichtete, wenn man meine nicht sonderlich zusammenhängende Erzählung einen Bericht nennen konnte. »Es hat keinen Sinn, den Mörder zu suchen«, sagte ich. »Selbst wenn wir ihn auftrieben, hätten wir keinen großen Nutzen davon. Verstehst du, die sind gleich, vollkommen gleich. Nicht wie Zwillinge, sondern viel mehr. Und jeder von ihnen konnte ein Mörder werden. Anfangs war das nur eine Hypothese, aber dann habe ich sie überprüft. Auf gut Glück griff ich mir einen der Rosenthals heraus und zog vor ihm eine regelrechte Komödie ab. Ich brachte ihn dazu, anzunehmen, daß einer der anderen bereits die richtige Lösung gefunden hätte. Er beschwindelte mich, verheimlichte, daß nicht er der Entdecker war. Das war der erste Beweis. Den zweiten hatte ich, als er so unauffällig wie möglich auf den Korridor herauskam. Ich bin nicht sicher, ob er jemanden umgebracht hätte. Es hätte aber sein können.« »Neid?« fragte Mag. »Ich weiß nicht, ob gerade dieses Wort zutreffend ist«, meinte ich. »Bevor ich die Briefe des alten Professors Rosenthal gelesen hatte, war mir die ganze Geschichte schleierhaft. Ein großer, ein wahrhaft großer Mensch… Aber du kannst dir kein Bild von der Eifersucht auf die Arbeiten anderer machen, von dem ständigen Bestreben, stets der erste zu sein, um jeden Preis der erste!« »Das ist doch nichts Schlechtes«, wandte Mag ein. »Sicherlich nicht«, bestätigte ich. »Aber jene, die den Beschluß faßten, Professor Rosenthal zu vervielfältigen, kannten in ihm nur den großen Wissenschaftler. Und doch war auch er ein Mensch wie wir alle, mit guten Eigenschaften und kleinen Schwächen. Und man hat eben nicht nur seine geistigen Fähigkeiten verzwanzigfacht, sondern auch seine Schwächen, auch diese… nun, wollen wir sie Neid nennen. Bei dem ersten Professor war der Neid etwas Unwesentliches, hat ihn aber bei seiner Arbeit angespornt und ist in seinen persönlichen Beziehungen kaum zum Ausdruck gekommen. Hier aber… In der Elementarphysik gibt es ein Wort, das hier zutreffen könnte: Resonanz. Konstrukteure von Raumschiffen hüten sich davor wie der Teufel vor dem Weihrauch – sobald nämlich das Vibrieren der Teile zusammenfällt, zerfällt das Schiff
in seine Bestandteile. In der achten Basis hat sich eine Resonanz von Geltungsbedürfnis und Neid ergeben, von krankhaftem, übersteigertem Ehrgeiz. Und hat sich eben jetzt besonders bemerkbar gemacht, da die Lösung des Hyperraumproblems offensichtlich in greifbare Nähe gerückt ist.« Hier unterbrach ich meinen Redefluß. Nicht nur, weil ich mir wegen der hochtrabenden Phrasen, mit denen ich meinen an sich einfachen Gedankengang ausdrückte, komisch vorkam, sondern auch, weil ich fürchtete, auch das auszuplaudern, was ich unter allen Umständen für mich behalten wollte. Ich wußte, wer der eigentliche, der physische Mörder war. Bei unserem offenherzigen nächtlichen Gespräch erwähnte der verhaftete Professor Rosenthal scheinbar nebenbei, aber doch wohl aus einem ganz bestimmten Grund (vielleicht war ich ihm sympathisch geworden?): »Sie müssen nicht denken, daß unsere Arbeit nicht mit Gefahren verbunden ist. Zum Beispiel die Experimente mit den Laserstrahlen. Wenn man keine Vorsichtsmaßregeln trifft und zu dem bestrahlten Objekt hinsieht, bekommt man eine furchtbare Bindehautentzündung. Und allein kann ein Mensch nur schwer die Arbeitsschutzbestimmungen einhalten…« Wie zu erwarten war, lag des Rätsels Lösung sehr nahe – die Sache war so einfach, daß es eigentlich gar keinen Sinn gehabt hatte, dafür speziell einen Mann aus dem Zentrum hinzubeordern. Aber ich war mir im klaren, daß meine Aufgabe in erster Linie nicht darin bestand, den Mörder zu finden, als vielmehr die Ursachen aufzudecken. Als alle Rosenthals an der Schleuse versammelt waren, um in den Planetoplan zu steigen, sah ich sie mir ganz genau an. Einer von ihnen hatte gerötete, tränende Augen. Ich hätte nur einen Schritt zu tun brauchen, um ihn zu fassen, bevor er sich unter die anderen mengte, und die Untersuchungen wären formell abgeschlossen gewesen. Aber wer weiß, vielleicht hätten sich die Leute, die die Basis geschaffen hatten, mit der Festnahme dieses einen zufriedengegeben. »Was wirst du dem Rat vorschlagen?« fragte Mag mitten in meine Gedanken hinein.
»Das liegt doch auf der Hand«, antwortete ich. »Sie müssen voneinander getrennt werden und selbständig arbeiten, und möglichst an verschiedenen Problemen. Hier in der achten Basis ist das zu gefährlich.« Dann dachte ich kurz nach und fügte hinzu: »Im übrigen gefällt mir diese ganze Angelegenheit mit dem Kopieren von Genies ganz und gar nicht.« »Die interstellaren Flüge sind ein großes Ziel.« »Meines Erachtens gibt es wichtigere Dinge als interstellare Flüge«, erwiderte ich. Und gerade dabei fiel mir ein, daß auch unser Zentrum für nichtstandardgemäße Probleme ein Experiment war. Nur daß es das genaue Gegenteil von dem Experiment mit den zwanzig Ebenbildern von Professor Rosenthal war. Und meiner bescheidenen Meinung nach ein wesentlich besser geglücktes. Mag steuerte den Planetoplan auf den Landeplatz. Ohne den Blick vom Armaturenbrett zu heben, fragte er unerwartet: »Schek, ist es dir sehr unangenehm, wenn ich dir sage, daß ich das Rätsel der achten Basis bereits vor dir gelöst hatte?« »Natürlich«, erwiderte ich, denn meine Gefühle waren tatsächlich nicht die angenehmsten. »Könntest du mich deswegen umbringen?« »Was?« Ich wunderte mich über diese sinnlose Frage. Doch dann begriff ich, was er meinte, und antwortete: »Unsinn, Mag. Wir beide sind doch grundverschieden.« Aus dem Bulgarischen von Renate Bogdanowa
Swetosar Slatarow Der Fall Proteus
»Andronike, Andronike… Wachen Sie auf. Wir sind da.« Andronike bin ja ich! fuhr es ihr durch den Sinn. Und noch bevor sie die Augen geöffnet hatte, riß eine tiefe innere Erregung sie in die Wirklichkeit zurück, und alles nahm wieder seinen gewohnten Platz ein. Ja, richtig, Prüfung! Ein paar Stunden zuvor hatte der Professor sie zu sich rufen lassen. »Du machst dich auf den Weg zum Planeten Pharos. Dort untersuchst du den Fall Proteus und gibst das Ergebnis sofort durch. Wir wollen überprüfen, ob du selbständig arbeiten kannst.« Keinerlei weitere Erläuterungen, Tabellen oder Taschenrechner. Sie wußte nicht einmal, was für ein Planet es war und wo er zu finden war… Nach der Prüfungsordnung durften beim Examen Nachschlagewerke nicht benutzt werden. Das Institut war mit geheimen Missionen betraut, deshalb mußte sie sich auch einen anderen Namen zulegen. Warum sie ausgerechnet auf Andronike gekommen war, wußte sie nicht, unter diesem Namen wurde sie jedenfalls in die Passagierliste des Raumschiffes eingetragen. Sie nahm sich zusammen und versuchte, sich Mut zu machen. Ihr Puls wurde schneller, dann normal, und schließlich durchflutete sie Munterkeit und Aufregung. Na los, Andronike, heb schon die Lider und sei freundlich zu deiner Umwelt, genau wie ein richtiger Sternendetektiv. Denk an die Regel: Das Lächeln hilft beim Sammeln erster Informationen. Ihr Nachbar rührte sich bereits in seinem durchsichtigen Hibernator. Ein Dicker mit einem Schlafmützengesicht. Sie lächelte ihm zu. »Oh, Sie sind auch schon wach. Schauen Sie mal aus dem Fenster«, sagte er väterlich. »Sehen Sie nur! Was für ein gelber Planet. Wie ein reifer Kürbis.« »Ähnelt eher einer Riesensonnenblume«, entgegnete sie kokett. Der Dicke blinzelte. »Ach, Sie sind noch jung und romantisch. Aber in unserer Zeit kann man die gesamte Galaxis auch ohne romantische Anwandlungen durchstreifen. Plätschern von Wellen und Aufheulen von Raketen, all das war einmal.« Auf Andronikes Gesicht zeichnete sich reges Interesse ab.
»Das hier – nennen Sie das vielleicht eine ordentliche Reise?« fuhr ihr Nebenmann ermutigt fort. »Man kommt in einen Hibernator, wird hermetisch abgeschlossen und eingeschläfert. Der allgewaltige Orkan dröhnt, erzählt von der großen Harmonie… Fünf Minuten vor Ankunft am Bestimmungsort wird man geweckt. Daß das Schiff im gekrümmten Raum und in der Zeitdilation geschlingert hat, daß es vielleicht auf dem besten Wege war, sich in einen purpurnen Stern zu verwandeln, scheint einen gar nichts anzugehen. Nur wenn die Chemieanlagen defekt sind, hat man beim Aufwachen den Geschmack irgendeiner Chemikalie auf der Zunge. Und dabei hat es Zeiten gegeben, da reisten die Leute, indem sie einen Fuß vor den andern setzten.« Puh, ist das ‘ne Quasselstrippe! Aber immer freundlich sein, Andronike! Jeder hat das Recht auf eine bestimmte Anzahl Schwächen, heißt es doch. »Und heute, beginnt nicht auch heute jede Reise mit der Geschwindigkeit eines Schrittes, und endet sie nicht auf die gleiche Weise?« konnte sie eben einflechten. »Nanu, sind Sie etwa Philosophiestudentin?« »Ja, so was Ähnliches.« Beinahe hätte sie sich verraten. »Und nun fliegen Sie wohl, müde vom vielen Lernen, auf den Pharos, um ein wenig auszuruhen?« »Hm… ja. Und Sie, sind Sie dienstlich hier?« Auf diese Frage schien er nur gewartet zu haben, denn gleich ließ er sich wieder lang und breit aus. Alle Jubeljahre einmal kämen Leute mit einem Dienstauftrag auf den Pharos. Bei ihm sei das anders, er habe einen seltenen Beruf, studiere die antiken Kulturen. Interessante Untersuchungen würden auf diesem Planeten seiner harren, nur sei er auf die Verhältnisse dort nicht eingerichtet, so daß er es nicht leicht haben werde. »Sehen Sie mal, sehen Sie nur mal!« unterbrach er seine Ausführungen. »Wir fliegen schon über der Stadt. Heute sind alle Städte gleich, alles ist verchromt und blankpoliert. Aber in dieser gibt’s noch alte Antennen, Schornsteine und elektrisches Licht. Und sogar Rauch steigt über den
Dächern auf… Doch jetzt müssen wir erst einmal von Bord. Auf Wiedersehen.« Endlich war sie diesen Schwätzer los. Raffinierte Robotermechanismen brachten ihn zum Ausgang, seine Nummer war nämlich vor der Andronikes dran. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Kommt mir zu Hilfe, ihr mathematischen Psychologien, Palsokybernetik und Bioschach! Mut, Andronike, dein erster bedeutender Auftrag wartet auf dich. Wirf einen Blick in den Spiegel. Gib dir ein lässiges, selbstsicheres Aussehen – gleich wird dich jemand von der hiesigen Verwaltung in Empfang nehmen. Der erste Eindruck rief Unbehagen in ihr hervor. Wie überfüllt die Empfangshalle war! Das riesige Kosmodrom betäubte sie mit all seinem Trubel. Aus der Menge winkte ihr jemand. Schrecklich, warum die diesen Höllenlärm nur nicht dämpfen? dachte sie empört, während sich der Mann, der ihr gewinkt hatte, durch das Menschengewühl einen Weg zu ihr bahnte. »Andronike! Sie kommen in der Angelegenheit…« »Proteus. Ich bin Andronike.« Der Name als Kennwort ersparte alle weiteren Erklärungen. »Herzlich willkommen. Bitte, folgen Sie mir. Ich werde Sie mit dem Fall bekannt machen.« Frisch rasiert, adrett gekleidet, feinste Manieren. Unauffälliges Gesicht, eine auf die Nerven gehende deutliche Diktion. Ob die Leute auf diesem Planeten alle so sprechen? Wie alt er wohl sein mag? »Der Mensch ist so alt, wie sein individueller Index es anzeigt. Lassen Sie sich nicht von der angewandten Phantasmakosmetik täuschen!« »Was für ein Krach hier bei Ihnen ist!« »Kommen Sie nur, kommen Sie nur.« »Sagen Sie, haben Sie denn keine Schalldämpfer? Ich dachte immer, die seien für die gesamte Galaxis verbindlich. Faustregel Nummer zwei definiert den Lärm als…« »Nein, wir haben keine. Aber kommen Sie doch.«
»Sie scheinen es ja sehr eilig zu haben. Der Hygienemerksatz Nummer dreizehn verbietet doch das nervöse Hasten, nicht wahr?« flötete Andronike. »He, was für eine komische Maschine!« Ihr Begleiter drehte seine gerade Nase kaum in die angedeutete Richtung. »Ein Elektrokarren für das Gepäck. Eine altertümliche Einrichtung.« »Sehen Sie, sehen Sie nur!« Andronike staunte. »Der Mann da hebt das Gepäck mit den eigenen Händen hinauf.« »Ich werde Ihnen alles erklären.« Vor einer Rolltreppe blieb Andronike entschlossen stehen. »Sie glauben doch nicht etwa im Ernst, daß ich einen Fuß auf dieses abscheuliche Ding da setze?« »Die Rolltreppe ist der geradeste Weg zur Stadt«, erklärte ihr Begleiter in einem Ton, als gäbe er die höchste Weisheit von sich. So eine Treppe hatte Andronike nur mal in Paläotechnikatlanten gesehen. Aus der Stadt zu ihren Füßen drang ein Getöse zu ihr herauf, aus dem von Zeit zu Zeit einzelne Geräusche herauszuhören waren: Hupen, Motorengebrumm oder metallisches Scheppern. Erst jetzt begriff sie, was ihr Kabinennachbar im Raumschiff gemeint hatte, als er sagte, er sei nicht eingerichtet auf die hiesigen Verhältnisse. »Eine sonderbare Stadt. Ich hätte nie gedacht, daß es in unserer Galaxis…« »Im Interesse der Untersuchung muß ich Ihnen sofort Angaben über die Situation machen«, unterbrach sie ihr Begleiter. »Ich habe bemerkt, daß Ihnen die Lautstärke und der Lebensstil auf unserem Planeten aufgefallen sind. Pharos ist ein Kurortzentrum. Hier ist alles so, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war, konserviert oder restauriert. Ihr Leute von den fortgeschritteneren Welten werdet der wohlgestalteten Planeten ohne Gebirge, der verchromten Plätze und Felder, der synthetischen Parks und der Villen in filtriertem Seewasser manchmal überdrüssig. Augenblicke kommen, in denen euch die denkenden Kühlschränke und die verständigen Staubsauger unerträglich sind. Es ist gar nicht so einfach, wenn man von der Geburt bis zur Einäscherung von einem gehorsamen pneumatischen Feld gewiegt wird, das einem alle Wünsche von den Augen abliest, Entfernungen verkürzt und die Zeit auflöst. Früher oder später wird man sehr müde und nervös, verursacht
durch die Macht und die Anstrengungen, die niemals auf Widerstand stoßen. Dann verschreibt der behandelnde Arzt einen Aufenthalt auf Pharos.« »Ach so. Das hier ist also so etwas wie ein Reservat für Heilbehandlungen.« »Ja. Vor ein paar Jahrhunderten ist man auf die Idee gekommen, so etwas anzulegen. Schon damals hat es kaum noch wilde Natur gegeben. Dafür aber Städte im Überfluß. Von dort trug man allen alten Kram zusammen und schuf diese Siedlung, in der die zeitgenössische Technik tabu ist. Die Stadtwachen lassen sogar ihre Flugtransporter und ihre Waffen außerhalb der Stadtgrenze. Nur der Bürgermeister darf als Attraktion für die Erholungsuchenden eine altertümliche Pistole tragen. Hierher kommen die Leute für einen Monat, um mal selbst Türen zu öffnen und Auto zu fahren. Anfangs bereitet es ihnen Schwierigkeiten, doch dann werden antike Mechanismen, schlafende biologische Kräfte in ihnen wach. Ihre Gesundheit festigt sich, und nach der Abschlußuntersuchung werden sie als geheilt entlassen.« Andronike betastete die Waffe in ihrer Tasche, die die Mitarbeiter ihres Instituts haben durften – ein universaler Paralysator, der Roboter unschädlich machte und Menschen zur Vernunft brachte… Also nur der Bürgermeister und sie besaßen in dieser Stadt eine Waffe. Mut, Andronike! »Doch hier ergeben sich andere Probleme«, ertönte von neuem die melodische Stimme ihres Begleiters. »Mit der Vergangenheit darf nicht ungestraft gespielt werden. Im Menschen ruhen verschiedene Emotionen, die wieder in Bewegung geraten, sobald der Betreffende in eine antike Umgebung versetzt wird. Im Falle von Proteus und seinem…« Er brach ab, denn sie waren am Ende der Rolltreppe angelangt. Andronike war es nicht gewohnt, auf solch altertümlichen Einrichtungen zu fahren. Sie stolperte und wäre beinahe hingefallen. Ihr Begleiter reagierte rasch und fing sie auf. Aus ihrer Tasche flog der Paralysator auf den Gehsteig, sprang noch einmal hoch und fiel dann wieder auf den Asphalt, wo er liegenblieb. Ihr war, als erlebte sie eine optische Täuschung: Der Arm ihres Begleiters wurde unnatürlich lang,
erreichte die Waffe, packte sie in Windeseile, um sie ihr dann zu überreichen. Sie drehte sich um, doch er war nicht mehr da. Stimmengewirr ließ sie den Blick heben. Trampelnd und mit Gebrüll stürmte ein wütender Haufen die Treppe herunter. Ein Dutzend Stimmen schrien: »Haltet ihn! So schieß doch! Da ist er, über uns! Fangt ihn!« An der Spitze der drängenden Menge war ein rotgesichtiger Mann mit breiter Brust und dröhnender Stimme. »Ruhe! He du, komm gefälligst runter!« Von der Treppe rollte eine Menschenlawine herab. Alle zeigten nach oben. Der Rotgesichtige fuchtelte mit den Händen in der Luft. In einer Hand hielt er eine Pistole. Der Bürgermeister! Andronike sah ebenfalls nach oben und traute ihren Augen nicht: In der Luft hing unbewegt wie eine perfekte Flugmaschine ihr Begleiter und versuchte zu Wort zu kommen. »Ihr, nur ihr werde ich Rechenschaft ablegen.« »Ergib dich, Proteus! Wir werden dich unschädlich machen!« »Vogelscheuche, Staubsauger! Schieß, Bürgermeister!« brüllte die Menge. Ein Schuß fiel. Von oben, von der Straßenüberdachung her, war zu hören, daß Glas barst. Andronikes Begleiter zog einer Fledermaus gleich noch ein paar Kreise und entwich dann durch das soeben entstandene Loch im Gewölbe. Der Bürgermeister bemerkte die Waffe in Andronikes Hand. »Was, Sie haben einen Lähmstrahler und benutzen ihn nicht? Wer hat Ihnen überhaupt erlaubt, eine Waffe zu tragen? Sie sind wohl seine Komplizin?« »Ich bin Andronike! Schreien Sie nicht so, sondern erklären Sie mir lieber, was hier eigentlich los ist!« »Andronike! Sie? Der Bevollmächtigte im Fall Proteus? Oh, heilige Mutter Galaxis, wie lange werden die vom Zentrum noch unerfahrene Praktikanten herschicken! Ich hätte Sie abholen müssen. Ich! Statt dessen hat sich dieser schlaue Fuchs vor mir hergeschlichen und sich bei Ihnen angebiedert.« Während sich der Bürgermeister immer mehr ereiferte, wurde sie aus lauter Verlegenheit gleichfalls rot! Ein kybernetischer Diagnostiker und kann nicht einmal einen Roboter von einem Menschen unterscheiden!
Die Rolltreppe spie noch immer Neugierige aus, die sich zu einem Menschenauflauf zusammendrängten. Die Presse aus menschlichen Leibern schwoll immer mehr an, wogte hin und her und stieß gegen den Bürgermeister. Der verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach auf die Fahrbahn hin. Der schwebende Flugbus hätte ihn zerquetscht, wenn nicht in dem Augenblick ein Blitz über die Massenansammlung dahingezuckt wäre. Ein Feuerigel fiel auf den Asphalt. Von ihm gingen Strahlen aus, die die brummende Maschine ablenkten und den sprachlosen Hüter der Ordnung auf den Gehsteig hoben. Neben Andronike erschien von neuem Proteus’ kaltes Lächeln. Die Menge verstummte. Der Bürgermeister schäumte vor Wut. »Du… du bist beschädigt. Deine Re… Relais müssen umgespult werden.« »Fassen Sie meine Relais ja nicht an!« Andronike zog aufgebracht ihre Waffe und rief aus: »Bürgermeister, er ist doch nicht aggressiv. Er hat Ihnen eben das Leben gerettet.« »Schießen Sie, Bürgermeister, oder wollen Sie warten, bis dieses Blechgespenst jedem von uns einen Elektrostoß versetzt hat? Der verhöhnt uns doch nur!« schrien die Gaffer ringsum. »He, Sie, nehmen Sie Ihren Paralysator und schießen Sie! Du schweig still, Ungeheuer!« Andronike bebte vor Zorn. Mit der Waffe in der Hand drohte sie: »Zurück, sonst schläfre ich euch alle ein!« Die Drohung ging im Lärm unter. Wieder wogte die Menschenmenge. In dem Wirrwarr setzte der Bürgermeister Proteus die Pistole auf die Brust und drückte ab. Ein Schuß, dann das Aufleuchten eines elektrischen Funkens. Proteus fiel vornüber, verkrampfte sich und zerschmolz. Er verwandelte sich in ein Quecksilberbächlein, das sich einen Weg zwischen den Pflastersteinen bahnte und mit einem Glucksen in der Erde verschwand. Der Bürgermeister tobte: »Ich werde an höherer Stelle Bericht erstatten! Sie werde ich zur Verantwortung ziehen! Wegen verbrecherischen Nichteingreifens, jawohl!« »Und ich werde Sie zur Verantwortung ziehen, wenn Sie ihn beschädigt haben. So, und wenn Sie sich beruhigt haben, müssen Sie mir erst einmal alles erklären.«
Der Bürgermeister fauchte: »Bitte auseinandergehen. Der Verbrecher ist unschädlich gemacht.« Die Menge begann sich murrend zu zerstreuen. Sie saßen in einem komischen Lokal, das der Bürgermeister »Café« nannte. Und das merkwürdigste an allem war, daß die Automaten weder telepathische noch akustische Aufträge entgegennahmen, sondern darauf warteten, daß man auf ihre Knöpfe drückte. Der Bürgermeister hatte sich ein wenig beruhigt und klärte sie nun auf. Proteus, ein vollkommener Superroboter, habe viele Fähigkeiten, er lese Gedanken, könne fliegen und die Wellen der Nachrichtenübertragungsmittel empfangen. Er sei von dem Mathematiker Dr. Fok illegal in das Erholungszentrum eingeschleust worden. Auch während der Ferien wolle der Doktor seine Arbeit über das Punkt- und Strichsystem der Zeit nicht vernachlässigen. Vor ein paar Tagen habe man ihn jedoch ohnmächtig aufgefunden, eingeschläfert durch einen mächtigen Elektrostoß. Nachdem er wieder zu sich gekommen war, habe man Anzeichen von teilweise ausgelöschtem Erinnerungsvermögen festgestellt. Als Täter komme nur Proteus in Frage, der von diesem Moment an spurlos verschwunden und erst wieder am Kosmodrom aufgetaucht sei, um Andronike abzuholen. »Das ist die ganze Geschichte. Beschädigte Roboter müssen unverzüglich vernichtet werden. Für die Sicherheit der Stadt bin ich verantwortlich. Und mir ist völlig schleierhaft, warum das Zentrum unerfahrene Mitarbeiter herbeordert. Ach, hätte ich doch bloß Graveplane, Annihilatoren, fernwirkende Schweißstrahlen oder wenigstens einen Taschenrechner, eine Hetzjagd würde ich veranstalten, da wäre alles dran! Wie einem Keiler würde ich ihm nachsetzen, mit elektronischen Windhunden würde ich ihn verfolgen, um am Ende seine verfluchten denkenden Moleküle auf den Pflastersteinen zu verspritzen.« »Na, na, Sie haben sich ja schon wieder in Wut geredet. Ich zweifle nicht im geringsten daran, daß Sie so handeln würden. Möglicherweise haben Sie ihn bereits beschädigt. Sie benehmen sich wie ein Sheriff aus vergangenen Zeiten.«
»Ja, aber so begreifen Sie doch, er hätte Dr. Fok beinahe ins Jenseits befördert! Der Roboter schmeichelt sich jetzt bei Ihnen ein. Diese Maschinen stecken voller animalischer List und Tücke.« »Und ich meine«, erklärte Andronike mit pädagogischer Beharrlichkeit, »daß die menschlichen Schöpfungen unsere Freunde sind und geschont werden sollten. Ich verbiete Ihnen jegliche Art von Verfolgung. Die Verantwortung übernehme ich.« Der Bürgermeister schien nur auf diese Worte gewartet zu haben. Er erhob sich, tat furchtbar gekränkt und wandte sich zum Gehen. »Junges Fräulein, überlegen Sie genau, was Sie tun. Sie überschreiten Ihre Kompetenzen. Das werden Sie noch bereuen. Ein Roboter ist kein Kinderspielzeug. In diesem Falle wasche ich meine Hände in Unschuld. Leben Sie wohl.« Andronike blieb allein vor ihrem Kaffee in dieser fremden, lauten Stadt, zwischen nervös hastenden Menschenströmen, allein mit der Unerfahrenheit eines Praktikanten. Sie wußte, daß sie den blitzschnellen Proteus auftreiben und ohne fremde Hilfe verhören mußte, um danach zu entscheiden, inwieweit er eine Gefahr für die Menschen darstellte. Aber wo und wie sollte sie ihn suchen? Und ob er nach diesem Anschlag auf ihn und dieser ungewöhnlichen Metamorphose noch ganz in Ordnung war? Ob er nicht doch aggressiv und gefährlich geworden war? Die erste Stunde auf dem Planeten Pharos war für sie ergebnislos verlaufen. Ihr schauderte bei dem bloßen Gedanken, daß ihre Lehrer sie jetzt mit der unangenehmsten Note bewerten würden, nämlich mit einem nachsichtigen Lächeln. Es war noch keine Stunde her, daß sie eingetroffen war, und schon hatte der vermaledeite Roboter sie an der Nase herumgeführt. Mit der hiesigen Behörde hatte sie sich überworfen, und von einem Geheimauftrag konnte nach dem schmachvollen Vorfall an der Rolltreppe auch nicht mehr die Rede sein. Trotzdem war keine Zeit zu verlieren. Die Untersuchung mußte bei Dr. Fok anfangen. »Gleich als ich Sie sah, mein Fräulein, war mir alles völlig klar«, begann der kleine, bebrillte Dr. Fok. »Der Bürgermeister hat Sie beauftragt, meinen verschollenen Sekretär Proteus ausfindig zu machen. Ein ausnehmend guter Mitarbeiter. Ob er entführt worden ist?«
»Einen Augenblick bitte, Herr Doktor. Gestatten Sie, daß ich Ihnen erst einmal einige Fragen stelle. Haben Sie irgendeinen Defekt bemerkt? Hat sich Proteus normal verhalten?« »Was reden Sie da! Vorbildlich! Exakt! Ich habe ihn mir selbst konstruiert, er ist sozusagen mein mathematischer Sprößling. Hergestellt wurde er im besten Werk.« »Wenn ich richtig informiert bin, ist es verboten, Roboter hierher mitzubringen. Weshalb haben Sie das Gesetz übertreten?« »Dachte ich’s mir doch, daß sich die Stadtverwaltung im Grunde nur dafür interessiert. Das regt euch auf… Mein Fräulein, ich muß Ihnen leider sagen, daß Sie sich in den Rechtsfragen nicht ganz auskennen. Von welchem Zeitpunkt an wird denn eine Maschine ein Roboter? Wenn sie montiert wird? Von welchem Augenblick der Montage und Einstellung an? Oder erst, wenn die lebenspendenden Protonenströme eingeschaltet werden? Ist meine Uhr ein Roboter, weil sie transzendente Gleichungen zu lösen imstande ist? Oder würde sie ein Roboter werden, wenn ich ihr, sagen wir, infrarote Augen einsetzte? Aber Proteus ist beinahe ein Mensch! Niemand hatte auch nur den geringsten Verdacht, als wir ankamen. Ich hätte die veraltete Gesetzgebung ebensogut dadurch umgehen können, daß ich ihn in einen Flamingo verwandelte, seine Mikrominiaturmolekülstruktur läßt nämlich alle erdenklichen Verwandlungen zu. Ich bin ein in der gesamten Galaxis bekannter Wissenschaftler und kann mir schon mal einen kleinen Verstoß gegen die bestehenden Vorschriften leisten!« »Also hat Proteus gar nicht versucht, Ihnen ein Leid anzutun?« »Beim Kosmos! Wie sollte er mir denn ein Leid antun? Das kann er ja überhaupt nicht. Ausgeschlossen.« »Na schön. Haben Sie Ihren Aussagen noch etwas hinzuzufügen?« »Nein, nichts. Wenn Sie ihn herbeischaffen können, tun Sie es um Himmels willen. Ohne ihn fallen mir dauernd die Augen zu, wenn ich mich hinsetze, um zu arbeiten. Und wenn ich sie dann wirklich zumache, träume ich stets von Puppen… Doch das hat nichts mit Ihrer Aufgabe zu tun.«
Andronike umfaßte mit einem letzten Blick das Arbeitszimmer, in dem unzählige Chronometer und Bücher standen, und auch ein flimmernder Bildschirm, der sogenannte bibliothekarische Videodienst. Dieser kleine Videoschirm gestattete, sämtliche Bibliotheken der Galaxis zu Hause zu benutzen. Ein ganz gewöhnlicher kybernetischer Diagnostiker konnte von so einer teuren Einrichtung leider nicht einmal träumen, wie sie den großen Gelehrten zur unentgeltlichen Benutzung zur Verfügung gestellt wurde. Andronike verließ den Mathematiker recht entmutigt. Der Wissenschaftler“ erinnerte sich nicht einmal, daß Proteus sich gegen ihn vergangen hatte. Einzig und allein der vermißte Roboter konnte die Sache aufklären. Aber wo sollte sie ihn suchen? In düstere Gedanken versunken, begab sie sich in ihr Hotel. An einer Ecke rief jemand ihren Namen. Sie hatte bereits bemerkt, daß viele Leute sie verstohlen musterten. Das nun war der Mitreisende aus dem Raumschiff. »Oho, auch Sie wissen meinen Namen!« »Nach den aufsehenerregenden Ereignissen an der Rolltreppe kennen ihn alle. Sie waren in einer schwierigen Situation, die einzige Bewaffnete unter soviel rachsüchtigem Volk. Da verliert man sehr leicht die Ruhe und macht von seinem Vorteil Gebrauch. Sie aber haben sich zurückgehalten. Sie haben den Mut nicht sinken lassen, alle Achtung! Andronike ist ein sehr hübscher Name. In einer antiken Sprache bedeutet das ›Besiegerin der Männer‹. Sagen Sie, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« »Nein, danke, leider nicht.« Andronike wollte ihn möglichst rasch loswerden. »Aber warten Sie mal. Sie kennen sich doch in den antiken Sprachen und Kulturen aus, nicht wahr? Könnten Sie mir erklären, was der Name ›Proteus‹ zu bedeuten hat?« »Ich wundere mich, daß ihr diese Dinge nicht lernt. An der Philosophischen Fakultät bleibt euch vor lauter Mathematik und Sport keine Zeit für die wesentlichen Dinge. Aber Sie sind schon auf dem richtigen Wege. Es ist kein Zufall, daß die heutigen Superroboter klassische Namen tragen. Die Symbolik von Namen ist eine ausgezeichnete Gedächtnisstütze. Nach Berichten von Fischern aus
uralten Zeiten war Proteus eine Meeresgottheit, die die Seehundherden einer anderen Gottheit, nämlich Poseidons, hütete. Proteus soll in vielen Formen aufgetreten sein, mal als fließendes Wasser oder als Drache, ein andermal als Löwe oder Baum… Genaugenommen spiegelte dieser Wassergott die Gestalt eines jeden wider, der sich im Wasser betrachtete. Und noch etwas: Proteus soll die Fähigkeit gehabt haben, die Zukunft vorauszusagen.« »Unser Proteus hat seinen Namen also zu Recht. Sein äußeres Erscheinungsbild ist unbeständig«, überlegte das Mädchen laut, »aber dahinter steckt noch etwas anderes. Sie sagen, er könne die Zukunft vorhersagen. Kennt man die Zukunft, so ist man auch in der Lage zu unterscheiden, welche der heutigen Handlungen sich morgen zum Guten wenden und welche Schlechtes nach sich ziehen. Das wieder ist eine Verknüpfung mit ethischen Problemen. Uff, dieser entsetzliche Tumult stört mich beim Nachdenken…« »Na, dann gehen Sie nur am besten auf Ihr Zimmer und zerbrechen sich dort weiter den Kopf. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg dabei«, sagte der Historiker, winkte ihr zu und verlor sich in der Menge. Aber auch die Stille im Hotel brachte sie nicht voran. Was für ein Interesse konnte Proteus gehabt haben, seinen Herrn und Meister anzufallen? Ihm zu entfliehen? Ob Dr. Fok ihn vielleicht hatte auseinandernehmen oder gar vernichten wollen? Unmöglich! Er brauchte ihn ja, das hatte er selbst gesagt. So irrte sie durch dieses Chaos von Fragen. Weil ihr schon der Kopf brummte, entschloß sie sich, einen Spaziergang zu machen. Wieder tauchte sie in das Getöse der Stadt, immer in der stillen Hoffnung, in den Stadtpark zu gelangen. Im Labyrinth der Straßen schien sie stets etwas zu bedrücken, etwas vermißte sie, und das bereitete ihr mehr Verdruß als Lärm und Benzingestank. Und auf einmal wußte sie, was es war. Auf diesem Planeten gab es keine Kinder! Völlig natürlich und richtig: Wer würde wagen, Kinder in diese wilde und gefährliche Welt zu lassen? Im Stadtpark war es verhältnismäßig ruhig. Unter den künstlich verjüngten, jahrhundertealten Bäumen spazierten rosige alte Leute dahin. Auf den regenerierten Zweigen zwitscherten sogar Vögel. Andronike bog in eine
menschenleere Allee ein und blieb vor Überraschung wie angewurzelt stehen. Auf einer Bank saß ein kleines blondes Mädchen und wiegte in den Armen eine Puppe. Als es Andronike erblickte, lief es auf sie zu. »Tante, guck mal, was für eine Puppe ich habe.« »Bist du allein hier? Oh, was für kluge Augen du hast.« Die Worte blieben in der Luft hängen. Andronike lief es abwechselnd heiß und kalt den Rücken hinunter. Dann wurde sie böse. »Nein, Proteus, ein zweites Mal legst du mich nicht rein. Du materialisierst ja meine Gedanken. In dieser Stadt gibt es keine Kinder.« Ein Sirren wie von einer plötzlich gespannten Saite, und Andronike wäre trotz ihres Trainings in der Disziplin »Panoptikum des Schreckens« beinahe in Ohnmacht gefallen. Blitzschnell war aus dem kleinen Mädchen ein alter Mann geworden. Ein widerwärtiger Anblick. »Verzeihen Sie, ich habe nicht berücksichtigt, daß das ein unästhetisches Schauspiel ist. Das wird nicht noch einmal vorkommen. Ich habe einfach auf Sie und Ihre Fragen gewartet.« »Proteus, erklär mir bitte, was dich veranlaßt hat, deinen Herrn, ich meine den Doktor, anzufallen.« Das Lächeln verflog. »Erklären bedeutet einen anderen kränken. Das heißt, ich muß mich rechtfertigen. Sich rechtfertigen wieder heißt die Schuld auf einen anderen abwälzen. Das bedeutet, daß ich schlecht von ihm sprechen muß – daß ich ihm also Schaden zufügen muß. Eine solche Handlungsweise widerspricht meiner Programmierung und meiner ganzen Struktur.« »Ja, aber wie finde ich denn dann die Wahrheit?« »Wir Roboter geben keine fertigen Wahrheiten preis. Wir stehen nur mit Rat und Tat zur Seite. Wir schonen das Selbstgefühl des Menschen. Sie müssen schon selbst daraufkommen.« »Hat Dr. Fok dich vielleicht zerstören wollen? Und du… aus gesetzlich erlaubter Notwehr…« »Sie meinen das altertümliche Gesetz der Robotertechnik. Aber das ist doch eine Legende. Jetzt leben wir im Jahrhundert der reinen Logik. Legenden sind Verdummung, Mythologie. Asimow selbst ist von
Phantasten erdacht worden. Sie brauchen seinen Namen nur mal etymologisch zu untersuchen.« Andronike ließ ihn reden; so verriet ihr der Roboter immer mehr Einzelheiten von seinen Gedankengängen. »Oh, du bist ja ziemlich belesen. Wie bist du denn dazu gekommen, soviel Information anzuhäufen?« »Wir Roboter schlafen nicht. Das ist auch gut so, denn unser logischer Verstand würde im Schlaf haarsträubende Ungeheuerlichkeiten hervorbringen. In den Nächten habe ich, während Dr. Fok schnarchte, in der Bibliothek gestöbert. Mein Patron liest selten ein Buch. Er benutzt lieber den Bildschirm. Aber es ist ein Riesenunterschied, ob man sich elektronischer Kartotheken über den Bildschirm bedient oder ob man die Bücher selbst durchblättert. Aus einer Frage wird eine andere geboren. Die nebensächlichen Kleinigkeiten wie Schrift, Einband, Geruch und die Gefühle, die beim Anfassen entstehen, vervollständigen das psychologische Klima des Lesens, und die Folge ist noch größerer Lesehunger.« »Und so hast du also Nacht für Nacht gelesen?« »Wir schlafen nicht, doch das heißt nicht, daß wir keine Ruhe benötigen. So sonderbar es Ihnen auch vorkommen mag, aber manchmal habe ich wirklich das Bedürfnis, Musik zu hören, bereits gelöste Aufgaben noch einmal durchzurechnen, nur so zum Vergnügen, meine Logik auf vorgebahnten Wegen streifen zu lassen oder mir selbst Fragen zu stellen, zum Beispiel über die Motive menschlicher Handlungsweisen. Auch das ist ein Stück Mathematik. Diese Art Beschäftigung läßt mich die Menschen besser verstehen lernen. Immer konnte ich mich jedoch der nötigen Ruhe nicht hingeben; in der letzten Zeit wurde Dr. Fok durch den Lärm zunehmend nervös. Verdrossen sah er aus dem Fenster auf die Straße hinunter und verschloß die Tür. Und abends verwandelte er mich in einen Hund, der seinen Schlaf bewachte.« »Oh, daher weht also der Wind. Gekränkte Eitelkeit? Gibt es denn so was bei… euch?« »Nein, natürlich nicht. Sie brauchen sich der Worte ›Roboter‹, ›Patron‹ und ›Herr‹ durchaus nicht zu schämen. Wenn mein Herr es befiehlt, so ist es nun mal meine Pflicht, wie ein Hund zu wachen. Und wenn es sein
muß, sogar wie eine Schlange, wie es einstmals auf fernen Inseln gewesen ist. Nein, mit Gekränktsein hat es nichts zu tun. Die Antwort liegt nahe dabei. Sie müssen sie schon selbst finden, sonst werden Sie es sich nie verzeihen. Jetzt lasse ich Sie allein. Ich werde mich in einen Vogel verwandeln.« »Halt! Flieg nicht weg! Wenn ich will, kann ich dich mit dem Paralysator zurückhalten.« »Sie wissen nur zu genau, daß Sie das nicht tun werden. Das würde bedeuten, daß Sie mein Gedächtnis auslöschen. Ich fliehe nicht vor Ihnen. In fünf Sekunden wird aber ein Bekannter von Ihnen dasein, der Bürgermeister.« Und tatsächlich war gleichzeitig mit dem Flügelschlagen ein Bremsenquietschen zu hören. Der Bürgermeister erschien und keuchte, als wäre er lange gerannt. »Ach, Sie sind hier… Wir haben ihn angepeilt. Hier irgendwo muß er sein. Haben Sie ihn etwa versteckt?« »Bürgermeister, wir hatten uns doch verständigt, nicht wahr? Spätestens morgen früh werde ich ihn an der Hand nehmen und dem Doktor zurückbringen – ganz zahm und in Ordnung.« »Eigensinnige Person!« Der Bürgermeister fluchte und ließ den Motor aufheulen. Am Abend wälzte sich Andronike lange in ihrem Hotelbett. Sie meinte, jeden Augenblick die Antwort auf die Proteusfrage zu finden, doch sie entglitt ihr immer wieder. Durch das Fenster drang Straßenbahnquietschen und von weit her das Pfeifen einer Lokomotive zu ihr herein. Na schön, er hat ihn in einen Hund verwandelt, grübelte Andronike. Das war für Proteus wenig erfreulich. Aber er wird ein Tier, ohne seine psychische Wesensart einzubüßen. Na, und macht er das denn nicht auch aus eigenem Antrieb? Allmählich schlummerte sie ein, ging gleichsam in der Vergangenheit auf und wurde eine hilflose kleine Puppe, die in einer dunklen Schachtel unter lauter unbrauchbarem Spielzeug in Vergessenheit geraten war.
Ein kleines Mädchen mit blondem Haar tritt heran, nimmt sie heraus, umarmt und wiegt sie. Lange spielt dieses Mädchen mit der Puppe, dann gefällt ihm das nicht mehr. Es schleudert sie von sich, hebt sie aber gleich darauf wieder auf, schlägt, durch irgend etwas verärgert, auf sie ein, reißt ihr die Haare aus und bohrt ihr den Finger in die Augen. Andronike, die sich im Traum als hilfloses Püppchen sieht, wünscht sich plötzlich sehnlichst, daß die Mutter des Kindes in der Nähe sei und es strafe. Die Puppe denkt und empfindet in diesem Moment wie eine Mutter. Das Kind muß bestraft werden, nicht etwa wegen ein paar ausgerissener synthetischer Haare, sondern um seiner selbst willen. Die erste Regung Andronikes im Traum ist nicht, sich selbst in Sicherheit zu bringen, sondern das Kind vor Grausamkeit und Gefühllosigkeit zu retten. Sie fuhr hoch. Die Antwort auf ihr Problem leuchtete vor ihrem geistigen Auge. Proteus hatte Fok nicht aus Notwehr gemaßregelt, sondern um den Doktor vor sich selbst zu schützen. Um seine Würde als dessen Schöpfung zu verteidigen. Nun war sie ganz wach und sprang aus dem Bett. Aber natürlich, jede Mutter kennt diese simple Wahrheit, auch ohne diagnostische Kybernetik und Bioschach gelernt zu haben… Mit lautem Flügelschlagen flog ein Uhu aufs Fensterbrett. Das war Proteus. Er betrachtete sie mit großen runden Augen und nickte anerkennend. Andronike lächelte ihm zu und griff zum Telefonhörer. »Ich möchte ein Telegramm durchgeben.« Das elektrische Echo wiederholte ihre Worte, und sie vibrierten, begleitet vom schrillen Pfeifen und Heulen der sich überschneidenden Wellen in Überschallgeschwindigkeit. »An das Galaktische Zentrum für Roboterdiagnostik. Proteus ist unschuldig. Auch nicht beschädigt. Erbitte Antwort: Gibt es ein Gesetz, das die menschlichen Werke vor ihrem Schöpfer schützt? Hat Dr. Fok das Recht, einen denkenden Roboter als Hund zu verwenden? Andronike.« Ihr Auftrag war erledigt. Proteus saß still und zahm auf dem Fensterbrett, und zwar in seiner repräsentativsten Gestalt, nämlich als
Mensch. Beide hatten eine Prüfung abgelegt, und nun warteten sie auf das Ergebnis. Es kam am nächsten Morgen. Das Telefon klingelte. Aus dem Hörer ertönte die honigsüße, betont forsche Stimme des Bürgermeisters. »Ich möchte Ihnen als erster zu Ihrem großen Erfolg gratulieren und Ihnen das Telegramm des Zentrums übermitteln. ›Über den dortigen Bürgermeister an Andronike. Sie haben richtig gehandelt. Die Sache mit Proteus ist ein Präzedenzfall für die Beziehungen zwischen Mensch und Roboter. Spezialisten erarbeiten augenblicklich ein Projekt zum Schutze der menschlichen Schöpfungen. Das Gedächtnis Dr. Foks mag – was den Fall Proteus anbelangt – ausgelöscht bleiben – als Prophylaxe und gerechte Strafe. Sie haben die Prüfung bestanden.‹« Eine Stunde später brachte Andronike Proteus zu Dr. Fok. Sie erklärte seine Abwesenheit durch einen leichten Schaden, der mit ihrer Hilfe beseitigt werden konnte. »Ich wußte doch, daß nichts Ernsthafteres dahintersteckte. So viel Lärm… Na, macht nichts, die zweitägige Ruhepause hat mich mit neuen Ideen angefüllt. Gleich setzen wir uns hin und arbeiten.« »Ich danke Ihnen ebenfalls«, sagte Proteus. »Nach Ihrem Eingreifen fühle ich mich wesentlich interessanter.« Das riesige Schiff saugte die Fluggäste einen nach dem anderen in sich auf. Im benachbarten Hibernator hatte es sich wieder der Fachmann für alte Kulturen bequem gemacht. »Oh, wir reisen wieder zusammen«, sagte Andronike lächelnd. »Wissen Sie, die Auskunft, die Sie mir über den Namen Proteus gegeben haben, hat mir sehr geholfen.« »Das freut mich. Herzlichen Glückwunsch zur erfolgreich bestandenen Prüfung. Es ist Ihnen gelungen, hinter einem ganz gewöhnlichen Vorfall das komplizierte ethische Problem zu erkennen. Die menschliche Schöpfung muß in jeder Situation der Freund des Menschen bleiben.« »Sind Sie aber gut informiert über mein Examen.« »Das war meine Pflicht. Ich bin nämlich der Regierungsvertreter in der Prüfungskommission. Glückliche Reise und angenehme Träume.« Aus dem Bulgarischen von Renate Bogdanowa
Vladimir Colin Der Fotograf des Unsichtbaren
Unser Geschichtchen hätte wohl kaum das Licht der Bücherwelt erblickt, wäre nicht eines schönen Morgens ein Männlein aus dem Schlummer hochgefahren, der Verzweiflung nahe und besessen von dem Gedanken, daß es ja noch ein ausgefallenes Foto auftreiben müsse. Besagter Gedanke war ihm von dem Chefredakteur der Zeitschrift »Semana ilustrada«* eingeschärft worden, denn dieser hatte sich tags zuvor nicht die Gelegenheit entgehen lassen, die einfallslosen Bildberichte, mit denen das Männlein die Zeitschrift unermüdlich belieferte, einmal ordentlich aufs Korn zu nehmen. Die Blicke aller waren auf ihn gerichtet, auf ihn, der seinen Schnurrbart hinter dem breiten Rücken des Sportredakteurs vergeblich zu verbergen trachtete. »Sie brauchen sich gar nicht zu verkriechen, Sie Prunkstück der Fotozunft!« hatte der Chefredakteur gefaucht. »Wenn Sie mir morgen nicht ein paar anständige Bilder vom Karneval bringen…« Im Saal war plötzlich ein vielsagendes Schweigen eingetreten, und der Fotograf hatte die unheilträchtige Fortsetzung des Ultimatums nicht mehr zu hören bekommen. Mit zugehaltenen Ohren – den Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt – hatte er dagesessen, gleichsam als starre er in den gähnenden Abgrund der Hoffnungslosigkeit, der sich neben dem Stuhlbein auftat. Die Redaktionssitzung war wie üblich weitergegangen: Die Redakteure hatten ihre Vorschläge ausgetauscht und den Inhalt der Feiertagsnummer noch einmal überprüft. Er aber hatte nur an die Fotos gedacht, die er am nächsten Tag machen sollte. Wie gewöhnlich hatte er dabei seinen Familiennamen verflucht, zutiefst überzeugt, daß all sein Mißgeschick nur von den drei Silben herrühren könne, die sein Schicksal ein für allemal besiegelt hatten. Er erinnerte sich noch sehr gut an den alten Miguel Orgullio**, einen hochmütigen Mann, der seinem Namen alle Ehre machte. In der unbedeutenden Provinzstadt O. wo er als Standesbeamter wirkte, trug er unter Wahrnehmung selbst der geringsten dienstlichen Obliegenheiten die Geburten mit einer solchen Würde in das Register ein, daß die Leute dort schließlich glaubten, dieser hoheitsvolle Staatsdiener registriere nicht *
»Illustrierte Woche« Stolz
**
schlechthin die Geburt männlicher oder weiblicher Kinder, sondern bestimme diesen Kindern vielmehr – würdig wie er war – das Schicksal fürs ganze Leben. Die Todesfälle in O. schrieb man nicht mehr dem unausweichlichen Verfall des menschlichen Leibes, sondern dem rückwirkenden Urteilsspruch dieses Mannes zu, der alle drei Parzen in einer Gestalt verkörperte. Unbeirrbar amtierte Don Miguel. Seine knorrigen Finger, verfärbt von roter Tinte und braunem Tabakssaft, führten die Feder über unwiderrufliche Aktenstücke und entschieden ein für allemal über Ableben oder Geburt, und sein Namenszug verhängte unanfechtbare Entscheidungen. Unbestechlich wie das Schicksal, brachte er Ordnung in das Chaos. Die Buchstaben, die er in untadliger Schönschrift ausführte, lösten Freude oder Schmerz in entlegenen Lebenskreisen aus, die er nicht aufsuchte oder nicht aufzusuchen beliebte. Ihm war die Rolle des Schiedsmannes zugefallen, und er fürchtete, er würde, einmal mit seinen Mitbürgern bekannt geworden, in seinen Entscheidungen von Zuneigung oder Widerwillen beeinflußt. Zur Einsamkeit verurteilt und zu jeder Jahreszeit mit dem gleichen Satinanzug bekleidet, schritt Don Miguel langsam durch die Straßen des Städtchens und erwiderte würdevoll den ihm entbotenen Gruß, denn zuerst grüßte er niemals. Die Kinder rissen vor ihm aus, und die alten Weiber betrachteten ihn voller Schrecken. Einmal war eine Alte auf die Knie gefallen, als sie ihn groß und schwarz aus einer Mauernische der Kirche hervortreten sah. Später erzählte sie, sie habe ihn für den Engel des Todes gehalten. Entweder war es die stolze Selbstabsonderung des Don Miguel Orgullio in seinem merkwürdigen Eisgefilde, in dem keine Seele leben konnte – ausgenommen die früh verblichene seiner sagenhaften Gattin – , oder es war die unergründliche Kälte seiner Dienstauffassung, auf jeden Fall wär ihm der gewundene Pfad zu höheren und besser vergüteten Posten versperrt geblieben. Es konnte aber auch sein, daß Don Miguel selbst keine Veränderung wünschte, die ihn des Rechts beraubt hätte, in O. über Leben und Tod zu befinden. Wie dem auch sei, eines steht zumindest fest: Noch ehe er das Ruhestandsalter erreichte, verschied er in Ausübung seines Amtes, das ihn in das sonnenversengte Städtchen verschlagen hatte.
»Ja«, pflegte er zu seiner Gattin zu sagen, die sich in der Frostluft, die sie in seiner Umgebung zu atmen gezwungen war, zur Mumie verwandelt hatte, »die Sippe Orgullio ist eine stolze Sippe«. Als hätte er vorausgeahnt, daß sein Sohn, den ihm seine unansehnliche Frau schenkte, nicht in der Lage sein würde, die Bürde des erblichen Stolzes auf seinen Schultern zu tragen, ließ er sich herbei, das unveräußerliche Erbe – dessen Unzulänglichkeiten er bei sich selbst schon erkannt haben mochte – ein wenig zu dämpfen, indem er auf die Geburtsurkunde seines Nachfolgers mit fester Hand den Vornamen »Modesto«* setzte. Der Sohn war später der Meinung, die beiden widersprüchlichen Namen hätten seinen Charakter geprägt und sein Schicksal besiegelt. Modesto war klein von Wuchs, wie seine Mutter, und verlor seine Haarpracht noch vor dem dreißigsten Jahr. Da er aber Orgullio hieß, ließ er sich wie ein alter Haudegen einen verwegenen Schnurrbart wachsen. Seine bescheidenen geistigen Fähigkeiten hinderten ihn daran, Arzt zu werden, wie es sich der Alte gewünscht hatte. (Er hatte davon geträumt, daß auch sein Sohn, ob schon auf einer anderen Ebene, Herr über Leben und Tod sein würde.) Doch der Stolz trieb ihn dazu, einen Beruf zu wählen, der ihn dazu berechtigte, die Künstlerschärpe zu tragen und seine herablassende Verachtung für die nicht Begnadeten offen zu zeigen: Er wurde Fotograf. Und um einem Mißverständnis vorzubeugen, dem zufolge er nur als biederer Handwerker gegolten hätte, gab er Visitenkarten in Auftrag, auf denen für jedermann deutlich zu lesen stand, daß er es zu tun habe mit MODESTO ORGULLIO Kunstfotograf vorm. Gymnasiast Das Dumme war nur, daß sich der Geist der Kunst nicht herbeilassen wollte, in das bescheidene Atelier von Don Modesto herabzusteigen, und trotz der Visitenkarte, die eine lang ersehnte Qualität verhieß, behielten seine Werke eine gleichbleibende Einfallslosigkeit. Auch die enteilenden Jahre lehrten ihn nicht viel. Herbst für Herbst verzierten die Fotos der *
Bescheiden
Gymnasialabgänger sein Schaufenster, und jedesmal nahmen die gleichen Studienräte für einen unbegrenzten Zeitraum die gleichen Plätze ein, bis auch die jungen Abgänger Ewigkeitswert zu bekommen schienen. Der nackte Säugling, der sich auf seinem Zottelfell wälzt, war nicht mehr wegzudenken, und immer wieder die gleichen Jungvermählten lächelten stereotyp vor sich hin, der entschwindenden Zeit zum Trotz. Und die Zeit hätte diesen Trotz auch noch eine unberechenbare Zahl von weiteren Jahren ungerührt hingenommen und der Verewigung von nackten Säuglingen und von Hochzeitspaaren in geliehenen Garderoben auf brüchiger Pappe großzügig stattgegeben, wenn es einem Vetter, der in der Verwaltung der kürzlich gegründeten »Semana ilustrada« tätig war, nicht eingefallen wäre, Don Modesto die Stelle eines Fotoreporters bei der Zeitschrift zu verschaffen. Von einem Tag zum anderen wurde Orgullio zum bescheidensten Fotografen der Hauptstadt, doch noch immer dünkte er sich einen Kopf größer als alle anderen Daguerre-Jünger. Unbegnadet, wie er war, nahm er seine Zuflucht zur Technik, um zu erreichen, was die Auserwählten dem Kuß der Muse verdanken. Niemand beherrschte die Regeln der fotografischen Kunst besser als er, und niemand verstieß seltener als er gegen sie. Doch die mechanischen Adaptionsfilter und die nach den Hinweisen von Lehrbuchautoren schulmäßig angeordneten Leuchtkörper brachten eben auch nur Fotos zustande, die würdig waren, Lehrbücher zu schmücken. Die Werke von Don Modesto waren von der Kunstfotografie genauso weit entfernt wie eine Farblithographie von einem Goya. Dennoch erwachte der verkannte Künstler am Morgen nach der bewußten Redaktionssitzung mit einem unanfechtbaren Gefühl des Triumphes. »Anständige Bilder?« murmelte er und betrachtete zufrieden die schön angeordneten Gerätschaften auf den nach seinen Angaben gefertigten Regalen. »Hm!« Und weil er Modesto hieß, sagte er nichts weiter. In der Hand wog er das neue Filter ab, um das er seine Sammlung vermehrt hatte und mit dessen Hilfe er die Bewunderung all derer, die an seinem Können zweifelten, endgültig zu erringen gedachte.
Er kleidete sich an, nachdem er an seiner aus Achtung vor der Familientradition übernommenen Jacke aus schwarzem Satin lange herumgebürstet hatte. Er legte sich eine breite Festtagsschärpe um den Hals, verließ seine Behausung und strebte ohne Eile dem Ort entgegen, den er sich ausersehen hatte. Die Straßen und Boulevards wimmelten von fröhlichen Scharen, deren Ziel die Puerta del Sol war. Er begegnete vielen Zunftgenossen, die ihre Kameras emsig klicken ließen. Don Modesto grüßte sie wortlos, doch das Futteral seiner Kamera öffnete er nicht. Singend und tanzend wälzten sich die endlosen Kolonnen dahin, begleitet von Masken und von sinnreich ausgestatteten Karnevalswagen. Doch auch jetzt machte Don Modesto noch keine Aufnahme. Gerade als wäre er gar nicht zu diesem Zweck gekommen, betrat er einen neungeschossigen Häuserblock, und bald darauf konnte man ihn auf einem schmalen Balkon erblicken, wo er geduldig wartete. Erst als sich der Platz vollständig geleert hatte, stellte er seine Kamera ein. Vor dem Objektiv befestigte er das berühmte Filter und schickte sich an, den Asphalt aus verschiedenen Blickwinkeln aufzunehmen. Kein anderer Fotograf bekam ihn zu sehen (sie waren alle schon gegangen), und so war er lästiger Fragen und Bemerkungen überhoben. Diesen Umstand wußte er um so mehr zu schätzen, je weiter er sich mit schnellen Schritten auf einer zeitlich genau abgestimmten Wegstrecke fortbewegte, so daß er die wichtigsten Plätze der Stadt immer genau dann erreichte, wenn die letzten Masken schon von der Bildfläche verschwunden waren. Als seine Arbeitszeit zu Ende ging, trug er einige Filme in der Tasche, auf denen er zahlreiche leere Plätze aus verschiedenen Höhen und Perspektiven festgehalten hatte. Er ging nicht zur Redaktion, in das große Atelier, wo seine Kollegen ihre Filme entwickelten, sondern nach Hause. Dort schloß er sich in die kleine Dunkelkammer ein, die er im Bad eingerichtet hatte, denn er wollte der erste Betrachter des Unsichtbaren sein. Die Negative ließen ihn erkennen, daß er sich nicht getäuscht hatte. Oh, der Chefredakteur sollte sich nicht mehr beklagen können, daß der Fotoreporter ihn mit einfallslosen Bildberichten überhäufe! Die von Don Modesto aufgenommenen Plätze – sie ließen sich durch charakteristische Einzelheiten, die er sorgfältig ins Objektiv gerückt hatte, mühelos
wiedererkennen – waren nicht leer, wie es den Anschein hatte, als die Aufnahmen gemacht wurden. Die Spuren unzähliger Schuhsohlen bildeten ein merkwürdiges Motiv, das sich in den Bildfolgen wiederholte, gerade als wären alle Plätze von Madrid mit einem Teppich überdeckt, den alle Formen und Größen von Schuhabdrücken zierten. Durch Vorschaltung des Filters, das alle Strahlen mit Ausnahme der infraroten abfing, hatte Don Modesto das Unsichtbare fotografiert. Auf dem Wege über den einzigen Berührungspunkt, die Schuhsohle nämlich, hatte sich die Wärme der menschlichen Leiber der ebenen Asphaltfläche mitgeteilt, und die Abbilder der solchermaßen erwärmten Flächenausschnitte hatten sich dem Film aufgeprägt. Die Fußspuren überlagerten und vermischten sich, und an einigen Stellen verbanden sie sich, wundersam gemustert, zu einem bizarren Schriftbild. Auf einigen Abzügen erschienen die genauen Umrisse von Karnevalswagen. Alle Negative wirkten ein wenig wie Sinnestäuschungen, und Don Modesto kam erst ziemlich spät auf den Gedanken, daß sich ja ähnliche Spuren, ganz oder teilsweise erhalten, nach der Atombombenexplosion dem Straßenpflaster von Hiroshima aufgeprägt hatten. Vielleicht waren seine Fotos geeignet, eine ganze Sondernummer der »Semana ilustrada« zu füllen? »Mindestens eine!« forderte er, als stünde er leibhaftig vor dem unerbittlichen Chefredakteur. Doch wurde ihm sofort klar, daß seine Aufnahmen bestenfalls für eine andere Nummer verwendet würden, und so trübte sich seine Stimmung wieder. Niedergedrückt, wie er war, fuhr er fort, die Negative zu prüfen. Die nachgedunkelten Formen der Schuhsohlen verbanden sich auf ganz unerwartete Weise zu seltsamen Bildern. Proben abstrakter Kunst wechselten mit unwahrscheinlichen Mustern von Gegenständen, und so entdeckte er schließlich eine Bratpfanne, einen Strumpf und einen Schuh. Sodann erkannte er den Umriß eines galoppierenden Pferdes und legte diesen Abzug beiseite, war aber verblüfft, als er das erste Negativ des nächsten Films prüfte. Die Formen, die infolge einer zufälligen Kombination von Schuhsohlen auf dem Film erschienen, zeigten Löcher und Flecken mit kleineren oder größeren Abmessungen, entsprechend dem
Zwischenraum zwischen den bereits aufgenommenen Spuren. Diesmal unterschied er noch eine ungewöhnliche Form, eine weiße Scheibe nämlich, umgeben von einem kompakten Fleck, ganz so, wie sich nur ein ganz bestimmter Gegenstand im Objektivfeld abzeichnen konnte. Ein ebenso klar umrissener Schatten gab auf anderen Abzügen die Stelle wieder, wo jeweils ein Karnevalswagen gestanden hatte. Im ersten Augenblick glaubte er, ein ganzer Karnevalswagen wäre auf den Zelluloidstreifen gebannt worden, doch dann kam ihm die Erkenntnis, daß der Fleck ja gar nicht der Form eines Lastkraftwagens entsprach. Es war anscheinend der gedrungene Schatten eines ungeheuren Seesterns mit ungleichförmigen Zacken. Etwa ein Fehler am Film? Zu seiner Überraschung mußte er aber sogleich feststellen, daß sich auf absolut allen Abzügen des untersuchten Films der seltsame Fleck zeigte, den er keinem bekannten Gegenstand zuordnen konnte. Doch dann erkannte er, daß der Schatten die Form eines Körpers wiedergab, an dem ihn die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen Bilder unbeschreiblich in Erstaunen versetzten. Zuerst einmal hatte er einen beträchtlichen Rauminhalt. Don Modesto verglich die Abmessungen des Sterns mit den Gegenständen, in deren Nähe er sichtbar war (zwei Bilder zeigten jeweils auch einen Teil des Standbildes Philipps III.), und kam zu der Auffassung, daß dieser Körper einen Durchmesser von mindestens vier oder fünf Metern und eine Dicke von mindestens zwei Metern haben müsse. Da er nur einen kompakten Schatten wahrnahm, der dort, wo sich die seltsame weiße Scheibe befand, unterbrochen war, fiel es ihm schwer, weitere Einzelheiten zu erkennen. Es war eine außermittige Scheibe, ein richtiges Loch, denn auf beiden Bildern konnte man, durch die Scheibe hindurch, das charakteristische Motiv der Schuhsohlen sehen. Es war klar, daß der merkwürdige Stern über dem Platz gestanden hatte, als er mit seiner Kamera die Aufnahmen machte. »Na, bitte schön!« sagte Señor Orgullio mißmutig und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Mal wieder ‘n ganzer Film in die Binsen!« Wie man sieht, war er weit entfernt davon zu erkennen, daß er an einem Kreuzweg seines Lebens stand. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß der Film, den er für unbrauchbar hielt, zum Ausgangspunkt eines unvorstellbaren Abenteuers werden sollte. Er seufzte, schob den Film
beiseite und machte Anstalten, aus den übrigen Filmen die am besten gelungenen auszusortieren, um sie dann sorgfältig und gewissenhaft zu vergrößern und abzuziehen. Für alle Fälle aber entwickelte er auch eines der Negative, die der ungebetene Stern unbrauchbar gemacht hatte. Derjenige, der die denkwürdigen Ereignisse um den Fotografen des Unsichtbaren zu Papier bringt, ist sich dessen voll bewußt, daß ihn einige von einem bemerkenswert kritischen Geist durchdrungene Leser des Mystizismus bezichtigen werden. Waren denn die Betrachtungen zu dem ererbten Namen des von Don Miguel Orgullio erzeugten Männleins überhaupt nötig? werde ich sie unweigerlich fragen hören. Und sie werden sich nicht mit der Antwort zufriedengeben, die besagten Betrachtungen bestimmten ja auch usw… Da aber der Verfasser die Wahrheit mehr liebt als die oben genannten Leser, sieht er sich gezwungen, mit der Unvoreingenommenheit des Geschichtsschreibers zu erklären, daß auch der Name der zweiten Figur, die in die hier geschilderten Begebenheiten verwickelt wurde, von weittragender Bedeutung ist. Und eben diesen Lesern möchte er die Frage stellen, ob es denn etwa ein Zufall sein kann, daß die junge Literaturredakteurin der »Semana ilustrada« auf den Namen Estella* hörte, wo doch dieser Name sowohl in der Literatur als auch im Leben unbestreitbar der Macht der Vorsehung zu verdanken ist? Die Kollegen sagten von diesem Mädchen, sie schwebe meistens in den Wolken beziehungsweise in den Sternen. Sie war stets in Eile und konnte sich oft nur schwer erinnern, weshalb sie nun eigentlich gerade hierhin und nicht anderswohin rannte. Wenn sich die Gelegenheit bot, schob sie alles beiseite, um die Reserven ihrer Leidenschaft der ersten besten Sache zu widmen, sofern sie nur ein bißchen mit dem Zukünftigen, dem Unergründlichen und dem Geheimnisumwitterten zu tun hatte. Jeder Allerweltserklärung (die sich später nicht selten bestätigte) zog sie für alle Sachverhalte eine Kette phantasievoller Hypothesen vor. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war sie aufgelegt, in allen Einzelheiten zu erläutern, wie die Terrassen von Baalbek gebaut worden sind, wie die Druiden die Kernenergie nutzten und was der Tunguska-Meteorit zu bedeuten hatte. Sie verfügte über Erinnerungen *
Stern
an so manches frühere Leben und hatte Vorahnungen zu einigen ihrer künftigen Daseinsformen. Im übrigen war sie, auch wenn sie die Manuskripte mancher Mitarbeiter durcheinanderbrachte, eine geschätzte Redakteurin und eine untadelige Arbeitskollegin. Die Uhrzeit wußte sie allerdings nie. Doch gerade das war der Grund dafür, daß sie an dem bewußten Tage, an dem Don Modesto mit seinen ungewöhnlichen Fotos vorstellig wurde, schon so frühzeitig in der Redaktion war. Da sie sich an kein Werk von ihm erinnern konnte, das durch übermäßige Phantasie aufgefallen wäre, pflegte sie ihn anzuschauen, als hätte sie ihn eben erst kennengelernt. Dadurch wiederum kam es, daß sie liebenswürdig war, was Señor Orgullio der Bewunderung für seine Kunst zugute hielt. Deshalb war die kleine Estella in der Redaktion das einzige Geschöpf, zu dem er eine schüchterne Zuneigung gefaßt hatte. »Guten Morgen Señorita«, sagte er, als er eintrat. »Sie wünschen bitte?« fragte Estella. »Ach, ja, richtig…« »Sind Sie allein?« Er wandte den Kopf und lugte mit Verschwörermiene nach links und rechts. »Aber ja«, erwiderte das Mädchen. »Salud«. »Dann will ich Ihnen mal etwas zeigen. Das hat noch niemand gesehen. He-he, sehen Sie, was ich hier habe…« Neugierig gemacht von der geheimnisvollen Miene des Fotografen, stieg Estella aus den höheren Regionen hernieder, in denen sie den größten Teil ihrer Arbeitszeit verbrachte. Erst jetzt kam der Kontakt zustande. »Kolossal! Was stellt das dar?« fragte sie und beäugte die Bilder, die Don Modesto der Mappe entnommen hatte. »Raten Sie mal.« Der Künstler lächelte. »Wir wollen mal sehen! Reproduktionen von Höhlenzeichnungen? Gewöhnlich haben die Urmenschen ihre Höhlen mit Handabdrücken ausgeschmückt… Hier handelt es sich um Fußabdrücke. Eine neue Zivilisation also?« »Nein, ich…«
»Sie haben recht«, gab Estella zu. »Im übrigen sind das keine nackten Fußsohlen, und die Höhlenmenschen trugen keine Schuhe. Was ist es dann? Bakterien? Ein abstraktes Gemälde?« »Nein«, sagte Don Modesto, ratlos gemacht durch die Lawine von Deutungen. »Gestatten Sie mir…« »Schon klar! Die hinterlassenen Spuren einer neuentdeckten Zivilisation. Warten Sie… lassen Sie mich raten! Die Kanarischen Inseln? Die Sahara?« »Nein«, stellte Orgullio kleinlaut fest, »die Plaza de Toros…« Und weil es diesmal Estella war, die ihn verblüfft anblickte, erklärte er ihr, auf welche Weise er das neue Filter erprobt hatte. »Das Unsichtbare! Sie haben das Unsichtbare fotografiert, und Sie schweigen.« Überwältigt von einem unwiderstehlichen Drang, drückte ihm das Mädchen die Hand. Wie ein Wirbelwind stob sie aus dem Zimmer und rief: »Einen Augenblick!« Dann kehrte sie ebenso schnell zurück, öffnete und schloß alle Schubfächer des Schreibtischs, eilte zum Fenster, grüßte einen Unbekannten, der draußen vorbeiging, setzte sich schließlich und bat ihn ganz außer Atem und in einem feierlichen Ton, er möge doch gefälligst Platz nehmen. »Was kann ich für Sie tun?« fragte sie zerstreut. Doch ihr Blick fiel auf die über die Schreibtischplatte verstreuten Fotos, und sie fügte liebenswürdig lächelnd hinzu: »Selbstverständlich haben Sie meine volle Sympathie…« »Muchas gracias«, erwiderte Don Modesto. »Wenn Sie ein gutes Wort einlegen könnten… wenigstens einen Abzug auf zwei Spalten, Sie verstehen, das Dokument… ich habe eine Menge Material eingebüßt. Ein ganzer Film, wissen Sie, ist unbrauchbar geworden, und nur weil er einen Fleck hat…« Verbittert entnahm er der Mappe ein letztes Foto, auf dem der seltsame Gegenstand zu sehen war, der einem Seestern ähnelte. »Was ist das?« fragte Estella mit spitzen Lippen.
»Sehen Sie«, seufzte Don Modesto, »ich weiß nicht… der ganze Film von der Plaza Mayor ist in die Binsen…« Die bis dahin abgelenkte Aufmerksamkeit des Mädchens würde reflexartig wach, wie bei einem Windhund, den der Anblick der Wachtel erstarren läßt. »Wollen Sie sagen, daß… das… auf jedem Bild zu sehen ist?« fragte sie, wobei sie die Worte seltsam skandierte. »Auf jedem.« Estella erbleichte. »Nun gut, sind Sie sich denn nicht im klaren darüber«, sagte sie gedehnt und in einem merkwürdigen Ton, »denn das… das hieße doch… nicht mehr und nicht weniger…?« Sie legte die Hand auf den Mund und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. »Verstehe«, antwortete Don Modesto schüchtern, »dann muß ich den Schaden eben selbst tragen…« Ein schuldbewußtes Lächeln erschien unter der Traufe seines Schnurrbarts. Nie hätte er geglaubt, daß ihm dieses junge Ding hier eine Hiobsbotschaft so teilnahmsvoll beibringen würde. »Welchen Schaden denn?« fragte aber Estella ebenso gedehnt und merkwürdig wie zuvor. Sie schien ungläubig und ein wenig erschrocken. »Es ist eine unvorhergesehene Errungenschaft für die Wissenschaft, für uns… ein außerordentlicher Zufall. Ist es möglich, daß Sie nichts ahnen?« »Sehen Sie«, murmelte Don Modesto, »…ich… überhaupt…« Das Mädchen schwieg einen Augenblick und starrte ihn an. »Mensch!« platzte sie los und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Sie haben ein Stück aus einer anderen Welt fotografiert!« Weil der Fotograf plötzlich zwinkerte und den Mund aufsperrte, fügte sie mit sichtlicher Erregung hinzu: »Natürlich, wir können nicht wissen, ob es ein Gegenstand oder ein Lebewesen ist, aber dieser Vorgang kann unabsehbare Folgen haben. Zum erstenmal, verstehen Sie, haben wir einen Beweis, daß er existiert. Er kommt zu uns!« »Er?«
Er verstand nichts mehr. Voller Furcht schaute er auf das Mädchen, das von einer seltsamen Erregung ergriffen war. »Ich werd’s dir später erklären«, sagte sie und verzichtete darauf, ihn mit Sie anzureden, als wollte sie deutlich machen, daß von nun an sie die Führung übernähme. »Wo ist der Film?« »Zu Hause«, antwortete Don Modesto mechanisch. »Gut. Los, wir holen ihn!« Kleine Ursache, große Wirkung, das ist eine Binsenwahrheit. Vielleicht hätten sich die unglaublichen Begebenheiten um den Fotografen des Unsichtbaren gar nicht anbahnen können, wäre Estellas gedanklicher Höhenflug nicht von Anfang an auf die Skepsis des Chefredakteurs gestoßen. Klug und zurückhaltend hatte sich der angesehene Publizist mit der Bemerkung begnügt, der von Estella verfaßte und mit Señor Orgullios Aufnahmen verzierte Sensationsartikel passe nicht in den »Rahmen« der Zeitschrift. Im übrigen hatte sich niemand in der Redaktion der »Semana ilustrada« zugunsten des vorgelegten Materials ausgesprochen, was einmal mehr zeigt, wie wahr doch das Sprichwort ist, das da sagt, der Prophet gelte nichts im eigenen Vaterlande. Die Weigerung, Estellas Hypothesen überhaupt in Betracht zu ziehen, war auch größtenteils darauf zurückzuführen, daß ihre wohlbekannten Schwärmereien keine Gegenliebe fanden. Hätte jemand anders auf den Wert von Don Modestos Aufnahmen hingewiesen, ihm wäre gewiß mehr geglaubt worden. Und doch hat Barbusse vor langer Zeit einmal gesagt, bei der Beurteilung einer Wahrheit solle man sich nicht darum kümmern, wer sie ausspreche, denn es sei durchaus möglich, daß ein betrunkener Landstreicher Wahrheiten und ein ehrwürdiger Priester Lügen verkünde. Immerhin bleibt es eine Tatsache, daß der Unglaube des Chefredakteurs eine ganze Reihe von Ereignissen auslöste. Mehrere Tage lang – die Diskussionen in der Redaktion dauerten noch an – geschah nichts. Wie es der Charakterveranlagung des Fotografen entsprach, verhielt er sich den anderen gegenüber unausgeglichen: Einmal war er schüchtern und bescheiden, dann wieder trat er hochmütig auf, ganz durchdrungen von der Bedeutung seiner Sache. Estella versicherte ihm,
sie werde sich – sollte seine Entdeckung nicht die gebührende Beachtung finden – an die Akademie der Wissenschaften, wenn nicht gar an ein Weltforum wenden. »Was Sie hier tun, ist ein Verbrechen!« schrie sie in die verhältnismäßige Leere des Sitzungssaals. »Ein Verbrechen an der Menschheit! Jeder Tag, der verlorengeht, kann eine Entdeckung zunichte machen, die mit der Reise des Kolumbus vergleichbar ist!« »Wie weit sind Sie mit Seite sechs?« fragte prosaisch der Chefredakteur, und der Kleinkram der Redaktionsküche erstickte die himmelstürmenden Visionen der Literaturredakteurin, was Don Modesto zur Verzweiflung brachte. Obwohl sich, wie es scheint, eine Wechselbeziehung zwischen den fehlgeschlagenen Bemühungen Estellas und den späteren Ereignissen nur schwer herstellen läßt – und wie hätte er auch wissen sollen, was sich in den vier Wänden einer Madrider Redaktion zutrug! –, konnte Señor Orgullio danach doch nicht die Tatsache übersehen, daß ja alles erst begonnen hatte, als sich Estella außerstande sah, auch nur einen einzigen Kollegen für ihren Standpunkt zu gewinnen. »Die sind doch blind und taub«, sagte sie zu Don Modesto, der niedergeschlagen seine Künstlerschärpe betrachtete. »Kleinlich sind sie und unfähig zu verstehen, was eine Handbreit über die unmittelbare Wirklichkeit hinausgeht. Wir wollen keine Zeit mehr mit ihnen verlieren. Morgen wenden wir uns an die Akademie!« Sie schien ihrer Sache gewiß zu sein, doch er schüttelte nur den Kopf. Danach trennten sie sich, und lange wanderte er gedankenverloren durch die Straßen. Er hatte nicht ahnen können, daß ihm der Zufall geholfen hatte, mit seiner Kamera Dinge einzufangen, auf die noch keines Menschen Blick gefallen war. Nach der ersten Schreckreaktion hatte er sich von der Leidenschaft mitreißen lassen, die Estellas Argumente zugunsten ihrer These beseelte. Umworben von internationalen Presseagenturen, ausgestrahlt von der Eurovision und auf allen Bildschirmen gegenwärtig, so hatte er sich schon gesehen. Vortragsreisen durch die wichtigsten Hauptstädte der Welt würden bald folgen, und überall würde man begierig sein, den Fotografen des Unsichtbaren kennenzulernen… Erklärungen, Interviews, Ruhm… Ein einziges Wort,
eine einzige Silbe, bestehend aus vier Buchstaben, ein unbedeutendes Wort also, ausgesprochen von einem einzigen Menschen, war imstande gewesen, alles zunichte zu machen. Don Modesto hatte eine ganze Nacht zur Verfügung, um die Tiefen der Enttäuschung auszuloten. Zu Hause angelangt, legte er sich zu Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Noch beim Einschlafen starrte er immer nur auf die Scherben des zerbrechlichen Standbildes, das ihm der Zufall erbaut und die Gleichgültigkeit wieder eingerissen hatte. Und im Traum sah er sich auch als Standbild. Er thronte hoch oben auf einem Sockel, von dem herab er das ehrfürchtige Heer aller Fotografen der Erde befehligte, die ihm mit flehentlicher Gebärde ihre Kameras entgegenstreckten. Ihren elektronischen Lampen entströmten buntfarbige Rauchschwaden, gleichsam neuzeitliche Weihrauchfässer, geschwenkt von den Gläubigen einer wunderlichen Sekte. Immer wieder blitzten die Lampen auf und entsandten kurze, von den Wallungen des Rauchs verlängerte Lichtsignale. Wie bei einem Ritual folgte jedem Klicken das Tosen der Riesenkamera, die Don Modesto Orgullio, der Gott auf dem Sockel, in den Händen hielt. Diese Kamera war unermeßlich groß, jedoch seltsam leicht. Nach und nach spielte sich der Rhythmus der aufblitzenden elektronischen Lampen immer mehr ein, und der Götze vollführte mit seinen Anbetern eine Tanzpantomime. Immer größer wurden die Sprünge, und immer mehr glichen sie dem Fluge. Wie von unsichtbaren Sprungbrettern hochgeschleudert, schnellten die Fotografen in die Lüfte, um dann langsam zur Erde hinabzusinken, wie die sprühenden Sterne eines ungewöhnlichen Feuerwerks. Don Modesto auf seinem Sockel sprang immer höher, und jetzt schwebte er, beseelt von einem grenzenlosen Glücksgefühl, durch die Lüfte und hielt in der Hand eine blendende Sonne, eine Riesenkamera ganz aus Gold. Unter und neben ihm erstreckte sich die Welt der Menschen, ein unscheinbarer Teppich, von geschickten Händen mit Häusern, Straßen, Parks, kleinen Autos und winzigen Menschen bestickt, auf daß Don Modestos Augen etwas hätten, sich daran zu ergötzen. Der Haufe der Fotografen hatte sich verlaufen und kribbelte nun irgendwo dort unten herum, fein säuberlich eingefügt in den großen Teppich des Lebens, das Señor Orgullio nunmehr beherrschte, so wie es früher einmal der alte Don Miguel
beherrscht hatte. Unbeweglich in den Lüften schwebend, richtete der Sproß des Standesamtsgewaltigen seinen Blick jetzt auf einen Ausschnitt des Teppichs, und siehe, plötzlich vergrößerten sich die Häuser, bunte Parks erblühten wie große und vielfältige Blumenkronen, gerade Straßen durchfurchten die Eintönigkeit des Teppichgewebes, und die Autos und Menschen begannen sich zu regen. Don Modesto brauchte seinen Blick nur abzuwenden, und alles, was soeben noch gelebt hatte, war verdorrt und verkümmert, während das Leben nun in den von seinem Wohlwollen beehrten neuen Bezirken aufblühte. »Nein!« donnerte da eine fürchterliche Stimme (in der er seltsamerweise die des Alten wiedererkannte), und mit einem Male spürte er die Schwere der Füße, des Rumpfes und der Arme. Die Goldkamera verlor ihren Glanz und lastete wie ein Felsbrocken in seinen matt und kraftlos gewordenen Händen. Jetzt stürzte er abgrundtief und wirbelte durch die Lüfte, umtost vom Echo dieser einen Silbe, die aus vier Buchstaben bestand. Mit einem grimmigen Schmerz im Nacken stürzte er auf die Plaza Mayor nieder, genau neben dem Standbild Philipps III. und zersprang in tausend klirrende Scherben, die den Sockel des unsterblichen Kaisers umprasselten. Und dann erwachte er. Allerdings auf dem Fußboden. Er war aus dem Bett gefallen, und der Schmerz im Nacken wollte nicht nachlassen. Beim Fallen hatte er sich an der Kante des Heizofens gestoßen. Das Licht drang durch das Fenster und gab den unterm Augenlid entstehenden Bildern eine längliche Form. Don Modesto fühlte den unregelmäßigen Gang seines Herzens. Er tastete sich ab, um festzustellen, ob er verletzt war. Der unnachgiebige Schmerz im Nacken und ein bitterer Geschmack auf der Zunge wollten nicht weichen, während er sich zum Ausgehen fertigmachte. Mit einem unauslöschlichen Gefühl von der Sinnlosigkeit aller Dinge stieg er zerstreut in seinen Satinanzug und band seine bescheidene schwarze Schärpe um. Auch der Anblick der Geräte auf den Regalen vermochte ihn nicht zu beleben. Als er das Fenster geöffnet hatte, nahm er nicht einmal das Leben und Treiben auf der Straße und den Duft der blühenden Akazien wahr. Doch plötzlich fühlte er ein Kribbeln am ganzen Körper, und ihm wurde sehr warm. Ehe er eigentlich begriff, was mit ihm vorging, stand er schon auf dem Fensterbrett. Er hörte den
Schrei einer Frau und sah, wie sie mit dem Finger auf ihn zeigte. Da wurde ihm klar, daß er die Ursache für das Getümmel am Hauseingang war, wo sich immer mehr Menschen ansammelten. Der Portier kam auf den Bürgersteig gestürzt und zerrte eine gestreifte Matratze hinter sich her. Einige Männer ergriffen sie an den Ecken und starrten unablässig in die Höhe, und dabei hielten sie die Matratze so, daß der vermeintliche Selbstmörder darauf fallen mußte. »Seid unbesorgt, ich springe nicht ab!« hätte er ihnen zurufen mögen, doch voller Schrecken merkte er, daß er immer weiter abglitt. Seine Fußsohlen fanden schon kaum mehr Halt auf dem Fensterbrett, und sein Körper hing über der schwindelerregenden Leere der Straße. Dort unten hielten Autos, Menschen sprangen aus den Straßenbahnen, und die Menge wogte wie die Wellenkämme der See. Alle schrien gleichzeitig und machten ihm Zeichen mit den Händen, doch er nahm nur ein undurchdringliches Lärmen wahr. Trotz seines Schreckens erkannte er aber, daß er sich in dieser Höhe aus eigener Kraft nicht mehr würde halten können. Ihm war, als fühlte er in seiner Nähe einen weichen und warmen Körper, den er zu fassen suchte. Wie sehr er auch die Arme ausstrecken mochte, es gelang ihm nicht, sich mit den Fingern anzuklammern. Eine unergründliche und unsichtbare Gegenwart beunruhigte ihn, und er versuchte zu schreien. Er konnte die schreienden Stimmen auf der Straße nicht übertönen. Da schloß er die Augen und verharrte unbeweglich. Nach einiger Zeit hörte er ein Läuten, und der Lärm wich einer merkwürdigen Stille, so daß er sich schließlich ein Herz faßte und von neuem in die Tiefe schaute. Ein Feuerwehrauto hatte vor dem Gebäude gehalten, und die Feuerleiter bewegte sich auf ihn zu. Sie hing in der Luft und bildete einen rechten Winkel zur Hauswand. Noch ein Stückchen, und die Feuerleiter würde das Fensterbrett erreicht haben. Er hatte schon Angst, sich zu drehen, geschweige denn, sich auszurecken und die Feuerleiter zu ergreifen. Ihm war, als könnte die geringste Bewegung – in Gegenrichtung zu der Kraft, die ihn eben in der gefährlichen Stellung hielt, um derentwillen die Leute auf der Straße zusammengelaufen waren – das bedenkliche Gleichgewicht stören, so daß er in die Tiefe stürzen müßte. Er stieß einen Schrei aus, den alle vernahmen, die mit stockendem Atem den Verlauf der äquilibristischen Übung – sie hätte
die phantastischsten Leistungen der Berufsakrobatik in den Schatten gestellt – eingehend verfolgten. Ein Feuerwehrmann kam eilig die Leiter hochgeklettert. Als Don Modesto ihn erblickte, fühlte er, daß er seine sonderbare Körperhaltung nicht mehr lange würde ertragen können, und in Gedanken flehte er: Schneller, schneller… Der funkelnde Helm des Feuerwehrmannes kam immer näher. Als der Mann neben ihm haltmachte und die Arme nach ihm ausstreckte, um ihm behilflich zu sein (er sah sein schwärzliches und schweißglänzendes Gesicht), da fühlte er, wie er abglitt, wie das Fensterbrett unter seinen Füßen zurückwich. Es kam ihm jetzt geradezu unwahrscheinlich vor, daß ihn plötzlich eine Art Schadenfreude ergriff, ein Gefühl des Triumphes, wo er doch eben erst noch seine Rettung flehentlich herbeigewünscht hatte. Ein unglaubliches Getöse scholl von der Straße herauf, und das junge Gesicht des Feuerwehrmannes nahm einen Ausdruck an, den Señor Orgullio nicht mehr zu ergründen vermochte. Denn er schwebte auf einmal. Er schwebte im wahrsten Sinne des Wortes, ein dunkler Fleck in der bläulichen Unendlichkeit. Der Gegenstand oder das Wesen, der oder das ihn in diesem Zustand erhielt, war vollkommen unsichtbar und nicht zu fassen. Und Don Modesto hätte schwören mögen, daß er der körperlichen Schwere ledig war, denn er hielt sich aus eigener Kraft in der Höhe seiner Junggesellenwohnung, die im fünften Geschoß lag. Das jedenfalls glaubten diejenigen, die die langsame Fortbewegung des Fotografen durch die Luft beobachteten. Und wiederum – wie in dem Traum, aus dem er vor kurzem erwacht war – herrschte Don Modesto aus der Höhe über den bunten Teppich der Stadt. Da er nicht daran gewöhnt war, sich selbst zu analysieren, blieb ihm der in seinem Inneren ausgelöste Kampf zwischen dem Schrecken und einer merkwürdigen, sich ständig ausbreitenden Ruhe verborgen. Er begriff auch nicht, daß die Ruhe der Gewißheit zuzuschreiben war, früher oder später neben dem prunkvollen Standbild Philipps III. niederzustürzen. Er war zu sehr verwirrt, als daß er die Ebenen, auf denen er sich bewegte, hätte unterscheiden können (und wir müssen zugeben, daß dieser Schwebeflug die Verwechselung von Traum und
Wirklichkeit begünstigte und einen allgemeinen Störfaktor darstellte), und so wandte er den Blick, um nach den Fotografen Ausschau zu halten, die sich an der burlesken Traumpantomime beteiligt hatten. Er wunderte sich, daß er sie nicht entdecken konnte. Da erst bemühte er sich um Einsicht in seine ungewöhnliche Lage, und er kam zu der Überzeugung, daß ihn, wie er bereits vermutet hatte, der von ihm fotografierte Stern in seiner luftigen Schwebe hielt. Wie seltsam es auch erscheinen mochte, der Stern hatte gewußt, daß sein Bild aufgenommen worden war, und selbstverständlich waren ihm auch Estellas erfolglose Schritte keineswegs entgangen. Don Modestos brodelnde Gedanken hatten nicht unbedingt die Klarheit, die wir ihnen hier zuschreiben, doch die Intuition – sie war sonst allerdings nicht seine Stärke – setzte ihn in den Stand, Sinngehalte zu erspüren, die sich ihm anderwärts nicht erschlossen hätten. Der Lauf seiner Gedanken und der Umstand, daß seine anfängliche Furcht abnahm, je länger der Flug dauerte, ließen sein Vertrauen in die freundlichen Absichten der Kraft, die ihn auserkoren hatte, um sich an ihm zu offenbaren, nachhaltig erstarken. Die geheimnisvolle Kraft konnte nicht den Wunsch haben, sich selbst bloßzustellen, und wenn sie einmal eine Maßnahme eingeleitet hatte, würde sie auch imstande sein, sie erfolgreich zu Ende zu führen. Wie auf einer großen und unsichtbaren Matratze ruhte Don Modesto auf den Luftschichten, die sich zwischen ihm und den Pflastersteinen ausbreiteten, und gemächlich schwebte er über Baumkronen und Dachantennen hinweg. Doch diese seine Gemächlichkeit und Ruhe stand in offensichtlichem Widerspruch zu dem Aufruhr, der überall entstand, wo er vorüberschwebte. Ganze Autokolonnen verfolgten seinen Flug. Der Verkehr der großen Stadt war lahmgelegt, und die Polizei bemühte sich vergeblich, den Fahrzeugstrom zu steuern, der sich an den Kreuzungen nicht mehr um die Verkehrsampeln kümmerte. Man hätte sagen können, der Leib des Fotografen war zu einem ungewöhnlichen Magneten geworden, der Autos und Menschen mit unwiderstehlicher Gewalt anzog und zu einem unbekannten Ziel mit sich riß. Während sich das Erstaunen der Stadt immer stärker bemächtigte (die Kinder kamen aus den Schultüren gestürzt und die Schulmeister hinten ihnen her; die Ämter und Schreibstuben leerten sich, und die Straßen hatten sich in tosende Menschenströme verwandelt), kam das
unter den Wolkenbergen dahinschwebende Männlein zu der Auffassung, der zweifelsüchtige Chefredakteur der »Semana ilustrada« müsse nun wohl doch unter der Last der Beweise nachgeben und die Veröffentlichung der von ihm geschmähten Aufnahmen gestatten. Denn was sich hier zutrug, war nun doch zu beweiskräftig, als daß es selbst dem bescheidenen Scharfsinn Señor Orgullios hätte entgehen können. Der unsichtbare Stern wünschte seine Existenz zu beweisen, und das tat er in aller Öffentlichkeit, indem er die Aufmerksamkeit der Menschheit auf den bedeutendsten Fotografen des Zeitalters lenkte. Wenn Don Modesto für die Anerkennung seiner Verdienste zu zahlen hatte, so wäre das Zerschellen zu Füßen eines der erfolglosesten spanischen Kaiser kein zu hoher Preis gewesen. Die Menschen ehren das Andenken ihrer Märtyrer, und mit schwermütiger Genugtuung sah Don Modesto sein postumes Standbild schon vor sich… Doch in seinem tiefsten Innern hegte er immer stärkere Zweifel an der Notwendigkeit eines Opfers, dessen Nutzen er nicht einsah. Ein unerwartetes Geräusch unterbrach den Strom seiner Gedanken. Über ihm – wie aus der bauchigen Wolke gefallen, die Don Modesto vor einem Sonnenbrand bewahrte – erschien gleich einem Riesenkäfer ein Hubschrauber. Einen Augenblick später baumelte die vom Piloten ausgeworfene Strickleiter an einem Haken über dem Kopf der Fotografen. Da diese Möglichkeit aber keine Aussicht auf ein Martyrium bot, wurden Don Modestos Zweifel zur Gewißheit, denn zur Verwunderung des Piloten schlug er die ihm angebotene Hilfe aus. »Greifen Sie nach der Strickleiter!« schrie der Mann und beugte sich aus der Kanzel. »Lassen Sie mich bloß in Ruhe!« Und ärgerlich versuchte Don Modesto, sich vom Rumpf des Käfers zu entfernen, der sich anschickte, die Selbstoffenbarung des unsichtbaren Sterns zu vereiteln und dadurch vielleicht ein großes Unglück heraufzubeschwören. Doch der Pilot hatte seine Weisungen (oder überzog sie in erklärlichem Übereifer, weil die Augen der ganzen Stadt auf ihn gerichtet waren). Er zog die Strickleiter ein und warf diesmal mit der Geschicklichkeit eines Cowboys ein Lasso aus, wobei er mit der Schlinge den Brustkorb des schwebenden Männleins erwischte. Das Seil
straffte sich, und es folgte ein solcher Ruck, daß Don Modesto glaubte, die Schlinge hätte ihm alle Rippen zerquetscht. Ächzend versuchte er, sich zu befreien. Grimmig heulte der Motor. Don Modesto schmerzte der Brustkasten nicht wenig, und so fand er keine Muße, festzustellen, was den Piloten derart anfocht, daß er später nach der Landung kreideweiß aussah. In der Tat aber trug sich folgendes zu: Obwohl der Motor auf vollen Touren lief und in Gegenrichtung anzog, bewegte sich der riesige Metallkäfer dennoch in die gleiche Richtung wie das schwebende Männlein, einer Kraft gehorchend, die stärker war als der Motor. »Spielen Sie doch nicht den Verrückten!« brüllte der Pilot und beugte sich erneut aus der Kanzel. Er machte Zeichen mit seiner schwarzen Hand, doch Don Modesto konnte ihm nicht helfen, denn er ahnte ja gar nicht, welcher Schreck dem Piloten in die Glieder gefahren war. Don Modesto zappelte in der Lassoschlinge wie ein Fisch an der Angel, dem Ersticken nahe. Da lehnte sich der Pilot in die Kanzel zurück und gab sich geschlagen. Er schleuderte das andere Seilende aus dem Fenster, so daß es fortan unter Don Modesto herabbaumelte. Der Abstand zwischen ihm und dem Hubschrauber wuchs zusehends. Jetzt gelang es ihm auch, seinen Brustkorb von der Schlinge zu befreien, und eine Zeitlang schwebten das Männlein und das nutzlos gewordene Seil durch die Lüfte, nebeneinander, doch auf wunderbare Weise voneinander getrennt. Dann aber fiel das Seil in die Tiefe und landete in den Zweigen eines Kastanienbaumes, auf den sich flugs eine Schar Kinder stürzte. Don Modesto glitt weiter über den Reliefteppich der Stadt hinweg, und da wurde ihm klar, daß sich die Wirklichkeit doch nicht mit dem Traum gleichsetzen ließ. Im Gegensatz zu den Ereignissen im Traum steuerte er über die Calle de Segovia hinweg jetzt nämlich auf das riesige Gebäude zu, das mehrere Verlagsredaktionen und im achten Geschoß die Büroräume der »Semana ilustrada« beherbergte. Unwillkürlich warf er einen Blick auf seine Schärpe und prüfte, ob sein Anzug auch vollständig zugeknöpft sei. Er sah die zahllosen Fenster des Gebäudes (hinter ihnen drängten sich die Zeitungsleute und Redakteure), und die Kraft, die ihn in den Lüften hielt, führte ihn erwartungsgemäß an die Fenster des achten Geschosses heran. An einem dieser Fenster
stand Estella und machte ihm Zeichen, während sich der Chefredakteur mit der Handfläche übers Kinn fuhr, als wolle er prüfen, ob er auch nicht vergessen habe, sich an diesem Morgen zu rasieren. Mit einem nachsichtigen Lächeln nahm Don Modesto wahr, daß ihn der Sportredakteur durch ein Fernrohr betrachtete, das er sonst im Stadion zu benutzen pflegte. »Salud!« rief Don Modesto, als er bis auf einige Meter heran war und unbeweglich zwischen Himmel und Erde hing. »Nun, habe ich ein Stück einer anderen Welt fotografiert oder nicht?« »Die Fotos werden in der Festtagsnummer erscheinen«, erwiderte der Chefredakteur. Dabei wand er sich, als hätte er eine Eidechse verschluckt, nicht müde werdend, sein Kinn zu betasten. »Wollen Sie etwa sagen…?« »Was soll er denn noch sagen?« unterbrach ihn jedoch Estella. »Es ist doch unnötig, daß er noch etwas sagt… Vielmehr, er soll sagen, was er empfindet.« Dabei zückte sie ihren Kugelschreiber, und das Notizbuch lag schon auf dem Fensterbrett bereit. »Erste Eindrücke… Berührung mit dem Unsichtbaren… War es nicht irgendwie eine fliegende Untertasse? Hat er vielleicht versucht, dir eine Botschaft zu übermitteln? Hast du ihn gefragt? Hat er dir geantwortet?« »Sei doch mal still!« fuhr das Männlein sie an. »Lauf zu mir nach Hause… Kamera und Filter, du weißt, wo sie sind! Wenn ich hierbleibe, ist es einfach. Wenn nicht, dann vom Hubschrauber aus. Nimm möglichst viel auf, aus allen Blickwinkeln…« Er bedauerte, daß er sich nicht zweiteilen konnte, um mit einem Teil in der Luft zu bleiben und mit dem anderen an des Mädchens Stelle loszurennen und die sensationellsten Aufnahmen zu machen, die die Geschichte der fotografischen Kunst je erlebt hatte. »Um Himmels willen!« rief das Mädchen. »Wie konnte ich das bloß vergessen!« Sie verschwand vom Fenster. Die anderen schauten weiter zu, viel zu sehr verblüfft, als daß sie nachdenken konnten. Sie beobachteten, wie sich Don Orgullios Körper leicht wiegte, als läge er auf einer von den Wellen bewegten Luftmatratze. Der Anblick des untadelig gekleideten Männleins – und das war eine Untadeligkeit, die durch die Schärpe und
den widerspenstigen Schnurrbart noch merkwürdiger hervorstach –, des Männleins also, das sich mit siegesbewußtem Gebaren in der Luft schaukelte, war derart unwahrscheinlich, daß sich die meisten weigerten, daran zu glauben. »Wetten, nichts zu sehen«, sagte der Betreuer der Sportseite und setzte das Fernrohr ab. Er wollte damit sagen, daß er nicht sehen könne, was Don Modesto vor dem Fenster in der Schwebe halte, weil er, wie viele andere, annahm, es handele sich hier nur um einen Gaunerstreich. Mehrere Hände griffen nach dem Fernrohr. »Spüren Sie nicht eine ungewöhnliche Müdigkeit?« fragte aus einem tiefer gelegenen Geschoß ein bebrillter und schwarzbärtiger Mann, der Sachverständiger in psychologischen Fragen war. »Warum denn?« antwortete Don Modesto. »Ich tue doch nichts…« »Ich nehme Bezug auf die psychische Müdigkeit«, erläuterte der Seelenkundige verärgert, und eine Stenotypistin rief aus dem obersten Geschoß: »Wollen Sie mich nicht auch mitnehmen?«, und alles lachte. »Warum nicht?« erwiderte Don Modesto. »Bitte sehr!« Und er striegelte seinen Schnurrbart. Dann machte er – sehr zum allgemeinen und insbesondere zu seinem eigenen Schrecken – einen Sprung, blieb vor der Stenotypistin stehen und breitete die Arme aus. Als aber das Mädchen kicherte und zurückwich, sagte er ärgerlich: »Welch ein Mangel an Ernst!«, was an allen Fenstern neue Lachsalven auslöste. Der Sohn des Don Miguel Orgullio erlebte einen großen und unwiederbringlichen Tag, einen von den Tagen, die der Gipfelpunkt eines Lebens sind. Jemand anders an seiner Stelle hätte es vielleicht besser verstanden, die Umstände zu nutzen und denkwürdige Worte von sich zu geben, die die zahlreichen Zeitungsleute – sie waren hier zahlreicher vertreten als auf manch einer Pressekonferenz – über den ganzen Erdball verbreitet hätten. Don Modesto aber, eingeschüchtert von den vielen Blicken, kostete seinen Triumph schweigend aus. Als er bemerkte, daß in allen Geschossen Fotografen auftauchten und ihre Kameras klicken ließen (einige von ihnen verwendeten Teleobjektive), nahm er eine entsprechende Haltung ein, nicht zu steif, aber auch nicht ungebührlich lässig. Und wieder bedauerte er, daß er nicht selbst zur
Kamera greifen konnte. Er seufzte und erinnerte sich an die Pantomime, die er kürzlich im Traum erlebt hatte. Die Fotografen, die sich um sein Standbild gedrängt hatten, waren jetzt hier und würden wahrscheinlich auch wieder großes Vergnügen daran finden, wenn sie sich noch einmal an dem im Traum geübten Ritual beteiligen könnten. »Achtung!« rief Estella, die wieder am Fenster erschien. Was, war die schon wieder zurück? Er kannte die großen Freuden nicht, und so war ihm auch unbewußt, wie trügerisch sie sein können… Ihm schien, als wären nur einige Augenblicke vergangen, seit er ihr aufgetragen hatte, die Kamera herbeizuschaffen. Eilig gab er ihr einige Anweisungen, und Estella hörte ihm ohne Widerrede zu, was dem Männlein so ungewöhnlich vorkam, daß es sich plötzlich mit schmerzhafter Schärfe des Ansehens bewußt wurde, das es nunmehr in aller Augen genoß und an das es sich, ohne es zu merken, schon gewöhnt hatte. Bis jetzt war es ruhig gewesen, doch nun fühlte es, wie sein Herz klopfte. Das Mädchen machte einige Aufnahmen und verschwand dann vom Fenster, um bald darauf einige Geschosse höher wieder aufzutauchen. Auch dort verschwand sie wieder und begab sich in das fünfte Geschoß. Schließlich erschien sie auf dem Platz, der vom Menschengewimmel schwarz war, um auch von dort aus einige Aufnahmen zu machen. Wäre ein Hubschrauber zur Stelle gewesen, sie hätte sich gewiß nicht gescheut, die schwebende Gestalt Don Modestos von dort oben aufzunehmen, wo in der Ferne ein Habicht, erbost über den in sein Reich eingedrungenen schwarzen Fleck, unablässig Kreise zog. Doch der Hubschrauberpilot hatte es abgelehnt, sich jemals wieder mit dem schwebenden Männlein einzulassen. Voller Rührung erleichterte Don Modesto dem Mädchen die Arbeit, indem er näher kam, wieder zurückwich, Kreise beschrieb und sich so drehte und wendete, daß er von allen Seiten aufgenommen werden konnte. Zugleich wollte er dadurch auch die Möglichkeit schaffen, das Bild des unsichtbaren und unfaßlichen Sterns, der ihn der Namenlosigkeit entrissen hatte, auf den Film zu bannen. Von dem Wunsche beseelt, seine Existenz zu offenbaren, war der rätselhafte Stern zu allem erbötig, was man von ihm verlangte. Don Modesto war nicht
einmal genötigt, seine Absichten darzutun. Beide bildeten sie jetzt ein Ganzes, und der Stern verstand ihn, ohne daß er etwas erläutern mußte, gerade als könnte er seine Gedanken lesen. Oder war es vielleicht so, daß er, Don Modesto, die Anweisungen des Sterns ausführte, ohne es selbst zu merken? Im Grunde stimmten ihre Neigungen und Wünsche überein: Beide wollten sie die Existenz des Unsichtbaren beweisen und wurden somit gemeinsam tätig, wie der Seelenkundige, der zuvor hatte wissen wollen, ob Don Modesto nicht an einer psychischen Müdigkeit leide, den Zeitungsleuten auseinandersetzte. »Die Koinzidenz von Intention und Effekt exkludiert nicht, sondern postuliert sogar eine maximale Aktivation, eine psychische Motivation, deren Influenz dieser Mann später noch apperzipieren wird«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf den Fotografen. Alle, die diese Worte hörten, waren befremdet von der unverhohlenen Schadenfreude, die darin zum Ausdruck kam. Andererseits waren sie sich aber darüber einig, daß Don Modesto, von ihm angesprochen, nicht ehrerbietig genug geantwortet hatte, wohl weil er nicht wußte, mit wem er es zu tun hatte. Estellas Film war jetzt zu Ende, und so übergab sie ihn ihren Fotokollegen, die sich sogleich in die Dunkelkammer zurückzogen. Don Orgullios Neugier, auf eine schwere Probe gestellt, hatte jetzt die Grenze des Erträglichen erreicht. Er wußte, was die Leute taten, die im Dunkel des Labors verschwunden waren. In Gedanken verfolgte er ihre Bewegungen, und seine Ungeduld wuchs, je mehr ihm bewußt wurde, daß sich binnen kurzem die merkwürdige Form des Besuchers aus der Sternenwelt, der ihn zwischen Himmel und Erde in der Schwebe hielt, unmißverständlich offenbaren müßte. Ohne daß er es wußte, wiegte sich sein Körper immer schneller in der Luft, und diese Bewegung hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit der nervösen Zappelei eines Menschen, der im Vorzimmer einer Amtsstube, in der sich sein Schicksal entscheiden soll, von einem Bein aufs andere tritt. Aus der Höhe, in der er sich befand, sah er die auf dem sternförmigen Platz versammelte dunkle Menschenmasse und die Köpfe, die wie Dolden aus dem Fenster hingen. Er konnte weit in die Ferne blicken: Er sah die geometrische Gliederung der Stadt und jenseits der Manzanares-Magistrale die von den dunklen Linien der Wälder und von den hellen Streifen der Ausfallstraßen
durchschnittene Ebene. Er sah landende und aufsteigende Flugzeuge, die sich dann in den Wolken verloren, und er hörte den mißtönenden Gesang des Lebens, die feierliche Verflechtung ungleicher Töne (die Stimmen von Menschen, das Brausen von Motoren und Gewässern, das Zwitschern von Vögeln, das Sausen des Windes und die kontrapunktische Stille), die zu ihm herübergeweht kamen, als wollten sie sich einem endgültigen Urteil unterwerfen. Doch er sah und hörte alles, ohne es wirklich wahrzunehmen, gleichgültig gegenüber jedweder Sache, die nichts zu schaffen hatte mit der chemischen Behandlung eines schmalen Zelluloidstreifens, bedeckt mit einer winzigen menschlichen Silhouette, die dank den unregelmäßigen Zacken eines Riesensterns in der Luft umherschwebte. »Weshalb bleibe ich hier noch?« fragte er sich plötzlich und war erstaunt, daß er diese Frage nicht schon eher gestellt hatte, da der Beweis doch erbracht und seine Anwesenheit im Luftraum nutzlos geworden war. Er war noch unsicher und wagte kaum zu hoffen, daß es ihm vergönnt sein würde, die Vorführung abzubrechen. Er versuchte, sich dem Fenster zu nähern, an dem der Chefredakteur verdammt zu sein schien, bis ans Ende seiner Tage seinen blödsinnigen Unglauben zu büßen. Nichts hinderte ihn. Langsam glitt er durch die Luft, und als die am Fenster Versammelten seine Absicht begriffen, zogen sie sich erschrocken zurück, und er landete mit den Fußsohlen auf dem Fensterbrett. Wie in dem Traum, an den er sich noch lebhaft erinnerte, fühlte er wieder die Bürde der Füße, des Rumpfes und der Arme, und daran erkannte er, daß sich die Kraft des Unsichtbaren von ihm löste und außerhalb des Gebäudes verblieb. Torkelnd wie ein Betrunkener sprang er in das Zimmer, stolperte dem Chefredakteur in die Arme und stammelte: »Señor, verzeihen Sie, ich…« Doch die Leute aus dem Büro umringten ihn, betasteten ihn, drückten ihm die Hand und redeten alle zugleich, als wollten sie sich davon überzeugen, daß er sich wirklich hier in ihrer Mitte befand. »Sie müssen doch einsehen«, sagte der Chefredakteur, »meine Verantwortung und… immerhin… wer hätte geahnt…?« Händeschüttelnd rief Don Modesto: »Si, señor?«
Und ohne noch weiter hinzuhören, bahnte er sich seinen Weg und schubste mit ungeahnter Kraft sogar den stämmigen Sportredakteur zur Seite, um sich dann auf die Tür des Labors zu stürzen. Das vertraute Halbdunkel des Allerheiligsten umfing ihn wie nach langer Abwesenheit mit allen Ausdünstungen fotografischer Ingredienzien. »Wer zum Teufel macht denn da die Tür auf!« schrie einer von den Leuten, die den Film entwickelten, doch Estella erkannte seine Gestalt und sagte mit belegter Stimme: »Still, er ist es…« Stühle scharrten über den Zementfußboden, und jemand drehte den Lichtschalter. In dem unerwartet starken Licht schauten die Fotografen auf Don Modesto und zwinkerten unsicher. Estella beschirmte ihre Augen mit der Hand. »Na, was ist?« keuchte das Männlein. Das sonst so mundfertige Mädchen sagte kein Wort. »Was glotzt ihr denn alle so ulkig?« schrie Don Modesto. Er bemerkte zwar ihre Bestürzung, doch schrieb er sie den Ereignissen um seine Person zu, denn jetzt interessierten ihn nur die Negative. Er eilte auf den Tisch zu, doch da machte Estella einen Schritt nach vorn und ergriff ihn am Arm. »Weißt du…«, sagte sie. Sie schluckte trocken und wiederholte fassungslos: »Weißt du…« »Nein!« platzte Don Modesto los. »Wissen möcht ich’s wohl schon…« »Alles ist noch viel sensationeller, als ich geglaubt habe«, beeilte sich das Mädchen zu sagen und gewann wie durch Zauberkraft die Redegabe zurück. »Du bist in die Geschichte eingegangen als der erste… und wir waren Zeugen… komm, ich möchte dir einen Kuß geben!« platzte sie plötzlich heraus, nahm den Kopf des Fotografen in ihre beiden Hände und drückte ihm zwei kräftige Küsse auf die Wange. Don Modesto errötete, und sein Kopf ähnelte plötzlich einer Runkelrübe. »Und der Stern?« fragte er. »Ist er gut zu sehen?«
»Welcher Stern? Du begreifst nicht, daß alles sensationell, phantastisch ist?« rief Estella aus. »Nichts ist zu sehen!« Don Modestos Gesicht erbleichte ebenso schnell, wie es rot angelaufen war, und seine Nase schien mit einem Male spitz zu werden. »Ist nicht zu sehen?« stammelte er. »Nichts ist zu sehen. Verstehst du? Keine überirdische Kraft hat dich in der Schwebe gehalten!« Doch der Fotograf weigerte sich zu verstehen. Er legte die Hände an den Kopf und flüsterte: »Willst du damit sagen, daß dort oben… ich… allein…?« »Du bist der erste fliegende Mensch!« kreischte Estella. »Der erste, der…« Don Modesto hörte sie nicht mehr. Ein starkes Schwindelgefühl wühlte ihm im Magen, und das Zimmer fing an, sich wie wild um ihn zu drehen. Er brach zusammen, mit einer schwachen Erinnerung an einen anderen Fall, doch er konnte sich nicht mehr genau entsinnen, wo das gewesen war. Und hier wäre eigentlich alles zu Ende, denn die dramatische Verwirrung, auf die sich Modesto Orgullios Ruhm gründete, konnte nicht geklärt werden. Eine Kommission, der auch der bärtige Psychologie-Sachverständige angehörte, hat in Ermangelung einer besseren Erklärung befunden, die Fähigkeit des Fliegens sei eine Folge der heftigen Erschütterung, die durch den Sturz des Fotografen aus dem Bett entstanden war. Diese Erschütterung habe das verlängerte Rückenmark angegriffen, auf merkwürdige Weise das Gleichgewichtszentrum verändert und eine Verschiebung hervorgerufen, durch die eine unbekannte Gegenschwerkraft wirksam geworden sei. Leider wurde die Erforschung der geheimnisvollen Erscheinung dadurch verhindert, daß sich Señor Orgullio entschieden weigerte, noch einmal das Fliegen zu versuchen. Es brauchte nur ein dahin gehender Vorschlag geäußert zu werden, und schon befiel ihn ein Schwindelgefühl, das Bewußtlosigkeit zur Folge hatte. Da der Vorschlag des PsychologieSachverständigen – ihn nämlich ohne viel Umschweife aus dem Fenster
zu werfen, so daß er gezwungen wäre, seine wunderliche Fähigkeit in extremis wiederzuerlangen – von den übrigen Kommissionsmitgliedern einstimmig abgelehnt wurde, konnte der Fall nicht geklärt werden. Später ordnete man ihn den Merkwürdigkeiten zu, bei denen sich die Wissenschaft einstweilen damit begnügte, sie lediglich zu registrieren. Selbstverständlich sind einige Fotos von Don Modesto (als Kuriosität) auf der letzten Seite der »Semana ilustrada« erschienen. Der einzige Widerhall, den sie fanden, war eine Zuschrift von Don Ramon Tolosas, dem Leiter eines Straßenbauunternehmens, der in dem rätselhaften Stern den Umriß eines Lastkraftwagens wiedererkannte, den die Studenten der Belle-Arte gemietet hatten, um damit am Karneval teilzunehmen. Das kreisrunde Loch war nichts anderes als die Stelle, an der ein Betonmischer gestanden hatte. Dieser war abmontiert worden, um die Plattform entsprechend dem festlichen Anlaß herzurichten. Die unregelmäßigen Zacken des Sterns waren Ansatzstücke, auf denen Karnevalsfiguren gestanden hatten. Später gab der Sportredakteur bei einem Seidel Bier zum besten, Señor Orgullio sei beim Lesen dieser harmlosen Zuschrift in Tränen ausgebrochen. Don Modestos letzter Versuch, sich das Schicksal gefügig zu machen, war ein bejammernswerter Fehlschlag. Wenn er auch heute eine Weltberühmtheit ist und die Berichterstatter aus aller Welt seinem Schnurrbart und seiner Glatze zu allgemeiner Beliebtheit verholfen haben, so ist es doch keinem von ihnen eingefallen, darauf hinzuweisen, bei dem fliegenden Menschen handele es sich um einen Kunstfotografen. Und die Bilder, von denen die Berichte begleitet waren, gaben die Aufnahmen von Estella und ihren Kollegen wieder. »Da schaut mal, der Señor Orgullio!« sagen die Eltern zu ihren Kindern, wenn Don Modesto auf der Straße vorbeigeht. »Werden Sie uns einmal ein anständiges Foto bringen?« wird der Chefredakteur nicht müde, auf den wöchentlichen Redaktionssitzungen zu fragen. Und Don Modesto ist und bleibt der Prügelknabe. Dann versucht er vergeblich, sich hinter dem breiten Rücken des Sportredakteurs zu verbergen. Mit zugehaltenen Ohren – den Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt – sitzt er dann da
und starrt in den ewigen Abgrund der Verzweiflung, der sich immer nur neben dem Bein des Stuhls auftut, auf dem gerade er sitzt. Aus dem Rumänischen von Hans Herrfurth
Gheorghe Săsărman Motopia
Mit Sicherheit vermag man eigentlich nicht zu sagen, wann dieses Motopia entstanden ist und wann seine Ausbreitung ihren Anfang genommen hat, geschweige denn, welche Kräfte seine Ausbreitung vorantreiben. Gering ist die Zahl derer, die sich an die schwierige Aufgabe herangewagt haben, die Zukunft Motopias zu erkunden, obwohl viele Leute befürchten, nichts werde sein hemmungsloses Wachstum aufhalten können. Motopia ist eine aus den Nähten platzende Stadt. Aber ist es überhaupt eine Stadt? Stellen Sie sich eine Fläche vor, begrenzt von einem Kreis mit einem – im übrigen nur annähernd anzugebenden Durchmesser von etwa 100 Kilometer. Die Umfangslinie dieses Kreises bilden mehr als 100000 Exemplare einer Art Riesenplanierraupe, die sich nebeneinander langsam, aber unaufhaltsam in Außenrichtung voranbewegen. In dem Maße, wie bei ihrer Bewegung vom Mittelpunkt weg freie Räume zwischen ihnen entstehen, reihen sich andere neue Planierraupen in die Vortriebsstrecke ein. Diese im wahrsten Sinne wandernde vollautomatisierte Fabrik hat den Zweck, die Offensive vorzubereiten. Hügel und Erhebungen sind eingeebnet, Bodensenken sind zugeschüttet, ja sogar der abschüssigste Berg hat sich in eine horizontale Ebene verwandelt. Die Wälder werden zu Bauholz und Zellulose verarbeitet. Die fruchtbare Erde der Fluren gibt es nicht mehr. Man hat sie verwendet, um die Seen damit trockenzulegen. Die Flüsse hat man zu geschlossenen Kanälen umgebaut, und die gesamte Fauna wird industriemäßig nutzbar gemacht. Die Planierraupen aber sind nicht einfach nur zum Planieren da: Hinter ihnen entsteht ein märchenhaftes Straßennetz, bestehend aus mehrgeschossigen Autobahnen in Dutzende von Richtungen, ein sich wunderbar überschneidendes Spitzengewebe aus Beton und Asphalt. In den Maschen dieses Netzes befinden sich über- und unterirdische Parkräume, Turmgaragen mit mehr als zehn oder zwanzig Geschossen, mit rätselhaften Metalltüren zugesperrte Hallen. Einige hundert Meter über dem Erdboden schwebt Tag und Nacht eine bläuliche, riesengroße Wolke, die den Horizont verhüllt. Die Stadt wird ausschließlich von der fruchtbaren Spezies der Homobile bewohnt. Ihre Lebensweise ist verhältnismäßig wenig bekannt, und zwar aus weiter unten darzulegenden Gründen. Dennoch haben einige waghalsige Reporter, denen es gelang, auf wundersame
Weise von dort zurückzukehren, gewisse Nachrichten verlautbaren lassen. Da die in einer außerordentlich kurzen Pressekonferenz mitgeteilten Nachrichten überaus verworren waren und einander in vielen Punkten widersprachen, sind die verbreitungswürdigen Informationen nicht sehr reichlich bemessen. Die Existenz – zumindest die öffentliche – der Homobile beginnt an den Türen besagter Hallen, die sie stündlich in dichten Scharen verlassen. Es hat den Anschein, als träten hier nur reife und großzylindrige Exemplare der Spezies in Erscheinung. Man hat verschiedene Subspezies zu unterscheiden, und zwar ausgehend von Herztyp, Herzposition, Übersetzung, Aufhängung und ähnlichen anatomischen Merkmalen. Kennzeichnend für jede motopianesische Familie ist eine bestimmte Konstruktion der Karosserie sowie ein jeweils individueller Unterschied in Stromlinie, Farbe und Scheinwerferzahl. Mitunter beschränkt sich ein solcher individueller Unterschied ausschließlich auf die Registriernummer. Ein Wesenszug, der allen eignet und über den sich alle Berichte einig sind, ist das rote Auge, das sich wie eine blutende Wunde auf dem Kopf eines jeden Individuums befindet, wo es ohne ersichtlichen tieferen Sinn gräßlich blinkt. Die Homobile zeigen eine unüberwindliche Lebenskraft, die sich besonders in einer offenbar sinnlosen und überschnellen Fortbewegung auf dem zu diesem Zweck bestimmten Autobahnnetz äußert. Diese Sinnlosigkeit der Fortbewegung ist jedoch nur eine scheinbare. In Wirklichkeit vollzieht sich während dieses magischen Geschwindigkeitstanzes die natürliche Zuchtwahl, allerdings in spezifischen Formen. Die irrsinnige Jagd auf den Asphaltstreifen überleben nur die kräftigsten Exemplare, die über teuflische, dem höllischen Rhythmus des Daseins angepaßte Reflexe verfügen. Jedes Versagen der Bremsen oder der Warn- und Blinkanlagen bringt höchste Gefahren mit sich. Schon die geringste Abartigkeit der Wirbelsäule kann zu einem Verhängnis werden. Schwere Spezialfahrzeuge schleppen dann die Leichen in die Nähe der Hallen, wo sie – nach einer vorherigen Stauchung, bei der sie Quaderform annehmen – auf geheimnisvolle Weise wieder nutzbar gemacht werden. Wahrscheinlich werden sie für die komplizierte Zeugung neuer Exemplare verwertet.
Außerhalb der Stunden, in denen die lange und erbitterte Straßenschlacht im täglichen Kampf ums Dasein tobt, kennen die Homobile auch Zeiten der Muße in den Parkräumen. Schweigend, unbeweglich und unempfindlich für die Annäherung von Rivalen, sind sie dann in einem merkwürdigen Zustand der Ermattung, den Rücken mitunter einem Riesenschirm zugewandt, auf dem unablässig ein beklemmender, vom harten Dasein der Bagger geprägter Film läuft. Wenn die motopianesischen Familien die Nacht nicht auf den Autobahnen verbringen, halten sie sich, übermannt von einem metallischen und traumlosen Schlaf, zu dieser Zeit in den Turmgaragen auf. Das Gräßlichste im Leben der Motopianeser – und das macht das hemmungslose Wachstum Motopias geradezu widerwärtig – ist die Art, auf die sie sich ernähren. Kurz und knapp gesagt, es geht hier um Menschenfresserei. Das Hauptnahrungsmittel der Homobile sind nämlich Menschen. Zahllose verblendete Menschen, durch eine verlogene, aber geschickt geführte Propaganda angelockt und in ihrer Gutgläubigkeit betrogen, kommen hier täglich aus den Provinzstädten an. Auf Bahnhöfen und Flughäfen werden sie entladen, um entweder der hungrigen Meute sofort zum Fraße vorgeworfen oder als Schüttgut in Speziallagerungseinrichtungen – diese werden großsprecherisch »Hotels« genannt und haben unmittelbare Verbindung zu den Baulichkeiten, in denen die einheimischen Familien die Nacht verbringen – befördert zu werden, damit man sie im lebenden Zustand als Frühstück verabreichen kann. Gesättigt, vollgestopft, mit Hängebäuchen, die bis auf einige Zentimeter an die Asphaltflächen heranreichen, und sich träge in den Kurven wiegend, machen sich die Homobile auf den Weg, um ihr genossenes Mahl zu verdauen. Finsterste Gedanken wohnen hinter ihrer glatten und undurchsichtigen Stirn. Mit Ausnahme besagter Reporter – die unsere wirklichen Erretter sind, denn die größte Gefahr liegt nicht so sehr in der Existenz Motopias als vielmehr in der Unkenntnis der dort herrschenden Lebensverhältnisse – ist noch niemand aus dieser unheimlichen Stadt wieder heimgekehrt. Ganz nebenher sei folgendes bemerkt: Die begeisterten Anrufe und Briefe, mit denen die dort Angekommenen sozusagen ihr Entzücken kundtun oder ihren Entschluß mitteilen, sich in dieser Stadt für immer niederzulassen, kann
man nur als Verzweiflungstat werten, zu der sie im Angesicht des Todes gezwungen wurden, wenn nicht gar als plumpe Fälschungen und bewußte Irreführungen. Die Überlebenden erzählen haarsträubende Dinge über die grenzenlose Grausamkeit der Homobile, die oft nicht nur auf der Nahrungssuche – zumal sie sich ausschließlich von lebenden Menschen ernähren –, sondern auch zum reinen Vergnügen töten. Sobald die Gefangengesetzten erkennen, welche Gefahren auf sie lauern, ist ihr ganzes Sinnen und Trachten auf die rettende Flucht gerichtet. Da man lediglich zu Fuß entkommen kann, versuchen sie, die Zellen der unheimlichen Hotels zu verlassen. Und hier zeigt sich der ausgeklügelte Sadismus der Einheimischen in seinem vollen Ausmaß: Die Ausgänge sind nicht bewacht, denn die Homobile in ihrem nicht zu übertreffenden Zynismus wissen sehr gut, daß ein solches Unterfangen nur durch ein Wunder gelingen könnte. Selbst wenn die Flüchtenden die Wegstrecke bis zur motopianesischen Grenze, die nur einige Dutzend Kilometer beträgt, nachts und somit bei mäßigem Verkehr zurücklegen und sich tagsüber verborgen halten, wäre die Zahl der zu überquerenden Asphaltstreifen viel zu groß, als daß die Armen ihr Ziel je erreichten. Zum Glück sind einige solcher Wunder geschehen, wenngleich sie unzählige Flüchtende mit dem Leben bezahlen mußten. Die Homobile haben den Flüchtenden falsche Hoffnungen gemacht und sich dann auf die Gehetzten und Ausgehungerten gestürzt, um sie erbarmungslos und böse kreischend zu zermalmen. Die Leichen haben sie am Ort der Untat liegenlassen: Ungeborgen und unbestattet sollten die Gebeine und fürchterlichen Schädel den anderen ein warnendes Beispiel sein, jeglichen Gedanken an Widersetzlichkeit fahrenzulassen. Aus dem Rumänischen von Hans Herrfurth
Antun Šoljan Das Schiff in der Flasche
Ein Museum sieht aus wie das andere, sie bilden sozusagen eine Flucht gleichartiger, ineinander übergehender Zimmer. In welchem Land auch immer sie sein mögen, was auch immer in ihnen ausgestellt sein mag, alles verliert nach einer gewissen Zeit unter der Einwirkung von Halbdämmer, Staub und Vergänglichkeit die Schärfe der Konturen, die Klarheit der Farben, das individuelle Gepräge: Gleichberechtigung herrscht wie auf dem Friedhof. Auch die Meeresmuseen stellen keine Ausnahme dar: in vielen Städten an vielen Küsten die gleichen lackierten angeschwemmten Gegenstände unter Glas, der gleiche Bohnerwachsgeruch und sogar die gleichen Besucher, die sich aus dem gegenwärtigen Leben genauso hierher verirrt haben wie die ausgestellten Bruchstücke aus dem vergangenen. Ich weiß wirklich nicht, warum sie solche Anziehungskraft auf mich ausüben. Mein gefräßiges Gedächtnis hat sie alle miteinander vermischt – Greenwich, Monte Carlo, Dubrovnik, Kopenhagen, San Francisco –, als lägen sie alle in einer einzigen unwirklichen Stadt am Ufer eines uralten und längst unwirklichen Meeres. Vielleicht erinnere ich mich einfach nicht mehr, in welcher Stadt und an welchem Meer es war, vielleicht war ich geradenwegs in dieses unwirkliche Einheitsmuseum geraten – ich weiß lediglich, daß ich Ihnen nicht sagen kann, wo es war; aber ich habe dieses Schiff in der Flasche gesehen. Vielleicht kann es jeder sehen, und vielleicht sieht es auch jeder, erkennt es nur nicht. Ich habe es sofort erkannt. Die wenigen Besucher, die zwischen den Vitrinen umherlungerten, hatten keinen Blick für die wunderbare Form einer Muschel, sondern versuchten zu schätzen, aus welcher Tiefe sie geborgen worden war. Sie interessierten sich nicht für den kantigen phönizischen Anker, der wie Phönix vom Meeresgrund aufgestiegen war, sondern für sein Alter. All das war entgegenkommend auf weißen Emailleschildchen vermerkt. Aber unter der großen grünlichen Flasche, die einsam in der Ecke einen großen Ständer zierte und in der jenes Schiff war, gab es kein Schild. Auf das Schiff in der Flasche hatte keinen Namen. Die Besucher streiften es im Vorbeigehen mit einem flüchtigen Blick – es war ein Modell unter vielen.
Bei mir ist es sonst nicht anders: Auch ich habe eine Menge Schiffsmodelle gesehen. Modelle, in nostalgischer Erinnerung gebaut von Kapitänen im Ruhestand, Modelle, mit Ausdauer und Geduld von Matrosen auf langen, monotonen, mehrjährigen Fahrten gebastelt. Teure, im Auftrag reicher Leute konstruierte Spielzeuge, die vor künstlichem Wind aus Ventilatoren auf Gartenbassins umherschwimmen. In Seefahrtsinstituten habe ich Modelle gesehen, an denen die Eigenschaften von Schiffsrümpfen getestet wurden. Ich habe die berühmten Modelle aus Knochen gesehen, die unter den Händen französischer Häftlinge in den Strafkolonien vornapoleonischer Zeit entstanden sind. In San Pedro habe ich ein Modell gesehen, das so groß und so solide gezimmert war, daß es in See hätte stechen können. Natürlich habe ich auch viele Modelle in Flaschen gesehen. Man hört häufig Geschichten darüber, wie so ein Schiff in die Flasche gelangt. Eine betrügerische Methode ist es, das Schiff in eine Flasche zu stecken, der danach erst der Boden angeklebt wird – so produzieren die Händler billige Souvenirs. Es ist einfach ein Märchen, daß man ein winziges Schiff in die Flasche hineinpraktiziert, das, wenn man Glück hat und die Sterne günstig stehen, zu einem richtigen Modell heranwächst und nicht mehr durch den Hals hinaus kann. Es ist ein naiver Irrtum, daß erst das Schiff gebaut und dann auf komplizierte Weise die Flasche darum herum geblasen wird. Aber lange bevor ich erfuhr, wie die Sache wirklich vorgeht, träumte ich bisweilen, daß ich selbst ein solches Schiff in der Flasche baute, daß ich es aus irgendeinem Grund bauen mußte: In langen verworrenen Träumen, die sich wiederholten und in denen mir die Finger steif wurden und die Augen tränten, habe ich geduldig, Stück für Stück, mit Hilfe von stumpfen Nadeln, langen Pinzetten, Zwirnsfaden und Leim ein ganz bestimmtes Schiff in einer Flasche zusammengesetzt. Vielleicht habe ich es auch nicht geträumt, vielleicht ist es in einem meiner früheren Leben geschehen, denn der Traum war realer als die Wirklichkeit, diese Aufgabe wichtiger als mein ganzes jetziges Leben. Deshalb weiß ich wohl besser als andere, was für Mühe und Arbeit das ist: Man muß viel Geduld haben, um so ein Schiff zu bauen, und viel Liebe, um diese Geduld aufzubringen. Sogar im Traum. Obwohl ich träumte, war es wirkliche Qual und wirkliche Liebe.
Und deshalb blieb ich betroffen stehen, als ich dieses Schiff erblickte. Der durchsichtige grünliche Mantel aus Glas, das im Halbdämmer wie Perlmutt schimmerte, umhüllte eine alte Mittelmeerkaravelle mit kompletter Takelage, mit Segeln, mit Tauen, mit Fähnchen an den Mastspitzen, mit Wasser- und Weinfässern an Deck. Es war das Werk eines genialen Miniaturisten mit begnadeten Händen und pervers genauer Phantasie. Die Taue waren nicht nur alt und brüchig, sondern man sah deutlich die dünnen Stellen, die durch Reibung an der Winde oder am Laufsteg entstanden waren. Ja, man konnte sogar erkennen, wo gerissene Taue mit Flechtbändern ausgebessert waren. An den Seiten, wo die Farbe etwas abgeblättert war, schaute zwischen den Planken Werg hervor. Mir war, als erinnerte ich mich genau aller Einzelheiten, als erkennte ich das Schiff wieder. Zwar hatte es keinen Namen, aber ich strengte mein Gedächtnis an: Wie hatte es geheißen, oder wie hatte es heißen sollen? Während ich so das Schiff anstarrte und auf der schmalen Schwelle zwischen Erinnerung und Wirklichkeit balancierte, begannen auf einmal die Fähnchen zu flattern, die Segel blähten sich, ein Toppsegel wurde gehißt, ein Quersegel eingerollt. Und die winzige Mannschaft rannte geschäftig an Deck hin und her, rollte Taue auf, holte Schutzmatten ein. Der kleine Kapitän stand am Mast, die Hände auf dem Rücken und das Pfeifchen zwischen den winzigen gelben Zähnen. War er eine vollendete Schöpfung, oder imitierte er nur vollendet seinen Schöpfer? Das Schiff fuhr offensichtlich. Aber wie? Anfangs suchte ich aufgeregt nach einem verborgenen Mechanismus, der all das in Bewegung setzte wie bei einer magischen Schachtel aus der Renaissance, aber ich konnte nichts entdecken, ringsum war alles leer, ringsum war es dunkel, also fand ich mich damit ab, daß kein Mechanismus vorhanden war, den ich mit meinen bescheidenen technischen Fähigkeiten ausmachen konnte, und ich beobachtete die Vorgänge, glücklich, weil ich hier stand, glücklich, weil es mir vergönnt war, Zeuge dieses kleinen Lebensausschnitts zu sein. Das Schiff segelte vor unsichtbarem Wind auf seinem geheimnisvollen Kurs, den der kleine Kapitän energisch angab. Offenbar wußte er, wohin und weshalb sie unterwegs waren. Ich stand wie verzaubert und schaute.
So stand ich noch, als auch die letzten Besucher das Museum verlassen hatten, die Lampen allmählich gelöscht wurden und sich irgendwo weit weg ein großes Tor schloß. Ich wußte, daß es für mich Zeit war zu gehen, doch ich konnte mich nicht trennen. Hinter mir schlurften die Wächter ungeduldig hüstelnd hin und her. Museumswächter sind immer grau und unpersönlich, aber in diesem Museum hatten sie besonders ausdruckslose, starre Gesichter, und ihre Monturen waren lang und düster, fast wie Kutten – oder kam es mir im Dämmerlicht nur so vor? Sie bewegten sich vorsichtig und geräuschlos, als belauerten sie mich, als wäre ich ihnen verdächtig. Aus dem Augenwinkel sah ich, daß sie hinter meinem Rücken miteinander flüsterten. Schließlich trat einer von ihnen zu mir, lautlos wie ein Beichtvater. Er war sehr alt und voller Runzeln, und als er einen unsichtbaren Schalter an der Wand betätigte und das Licht löschte, das die Vision in der Flasche beleuchtet hatte, glommen seine Augen im Dunkeln. Aber seine Stimme war sanft und mitfühlend. Er flüsterte, als wollte er nicht, daß ihn die anderen hörten. »Sie sehen es auch, nicht wahr? Das gelingt nur wenigen. Alle glauben, daß dieses Schiff gesunken, zerstört, für immer verloren ist. Aber das ist es nicht. Sie sehen, daß es nicht wahr ist.« »Mein Gott«, sagte ich, »es ist doch nur ein Modell.« »Nein. Es ist dieses Schiff.« Dieses Schiff, dachte ich intensiv, es ist dieses Schiff. »Sie wissen es, Sie müssen es doch wissen, wie sehr der Kapitän und die Mannschaft an ihrem Schiff gehangen haben«, fuhr der Wächter hastig und leise fort, »sie hatten kein anderes, wollten von keinem anderen etwas wissen. Sie wünschten sich, ewig auf Fahrt zu sein. Das ist genaugenommen nichts Ungewöhnliches: man gerät irgendwann einmal an Bord, man kann nichts anderes oder hat nichts anderes, schließlich gewöhnt man sich daran, oder man hat Angst vor Veränderungen, also möchte man bis an sein Lebensende dabeibleiben. Haben Sie das nicht gewußt? Sie sollten es aber wissen.« »Ich? Warum?« fragte ich verständnislos.
»Jedenfalls haben sie es sich so sehr gewünscht, daß ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Sagen wir, jemand hat ihn erfüllt, oder es ist von selbst geschehen, durch einen Fehltritt der Natur. Der Wunsch ist etwas Mächtiges. Dieser Zauberer hat sie verkleinert und in der Flasche eingeschlossen wie in Aladins Wunderlampe. Der Wunsch hat zusammen mit ihnen ein Stück Zeit genommen und es in der Flasche zum Stillstand gebracht. Alles ist wie echt. Nur wenn Sie die kleine Sanduhr am Fenster der Kapitänskajüte betrachten, werden Sie sehen, daß der Sand nicht rieselt. Die Zeit ist stehengeblieben, nur die Fahrt geht weiter.« »Aber wohin?« fragte ich den Alten. »Wozu? Warum?« »Als wenn das wichtig wäre!« Er lachte trocken auf. »Wichtig ist, daß sie fahren. Das war ihr einziger Wunsch.« Auf einmal kamen mit schnellen und energischen, wenn auch kaum vernehmlichen Gummischritten die anderen beiden Wächter heran. Einer schob den Alten beiseite, wobei er ihn mit harten blauen Augen fixierte. »Verzeihen Sie, wenn er Sie belästigt haben sollte«, sagte er monoton. »Er ist schon alt und etwas wunderlich und träumt mit offenen Augen.« »Aber keine Spur«, sagte ich. »Ich habe mich selbst überzeugt…« Der zweite Wächter hatte mir bereits die Hände auf die Schultern gelegt und schob mich höflich, aber bestimmt dem Ausgang zu. »Das ist gar nicht verwunderlich«, sagte er. »Hier wird bei Sonnenuntergang das Licht so gebrochen, daß optische Täuschungen entstehen. Aber wir schließen jetzt.« Ich schaute noch einmal zu dem Schiff in der Flasche hin. Es war in völlige Dunkelheit gehüllt. Ich zog meiner Wege, ging meiner Arbeit nach; bald hatte ich das Schiff, das Museum, die Stadt vergessen. Kürzlich war ich zum alljährlichen Bankett des »Vereins der KapUmsegler« eingeladen, das außerhalb der Saison im großen leeren Hotel einer Touristenstadt an der Küste stattfand. Diesem Verein können nur Seefahrer beitreten, die das Kap Hoorn auf einem Segler umschifft haben. Die meisten Anwesenden waren hinfällige Greise.
»Wir werden immer weniger«, klagte der Sekretär des Vereins, selbst in den Achtzigern. »Zwar nehmen wir hin und wieder ein jüngeres Mitglied auf, aber das sind, verzeihen Sie den Ausdruck, Sportler. Man hat niemanden mehr, mit dem man sich unterhalten kann.«. Ich unterhielt mich mit dem ältesten Vereinsmitglied, dem Kapitän eines Segelschiffes, neben dem ich beim Abendessen zufällig zu sitzen kam. Es war ein seltsames, stilles Bankett, die wenigen Stimmen hallten dumpf unter der Kuppel des großen Speisesaals wider, die Kellner glitten geräuschlos auf Gummisohlen dahin, während sie stumm das frugale Mahl servierten. Sie sahen aus wie Museumswächter, nicht wie Kellner, aber auch die Gäste glichen mehr Mumien als lebenden Menschen. Das Gesicht des alten Kapitäns war wie eine wächserne Maske: Tropfen unzähliger Kerzen schienen in Jahrhunderten auf diesem Gesicht erstarrt zu sein und eine öde Erosionslandschaft mit den purpurnen Wasserläufen der Äderchen hinterlassen zu haben. »Es wird behauptet, die Erde sei rund«, sagte der alte Kapitän, an keinen Bestimmten gerichtet. »Aber das bedeutet nicht, daß die Welt kein Ende hat.« In dem bedrückend leeren Raum klang das wie eine endgültige Prophezeiung. Der Sekretär des Vereins beugte sich vertraulich zu mir. »Er ist schon sehr alt und ein bißchen senil«, flüsterte er, »und erzählt die seltsamsten Sachen. Sie müssen etwas Geduld mit ihm haben.« »Einmal bin ich ans Ende der Welt geraten«, fuhr der alte Kapitän fort, noch immer an niemanden gewandt. »Wir waren bei einem Sturm vom Kurs abgekommen, die Kompasse waren defekt, wir hatten nichts, wonach wir unsere Position bestimmen konnten, und so fuhren wir einfach geradeaus, sehr lange und geradeaus. Irgendwo muß man ankommen, redeten wir uns ein, aber wir wußten nicht, wo; denn dort vermischen sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. Doch in einem Augenblick haben wir das Ende der Welt gesehen und gewußt, daß wir umkehren mußten.« »Woher haben Sie es gewußt?« fragte ich ihn. »Ich meine, woran haben Sie gesehen, daß es wirklich das Ende der Welt war?« Er drehte den Kopf langsam und gemessen wie eine Schildkröte und sah mich zum erstenmal an.
»Der Himmel wurde immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige grünliche Wand aus dickem Glas. Wir waren bis zu dem Punkt gelangt, wo die Wellen sich an dieser Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere, irgendwelche Lichter und sonst Dunkelheit. Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an der Wand und berührten sie mit den Händen, und das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, daß wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte. Und da…« Er hielt inne und sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens das Geheimnis hüten würde. »Und da?« fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum. »Da sahen wir ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unserer Kimmung, seine Augen waren wie zwei riesige untergehende Monde. Bei diesen gigantischen Dimensionen war schwer auszumachen, was das Gesicht ausdrückte. Am ehesten hätte man es neugierig nennen können, so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das einzige, was wir sofort folgern konnten und was wir zuverlässig wußten, war, daß es nur Gottes Antlitz sein konnte. Er hatte uns hier eingeschlossen und wartete gespannt, was wir tun würden, nachdem wir die Grenzen des Gefängnisses entdeckt hatten.« »Und was haben Sie getan?« fragte ich mit ehrlichem Interesse. »Nichts. Wir haben gebetet, beschworen, gefragt. Aber keine Antwort kam, kein Zeichen des Verständnisses. Wie denn auch. Doch dann senkte sich plötzlich und unerklärlich Finsternis herab, schwarz, dicht, ohne Sterne. Das Gesicht war verschwunden. Wir hißten endlich die Segel und fuhren ohne Aufenthalt, bis wir bekannte Gewässer erreichten.« Er schwieg nachdenklich. Ich glaubte mich dunkel an etwas zu erinnern, irgend etwas machte mir angst. »Dieses Gesicht«, fragte ich ihn, »wie war es? Sah es jemandem ähnlich? Würden Sie es wiedererkennen?«
Er musterte mich lange, schweigend, greisenhaft blicklos. »Wenn Sie mich schon fragen«, sagte er und wog jedes Wort, »am ehesten glich es Ihrem Gesicht.« Und seine Stimme war plötzlich voller Haß. Hätte er nur gekonnt, er hätte mich sofort am Mast gekreuzigt. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak
Alojz Majetić Männerlogik
»Leute, mit mir stimmt was nicht«, erklärte Adalbert und legte Messer und Gabel weg. »Aber das Essen hier ist okay«, entgegnete Mario zwischen zwei Bissen. »Schade, daß wir den Laden nicht eher entdeckt haben«, ergänzte der dritte, Pegla genannt. Sie gehörten demselben Jahrgang an und zählten zusammen hundertzwanzig Lenze. Auch daß sie unbeweibt waren, traf auf alle gleichermaßen zu. Lediglich Pegla hatte drei Ehen hinter sich, aber wenn wir alles redlich aufteilen, dann war durchschnittlich jeder von ihnen einmal geboren, einmal verheiratet und hatte ungezählte Male schmutzige Socken und andere Kleidungsstücke mit eigener Hand gewaschen. »Aber ich bin tatsächlich am Ende! Ich mach’s nicht mehr lange«, beharrte Adalbert. Mario und Pegla fuhren ungerührt fort, ihre Teller zu leeren. Wie Soldaten oder Studenten sind Junggesellen ewig hungrig. Erleidet daher ihr Verdauungsapparat irgendeinen Schaden, und man sollte sich nicht wundern, wenn dies bei den meisten Junggesellen der Fall ist, dann ist das eine sehr ernste Angelegenheit. Indes, die Ursachen für Adalberts Untergangs Stimmung lagen nicht in der Leibesmitte. Bei ihm war die Sache viel schwieriger und komplizierter. »Ihr seid wie Tiere, ohne jedes Mitgefühl!« klagte er. »Deshalb haben wir auch keine idiotischen Todesahnungen und was dergleichen Blödsinn mehr ist«, parierte Mario, der eben eine Scheibe Brot in die Soße tunkte. »Aber wir sind doch schließlich Freunde, und ich würde euch überhaupt nicht mit meinen Sorgen behelligen, wenn es diesmal nicht wirklich ernst wäre. Wie soll ich euch das bloß beschreiben? Seid ihr mal ohne Training drei Stunden lang geritten?« »Ich habe nur mal auf einem hölzernen Karussellpferd gesessen«, gestand Pegla. »Oder stellt euch vor, ihr seid im vierten Stock aus dem Fenster gestürzt… so zerschlagen fühle ich mich… oder wie einer, den am
Ausgang eines Fußballstadions fünfzigtausend Leute zertrampelt haben. Genau so.« »Hm. Das ist nichts weiter als eine Grippe. Dir tun alle Knochen weh, du hast zu nichts Lust. Eine ganz ordinäre Grippe. Deswegen beißt keiner ins Gras, es sei denn, seine Gesundheit ist sowieso zerrüttet«, erläuterte Pegla fachmännisch. »Wenn es doch nur eine Grippe wäre! Ist aber keine. Das ist ja das Problem. Kein Fieber, keine Schweißausbrüche, keine Schwierigkeiten mit der Verdauung, regelmäßiger Stuhlgang, Puls normal, Urin klar, alles okay, und das ist ein Zeichen, daß das Schlimmste eingetreten ist: etwas ganz Heimtückisches ohne Symptome, es ist einfach da, und du weißt, daß es mit dir aus ist. Ein Gefühl sagt dir, daß du expreß ins Jenseits befördert wirst…« »Zum Wohl!« sagte Mario, der schon ungeduldig auf den Kellner mit den Bieren gewartet hatte. Adalbert warf einen Schein auf den Tisch. »Ich gehe. Wenn ihr morgen wieder klar seid, reden wir über einige praktische Dinge. Schließlich muß ich meine paar Habseligkeiten jemandem hinterlassen. Und ihr beide steht mir am nächsten. Macht’s gut.« »He, du kriegst noch Geld raus!« rief Pegla. »Unwichtig, bestellt euch was dafür. Was ich besitze, gehört sowieso euch«, sagte Adalbert und lächelte zum Abschied, um den peinlichen Eindruck abzuschwächen, den sein sentimentales Gerede bei den Freunden hinterlassen hatte. Adalbert öffnete ängstlich ein Auge und machte sich sofort daran, die Identität des Raums festzustellen. Ja, die Tapete hatte haargenau dasselbe Muster wie die in seinem Zimmer. Nach dem bekannten Ticken zu schließen, mußte die Uhr die nämliche sein, die ihn schon seit Jahren einschläferte. Auf dem Nachttischchen erkannte er Kafkas »Verwandlung«, die er zur Hälfte durchgeblättert und dann weggelegt hatte, weil er keinen Grund sah, kurz vor seinem Tod zu lesen. Die dunkelrote Steppdecke, unter der er lag, konnte seine eigene sein. Er
roch daran. Kein Zweifel, das war die Steppdecke, die ihm schon ein gutes Jahrzehnt treue Dienste leistete. All das zusammen mußte bedeuten, daß er noch immer lebte, daß er sich in seinem geliebten, ungelüfteten Zimmer befand und daß die quälenden Bilder, die ihn die ganze Nacht verfolgt hatten, nichts als Träume gewesen waren. Und daß jemand an seinen eigenen Alpträumen gestorben war, dafür gab es keine Beweise und hätte sie wohl auch schwerlich geben können. Er fühlte, daß ihn zwischen dem linken Arm und dem Herzen etwas drückte. Etwas Weiches, das aber so eingeklemmt schien, daß es einfach drücken mußte. Er legte sich bequemer, doch da war tatsächlich etwas, etwas, was ihn störte. »Verdammter Schlafanzug, hat sich wieder hochgeschoben!« stöhnte er und griff mit der Rechten zur Achselhöhle. Und dann handelte er blitzschnell. Er legte sich beide Hände auf die Brüste, die linke Hand auf die linke und die rechte Hand auf die rechte. Es waren große und nicht zu weiche Brüste, wie er sie bisweilen im Traum oder auf den Seiten der Illustrierten »Start« gesehen hatte. Mit der nächsten Handbewegung schlug er die Decke zurück. Ein phantastischer Anblick bot sich ihm. So ein herrlicher Frauenkörper war ihm noch nie unter die Augen gekommen, weder in natura noch auf einem Bild. Er konnte sich nicht erinnern, in der vergangenen Nacht auf natürliche Weise mit einer Frau oder mit mehreren zu tun gehabt zu haben. Er war allein nach Hause gekommen, hätte die Tür abgeschlossen, hatte geduscht. Das wußte er genau, denn er legte Wert darauf, gesäubert zu sein, wenn man ihn tot vorfand. Er erinnerte sich sogar, sich mit Spray eingesprüht zu haben. Nun fuhr er sich mit der Hand zwischen die Schenkel, aber er fand nicht den leisesten Anhaltspunkt dafür, daß Adalbert jemals männlichen Geschlechts gewesen war. Sein Blick folgte der Hand, die selbstgefällig über sanfte Täler und Anhöhen dahinglitt. Fühle ich etwas? Wenn das alles ich bin, übt es auf mich einen Reiz aus? ging ihm eine sehr gefaßte Frage durch das verwirrte Gemüt. Er spürte nichts, keinerlei Reiz, zumindest vorläufig nicht. Sein Körper hatte weibliche Formen angenommen, daran gab es keinen Zweifel mehr. Aber der Kopf? Der Kopf? Mein ureigenster
Kopf, zu wem gehört der? Um diese Frage zu beantworten, mußte er vor den Spiegel treten. »Verzeihen Sie meine Indiskretion«, flüsterte er der Schönen zu, die ihm aus dem Spiegel entgegenschaute. Er wandte den Kopf ab, starrte ins Klosettbecken und murmelte servil: »Ich bin nicht das, wofür Sie mich vielleicht halten. Nie habe ich fremde Frauen belästigt, nicht einmal solche, die ich kannte. Und sogar die nicht, mit denen ich längere Zeit, Sie verstehen… Wenn es Ihnen unangenehm ist, sagen Sie es nur, dann gehe ich hinaus… Ich mache alles, was Sie wollen… Sie sind schön, ich würde mich freuen, wenn wir zusammensitzen und uns unterhalten könnten, ich koche uns Kaffee, mein Blutdruck ist zu niedrig, ich werde morgens langsam wach, bitte, fühlen Sie sich ganz sicher, Sie brauchen sich absolut keine Sorgen zu machen…« Keine Antwort. Ihm blieb nichts übrig, er mußte wieder in den Spiegel schauen. Sie betrachtete ihn ungerührt. Er wußte nicht, ob er das in einem Film gesehen hatte oder ob es ein rudimentärer Instinkt im Menschen war, jedenfalls hob er die linke Hand. Zugleich hob auch sie die Hand. Dasselbe wiederholte sich mit der rechten. Dann schnitt er allerlei Fratzen und kam sich dabei wie ein Affe vor. Sie imitierte unglaublich rasch selbst seine winzigsten Bewegungen. Noch lange verzog er das Gesicht, obwohl er wußte, daß er sowohl der vor dem Spiegel als auch der, pardon, die im Spiegel war. Er begriff, daß er in eine Frau verwandelt worden war. Das einzige, was ihm daraufhin einfiel, war, sich hinzusetzen und abzuwarten. »Das kann nicht lange dauern. Ein bißchen Geduld, und alles ist wieder so, wie es vierzig Jahre lang war. Nur keine Panik. Das bleibt nicht so. Wie es gekommen ist, so geht es auch vorüber.« In den Zeitungen hatte er über Männer gelesen, die sich in Frauen, und über Frauen, die sich in Männer verwandelt hatten. Das waren immer langwierige Prozesse gewesen. Und daraus folgerte er, daß das, was sich mit ihm ereignet hatte, gerade weil es so rasch gegangen war, keine Voraussetzungen für lange Dauer besaß. Ich bin wie eine tropische Pflanze, die nur einen Tag blüht. Das sind innere Gifte, die auf diese Weise zum Ausbruch kommen. Es ist eine Reinigung. Wahrscheinlich
erleben alle Männer ähnliches, mehr oder weniger ausgeprägt. Keiner hat es bisher zugegeben, und ich werde es auch nicht tun. Es ist ja nicht das einzige offene Geheimnis. Wie viele Menschen haben schon mit fliegenden Untertassen zu tun gehabt, und trotzdem reden sie, als wäre das alles blauer Dunst. Jeder Mann hat im Leben seine fünf Minuten, in denen er eine Frau ist. Wenn mich jetzt meine Mutter sähe! Und erst der Vater! Auch widernatürliches Geschehen wird von den Gesetzen der Natur beherrscht. Lange bevor er es sich selbst eingestehen wollte, hatte Adalbert das Bedürfnis, Wasser zu lassen. Er rutschte lange auf dem Stuhl umher, dann schlug er sich auf die Knie wie ein Schmierenschauspieler, der sich leger benehmen soll. Schließlich gab er nach und machte sich mutig auf, um zum erstenmal diese einfache Aufgabe auf so ungewohnte Weise zu lösen. Es zeigte sich, daß keinerlei Komplikationen damit verbunden waren. Bald durchströmte ihn jenes typische Gefühl der wohligen Erleichterung. Und er entschloß sich, den Gast, den in der eigenen Haut aufzunehmen er gezwungen war, Adalberta zu nennen. Er stellte fest, daß Adalberta wesentlich jünger war als er. Sie war ein bildhübsches Mädchen von höchstens zwanzig Jahren. Sie hatte die Figur jener Klassefrauen, die sich auch mit dreißig als Fünfzehnjährige verkaufen können. Aber nicht allein, daß sie schön war, sie war auch charmant. Adalberta gefiel Adalbert immer besser. Als das Telefon klingelte, geriet er in Verlegenheit. Er wußte nicht, wo er sich, das heißt Adalberta, hintun sollte. Jetzt, da sich die äußere Welt in ihre Intimitäten einmischte. »Hu-huuu!« Er stieß Töne unterschiedlicher Höhe und Tiefe aus, um herauszufinden, in welchem Maß sich auch seine Stimme verändert hatte. Eine sorgfältige Analyse überzeugte ihn, daß sie allen Anforderungen einer Adalberta entsprach. Er konnte sich also am Telefon melden, aber nur in der Rolle Adalbertas. »Wo bleibst du denn, du alter Schlawiner«, ertönte Peglas ungeduldige Stimme, als Adalbert den Hörer abnahm. »Entschuldigen Sie, wen möchten Sie?« flötete Adalberta. »Die Nummer 519-867!« antwortete Pegla nüchtern. Er verbarg geschickt seine Verblüffung.
»Sie haben richtig gewählt. Wahrscheinlich möchten Sie mit Herrn Adalbert Kraljević sprechen«, zwitscherte Adalberta. »Ja, genau. Und zwar in einer sehr dringenden Angelegenheit«, erwiderte Pegla nun schon grob, denn er hatte begriffen, daß Adalbert kerngesund und munter sein mußte, wenn sich aus seiner Wohnung ein so liebes Stimmchen meldete. »Herr Adalbert ist leider nicht zu Hause. Kann ich ihm etwas ausrichten? Ich bleibe hier, bis er zurück ist«, trällerte Adalberta, während sich Adalbert an dem Neid weidete, der am anderen Ende der Leitung herrschte. »Hör mal zu, Kätzchen! Sag ihm, daß sein ehemaliger Freund Pegla angerufen hat… ja, Pegla, Sie haben ganz richtig verstanden… und daß ich mit Hochstaplern seiner Art nichts mehr zu tun haben will… Und Ihnen kann ich nur empfehlen, diesem Typ aus dem Weg zu gehen, dem können Sie kein Wort glauben. Ich rate Ihnen gut!« Klick! Pegla hatte wahrscheinlich aus einer Entfernung von einem Meter den Hörer auf die Gabel geschleudert. In Adalbert regte sich männliches Selbstbewußtsein. Er, der SIEGER, würde nur sparsam auf ihre zahllosen Fragen nach dem wundertätigen Kätzchen antworten, das heute morgen am Telefon in seiner Wohnung gewesen war, wo es offensichtlich auch die Nacht verbracht und aus dem Todeskandidaten Adalbert einen Jüngling voller Kraft und Lebensmut gemacht hatte. Ja, Adalbert empfand Adalbertas Anwesenheit wie eine Transfusion frischen jungen Blutes. Je länger Adalberta in ihm weilte, desto mehr Optimismus erfüllte ihn. Mittag war schon vorüber, aber Adalberta ließ keine Absicht erkennen, Adalbert zu verlassen. Obwohl er Junggeselle war, hatte er nicht die positive Gewohnheit angenommen, regelmäßig den Kühlschrank mit Vorräten zu beschicken. Wann immer er allein aß, hatte er aus irgendeinem Grund das Gefühl, Mundraub zu begehen. Es war mehr ein Hineinschaufeln, lediglich um den Bauch zu füllen. Irgendwann gegen neun Uhr morgens hatten Adalberta und er die Vorräte aus dem Kühlschrank aufgebraucht. Kurz vor zwölf aßen sie eine altbackene Semmel, von der sie erst den grünlichen Schimmel abkratzen mußten.
Sie spülten sie mit Wasser hinunter. Nunmehr konnten sie in dem bescheidenen Junggesellenhaushalt zwischen Pepperoni wählen, die von einer längst vergangenen Fete übriggeblieben waren, und einem Beutelchen indischen Tees ohne Zucker. Tee mit Pepperoni, das ging wohl nicht! Adalbert wußte, daß es nur zwei Auswege gab: sich anziehen und die Höhle verlassen oder telefonisch etwas bestellen. Die Möglichkeit der Versorgung auf fernmündlichem Wege hatte er noch nie genutzt, er traute ihr auch nicht. Bis die auftauchten, konnte man ja verhungern! »Mein lieber kleiner Pegla, was würdest du wohl darum geben, so ein Kätzchen unter den Fingern zu haben?« trällerte er, während er seine Hosen an Adalbertas schlanken und wohlgeformten Beinen probierte. »Auch mit Hilfe des perfektesten Schneidermeisters hätten deine drei Verflossenen nicht so vollendet ausgesehen!« Er zog das Trikot über den Kopf und straffte sich im Profil: Tadellos! Zum Glück hatte Adalberta keine Hängebrüste, so daß sich das Problem eines Büstenhalters gar nicht erst stellte. Dafür gab es Probleme mit den Schuhen. Erstens waren alle von jeglicher Unisex-Variante weit entfernt, und zweitens waren sie um etliche Nummern zu groß. Die einzige Lösung erblickte Adalbert in den Sandalen. Nachdem er ihnen mit Hilfe von Messer und Stemmeisen die Spitzen gekappt hatte, sahen sie aus wie das neueste Londoner Modell. Schminke brauchten sie nicht, denn Adalberta sah aus wie eine Rosenknospe. Ihr langes glattes Haar bedurfte nur einiger Bürstenstriche. Adalbert brachte es kokett in vollendeten Sitz. Bevor sie gingen, küßte er Adalberta im Spiegel auf den Mund. Im erstbesten Laden kaufte er ein Damentäschchen. Er wußte, daß er sich verdächtig machen würde, wenn er das Geld unmittelbar aus der Hosentasche zog. Nebenan versorgte er sich mit Zickzackwatte. Für alle Fälle, wenn sie plötzlich vonnöten war! Gleich darauf ließ er in einem Automaten Fotos von Adalberta machen. Eines Tages, wenn sie ihn für immer verlassen hatte, würde er die Bilder als dauernde Erinnerung an ihre Freundschaft besitzen. Unterwegs zum Restaurant kaufte er Eis und schleckte es fröhlich. Ja, man kann nicht sagen, daß ihm bei diesem kurzen Aufenthalt im Freien entgangen wäre, wie man ihn begehrte, das
heißt, wie sexy Adalberta war. »Alter Ochse, vergaff dich nicht!« hätte er beinahe gesagt, als ihn die ersten gierigen Männerblicke auszogen, und: »Tut mir leid, alter Junge, aber die Dame ist besetzt«, als ihn in der Bahn ein vergilbter Bürogreis anstarrte. Er, Pegla und Mario hatten lange nicht gewußt, daß sozusagen vor ihrer Nase dieses nette Lokal existierte. Das Essen großartig, die Preise mäßig. Sie hatten sofort ihre Ecke gefunden, anfangs etwas bessere Trinkgelder gegeben, und nun waren sie dort schon zu Hause. Deshalb verzichtete Adalbert im letzten Augenblick darauf, an ihrem Stammtisch Platz zu nehmen. Noch immer wußte er nicht, wie er sich verhalten würde, wenn seine Freunde anfingen, ihn zu umschwärmen und, Gott behüte, zu belästigen. Halb drei, unsere übliche Zeit. Gleich tauchen sie auf, kalkulierte er blitzschnell. Er und Adalberta stopften eilig die letzten Bissen hinein. Wenn er in die Enge geriet, wenn die beiden vom Nachbartisch Bemerkungen herüberwarfen, dann würde er sich Adalberta schnappen, und ciao, ragazzi, die Chance eures Lebens ist perdu. In einem Detail verrechnete er sich allerdings. Er wußte nicht, daß Adalberta genau wie er nach dem Essen gern einen Gespritzten oder ein Bier trank. Er überlegte, was für einen Eindruck sie beide machen würden, wenn sie eins dieser ordinären, also Männern vorbehaltenen Getränke bestellte. Na und, wir Frauen sind gleichberechtigt, ging es ihm durch den Kopf. »Hallo, Meister, zwei Gespritzte!« rief er dem Kellner zu. Dieser zuckte etwas verspätet zusammen. »Zwei? Haben Sie gesagt, zwei Gespritzte?« Er gaffte ungläubig. »Ach so, entschuldigen Sie, einen… einen Gespritzten!« korrigierte sich Adalbert sanft. Er hatte die Nützlichkeit der größeren Überraschung begriffen, durch die man die kleinere, aber länger wirkende verdecken konnte. »Habe ich zwei gesagt?« »Nein, nein, ich habe mich wohl verhört«, versicherte eifrig der Kellner. Armer Kerl, er fühlt sich schuldig. Er denkt, daß ich denke, daß er diesen alten Trick benutzen wollte, um mit mir ins Gespräch zu kommen. Jetzt schämt er sich, denn er hat sich blamiert, analysierte Adalbert. Pegla und Mario trafen genau in dem Augenblick ein, als Adalbert den zweiten Gespritzten erhielt. Satt und unter der Wirkung des ersten
Glases, hatte er gar keine Lust zu gehen. Und warum auch? Die beiden Freßsäcke würden ihn gar nicht bemerken, solange der Hunger sie an der Kehle gepackt hielt. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?« Adalbert hatte kaum hingehört. Vor ihm stand ein Mädchen, weder hübsch noch häßlich, weder mager noch dick, weder sympathisch noch unsympathisch. Durchschnittlichster Durchschnitt, konstatierte Adalbert. »Bitte, nehmen Sie nur Platz.« »Vielen Dank. Es gibt keinen freien Tisch, und überall nur Männer, da dachte ich, es wäre passender. Sie verstehen…«, plapperte die Neutrale, während sie eine ganze Ladung verschiedener Päckchen, die Handtasche, den Regenschirm ablegte, dann Zigaretten und Streichhölzer hervorkramte. Ihr Blick streifte flüchtig den Taschenspiegel, um sich sogleich in die Speisekarte zu versenken. »Ich halte mich an Konfuzius«, sinnierte Adalbert. »Triffst du einen Menschen, mit dem zu sprechen lohnt, und du sprichst nicht mit ihm, dann hast du einen Menschen verloren. Triffst du einen Menschen, mit dem zu sprechen nicht lohnt, und du sprichst mit ihm, dann hast du Worte verloren. Ein Weiser verliert weder Worte noch Menschen.« »Mein Name ist Stela, und ich verstehe nichts davon. Wissen Sie, alles ist so teuer…« Ich muß mich zusammennehmen, beschloß Adalbert. »Mein Name ist Adalberta, und ich meine wirklich, daß Konfuzius das Ansteigen der Preise nicht verhindern kann.« »Ach, Sie sind so sympathisch.« »Bitte, sagen Sie so etwas nicht. Ich höre das zum erstenmal«, wehrte Adalbert schüchtern ab. »Sie scherzen! Ein so hübsches, schickes, charmantes Mädchen hört doch nicht zum erstenmal dieses bescheidene Kompliment.« »Von einer Frau natürlich!« korrigierte sich Adalbert hastig. »Wir Frauen sind so sparsam mit Komplimenten. Von den Männern habe ich schon allerlei gehört, aber denen darf man niemals glauben. Deshalb ist mir Ihr Kompliment das liebste in meinem ganzen Leben.«
Du übertreibst schon wieder, Adalbert, tadelte er sich ob seiner mangelnden Fähigkeit, sich der Rolle des schwachen Geschlechts anzupassen. Ich muß möglichst wenig sprechen, das ist die einzige Chance, weniger Fehler zu machen. Die Neutrale schaute mit feuchten Augen. Ihre Hand legte sich auf seine. »Adalberta, ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, sagen Sie mir, wie ich bin. Ich möchte von einer richtigen, hundertprozentigen Frau erfahren, was ich von mir zu halten habe. Die Männer haben mich immer nur dann mit Komplimenten überschüttet, wenn sie mich ausnützen wollten. Nie habe ich die Wahrheit über mich gehört. Bitte, sagen Sie sie mir!« Adalberts Gehirn begann fieberhaft zu arbeiten. Charme hat sie nicht, hübsch ist sie nicht, interessant ist sie nicht, was, zum Teufel, soll ich ihr über sie sagen? Daß sie eine dumme Gans ist? Das würde sie umbringen. Er drückte sanft Stelas Hand und wartete darauf, daß ihm das rettende Wort einfiel. »Sie sind sexy, Stela. Unwahrscheinlich sexy«, entfuhr es ihm. Das kannst du nicht mehr zurücknehmen, mein Alter. Sieh dich bloß vor, dachte er, während er Stelas Hand preßte, als erwartete er die Explosion einer Gasflasche. »Oh, wirklich? Meine Liebe, ist das wahr?« ächzte Stela. »Mir kannst du glauben. Ich will ja deinen Körper nicht ausnützen«, schwadronierte Adalbert. Hier muß ich so schnell wie möglich raus. Wenn die Kleine mich dazu bringt, sie weiter zu belügen, bin ich aufgeflogen. Pegla und Mario waren unverschämt genug, sich halb zu erheben und zuzuschauen, was sich zwischen den beiden Frauen tat. Aber Stela kam rasch wieder zu sich. »Ich will mich sofort davon überzeugen«, sagte sie mit einer Stimme, die plötzlich gewonnene Sicherheit verriet. »Fangen wir mit den beiden da in der Ecke an!« Adalbert zog seine Hand zurück. Es gab keinen Zweifel mehr: Wenn er Stela die Initiative überließ, würde er sich mit Pegla oder Mario im Bett wiederfinden. Ist Adalberta noch unschuldig? stellte er sich eine
Frage, die er ohne die nötige Praxis nicht beantworten konnte. Sein Blick begegnete dem Peglas. Verschämt senkte er die Lider mit den langen Wimpern. »Kommt nicht in Frage! Wir schmeißen uns doch nicht an alte Knacker weg!« bremste er Stela energisch. »Wir suchen uns was Besseres.« »Du bist so klug. Ich mache alles, was du sagst«, schwor Stela. Adalbert und Stela, die beiden Anfängerinnen, machten sich auf, möglichst viel Erfahrungen zu sammeln. An diesem Tag und in dieser Nacht sollten sie mehr über die Männer zu wissen bekommen, als ihnen ihr bisheriges Leben erlaubt hatte. Irgendwann gegen drei Uhr morgens verlor Adalbert, einigermaßen alkoholisiert, in seiner Höhle die Unschuld. »So, das wär’s!« sagte der Mann nach getaner Arbeit zu Adalbert. »Und jetzt hör zu und merk dir genau, was ich sage!« Statt der klassischen Zigarette ergriff der Mann eine kleine Metallschachtel, sie sah aus wie ein Feuerzeug, drückte auf einen Hebel und atmete hastig dreimal ein. Dann legte er den Apparat weg. »Hier sind alle Dokumente, die du als Frau brauchst. Sie lauten auf den Namen Adalberta Kraljević«, sagte der Mann und warf ein Häufchen Papiere vor Adalbert hin. »Da hast du alles: Zeugnisse aus der Grundschule, Ausweis, Fahrerlaubnis, das Diplom der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Sozialversicherungsausweis, Wohnungszuweisung. Mit diesen Unterlagen meldest du dich zur Arbeit in der Firma ›Helio-Impex‹. Und das da ist die Nummer deines Girokontos. Du hast ausgesorgt und kannst dir alles kaufen, was du für ein geordnetes Leben als schwangere Frau brauchst…« Obwohl Überraschungen gewohnt, riß Adalbert bei den letzten Worten vor Erstaunen den Mund auf. Geordnetes Leben als schwangere Frau? Ist es etwa soweit? fragte er sich, obwohl er sah, daß der Mann nicht zum Scherzen aufgelegt war. Er wirkte sehr geschäftsmäßig, mehr noch, er verriet Ungeduld, die ganze Angelegenheit möglichst rasch hinter sich zu bringen. Rasch, aber gründlich!
»Sobald du ausgeschlafen hast, ziehst du in die neue Wohnung um«, fuhr der Mann fort, der sich benahm, als wäre alles, was er sagte, die normalste Sache von der Welt. »Wenn du länger hierbliebest, würde es Unanhehmlichkeiten geben. Und das wollen wir nicht.« Adalbert strich sich über den Leib, als wollte er überprüfen, ob das alles Wirklichkeit war. »Wer sind Sie? Was hat das Ganze zu bedeuten?« stammelte er hilflos. Der Mann schaute ihn mitleidig an. »Warum haben Sie aber gerade mich dazu ausgewählt?« stammelte Adalbert weiter, denn er wollte wenigstens ein Krümchen von des Rätsels Lösung mitbekommen. Der Mann lächelte. »Wir haben dich ausgewählt, weil es nur wenige Menschen gibt, denen an dir liegt. Wir brauchen solche, die hier nicht gebraucht werden.« »Und was wird aus mir?« fragte Adalbert mehr sich selbst als den Fremden. Der Mann zog wieder den kleinen Apparat hervor, aber diesmal warf er ihn Adalbert zu. »Auf den Hebel drücken und einmal einatmen. Das behältst du.« Adalbert atmete ein und spürte im selben Augenblick, daß Erschöpfung, Verwirrung, Hoffnungslosigkeit aus seinem Körper entwichen. »Mit einem Wort«, fuhr der Fremde ungerührt fort, »wir sind deine Freunde. Dir wird nichts Böses geschehen. Wenn du uns den kleinen Hiemalis geboren hast, wirst du wieder ein Mann sein. Nur weniger schadhaft. Du wirst dich fühlen wie jetzt, wo du das Hiemalisin eingeatmet hast. Du wirst ein inhaltsreiches Leben beginnen. Mit deiner bisherigen Gammelei ist endgültig Schluß.« »Ich weiß!« schrie Adalbert. »Sie sind von einem anderen Planeten!« Der Mann nickte verständnisvoll. Offenbar hatte er Adalberts plötzlichen Geistesblitz erwartet.
»Wir sind vom Planeten Hiemalis. Einem Planeten, auf dem nur Männer leben. Die Kinder holen wir uns von der Erde. Wir entführen sie nicht, wir machen sie selbst. Aber wir tun niemandem etwas zuleide. Nach der Geburt geben wir jedem, der das wünscht, sein vorheriges Geschlecht zurück. Stela war ein Mann. Sie ist einer der wenigen umgewandelten Männer, die den Wunsch geäußert haben, eine Frau zu bleiben. Wenn du Probleme hast, wende dich an sie. Sie weiß alles über dich.« Adalbert griff nach dem Apparat und atmete das Hiemalisin ein. Trotzdem war ihm etwas noch immer unklar. »Zum Teufel noch mal, warum macht ihr eure Kinder nicht mit Frauen? Warum müßt ihr erst Männer in Frauen verwandeln, um dann…« Der Fremde zog seinen Mantel an und wandte sich zur Tür. »Ihr Erdenbewohner habt einen Hang zur Panik- und Sensationsmacherei. Und zum Handeln. Deshalb müssen wir illegal arbeiten. Konspirativ. Denn welcher Mann würde zugeben, eine Frau gewesen zu sein und noch dazu geboren zu haben? Außerdem, wer würde ihm das glauben?« Ohne Adalberts Antwort abzuwarten, ging der Fremde. Frisch und voller Tatendrang schlüpfte Adalberta am späten Vormittag aus Adalberts Wohnung. Sie stieg schnell in ein Taxi und vermied so die Begegnung mit den beiden ehemaligen Freunden, die einigermaßen beunruhigt Adalberts Wohnung zustrebten, um endlich zu erfahren, was mit ihrem Kumpan los war. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak
Biographische Notizen Colin, Vladimir (Rumänien), geb. 1921, Redakteur, Generalsekretär der Literaturzeitschrift »Viaţa Românească«; Dichter, Erzähler, Romancier. Wichtigste Werke: »27 Poeme« (1947), »Märchen« (1953), »Heimkehr der Möwe« (Kinderbuch, 1959), »Sagen aus Vams Land« (Kinderbuch, 1961), »Die zehnte Welt« (Roman, 1964), »Die zweite Zukunft« (Erzählungen, 1966), »Zeitfallen« (Erzählungen, 1972), »Die Zähne des Kronos« (Erzählungen, 1975). Hernádi, Gyula (Ungarn), geb. 1926, Angestellter, Ökonom; Erzähler, Romancier, Dramatiker, Drehbuchautor. Wichtigste Werke: »Brettkloster« (Erzählungen, 1959), »Auf der Freitagstreppe« (Roman, 1960), »Korridore« (Roman, 1966), »Trockenes Barock« (Erzählungen, 1967), »Sirokko« (Roman, 1969), »Die Festung« (Roman, 1971), »Die Tore des Logischen« (Erzählungen, 1975), »Rotes Requiem« (Report, 1975), »Königliche Jagd« (Drama, 1977). Lern, Stanislaw (Polen), geb. 1921, Arzt; Erzähler, Romancier, Essayist. Wichtigste Werke: »Der Planet des Todes« (Roman, 1951), »Gast im Weltraum« (Roman, 1955), »Die Irrungen des Dr. Stefan T.« (Roman, 1955), »Eden« (Roman, 1959), »Summa technologiae« (Essays, 1964), »Der Unbesiegbare« (Roman, 1964), »Die Jagd« (Erzählungen, 1965), »Das hohe Schloß« (Erinnerungen, 1966), »Test« (Erzählungen, 1968), »Die Philosophie des Zufalls« (Studie, 1968), »Phantastik und Futurologie« (Studie, 1970), »Die Sterntagebücher Ijon Tichys« (Erzählungen, 1957,1958,1966,1971), »Das perfekte Vakuum« (Prosa, 1971), »Imaginäre Größe« (Prosa, 1973), »Die Maske« (Erzählung, 1974), »Der Schnupfen« (Roman, 1976). Majetić, Alojz (Jugoslawien), geb. 1937, Dichter, Erzähler, Romancier. Wichtigste Werke: »Ein Kind mit Geschichtenschnurrbart« (Gedichte, 1956), »Ich raube« (Gedichte, 1963), »Cangi« (Roman, 1963, 1970).
Mesterházi, Lajos (Ungarn), 1916-1979, Politiker, Redakteur; Erzähler, Romancier, Publizist. Wichtigste Werke: »Ohne Wunder« (Erzählungen, 1951), »Treue« (Erzählungen, 1952), »Zeugnis«, »Blanke Winde«, »Die Schule des Patrioten« (Romantrilogie, 1954 – 1956), »Ein paar Schritte bis zur Grenze« (Roman, 1957), »Der vierbeinige Hund« (Roman, 1961), »Das Alter der Unschuld« (Roman, 1963), »Gott nach Maß« (Erinnerungen, 1966), »Mannesalter« (Roman, 1967), »Ferien« (Roman, 1970), »Das Rätsel Prometheus« (Roman, 1973), »Sempiternin« (Erzählungen, 1975). Moravcová, Jana (ČSSR), geb. 1937, Universitätslektorin, Verlagsredakteurin; Dichterin, Erzählerin. Wichtigste Werke: »Der Schneekreis« (Gedichte, 1973), »Der Klub der Unfehlbaren« (Erzählungen, 1973), »Ein Monat schönen Irreseins« (Erzählungen, 1975), »Die Geschichte des heiligen Sees« (Erzählung, 1976). Pąkciński, Marek (Polen), geb. 1960, Schüler. Bisher erschien: »Der Insektenplanet« (Erzählungen, 1976). Perez, Jossif (Bulgarien), geb. 1936, Physiker, Lehrer; Erzähler, Publizist. Wichtigste Werke: »Alexander Stoletow« (Studie, 1969), »Mikro und Mega« (Studie, 1972). Săsărman, Gheorghe (Rumänien), geb. 1941, Redakteur; Erzähler. Wichtigste Werke: »Catalina« (Erzählung, 1962), »Das Orakel« (Erzählungen, 1969), »Die Quadratur des Kreises« (Erzählungen, 1975). Sawtschenko, Wladimir (Sowjetunion), geb. 1933, Elektroingenieur; Erzähler, Romancier. Wichtigste Werke: »Professor Berns Auferstehen« (Erzählung, 1956), »Die zweite Expedition zum Sonderbaren Planeten« (Erzählung, 1959), »Schwarze Sterne« (Roman, 1960), »Das dreifache Ich« (Roman, 1967), »Die Sackgasse« (Erzählung, 1973).
Shitinski, Alexander (Sowjetunion), geb. 1941, Ingenieur für Rechentechnik; Dichter, Erzähler. Werke: »Morgenschnee« (Gedichte, 1976), »Stimmen« (Erzählungen, 1977). Slatarow, Swetosar (Bulgarien), geb. 1926, Arzt, Redakteur; Erzähler, Romancier, Essayist. Werke: »Barfuß auf dem Asphalt« (Erzählungen, 1963), »Lektion über Zukunft« (Erzählung, 1974), »Andronike« (Roman, 1977). Šoljan, Antun (Jugoslawien), geb. 1932, Dichter, Erzähler, Romancier, Dramatiker. Wichtigste Werke: »Kundschafter im Sonderauftrag« (Erzählungen, 1957), »Außerhalb des Brennpunkts« (Gedichte, 1957), »Verräter« (Erzählungen, 1961), »Ein kurzer Ausflug« (Roman, 1965), »Neun Dramen« (1970), »Der Hafen« (Roman, 1974). Veis, Jaroslav (ČSSR), geb. 1946, Redakteur; Erzähler. Bisher erschien: »Experiment für den dritten Planeten« (Erzählungen, 1976).
Quellenverzeichnis Vladimir Colin, Der Fotograf des Unsichtbaren, aus: Dinţii lui Cronos, Verlag Albatros, Bukarest 1975; Gyula Hernádi, RNS; Paradoxon; Homo prothesiensis, aus: Logikai kapuk, © Hernádi Gyula 1974, Verlag Szépirodalmi könyvkiadó, Budapest 1974; Stanislaw Lern, Die Maske, aus: Maska, Verlag Wydawnictwo Literackie, Kraków 1976; Älojz Majetić, Männerlogik, aus: Antologija hrvatske fantastične proze i slikarstva, Verlag Liber, Zagreb 1975; Lajos Mesterházi, Sempiternin, aus: Sempiternin, © Mesterházi Lajos 1975, Verlag Magvetö könyvkiadó, Budapest 1975; Jana Moravcová, Grüner Kümmel, aus: Klub neorhylných, © Jana Moravcová 1973, Verlag Lidové nakladatelství, Prag 1973; Marek Pąkciński, Das Duell, aus: Owadzia planeta, Verlag Czytelnik, Warschau 1976; Jossif Perez, Das Ende der achten Basis, aus: Anthologie Бьлгарска фантастика, Verlag Хр. Г. Данов, Plowdiw 1976; Gheorghe Săsărman, Motopia, aus: Zeitschrift Viaţa Românească, Nr. 1/1974; Wladimir Sawtschenko, Der Algorithmus des Erfolgs, aus: Anthologie Фантастика, 1964 ГОД, Verlag Молодая гвардия, Moskau 1964; Alexander Shitinski, Der Brumm-Effekt, aus: Anthologie Незримый мост, © Издателство »Детская литература«, 1976 г. Leningrad 1976; Swetosar Slatarow, Der Fall Proteus, aus: Бьлгарска фантастика, Хр. Г. Данов, Plowdiw 1976; Antun Soljan, Das Schiff in der Flasche, aus: Antologija hrvatske fantastične proze i slikarstva, Verlag Liber, Zagreb 1975; Jaroslav Veis, Vom Ursprung der Hoskovec-Hunde, aus: Experiment pro třeti planetu, © Jaroslav Veis 1976, Verlag Mladá fronta, Prag 1976.
Inhalt Wladimir Sawtschenko Der Algorithmus des Erfolgs Алгоритм услеха Aus dem Russischen von Hannelore Menke
5
Alexander Shitinski Der Brumm-Effekt ЕффектБрумма Aus dem Russischen von Hannelore Menke
53
Stanislaw Lem Die Maske Maska Aus dem Polnischen von Hubert Schumann
95
Marek Pąkciński Das Duell Pojedynek Aus dem Polnischen von Hubert Schumann
146
Jana Moravcová Grüner Kümmel Zelený kmín Aus dem Tschechischen von Barbara Zulkarnain
156
Jaroslav Veis Vom Ursprung der Hoskovec-Hunde O původu Hoskovcovych psů Aus dem Tschechischen von Walter Sobota
163
Gyula Hernádi RNS Paradoxon Homo prothesiensis RNS Paradoxon Homo proteziensis Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
186
Lajos Mesterházi Sempiternin Sempiternin Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki
195
Jossif Perez Das Ende der achten Basis Краят на осма база Aus dem Bulgarischen von Renate Bogdanowa
212
Swetosar Slatarow Der Fall Proteus Случаят «Протей» Aus dem Bulgarischen von Renate Bogdanowa
238
Vladimir Colin Der Fotograf des Unsichtbaren Fotograful invizibilului Aus dem Rumänischen von Hans Herrfurth
256
Gheorghe Săsărman Motopia Motopia Aus dem Rumänischen von Hans Herrfurth
286
Antun Šoljan Das Schiff in der Flasche Brod u boci Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak
291
Alojz Majetić Männerlogik Muški mozak Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak
300
Biographische Notizen Quellenverzeichnis Inhalt
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