OTTO BONHOFF
Der Fotograf von Paris
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Fo...
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OTTO BONHOFF
Der Fotograf von Paris
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Fotos: Archiv (3), Museum für Deutsche Geschichte (l)
1.-70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin 1972 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 14 F/14 D Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Harri Förster Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor. Rita Abraham Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
Danielle Tournier zieht sacht die Tür hinter sich zu und lehnt sich an den Rahmen. Sie kommt aus der Dunkelkammer, und da erscheint ihr das Atelier beinahe hell. Nur die kleine Petroleumlampe mit dem weinroten Schirm brennt auf Dagrons Schreibtisch. Die Flamme ist ganz heruntergedreht; ein kreisrunder Lichtfleck liegt auf der dunklen Lederplatte. Durch die ein wenig schräg stehende Glaswand des Dachateliers sickert die matte Helligkeit der Spätherbstnacht. Kalt leuchten die Sterne an einem unbeschreiblich hohen Himmel und verschwinden minutenlang hinter Wolkenschleiern. Sie entziehen auch den metallisch schimmernden Mond gelegentlich dem Blick. Als ob er gähnen müßte und das verbergen will, denkt Danielle, und sie lächelt. Danielle Tournier ist schöner, wenn sie lacht. Das mildert ein wenig das Herbe in ihrem länglichen, etwas strengen Gesicht mit der schmalen, leichtgebogenen Nase und betont den kräftig gezeichneten, reifen Mund und die starken, ebenmäßigen Zähne. Nun streicht sie sich glättend über das schwarze Haar, das, straff nach hinten gekämmt, im Nacken einen schweren Knoten bildet. „Monsieur Dagron?" fragt sie in das Halbdunkel. Sie erhält keine Antwort. Der Platz am Schreibtisch ist leer, leer auch das Atelier. Danielle löst sich von der Tür und tritt suchend weiter in den großen Raum hinein. Das Atelier hat im schwachen Nachtlicht etwas
Gespenstisches. Die gemalte Parklandschaft mit dem Rasenteppich davor bekommt in der matten Helligkeit plötzlich Plastik und Tiefe. Die „Theaterloge", die daneben steht - Dagron klagt täglich über den Publikumsgeschmack, aber er kauft doch jede neue Atelierdekoration, die angeboten wird -, die „Theaterloge" ist ein schwarzes Loch. Eigentlich müßte jetzt dort ein Paar in großer Abendtoilette erscheinen und sich und seinen Putz zur Schau stellen. Die verschiedensten Stützen und Griffe sind da, mit deren Hilfe das jeweilige Modell die langen Belichtungszeiten durchsteht, ohne zu wackeln, und auch die großen Holzkameras mit den blanken Messingfassungen der Objektive. Das alles führt um diese Stunde ein seltsames Eigenleben. Die Vorhänge an der Glaswand, mit denen sich das einfallende Licht ein wenig steuern läßt, bewegen sich im Windzug. Es ist, als würde in jedem Augenblick ein Fremder hinter ihnen hervortreten. Die Ausgangssituation für einen Roman von Emile Gaboriau wäre gegeben. Danielle Tournier hat alle Geschichten über die Abenteuer des scharfsinnigen Detektivs Lecoq verschlungen. Jetzt klopft auf einmal ihr Herz schneller. „Monsieur Dagron!" ruft sie noch einmal. Wieder erfolgt keine Antwort. Der kreisrunde Lichtfleck der Tischlampe zeigt Zeichnungen, die auf dem Schreibtisch herumliegen, Lineale, Bleistifte. Das ist für das Mädchen ein gewohntes Bild. Immer erfindet ihr Chef gerade irgend etwas, stets sucht er irgendeine neue Idee zu Verwirklichen, und ständig opfert er seinen Einfallen Zeit, Geld und Kraft. Ein Ruheloser, ein Tüftler, ein von seinen Entdeckerfreuden und von seiner Sehnsucht Gehetzter ist er. Weil es sich so verhält, weil
er dauernd durch Neues in Anspruch genommen und abgelenkt wird, lastet die alltägliche Routinearbeit des Fotoateliers fast ausschließlich auf seiner Mitarbeiterin. Rene Patrice Dagron, einundfünfzigjährig, hat einfach keine Zeit dafür. Als Danielle in der Dunkelkammer war, hatte sie ihn hämmern und nageln hören. Nun steht ein länglicher, rechteckiger Kasten auf dem Boden, unverkennbar eine Kamera, jedoch eine sehr merkwürdige. Dagron hat sich für sie eine Stankope-Lupe besorgen lassen, wie er sie schon für seinen Apparat zur Verkleinerung - „zur Mikrokopierung", sagt er selbst gewöhnlicher Lichtbilder benutzt. Das war einmal eine einträgliche Erfindung, denkt Danielle flüchtig. Mit ihrer Hilfe werden die Fotomosaiks hergestellt, die visitenkartengroßen Bilder, auf denen Aufnahmen von fünfunddreißig Pariser Sehenswürdigkeiten zu bewundern sind — winzig klein jede einzelne, aber unter einem Vergrößerungsglas von brillanter Schärfe. Dieser Mosaiks wegen sitzt Danielle Tag für Tag bis spät in die Nacht hinein in der Dunkelkammer. Jeder der vierhunderttausend Soldaten, die das belagerte Paris verteidigen, scheint wenigstens eines dieser Kärtchen besitzen zu wollen, gerade so, als wäre es ein Amulett im Geschützdonner der rund um die Seine-Metropole in Rauch und Feuer gehüllten Forts und Gräben. Diese Nacht scheint friedvoll. Die schweren Schläge der Artillerie und das aufgeregte Knattern der Chassepotgewehre sind verstummt. Die Hauptstadt liegt in unruhigem, schwerem Schlaf. Sie schreckt jäh auf, wenn plötzlich weitab eine Mitrailleuse zu bellen beginnt, Handgranaten bersten und einzelne Schüsse von blutigen
Zusammenstößen berichten. Aber danach sinkt sie in ihre erschöpfte Ruhe zurück. Niemand kann den Krieg vergessen. Selbst hier, im Atelier unter dem Dach nicht; das beweist die Tesching-Pistole auf dem Schreibtisch. Freilich, die kleine Waffe, die nur mit starken Zündhütchen geladen wird, ist ein Spielzeug gegen die Zündnadelgewehre der deutschen Truppen, doch sie weckt wenigstens den Eindruck, nicht ganz wehrlos zu sein. Danielle Tourniers Blick haftet auf den flatternden Vorhängen. Der Wind hat aufgefrischt. Die großen Glasscheiben klirren leise, aber wenn da nicht eine Tür offen wäre... Das Mädchen geht entschlossen hin. Es schlägt ihr kalt entgegen, und sie bewegt fröstelnd die Schultern, als sie auf den Balkon hinaustritt. „Balkon" ist ein hochtrabendes Wort für diese schmale Plattform, doch es hat sich eingebürgert und wirkt nicht mehr komisch. Dort draußen steht Dagron. Er stützt die Hände auf die Brüstung und starrt in die Tiefe. Regungslos verharrt er. Nur sein bereits gelichtetes, angegrautes Haar und das lange, goldbraune Samtjackett werden vom Winde gezaust. Die Samtjacke ist für den Lichtbildner eine Art Berufsanzug — die Fotografie gilt als Kunst, und demzufolge müssen ihre Jünger wenigstens äußerlich den Malern und Kaffeehauspoeten vom Montmartre ähneln. „Monsieur Dagron", sagt Danielle erleichtert. „Ich bin jetzt fertig. Darf ich gehen?" Er bejaht weder, noch verneint er. „Sehen Sie mal", murmelt er und lädt sie mit einer Handbewegung ein, zu ihm zu treten. Mademoiselle Tournier gehorcht. Das
Mädchen ist groß und kräftig gewachsen und hat lange, muskulöse Beine, die zwar jetzt der fußlange Rock verbirgt, von denen Danielles Freunde jedoch behaupten, sie wären die aufregendsten der Welt. Neben seiner Laborantin sieht Dagron klein und zierlich aus. „Dort!" sagt er und deutet auf ein erleuchtetes Fenster des Hauses gegenüber. Die zurückgeschlagene Gardine läßt eine Frau erkennen, die schreibend an einem Tisch sitzt. Nun steht sie auf und geht unruhig hin und her. Sie rückt da und dort etwas zurecht, was doch auf dem richtigen Platz stand. Dann läuft sie wieder auf und ab und setzt sich erneut zum Schreiben nieder. Nach einiger Zeit legt sie den Federhalter abermals hin und steht schließlich wieder auf. Sie ist nicht mehr jung; sie hat Kinder gehabt und breite Hüften bekommen. Die Zerfahrenheit, mit der sie sich bewegt, steht im Widerspruch zu ihrer ganzen Erscheinung. Vielleicht beherrscht sie sich im Beisein Fremder. Um diese Stunde fühlt sie sich unbeobachtet und allein; um diese Stunde darf sie sich gehenlassen. „Jede Nacht..." wirft Dagron hin. „Sie schreibt ihren Söhnen. Marcel, der Kleinste, steht bei der Artillerie. Gustave, der Mittlere, dient beim Ingenieurkorps, und Honoré, der Älteste, kämpft in der Linieninfanterie. Der Vater ist gefallen... Ich bin ihr schon häufig begegnet. Fast jeden Morgen geht sie zum Postbüro, das die zur Ballonbeförderung bestimmten Briefe aufnimmt. Sie steht in der Reihe der Wartenden. Sie reicht ihre Bogen den Zensurbeamten hin, denen aufgetragen ist, darüber zu wachen, daß keine Angaben über die militärische Lage Paris verlassen. Aber sie macht keine Mitteilungen, die dem Feind nutzen könnten, falls der Ballon in seine Hände fällt.
Während der Belagerung von Paris durch Armeen des Norddeutschen Bundes kamen zum erstenmal in größerem Umfang Ballons zum Einsatz. Unser Bild: Ein Ballon wird gefüllt Immer bedankt sie sich bei den Beamten, faltet die Blätter und schiebt sie sorgsam in die Kuverts für die Ballonpost. Sie entrichtet ihre zwanzig Centimes und kehrt hierher zurück. Auf dem Heimweg hat sie immer etwas Beschwingtes, Heiteres. Die meisten Ballons kommen ja durch, und die Briefe erreichen ihr Ziel, sofern die Adressaten zu erreichen sind." Der Fotograf
sieht Danielle nicht an, während er weiterspricht. „Aber abends, in der Einsamkeit ihrer Wohnung, kehren die quälenden Gedanken zurück. Ihre Briefe gehen zwar ab, aber sie bleiben unerwidert, solange die Belagerer Paris vom übrigen Frankreich abschließen. Diese Frau weiß nicht, ob sie an Gesunde schreibt, an Verwundete, an Gefangene, oder ob ihre Jungs vielleicht schon gefallen sind. Es geht allen so, die morgens mit ihr vor dem Postbüro stehen. Mütter und Frauen, Kinder, Geschwister und junge Mädchen sind es. Das zermürbt, Danielle, das drückt nieder, das lahmt. Wahrhaftig: Paris auszuhungern, wie sie es planen, wird den Belagerern wohl nicht gelingen. Aber es zu isolieren, die Menschen kleinmütig werden zu lassen, das schaffen sie vielleicht, wenn sie lange genug verhindern, daß Mitteilungen von draußen, daß Lebenszeichen der Freunde und Verwandten, daß Berichte vom Kampf gegen die Eindringlinge nach Paris gelangen. So von aller Welt abgeschnitten zu sein..." Er schüttelt den Kopf. „Auch das ist Krieg, Danielle, hinterhältiger Krieg..." Sie schaut zu der kalten Sternenpracht empor und dann wieder zu der einsamen, schreibenden Frau jenseits der Straße. Sie ahnt, was in jener vorgehen muß; sie errät die Herzensnot der Älteren, und sie schämt sich ihres Zusehens,, ihres heimlichen Eindringens in die Abgeschiedenheit des Zimmers dort drüben. In wieviel Pariser Zimmern mag es jetzt wohl so aussehen? Dabei geht es Madame da drüben noch gut, Mangel herrscht bei ihr nicht. Dort, wo Danielle herkommt, leben die Menschen in Armut, auf beengtem Raum und hungern. Und dann die Sorge um Francois. Madame da drüben kann noch hoffen, ihre Söhne heil aus dem Krieg
kommen zu sehen. Doch ihre Mutter? Francois, Danielles Bruder, ist bei den Franktireurs wie viele Arbeiter, die gegen die Belagerer kämpfen. In kleinen Gruppen, manchmal auch allein, attackieren sie die Okkupanten in deren Rücken. Aber unter welchen Bedingungen? Waffen gibt die Provisorische Regierung an das Volk nicht aus. Die Franktireurs müssen sie sich selbst beschaffen — meist heißt das, sie beim Gegner zu holen. Auch Proviant bekommen sie nicht. Doch die arme Bevölkerung ist auf ihrer Seite und hilft ihnen, wo sie nur kann. Francois, so hat Danielle von ihrer Mutter erfahren, liege nun schon seit ein paar Tagen in einem Gehöft. Schwer verwundet sei er. Danielle hofft, daß er trotzdem bald wieder gesund sein wird. Ja, ihre Mutter hat es schwerer als Madame da drüben. Danielle vermag den Blick nicht zu wenden. Leise fragt sie ihren Chef: „Die Luftschiffer können unter gar keinen Umständen zurückkehren?" „Nein", erwidert Dagron. „Es geht nicht. Sie können ja die Ballons nicht steuern; sie treiben bloß vor dem Wind. Wenn sie Paris verlassen, gelangen sie immer früher oder später in Gegenden, in denen die Unsrigen sind. In umgekehrter Richtung jedoch könnten sie leicht Paris verfehlen! Sie müssen Gas ablassen, um niederzugehen, und wenn sie das getan haben, sinken sie unwiderruflich und setzen auf, wohin eine zufällige Bö sie gerade weht. Außerdem fallen sie langsamer, als sie steigen. Der Gegner würde sie beschießen. Ein einziger Treffer genügt, Ballon, Gondel, Mannschaft und Fracht in eine riesige Fackel zu verwandeln." „Haben Sie sich erkundigt, Monsieur?" Er mustert sie mit erstauntem Blick.
„Was dachten Sie denn? Ich habe so lange herumgesucht, bis ich einen Beamten der Ballonpost fand. Das sind die mit dem ,B' auf dem Ärmel. Er hat es mir dann genau erklärt. Die Luftschiffer sind selbst am unglücklichsten, daß es so ist." Danielle kreuzt frierend die Arme über der Brust. „Wir müssen uns eben damit abfinden! Es ist schlimm für Menschen wie Madame da drüben, gewiß, aber wenn es keinen Weg gibt..." „Dann darf man eben nicht aufhören, einen zu suchen", fällt ihr Dagron hitzig ins Wort. „Wir sind doch Franzosen, Mademoiselle. Der Mensch hat sich das Feuer dienstbar gemacht, das Meer durch Deiche gezähmt, den Wind gezwungen, Schiffe über die Ozeane zu führen, und selbst die Sterne zu Werkzeug werden lassen, denn sie helfen ihm zu navigieren. Hat er das alles geschafft, dann muß es ihm auch gelingen, Botschaften und Nachrichten über den Sperrgürtel hinweg zu senden, der Paris vom Hinterland trennt." Er wendet sich ihr jetzt zu. Seine Augen glühen vor Begeisterung. Doch plötzlich verdüstern sie sich. „Abend für Abend sehe ich über die Straße, Danielle. Auch das Büro für die Ballonpost zieht mich magisch an — der wartenden Menschen wegen. Wenn ich sie dort stehen sehe, finde ich keinen Schlaf. Alles zwingt mich, etwas zu tun. Es muß eine Lösung geben!" Das Mädchen läßt die Arme sinken. Sie spürt die Kälte nicht mehr. Sie ahnt etwas, das sie atemlos macht. „Sie haben die Lösung?" Dagron lehnt sich mit dem Rücken an die Brüstung und wiegt den Kopf. Dann lächelt er und blickt Danielle nachdenklich an. „Kann sein, kann auch nicht sein.
Wenn sich verwirklichen läßt, was mir vorschwebt..." Unvermittelt lacht er auf. „Ich habe schon experimentiert. Theoretisch ist mir alles klar, es muß mir bald gelingen! Vielleicht ist es verrückt, jedoch ..." Wieder belebt sich sein Gesicht, schuldbewußt sieht er auf einmal aus. „Gehen Sie nach Hause! Es wird immer später. Sie waren den ganzen Tag in der Dunkelkammer, und ich schwätze und schwätze! Entschuldigen Sie! Gute Nacht, Mademoiselle Danielle!" „Jetzt dürfen Sie mich nicht wegschicken", entgegnet sie herb. „Das alles ist wichtiger als das bißchen Schlaf. Reden Sie doch! Bloß - können wir hineingehen? Es wird kalt." „Natürlich." Er schiebt sie vor sich her ins geheizte Atelier zurück und schließt die Tür. „Ich besitze noch Kaffee, Danielle. Würden Sie ihn uns kochen?" „Gern!" Es gibt einen Petroleumkocher im Atelier, und das Mädchen setzt die Kupferkasserolle darauf, in der sie das anregende Getränk auf türkische Weise bereiten will. Schnell und geschickt hantiert sie, und Dagron sieht mit leiser Wehmut, mit wieviel Bereitwilligkeit und unbewußtem Charme sie zu Werke geht. Madame Dagron dagegen... Sie schläft in matronenhafter Würde, und es könnte ihr nie einfallen, so spät noch Kaffee zu kochen oder sich kurz vor Mitternacht noch für die neuesten Ideen des Gatten zu begeistern. Die sind ihr gleichgültig, ja insgeheim hält sie sie für absurde Hirngespinste und kann sich nicht genug wundern, daß ihr Mann manchmal dafür sogar Geld bekommt. Aber weil er es erhält, läßt sie ihn gnädig gewähren und nimmt es hin, daß er nächtelang heizt und Licht brennt. Dagron unterdrückt einen Seufzer und sieht Danielle
einmal nicht mit den Augen des Chefs. Ein Mädchen, das teil an den eigenen Plänen und Versuchen hat und überdies so aussieht... Dagron ruft sich gleich wieder zur Ordnung. Ein alter Narr ist er, noch vollgestopft von jungenhaften Schwärmereien. Er täte gut daran, hin und wieder, in den Spiegel zu schauen, um zu begreifen, daß ihm Mädchen wie Danielle gewöhnlich arglos begegnen, weil er ohne Mühe ihr Vater sein könnte. Solche Erkenntnis ist nicht ohne Bitterkeit. Seine Assistentin ahnt von der plötzlichen Erregung ihres Chefs nichts. Ganz unbefangen läßt sie den Kaffee aufwallen, schreckt ihn mit einem Schuß kalten Wassers ab und wartet, daß er zum wiederholten Male aufkocht. Dabei deutet sie zu dem länglichen rechteckigen Kasten hinüber. „Gehört diese Kamera zu Ihrer Lösung, Monsieur? Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie mit Fotos..." Er ist ihr dankbar dafür, daß sie ihn zur Sache zurückruft. „Ich glaube, daß es nur mit Fotos zu machen ist", erwidert er schnell, „mit Fotos, die ungeheuer verkleinert sind, so sehr, daß eine Zeitungsseite bloß noch die Größe einer Briefmarke hat. Auch schwerer darf sie nicht sein, und deshalb will ich die Aufnahmen statt auf Platten auf Kollodiumhäutchen machen. Nach der Berechnung könnte das da der Apparat sein, der solche Mikrokopien liefert. Es hängt alles davon ab, ob ich alles richtig berechnet habe." Dagron schaut sie an. Seine Gefühlsaufwallung, ein jähes Strohfeuer, ist verglommen; er sieht in Danielle wieder die verständnisvolle Mitarbeiterin. „Helfen Sie mir, den Kasten auszuprobieren? Zeitungen liegen genug herum." Sie lacht verschwörerisch. „Sie glauben doch nicht, daß
ich jetzt gehen könnte? Da kennen Sie mich schlecht! Ein bißchen Platz für den Kaffee, bitte!" Mit einer Handbewegung fegt er die Schreibtischplatte leer. Die Pistole wird achtlos in einen Schub gelegt. Den Zeichnungen schenkt Dagron mehr Sorgfalt. Dann läuft er schon, die Magnesiumlampe zu holen, die er seit zehn Jahren als Lichtquelle benutzt, wenn schlechtes Wetter die Arbeit in der Sonne unmöglich macht. Eine Erfindung des berühmten Bunsen... Während er die Lampe aufbaut, schenkt Danielle den Kaffee ein, der wunderbar duftet. Die Laborantin weiß auch, wieviel Zucker ihr Chef nimmt, und versorgt ihn. „Und dann?" fragt sie. „Wenn wir die Mikrokopie haben, was geschieht damit?". Jetzt hat auch Dagron ein Verschwörergesicht. „Später, Mademoiselle! Das erzähle ich Ihnen nachher in der Dunkelkammer. Sie werden enttäuscht sein. Die Lösung ist so einfach, daß ein Kind hätte daraufkommen können. Ich wundere mich wirklich, daß noch keiner den Einfall hatte!" Gemeinsam spannen sie eine Nummer vom „Journal de Paris" mit Zwecken an eine Trennwand, richten die neue Kamera darauf und entzünden das Magnesiumlicht. Zuckend brennt es und erzeugt im Raum kalkige, blendende Helle. „Nun werden wir sehen, ob den Wartenden vor der Ballonpost geholfen werden kann. Falls es gelingt, wird es für mich eine wundervolle Nacht, Danielle." Sie zeigt wieder das Lächeln, das sie schöner macht. „Sie haben sich selten verrechnet, Monsieur. Und ich wünsche von ganzem Herzen, daß wir eine gute Aufnahme bekommen."
Abrupt beginnen im Süden der Stadt Festungsbatterien Sperrfeuer zu schießen. Dann hämmern Mitrailleusen, knattern Gewehre. Minutenlang schwillt Gefechtslärm an, um ebenso jäh zu verstummen. Wieder ist Stille. Rene Patrice Dagron und seine Laborantin bemerken das nächtliche Zwischenspiel an der nahen Front nicht. Danielle Tournier ist vollauf mit dem Entwickeln des Mikrofotos beschäftigt und gleichzeitig fasziniert von der Idee, die ihr Dagron unterdessen darlegt. Er kann dabei nicht ruhig stehenbleiben; er läuft kreuz und quer durch die Dunkelkammer, und dadurch erheischen seine Ausführungen doppelte Aufmerksamkeit. Auch die einsame Frau jenseits der Straße hört das Feuer nicht. Erschöpfung hat sie über einem halbfertigen Brief in bleiernen Schlaf sinken lassen. Der Hügel draußen vor der Stadt bietet keinen Schutz vor dem eisigen Wind. Die Bodenerhebung macht die Zelte der dritten reitenden Batterie unsichtbar für die Artilleristen der Pariser Festungswerke, doch dahinter breitet sich Feld aus, flaches Ackerland, und darüber fegt der Sturm hin; er zerrt an den Zeltplanen und läßt sie knallen, er spannt die Halteleinen aufs äußerste, und er stört den ohnehin unruhigen Schlaf der preußischen Kanoniere. Selbst die Nächte dieses Spätherbstes 1870 sind ohne Frieden. Kanonier Anton Bergemann hat eben erst abgelöst, aber ihm ist, als stünde er schon stundenlang Posten. Der scharfe Wind geht durch den blauen Uniformmantel mit der hochroten Artilleriepaspel hindurch, und es nutzt wenig, hinter den Schanzkörben Schutz zu suchen, die den sechs Geschützen der Batterie vom Kaliber 7,85 cm zusätzliche Deckung geben. Wenn man ihn, Bergemann,
wenigstens zur Pferdewache eingeteilt hätte — die Tierleiber sind warm, und man könnte sich an sie schmiegen. Aber nein! Er muß bei den Kanonen stehen, die bis zum Einbruch der Dunkelheit pausenlos einen der Vororte beschossen. Nun starren sie zur Stadt hinüber. Anton Bergemann rückt seine Waffen, den Kavalleriesäbel und den Revolver, zurecht und geht dem Nachbarposten entgegen. „Schiet Wetter!" sagt der andere zur Begrüßung. „Kaum Sicht. Wenn sich da welche heranmachen wollen - prost Mahlzeit! Es ist mir nicht geheuer. Hast du die Feldgendarmen gesehen?" Bergemann nickt. „Na also!" fährt der andere befriedigt fort. „Ich wette, da hinten im Wald liegen bewaffnete Zivilisten, Franktireurs. Wenn die Feldgendarmen die Landschaft unsicher machen, dann ist was los vor uns. Diese Franktireurs haben ihnen schon ganz schön eingeheizt. Mehr als die französische Armee." Er seufzt und stützt sich auf seinen Säbel. „Wohin du spuckst, steht einer. Sogar die Weiber mögen uns nicht. Da macht der schönste Krieg keinen Spaß, trotz aller Siege." Sie finden gar nichts dabei, daß sie beide Paris den Rücken zuwenden. Von dort droht ihnen kaum Gefahr, denn zwischen der Stadt und der Batterie befindet sich sächsische Linieninfanterie, und die wird einen Ausfall — sofern es einen gibt — schon auffangen. Verlaß ist auf die Jungs. Nein, die größere Bedrohung lauert im Rücken der Batterie, lauert in den Landstrichen, die die deutschen Truppen im Sturm überrannten. Es ist, als habe die völlige Niederlage der prahlerischen französischen Monarchie das Volk dieses Landes nicht gelähmt,
Vergeblicher Versuch preußischer Ulanen, einen aus Paris ausgeflogenen Ballon sicherzustellen
sondern neue, bis dahin verborgene Kräfte in ihm geweckt. Kaiser Napoleon III. ergab sich am 2. September in Sedan. Kaiserin Eugenie flüchtete nach England; doch das französische Volk beugte sich nicht! Unglaublich mutet gehorsamen deutschen Untertanen an, was zwei Tage nach der Schlacht bei Sedan an der Seine geschah: Am 4. September stürzte das Volk von Paris die Monarchie und berief in einer gewaltigen Willenskundgebung die Deputierten von Paris zur „Provisorischen Regierung der nationalen Verteidigung". Das Volk beließ es nicht dabei; es stampfte dieser neuen Regierung patriotisch gesinnte Truppen und Partisanen aus der Erde. Bei Artenay konnten diese Truppen erst nach opferreichem Kampf vom ersten bayrischen Korps und der zweiundzwanzigsten preußischen Division unter General von der Tann geschlagen werden. Der General La Motterouge sammelte seine Truppen wieder und soll, so heißt es, auf dem besten Wege sein, von der Tann wieder aus Orleans zu vertreiben. Auch in Lilie und Lyon operieren „Provinzialheere", und die deutsche Belagerungsarmee um Paris sieht sich unversehens mit in ihrem Rücken kämpf enden Franktireurs konfrontiert. Nein, man hat den Sieg noch keineswegs in der Tasche! Das fieberhafte, nervöse Reiten der Feldgendarmerie ist ein sicheres Zeichen dafür und nicht eben beruhigend für die Posten der Batterie. „Sind eigentlich die drei Wagen zurück?" fragt Bergemann besorgt. „Ich habe geschlafen und nichts gehört..." ,,.Nein'', wird geantwortet. „Schnapsidee vom Alten, die drei noch einmal zur Bahn zu jagen! Sie hätten den Rest ebensogut morgen holen können. Wir haben doch genug
Geschosse, Gott sei Dank!" Zuerst, währenddes schnellen Vormarsches, hatten sie manchmal fast ohne Munition dagestanden, weil der Nachschub das Tempo nicht mitzuhalten vermochte. Seit dem Fall von Toul gibt es das Problem nicht mehr. Jetzt besteht durchgehende Bahnverbindung zu den Arsenalen. „Eben!" erwidert Bergemann. Neun Munitionswagen, vierspännig gefahren, gehören zur Batterie, und ausgerechnet unter den drei zur Nachtfahrt kommandierten ist der, zu dem sein Freund Friedrich Holl gehört. Der Weg von hier bis zum Bahnhof zieht sich hin, führt am Wald entlang und durch Hohlwege. Der Kanonier bewegt fröstelnd die Schultern. Eine unheimliche Nacht! Plötzlich knallt es. Chassepotgewehre, unzweifelhaft ... Das Bellen von Revolvern... Zu sehen ist nichts; das muß dort hinten im Wald sein. Der Transport, ganz gewiß! Bergemann rennt schon. Gleich darauf bläst der Batterietrompeter Alarm. Das Signal gellt durch die Nacht. In den Zelten wird es lebendig. Flüche und Waffenklirren sind zu hören. Der Batteriechef schnallt beim Laufen den Säbel um und gibt den Befehl zum Aufsitzen. Dann geht es blitzschnell, denn es muß ja kein Gepäck verladen werden. Auch Anton Bergemann sitzt auf seinem Fuchs und angelt mit der rechten Stiefelspitze noch nach dem Bügel, als der Batteriechef kommandiert: „Abteilung mir nach! Galopp!" Und mit blanken Klingen preschen 36 Berittene ins Dunkel. In ihrem Rücken wird es lebendig. Beunruhigt durch das Alarmsignal, reißt der Kommandeur der sächsischen Linieninfanterie seine Männer aus dem Schlaf, und plötzlich steht im fahlen Nachtlicht ein Wald
aufgepflanzter Bajonette. Unvermittelt beginnt die französische Festungsartillerie Sperrfeuer zu schießen. Geschoßgarben aus mehrläufigen Mitrailleusen beharken das Niemandsland, und auf beiden Seiten sind Verwirrung und Aufruhr gleich groß. Hinter den deutschen Linien versuchen Meldereiter und Ordonnanzen den Grund in Erfahrung zu bringen. Noch ehe die Kanoniere den Wald erreicht haben, kommen ihnen die Wagen entgegen - in halsbrecherischer Karriere mit „Hoi - ja!" und „Hussa!" gefahren. Ein Wunder, daß sie nicht umschlagen! Im Wald knallt es immer noch, doch sind die Chassepotgewehre so gut wie verstummt, und die Revolver geben den Ton an. Abrupt verstummt das Feuer. „Was ist los, Wachtmeister?" fragt der Batteriechef den Vorreiter des ersten Wagens. „Franktireurs!" lautet die Antwort. „Bloß eine Handvoll, aber sie hätten uns fertiggemacht, wenn nicht die Feldgendarmen hinter uns hergekommen wären. Sie müssen den Braten geradezu gerochen haben. Befehlen Sie weiterzufahren?" „Ab!" sagt der Offizier. „Was haben Sie denn dafür einen vierten Wagen? Sieht nach fahrender Artillerie aus..." „Das ist eine Spezialkanone. Sie wird der dritten Batterie zur besonderen Verwendung überstellt. Der Befehl wurde mir vom Transportführer ordnungsgemäß ..." Er faßt in die Manteltasche. Der Batteriechef winkt ab. „Nachher! Fahren Sie!" Und den Berittenen befiehlt er, zur Deckung der Fahrzeuge auf zuschließen. Im Arbeitstrab geht es weiter. Kanonier Anton Bergemann hält sich neben Friedrich
Holl. „Was habt ihr denn da bei euch?" erkundigt er sich ebenfalls. Holl beugt sich ein wenig vom Sattelpferd herüber. „Krupps neuestes Wunder", erwidert er trocken. „In der menschenfreundlichen Absicht ersonnen, den Parisern auch die letzte Verbindung mit ihrem Hinterland zu nehmen und sie psychisch zu demoralisieren. Dieses Geschütz wurde speziell für den Abschuß der Postballons konstruiert." Er zieht dem faulen Handpferd eins mit der Peitsche über und spricht leise weiter. „Bei den Neuen ist einer Richtkanonier, den ich kenne. Ludwig Rüdiger... Das Ballongeschütz kommt aus der Heimat..." Die beiden Männer haben sich eine Menge zu erzählen. Wichtiges! „Wir wollen morgen mal..." ,,Ruhe!" befiehlt der zur Spitze der Kolonne reitende Unteroffizier. „Wir machen hier keinen Familienausflug!" „Nimm", flüstert Holl und reicht Bergemann ein zusammengefaltetes Papier hinüber. Später, im Zelt, hält der Kanonier den Bogen nahe an die Lampe. Es ist ein Stück aus dem „Volksstaat", der Zeitung der Sozialdemokratie. Eine fettgedruckte Zeile auf der ersten Seite besagt: „Ein billiger Friede mit der französischen Republik! Keine Annexionen! Bestrafung Bonapartes und seiner Mitschuldigen!" Auf dem Weg zur „Administration des Postes"- an der Rue du Louvre, in der Nähe der Bank von Frankreich und der Börse, muß die Droschke mehrmals halten, Munitionswagen versperren die Straßen. Die Fahrzeuge sind schwer beladen. Obwohl es kühl ist, glänzen die Pferde von Schweiß — so stemmen sie sich in die Geschirre und zerren ihre gefährliche Fracht aus
Magazinen und Depots zu den Forts. Seit den frühen Morgenstunden sprechen wieder die Waffen, fährt die Feuerwehr in die Vororte, und es steht über den Befestigungen eine schmutziggraue, da und dort von Rammen durchstochene Dunstwolke. Wenn die Batterien der Forts schießen, klirren selbst im Stadtzentrum die Fensterscheiben. Die Pariser bemühen sich, das zu überhören, sich überlegen und gefaßt zu geben. Schließlich sind es die eigenen Geschütze. Der Feind hat bei seinem schnellen Marsch auf die Seine-Metropole nur Feldartillerie mit sich führen können, die aber nicht über jene Kaliber verfügt, die die Forts um Paris brechen könnten. Dafür legen sie ganze Straßenzüge der Außenbezirke in Schutt und Asche und hoffen wohl, mit dieser Kanonade Bereitstellungsräume der Verteidiger zu treffen. Tatsächlich wachsen die Verluste. Die Lazarette sind überfüllt, und neue müssen behelfsmäßig geschaffen werden. Aber die Generale bezeichnen diese Verluste noch als gering und beurteilen die Lage zuversichtlich. Die Angriffe der preußisch-deutschen Armee unter dem Befehl des Kronprinzen zielen offensichtlich mehr auf eine moralisch-psychologische als auf eine operativtaktische Wirkung hin. Doch Paris ist entschlossen, dieser Nervenattacke zu trotzen. Nicht nur in rüstungswichtigen Fabriken, auch in der „Administration des Postes" zeigen die Beamten Gelassenheit. Dagron wird kurz nach Mittag empfangen. Die maßgeschneiderten Tuchröcke und die Abzeichen verraten hohe Postdienstgrade, leitende Mitarbeiter, die auf der Straße wie Offiziere Portepee und Degen tragen; doch der Fotograf ist mit diesen Sternen und Litzen nicht vertraut. Sie sagen ihm nichts. Er nickt nur zufrieden, als
er bei der Vorstellung erfährt, daß verantwortliche Beamte der Ballonpost zugegen sind. Darum hat er ausdrücklich gebeten. Die Begrüßung macht erwartungsvoll. Als er in die Gesichter sieht, glaubt er, daß er offene Ohren für das Projekt finden wird. Man geht auch sofort auf Dagrons Bitte ein, so seltsam sie auch erscheinen mag. Beamte verdunkeln das Zimmer und helfen Danielle, den mitgebrachten Projektionsapparat aufzubauen. Dann erst beginnt der Fotograf. „Als am fünfundzwanzigsten September der Ballon ,Città di Firenze' unsere belagerte Stadt verließ", er kommt sofort zum Thema, ,,nahm er außer Brieftauben der Nachrichtenkompanie des Herrn Festungskommandanten auch solche privater Züchter mit. Von diesen sind meines Wissens bisher siebenundfünfzig wohlbehalten in ihre Schläge zurückgekehrt. Jede dieser Tauben brachte auf Seidenpapier geschriebene, in ein Lederbeutelchen verpackte Nachrichten nach Paris kostbare Informationen und Lebenszeichen von Menschen, für die die Empfänger augenblicklich unerreichbar sind. Auf diesen Taubenflügen fußt mein Vorschlag." Danielle glaubt, Enttäuschung bei den Postbeamten zu spüren. Erregt flüstern sie miteinander. Einer sagt: „Wenn Sie uns den Einsatz von Brieftauben vorschlagen wollen, Monsieur, dann bemühen Sie sich nicht weiter! Die Idee, Tauben auszufliegen, wurde hier geboren. Um es ganz deutlich zu sagen: Im militärischen Nachrichtendienst haben sich die Vögel bewährt, in der Postbeförderung nicht! Das Militär übermittelt einzelne
Befehle und Nachrichten auf diese Weise. Die Post... Zehntausende, vielleicht Hunderttausende warten in Frankreich darauf, ihren Pariser Angehörigen einen Gruß zu senden, ihnen Mut zusprechen zu können. Wissen Sie, was eine Brieftaube tragen kann? Nach den Vorschriften der Nachrichtenkompanien soll die Belastung ein Gramm nicht übersteigen. Ein Gramm!" Der Mann schüttelt den Kopf. „Es ist unmöglich, auf diese Weise auch nur einen Bruchteil der anfallenden Post zu transportieren. Einige der bisher eingesetzten Tauben kamen überbelastet in Paris an. Viele andere wurden unterwegs die Beute von Raubvögeln, auch weil ihre Flugleistung durch eine übermäßige Belastung zu sehr gemindert wurde. Nein, es geht nicht!" „Bedenken Sie außerdem, Monsieur", nimmt ein anderer das Wort, ein Hagerer, Weißhaariger, dessen schneeiger Lippenbart eigenartig mit der Sonnenbräune des scharfgeschnittenen Gesichts kontrastiert, „daß wir als Post eine öffentliche Einrichtung repräsentieren. Das heißt, wenn wir Briefe aus dem Hinterland nach Paris befördern, müßte diese Einrichtung von allen Bürgern genutzt werden können. Dafür sehe ich jedoch keine Voraussetzungen. Die Zahl der in Paris gezüchteten Brieftauben ist nicht unbegrenzt, die Ladefähigkeit der Ballons zudem beschränkt. Wozu das führt, haben wir bereits erlebt. Ich bin verantwortlich für die Dienstüberwachung innerhalb der Post, Monsieur. Meine Inspektoren berichten im Zusammenhang mit den Taubenflügen von Bestechungsversuchen und erfolgter Bestechung. Für die Aufnahme einzelner Briefe in die Taubenpost sind große Summen geboten und auch gezahlt worden. Diese Alarmzeichen zeigen die
Unzulänglichkeit des Versuchs. Das Militär mag mit Eingrammfrachten auskommen. Für uns sind sie ein Unding. Es tut mir leid, Monsieur..." Die Ablehnung ist so eindeutig, daß es Danielle heiß wird. Wir konnten bisher keinen Brief schreiben, denn uns fehlte das Geld dazu, dachte Danielle. Und was würde Francois wohl jetzt sagen, hörte er diese Argumente. Nun aber konzentriert sie sich wieder auf das Geschehen. Sie sieht in die Gesichter der Beamten. Als sie sich erregt über die Lippen leckt, sind sie salzig. Dagron verliert nichts von seiner Haltung. Es glitzert sogar ein Quentchen Überlegenheit in seinen Augen, und als es gerade so aussieht, als solle der Vortrag ein schnelles Ende nehmen, sagt er laut und vernehmlich: „Ich bitte um eine Apothekerwaage, Messieurs!" In seiner Stimme klingt so viel Sicherheit, daß die Postgewaltigen aufhorchen, sich ansehen und wieder ein Fünkchen Hoffnung verspüren, es könnte doch noch etwas dabei herauskommen. Eine Apothekerwaage wird herbeigeholt. Danielle Tournier lächelt entspannt. Darauf hat sie gewartet. Das muß die Postbeamten überzeugen! Dagron öffnet seinen „Schwalbenschwanz", den Cutaway, den er zur Feier des Tages angelegt hat. Für jeden Erfinder ist es ein großes Ereignis, wenn er die Frucht seiner Mühen, seiner Knobeleien und seiner Phantasie zum erstenmal vorweisen kann. Der Westentasche entnimmt er ein winziges Röhrchen, einen Federkiel, dessen Hohlraum mit einem Wachstropfen geschlossen wurde — die übliche „Kuriertasche" einer Brieftaube also. Dagron zeigt sie herum und legt sie dann auf die Waage. Das Gewicht macht knapp ein Gramm aus. Die Nächstsitzenden überzeugen sich davon
und harren der Dinge, die folgen sollen. Der Fotograf muß ja mit dieser Demonstration etwas beabsichtigen. In der Tat entfernt Dagron sogleich den Verschluß und holt aus dem Federkiel ein Röllchen, das er glättet. „Messieurs", erläutert er, „dies sind sogenannte Kollodiumhäutchen, wie ich sie zur Anfertigung von Mikrokopien benutze. Ihr Gewicht ist minimal. Ich darf Ihnen vorführen, wie viele derartige Aufnahmen in einem solchen Kiel Platz finden." Er hebt das erste Häutchen hoch. „Eins!" Ein weiteres. „Zwei!" Noch eins. „Drei!" Wieder ein neues. „Vier!"... Er sagt „achtzehn", als er das letzte Bildchen hebt. Der ranghöchste Beamte klatscht Beifall. „Großartig!" ruft er hingerissen. „Einfach großartig! Achtzehn Schriftsätze in Mikrokopien statt eines Originals. Die Nachrichtenkompanien werden das sofort einführen. Es gibt dem Einsatz von Brieftauben völlig neue, größere Möglichkeiten! Und dennoch, Monsieur, achtzehn ist eine kleine Zahl, gemessen an jenen, mit denen die Post rechnen muß. Eine zu kleine Zahl..." Dagron verliert sein Lächeln nicht. Vor Aufregung rot im Gesicht, steht er da - ein mittelgroßer, schmächtiger Mann mit zerzaustem, schütterem Haar und hellen Katzenaugen, mit leichtgekrümmten Schultern und mädchenhaft zarten, schmalen Händen. „Gewiß doch", erwidert er geschmeidig und nimmt mit schnellem Rundblick befriedigt wahr, daß er das schon erloschene Interesse an ihm und seinen Darlegungen neu geweckt hat. „Diese Überlegung habe ich auch angestellt. Deshalb baute ich eine Kamera, deren Verkleinerungswirkung so extrem ist, daß. es möglich wird, auf einem Kollodiumhäutchen weit mehr als nur
einen Brief abzubilden.'' Er nickt Danielle aufmunternd zu und deckt das Licht ab. „Wenn ich bitten darf, Mademoiselle! - Die Projektion, die Sie jetzt sehen, erfolgt von einem Häutchen der Größe, die ich in meinem Federkiel hatte. Messieurs, bitte überzeugen Sie sich, daß jedes einzelne Wort mühelos zu lesen ist!" Während die Herren dieser Aufforderung folgen, spricht er bereits weiter. „Das ist die Aufnahme einer gewöhnlichen Zeitungsseite in ziemlich kleinem Satz. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Worte zu zählen. Wenn Sie die sich ergebende Zahl mal achtzehn nehmen, kommen Sie zu der Feststellung, daß Sie mit einer einzigen normalen Taubenpost rund siebzigtausend Worte zu befördern vermögen. Ich weiß nicht, wie viele ein Telegrafenamt je Tag übermittelt, wenn die Leitungen nicht, wie jetzt, unterbrochen sind, aber..." Er kann nicht weitersprechen. Erregt stimmen die Beamten dem Vorschlag zu. Dann diskutieren sie miteinander, und der Erfinder kommt sich ein wenig verloren und verlassen vor. Er schaut zu Danielle hin, und sie deutet einen Knicks an und strahlt. Endlich denken die Postgewaltigen wieder an Dagron und beziehen ihn in ihre Beratung ein. ,,Das verändert alles!" versichert jener, der als erster gegen eine Taubenpost gesprochen hatte. „Siebzigtausend Worte je Flug, das lohnt sich. Damit läßt sich arbeiten. Wenn wir in Paris ein spezielles Postamt schafften, mit Projektoren ausgerüstet, in dem diese Taubentelegramme abgeschrieben würden, könnten wir bei nur einem Flug täglich binnen kurzer Zeit den Postanfall für Paris recht gut bewältigen." „Natürlich!" ruft ein anderer, der noch gar nichts gesagt
hat. Es ist ein Beamter der Ballonpost. „Genug Tauben ins Hinterland zu bringen, das ist überhaupt kein Problem! Allein der ,Cittä di Firenze' nahm seinerzeit in der Gondel über dreihundert mit." „Und woher bekommen wir genug Tauben?" fragt jemand skeptisch. „Aber Monsieur!" entgegnet Dagron tadelnd. „Sollte Ihnen entgangen sein, wie verbreitet der Brieftaubensport bei uns ist? Schon seit fünfzig Jahren, genau seit achtzehnhundertzwanzig, finden in Paris Brieftaubenwettbewerbe statt. Die Zahl der Züchter ist seither ständig gestiegen. Sie werden Rekruten finden, so viele Sie brauchen. Ich habe mich vergewissert, ehe ich zu Ihnen kam. Ohne Tauben hätten Ihnen meine Mikrokopien doch nichts genutzt!" Der braungebrannte Weißhaarige nimmt das Gespräch auf. „Fürs erste muß die Zahl der Worte je Aufgeber begrenzt werden", rät er. „Wenn niemand mehr als, sagen wir, maximal zwanzig Worte aufgeben darf, haben wir die Gewähr, daß wir mit jeder Depesche, die geflogen wird, einen relativ großen Kundenkreis bedienen. Dreitausendfünfhundert Kunden je Sendung. — Das sind schon Postrelationen, Messieurs! Ich befürworte jetzt die Verwirklichung der genialen Idee unseres Monsieur Dagron nachdrücklich. Wir sollten sofort beginnen." Noch einmal tauchen Bedenken auf. Ob die Brieftaube denn nicht doch, bei allem Wohlwollen, ein denkbar unzuverlässiger Kurier wäre, gibt ein griesgrämiger Alter zu überlegen. Darauf muß Dagron nicht antworten; dazu weiß jeder der Beamten etwas zu sagen. Sie sind in der Geschichte des Nachrichtenwesens bewandert. Für gute
Erfolge mit Brieftauben kennen sie Beispiele über Beispiele. Sie zählen auf, daß die Griechen fünfhundert Jahre vor der Zeitrechnung die Ergebnisse ihrer Olympischen Spiele durch Tauben meldeten; daß der römische Kaiser Diokletian achthundert Jahre später eine Taubenpost schuf, nachdem zuvor schon Caesars Legionen Standortmeldungen und Marschberichte durch Tauben befördert hatten; daß im zwölften Jahrhundert, und dann besonders im Reiche des Kalifen von Bagdad, der Orient Taubenpost kannte, die unter dem Sultan Nureddin ihre Hochblüte erlebte; daß Ägypten im fünfzehnten Jahrhundert Türme baute, die die Forscher für Taubenpoststationen halten; daß sowohl Wilhelm von Oranien als auch Napoleon I. die Brieftaube, die seinerzeit von Kreuzrittern nach Europa gebracht wurde, in ihren Kriegen benutzten; daß noch vor wenigen Jahrzehnten Bankhäuser in Paris und Brüssel durch eigene Kurstauben regelmäßig Informationen austauschten und daß schließlich vor zwanzig Jahren das britische Pressekorrespondenzbüro Reuter viel Aufsehen durch eine eigene Taubenpost zwischen Aachen und Brüssel erregte. Die nüchternen Briten hätten sich kaum für Tauben entschieden, wenn sie gänzlich unzuverlässig wären. „Genug, genug!" krächzt der Alte und schweigt fortan, um nicht noch eine solche Kaskade von Argumenten heraufzubeschwören. Dagron sieht es nicht ohne Schadenfreude. Die Männer sind erfahrene Praktiker des Postwesens. Sobald sich der erste Sturm der Begeisterung gelegt hat, beginnen sie mit sachlicher Planung. Es müsse, legen sie fest, im Hinterland ein Sammelpostamt geschaffen
werden, das alle für Paris bestimmten Taubenpostdepeschen zusammenzutragen habe. Diese könnten dort, einer Zeitung ähnlich, kompreß gesetzt, abgezogen, als Mikrokopie fotografiert und auf die Reise geschickt werden. „Ich schlage Tours als Sammelplatz vor", meldet sich lebhaft ein Beamter der Ballonpost., ,Tours ist fest in französischer Hand, und außerdem weht der Wind meist darauf zu. Die Mehrzahl unserer Ballons ging in dieser Richtung nieder. Nach Tours bringen wir die Pariser Tauben leicht." „Also Tours!" bestimmt der Ranghöchste kurzentschlossen und ordnet auch gleich an, welcher der Beamten für die Einrichtung und Besetzung eines Pariser Taubenpostamtes in der vorgeschlagenen Art verantwortlich ist. Dann wendet er sich zu Dagron, der die Debatte beobachtet und sehr glücklich ist. An den eigenen Triumph denkt er dabei seltsamerweise am wenigsten. Er malt sich vielmehr aus, wie es sein wird, wenn Madame in der Wohnung gegenüber seinem Atelier Post von einem ihrer Söhne erhält. Diese Vorstellung ist es, die ihm ein Gefühl tiefer, erfüllender Befriedigung gibt, die ihn freut, und er ist ein bißchen stolz darauf. Die Knobeleien, das Rechnen und das Träumen, das am Anfang stand, haben sich gelohnt und wiegen den allgemeinen häuslichen Ärger reichlich auf. „Das bedeutet, Monsieur Dagron", erklärt der Ranghöchste, „daß Tours über Ihre neue Kamera verfügen muß." „Ja, selbstverständlich", antwortet der Fotograf und öffnet schon die Ledermappe, in der er seine Berechnungen mitgebracht hat. „Hier sind die Zeichnungen.
Eine halbwegs geschickte Werkstatt kann daraus mühelos..." Der Postgewaltige wiegt die Papiere auf der Hand. „Zeitverlust", sagt er gedehnt. „Unnötiger Zeitverlust ... Ich möchte lieber heute als morgen beginnen. Je eher, desto besser! Sie haben doch einen solchen Apparat gebaut, nicht wahr?" „Gewiß." Dagron fügt hinzu: „Wenn Sie ihn einem Ballon mitgeben wollen, steht er Ihnen jederzeit zur Verfügung." „Mitgeben!" fährt der Hochdekorierte unwillig auf. „Und in Tours pfuschen Lichtbildner daran herum, die erst lernen müssen, mit dieser Kamera umzugehen! Nein, nein. Davon verspreche ich mir nichts. Sie haben diesen Apparat gebaut, Sie bedienen ihn am sichersten. Also müssen Sie ihn nach Tours begleiten." Er erhebt sich und bleibt vor dem Fotografen stehen. „Ich muß Ihnen nicht sagen, wie wichtig jede Information aus dem Hinterland für Paris ist. Wir wissen es beide. Ich bitte Sie deshalb, fliegen Sie mit dem nächsten Ballon! Alle zwei Tage wird einer gestartet, und das schon vom dreiundzwanzigsten September an. Übermorgen, also am zwölften, fliegt der nächste. - Sie werden doch nicht ablehnen, Monsieur?" „Ich bin noch nie geflogen...", stammelt Dagron und kann nicht verhindern, daß er blaß wird. Danielle schlägt erschrocken die Hände vors Gesicht. „Es ist nicht schlimm, nur ungewohnt", mischt sich einer der Männer von der Ballonpost besänftigend ein. „Ich gehöre einem Luftschifferklub an und bin schon mit aufgestiegen. Sobald man oben ist, ist es wunderbar. Sie werden es erleben und hingerissen sein. Und was die
Deutschen betrifft: Bisher sind nur in zwei Fällen Ballons von uns im besetzten Gebiet niedergegangen. Die übrigen sind durchgekommen." ,,Das ist natürlich sehr beruhigend", murmelt Dagron und schilt sich innerlich einen Feigling. Hat er den Parisern nicht helfen wollen mit seiner Erfindung? Nun erhält er überraschend die Möglichkeit, sie selbst an entscheidender Stelle einzusetzen, sie zu erproben, und da...? Ganz plötzlich tritt Neugier an die Stelle der Furcht, Neugier auf das Abenteuer der Luftfahrt, auf die Bewährung seiner Kamera, Neugier auf die Arbeit bei der Taubenpost. Diese Neugier fegt allen Kleinmut hinweg, weckt Unternehmungslust. Er fühlt sich plötzlich viel jünger. „Wir werden auch durchkommen. Wir müssen durchkommen! Um welche Zeit?" „Ich habe nichts anderes von Ihnen erwartet", sagt der Ranghöchste befriedigt. Wahrscheinlich hat er tatsächlich keine andere Entscheidung für möglich gehalten. „Ein Wagen der Post holt Sie ab, Monsieur. Der Flug richtet sich nach dem Wind." Nacheinander besichtigen alle Soldaten der dritten Batterie die neue Ballonabwehrkanone. Krupp, seit 1859 erfolgreich mit der preußischen Regierung im Waffengeschäft, unterstützt mit dieser Spezialkanone die Heeresleitung, der es ganz und gar nicht behagt, daß ihre Stellungen so ungehindert überflogen werden können. Diese Kanone hat ein Kaliber von 3,6 cm, einen Rundkeilverschluß und ein gezogenes Rohr aus Gußstahl. Sie ist sehr mobil und hat einen Seitenrichtbereich von 360 Grad. Die Sockellafette ist auf einem vierrädrigen, pferdebespannten Plattenwagen montiert, der auch die Bedienung und die Munition transportieren kann. Durch schnelle Schußfolge sowie leichte Entflammbarkeit der
Gasfüllung des Ballons ist es möglich, diese Luftziele zu vernichten. Die Männer erfahren weiterhin, daß die Firma Krupp 20 solcher Ballonabwehrkanonen der Heeresleitung „geschenkt" hat und daß fünf davon um Paris zum Einsatz gelangen. Sie sind so verteilt, daß sie einen Kreis um die Stadt bilden. In welcher Richtung auch immer ein Ballon entschwebt -er muß den Feuerbereich einer dieser Kanonen passieren. Die Batteriechefs, die diese Waffe erhielten, sind angewiesen worden, die besten Einsatz-möglichkeiten, ausreichende Munitionsversorgung und gute Wartung des Spezialgeschützes zu gewährleisten, von
Um die Seine-Metropole völlig vom französischen Hinterland zu isolieren, entwickelte Krupp im Auftrag der preußischen Heeresleitung die Ballonabwehrkanone (BAK). Eines dieser Geschütze steht heute im Armeemuseum der Deutschen Demokratischen Republik
dem sich Seine Königliche Hoheit, der Kronprinz, offenbar viel verspricht. „Klar", bemerkt ein vierschrötiger Munitionskutscher mit Kennermiene. „Wenn ihr die Ballons 'runterholt, kriegen sie nicht einmal mehr die Tauben der Nachrichtenleute aus der Stadt. Da müssen sie sich schließlich von aller Welt verlassen vorkommen, wie auf einem fremden Erdteil, und einfach die Nerven verlieren!" „Wenn!" erwidert Richtkanonier Ludwig Rüdiger trocken, aber vielsagend, und nimmt seine Stummelpfeife zwischen die Zähne. „Stell dir das bloß nicht zu einfach vor! Die Dinger steigen ziemlich schnell, und wenn sie vor gutem Wind gehen, erreichen sie eine hohe Geschwindigkeit. Bis du dich da eingeschossen hast... Du mußt so zielen, daß das Geschoß dem Ballon den Weg verlegt, mein Junge. Hältst du genau drauf, geht der Schuß hinter ihm vorbei. Praktisch hat das noch keiner von unserer Batterie gemacht. Eine Unterweisung, ein bißchen Übungsschießen auf Erdziele und -auf nach Paris! Tja, und da habt ihr uns in ganzer Schönheit!" Es fällt keinem auf, daß Bergemann und Holl noch bei Rüdiger bleiben, nachdem die Neugier der anderen schon abgeklungen ist. Diese beiden haben in Berlin in derselben Maschinenfabrik gearbeitet und sind Freunde. Sie fassen gemeinsam die Mittagsration, weiße Bohnen mit einer Ahnung von Rauchfleisch, und sitzen dann allein im Windschatten gestapelter Munitionskisten. Blechlöffel klappern und scheppern in Kochgeschirren. Holl sagt: „Ich habe lange keine von unseren Zeitungen zu sehen gekriegt. Erkläre mal! Wie steht unsere Partei jetzt zum Krieg?"
Rüdiger sieht sich rasch um. „Sie betrachtet ihn als beendet, seine Fortführung hält sie für verbrecherisch. Napoleon der Dritte ist geschlagen, seine Armeen sind vernichtet; es besteht keine Gefahr mehr. Was sollen wir also noch hier? Das französische Volk, das wir jetzt bekriegen, ist nicht unser Feind. Die Forderungen, die der Kaiser gestellt hat, sind nicht die des Volkes. Mit den Franzosen können und müssen wir Frieden schließen. Preußen ist, seit Napoleon entmachtet wurde, mit diesem Feldzug im Unrecht." Bergemann schiebt die Mütze nach vorn, bis dicht über die Augen. „Mann, hast du ein Tempo drauf!" stöhnt er. „Ein bißchen langsamer, bitte! Damit es ein normaler Mensch versteht." Holl legt Bergemann die Hand auf die Schulter. „Paß auf: Als es losging, war dieser Krieg gerecht, denn Napoleon wollte verhindern, daß unsere selbstherrlichen ,Vaterländer' zusammengeschlossen werden. Trotzdem enthielten sich Bebel und Liebknecht im Norddeutschen Reichstag bei der Abstimmung über die Kriegsanleihe im Juli der Stimme, denn sie wollten Bismarck irgendwie ihr Mißtrauen aussprechen. Du siehst, für die Sozialdemokrade war die Situation äußerst kompliziert; der Krieg war gerecht, denn die zu schaffende Einheit war durch Napoleon bedroht. Und Einheit brauchte auch die Arbeiterklasse, schon um sich besser organisieren zu können." „Ja, das kann ich mir vorstellen", erwidert Bergemann. „Solange der Franzosenkaiser schwache Nachbarn hatte, war er mächtig. Er konnte seinem Klüngel Einfluß auf die Kleinen versprechen, ihre Abhängigkeit und sogar ihre Eroberung, wenn es seine Leute verlangten. Klein
sind diese einzelnen Staaten auf ausländische Waren und fremde Märkte angewiesen und müssen sich hüten, es mit den großen zu verderben. Das ist mir klar. Nun ja, und was die Arbeiterbewegung angeht, wird sie in einem einheitlichen Deutschland stärker werden, besser noch ihre Forderungen durchsetzen können." „Genau." Rüdiger dämpft seine Stimme. „Jetzt aber sind wir gegen die Fortsetzung dieses Krieges; denn jetzt geht es um Raub. Und ich bin sehr für die Aufhebung der Belagerung. Von Gefangenen habt ihr ja gehört, daß Paris hungert. Und wer hungert am meisten? Wie immer, die Armen!" „Redet er nicht prima?" fragt Holl Bergemann in einem Ton, als wären Rüdigers Ausführungen sein ureigenes Verdienst. „Habe ich dir eigentlich schon einmal erzählt, daß wir ihn in der Bude ,Professor' nannten? Wenn er einen reichen Vater gehabt hätte und ein Studierter geworden wäre - weit hätte er es bringen können!" „Hör schon auf mit den Hänseleien." Bergemann stößt Holl unsanft in die Rippen. Dann wendet er sich zu Rüdiger. „Aber wie ist das denn nun mit der Einheit?" „Wir leben nicht mehr im Mittelalter", beginnt der Gefragte. „Wie kann sich denn bei so vielen Kleinstaaten eine starke Industrie entwickeln? Ein Zusammenschluß würde Aufschwung und Wachstum bedeuten. Nur wenn die Zersplitterung überwunden wird, kann ein starker Nationalstaat entstehen. Immerhin haben deutsche Patrioten Jahrhunderte für dieses Ziel gekämpft. Mit der Einheit entstehen auch einheitliche Institutionen. Und die Arbeiterpartei kann in ihnen Fuß fassen, Kräfte sammeln und den Kampf für ihre eigenen politischen und sozialen Ziele führen."
„Aber das wollen nicht alle, zum Beispiel nicht die Fürsten, die Großgrundbesitzer." „Die wehren sich gegen den Zusammenschluß. Und auch andere noch, die gern allein herrschen wollen über ein kleineres oder größeres Land." „Napoleon wollte das auch nicht", meint Holl. „Genau!" sagt Rüdiger zufrieden. „Manchmal hast du ganz brauchbare Ideen, Friedrich! - Napoleon hat in Süddeutschland viel Stimmung gemacht, um der Einigung das Wasser abzugraben. Er hat es bis zuletzt versucht. „...Süd- und Norddeutschland voneinander zu trennen", fällt ihm Bergemann lebhaft ins Wort. „Ich bin von Anfang an dabei. Die Franzosen standen in Lothringen und im Niederelsaß. Sie wollten ins Maintal vorstoßen und einen Keil bilden. Dem großmäuligen Kaiser und seinen Generalen haben wir die Suppe gründlich versalzen." „Achtung!" ruft Holl schneidig, springt auf - die anderen folgen sofort - und meldet zackig, daß drei Mann mit Mittagessen beschäftigt seien. Der Fähnrich in seiner maßgeschneiderten Uniform - es geht das Gerücht, er trage ein Korsett, um eine schöne Taille zu haben - winkt gnädig ab, klemmt sein Monokel ins Auge und wirft einen Blick in die Kochgeschirre. „Beeilt euch, daß ihr noch einen Nachschlag faßt, Männer", bemerkt er jovial. „Sieht ja lecker aus!" „Jawohl", schnarrt Holl herunter. Wer ihn hört, muß ihn für einen Idealsoldaten halten. „Nachschlag fassen. Wird gemacht!" Der Fähnrich zieht die Braue so hoch, daß sein Monokel herunterfällt und am Seidenband baumelt. Er wendet
sich Rüdiger zu. „Bin gespannt auf den ersten Ballon, den Sie abschießen! Muß ein herrliches Feuerwerk geben und den Parisern mächtig in die Hosen fahren. Freue mich darauf! Möchte so ein windiges Ding gern mal aus der Nähe sehen. Einfalle haben diese Franzosen verrückt, was? Mich brächten keine zehn Pferde in diesen fliegenden Brandsatz. Also: Halten Sie sich 'ran!" „Zu Befehl. 'ranhalten", erwidert Rüdiger. „Wenn bloß endlich einer käme..." „Wird schon, Mann, wird schon! Muß ja, denn auf dem Landwege kommt keine Maus mehr aus der Stadt, ohne daß wir sie frikassieren." Er nickt den dreien aufmunternd zu und stelzt weiter. „Er ist ein bißchen blöd", sagt Holl leise, „aber reiten kann er wie der Teufel. Das muß ihm der Neid lassen!" Die Soldaten setzen sich wieder hin. „Eigentlich komisch, daß die Süddeutschen für die Einheit sind", stellt Bergemann fest. „Sie sollen doch was gegen uns Preußen haben. Dabei sind wir verträgliche Leute. „Du und ich und er hier bestimmt", Rüdiger schmunzelt. „Aber unser allerhöchster Herr samt Bismarck, Moltke und Roon... Nee! Die sind doch krank, wenn sie nicht das Salz der Erde sein können. Vielleicht halten die süddeutschen Majestäten eine solche Lösung auch nicht gerade für die beste." „Was du immer denkst! Schließlich stehen sie jetzt auf preußischer Seite", meint Holl. „Was nicht bedeuten will, daß sie für eine Verpreußung des Reiches sind", mischt sich der „Professor" wieder ein. „Wenn ihr mich fragt: Sie haben einfach erkannt, daß es in erster Linie darum geht, den napoleonischen
Chauvinismus, die Annexionsabsichten und die Einmischung in ihre Angelegenheiten von Paris her zu beenden. Sie haben Angst vor einem starken Nachbarn. Natürlich wollen sie nicht, daß französische Regimenter bei ihnen einrücken. Deshalb ... Andere Fragen, denken sie, könne man später lösen." Holl schaut zur Feldküche hinüber. „Wenn wir uns nicht 'ranhalten, ist der Kessel leer", bemerkt er besorgt. „Das würde ich für eine echte Niederlage halten, und so etwas schlägt mir immer so schrecklich auf den Magen... Schieß endlich los, Ludwig! Was steht in der Parteizeitung?" „Das, was der ,Volksstaat' erklärt, habe ich ja schon gesagt. Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei fordert, daß Napoleon und sein Klüngel als die Schuldigen an diesem Gemetzel bestraft und zur Rechenschaft gezogen werden. Bis jetzt gleicht seine Gefangenschaft in Wilhelmshöhe einem Kuraufenthalt. Sie fordert ferner, daß Deutschland einen ehrenvollen Frieden mit der Regierung Frankreichs schließt. Napoleon hat den Krieg gegen uns vom Zaun gebrochen, nicht Fabrikarbeiter wie ihr und ich. Die haben auch hier andere Sorgen." „Klare Sache, und vernünftig", urteilt Kanonier Bergemann und dreht sich zu Holl um. „Nun hole dir schon deinen Nachschlag, du Vielfraß, damit du uns nicht vor Paris verhungerst!" Holl rennt sofort los. Bergemann aber ist noch nicht zufrieden. Er möchte von Rüdiger wissen, was die Forderung „Keine Annexionen!" bedeutet. Rüdiger gibt Antwort. „Elsaß und Lothringen. Wir haben doch nicht gegen französische Annexionen gekämpft,
um nun selbst große Batzen fremden Landes an uns zu reißen!" Anton Bergemann kratzt den Rest der Suppe aus seinem Kochgeschirr. „Ich weiß nicht", entgegnet er zögernd. „In anderen Zeitungen steht, wir müßten Elsaß und Lothringen unbedingt haben, um Süddeutschland wirksam gegen Frankreich schützen zu können. Als Puffer sozusagen. Ist das nicht vernünftig?" „Blödsinn ist das", antwortet ihm Rüdiger, „den die Zeitungen der Bourgeoisie geschickt an den Mann bringen, um die Annexion populär zu machen." Er beugt sich ein wenig herüber. „Im ,Volksstaat' findest du die zweite Adresse des Generalrats der Internationale, datiert vom neunten September. Marx hat sie verfaßt. Er beweist darin klipp und klar, daß Süddeutschland durch die Vereinigung mit Norddeutschland sicherer und wirkungsvoller gegen eine französische Invasion geschützt ist, als es durch jeden Landraub zu schützen wäre - vor allem dauerhafter; denn Frankreich wird einen solchen Raub nicht hinnehmen. Karl Marx meint, Frankreich werde in diesem Falle ein Bündnis mit dem russischen Zaren suchen und Deutschland früher oder später einen Zweifrontenkrieg größten Ausmaßes aufzwingen, um sich seinen rechtmäßigen Besitz zurückzuholen. Unsere Herren sehen nur die Bodenschätze von Elsaß und Lothringen; die Reichtümer dieser Gebiete locken sie. Wenn Frankreich sie aber zurückhaben will, sitzen die Herren in ihren gutgeheizten Villen und Stabsquartieren, während wir weiter im Dreck hocken und auch noch begreifen müssen, daß wir hier eine miserable Sache verfechten; denn seit Sedan, Anton, verteidigen wir uns nicht mehr. Wir sind
Eroberer, Anton, begreifst du das, Eroberer, die Beute machen!" Bergemann reibt sich das Kinn. „Verstehe. Ist richtig so. Wir erfahren hier kaum, was zu Hause wirklich los ist. Wie stehen die anderen zu unserer Haltung?" Rüdiger steht auf und reckt sich. ,,Ahnst du's nicht? General Vogel von Falkenstein hat führende Funktionäre verhaften lassen, darunter Bracke, Kühn, Bonhorst, Spier, Gralle, Geib und Jacoby. Den ,Volksstaat' versuchen sie zu erledigen. Das alles beweist, daß wir auf dem richtigen Dampfer sind. Würde uns der Feind loben, hätten wir etwas falsch gemacht." Da kommt Holl zurück. Schon von weitem hören sie ihn schimpfen. „Angebrannt! Verflixt!" Dann steht er vor ihnen. „Da sitzt du dir auf dem Weg durch halb Frankreich den Hintern im Sattel wund und mußt auch noch angebrannte Bohnen schlucken. Und das alles für die Herren!" Er schaut Rüdiger an, kaut und wechselt den Ton. „Ich konnte ja nun nicht zuhören, aber vielleicht sagst du mir mal ganz auf die Schnelle, was die Sozialdemokraten wollen." Der Richtkanonier ist geduldig. In knapper Form zählt er die Grundsätze auf, die der Parteiausschuß der Eisenacher am 3. September 1870 veröffentlicht hat: Anschluß an die nationale Bewegung, soweit und solange sie sich auf die Verteidigung Deutschlands beschränkt; die Notwendigkeit, den Unterschied zwischen den deutschen nationalen Interessen und den dynastisch-preußischen zu betonen; Ablehnung jeder Annexion von Elsaß und Lothringen; Forderung nach einem ehrenvollen Frieden mit Frankreich und die Betonung der einheitlichen Interessen der deutschen und
der französischen Arbeiterklasse, die den Krieg weder gutheißen noch sich weiter bekriegen wollen. Rüdiger sieht sich im Kreise seiner Zuhörer um. „Das ist doch eigentlich klar, eindeutig und folgerichtig." „Aber schwer hier draußen", seufzt Holl. „Du weißt das alles, Ludwig, doch zum Kuckuck: Gerade du stehst an einer Kanone, die sich gegen die patriotischen Franzosen richtet, die jetzt ihr Land gegen uns und die Beutejagd unserer Generale verteidigen. Deine Kanone soll sie an einer verwundbaren Stelle treffen. Was tust du, wenn jetzt so ein Ballon geflogen käme?" „Meine Pflicht, natürlich..." Das Gespräch endet jäh. Abrupt krachen die Festungsgeschütze, hämmern Mitrailleusen, hüllen sich die Forts in Qualm und Rauch. Bei der sächsischen Linieninfanterie gibt es Einschläge. Materialtrümmer fliegen durch die Luft, und der Ruf ,,Sanitäter" gellt hier und dort. „Mahlzeit!" sagt Holl. „Jetzt geht es los! Wahrscheinlich wollen sie uns wieder von Transporten durch die Vororte ablenken. Paßt auf! Gleich nehmen wir an dem Feuerwerk teil." Der Batterietrompeter setzt bereits sein Instrument an die Lippen, und wenig später bebt die Erde beim Donnern der sechs 7,85-cm-Geschütze der dritten Batterie, klirren ausgeworfene glühende Granathülsen aufeinander, reißen keuchende Kanoniere die Verschlüsse auf und schließen sie wieder, rennen atemlos die Munitionsträger, werden neue Richtwerte gebrüllt. Ein Stück hin haben die Pferdehalter alle Mühe, die sich entsetzt bäumenden und fluchtwilligen Tiere am Ausbrechen zu hindern.
Die Batterie ist hart gedrillt worden. Dachsparren, Gebäudeteile und Balken wirbeln durch die Luft, Flammen lodern auf, Qualm steht über dem Zielgebiet. Dagrons Reisetasche ist gepackt, die Spezialkamera sorgsam verschnürt und transportbereit. Auch die vorausgesehene Auseinandersetzung mit seiner Frau liegt hinter ihm. Madame erklärte erwartungsgemäß, sie habe immer gewußt, daß ihm alles wichtiger sei als seine Familie, und sie finde das nun bestätigt - sonst würde er sie nicht schutzlos in der umzingelten Stadt lassen. Was solle aus dem Geschäft werden und wovon solle sie leben? Wie üblich vermochte er sie mit Geld zu beschwichtigen und sich seinen eigenen Weg freizuhalten. Danielle tat ein übriges, indem sie Madame von sich aus versicherte, sie würde das Geschäft weiterführen, und zwar in vollem Umfang, und wenn sie Tag und Nacht arbeiten müßte. Sie tue es gern, denn schließlich sei Monsieur dabei, etwas Großes und Wunderbares zu tun, das wichtiger wäre als egoistische Sorge um das Atelier. Das könnten auch andere betreuen, sie beispielsweise, aber eine breite Brücke über den Belagerungsgürtel zu schlagen und ihm dadurch viel von seiner Wirkung zu nehmen, das vermöge jetzt der Chef... Da hat Madame sie so skeptisch und ein wenig mitleidig angeblickt, wie sie auch ihren Mann betrachtet, wenn der immer mal wieder von einer neuen, ihn begeisternden Idee erzählt. Aber sie gab ihren Widerstand auf und murmelte bloß noch, man werde ja sehen. Rene Patrice Dagron wartet auf den Wagen der Post. Ein bißchen fürchtet er, der werde nicht kommen. Über der Seine braut Morgennebel, der sich zögernd auflöst und den ein leiser Wind kaum vor sich her schieben kann.
Der Tag beginnt grau, lichtlos und trübe. Wer weiß, ob Luftschiffer bei solchem Wetter überhaupt aufsteigen. Danielle Tournier beobachtet den Chef. Er sieht aus, als wolle er ins Gebirge reisen, aber die derben Wanderstiefel, die groben Strickstrümpfe und die wildlederne Kniebundhose, die er heute zum Samtjackett trägt, machen ihn jünger und geben ihm einen Hauch von großem, erregendem Abenteuer. Eines guten und nützlichen Abenteuers, weiß Danielle. Dagron lädt gerade sorgfältig die kleine Tesching-Pistole und schiebt sie in die Seitentasche des bereitliegenden Wettermantels. „Sie sollten sie nicht mitnehmen", sagt das Mädchen. „Wenn der Ballon bei den Deutschen niedergeht und die finden die Waffe... Sie würden für einen Spion gehalten, Monsieur." „Wenn sie mir das Spielzeug abnehmen können!" erwidert Dagron, ohne sich umzudrehen. „Aber vielleicht sind nur einer oder zwei von den Pickelhauben da, falls es der Teufel will, daß wir... Mit ein wenig Glück könnte ich Tours gegebenenfalls doch noch erreichen. Den Apparat vermag ich aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren." Jetzt dreht er sich doch um. „Sollte es schiefgehen: Nicht den Kopf verlieren, Danielle! Sie wissen, wo die Zeichnungen liegen. Geben Sie die dann in die Rue du Louvre. Ausfliegen kann sie auch ein anderer. Es wird unter diesen Umständen leider ein wenig länger dauern. Doch Paris bekommt seine Informationen. Versprechen Sie mir das?" Sie horchen beide zur Balkontür hin, die wieder offen steht. Der Morgen ist still. Einzelne Straßengeräusche klingen deutlich bis zu ihnen unter das Dach. Unten sind
nun Hufschlag und das Rollen von Rädern zu hören. Das Gespann hält an. Ein Schlag wird geöffnet und ins Schloß zurückgeworfen. Die Haustür klappt. Dagron atmet erleichtert auf. Sie kommen, es ist soweit. Keine Zeit mehr für Wenn und Aber. Nun entscheiden sein Handeln und die entschlossene Verwirklichung des zuvor Ersonnenen. „Ich verspreche es", sagt Danielle fest und tritt schnell auf ihn zu. In diesem Augenblick hat er große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder Francois. Beide wissen nachher nicht, wie es kommt, daß sie sich plötzlich in den Armen liegen, daß er ihre Wärme, den Druck ihres Körpers und ihrer Lippen spürt, daß sie erstaunt ist, wie jungenhaft ungestüm ein Mann mit grauem Haar noch küssen kann. Dicht an seinem Ohr flüstert sie: „Es muß alles gut gehen! Ich warte auch auf die Tauben. Er löst sich von ihr und wendet den Kopf, als Schritte laut werden. Jetzt ist er in Gedanken schon unterwegs. „Danke, Danielle", sagt er fröhlich. „Das wird mir Glück bringen. Die Tauben fliegen, sei ganz sicher!" Während dann der Postwagen in schneller Fahrt dem Feld entgegenstrebt, lächelt der Fotograf noch immer. Bald wird er den startbereiten Ballon sehen. Der Beamte, der ihn abgeholt hat, verkürzt die Zeit mit Geschichtenerzählen; er will eventuelles Mißtrauen gegen das harrende Verkehrsmittel beseitigen. Er schildert deshalb breit, wie Monsieur Gambetta, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, Paris wohlbehalten im Ballon verließ und über die Belagerungslinie hinweg nach Tours flog, um von da aus Patrioten für eine Freiwilligenarmee gegen die Invasoren zu werben.
Da die Fahrt mitten durch die Stadt nach der anderen Seite von Paris führt, hat der Beamte Zeit, vom Ballonflug an sich zu erzählen; er kommt ins Schwärmen, wenn er von der Luftschifferei spricht, Alle berühmten Flüge kann er aufzählen, als wäre er dabeigewesen. Die legendäre Alpenüberquerung von Arbau ist ihm geläufig; der Streckenrekord des Amerikaners John Wise, dessen Ballon in zwanzig Stunden und vierzig Minuten Flugzeit l 292 Kilometer zurücklegte, und der erst acht Jahre zurückliegende Höhenflug, der die Briten Coxwell und Gleisher 9000 Meter hoch hinauf trug. Der Mann kennt die in den Staaten aufgekommene Mode, sich in der Gondel eines Fesselballons trauen zu lassen, um dem „siebenten Himmel" näher zu sein, und er weiß von dem vor zehn Jahren gescheiterten Versuch, den Atlantik zu überfliegen. „Es ist ein ewiger Jammer, daß das Experiment abgebrochen wurde", schließt er. „Wer weiß, ob die Luftschiffer nicht schneller gewesen wären als die ,Königinnen der Meere'? Wir hätten eine Ballonflotte gebaut! Wir hätten die Kontinente einander näher gebracht!" Dagron unterbricht ihn nicht. Verständnis hat er für Männer wie diesen, die von einer Idee besessen sind und in ihr aufgehen. Die Welt verdankt ihnen viel, und es ist - daran gemessen - sehr unerheblich, daß sie gewöhnlich auf Skepsis stoßen, daß sie verlacht oder als Narren bemitleidet werden. Wenn ihre Stunde gekommen ist, wiegt sie das auf, wiegt es reichlich auf. Für Dagron hat diese Stunde jetzt begonnen, und seit dem Gespräch im Postbüro, ja auch seit Danielles Kuß drängt sie ihrer Erfüllung entgegen. Der Fotograf geht frohen Herzens auf die abenteuerliche Reise.
Er sieht den Ballon gleich, als sie aussteigen, obwohl er im Nebel nur schemenhaft zu erkennen ist. Die riesige Hülle unter dem großmaschigen Netz, dessen Auslaufleinen den Korb tragen, wirkt bereits prall und rund, doch der Füllschlauch ist noch am Hals befestigt. Der Schlauch führt zu einem mit Stahlflaschen beladenen Wagen, auf dem Postbeamte an Ventilen hantieren. „Sie fliegen mit Wasserstoffgas", erläutert der Beamte sachkundig, der Dagron abgeholt hat. Hier ist er völlig in seinem Element. „Ein Kilogramm Auftrieb je Kubikmeter Raum, Monsieur! Dieser Ballon hat zweitausend Kubikmeter." Er vergißt auch nicht zu berichten, daß der Einsatz der Ballons in den Händen einer auf dem Montmartre stationierten Luftschifferkompanie, der Compagnie de Aérostiers, liegt. Sie bestehe aus Marinesoldaten, die sich in kurzen Lehrgängen zu Luftschiffern qualifiziert hätten. Und daß im Gebäude des Pariser Nordbahnhofs eine Ballonfabrik eingerichtet worden sei, wissen alle Einwohner. Er fährt dann fort: „Wir haben alle Luftschiffer, die in der Stadt leben, ausfindig gemacht und in unsere Dienste genommen. Ihre Ballons verfügen über die durchschnittliche Größe und Abmessung. Wenn es nach uns ginge - wir könnten der Belagerung eine ganze Weile trotzen!" Er lacht plötzlich hell auf, verbeugt sich vor Dagron. „Entschuldigen Sie, Monsieur. Geben Sie müden Apparat! Wir wollen Ihr Gepäck verstauen." Dagron drückt seine Baskenmütze fester in die Stirn, nimmt die Reisetasche auf und folgt seinem Begleiter. Auf diesem Stück Feld innerhalb der Befestigungsanlagen hat die Post für ihren Ballondienst ein wahres Feldlager errichtet. Ganze Reihen von Zelten schälen
sich aus dem lichter werdenden Dunst. Materialwagen sind aufgefahren, und ganz dicht neben dem Korb hält eines der Gespanne, die in der Stadt den Zustelldienst zwischen den einzelnen Postbüros versehen. Es ist gerade erst angekommen; die Pferde sind abgehetzt, und aus ihren Nüstern dampft der Atem. Die üblichen Postsäcke werden abgeladen, zugeschnürt und plombiert, wie es sich gehört. Doch dafür hat Dagron gewissermaßen nur im Vorübergehen Augen. Je näher er dem Ballon kommt, desto mehr fesselt dieser seine ganze Aufmerksamkeit. Nun, da der Fotograf an der Gondel steht, wölbt sich der Ballon über ihm wie die untere Halbkugel eines gewaltigen Globus. Auch der Korb zeigt sich unerwartet groß und geräumig. Mit dem Beladen ist schon begonnen worden. Der fotografische Apparat wird sorgsam verstaut; die Postsäcke kommen an Bord, und auch ein paar Körbe mit Tauben werden gebracht, Körbe mit ziemlich großen, breitbrüstigen und lang-halsigen Vögeln von aufrechter Haltung und unauffälliger blaugrauer Färbung. Lütticher Brieftauben. Unruhig sind sie in ihren Behältnissen und ungebärdig; gerade das gilt ihren Züchtern als ein gutes Zeichen. Nun kommt noch ein Wagen, ein zweirädriges „Hansomcab", bei dem der Kutscher auf einem erhöhten Sitz hinter dem Lederverdeck sitzt und mit seinen beiden Fahrgästen durch eine Luke in der Rückwand sprechen kann. Ein Privatwagen. Er hält direkt neben Dagron. Er hört die beiden Männer vorn streiten. Es geht um den Krieg worum sonst in diesen Tagen? - und darum, ob der preußische König nicht geneigt gewesen wäre, sich mit Napoleon über die Frage einer ausländischen
Thronkandidatur von Hohenzollern zu einigen, hätte nicht Bismarck eingegriffen. Bismarck nämlich kürzte ein zur Veröffentlichung bestimmtes Telegramm aus Ems über die Unterredung des französischen Botschafters Benedetti mit König Wilhelm und dessen Ablehnung einer Zukunftsgarantie so, daß ein völlig neuer Inhalt entstand. König Wilhelm, so war herauszulesen, habe sich schroff und herausfordernd geweigert, Benedetti weiterhin zu empfangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte zwar Prinz Leopold von HohenzollernSigmaringen bereits die Absicht aufgegeben, den Platz der gestürzten spanischen Königin Isabella einzunehmen, und damit war der Streitgegenstand bereits nicht mehr existent. Doch die diplomatische Provokation des Fürsten von Bismarck genügte Napoleon Bonaparte als Vorwand für die Kriegserklärung. „Bloße Ungeschicklichkeit Bismarcks!" behauptet gerade der eine Fahrgast hitzig, ein dekorierter Postbeamter. „Hätte Napoleon die Worte nicht auf die Waage gelegt..." „Es war Absicht, war eiskalt kalkuliert!" widerspricht der andere, ein junger Mann mit kariertem Mantel und Schirmmütze. ,,Es liegt doch auf der Hand, daß es der Fürst nur darauf anlegte, eine Auseinandersetzung mit dem Kaiser herbeizuführen und dessen Einmischung in deutsche Fragen zu beenden. Wahrscheinlich rechnete er auch damit, daß eine Woge nationaler Begeisterung — und die ist eine natürliche Folge der deutschen Siege — die von ihm angestrebte Reichsgründung erleichtert. Im Waffenruhm seiner Leute sieht er eine Voraussetzung für die Verpreußung Deutschlands! Geben Sie acht! Er wird seinen in Wahrheit doch recht schwachen König zu
einem ,Helden des Vaterlands' und zum ,Führer der deutschen Nation' emporloben! Für ihn kommt nur ein Reich unter Führung Preußens in Frage." Dagron findet es müßig, nun, da längst die Waffen sprechen, über die Vorgeschichte des Krieges zu debattieren. Der Fotograf hört nicht mehr hin. Bloß die Pakete wecken seine Neugier, die zu Füßen des Messieurs im ,,Hansomcab" lagen und jetzt von Postbeamten übernommen werden. Zeitungsstapel. „Le ballpn-poste, Journal du siege de Paris". Dieses Blatt, auf Dünndruckpapier hergestellt, wiegt nur drei Gramm. Es ist extra für diesen Zweck gegründet worden, Nachrichten von Lage, Kampfund Tapferkeit der Stadt ins Hinterland zu tragen. Die Neuankömmlinge steigen ab. Der Uniformierte gibt Dagron einen versiegelten Brief. „Ich habe die Ehre, Ihnen dieses Legitimationsschreiben des Herrn Generalpostmeisters zu überbringen. Monsieur Rampont hat es persönlich unterzeichnet, und wenn Sie es in Tours vorlegen, wird es Ihnen jede Tür öffnen. Wir alle wünschen Ihnen von Herzen einen guten Flug." Er deutet auf seinen zivilen Begleiter. „Die Presse, Monsieur... Es wird Paris interessieren..." Der junge Mann hat bereits sein Notizbuch und einen Bleistift in einer Bambushülse in den Händen. .Journal de Paris", sagt er. „Würden Sie mir erklären, wie Ihre Kamera funktioniert und wie Sie auf die Idee kamen, eine Taubenpost...?" Was Zeitungsleute so fragen. Dagron übersteht das Interview. Dabei läßt er die Augen nicht von den Männern am Ballon. Die Postangehörigen und ihre Aufsicht führenden Vorgesetzten mit Umhang und Degen fesseln ihn nicht. Nein, Dagron hat nur noch
Blicke für einen Mann in enggegürtetem Ledermantel und mit schief aufs Ohr gesetzter Baskenmütze, der im Korb steht und so ruhig und gelassen wirkt, als geschehe hier die alltäglichste Sache der Welt. Helle graue Augen hat er und einen energischen Mund. Bei all dem hektischen Treiben ringsum geht von ihm Sicherheit aus. Jetzt lächelt er und hält dem Fotografen helfend die Hand hin. „Sie sind mein Passagier, nicht wahr? Steigen Sie ein! Es geht gleich los!" Der Füllschlauch wird abgenommen. An den Haltetauen, die plötzlich von der Verankerung gelöst sind, hängen Trauben von Männern. Ein letztes Händeschütteln, ein letztes „Glückliche Reise!". Dann befiehlt der Ballonführer laut: „Leinen - los! Ballon - marsch!" Augenblicklich erhebt sich die Kugel und trägt den Korb in die Höhe. Der Ballon steigt ohne Ruck, ohne starke Erschütterung. So fließend ist seine Auf wärtsbewegung, so lautlos und weich, daß nicht er, sondern die Erde sich loszulösen scheint. Es sieht aus, als stehe der Flugkörper ganz still, während Feld und Zeltlager und die nahen Hausdächer schnell und immer schneller in eine bodenlose Tiefe sinken. Ein unvergleichlicher Eindruck! Der Horizont weitet sich rasch. Durch zerflatternde Nebelschleier blickt Dagron auf Paris mit den wie Blei glänzenden Windungen seiner Wasserwege, mit dem verschachtelten Mosaik seiner Dächer, zwischen denen sich die Straßen wie Nerven und Muskelstränge dahinziehen, mit der dunklen, gedrungenen Masse seiner Forts und Festungen, auf der hier und da winzig klein die Trikolore weht, und mit den herausragenden Nadelspitzen der Kirchtürme. Dort sind die stumpfen von Notre-Dame... Das alles - seltsam flach und
unwirklich — verlagert sich seitlich, freies Land dehnt sich unter ihnen, gespickt mit Zeltlagern, Gräben, Schanzkörben, ordentlich aufgefahrenen Wagen... Rote Punkte springen plötzlich auf. Sie blitzen und erlöschen und blitzen neuerlich. „Die Preußen...", sagt der Luftschiff er trocken. „Trotz des Nebels schlafen sie nicht. Aber wir steigen schnell und machen gute Fahrt. Es wäre ein dummer Zufall, wenn sie uns träfen. Ein sehr dummer, parbleu!" Dagron nickt. Die Bemerkung hat seine schöne Stimmung zerrissen und das Wunderbare dieses Augenblicks fragwürdig gemacht. Auch hier oben ist der Krieg nahe, auch hier greift er nach ihnen. Der Fotograf klammert sich beklommen an den Korb und starrt hinab zur Erde mit den so verspielt und unbedeutend anmutenden kleinen Blitzen. Dann sieht er sie nicht mehr. Dichtes, feuchtes, undurchschaubares Grau nimmt ihm die Sicht, und auf einmal ist alles in so gleißende Helligkeit getaucht, daß er geblendet die Augen schließt und sie nur zaghaft wieder öffnet. Zu träumen glaubt er jetzt. Nie hat er einen so leuchtenden, reinen, unendlichen Himmel gesehen, nie so weiße, zerklüftete, majestätische Wolkengebirge, wie sie sich nun zu seinen Füßen ausbreiten. Er verliert, sich an dieses phantastische Bild, ja er hält den Atem an, um seine grenzenlose Stille nicht zu stören. So schön ist das. Der Luftschiffer hantiert mit dem Kompaß. Dann wendet er sich befriedigt seinem Passagier zu und nickt. „Der Wind ist konstant. Wir treiben genau auf Tours zu." Er fährt gleich im selben Ton fort: „Falls Sie das Gefühl eines Druckes auf die Ohren haben - halten Sie sich die Nase zu und versuchen Sie, bei geschlossenem Mund
kräftig auszuatmen. Das hilft! Und nun wollen wir erst einmal frühstücken, Kaffee und Sandwiches habe ich mitgebracht. Schließlich sind wir noch ein paar Stunden unterwegs. Und glauben Sie mir: Nirgendwo kann man so ungestört und gemütlich Kaffee trinken wie auf einer Reise zu zweit im Ballon! Nur die Zigarre hinterher - die müssen wir uns leider verkneifen!" Der Fähnrich hebt das Monokel hoch und klemmt es ins Auge. „Na, nun wein bloß nicht, Mann", sagt er betont jovial zu Richtkanonier Rüdiger. „Ich hätte das Ding auch gern herunterkommen sehen." Er stößt mit der Stiefelspitze gegen die leeren Hülsen neben der heiß gewordenen Ballonabwehrkanone. „Es war bestimmt nicht der letzte, der hoch ging. Wenn der nächste kommt und sich nicht hinter Wolken verkriechen kann, dann wirst du ihn schon kriegen, was? Wäre doch gelacht!" „Jawohl, wäre gelacht", schmettert Rüdiger zuversichtlich und in guter Haltung. „Übung macht den Meister! Gar nicht so leicht, ein fliegendes Ziel zu treffen! Hab' da beim Tontaubenschießen oft genug mein blaues Wunder erlebt", bemerkt der Fähnrich noch und stelzt mildem erhebenden Gefühl weiter, möglicher Mutlosigkeit und Enttäuschung der Truppe wirkungsvoll begegnet zu sein und ihre Kampfkraft erhalten zu haben. Kaum ist er weg, tritt Bergemann zum Richtkanonier. „Genug Löcher habt ihr in die Astronomie geschossen", sagt er leise. „Aber mußtest du so schrecklich weit vorbeihalten! Ein anderer als der hätte das gemerkt, und dann..." Rüdiger ist verlegen. „Beim nächstenmal geht es besser", versichert er, „da knalle ich geschickter daneben. Hast
doch gehört, was der feine Fähnrich so treffend zu betonen geruhte: ,Übung macht den Meister'." Sie lächeln sich an und verstehen sich. Jedenfalls ist der Ballon davongekommen, und das zählt! Zwei Tage darauf, am Spätnachmittag, fällt eine Lütticher Brieftaube in ihren Pariser Schlag ein. Der Zufall wollte es, daß ihr Züchter gerade in der Nähe war. Er sah sie die typische Orientierungskurve fliegen und sich dann niedersenken, und erkannte sie mit der gleichen Sicherheit, mit der Hundebesitzer ihren Hector unter hundert anderen Hunden herausfinden. Minuten später hält der Mann den Federkiel, die „Kuriertasche", in der Hand. Noch ist keine Viertelstunde vergangen, da befindet er sich auf dem Weg zur „Administration des Postes", um die Taubendepesche abzuliefern. Nicht einmal Zeit läßt er sich, seinen Arbeitskittel mit dem Ausgehrock zu vertauschen. Unterwegs vertraut er jedem, der ihm nur zuhören will, glücklich die Neuigkeit an. Niemanden gibt es, der dafür kein Ohr hätte. Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer und ist bewegender und aufregender als das anhaltende Getöse eines neuerlichen Artillerieduells draußen vor der Stadt. Sie ist so wichtig, daß die Zeitungen der SeineMetropole ihre Maschinen anhalten, um diese bedeutsame Meldung noch auf der ersten Seite zu plazieren. Gleichzeitig hetzen Journalisten und Pressezeichner los, die Aufbereitung der ersten Taubenpost mitzuerleben und detailliert zu schildern. Sie treffen vor dem zuständigen Postbüro eine Menge, die immer mehr anschwillt und wartet, neugierig, voller freudiger Erwartung. Schließlich könnte ja eine Depesche gerade für sie, die Harrenden... In der Tat werden schon die
ersten Namen laut aufgerufen, machen sich bereits Depeschenboten auf den Weg. Man klatscht ihnen Beifall. Ein Beamter, Degen und Portepee an der Seite, tritt heraus und teilt mit, Dutzende von Angestellten seien beschäftigt, die einwandfreien Projektionsbilder von achtzehn Mikrokopien abzuschreiben, und die Zustellung erfolge laufend. Trotzdem, die Menge verläuft sich nicht, immer wieder wird jeder Bote, der das Büro verläßt, jubelnd begrüßt. An diesem Tag entstehen in Paris Gedichte über die Ballonfahrten und die Brieftaube. Daß jene Lütticher Taube den Weg von Tours nach Paris in siebeneinhalb Stunden zurücklegte - ein Vermerk auf der „Kuriertasche" nennt Datum und Startzeit -, ist bald in jedermanns Munde. Nie zuvor ist eine ganze Stadt so gründlich und umfassend über Flughöhe, Reisegeschwindigkeit und Navigationsvermögen von Brieftauben im Bilde gewesen wie Paris im Winter 1870/71. Danielle Tournier ist sehr stolz, als sie am Morgen die überschwenglich-begeisterten Presseberichte liest, in denen Monsieur Dagron an hervorragender Stelle lobend erwähnt wird. Sie wird den Kopf ein wenig höher tragen bei der Vorstellung, daß sie ihrem Chef und den Parisern ein klein wenig geholfen hat. Wenige Tage später teilt Danielle dem gefeierten Dagron durch Ballonpost glücklich mit, daß nun die Frau in der Wohnung gegenüber Briefe von ihren Söhnen erhalten hat. Als am 22. Januar 1871 die bourgeoise Provisorische Regierung unter dem Verräter Thiers einen Präliminarfrieden schließt, weil diesen Großbürgern und Reaktionären letztlich das bewaffnete Volk schrecklicher
erscheint als die Aussicht auf die Rückkehr der Monarchie und die Forderungen der preußisch-deutschen Eroberer, da ist auch das Ende der Ballonpost gekommen. In seinem Schlußbericht kann Generalpostmeister Rampont imponierende Zahlen nennen: 65 Ballons sind aufgestiegen, von denen 59 ihr Ziel erreichten. Sie beförderten 2,5 Millionen Briefschaften im Gesamtgewicht von rund 10000 Kilogramm, 91 Personen und 534 Brieftauben. Von den Tauben kamen über 100 zurück. In knapp zwei Monaten brachten 57 dieser Vögel Mikrokopien in die belagerte Stadt. Neben der amtlichen und der Familienpost wurden auf diese Weise auch Geldanweisungen bis zu einem Betrag von 300 Francs befördert. Diese ungewöhnliche Art, Post in die belagerte Stadt zu schaffen, war viel wirkungsvoller als die vielen anderen Beförderungsarten, wie die der Flaschenpost. Versuche, große Zinkbehälter mit etwa 550 Briefen die Seine hinunter nach Paris zu bringen, fielen sehr beunruhigend aus, da der größte Teil dieser „Zinkballons" verlorenging. In Versailles wird Wilhelm I. zum Kaiser des Deutschen Reiches gekrönt. Bismarck schmiedet dieses Reich mit Blut und Eisen zusammen. Doch nicht einmal ein halbes Jahrhundert vergeht, da zettelt dieses Deutsche Reich jenen Zweifrontenkrieg an, den Karl Marx voraussagte und der mit dem „Sturz des Gottesgnadentums" in Deutschland endete.