Fred McMason Flußpiraten 1. »Mistwetter!« stellte der Seewolf fest, doch er grinste dabei, daß man seine schneeweißen Zä...
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Fred McMason Flußpiraten 1. »Mistwetter!« stellte der Seewolf fest, doch er grinste dabei, daß man seine schneeweißen Zähne sah. In seinen zerzausten schwarzen Haaren spielte der Wind, ein ruppiger Westwind, gegen den die ›Isabella‹ hart anknüppelte. Neben Philip Hasard Killigrew, der jetzt wieder das Kommando über die Galeone hatte, stand Ben Brighton auf dem Achterkastell. Breit und wuchtig stand er neben dem Seewolf, und seine Augen verrieten Stolz, Freude und ein euphorisches Gefühl, das die ganze Mannschaft erfaßt hatte. Ja, er war wieder da, wieder gesund, der eisenharte Kerl, der »Sir«, Philip Hasard Killigrew, genannt der Seewolf. Lange genug hatte es ja auch gedauert. Ben Brighton musterte ihn immer wieder aus den Augenwinkeln, als könne er es selbst noch nicht so richtig glauben, daß der Seewolf wieder die ›Isabella‹ befehligte. »Es wird verdammt schwer sein, in die Themse einzulaufen«, sagte Hasard. Ein Brecher gischtete am Bug hoch und zerstob zu einem feinen Schleier, der die Männer überschüttete. Der Seewolf leckte sich das Salzwasser von den Lippen. »Es wird nahezu unmöglich sein, Hasard. Wir haben starken Ebbstrom und dazu steifen Westwind. Wir müßten kreuzen!« Der Wind riß Brighton die Worte von den Lippen und wehte sie fort. Hasard hatte trotzdem verstanden. »Was schlägst du vor, Ben? Du bist hier geboren!« »Ja, ich bin hier geboren und aufgewachsen, bis ich mit vierzehn Jahren auf einem Kauffahrer anheuerte.
Aber durch meine Alten auf dem Fischerboot habe ich die Themsemündung wie meine Hosentasche kennengelernt«, erwiderte Ben nachdenklich. »Weiß Gott, der Alte hat nicht eher Ruhe gegeben, bis ich jeden Fleck kannte, jede Untiefe, jede kleine Insel. Später ist er dann auf See geblieben - ich hatte ihn verdammt gern.« Ben schüttelte die Erinnerung ab wie das gischtende Salzwasser, das immer wieder über das Vorschiff donnerte. »Wenn du mich frägst, ich würde empfehlen, daß wir Sheerness anlaufen, uns an die Town Pier legen und so lange warten, bis entweder der Wind dreht oder das Wasser aufläuft. Die beiden anderen müssen auch ziemlich knüppeln.« Sein Daumen wies über das Achterkastell. Hinter ihnen liefen die ›War Song‹ und die Schaluppe, die Ed Carberry befehligte, im Verband mit der ›Isabella‹. Die Kriegskaravelle ›War Song‹ kam besser voran, die Schaluppe war etwas langsamer. Hasard nickte unmerklich. »Gut. Steuern wir Sheerness an und warten dort ab. Laß es an die beiden Schiffe weitergeben!« »Aye, aye, Sir«, sagte Ben und biß sich auf die Zunge, wegen des »Sir«, der selbst ihm so herausgerutscht war. Hasards Reaktion folgte auch prompt. »Fang jetzt bloß nicht auch an zu spinnen, alter Freund. Ihr tut ja gerade so, als wäre ich vom Himmel gefallen. Was war denn schon los? Ein bißchen Kopfschmerzen, ein paar Stunden im Bett. Und jetzt geht’s wieder weiter. Hast du verstanden Sir?« »Aye, aye. Ich verstehe nur nicht, wie man davon Kopfschmerzen kriegen kann, nur weil einem eine kleine Rah an den Schädel fliegt.« Ben grinste breit. Hasard grinste genauso zurück. Die beiden Männer verstanden sich prächtig. Ben Brighton ließ der ›War Song‹ Hasards Befehl übermitteln. Von dort wurde er weiter zu Carberry signalisiert. Das »Verstanden« kam augenblicklich
von beiden Schiffen zurück, indem Carberry und der Bootsmann Sullivan den rechten Arm hoben. Langsam lief der Verband weiter, während der Wind noch an Heftigkeit zunahm. Die Town Pier geriet in Sicht - nebelhafte Landkonturen in einem diesigen Wetter. Trostlos und öde sah die Insel aus, ungemütlich. Hasard ließ anluven, die Fahrt der ›Isabella‹ nahm ab. Langsam rauschte die ›War Song‹ vorbei. Carberrys Schaluppe stand jetzt fast vier Kabellängen achteraus. Arwenack, der Schimpansenjunge, schlich aus dem Niedergang, sah sich nach allen Seiten um, schüttelte den Kopf, zog ihn zwischen die Schultern und verschwand wieder. »Für Affen ist das ein geradezu lausiges Wetter«, sagte Ben lachend. »Der Bursche fühlt sich an Deck überhaupt nicht mehr wohl, seit wir den steifen Westwind haben.« Hasard nickte. Er sah zur ›War Song‹ hinüber, die gerade mit dem Anlegemanöver begann. »Sobald sie vertaut hat, gehen wir bei ihr längsseits, Ben, wie besprochen. Laß alles klarmachen!« Hasards Taktik war ganz einfach. Er wollte die mit unermeßlichen Schätzen beladene ›Isabella‹ nicht direkt an die Pier legen. Die ›Isabella‹ sollte die Mittelposition behalten, von der Pier her gedeckt durch die ›War Song‹, von außen her durch die Schaluppe. Wer also auf die Galeone wollte, mußte von Land her erst über die Kriegskaravelle. Sollte es jemandem einfallen, sie von der Seeseite anzusteuern, so führte kein Weg an der Schaluppe vorbei. Das war weiter nichts als angebrachtes und gesundes Mißtrauen, denn immer wieder hatte man versucht, die Galeone ihrer Schätze zu berauben, und immer wieder hatten die Männer sie vor fremden Zugriffen schützen müssen. Daran hatte sich von der Karibik bis in die Themsemündung nichts geändert.
Jetzt war die Karavelle an der Pier fest vertäut. Fender wurden außenbords gebracht, damit die ›Isabella‹ sanft anlegen konnte. An Deck erschollen die letzten Kommandos. Tampen flogen zur ›War Song‹ hinüber, kräftige Fäuste packten zu und belegten die Leinen an den Schiffspoilern. Ein letztes Schwojen des Hecks, dann lag auch die Galeone still. Ihr Bug wies zum Medway, genau wie bei der Karavelle. Jetzt standen die Männer an Deck bereit, um die heransegelnde Schaluppe wahrzunehmen. Auch das Manöver lief reibungslos ab. Carberry legte die Schaluppe an die Bordwand der ›Isabella‹, fast Vierkant, ein Manöver, wie es vorbildlicher nicht sein konnte. »Na, haben wir die alte Tante nicht prächtig eingerahmt?« erscholl Carberrys dröhnendes Organ. Mit einem Satz flankte er zur Galeone hinüber. Er nickte zufrieden vor sich hin, als Hasard ihm lächelnd recht gab. Die ›Isabella‹ lag wirklich wie in Abrahams Schoß, zwar nicht so windgeschützt, aber vor den gierigen Zugriffen gewisser Halunken doch recht sicher. Später, wenn der Wind etwas abgeflaut war, würden sie weitersegeln. Vorerst war an ein Einlaufen in die Themse unter diesen Umständen nicht zu denken. * Wenn einer das Mißtrauen für sich gepachtet hatte, dann war es der Kommandant der Insel Sheppy, Hauptmann Nicholas Taunton. Der Verband war ihm von der Küstenwache gemeldet worden. Taunton stand am Fenster und glotzte sich die Augen aus dem roten Nußknackergesicht. Immer wieder setzte er das Spektiv ab. Vom angestrengten Starren war sein rechtes Auge rot angelaufen. Vor dem Spektiv bildeten sich kreisrunde Flecken.
Wütend setzte er es wieder ab und rieb sein rechtes Auge. In der Kommandantur befanden sich außer Taunton noch zwei weitere Männer, Taylor und Sanderberg, die beide zur Küstenwacht gehörten. »Was soll denn das Manöver bedeuten?« schimpfte er. »Eine Karavelle, eine spanische Galeone und eine Schaluppe. Weshalb segelt die Karavelle an der Galeone vorbei, he?« »Sie werden vermutlich an der Pier anlegen«, erwiderte Taylor. »Ich hab selbst Augen im Kopf, Mann. Na klar wollen die anlegen, aber warum so umständlich? Mit der Galeone stimmt doch etwas nicht.« Das fremdartige Schiff erregte sofort Tauntons Mißtrauen. Seine Lippen kniffen sich zusammen, er schüttelte den kantigen Kopf. Sanderberg war neben den Hauptmann getreten. Auch er blickte angestrengt durch die Scheiben in das diesige Wetter. Die Manöver spielten sich ein paar hundert Yards links von ihnen ab. »Aber die Galeone fährt unter englischer Flagge, Sir.« »Ach nein! Was Sie nicht alles bemerken! Na und! Hat das vielleicht etwas zu bedeuten? Eine Flagge kann man wechseln wie ein Hemd. Was ist, wenn sich im Rumpf des Spaniers eine Meute Soldaten verbirgt? Ein spanisches Landekommando, he? Ruckzuck sind die in London, überfallen die Stadt, plündern, brandschatzen! Ihr seid vielleicht ein paar mickerige Denker! Auf solch eine Idee würde von euch niemand verfallen.« »Natürlich, Sir, das ist alles möglich«, beruhigte Sanderberg den aufgebrachten Kommandanten. »Sie haben ja völlig recht, Sir!« »Das will ich meinen ... jetzt macht die Galeone an der Karavelle fest«, unterbrach er sich und starrte wieder durch das Spektiv, um Einzelheiten erkennen zu können. »Verdammt, vielleicht stecken die verdammten Iren dahinter. Ausgerechnet
die Galeone verstecken sie in der Mitte zwischen den anderen Schiffen.« Er hieb mit der Faust wütend in die offene Handfläche. Vor seinem geistigen Auge tauchten sofort die schrecklichsten Bilder auf. Dort, im fetten Bauch der Galeone, verbargen sich mehr als hundert rachedürstende Spanier, die nur darauf lauerten, über London herfallen zu können. Nachts würde sich dieser unheimliche Frachtraum öffnen und die Heerschar der Spanier freigeben. Wie die Wilden würden sie in der Stadt und unter den Einwohnern wüten. Eine Falle, eine verdammte Falle! dachte er. Und das hier, vor seinen Augen! Ganz so unrecht hatte Taunton mit seinem Mißtrauen nicht. Seit die Iren mit den Spaniern kooperierten, mußte man immer vom Schlimmsten ausgehen. Viele hatten sich mit den verhaßten Spaniolos verbündet und verbrüdert und unternahmen in schönster Gemeinsamkeit irisch-spanische Landeoperationen. Deshalb war den englischen Küstenwachen das Mißtrauen ans Herz gewachsen. Sie befürchteten, daß sie ganz überraschend von den Spaniern überfallen würden, ohne viel Gegenwehr leisten zu können. Taylor und Sanderberg hüteten sich, ihrem Kommandanten zu widersprechen. Wenn er am Ende recht hatte ... Nicht auszudenken! »Was schlagen Sie vor, Sir?« fragte Taylor. »Da gibt’s nichts vorzuschlagen, zum Donnerwetter. Kommandieren Sie ein paar Seesoldaten ab, sofort. Mindestens zehn bis fünfzehn Leute. Dann werden wir uns diesen verteufelten Kasten von allen Seiten genauer ansehen. Hauptsächlich von innen. Mich interessieren die Frachträume, die geheimen Verstecke. Oh, ich kenne doch diese verfluchten Spanier: Aber nicht mit mir, nicht mit mir! Da müssen die Kerle sich schon etwas anderes einfallen lassen.« So redete er sich immer mehr in Zorn. Auf seiner Stirn
schwoll eine Ader an, so dick wie ein kleiner Finger. Als Taylor verschwand, um die Order weiterzugeben, ließ Taunton sich die Listen zeigen, welche Kampfeinheiten der englischen Marine für die Küstenverteidigung zur Verfügung standen. Diese Listen wurden den Hafenkommandanten und den Kommandeuren aller Befestigungsanlagen periodisch zugeschickt. Gleichzeitig informierten sie darüber, wo die Kampfeinheiten im Kustenvorfeld ihre Aufklärerdienste versahen. Taunton ging die Liste durch. Viel Aussichton, hier Raum zu gewinnen, hatten die Spanier nicht. Der Kordon war ziemlich eng. Er stutzte, während er weiterlas. Da war ein Schiff als vermißt gemeldet worden. Am 10. Februar 1580 hatte es den Hafen Plymouth unter reichlich merkwürdigen Umständen verlassen und war seitdem nicht wieder aufgetaucht. Und der Kapitän war auch zurückgeblieben. Es handelte sich um die englische Kriegskaravelle ›War Song‹. Noch dachte sich Taunton nicht viel dabei. Ihn interessierte nur der Spanier, und der interessierte ihn so stark, daß er immer erregter wurde. »Wo, zum Teufel, bleibt Taylor mit den Leuten?« brüllte er Sanderberg an. »Ist das so schwierig, ein paar Soldaten aufzutreiben?« »Er wird sicher gleich erscheinen, Sir. Sehen Sie, jetzt läßt sich plötzlich kein Mensch mehr auf den Schiffen blicken.« Sanderberg wies aus dem Fenster. Taunton folgte der Richtung und nickte grimmig. »Klar, die hecken etwas aus! Sieht doch ein Blinder. Na, wenn da auch nur ein einziger Spanier an Bord ist, der baumelt eine halbe Stunde später an der Rahnock. Ich werde ihn persönlich aufknüpfen, und es wird mir ein Vergnügen sein.« Das glaubte Sanderberg vorbehaltlos. Taunton war ein sturer
Kerl, ein vernagelter Eisenfresser und Rammbock. Er setzte seinen Willen immer durch, egal ob er recht hatte oder nicht. Entschuldigen konnte man sich später immer noch, war sein Motto, nach dem er lebte und handelte. Die Tür wurde geöffnet. Im Rahmen stand Taylor. Sein Gesicht war hart und gespannt. »Taylor mit zwölf Seesoldaten zur Stelle, Sir!« »Wird auch verdammt Zeit, Taylor. Los, die Kolonne marsch, ich gehe voran!« Er knöpfte seine Jacke zu. Sein Gesicht war so grimmig, als wollte er die Galeone gleich persönlich mit seinen Händen auseinanderreißen. Draußen heulte ihnen der Westwind um die Ohren. Die Luft legte sich wie ein Schwamm auf die Lungen, man konnte sie stückweise einatmen. Die Sicht war schlecht und wurde immer schlechter. Entschlossen marschierte er seiner Gruppe voran, ein harter, rotgesichtiger Kerl mit mächtigen Kiefern, die unaufhörlich aufeinander mahlten. Seine Hände hatte er zu Fäusten geballt, von seiner eigenen furchteinflößenden Persönlichkeit restlos überzeugt, marschierte er so schnell, daß ihm der Trupp fast im Laufschritt folgte. In diesem Augenblick erschien Sullivan, der die Karavelle befehligte, gerade mit zwei Männern an Deck. Verblüfft blieb er stehen, als er die grimmige Horde sah. »Was rückt denn da für ein Monstrum an?« fragte er. »Scheint der Nußknacker von Sheppy zu sein«, sagte jemand und lachte. Die Kolonne stoppte auf einen barschen Zuruf Tauntons vor der Karavelle. Taunton selbst schob sith in Positur. Brust raus, so weit es ging, das Gesicht grimmig verzogen, mit streng blickenden Augen, die Sullivan drohend musterten. »He, Sie!« brüllte er. »Platz da, ich bin der Kommandant von Sheppy. Ich muß das Schiff da durchsuchen!«
Sein abstehender Daumen wies auf die ›Isabella‹ an deren Rumpf das Wasser leise gurgelnd vorbeischoß. Noch bevor Sullivan antworten konnte, hatte Taunton sich einen Schritt nach links bewegt. Seine Kinnlade fiel herunter, seine Augen wurden groß und rund und gleichzeitig wechselte er die Gesichtsfarbe. Was er sah, versetzte ihm fast einen Schlag. Er mußte zweimal schlucken, bis er es endlich begriff. »Hölle und Teufel!« keuchte er. »Das - das ist ja die ›War Song‹, das vermißte Kriegsschiff! Eben habe ich doch noch in der verdammten Liste nachgesehen. Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt begreife ich ...« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn, daß es nur so klatschte. Zwölf Soldaten sahen ihn fassungslos an. »So haben die Brüder sich das gedacht.« Seine Stimme sank zu einem heiseren Flüstern ab, vor Erregung konnte er kaum sprechen. »Kapern mit der größten Unverfrorenheit die Karavelle, ein Schiff Ihrer Majestät der Königin von England. Und jetzt wollen sie die Themse hochlaufen und London kassieren.« Er stemmte beide Arme in die Seiten und beugte sich lauernd vor. Sullivan grinste. Er verstand nicht ganz, was dieser Nußknacker eigentlich wollte. Nur, daß er Zutritt zu der ›Isabella‹ verlangte. Verblüfft hörte er die Worte, die der Kommandant in höchster Erregung vor sich hinsprach. Sein Schädel war zu einem roten Ball angeschwollen. »Klar wollen wir nach London«, erwiderte Sullivan ruhig. »Sonst wären wir ja nicht hier.« Taunton schien ihn gar nicht zu hören. Er stand, so meinte er, vor der größten Unverfrorenheit, der er jemals begegnet war. Und diese Kerle blieben dabei auch noch gelassen. Da sollte doch gleich der Teufel persönlich dreinfahren! »Und ich wette, in ihren Laderäumen stecken ein paar hundert gottverdammte Spanier«, murmelte er vor sich hin.
Jetzt war ihm restlos alles klar. Diese Burschen wollten sich im Schutz der gekaperten Karavelle die Themse hochschleichen. Da hatte es in der Geschichte doch schon mal ein ähnliches Beispiel gegeben. Die Sache mit dem Holzpferd, dessen Bauch voller Feinde war, und die nachts herausgekrochen waren, um die Stadt zu überfallen. So eine Kriegslist sah er hier vor sich. Mit seinen eigenen Augen! Nur gut, daß er hier Kommandant war, ein scharfblickender Mann mit einem logischen und präzise arbeitenden Verstand, der sofort alles durchschaute, dem nichts entging, nicht einmal diese heimlichen Schleicher, die im Begriff standen, eine ganze Insel zu erobern. Nicht auszudenken, wenn ein anderer Kommandant gewesen wäre, Sanderberg, zum Beispiel, oder Taylor. Im Geist sah er sich nach dieser Heldentat schon als Hauptmann in der Königlichen Garde. Daher schwoll sein Kamm noch mehr. »Haben Sie nicht gehört, verdammt?« brüllte er den verdutzten Sullivan an. Dem schlich zuerst ein Grinsen über das Gesicht, aber an den Mienen der anderen sah er, daß es gleich bitterernst werden würde, wenn dieser Querkopf stur blieb. »Was soll ich gehört haben?« fragte er zurück, um etwas Zeit zu gewinnen. Es sah ganz danach aus, als würden die zwölf Soldaten sich mit aller Entschlossenheit auf das Schiff stürzen. »Ich will die verdammte Galeone durchsuchen!« Diesmal brüllte Taunton, so laut er nur konnte. Die Röte verschwand aus seinem Nußknackergesicht und wich einer fahlen Blässe. Er stürmte ein paar Schritte vor, aber Sullivans bescheidene Frage stoppte ihn völlig abrupt. »Warum?« fragte er. Taunton starrte den Bootsmann ob dieser einfältigen Frage fassungslos an. Er sah nicht, wie überall an Deck Männer auftauchten, auf der Galeone, auf der Schaluppe und auch auf
der ›War Song‹, die das Geschrei nach oben gelockt hatte. Er verzichtete auf weitere Antworten. Hinter sich hatte er zwölf bewaffnete Seesoldaten - gegen die war kein Kraut gewachsen. »Mir nach!« brüllte er. Mit der Hand gab er ein Zeichen, woraufhin sich der Trupp in Bewegung setzte. Taunton selbst sprang mit einem mächtigen Satz an Bord der Karavelle. Und dann wollte er loslegen. 2. Der Seewolf blickte hoch, genau in Brightons Augen, der den Kopf lauschend nach oben gereckt hatte. »Was ist denn das für ein Gebrüll an Deck?« Bis in Hasards Kammer war das Geschrei und Gezeter zu hören. Hasard stand auf und ging nach oben aufs Achterkastell. Brighton folgte ihm auf dem Fuß. An Deck der Schaluppe stand Ed Carberry, der narbengesichtige Profos, den das Gebrüll ebenfalls in Neugier versetzt hatte. Der Seewolf sah zwölf aufgeputzte Soldaten und ihnen voran einen grobschlächtigen Burschen, der sich aufplusterte wie ein Hahn bei der Balz und immer wieder drohende Gebärden mit beiden Händen vollführte. Er brüllte mit Sullivan, der dem großen Kerl gelassen gegenübertrat. Hasard und Ben hörten dem Palaver eine Weile zu. »Verstehst du, was er will?« fragte der Seewolf. »Ich höre immer nur durchsuchen, Spanier versteckt, London stürmen. Spinnt dieser Büffel?« »Scheint so. Der meint wohl uns, was? Einer von diesen sturen Böcken, die sich immer wieder neu bestätigen müssen, was für Kerle sie sind.« An Deck stand wie zufällig Ferris Tucker, der dem Geschrei
mit schmalen Augen folgte. Er hatte sich auf den Stiel seiner riesigen, mörderischen Axt gestützt, halb gebückt stand er da. Als aus dem anfänglichen Geplänkel ein handfester Krach wurde, krauste sich Hasards Stirn leicht zusammen. Die, die ihn kannten, wären ihm jetzt sicher aus dem Weg gegangen, zumal auch gleichzeitig sein Gesicht noch kantiger wurde. Und dann sah er, wie der Nußknacker sprang, einen Fluch auf den Lippen und ein Kommando, das seine zwölf Soldaten in Trab setzte. Da hielt den Seewolf nichts mehr. Mit einem Satz flankte er über die Schmuckbalustrade zur Kuhl hinunter, zwei schnelle Schritte brachten ihn an die Reling und mit einem weiteren Satz sprang er auf die ›War Song‹ hinüber. Er stieß fast mit dem wie ein Büffel vorstürmenden Mann zusammen, der mit grimmiger Entschlossenheit seinen Weg zur Galeone fortzusetzen gedachte. Wenn er einmal lief, dann hielt ihn nichts mehr, dachte er. Nichts und niemand. Urplötzlich wuchs vor Taunton ein verwegen aussehender, sonnengebräunter Mann auf. Sein schwarzes Haar war vom Wind zerzaust, zwei eisblaue Augen blickten gefährlich. Die ganze Gestalt war über sechs Fuß groß, schmalhüftig und breitschultrig, und von ihr strömte etwas aus, das Taunton an ferne Länder, blaue Meere, wilde Piraten und unglaubliche Härte erinnerte. Da kam er sich als Kommandant von Sheppy geradezu erbärmlich vor. »Halt!« donnerte ihn eine Stimme an. »Keinen Schritt weiter, Mann! Bleiben Sie stehen!« Taunton, dem so leicht nichts Furcht einflößen konnte, blieb tatsächlich stehen, als sei er gegen einen Felsen geprallt. Sein Gesicht hatte sich zu einer Grimasse der Wut verzogen. »Aus dem Weg!« brüllte er lautstark zurück. »Wer mich aufhält, der wird ...«
Er stockte, denn die eisblauen Augen blitzten so höllisch gefährlich, wie er es noch nie bei einem Mann gesehen hatte. Da stand ein Klotz entschlossener Härte vor ihm, der keinen Schritt zurückweichen würde. Und dann diese Stimme! Sie donnerte jetzt nicht mehr, sondern sprach mit einer beherrschten, fast übernatürlich ruhigen Lage. »Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?« fragte Hasard sanft. Vor ihm an der Pier, waren die zwölf Seesoldaten ebenfalls stehengeblieben. Verschlossene Gesichter starrten die drei Schiffe an. Die Männer schienen wie erstarrt, niemand rührte sich. Taunton schnappte nach Luft. Er mußte ein paarmal zum Sprechen ansetzen, so erregt war er. »Ich bin der Kommandant dieser Insel, Hauptmann Taunton«, schnappte er. »Und ich verlange im Namen ...« Hasard unterbrach ihn. Die umstehenden Männer verkniffen sich nur mühsam das Grinsen, als sie sahen, wie der Koloß plötzlich klein und häßlich wurde, obwohl er immer noch versuchte, sich aufzupumpen. Gegen Hasards starke Persönlichkeit kam er nicht an. Da schrumpfte er zusammen wie ein Eisblock an der Sonne. Der Seewolf war eindeutiger Beherrscher der Szene, obwohl er noch nicht viel gesagt hatte. »Sie haben überhaupt nichts zu verlangen, Hauptmann. Sie haben Ihre Kompetenzen schon bei weitem überschritten, als Sie sich gewaltsam Zugang zu den Schiffen Ihrer Majestät, der Königin von England, verschafft haben! Das könnte ein böses Nachspiel für Sie haben, mein Herr!« »Ich - wieso - diese Galeone da, sie ist ...« Der entsetzte Hauptmann blickte aus den Augenwinkeln nach links. Da stand ein riesenhafter Bursche, einer mit einem Rammkinn und vielen Narben im Gesicht, mit Fäusten wie Ankerklüsen, und der sagte gerade etwas, zu einem anderen, das dem Hauptmann fast die Stiefel auszog vor
Respektlosigkeit. Carberry sagte nämlich zu Blacky: »Man sollte diesem rotgesichtigen Wichtigtuer mit seinem saublöden Nußknackergesicht die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch abziehen, und das so lange, bis er endlich gelernt hat, wie man sich auf königlichen Schiffen benimmt.« Hasards Stimme riß ihn aus seinem Entsetzen. »Was ist mit dieser Galeone, mein Herr?« Tauntons Gesicht wurde schlaff. Der Affenarsch ging ihm nach und fraß sich in seiner Seele fest. Der rotgesichtige Wichtigtuer nahm ihm die Luft, und das blöde Nußknackergesicht veranlaßte ihn zu einem heiseren Gurgeln. »Spanier«, ächzte er. »Die planen ...« Wieder brach er hilflos ab. Verdammt, was war denn nur mit ihm los? Er kannte sich selbst nicht wieder. Er, der immer die Befehle gab, er, der große Durchblicker und Logiker erlitt hier eine derart schmähliche Niederlage und wurde zum Würstchen degradiert, daß es ihn selber grauste. Er riß sich zusammen und versuchte, etwas von seiner angeknacksten Autorität wieder aufzubauen. »Wer sind Sie überhaupt?« fragte er den Seewolf. Jetzt hatte seine Stimme etwas an Festigkeit gewonnen, aber dieser grobe Kerl an der Reling raubte ihm fast noch den letzten Nerv. Der unterhielt sich so ungeniert und respektlos mit dem anderen, wie Taunton es noch nie gehört hatte. Etwas von zwölf verdammten Rübenschweinen vernahm er, und daß man diese verlausten Kakerlaken einfach zerquetschen würde, sobald sie das Schiff zu stürmen versuchten. Irritiert blickte er den Seewolf an, der sich mit einer ironischen Verbeugung vorstellte. »Mein Name ist Philip Hasard Killigrew, Hauptmann. Sohn des General-Kapitäns von Cornwall, Sir John Killigrew, falls Ihnen der Name etwas sagt.«
Der Name sagte Taunton eine ganze Menge. Wer, an der englischen Küste, kannte nicht Sir John Killigrew? Er wollte etwas entgegnen, doch der Seewolf sprach schon weiter. »Im übrigen bin ich der Kapitän dieser spanischen Galeone, der ›Isabella‹, einer Prise, die ich als Teilnehmer an der großen Fahrt Kapitän Drakes aus der Neuen Welt nach England gesegelt habe. Den Namen Francis Drake haben Sie sicherlich doch auch schon gehört?« Der Hauptmann nickte erblassend. Da flogen ihm Namen um die abstehenden Ohren, daß ihm die Hosen flatterten. »Na sehen Sie«, sagte Hasard etwas ironisch. »Und diese Prise, einschließlich ihrer Ladung, werden wir die Themse hinaufsegeln, um sie Ihrer Majestät zu überbringen. Ihrer Majestät, der Königin von England: Wenn ich ihr nun berichte, daß uns der Kommandant von Sheppy Schwierigkeiten bereitet hat, dann ...« Von links ertönte wieder das verdammte Organ des großen Kerls, der ihn mit seiner Unterhaltung an den Rand eines Nervenzusammenbruchs brachte. »... wird unsere gute Lissy diesem Rübenschwein die Hosen runter lassen, um seinen Affenarsch zu kalfatern«, bemerkte der Große zu dem anderen Kerl - und alle beide grinsten ausgesprochen dreckig. Hasard tat so, als habe er die Worte nicht gehört. Er bemerkte, daß Tauntons Nerven flatterten und der Mann immer nervöser wurde. »Na, nichts für ungut, Hauptmann«, sagte er, »jeder kann sich mal irren. Jetzt sind Sie informiert. Und wenn Sie immer noch daran denken, uns ernsthafte Schwierigkeiten zu bereiten, dann müssen Sie mit noch größeren Schwierigkeiten rechnen.« Schon wieder tönte das Organ dazwischen. Es war nicht sehr laut, eben so, wie sich zwei Männer etwas abseits von den anderen unterhalten. Taunton mußte es mit anhören, ob er wollte oder nicht.
»... wäre es für ihn am gesündesten, wenn er seine zwölf abgewrackten Vogelscheuchen wieder einpackt und verschwindet. Wenn ich da an Ferris Axt denke - der haut diese Hurensöhne doch ganz allein in Stücke, ohne daß ihm jemand helfen muß.« Taunton brachte es nicht übers Herz, sich jetzt einfach zu verbeugen und zu verschwinden. Das ging gegen seine Natur. »Was darf ich unter noch größeren Schwierigkeiten verstehen, Sir?« fragte er lauernd. »Nun«, erklärte der Seewolf in aller Ruhe, »wenn Sie immer noch darauf bestehen, wird es hier in Kürze bald ein paar Tote geben, größtenteils auf Ihrer Seite, Hauptmann!« »Das ist nicht Ihr Ernst, Sir!« »Das ist sogar mein voller Ernst - Sir!« »Dreizehn Stück genau«, zählte Carberry neben ihm auf, »nämlich zwölf Seesoldaten und einen Hampelhauptmann. Der genießt dann einen einmaligen Ausblick, oben von der Rahnock, und er kann ganz England die Zunge rausstrecken.« Taunton prallte entsetzt zurück. Dieser schwarzhaarige Teufel redete nicht einfach so dahin, der meinte genau das, was er sagte. Und er sah auch ganz so aus, als würde er das schnell und konsequent durchführen. Sprachlos blickte der Hauptmann sich um. Auf allen drei Schiffen standen sie. Hartgesichtige, wild und verwegen aussehende Kerle, mit Narben in den Gesichtern, muskelbepackte Kämpfer, Gesichter, die grinsten wie die Höllenhunde persönlich. Die lauerten nur darauf, ganz Sheerness in Klumpen hauen zu können. Er schluckte. Von seinen zwölf Seesoldaten würde nichts mehr übrigbleiben. Sein Blick wanderte verstört weiter. Da stand ein grinsender Schwarzer, ein Kerl wie ein Baum, dann dieser grobschlächtige Bursche mit seiner nervtötenden Unterhaltung, nicht weit von ihm ein Bursche, der statt einer Hand nur einen Stahlhaken hatte, mit dem er sich lässig und bedeutungsvoll an der Kehle
kratzte, und dann dieser Klotz von einem Mann mit der Axt und seinen brandroten Haaren, der ihn an einen Scharfrichter erinnerte. Und der Schlimmste von allen schien der Killigrew zu sein, der Teufel persönlich hatte den Kerl gezeugt und die Hölle hatte ihn an einem lausigen Tag bei Blitz, Donner und Schwefel ausgespien. Nein, hier war für ihn nichts zu gewinnen. Seine zwölf Leute würden noch nicht einmal über das Schanzkleid kommen, da würden ihnen schon die Köpfe fehlen. Das Schlimmste war: Dieser schwarzhaarige Satan hatte recht. Das Recht war auf seiner Seite. Wenn er eine Prise zur Königin bringen wollte ... Krause Gedanken gingen durch seinen Schädel, während er wie ein Bild des Jammers vor der imponierenden Gestalt des Seewolfes stand. Aber halt! Da fiel ihm etwas ein! Die Burschen spielten sich hier zwar mächtig auf, aber sprachen sie die Wahrheit? War das nicht alles nur eine simple Schutzbehauptung? Wer sich verteidigt, klagt sich an, sagte sich der Hauptmann. Seine Gestalt straffte sich etwas. Die Kerle wollten ihm etwas vortäuschen. Wenn wirklich Spanier an Bord der Galeone waren und er das nicht feststellte, mußte es früher oder später ein Blutbad geben, und er, Taunton, wäre dann der Dumme. Er konnte ganz England einen unschätzbaren Dienst erweisen, wenn er handelte. Steif und förmlich verbeugte er sich. »Sie müssen mich verstehen, Sir - äh - Killigrew. Natürlich will ich Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, aber auch ich handele nur im Auftrag Ihrer Majestät der Königin. Ich bin es meinem Posten als Kommandant schuldig, mich - äh - zu überzeugen, weil ich - äh - zu der Vermutung gelangt bin, an Bord Ihrer Galeone könnten sich Spanier versteckt halten.« »Sie spinnen ja«, erwiderte Hasard gemütlich. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt und versperrte dem
Hauptmann immer noch den Weg, obwohl der gar nicht mehr daran dachte, mit Gewalt weiter vorzudringen. »Sir!« Tauntons Stimme klang leicht gekränkt und verzweifelt. »Hier an den englischen Küsten ist der Teufel los. Die Iren kooperieren mit den Spaniern und zusammen überfallen sie Städte und ganze Landstriche. Wenn Sie mir also beweisen könnten, daß Sie wirklich aus der Neuen Welt kommen und keine Spanier ...« Weiter gelangte Taunton nicht, der sich ohnehin ständig beim Sprechen verhaspelte, denn die grinsenden Kerle um ihn herum irritierten ihn immer mehr. Die schienen ihn für einen kompletten Idioten zu halten. Hoch über ihm flitzte etwas in den Wanten herum. Ein dunkler Gegenstand, so groß wie Carberrys Faust, knallte dicht vor dem zurückweichenden Hauptmann aufs Deck und zerplatzte in zwei Teile. Milchige Brühe spritzte umher, die beiden Hälften der Kokosnuß rollten Taunton vor den Beinen hin und her. Waren seine Nerven vorhin schon am Flattern, so überfiel ihn jetzt das blanke Entsetzen, als sein Blick in den Großmars fiel. Da turnte ein kleiner behaarter Kerl herum, hüpfte auf die Rah, sprang mit einem weiten Satz in die Webleinen der Wanten und von dort wieder auf eine andere Rah. Und dabei gab er unentwegt merkwürdige, keckernde Laute von sich, verzog sein haariges Gesicht zu einer schrecklichen Fratze, kratzte sich blitzschnell am Bauch und hangelte noch weiter nach unten. Taunton wich zurück. So stellte er sich immer die kleinen Teufel vor, die die Menschen piesackten. Ein leiser Schrei brach über seine Lippen, als Arwenack auf Deck sprang, auf zwei Beinen direkt auf den Hauptmann zulief und die Kokosnuß mit seinen wurstigen Fingern aufhob. Dabei bleckte der kleine Teufel fürchterlich seine Zähne, ein Gebiß,
das Taunton Furcht und Schrecken einflößte. Als der Affe sich ihm leicht schwankend zuwandte, war es mit seiner Beherrschung vorbei. Mit beiden Händen griff er zu, packte Hasards rechten Arm, hielt sich daran fest und wollte sich hinter dem Seewolf verstecken. Ein wildes Gelächter brandete auf. Die Höllenhunde um ihn herum begannen derart schrecklich zu lachen, daß Taunton an allen Gliedern zitterte. Beschämt ließ er Hasards Arm los, als der Affe sich entfernte. Von diesem Vieh würde er heute nacht träumen, schrecklich träumen, das ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Seine zwölf Männer standen mit hervorquellenden Augen an der Pier. Sie verfolgten das Schauspiel mit sichtlicher Erschütterung. Dann wieder hingen ihre Blicke wie festgenagelt an der Rah, auf der der Affe jetzt hockte und sich mit der Kokosnuß beschäftigte. »Was - was ist das für ein Ding?« fragte Taunton gebrochen. »Man nennt das Ding einen Affen«, erklärte Hasard. »Ein männlicher Affe, den wir aus Afrika mitgebracht haben. Er ist harmlos, ein verspieltes Tier, aber sehr intelligent.« »Ja, das sehe ich«, keuchte Taunton und wich schnell zur Seite, als das verspielte Tier mit verblüffender Zielgenauigkeit die eine Hälfte der Kokosnuß in seine Richtung feuerte. Sie knallte genau dorthin, wo der Hauptmann eben noch gestanden hatte. Von wegen verspieltes, harmloses Tier, dachte Taunton. Ein hinterhältiger rasender Teufel war das, mit dem Gesicht eines Menschen. Einen, der so ähnlich aussah, kannte Taunton von der Küstenwache. Nein, hier waren keine Spanier an Bord, entschied er. Er wollte nur noch so schnell wie möglich fort von diesem Schiff, seinen Höllenhunden und dem haarigen Teufel. Wer weiß, was die hier noch alles an Bord hatten!
Wortlos drehte er sich um, nickte kurz nach allen Seiten und wollte das Schiff verlassen. Er hatte genug, restlos genug. Sollten die Kerle segeln, wohin sie wollten. »Einen Augenblick noch, Hauptmann«, ertönte in seinem Rücken Killigrews Stimme. Was, zum Teufel, war denn jetzt noch los? Die sollten ihn doch in Ruhe abziehen lassen. Verstört drehte er sich um, den Blick furchtsam auf den Affen gerichtet, der im Mast hockte und sich ausgiebig kratzte. Hasard ging auf ihn zu, das Gesicht ernst und kantig. Die eisblauen Augen schossen Blitze. »Ja?« fragte er kläglich. »Ich habe eine Bitte an Sie, Hauptmann. Wenn Sie wirklich etwas für Ihre Majestät tun wollen, dann sorgen Sie bitte dafür, daß die drei Schiffe unbelästigt bleiben. Daß wir keine Spanier an Bord haben, dürfte Ihnen inzwischen klargeworden sein,« Taunton riß die Hacken zusammen. »Aye, aye, Sir!« brüllte er. Zwölf Seesoldaten sahen ihren Hauptmann perplex an. Der schien ja plötzlich einen höllischen Respekt vor dem schwarzhaarigen Mann zu haben. Er salutierte sogar! »Ich lasse sofort die Pier abriegeln, Sir! Niemand wird Sie hier behelligen, Sir!« Mit hoch erhobenem Kopf schritt er zur Tat. Er brüllte ein paar Befehle an die Soldaten, wohl um Hasard zu beweisen, was er trotz allem für ein Kerl war und wie die Burschen ihm gehorchten. Die Soldaten verteilten sich, augenblicklich nahmen sie ihre Position ein und riegelten die Pier ab. Taunton meldete den Wunsch als ausgeführt. Hasard lächelte liebenswürdig und machte eine einladende Handbewegung. »Ich hätte gern noch etwas mit Ihnen besprochen, Hauptmann. Darf ich Sie an Bord bitten?« Taunton trat zögernd näher, den Blick furchtsam nach oben
gerichtet, wo der kleine Teufel abschätzend die zweite Hälfte der Kokosnuß in seinen Händen hielt. »Gern, Sir, wenn Sie versprechen, mir das Vieh da vom Hals zu halten. Der heckt doch wieder etwas aus.« Hasard drohte Arwenack mit dem Finger. Der Schimpanse kapierte. Leicht gekränkt verzog er sich höher hinauf, aber die Nußhälfte behielt er immer noch zwischen den Händen. Hasard bat den Mann in seine Kammer. Taunton nahm mit steifem Kreuz Platz in einem der hochlehnigen spanischen Holzstühle, »Ein Gläschen Wein, Sir?« fragte er. »Ich bin zwar im Dienst, Sir, aber ich will Sie nicht kränken. Sie haben mich überredet.« Der Seewolf grinste sich eins. Er kannte seine Schäfchen. Dem Hauptmann sah man schon auf Meilen an, daß er gern soff, ob er nun Dienst hatte oder nicht. Dazu bedurfte es keiner großen Überredungskünste. Er goß ihm einen süffigen Malaga ein, den Taunton mit nach oben verdrehten Augen in kleinen Schlucken trank. »Aber nur noch einen, Sir«, sagte er, nachdem er den Humpen geleert hatte, obwohl Hasard noch keinerlei Anstalten zu einem zweiten Gläschen gemacht hatte. Der Seewolf goß lächelnd nach. »Ich habe noch eine Bitte an Sie, Hauptmann. Sie scheinen mir der geeignete Mann zu sein, ein Mann, der sich durchzusetzen vermag.« Der halbe Liter Malaga, den Taunton in sich hineingesoffen hatte, tat seine Wirkung. Ihm schwoll der Kamm. »Die Bitte ist schon im voraus gewährt, Sir! Ihr Wort ist mir Befehl. Allen Respekt, Sir, gestatte mir Hochachtungsschluck!« Der nächste halbe Liter verschwand in seinem Nußknackergesicht und plätscherte in seinen Wanst. In seinen Äuglein begann es, verdächtig zu blinken, seine Nasenflügel zuckten.
»Ich möchte Sie bitten, einen Boten zu Ihrer Majestät, der Königin von England zu schicken, Hauptmann.« »Selbstverständlich, Sir.« »Können Sie den Wortlaut behalten?« »Selbstverständlich, Sir!« brüllte der Hauptmann. »Gut, also folgendes soll der Bote ausrichten: Ein Prisenschiff mit Fracht für die Königin ist hier in Sheerness eingelaufen und wartet auf Order, wohin die Fracht gebracht werden soll. Außerdem bitte ich, Philip Hasard Killigrew, Kapitän im Verband des Kapitäns Francis Drake, um eine Audienz bei Ihrer Majestät, der Königin von England.« »Ich habe jedes Wort behalten, Sir«, sagte Taunton und stand auf. »Ich werde den Boten sofort losschicken, Sir!« »Wunderbar. Und vielen Dank!« Hasard erhob sich ebenfalls, um seinen Gast, der eine so merkwürdige Wandlung durchlaufen hatte, nach oben zu begleiten. An Deck verabschiedete Taunton sich zackig. Steif wie ein Ladestock stand er da und grüßte. Dann drehte er sich um, sein Gesicht war knallrot angelaufen. Gewichtig marschierte er davon, voll seiner Würde bewußt, einen Boten zur Königin zu schicken. Da färbte auch auf ihn etwas ab. Am Schanzkleid erwischte es ihn dann. Er hatte gerade ein Bein über die Reling gebracht. Da feuerte Arwenack die halbe Kokosnuß auf ihn ab. Sie erwischte den stolzen Hauptmann seitlich am Schädel, er preßte beide Hände schützend an den Kopf und war mit ein paar Sätzen an Land. Ziemlich eilig lief er davon. Zum Glück hörte er nicht mehr, was Tucker zu dem Profoß sagte. »Ein Kerl, was? Wie Jesus sein Gaul!« »Ja.« Der Profoß lachte. »Und das war ein Esel!« Diesmal hatten sogar die Seesoldaten starre Gesichter, die das dahinter verborgene Grinsen nur um so deutlicher zeigten.
3.
Noch einer, außer der Küstenwache, hatte die drei Schiffe nach dem Runden von North Foreland, beobachtet. Baldwin Keymis, der Friedensrichter von Falmouth. Der dürre, geiergesichtige Mann zitterte am ganzen Körper, während er wie ein Teufel nach Sheerness ritt. Sein Ziegenbart wurde vom Wind zerzaust, und wer den schmallippigen Kerl mit dem vor Wut und Haß verzerrten Gesicht sah, mußte ihn für einen Mann halten, der vom Satan besessen war. Tatsächlich bewegten ihn auch rein satanische Gedanken. Alles in seinem Hirn kreiste um die ›Isabella‹, den Seewolf und die sagenhaften Schätze an Bord der Galeone. Nach der großen Pleite, die er in Plymouth erlebt hatte, war der Friedensrichter an die Küste von Kent gereist und hatte sich in einem Gasthof in Sheerness eingemietet. Jetzt war er wieder auf dem Weg dorthin, aber zuvor hatte er noch etwas anderes zu erledigen. Einen Besuch bei Noah Buckle, seinem alten Bekannten aus der Zeit, als Keymis noch Stadtrichter in London war. Der Gasthof von Buckle tauchte vor ihm auf. Hier, in Gravesend, war um diese Zeit nicht viel los, also hatte Keymis auch keine unliebsamen Zuhörer zu fürchten. Er stieg von dem zitternden und schnaubenden Pferd, band es vor der Kneipe fest und stürmte hinein. Die Kneipe war leer, bis auf den Wirt, der hinter der Theke lehnte, die Arme auf dem Tresen aufgestützt hatte und vor sich hinstarrte. Buckle schrak zusammen, als die Tür aufflog und sofort wieder zugedonnert wurde. Der Bursche mit dem Ziegenbart stürzte zu Theke. Auf Buckles pausbäckigem Biedermannsgesicht erschien ein heiteres Grinsen. Seine Knubbelnase verzog sich, die hellen Augen begannen sanft zu strahlen.
»Sieh an, sieh an«, sagte er. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Sir?« Er reichte Keymis die fett wirkende Hand. Der nahm sie nur eine halbe Sekunde lang und ließ sie sofort wieder los. In seinen Augen schimmerte ein fanatischer Haß. »Ich muß mit dir sprechen, Buckle«, stieß er hervor. »Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs, von Gravesend nach Sheerness und umgekehrt.« In den dicken Gastwirt kam lauernde Bewegung. Die Maske des Biedermanns fiel ab und wich gespannter Erwartung. »Ein Geschäft?« fragte er. »Ja, ein Geschäft. Das größte und beste, das je ein Mann tätigen wird. Aber dazu brauche ich deine Hilfe. Allein kann ich das nicht durchführen.« Buckles Grinsen war jetzt verschlagen. Wenn Keymis Geschäfte vorschlug, dann war da immer etwas dran. Als Keymis noch Stadtrichter in London gewesen war, hatten sie viele solcher Geschäfte gedreht. Keymis war da großzügig gewesen, aber nur, wenn von den dunklen Geschäften ein gehöriger Brocken für ihn selbst abfiel. Da hatte er dann immer Gnade vor Recht ergehen lassen, korrumpiert, geschoben und gemauschelt und alle hatten sich die Taschen gefüllt, Keymis allen voran. Der Friedensrichter verfügte auch über einschlägige Kenntnisse zu Londons dunkelster Gesellschaft, den Hehlern, Dieben, Huren, Schmugglern und Flußpiraten der Themse. Viele von ihnen hatte er als Polizeispitzel angeheuert, und so war er ständig auf dem laufenden gewesen. Ein Mann wie Keymis war nicht zu unterschätzen, sagte sich Buckle, den mußte er sich warm halten. »Etwas zu trinken, Sir?« fragte der dicke Wirt. »Sie haben sich ganz schön angestrengt. Ein Gläschen Wein vielleicht?« »Nein, keinen Alkohol, ich brauche einen klaren Kopf. Gib mir einen großen Topf kalter Milch, wenn du hast!«
»Natürlich, Sir!« Buckle verschwand händereibend zur angrenzenden Küche, um das Gewünschte zu holen. Sein Herz hüpfte in der Brust, er fühlte sich frei und unbeschwert, obwohl er noch gar nicht wußte, welches Geschäft ihm bevorstand. Die beiden Schlitzohren grinsten sich an. Keymis trank in langen Zügen die kalte Milch wie ein verdurstender Gaul. Er wischte sich die letzten weißen Tropfen aus seinem Ziegenbart und kam dann zur Sache. Er erzählte von der ›Isabella‹ und ihren unermeßlichen Schätzen, von Gold, Silber, Diamanten und Perlen, von kostbarem indianischem Schmuck. Buckle hörte schweigend zu. Seine Augen wurden immer größer, je mehr Keymis sich in den Reichtum hineinsteigerte, je mehr er geiferte und je schriller seine Stimme wurde. »Der Reichtum der Königin ist ein Nichts gegen das, was uns erwartet«, beendete er seinen Bericht. »Aber, wie gesagt, ich brauche deine Hilfe, dabei.« »Klar, Sir, selbstverständlich. Und was springt dabei für mich heraus? Ich meine ...« Keymis klopfte ihm jovial auf die breite Schulter. »Die Hälfte, mein Lieber, wir teilen die Beute genau auf.« »Die Hälfte«, stammelte der Wirt. »Die Hälfte! Ich glaube, ich werde wahnsinnig. Ist das Ihr Ernst, Sir?« »Glaubst du mir etwa nicht?« fauchte Keymis. »Denk doch daran, was früher immer für dich abgefallen ist. Du mußt nur ein paar harte Kerle auf die Beine stellen, dann klappt es. Ohne etwas zu investieren, kann man einen solchen Fisch nicht an Land ziehen.« »Versteh ich ja, Sir, und natürlich glaube ich Ihnen! Wir sind schließlich immer gut miteinander gefahren. Und wie haben Sie sich den Plan vorgestellt?« »Die genauen Einzelheiten besprechen wir später. Es hängt von der jeweiligen Situation ab. Ich muß jetzt schnell zurück
nach Sheerness und sehen, was sich da tut.« »Sie haben die Schiffe selbst gesehen, Sir?« »Nur aus der Ferne, ja. Eins davon war mit Sicherheit die ›Isabella‹ die beiden anderen waren weiter weg. Ich weiß nicht, ob sie zusammengehören. Du hast notfalls also sofort zwanzig bis dreißig harte Kerle bereit, Buckle?« »Ich werde sofort alles veranlassen. Die Männer werden sich bereithalten, Sir.« »Gut. Schließ deine Kneipe, laß niemanden herein. Du hörst dann wieder von mir. Übermorgen wirst du einer der reichsten Männer der ganzen Welt sein, Buckle. Und was ich sage, das gilt!« Keymis grinste. Natürlich hatte er nicht die Absicht, diesen dicken Idioten auch nur mit einer einzigen Perle aus der riesigen Schatzbeute zu beteiligen. Wenn das Geschäft erst einmal gelaufen war, dann würde Buckle über die Klinge springen. Das dürre, aber energiegeladene Satansbündel Keymis verabschiedete sich, bestieg sein Pferd und raste davon, als wären sämtliche Höllenhunde hinter ihm her. In Sheerness hockte er sich sofort in sein Zimmer. Durch zwei Fenster hatte er hier einen prächtigen Ausblick von Nordwesten über Nord, bis fast nach Ostsüdost. Keins der aus Osten anlaufenden Schiffe konnte ihm entgehen. Mit dem Spektiv suchte er das Wasser ab. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die ›Isabella‹ aufkreuzte. Durch den steifen Westwind gelangte sie nur schwer voran. Keymis wartete und wartete. Er aß nichts, er trank nichts, er hob nur immer wieder das Spektiv, um hindurchzublicken. Und dann geriet sie endlich in sein Blickfeld. Mit dem Friedensrichter ging eine seltsame Veränderung vor. Hatte er vorher schon gezittert, so schüttelte sich jetzt sein ganzer Körper, als sich das Schiff näherte. Seine Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander, seine Hände zitterten so
stark, daß er das Spektiv absetzen mußte. Ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Vor seinem geistigen Auge tauchte ein Bild auf, das ihn ständig in seinen Träumen verfolgte. Er sah sich an Deck der ›Isabella V.‹ stehen, zitternd vor ohnmächtiger Wut, unfähig zu handeln. »An die Rah mit diesem Schwein!« hörte er die wilden Kerle des Seewolfes murmeln. »Hängt ihn auf, diesen Hund!« Inmitten eines Tribunals von Seemännern vernahm er die Anklage. »Baldwyn Keymis«, hatte Brighton gesagt, »ich verurteile Sie hiermit rechtskräftig und unwiderruflich. Sie werden kielgeholt, das Urteil wird sofort vollstreckt!« Und nur weil er Gwendolyn, dieser kleinen Hure, ein bißchen Spaß bereiten wollte. Was war schon eine läppische Vergewaltigung? hatte er gedacht. Aber bei der Crew war er an die Falschen geraten. Der Disziplin an Bord hatte sich auch ein Friedensrichter zu beugen. Er sah sich mit gefesselten Händen auf der Rahnock stehen, die Leine an der Brust verknotet, mit der sie ihn unter dem Schiffsrumpf durchziehen wollten. Da hatte er geschrien - wie noch nie in seinem Leben. Er spürte noch heute den Stoß, sah sich von der Rahnock hinabstürzen, ins Wasser hinein, in dem die Haie lauerten. Haie! Das war sein Alptraum. Ein Blauhai hatte auch seinen Vater zerrissen. Er schloß die Augen und stöhnte tief. Die Muscheln unter dem Schiffsboden hatten seinen Rücken zerfetzt und zerschnitten und dann seine Brust, als er sich angstvoll herumwarf. Er bekam keine Luft mehr, ersoff fast und da sah er den dunklen Schatten auf sich zurasen, der beharrlich seiner Blutspur folgte, die er hinter sich herzog. Er hatte dem Hai direkt in die kalten Augen geblickt, und da war es mit seiner Beherrschung vorbei gewesen. Als er auf der anderen Seite des Schiffes wieder aufgetaucht war, hatte er die
Besinnung verloren. Von da ab hatte er einen Knacks weg. Immer noch klapperten seine Zähne. Da segelte die verhaßte Galeone, da fuhr der Seewolf, den er wie die Pest haßte, da fuhren die verdammten Hurensöhne und Piraten, die ihn immer wieder gedemütigt und erniedrigt hatten. Keymis sah das alles subjektiv, aus seiner Sicht. Darauf, daß er der treibende Keil gewesen war, der intrigiert und gehetzt hatte, wäre er nie verfallen. Die anderen hatten schuld, nicht er. Voller Haß sah er auf das Schiff, aber gleichzeitig erwachte in ihm auch die Gier nach den Schätzen, die er unbedingt nach so vielen Niederlagen doch noch in seine Gewalt bringen mußte. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los, er beherrschte ihn. Geld, Reichtum, Macht! Mächtiger als die Königin. Wenn ihm das gelang, dann konnte er es allen anderen heimzahlen, dem verdammten Seewolf und seiner Crew, diesen Bastarden. Erst jetzt bemerkte er die beiden anderen Schiffe - eine Kriegskaravelle und eine Schaluppe, die die Galeone eskortierten. Das verwirrte ihn, denn er hatte damit gerechnet, daß die ›Isabella‹ allein den Strom herauf segeln würde. Und jetzt diese Eskorte? Alle drei kamen bei diesem ruppigen Westwind schlecht voran. Sie knüppelten gegenan, er sah es deutlich. Haß und Gier fraßen ihn fast auf. Immer wieder schob sich das Bild von der Rahnock vor seine Augen. Und immer wieder sah er sich aus der schwindelnden Höhe ins Wasser stürzen. »Das zahle ich dir zurück, Seewolf!« knirschte er und ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. »Das vergißt Baldwin Keymis nie in seinem Leben!« Auf seinen Posten als Friedensrichter pfiff er. Nach Falmouth würde er sowieso nicht mehr zurückkehren. Hier stand er vor der entscheidenden Wende seines Lebens. Er war an einem Kreuzweg angelangt, von dem es kein Zurück mehr gab. Er versuchte, so nüchtern wie nur möglich zu überlegen. Die aufgestauten Haßgefühle ließen sich nicht so einfach unter
Kontrolle bringen. Aber Keymis schaffte es so weit, daß er wieder vernünftige Überlegungen anstellen konnte. Der Verband fuhr weiter, doch die ›Isabella‹ schor leicht aus ihrem Kurs und segelte Richtung Sheerness. Keymis zählte zwei und zwei zusammen. Der Seewolf hatte gegen ruppigen Wind und starken Ebbstrom anzulaufen. Folglich wurde er Sheerness ansteuern und abwarten, bis sich das Wetter besserte oder aber die Flut einsetzte. Etwas später wurde es ganz deutlich, daß die Schiffe Land anliefen. Keymis wurde aktiv. Noch wußte er nicht genau, wie er es anstellen sollte, um an die Beute zu gelangen. Die Vorstellungen, die in seinem Schädel herumspukten, waren noch reichlich vage. Er staute sein Spektiv zusammen und verließ den Gasthof. Dürr und häßlich, wie ein giftiger Zwerg, lief er auf die Straße, die zum Hafen führte. Dort verbarg er sich hinter einer der Lagerhallen und beobachtete, wie die Schiffe anlegten und die ›Isabella‹ geschickt in die Mitte genommen wurde, damit sie geschützt lag. Keymis pirschte sich so dicht heran, daß er die einzelnen Männer der verhaßten Crew unterscheiden konnte. Durch ein Loch im Holz beobachtete er mit klopfendem Herzen. Er sah den verhaßten Seewolf und zuckte zusammen. Als der zufällig in seine Richtung blickte, glaubte Keymis, sein Herz müsse jeden Augenblick aussetzen. Aber er konnte ihn natürlich nicht sehen, den dürren, häßlichen Friedensrichter, die Giftnatter von Falmouth. Er wartete eine geschlagene Stunde lang, beobachtete immer wieder und ließ sich nichts entgehen. Auch das. Theater mit Taunton, dem Hafenkommandanten, registrierte er. Zu seinem Erstaunen verschwand Taunton mit Hasard im Achterkastell. Was hatten die beiden zu besprechen, das so wichtig war, daß es keiner hören sollte. Später ging Taunton, blöde grinsend, wieder an Land. Dann
traf ihn die Kokosnuß, und er rannte weg. Keymis schlich ihm nach, immer im Schutz der Hallen, so daß man ihn von Bord aus nicht sehen kpnnte. Natürlich hatte Taunton, dieser rotgesichtige Affe, wieder einmal gesoffen. Bestimmt von Killigrews spanischem Wein, denn er ging so steif wie ein Ladestock. Keymis mußte in Erfahrung bringen, was jetzt los war. Nachdem der Hauptmann in der Baracke verschwunden war, brüllte er ein paar Befehle. Keymis schlich zum Fenster, blickte sich um, ob ihn niemand sah, und preßte seine Ohren an das Holz. Hier, auf dieser Seite, pfiff kein Wind, und so konnte er fast alles verstehen, was dort drinnen gesprochen wurde. Seine Augen wurden immer größer, sein Gesicht nahm einen gespannten Ausdruck an. Ein Bote zur Königin? Audienz für den Seewolf? Und die Bitte um Order für die ›Isabella‹ und ihre Fracht. Sein Gesicht entspannte sich plötzlich, ein erleichtertes Grinsen breitete sich aus. Keymis Verstand arbeitete blitzschnell. Er war gewiß kein Dummkopf, er schaltete schnell und begriff, daß sich ihm hier die einzigartige, große Möglichkeit bot. »Und wer soll reiten, Hauptmann?« hörte er eine Stimme. »Snyder ist ein zuverlässiger Mann. Er soll sich in einer Stunde marschbereit halten. Er kann den schwarzen Hengst nehmen.« Baldwin Keymis hatte genug gehört. Alles andere würde er dann selbst übernehmen. Schnell und ungesehen schlich er davon. Snyder hieß der Bote, und er würde einen schwarzen Hengst reiten. Keymis großes Spiel konnte beginnen. 4.
Keymis kannte die Strecke genau. Der Bote mußte in jedem Fall in Gravesend vorbei, wenn er nach London wollte. Die Gedanken rasten nur so durch seinen Schädel. Sie waren zwar noch kraus und wirr und überschlugen sich, aber dennoch nahm ein ganz bestimmter Plan immer mehr feste Gestalt an. Der Friedensrichter grinste boshaft. Wenn er den verhaßten Burschen eins auswischen und die Beute kassieren wollte, mußte er schon eine Menge Arbeit leisten. Die nahm er gern in Kauf. Er stopfte Papiere in eine Tasche, gefälschte Siegel, echte Siegel, feines Bütten, Feder und Tinte. Dann ritt er los. Er hatte mindestens eine halbe Stunde Vorsprung vor dem Boten Snyder, und die wollte er so gut wie möglich nutzen. Er ritt noch schärfer als zuvor. Zusammengekauert wie ein Strich hockte er auf seinem Pferd und trieb es an, bis es wie ein Pfeil durch die Landschaft flitzte. Er sah nicht nach links, nicht nach rechts, er wurde nur noch von seinen Gedanken angetrieben, die sich immer klarer abzeichneten. Ja, der Plan stand jetzt so gut wie fest, er hatte die nötige Zeit und das erforderliche Wissen, um ihn in die Tat umzusetzen. Bei Buckles Gasthof sprang er vom Pferd, ein energiegeladenes Bündel, rastlos, hektisch und voller Tatendrang. »Es geht los, Buckle!« schrie er. »Alles klappt wie am Schnürchen, los, mach die Kneipe auf.« Der schlitzohrige Buckle grinste jetzt ebenfalls. Noch wirkte er sanftmütig und gut, aber nach Keymis kurzer Schilderung veränderte sich sein Gesicht immer mehr. Er wurde das, was er in Wirklichkeit war: ein Schurke, ein eiskalter cleverer Schnapphahn und Flußpirat, der seine Bande schon unterrichtet hatte, um den dicken Goldfisch an Land zu ziehen. »Den Boten fangen wir gleich ab«, sagte Buckle. »Er muß an
dieser Straße vorbei. Das erledige ich, Sir!« »Aber gleich, Buckle. Der Kerl kann jeden Augenblick hier auftauchen. Er reitet einen schwarzen Hengst.« »Nicht mehr lange«, versprach Buckle. »Ich werde das schon erledigen.« Im Hinterzimmer der Kneipe warteten sie ab. Von hier aus war die Strecke gut zu übersehen. Der Bote konnte also nicht ungesehen vorbeireiten. Buckles Gasthof lag abseits. Da waren auch keine unliebsamen Zeugen zu befürchten. Buckle verschwand nach draußen. Er schob einen Leiterwagen auf die Straße und blockierte sie so. Für einen Reiter war es trotzdem kein Hindernis, er konnte sich immer noch seitlich daran vorbeibewegen und über die Wiese reiten. Für den Fall hatte Noah Buckle ein Pferd bereit stehen, ein schnelles Tier. Etwas später tauchte der Bote auf. Er ritt nicht sonderlich schnell, nicht halb so schnell, wie Keymis geritten war. Er nahm Rücksicht auf sein Pferd. Buckle stand in Hemdsärmeln und alter Hose auf der Straße vor dem Leiterwagen. Er sah aus wie ein gemütlicher, dicker Gastwirt, der sich vergeblich mit irgend etwas abmühte, das ihm nicht gelingen wollte. Wie Buckle erwartet hatte, blieb der Bote vor dem Hindernis stehen. »Den Weg frei, Mann!« wurde Buckle angeherrscht. Buckle ging auf das Pferd zu, er lächelte väterlich. »Sehen Sie, Sir, das ist so«, begann er. »Hier vorn ...« Der Bote beugte sich etwas hinunter, als Buckles mächtige Pranke zupackte und ihn mit einem Ruck vom Pferd zerrte. In dem Gastwirt steckten unglaubliche Kräfte, seine Fettleibigkeit ließ ihn nur behäbig und gemütlich erscheinen. Er packte den zappelnden und tobenden Mann mit einem Griff so fest, daß ihm die Luft wegblieb. Dann krachte seine Faust an den Schädel. Mit einem tiefen Seufzer streckte der
Mann sich aus. Jetzt begann Buckle eine emsige Aktivität zu zeigen. Zunächst schleppte er den Bewußtlosen ins Hinterzimmer, dann kehrte er zurück, sperrte den schwarzen Hengst in seinen Stall und schob den Leiterwagen wieder auf den Hinterhof zurück. Keymis war schon dabei, den Boten mit Ohrfeigen und einem Topf kalten Wassers wieder zu sich zu bringen. Es dauerte auch nicht lange, bis Snyder die Augen aufschlug und verwirrt um sich blickte. »He!« schrie er und wollte mit einem Satz hoch. Doch Buckles mächtige Pranke stieß ihn sofort auf den Stuhl zurück. »Du hast hier nur noch zu antworten, wenn dir dein Leben etwas wert ist. Kapiert?« Um ihm das nachhaltig zu demonstrieren, hielt Buckle ihm ein breites Messer an die Kehle, eines von jener Sorte, wie es auch die Piraten benutzten. Snyders anfängliche Verblüffung wich nackter Angst. Gehetzt sah er sich um. Er blickte in das kalte, bösartige Gesicht Buckles, dann huschte sein Blick weiter und blieb auf dem ziegenbärtigen Mann hängen, dessen Augen so fanatisch glühten. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er mit einer Stimme, die wie ein leiser Hauch klang. Keymis warf dem Kneipenwirt einen auffordernden Blick zu. Buckle grinste satanisch, setzte dem Boten das Messer an die Kehle und drückte zu, bis ein paar Blutstropfen heraussickerten. »Wie lautet die Order, die du zu überbringen hast?« fragte Keymis. »Los, heraus mit der Sprache, wir spaßen nicht.« »Welche Order?« fragte Snyder. »Ich bin auf dem Weg nach ...« Ein weiterer Faustschlag Buckles ließ ihn verstummen. Seine Lippen platzten auf, Blut schoß heraus. »Los«, fauchte Keymis, »wir wissen, was du überbringen
sollst. Taunton hat dir das doch eingepaukt. Eine Order für die Königin, vom Kapitän der ›Isabella‹. Wenn du nicht augenblicklich redest, wird dieser Mann dich wie ein Schwein abschlachten.« Snyder blickte in zwei kalte, mitleidlose Gesichter. Hier hatte er nur noch den Tod vor sich, wenn er nicht alles sagte. Er rang mit sich. Würden die Kerle ihn laufenlassen, wenn sie erfuhren, was sie wissen wollten? Noch während er überlegte und der Schmerz sich von seinen aufgeplatzten Lippen bis zum Hals fraß, schlug der Dicke wieder zu. Die Gewalt des Schlages fegte Snyder vom Stuhl und schleuderte ihn durch den Raum. Sein Auge schwoll zu, die Braue war aufgeplatzt. Klebriges Blut rann ihm übers Gesicht. Mühsam und mit einem erstickten Keuchen kam er auf die Beine. Das breite Messer zerriß seine Jacke, die Klinge ritzte seine Haut. Dieser bestialische Halunke würde ihn abschlachten, genauso wie es der andere Kerl gesagt hatte. »Gut, ich habe eine Order für die Königin von England zu überbringen«, sagte er stöhnend. »Wenn ihr mir versprecht, mich ungehindert laufenzulassen ...« »Klar«, versicherte Buckle. »Wir haben ja nichts gegen dich persönlich. Also?« »Ein Prisenschiff mit Fracht für die Königin, geführt von Philip Hasard Killigrew, ist in Sheerness eingelaufen und erbittet Order, wohin die Fracht gebracht werden soll. Gleichzeitig bittet der Kapitän aus dem Verband Francis Drakes bei Ihrer Majestät um eine private Audienz.« »Sonst noch etwas?« fragte Keymis ausgesprochen freundlich. »Hast du nichts vergessen?« »Nein, das war alles. Mein Wort darauf.« Keymis runzelte die Stirn. Ja, was der Bote da sagte, klang unbedingt glaubwürdig. Die Order stammte vom Seewolf, er wollte wissen, wohin er die unermeßlichen Schätze bringen sollte.
Keymis Lippen verzogen sich triumphierend. Sein Ziel rückte in immer greifbarere Nähe. Nicht mehr lange und er ... Die zaghafte Stimme Snyders unterbrach seine Gedanken. »Kann ich jetzt gehen, Sir? Ich habe alles gesagt, was ich weiß.« »Richtig, richtig. Jetzt wissen wir alles. Buckle!« Buckle nahm das breite Messer von der Brust des Mannes. Als Snyder sich erheben wollte, stieß sein rechter Arm mit aller Kraft nach vorn. Das breite Entermesser wurde dem Boten in die Brust getrieben. Ungläubig riß er die Augen auf. Sein Mund öffnete sich, aber ohne einen Ton von sich zu geben, sackte er zusammen. Buckle zog ungerührt das Messer aus der Brust des Toten, wischte es an dessen Kleidung ab und steckte es ein. »So, den wären wir los«, sagte er. Er rieb sich die Hände. »Das große Geschäft kann beginnen.« Keymis war mit seinen Gedanken schon ganz woanders. Er schwebte in goldenen Regionen, in Gefilden wo alles aus Gold, Perlen und Edelsteinen war, wo es unaufhörlich glitzerte. »Bring den Kerl weg!« befahl der Friedensrichter. Buckle packte die Leiche, schleppte sie aus dem Hinterzimmer in einen anderen Raum und warf sie dort auf den Boden. Eine Falltür öffnete sich fast lautlos. Der Tote fiel ein paar Yards, es klatschte laut. Sein Körper landete in der Themse und trieb davon. Als er zurückkehrte, um noch die letzten Spuren zu beseitigen, war Keymis schon emsig beschäftigt. Die erforderlichen Utensilien hatte er neben sich liegen. Emsig schrieb er, denn in solchen Dingen war er geschickt und erfahren. »Order an Kapitän Philip Hasard Killigrew«, schrieb er. »Befehl des Lordadmirals Ihrer Majestät, der Königin von England. Die Kriegskaravelle ›War Song‹ hat sich augenblicklich und unverzüglich zurück nach Plymouth zu begeben. Die ›Isabella V.‹ hat auszulaufen, sobald Wind und
Tide für sie günstig sind und Kapitän John Smeet als Lotse an Bord eingetroffen ist. Das Schiff hat am Tower Kai längsseits zu gehen. Die Schaluppe erhält Order, bis auf weiteres an der Town Pier in Sheerness zu verbleiben. Die Audienz bei Ihrer Majestät, der Königin von England, wird der unterzeichnende Lordadmiral persönlich vermitteln, sobald ein detaillierter Bericht des Kapitäns Killigrew über seine Reise vorliegt. Diese Order ist als geheimes Schriftstück zu behandeln. Gezeichnet: Charles Howard, Lordadmiral und Erster Graf von Nottingham.« Buckle sperrte Mund und Nase auf, als Keymis leise vorlas. In seinen Augen lag ein fiebriges Leuchten. »Donnerwetter«, sagte er staunend, »so haben Sie sich das gedacht, Sir! Allen Respekt.« Keymis grinste hinterhältig. »Verstand braucht man, mein Lieber, Verstand. Dann fällt einem das alles von selbst in den Schoß. So, jetzt werde ich die Order noch einmal neu aufsetzen und siegeln. Dazu ernenne ich dich zum Kapitän John Smeet. Hast du für alles gesorgt? Ist der Bote bereit? Die Segler klar? Sind deine Leute unterrichtet?« »Natürlich, Sir.« Bewunderung klang aus Buckles Stimme. »Alles wartet nur auf Ihren Befehl.« »Sehr schön. Ich hoffe, du hast die besten und härtesten Kerle ausgesucht, Buckle.« Der Gastwirt verbeugte sich tief. »Selbstverständlich! Soll ich den Boten gleich losschicken?« »Das wäre ausgesprochen dumm, Buckle. Der Mann muß ja erst einmal den Weg hin und zurück hinter sich gebracht haben, nicht wahr? Überlaß das Denken ruhig mir, ich begehe keine Fehler.« »Sie begehen keine Fehler, Sir«, posaunte Buckle nach. Vor soviel Verstand wuchs sein Respekt ins Unermeßliche. Das war schon ein Kerl, dieser Friedensrichter. Ein ausgekochter, oberschlauer Hund, mit allen Wassern gewaschen und mit allen
Hunden gehetzt. Keymis feilte weiter an seiner Order, die er nur grob aufgesetzt hatte. Er gab sich redliche Mühe, denn schließlich hing alles davon ab, ob sie auch wirklich echt wirkte. Killigrew, der verhaßte Seewolf, mußte einfach darauf hereinfallen! Und daran zweifelte Keymis keine Sekunde. Eine Stunde später erschien der neue Bote, ein Kerl aus Buckles Bande, getarnt als Soldat der Königlichen Garde, aus der er tatsächlich desertiert war. Keymis musterte ihn kurz und nickte dann. »Du reitest mit diesem Schriftstück nach Sheerness und wirst es nur Kapitän Killigrew persönlich aushändigen. Keinem anderen, ist das klar?« »Nur dem Kapitän persönlich, Sir!« »Gut. Sollte jemand nach dem Boten fragen, den der Hafenkommandant Taunton geschickt hat, dann richtest du ihm aus, der Lordadmiral habe ihn mit einer wichtigen Order nach Plymouth in Marsch gesetzt. Sobald er den Auftrag erledigt hat, wird er zurückkehren. Hast du alles genau verstanden? Von dir hängt eine Menge ab!« »Ich habe alles genau verstanden, Sir.« »Sehr gut. Dann wirst du uns das alles jetzt zehnmal hintereinander genau vorbeten. Im übrigen reitest du morgen noch vor Anbruch der Dämmerung los.« Der neue Bote lernte seinen Spruch nicht erst lange. Er hatte alles behalten, was der Erzhalunke Keymis ihm gesagt hatte. Zum Schluß nahm Buckle ihn noch einmal in die Mangel. »Wenn du Mist baust«, sagte er, »dann wird es mir eine ganz persönliche Freude sein, dich abzumurksen. Ich verspreche dir, daß du mindestens hundert grausame Tode stirbst.« »Du hast dich immer auf mich verlassen können, Noah. Ich weiß, was auf dem Spiel steht.« »Du glaubst es zu wissen«, sagte Keymis lachend. »Aber du
hast nicht einmal eine ungefähre Vorstellung davon.« Anschließend schmiedeten die beiden Gauner ihren Plan in allen Einzelheiten weiter. Schließlich lag alles genau fest. Nach menschlichem Ermessen konnte nichts mehr schief gehen. Es war zu genau und umsichtig geplant. 5. Im Achterkastell der ›Isabella‹, in Hasards Kapitänskammer, herrschte zu vorgerückter, nächtlicher Stunde eine Spannung, die körperlich spürbar war. Etwas, das entfernt an Unheil erinnerte, lag in der Luft. Hasard selbst wurde am meisten von dieser Unruhe geplagt. Er war stundenlang umhergewandert, die Hände auf dem Rücken verschränkt wie Francis Drake, und er hatte gegrübelt. Etwas später hatte er Ben Brighton, Ed Carberry, Ferris Tucker, Big Old Shane und den alten O’Flynn mit dem Holzbein, Dans Vater, zu sich gerufen. Auf dem Tisch standen zwei Flaschen Rum, doch machte seltsamerweise niemand übermäßigen Gebrauch davon. Carberry nippte nur ab und zu aus seinem Becher, Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, war auch nicht dazu zu bewegen, einen ganzen Becher hinunterzustürzen. Big Old Shane, der weise alte Mann und Schmied von Arwenack, prostete dem alten Haudegen O’Flynn zu, aber selbst der trank nur einen winzigen Schluck, ehe er den Becher wieder auf die Back zurückstellte. Die Atmosphäre war geladen, jeder einzelne spürte deutlich das Knistern und den vermeintlichen Geruch nach Schwefel. Die anderen saßen in den hochlehnigen spanischen Holzstühlen. Nur der Seewolf hatte seine unruhige Wanderung wieder aufgenommen. Schließlich blieb er neben Big Old Shane stehen. Einem nach dem anderen sah er in die Augen.
»Ihr alle könnt euch vielleicht denken, was mir Sorge bereitet«, sagte er. »Wir haben unser Ziel praktisch erreicht, jedenfalls stehen wir kurz davor. Was wir gemeinsam erlebt haben, muß ich nicht noch einmal betonen, jeder einzelne hat dazu beigetragen, hat gekämpft, sich abgerackert und geschunden. Wir waren in der tiefsten Hölle, haben Augenblicke höchsten Glückes genossen, kurzum, ich möchte euch dafür danken, euch, auf die immer Verlaß war, die ihr euch einer für den anderen eingesetzt habt.« Carberry, der Profos, räusperte sich. Und mit seinen Worten nahm er etwas von der Spannung, die über den Männern lag. »Willst du jetzt unsere Grabrede halten, Hasard?« fragte er. Über das harte Gesicht des Seewolfs huschte ein Lächeln. »Natürlich nicht, Ed. Prost!« Er nahm einen Schluck Rum, setzte sich dann und fühlte, wie die Spannung etwas wich, als die Männer mit ihm anstießen. »Ich möchte nur auf Tatsachen hinweisen, zum Beispiel auf die Tatsache, daß wir hier in Sheerness vor einem Kreuzweg stehen. Und keiner von uns weiß, wer welchen Weg gehen wird. Da ist zunächst die Sache mit der Schatzbeute, für die jeder einzelne von uns seine Knochen hingehalten hat. Wir haben sie nur unter Einsatz unseres Lebens hierherbringen können. Ein Viertel dieser Beute steht uns zu, jedenfalls ist das meine Meinung. Hat jemand etwas dazu zu sagen?« »So ist es Brauch bei Freibeutern«, sagte Ben Brighton. Die anderen Männer nickten, Tucker etwas zaghaft, Carberry nachdrücklicher. Shane und der alte O’Flynn verhielten sich abwartend. »Ich bin mir da nicht ganz sicher«, sagte Hasard. »Setzen wir aber dennoch voraus, daß uns ein Viertel zusteht. Dann stellt sich immer noch die Frage, wohin wir das Zeug bringen sollen. Ich möchte nicht, daß auch nur einer von der Crew um seinen Anteil bangen muß. Jeder hat ihn sich redlich verdient. Ich fürchte nur, da braut sich etwas über unseren Köpfen
zusammen, mit dem wir nicht fertig werden. Wenn die Mühlen des Schatzkanzlers zu mahlen beginnen, dann könnten wir leicht ins Hintertreffen geraten. Ich weiß doch, wie das ist. Zuerst wird vereinnahmt, die Beute begutachtet, dann reißen sich ein paar Schlitzohren etwas davon unter den Nagel, es wird registriert, notiert, vom Schatzkanzler verwaltet - und uns vergißt man dabei.« »In jedem Fall wird man uns übervorteilen«, ließ sich Old Shane vernehmen. »Gerade in diesen Kreisen ist man nicht zimperlich.« »Ganz richtig, Shane. Vielleicht verschwinden wir auch ganz einfach in der Versenkung.« Carberry schob drohend sein Rammkinn vor. »Das sollte mal einer wagen!« rief er. »Du kannst bestens mit Piraten, Mördern, Gaunern und lichtscheuem Gesindel umgehen, Ed«, sagte Hasard. »Für die hast du deine Fäuste, deinen Mut, die hast du vor dir und kannst sie zusammenknüppeln. Aber die anderen, die im Hintergrund agieren und intrigieren, die siehst du nicht, die Höflinge, die Typen wie Keymis und Doughty. Die sind es, die uns das Leben zur Hölle machen. Wir sind hier nicht mehr in der Karibik! Man kann uns als Meuterer hinstellen, denn die Stammcrew der ›Isabella‹ ist genau genommen immer noch ein Teil der Crew der ›Golden Hind‹ von Kapitän Drake. Und wie ihr alle wißt, hat es eine Menge Ärger zwischen ihm und uns gegeben, weil er sich weigerte, diese Ratte von einem Doughty zu bestrafen.« Carberrys Wangenmuskeln traten hervor. Dieser widerliche Höfling, für den die Mannschaft nur Pack und Gesindel war, hatte ihn nachts über Bord gestoßen, und er, Carberry, hatte den sicheren Tod vor Augen gehabt. Unwillkürlich ballte er die Hände zu Fäusten, wenn er daran dachte. »So habe ich es noch nicht gesehen«, sagte er. »Ich sehe das Leben immer nur als eine gerade Linie vor mir, und die
Halunken, die darauf erscheinen, werden zur Seite geschoben.« »Diese Art Halunken siehst du ja auch, Ed. Nur den anderen bist du nicht gewachsen. Gut, für diese sogenannte Meuterei werde ich jedenfalls die volle Verantwortung übernehmen, und ich werde unsere Handlungsweise schon zu rechtfertigen wissen. Es fragt sich nur, ob ein Gericht, falls es zusammentritt, die Gründe akzeptiert. Diese gelackten Höflinge urteilen vom Tisch aus. Sie haben keinen blassen Schimmer, wie es draußen wirklich aussieht. Mein größter Wunsch ist im Augenblick der, daß man euch nicht benachteiligt. Einen Schluck darauf, Männer. Jetzt kann jeder das vorbringen, was er gern möchte. Sprecht ungehemmt!« Diesmal tranken alle. Die Worte des Seewolfs hatten einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ja, hier in Sheerness, standen sie wirklich vor einem Kreuzweg, hier würde sich alles entscheiden, sobald der Bote mit der Order erschien. Was dann aus ihnen werden würde, stand in den Sternen. Ein Kloß saß ihnen in der Kehle, den auch der scharfe Rum nicht herunterspülen konnte. Die meisten von ihnen waren einfache, gradlinige Männer, die nicht Tod und Teufel fürchteten, die jede Gefahr annahmen, egal aus welcher Richtung sie kam. Sie hatten gedacht, sie würden die Schatzbeute abliefern, ihren Anteil kassieren, ein Lob erhalten und konnten dann wieder frei auf die Weltmeere hinaussegeln, unter dem Kommando des Seewolfs, neuen Abenteuern entgegen. Jetzt erschien das plötzlich und ohne Vorwarnung alles in einem ganz anderen Licht, und das spukte in ihren Köpfen herum. Big Old Shane, der Besonnene, der Ruhige, der die Schlitzohrigkeit gewisser adliger Kreise genau kannte, stemmte seine mächtigen Ellenbogen auf die Tischplatte. Sein Glas hatte er leergetrunken, und als er jetzt sprach, klang seine Stimme ruhig und besonnen.
»Ich kann dir nur in allen Punkten recht geben, Hasard. Du hast den Kern der Sache erfaßt, und ich habe ebenfalls schon lange darüber nachgedacht, weil ich diese Satansbrut kenne. Sie werden keine Möglichkeit auslassen, um die ganze Crew zu übervorteilen. Ich mochte dir etwas vorschlagen.« »Bitte, Old Shane. Dein Vorschlag ist mir jederzeit willkommen.« »Ich empfehle, daß wir den vierten Teil der Beute in die Frachträume der Schaluppe hinüberbringen lassen. Wir können das nur über den Daumen peilen, denn wir haben nicht einmal eine ungefähre Vorstellung von dem riesigen Wert. An Bord der ›Isabella‹ sollte es jedoch auf keinen Fall bleiben. Dort wird man es finden und vereinnahmen - und damit sind wir es los. Auf die schweren Gold- und Silberbarren verzichten wir. Perlen, Diamanten und Edelsteine sind leichter und besser zu verstecken. Und ich denke, daß sie an Bord der Schaluppe ziemlich sicher sind.« Big Old Shane lehnte sich zurück und sah den Seewolf voller Erwartung an. Hasard stimmte sofort zu. »Ja, du hast recht, ich sehe auch keine andere Möglichkeit. Wir haben uns mit diesem Problem einfach noch nicht befaßt. Ich hätte vorher, vor der Fahrt nach London, daran denken sollen.« Der Seewolf wandte sich an seine Männer. Sein Gesicht war ernst und verschlossen. Aber die Lösung war gut, es gab auch keine andere Alternative für sie. »Was haltet ihr davon?« Der alte Granitfelsen O’Flynn, der Haudegen mit dem Holzbein, nickte sofort. »Eine verdammt gute Lösung, meine ich. Diesen adeligen Blödmännern werden wir es schon zeigen.« »Ich bin auch dafür«, sagte Ben Brighton. »Es ist wirklich eine gute Lösung.«
»Ed, Ferris? Wie denkt ihr darüber?« Alle beide nickten spontan. »Wir stimmen zu. Nur sollten wir nicht allzulange warten.« Hasard erhob sich. »Ich danke euch«, sagte er. »Ich werde sofort die Crew im Vordeck informieren und auch den Männern, die die Schaluppe segeln, Bescheid geben.« »Wir kommen mit, Hasard.« Sie bewegten sich fast lautlos zum Vordeck. Es war nicht nötig, daß die Soldaten, die die Pier abgeriegelt hatten, sahen, was hier vorging. Allerdings war es auch nicht zu befürchten, denn die Karavelle lag noch dazwischen und die Seesoldaten waren ein ganzes Stück weg. Ein paar der Männer schliefen bereits. Hasard ließ sie wecken. Als er mit seinem Bericht begann, sah er in sprachlose Gesichter. Niemand unterbrach ihn, niemand stellte auch nur eine Zwischenfrage. Erst als er fertig war, ging ein hörbares Aufatmen durch die Reihen seiner Leute. Ausnahmslos alle waren einverstanden. Und nun drängten sie förmlich darauf, sofort mit dem Umladen zu beginnen, damit nicht noch etwas dazwischenkam. »Smoky«, sagte Hasard. »Du übernimmst die Registrierung der gesamten Beute. Du hast ja eine Liste, was wir alles an Bord haben. Ein Viertel, und nicht mehr, Smoky.« »Aye, aye. Und lautlos natürlich.« »So lautlos es nur geht.« Auf Smoky, den Decksältesten, war absoluter Verlaß. Smoky war ein anständiger Kerl, gradlinig wie Carberry, Tucker und all die anderen aus der Seewolf-Crew. Und dann begann an Bord der ›Isabella‹ zu nächtlicher Stunde eine geheimnisvolle Tätigkeit, von der an Land niemand etwas merkte. Die Frachträume der Schatzgaleone wurden geöffnet. Bei
schwachen Talglichtern begann Smoky zunächst mit der Registrierung ihres Anteils. Es kam ein Vermögen zusammen, das die Männer an ihrem eigenen Verstand zweifeln ließ. Zwei Truhen Perlen gehörten zu ihrem Anteil, eine schwere Truhe voller Edelsteine, drei Truhen Diamanten und eine Truhe voll mit indianischen Schmuckstücken. Das alles wurde in aller Heimlichkeit und mit einer geradezu beängstigenden Ruhe aus dem Bauch der ›Isabella‹ gemannt und an Bord der Schaluppe gebracht, wo es in den Frachträumen verschwand. Die Truhen waren schwer, und die Männer hatten zu schleppen. Aber sie schleppten gern, es war ja das, was sie sich erkämpft hatten, wofür einige ihr Leben gelassen hatten. Smoky übergab dem Seewolf anschließend die Liste. »Gut so, Smoky. Wir haben nicht mehr genommen, als uns zusteht, wir brauchen also keine Gewissensbisse zu haben. Hat jemand das Gefühl, er hätte nicht genug erhalten? Er soll es ruhig sagen, ich nehme es niemandem übel. Ich denke aber, wenn diese sieben Truhen unter uns verteilt sind, dann hat jeder so viel, daß er für seine spätere Zukunft keine Sorgen mehr hat. Und jetzt gehen wir alle ins Vordeck und trinken einen Schluck darauf.« Unten, im Vordeck, saß der Seewolf dann im Kreis seiner Männer. Sie tranken, aber trotz allem lag eine bedrückende Stimmung auf den Männern. Niemand murrte, niemand fühlte sich übervorteilt, es war etwas ganz anderes, was die Männer bewegte. Die eisenharten Kerle sahen Hasard an,, tranken, schwiegen, bis der Pro-fos schließlich das Wort ergriff. »Ich denke, ich spreche im Namen aller dieser Affenärsche und Rübenschweine«, sagte er seltsam krächzend und mit leicht belegter Stimme. Hasard horchte auf. Er konnte sich denken, was die Leute
bewegte. »Sprich weiter, Ed«, sagte er. »Wir fühlen uns einfach beschissen, Sir, jawohl«, brummte er. »Beschissen?« fragte Hasard entgeistert. »Ich denke, die sieben Truhen werden ...« »Darum geht es nicht.« Der Profos winkte ab. »Wir haben so reichliche Beute gemacht, daß wir nach der Aufteilung später alle steinreiche Männer sind. Wir sind so reich, wie wir es uns niemals erträumt haben, und dennoch sind wir beschissen dran. Es ist doch so, was, wie?« Er wandte sich an die Crew, die schweigend herumsaß. Als alle nickten, fuhr der Profos fort: »Na und? Wir wollten diese verdammte Galeone nach London segeln. Das haben wir fast geschafft. Was folgt danach? Danach sind wir vermögend, reicher als manche dieser adeligen Tölpel. Unsere Zukunft ist also gesichert, jeder kann sich ein Haus oder einen Palast kaufen. Gut, nehmen wir an, jeder tut das! Dann hockt er in seinem verdammten Palast herum, bohrt in der Nase und zählt sein Geld. Ist das vielleicht ein Leben? Batuti in einem Palast? Oder Ferris? Der kann mit seiner Axt Nägel in die Wände klopfen, um teure Bilder daran aufzuhängen. Und Pete, Ben, Luke, der Kutscher und all die anderen? Die hocken dann in ihrer Stinkbude herum, und warten darauf, daß Ihre Majestät auf ein Gläschen Rum und ein kleines Schwätzchen vorbeikommt. Und wem, frage ich, soll ich dann die Haut in Streifen von seinem verdammten Affenarsch ziehen?« Jemand aus der Crew schneuzte sich leise. Carberry fuhr hoch. »Jetzt fängt der Kerl auch noch an zu rotzen, vor lauter Gefühlsduselei.« Er packte die auf der Back stehende Rumbuddel, setzte sie an und ließ einen gewaltigen Schluck seinen Hals hinunterlaufen. Mit einem Ruck setzte er sie hart zurück.
»Ich scheiß auf die verdammten Perlen, auf die Diamanten und den indianischen Schmuck. Wenn, ich keine geblähten Segel sehe, werde ich verrückt. Und wenn ich nicht irgendwelchen verdammten Piraten den Hals umdrehen kann, wenn sie uns angreifen, dann fehlt mir was in meinem Leben. Könnt ihr euch Ed Carberry in einem Haus mit zwanzig Zimmern vorstellen, wenn er nachts herumschleicht und auf den Wind lauert, der in den Wanten heult? Auf die Huren in den Kneipen wartet, auf das Knarren der Blöcke und Taljen lauert? Nein, das könnt ihr nicht! Verdammt noch mal!« Er pumpte seinen gewaltigen Brustkasten auf, streckte sein Kinn vor und grinste plötzlich. »Ho, ihr Rübenschweine, ihr werdet das Schönste in eurem Leben vermissen, ihr werdet darauf brennen, von mir kielgeholt oder mit der Neunschwänzigen bearbeitet zu werden. Und wer schmeißt euch die Belegnägel ins Kreuz, was, wie? Eure Diener vielleicht?« Carberry in seiner rauhen, aber herzlichen Art, hatte genau ihren Ton getroffen. Das war Musik in den Ohren der alten Karibik-Piraten. Und er setzte allem die Krone auf, als er sagte: »Und unser Seewolf, he? Der segelt allein über die Meere, was, wie? So einen Satansbraten findet ihr nie wieder.« Ein wildes Geheul erhob sich. Draußen auf der Pier zuckten zwei der Seesoldaten zusammen. »Die haben’s gut, die Kerle«, sagte der eine. »Besaufen sich, und wir Idioten schieben Wache.« Hasard dämpfte den ausbrechenden Eifer seiner Leute. Mit beiden Händen bat er um Ruhe. »Noch ist nichts entschieden, Männer«, sagte er ruhig und überspielte damit seine eigene Rührung. »Unser Anteil ist vorläufig in Sicherheit. Über alles andere werden wir sprechen, wenn alles vorbei ist. Jeder kann dann zu mir kommen und sagen, wie er sich die eigene Zukunft vorstellt. Jeder einzelne
soll das frei entscheiden, es gibt keine Verpflichtungen. Wer sich von Carberry keine Belegnägel mehr ins Kreuz werfen lassen will, der kann sich ein Haus oder ein eigenes Schiff kaufen. Ich selbst weiß auch noch nicht, wie meine eigene Zukunft aussieht.« Schlagartig wurden die Männer ernst. Hasards Zukunft! Gwen, seine Frau, die ein Kind erwartete, seine Vergangenheit, die ›Wappen von Wismar‹, wo man ihn als Kind gefunden hatte, seine ganze Herkunft, das alles waren noch ungelöste Rätsel, die erst die Zukunft lösen konnte. Und Hasard selbst begann sich zu fragen, wie es wohl sein würde, wenn er der Königin von England gegenüberstand. Er, ein echter und wahrhaftiger Rebell und Freibeuter, wenn er Rechenschaft über sein Tun ablegen mußte. Noch viel mehr Gedanken bewegten ihn. Noch herrschte Feindschaft zwischen Spanien und der englischen Krone. Was aber, wenn es Old Lissy plötzlich einfiel, aus irgendwelchen politischen Gründen eine friedliche Kooperation mit den Spaniern einzugehen? Das war alles möglich und nicht von der Hand zu weisen. Wenn das wirklich einmal der Fall war, konnte die Königin die Männer, die für sie kämpften, verleugnen, ohne daß ihr das jemand verübelte. Sie konnte sie sogar als Verbrecher brandmarken. Hasard seufzte tief. Ein gähnendes schwarzes Loch, das war seine Zukunft, die in nebelhafter Ferne vor ihm lag. Und bei seinen Männern sah es nicht viel anders aus. Vielleicht endeten alle am Galgen oder vermoderten in den Verliesen - oder sie erhielten einen Kaperbrief für weitere Fahrten. Sheerness, das war der Kreuzweg, an dem sich alles entschied. Batutis Schicksal, das Schicksal von Huttens, der beiden Dänen, der beiden Holländer, des Franzosen Jean Ribault, der mit dem Degen umzugehen verstand wie kein zweiter. Dan O’Flynn, das Bürschchen, das längst zu einem
ganzen Mann geworden war. Probleme über Probleme, dachte Hasard, und er sah es seinen Männern an, wie sehr sie über ihr eigenes Schicksal und das der anderen grübelten. Er sah die Hoffnungslosigkeit in den harten Gesichtern von Piraten, Freibeutern, Kämpfern, die plötzlich reich waren. Würden sie das alles verkraften können? Hatten sie sich dabei nicht doch übernommen? Jetzt waren sie plötzlich »wer«. Unverbogene Kerle, mit einer gesicherten Zukunft. Nur eins würde ihnen ganz sicher fehlen: Das Kämpfen, der Kampf um die Existenz, um das eigene Überleben, das harte Duell - Mann gegen Mann. Hasard erhob sich und trank einen letzten Schluck. »Haut euch in die Kojen, Männer«, sagte er. »Morgen sehen wir weiter. Unser Anteil ist versteckt und in Sicherheit. Ich nehme an, daß morgen der Bote zurückkehrt, der uns die Order überbringt. Und denkt daran: Wir entscheiden gemeinsam, wenn es soweit ist. Wenn wir die Themse hinaufsegeln, wird die Schaluppe vermutlich hierbleiben. Carberry kommandiert sie. Mit an Bord gehen: Big Old Shane, O’Flynn, Ribault, von Hutten, Batuti, Jeff Bowie, Gary Andrews und Blacky. Die anderen bleiben an Bord der ›Isabella‹ und segeln mit nach London. Ich wünsche euch eine gute Nacht!« »Gute Nacht!« brüllten die Männer im Chor. Ihr Seewolf, das war schon ein Kerl, der wußte immer einen Ausweg, der hatte immer ein offenes Ohr für sie, der ließ sie nicht im Stich. Und als er den Niedergang zum Vordeck hinaufstieg, stimmten sie plötzlich ein entsetzlich lautes Gebrüll an. »Drei Hurras für den Seewolf!« Hasard ging tief gerührt zum Achterkastell. Er war gerade über die Schmuckbalustrade geflankt, als er den alten Schlachtruf der wilden Kerle vernahm. „Ar-we-nack! Ar-we-nack! Ar-we-nack!«
Jawohl, sie würden wieder kämpfen, wenn es ihnen an den Kragen ging, das wußte er. Er fragte sich nur, ob sie mit ihren Fäusten noch etwas ausrichten konnten. 6. An diesem Morgen des 26. März stand der Seewolf zusammen mit Ben Brighton schon ab sechs Uhr morgens an Deck. Hasard war unruhig. Der steife Westwind war abgeflaut, es wehte nur noch eine schwache Brise aus Westen herüber. Brighton sah, wie der Seewolf unruhig hin und her schritt. An der Schmuckbalustrade entlang bis zum Schanzkleid, dann wieder zurück. Die Arme hatte er auf dem Rücken verschränkt. Sein Hemd war bis zur Brust geöffnet, seine schwarzen Haare wehten leicht hin und her, wenn der Wind sie erf aßte. Brighton sagte nichts. Wenn ein Mann mit seinen Gedanken allein sein wollte, dann sollte man ihn auch nicht behelligen. Hasard hatte genug Sorgen. Eine Stunde später kam Bewegung in die Seesoldaten an der Pier. »Der Bote«, sagte Ben leise. Hasard fuhr herum, aus tiefen Gedanken gerissen. »Tatsächlich«, murmelte er. »Ein königlicher Bote. Der scheint ja wie der Teufel geritten zu sein.« Einer der Seesoldaten stellte sich vor die Kriegskaravelle, salutierte und meldete: »Ein Bote Ihrer Majestät, der Königin von England, bittet an Bord kommen zu dürfen, Sir!« Hasard winkte mit der Hand. »Ich erwarte ihn auf dem Achterkastell!« Ben Brighton nickte dem Seewolf kurz zu. Mit einem Satz flankte er über die Balustrade zur Kuhl hinunter. Er wußte genau, wann er Hasard allein zu lassen hatte. Der würde ihm später schon das mitteilen, was er für richtig hielt.
Der Bote marschierte über die Karavelle, erklomm das Achterkastell der Galeone und verbeugte sich vor Hasard. »Die königliche Order, Sir.« Hasard musterte den Mann nur kurz. Schon auf Anhieb gefiel ihm der Kerl nicht. Er achtete jedoch nicht weiter darauf, nahm die Order entgegen und brach das Siegel auf. Dann las er, langsam und bedächtig. Die Order war eindeutig, es handelte sich um einen klaren Befehl des Lordadmirals. Als Hasard bis zur Unterschrift gelangt war, warf er einen Blick auf den Boten. Ein seltsamer Kerl, fand er. Der hatte Augen wie ein Luchs, denen nichts entging. Immer wieder huschte sein unsteter Blick in alle Richtungen, ein fades Grinsen schlich sich auf seine Lippen. Er schien alles zu mustern, was es an Bord gab. Der Blick huschte vom Achterkastell zur Kuhl, auf das Vorschiff, die Masten hoch. Hasard musterte den Mann jetzt schärfer. Er hatte ein Gespür für solche Typen, mit denen etwas nicht in Ordnung war. Da bemerkte der Bote plötzlich die eisblauen Augen, die ihn so scharf musterten. Er begriff und lächelte dann leicht. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich mich gehenlasse. Ich bin wie der Teufel geritten, um die Botschaft zu überbringen. Ich bin fertig, mein Pferd ist fertig, ich bin total ausgelaugt. Haben Sie noch irgendwelche Befehle für mich, Sir?« »Nein«, sagte Hasard zögernd. »Keine Befehle mehr. Ich danke Ihnen.« Der »königliche« Bote salutierte kurz. Dieser Blick aus den eisblaucn Augen hatte ihm gar nicht gefallen, er war so etwas wie eine Warnung gewesen. Er schluckte trocken, verneigte sich noch einmal und verschwand dann. Hasard stand da, den Brief in der Hand und dachte nach. Schließlich hob er die Schultern. Gut, an diesem eindeutigen Befehl gab es nichts auszusetzen. Weshalb also darüber nachdenken? Immerhin war er von
Charles Howard, dem Lordadmiral und Ersten Graf von Nottingham, ausgestellt und unterzeichnet. Nachdenklich sah Hasard dem Boten nach, der sein Pferd bestieg und davonritt, nicht ohne noch einen lauernden Blick zurückzuwerfen. Er war so in Gedanken versunken, daß er nicht bemerkte, wie Ben Brighton das Achterkastell enterte und dann neben ihm stand. »Wie steht’s?« fragte der langjährige Kampfgenosse. »Wir sollen auslaufen, sobald Wind und Tide günstig sind, und der Lotse, ein gewisser John Smeet, an Bord gekommen ist. Unser Ziel ist der Tower Kai in London.« »Und dazu brauchen wir einen Lotsen?« »Befehl des Lordadmirals«, erwiderte der Seewolf. »Die Schaluppe bleibt hier, vorerst jedenfalls, und die Karavelle soll unverzüglich nach Plymouth zurücksegeln. Ich werde Sullivan gleich informieren.« Hasard ließ sich sein ungutes Gefühl nicht anmerken. Es hatte ihn selten getrogen, und er hatte auch keine Erklärung dafür. Sullivan erschien in diesem Moment gerade an Deck. Hasard winkte ihn herüber. »Ihr habt unverzüglich auszulaufen, Sullivan«, teilte er ihm mit. »Kurs Plymouth, Order des Lordadmirals.« »Aye, aye, ich habe es mir fast gedacht. Gut, ich werde sofort alles Nötige veranlassen. Sowie ich klar bin, gebe ich Bescheid Hasard nickte dem Bootsmann freundlich zu. Sullivan war ein prächtiger Kerl, aufrichtig und ehrlich. Den nächsten, den Hasard rief, war Ed Carberry, der die Schaluppe befehligte. Kurz und bündig teilte er ihm die Order mit. »Ihr verholt jetzt etwas weiter vorn an die Pier, Ed. Sobald ihr die Leinen fest habt, gehen wir bei euch längsseits. Es wird sicher nicht mehr lange dauern, bis der Lotse erscheint.« Carberry nickte, krauste aber die Stirn, als wollte er etwas sagen. Hasard winkte ab, noch bevor der Profos seinen Spruch
loslassen konnte. »Eine klare Order, Ed. Mir gefällt es auch nicht, aber das haben wir gestern ja schon alles besprochen.« Der Profos nickte. »Ich verhole sofort.« Gleich darauf erscholl seine mächtige Stimme an Deck der Schaluppe. Sie dröhnte mit der altbekannten Lautstärke über das Schiff, und es waren auch die gleichen Worte, die der Profos benutzte. Hasard heiterten sie ein wenig auf, unwillkürlich mußte er grinsen. »He, ho!« tönte es. »Bringt eine Vorleine an die Pier, ihr lausigen Kakerlaken. Wir verholen! Oder muß ich euch erst die Kimm von euren Affenärschen kalfatern, was, wie?« Brighton und der Seewolf grinsten sich an. »Der ist nicht umzubringen«, sagte. Ben. »Der bleibt ewig der gleiche. Ohne Carberry ist das Schiff etwa so wie ein Segler ohne Masten.« »Ich glaube, ohne die anderen auch, Ben. Es sind alles, ohne Ausnahme, prächtige Kerle. Ein einziger Block aus Eisen, der nicht kaputt zu schlagen ist. Wir verholen anschließend!« »Ja, sobald Ed an der Pier liegt, gehen wir längsseits.« Von der Schaluppe flog eine Wurfleine an Land, ein Vortau wurde um den Bug der ›Isabella‹ herumgebracht, an der ›War Song‹ vorbeigezogen und an Land belegt. Kräftige Fäuste zerrten die Schaluppe voraus. Gleich darauf hatte ihr Heck den Bug der Galeone passiert, und das zweite Tau wurde an Land übernommen, wo es an den hölzernen Pollern belegt wurde. Auf der Kriegskaravelle herrschte ebenfalls eine emsige Tätigkeit. Die Männer des Seewolfes verholten jetzt die ›Isabella‹ Es war ein einfaches Manöver, das nur etwas Kraft erforderte, bis die Galeone ihre Trägheit überwunden hatte. Danach lief sie von selbst auf die Schaluppe zu und wurde abgestoppt. Innerhalb einer halben Stunde war alles erledigt. Beide Schiffe lagen jetzt nebeneinander. Die ›War Song‹ lag achteraus allein an der Pier.
Nochmals eine halbe Stunde später brüllten die Männer von der Kriegskaravelle ihren Abschiedsgruß herüber. Die Segel wurden gesetzt, die Leinen losgeworfen, langsam schwang der Bug herum, und als die Segel gebläht waren, rauschte die Karavelle davon, ihrem Ziel Plymouth entgegen. Langsam drehte der Wind. Er fiel jetzt aus Nordwest ein und wurde immer kräftiger. Es schien Hasard, als würde er auf Norden drehen. Gerade als er unter Deck gehen wollte, tauchte der Hafenkommandant Taunton auf. Er winkte aufgeregt mit beiden Händen. »Darf ich an Bord kommen, Sir?« brüllte er von der Pier herauf. »Selbstverständlich.« »Und der - äh - Affe, Sir?« erkundigte sich Taunton mißtrauisch und schielte in den Großmars hinauf, ob da nicht unverhofft wieder ein paar harte Grüße nach unten sausten. »Der putzt gerade unter Deck die Lampen«, erklärte Hasard mit todernstem Gesicht. Taunton schnaufte wie ein Walroß zum Achterkastell hoch, wobei er mit beiden Armen rudernde Bewegungen unternahm. Sein rotes Gesicht war noch mehr gerötet, immer wieder sah er sich mit äußerstem Mißtrauen nach Arwenack um. Wenn dieser heimtückische Bursche ihm jetzt irgendwo aus sicherer Deckung wieder eine von den harten Nüssen an den Schädel feuerte, dann würde es hier aber mächtigen Stunk geben. Ein zweites Mal ließ er sich das nicht mehr gefallen. Tauntons Gesicht war mürrisch, seine Augen blitzten erbost. »Der Bote ist schon zurück«, knurrte er. »Soeben habe ich es erfahren. Was denkt dieser Kerl sich eigentlich, weshalb hat er sich nicht bei mir gemeldet?« »Keine Ahnung. Vermutlich aus dem Grund, weil er eine geheime Order hatte. Hier ist sie.« Hasard zeigte dem verdutzten Kommandanten das Siegel des Lordadmirals. Dann las er den Passus vor, der die Schaluppe
betraf, und daß sie bis auf weiteres an der Pier liegen bleiben solle. Taunton nickte erregt. Er blähte seinen Brustkasten auf und schob ihn heraus. Immer wieder schielte er auf das Siegel, das ihn in Ehrfurcht versetzte. Der Lordadmiral persönlich! Das war schon etwas. Nur gut, daß er sich mit diesem Killigrew nicht weiter angelegt hatte. Der schien einen Stein beim Lordadmiral persönlich im Brett zu haben. »Aye, aye, Sir!« brüllte er und schlug die Hacken zusammen. Da erschien Arwenack auf der Kuhl. Er hüpfte auf zwei Beinen. Der ganze Stolz des Hauptmannes sank in sich zusammen. Kläglich sah er zu, wie der Affe sich auf allen vieren niederließ, ihn anstarrte und die Zähne fletschte. Dem Hauptmann schien es, als grinse der Affe, und als er dann auch noch in den Großmars aufenterte, wurde er bleich im Gesicht. »Nicht schon wieder, Sir«, sagte er kläglich. »Dieses Vieh macht mich noch ganz krank. Ja, ich ...« Gehetzt sah er sich um, er wollte sich einen guten Abgang verschaffen. »Ich - äh habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.« Hasard biß sich auf die Unterlippe. Überall an Deck taten die Männer so, als seien sie voll beschäftigt. Jeder ging einer geheimnisvollen, emsigen Tätigkeit nach, und jeder grinste. Rückwärtsgehend, den Affen starr im Auge behaltend, tastete Taunton sich achteraus. Dieses Biest, dachte er immer wieder, dieser hinterhältige giftige, haarige Zwerg, der führte doch wieder etwas im Schilde. Er sah die menschenähnlichen Züge, sah das diabolische Grinsen und sah, wie der Affe ausholte. Mit einem wilden Satz flankte Taunton über das Schanzkleid auf die Schaluppe hinunter. Er hatte genug von diesem Vieh, das ihn in seinen Träumen verfolgte. Taunton wunderte sich eine Sekunde lang, warum er das Deck der Schaluppe nicht erreichte. Als er merkte, daß er um einen knappen Yard zu kurz gesprungen war, konnte er nicht mehr zurück. Er schnappte empört nach Luft, doch da schlug
schon das Wasser des Medway gischtend über ihm zusammen. Eine Minute später hatte Carberry den zappelnden Nußknacker am Kragen und hievte ihn an Deck. Zusammen mit Ferris Tucker stellten sie den triefenden Hauptmann auf die Planken. »Ist was, Sir?« fragte Tucker scheinheilig. »Ich glaube, ein Schluck Rum würde Ihnen jetzt guttun. Wie konnten Sie auch nur so unüberlegt springen, Sir! Um diese Jahreszeit muß der Medway doch verdammt kalt sein, oder?« »Ich - äh - ja, ich hatte es eilig.« Der Hauptmann schnatterte. Um ihn herum bildete sich eine Lache. Er sah nicht, wie auf der Galeone ein paar Männer überstürzt unter Deck hasteten, um sich dort halbtot zu lachen. Er fühlte nur, wie der Schiffszimmermann ihm die Rumbuddel an den Hals setzte. Er trank und trank. Und fühlte sich hundeelend. Der Sprung ins Wasser würde in die Geschichte eingehen, und die verdammten Hundesöhne von Seesoldaten würden noch wochenlang über ihn lachen. Und alles wegen dieses verfluchten Viehs, das jetzt wie ein böser Kobold in den Wanten hockte und Laute ausstieß, die verflucht nach einem schadenfrohen Gelächter klangen. »Den Rest können Sie mitnehmen, Sir«, sagte Tucker todernst und steckte Taunton die halbleere Flasche in die nasse Jackentasche. »Das war uns der Spaß wert«, fügte er leise hinzu. Taunton riß sich zu einem letzten Gruß durch, dann marschierte er völlig entnervt davon, an den Reihen der Seesoldaten entlang, die er wild musterte, ob nicht einer von ihnen verdächtige Zuckungen im Gesicht hatte. Ausnahmslos alle hatten steinerne Mienen. Taunton schien es, als habe niemand seinen unfreiwilligen Sprung bemerkt. Auf dem Achterkastell der Galeone stand der Seewolf. Sein Gesicht war kantig und so todernst, wie die Männer es nur selten gesehen hatten. Seine Faust war in Brusthöhe jedoch
drohend erhoben - bis Taunton endgültig aus ihrer Sicht verschwunden war. Dann erst ließ er die Faust sinken, sein Gesicht entspannte sich, die Lippen verzogen sich, bis man die zwei Reihen schneeweißer Zähne sah. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging nach unten. »Jetzt könnt ihr lachen, ihr Rübenschweine«, sagte Carberry und beugte sich über die Nagelbank. Sein mächtiger Körper wurde hin und her geschüttelt, aus seiner Kehle drangen gurgelnde Laute, und aus den Augen perlten ihm zwei dicke Tränen. Es war für lange Zeit das letzte Mal, daß sie Ed Carberry so herzhaft lachen hörten. * »Einmastige Barke auf Backbord!« ertönte Dans Stimme aus dem Großmars. Die Mannschaft hatte gegessen. Mittagszeit war gerade vorüber. Der Wind blies jetzt von Nord, er hatte noch weiter gedreht, so wie Hasard es sich gedacht hatte. Ein paar Männer stürzten an Deck und blickten in die von Dan angegebene Richtung. Eine einmastige Barke steuerte aus der Themse heraus und segelte jetzt in den Medway. Mit geblähten Segeln fuhr sie in Richtung der ›Isabella‹. Knapp drei Kabellängen von der Galeone entfernt wurden die Segel eingeholt. Die Barke verlor an Fahrt. Dafür wurde sie jetzt gepullt. Auf jeder Seite tauchten acht Riemen ins Wasser, die das Schiff zügig vorwärtsbewegten. »Welches Schiff?« brüllte Dan O’Flynn, als die Barke bis auf Rufweite heran war. »Kapitän John Smeet, aus dem Stab des Lordadmirals«, tönte es zurück. »Auf Order des Lordadmirals beauftragt, die ›Isabella‹ als Lotse zum Tower Kai zu bugsieren.«
Ferris Tucker, der die Worte ebenfalls gehört hatte, ging nach achtern, zu Hasards Kammer. »Der Lotse ist da, Hasard. Er wird gerade hergepullt.« »Ich komme gleich mit. Wie sieht der Kerl aus?« »Ein Fettwanst. Dick wie ein Schweinchen.« Hasard stieg nach oben, zusammen mit Ferris. Die Barke war heran. Nur ein paar Yards trennten sie noch von der Galeone. Die Riemen tauchten ins Wasser, diesmal um die Barke abzustoppen. »Kommen Sie bitte an Bord, Kapitän Smeet!« rief Hasard hinunter. »Ich danke Ihnen, Kapitän«, klang es zurück. Über die Jakobsleiter enterte der falsche Lotse an Bord. John Smeet, alias Noah Buckle, aufgeputzt und elegant, fettleibig und jovial mit der ringgeschmückten Hand winkend. Mit weltmännischer Geste reichte er Hasard die Hand, blickte ihm treuherzig in die Augen und lächelte. Hasard gab den Händedruck unlustig zurück. Der Kerl gefiel ihm auf den ersten Blick nicht. Er wirkte zwar gepflegt und elegant, aber der äußere Habitus hielt Hasard nicht davon ab, in Kapitän John Smeet einen alten, verschlagenen Gauner zu sehen. Fast erinnerte er ihn ein wenig an Nathaniel Plymson, den fetten Wirt aus der Bloody Mary, Plymouths übelster Hafenspelunke, die sie regelmäßig auf den Kopf stellten. Der war auch so nett und freundlich, aber in Wahrheit ein durchtriebener Strick, der es faustdick hinter den Ohren hatte. »Es ist mir eine Ehre, Sie zum Tower Kai bugsieren zu dürfen«, sagte der falsche Smeet. »Ein so stolzes Schiff ...« »Würden Sie sich bitte ausweisen, Kapitän Smeet?« unterbrach Hasard kühl das Geschwätz des Dicken. Einen Moment blitzte es in Smeets Augen auf, doch dann überzog falsche Freundlichkeit sein feistes Gesicht. »Verzeihen Sie bitte. Ich habe nicht daran gedacht, es
erschien mir selbstverständlich, daß ...« Er kramte in seiner Jacke und überreichte Hasard ein Schriftstück, das ihn auswies. Das Schriftstück hatte Baldwyn Keymis hervorragend gefälscht. Es erregte auch nicht Hasards Mißtrauen - nur der Kerl selbst gefiel ihm nicht. Fast glaubte er, überall Gespenster zu sehen. Er bestand nur noch aus Mißtrauen. »In Ordnung«, sagte Hasard kühl. »Dann steht unserer Abfahrt wohl nichts mehr im Weg.« »Das liegt allein bei Ihnen, Kapitän Killigrew«, sagte Smeet. Vor diesem schwarzhaarigen Teufel mußte er sich in acht nehmen, überlegte der falsche Lotse. Der Kerl hatte so eine Art an sich, mit der er andere Leute glatt überfuhr. Dem konnte so leicht keiner etwas vormachen. Smeet rieb sich in Vorfreude auf den Schatz, der im Bauch der Galeone ruhte, die feisten Hände. Ein Strahlen überzog sein Gesicht. Er bemerkte nicht den Mann, der auf dem Achterkastell auftauchte und hinab zur Kuhl blickte. Ben Brighton sah den feisten Mann in der eleganten Kleidung, wollte sich abwenden und blickte gleich darauf noch einmal genauer hin. Er stutzte. Diesen feisten Kerl kannte er doch! Irgendwo hatte er ihn schon einmal gesehen. Aber wo nur? Er zog sich etwas zurück, damit der andere ihn nicht sah. Klar, den Kerl hatte er in Erinnerung, und zwar in keiner guten. Irgend etwas Unangenehmes verband sich mit ihm. Er grübelte vor sich hin, aber es wollte ihm nicht einfallen. Vor seinem geistigen Auge zogen blitzartig Erinnerungen vorüber. Vergeblich, es fiel ihm nicht ein. Dennoch ließ es ihn nicht los. »Wir haben auflaufendes Wasser«, sagte in diesem Moment Hasard zu dem Lotsen. »Dazu Nordwind. Wir können lossegeln.« Smeet nickte erfreut. »Wie Sie befehlen, Sir!«
Hasard ging ein paar Schritte nach Backbord hinüber, wo Ferris Tucker stand. »Schiff klar zum Auslaufen, Ferris. Wo steckt Ben denn?« »Vorhin sah ich ihn auf dem Achterkastell. Vermutlich hält er sich jetzt immer noch da auf.« »Merkwürdig. Sein Platz wäre im Augenblick woanders.« Hasard ließ sich seinen Unmut anmerken. Brighton hatte für gewöhnlich die Befehle weiterzugeben. Weshalb ließ er sich nicht blicken? Ferris wandte sich schulterzuckend ab. Hier an Bord lief alles verkehrt herum, seit sie in diesem verdammten Sheerness gelandet waren. Es schien, als spielte jeder für sich ein wenig verrückt. Er scheuchte die Mannschaft hoch. Die übliche Arbeit begann. Gleichzeitig kam der große Abschied von den Kameraden, die auf der Schaluppe blieben. Carberry, Big Old Shane und der alte O’Flynn schüttelten dem Seewolf die Hand. Batuti, der riesenhafte Gambia-Neger sah Hasard wehmütig in die Augen. »Batuti werden traurig sein, wenn kleines Dan und großes Seewolf wegsegeln«, versicherte er. »Kommen bald wieder, Hasard, sonst Batuti euch alle holen werden aus London.« Hasard klopfte dem Neger auf die Schulter. »Keine Angst, Batuti. Wir kommen zurück.« Die anderen verabschiedeten sich ebenfalls. Jeder hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, und der alte O’Flynn, der Bursche mit dem verwitterten Gesicht, raunte dem Seewolf zu: »Es wird Ärger geben, Hasard, ich fühle es in meinem Holzbein. Immer wenn es weh tut, gibt es Stunk.« »Dann schnall es doch ab«, sagte das Bürschchen grinsend zu seinem Vater, und knuffte ihn in die Rippen. »Höchstens, um dich damit zu vertrimmen, du Rotznase«, brauste der Alte auf. »Benimm dich anständig in London, sonst ...« Weiter gelangte er nicht, denn die ganze Crew fiel grölend
ein: »... ziehen wir dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!« »Fock und Besan hoch!« erscholl Tuckers Stimme an Deck. Mehr Segel wollte der Seewolf nicht setzen lassen, denn erstens blies der Wind jetzt kräftiger und zum anderen würde die Flut das Schiff schieben. Smeet näherte sich dem Seewolf. »Eine Bitte, Kapitän«, sagte er devot. »Würden Sie mir gestatten, die Barke an Ihr Schiff anzuhängen?« »Ja, natürlich. Lassen Sie sie anhängen!« »Vielen Dank, Sir.« »Ich bin kein Sir, verdammt«, entgegnete Hasard. »Ich bin nur ein einfacher Kapitän.« Der Dicke schluckte, anschließend räusperte er sich. »Ist sonst noch etwas?« fragte der Seewolf ungehalten. »Noch eine Bitte, Kapitän, oder ein Vorschlag, besser gesagt. Ich habe sechzehn Rudergasten an Bord. Wir könnten sie hier auf die ›Isabella‹ übernehmen. Es sind gute Leute, sie können mit Galeonen dieser Größe hervorragend umgehen, und sie können kräftig zupacken, wenn es sein muß. Darf ich sie an Bord lassen?« In Hasards Augen schienen Eissplitter zu tanzen, als er sich dem Fettwanst hart zuwandte. Den Dicken mußte er wohl oder übel akzeptieren, aber sechzehn fremde Kerle an Bord? Das kam überhaupt nicht in Frage. Sollten die verdammten Rudergasten in ihrer Barke hocken bleiben, bis sie schwarz wurden. »Hören Sie mir mal zu, Kapitän Smeet«, sagte Hasard mit gefährlicher Ruhe. »Ihre Kerle bleiben dort, wo sie sind, verstanden? Meine Männer und ich haben die Galeone um die halbe Welt gesegelt, wir haben sie immer noch dahin gebracht, wohin wir sie haben wollten. Ich habe ausgezeichnete Männer an Bord, die das Schiff notfalls ohne Lotsen auch direkt in die Hölle segeln würden. Ich müßte mich vor mir selbst schämen,
wenn ich sechzehn Mann an Bord nähme. Meine Leute kämen sich wie komplette Idioten vor, nur weil wir dieses kleine Stückchen Themse nicht allein schaffen sollten. Deshalb werden Ihre Leute in der Barke bleiben, Kapitän Smeet.« Im Mienenspiel des Dicken ging etwas vor, was den Seewolf augenblicklich verblüffte. Das feiste Gesicht wurde gallig, hart und verkniffen, die Augen zogen sich zu winzigen Schlitzen zusammen. Eine eiskalte Drohung sprach daraus. Der Lotse wechselte die Farbe. Hart knirschten seine Zähne aufeinander. Er selbst las in den Augen des Seewolfes eine noch tödlichere Drohung. Diese eisblauen Augen durchbohrten ihn förmlich, nagelten ihn auf der Stelle fest. Buckle erkannte, daß er zu weit gegangen war. Diesen Mann durfte niemand unterschätzen, der war aus Eisen, der war heißer als die Hölle, den überrumpelte niemand. Ein knallharter Klotz, der sich vor nichts fürchtete, der zog selbst dem Teufel in der Hölle mit Genuß die Zähne. Einem solch harten Burschen war er noch nie begegnet, und Noah Buckle kannte gewiß eine ganze Menge verteufelter, harter Kerle. Kein Wunder, wenn sich im Bauch der Galeone unschätzbare Reichtümer häuften. Dieser Pirat hatte sie den Spaniern eiskalt abgenommen, der hatte sich immer und überall durchgesetzt. Blitzartig wechselte wieder sein Mienenspiel. Er deutete eine kleine Verbeugung, an und lächelte dann entwaffnend. »Tut mir leid, Kapitän Killigrew. Ich wollte Sie nicht kränken. Ich wußte nicht, daß ich damit Ihren Stolz verletzte. Selbstverständlich akzeptiere ich Ihren Standpunkt.« Smeet drehte sich um und ging zum Achterkastell. Hasard warf einen schnellen Blick auf die sechzehn Rudergasten in der Barke. Die hatten natürlich jedes Wort gehört, und jetzt hockten sie mit dämlichen Gesichtern herum, starrten den Seewolf an und grinsten blöde. Sie alle hatten nicht mit der schroffen Ablehnung gerechnet. Das Mißtrauen in Hasard keimte weiter. Er mußte sich
gewaltsam zusammenreißen, um es nicht zu deutlich zu zeigen. Überall witterte er Feinde, überall sah er nur noch Halunken, die sich die Beute der Galeone unter den Nagel reißen wollten. Was sollte jetzt wohl noch passieren? Ihr Ziel lag dicht vor ihnen, wer konnte ihnen jetzt noch Schwierigkeiten bereiten? Niemand! entschied er. Sie hatten sich durch alle Weltmeere geknüppelt, waren mit allen Gefahren fertiggeworden, und jetzt lag vor ihnen nur noch ein lächerlich kurzer Weg. Abrupt wandte er sich ab. »Alle Leinen los und ein!« brüllte er mit einer Stimme, die selbst Carberrys Organ noch übertraf. Die Männer zuckten unter der peitschenden Stimme zusammen. Fock und Besan waren gesetzt, das Schiff drängte von der Schaluppe weg, als wollte es allein und mit aller Gewalt in sein Element hinaussegeln. Am Ruderstock stand Pete Ballie, neben ihm der behäbig wirkende Lotse, dessen Blick andächtig über Deck huschte. Den Seewolf erfaßte ein heiliger Zorn. Erst hatte er nach Ben gesucht, ihn auf dem Achterkastell vermutet, und jetzt trödelte der sonst so zuverlässige Mann auf dem Vorschiff herum. Das Ablegemanöver schien ihn nicht im geringsten zu stören. Er stand einfach herum und tratschte mit Smoky, dem Decksältesten. Die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich. Hasards Wangenmuskeln traten scharf hervor. Was, zum Teufel, hatte das alles zu bedeuten? Was ging hier vor? Er sah Smoky ein paarmal nicken, dann verschwand er unter Deck. Brighton redete jetzt mit Luke Morgan, dabei winkte er gleichzeitig zu der Schaluppe hinüber. Hasard legte sich schon das Donnerwetter zurecht, das er gleich über Brightons Haupt persönlich entladen würde. »Mister Brighton«, würde er scharf sagen, »Ihr Platz ist auf dem Achterkastell und nicht auf dem Vordeck. Wenn ich Sie also bitten dürfte ...«
Merkwürdig, jetzt stieg Smoky aus dem Niedergang wieder an Deck. Seine Hose war ausgeheult, seine Jacke hing etwas schief. Der Seewolf runzelte die Stirn. Morgan verschwand gerade unter Deck und Brighton ging zu Roskill und sprach mit ihm. Es sah ganz harmlos aus, so als unterhielten sie sich über etwas Belangloses. Dann tauchte einer nach dem anderen unauffällig wieder auf, mit vollgestopfter Jacke oder ausgebeulten Hosen. Hasard hatte das Gefühl, als hätten die Männer sich mit Waffen versorgt. Sie verteilten sich an Deck und verrichteten ihre Arbeit. Unterdessen glitt die ›Isabella‹ weiter, ihre Fahrt nahm zu. Der Flutstrom schob jetzt kräftig mit. Hinter ihnen hing die Barke mit den sechzehn verdatterten Rudergasten. Ben Brighton blieb stur auf dem Vorschiff, als sei er dort angewachsen. Jetzt wurde es dem Seewolf zuviel. Er hatte einfach genug von den geheimnisvollen Vorgängen. »Ferris! Du übernimmst für eine Weile das Kommando«, sagte er zu dem Schiffszimmermann. »Ich möchte doch einmal wissen, was Mister Brighton auf der Back zu tun hat.« »Aye, aye«, erwiderte Tucker. Wenn der Seewolf »Mister« Brighton sagte, dann standen sie kurz vor dem Tor zur Hölle. Dann würde sich gleich ein großer Schlund auftun und sie mit heißem Atem verschlingen. Der fette Lotse hatte von den Vorgängen nichts bemerkt. Dazu kannte er die Mannschaft nicht. Hasard ging über die Kuhl, durchquerte sie, enterte zur Back auf und blieb dicht vor Ben Brighton stehen. »Mister Brighton«, sagte er mit erzwungener Ruhe. »Würden Sie wohl die Güte haben, mich an Ihrem Plauderstündchen teilhaben zu lassen? Würden Sie mir das bitte erklären?«
7.
Selten hatte er ein grimmigeres Gesicht gesehen. Ben Brighton stand da, seine Augen blitzten, sein flüchtiges Grinsen war hart und kalt, zugleich. »Aye, aye, Sir, ich werde Ihnen das erklären. Mit Vergnügen, Sir! Ich habe die Männer unauffällig unter Deck geschickt, damit sie sich bewaffnen. Das haben sie getan, jeder von ihnen ist jetzt bis an die Zähne bewaffnet, mit Messern und Pistolen.« Er trat einen Schritt weiter auf den Seewolf zu. »Hasard«, sagte er eindringlich, »glaubst du wirklich, ich vertrödele meine Zeit hier vorn und unterhalte mich? Du solltest mich kennen, ich habe gute Gründe dafür.« »Tut mir leid, Ben. Ich glaube, wir sind alle ein bißchen durcheinander. Was waren deine Gründe?« »Ich kenne diesen angeblichen Smeet irgendwoher, aber ich weiß beim Teufel nicht, wo ich diesen Fettwanst unterbringen soll. Ich weiß nur, daß mit ihm etwas nicht stimmt, und ich weiß mit absoluter Sicherheit, daß er auch nicht Smeet heißt. Er ist jemand anderer, ich komme noch dahinter. Seit diese Ratte an Bord ist, grübele ich darüber nach. Eine unangenehme Erinnerung drängt sich mir auf, doch jedes Mal reißt bei mir der Faden. Begreifst du nun, warum ich so gehandelt habe?« »Ja, ich begreife, Ben. Du verstärkst nur meinen Verdacht. Ich selbst kenne den Kerl nicht, aber warum wollte er, daß seine sechzehn Kerle unbedingt an Bord sollten? Das stinkt doch zehn Meilen gegen den Nordwind!« »Dann bist du wenigstens nicht der einzige, der mißtrauisch ist. Jetzt glotzt der Kerl in unsere Richtung!« Ben zeigte mit der Hand übers Wasser. Für Smeet sah es so aus, als würden die beiden Männer sich gegenseitig etwas erklären. »Ich kann mich auf dem Achterkastell nicht blicken lassen, Hasard. Wenn ich den Kerl kenne, dann kennt er mich auch. Wenigstens setze ich das voraus.«
»Ja, das ist logisch. Gut, dann bleibe hier, ich gehe wieder zurück. Tucker hat solange das Kommando. Und paß gut auf! Der Kerl plant etwas. Er war ziemlich verärgert, weil ich seine Leute nicht an Bord gelassen habe, aber er scheint ein erstklassiger Schauspieler zu sein, er beherrscht sich vorbildlich. Und er ist die Liebenswürdigkeit in Person.« »Wenn er etwas vorhat, dann ist sein Plan zum großen Teil schon mit Sicherheit in die Hose geangen. Das wurmt ihn. Jedenfalls steige ich noch dahinter, wem diese fette Visage gehört.« Erleichtert ging der Seewolf zurück. In der Kuhl standen Smoky und die beiden Dänen. Smoky zwinkerte dem Seewolf verstohlen zu. »Sämtliche Holzaugen sind wachsam auf die Umgebung gerichtet«, sagte er grinsend. »Hier stinkt’s nämlich.« »Ganz richtig, Smoky. Es stinkt nach dem Pesthauch, der aus offenen Gräbern herüberweht. Gebt gut acht!« Auf dem Achterkastell nahm der Seewolf wieder seinen Platz ein. Smeet grinste ihm jovial zu. »Ein stolzes Schiff, diese Galeone, Kapitän. Sie läßt sich wunderbar segeln, ganz phantastisch.« Hasard erwiderte das Grinsen unverbindlich. Er fühlte, wie ein ungeheurer Druck langsam von ihm wich. Du kannst ruhig grinsen, mein lieber Smeet, dachte er, bloß wird dir dein verdammtes Grinsen sehr rasch vergehen. »Ja, sie segelt sich prächtig, die alte ›Isabella‹, obwohl sie nur mit halbem Zeug läuft.« Smeet biederte sich auch weiterhin an, zumindest versuchte er es. Er ahnte nicht, daß der Seewolf höllisch auf der Hut war und überall an Deck bewaffnete Männer standen. Und die Gedanken von Noah Buckle blieben wiederum dem Seewolf verborgen. Unter dessen Perücke knisterte es. Der schöne Plan, den er und Keymis ausgeheckt hatten, verlor zwar etwas an Farbe, aber deshalb wurde er noch lange nicht
verworfen, nur weil er an der Sturheit des Seewolfes anfänglich gescheitert war. Buckle hatte sich das ganz anders vorgestellt. Die sechzehn Kerle an Bord sollten querab von Gravesend schlagartig über die Crew des Schiffes herfallen. Zehn weitere Kerle verbargen sich unter dem Verdeck der Barke, insgesamt also sechsundzwanzig Mann, erprobte Kämpfer, Themsepiraten und Verbrecher. Drei kleine Küstensegler hatte Buckle bei Gravesend ebenfalls in Bereitschaft stehen, die sofort eingreifen sollten. Nach dem schlagartigen Überfall sollte die ›Isabella‹ in einen ruhigen Nebenarm der Themse bugsiert, dort entladen und anschließend versenkt werden. An Land standen und lauerten Bobachterposten. Die Nachricht, in welcher Position die Galeone sich jeweils befand, wurde fortlaufend durchgegeben. Und in Buckles Gasthaus hockte der Friedensrichter Keymis, der die ganze Aktion in höllischer Vorfreude abwartete. Das alles ahnte der Seewolf nicht, als sie sich jetzt der Halbinsel Canvey an Steuerbord näherten. Die ›Isabella‹ lief gute Fahrt. Prall vom Wind gefüllt, standen die Focksegel und der Besan. Immer noch schob die Flut kräftig mit und drückte die Galeone in Richtung Tilbury. Hier schlug die Themse einen Bogen und floß in Nord-SüdRichtung. Hasard fiel auf, daß der Lotse immer häufiger einen Blick nach achtern warf, zu der Barke hin, in der die sechzehn sauren Kerle hockten und Däumchen drehten. Hilflos hingen sie im Kielwasser der Galeone und starrten das verzierte Heck an. Hasard freute sich, daß sie einen so prächtigen Ausblick genossen. Da konnten sie sich an den künstlerischen Schnitzarbeiten der Spanier ergötzen. Buckles Blick kehrte wieder zurück. Unter seiner Perücke kochte der Schweiß, kleine Tropfen liefen ihm übers Gesicht, die er mit ärgerlicher Bewegung wegwischte.
»Etwas mehr Backbord«, sagte Buckle zu Pete Ballie. Leicht schwenkte der Bug herum, als der Druck auf den Kolderstock erfolgte. »Gut so. Das genügt.« Rauschend durchpflügte der stolze Bug die See. Ab und zu gischtete es vorn hoch und ein leichter Sprühregen wehte über die Back. Buckles Zeigefinger stach nach Backbord hinüber. Dann zeigte er auf Pete Ballie. »Ruder noch mehr Backbord!« befahl er. »Mehr auf die gegenüberliegende Uferseite halten. Dort drüben liegt Gravesend. Da müssen wir ganz hart Backbord bleiben, hart daraufzuhalten!« Ballie befolgte den Befehl, der Bug drehte weiter ab. »Weshalb so hart ans Ufer?« fragte Hasard. Buckle wischte sich wieder den Schweiß von der Stirn. Er lächelte überlegen. »Die Fahrrinne am Südufer ist wesentlich tiefer, Kapitän. Ich fahre diese Strecke sehr oft. Drüben liegt Schwemmsand.« Klar, das war ohne weiteres möglich, überlegte Hasard. Er sah darin nichts Schlimmes. Der Mann schien die Themse jedenfalls zu kennen, auch wenn er nicht der war, für den er sich ausgab. Backbord voraus tauchten drei Segler auf, Küstensegler, die sich vergeblich bemühten, gegen die Flut anzusegeln. Es schien, als kämen die drei Segler nicht vom Fleck. Hasard zog sich etwas zurück, bis er auf Ferris Tucker stieß, der sich auf dem hinteren Teil des Achterkastells aufhielt. Hier konnte der Lotse sie nicht hören. Tuckers riesige Axt lehnte am Schanzkleid. Er starrte zu der hinterherrauschenden Barke hinunter und wandte sich dann dem Seewolf zu, als der auf ihn zutrat. »Ein merkwürdiger Kurs«, sagte Tucker. »Warum gehen wir so hautnah an Land? Sollen wir vielleicht die Hasen füttern?«
»Drüben liegt angeblich Schwemmsand, hier ist es tiefer, wie der Lotse erklärte. Hat Ben dir etwas gesagt?« Tucker nickte grinsend. Mit dem Daumen deutete er auf die Axt mit der breiten, scharfgeschliffenen Schneide. Der Seewolf ergriff sein Spektiv, zog es auseinander und richtete es auf die drei Segler, die wie festgewachsen auf der Themse lagen. »Merkwürdig, daß die Kerle den Flutstrom nicht aussegeln können«, sagte er. Im Spektiv erschienen Gesichter. Bärtige, wilde Gesichter waren es, die stur zur ›Isabella‹ glotzten, statt sich um ihr Vorwärtskommen zu kümmern. Sie hockten in den Booten und starrten sich die Augen aus. Und Fahrt liefen sie so gut wie keine. Hasard reichte das Spektiv an Tucker, der eine Weile lang hindurchblickte. Er nahm jeden einzelnen der Segler aufs Korn, begutachtete sie und schüttelte dann, den Kopf. »Ziemlich wüste Kerle«, war sein Kommentar. »Was gibt es an unserer Galeone so Großartiges zu sehen? Wenn die sich nicht bald um ihre Schiffchen kümmern, dauert es nicht lange und sie segeln übers Ruder achteraus.« »Freut mich, daß du es auch merkwürdig findest«, sagte Hasard. »Mich beschleicht nämlich in ständigem Maße das Gefühl, als sähe ich nur noch Schnapphähne, Piraten und Schurken.« »Da bist du bestimmt nicht der einzige, der diese Gefühle hat. Ich träume schon nachts davon. In der Karibik wußte man wenigstens immer, wen man vor sich hatte. Hier kann man nur noch Vermutungen anstellen, mehr nicht.« »Du sprichst mir aus der Seele, Ferris. Paß gut auf deine Axt auf, vielleicht brauchen wir sie noch dringend.« »Das verspreche ich dir.« Hasard ging wieder zurück, um den Kurs zu begutachten, der die Galeone jetzt haarscharf ans Ufer führte.
8.
Noch einer wurde von Gefühlen durchtobt, als Gravesend näherrückte: Ben Brighton. Er, der harte Kerl, schwelgte plötzlich in Erinnerungen, die ihn überfielen. Auf seinem Gesicht lag ein fast weicher Zug, seine Augen saugten sich am Land fest, die Erinnerung überfiel ihn wie ein Brecher, der über Deck tost. Hier, in Gravesend, war er als vierter von sechs Söhnen geboren. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Wie lange war es schon her, daß er nicht mehr zu Hause gewesen war? Fünf Jahre, sechs? Es mußten schon mehr als sechs Jahre sein. Er nahm das Spektiv zur Hand, zog es bedächtig auseinander und blickte hindurch. Und ihm war, als blicke er durch ein Fenster in die Vergangenheit. Er hörte nicht mehr das Rauschen des Wassers, er sah nicht mehr die geblähten Segel, er sah nur seine Kindheit wie einen Bilderreigen an sich vorüberziehen. Gravesend ... Barney, so hieß der älteste Bruder, Barnabas eigentlich, aber das war die Abkürzung, genau wie Ben für Benjamin. Alle sechs Söhne hatten einen Vornamen, der mit dem Buchstaben B begann. Barney ernährte die Mutter, seit der Vater auf See geblieben war. Er war Fischer, selten zu Hause, die Mutter schlug sich mit den sechs Söhnen schlecht und recht durch. Vier hatten es nur sein sollen, doch später hatten sich noch zwei Nachzügler hinzugesellt. Der Strand, an dem sie spielten, Steine ins Wasser warfen. Er und. Bobby, sein kleinerer Bruder. »Gehen wir zum Ufer, Ben?« fragte Bobby. Er war zehn Jahre alt und ähnelte Ben aufs Haar. »Klar, zum Gasthaus. Dort ist es immer so unheimlich.«
Das Gasthaus, oftmals heimliches Ziel und Beobachtungsstation der beiden Jungen, besaß magische Anziehungskraft. Es war ein dunkles, düster wirkendes Gebäude, eine Herberge für Durchreisende. Die beiden Jungen waren jedesmal aufs neue fasziniert von dieser düsteren Stätte und von den seltsamen Leuten, die da verkehrten. Da erschienen bärtige Gestalten, Männer, die wie Seeräuber aussahen, mit grimmigem Blick, die viel tranken, sich dann prügelten und mit ihren Segelbooten wieder wegfuhren. Ben und Bobby liefen am Ufer entlang, bis sie die hölzernen Pfähle erreichten, die ins Wasser ragten und das Gasthaus an der Vorderseite stützten. Ein paar kleine Boote lagen darunter und schaukelten auf den Wellen. Die Pfähle im Wasser waren mit dicken Schichten dunkler Muscheln und Algen bewachsen. Hier, im Wasser, wirkte der Vorbau noch unheimlicher als von der anderen Seite. »Hast du Angst?« fragte Ben. Bobby nickte verstört. Er war aufgeregt, und er konnte kaum sprechen. »Wenn der Kerl uns sieht, verprügelt er uns.« »Ach was! Wenn er auftaucht, laufen wir schnell weg. Unterm Steg lang und dann am Ufer weiter. Der kriegt uns nicht.« »Ich hab trotzdem Angst, Ben.« »Brauchst du nicht, ich bin ja bei dir. Wir fahren nur ein wenig mit den Booten, dann hauen wir wieder ab.« Dagegen konnte Bobby nichts sagen. Und vor seinem Bruder Ben wollte er schon gar nicht als Feigling dastehen. Dennoch klopfte sein Herz, wenn er an den Wirt dachte, diesen dicken, unheimlichen Kerl, der für Kinder und Jungen kein Verständnis hatte. Leise bestiegen sie eins der Boote und lösten das Tau. Ben, der schon rudern konnte, tauchte die Riemen ein und bewegte
das Boot fast lautlos zwischen den Holzpfählen hindurch. Auch ihm war nicht ganz geheuer, was sie taten. Alle hatten sie Angst vor dem Wirt, obwohl sich diese Angst mehr noch auf die Herberge selbst bezog. Die Erwachsenen in Gravesend tuschelten untereinander, daß es im Gasthaus nicht mit rechten Dingen zugehe. Reisende, die dort eingekehrt waren, hatte kein Mensch mehr fortgehen sehen. Ein reicher Kaufmann, der dort übernachtete, blieb spurlos verschwunden. Und immer wieder passierte es, daß man Menschen hineingehen, aber nicht mehr herauskommen sah. Für Ben und Bobby war das ein unheimliches Erlebnis, ein Nervenkitzel. War der Wirt vielleicht ein Mörder? »Mann, hör auf, mit den Zähnen zu klappern!« fuhr Ben seinen jüngeren Bruder an. »Das hört der Dicke ja bis in die Kneipe.« Er ruderte ein paar Yards weiter, selbst von einem unerklärlichen Angstgefühl befallen, das er sich aber vor seinem Bruder nicht anmerken lassen konnte. Plötzlich wurde Bobby bleich im Gesicht. »Da - da - kommt er«, flüsterte er. »I - ich hab’s ja gleich gesagt ...« »Bleib sitzen!« zischte Ben. »Er kann uns nicht sehen, es ist ja gleich dunkel.« Noch war es lange nicht dunkel. Nur die ersten Dämmerungsschleier tauchten auf und schufen Zwielicht. Vielleicht prägte sich den beiden Jungen aus diesem Grund die Szene ganz besonders ein. Eine breite Holztür öffnete sich dort, wo die Balken fest zusammengefügt schienen. Die Stelle lag genau über dem Wasser. Eine Leiter wurde heruntergeschoben. Der dicke Wirt stieg hinunter, es sah so aus, als wollte er direkt ins Wasser steigen. Diesmal war auch Ben wie gelähmt, als er die beiden Männer sah, die ihm folgten. Reglos verharrte er hinter den Pfählen im
Boot. Seine Augen waren weit aufgerissen. Bobby hatte den Mund zu einem Schrei geöffnet, der nicht über seine Lippen kam. Die beiden Männer, die dem Wirt die Leiter hinab folgten, reichten einen länglichen Gegenstand hinunter. Unfähig, sich zu rühren, starrten die beiden Jungen auf einen länglichen Sack, den der Wirt schnaufend in Empfang nahm und ihn dann ins Wasser warf. Der leichte Strom trieb den länglichen Sack zwischen den Pfählen hindurch, ganz dicht schwamm er an ihrem Boot vorbei. Mit starren Augen verfolgten sie den Sack. Er hatte die Gestalt eines Menschen, die Körperform, den Kopf, dann die reglos starren Beine, die so unheimlich wirkten. Und dieser Sack stellte sich jetzt ganz langsam im Wasser auf und glitt mit den Füßen voran in die Tiefe. Luftblasen stiegen hoch, die Umrisse des Menschen schienen sich vor den beiden Jungen verneigen zu wollen, ehe sie langsam in der Tiefe verschwanden. Da stieß Bobby einen wilden Schrei aus, gerade in dem Augenblick, als der Wirt die Leiter hinaufsteigen wollte. Ben sah sein feistes Gesicht, kalte, gnadenlose Augen, die genau in ihre Richtung blickten. Wie ein Verrückter begann er zu pullen. Nur fort von hier, von dieser grausigen Stätte, durchzuckte es ihn. Die Angst verlieh ihm Riesenkräfte. Er hörte den Wirt brüllen, die beiden Männer antworteten. Er verstand nicht, was sie sagten, aber er wußte, daß es ihnen galt. Das Boot schoß weiter, zur hölzernen Pier hinaus. Da tauchte aus dem dunklen Wasser plötzlich wieder dieser Sack auf, begleitet von einigen Luftblasen. Er trieb dicht am Boot vorbei, drehte sich um sich selbst und versank wieder. Ben wußte nicht mehr, wie er an die Pier gelangt war. Er sah nur, wie Bobby losrannte und laut um Hilfe schrie. Da rannte er auch, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Er lief und
lief, und hatte das Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen. Vor ihm tauchten die beiden Kerle auf, die den Sack hinuntergereicht hatten. Mit klopfendem Herzen und stechenden Lungen kehrte er um. Eine mächtige Faust packte ihn, und Ben hatte das Gefühl, jeden Augenblick sterben zu müssen. Er sah das feiste Gesicht des Wirtes vor sich, spürte den Atem nach saurem Wein, der ihm ins Gesicht schlug und sah die eiskalten Augen. »So, du Lümmel, jetzt hab ich dich!« hörte er eine Stimme brüllen. Ben wand sich in den starken Fäusten, die ihn festhielten. Es half nichts, den Bärenkräften des Mannes hatte er nichts entgegenzusetzen. Und als er schrie, schlug ihm eine haarige Pranke hart ins Gesicht. Aus seiner Nase schoß Blut, die Lippen platzten auf. Da spürte er den nächsten Schlag, wieder einen, ein Tritt in den Leib, Fäuste rissen ihn hoch, als er fiel, immer wieder klatschten ihm pausenlos die großen Hände ins Gesicht. Er stolperte, fiel hin, raffte sich auf. Ein Stiefel trat in sein Genick, als er wieder am Boden lag und hielt ihn fest. Und wieder droschen die Fäuste auf ihn ein. Ein letzter Schlag raubte ihm die Besinnung. Er blieb liegen, er konnte nicht mehr. Alle Stellen seines Körpers waren wie tot, die Rippen brannten, sein Gesicht war so aufgequollen wie der Teig, aus dem seine Mutter immer Kuchen buk. Er spuckte Blut. Dieser Mistkerl hatte ihm zwei Zähne ausgeschlagen, er hatte ihn fast totgeprügelt. Nur Bobby war entwischt, der hatte die richtige Seite gewählt, um wegzulaufen. Und dann hatte dieses Schwein ihn einfach ins Wasser geschmissen, genau wie den unheimlichen Sack. Durch die Kälte kam er schlagartig zu sich. Etwas später konnte er sich an Land retten und schleppte sich, total gebrochen, nach Hause. Gravesend - ein Kindertraum mit einem schrecklichen
Erlebnis, das sich in seine Seele gebrannt hatte. * Ben Brighton seufzte tief. Einerseits schien es ihm schon ewig her zu sein, andererseits hatte er das Gefühl, als wäre das alles erst vor ein paar Tagen passiert. Er sah noch einmal durch das Spektiv. Weit voraus, auf Backbord erkannte er undeutlich und verschwommen das Gasthaus. Noah Buckles Gasthaus! Der Mann am Spektiv zuckte zusammen, als habe ihn ein greller Blitz getroffen. Abrupt verblaßten die Bilder der Vergangenheit, die nackte Wirklichkeit sprang ihn an. Noah Buckle! Smeet war Buckle! Jetzt wußte er, wo er den Kerl unterzubringen hatte. Buckle, der feiste Wirt, der Mörder! Ben Brighton fiel es wie Schuppen von den Augen. Na warte, du verfressener Fettsack, dachte er. Jetzt wirst du dein blaues Wunder erleben. Mit steinernem Gesicht schob er das Spektiv zusammen und reichte es Smoky. Der Decksälteste konnte den Gesichtsausdruck von Brighton nicht deuten. So hatte er Ben noch nie gesehen. Rache soll man kalt genießen, überlegte Ben, obwohl er am liebsten explodiert wäre. Dieser fette Halunke hatte eine ganz große Schweinerei vor. Sein Gesicht veränderte sich nicht, als er von der Back stieg, die Kuhl durchquerte und das Achterkastell enterte. Ziemlich dicht ging er an dem Lotsen vorbei. Kein Zweifel, das war Buckle. Der Kerl hatte sich kaum verändert, nur trug er jetzt eine Perücke. Ein wilder Triumph erfüllte Ben. Gelassen schritt er an Smeet vorbei, nickte dem Seewolf flüchtig zu und stand dann am Heck, an der Balustrade. Dort lehnte Ferris Tucker, und neben ihm stand die mächtige Axt, ein Monstrum von einem Werkzeug. Tucker
hatte immer noch die Bark im Auge. »Eine feine Axt, Ferris«, sagte Ben. »Ist sie scharf?« »Und ob!« versicherte der Schiffszimmermann. »Damit kann man sich rasieren.« Jetzt grinste Brighton, als er die Axt hob. Ein schneller Schlag, und die Schleppleine, an der die Barke hing, flog singend auseinander. Und dann ging es Schlag auf Schlag. Die Ereignisse überstürzten sich fast. Die Barke schoß sofort quer, als das Kielwasser der ›Isabella‹ gegen ihren Bug drückte. Sechzehn Kerle, die die Aktion verfolgt hatten und noch darüber nachdachten, erhoben sich in ihrem Boot und brüllten empört los. Fäuste wurden geschüttelt, drohende Worte flogen herüber, doch Ben Brighton lachte nur, er lachte sie aus, diese wilden Kerle, die jetzt hilflos in der Barke standen und die Fäuste schüttelten. Immer weiter fiel die Barke ab und lag quer zum Strom. Der Seewolf, der seinen Bootsmann beobachtet hatte, brachte im ersten Moment keinen Ton heraus. Da trieb die Barke quer zum Strom dahin, da stand grinsend Ben Brighton auf dem Achterkastell. Da hohnlachte Ferris Tucker, und da schnitt Smeet neben ihm ein Gesicht, das totale Ratlosigkeit ausdrückte. Und über das Deck der Galeone hallte Ben Brightons Stimme: »Klar Schiff zum Gefecht!« Bevor Hasard etwas entgegnen konnte, war Brighton mit drei schnellen Sätzen neben ihm. Der Bootsmann hatte sich in einen rasenden Teufel verwandelt. Seine Augen blitzten, sein ganzer sprungbereiter Körper drückte geballte Energie aus. Seine Hand zuckte vor und riß Buckle mit einem wilden Schwung die Perücke vom Schädel. Und dann ging es los. Noah Buckle wußte nicht mehr, wie ihm geschah. Eine Faust aus Eisen krachte in seine Visage, eine zweite Faust, fast noch
härter, knallte hinterher. Seine Zähne bogen sich zurück, knirschten hörbar, er erstickte fast an den beiden Schlägen. Er konnte nicht fallen, denn Ben hielt ihn fest. Er ließ seine ganze aufgestaute Wut an dem Kerl aus. Drei knallharte Schläge, auf die Rippen nahmen Noah Buckle die Luft und trieben ihm das Wasser in die Augen. Und immer wieder flogen diese eisenharten Fäuste auf ihn, von links, von rechts, von vorn. Er war selbst ein eisenharter, bärenstarker Kerl, der eine ganze Menge vertragen konnte. Diesem rasenden Teufel war er jedoch nicht gewachsen. Der tobte wie ein Taifun und drosch ihn nach allen Regeln der Kunst zusammen. Ben stieß den Mann vor sich her, mit knallharten Schlägen. Er spürte, daß er nicht auf Fettmassen schlug, er hämmerte auf Muskeln und Sehnen, und er schlug unermüdlich weiter. Hielt Noah schützend die Arme hoch, dann donnerten ihm die harten Schläge in den Magen. Nahm er sie herunter, dann explodierten sie in seinem Gesicht, schlossen ihm die Augen, rissen die Lippen auf, hieben ihm die Zähne in den Hals. Und dazwischen hörte er den keuchenden Atem des Mannes, der ihn erbarmungslos zusammenschlug. »Ich bleibe dir nichts schuldig, Buckle. Du kriegst jeden Cent voll zurück, mit Wucherzinsen, du verdammtes Schwein. Das hast du dir gedacht, was!« Einmal schaffte es Buckle, einen Schlag anzubringen, der Brighton am Hals erwischte und ihn taumeln ließ. Aber das stachelte die Wut des Bootsmanns nur noch mehr an. Wieder sprang er vor, schlug zu, links, rechts. Eine gestochene Gerade landete auf Buckles Nase, und da war sie platt, so platt, als wäre ihm der Fockmast darauf geknallt. Er würgte, wollte sich übergeben, doch Ben schlug ihm sofort eine drauf. Es war nicht nur der Zorn der Erinnerungen, der ihn so toben ließ. Es kam noch dazu, daß Buckle eine Schweinerei geplant hatte, die ihnen allen so kurz vor dem Ziel, das Leben kosten
konnte. Und dabei war ihnen das ganze Ausmaß noch gar nicht bekannt. Die Männer feuerten ihn an. »Ar-we-nack! Ar-we-nack!« Buckle taumelte unter den Schlägen von Back- nach Steuerbord, fiel immer wieder hin, raffte sich immer wieder auf, wurde immer wieder von Ben auf die Planken geschickt. Sie hörten ihn wimmern, den feisten Kerl, den feigen hinterhältigen Mörder, und sein Wimmern vermischte sich mit Schreien hilfloser Wut, die nach und nach in nackte Angst umschlugen. Dieser Teufel würde ihn erbarmungslos totschlagen. Schon jetzt sah er um sich herum nur noch feurige, glühendrote Nebel, hörte die anfeuernden Rufe der Männer aus unendlich weiter Ferne, spürte die Explosionen in seinem Körper und Schmerzen, als wäre ihm jeder Knochen einzeln gebrochen worden. Dieser rasende Teufel schlug ihn systematisch zusammen, und er kam nicht mehr hoch. Über Bord! hämmerte es in seinem Schädel. Du bleibst nur am Leben, wenn du über Bord springst. Deine Männer werden dich aus dem Wasser fischen. Aber wo ging es zur Reling? Blutrote Nebel wallten vor ihm auf, dazwischen bohrte sich etwas Schwarzes hindurch, das genau auf ihn zuraste. Sein letzter Rest Selbsterhaltungstrieb ließ ihn den Kopf zur Seite nehmen. Das Schwarze folgte jedoch beharrlich seiner Bewegung und rückte auf ihn zu. Seine Sinne waren getrübt. Er erkannte nicht einmal mehr, daß es Brightons Faust war, die auf einmal unendlich langsam, als brauchte sie Stunden, immer näher schwebte. Wieder krachte etwas in sein Gesicht, das sich zur Fratze verbog. Wie in einem Traum fühlte er sich angelüftet, leicht unendlich leicht, hob er sich empor, sein massiger Körper bog sich durch. Er hörte verzerrte Schreie. Es waren seine eigenen
-und dann fiel er, mitten hinein in einen endlosen Abgrund, durch endlose Tiefen des Weltalls, die keinen Anfang und kein Ende hatten. Erst als in seinem Schädel zum wiederholten Male eine ungeheure Detonation stattfand, sah er merkwürdigerweise klarer. Aus seinem zerschlagenen, blutenden Gesicht sah er sich um. Da war Wasser. Er wußte nicht, ob er rannte, taumelte oder sprang. Er sah nur das rettende Wasser, das näherrückte. »Ein verflucht zäher Brocken«, sagte Brighton. »Der hat so viele Leben wie eine Katze.« Seine Fäuste schmerzten, in seinen Handgelenken tobte es. Und immer noch kroch dieser so feist erscheinende Kerl auf dem Achterkastell herum, immer noch tastete er auf den Planken nach einem Halt. Und dann schaffte er es, bis an die Reling zu gelangen. Seine aufgeplatzten Lippen spuckten Worte aus, die keiner verstand. Er versuchte, über Bord zu springen, und fast wäre es ihm auch gelungen. Da griff der Seewolf, der ihm am nächsten stand, ein. Mit einem schnellen Griff packte er einen Belegnagel, riß ihn aus der Nagelbank und schmetterte das schwere Holz auf Buckles Schädel. Buckle riß die Arme hoch. Schlagartig war für ihn alles aus. Es dröhnte dumpf, als er auf die Planken schlug. Tucker klopfte Brighton auf den Rücken. »Ein guter Kampf«, lobte er. »Ich habe dich selten so wild zuschlagen sehen.« »Ich war ihm noch eine ganze Menge schuldig. Dort vorn, Backbord voraus, liegt seine Mörderbude, das Gasthaus bei Gravesend. Der Kerl hätte uns in eine prächtige Falle gelockt.« »Mehr Steuerbord!« rief Hasard Pete Ballie zu. »Der Schwemmsand war nur eine Erfindung von dem Kerl.« In kurzen Worten berichtete Ben Brighton, was er über den
vermeintlichen John Smeet wußte und wie er ihn entlarvt hatte. In der Zwischenzeit lief die ›Isabella‹ leicht nach Steuerbord ab, zur Strommitte hin. »Was geschieht jetzt mit diesem Mistkerl?« fragte Tucker und deutete auf Buckle, der verkrümmt an Deck lag. »Wenn es hier Haie gäbe, könnte man den Kerl einfach über Bord werfen, die würden ihm seine schwarze Seele schon auseinander reißen.« »Der soll vor ein ordentliches Gericht gestellt werden«, entgegnete Hasard verächtlich. »An dieser Ratte holen wir uns keine dreckigen Hände. Fesselt ihn und werft ihn in die Vorpiek, da kann er sich mit den Ratten unterhalten.« Das brauchte Hasard nicht zweimal zu sagen. Smoky schnappte sich den Kerl und verpaßte ihm ein paar solide Fesseln aus Hanf. Er ging dabei nicht gerade sanft mit Noah Buckle um. Zu zweit schleppten sie ihn in die Vorpiek, den Raum im Schiff, in dem bis jetzt noch der widerspenstigste Kerl kuriert worden war. Dort schwappte das Bilgewasser auf und ab, und mit jedem Eintauchen des Bugs floß die Brühe mal vor, mal zurück. Buckle kam allerdings nicht in den uneingeschränkten Genuß der Brackwasserwelle, weil das Schiff verhältnismäßig ruhig lag. Dafür würden ihm die Ratten Angst einflößen, wenn sie pfiffen und ihn neugierig musterten. In der Dunkelheit der Vorpiek konnte Buckle dann in aller Ruhe über seinen Plan nachdenken - und was er daran falsch gemacht hatte. * Einer rieb sich noch die Hände. Das war Baldwyn Keymis, der Friedensrichter, der in Noah Buckles Kneipe hockte, der Herberge ohne Wiederkehr. Durch das Spektiv hatte er einen wunderbaren Ausblick. Und
er hatte das Spektiv so lange an den Augen, bis er nichts mehr sah, nur noch rote Ringe und verwaschene Flecken. Diesmal würde es dem verdammten Seewolf endgültig an den Kragen gehen. Alles war bereit, alles war bestens durchdacht. Es konnte nichts mehr schief gehen. In der Barke befanden sich sechsundzwanzig knochenharte Kerle, erfahrene Themsepiraten, sechzehn als offizielle Rudergasten, zehn andere unter dem Vordeck. Die drei Segler standen gestaffelt im Flutstrom. Auch sie waren mit harten Burschen besetzt, die sich aufs Entern verstanden, und die nicht lange fackelten. Vielleicht mußten sie gar nicht eingreifen, vielleicht erledigten das die sechzehn Rudergasten, indem sie die Crew des verhauten Seewolfes blitzartig überfielen. Dann blieb nicht mehr viel zu tun. Die ›Isabella‹ würde in den stillen Nebenarm der Themse bugsiert, dort entladen und anschließend versenkt werden. Allerdings würde der Seewolf vorher noch an einer Rah baumeln. Dann konnte er zusammen mit seinem gottverfluchten Kasten untergehen. Keymis glotzte sich die Augen aus. Als er die ›Isabella‹ endlich heransegeln sah, schnitt es wie ein Messer in seine Brust. Diesmal mischte sich jedoch auch reine Freude darunter. Nur noch ein paar Stunden, dann war er reich. Ein letztes Mal setzte er das Spektiv an. Er sah nicht mehr viel, nur, daß die Barke im Schlepp der Galeone hing. Und sie steuerten jetzt langsam nach Gravesend hinüber. Baldwyn Keymis lehnte sich zurück und schloß die Augen. Er war mit sich und der Welt zufrieden. Er träumte von Reichtum, Macht und uneingeschränkter Freiheit, von einem Leben, das er sich in den schillerndsten Farben ausmalte. Ganz nebenbei träumte er auch noch davon, wie er Noah Buckle über die Klinge springen lassen konnte, denn aus welchem Grund sollte er diesem alten Fettsack und Halsabschneider die Hälfte seines Vermögens abgeben?
Nicht mehr lange, und er hatte es geschafft. Seine Rache war gestillt, er war ungeheuer reich. Was wollte er noch mehr? Zur Hölle mit dem lausig bezahlten Posten als Friedensrichter! 9. Auf der ›Isabella‹ herrschte nach dem Ruf »Klar Schiff zum Gefecht!« die übliche eiserne Disziplin. Eine ganze Menge hatte sich geändert. Schlagartig besetzten die Seewölfe ihre Stationen. Jeder kannte jeden Handgriff, jeder wußte genau, was zu tun war. Zunächst setzte die Barke, die jetzt weit hinter ihnen war, Segel. Und merkwürdigerweise hatte sich ihre Besatzung vermehrt. Angestrengt blickte der Seewolf durch sein Spektiv, ehe er sich an Ben wandte. »Sechzehn Rudergasten«, sagte er erstaunt. »Jetzt sind es sechsundzwanzig! Die vermehren sich ja schneller als die Ratten in der Vorpiek.« Brighton nickte grimmig. Er rieb die Knöchel seiner rechten Hand. »Ja, die haben ein Nest an Bord. Da hätten wir uns etwas Schönes an den Hals geholt, wenn wir die an Bord gelassen hätten. Mir wird noch nachträglich heiß, wenn ich daran denke.« Hasard dachte nach. Der Plan Buckles war nicht schlecht gewesen. Er konnte sich ein Bild davon vorstellen, plastisch und ganz deutlich. Die Barke war ein Trojanisches Pferd. Die sechzehn Kerle hätten die Crew angefallen und ermordet, und die anderen zehn lagen auf der Lauer. Gegen eine derartige Übermacht und das Überraschungsmoment war kein Kraut gewachsen. Das hätten auch die Seewölfe nicht überlebt. »Achtere Drehbassen klar zum Feuern!« rief Al Conray. Die Lunte glomm schon in seiner Faust.
»Warte noch, Al. Laß sie näher heran. Die Kerle holen auf, und wir werden ihnen einen heißen Empfang bereiten. Ben wird dir das Zeichen zum Feuern geben.« Alle sechs achteren Drehbassen waren geladen - mit grob gehacktem Blei, mit einer tödlichen Schrotladung für jedes Schiff. Die sechsundzwanzig Kerle auf der Barke legten sich in die Riemen. Das Segel war gebläht. Wie die Wilden pullten sie hinter der ›Isabella‹ her, der fetten Beute, die ihnen so plötzlich durch die Lappen gegangen war. Ihre Wut kannte keine Grenzen, und daher legten sie alle Kraft in die Riemen, um sich den Brocken doch noch zu schnappen. Langsam holten sie auf, sehr langsam, aber sie rückten näher, wie der Seewolf feststellte. Die Kerle ahnten noch nichts von ihrem Verhängnis, in das sie hineinsegelten und pullten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sie rechneten wohl nicht mit den Drehbassen - je drei auf der achteren Back- und Steuerbordseite. Und die Lunten glommen. Jetzt näherte sich das Unheil von vorn. Seit die Galeone nach Steuerbord zur Strommitte hin gedreht hatte, waren die drei Küstensegler auf eine andere Position gegangen. Nun segelten sie heran. Ihnen war nicht entgangen, daß der Angriffsplan durcheinandergeriet. An Deck der Galeone hatten noch keine Kämpfe stattgefunden, und die Barke hatte sich plötzlich von der fetten Beute gelöst und trieb achteraus. Niemand hatte eine Erklärung dafür. Sie sahen nur, wie ihre Kumpane wie die Verrückten pullten und langsam aufholten. An ihrem Plan, anzugreifen, änderte das jedoch nichts. Sie hielten sich stur daran, immer die Belohnung vor Augen, die Buckle ihnen versprochen hatte und die immer mehr in greifbare Nähe rückte. Der erste Segler war heran. Er segelte von Steuerbord voraus hart auf sie zu. Der zweite näherte sich von Backbord.
Längst war Ferris Tucker an den vorderen Drehbassen. Die Stückpforten der Culverinen gingen hoch. Drohend reckten sich die Schlünde der Kanonen auf den Segler. Tucker wartete nur noch auf das Zeichen zum Feuern. »Erste Drehbasse, Feuer frei!« rief der Seewolf. Seine Hand hieb durch die Luft. »Hart Ruder nach Steuerbord, Matt!« Zwölf wüst aussehende Kerle machten sich zum Entern klar. Beile und Messer blitzten in den Fäusten, ein Enterhaken wurde geschwungen. Da erfolgte die tödliche Überraschung. Tucker hielt die Lunte an den Pulverschlitz. Gleichzeitig legte sich die ›Isabella‹ unter dem Hartruderdruck leicht nach Steuerbord über. Fauchend und brüllend hallte es über die Themse. Der Bleihagel aus der vorderen Steuerbord-Drehbasse rauschte hinaus. Gelbgrauer Pulverdampf legte sich über das Vorschiff. Tödliches Entsetzen stand in zwölf unrasierten, wüsten Piratengesichtern. Jede Reaktion war zu spät. Gehacktes Blei prasselte in die Steuerbordseite des Gegners und überzog den Segler mit einem tödlichen Hagelschauer. Die Hartruderlage der Galeone gab dem ersten Segler den Rest. Da gab es kein Ausweichen mehr, kein Entkommen. Hart schrammte Bordwand an Bordwand und drückte den Segler weg. Verwundete schrien, der Bleihagel mähte zwei Männern die Köpfe von den Schultern, das Segel zerfetzte wie morsches Leinen. In der Bordwand erschienen gezackte Löcher. Tucker warf einen bereitgehaltenen Feuertopf zu dem Segler hinüber. Schlagartig breitete sich rote Lohe auf den Planken aus und fraß sich im Nu über das ganze Deck. Schwerfällig und Wasser ziehend, trieb der Segler davon, mit zerschossenen Masten, Löchern in der Bordwand und brennend. Die Piraten waren angeschlagen, an Bord des Seglers gab es niemanden, der nur mit dem Schrecken davongekommen war. Überall lagen Tote und Verletzte herum. In irrsinniger Angst
sprangen einige über Bord, weg von dem tobenden Feuer, dem rettenden Wasser entgegen. Sie paddelten an Land, schwer geschlagen, tödlich verwundet. Der sich von Backbord nähernde Segler scherte weiter aus. Dadurch, daß die ›Isabella‹ mit Hartruder abgelaufen war, gelangte er vorerst nicht an sie heran. Bis die Manöver zur schnellen Halse eingeleitet wurden, verging einige Zeit. Der dritte erwartete sie von vorn. Dreizehn wilde Kerle waren an Bord, die nur darauf brannten, sich zu rächen und die Scharte auszuwetzen, die der Seewolf ihnen zugefügt hatte. In ihren harten Gesichtern stand wilde Entschlossenheit. Sie hatten gesehen, wie schnell alles gegangen war, wie ihre Kumpane heulend und schreiend im Themsestrom verschwanden, wie das Schiff brannte, einer riesigen Fackel ähnlich, wie es querschlug, sich mit Wasser vollsoff und brennend achteraus sackte. Das stachelte sie an, nährte ihren Haß, ließ sie rasend werden. Ferris Tucker war die Ruhe selbst. Fast gleichgültig starrte er dem brennenden Segler nach. Themsepiraten, dachte er verächtlich. Und diese Kerle wollten die ›Isabella‹ entern! Natürlich unterschätzte er sie nicht, dazu war er zu klug. Aber sie hatten schon andere Kämpfe durchgestanden, und jetzt, kurz vor dem Ziel, fühlte er sich stärker als je zuvor. Sollten sie nur kommen, diese Hurensöhne und versuchen, zu entern! Inzwischen hatte die Barke aufgeholt. Immer näher schob sie sich heran. Ein paar der Kerle hatten Musketen dabei. Damit wollten sie auf die Galeone feuern. Die ersten legten umständlich an. Die Musketen hielten sie frei in den Händen, ohne die Gabelstützen zu benutzen, die auf der Barke nur hinderlich waren. »Backbord eins und zwei feuern!« befahl der Seewolf. Die Richtkanoniere peilten über das Rohr. Die glimmende Lunte senkte sich nach unten. Eine letzte Korrektur. Ein donnernder, brüllender Abschuß! Beißend legte sich der
Pulverqualm übers Achterkastell. Die Drehbasse zuckte, der Rückstoß trieb sie zurück. Der Treffer saß voll im Ziel. Al Conroy verzog das Gesicht, er hustete, als sich der Dampf beizend auf seine Lungen legte. Sofort kontrollierte er die zweite Drehbasse, die Stenmark gerichtet hatte. Die Lunte senkte sich. Ein zweiter Bleischauer jagte aus dem Rohr. Auf der Barke gab es Kleinholz. Splitter flogen herum, der Mast zerbarst in zwei Teile, die den Kerlen um die Ohren flogen. Auch von dort ertönte lautes Geschrei. Verwundete und Sterbende wälzten sich in ihrem Blut. Nur ein einziger Mann kam noch dazu, seine Muskete abzufeuern. Die Ladung rauschte über die Galeone weg, dicht am Achterkastell pfiff sie an den Pardunen vorbei. Das Segel, noch am zersplitterten Mast hängend, schlug über Bord, wo es mitgeschleift wurde. Die Barke beschrieb einen Halbkreis, bevor sie absoff. Sie stellte sich auf den Bug, drehte dann seitlich weg und klatschte auf das Wasser der Themse. Schwerfällig wie ein sterbender Riesenhai blieb sie liegen. Wasser brach ein, - sie kenterte durch und trieb kieloben. Erst dann ging sie unter. Am Ufer der Themse standen Menschen. Immer mehr wurden es. Sie erschienen so schnell, als wären sie aus dem Boden gewachsen. Schreie des Entsetzens hallten herüber. Die Seewolf-Crew konnte sich nicht darum kümmern. Sie hatte noch andere Gegner vor sich, die den Teufel nicht fürchteten. Das Blutbad, das Al Conroy mit seinem Bleihagel angerichtet hatte, verwandelte sich in ein Chaos. Treibende Körper schwammen in der Themse, Männer brüllten, vom Ufer wurde zurückgebrüllt, die ersten Galgenvögel erreichten das Land. Wer es von ihnen schaffte, unbeschadet ans Ufer zu gelangen, der machte, daß er verduftete. Naß, mit triefenden Klamotten, physisch erschöpft und entnervt, verschwanden sie in
auffallender Eile. Und dann dröhnte der erste Ruf über die Themse. Wer ihn vernahm, dem lief ein Schauer über den Rücken - und viele vernahmen ihn. »Ar-we-nack! Ar-we-nack! Ar-we-nack!« Die Hölle war los. Auf der ›Isabella‹ trat die zweite, vordere Drehbasse in Aktion. Ferris Tucker stand wie ein Klotz auf der Back. Er hatte den Segler aufs Korn genommen, der aus dem Kurs geschoren war und jetzt versuchte, wieder heranzukommen. Das Höllengewitter zerfetzte ihm die Segel, der Mast blieb stehen, aber ein paar Männer wurden getroffen, die schreiend zusammenbrachen. Aber er gab nicht auf. Noch einmal versuchte er, von der Seite her, an die Galeone heranzugelangen. Der dritte wartete. Die Männer an Bord hatten gesehen, wie es ihren Kumpanen ergangen war. Noch ehe sie recht zur Besinnung gekommen waren, hatte der schwarze Höllenhund auf dem Achterdeck ihre Schiffe zusammenschießen lassen. Diesen Fehler wollten sie nicht wiederholen, denn er war absolut tödlich. Sie mußten versuchen, zu entern, vor allem außerhalb des Winkels der höllischen Drehbassen, die ihr grobes Blei durch die Gegend hackten und so verteufelt gut trafen. Über Tuckers Schädel pfiff etwas weg. Ein Brandpfeil zog seine glühende Spur durch die Luft und blieb zitternd im Großmast stecken. Kleine Flammenzungen leckten um ihn herum, die schnell größer wurden. Daniel Donegan O’Flynn war mit einem Satz am Mast. Mit kräftiger Hand brach er den Pfeil ab und schleuderte ihn ins Wasser, wo er zischend unterging. Auf der Kuhl war ein zorniger Mann fieberhaft damit beschäftigt, eine der siebzehnpfündigen Culverinen schußklar zu machen. Ben Brighton arbeitete verbissen, lud, stopfte,
schüttete Pulver hinein. »Smoky!« rief er. »Mach die andere Culverine schußbereit. Morgan soll dir helfen!« Verbissen schuftete er weiter. Backbord querab kam Buckles Gasthaus in Sicht. Es wirkte nicht mehr so düster, wie Brighton es in Erinnerung hatte. Die schwarzen Balken waren verschwunden und durch neue ersetzt worden. Aber es verfehlte seinen unheimlichen Eindruck doch nicht ganz. Der Siebzehnpfünder war schußklar. Brighton ließ noch eine halbe Minute verstreichen, dann hatte er die Herberge im Schußfeld. Die Culverine brüllte auf und zerrte an ihren Brooktauen, als die siebzehn Pfund schwere Eisenkugel hinausrauschte. Was Brighton gelernt hatte, das hatte er gelernt. Anvisieren, feuern, abwarten. Das Ergebnis war ihm so gut wie sicher. In Buckles Kneipe schlug es ein - mit vehementer Wucht und ohrenbetäubendem Gebrüll und Fauchen. Die schwere Kugel durchschlug das Gasthaus auf der Uferseite, riß Gebälk und Holzteile mit sich und flog auf der anderen Seite wieder heraus, nachdem sie einen Teil der Inneneinrichtung zu Kleinholz verarbeitet hätte. »Feuer!« schrie Ben. Während die Galeone weiterrauschte, ging der nächste Siebzehnpfünder mit lautem Krachen los. Sie konnten den Flug der schweren Kugel verfolgen, und einen Augenblick dachte Ben, der Schuß wäre zu hoch angesetzt. Er traf. Dicht unter dem Dach schlug es ein. Schindeln und Holzteile spritzten nach allen Seiten. Das schwere Dach wackelte, Balken trieben hoch, stellten sich nach oben, verrutschten. Ein Teil des Daches flog herunter und verschwand aufklatschend in der Themse. Ein Teil der Giebelfront fiel in sich zusammen, in einer grotesken, langsamen Bewegung. Dann regnete es Trümmer. Buckles
Mörderbude sah aus, als hätte ein Orkan in ihrem Innern gewütet. »Die nächste Culverine ist schußklar«, meldete Smoky. »Dann zieh ab!« rief Ben zurück. »Der Winkel dürfte aber vermutlich schon zu groß sein.« Smoky ließ sich nicht zweimal bitten. Wieder brüllte es auf dem Deck auf, ein Beben durchlief das Schiff. Das schwere Geschütz riß und zerrte an den Haltetauen. Der Winkel war tatsächlich schon zu groß geworden. Die Kugel traf dennoch ihr Ziel. Eine der Stützen, die das Haus auf der Vorderseite im Wasser trugen, knickte um, wurde nach hinten geschleudert und riß eine weitere mit sich, die wiederum eine dritte. An Deck brüllten die Männer vor Begeisterung über die Meistertreffer. Jetzt sah Buckles Mörderbude recht unansehnlich aus. Das Vorderteil neigte sich wie grüßend vor der ›Isabella‹ die Fenster brachen heraus, die Rahmen folgten, dann ein Teil des Giebels. Brighton hatte es dem Fettsack zurückgezahlt. Zug um Zug, zweimal hintereinander. Damit war er mit Buckle quitt. Die Prügel, die er von ihm bezogen hatte, waren gesühnt. Die Männer wandten sich den beiden Seglern zu, die jetzt alles dransetzten, um die fette Beute doch noch zupacken. * Baldwyn Keymis wurde jäh aus seinen schillernden Träumen gerissen. Nachdem alles in Ordnung schien, hatte er das Spektiv abgesetzt. Es konnte ja nichts mehr passieren. Er nickte ein, die Strapazen der letzten beiden Tage, die pausenlosen Ritte hin und her, hatten ihren Tribut gefordert. Ein kleines Schläfchen konnte er sich schon gestatten. Sobald
er dann die Augen aufschlug, war er ein reicher Mann. Um die Dreckarbeit kümmerten sich schließlich die anderen. Den Hauptanteil hatte er geleistet. Wirre Träume geisterten durch sein Hirn. Auf seinen Gliedern lastete bleierne Müdigkeit. Sein Gesicht mit dem Ziegenbart zuckte. In seinen konfusen Träumen von Reichtum und Macht krachten Schüsse, schrien Männer. Keymis schlug die Augen auf und wurde plötzlich wach. Schweiß lief über sein Gesicht. Er stand taumelnd auf. Was er durch das Fenster sah, hielt er im ersten Augenblick immer noch für eine Fortsetzung seiner Träume. Doch dann riß er die Augen auf. Entsetzt, starr vor Schreck, starrte er auf die Szene, die sich auf dem Fluß abspielte. Er sah die ›Isabella‹ heransegeln, und es hatte ganz den Anschein, als wolle die stolze Galeone direkt in Buckles Kneipe segeln. Und wie es auf der Themse aussah! Im Wasser trieben verwundete und schreiende Männer. Die Barke hinter der Galeone war in Trümmer geschossen worden. Ein weiterer Segler trieb brennend auf dem Wasser, sein Mast war zerschossen, das Vorschiff brannte lichterloh. Dem Friedensrichter kroch eine Gäsehaut über den Rücken, als er den unheimlichen Schlachtruf der Seewölfe vernahm. »Ar-we-nack!« dröhnte es über die Themse, und immer wieder vernahm er: »Ar-we-nack!« Buckles Männer schienen in eine totale Pleite zu segeln. Gerade wurde einer der Segler gerammt. Er schrammte brennend weg und trieb achteraus. Keymis konnte es nicht fassen. Er schnappte nach Luft, griff sich ans Herz und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Er schlug beide Hände vors Gesicht, sein Körper schüttelte sich in lautlosem Schluchzen. Er war sich seines Sieges absolut sicher gewesen. Aber noch war nicht alles verloren.
Noch gab es entschlossene Männer auf den Seglern, die alles dransetzen würden, um die Schmach zu tilgen. Da sah er es auf der ›Isabella‹ aufblitzen. Grellgelb zuckte es hoch, an Backbord. Keymis stieß ein Freudengeheul aus. Jetzt hatten sie den verdammten Kahn doch noch erwischt! Als er soweit mit seinen Gedanken gekommen war, donnerte die Kugel ins Haus, riß die Wand auf, raste weiter, riß die zweite Wand auf und verschwand im Hinterzimmer. Eine Wolke aus Dreck und Staub hüllte den Friedensrichter ein. Keymis starrte aus blutunterlaufenen Augen wild um sich. Er begriff erst, als der zweite Schuß ins Haus donnerte, das Dach fast aus den Angeln hob und eine der Stützen wegknicken ließ. Nicht die ›Isabella‹ wurde beschossen, sondern sie feuerte selbst! Und zwar genau auf den Gasthof, als wüßten die verdammten Kerle an Bord, wer sich hier aufhielt. Alles um Keymis herum wurde zu Qualm und grauen Wolken. Er hustete so lange, bis er sich übergeben mußte. Diese Bastarde! Diese Bande von Hurensöhnen! Einzeln hätte er sie ermorden können. Er stürzte ächzend aus dem Zimmer und geriet in den Hinterhof, wo er sich zitternd hinter einem Leiterwagen versteckte. Da krachte der dritte Schuß. Wieder flogen zwei Stützen weg, das Haus neigte sich zur Seite. Baldwyn Keymis blieb hocken. Grün im Gesicht vor unbändiger Wut, unfähig, etwas zu unternehmen. Noch war nicht alles verloren, redete er sich immer wieder ein, noch gab es Kerle auf der Themse, die den Seewolf angriffen, die ihn hart bedrängten und ihm zusetzten. Auf diese Männer baute er. Sie waren seine letzte Bastion. Wenn sie den Kampf um die Galeone nicht für sich entschieden, dann konnte er aufgeben.
Auf der Themse steigerte sich der Lärm. Hasard Killigrew stand auf dem Achterdeck und gab Pete Ballie Anweisungen. »Laß die Galeone nicht zu weit nach Backbord abfallen, Matt. Immer in der Strommitte bleiben!« »Aye, aye.« Ballie nickte. Es bedurfte schon einiger Erfahrung, sich hier im Stromgebiet zwischen den angreifenden Piraten gut zu halten, den Kurs der Galeone zu stabilisieren und dennoch den angreifenden Seglern geschickt auszuweichen. Hasard sah, wie Brighton seine Wut abreagierte, wie der Gasthof des falschen Lotsen teilweise auseinanderbrach, wie das Dach wackelte und die Stützen brachen. Das war Bens ganz persönlicher Rachefeldzug gewesen. Irgendwie mußte er sich ja rächen. Ballie hielt den Kurs zur Strommitte hin. Unter ihnen war genügend Wasser, mit einer Grundberührung war nicht zu rechnen. Auf der Back war Ferris Tucker damit beschäftigt, eine der abgefeuerten Drehbassen wieder nachzuladen. Im Augenblick konnte er sich ganz der Arbeit hingeben, und so entging ihm, daß ein nasser, triefender Kerl von der Blinde her, dem Freiluftabort der Galeone, mit katzenhafter Gewandtheit an Bord turnte, zwischen den Zähnen ein Messer und im Gürtel der Hose ein kurzes Beil. Er war mit einem Satz hinübergesprungen, als der Rammstoß erfolgte, verfehlte aber sein Ziel und landete im Wasser. Als der Bug der ›Isabella‹ vor ihm aufragte, hatte er sich in einem lose herunterhängenden Tau verkrallt und sich daran hochgezogen. Seitlich kam er heran. Ferris Tucker wandte ihm den breiten Rücken zu, angelegentlich mit dem Nachladen der Drehbasse
beschäftigt. Hasard, der den anderen Segler im Auge behielt und die Männer beobachtete, die sich zum Entern klarmachten, blickte zufällig zum Vordeck. Seine Leute hatten sich Back- und Steuerbord an der Reling verteilt, um die heransegelnden Kerle in Empfang zu nehmen. Da sah er den Mann, der das Messer zum tödlichen Stoß erhoben hatte. Zum Eingreifen war es zu spät. Auch mit der sächsischen Radschloßpistole, die er geladen im Gürtel trug, konnte er nichts mehr anfangen, ohne das Risiko einzugehen, den bulligen Schiffszimmermann zu treffen. »Ferris!« Sein Ruf knallte über das Deck, eine Donnerstimme, die Ferris Tucker augenblicklich herumfahren ließ. Tucker war nicht entsetzt, er war nur einen Moment verblüfft. Er sah die nasse Spur, die der Kerl hinter sich hergezogen hatte, sah den Kerl dann vor sich stehen, mit dem Messer in der Faust, das er zum tödlichen Stoß erhoben hatte. Tuckers rechter Arm schoß vor, den Kopf zog er instinktiv zwischen die Schultern. Er hörte einen gezischten Fluch und sah die blitzende Klinge herabstoßen. Mit voller Wucht knallte die Faust des Mannes auf seinen Unterarm. Haarscharf daneben zuckte die Klinge nach unten. Ferris griff blitzschnell zu seiner riesigen Axt, die er auf die Back mitgenommen hatte. Mit einer Hand griff er nach der brennenden Lunte, hob sie hoch und schleuderte sie dem Kerl ins Gesicht. Der Themsepirat gab sich nicht so leicht geschlagen. Er war kleiner als Tucker, aber von unglaublicher Behendigkeit. Als die Lunte auf ihn zuflog, schloß er die Augen, schüttelte den Kopf, wischte sie in der Luft zur Seite. Gleichzeitig riß er sein Beil heraus, um es nach Tucker zu schleudern.
Der hatte jetzt die Axt in der Hand und hieb zu, als wollte er den Fockmast fällen. Blitzend sauste die scharfe Schneide waagrecht durch die Luft, auf die Beine des Piraten zu. »Bleib zurück, Smoky!« schrie Tucker, als er sah, daß der Decksälteste ihm helfen wollte. »Mit dem Kerl werde ich allein fertig!« Bevor die scharfe Schneide die Beine des Piraten erreichte, sprang der mit einem wilden Satz in die Höhe, haarscharf über die blitzende Schneide weg. Tucker wurde von der Gewalt des eigenen Schlages nach vorn gerissen. Die Axt drehte sich leicht und knallte in die Decksplanken. Sofort ging der andere zum Angriff über. Er hatte verdammt viel Mut, wenn er allein gegen eine ganze Horde wilder Kerle anging, denn seine Chancen, hier etwas ganz allein auszurichten, konnte er sich selbst ausrechnen. Tucker, der noch nach seiner Axt griff, erhielt einen Faustschlag an den Hals. Ein Stiefel knallte in seine Leistengegend. Das kleine Beil flog mit einer wilden Drehung von unten herauf, um sich in seinen Körper zu graben. »Jetzt hat der Spaß ein Ende!« fauchte Tucker. Er unterlief den Mann, drehte seinen Körper herum, bis er einen Arm zu fassen kriegte. Ein harter Ruck und ein Schrei. Der Arm kugelte aus dem Schultergelenk, der Pirat wand sich, riß den Mund auf, trat nach Tucker. Ferris packte ihn am Genick und riß ihn in einer einzigen wilden Bewegung hoch. Wie ein Bündel Lumpen stemmte er den Mann in die Luft und rammte seinen Schädel an die Bordwand, daß es nur so krachte. Dann schmiß er ihn über Bord, wo der Körper aufklatschend in den Fluten verschwand. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte er sich wieder seiner Arbeit an der Drehbasse zu. Er achtete nicht auf die Leute am Ufer, die wie eine Horde
aufgescheuchter Hühner aufgeregt hin und her liefen. Nur der Seewolf blickte hinüber. Mit besorgtem Gesicht sah er uniformierte Reiter auftauchen, die der Galeone folgten. Fünf waren es zuerst, dann zehn, jetzt wurden es immer mehr. Und zwischen ihnen drängten sich die Neugierigen. Von überall her liefen sie zusammen, angelockt von dem mörderischen Geschrei, den Schüssen, dem Pulverqualm und dem brennenden Segler. »Ein Spanier!« hörte der Seewolf die Rufe. »Ein Spanier, der London angreifen will!« Ein paar Reiter preschten los, in Richtung London. Sie waren sich nicht darüber im klaren, was diese Galeone darstellte. Sie konnten die Lage einfach nicht beurteilen. Sie sahen nur das fremde, spanische Schiff und die angreifenden Engländer. Daß es Piraten waren, wußten sie nicht. Und die Galeone hatte schließlich das Feuer eröffnet, sie schoß sogar ein Haus am Ufer zusammen. Seltsam war nur, daß sie am achteren Mast die englische Flagge führte. Und dazu dröhnte das »Ar-we-nack!« ständig herüber. Unter den Reitern herrschte daher verständliche Verwirrung. Segelten die Spanier unter englischer Flagge, um sie zu täuschen? Schlichen sie sich unter dem Schutz dieser Flagge die Themse hoch, um London zu überfallen? Niemand wußte es. Einige der Reiter jagten los, um die Stadt zu alarmieren. Die Kunde von den Spaniern verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Gerüchte fanden Nahrung, wurden aufgebauscht. Bis die Kunde in London war, wurde aus der einen Galeone eine ganze Armada wilder Spanier. Ein paar Besonnene wandten ein, daß es sich um eine Prise handeln könne, die von den Engländern erbeutet worden war. Aber warum eröffnete die vermeintliche Prise dann das Feuer? Weshalb schoß sie die Bark zusammen, warum zerfetzte sie
Segler? Auch diese Sorgen bewegten den Seewolf. Die Leute wollten das glauben, was in ihren Kram paßte und was sie mit eigenen Augen sahen. Die im Fluß treibenden Leichen redeten eine deutliche Sprache. Hinter dem vermeintlichen Spanier trieben sie blutend und verwundet im Wasser. Erreichte einer von ihnen das Land, dann erhob er sich und lief davon, als wäre der Teufel hinter ihm her. Brighton trat zum Achterkastell. Sein Gesicht hatte schwarze Flecken vom Pulverschleim, aber seine Augen blitzten. »Die Kerle da vorn sind klar zum Entern«, sagte er. Seine Hand deutete voraus, auf den sich nähernden Segler. »Dreizehn Mann sind es, wüste Burschen.« Hasard blieb völlig ruhig. »Sollen sie kommen. Wir werden sie in Empfang nehmen. Was ist denn?« wandte er sich fragend an Ballie, der einen erstickten Laut von sich gab. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Da war doch schon wieder ein Kerl an Bord geschlichen. Er mußte sich am Ruderblatt festgehalten haben, als die Galeone an ihm vorbeiglitt, hatte sich dann hochgezogen und war durch die Hennegatöffnung zum Achterkastell gelangt. Jetzt hatte er mit einer Hand Pete Ballies Hals umklammert, die andere hielt ein Messer an seine Schlagader. »Keinen Schritt näher«, warnte er den Seewolf. »Oder ich schneide diesem Kerl den Hals durch.« Die Messerspitze drang in Petes Hals leicht ein. Pete Ballie war von dem hinterhältigen Angriff total überrascht worden. Zwangsläufig mußte er den Kolderstock loslassen, als sich die würgende Hand um seinen Hals legte. Ganz langsam lief die ›Isabella‹ aus dem Ruder, wieder zur Backbordseite hinüber. Hasard blieb stehen, wo er stand. Ben Brighton wagte es ebenfalls nicht, sich dem Piraten zu nähern. Der würde
zustechen, das stand fest, denn er hatte nichts mehr zu verlieren. »Wenn ihr das Schiff auflaufen laßt, werdet ihr euch wohl schlecht über die Beute hermachen können«, sagte Hasard spottend. »Dazu stehen zu viele Leute an den Ufern.« Er wandte sich halb zur Seite, zog die Radschloßpistole hervor und drehte sich so, daß der Mann seine Bewegungen nicht sah. »Das ist richtig«, sagte der andere. »Also gib etwas Druck auf das Ding, Mann! Wir haben nämlich etwas anderes vor.« Der Bug schwang wieder herum, bis die ›Isabella‹ Flußmitte steuerte und weiterlief. »Gib deinen Männern den Befehl, daß sie keinen einzigen Schuß mehr abfeuern! Ist das klar?« »Natürlich ist das klar«, sagte der Seewolf. Er vertraute auf seine Schießkünste. Mit der sächsischen Reiterpistole hatte er sich außerdem gut eingeschossen. Der Kerl stand seitlich, also bestand für Pete keine Gefahr. »Verdammt!« schrie der Pirat. »Gib endlich den Befehl, oder ich steche diesen Burschen ab! Deine Leute sollen von den verdammten Kanonen wegbleiben!« In der Kuhl und auf der Back war man längst aufmerksam geworden. Schon wieder so ein lausiger Kerl an Bord, der diesmal von achtern aufgeentert sein mußte. Und der Segler rückte näher. Dreizehn zum Äußersten entschlossene Kerle waren bereit, die Galeone zu entern. Der andere Segler war auch noch intakt, obwohl er angeschossen war. Die Kerle würden ins Wasser springen und entern, daran bestand kein Zweifel, wenn sie mit ihrem Schiff nicht mehr herankamen. »Weg von den Kanonen, Männer!« befahl der Seewolf. »Es wird nicht mehr geschossen!« Er drehte sich um und musterte die triefende Gestalt, über
deren Gesicht ein Grinsen zog. »Zufrieden?« fragte er. Gleichzeitig nickte er Pete Ballie kaum merklich zu. Der Mann am Kolderstock begriff. Mit dem rechten Auge zwinkerte er zurück. Hasards Reiterpistole entlud sich mit einem ohrenbetäubenden Krachen. Er hatte unter der Deckung seines linken Armes hervorgeschossen, nachdem Pete Ballie sich leicht zur Seite geworfen hatte. Die Bleikugel traf ihr Ziel. Sie fuhr dem Piraten in die Schulter und riß ein faustgroßes Loch hinein. Das Messer entglitt seiner Hand, er stieß einen Schrei aus und wurde von der Auftreffwucht zurück bis hinter den Kolderstock geschleudert. Trotzdem griff er noch einmal nach dem Messer. Hasard schmetterte ihm die Faust ins Gesicht. Der Körper des Mannes hob sich, er schlug einen Salto rückwärts, flog über die Balustrade und landete im Wasser, wo er sofort unterging. »Es wird weitergekämpft!« rief Hasard. Er hätte es nicht zu sagen brauchen, denn seine Männer hatten längst ihre Plätze wieder eingenommen. Nur konnten sie mit den vorderen Drehbassen nicht mehr feuern. Der Segler befand sich schon im toten Winkel, und ein Schuß hätte keinen Schaden mehr angerichtet. Brighton vergewisserte sich, ob nicht noch jemand am Ruderblatt hing, der für unliebsame Überraschungen sorgte. Er blickte auch durch die Hennegatöffnung. Es war niemand mehr da. Pete Ballie hatte sich von seinem Schreck erholt. Er machte sich selbst Vorwürfe, bis Hasard ihn beruhigte. »Damit konntest du nicht rechnen, Pete. Ein Kerl auf dem Vordeck war schon ein Wunder, daß noch ein zweiter am Ruderblatt hing, ahnte gewiß niemand. Sie müssen über Bord gefallen sein, als der Segler dicht an uns vorbeitrieb. Und diese Gelegenheit haben sie ausgenutzt.«
Damit war der Vorfall erledigt. Jetzt hatten sie andere Sorgen, denn der eine Segler schor längsseits. Der andere, angeschossene, hatte sein Manöver beendet und segelte der ›Isabella‹ nach. Dreizehn Kerle lachten wie die Teufel, als sie die Bordwand berührten. Zwei, drei Enterhaken flogen zur ›Isabella‹ hinüber und verhakten sich hinter dem Schanzkleid. Im Nu war der Teufel los. 10. Sie verstanden ihr Handwerk, das mußten selbst die Seewölfe neidlos anerkennen. Kaum hing der Segler fest, da kümmerten sie sich den Teufel um ihn. An Tauen ließen sie sich herüberpendeln, andere sprangen wie die Wilden an Bord. Und sofort verteilten sie sich, Mann gegen Mann. Sie begingen nicht den Fehler, als ein einziger, massierter Haufen anzugreifen. In den Köpfen der Themsepiraten hatte sich die Idee festgesetzt, daß die Galeone leicht zu entern sei, auch wenn sie mit den gefährlichen Drehbassen feuerte. Jetzt, da sich die Geschütze im toten Winkel befanden, war es ein Kinderspiel, einen nach dem anderen der Mannschaft zu kassieren. Buckle hatte ihnen versichert, daß die Kerle nicht so hart wären, wie sie sich gaben. Er hatte sie gründlich unterschätzt, da er sie nur aus Keymis Schilderungen kannte. Jetzt lag Buckle in der Vorpiek, und über ihm begann der Höllentanz der Seewölfe. Der Seewolf raste übers Achterkastell, gefolgt von Ben Brighton. In der Kuhl schwang Ferris Tucker seine unheimliche Axt. Den dreizehn Kerlen, die angenommen hatten, daß sie die
Crew innerhalb kürzester Zeit überwältigt hätten, wurde es plötzlich heiß. Sie hatten das Empfinden von einer Sekunde zur anderen mitten in der Hölle gelandet zu sein. Ihren bulligen Anführer, einen schwarzhaarigen Kerl mit einem pechschwarzen Vollbart, erwischte es als ersten. Er hatte sich ausgerechnet Ferris Tucker ausgesucht. Er hob sein Messer, grinste den Schiffszimmermann satanisch an und stieß einen urigen Schrei aus. Dann ging er auf ihn los. Tucker ließ ihn heran und machte kurzen Prozeß. Seine mörderische Axt pfiff durch die Luft. Der Schwarzbart sprang mit einem Riesensatz zur Seite, als er das Mordinstrument aufblitzen sah. Zu spät. Die Axt hieb ihm durch die Brust und spaltete seinen Oberkörper. Blut lief über die Decksplanken. In zwei Teile gehauen, sank der Schwarzbart in sich zusammen, ohne nur noch einen Ton von sich zu geben. Er war sofort tot. Noch zwölf waren es jetzt, die verbissen kämpften, das Grauen im Nacken, als sie sahen wie der rothaarige Kerl mit der Axt unter ihnen wütete und aufräumte. Ein wilder Ruf gellte in ihren Ohren, es hörte sich an, als schrien tausend Teufel um die Wette. »Ar-we-nack!« Der Schrei dröhnte über die Themse, ließ den Zuschauern das Blut in den Adern gerinnen vor Schreck, hallte über das Deck und wurde immer wieder neu gebrüllt. Wenn den Themsepiraten vorher noch kein Licht aufgegangen war, dann leuchtete es ihnen jetzt überdeutlich. Zu spät erkannten sie, auf was sie sich eingelassen hatten. Hier kämpften sie nicht mit harmlosen Reisenden, die sich einfach das Fell über die Ohren ziehen ließen. Hier standen ihnen ausgekochte Höllenhunde gegenüber, Piraten und Freibeuter wie sie selbst, nur waren sie aus einem besseren Stall. Und wo die hinschlugen, da wuchs nichts mehr.
Das waren reißende Bestien, tollkühne Wölfe, die sich auf sie stürzten, wie sie es nie für möglich gehalten hatten. Und ihr eigener Anführer schwamm tot in einer riesigen Blutlache, die sich immer mehr an Deck ausbreitete. Da war ein Kerl mit einem Haken, ein bulliger Bursche, der mit kalt grinsendem Gesicht auf sie eindrang und sie einzeln herauspickte wie ein Huhn die Körner. Sein gebogener Haken, den er an Stelle einer Hand hatte, war eine mörderische Waffe. Mit diesem Mordinstrument fuhr er in stoppelbärtige Gesichter, riß ihnen die Hälse auf, schlug sie zusammen. Aber das war nur einer von vielen. Der Seewolf selbst schien der Hölle entsprungen zu sein. Obwohl er eine schwere Pistole im Gürtel stecken hatte, schoß er nicht. Er schlug mit einem harten Belegnagel auf die Schädel, die zur Verfügung standen. Brighton schnappte sich einen, verwickelte ihn einen mörderischen Faustkampf, und als der Bursche sich darauf einließ, war es auch schon um ihn geschehen. Ein breites Messer fuhr ihm tief in die Brust. Er stöhnte laut auf und krampfte beide Hände darum. Ben schlug ihm auf den Hinterkopf. »Laß es stecken, Junge«, sagte er trocken. »Ich brauche es nicht mehr, wir haben noch mehr davon!« Schon wandte er sich dem zweiten Mann zu. Die erste Panik tauchte in den Gesichtern der Piraten auf. Es gab kein Zurück mehr für sie. Wer einmal in der Hölle landete, dem war die Rückkehr nicht gestattet. Der mußte gegen den Teufel persönlich antreten! Nur einer stand seelenruhig am Kolderstock. Pete Ballie. Er konnte seinen Posten nicht verlassen, die Galeone mußte auf Kurs bleiben, damit sie nicht auf eine Sandbank oder Untiefe geriet. Dan O’Flynn kämpfte verbissen mit einem Kerl, der einen ganzen Kopf größer war als er selbst. Und Bärenkräfte hatte er auch.
Die beiden tobten durch die Kuhl, wälzten sich auf den Planken, sprangen wieder auf die Beine. Auf der Back prügelten sie sich weiter. O’Flynn knallte mit dem Schädel an das Schott der Kombüse. Der Kutscher trat heraus, einen Topf kochenden Wassers in beiden Händen. Er war nicht aus der Ruhe zu bringen. Als der Hut des Piraten ihm vor die Füße kollerte, goß der Kutscher das kochende Wasser hinein, packte den Hut und stülpte ihn dem Mann über den Schädel - blitzschnell, mit einem Griff. Ein Schrei hallte über die Themse, wie ihn lauter und mörderischer keiner mehr ausstoßen kpnnte. Dem Kerl lief die kochende Brühe in die Augen, seine Kopfhaut zog sich schrumpelnd zusammen. Er machte einen Satz, daß Arwenack erstaunt und neidvoll aus den Wanten blickte. So hoch konnte selbst ein Affe nicht springen! »Jetzt hat er einen heißen Hut auf!« Der Kutscher kicherte und ließ den total verblüfften Donegal Daniel O’Flynn einfach stehen, um den nächsten Topf Wasser zu holen. Dan hatte mit dem Mann keine Schwierigkeiten mehr. Der sauste, wie vom Affen gebissen, quer durch die Kuhl, schrie und hüpfte und rannte jeden um, der ihm im Weg stand. Matt Davies starrte ihm nach. Er hatte einen Kerl an der Hakenprothese hängen, der sich vergeblich in dem mörderischen Griff wandte und drehte. »Was ist denn mit dem los?« brüllte er Dan nach, der dem Burschen hinterherflitzte. »Ich weiß nicht!« schrie Dan zurück. »Der hat einen heißen Hut auf, glaub ich!« Der Amokläufer kam nicht zur Ruhe. Er sah nichts mehr, er spürte nur den wahnsinnigen Schmerz, und von seinem Hut tropfte es ständig nach, heiß und kochend. Mit Panthersätzen raste er immer wieder um das ganze Schiff herum. Dan ließ ihn sausen. Es gab noch genug andere.
In der Kuhl pfiffen harte Belegnägel durch die Luft, Entermesser blitzten, Beile wurden geschwungen, Piraten zum Krüppel geschlagen. Und überall floß Blut, schrien Männer, die von den Seewölfen regelrecht zerrissen wurden. In dem allgemeinen Kampfgetümmel achtete niemand auf den angeschossenen Segler, der jetzt längsseits zu scheren versuchte. Pete Ballie ließ die ›Isabella‹ leicht abfallen, um den Kerlen das Anlegen zu erschweren. Hasard sah, wie das Schiff mit den wild brüllenden Kerlen näher glitt, wie sie daran gingen, Brandtöpfe und Brandpfeile abzuschießen. Gleich waren sie im Bereich der vorderen Drehbassen angelangt. Er verpaßte dem Mann, der sich von hinten auf ihn warf, einen Tritt mit dem Stiefel, schlug ihm die Faust an den Kopf, ließ das rechte Knie hochsausen und donnerte ihm den Ellenbogen in die Rippen. Aufschreiend stürzte der Mann in die Kuhl zurück. Und dann fegte etwas über Deck, dem die Piraten vorher keine Beachtung geschenkt hatten. Arwenack, kampferprobtes Mitglied der harten Crew, raste über Deck, keckerte, fletschte die Zähne und jagte durch seine bloße Anwesenheit den Kerlen, die in ihrem Leben noch keinen Affen gesehen hatten, einen Schreck ein, daß ihnen Hören und Sehen verging. Tucker kämpfte sich mit zwei schnellen Schlägen durch die Menge, als er sah, was der Seewolf vorhatte. »Der Kutscher hat die Lunte, Hasard!« brüllte er, um das Kampfgeschrei zu übertönen. Hasard brauchte ihn nicht zu rufen. Der Kutscher war schon da, die glimmende Lunte in der Hand. Ein weiterer Topf kochenden Wassers stand bereit. »Halt mir die Kerle vom Leib!« rief Hasard, dem jetzt ein paar Männer folgten. Das war ihre letzte Chance. Wenn es dem Seewolf gelang,
den Segler ebenfalls in Klumpen zu schießen, dann hatten sie keine Unterstützung mehr zu erwarten. Dann gingen sie hier ganz allein vor die Hunde und krepierten, denn diesen Seewölfen entkamen sie nicht mehr, das war jedem einzelnen klar. Hasard senkte die Lunte, als der Segler auftauchte. . Mit wildem Gebrüll wollten sich zwei Mann auf ihn stürzen. Da stand der Kutscher auf der Back vor den Drehbassen und wartete eiskalt, bis sie heranwaren. Den Wassertopf hielt er in beiden Händen. Zwei Lappen sorgten dafür, daß er sich nicht selbst die Finger verbrannte. Als die beiden heranstürmten, schüttete er ihnen das kochende Wasser entgegen. Wie wilde Tiere brüllten sie auf und rissen die Arme vor die Augen. Ihre Schreie gingen im wilden Donner der Drehbasse unter. Laut krachend entlud sich das Geschütz. Das ganze Vordeck erzitterte. Ein Bleihagel knallte in das Boot und überschüttete es auf der ganzen Länge. Da blieb kein Auge trocken. Im Boot schrien die Männer auf, wurden von den Bleibrocken getroffen, brachen schreiend zusammen. Ein paar der Kerle kippten tot in die Themse, einige andere konnten sich rechtzeitig durch einen wilden Sprung in das kalte Wasser retten. Ihre Angriffslust zerbrach schlagartig. Jeder suchte sein Heil in der Flucht, jeder schwamm mit aller Kraft dem rettenden Ufer entgegen, verwundet, ausgelaugt, höllische Angst im Nacken, vor diesen Teufeln an Bord der Galeone, die nicht eher Ruhe gaben, bis alles kurz und klein geschossen war. Hasard trat aufatmend zurück. Das fehlte ihnen noch, hier so kurz vor dem Ziel von einer Horde von Galgenstricken ausgeplündert und abgeschlachtet zu werden. Die vielen Kämpfe, die Stürme und Gefahren, alles hätten sie umsonst überstanden - für nichts und wieder nichts!
Das war es auch, was ihnen allen diese unbeschreibliche Wut verlieh, den Haß auf den Gegner, der ihnen in letzter Sekunde die große Beute entreißen wollte. Er lief in die Kuhl zurück. Dort tobte immer noch der Kampf. Luke Morgan gegen einen Piraten, das Bürschchen gegen einen anderen. Brighton gleich gegen zwei Kerle, Tucker zog einem gerade den Scheitel nach. Viele waren nicht mehr übrig, als Hasard wieder eingriff. Smoky hatte gerade keinen Gegner vor sich. Er nutzte die Gelegenheit, die Enterhaken zu entfernen, leerte etwas Pulver in den Segler und warf ihn los. Dann schnappte er sich die glimmende Lunte, wartete, bis der Segler etwas abtrieb, und schleuderte sie hinein. Zunächst geschah gar nichts. Nur ein paar Kerle merkten, daß jetzt auch ihre allerletzte Stütze verschwand. Damit war der letzte Fluchtweg abgeschnitten. Sie brüllten wild auf. Ein Riese, mit einer gezackten Messernarbe im Gesicht, sprang zur Reling. »Zurück!« brüllte er. »Zurück! Springt über Bord, diese Teufel bringen uns um!« Tucker klopfte ihm mit der Axt an den Schädel. »Ihr seid unsere Gäste«, sagte er, »also bleibt auch gefälligst an Bord. Hier wird nicht gekniffen!« Er erhielt keine Erwiderung, denn was sollte ein Mann mit einem halben Schädel schon antworten? Achselzuckend drehte der Schiffszimmermann sich um. Da gab es einen Knall, anschließend zischte es. Das Pulver flammte auf, es war nicht viel, aber es genügte, um das trockene Holz des Bootes in Flammen zu setzen. Eine kleine Flamme sprang hoch, fand überreichlich Nahrung und wurde rasch größer. Der Wind fachte sie weiter an. Sie schlug in das zerschossene Segel und umschlang zuckend den Mast. Brennend trieb sie davon. Fünf Kerle noch! Sie flüchteten jetzt vor den rasenden
Seewölfen. Einer enterte in die Wanten, um sich dort zu verstecken. Ein anderer stürzte zum Achterkastell. Drei andere sahen sich ratlos um. Da trieb ihr brennender Kahn, da trieben die Leichen ihrer Kumpane und hier standen sie einer Mauer gegenüber, gegen die sie vergeblich anrannten. Und diese Mauer rückte jetzt näher. Aus den Wanten erscholl ein Schrei. Arwenack war mit dem unliebsamen Besuch nicht einverstanden. Als der Kerl die Rah erreicht hatte, flitzte der Affe hervor, sprang ihn an und biß ihm in den Hals. Der Kerl sah das Gesicht vor sich, die gebleckten Zähne, den haarigen Schädel mit den menschlichen Zügen und drehte durch. Und dann biß dieser höllische Klabautermann ihn in den Hals. Es war nicht so sehr der Schmerz als der unheimliche Schreck. Er verlor den Halt, stürzte aus den Wanten, verhedderte sich in den Webeleinen mit dem Fuß und knallte dann aufs Deck. Er brach sich das Genick. Noch vier, die jetzt erbarmungslos von den Seewölfen gejagt wurden. »Euch reiß ich die Affenärsche bis zum Kragen auf«, versicherte Ferris Tucker mit Donnerstimme und schwang seine Axt, vor der sie so fürchterliche Angst hatten, und die in ihren Reihen erbarmungslos gewütet hatte. Der Bursche auf dem Achterkastell sprang über Bord, froh, noch einmal so billig davongekommen zu sein. Den einen erwischte Matt Davies mit seiner Hakenprothese, schlug ihm den Eisenhaken in die Brust, zerrte ihn hoch und warf ihn mit wildem Schwung über Bord. Die beiden letzten, die von der Meute noch übriggeblieben waren, stürmten in fieberhafter Eile zum Vordeck, wo sich augenblicklich niemand befand. Ihre Gesichter wirkten erlöst und erleichtert, als sie die Arme ausbreiteten und über Bord sprangen. Das kalte Wasser der
Themse schlug über ihnen zusammen, aber sie empfanden es als die reinste Wonne, obwohl sie nicht schwimmen konnten. Ihnen war alles egal gewesen. Nur weg von diesem Höllenschiff und seiner fürchterlichen Besatzung, weg von dem Kerl mit der Axt, von dem anderen mit dem Haken. Still und lautlos ersoffen sie, noch bevor sie das Ufer erreicht hatten. Der Kampf war geschlagen. Die Seewolf-Crew hatte wieder mal einen Sieg errungen, nur ein paar Stichwunden davongetragen, Prellungen und kleine Verletzungen, die aber bei den Männern nicht zählten. Der Segler, der jetzt lichterloh brannte, trieb hinter ihnen auf eine Untiefe. Hasard und die anderen schauten zu, wie er auseinanderbrach und das Feuer ihn gierig fraß. Der andere war schon sehr weit achteraus. Er trieb am jenseitigen Ufer gegen einen Dalben und wurde von Neugierigen umringt. Von der Barke gab es keine Spur mehr, und der dritte Segler hatte längst den Grund der Themse erreicht. Tucker ließ die Leichen über Bord werfen. Anschließend wurde das Deck vom Blut gereinigt. Die ›Isabella‹ segelte weiter und hielt Strommitte. Am Heck wehte die englische Flagge im Wind. Am Ufer standen schreiende Menschen, die das Drama miterlebt hatten. »Rum für alle«, sagte der Seewolf und starrte seinen Bootsmann an, der aus schwarzem Gesicht fröhlich grinste. »Ich denke, wir alle haben ihn uns redlich verdient.« »Das denke ich auch«, erwiderte Ben Brighton, den Hasard selten so hart hatte kämpfen sehen. Am Ufer starrten sie dem Schiff nach, dem stolzen Segler, der westwärts segelte. Und sie sahen auch den wilden, schlanken, schwarzhaarigen Mann, der auf dem Achterkastell stand, und dessen Haare im Wind flatterten. Und sie hörten ein letztes Mal den Ruf, der über die Themse dröhnte und den sie sich nicht
erklären konnten. »Ar-we-nack!« Und noch einmal: »Ar-we-nack!« Es gab keinen unter den Zuschauern, dem nicht ein Schauer über den Rücken lief. Einige bekreuzigten sich. Keymis, der das Drama ebenfalls bis in die letzte Einzelheit verfolgt hatte, lehnte hinten am Leiterwagen und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Immer wieder kam es ihm hoch, immer wieder mußte er sich übergeben. Er war ein gebrochener Mann, ein Mann, der keinen Mumm mehr hatte, der kaputt war, für den sich das Leben kaum noch lohnte. Und so stand er da, grün vor Wut, von grenzenlosem Entsetzen geschüttelt, gefüllt mit Haß bis obenhin. War denn dieser verdammte Seewolf nicht zu schlagen, dieser Hund, der immer wieder den Sieg davontrug? Der mußte mit dem Teufel selbst im Bund stehen. Völlig gebrochen schlich er davon. Der Untergang der Schiffe war ihm an die Nieren gegangen, das Gemetzel hatte ihn geschafft. Keymis war um Jahre gealtert. Zitternd stieg er auf sein Pferd. Sein letzter Blick galt der Galeone, dem wilden stolzen Schiff, das jetzt auf London zusegelte. Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er den Kasten noch von unten gesehen, als sie ihn kielgeholt hatten. Er ritt davon, der Ritter von der traurigen Gestalt. Ein ausgemergeltes Bündel. Und immer wieder hielt er an, beugte sich aus dem Sattel und übergab sich. Er würde noch lange keine Ruhe finden, der ehrenwerte Friedensrichter Baldwyn Keymis. ENDE Ein Anker für die Königin von Fred McMason
Sie hatten einen armierten Segler gerammt, waren durch eine Sperrkette gebrochen und jetzt segelten sie auf den Tower zu eine wilde, verwegene Schar von Männern, die ihrer Majestät der Königin von England einen Schatz von unvorstellbarem Wert vor die Füße legen wollten - und für dieses Ziel auch noch im eigenen Land kämpfen mußten. Der Seewolf starrte auf die klotzige Festung. Auf den Wehrgängen lauerten Bogenschützen, die Stadtgarde war aufgezogen. Am Tower Kai standen die Kanoniere klar bei Lunte. Und genau an diesem Kai sollte die ›Isabella‹ anlegen jene Galeone, die man für ein spanisches Schiff hielt, obwohl sie die englische Flagge am Heckmast führte ...