Rolf Arnold Führen mit Gefühl
Rolf Arnold
Führen mit Gefühl Eine Anleitung zum Selbstcoaching Mit einem Methoden-ABC...
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Rolf Arnold Führen mit Gefühl
Rolf Arnold
Führen mit Gefühl Eine Anleitung zum Selbstcoaching Mit einem Methoden-ABC 2. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 2. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ulrike M. Vetter Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2926-6
Vorwort
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Vorwort
„Wenn du veränderst, verändert sich nichts. Denn jede Veränderung muss Selbstveränderung sein.“ (Willke 1987, S. 350) Dieses Buch beinhaltet einen Briefwechsel zwischen einer Führungskraft und ihrem ehemaligen Mentor, der sie in schwierigen Phasen begleitet hat. Diese Begleitung findet in diesen Briefen ihre Fortsetzung. Dabei wird ein Coachingprozess sichtbar, der tief an der Person und ihren Gefühlen, Fragen und Zweifeln ansetzt, gleichzeitig jedoch auch unmittelbare Ratschläge anbietet, wie sie uns die Veränderungswissenschaften nahelegen. Es wird deutlich, dass alle Fragen, Probleme und Zwangslagen, in denen wir uns befinden, auch Ausdrucksformen des Mechanismus sind, dass im Außen nur sein darf, was auch im Innen sein darf. Dies ist die Strukturdeterminiertheit unserer Wahrnehmung, von welcher der Konstruktivismus spricht. Wir können uns die Welt nur zu unseren eigenen Bedingungen konstruieren, und wir tun dies so, wie wir es aushalten können. In dem, was wir erleben, begegnet uns deshalb oft mehr Eigenes als wirklich Neues. Die Beleuchtungen, Handlungsimpulse und Gefühle, die sich von diesem vertrauten Eigenen her beständig in unser Leben einmischen, zu erkennen, ist ein wesentliches Ziel eines emotionalen Coachings, wie es aus dem hier vorgelegten Briefwechsel spricht. Dabei wird auch deutlich, dass die Fragen, mit denen man sich in der Krisenbegleitung konfrontiert sieht, teilweise uneinholbar sind. Nicht alle Fragen finden eine Antwort, oftmals ist das Einzige, was gelernt werden kann, das richtige Fragen. Die Erschütterungen, die eine Krise im Leben einer Führungskraft auszulösen vermag, können weite Kreise ziehen, denn Führungskrisen sind zumeist Persönlichkeitskrisen, und Krisen im persönlichen Leben wirken sich auch im kooperativen Handeln der Menschen aus. Aus diesem Grunde muss Coaching ganzheitlich orientiert sein, Beratung ist nicht auf einzelne Segmente der Führungskompetenz zu begrenzen.
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Vorwort
Menschen haben oftmals keinen Zugang zu ihren Emotionen. Dies gilt auch für Führungskräfte, und es gilt für sie in einem besonderen Maße. Es scheint so, als sei eine gewisse Distanz zu der eigenen inneren Substanz häufig eine Art Voraussetzung dafür, nach Führung zu streben. Dann wird Führung uneigentlich, da ihre Entscheidungen und Handlungen sich nach Maßgaben bemessen, die nicht der konkreten Lage, sondern eigenen Resonanzanliegen geschuldet sind. Solche Führungskräfte spüren sich in ihrem Führungshandeln, weshalb sie oftmals nicht spüren, was für die Situation, die Organisation und die in dieser Tätigen das Notwendige und Erforderliche ist. Die emotionale Kompetenz und die Wirksamkeit von Führungskräften sind deshalb wesentliche Voraussetzungen für den systemischen Erfolg ihres Handelns. Systemisch ist ein Erfolg, der die Potenziale und Ressourcen einer Organisation optimal bündeln und zur Entfaltung zu bringen vermag. Dies gelingt Führungskräften in der Regel nur, wenn sie z. B. in einem Coaching gelernt haben, sich von außen zu beobachten und die eigentlichen Triebkräfte ihres Handelns zu verstehen. Gute Führungskräfte müssen zuallererst die Führung in ihrem eigenen Leben übernehmen und „Herren im eigenen Haus“ ihrer Seele und Motive werden. Nur, wer eine Vision von gelungenem Leben in seinem Herzen trägt, kann auch wirklich führen. Denn das Wohin der Führung liegt stets außerhalb der eigenen unbewussten Anliegen und zumeist auch außerhalb des eigenen begrenzten Zeithorizontes. Führungskräfte müssen achtsam und auch unerschrocken sein. Ihr Führungsanspruch ergibt sich aus einer abschiedlichen Grundeinstellung zum Leben einerseits und einer bewussten Entscheidung zu den verbleibenden Möglichkeiten dieses Lebens andererseits. Emotionale Kompetenz kann deshalb auch nicht in einem Schnellkurs erworben werden, sie ist stets das Resultat einer persönlichen Transformation, d. h. eines Aufbruchs zu einer selbstreflexiven Beobachterhaltung, einer neuen biographischen Gewissheit und einer systemischen Bescheidenheit. Wer sein eigenes Erleben für real, seine Sicht der Dinge für objektiv richtig und die Erfüllung seiner tief verwurzelten Geltungssüchte für sachlich erforderlich hält, der mutet sich den anderen einfach nur so zu, wie er seine Welt fühlt und versteht. Er ist mit dieser Haltung zwar einige Zeit zu ertragen und vielleicht auch tüchtig, wird aber nur selten in der Lage sein, die Potenziale und Ressourcen der Menschen, für die er Verantwortung trägt, wirklich zur Entfaltung zu bringen. Dies merken Organisationen spätestens dann, wenn die Kreativität und Selbststeuerung für sie zu entscheidenden Wettbewerbsfaktoren werden. Dann zeigt sich die Begrenztheit von Organisationsformen, die auf die narzisstischen Anliegen Einzelner zugeschnitten sind und nach Maßgabe ihrer Bedürftigkeiten funktionieren sollen. Solche Organisationsformen sind noch immer in einem Dornröschenschlaf gelähmt, und es bedarf nicht des mutigen Königssohnes, um sie aufzuwecken, sondern der Führungskraft, deren Mut darin besteht, sich zu sich selbst aufzumachen.
Vorwort
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Dieses Buch zeichnet diesen Aufbruch einer Führungskraft zu sich selbst detailliert in einem Briefwechsel zwischen einem Coach und seinem Klienten nach. Gleichwohl ist dieses Buch ein Artefakt. Es gibt weder Karl noch Bernhard als Personen. Es gibt jedoch die Gefühle, Fragen und Zweifel von Führungskräften, wie ich aus zahlreichen eigenen Forschungs- und Beratungskontakten der letzten Jahre sowie aus eigener Leitungsfunktion in unterschiedlichen Organisationen weiß. Die in dieser Arbeit gesammelten Erfahrungen sind in den hier vorgelegten Briefwechsels eingeflossen. Rolf Arnold
Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort..................................................................................................................5 Brief 1: „Burn out“ ..............................................................................................11 Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit ............................................................15 Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände........................................................25 Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“ ....................................................37 Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“............53 Brief 6: „Mit mir nicht!“ .....................................................................................61 Brief 7: „Ja, aber!“...............................................................................................71 Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt.................................83 Brief 9: „Macht macht nichts!“ ...........................................................................91 Brief 10: „Sich selbst besiegen“........................................................................105 Literatur.............................................................................................................117 Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools) ...........................................................123 Der Autor...........................................................................................................173
Brief 1: „Burn out“
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Brief 1: „Burn out“
Der folgende Brief ist ein Hilferuf. In ihm wendet sich Bernhard an seinen früheren akademischen Lehrer und Freund Karl. Er ist in einer biographischen Krise, in der ihm alles zu entgleiten droht – vor allem die Gewissheit und Zuversichtlichkeit. Gleichzeitig ist er jedoch aufmerksam: Er spürt das Musterhafte dieser Entwicklung, und er ahnt, dass ihm ein Begleiter helfen könnte, aus seiner gefährlichen Abwärtsspirale auszusteigen. Mit ganz konkreten Anfragen wendet er sich an Karl, seinen früheren akademischen Ratgeber und Begleiter, wobei er jedoch mehr zu bieten hat als nur seine Ratlosigkeit oder gar ein Lamento: Karl ist erstaunlich belesen, rückt das eigene Erleben in den Kontext großer Denker und bietet auch selbst Erklärungen und Anregungen an, die bereits von der ausgeprägten Reflektiertheit seines Denkens, Handelns und Tuns zeugen.
Lieber Karl, entschuldige, dass ich mich schon längere Zeit nicht gemeldet habe. Es war einfach zu viel los, und vieles hat mich auch erschöpft – es scheint mir manchmal so, als entgleite mir derzeit alles gleichzeitig. Keine Sorge, ich will dir jetzt keinen Lamento-Brief schreiben. Da du mich aber nach unserer letzten Sitzung dazu ermuntert hast, mich an dich zu wenden, wenn es „eng“ wird, habe ich mich entschlossen, dir einfach mal alles aufzuschreiben, was mich derzeit so bedrängt und fast alle Energie raubt. Manchmal bin ich schon nach dem Aufstehen müde, und wenn ich dann an all die erfolglosen Bemühungen der letzten Wochen denke, meine Vorhaben zu realisieren, dann würde ich am liebsten alles hinwerfen und auf die berühmte einsame Insel entschwinden. Irgendwie spüren auch meine Kollegen diese Ausgebranntheit. Kaum noch werde ich nach meiner Meinung oder gar Entscheidung gefragt, obgleich ich doch ihr Chef bin bzw. sein sollte. Immer häufiger werde ich auch mit einsamen Entscheidungen Einzelner konfrontiert, die die Lücke, welche ich wohl offen lasse, mit eigenem, aus meiner Sicht angemaßtem Verhalten füllen. Es gab schon Situationen, in denen sie gegen mich rebellierten. Dies geschieht auch mit dem neuen Libanon-Projekt, für welches ich klare Vorgaben definiert habe. Der zustän-
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dige Projektleiter gibt mir auf Sitzungen unverhohlen zu verstehen, dass er die Angelegenheit wesentlich besser durchschaut als ich, und in der letzten Teamsitzung hat er mich richtiggehend vorgeführt. Früher hätte ich ihn aggressiv „zur Schnecke gemacht“, doch heute gehe ich über solche Situationen hinweg. Ich spüre deutlich, wie dies meine Position in den Augen der anderen noch mehr schwächt. Irgendwie habe ich mich bereits selbst abgesetzt, habe ich den Eindruck. Es ist eine Art Lähmung, die in dem Gefühl des „Wozu das Ganze?“ ihren Ausdruck findet. Es ist wirklich so, lieber Karl, dass ich seit dem Tod meines Vaters irgendwie damit begonnen habe, alles vor dem Hintergrund der so lange verdrängten Perspektive der noch verbleibenden Zeit zu spüren und zu beurteilen. Und da breitet sich in meiner Seele ein nahezu grenzenloser Nihilismus aus, muss ich dir gestehen. Ich finde wirklich keinerlei Rechtfertigung für mein eigenes Tun, außer derjenigen, dass es da ein Leben gibt, welches irgendwie zu Ende gebracht werden muss. Doch fast alle Aufgeregtheiten und Entscheidungsfragen, mit denen ich täglich konfrontiert bin, erscheinen mir so lächerlich unwichtig, dass ich mich ihnen kaum noch mit der notwendigen Ernsthaftigkeit zu widmen vermag. Letzthin ist es mir sogar passiert, dass ich mich während einer wichtigen Sitzung, in der es um unser Budget für das kommende Jahr ging, bei Zahlenspielereien erwischte, die mit der Sache, die da verhandelt wurde, überhaupt nichts zu tun hatten. Es waren biographische Daten, die meine Gedanken beschäftigten. Plötzlich wurde mir klar, dass ich fast auf den Tag genau vor 25 Jahren mein Studium an Eurer Universität abgeschlossen habe – es kommt mir vor, als wäre dies gestern gewesen –, und dass ich sehr wahrscheinlich in weiteren 25 Jahren tot sein werde. Wie fern solche Gedanken all denen zu sein schienen, die sich mit wahrer Inbrunst der Budgetdebatte widmeten, als ginge es dabei um irgendetwas wirklich Wichtiges. Sicherlich werden wir nicht dafür bezahlt, uns während der Arbeitszeit solche Gedanken über den Tod zu machen, doch ich kann sie einfach nicht mehr verdrängen. Jeden Tag lebe ich im Bewusstsein, dass auch dieser Tag mich dem Ende näher bringt, welches für mich ganz offen und ohne irgendwelche Aufforderung ist. Wie kann man angestrengt seinen Alltag zubringen, wenn doch letztlich alles vergeblich ist? Wie kann man Verantwortung tragen, Erfolge produzieren, wenn einen doch nur die Intensivstation, das Sterbezimmer oder ein plötzlicher Herztod erwarten. Verstehst Du, was ich meine? Wie gehst du mit solchen Fragen um? Verdrängst du sie? Meinen innerlich irgendwie gelähmten Zustand kann ich dir auch so beschreiben: Früher war es mir klar, dass das Leben „nach vorne“ gelebt werden muss, wie mein Vater zu sagen pflegte. Es bot sich mir ein Horizont reichhaltiger Möglichkeiten. Jetzt habe ich irgendwie diesen Horizont erreicht und erkenne, dass es dahinter nicht mehr wirklich weiter geht. Es ist eine Todeslandschaft, die sich
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mir bietet, und es geht abwärts. Ich merke das daran, dass ich immer mehr Menschen kenne, die bereits gestorben sind. Mir fehlt die Landkarte, um mich in diesem Gelände bewegen zu können. Und der Versuch, mit demselben Konzept, welches mich bis hinter den Horizont, hinter „die Hügel des Triumphes“ geführt hat, dieses andere Leben mit Substanz auszustatten, überzeugt mich selbst nicht, da ich merke, dass es nur ein „Weiter-so-wie-Bisher“ ist. Und irgendwann werde ich erstaunt sterben, ohne auch nur eine Idee davon entwickelt zu haben, wohin und wie ich mich die letzten Jahre bewegt habe. Richtiggehend ausgebrannt fühle ich mich, wobei es doch nur das alte Lebenskonzept ist, welches mir verbrannt zu sein scheint. Kürzlich las ich in den Essays von Montaigne, welche du mir bei deinem letzten Besuch empfohlen hattest: „Nach dem ordentlichen Gang der Dinge ist´s ein großer Glücksfall, dass du noch einen Fuß vor den anderen setzt. Du hast die Grenzströme des Lebens überschritten. Meinst du nicht? Nun, so zähle, wie viele unter deinen Bekannten mehr waren, die vor deinem Alter starben, als deren, die es erreichten“ [Montaigne 1976, S. 12]. Wenn ich das so lese, dann wird mir überdeutlich, dass ich vielleicht kein neues Lebenskonzept, sondern eines des Sterbens benötige. Keine Sorge, mir ist nicht morbid zumute, obgleich ich dir ja sagte, dass die Erfahrungen mit dem ZuEnde-Gehen meine ursprüngliche Aufbruchsstimmung erstickt haben und sich in mir dieses alles lähmende Gefühl der Perspektivlosigkeit mehr und mehr breit zu machen begonnen hat. Und gleichzeitig spüre ich, dass ich vielleicht erst am Beginn eines Weges stehe, auf dem ich meinem Leben eine neue Substanz stiften könnte, ohne dass ich aber schon wirklich spüre, worin diese Substanz liegen könnte. Deshalb lese ich auch die Bücher, die du mir empfohlen hast. Wie aber komme ich mit der Erosion meiner Wirksamkeit in Beruf und Familie zurecht? Ja, richtig, über meine Situation, nachdem Lilli im letzten Herbst mit den Kindern ausgezogen ist, habe ich noch gar nicht gesprochen. Es geht irgendwie in die gleiche Richtung, was ich dabei empfinde. Da ist zum einen das Unverständnis und auch die Wut und Verzweiflung über die verlorene Perspektive – „nach allem, was ich für die Familie getan habe“, bin ich versucht zu ergänzen. Die Wut dominiert meine Empfindungen eindeutig, und ich habe auch in diesem Bereich noch keine Antwort auf die Frage gefunden, was dies alles für mein weiteres Leben und meine gelähmte Lebensenergie bedeutet. Aber das ist ein Thema, über das ich dir in den nächsten Wochen einmal Genaueres schreiben werde. Noch habe ich nicht den Mut und auch nicht die Kraft, mich damit wirklich auseinanderzusetzen.
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Brief 1: „Burn out“
Vielleicht kannst du mir als Freund, aber auch als jemand, der sich professionell mit solchen Fragen der persönlichen Veränderung befasst, ein paar Tipps geben, was ich nach deiner Meinung tun könnte, um wieder zu der Zuversicht und Gestaltungskraft vergangener Zeiten zurückzufinden, denn es war ja eigentlich noch niemals meine Art gewesen, im Lamento zu erstarren, wenn ich mich so betrachte. Vielleicht findest du aber auch, dass dies alles typische Irritationen und Entkräftungen für Männer in der Lebensmitte sind, mit denen man sich systematisch auseinandersetzen muss, um sich dann – gewissermaßen wie Münchhausen – am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Letzteres wäre ganz in meinem Sinne, denn ich erwarte nicht, dass du mir hilfst. Worum ich dich bitte ist, mir zu helfen, damit ich mir selbst aus dieser Krise, die mich seit einiger Zeit entkräftet, hinausführen kann. Willst du mir in diesem Sinne als Coach zur Seite stehen? Natürlich wäre es besser, wenn wir uns im persönlichen Gespräch auseinandersetzen könnten, aber leider liegen 680 Kilometer zwischen uns, und es ist nicht mehr so leicht wie früher, als du mich beim Antritt meiner ersten Führungsposition begleitet hast und wir uns dabei anfreundeten. So viel für heute. Lass es dir gut gehen! Gruß dein Bernhard
Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit
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Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit
In diesem Brief nimmt Karl, ein Hochschullehrer mit eigener Coachingerfahrung, den Ball auf, der ihm durch seinen ehemaligen Schüler zugespielt wird. Er reagiert nicht tröstend und ausschließlich ermutigend, sondern gibt Bernhard weitere analytische Hinweise aus den Veränderungswissenschaften. Damit zeigt er ihm, dass die Situationen und Ereignisse, die ihn bedrängen, auch andere Menschen bedrängen, und er weist ihm einen Weg zur selbständigen und kompetenten Analyse des Bedrängenden. Damit stärkt Karl die Ressourcen seines Klienten und eröffnet ihm einen neuen Weg, sich zu dem Bedrängenden in eine andere – beobachtende – Position zu bringen. Dies ist der erste Schritt zur Befreiung aus Sichtweisen und Gefühlslagen, die einen dorthin gebracht haben, wo man sich befindet. Es geht bei diesem Weg auch um eine Aufdeckung der früh gelernten Formen des Umgangs mit Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und eigener Unwirksamkeit.
Lieber Bernhard, dein Brief lässt eine einfache und schnelle Beantwortung nicht zu, wie dir ja selbst bewusst ist. Du fragst mich als Coach an – eine Aufgabe, die noch etwas genauer bestimmt werden muss, damit ich dir auch wirklich wichtige Impulse für deinen Weg aus der Entkräftung geben kann. Du weißt, dass ich als Mann der Wissenschaft natürlich dazu neige, dir Theorien, Konzepte und Einsichten anzubieten, die in den letzten Jahren zu der Frage des Umgangs mit Veränderungen entwickelt worden sind. Diese sind nur begrenzt tröstend, sie helfen aber, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, den Blick auf das Eigene von einer anderen Perspektive her zu proben, und die Einnahme einer neuen Perspektive ist die Voraussetzung für eine Neuerung im Außen. Dies könnte auch in Deinem Fall hilfreich sein, denn das, was du derzeit erlebst, erleben viele Menschen in einer ähnlich belastenden Form. Und auch deine sehr existenziellen Betrachtungen, die du artikulierst, berühren Fragen, die oft gerade dann in ihrer ganzen Deutlichkeit aufbrechen, wenn wir spüren, dass unsere bisherigen Konzepte des Aufbruchs nicht mehr richtig wirksam sind, sowohl im Außen wie im Innen. Aus
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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diesem Grunde hängt auch beides zusammen, denn – wie die Systemiker oft sagen – darf das, was im Außen nicht sein kann, auch im Innen nicht sein – und umgekehrt. Damit bin ich natürlich schon mitten im Thema – zumindest in einem Teil desselben. Und du bemerkst, dass ich deine Fragen so aufgreifen möchte, dass ich sie zunächst aus veränderungswissenschaftlicher Sicht diskutiere, um so zu Perspektiven zu gelangen, aus denen du sicherlich auch Hinweise ableiten kannst, welche dir helfen können, „wieder zu der Zuversicht und Gestaltungskraft vergangener Zeiten zurückzufinden“, wie du sagst. Denn Veränderungswissenschaft ist sehr praktisch, wie ich aus den unzähligen Entwicklungsprojekten der vergangenen Jahre weiß, und auch der systemisch-konstruktivistische Ansatz, mit dem wir in meinem Institut seit vielen Jahren erfolgreich arbeiten, ist letztlich sehr hilfreich, lässt er doch die Verantwortung für unsere Sicht der Dinge ganz bei uns. Es sind nicht die bedrängenden Umstände allein, die uns unsere Kräfte rauben und uns feststecken lassen, es ist vielmehr unsere „Sicht“ der Dinge, wie bereits der Philosoph Epiktet zu sagen wusste.1 Und dies ist gewissermaßen die erste „Lektion“, die ich dir anbiete: Lektion 1: Es sind selten die Tatsachen selbst, die uns Schwierigkeiten machen, sondern unser Denken und unser Fühlen, welche durch diese Tatsachen ausgelöst werden. Erst indem wir diese wahrnehmen, d. h. denken und fühlen können, werden sie für uns überhaupt existent. Insofern ist das, was uns bedrängt, immer schon in uns. Und auch die Lösung unserer Probleme setzt deshalb eine innere Bewegung voraus.
Konkret bedeutet dies, dass ich auch mit dir besser nicht nur über die äußeren Konstellationen, welche dein Leben ausmachen, rede, sondern versuche, die inneren Bilder, mit denen du dir dieses zurechtlegst bzw. für dich und andere „auf den Punkt bringst“ und erläuterst, zu beobachten. Diese inneren Bilder sind emotionalen Ursprungs. Sie setzen sich aus den spontanen Stimmungen, Eindrücken und Gefühlen zusammen, die schon immer in uns sind. Diese werden in bestimmten Situationen und Lebenslagen, die dem einst Erlebten ähnlich sind, aktiviert. Die System- und Kognitionstheorien sprechen in diesem Zusammenhang von Emergenz – welch ein sperriges Wort –, d. h. von einem spontanen Prozess der Ordnungsbildung. Eine bestimmte Konstellation triggert eines der 1
Im Orginal lautet das Zitat: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen uns, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben“ (Epiktet 1992, Nr. 5).
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bereits früh gelernten und eingespurten Gefühls- und Deutungsprogramme, und es stellt sich für uns eine Ordnung her, die wir – wenn wir uns genau beobachten – bereits „kennen“. In diesem Sinne spricht der von mir sehr geschätzte Kognitionsforscher Francisco Varela von einer „Patchwork-Architektur der Kognition“ (Varela u. a. 1992, S. 133), womit er darauf verweist, dass an dem, was wir wahrnehmen, vornehmlich Eigenes beteiligt ist. Er plädiert deshalb für eine „Verknüpfung von Emergenz und Welterzeugung“ (Varela 1990, S. 114), da, wie er in der Sprache der Kognitionsforschung schreibt, „selbst am äußersten Rand des visuellen Systems also die Einflüsse, die das Gehirn vom Auge erhält, auf wesentlich stärkere Aktivitäten (treffen), die von der Großhirnrinde ausgehen. Das Zusammentreffen dieser beiden Ensembles neuronaler Aktivitäten ist ein Moment, das eine neue kohärente Konfiguration emergieren lässt“ [Varela u. a. 1992, S. 136]. Vielleicht frustriert dich mein spontaner Ausflug in die wissenschaftlichen Konzepte zu der Frage, wie unsere Wahrnehmung „geschieht“. Und vielleicht empfindest du meine Ausführungen als belehrend und fragst dich, was dies alles mit dir und deiner als bedrängend empfundenen Lebenslage zu tun habe. Eine solche Enttäuschung könnte ich verstehen, doch gehe ich diesen Umweg ganz bewusst, weil er auch dir einen neuen Zugang zum Verständnis deiner eigenen Situation zu stiften vermag, wie ich sicher weiß. Es ist nämlich gerade die Unabweisbarkeit solcher Einblicke in die Funktionsweisen unserer kognitiv-emotionalen Wahrnehmung, welche uns auch die „Banalität von Ich-Zuständen“ (Arnold/ Siebert 2006, S. 147) neu und anders verstehen lässt. Und indem wir verstehen, wie wir verstehen, d. h. auf welche durchschaubare Weise wir uns routinemäßig unsere Welt zurechtlegen, eröffnet sich uns auch ein anderer und wirksamerer Umgang mit dem, was uns bedrängt. So ist die Beschreibung deiner Kraftlosigkeit zunächst ein Ausdruck der Gefühle und Interpretationsversuche, die sich bei dir in der von dir beschriebenen Lebenslage einstellen, und sie sind zugleich die „Brillengläser“, durch welche du deine Lebenssituation betrachtest und dann auch nur siehst, was du durch diese Brille zu sehen vermagst. Erst in den letzten Jahren ist mir das Primat der Emotion, wie ich dies nenne, für die Konstitution unserer Plausibilität und Identität wirklich deutlich geworden. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Veränderung nur wirklich entstehen kann, wenn uns zunächst bewusst wird, aus welchen Gefühlsbausteinen wir uns die Lähmung, das Bedrängtsein und die Ausweglosigkeit konstruieren. Hieraus ergibt sich nur eine Konsequenz: Wir müssen eine Art Selbstarchäologie beginnen, d. h. eine systematische Erforschung der ganz eigenen Grundlagen, auf denen
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„unsere innere Kultur“ bzw. unser Denken, Fühlen und Handeln beruhen. Es geht dabei nicht darum, irgendwelchen Störungen unserer Wahrnehmung auf die Spur zu kommen. Vielmehr geht es der Selbstarchäologie um eine gewissermaßen leidenschaftslose Analyse und Rekonstruktion der Elemente, aus denen wir uns unsere Erfahrungen „basteln“. Diese begegnen uns nämlich nicht einfach in der Form von Schicksalsschlägen oder „unmöglichem“ oder „verantwortungslosem“ Handeln anderer, sondern gewinnen erst Gestalt, wenn wir sie uns selbst und anderen erzählen. Dabei sind es die Formulierungen, die wir verwenden, sowie die Aspekte des Geschehens, die wir besonders akzentuieren, insbesondere aber auch die Ähnlichkeit unseres Verhaltens in Schlüsselsituationen, welches uns die Spur zeigt, auf der wir gewissermaßen in die Werkstatt unseres Bewusstseins gelangen (können). Als die wesentlichen Schlüsselsituationen, die sich nach meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen in ähnlichen wie deiner Lage beständig rekonstellieren, sind dabei folgende vier zu nennen: Umgang mit Anerkennung, Umgang mit Abhängigkeit, Umgang mit Zuwendung und Umgang mit Unwirksamkeit. Es geht darum, sich selbst dabei zu beobachten, wie wir mit diesen Situationen innerlich umgehen. Welche Gefühle stellen sich ein, wenn erwartete Zuwendung sich nicht einstellt oder wir uns in unseren Bemühungen als unwirksam erleben? Wie beengend ist das Erleben ausbleibender Anerkennung sowie einengender Abhängigkeit? Mit zahlreichen Menschen habe ich zu diesen vier Grundthematiken unseres Sich-in-der-Welt-Fühlens zunächst einmal Bilder malen lassen, welche sie sodann erläutern und mit erlebten Situationen illustrieren mussten. Auf diese Weise werden uns nicht nur die ursprünglich prägenden Erlebnisse, die heute in unserer Wahrnehmung noch mitschwingen und dieser ihre ganz spezifische Färbung geben, bewusst, wir kommen auch der inneren Logik unserer Erfahrung dadurch mehr und mehr auf die Spur. Diesen Zusammenhang habe ich kürzlich in folgendem Bild beschrieben gefunden: „Gefühle sind innere Programmierungen, d. h. früh im Sozialisationsprozess eingespurte Stellungnahmen zur Welt. Sie bilden die Farbpalette, mit denen wir unsere Bilder der Wirklichkeit, d. h. von dem, was auf uns augenscheinlich zu wirken scheint, malen. Wir können nur auf unsere eigene Farbpalette zurückgreifen, da wir nur über die Farben verfügen können, die wir haben. Aus diesem Grunde kann uns die Wirklichkeit zwar etwas antun, aber ob wir bei dem Stimmungsbild, welches dabei entsteht, nur dunkle oder auch ein, zwei helle oder gar grelle Farbtöne verwenden, ist ausschließlich
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von unseren inneren Möglichkeiten abhängig. (...) Deshalb ist jedes emotionale Bild der Wirklichkeit auch etwas ganz Eigenes und Selbsterzeugtes. Und es scheint noch etwas hinzuzukommen: Die Farben „müssen“ zum Einsatz gelangen. Man „sucht“ deshalb geradezu nach geeigneten Motiven, die sich in den Farbtönen darstellen lassen, welche wir auf der Farbpalette unserer Seele bereithalten. Diese Wirkungsweise unserer Emotionalität radikalisiert nochmals zusätzlich die Grundthese des pädagogischen Konstruktivismus, welche besagt, dass wir uns die soziale Wirklichkeit, die uns begegnet oder unter der wir leiden, in der Art, wie sie sich uns präsentiert, selbst schaffen“ [Arnold 2007, S. 98]. Dies bedeutet aber auch, dass wir eine unserer Lieblingsbeschäftigungen unbedingt einstellen müssen: das Streiten über die Wirklichkeiten. Dieselben Erlebnisse werden von den Menschen unterschiedlich wahrgenommen, und sie lösen auch unterschiedliche bzw. unterschiedlich intensive Gefühle aus. Die neueren Hirnforschungen, die wir in meinem Institut sehr aufmerksam verfolgen, stützen die These, dass der Mensch sich bereits sehr früh emotional gegenüber der Welt positioniert. Es sind seine frühen Erfahrungen des Geborgenseins oder Ungeborgenseins, sein Sich-Spüren in den Stimmungen des Familienkontextes, aber auch seine vorgeburtlichen psychophysischen Eindrücke, welche die Grundstrukturen dessen, was ihm vertraut und plausibel anmutet, einspuren. Und da wir alle in diesen frühen Stadien mit denselben, aber auch sehr unterschiedlichen Eindrücken konfrontiert wurden, weisen wir auch sehr unterschiedliche Wahrnehmungen zu denselben Gegebenheiten auf. Was für den einen bedrohend wirkt, das ist für den anderen anregend, wovor der eine Angst hat, das ist für den anderen bloß irritierend. Insbesondere in den Situationen, auf die wir emotional sehr stark reagieren, verstehen wir nicht, wieso der oder die andere so anders reagiert. Bloß wenn wir diesen formalen Mechanismus, durch den unsere Gewissheitsbrillen entstehen, verstanden haben, sind wir zumindest in der Lage, zu bemerken, welches die Grundmechanismen in unserer Wahrnehmung sind, mit denen wir die Welt immer wieder so arrangieren, dass sie uns vertraut vorkommt und wir mit ihr zurechtkommen. Dieses Zurechtkommen kann sich paradoxerweise auch gerade dann einstellen, wenn wir uns in als problematisch empfundenen Situationen wiederfinden. Auch diese begegnen uns nicht so und nicht anders als pure Ungerechtigkeiten, wir betrachten sie vielmehr durch unsere Gewissheitsbrillen und malen sie uns in den Gefühlsfarben aus, über die wir verfügen, obgleich diese alt sind. Diese inneren Gemälde stellen die Welt unserer Plausibilität dar, und der erste Schritt aus der inneren Lähmung ist derjenige, der uns zu der Einsicht führt, dass dies so
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ist. Bewusstsein funktioniert durch Wiedererkennen. Probleme, die wir als solche erleben und deuten, sind somit auch Lösungen, helfen sie uns doch, unsere innerlich vorbereiteten Weltsichten zur Anwendung zu bringen bzw. unsere Farbpalette zu benutzen. Wenn wir dies in den beklagten Situationen nicht könnten, würden wir zwangsläufig andere Situationen suchen bzw. weniger dramatische Situationen in ähnlichen Stimmungsbildern malen. Diese Überlegungen lassen sich zu einer weiteren Lektion zum Umgang mit Veränderungen fassen: Lektion 2: Die Selbstarchäologie hilft uns die Banalität unserer Ich-Zustände zu verstehen. Dadurch nimmt sie diesen bereits einiges von ihrem bedrängenden Gehalt. Wenn ich verstehe, wie ich gewöhnlich auf bestimmte Lagen reagiere und welches dabei meine „bevorzugten“ Grundmotive und Ängste sind, dann habe ich mich bereits ein Stück weit von dem Automatismus gelöst, mit dem meine Deutungs- und Gefühlsprogramme (ich kürze diese als „DGPs“ ab) bislang jeweils angesprungen sind, und ich beginne eine Art Zwischenschritt für eine Stop-andThink-Schleife einzubauen.
Eine solche Selbstarchäologie, lieber Bernhard, bedarf einer gewissen Systematik, sie erschließt sich einem nicht von selbst; ich schicke dir anbei einen Algorithmus, mit dem ich in meiner Beratungsarbeit bereits gute Erfahrungen gesammelt habe (Tool A). Man muss die eigene Person mit ihren Eigenarten, ihrer biographischen Besonderheit sowie ihren Ängsten gezielt zu einem Thema, um nicht zu sagen: „Gegenstand“, des Nachdenkens und Analysierens machen. Es geht dabei um eine harte und nüchterne Selbstprüfung, frei von jeder Hilflosigkeit und Weinerlichkeit. Dies gelingt natürlich nicht, wenn man nicht zugleich eine gewisse Distanz zu sich aufbauen kann und sich auch gewissermaßen von außen in den Blick zu nehmen vermag. Dies muss bisweilen regelrecht geübt werden, nach dem Motto: jeden Tag eine halbe Stunde „Ich-Arbeit“. Dabei habe ich gute Erfahrungen mit Aufgabenstellungen gemacht, mit denen ich meine Ratsuchenden verpflichtete, vier für sie typische DGPs (= Deutungs- und Gefühlsprogramme) zu definieren und mehrere Lebenssituationen (Umgang mit Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit) zu beschreiben, in denen diese Programme in ihnen angesprungen sind. Lenkt man den Blick der Ratsuchenden auf solche strukturellen Seiten des eigenen Ichs und beleuchtet zudem den Wiederholungscharakter unserer Freuden und Leiden, dann öffnet man zugleich mehr und mehr einen Zugang zu dem „Do-it-yourself“-Gehalt dessen, was uns angeblich „objektiv“ bedrängt; wir beginnen zu begreifen, dass jeder „objektiven Bedrohung“ stets eine „subjektive Bedrohungserfahrung“ zugrunde liegt.
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Die Selbstarchäologie ist voller unangenehmer Einsichten. Man kommt dem projektiven Gehalt unserer DGPs wir projizieren Eigenes in die Wahrnehmung einer Situation, wir fotografieren diese nicht auf die Spur und versteht mehr und mehr, dass uns nicht nur vom Außen Schlimmes angetan wird, sondern dass dieses gewissermaßen auf einen „fruchtbaren Boden“ fällt. Dies ist der Boden unserer vorbereiteten DGPs. Das Außen gibt uns gewissermaßen Gelegenheit, die in uns gespeicherten Programme abzurufen, deren Substanz allerdings mit der jeweiligen Situation nichts zu tun hat. Wer diesen Zusammenhang versteht, begreift, dass man über die Wirklichkeit deshalb nicht streiten kann, da diese in den jeweils beteiligten Personen ganz unterschiedliche DGPs triggert, aus deren Substanz heraus sie antworten und reagieren – stets in einer typischen Art, mit welcher sie sich „treu“ bleiben. Man tut dem anderen – so gesehen – stets unrecht, und die Lösung des Ganzen liegt nur in einer Entdramatisierung des eigenen Erlebens und einer Relativierung der eigenen Geschichten. Indem wir diesen formalen Mechanismus der DGPs verstehen – ich spreche gerne von der Banalität unserer Identität –, und uns darauf konzentrieren, wie dieser in uns selbst wirkt, können wir auch den anderen Menschen freundlicher begegnen und sie auch in ihren unangenehmeren Seiten oder mit dem, womit sie uns schmerzen, wertschätzen bzw. tolerieren. Indem man sich und andere so beobachtet, wird man gelassener und auch – dies mag dich vielleicht überraschen – liebevoller gegenüber den eigenen Eigenarten und denen anderer. Man versteht, dass wir alle nach denselben formalen DGP-Mechanismen funktionieren und zumeist gar nichts dagegen tun können, dass diese in bestimmten – strukturähnlichen2 – Situationen emergieren. Wir können häufig nur im Nachhinein verstehen, aber es ist auch oft dann noch möglich, den Schaden mit einer selbstreflexiven Äußerung gegenüber den anderen zu begrenzen, statt auch noch im Nachhinein an den gezeigten Reaktionen festzuhalten und diese unnachgiebig zu verteidigen. Was können dir solche sehr allgemeinen Hinweise auf die Wirkungsweise unserer DGPs in deiner augenblicklichen Lage nutzen? Wie gesagt, ich habe als Coach reagiert. Da du mich in dieser Rolle angefragt hast, habe ich deine Anfrage ernst genommen und dir einen Referenzpunkt vorgeschlagen, von welchem du dich gewissermaßen von außen anders beobachten kannst. Als Freund hätte ich 2
„Strukturähnlich“ sind Situationen, die uns an vergangene Schlüsselsituationen des Umganges mit Angst erinnern. Nach meiner Erfahrung sind dabei die bereits erwähnten Formen des Umganges mit Anerkennung, mit Abhängigkeit, mit Zuwendung und mit Unwirksamkeit von grundlegender Bedeutung. Diese treten in Intimsituationen bzw. Partnerschaften sowie in leistungsthematischen Lagen, wie z. B. als Lernender oder als Geführter, aber auch – spiegelbildlich – als Lehrender und Führer auf. In solchen Lagen werden wir zumeist stärker durch innere DGPs gesteuert als den aktuell Handelnden bewusst ist.
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Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit
dich getröstet, dich angehört und versucht, dir Mut zu machen. Genutzt hätte es dir wenig, denn deine DGPs sind in dir wirksam und finden derzeit ausreichend Möglichkeiten, sich zu artikulieren. Es ist dieser Stoff des Eigenen und Gewissen, den zu sehen ich dir rate. Denn erst wenn du dies erkennst, kannst du auch Schritt für Schritt eine andere „Beleuchtung“ der Situationen, die dich umgeben, versuchen. Und dann kannst du ganz langsam zu einem Münchhausen werden, der sich ja bekanntlich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen hat. Und in unserem Sumpf der vertrauten Deutungen, Bewertungen und Gefühle bewegen wir uns ja am allerliebsten, doch es sind Mut und Entschlossenheit notwendig, um sich selbst zu einer Selbstarchäologie durchzuringen und systematisch die eigenen DGPs zu verstehen. Hierzu lade ich dich ein. Paul Watzlawick hat vor fast zwanzig Jahren ein Buch mit dem Titel „Münchhausens Zopf“ geschrieben, in dem er die These vertritt, „(...) dass die leidvollen Auswirkungen einer bestimmten gegenwärtigen Als-ob-Fiktion (die ihren Ursprung natürlich irgendwann in der Vergangenheit hatte) durch jene einer anderen Als-ob-Fiktion ersetzt werden müssen, die eine erträgliche Wirklichkeit erschaffen. An die Stelle von Wirklichkeitsanpassung im Sinne einer besseren Anpassung an die vermeintliche >wirkliche< Wirklichkeit tritt also die bessere Anpassung der jeweiligen Wirklichkeitsfiktion an die zu erreichenden, konkreten Ziele“ [Watzlawick 1988, S. 111]. Genau darum geht es, und genau dazu möchte ich dich einladen. Schau auf die dich umstellenden Problemlagen mit anderen Augen und mit einem anderen Erkenntnisinteresse. Versuche deine Bedrängungen in einer systematischen Weise daraufhin zu analysieren, welche bekannten DGPs diese in dir auslösen. Es ist eine weitere Lektion, die ich dir antrage: Lektion 3: Man kann die eigenen Wahrnehmungsfilter bzw. die DGPs nur schwer verändern, man kann nur in dem ständigen Bewusstsein, dass diese uns das Bild unserer Wirklichkeit liefern, denken, fühlen und handeln. Dabei entsteht eine achtsamere Grundhaltung, und man ist auch immer weniger bereit, um die Wirklichkeit zu streiten.
Es geht um die Erkenntnis der Wiederholungen und der routinisierten Formen ihrer Inszenierung. Erst, wenn du diese verstanden hast, wenn du dir selbst auf die Spur gekommen bist und – verzeihe diese konfrontative Formulierung –
Brief 2: Selbstarchäologie als Ich-Arbeit
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verstehst, wie du dir deine Freuden und Leiden selbst konstruierst, kannst du Wege eines Ausstieges aus diesen DGPs erproben, zunächst experimentierend, dann aber in der Form, dass du immer sicherer im Umgang mit neuen DGPs wirst. Du siehst also, ich möchte dir die Selbstarchäologie als eine durchaus praktische und auch hilfreiche Wissenschaft, eine Selbstwissenschaft, vorschlagen – und ich würde mich freuen, wenn du diese Hand, die ich dir als dein Coach reiche, ergreifen würdest. Viele Grüße Karl
Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
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Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
In diesem Brief reagiert der Rat und Unterstützung suchende Bernhard auf die komplexen und differenzierten Beschreibungen seines Coachs. Er erkennt die klärende und orientierende Kraft, die von einem mutigen und wissenschaftlich geleiteten Blick auf die Dinge, die ihn bewegen, ausgehen kann. Dabei verblüfft Bernhard mit der Skizzierung eines Ich-Modells, welches den modernen soziopsychologischen Diskursen zu entstammen scheint. Er zeigt, dass ein Nachdenken über die eigene Identität eines strukturierten Zuganges und einer angeleiteten Form bedarf, möchte man nicht immer wieder in den alten und bekannten Denkbewegungen erstarren, sondern sein Leben proaktiv ausrichten. Wer über sein Ich nachdenkt, schlägt drei Kapitel auf: ein Erbekapitel („Wie ich zu dem geworden bin, der oder die ich bin“), ein Entwürfe-Kapitel („Wer ich sein werde“) und ein Reflexionskapitel („Wie konstruiere ich bevorzugt meine Lebenserzählungen?“).
Lieber Karl, ich musste deinen Brief schon mehrmals lesen, um zu erkennen, welches konstruktive Potenzial er tatsächlich enthält. Dieses erschloss sich mir erst ganz allmählich, wie ich ehrlicherweise zugeben muss. Meine erste, spontane Reaktion war Enttäuschung, da ich nicht spüren konnte, ob du meine Lage siehst und mir wirklich zur Seite stehst; irgendwie fühlte ich mich akademisch belehrt, und ich lief tagelang mit inneren Monologen herum, in denen auch schon Sätze vorkamen, wie: „Wie konnte ich von einem Kopfmenschen nur eine persönliche Geste und wirkliche Unterstützung erwarten?“. Gleichwohl nahm ich deinen Brief immer wieder zur Hand, und dieses wiederholte Lesen hat etwas in mir ausgelöst, das zu beschreiben nicht einfach ist. Allmählich begann ich, mich mit deinen beiden Lektionen zur Selbstarchäologie wirklich zu beschäftigen, und da erkannte ich, wie diese – jedes Mal, wenn ich sie durchlas – in mir einen Wandel meiner Art der Selbstbeobachtung auslösten: Ich begann, meine Lage zugleich einerseits mehr von außen und andererseits mehr von innen zu sehen, wenn du mir diesen paradoxen Hinweis gestattest. „Von innen“ blickte ich auf meine Erfahrungen, Gedanken und Gefühle und begann, diese nicht als Gegebenheiten, sondern als Interpretationen ganz eigener Art zu analysieren. R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Brief 3: Die Banalität unserer Ich-Zustände
Du sprachst von den Farben, mit denen wir gelernt haben, uns Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit auszumalen. Ich habe mit Hilfe deines Tools auch meine Schlüsselsätze bzw. Betitelungen der für mich typischen Grunderfahrungen identifiziert und an den verschiedensten Stellen meiner Wohnung aufgehängt. Diese waren mir dadurch „von außen“ sichtbar. Diese Methode war ein raffinierter Trick von Dir: Stündlich sah ich mich mit meinen Deutungs-Gefühls-Programmen zu den Themen Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit konfrontiert, und jetzt verfüge ich nicht mehr über diesen klaren Blick auf die mich bedrängenden Lagen. Irgendwie nehme ich auch – wie einen Filter – meine eigene „Erfahrungsbrille“ wahr, die ja schon stets dazwischen geblendet gewesen ist und mir die Wirklichkeit so und nicht anders präsentiert hat. Und ein seltsamer Effekt dieser neuen Art der Betrachtung ist der, dass ich meine Vergangenheit neu erfinde. Oft bin ich mir nicht mehr sicher, ob das, was ich sehe, wirklich ist. Doch was ist schon „wirklich“? Wie das Wort es ja ausdrückt: Etwas ist „wirklich“, wenn es auf einen „wirkt“ – „wirk-lich“, so wie „grün-lich“, was ja nicht „grün“ ist, sondern diesem nur ähnelt. So ist es auch mit dem, was auf uns „wirkt“: Wir sehen es nicht unmittelbar, sondern nur in einer Form, die ähnlich den tatsächlichen Wirkungen ist – gebrochen durch die eigenen Muster unserer Wahrnehmung. Ich habe verstanden, dass wir uns nicht Rechenschaft darüber geben, wie bei unserer Wahrnehmung der Filter unserer Erfahrungen dazwischengeschaltet ist. Wir handeln uns selbst und anderen gegenüber auf der hypothetischen Basis eines ungefilterten Umgangs mit der Wirklichkeit. Deine Übung „Die vier Filter der Wirklichkeitsinszenierung“ hat mir geholfen, mich von der Vorstellung einer vermeintlich ungefilterten Sicht der Dinge zu lösen. Seither sehe ich die Wirklichkeit stärker in ihrer Gebrochenheit durch das Eigene – ein Effekt, um den es dir sicherlich gegangen ist. Meine Erfahrungsfilter kenne ich nun – zumindest in Ansätzen –, ich habe zudem erkannt, dass diese mir treue Dienste leisteten (und leisten) und ich nur durch sie sehen kann, und ich habe die „Objektivität“ verabschiedet. Alles dies hat mich ruhiger werden lassen, aber auch ernüchtert. Zugleich machten mich diese Effekte aber auch ratlos, da ich nicht weiß, ob ich das „Sehen-durch-Filter“ verändern soll, und was sich dann wirklich ändert. Irgendwie geht es mir – das mag dich erstaunen – auch gut, wenn ich die Welt sehe, wie ich gewohnt bin, sie zu sehen, selbst in meinem Schmerz über das eigene Erleben fühle ich mich als der, der ich bin. Seit ich diese Zettel in der Wohnung aufgehängt habe, sehe ich einerseits klarer, aus welchen „banalen“ Gewohnheiten – du warst es, der von dieser Banalität des Ich sprach – meine Wirklichkeitssicht sich immer wieder komponiert. Aber diese Einsicht löst zugleich eine Leere und Abgebremstheit in mir aus, die ich auch nicht nur als Durchbruch werten kann. Besonders irritiert mich, dass mir manchmal regelrecht
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die Worte fehlen. Wie kann ich unmittelbar auf eine „Zumutung“, einen „Widerstand“ oder unverhohlene Kritik reagieren, wenn ich jetzt stets erst die Situation durch die in meinen emotionalen Brillen angelegten Verzerrungstendenzen „scanne“? Hast du da einen Tipp, wie man z. B. bewusster wird, ohne zugleich handlungsunfähig zu werden? Zumindest irritiert mich die Abgebremstheit meiner Reaktionen, die mich irgendwie unentschlossen oder gar schwach erscheinen lassen, wo ich doch lediglich besonnener – im Blick auf das Eigene, das ich stets wieder herstelle – reagiere. Es ist jedoch eine fast grenzenlose Gelassenheit, die sich da einstellt. Um mich herum sehe ich zugleich die Menschen, denen ich begegne, anders. Oft beobachte ich sie in ihren Handlungen und lausche auf ihre Äußerungen, indem ich mich frage, wie sie sich die Grundsituationen Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit konstruieren. Dabei fällt mir jetzt vieles auf, und anfangs war ich manchmal in der Gefahr, in eine therapeutische Überheblichkeit abzugleiten. Dies hat sich mittlerweile gelegt, da ich auch die Banalität dieser Ich-Zustände, die mir da begegnen, irgendwie empathisch zu sehen lerne und erkenne, dass wir alle in ganz ähnlichen inneren Situationen ausharren. Ausbalanciertheit, Offenheit und Stabilität begegnen mir auch bei anderen recht selten, und wenn, dann sind es vorübergehende Ich-Zustände. Irgendwie scheinen wir alle über fließende Identitäten zu verfügen, d. h. über Ich-Zustände, die ständig „in Bearbeitung“ sind, sodass ich mich frage, ob „Identität“ denn eigentlich wirklich eine treffende Bezeichnung ist. Aus solchen Überlegungen heraus griff ich kürzlich in der Buchhandlung zu einem Buch mit dem Titel „Ich. Wie wir uns selbst erfinden“, welches zwei Wissenschaftsredakteure des Focus geschrieben haben (Siefer/Weber 2006). In diesem Buch werden zahlreiche hirnphysiologische, anthropologische und psychologische Erkenntnisse ausgebreitet, die es geraten erscheinen lassen, „die Illusion, jemand zu sein“ (ebd., S. 195 ff.), grundlegend in Frage zu stellen. Werner Stiefer und Christian Weber schreiben: „Das Ich ist zerbrechlich, lehren uns die Neurobiologen und Psychiater. Kleinste Unfälle im Hirn oder in seiner Umwelt können unsere Identität binnen Millisekunden zerstören. Die klassisch-westliche Vorstellung vom Selbst, das im Laufe seines Lebens seine Bestimmung entdeckt und verwirklicht, haben die Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen infrage gestellt. Die Soziologen beschreiben, wie die Menschen an ihrer Identität basteln, um im Markt der Moden mitzuhalten. Gedächtnispsychologen belegen, wie wir unsere intimsten Erinnerungen im Nachhinein zurechtfälschen, Neurowissenschaftler stellen die Autonomie unserer Gefühle, Gedanken und Handlungen infrage, analytische Philosophen des Geistes wie Thomas Met-
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zinger bezweifeln gar die Existenz des Ichs. 3000 Jahre lang haben große Denker und Dichter nach unserem Ich gefahndet, jetzt sind sie im Nichts gelandet. Ihre Erkenntnis: Wir finden uns nicht, sondern wir erfinden uns“ [ebd., S. 291 f.]. Diesen Eindruck habe ich auch: Mein Gefühl ist, dass ich begonnen habe, mich neu zu erfinden. Zwar weiß ich, dass dieses vielleicht etwas überheblich klingt, habe ich mich doch erst gerade eben als orientierungs- und haltlos präsentiert und um deine Hilfe gebeten. Doch erlaubt mir dieses klare Gefühl des „Sichselbst-Erfindens“ auch, meine Bitte an dich deutlicher zu formulieren: Es ist nicht eine Orientierung, die ich erwarte, sondern eine Begleitung in dem Prozess der Suche einer neuen Stabilität. Wenn ich versuche, mir diese neue Stabilität vorzustellen, dann beschleichen mich Angstgefühle, denn ich spüre, dass diese neue Stabilität niemals mehr die Gewissheit für mich wird entfalten können, welche ich in der „Welt“ gewohnt war, aus der mich mein Leben hat herausfallen lassen. Kürzlich hörte ich eine Hörkassette mit den Lebenserinnerungen des Soziologen René König (König 2006), in denen dieser auch über sein Emigrantenschicksal berichtet. Mich hat seine Erfahrung des „Einmal-Emigrant-immerEmigrant“ längere Zeit beschäftigt, denn dieses ist auch mein Gefühl: Mir sind meine bisherigen Gewissheiten fremd geworden, und zugleich habe ich das Vertrauen verloren, jemals wieder zu einer neuen Gewissheit zurückzufinden. Ich bin gewissermaßen aus der vertrauten Welt emigriert und finde in der neuen Welt keine innere Geborgenheit mehr. Nun kann man vielleicht spitzfindig sagen, dass dies auch in gewisser Weise eine neue Gewissheit sei, doch ist dies eine rein intellektuelle Reflexion. Meiner neuen Welt fehlt irgendwie die wärmende und aufhebende Dimension. Indem ich die Banalität meiner Ich-Zustände zu durchschauen lerne, kommen mir auch alle neuen Konstruktionen banal und vorläufig vor. Dies ist irgendwie auch eine große Enttäuschung. Bei Peter Gross las ich einen Essay über „das Flüssig-Ich“, in dem er auch von der Verzweiflung spricht, sich selbst sein zu wollen, welche den Menschen treibt, wenn er, wie ein Schwimmer, „die von ihm ausgesandten Wellen verzweifelt selbst einzuholen sucht“ (Gross 1999, S. 79): „Und so ist es, das ist es, auch wenn die Verzweiflung nicht allgemein ist, das Jagen und Hasten ist es und das andauernde, nicht loszuwerdende Gefühl einer bleibenden und unüberbrückbaren Differenz, wie immer diese nun ausgelegt wird. So kann sich der Mensch auch nie restlos verstehen; selber in Bewegung, gibt es keinen Moment, wo er stillgestellt wäre oder sich so stillstellen könnte, dass er sich verstünde“ [ebd.].
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Diese Zeilen drücken meinen eigenen Eindruck sehr gut aus. Insbesondere das Bild vom Einholen der von mir selbst „ausgesandten Wellen“ trifft es genau. Wir versuchen irgendwie das zu verstehen, was von uns selbst ausgeht. Indem wir dies tun, unterstellen wir zwar bereits irgendwie das Ich zumindest als Aktivitätszentrum oder gar Referenzpunkt unseres Lebens, doch zerfließt uns dieses dann, wenn wir es irgendwie abzugrenzen versuchen. Das Bild von den Wellen, denen wir verstehend hinterherjagen, hat mich in den letzten Tagen zu einer „Ölfleckentheorie des Ich“ geführt: „Das Ich als Ölfleck auf dem Meer der Möglichkeiten“ – ist dies nicht eine treffende Methapher? Wir fließen dahin, darum bemüht, unsere Substanz irgendwie zusammenzuhalten, dehnen diese aus, verbinden uns mit anderen dahintreibenden Ölflecken, doch irgendetwas in uns möchte sich abgrenzen und in Erfahrung bringen, wer wir „eigentlich“ sind. Das Bild vom „Flüssig-Ich“ vermag uns nicht wirklich zu befriedigen. In unserer Ichpolitik sind wir stets darum bemüht, Communiques herauszugeben, die uns selbst und den anderen einleuchten. Überhaupt: Es sind Erzählungen, mit denen wir uns und anderen gegenüber unser Ich erfinden, und wir sind ständig darum bemüht, diese Erzählungen irgendwie konsistent erscheinen zu lassen, so als folgten sie einem von uns so gewollten und beeinflussten Plan, selbst, wenn dies nicht so ist, wie in meiner Lage. Trotzdem ist unser Ich eine „politische“ Inszenierung, weshalb es nicht ganz abwegig ist, von „Identitätspolitik“ zu sprechen. Pierre Tap lieferte wohl eine der prägnantesten Definitionen für diese „Gleichgewichtsübung“ (Kaufmann 2005, S. 43), die wir als „Identität“ bezeichnen, wonach diese „(...) ein System aus Gefühlen und Vorstellungen von sich selbst ist,(das heißt) die Gesamtheit der physischen, psychischen, moralischen, juristischen, sozialen und kulturellen Merkmale, von denen aus eine Person sich definieren, sich präsentieren, sich selbst und andere zu erkennen geben kann oder von denen aus der andere sie definieren, einordnen oder erkennen kann“ [zit. nach ebd.]. Die Ich-Erzählungen, die dabei entstehen, haben, so scheint es mir, zumindest zwei Kapitel: das „Erbe“- und das „Entwürfe“-Kapitel. Und beide sind gewissermaßen eingespannt in die Welt des Optionalen, in welcher uns übrigens die „Wirklichkeit“ am nachdrücklichsten begegnet und das bestimmt, was uns möglich ist und was nicht. Denn wir können nicht einfach beliebig unser Selbst konstruieren, ohne gleichzeitig die soziokulturellen Beschreibungen des Zulässigen und Möglichen zu berücksichtigen oder in Rechnung zu stellen, dass wir nicht mit jedem Alter neu anfangen können.
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Lektion 4: Das Ich ist der durchschaubare Versuch, eine kohärente und konsistente Erzählung über unser Leben zu entwickeln. Durch unsere Vorstellung von uns selbst geben wir uns und anderen zu verstehen, wie wir uns sehen und gerne gesehen werden möchten. Diese Erzählung hat zumeist drei Kapitel: ein Erbekapitel („Wie ich zu dem geworden bin, der oder die ich bin?“), ein EntwürfeKapitel („Wer ich sein werde?“) und ein – oft kleines, manchmal auch fehlendes – Reflexionskapitel („Wie konstruiere ich bevorzugt meine Lebenserzählungen?“). Zugleich handeln die Kapitel auch davon, wie ich mit den nüchternen Gegebenheiten physischer oder soziokultureller Art umgehe.
Diese vierte Lektion meiner Selbstanalysen hat mich dazu geführt, mir eine eigene Ich-Theorie zu entwickeln; ich nenne sie: die Vier-Felder-Theorie der IchPolitik. Mit ihrer Hilfe gelingt es mir auch, die Banalität meiner Ich-Zustände etwas systematischer zu analysieren und dabei auch zu erkennen, dass sich in diesen eine ganz menschliche Bemühung ausdrückt, die vier Aspekte des IchAusdrucks ständig zu balancieren. Diese Balance ist eine lebenslange Bemühung, und sie verlangt uns jeweils dann einige Arbeit, nämlich Ich-Arbeit, ab, wenn einer der vier Aspekte einer Neubestimmung bedarf. Dies sind die Zeitpunkte im Leben, in denen die Ich-Balance neu austariert werden muss. Es sind aber auch die Zeitpunkte, in denen wir uns entscheiden und bisweilen sogar neu erfinden müssen. In solchen Lebensphasen ergibt sich uns – so erlebe ich dies derzeit selbst – auch die Chance, von einer unbewussten zu einer bewussten Gestaltung unseres Ichs vorzustoßen. Denn erst, wenn wir die Brüchigkeit der Balance spüren und auch die Banalität der Ich-Inszenierung durchschauen, können wir bewusst agieren und versuchen zu werden, was wir sein wollen. Diese Entscheidung ist keine willkürliche, sondern eine nüchterne. Es steht nämlich keineswegs alles zur Debatte, vielmehr geht es darum, die Optionen nüchtern zu beurteilen, sich von verbrauchten Lebensentwürfen zu lösen und zu versuchen, eine Vorstellung von dem zu entwickeln, zu dem uns unsere ganz eigene Lebensenergie drängt. a) In dem Erbekapitel erzähle ich zunächst meine Erlebnisse, es ist die Biographie, die hier dokumentiert, aber immer auch beständig reformuliert wird. So habe ich bei mir beobachtet, dass auch die Vergangenheit nicht bleibt, wie sie gewesen ist. Je nachdem, mit wem ich meine Zeit verbringe, erzähle ich sie mit anderen Akzentuierungen, und oft wird mir im Nachhinein etwas klar, weshalb der bisherige Bericht überarbeitet und weiterentwickelt wird. So ändere ich mich nicht nur selbst im Verlauf meines Lebens, es ändern sich vielmehr auch meine Erinnerungen, und meine Vergangenheit erscheint mir immer mal wieder in einem neuen Licht. Angeregt durch deine Vorschläge habe ich Muster in meiner
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Vergangenheit erkannt, die immer wiederkehren, ich betrachte deshalb meine Erinnerungen seit einiger Zeit durch diese Muster. Zwar verstehe ich noch nicht, warum dies so ist und wo diese Muster herkommen, doch wirkt in meinem bisherigen Leben unübersehbar eine Energie, die immer wieder zum Ausdruck in ähnlichen Situationen drängt. Aus diesem Grunde habe ich dieses Kapitel dem „biographisch-energetischen Ich“ gewidmet.
Entwürfe das proaktive Ich das physischoptionale Ich
das reflektierende Ich
das sozio-kulturelloptionale Ich
Erbe das biographisch-energetische Ich Abbildung 1: Ich-Aspekte – Dimensionen der Ich-Politik Es wird noch einige Zeit dauern, bis ich in dieses Kapitel so viel Ordnung gebracht habe, dass ich über dieses Ich mit dir reden kann. Auf alle Fälle ist die Einsicht, dass nicht nur meine erinnerte Biographie, sondern auch eine aus dem Verborgenen wirkende Energie dieses Ich konstituieren, neu und aufregend für mich. Diese verborgene Energie weist z. B. Dynamiken auf, die sehr alt sind, fast möchte ich sagen, dass sie meinem Kinderzimmer entstammen. Damit möchte ich ausdrücken, dass ich zahlreiche „Befindlichkeiten“ bereits sehr früh kennen gelernt habe; es sind wohl die „Schlüsselsituationen“ (Anerkennung, Abhängigkeit, Zuwendung und Unwirksamkeit), zu denen ich meine Gefühlsstoffe bereits in ganz jungen Jahren ausgebildet habe. Doch manchmal spüre ich, dass in diesen Stoffen auch Strömungen sind, die älteren Ursprungs sind und vielleicht so etwas wie ein kollektives Erbe meiner Eltern und Vorfahren ausdrücken. Vielleicht ist es das, was die Christen früher als Erbsünde bezeichneten. Unsere Eltern lassen uns nicht nur bei sich leben, unsere Familie drückt uns vielmehr auch „den Stempel unserer Individualität“ auf, wie es der italienische Familientherapeut Salvador Minuchin einmal ausdrückte (Minuchin 1997, S. 62). Und in diesen Vorgang fließen auch Spuren der Vergangenheit ein. So gibt es Sichtweisen, Gefühlslagen, typische Verhaltensweisen, Haltungen oder Sippenstile, die subtil durch die sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation an die nachwachsenden Menschen weitergegeben werden. Und bisweilen sind da auch verborgene, auf Ausgleich bezogene Systemiken aus der Vergangenheit am Wirken, wie ich aus meiner familientherapeutischen Lektüre, aber auch aus ei-
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genem Erleben weiß. In den Selbsterfahrungsseminaren, die ich seit einigen Jahren immer mal wieder besuche, habe ich Menschen kennengelernt, die es sich nicht erlauben (können), ein gelingendes Leben zu leben, weil sie jemandem in der Vergangenheit ihres Familiensystems (der oder die z. B. selbst scheiterten) die Treue halten. Plötzlich wird diesen Menschen bewusst, dass es eine aus der Vergangenheit wirkende Energie ist, die ihnen die Kraft zum Leben raubt und sie in Situationen des Scheiterns zieht, deren Zustandekommen sich nicht aus dem Hier und Jetzt alleine erklärt. So gibt es z. B. in mir eine Angst vor Veränderung und „Heimatverlust“, die ich aus meinem eigenen bewussten Erleben heraus nicht wirklich verstehen und nachvollziehen kann, da ich eher in geborgenen Kontexten herangewachsen bin. Was hältst du davon? Umfasst unser biographisch-energetisches Erbe mehr als nur die Spuren unserer eigenen Vergangenheit? Diese Frage treibt mich derzeit um, da ich einen fremden Bestandteil in meiner Art zu fühlen, zu denken und zu handeln spüre, der irgendwie nicht zu dem zu passen scheint, an was ich mich bewusst erinnere. Vielleicht können naturwissenschaftliche Versuche, unser Bewusstsein zu erklären, auch Licht in diese Zusammenhänge bringen? Es geht dabei um die Frage, wie die uns vererbten „tiefer liegenden psychologischen Mechanismen“ (Buss 2003, S. 138) unser Denken, Fühlen und Handeln prägen, während wir doch dazu neigen, alles unserer ganz persönlichen biographischen Identität zuzuschreiben und der eigenen Entscheidbarkeit zuzuordnen. b) Es ist mein „reflektierendes Ich“, welches neu und suchend auf das Gewesene und Erlebte blickt und erstaunt erkennt, welche – teils verborgenen – Kräfte hier am Wirken zu sein scheinen. Darüber bin ich sehr erstaunt. Was genau tue ich, wenn ich in dieser Weise über mich selbst nachdenke, mal ganz abgesehen davon, dass es schon etwas ungewöhnlich ist, wenn Kognition und Emotion versuchen, sich darüber klar zu werden, wie Kognition und Emotion bei der Inszenierung dessen, was uns „real“ erscheint, zusammenwirken. Dieses „reflektierende Ich“ versucht, aus dem „Netz von Gewohnheiten“, von dem der Lebens(kunst)philosoph W. Schmid (2000) spricht, auszusteigen. Dafür müssen „autonome Gewohnheiten“ ins Werk gesetzt werden, „die der Selbstgesetzgebung unterliegen, d. h. „bewusst angeeignet werden“ (ebd., S. 35). Dies ist ein Weg zur „inneren Autonomie“, den ich seit einiger Zeit bewusster zu gehen versuche. Dabei habe ich alle Hände voll zu tun, da die verschiedenen Ich-Aspekte irgendwie koordinierungslos ineinander wirken, man findet sich bisweilen in Flashbacks wieder, die einen an vergangene Ich-Gewissheiten binden, oder landet in Tagträumereien, in denen ein Zukunftsentwurf den anderen ablöst, ohne sich der tatsächlichen Optionen, die sich einem (noch) bieten, wirklich bewusst zu werden. Deshalb habe ich begonnen, die Dinge für mich zu strukturieren; das Ergebnis ist das Ich-Modell, welches ich dir hier skizziere. Zu diesem habe ich
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auch ein Tool (Tool B) entwickelt, mit welchem ich meine tägliche Ich-Politik bewusster zu gestalten versuche, um aus den Tagträumereien zu einer wirklich verantwortlichen Lebensgestaltung zurückzufinden. Auch die Übung „Auf dem hohen Seil“ von Erhard Meueler (Tool C) hilft uns, unsere Ich-Bestandteile zu reflektieren und zu ordnen. Bei Jean-Claude Kaufmann entdeckte ich, dass ich dabei durchaus „zeitgemäß“ handele, scheinen wir uns doch in einem „Zeitalter der Identitäten“ (Kaufmann 2004, S. 81) zu bewegen, in welchem „das Schicksal der Welt immer mehr von den allerdings intimen und heimlichen Blicken jedes Einzelnen auf sich selbst abhängt“ (ebd.). c) Das Ich besteht jedoch nicht nur aus dem Rückblick, sondern auch aus dem, was vor ihm liegt. Ich nenne dies das „proaktive Ich“. Damit möchte ich einen Gedanken ausdrücken, der mir in den letzten Tagen immer deutlicher geworden ist: Man kann durch bewusste Entscheidungen seinem Leben eine Richtung geben, und bei nüchterner Betrachtung bleibt uns auch überhaupt nichts anderes übrig. Dabei geht es um die Fragen, wer ich sein und wie ich leben möchte. Die Antwort auf beide Fragen ist zwar nicht willkürlich zu beantworten, schränken doch bereits unsere bewährten Erfahrungen sowie unsere physischen und soziokulturellen Optionen die proaktiv zu gestaltenden Möglichkeiten ein, doch das Entscheidende ist die bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Zukunft und das sich weitgehende Lösen von biographisch-energetischen Festlegungen aus der Vergangenheit heraus. Dies ist leichter gesagt als getan, kommt dieses Unterfangen doch dem Versuch nahe, die Räder eines Autos bei voller Fahrt zu wechseln. Wir müssen quasi aus dem Meer der „Unübersichtlichkeit“, „Mehrdeutigkeit“ und „schwindenden Vorhersagbarkeit“ (Keupp u. a. 1999, S.276) stabile Größen identifizieren und auswählen, welche uns neue Orientierung zu stiften vermögen. Die Frage, um die es dabei geht, ist: „Wie ist es möglich und was ist nötig, um das eine tatsächlich zu gewinnen (das selbstbestimmte Leben, R. A.), ohne das andere (die Fremdbestimmtheit, R. A.) erleiden zu müssen? Wie ist es wahrscheinlich, dass sich Subjekte unter spätmodernen Lebensbedingungen Kohärenz und Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit, die unserer Ansicht nach unhintergehbaren Modi alltäglicher Identitätsarbeit, bewahren zu können? Welche subjektiven Fähigkeiten und Ressourcen befördern gelingende Identität?“ [ebd.]. Fragen, auf welche mir die Antworten noch schwerfallen. Insbesondere möchte ich dabei nicht der Illusion einer Autonomie erliegen, während ich doch nur zeittypisch „unterwegs“ bin. Ja, das muss man sich erst einmal deutlich machen, dass uns das Ich erst wirklich umtreibt, seit es gesellschaftlich opportun gewor-
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den ist, selbst für sein Leben Verantwortung zu übernehmen. Dies war keineswegs immer so, wie du weißt. Und es ist keineswegs in allen Kulturen und Religionen üblich, sich selbst in dieser Weise wichtig zu nehmen. Bisweilen ist es sogar schädlich oder lebensgefährlich, da es Kulturen gibt, die die Ichbezogenheit ablehnen. Also sind wir nicht nur zeittypisch, sondern auch kulturtypisch unterwegs, wenn wir an unseren Ich-Kapiteln schreiben – welch wahrhaft provinzielle Aktivität? Mich ernüchtern solche Gedanken, zeigen sie doch auch, wie sehr wir – selbst bei unseren persönlichsten Fragen – Kinder unserer Zeit und unserer Gesellschaft sind. Vom allgemein Menschlichen – der Conditio Humana, von der du früher in deinen Vorlesungen oft sprachst – sind wir damit weit entfernt. Die Conditio Humana scheint mir heute gerade darin zum Ausdruck zu kommen, dass wir uns als Menschen ganz unterschiedlich zu konstruieren vermögen. Uns erstaunt die Ichlosigkeit fernöstlicher Kulturen, während die dort lebenden Menschen unsere Ich-Zentriertheit nicht nachvollziehen können. So las ich kürzlich in dem Buch von Sogyal Rinpoche, dem europäisierten Tibeter: „Vielleicht ist aber die eigentliche Ursache unserer Angst die Tatsache, dass wir nicht wissen, wer wir eigentlich sind. Wir glauben an eine persönliche, einzigartige und unabhängige Identität. Wagen wir es aber, diese Identität zu untersuchen, dann finden wir heraus, dass sie völlig abhängig ist von einer endlosen Reihe von Dingen: von unseren Namen, unserer Biographie, von Partner, Familie, Heim, Beruf, Freunden, Kreditkarten ... Auf diese brüchigen und vergänglichen Stützen bauen wir unsere Sicherheit. Wenn uns all das genommen würde, wüssten wir dann noch, wer wir wirklich sind? Ohne diese vertrauten Requisiten sind wir nur noch wir selbst: eine Person, die wir nicht kennen, ein verdächtiger Fremdling, mit dem wir zwar schon die ganze Zeit zusammenleben, dem wir aber nie zu begegnen wagten. Haben wir nicht aus eben diesem Grund versucht, jeden Augenblick unserer Zeit mit Lärm und Aktivität zu füllen – egal wie trivial oder öde –, um sicherzustellen, dass wir nur ja niemals mit diesem Fremden in der Stille allein sein müssen?“ [Rinpoche 1996, S. 32]. Was betäube ich, wenn ich proaktiv mein Ich entwerfe? Ist es wirklich die Angst vor dem Tod? Hat Sogyal Rinpoche, der Buddhist, Recht, wenn er die gesamte Ich-Frage mit dem „Herzschlag des Todes“ in Verbindung bringt und in allen vorgetragenen Entwürfen und Reflexionen den „Klang der Vergänglichkeit“ (ebd., S. 52) heraushört? Zumindest erweitert er die proaktive Perspektive um den Aspekt des Todes, der am Ende aller Entwürfe steht. Was bedeutet es, das Leben von seinem Ende her zu denken? Eine Frage, die für mich im Zentrum
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aller proaktiven Ich-Entwürfe zu stehen scheint, ohne dass ich darauf bereits eine wirklich befriedigende Antwort hätte. Es ist viel leichter, einfach „weiter so wie bisher“ zu leben und der Illusion des linear grenzenlos fortschreitenden Lebens zu frönen. Doch wie gehen wir mit dem Wiederholungserleben um, dem der „Zauber“ des Anfangs fehlt, von dem Hermann Hesse in seinem Gedicht „Stufen“3 spricht? In der proaktiven Identität findet auch unser Verhältnis zum eigenen Tod seinen Ausdruck. Man kann nur sein Leben entwerfen, wenn man den Horizont sieht, um ein Bild von Simone de Beauvoir aufzugreifen. In ihrem Roman „Alle Menschen sind sterblich“ wird das Leben eines Menschen beschrieben, der unsterblich ist und alle Stufen des Leben bereits mehrmals gegangen ist, ja „verdammt“ ist, sie immer und immer wieder zu gehen und dabei doch in der Zeitlosigkeit gefangen zu bleiben. Sein Leben ist trostlos und leer, ihm fehlt die proaktive Identität, deren Substanz sich nur aus der Begrenzung ergibt. Er fühlt sich leer, sinnlos und allein und beschreibt dies mit den Worten: „(...) ich konnte nicht mit ihnen lächeln, nie waren Tränen in meinen Augen, nie Feuer in meinem Herzen. Ein Mensch von nirgendwoher, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft und ohne Gegenwart. Ich wollte nichts, ich war niemand. Ich ging Schritt für Schritt dem Horizont zu, der immer vor mir entwich; die Wassertropfen sprühten auf und sanken wieder hinab, ein Augenblick vernichtete ewig den anderen, meine Hände blieben immer leer. Ein Fremder war ich, ein Toter. Sie waren Menschen, sie lebten. Ich war keiner der Ihren. Ich hatte nichts zu hoffen, ich ging zur Tür hinaus“ [de Beauvoir1984, S. 307]. Es war für mich ein faszinierender Gedanke zu erkennen, dass es genau diese zeitliche Begrenzung ist, die uns zwar unser Leben nimmt, ihm aber auch Sinn, Inhalt und Orientierung zu stiften vermag. Entgegen dem Slogan „Was uns nicht umbringt, macht uns stark!“ ist es das, was uns umbringt, was uns stark werden lässt. Wichtig ist deshalb auch die Auseinandersetzung mit unserem Alterungsprozess. Unsere physischen Optionen sind begrenzt, je älter wir werden. Und der Tod ist ein Ereignis, welches plötzlich eintreten kann, wie uns der Blick in die Todesanzeigen der Zeitung zeigt. Liest du auch die Geburtsdaten der Verstorbenen, um zu sehen, welche Jahrgänge da so dahingehen? Und berührt es dich auch, wenn darunter Jüngere als du selbst sich befinden? Mir geht es so. Ich verfolge genau, wie sich die Jahrgänge der Verstorbenen meinem eigenen Jahrgang anzunähern beginnen. „Die Einschläge kommen immer näher“ – so drückte es mein Vater aus. 3
Gemeint ist das Gedicht „Stufen“, in welchem es heißt: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ (zit. n. Bode 1984, S. 263).
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d) Zuletzt bestimmen aber auch die tatsächlich gegebenen „Optionen“ unsere mögliche Identitätspolitik, d. h. den Stoff, aus dem wir unsere drei Kapitel zu schreiben vermögen. So können wir z. B. nicht beständig neu beginnen, und wir können uns auch kulturell nicht wirklich neu erfinden. Es ist vielmehr so, dass insbesondere unsere körperliche Entwicklung uns die Grenzen des Lebens unbarmherzig aufzeigt. So können wir als 50-Jährige nicht so leben, als wären wir 20, ohne dass dies zu lächerlichen Inszenierungen führt. Gleichwohl bleiben wir irgendwie länger jung, was ich auch deutlich spüre. Alle diese Gedanken zu den Ich-Kapiteln, an denen wir stets schreiben, habe ich für mich zu einer weiteren Lektion verdichtet, die ich Dir, der du ja begonnen hast, mir Lektionen zu geben, anbiete. Es interessiert mich zu erfahren, ob du diese für wichtig und hilfreich hältst, um in einem Lernprozess voranzukommen, in dem wir emotional irgendwie ruhiger und wirksamer zu leben lernen können. Lektion 5: Wir müssen lernen, unser Leben vom Ende her zu denken. Erst der Horizont unserer Endlichkeit markiert uns wirklich den Rahmen, in welchem wir unser Ich entwerfen können. Dieser Horizont stiftet unserem Leben zwar noch keinen Sinn, aber er hilft uns zu erkennen, wie viel Zeit uns bleibt, um wirksam zu werden – für uns selbst und andere.
Wie schwierig dies ist, und wie viel absichtsvolles „Umgehen mit sich selbst“ dafür nötig ist, hat Klaus Lange in seinem Buch „Bevor du sterben willst, lebe!“, welches ich gerade lese, genauer dargelegt. Dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr. „Glücklich“ lassen mich meine fast akademischen Klärungen nicht werden, ich sehe lediglich die Gründe für mein Unglück mit anderen Augen und erkenne, wie banal und selbstinszeniert die zugrunde liegenden Prozesse und Bemühungen sind. Wir drehen uns im Kreise, doch das systematische Nachdenken – die „Selbstarchäologie“, wie du sie nennst – hilft uns, unserem Denken selbst ins Wort zu fallen und unserer bewährten Ich-Politik auf die Spur zu kommen. Doch damit haben wir diese noch nicht geändert, obgleich ich zugeben muss, dass die Tools, die wir bislang entwickelt haben, ein Trainingsgelände abstecken, auf welchem wir mit anderen Ich-Zuständen experimentieren können. Doch „Glück“ ist es nicht, was dabei entsteht, eher Ernüchterung. Ist dies vielleicht die Grundlage für eine neue Ausbalanciertheit, von der aus wir auch zu einem neuen Lebensgefühl aufbrechen können – was meinst du? Viele Grüße Bernhard
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Brief 4: „Ich übernehme die Verantwortung!“
Karl reagiert in diesem Brief auf das Konzept der „Banalität der IchZustände“, indem er zwischen den Polen Verantwortung und Vergänglichkeit (Viktor Frankl) einen Weg markiert, auf dem eine eigene Antwort auf das Leben gefunden werden kann. Er stellt dem Ich-Konzept von Bernhard eine „Ethik der Achtsamkeit“ gegenüber, wobei er an die Überlegungen von Peter Senge u. a. zur „Presence“ anschließt. „Achtsamkeit“ wird dabei als eine Schlüsselqualifikation entwickelt, mit deren Hilfe man aus bewährten Inszenierungen allmählich aussteigen kann. Karl setzt dabei auf die Methode der Aufstellung der inneren Systemik. Mit dieser Methode können gedanklich die Energiefelder genauer in das Bewusstsein gehoben werden, die unsere eigene Lebensenergie lähmen und sich gestaltend in unser Leben einmischen.
Lieber Bernhard, dein Brief hat mich zu einer Zeit erreicht, als ich mich gerade mit meinen Studierenden auf ein Wochenendseminar zu Viktor E. Frankl vorbereitete. Viele deiner Gedanken, zu denen dich deine Lage führt, haben mir eine starke Parallelität zu dem Bemühen dieses existenzialistischen Psychotherapeuten deutlich gemacht. Du fragst nach dem Glück – ein Zustand, in den man sich nicht einfach hinein-entscheiden kann. Und oft scheint es mir so, dass gerade die Selbstreflexion uns die Türen zu den einfachen – fast möchte ich sagen: hormonell induzierten – Glückszuständen verbaut. Wenn man begonnen hat, die „Banalität der Ich-Zustände“ in sich und anderen zu begreifen, dann muss man sich die Substanz, aus welcher eine neue Balance erwachsen kann, richtiggehend erarbeiten. Du stehst demnach erst am Anfang eines Prozesses, in welchem du alte wärmende Gewänder abstreifst, ohne dass das neue Gewand, in das du dich dann kleiden kannst, bereits gewaschen und gebügelt bereitliegt. Du bist vielmehr erst dabei, das Schnittmuster zu designen, wenn ich dies einmal so ausdrücken darf. Dies ist ein Zwischen-Zustand, der bisweilen nie endet. Ich kenne viele Menschen, die es nur bis zum Ablegen der alten Gewänder gebracht haben und immer noch überlegen, was ihnen „stehen“ würde.
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Viktor Frankl spricht davon, dass es darum gehe, „aus eigener Verantwortung heraus einen neuen geistigen Weg zum Leben zurück(zu)finde(n)“ (Frankl 1972, S. 43). Warum folgen wir ihm nicht einfach ein Stück weit in seinen Überlegungen, habe ich mich bei der Lektüre deines Briefes gefragt? Es geht nämlich auch ihm um Wege aus der Banalität in eine neue Substanz, für die er den Begriff der „Verantwortung“ wählt. Damit ist der Blick auf das Selbst gerichtet, man kann sich nicht mehr hinter dem Lamento oder gar einer nicht enden wollenden Spurensuche in der Vergangenheit, die letztlich auch ein Ausweichen vor der Verantwortung sein kann, verbergen – dies die mutige und starke Ausgangsüberlegung von Frankl. Für ihn sind Verantwortung und Vergänglichkeit die beiden existenziellen Pole, welche die Linie markieren, auf der sich der Mensch positionieren muss. Er spricht – ganz existenzphilosophisch – von einem „tragischen Heroismus“ der darin liegt, „(...) dass der Mensch vom Nichts herkommt und ins Nichts eingeht und trotzdem Ja sagt zu seinem Dasein“ (ebd., S. 47). Er schreibt: „Die Verantwortung als tiefster Grund menschlichen Seins wird angesichts der Vergänglichkeit alles Seins keineswegs in ihrer letzten Sinndeutung zunichte, im Gegenteil, das Verantwortlichsein des Menschen, als der Sinn seines Daseins, ist in der Vergangenheit sogar fundiert. Fundiert nämlich (...) in jenem „Aktivismus der Zukunft“, der sich uns aus dem „Optimismus der Vergangenheit“ ergab: aus dem Wissen um das Sein des Vergangenen“ [ebd., S. 56 f.]. Dies wiederum nun bedeutet, dass das gelebte Leben real ist, das einzig Reale, auf das wir bauen können. Indem wir so gelebt haben, wie wir gelebt haben, haben wir eine Spur hinterlassen, von der wir uns nicht vollständig distanzieren können, ohne uns vom Leben selbst zu distanzieren. Wenn du von der „Banalität der Ich-Zustände“ sprichst und dabei an dein eigenes Leben denkst, dann höre ich da eine Respektlosigkeit heraus, die das Gelebte nicht als dein Eigenes anerkennen möchte. In den Vorbereitungstreffen mit meinen Studenten haben wir mit dem Konzept der Timeline (Tool D) gearbeitet, und es wurde uns deutlich, dass es bei der Suche nach der Substanz des eigenen Lebens zunächst um die Würdigung aller gelebten Ich-Zustände geht – ein schwerer Gedanke, wenn man sich in deiner Lage befindet. Doch wie kann man die Vielfalt zukünftiger Optionen wirklich verantwortlich auswählen und gestalten, wenn man dabei keiner Spur zu folgen vermag und einem das bisher Gelebte kein Fundament abzugeben vermag, auf welchem man dabei aufbauen kann. Bezogen auf deine Lage würde dies bedeuten, dass du den Inszenierungen deiner Wirklichkeit, die sich nach Frankl immer in der vergangenen Wirklichkeit ausdrücken, auf die Spur kommst und dir dabei die Frage nach der Verantwortung
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stellst. Denn alles als Scheitern und Irrtum darzustellen, das Misslingen in der Sprache ungerichteter Vorwürfe zu schildern oder – was noch verantwortungsloser ist – sich nur abzuwenden und in schicksalshafter Verstricktheit die Gründe für das misslungene Leben zu sehen, das alles sind Flüchte in die Unverantwortlichkeit, die auch keinen Neustart zulassen. Wir können niemals neu starten, sondern bloß aus der Verantwortung für das gelebte Leben heraus Neues leben und dieses Neue dadurch „in die Wirklichkeit des Vergangenseins (hineinretten)“ (ebd., S.104). – Meine Antwort auf deine Überlegungen zu der Banalität von Ich-Zuständen, die du übrigens zu einem sehr interessanten Konzept verdichtest, möchte ich deshalb aus einer Betrachtung des Themas Verantwortung ableiten. „Verantwortung“ ist als Wort bereits voller interessanter Konnotationen. Wer gibt da auf was eine Antwort? Und was bedeutet es, etwas in eine Antwort zu verwandeln oder in seine Antwort einzubeziehen, kurz: es zu verantworten? Wenn ich etwas verantworte, verwandele ich es in einen Bestandteil meiner Antwort. „Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden“ (Frankl 2003, S. 28), schreibt Viktor Frankl, und er verweist damit auf eine „Gestaltwahrnehmung“, bei der es sich „um die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit“ (ebd.) handelt. Verantwortung umfasst somit eine innere sowie eine äußere Bewegung: Die entdeckte Möglichkeit entspringt der Art, mit der ich auf meine Lebenssituationen blicke, wenn ich ihre Gestalt wahrnehme, gleichzeitig stehe ich aber auch in äußeren Bindungen und Erwartungskontexten, zu denen ich mich positionieren muss. Die Antwort, welche meine Verantwortung von mir verlangt, ist somit eine doppelte. Diese doppelte Verantwortung ist mit Entschiedenheit alleine nicht zu erreichen, es bedarf auch des bewussten Durchgangs durch das Netzwerk der biographisch bewährten und enttäuschten inneren Stimmen, die häufig nur Ausdruck früh übernommener Einsichten, Lesarten oder Erwartungen anderer sind. Diese muss ich mir bewusst machen und dabei auch erkennen, um wessen Stimmen es sich dabei handelt, wer es ist, der meinem Leben eine bestimmte Richtung zu geben versuchte. Erst, wenn ich dieses erkannt habe, kann ich auf meine eigene Antwort gegenüber dem Leben lauschen und diese mühsam in mein Leben hineinlassen. In diesem Sinne stellt Alice Miller fest: „Und es lohnt sich, die alten Schmerzen zu fühlen, um frei zu werden – für das Leben“ (Miller 2003, S. 33). Dieser Vorgang erst führt letztlich zu einer eigenen Antwort auf das Leben. Was, lieber Bernhard, ist deine Antwort auf das Leben? Und erst mit dieser eigenen Antwort kann ich auch der äußeren Wirklichkeit klar antworten, und es ist genau diese Klarheit der Aussage, aus welcher sich die eigene Substanz sowie die Glaubwürdigkeit gegenüber anderen ergeben. Man handelt dann nicht mehr aufgrund einer inneren Zwangsläufigkeit, sondern auf der Basis bewusster Entscheidungen, und man ist dann auch in der Lage, wirk-
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lich sachliche Entscheidungen für sich und andere zu treffen, welche ausschließlich dem Gesichtspunkt der Sicherung neuen Lebens und neuer Lebendigkeit folgen. Dies ist nach meiner Erfahrung eine zutiefst systemische Haltung, deren ethische Maßstäbe man nur dann sichtbar zu leben imstande ist, wenn man sich selbst im Verhältnis zu den übergeordneten Ganzheiten, in welche dieses Selbst eingewoben ist, zu sehen und zu spüren vermag. Peter Senge u. a. sprechen in diesem Zusammenhang von „Presence“ – was sich im Deutschen wohl am besten mit „Achtsamkeit“ übersetzen ließe – und markieren damit die zentrale innere Haltung, um die es in diesem Zusammenhang geht. Sie schreiben: „We´ve come to believe that the core capacity needed to access the field of the future is presence. We first thought of presence as being fully conscious and aware in the present moment. Then we began to appreciate presence as deep listening, of being open beyond one´s preconceptions and historical ways of making sense. We came to see the importance of letting go old identities and the need to control and (…) making choices to serve the evolution of life. Ultimately, we came to see all these aspects of presence as leading to state of ‚letting come’, of consciously participating in a larger field for change. When this happens, the field shifts, and the forces shaping a situation can move from re-creating the past to manifesting or realizing an emerging future” [Senge u. a. 2004, S. 14 f.]. In diesen Zeilen ist nach meinem Eindruck alles enthalten, was auch dich zu einer wirklich verantwortlichen Lebenshaltung zu führen vermag. Greift man diese Überlegungen auf, so geht es bei der Verantwortung nicht nur um eine Antwort auf das vergangene Leben oder um eine Auseinandersetzung mit den bisherigen Identitäten, es geht vielmehr auch Senge u. a. vor allem um eine Verantwortung gegenüber dem Entstehen neuen Lebens. Nicht die Wiederholung der Vergangenheit, sondern das Aufscheinen und die Stärkung zukünftiger Möglichkeiten für „das Leben“, welches stets mehr umfasst als das eigene Leben, treten in den Vordergrund. In einer solchen „Presence“ findet somit eine höhere Stufe der Verantwortung ihren Ausdruck, welche „die Entdeckung einer Möglichkeit vor dem Hintergrund der Wirklichkeit“ (Frankl 2003, S. 28) gewissermaßen zu einem moralischen Prinzip erhebt. Anknüpfend an Senge u. a. erscheinen mir folgende Aspekte einer Ethik der Achtsamkeit wesentlich, wobei ich dir gerne zeigen will, mit welchen Konsequenzen oder Aufforderungen diese für deine Selbstklärung – für deinen Weg in die Verantwortung – verbunden sein könnten:
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„Presence” als „Core Capacity” Aspekte einer Ethik für Veränderung der Achtsamkeit „We´ve come to believe that the core capacity needed to access the field of the future is presence” (Senge u. a. 2004, S. 14 f.).
„Achtsamkeit“ als Schlüsselqualifikation
„We first thought of presence as being fully conscious and aware in the present moment. Then we began to appreciate presence as deep listening, of being open beyond one´s preconceptions and historical ways of making sense” (ebd.).
„Achtsamkeit” ist mehr als „Bewusstheit”, es geht vielmehr um eine lauschende Grundhaltung, welche die Potenziale zukünftiger Wirklichkeit in den Blick rückt und nicht nur Bewährtes reproduziert.
„We came to see the importance of letting go old identities and the need to control and (…) making choices to serve the evolution of life” (ebd.).
„Achtsamkeit” bezieht die Maßstäbe des eigenen Urteilens und Handelns nicht aus alter Identität, sondern aus den ersichtlichen Maßgaben der Evolu-
zu entwickeln setzt voraus, dass man alle die Ablenkungsimpulse in sich kennt, die einen immer wieder in eine andere Substanz kippen lassen.
tion. „Ultimately, we came to see all these aspects of presence as leading to state of “letting come”, of consciously participating in a larger field for change. When this happens, the field shifts, and the forces shaping a situation can move from recreating the past to manifesting or realizing an emerging future” (ebd.)
„Achtsamkeit” ist Ausdruck eines Modus des Zulassens. Diesem liegt ein Wechsel des Referenzpunktes zugrunde, dessen Maßstab die Realisierung einer emergierenden Zukunft ist.
Tabelle1: Ethik der Achtsamkeit
Achtsamkeit als Schlüsselqualifikation Achtsamkeit als eine Schlüsselqualifikation („Core Capacity“) umfasst eine schwer zu definierende Fähigkeit, sich von den Ablenkungsimpulsen der eigenen Seele nicht beständig aus der inneren Balance kippen zu lassen. Letztlich befähigt einen diese Schlüsselqualifikation, die eigenen bevorzugten Denk- und Gefühlsprogramme – die DGPs (erinnerst du Dich?) – in ihrem Entstehen unmittelbar erkennen und möglichst genau beobachten zu können, wie diese dabei mitwirken, das Bild von Wirklichkeit entstehen zu lassen, welches das eigene
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Denken, Fühlen und Handeln orientiert. Zu diesem Wirkungsmechanismus hatte ich dir bereits in meiner zweiten Lektion das Notwendige gesagt, doch ist dabei der Aspekt der Unvermeidbarkeit der Verlängerungs- und Wiederholungstendenzen, die in unserer Seele wirken, noch etwas zu kurz gekommen. Es ist nämlich in Wahrheit wie verhext, da wir unsere bevorzugten Weisen, die Welt zu denken und zu fühlen, nicht einfach abstreifen können. Immer wieder setzt sich Bekanntes neu in Szene, in neuen Konstellationen begegnen uns ähnliche Gefühle und Ausweglosigkeiten, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu diesen eine neue innere Beziehung aufzubauen. Wir müssen lernen, sie leidenschaftsloser wahrzunehmen und in einer fast experimentell-spielerischen Haltung mit ihnen umzugehen, wie mit alten Bekannten, denen wir allmählich zu sagen lernen, welchen Platz sie in unserem Leben in Zukunft einnehmen dürfen. Indem uns dies gelingt, übernehmen wir mehr und mehr die Regie in unserem Leben, und wir werden mit der Zeit fähig, uns unser Leben anders vorzustellen und es auch in anderer Form zu leben als als Kette einer nicht enden wollenden Wiederholung immer gleicher Denk- und Fühl-Situationen. Was bedeutet dies konkret für die Lage, in der du dich befindest und in der du dich ja bereits darum bemühst, dein Leben neu zu erfinden? Ich finde, dass du Neues nicht wirklich gelingend wirst in Angriff nehmen können, wenn du die Energien, die sich in deiner augenblicklich bedrängten Lage ausdrücken, nicht ganz durchspürt hast. Bei ihnen handelt es sich nämlich um Energien, die den Zugang zu neuem Leben blockieren können. Alice Miller lässt in ihrem Buch „Abbruch der Schweigemauer“ einen fiktiven Nietzsche sagen: „Die Angst muss man fühlen, um sie aufzulösen, aber man darf sie nicht ausleben, indem man anderen Behandlungen zumutet, die ihnen schaden“ [Miller 2003, S. 48]. Dies halte ich für eine ganz wesentliche Feststellung, da sie zeigt, dass mit dem Aufdecken der Wiederholungs- und Verlängerungstendenzen in unserer Seele noch nicht viel gewonnen ist, dem Aufdecken muss das Auflösen folgen, da wir uns ansonsten der Illusion hingeben, mit dem Wissen allein sei bereits eine Veränderung erreicht bzw. erreichbar, demgegenüber haben wir mit dem Aufdecken erst die Tür zu einem Raum geöffnet, in den hineinzuschreiten uns noch einige Überwindung kosten wird. Geht es dir nicht auch so, dass du eine Reihe von Menschen kennst, mit denen man sehr tiefe Gespräche über ihre Seelenlagen führen kann, die aber nicht in der Lage sind, diese wirklich aufzulösen, indem sie ihren alten Bekannten einen neuen Platz in der Inszenierung ihrer Zukunft zuweisen? Bei diesen Menschen steht ihr reflexives Wissen gewissermaßen im Dienste ihrer Abwehr, sie bleiben im Stadium des Aufdeckens hängen und wissen nicht, wie sie wirklich zu ihrer eigentlichen Substanz weiterschreiten können.
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Senge u. a. gehen für mein Empfinden etwas rasch von den alten Identitäten zu einem „fresh thinking“ (Senge u. a. 2005, S. 35 ff.) über und sehen nicht, wie klebrig die alten Gewohnheiten des Denkens, Fühlens und Handelns in Wahrheit sind. Diese müssen aufgelöst werden, man kann sich nicht einfach von ihnen abwenden. Eine wichtige weitere Lektion auf dem Weg zu einer emotionalen Kompetenz lautet m. E. deshalb: Lektion 6: Die Zukunft kann sich uns nicht zeigen, solange wir diese durch die bewährten Muster unseres bisherigen Lebens scannen. Die diesen Mustern zugrunde liegenden Denk- und Gefühl-Programme zu kennen, reicht jedoch nicht, sie müssen vielmehr aufgelöst werden: Dem Aufdecken muss das Auflösen folgen, um wirklich zu einer Achtsamkeit gegenüber den aufscheinenden Möglichkeiten der Zukunft zu gelangen.
Doch wie gelingt die Auflösung der altvertrauten Gewissheiten? Um diese Frage zu klären, möchte ich dir ein weiteres Tool vorschlagen (vgl. Tool E): die Aufstellung der inneren Systemik. Mit dieser Methode kannst du gedanklich die Energiefelder sortieren, welche die augenblickliche Lähmung deiner Lebensenergie ausmachen. Hierzu ist es hilfreich, schrittweise vorzugehen, indem du auf einem DIN-A4-Blatt die Personen und Kontexte so in ein räumliches Verhältnis zueinander bringst, dass deine inneren Dialoge, dein Sich-Beschäftigen mit den Akteuren deiner Lebenswelt deutlich zum Ausdruck kommen. Wenn ich die Schilderungen in Deinem ersten Brief lese, dann müsstest du deine Kollegen, insbesondere den rebellischen Projektleiter, in dieser Darstellung ebenso unterbringen wie deine (Noch-)Frau Lilli und deine Kinder, die dich verlassen haben. du solltest aber auch die anderen Energiefelder, wie z. B. deine Erschöpfung und den Tod, so „aufstellen“, dass deutlich wird, welche Erwartungen, Wertschätzungen, Bedrohungen oder Botschaften von diesen – dein inneres Geschehen bestimmenden – Größen auf dich einwirken. Die Aufstellung der inneren Systemik ist eine aufdeckende Methode. Mit ihrer Hilfe kannst du dir die Landkarte deiner inneren Gebunden- und Getriebenheiten vergegenwärtigen. In den letzten Jahren habe ich vielfach mit dieser Methode gearbeitet und dabei die Erfahrung gewonnen, dass zahlreiche Menschen mit ihrer Hilfe erstmals beginnen konnten, die Ganzheit ihres Lebens von einer reflektierenden Warte aus in den Blick zu nehmen. Dabei sind ihnen Zusammenhänge deutlich geworden, die ihnen bis dahin verborgen gewesen sind, und sie konnten viele der Schuldvorwürfe, mit denen sie sich zuvor ihre Lebenssituationen geordnet hatten, verstummen lassen, da sie erkannten, welchen Akteuren sie
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dabei welche Rollen bei der Reinszenierung zugestanden. Ich erinnere mich noch gut an einen Manager, der nach der Aufstellungsarbeit zu mir sagte: „Es gibt jetzt ganz viele Menschen, die ich nochmals aufsuchen muss, um mich bei ihnen zu entschuldigen, da ich erkannt habe, welche Bedeutungen ich ihrem Handeln zugeschrieben habe. Es erschüttert mich zu erkennen, wie oft ich bislang die Kontexte verwechselt habe!“
Achtsamkeit als lauschende Grundhaltung Man kann die aufgedeckten Muster, die unser tägliches Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auflösen. Dies ist zwar schwer und erfordert eine große Konzentration und Willensstärke, doch beginnt alles mit einer neuen Form des Zuhörens. Peter Senge u. a. sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass wir die Beurteilungssprache („Voice of Judgment“) ablegen bzw. „suspendieren“ müssen, da wir mit dieser das Neue, welches sich uns mitteilen möchte, übertönen. Dabei ist wichtig zu erkennen, dass wir in der Beurteilungssprache nicht nur reden, sondern auch hören. Sie ist die Sprache unserer beständigen inneren Dialoge. Sie schreiben: „In practice, suspension requires patience and willingness not to impose preestablished frameworks or mental models on what we are seeing. If we can simplify observe without forming conclusions as to what our observations mean and allow ourselves to sit all the seemingly unrelated bits and pieces of information we see, fresh ways to understand a situation can eventually emerge” [Senge u. a. 2005, S. 31]. Wenn wir nicht üben und lernen, anders wahrzunehmen, dann nützen uns auch die aufgedeckten Gewissheiten nichts. Denn diese sind nicht nur in den erinnerten und verstandenen Kontexten unseres Lebens existent, sie prägen auch und gerade unsere Art, diese Erinnerungen auszudrücken; unsere gesamte Sprechgewohnheit ist sozusagen durch unsere Ängste kontaminiert. So kenne ich Menschen, die so wortreich und energisch ihre Traumatisierungen und die daraus ihres Erachtens resultierenden Empfindlichkeiten und Überwertigkeiten zu erklären vermögen, dass sie gar nicht merken, dass genau diese Art der sprachgewaltigen Darstellung selbst ihnen zu einem beredten Ausdruck eben dieser Ängste gerät. Manchmal habe ich sogar den Eindruck gewonnen, dass manche Karrieren sich geradezu für Menschen anbieten, die es in dieser Form der intellektualisierenden Abwehr zu einer wahren Meisterschaft gebracht haben.
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Es ist auch nicht ganz ungefährlich, sich lesend und schreibend mit den Grundlagen des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns reflektierend auseinanderzusetzen. Kenntnisse über die Funktionsmechanismen unserer Seele sind wie Krücken, die man nach einer Beinverletzung benötigt, um wieder laufen zu lernen. Man muss sie aber irgendwann ablegen und auf die neu gewonnene Routine vertrauen, will man nicht beständig stolpern oder sogar stürzen. Mit Krücken kann man das Laufen lernen, doch läuft es sich mit ihnen schlecht. Dies schreibe ich Dir, da du nach meiner Beobachtung noch sehr stark in der Phase des Nachdenkens, Sich-Informierens und Formulieren steckst, wobei du es nicht belassen darfst, wenn du wirklich zu einer neuen Kraft und Lebensfreude aufbrechen willst. „Fresh Thinking“ und „fresh Living“ lernt man nur durch andere Erfahrungen, denen man sich aussetzt. Man muss eine Probe wagen, sonst kehrt man immer wieder zum Vertrauten zurück. Dies erinnert mich an ein persisches Märchen mit dem Titel „Vom Mut, eine Probe zu wagen“, das ich dir in diesem Zusammenhang erzählen möchte: „Ein König stellte für einen wichtigen Posten den Hofstaat auf die Probe. Kräftige und weise Männer umstanden ihn in großer Menge. „Ihr weisen Männer“, sprach der König, „ich habe ein Problem und möchte sehen, wer von euch in der Lage ist, dieses Problem zu lösen.“ Er führte die Anwesenden zu einem riesengroßen Türschloss, so groß, wie es keiner je gesehen hatte. Der König erklärte: „Hier seht ihr das größte und schwerste Schloss, dass es in meinem Reich je gab. Wer von euch ist in der Lage, das Schloss zu öffnen?“ Ein Teil der Höflinge schüttelte nur verneinend den Kopf. Einige, die zu den Weisen zählten, schauten sich das Schloss näher an, gaben aber zu, sie könnten es nicht schaffen. Als die Weisen dies gesagt hatten, war sich auch der Rest des Hofstaates einig, dieses Problem sei zu schwer, als dass sie es lösen könnten. Nur ein Weiser ging an das Schloss heran. Er untersuchte es mit Blicken und Fingern, versuchte es auf verschiedenste Art zu bewegen und zog schließlich mit einem Ruck daran. Und siehe, das Schloss öffnete sich. Das Schloss war nur angelehnt gewesen, nicht ganz zugeschnappt, und es bedurfte nichts weiter als des Mutes und der Bereitschaft, dies zu begreifen und beherzt zu handeln. Der König sprach: >du wirst die Stelle am Hof erhalten, denn du verlässt dich nicht nur auf das, was du siehst oder hörst, sondern setzt selbst deine eigenen Kräfte ein und wagst eine Probe“ [Das OE-Forum 2001, S. 46].
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„Fresh Thinking“ erfordert den Einsatz der eigenen Kräfte. Wenn Peter Senge u. a. schreiben, dass der Weg zu einem „fresh Thinking“ der Geduld und Entschlossenheit bedarf, so möchte ich dies aus meiner Erfahrung noch ergänzen: Es bedarf auch des Mutes und der schweigenden Betrachtung ohne Zuhörer. Selbstveränderung ist ein stilles Vorhaben. Die Entdeckung des Neuen bzw. der spezifischen Potenziale einer neuen Lebenssituation setzt eine ganz behutsame Seelenbewegung voraus, wobei ständig die Gefahr lauert, dass wir uns mit alten Erfahrungen das Neue erklären und deshalb die Situationen beständig verwechseln. Neben einer gründlichen Analyse der Potenziale einer neuen Lage (Tool F) kann auch die Nutzung von Kreativitätstechniken hilfreich sein. Bekannt ist in diesem Zusammenhang z. B. die Szenariotechnik, Strategiegruppen, Fantasiereisen u. Ä. (vgl. Arnold/Njo 2007). Mit Hilfe solcher Methoden kann man erreichen, dass die Aspekte einer sich verändernden Lage stärker in den Blick geraten, die wir in unserer Sorge oder unserem Leid nicht erkennen. So wäre es z. B. denkbar, dass die Lebensperspektiven, die sich dir mehr und mehr verschließen, auch und gerade den Blick auf neue Wege deiner möglichen Selbstentfaltung zu lenken vermögen. Da du diese aber nicht zu erkennen vermagst, solange du auf das Verlorene durch die Brille des Verlustes blickst, kann es sein, dass du dir gezielt Möglichkeiten schaffen musst, auf die Eindrücke, Brainstormings und Schlussfolgerungen anderer Menschen zu lauschen. Dadurch wird dir eine andere Art des Lauschens zugänglich, die weniger durch Festhalten als durch Loslassen und Geschehenlassen gekennzeichnet ist. Es kommt darauf an, diese Form des suchenden Lauschens zu trainieren (Tool G). Wenn du in ihr zur Meisterschaft gelangst, dann verfügst du über die besten Voraussetzungen, um dein Leben neu zu erfinden. Lektion 7: Das Auflösen alter Muster eröffnet den Weg zu einem frischen Denken („fresh Thinking“). Um diesen Weg wirklich erfolgreich gehen zu können, bedarf es des Mutes und der schweigenden Betrachtung ohne Zuhörer. Lautes Denken und Analysieren lassen uns in der Phase des Aufdeckens stecken bleiben, in die Phase der Auflösung gelangt man einzig durch das gezielte Suchen neuer Erfahrungen und Perspektiven.
Achtsamkeit heißt: der Evolution dienen „Wie kommt das Neue in die Welt?“ Diese Frage beschäftigt mich seit vielen Jahren, wie du weißt (vgl. Kuhn 1978). Meine Erfahrung zu dieser Frage ist die, dass der eigentliche Grund für das Scheitern zahlreicher Innovationen darin
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liegt, dass das Neue stets auf das Alte trifft, und dem Alten eine gewisse Zählebigkeit eigen ist. In dem Vorwort des Buches von von Pierer und von Oettinger heißt es: „Das Neue ist möglich, es verlangt viel Kraft, denn es führt uns in ungeahnte Spannungen mit dem Bestehenden. Es geht an die Substanz, denn im Alten steckt unsere Identifikation. Es hat mit persönlichem Engagement für das Fremde zu tun, mit Geschwindigkeit und Konsequenz. Es verlangt einen freien Geist in freier Umgebung, aber es braucht auch seine Zeit“ [von Pierer/von Oettinger1997]. Alle diese Aspekte sind auch für die Veränderung deiner Lage wichtig: du benötigst Kraft, um die „Spannungen mit dem Bestehenden“, in die du gerätst, auszuhalten und zu meistern. Und Veränderung bedeutet auch für Dich, dass du deine Identifikation mit dem Bisherigen erkennen und überwinden musst. du benötigst eine neue Identifikation bzw. einen neuen Referenzpunkt. du musst dich für das Fremde, welches die neuen Lebensperspektiven in sich bergen, engagieren, wofür du „Geschwindigkeit“, „Konsequenz“, aber auch „Zeit“ benötigst. Und schließlich benötigst du eine „helfende Hand“ (ebd.), die dir hilft, das Neue in dein Leben zu lassen. Mit dieser Hand ist keine zeigende Geste verbunden, sie legt sich vielmehr auf deine Schulter und stärkt dich beim Abschiednehmen von dem, was gewesen ist. Mit meinen Überlegungen möchte ich dir eine solche Hand reichen, und ich freue mich, wenn du sie ergreifst. Bei Virginia Satir las ich kürzlich: „Das ist das Schmerzliche bei Veränderungen: das Bekannte aufzugeben und in Unbekanntes einzutauchen. Wir kennen diese Schmerzen als Sorge oder Unsicherheit. Es ist ganz wichtig zu wissen, dass wir, um unser Wertgefühl zu steigern, weder ein weiteres Bein brauchen noch eine andere Hautfarbe, auch keine Millionen oder gar ein anderes Alter oder Geschlecht oder neue Eltern. Wir müssen nur unsere eigene Einstellung verändern und neue Verhaltensweisen dazulernen. Und das kann jeder“ [Satir 2005, S. 26]. Die zentrale Frage, die du dir dabei stellen musst, ist die nach den Perspektiven in Deinem Leben, die dir neue Zugänge zum Lebendigen eröffnen können. Diese Perspektiven zeigen sich dir von ganz alleine, wenn du achtsam und ohne Getriebenheit voranschreitest. Zu diesen neuen Möglichkeiten musst du Kontakt finden und Vertrauen gewinnen. Dabei geht es darum, eine Art Hoheit über die Veränderungen zu gewinnen, die sich in Deinem Leben ereignen, und diese nicht
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einfach geschehen zu lassen. Erst wenn du eine Vorstellung von dem hast, was dein Leben sein könnte, kannst du zugreifend und gestaltend reagieren. Ohne eine solche Vorstellung bist du in der Gefahr, in jeder Veränderung, die sich anbietet, einen wirklichen Weg zu sehen, und es kann zu Verwechslungen kommen.
Achtsamkeit als Leben im Modus des Zulassens Bei den Bemühungen, das Neue in das Leben zu lassen, ist es wichtig, das „suchende Lauschen“ (Tool G) zu üben. Mit ihm gibst du der Wirklichkeit eine Chance, auf dich zu wirken. Wer suchend zu lauschen vermag, weiß um seine bevorzugten Verhörtendenzen – ein Aspekt, auf den ich dich bereits mit dem Hinweis auf die „Filter der Wirklichkeitsinszenierung“ (Tool A) aufmerksam gemacht habe. Zugleich gründet die Fähigkeit des suchenden Lauschens auf der grundlegenden Einsicht aus den Kommunikationstheorien, dass das Sprechen ganz unterschiedlichen Funktionen dient. Wer redet, hört in diesem Moment nicht nur nicht zu, er definiert vielmehr zugleich die Beziehung zu einem Gegenüber und signalisiert, wer er ist und woran er festhält. Ist es deshalb verwunderlich, dass die Menschen eigentlich aneinander vorbeireden, da sie zumeist mehr damit beschäftigt sind, ihre eigene Geschichte sich selbst und anderen zu erzählen? Im Schweizerdeutschen sagt man zum Zuhören „Zuelose“ – eine bemerkenswerte Gleichsetzung (wobei ich nicht ganz sicher bin, ob beide Ausdrücke etymologisch wirklich zusammenhängen). Wer wirklich zuhört, der lässt zu, dass der andere sich darstellt und folgt – ohne bereits an einer „Antwort“ zu basteln – dem, was ihm da als neue Darstellung begegnet, ohne diese Darstellung bereits vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungen und Sichtweise zu kommentieren. Das „suchende Lauschen“ geht aber noch weiter: Es entscheidet sich quasi für eine andere Rolle im Kommunikationsgeschehen, nämlich eine eher aktiv zuhörende, wie Thomas Gordon dies nennt. Für ihn ist die „Achtung und Akzeptanz unterschiedlicher Einstellungen und Wertvorstellungen“ (Gordon 1998, S. 9) die wesentliche Voraussetzung jeglicher Kommunikation, und er plädiert für „das einfühlsame, nicht-bewertende aktive Zuhören“ (ebd., S. 118), auch mit dem Argument, dass mit dieser letztlich auch die Möglichkeit geschaffen wird, die eigenen Einstellungen, Überzeugungen und Gewohnheiten zu überdenken und zu verändern. Für Gordon spielt das aktive Zuhören eine wesentliche Rolle bei all den „Problemen“, bei denen die Lösung ausschließlich von dem Erzählenden ausgehen kann; das „aktive Zuhören“ ist deshalb eine ermutigende, nachfragende und ressourcenstärkende Form der Kommunikation, durch welche das Gegenüber ermuntert wird, sich selbst einer Lösung näher zu bringen. Dieses ist beim „suchenden Lauschen“ anders. Hier geht es nicht darum, ein Gegenüber
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bei seiner Problemanalyse und Lösungssuche zu ermutigen, sondern darum, selbst in einer neuen Weise hörfähig zu werden. Der Grund für das „suchende Lauschen“ ist die Erschöpfung bisheriger Kommunikationen, welche einen in eine innere – und oft auch äußere – Ausweglosigkeit gebracht haben. Diese gilt es zu überwinden, indem wir das Leben neu zu uns sprechen lassen. Was bedeutet dies konkret? Ich denke, dass es um zweierlei geht: Zum einen geht es darum, die vertrauten Kommunikationskontexte nochmals mit einer veränderten Haltung aufzusuchen, um in Erfahrung zu bringen, welche Wirklichkeitssichten in diesen wirken. Dies ist eine schwere Übung, da wir in diesen Kontexten gewohnt sind, eine bestimmte Rolle als Vorgesetzte, Eltern oder Partner zu spielen, und diese Rollen mit eingefahrenen Antworttendenzen unsererseits innigst verwoben sind – dies ist die „Voice of Judgement“, von der Senge u. a. sprechen (Senge u. a. 2005). Zumeist folgen unsere Kommunikationen auch einer Logik, die in einem meiner Lieblings-Cartoons humorvoll zum Ausdruck kommt, in dem der Schüler zum Lehrer sagt: „Herr Lehrer, es ist genau umgekehrt, ihre Frage passt nicht zu meiner Antwort!“ Dies bedeutet: Wir bringen unsere Antworten bereits in die Kommunikationssituationen mit, was mit der Zeit deshalb zu einer gewissen Ermüdung aller beteiligten Akteure führt, da diese bereits wissen, welche Antwort durch welches Statement beim Gegenüber abgerufen wird. Über Jahre kann es so zu den bekannten Formen einer festgefahrenen bzw. verfestigten, aber beziehungslosen Kommunikation kommen, in denen die Beteiligten beständig aus ihren Antworttendenzen heraus aneinander vorbeireden. Nur durch eine wirkliche Veränderung der Kommunikationsform in Richtung „suchendes Lauschen“ kann „fresh thinking“ (ebd.) entstehen, und es gehört zu den ermutigenden Tatsachen, dass frisches Denken keineswegs bloß aus frischen Kontexten entspringen kann, sondern auch aus unseren vertrauten Kontexten, wenn wir lernen, diesen neu zu begegnen. Dieses neue Begegnen ist schwer. Es erfordert eine konzentrierte und vorbereitete Achtsamkeit gegenüber dem Kommunikationsgeschehen, in das wir eintauchen. So ist es z. B. schwer, als Chef in eine Besprechung zu gehen, ohne die dort stattfindende Kommunikation durch das Ohr „Ich muss Stellung nehmen!“ zu hören. Besonders schwer ist es, in engen Beziehungen eine Haltung einzunehmen, die nicht von vornherein darauf fokussiert ist zu lauschen, was die Aussage des Gegenübers über sein Gefühl mir gegenüber aussagt, und entsprechend „persönlich“ zu reagieren. Wir müssen uns also zunächst darin üben, in den vertrauten Kommunikationsfeldern eine neue Haltung einzunehmen. Dies kann z. B. dadurch gelingen, dass man sich zum schweigend-interessierten Zuhören entschließt, andere bittet, die Moderation eines Gesprächs zu übernehmen, oder seine eigene „Stellungnahme“ vertagt, indem man z. B. wertschätzend sagt: „Für
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mich war es heute wichtig, Ihre Meinungen und Überlegungen genauestens kennen zu lernen, ich werde mir alles in Ruhe überlegen und in unserer nächsten Besprechung mit Ihnen über Konsequenzen nachdenken!“ Stell dir einmal vor, was geschieht, wenn du mit deiner Noch-Frau ähnlich redest? Zugegeben, dies würde sie erstaunen und wäre vielleicht auch etwas zu förmlich. Aber vielleicht würde eine solch verhaltene Reaktion – und genau darauf kommt es an – sie auch überraschen, da sie bemerkt, dass sie ihre Sicht der Wirklichkeit unverstellt artikulieren kann und du zulassend-interessiert lauschst und vielleicht an der einen oder anderen Stelle auch interessiert nachfragst? In beiden Fällen (sowohl als Vorgesetzter als auch als Partner) ist die Antwortverschiebung der erste Schritt zu einer veränderten Kommunikation, die dem Gegenüber die Chance eröffnet, sich losgelöst von den in dir bereits stets vorbereiteten Antworttendenzen zu artikulieren. Das suchende Lauschen ist eine Fähigkeit, die wir aber auch besonders gut in neuen Kontexten erproben und üben können. Neues kann auch in die eigene Welt treten, wenn wir uns neuen, bisher unbekannten oder gar gemiedenen Kontexten zuwenden und dabei ebenfalls von dem Grundsatz der Antwortverschiebung ausgehen. Besonders deutlich wurde mir dies immer in internationalen Begegnungen bei meinen Reisen in andere Regionen der Welt. Wenn wir das interessierte Gespräch suchen, um wirklich in Erfahrung zu bringen, wie Menschen denken, fühlen und handeln, die in uns fremden kulturellen und gesellschaftlichen Kontexten leben, dann kommen wir nicht bloß ihrer Welt näher, sondern erhalten auch Angebote, um das uns Vertraute anders zu erleben oder gar bislang Ungelebtes in uns zu entdecken. Wie du weißt, hat insbesondere die Kulturanthropologie uns hier zahlreiche Einblicke eröffnet, die sich uns ohne ein suchendes Lauschen niemals gezeigt hätten. Doch man muss nicht in ferne Länder reisen, es gibt auch vor unserer Haustür Menschen, die uns ungewohnte Dimensionen des Menschseins zu zeigen vermögen, wenn wir ihnen nur suchend zu lauschen vermögen. Einige Unternehmen, die ich kenne, haben diesen Aspekt bereits erkannt und senden ihre Führungskräfte in Auszeiten nicht nur nach Madagaskar, sondern bisweilen auch in Obdachlosenasyle, in Behindertenwerkstätten oder Altenheime, um ihren Kopf „zu öffnen“ und die Dominanz ihrer vorbereiteten Antworttendenzen zu überwinden. Ich denke, dass auch dies ein Weg für dich sein könnte, dir in einer Auszeit einmal andere Lebenskontexte und Lebensformen daraufhin suchend anzuschauen, welche neuen Antworten diese dir für dein Leben zu stiften vermögen – was hältst du davon? Sicherlich, in beiden Fällen (Kommunikation in vertrauten oder ungewohnten Kontexten) müssen wir Antworten geben. Wichtig ist aber, dass wir lernen, diese nicht bereits mitzubringen oder zumindest unsere Antworttendenzen zu kennen. Dies müssen wir üben. Nach meiner Erfahrung kann man dies nur lernen, indem
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man sich vornimmt, zunächst keine Antwort zu geben, sondern sich ganz dem Gehörten zu widmen. Deshalb empfehle ich auch, das Gehörte für sich zu dokumentieren, d. h. aufzuschreiben, wer da was wie sieht und beschreibt. In diesem Zusammenhang habe ich gute Erfahrungen mit der Mindmapping-Technik (Tool H) gemacht, mit welcher du einzelne Aspekte („Sichtweisen“), Argumente, Überlegungen zu einer Situation gut visualisieren kannst. Dies ist besonders hilfreich, da Du, um Situationen wirklich reflektieren zu können, dir diese gewissermaßen „veräußerlichen“ musst, d. h., du musst Eindrücke, innere Monologe nach außen bringen, um sie wirklich – losgelöst von deinen eigenen zustimmenden oder ablehnenden Reaktionen – ruhig betrachten zu können. Nur so bist du wirklich in der Lage, die Verantwortung für dein Kommunikationsverhalten zu übernehmen. Diese Überlegungen verdichten sich für mich zu meiner für heute letzten Lektion, die wie folgt lautet: Lektion 8: Das Neue kann nur ins Leben treten, wenn wir lernen, suchend zu lauschen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der Grundsatz der Antwortverschiebung. Es kommt darauf an, das eigene Verhaftetsein in vorbereiteten Antworttendenzen reflexiv zu kennen und sich deshalb Zeit für ein überlegtes Reagieren zu verschaffen. Mit dieser Haltung können wir neu in vertraute sowie in fremde Kommunikationskontexte eintauchen und uns zunächst darauf konzentrieren, die in ihnen wirksamen Wirklichkeitssichten leidenschaftslos wahrzunehmen, ohne diese zugleich vor dem Hintergrund unserer eigenen Sichtweisen zu bewerten. Erst dann sind wir in der Lage, systemangemessen zu reagieren.
Soviel für heute. Ich hoffe, dass es diesmal nicht zu viele Vorschläge waren. Schreibe mir doch mal, wie du mit den neuen Lektionen zurechtkommst. Gruß dein Karl
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Brief 5: „Ich experimentiere mit meinen Beobachtungsgewohnheiten!“
In diesem Brief schildert Bernhard seine Erfahrungen mit den Selbstcoaching-Tools zur Übung einer veränderten Wahrnehmung („Suchendes Lauschen“ etc.) und zeigt, wann und in welchen Situationen man damit zunächst scheitert. Er erweitert diese Tools, indem er sie um den Aspekt der Authentizität des Auftretens, d. h. der Klarheit und Eindeutigkeit des eigenen Ausdrucks, erweitert. Mit der „Jeder-gewinnt-Methode“ von Thomas Gordon beschreibt er einen möglichen Ausweg aus konfrontativen Lagen. Dabei kommt der „Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung“ eine grundlegende Bedeutung zu.
Lieber Karl, entschuldige bitte, dass ich jetzt längere Zeit nicht geantwortet habe. Dies liegt einerseits daran, dass mein Leben in den letzten Monaten wirklich turbulent geworden ist – beruflich, wie privat –, andererseits hast du mir mit deinem letzten Brief ja schon einige Arbeit aufgegeben, wenn ich nur an die in deinen Tools angebahnten Aufgaben zur Selbstbeobachtung denke. Nach anfänglichem Widerstreben habe ich begonnen, deinen Vorschlägen zu folgen, und auch versucht mit deinen „Werkzeugen“ C bis H zu experimentieren, um achtsamer bzw. präsenter zu werden. Dabei habe ich die Erfahrung gesammelt, dass es gar nicht so leicht ist, zu sich selbst in eine reflexive Distanz zu treten – und vor allem in dieser zu verharren und sich leidenschaftsloser zu beobachten. Immer wieder kippe ich in die Entschiedenheit meiner inneren „Voice of Jugdement“ (Senge u. a. 2005), mit der ich, wenn ich es in Ruhe betrachte, doch nichts anderes tue als andere auch: Ich rationalisiere meine zufällige Wahrnehmung, meine Beobachtungen und Gefühle. Bei Daniel Goleman las ich unlängst den Ausspruch des Sciencefiction-Autors Robert Heinlein, der feststellte: „Der Mensch ist kein rationales Tier, sondern ein rationalisierendes“ (Goleman 2006, S. 30). Dies ist es, was ich auch erkenne und spüre, und es ist bisweilen lächerlich banal, mit welchen Inszenierungen wir uns
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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vermeintlich um sachliche Lösungen streiten. Oft zeigt uns eine nüchterne Analyse des „Cui bono?“ ganz klar, dass es unsere – bisweilen all zu durchschaubaren – Interessenlagen sind, denen wir folgen. So geht es in meinem Konfliktfall mit dem Projektleiter, der immer wieder in Frage stellt, was ich entscheide, und wo er nur kann gegen mich intrigiert, nicht um eine irgendwie sachlich lösbare Konstellation, sondern schlicht und einfach um den Sachverhalt, dass dieser Kollege meine Position haben will, sonst nichts. Und erst seit ich das in dieser Weise erkannt habe, bin ich auch in der Lage, wirksam zu signalisieren, dass ich das verhindern werde. Es sind – wie in diesem Fall – oft ganz einfache systemische Kräfte (hier: Kampf um die Macht), die da wirken, während alle meinen, es ginge um strittige Fragen einer sachbezogenen Kooperation. Die Übungen, die du mir vorgeschlagen hast, haben in mir ganz spezifische Gefühle ausgelöst, und ich bin insgesamt gesehen nicht nur nachdenklicher, sondern auch trauriger geworden. Selbstbeobachtung macht einsam. Bei mir stellte sich zudem das Gefühl ein, dass ich mich ja noch nicht einmal auf mich selbst verlassen kann, sondern mir erst selbst „auf die Schliche kommen“ muss. Wie unkompliziert ist es demgegenüber doch gewesen, einfach darauflos zu leben und sich den anderen eben so zuzumuten, wie man ist. Es ist diese Unmittelbarkeit des lebendigen Ausdrucks, die mir irgendwie abhandenzukommen scheint, je mehr ich mich an deinen Reflexionsübungen beteilige. Und es ist die Frage nach der eigentlichen Substanz meines Denkens, Fühlens und Handelns, die übrig bleibt, wenn ich die Muster aufgedeckt und aufgelöst habe. Bislang hatte ich – um dir ein Beispiel meines Erkenntnisprozesses zu geben – die Lebensgeschichte, die ich mir und anderen erzählte, in die Standardbeleuchtung getaucht, dass ich stets aufrecht und fair gewesen bin und mir selbst eher Unrecht begegnet ist, als dass ich selbst welches begangen hätte. Was bleibt mir, wenn ich dieses Muster durchschaue und z. B. erkenne, dass ich letztlich immer auch aus „opportunistischen“ Motiven heraus gehandelt habe, da ich – mir selbst gegenüber – stets als der moralische Sieger auftreten konnte – nicht erkennend, welche Muster ich dadurch mit Leben füllte, dass ich meine Biographie bevorzugt in dieses Licht getaucht sah. Kürzlich las ich in einem Roman von Mitch Albom: „Eltern lassen ihre Kinder selten los, daher lassen die Kinder die Eltern los. Sie ziehen um, ziehen weg. Prägende Momente wie die Anerkennung der Mutter oder das Nicken des Vaters werden überdeckt von selbst erbrachten Leistungen. Erst viel später, wenn ihre Haut faltig und ihr Herz schwach wird, begreifen die Kinder. Ihre eigenen Geschichten und Leistungen ruhen auf den Geschichten ihrer Mütter und Väter, wie Steine in den Fluten des Lebens“ [Albom 2005, S. 142 f.].
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Welcher Substanz komme ich auf die Spur, wenn ich mich der Frage zuwende, auf welchen Steinen ich mit meinen Mustern bzw. meinen gewohnten Formen der Wirklichkeitskonstruktion stehe? Und was bringt es mir, dies zu wissen und zu durchschauen? Sicherlich, ich vermag zu erkennen, dass ich meine Gegenüber immer auch dazu dränge, Rollen in Inszenierungen zu spielen, mit denen ich alten eigenen Anliegen und nicht in erster Linie aktuellen Anforderungen Rechnung trage. Doch kann ich mich von diesen „Steinen in den Fluten des Lebens“ wirklich distanzieren, ohne dass ich dabei eine Energie verliere, die mein Denken, Fühlen und Handeln mit der Entschlossenheit ausstattet, die ihm eigen ist? Kann man energisch, d. h. voller Energie, handeln, ohne auf solchen Steinen zu stehen? Du kannst dir vorstellen, dass in diesem Zusammenhang besonders die Schreibtischvariante zur Aufstellung der inneren Systemik für mich von einigem Interesse gewesen ist. Sie half mit, die Kontexte, welche derzeit an mir zerren, genauer zu sehen und zu verstehen. Es war schon interessant zu sehen, wie ich die Mitarbeiter meiner Abteilung, meine Familie oder auch einzelne Freunde um mich herum gruppierte und welche „Slogans“ ich ihnen spontan in den Mund legte. Dabei wurde mir deutlich, dass allen diesen „Slogans“ ein irgendwie gemeinsames Motiv zugrunde lag, welches man so umschreiben könnte, dass ich mich eigentlich von keinem der Interaktionskontexte wirklich „angemessen“ gesehen und in meinen Anstrengungen „gewürdigt“ sehe. So bin ich irgendwie von meinen Mitarbeitern ebenso „enttäuscht“ wie von meinen Chefs, und von diesen ebenso wie von meiner Frau. Dieses ist ein verbindendes Muster. Was drückt sich dadurch aus? Und zu welchen Verwechselungen führt mich diese überwertig empfundene Resonanzlosigkeit, die ich zu konstruieren scheine? Hast du da eine Idee? Und kennst du auch einen Weg, wie ich aus etwaigen SelffulfillingProphecy-Schleifen wie der des „Traurig bin ich sowieso!“4 aussteigen könnte? Weißt du, was mich bei diesen ganzen Bemühungen motiviert? Es ist deine sechste Lektion, die mir deutlich vor Augen geführt hat, dass es die Auflösung der bisherigen Muster unserer Wirklichkeitsinszenierungen (und der mit diesen verwobenen DGPs) ist, welche dafür ausschlaggebend ist, ob das Neue in mein Leben treten kann. Dieser Zusammenhang hat mich lange beschäftigt, und er tut dies immer noch. Mir ist deutlich geworden, dass es um das Loslassen vertrauter Gewissheiten geht, und dieses Loslassen hat etwas von einem Sterben. Mit meinen Gewissheiten stirbt ein Teil von mir, und ich verliere zugleich einige Standardrechtfertigungen zu meinem gelebten Leben. „Loslassen“ ist sicherlich 4
Dies ist der Titel eine Liedes von Bettina Wegner, in dem es heißt: „Mensch, solange wir noch lachen und wir fühl´n uns nicht allein, und wir können noch was machen, darf ich ruhig mal traurig sein.“
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der Weg, auf welchem wir lieb gewonnene Sichtweisen und Gewohnheiten auflösen können. Es stellt somit die eigentliche Weiche, um innerlich einen neuen Weg zu gehen und sich von den alten Wegen, auf denen wir nicht zu Wachstum und Glück gefunden haben, abzuwenden. Verena Kast, die Züricher Therapeutin, hat einiges zum Thema Trauern und Loslassen geschrieben. Was sie dabei feststellt, gilt jedoch auch, wie ich finde, für das Thema „Auflösen“ bisheriger Gewissheiten. Wir müssen nach ihrer Meinung lernen „(...) zu akzeptieren und auch anzunehmen, dass Wandel, Veränderung, der Aufbruch zu Neuem immer auch mit Loslassen zu tun hat – wir können nicht mit übervollen Händen auch noch nach etwas Neuem greifen –, und dennoch soviel als möglich aus dem schon gelebten Leben in die neue Lebensphase mitnehmen“ [Kast 1994, S. 9]. Seit ich diesen Zusammenhang zwischen Auflösen und Loslassen wirklich begriffen habe, versuche ich jeden Tag gezielt neue Erfahrungen zu sammeln. Oder besser gesagt: Ich bemühe mich darum, nicht stets meine Erfahrungen zu befragen, wenn mir etwas Neues begegnet. Dabei haben mir die beiden Tools zur Analyse der Potenziale neuer Situationen sowie zum suchenden Lauschen wirklich geholfen, meine Umgebung neu wahrzunehmen. Am schwierigsten ist es für mich gewesen, das suchende Lauschen wirklich zu lernen. Hier habe ich bislang nur wenige Fortschritte zu verzeichnen, da ich immer wieder feststellen muss, wie ich bereits an meiner Antwort stricke, während mein Gegenüber sich noch erklärt. Du redest vom „Grundsatz der Antwortverschiebung“, was ich sehr treffend, aber für meine Verhältnisse auch noch etwas unvollständig finde. Mir fehlt nämlich eine konkrete Hilfe für das Führen schwieriger Gespräche, denn es kann doch nicht sein, dass ich mich in die Selbstbeobachtung zurückziehen soll, wo es doch darum geht, Flagge zu zeigen? Hierzu möchte ich dir ein Beispiel geben: Letzte Woche kam es zu einer Eskalation in meinem Team. Während einer Besprechung versuchte der bereits erwähnte Mitarbeiter wieder einmal, sich als der eigentliche Sachkenner im Team aufzuspielen. Während ich zu mir sagte „Antwort verschieben, Antwort verschieben!“, lief dieser Kollege zur reinen Hochform auf, bis mir schließlich der Kragen platzte und ich ihn anbrüllte: „Verdammt noch mal, hier im Raum haben alle schon gemerkt, wie Sie sich aufspielen. Glauben Sie bloß nicht, dass mich das irgendwie beeindruckt!“ Plötzlich war Totenstille im Raum, alle beobachteten uns gespannt. Was sich daraufhin abspielte, war ein stilles Ringen der Blicke zwischen ihm und mir, und ich vergaß alles, was ich bei dir gelernt hatte, und sagte be-
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stimmt: „Sie kommen nachher bitte in mein Büro, ich muss mit ihnen reden!“ Daraufhin erteilte ich einer Kollegin das Wort für ihre Präsentation, und die Sache war vorübergehend erledigt. Später in meinem Büro hatte ich mich bereits etwas abgekühlt und konnte souveräner mit der Situation umgehen. Ich ergriff sogleich das Wort und sagte: „Ich möchte in Zukunft nicht mehr, dass Sie mich in Besprechungen von oben herab belehren. Es ist Ihre Aufgabe, die Details besser zu kennen als ich dies kann, doch ich bin es, der hier die Entscheidungen trifft!“ Daraufhin bekam ich einiges an Ausflüchten und Erklärungen zu hören, und der Kollege fand sogar Worte der Entschuldigung und warb um Verständnis, dass alles bloß Ausdruck seines Engagements sei und er sich eben sehr stark mit diesem schwierigen Vorhaben identifiziere, sodass am Ende des Gespräches sogar so etwas wie versöhnliche Gesten auftauchten. Zu alledem wäre es nicht gekommen, wenn ich nicht eine Festigkeit sowie eine Entschlossenheit gezeigt hätte.
Was mir diese Erfahrung zeigt, ist, dass es neben der Antwortverschiebung auch andere Aspekte sind, auf die es für eine konstruktive Gesprächsführung ankommt. Oft ist in der Literatur von Authentizität die Rede, was ich insoweit ergänzen möchte, dass es nach meinem Eindruck vor allem um Klarheit und Eindeutigkeit geht, verbunden mit dem Grundsatz „Jeder gewinnt“, wie Thomas Gordon dies nennt. In seinem Buch „Die Managerkonferenz“, welches ich mir bereits vor einigen Jahren zugelegt habe, schreibt er: „Die Jeder-gewinnt-Methode (oder Methode III, wie sie in unseren Führungskursen genannt wird) setzt also voraus, dass ein Führer, der in der Regel mehr Macht als die Gruppenmitglieder besitzt, sich dazu verpflichtet, sie nicht zu verwenden. Stattdessen nimmt der Führer im Konfliktfall folgende Haltung ein (ich umschreibe sie): Du und ich, wir haben einen Bedürfniskonflikt. Ich achte deine Bedürfnisse, aber ich darf auch meine nicht vernachlässigen. Ich will von meiner Macht dir gegenüber keinen Gebrauch machen, sodass ich gewinne und du verlierst, aber ich kann auch nicht nachgeben und dich auf meine Kosten gewinnen lassen. So wollen wir in gegenseitigem Einverständnis gemeinsam nach einer Lösung suchen, die ebenso deine wie meine Bedürfnisse befriedigt, sodass wir beide gewinnen“ [Gordon 1989, S. 190]. Die Voraussetzung für eine konstruktive Konfliktbewältigung ist deshalb überraschenderweise die (Er-)Klärung der eigenen Bedürfnisse beider Parteien, die nicht bewertet, sondern ausgedrückt und erlauscht werden müssen. Dies ist nicht einfach, da wir in Konflikten, wie ich erkannt habe, oft dazu neigen, die eigenen Bedürfnisse zu verstecken. Uns erscheint es irgendwie „unzulässig“, persönliche Interessen zu haben, weshalb diese oft hinter vermeintlichen Sachargumentatio-
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nen verborgen werden. Und wir „bewerten“ die uns bedrängenden Bedürfnisse anderer auch zu rasch, d. h. fallen in die bereits erwähnte „Voice of Judgement“ (Senge u. a. 2005), statt die Bedürfnisse des Gegenübers einfach in ihrer ganzen Deutlichkeit als existent und berechtigt anzuerkennen, sind sie doch „Tatsachen“, die die Möglichkeiten unseres eigenen Handelns ebenso grundlegend bestimmen, wie unsere eigenen Bedürfnisse. Eine auf „Lösung“ gerichtete Perspektive entsteht in dem Augenblick, in dem wir die Nüchternheit einer „Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung“ zu praktizieren beginnen. In dem beschriebenen Konfliktfall ist mir dies dadurch gelungen, dass ich den oben zitierten Text von Gordon fast wörtlich und entschlossen sprach, wobei ich besonderen Nachdruck auf die Passage legte: „Ich will von meiner Macht dir gegenüber keinen Gebrauch machen, sodass ich gewinne und du verlierst, aber ich kann auch nicht nachgeben und dich auf meine Kosten gewinnen lassen“ (Gordon 1989, S. 190). Der Effekt war verblüffend. Plötzlich wurde die Auseinandersetzung mit meinem „schwierigen Kollegen“, wie ich ihn manchmal für mich nenne, irgendwie freier, und der mir oft aufmüpfig vorkommende Kollege begann, seine Bedürfnisse deutlich zu artikulieren, wobei ich auch überrascht erkennen musste, dass seine Bedürfnisse sehr viel differenzierter waren, als ich sie durch meine Art des Heraushörens bislang wahrnehmen konnte. Der Griff nach meiner Position stand für ihn überhaupt nicht im Zentrum seiner Überlegungen, es ging ihm eigentlich mehr darum, für sein Engagement in der Sache und seine Überlegungen in mir ein unterstützendes und auch wertschätzendes Gegenüber zu finden. Unsere Alternativlösung setzte sich deshalb aus mehreren Elementen zusammen, von denen meine deutliche Positionierung nur eines gewesen ist. Wir vereinbarten zudem regelmäßige Vier-Augen-Gespräche über den Projektstand sowie eine Form, in der die Verantwortlichkeiten auch gegenüber Außenstehenden deutlicher sichtbar wurden. Dafür konnte er sich bereit erklären, auf „öffentliche“ Infragestellungen meiner Positionen ganz zu verzichten. Diese von mir erprobte Vorgehensweise habe ich zu einem weiteren Tool für unsere Sammlung verdichtet (Tool I), das ich dir als Anlage schicke. Bin gespannt, was du davon hältst. I II III IV V
Antwortverschiebung Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung Alternativlösung („Tauschhandel“) entscheiden Umsetzung Evaluierung
Abbildung 2: Aspekte einer „Jeder-gewinnt-Kommunikation“
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Der schwierigste Schritt ist in diesem Zusammenhang der zweite Schritt der Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung. Es ist nämlich dieser Schritt, in dem die emotionalen Dynamiken lauern. Wenn wir uns wirklich mit unseren Bedürfnissen zu Wort melden oder unsere Bedürfnisse bedroht fühlen, dann gerät in uns eine Gefühlswelt ins Schwingen, die etwas mit „Gesehenwerden“ zu tun hat. Zunächst erfordert es Mut, zu sagen „Das will ich“. Und da diese Feststellung auch für unser Gegenüber mit solchen Tiefenschwingungen verbunden ist, ist leicht zu verstehen, dass eine systemisch wirklich tragfähige Lösung immer etwas damit zu tun hat, dass wir auch den anderen gewinnen lassen und ihm eine Bedürfnisbefriedigung wirklich zugestehen wollen. Mache ich lediglich von meiner Macht Gebrauch, dann ernte ich systemisch keine wirkliche Tragfähigkeit, da die so eingespurte Kommunikation unauslöschlich durch die Erfahrung „meine Bedürfnisse werden nicht gesehen“ kontaminiert ist – ein Eindruck, der nicht mehr wirklich korrigierbar ist. Sicherlich, es gibt Grenzsituationen, in denen ein Kompromiss nicht gefunden werden kann, oft auch, weil es eigentlich um etwas ganz anderes geht. Man muss aber wissen, dass Machtworte und Machtlösungen ausgrenzend wirken. In den allermeisten Fällen, die ich kenne, haben die Lösungen, in denen es Gewinner und Verlierer gab, stets dazu geführt, dass einer der beiden Konfliktpartner – und meistens ist dies der schwächere gewesen – das System früher oder später verlassen oder innerlich gekündigt hat. Dies zeigt überdeutlich, dass das Finden von Kompromissen und Alternativlösungen die wohl zentrale Eigenschaft erfolgreicher Führung ist. Vielleicht sollten wir einmal darüber nachdenken, ob sich in dieser Einsicht nicht ein ganz eigenes Modell einer „Führung durch Nachgeben“ oder „Leadership by Compromising“ steckt. Diese Erfahrung hat mich zu der folgenden weiteren Lektion geführt: Lektion 9: Konstruktive Gesprächsführung setzt neben der Antwortverschiebung auch Klarheit und Eindeutigkeit der Rede im Sinne einer „Bedürfnis(er)klärung ohne Bewertung“ voraus und mündet in einem Tauschhandel, der dem Grundsatz „Jeder gewinnt!“ (Gordon) entspricht.
Auf alle Fälle scheint mir eine systemische Phantasie notwendig zu sein, die eine Führungskraft in die Lage versetzt, bei Konflikten in Win-Win-Szenarios zu denken. Diese können gesichtswahrende Auswege für alle Beteiligten eröffnen, ohne dass die eigene Bedürfnisbefriedigung des oder der Verantwortlichen dabei auf der Strecke bleibt. Um dies zu können, ist jedoch eine Gelassenheit und Resonanz der Führungskraft erforderlich. Er oder sie muss nicht aus Anerken-
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nungssuche heraus handeln und ist gleichzeitig doch darauf angewiesen, dass seine Vorstellungen, Pläne und Aktionen eine Resonanz beim Gegenüber auslösen. Hierzu stellt Daniel Goleman fest: „Wenn Führungskräfte nicht die erforderliche Empathie aufbringen oder die Emotionen einer Gruppe nicht entschlüsseln können, erzeugen sie Dissonanz und vermitteln Botschaften, die die Empfänger unnötig aufregen. (...) Emotional intelligente Führung funktioniert am besten mit emotional intelligenten Führungskräften, die Resonanz erzeugen“ [Goleman u. a. 2002, S. 39 und 60]. Mit diesen Hinweisen beleuchtet Goleman noch weitere Aspekte einer wahrhaft „resonanten Führung“ (ebd., S. 39 ff.), wie er dies nennt. Diese Dimension einer erfolgreichen Führung beschäftigt mich derzeit sehr stark, da sie zeigt, dass es Führungsqualitäten gibt, über die man gewissermaßen bereits verfügen sollte, wenn man in eine Führungsposition eintritt. Natürlich frage ich mich in diesem Zusammenhang, ob ich über diese Fähigkeiten bereits verfüge und tatsächlich in der Lage bin, aus einer inneren Ruhe und Gelassenheit heraus nach vornehmlich „sachlichen Maßgaben“ zu handeln. Was ist das innere Motiv, aus dem heraus ich handele? Wie wichtig ist mir meine Führungsrolle? Irgendwie spüre ich auch, dass man zu einer emotional resonanten Führung nur gelangen kann, wenn man aus anderen als aus Bedürftigkeitsmotiven heraus zu handeln vermag. Wie prägen innere Bedürftigkeit einerseits und Gelassenheit andererseits das eigene Verhalten in Konfliktsituationen? Hierüber werde ich noch verstärkt nachdenken, da mich insbesondere die Frage bewegt, wie man diese Fähigkeiten zur Resonanz entwickeln kann, da die Resonanz doch eine Eigenschaft des Systems ist, in welchem ich handele. Wie wirkt sich da meine eigene Fähigkeit oder Unfähigkeit aus? Aber darüber das nächste Mal mehr. Für heute grüße ich dich herzlich! Dein Bernhard
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Brief 6: „Mit mir nicht!“
In diesem Brief skizziert Karl konkrete Techniken einer wirksameren Führungskommunikation. Er beschreibt, worauf reflektierend zu achten ist, um bedürfnisorientiert, aber unbedürftig zu kommunizieren. „Vor“, „während“ und „nachher“ sind die Stufen, auf denen innezuhalten ist, um das Kommunikationsgeschehen detailliert zu reflektieren und zu optimieren.
Lieber Bernhard, dein Brief kam zur rechten Zeit, da auch ich mich gerade – eher ungewollt – mit schwierigen Gesprächssituationen auseinandersetzen muss. Ja, das gibt es auch in wissenschaftlichen Instituten, da auch hier bisweilen klare und deutliche Gespräche mit Menschen geführt werden müssen, die ihre Rolle nicht mehr akzeptieren oder neu definieren möchten. Zumeist ist dies bei jungen Mitarbeitern der Fall, die gerade ihre Promotion oder Habilitation abgeschlossen haben und nunmehr nach einer „adäquaten“ Position suchen, indem sie z. B. durch gezielte Regelverletzungen die Autonomiespielräume ausloten. Es gibt dies aber auch in jedem Bereich, in dem Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Hierarchiestufe miteinander kooperieren. In dem Buch „Das Santiagoprinzip. Führung und Personalentwicklung im lernenden Unternehmen“ ist von einem Problem die Rede, welches als „das Phänomen der kleinen Chefs“ bezeichnet wird. Dieses Phänomen tritt auf, wenn „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bisweilen nicht mit den Selbststeuerungs- und Selbstführungsräumen, die ihnen die Kultur der stellvertretenden Führung einräumt, umgehen (können) und (diese) nutzen, um selbst die Rolle einer vorgesetzten Führungskraft zu spielen“ [Arnold 2000, S. 29]. Dein Bericht über die Erfahrungen mit der „Jeder-gewinnt“-Methode von Gordon hat mich daran erinnert, dass ich dein Tool I („Fünf Schritte zum Jedergewinnt-Effekt“) auch ganz gut in meinem eigenen Führungsalltag gebrauchen kann. Deshalb habe ich dieses Instrument in der letzten Woche auch ausprobiert
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_6, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und bin dabei schnell an meine eigenen Grenzen gestoßen. Plötzlich fand ich die Ansprüche und Vorstellungen, die ein erst kürzlich promovierter junger Kollege artikulierte, allesamt nur noch „unverschämt“, und die aus diesen sprechende Selbstüberschätzung ärgerte mich so sehr, dass ich richtig aufgeregt wurde. Das Gespräch eskalierte und fand in meinem wütenden Ausspruch „Mit mir nicht!“ seinen unrühmlichen Abschluss. Natürlich ist mir sofort bewusst gewesen, dass ich jetzt als Führungskraft versagt hatte, weshalb ich gleich am nächsten Tag den Gesprächsfaden wieder aufgriff. Die Bereitschaft meines Gegenübers, mir wirklich seine eigenen Bedürfnisse anzuvertrauen, ohne dass diese sofort von mir entsprechend abgewertet wurden, war jedoch vollständig auf dem Nullpunkt angekommen. Nur durch einiges „Rückrudern“ (Tool K) gelang es mir schließlich, zumindest die Basis für weitere Runden des Tauschhandelns zu schaffen. Diese eigene Erfahrung hat mir wieder einmal deutlich werden lassen, dass Kenntnis und Können oft auseinanderfallen – ein Aspekt, den du ja auch am Ende deines Briefes ansprichst, indem du die Frage aufwirfst, ob man FührungsResonanz lernen kann. Meine Antwort kennst du ja bereits: Man kann diese Fähigkeiten mehr und mehr in sich zur Reife kommen lassen, wenn man zur Selbstreflexion vor, während und nach dem Kommunikationsprozess in der Lage ist. Wir haben es also bei unseren Versuchen, systemisch erfolgreicher zu kommunizieren, mit einer Dreistufigkeit der Selbstreflexion zu tun, durch welche wir uns Gelegenheiten schaffen, den Kommunikationsprozess selbst sowie unser Verhalten in diesem von unterschiedlichen Beobachterpositionen her in den Blick zu nehmen (Tool L). Indem ich diese Beobachterpositionen immer wieder durchschreite, entwickelt sich in mir allmählich ein leidenschaftsloseres Verhältnis zu meinem eigenen Denken, Fühlen und Handeln in der jeweiligen Situation, und ich lerne, dieses losgelöster von meinen eigenen Bedürfnissen beurteilen zu können. Dies bedeutet nicht, dass ich keine Bedürfnisse habe, im Gegenteil: Ich mache mir diese gezielter bewusst und schaffe mir gleichzeitig Möglichkeiten zu beobachten, ob und inwieweit meine eigene Bedürftigkeit mich zu unprofessionellem Verhalten in der Kommunikationssituation (ver)führt oder nicht. Meine Erfahrung ist die, dass man nur durch wiederholtes Erproben und vielfältiges Scheitern allmählich die Kompetenz entwickelt, selbstbewusst, an den Bedürfnissen des Gegenübers orientiert, aber nicht selbst bedürftig zu kommunizieren. Mein wütendes „Mit mir nicht!“ war Ausdruck einer eigenen Bedürftigkeit, wie ich dir gleich noch erklären werde. Zunächst möchte ich aber noch das Konzept der dreistufigen Selbstreflexion genauer beschreiben, für welches der Umgang mit den Bedürfnissen, den eigenen und denen des Gegenübers, von zentraler Bedeutung ist. Diese geschilderte Erfahrung führt mich zu unserer wichtigen 10. Lektion, die da lautet:
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Lektion 10: Um bedürfnisorientiert, aber nicht bedürftig kommunizieren zu können, muss man sich in der Kunst der dreistufigen Selbstreflexion üben. Diese eröffnet uns verschiedene Perspektiven auf das Geschehen, in deren „Genuss“ wir jedoch nur gelangen, wenn wir sie durch geeignete „Vorkehrungen“ entstehen lassen.
Führungskräfte müssen, wie ich finde, planend beobachten können, sie dürfen nicht einfach in Gesprächssituationen „hineinstolpern“. Dies bedeutet, dass man sich vor der Aufnahme einer Kommunikation (z. B. Mitarbeitergespräch, Teamsitzung) eine gewissen Zeit nimmt (ca. 10 Minuten durchschnittlich), um das Gespräch mental zu antizipieren. Dabei müssen einerseits Vorkehrungen getroffen bzw. geprüft werden, um zu gewährleisten, dass das Gegenüber seine Bedürfnisse und Interessen wirklich artikulieren kann. Hat man es mit mehreren Gesprächsteilnehmern zu tun, so gilt dies für alle Beteiligten. Die Führungskraft selbst muss sich dabei bewusst sein, dass sie bereits strukturell dominiert, weshalb es nicht nötig ist, auch noch die mit Abstand größten Redeanteile zu haben. Vielmehr kommt es darauf an, diese zu dosieren und zunächst darauf Wert zu legen, dass in der zur Verfügung stehenden Zeit wirklich alle zu den anstehenden Fragen Stellung nehmen können. Es ist deshalb im Stadium der planenden Beobachtung sinnvoll, sich zu fragen: Was genau ist das Thema? Steht ausreichend Zeit zur Verfügung, um dieses Thema zu besprechen? Sind alle wichtigen Personen einbezogen? Mit welchen „Kickoff-Fragen“ werde ich das Gespräch eröffnen? Kann ich mich dann wirklich zurückhalten? Welche eigenen Empfindlichkeiten „lauern“ für mich in diesem Thema bzw. in der Auseinandersetzung mit diesen Leuten? etc. Planende Beobachtung von Kommunikationsanlässen dient, wie gesagt, der mentalen, aber auch realen Vorbereitung einer Situation, in welcher eine WinWin-Kommunikation auch tatsächlich gelingen kann. Sie „checkt“ deshalb – gewissermaßen im Vorfeld –, ob ausreichende Vorkehrungen getroffen worden sind, um bedürfnisorientiert, aber selbst nicht bedürftig zu kommunizieren. Gleichzeitig dient sie der Vorklärung der eigenen Position gegenüber dem Thema bzw. in dem jeweiligen Kreis der Gesprächsteilnehmer. Dabei ist es für eine Führungskraft auch wichtig, die in ihr selbst lauernden Tendenzen zum Missver-
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stehen, zum Misstrauen oder zum Verfühlen zu antizipieren. Dieser Schritt ist sehr schwierig und erfordert eine gewisse Leidenschaftslosigkeit im Anerkennen eigener Fehler und Unzulänglichkeiten. Nicht der- oder diejenige ist nämlich eine gute Führungskraft, der oder die ohne eigene Anteile in Kommunikationsund Interaktionssituationen denken, fühlen und handeln kann, sondern vielmehr der- oder diejenige, der oder die ihre eigenen „Magnetthemen“ kennt. So bezeichne ich die unvermeidbare persönliche Geprägtheit der eigenen Wahrnehmung, die es mit sich bringt, dass wir bestimmte Aspekte, Situationen und auch Konflikte stärker anziehen und in uns als Information aufnehmen als andere Aspekte und Interpretationsmöglichkeiten. Diese Tendenzen in sich zu kennen, eröffnet einem die Möglichkeiten sich genauer auf das zu beziehen, was das Gegenüber tatsächlich auszusagen sich bemüht. In dem Fall, der mich die letzten Wochen in meinem Institut umtrieb, versuchte ich durch eine planende Beobachtung etwas Ruhe und eine größere Wirksamkeit in die Kooperation zu bringen. Zunächst stellte ich mir die in der folgenden Abbildung aufgelisteten Fragen, die man „vorher“, d. h. vor der Aufnahme einer Kommunikationssituation, für sich klären sollte. Dabei wurde mir auch deutlich, dass ich selbst dem jungen, aufstrebenden Kollegen seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr richtig zuhörte. Er hatte, wenn ich selbstkritisch die Lage betrachte, eigentlich schon länger nicht mehr die Möglichkeit, seine Sichtweisen wirklich zur Sprache zu bringen, da ich ihn bereits innerlich mit einem Etikett versehen hatte. Dies ist eine große Gefahr in Kommunikationsbeziehungen, weshalb ich folgende Kommunikationsregel – auch und gerade für Führungskräfte – für ganz zentral halte: „Stelle fest, mit welchen Etiketten du dein Gegenüber versehen hast, und löse dich jeden Tag neu von diesen!“ Im konkreten Fall beschloss ich deshalb, dem jungen Kollegen in dem anstehenden Abteilungsgespräch wirklich einmal Raum zu geben, damit er seine Sicht der Dinge ausführlich darlegen konnte. Und weißt du, was geschah? Plötzlich musste ich bemerken und anerkennen, dass seine Ausführungen auch in einem hohen Maße sachlich gerechtfertigte Aspekte beinhalteten. Um dies erkennen zu können, half mir auch die Vorklärung meiner eigenen Position, wobei insbesondere die Frage „Wo bin ich bereits ‚festgelegt’?“ mir zu erkennen ermöglichte, was für mich bereits klar zu sein schien – es ging um die Frage einer bestimmten Vorgehensweise in einem Forschungsprojekt. Doch indem ich meine „Festgelegtheiten“ für mich identifizierte, verspürte ich plötzlich auch ein großes Interesse, genau diese nochmals in Frage stellen zu lassen und meine eigenen Gründe erneut zu prüfen, weshalb es mir möglich wurde, das Gespräch auch über solche grundsätzlichen Punkte nochmals offener zu führen – ein Gedanke, der mir, wenn ich ehrlich bin, zuvor nie gekommen wäre.
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Eine weitere positive Erfahrung bezog sich auf die Dosierung der eigenen Dominanz: Indem ich mein eigens Verhalten in der bevorstehenden Gesprächssituation mit dem Vorsatz antizipierte, zunächst eher zu lauschen als zu antworten, begann ich das Gespräch mit einer ganz anderen Haltung. Irgendwie fühlte ich mich weniger oder – besser gesagt – anders zuständig. Mir oblag nicht mehr die Erreichung eines ganz bestimmten inhaltlichen Zieles, sondern die Schaffung eines Raumes, in welchem andere sich zunächst darstellen können. Natürlich war mir bewusst, dass ich am Ende die geäußerten Überlegungen kommentieren und zu einer Entscheidung verdichten musste, doch war es nicht ein „Produkt“ der Kommunikation, auf welches ich zuzusteuern hatte, sondern ein „Prozess“, welcher sich als solcher zunächst erst einmal entfalten können musste, ich begann, mich in erster Linie als prozess- und nicht als produktverantwortlich zu verstehen. Natürlich liest man das auch in allen möglichen neueren Veröffentlichungen, aber für mich enthüllte sich die Prozessverantwortung als eine andere Qualität des Sich-Fühlens und Handelns in Kommunikationssituationen. Man kann diese nicht wählen, sondern muss sich darauf bewusst einlassen und erfahren, welche Vielfalt sich dann zeigen kann. Deborah Tannen, die bekannte amerikanische Soziolinguistin, beschreibt in einem ihrer Bücher das Kommunikationsmuster „Schweigsam, aber stark“, welches davon lebt, durch eine eher reduzierte Form des Sich-Einbringens eine hohe prozessbeeinflussende Wirkung zu entfalten (Tannen 2000, S. 358); an diese Beschreibung fühlte ich mich erinnert, als ich begann, meine eigene Dominanz bereits planend zu dosieren. Reflexions- Beobachterstufe position
Ermöglichungsfaktoren („Vorkehrungen“)
Entscheidungsfaktoren („Reflexionsfragen“)
„vorher“
Wer sind die Stakeholder in der Thematik?
Was möchte ich aus diesem Gespräch mitnehmen?
Planende Beobachtung
Ist gewährleistet, dass diese Gelegenheit haben/hatten, ihre Sichtweisen zur Sprache zu bringen? Wie dosiere ich meine eigene Dominanz?
Wo habe ich Informations- bzw. Klärungsbedarf? Wo bin ich bereit nachzugeben? Wo bin ich bereits „festgelegt“?
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Reflexions- Beobachterstufe position
Ermöglichungsfaktoren („Vorkehrungen“)
Entscheidungsfaktoren („Reflexionsfragen“)
„während“ Teilnehmende Beobachtung
Wie „erlebt“ mein Gegenüber diese Situation?
Wer redet mit welcher körpersprachlichen Untermalung wie viel?
Was wäre ein Erfolg, was ein Misserfolg für mein Gegenüber?
An welchen Stellen habe ich mit Kommunikationssperren oder Abblockern gearbeitet?
Ermuntere ich mein Gegenüber durch die verbalen und nonverbalen Signale zur Halte ich Essentials Mitteilung (z. B. lächelnddurch eine moderierendinteressiertes Zuhören)? visualisierende Gesprächsführung fest? „danach“
Supervision
Wie war das Klima des Gesprächs?
Konnte eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung entwickelt werden Wie verlief der Prozess? oder gibt es „Winner“ Was waren die wesentlichen und „Loser“? Phasen? Wann kippte das Gespräch? Was hat sich als fördernd, was als störend erwiesen? Wie würde eine Zusammenfassung aus dem Mund Welche persönliche Lekmeines Gesprächspartners tion beinhaltet die Komklingen? munikationserfahrung?
Abbildung 3: Die dreistufige Selbstreflexion Führungskräfte müssen jedoch auch in der Kommunikationssituation selbst achtsam sein und sowohl das eigene als auch das Verhalten der anderen beständig beobachten. Dies nenne ich die teilnehmende Beobachtung. Auch diese ist darauf gerichtet, bestimmte Vorkehrungen für eine bedürfnisorientierte, aber unbedürftige Kommunikation zu sichern und zugleich über das eigene Kommunikationsverhalten zu reflektieren. Die dabei in den Blick zu rückenden Fragen beziehen sich zunächst darauf zu klären, ob und inwieweit ich in der Lage bin, die Absichten und Wahrnehmungen meines Gegenübers nachvollziehen zu können. Dabei kommt der Frage nach den „heimlichen“ Erfolgs- bzw. Misserfolgskriterien dieses Gegenübers eine grundlegende Bedeutung zu: Nur, wenn ich in der Lage bin, das Ziel meines Gegenübers sowie sein sich daraus ergebendes Erfolgskriterium der Kommunikation zu verstehen, kann ich auch in der Situation selbst aktiv zuhörend oder suchend lauschend mit ihm in Kontakt treten.
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Kommunikation ist stets – und in dieser Einsicht liegt ein Großteil des Erfolges von Führungskräften begründet – auch das „Verstehen-Können dessen, worum es dem Gegenüber geht!“ Da dieses nur in der Situation selbst zutage tritt, erschließt es sich auch am besten der teilnehmenden Beobachtung. Zugleich dient die teilnehmende Gesprächsbeobachtung aber auch der Selbstbeobachtung. Diese benötigt Kriterien, die sich auf die förderlichen oder hindernden Wirkungen des eigenen Kommunikationsverhaltens beziehen. Von grundlegender Bedeutung ist dabei auch eine vorwegnehmende Empathie, die die Frage fokussiert, wie das Gegenüber das Kommunikationsverhalten von einem selbst wohl erleben mag und welche Vorstellungen von Erfolg und Misserfolg dieser Wahrnehmung zugrunde liegen. Diese Vorgehensweise folgt einem Vorschlag von Peter Senge u. a., die dafür plädieren, „(...) unsere Denkprozesse sichtbar zu machen, damit wir die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in unseren Wahrnehmungen kennen“ (Senge u. a.1997, S. 283) – dies ist es, worauf es m. E. wirklich ankommt, wenn man erfolgreich und nicht bloß dominierend kommunizieren möchte. Und der Schritt, um den es mir bei der planenden Beobachtung geht, zielt darauf, sich die eigenen Vorannahmen und Wahrnehmungen in das eigene Bewusstsein zu heben. Eine wichtige Dimension der teilnehmenden Beobachtung ist die Körpersprache. Führungskräfte sollten nicht allein zuhören können, sie sollten auch auf die Signale achten, mit denen das Gegenüber zum Ausdruck bringt, wie es die Situation erlebt. Solche Signale sind körpersprachlicher Art. Mit ihnen wird subtilst ausgedrückt, wie die beteiligten Akteure die Beziehung definieren und welche Ängste, Befürchtungen und Erwartungen ihr Verhalten bestimmen. Der bekannte Körpersprache-Spezialist Samy Molcho stellt fest: „Keine Bewegung ist zufällig, sondern Ergebnis bewussten oder unbewussten Denkens“ (Molcho 2001, S. 17). Dies bedeutet, dass man in der Mimik und Gestik, wenn man genau auf sie achtet, ablesen kann, worum es auch – und bisweilen eigentlich – geht. Hierzu habe ich eine Art Beobachtungsleitfaden (Tool M) entwickelt, welchen ich dir zusende. Bin gespannt, ob du damit etwas anfangen kannst in deinen Kommunikationskontexten. Als Supervision bezeichne ich das distanzierte Reflektieren über den erlebten Kommunikationsprozess, um diesen nachträglich nochmals im Hinblick auf Verfälschungen durch die eigene Wahrnehmung oder durch Zufälligkeiten oder Unaufmerksamkeiten zu scannen. Für eine solche Supervision eignen sich persönliche Notizen, in denen man die Reflexion über das Tagesgeschehen mit dem Ziel festhält, persönliche Lektionen aus den gewonnenen Erfahrungen für sich abzuleiten –zumindest mache ich dies so. Andere schreiben entsprechende Reflexionen in ihr Tagebuch. Auch dabei sind dann die Ermöglichungs- sowie die Entscheidungsfaktoren im Einzelnen zu reflektieren. Es sind dabei insbesondere
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die Ermöglichungsbedingungen, aus denen man für die kommende Kommunikation lernen kann. Sie zu reflektieren bedeutet, dass man versucht, die einzelnen Phasen der durchlaufenen Kommunikation nochmals zu analysieren und festzustellen, über welche krisenhaften Schrittfolgen der Kommunikationsprozess verlief, an welchen Stellen die Kommunikation problematisch wurde und „Winner“ und „Loser“ erzeugte. In dem Fall, den ich dir berichtete, wurde mir vieles erst im Anschluss an das Geschehen deutlich, in welch starkem Maße unsere angeblichen Sachdebatten durch den „bedürftig-abhängigen Stil“ (Schulz von Thun 1989, S. 61) geprägt und überlagert sind. Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun bezeichnet so einen Kommunikationsstil, „(...) der darauf abzielt, sich selbst als hilflos oder überfordert darzustellen und den anderen das Gefühl zu geben, er müsse einspringen, helfen, entscheiden und verantworten – sonst wäre alles verloren“ [ebd.]. Wer in eine Gesprächssituation mit einer bedürftig-abhängigen Grundhaltung geht – und diese treffe ich auch bei Führungskräften immer wieder an –, der hört und sieht sein Gegenüber sowie sein Thema in einer ganz bestimmten selektiven Weise. Diese selektiven Formen des Hörens und Sehens sind es, durch die wir uns immer wieder in die Situationen hineinmanövrieren, die uns irgendwie vertraut sind. Dies ist auch in meinem Fall so gewesen, wie ich erschrocken feststellen musste. Erst durch eine wirklich systematische dreistufige Selbstreflexion und ein mehrmaliges „Rückrudern“ ist es mir in dem konkreten Fall gelungen, weniger bedürftig als vielmehr bedürfnisorientiert zu kommunizieren und vor allem mit dem jungen Kollegen im Gespräch zu bleiben. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass ich auch als Führungskraft an Glaubwürdigkeit gewann, je sichtbarer ich einerseits selbst mit meinen Bedürfnissen und Positionen wurde und je „flexibler“ ich mit den selbstgebastelten Fallstricken der Kommunikation umzugehen in der Lage war. Man „verliert“ sein Gesicht nicht, indem man zurückrudert, man verliert es – so meine Erfahrung –, wenn man insistiert und seine eigene Sicht der Dinge über alles stellt. Vielleicht ist die Lektion, die ich aus diesen Erfahrungen für mich ableitete, auch für dich weiterführend?
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Lektion 11: Erfolgreiche Kommunikation „lebt“ von der Kunst, den Kommunikationsprozess so gestalten zu können, dass dieser nicht durch die eigene Bedürftigkeitsbrille gescannt wird. Hierbei hilft eine dreistufige Selbstreflexion, die uns in die Lage versetzt, Gespräche gewissermaßen strukturell als Verschränkung von Eigenem und Fremden zu analysieren und zu reflektieren. Dadurch werden absichtsvoll gestaltete Veränderungen (z. B. „Rückrudern“) möglich, von denen eine andere Qualität ausgeht als von unmittelbaren Reaktionen.
Was hältst du von diesen Überlegungen? Mit bestem Gruß für heute dein Karl
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Brief 7: „Ja, aber!“
Dieser Brief greift die kommunikationsstrategischen Überlegungen der dreistufigen Selbstreflexion auf, stellt diese jedoch in den Kontext von Geborgenheit oder Ungeborgenheit. Nur der Geborgene vermag bedürfnisorientiert, aber unbedürftig zu kommunizieren. Es sind selbstkritische Überlegungen, mit denen Bernhard seine eigene Kommunikationsfähigkeit sowie seine emotionale Kompetenz unter die Lupe nimmt. Und sie führen ihn zu der Einsicht, dass gelingendes Leben und Sich-Beziehen ohne eine tiefe Liebe zu sich selbst nicht wirklich entstehen können.
Lieber Karl, seit deinem letzten Brief ist viel geschehen. Wo waren wir stehen geblieben? Richtig, du hattest mir aus deiner eigenen Führungspraxis heraus Hinweise gegeben, wie man dem eigenen Blick auf das Geschehen nochmals genauer auf die Spur kommen und erfolgreicher kommunizieren kann („dreistufige Selbstreflexion“). Besonders deine Tools für die Optimierung der Gesprächsführung fand ich sehr hilfreich, und ich habe gelernt, dass wir bedürfnisorientiert, aber nicht bedürftig miteinander umgehen sollten. Alles steht und fällt deshalb mit dem Zugang zu den eigenen Bedürfnissen und denen der anderen. Und um diese wirklich wahrnehmen zu können, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen, ist eine Ruhe und Gelassenheit notwendig, die uns Achtsamkeit zu stiften vermag. Aber „Erfolg“ in Beziehungen und in Kooperationen kann uns dies alles nicht garantieren, wie ich dir versichern kann. Letzte Woche hat Lilli die Scheidung eingereicht, was nochmals ein Schock für mich und auch die Kinder gewesen ist. Dieses Ereignis kam just in dem Moment auf mich zu, als ich in meinem professionellen Feld, das bedürfnisorientierte, aber unbedürftige Kommunizieren erprobte. Mir sind daraufhin die neuen Tools richtiggehend aus den Händen geglitten, alles verlor von einem Augenblick auf den anderen seine Wichtigkeit. Mich begann der Gedanke zu beschäftigen, ob ich mich in meiner Familie vielleicht zu bedürftig und zu wenig bedürfnisorientiert bewegt hatte, worin ein Muster zum Ausdruck kommen könnte, welches auch mein berufliches Handeln bestimmt. In dieser Frage hätte ich gerne deinen Rat, obgleich mir ein Freund,
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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mit dem ich darüber sprach, riet, nicht „zu viel in Selbstzweifel zu machen“. Doch ist es Selbstzweifel, wenn ich begreifen möchte, was mich in die Lebenssituationen gebracht hat, die mich am meisten schmerzen und mich das Gefühl der Getragenheit in meinem Leben gekostet haben? Dies glaube ich nicht, zumal ich schon mehrfach habe erkennen müssen, dass unser Denken, Fühlen und Handeln „aus einem Guss“ sind, d. h., wir können uns nicht wirklich anders in unserem beruflichen Kontext bewegen, als wir dies in unserem Privatbereich zu tun gelernt haben. Deshalb geht – zumindest in der Seele der Akteure – das Berufliche und das Private ineinander über: Wir können uns nicht austauschen – dies ist zumindest meine Erfahrung. Und bedeutet nicht auch deine Aufforderung, authentisch zu sein, dass wir uns so zeigen, wie wir auch in unserer tiefsten Eigenart wirklich sind? Irgendwie komme ich mir vor wie ein Übriggebliebener. Ich mache „weiter so wie bisher“, obgleich die Zuversicht in mir vollständig zusammengebrochen ist. Wie kann man tagtäglich erfolgreich handeln und kommunizieren, wenn die innere Geborgenheit und das Eingebundensein in ein zukunftsstiftendes Lebenskonzept, nicht mehr verfügbar sind? Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine, wenn ich dir diese innerliche Ungeborgenheit zu beschreiben versuche. Es ist wie ein Leben ohne eine wirklich vorwärtstreibende Kraft: Erschöpfung und Uneigentlichkeit machen sich breit, und dies spüren auch meine Kolleginnen und Kollegen. Sie spüren, dass ich aus Routine, aber nicht aus einem wirklichen Entflammtsein für die Sache heraus handele. Sicherlich, ich kann an meinen Kommunikations- und Führungsfähigkeiten arbeiten, aber wozu? Werde ich dadurch wieder zu einem erfüllteren Leben finden? Wer die Bindungen, in denen er stand, verloren hat, der kann nicht wirklich bedürfnislos kommunizieren. Man benötigt gewissermaßen für die eigene Unbedürftigkeit im Beruf eine gehörige Portion Bedürfnisbefriedigung im Privatbereich. Diesen Verdacht hatte ich schon immer, da ich wiederholt erleben durfte, dass nur die wirklich geborgenen Führungskräfte auch gelassen und ausgewogen, aber bestimmt zu handeln vermögen. Muss ich also die Klärungen erst in meinem persönlichen Leben suchen, bevor ich mich professionell besser aufstellen kann? Dies, glaube ich, ist so. Aus diesem Grunde habe ich in den letzten Wochen zum wiederholten Male genauer über meine eigenen tiefen Tendenzen nachgedacht und dabei auch das eine oder andere neu durchspürt. Dies ist das „endlich einmal sich selbst leben“, von dem Seneca – mein ständiger Begleiter in diesen Wochen – spricht (Seneca 2006, S. 15). Es fällt mir nicht ganz leicht, dir mitzuteilen, was mir dabei begegnet ist, ist es doch einfacher, über die Fallstricke der beruflichen Kommunikation zu diskutieren als über die Abgründe des Privaten, wie er in „Familienkriegen“ (Moser 1985) zutage tritt. Dort werden die tieferen Schichten der Verletzbarkeit gnadenlos offengelegt, und man spürt, dass hier Versäumtes
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und Versagtes eine unheilvolle Allianz eingehen. Wer die Geborgenheit und das liebevolle Zusammensein nicht als Erfahrungsmuster in sich trägt, der versagt sich dieses auf subtilste Weise in seinem eigenen Leben. Er lebt ein „Ja, aber!“, das ihn in vielen Kontexten, privaten wie beruflichen, eher abgebremst kommunizieren lässt. Es ist, als würde er einen letzten Schritt nicht gehen wollen oder können. So ist dies z. B. bei mir, lieber Karl. Sicherlich, man respektiert mich im Beruf, und auch meine Frau hatte mir nicht wirklich etwas vorzuwerfen, doch stelle ich letztlich keinen echten Kontakt zum Gegenüber her – wenn du verstehst, was ich meine. Dieses bleibt mir irgendwie fremd. Das Menschliche bleibt mir fremd, wenn ich ehrlich bin. In Kommunikationsbezügen funktioniere ich recht erfolgreich, aber letztlich würde kaum jemand freiwillig mit mir kommunizieren. Dies habe ich immer wieder schmerzlich gespürt, und ich glaube, auch Lilli hat irgendwie darunter gelitten. Wir verhüllen uns vor uns selbst in schönen Gewändern, von denen der Mantel der „strahlenden Herrlichkeit“ nur das Vornehmste ist, das uns hilft zu verbergen, „wie viel verborgenen Kümmernissen sie als Deckmantel diente“ (Seneca 2006, S. 16). Wie du siehst, lamentiere ich nicht, zumindest nicht mehr, über das Unglück, das mir widerfahren ist, sondern habe begonnen zu untersuchen, warum ich in dieser innerlich abgebremsten Weise zu kommunizieren gewohnt bin und mich bevorzugt in schönen Gewändern präsentiere. Woher kommen diese Gewohnheiten? Und was würde geschehen, wenn ich mir erlauben würde, diese Gewohnheiten abzulegen? Würde ich dann glücklicher und erfüllter sein? Wäre ich dann für die anderen sichtbarer, und könnten sie sich mir wirklich zuwenden, statt mich nur zu respektieren? Ja, ich glaube das ist ganz treffend beschrieben: „Man respektiert mich, aber man wendet sich mir sonst nicht wirklich zu!“ Ist dies mal anders, dann sind die Beziehungen, die sich ergeben, recht anstrengend und auch nicht wirklich dauerhaft. Und auf eine mir noch nicht deutliche Weise hängt das eine mit dem anderen zusammen: Beruflicher Erfolg schafft Distanz. „Führungskräfte sind einsam“, sagte mein erster Chef einmal zu mir. Mittlerweile beginne ich allerdings zu verstehen, dass diese Einsamkeit nicht eine Folge, sondern gewissermaßen eine Voraussetzung für den Erfolg im Beruf zu sein scheint. Wer einsam ist, lebt beziehungsloser als andere. Er tritt nur über sachliche Aufgaben mit seinem Umfeld in Kontakt. Und dieses versachlichte In-Beziehung-Treten vermag keine wirklich tragenden Beziehungen zu stiften, sondern lediglich Pseudobeziehungen, die in dem Moment zerbrechen, in dem die sachliche Funktion (als Vorgesetzter oder Kollege) endet. Manchmal denke ich, Führungskräfte sind doch häufig Menschen, die voll innerer Verzweiflung einen Weg zum Du suchen, der sich ihnen immer und immer wieder als Holzweg darstellt. Sie haben irgendwie gelernt, dass In-Beziehung-Treten eine angestrengte
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Aktivität ist, deshalb wirken sie auf uns oft angestrengt und verbissen. „Verbissenheit“ ist aber nur der Ausdruck einer inneren „Verbittertheit“, wie mir scheint. Wenn diese Vermutung stimmt, dann ist, was mich betrifft, die Frage, wo meine eigene Beziehungslosigkeit und Verbittertheit ihren Ursprung haben. In dem Buch „Männer und emotionale Kompetenz“ von Allan Guggenbühl und Wolfgang Müller-Commichau (2006) las ich, wie die Empfehlungen „an den emotional kompetenten Mann“ lauten könnten:
„Sei den Kindern eine körperlich ebenso wie gedanklich und mit den Gefühlen präsente Bezugsperson! Vermeide es, in übermenschlicher Größe zu verharren, wenn du es mit deiner Familie zu tun hast! Versuche stattdessen, wo immer möglich, auf Augenhöhe mit den Kindern zu kommunizieren! Sei ihnen das männliche Gegenüber, an dem sie reifen und sich entwickeln können! Lass dich empathisch auf die Kinder ein! Lerne von ihnen! Lass dich empathisch auf die Partnerin ein! Lerne von ihr! Sei deiner Partnerin ein Partner, der die Unterschiedlichkeit der Geschlechter selbstbewusst und sensibel gleichermaßen lebt“ [ebd., S. 108]. Wenn ich diese Empfehlungen lese, dann spüre ich nicht nur meine eigenen inneren Begrenzungen ganz deutlich, ich erkenne vielmehr auch, dass die emotionale Inkompetenz nicht mit irgendwelchen Tools überspielt werden kann. Diese wirken aufgesetzt, wenn sie nicht mit einer echten Hinbewegung auf das Gegenüber verbunden sind. Und genau diese innere Hinbewegung ist es, die mir nicht gelingen will. Verstehe mich bitte recht: Ich finde die Tools, die wir in unserem Briefwechsel bislang entwickelt haben, wirklich hilfreich. Sie führen einen zu einem Als-ob-Handeln, d. h. man kann ausprobieren, wie es sich anfühlt, in anderer als der gewohnten Weise mit bestimmten Situationen umzugehen. Und dies kann eine ganz entscheidende Erfahrung sein. Gleichwohl muss das erprobte Handeln „habitualisiert“ werden, wie du uns früher in deinen Vorlesungen
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beigebracht hast. Doch Habitualisierung bedeutet, dass man das Neue in das eigene Verhaltensrepertoire nachhaltig zu integrieren vermag und zur Routine werden lässt. Dies wiederum gelingt mir nur, wenn ich mich auch in meinen tieferen Schichten neu – z. B. gelassener – zu formieren vermag. Hier hänge ich oft fest: Ich weiß, dass es jetzt angemessener wäre, nicht unmittelbar zu reagieren, doch drängt mich eine tiefe Tendenz in mir, doch zu reagieren, denn ich spüre mich dann in dieser unwirksamen, aber vertrauten Reaktion. Im Impulsiven komme ich zum Ausdruck. Deshalb müsste ich mich gewissermaßen neu erfinden, wenn aus dem Training mit den Tools wirkliche Habitualisierungen bzw. Routinen entstehen sollen. Du kennst sicherlich diese innere Grenze, die man nur ganz persönlich überwinden kann. Man braucht eine andere Substanz, sich zu spüren – eine Substanz, die sich nicht aus der Beziehung zu einem Gegenüber speist, wenn du verstehst, was ich meine. Denn genauer vermag ich dieses Paradoxon (noch) nicht auszudrücken, welches darin liegt, dass man nur besonnener reagieren kann, wenn die Reaktion aus einer eigenen inneren Substanz heraus erfolgt und nicht der Entgegnung auf ein Gegenüber. Lass mich meine Vermutung folgendermaßen fassen: Man braucht das Eigene, um eine echte Hinwendung zu einem Du leben zu können, und ich habe innerlich weder das eine noch das andere verfügbar. Was die Hinwendung anbelangt, so ist es so, dass sie mich nicht wirklich zu interessieren scheint, während ich doch zugleich im Grunde meines Herzens einsam bin und mich ungeborgen und alleine fühle. Manchmal denke ich, dass es da für mich auch keinen Weg zurück ins Leben gibt, da ich auch über die Substanz, um die es in menschlichen Beziehungen geht, nicht verfüge. Sie ist mir einfach nur fremd, und ich weiß auch nicht, ob und wie ich dieses Defizit durch eigene Bemühungen ausgleichen kann. Fast scheint es so, als hätte ich selbst die fraglose und wirkliche Beziehung nie erlebt. Deshalb sage ich auch selbst nicht wirklich „Ja“ zu meinem Gegenüber, sondern allenfalls ein „Ja, aber“, mit dem ich mich sogleich wieder aus der Bezogenheit auf den anderen ein Stück weit zurückziehe – eine Bewegung, wie in der Echternacher Springprozession, die sich, wie du vielleicht weißt, in der Schrittfolge „zwei vor, eins zurück“ bewegt. Auf diesem Wege schreitet man irgendwie schon vorwärts, aber man schreitet nicht aus. Die Fortbewegung hat etwas Abgebremstes, und die Dynamik eines bejahenden Draufloslebens ist nur als eine vage Vorstellung präsent. Wenn es eine Lektion gibt, die ich aus diesen Überlegungen abzuleiten vermag, dann lautet diese:
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Lektion 12: Der Weg zu einem erfüllten Leben beginnt mit der Unterscheidung zwischen Bedürfnisorientierung und Bedürftigkeit. Erst wenn ich mich dem Gegenüber wirklich zuwende und seine Bedürfnisse in den Blick nehme, trete ich in Beziehung. Und dies gelingt mir gleichzeitig nur, wenn ich meine eigene Bedürftigkeit kenne und auch verstehe, wie diese mir den Blick auf das Gegenüber immer und immer wieder verstellt.
Die eigene Bedürftigkeit hat viel mit der früh erlebten Geborgenheit oder Ungeborgenheit zu tun. Es ist fast so, als würde man da einer Geste oder einer Äußerung nachlaufen, die versäumt wurde. Diesem Versäumnis muss man auf die Spur kommen. Dies ist schwierig, weil Versäumnisse nicht gerne erinnert oder gar überliefert werden. Das Versäumte muss richtiggehend hinter den Bildern von der „heilen Kindheit“ hervorgezerrt werden. Und dieses Hervorzerren will mir kaum gelingen; zu erdrückend ist wohl die Bannbotschaft meiner Eltern „Wir haben doch nur dein Bestes gewollt“. Diese Botschaft verbaut uns den Weg zu unserem authentischen Anfangsgefühl, welches die Wurzel unseres wahren Selbst ist. Wir bleiben dann in einem Aber hängen, wo es doch um ein Ja ginge, wenn du verstehst, was ich meine. Die Bedeutung eines bejahenden Kontextserlebens für die Entfaltung der eigenen Kräfte wird noch zu wenig gesehen und wertgeschätzt, und auch Eltern empfinden solche Suchen häufig als Angriff und Verdächtigung, wo es doch in Wahrheit darum geht, nüchtern zu erkennen, was früh auf uns gewirkt hat – vielleicht auch weil es bereits früh auf unsere Eltern gewirkt hat? Früher habe ich solche Überlegungen für recht psychologisierend gehalten, und ich konnte mit den Mutmaßungen über den eigenen frühen Beginn, mit denen unsere Denk- und Gefühlsprogramme zu Werke gingen, nichts anfangen. Erst die Lektüre des Buches von Alice Miller „Das Drama des begabten Kindes“, das sie 1997 in einer Neufassung vorgelegt hat, hat mir zur Suche nach dem wahren Selbst einen Zugang eröffnet (Miller 1997). Es geht Alice Miller überhaupt nicht um Psychologisierung, sondern um das Aufdecken der emotionalen Spuren in unserer Art die Welt zu fühlen, die dereinst eine Funktion hatten, heute aber immer noch in uns wirken und uns von dem abschneiden, was unsere wahren Bedürfnisse sind. So „ereifere“ ich mich über bestimmte Situationen, die mir begegnen, in einer Art und Weise, die ich – bei nüchterner Betrachtung – nicht verstehe. Woher kommt diese Entschiedenheit? Was verteidige ich in Wahrheit, wenn ich mich einem Gegenüber verschließe? Wo und warum habe ich gelernt, mich in dieser Weise vom Lebendigen abzukapseln und innerlich immer und immer wieder alleine zu bleiben? Alice Miller schreibt:
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„Die meisten Menschen (...) wollen nichts von ihrer Geschichte wissen und wissen daher auch nicht, dass sie im Grunde ständig von ihr bestimmt werden, weil sie in ihrer unaufgelösten, verdrängten Kindheitssituation leben. Sie wissen nicht, dass sie Gefahren fürchten und umgehen, die einst reale Gefahren waren, aber es seit langem nicht mehr sind. Sie werden von unbewussten Erinnerungen sowie von verdrängten Gefühlen und Bedürfnissen getrieben, die oft beinahe alles, was sie tun und lassen, in pervertierter Weise bestimmen, solange sie unbewusst und ungeklärt bleiben“ [ebd., S. 12]. Wenn ich solche Gedanken lese, können sie zunächst nicht wirklich zu mir vordringen. Es gibt nämlich keine Erinnerung an Kindheitssituationen in mir – außer an solche, die immer wieder im Familienkreis erzählt und zu einem festen Bestandteil der geteilten bzw. mitgeteilten Erinnerung geworden sind. Muss ich wirklich die frühesten Erinnerungen und Situationen ausgraben, um zu dem Zeitpunkt zurückzukommen, zu dem mir irgendein authentisches Lebensgefühl abhandengekommen ist? Ist es das, worum es geht? Oder gilt nicht auch für solche Spuren der Lebendigkeit im eigenen Selbst das, was ich gestern in einer schönen Formulierung bei Pascal Mercier festgestellt fand, der seine Romanfigur sich erinnern lässt, dass es in seinem Leben eine plötzliche Gewissheit von „Sinn“ geben konnte, wobei es sich um einen Sinn handelte, „(...) den man nicht benennen konnte, im Gegenteil, es gehörte zu diesem Sinn, dass man ihm nicht Gewalt antun durfte, indem man versuchte, ihn in Worte zu fassen“ (Mercier 2006, S. 80f). Dies bedeutet doch, dass es vielleicht nur darum gehen kann, den Gefühlseinfärbungen nachzuspüren, aus denen sich unsere subjektive Gewissheit zusammenzusetzen begann, als wir unsere ersten Begegnungen im Leben hatten und uns in unserer Wirksamkeit oder Unwirksamkeit zu spüren begannen. Zu diesen Gefühlseinfärbungen gehören auch die „einst realen Gefahren“, von denen Alice Miller spricht. Für das kleine Kind, das lernt, seine ersten InnenAußen-Differenzen zu bilden, ist wohl beides „gefährlich“: die völlige Resonanzlosigkeit ebenso wie Ablehnung und Verneinung. Das authentische Lebensgefühl bildet sich nur in einer Art Schaukelbewegung zwischen Bejahung und Verneinung heraus. Diese Schaukelbewegung bedeutet Beziehung und Auseinandersetzung. Für beides benötigt man ein Gegenüber. Beziehungslos bleibt man, wenn man weder ein „Ja“ noch ein „Nein“ zu hören bekommt oder allenfalls mit einem „Ja, aber“ konfrontiert wird. Oft frage ich mich, wie dies bei mir gewesen ist, und – selbst, wenn ich es nicht richtig belegen kann – scheint es mir so zu sein, dass es eine „Ja, aber“-Stimmung gewesen ist, in der ich gelernt habe, mich in der Welt zu spüren. Diese Stimmung ist jedoch eine Stimmung der Unlebendigkeit und des Todes – eine Diagnose, die dich hoffentlich nicht erschreckt. Für mich ist es seit einigen Tagen ein sicheres Gefühl, dass dieses
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„Ja,aber“ Ausdruck einer zumindest uneindeutigen Beziehung zum Lebendigen ist. Der italienische Psychologe Salvador Minuchin, dessen Bücher mir bei meiner Suche begegnet sind, hat einen Text zu dieser Technik des „Ja, aber...“ geschrieben und darin gezeigt, dass diese Technik Ausdruck eines wirklich grundlegenden Abwehrverhaltens ist, welchem in Wahrheit die Abwehr des authentischen Lebensgefühls zugrunde liegt (Minuchin 1997, S. 189-216). Und in einem Buch über Leadership las ich über den „Abschied vom Entweder-oderDenken“: „Wer das Seil des Tauziehens zu einer Schlaufe verknüpft, hat den Beginn vom „Ja und…!“ und die Chance zur kollektiven Intelligenz verstanden. Polarisiertes Denken erfasst keine dynamische Komplexität“ [Schley/Schratz 2007, o. S.]. Auch ich wehre das Leben irgendwie ab, obgleich ich Verantwortlichkeit und Zugewandtheit erlebt habe, selbst wenn letztere stets mit einer Restdistanz gegenüber dem anderen verbunden blieb, die Gefühle der Fremdheit und des Nicht-Dazugehörens auslöste. Diese Überlegungen haben etwas mit dem inneren Fundament zu tun, auf dem man steht. Sie verweisen uns auf die Quelle der Substanz, die unser Streben und Wirken ausmacht. Diese Substanz haben keineswegs alle Menschen; viele betäuben sich durch geschäftigen Termindruck und beziehungslose Vielfalt. Sie hetzen durchs Leben und fühlen sich aufgehoben, wo sie doch in Wahrheit bloß extrem abgelenkt leben. Wenn diese Ablenkung zusammenbricht, wissen sie nicht mehr wozu sie leben, und es brechen Gefühle der Langeweile und des Ekels in ihnen auf. Hiervor kann uns nur bewahren, wenn wir aus einer tieferen Substanz heraus zu leben vermögen und nicht aus Abgelenktheit. Und diese tiefere Substanz wird uns durch Beziehung gestiftet, in denen wir die Bedürfnisse des anderen wahrnehmen und zugleich die volle Verantwortung für uns selbst und unser Leben übernehmen, wie uns dies Erich Fromm immer und immer wieder gelehrt hat. Er setzt dem Ekel das Lebensgefühl der Integrität gegenüber. Eine meiner Lieblingsstellen in seinem Werk lautet: „Liebe ist die aktive Fürsorge für das Leben und das Wachsen dessen, was wir lieben“ [Fromm 1973, S. 46]. Die Konsequenzen dieses Satzes sind grundlegend. Er bedeutet, lieber Karl, dass wir uns nicht am Gegenüber, sondern an unserer „Fürsorge für das Leben und Wachsen“ dieses Gegenübers orientieren. Und dies kann nur gelingen, wenn wir
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diese Fürsorge wirklich in uns tragen und es nicht um die bloße rhetorische Verkleidung eines eigenen Bedürfnisses geht. Mein Eindruck ist, dass es diese Unterscheidung zwischen Fürsorge und eigener Bedürftigkeit ist, die den meisten Menschen misslingt. Sie halten das für Liebe, was in Wahrheit einem zutiefst ichbezogenen Anliegen entspringt. Gleichzeitig ist ihnen diese eigene Motivlage nicht wirklich zugänglich, da sie in keinem reflektierenden Bezug zu sich selbst stehen. Aus diesem Grunde – so die Einsichten von Erich Fromm und anderen Vertretern einer Humanistischen Psychologie – ist der Ausgangspunkt aller Reifung die Liebe zu sich selbst. Dies ist ein ungewöhnlicher Gedanke – auch und gerade für Führungskräfte, wie du sicherlich auch aus eigener Erfahrung weißt. Wie kann jemand, der für seine Entscheidungsfreude und Umsetzungsstärke bezahlt wird, für diese Frage nach der Liebe zu sich selbst aufgeschlossen werden? Für mich hat sich dies lange Zeit nach einer völlig abwegigen, eher weichlichen Perspektive angefühlt, und es hat einige Mühen gekostet, diesen zunächst nicht naheliegenden Gedanken zu verstehen. Die Mühen sind das Leiden und Verabschieden gewesen, mit dem ich die letzten Monate und Jahre konfrontiert gewesen bin. Erst indem ich lernen musste, dass sich mein vertrautes Leben von mir abwendet und ohne Trost zurücklässt, musste ich schmerzhaft lernen, aus einer anderen Substanz heraus zu leben. Diese Substanz, so wurde mir immer klarer, kann nur aus mir selbst heraus entstehen. Sie wohnt gewissermaßen bereits in mir, und ich muss sie – endlich – spüren und zur Entfaltung bringen. Zugegeben, diese Gedanken sind noch undeutlich, doch vielleicht kannst du mir helfen herauszufinden, ob ich mit ihnen nicht vielleicht doch eine Richtung zu beschreiben versuche, die nicht nur für mich einen Weg zur lebendigen Kraft zu eröffnen vermag. Diese Kraft, die ich in bestimmten Momenten bereits deutlich spüre, hat etwas Illusionsloses. Sie speist sich nicht aus Entwürfen (z. B. einem proaktivem Ich), Erwartungen oder Träumen, sondern aus der achtsamen und deutlich durchspürten Tatsache, dass ich so, wie ich mich spüre, existiere – im Hier und Jetzt. Diesen Sachverhalt akzeptiere ich nicht nur bewusst – schon dieses ist eine hilfreiche Übung, setzt sie doch voraus, ein wirkliches „Ja“ zum Leben zu sagen –, ich habe auch begonnen, aufmerksam darauf zu achten, was aus diesem „Ja“ alles entstehen kann. Hierzu beschreibe ich mich immer wieder neu mit meinen Eigenarten, Talenten, Schwächen, Liebenswürdigkeiten – und ich habe begonnen, diese Fülle als Ausdruck meiner Lebendigkeit wirklich zu lieben. Diese „Liebe zu sich selbst“ (Erich Fromm) ist die zweite wesentliche Entscheidung, die bewusst zu treffen ist, zumindest hat es mir geholfen, diese „Fragen auf dem Weg zur Lebendigkeit“ (Tool N) besonnen für mich zu klären. Du glaubst gar nicht, mit wie vielen „Ja, aber...“ ich mich dabei auseinandersetzen musste. Doch es hilft nichts: Wir müssen – dies ist die entscheidende Lektion –
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das „aber...“ zunächst in unserer eigenen Lebensbejahung ausräumen, bevor wir auch zu anderen und anderem ein klares „Ja“ sprechen können. Insofern hat Erich Fromm Recht, wenn er immer wieder darauf hinweist, dass die Selbstliebe – er meint die Selbstbejahung – der zugewandten Liebe notwendig vorausgesetzt ist. In einer kleinen Anthologie mit dem schönen Titel „Was anzieht, ist immer das Lebendige“ (Fromm 2000) las ich gestern: „Es gibt nichts Anziehenderes als einen Menschen, der liebt und dem man anmerkt, dass er nicht nur irgendetwas oder irgendwen, sondern das Leben liebt“ [ebd., S. 9]. Ja, darum geht es, denke ich. Und es ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit, die in diesen Überlegungen zum Ausdruck kommt, es ist vielmehr eine Einsicht, die uns durch unsere Biographie und die in ihr erworbene Art, uns selbst und das Leben zu spüren, vielfach verstellt ist. Zumindest ich habe den Kontakt zu dieser einfachen Wahrheit verloren und wohl viele Jahre aus einer falschen Substanz heraus gelebt. Jetzt habe ich bei Null neu begonnen. Dabei hilft mir der Zugang zu dem, was die Psychologen das „innere Kind“ nennen. Dieses steht für die Summe der ursprünglich in uns angelegten Lebensenergie, die teilweise durch die Anforderungen und Ansprüche, denen wir ausgesetzt gewesen sind, blockiert oder unterdrückt worden ist. In ihrem „Arbeitsbuch zur Aussöhnung mit dem inneren Kind“ haben Erika J. Chopich und Margaret Paul (vgl. Chopich/Paul 1999) sich mit dem „Inner Bounding“ auseinandergesetzt und auch konkrete Hinweise darauf erarbeitet, wie dieses, wenn es versäumt wurde oder verloren gegangen ist, durch eigenes Reflektieren, Spüren und Lernen wiedergewonnen werden kann (Tool O). Sie schreiben: „Unser Alleinsein und unsere Einsamkeit kommen von der inneren Abgetrenntheit unseres inneren Erwachsenen von unserem inneren Kind. (...) Im Inner Bounding geht es im Wesentlichen darum zu verstehen, was unser inneres Kind braucht, um sich von uns geliebt zu fühlen“ [ebd., S. 13 u. 14]. Damit nimmt die Inner-Bounding-Theorie das Augenmerk vom Gegenüber weg und lenkt es auf das denkend und fühlend leidende Subjekt. Dieses soll Verantwortung übernehmen, indem es lernt zu fühlen und zu verstehen, „wie wir unseren Schmerz erschaffen“ (ebd., S. 13). Erst indem ich das verstehe, kann ich auch den Trost organisieren, wobei die Konzeption zum Trost einen ganz anderen Zugang eröffnet: Es ist das Subjekt selbst, welches lernen soll, sich selbst zu
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trösten: Dafür muss das erwachsene Ich gewissermaßen mit seinem kindlichen Ich in Verbindung treten, so als handele es sich um zwei Personen, die in einem wirksam sind. Und so ist es ja wohl auch. Der Schmerz und das ziehende Gefühl sind stets alt, sie sind kindliche Verletzungen, die ungesehen und ungetröstet in uns lauern – eine für so manches „gestandene Mannsbild“ wie mich zunächst skurrile Vorstellung. Indem ich aber – zunächst spielerisch, dann zunehmend ernsthaft bemüht – mit dem Kind, welches ich eins gewesen bin, in Kontakt komme, gewinne ich auch einen Zugang zu den aus dieser frühen Zeit herüberragenden Denk- und Gefühlprogrammen. Und der Clou der Inner-BoundingTheorie besteht nun darin, durch das imaginative In-Beziehung-Treten mit der eigenen Kindlichkeit die Tröstung gewissermaßen selbst zu vollbringen, weil ja kein anderer mehr zuständig ist. Lektion 13: Der Weg zu einer neuen Lebendigkeit führt über das In-Beziehung-Treten mit unserem Inneren Kind. Dies bedeutet, dass wir uns in unserer Unvollkommenheit und Bedürftigkeit zu sehen lernen und beginnen, uns dieser Seite in uns verstehend und liebend zuzuwenden. Erst, wenn uns dies gelungen ist, können wir uns auch einem Gegenüber weniger streng und Recht habend, sondern prinzipiell wertschätzend und annehmend zuwenden. Denn: Was wir im anderen ablehnen, lehnen wir meistens in uns ab.
So viel für heute Gruß Bernhard
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Brief 8: Die Suche nach dem persönlichen Referenzpunkt
In diesem Brief greift Karl noch einmal das Thema Abschied und Loslassen auf. Dieses steht nach seinem Eindruck immer noch einer wirklichen Neuorientierung von Bernhard im Wege. Er zeigt, dass wir nur dann zu einem neuen Referenzpunkt für unser Leben gelangen können, wenn wir die erfolgten Veränderungen und Verluste innerlich angenommen, die notwendigen Abschiede mit all ihren Schmerzen wirklich durchlebt und das Vergangene bewusst hinter uns gelassen haben. Der persönliche Referenzpunkt kann dabei nicht losgelöst von unseren Beliefs entwickelt werden. Bei diesen handelt es sich um innerliche Gebote, an denen wir unser Leben ausrichten. Erst, wenn uns diese ganz bewusst geworden sind, können wir auch beginnen, sie zu verändern oder weiter zu entwickeln.
Lieber Bernhard, ich habe lange über deinen Brief nachgedacht, der viele komplexe Zusammenhänge gleichzeitig in den Blick nimmt, und ich bin erstaunt darüber, wie dich dein Nachdenken zu den wirklich grundlegenden Fragen moderner Biographien, aber auch des Lebens generell zu führen scheint. Modern ist das andauernde Sich-Entscheiden-Müssen, aber eben auch Entscheiden-Können. Moderne Biographien sind „riskante Biographien“, und auch deine Biographie ist eine solche: Du stehst vor einer grundlegenden Entscheidungssituation, die viele Bereiche deines Lebens berührt, aber diese Entscheidungssituation ist Risiko und Chance, sie fordert die Lösung von Altem, birgt in sich aber auch die Möglichkeit zu Neuem in sich. Zugleich geht es dir mittlerweile um mehr als um ein Coaching im Rahmen einer Krisenbewältigung. Die Fragen, die du aufwirfst, lassen keine nüchterne fachmännische Kommentierung von meiner Seite zu, bin ich doch selbst als Mensch von all deinen Fragen täglich umstellt, und es sind Fragen, auf die auch ich nicht unbedingt die alles lösende Antwort habe; ich weiß nur, dass man sich auch mit Ungewissheit und Gefühlen der Unzufriedenheit arrangieren muss, sie gehören ebenso zum gelebten Leben wie unsere Glücksmomente und die Situationen flirrender Lebendigkeit.
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_8, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Manche deiner Fragen sind von einem so grundlegenden philosophischen Zuschnitt, dass man den Eindruck gewinnt, du wärest von einem faustischen Ehrgeiz getrieben, alles zu erkennen und alles zu erreichen. Natürlich kenne ich solche Situationen aus eigenem Erleben: Wenn alles ins Wanken gerät und nichts mehr von dieser selbstverständlichen Gewissheit zu sein scheint, dann möchte man durch das Verstehen des eigenen In-der-Welt-Seins zu einer neuen, widerspruchsfreien Neuorientierung gelangen. Doch Denken, lieber Bernhard, kann auch traurig und einsam machen und uns immer tiefer in die Abwärtsspirale unbeantwortbarer Fragen und sozialer Isolierung führen. Denn andere Menschen stellen sich deine Fragen nicht in dieser Dichte, und sie möchten sich auch nicht beständig mit solchen Fragen konfrontiert sehen. Hast du auch Freunde und Gesprächspartner, mit denen du über anderes sprechen kannst, oder dreht sich dein innerer und äußerer Dialog nur um diese Fragen? Wenn dem so sein sollte, dann empfehle ich dir dringend, dir solche Aus-Zeiten, in denen anderes im Vordergrund stehen darf, zu organisieren. Mit den inneren Klärungen ist es nämlich nach meiner Erfahrung so: Man kommt besser mit ihnen voran, wenn sich nicht alles nur um sie dreht. Klärungsphasen sind nur dann wirklich klärend, wenn es keine Fulltime-Reflexionen sind und anderes noch Platz haben darf. Das Leben besteht aus mehr unbeantworteten als beantworteten Fragen – wusstest du dies nicht? –, und bisweilen lenkt einen die intellektuelle Suche auch von den eigentlichen Fragen ab und lässt einen den anderen fremd werden. Deine Suche zeigt mir deutlich, dass du darum ringst, den Referenzpunkt für dein Leben neu – und bevorzugt durch Denken – zu bestimmen. Aber kann man seinen Referenzpunkt durch Abwägen und Begründen allein entscheiden, habe ich mich gefragt? Leben wir nicht auch in der gefühlten Gewissheit dessen, was das Leben aus uns gemacht hat? Ist das Leben nicht ein Prozess, der uns immer stärker festlegt und in dem wir uns immer stärker festlegen? Und müssen wir nicht gerade in Krisen nicht nur nach der notwendigen Neuorientierung, sondern auch nach der Fortschreibung des Bisherigen suchen? Und müssen wir nicht auch darauf gefasst sein, dass uns unsere Gewissheiten immer mal wieder ins Wanken geraten, und uns deshalb davor hüten, dass uns alles zwischen den Fingern zerrinnt? Pascal Mercier beschreibt in seinem Roman Lea, wie die dann einsetzende „Suche nach der damaligen Sicherheit“ auch mit dem Gefühl verbunden ist, „die jetzige Erschütterung bringe auch alles Frühere zum Einsturz, die Dominosteine der Vergangenheit fielen um, einer nach dem anderen, alles war Täuschung gewesen, nicht Lüge, aber Täuschung“ (Mercier 2007, S. 43). Aber an anderer Stelle fragt er sich auch: „Kann man wissen, wie es früher war, wissend, wie es später kam? Kann man es wirklich wissen? Oder ist, was man bekommt, das Spätere, betäubt durch den krampfhaften Gedanken, es sei das Frühere?“ (ebd., S. 103)
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Sicherlich, wenn man alles in Frage gestellt hat, dann ist man auch schnell so eingestellt, dass man radikal nachfragt. Aber wer zu einseitig fragt, der droht, die fünf Aspekte seines Ichs aus dem Blick zu verlieren, auf die du mich doch selbst hingewiesen hast (Tool B). Wir bestehen nicht nur aus proaktiven Möglichkeiten, sondern auch aus persönlicher Vergangenheit, kulturellem Eingebundensein und körperlichen Begrenztheiten, weshalb wir uns nicht immer wieder neu erfinden können. Wir sind festgelegt, und je älter wir geworden sind, desto weniger leicht ist es, nochmals mit unseren Identitätsentwürfen von vorne – neu – zu beginnen. Es steht nicht mehr alles zur Wahl, aber sehr viel auf dem Spiel. Die entscheidende Frage ist deshalb, wie bewusst wir mit diesem Festgelegtsein umgehen und welche Festgelegtheiten wir zu akzeptieren vermögen. Man muss sich zu dem, was uns das Leben beschert hat, auch entscheiden können, sonst lebt man in einer inneren Verzweiflung, die einem keine realistischen Horizonte mehr zugänglich zu machen vermag. In welche der für dich gewandelten Gegebenheiten hast du wirklich eingewilligt? Diese Einwilligung ist das Erste und Grundlegende, um in eine neue Balance zu gelangen. Wir müssen die Dinge abgeschlossen haben, bevor wir voller Kraft weiter marschieren können. Erst, wenn wir in tiefster Seele in das, was unser Leben geworden ist, auch eingewilligt haben, sind wir in der Lage, unseren Referenzpunkt zu erspüren. Der persönliche Referenzpunkt ist nämlich der Gewissheitspunkt, aus dem alle Kraft strömt. Wir erreichen ihn nicht durch entschlossenes Nachgrübeln oder gar, indem wir uns von einem Schmerz weggrübeln. Er ergibt sich uns vielmehr aus dem aufrechten Durchschreiten des Schmerzes und einer demutsvollen Haltung gegenüber dem Leben, nicht aus einer aufbäumenden oder gar verdrängenden Bewegung heraus. Man kann nicht bedingt „Ja“ sagen zum Leben, und der persönliche Referenzpunkt setzt ein „Ja“ voraus, kein „Ja, aber“, wie du selbst schreibst. Deshalb habe ich den Eindruck, dass du zunächst eine andere innere Arbeit erledigen musst, bevor du wieder Kurs aufnehmen kannst. Dies ist die Arbeit des Abschiednehmens von den bisherigen Entwürfen deines Lebens und des Akzeptierens dessen, was geworden ist. Man kann nicht unterm Mantel die Bilder der Vergangenheit in die Zukunft hinein schmuggeln, wenn sich aus dieser wirklich eine neue Kraft und Entschlossenheit ergeben soll. „Loslassen“ und „Akzeptieren“ ist die Empfehlung, die ich dir gebe, und ich schicke dir anbei auch eine Übung, mit deren Hilfe ich oft und erfolgreich in meinen Coachings gearbeitet habe (Tool P). Dabei ist wichtig: Loslassen und Akzeptieren setzt voraus, dass man auch bewusst den Schmerz durch die Verluste, die einem das Leben beschert hat, gegangen ist. Wenn man dies versäumt, so weiß ich aus eigener leidvoller Erfahrung, melden sich die übergangenen Schmerzen wieder – in Tagträumen, plötzlicher Schwere oder in einer Uneigentlichkeit des Lebensgefühls.
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Dies alles sind Indizien dafür, dass man nicht in einem neuen Leben ankommen kann, wenn man nicht wirklich losgelaufen ist. Und der Aufbruch beginnt immer mit einem Abschied, die Abschiede sind unsere ersten Schritte auf dem Weg in unsere Zukunft. In meinen Coachings habe ich es oft mit Männern zu tun, die sich in ihrer Lebensmitte fragen, ob sie nicht alles falsch gemacht haben. Einige von ihnen werfen dann in der Tat ihr bisheriges Leben fort, um einer Vision hinterherzulaufen, die sich nicht selten schon bald als Illusion erweist. Dann sitzen sie wieder in meiner Beratung und trauern nicht so sehr ihrem bisherigen Leben, das sie aufgegeben haben, als vielmehr der damit auch verlorenen Plausibilität und Geborgenheit hinterher. Hierin kommt übrigens eine typische Verwechslung zum Ausdruck, auf die Robert Bly in seinem Männerbuch „Eisenhans“ hinweist. Wenn wir einmal alles verworfen haben, was sich uns über Jahre aufgebaut und entwickelt hat, dann dürfen wir nicht erwarten, dass die neue Gewissheit, zu der wir gelangen, sich ähnlich vertraut anfühlen wird. Denn Gewissheit hat etwas mit Selbstvertrauen zu tun: ohne Selbstvertrauen keine Gewissheit, ohne Gewissheit aber auch kein Selbstvertrauen! In dem erwähnten Roman schreibt Pascal Mercier: „Ein Leben lang haben wir uns angestrengt, es aufzubauen, zu sichern und zu befestigen, wissend, dass es das kostbarste Gut ist und unverzichtbar für Glück. Plötzlich dann und mit tückischer Lautlosigkeit öffnet sich eine Falltür, wir fallen ins Bodenlose, und alles, was war, wird zur Fata Morgana“ [ebd., S. 44]. In solchen Situationen stellt sich die Frage nach dem persönlichen Referenzpunkt. Dieser ist mehr ein gespürter als ein logisch-argumentativer Punkt. Sicher, man kann ihn umschreiben oder gar in einen Satz oder eine Formel fassen, doch im tiefsten Kern geht es um eine emotionale Stellungnahme zu diesem Satz. Er muss für dich stimmen. Du musst bei seiner Formulierung spüren, dass es diese eine Orientierung ist, in die alles, was dir wichtig ist, zusammenläuft. Oft ist es dabei so, dass der erste Satz, der dir einfällt, nicht der eigentliche Satz ist. Dann musst du weiter zurückgehen. So hatte ich letzthin einen Klienten, mit dem ich die Übung „Auf der Suche nach meinen 10 Geboten“ (Tool Q) durchführte. Zunächst identifizierte er als „Basisgebot“ den Satz „Ich möchte, dass alle in meinem Umfeld sich optimal entfalten können!“ Ein Satz, der sehr selbstlos, biophil (um mit Fromm zu sprechen) und systemisch klang. Erst im Verlauf der Arbeit wurde mehr und mehr deutlich, dass dieser Satz eine Art vorauseilende Werbung um die anderen beinhaltete, dessen heimliche Funktion sich viel eher in dem Satz „Ich habe Angst, deshalb behandele ich euch zuvorkommend
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(„ich komme euch zuvor“), damit ihr keinen Grund habt, mir etwas zu tun!“ zum Ausdruck kommt. Nach einiger Arbeit, in der es darum ging, die Tragfähigkeit des Basisgebotes ganz genau zu durchspüren, formulierte er den Satz „Du musst mit der eigenen Angst den anderen zuvorkommen!“ Lektion 14: Man muss bewusst die Schmerzen, die einem das Leben beschert hat, akzeptieren. Man kann nicht in einem neuen Leben ankommen, wenn man nicht wirklich losgelaufen ist. Und der Aufbruch beginnt immer mit einem Abschied, die Abschiede sind unsere ersten Schritte auf dem Weg in unsere Zukunft.
In unserem Referenzpunkt kommt unser Beliefsystem zum Ausdruck, weshalb es für viele Menschen erhellend ist, sich die Bestandteile dieses Systems einmal wirklich vor Augen zu führen. Unser Referenzsystem ist die Summe der Sätze, bei denen wir ein hohes Maß an Plausibilität und Stimmigkeit spüren: „Ja, das ist meins, in diesen Sätzen spüre ich genau, wie ich bin und was ich wirklich in meinem Leben will!“ So oder ähnlich lautet der Satz hinter diesen Gefühlen. Erst, wenn wir uns in dieser Weise mit den rekonstruierten Geboten unseres Beliefsystems zu identifizieren vermögen, sind wir ihnen wirklich auf der Spur. Dabei zeigt sich, dass man mit der Zeit noch zu weiteren, umfassenderen inneren Geboten vorzustoßen vermag, von denen die zunächst identifizierten bloß Ausdrücke sind. Deshalb ist die Rekonstruktion des eigenen Beliefsystems, welches unser Identitätserleben orientiert, ein längerer Prozess, der in mehrfachen Durchgängen spiralförmig zu immer tiefer liegenden Sphären unseres eigentlichen Selbst vorzustoßen vermag, wenn man diesen Prozess im Blick behält und nicht irgendwann in die bequeme Illusion des „Die-Welt-ist-so-wie-ich-siefühle“ zurückgleitet. Unsere Beliefs prägen unser tägliches Denken, Fühlen und Handeln. Zwar leben wir im Hier und Jetzt, zumindest meinen wir dies. Und wir sind auch zumeist davon überzeugt, dass wir Situationen, die uns tagtäglich begegnen, die uns freuen, aufregen oder ärgern, relativ nüchtern wahrnehmen und mehr oder weniger besonnen darauf reagieren. Doch manchmal spüren wir, dass wir in bestimmten Situationen immer wieder in ähnlicher und für andere bisweilen unverständlicher Form reagieren. Dies sind Situationen, in denen sich unsere Beliefs zu Wort melden und die Emotionen anspringen, in denen diese eingelagert sind. Ist man uns wohlgesonnen, so akzeptiert man dies als eine liebenswerte Eigenart – man wird als schrullig, überempfindlich oder cholerisch angesehen. Anders ist dies allerdings, wenn unsere Reaktionen das Gegenüber bestürzen und vom ihm oder ihr als völlig unangemessen, überzogen oder unverständlich empfunden
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werden. Spätestens bei der dritten oder vierten Wiederholung einer solchen Situation meldet sich doch zaghafter Selbstzweifel, ob hier nicht in uns etwas wirkt, das sich in unser Leben einmischt und uns immer wieder in ähnliche Lagen bringt. Und wir sind dann allmählich bereit, unser Beliefsystem systematischer kennenzulernen, zu reflektieren oder gar zu verändern. Ist dieser Punkt erreicht, dann bietet sich die Chance zu wirklich selbstreflexivem emotionalem Lernen. Als „emotionales Lernen“ kann man ein Lernen bezeichnen, welches die eigene Person mit dem, was sie in Wahrheit treibt, zum Gegenstand hat. Es ist ein Lernen des inneren Weges (vgl. Villon 2003). Man begibt sich zu sich und seinem Leben in eine analysierende Distanz und nimmt eine Art Beobachterposition ein. Dies ist nicht leicht, und es gelingt selten ohne eine professionelle Hilfe, ohne eine Begleitung, die einem – zumindest zu Beginn – hilft, das Vertraute anders und mit verändertem Blick zu betrachten. Aus diesem Grunde, lieber Bernhard, würde ich dir raten, dir auch eine Beratung vor Ort zu organisieren, denn es gibt Schritte im persönlichen Reifungsprozess, die gelingen einem bloß, wenn man unmittelbar in einem Prozess begleitet wird. Die Rekonstruktion und Transformation des Beliefsystems ist ein solcher Schritt. Lektion 15: Die Rekonstruktion unserer Beliefsystems ist ein wesentlicher Schritt auf dem inneren Weg. Indem wir uns dazu entscheiden, uns genauer zu vergegenwärtigen, welche inneren Gebote unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, stärke ich meine Selbstbeobachtungsposition und bin mehr und mehr in der Lage, die Gebote infrage zu stellen oder zu transformieren, die uns an das Vergangene oder Vergehende fesseln. Nur so können wir die Loslösung im Innen schaffen, welche Voraussetzung dafür ist, auch im Außen wirkliche Abschiede und Veränderungen erfolgreich zu gestalten.
Wenn du dich wirklich dafür entscheidest, einen solchen inneren Weg einzuschlagen, triffst du eine Entscheidung. Das altgriechische Wort für „Entscheidung“ ist „Krisis“: Wir sind in der Krise, wenn wir vertraute Bahnen, gewohnte Sichtweisen, Haltungen und Eigenarten zu hinterfragen beginnen. Und wer hinterfragt, hat bereits den ersten Schritt in Richtung Veränderung getan. Er erkennt mehr und mehr die eigenen inneren Mechanismen, mit denen er sich sein Leben und seine Welt konstruiert, und es tun sich ihm bislang ungeahnte Möglichkeiten auf, sich selbst und die Welt anders zu fühlen und zu „konstruieren“. Dies klingt leichter als es ist, hängen doch die vertrauten Gefühle und Gewohnheiten wie ein zäher Klebstoff in uns und verkleben uns – um im Bild zu bleiben – den „klaren“ Blick auf das, was tatsächlich wirkt und ist.
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Wer sich auf einen solchen Weg einlässt, erarbeitet sich auch nach und nach ein anderes Verständnis von dem, was „Wirklichkeit“ ist: Es ist das, was auf unser Bewusstsein wirkt, was wir erkennen und fühlen. Doch dieser Vorgang verläuft nicht eindimensional, etwa vergleichbar dem Belichten einer Filmrolle. Es ist vielmehr so, dass man nur das sieht und fühlt, was man zu erkennen vermag. Es sind unsere Beliefs, aus denen heraus wir auf das reagieren, was auf uns wirkt. Die sogenannte Wirklichkeit ist somit subjektiv konstruiert – zumindest in einem stärkeren Maße, als uns dies in unseren alltäglichen Interaktionen bewusst ist. Dies bedeutet, dass beides, „Erkennen“ und „Fühlen“, aktiv-schaffende Tätigkeiten sind. In ihnen drücken sich die in uns bereits vorhandenen Kategorisierungen und „Wahrnehmungsbereitschaften“ (Hayward 1996, S. 18) aus, weshalb das, was wir erleben, mehr Eigenes als Objektives ist. Einem gründlichen Nachspüren des Zusammenwirkens der inneren und äußeren Aspekte von Erkennen und Fühlen kann nämlich nicht verborgen bleiben, „(...) dass wir die Dinge erst kategorisieren, um sie überhaupt wahrnehmen zu können“ (ebd., S. 19). Und „Wahrnehmungsbereitschaft“ ist in diesem Zusammenhang „(...) die Neigung von Menschen und Tieren, sich auf eine bestimmte Art des Wahrnehmens einzustellen oder bestimmte Wahrnehmungen zu erwarten – und diese Erwartungen bestimmen dann bis zu einem gewissen Grad, was tatsächlich wahrgenommen wird“ [ebd.]. Selbst unsere Abschiede werden durch die in unseren Beliefs angelegten Wahrnehmungsbereitschaften getragen. Diese können wir nur schwer aufgeben, denn sie sind tief in unseren Emotionen verankert. Es sind Emotionen, die unser Ich zusammenhalten. Jeder Verlust ist so auch immer eine Bedrohung unseres Ichs. Dies geschieht, wenn wir lieb gewonnene Menschen verlieren oder Vertrautes aufgeben und verlassen müssen. Dann überschwemmen uns Emotionen, und manchmal haben wir das Gefühl, von ihnen fort getragen zu werden. Diese Emotionen können wir nur schweigend durchspüren, sie zeigen sich uns, wenn wir die schmerzhaften Situationen nochmals in unserer Erinnerung aufrufen und alles zulassen, was sich an Stimmung und enttäuschter Hoffnung in uns ausbreitet. Wir müssen diese innere Bewegtheit in der Regel mehrfach durchspüren, um sie zu überwinden. Nur das Undurchspürte, Übergangene oder gar Verdrängte wirkt aus dem Hintergrund heraus fort. Das, was wir bis zum Grunde unserer Seele durchlitten und von dem wir uns verabschiedet haben, hingegen können wir loslassen und verabschieden. Dies, lieber Bernhard, steht dir noch bevor. du bist nach meinem Eindruck zu schnell wieder unterwegs und zu rasch aufgebro-
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chen. Warum hast du dir keine Zeit für Trauer und Verarbeitung gelassen? Es steht immer noch mehr Inneres als Äußeres an, denn im Äußeren kann – wie du ja weißt – nur sein, was im Inneren sein kann. So viel für heute – Gruß Karl
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Brief 9: „Macht macht nichts!“
In der Art und Weise, wie wir mit der uns zugewachsenen und anvertrauten Macht umgehen, zeigt sich, wer wir sind und wer wir sein können. Es ist dieser Zusammenhang, um den es Bernhard in diesem Brief geht. Dabei beschreibt er die Macht aus der ungewohnten Perspektive des inneren Machtverzichts und skizziert fünf Dimensionen einer systemischen Führungskompetenz. Es geht ihm jedoch nicht nur um die Entwicklung einer weiteren Führungslehre, ihn interessiert – aus drängender Betroffenheit heraus – der subtile Identitätsstoff der Macht. Diesen beschreibt er als flüchtig und eigentlich überhaupt nicht wirklich nahrhaft. Er schildert, wie dieser Stoff einem in den Spannungslagen zwischen Eigenem und Fremdem, Deutendem und Umdeutendem, Zugewandtem und Rücksichtslosem sowie Innerem und Äußerem sozusagen zwischen den Fingern der Hand, die nach der Macht greift, zerrinnt. Es bedarf einer anderen Ausdrucksform, um im Kontakt mit der eigenen Lebendigkeit für sich selbst und damit auch für andere voranzukommen.
Lieber Karl, vielen Dank für deine Zeilen, die mich auch etwas auf den Boden der Realität zurückgeholt haben. Selbstbeobachtung ist anstrengend und macht einsam; dies hatte ich auch bereits zu merken begonnen. Und noch etwas ist mir aufgefallen: Es ist schwer, sich von den Dingen, die man im Außen bereits aufgegeben oder verloren hat, wirklich zu verabschieden. Mir ist mit Hilfe deiner Anregungen und Tools deutlich geworden, dass ich zwar meine Familie und meine innere berufliche Sicherheit und auch Unangefochtenheit verloren habe, aber immer noch so weitermache wie bisher. Es erfordert eine eigene Anstrengung und einige Arbeit, das Innere wirklich auf die veränderten Lagen, in denen man sich wiederfindet, einzustellen – fast möchte ich sagen „einzuschwören“. Ja, das ist und war Arbeit: etwas, das einem nicht leicht „von der Hand“ geht. Als ich mir wirklich nochmals vor Augen führte, was ich in meinem Leben unwiederbringbar verloren habe und welche innere Veränderung mir dies abverlangt, habe ich deutlich gespürt, wie viel Kraft mich dies alles in den letzten Wochen und Monaten gekostet hat: Trotz all der klugen Einsichten, die wir miteinander ausgetauscht haben, war und ist es ein wirklich schweres Stück Arbeit.
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_9, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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In diesem Zusammenhang habe ich auch ein neues inneres Verhältnis zur Macht bzw. zu Machpositionen bekommen – eine für mich überraschende Wirkung unseres Dialogs. Denn zur Macht hatte ich eigentlich keine wirkliche Haltung in meiner Laufbahn entwickelt. Sie wuchs mir im Verlauf meiner beruflichen Entwicklung als Gestaltungschance zu, heute bin ich als Chef und nicht mehr als Mitarbeiter zuständig. Es ging mir – zumindest bewusst – niemals darum, nur das Sagen zu haben, sondern immer um die Möglichkeit, aber auch die Verantwortung, die Projekte so aufzuschienen und zu realisieren, dass sie zum Erfolg führten. Es war meine eigene erfolgreiche berufliche Entwicklung, die mich in eine Situation führte, in der ich mich plötzlich auch für den Erfolg eines Ganzen zuständig sah. Wer Macht hat, der ist in der Lage, andere Menschen zur Befolgung seines Willens zu veranlassen – so ähnlich lautete doch die Definition von Max Weber5, die du uns als Studierende beigebracht hast? Aber ist diese Definition vollständig? Hat Max Weber um die innere Gestalt der Macht, die mir mehr und mehr entgleitet, gewusst? Und hat Max Weber uns genügend Hinweise dazu geliefert, wie die Macht von denen gesehen wird, die sie nicht haben? Macht ist irgendwie auch ein geteiltes Erleben – ein Erleben allerdings von ganz unterschiedlichen Beobachterpositionen aus. In keinem der zahlreichen Managementtrainings, an denen ich selbst teilgenommen habe, sind wir auf diese Systemik der Macht wirklich gezielt vorbereitet worden. Diese Systemik ist durch die Gleichzeitigkeit einer mehrfachen Dynamik gekennzeichnet, in welcher sich Eigenes und Fremdes, Deutendes und Umdeutendes, Zugewandtes und Rücksichtsloses sowie Inneres und Äußeres zu einer eigentümlichen Gemengelage vermischen. „Macht“ als solche gibt es nur als formale Reglements bzw. als die Beschreibung der Zusammenarbeit in einer Sprache, die von allen irgendwie verstanden wird, wenn sie sich auch unterschiedlich daran halten. Zumeist ist es die Sprache der Arbeitsplatz- und Zuständigkeitsbeschreibungen, in der wir die Hierarchie des Miteinanders beschreiben. Diese stellt nur eine vordergründige Eindeutigkeit her. Macht wird aber nur wirksam, wenn sie eine Resonanz zu entfalten vermag. Dies gelingt nur, wenn alle Beteiligten die Komplexität der unterschiedlichen Wirklichkeitsbeschreibungen, die die Selbstbilder und das kooperative Handeln der Menschen bestimmen, so zu „managen“ in der Lage sind, dass eine relativ dauerhafte, erfolgreiche gemeinsame Entwicklung möglich wird, wobei es um Integration, aber auch um Desintegration geht, denn: Wer die Spielregeln nicht akzeptiert, der kann nur selbst mit seiner „Sicht der Dinge“ dominieren, aber nicht kooperieren, was nur so lange „gut“ geht, solange die anderen Beteiligten diese Dominanz, die häufig in einer Unbelehrbarkeit und Rechthaberei zutage tritt, ertragen. 5
Max Weber bezeichnet das Soziale Handeln als ein „sinnhaft motiviertes Handeln“ (Weber 1972, S. 1 ff. und 5 ff.).
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Nach meiner Erfahrung sind es dabei keineswegs immer nur die Chefs, die zur Dominanz neigen, viel verbreiteter ist der Dominanzanspruch bei denen, die ich gerne „die ewigen Zweiten“ nennen möchte. Sie sind oft äußerlich wie innerlich noch nicht an ihre Grenzen gestoßen – zumindest leben sie in dem Bewusstsein, dass ihnen das Leben noch einen weiteren Schritt schuldet, was sie bisweilen rücksichtslos und dominant werden lässt. Sie messen dann die Welt an ihrem inneren Anspruch, ohne dass ihnen dies bewusst ist. Es gibt mehrere Stimmen in mir, die mein Verhältnis zur Macht bestimmen. Da ist die Stimme der Verantwortung für Ziele und Menschen, die leider oft übertönt wird durch eine ganz kindliche Stimme, der es um das Ich-Echo geht („ich spüre mich, wenn andere mir folgen“), oder eine Bedeutsamkeitsstimme, die mir zuruft: „Hast du was, dann bist du was.“ Eine andere Stimme sagt mir – eher leise – „Du bist nicht alleine“ (Beziehungsstimme), wobei sie dies mit wenig Überzeugungskraft sagt. Überzeugender klingt da schon die Stimme, die zu mir sagt: „Dies ist deine Bestimmung“, wobei sie dies wirklich mit viel Kraft und Energie sagt, dabei aber deutlich das Deine betont (Energiestimme). Ganz nahe bei ihr ist eine etwas hektische Stimme, die Aktivitätsstimme, die ruft: „Ich agiere wie verrückt, also bin ich!“, wobei neben ihr eine andere Stimme mit dem Satz ertönt: „Du lenkst nur ab“ (Ablenkungsstimme), jedoch sogleich verstummt und nicht erklärt, was sie eigentlich meint. Wie überhaupt alle nur mit einem Satz zu mir reden, so als würden sie mir Parolen verkünden oder besser gesagt „Paroli bieten“. Es gibt auch noch andere Stimmen in mir, die ich aber noch nicht so deutlich zu vernehmen vermag, da sie von ferne dazwischenrufen. Da ist eine Stimme, die eher flüsternd vor sich hin spricht und sagt: „Wir lassen uns nichts sagen, wir haben selbst das Sagen.“ Es scheint mir, dass diese Stimme weit aus der Vergangenheit zu mir spricht, und wenn ich ganz genau lausche, dann sind es mehrere Stimmen, die dies raunen, wobei ich auch Sätze vernehme, wie „Du lebst nicht umsonst“ (Bestimmungsstimme). Und es ist auch eine Stimme dabei, die sagt „Nur, wenn es nicht um dich geht, bist du wirklich in der Führung“ (Stimme der Weisheit). Es ist diese ganz leise, sonore Stimme, die ich mehr und mehr zu vernehmen vermag. Man kann sie zunächst nicht hören, aber wenn man genau hinhört, dann ist sie es, von der Ruhe und Kraft ausgeht. Sie trägt – wie ein Kontrabass – den vielstimmigen Kanon in mir, wenn du verstehst, was ich meine. In den letzten Tagen habe ich begonnen, mich mit diesen einzelnen Stimmen genauer zu beschäftigen. Ich habe sie eingeladen zu mir nach Hause, auf Stühle gesetzt und sie mir betrachtet. Es ist eine regelrechte Methode dabei entstanden – eine weitere Methode für unsere Sammlung (Tool R). Wer rücksichtslos dominant ist, ist oft – so das Ergebnis meiner langjährigen Beobachtungen in meinem beruflichen Umfeld – in Wahrheit am bedürftigsten. Er ist tief im Inneren am weitesten von einem Zugang zu seinen eigenen Kräften
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und Reifungspotenzialen entfernt. Dies ist eine letztlich tragische innere Situation, versperrt einem doch die Dominanz den Zugang zu genau den Bereichen des eigenen Selbst, aus denen sich die Kraft für eine wirkliche Führungskompetenz ergeben könnte. Man muss seine eigene Begrenzung erkannt und anerkannt haben, um in der Position, die einem das Leben gibt, kooperativ und produktiv handeln zu können. Und diese Begrenzung kann man nur anerkennen, wenn man seine Begrenztheit bzw. die Begrenztheit seines Lebens als solche nicht mehr verdrängt. Wenn Montaigne, auf den ich bereits in meinem ersten Brief zu sprechen kam, schreibt: „Wer Sterben gelernt hat, versteht das Dienen nicht mehr“ (Montaigne 1976, S. 16), dann gilt dies auch für die Ausübung von Macht: „Soll ich mich um den Lauf der Dinge dieser Welt bekümmern?“(ebd., S. 54) – fragt Montaigne, der „Grübler“, wie er sich selbst nennt, denn: „Mit nichts hab´ ich mich in meinem Leben mehr abgegeben als mit dem Nachdenken über den Tod, selbst in meinem ausgelassensten, flüchtigsten Alter“ (ebd., S. 16). Dieser philosophische Gedanke lässt die Versprechungen der Macht oder das, was wir uns von ihr versprechen, in ihrer ganzen Substanzlosigkeit deutlich zutage treten. So zitiert Norbert Bischof aus dem „Buch der moralischen Briefe“ von Seneca: „Darin täuschen wir uns nämlich, dass wir den Tod vor uns sehen: Zu einem großen Teil ist er schon vorbeigegangen. Alles, was von der Lebenszeit hinter uns ist, hat der Tod in Besitz“ [Bischof 2004, S. 27]. Mit geht es ganz ähnlich: Ich beobachte mich, wie ich meine Machtposition ausübe, und bin doch nicht (mehr) wirklich dabei, seit sich die Abschiede in meinem Leben zu häufen begannen. Und doch erscheint mir genau diese Gleichgültigkeit mehr und mehr als die einzig angemessene Haltung gegenüber den Anforderungen, die meine Position mit sich bringt. Erst, wenn man sich ganz von den inneren Anliegen, die einen an äußeren Positionen anhaften lassen, gelöst hat, ist man wirklich in der Lage, den Anliegen der Sache gemäß zu handeln und dazu beizutragen, dass das Lebendige, das einen umgibt, sich produktiv zu entfalten vermag. Dies spüre ich in meinem Verhältnis zur Macht ganz deutlich, und die einzige Schwierigkeit, die ich dabei innerlich erlebe, ist die, dass ich sehe, wie andere meine Motive missverstehen und danach drängen, selbst in die Lücke zu treten – aus „niederen Motiven“, wie ich mir dann beruhigend einrede. „Niedere Motive“ sind solche, die nur der eigenen Bedeutsamkeit und dem persönlichen Narzissmus dienen. Das angeblich „sachlich Notwendige“ lässt sich fast stets als das ihnen selbst, ihrer Aufwertung und Bedeutsamkeit, Dienende entschlüsseln – Bestrebungen, mit denen sie zwar persönlich erfolgreich sein können, der Sache selbst aber nicht in einer Weise dienen, dass die Energien und Kräfte des Lebendigen sich wirklich koevolutiv zu entfalten vermögen.
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Wer in seiner Machposition oder in der Macht, die er anstrebt, nur einen Inszenierungsanlass für eigene unbewusste oder unerledigte Anerkennungsarbeit zu sehen vermag, der verwechselt gewissermaßen beständig die Ebenen, kämpft, wo nichts zu bekämpfen ist, und verfolgt, wo kein Bedrohungsanlass gegeben ist, oder belehrt, wo keine Lernbedarfe vorliegen. Solche Verhaltensweisen beobachte ich sehr häufig in meinem Umfeld. Nach meinem Eindruck lassen sie sich insbesondere bei Führungskräften beobachten, sodass ich bisweilen sogar den Eindruck habe, dass zu Führungspositionen bevorzugt Menschen Zugang finden, um deren eigene Authentizität es keineswegs zum Besten bestellt ist. In diesem Sinne schreibt Kets de Vries: „Das Maß an Ermutigung und Frustration, das Kinder erfahren, während sie sich entwickeln und die Grenzen ihrer Persönlichkeit zu testen beginnen, übt einen dauerhaften Einfluss auf ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie auf die Beziehungen aus, die sie im Laufe ihres späteren Lebens eingehen werden. Jede Unausgewogenheit zwischen ihren Gefühlen der Hilflosigkeit und dem Maß an schützender Fürsorge, das sie von ihren Eltern empfangen, wird als psychische Verletzung empfunden. Unangemessene Frustrationen seitens der Umgebung oder eine unzulängliche Fähigkeit, Regeln zu respektieren, verstärken das natürliche Ohnmachtsgefühl des Kindes, sodass es im Allgemeinen mit Wut, Rachewünschen, mit einem Hunger nach persönlicher Macht und kompensatorischen Omnipotenzphantasien reagieren wird. Diese Dynamik bleibt während des gesamten Lebens erhalten, und wenn sie im Laufe der Entwicklung nicht angemessen bewältigt werden kann, wird sie wahrscheinlich – mit verheerenden Folgen – erneut aktiviert, wenn ein solcher Mensch in Führungspositionen gelangt und das Machtspiel zu spielen lernt“ [Kets de Vries 2004, S. 41]. Eine solche Führungskraft mit einem „unvollständige(n) Selbst“ (ebd.), die letztlich stark aus eigenen inneren Motivebenen heraus in ihrem Verhalten bestimmt ist, kann das systemische Wachstum von Mitarbeitern, Teams oder Organisationen nicht wirklich fördernd begleiten oder gar anleiten. Sie unterliegt beständig einer überwertig verzerrten Wahrnehmung und handelt entsprechend unangemessen. Es werden dann Entscheidungen gefällt, die nicht der Sache dienen, Kooperationen aus einem diffusen Gefühl heraus begonnen oder beendet oder Erfolgskriterien definiert, die letztlich nur der eigenen Selbstüberhöhung dienen. Eine unvollständig in ihrem Selbst erstarkte Führungskraft hat nicht den Erfolg des Ganzen als solchen im Blick, sondern nutzt häufig diesen Erfolg bloß, um eigenen inneren Maßstäben des Identitätserlebens Genüge zu tun. Die Logik ihres Handelns erschließt sich einer äußeren Beobachtung nur begrenzt, man
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muss die „innere Logik“ verstehen, um nachvollziehen zu können, aus welchen Beurteilungen und Bewertungen heraus gehandelt wird. Dieser Mechanismus ist in der Narzissmusforschung vielfältig beschrieben worden. Zudem liegen eine Reihe von Studien vor, welche die prägende Wirkung innerer Notstände von Führungskräften für die Entwicklung und das „Schicksal“ von Institutionen und der in diesen Arbeitenden an zum Teil bizarren Beispielen nachzeichnen. Im Äußeren treten diese inneren Notstände zumeist nur sehr kaschiert zutage. So hatte ich es z. B. letztlich mit einem Kollegen zu tun, mit dessen einsamen Entscheidungen viele in meiner Firma so ihre Schwierigkeiten haben. Als ich ihn darauf ansprach, reagierte er mit Ausführungen, in denen es von Beschreibungen seiner eigenen Bedeutsamkeit (über die Firmengrenzen hinaus) nur so wimmelte. So erinnere ich mich daran, dass er mir plötzlich auszuführen begann, dass in seinem Fachgebiet ständig neue Herausforderungen an ihn herangetragen werden und er jetzt auch im Gespräch sei, in wichtigen internationalen Gremien beratend mitzuwirken. „Weißt du“ – so sagte er mir –, „wenn ich mich so umsehe, gibt es eigentlich keinen, der da noch auf diesem Gebiet so ausgewiesen ist wie ich. Und ich stehe eben jetzt vor der Frage, ob ich diese Herausforderungen annehmen soll oder nicht.“ Was er nicht sagte, aber wohl ausdrücken wollte, war: „Und dann kommt ihr mit diesen kleinen Empfindlichkeiten, die doch gegenüber dem Großen, um das es hier geht, wirklich keine Relevanz haben.“ Dies ist die narzisstische Störung, von der Kets de Vries u. a. sprechen. Hier ist Macht eine Droge für den Einzelnen, die berechtigten Anliegen des Gesamten treten dahinter zurück. In seinem Buch „Narzissmus und Macht“ beschreibt HansJürgen Wirth (2003) die narzisstisch gestörte Persönlichkeit in ihrer ganzen Ambivalenz, wobei er an die bekannten Vorarbeiten von Otto Kernberg (1980) anschließt, über die wir uns bereits in früheren Jahren ausgetauscht hatten (erinnerst du Dich?). Demnach sind narzisstisch gestörte Persönlichkeiten solche Menschen, „(…) deren soziale Beziehungen durch übertriebene Selbstbezogenheit charakterisiert sind und bei denen Grandiosität und Überbewertung ihres eigenen Selbst mit Minderwertigkeitsgefühlen einhergehen. Sie sind in erheblichem Maße von der Bewunderung anderer abhängig und zudem emotional oberflächlich, überdurchschnittlich neidisch, und ihre Beziehungen zu anderen Menschen sind durch Verächtlichkeit und ausbeuterisches Verhalten gekennzeichnet“ [ebd., S. 72].
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Für narzisstisch gestörte Führungskräfte oder – was oft noch schlimmere Folgen hat – solche, die es werden wollen und die ihre Grenzen und Begrenztheiten niemals anerkennen können und deshalb nicht zur Ruhe kommen, ist Macht ein Instrument der eigenen Persönlichkeits-Inszenierung. Aus diesem Grunde ist der Narzissmus das genaue Gegenteil einer systemischen Haltung, wie ich sie zu leben versuche. Eine systemische Haltung ist sich der eigenen Grenzen und Begrenztheiten bewusst und hängt deshalb auch nicht an der Macht. Gerade dann, wenn eine Person so weit ist, dass sie auf sämtliche Machtpositionen verzichten könnte, ist sie zur optimalen Förderung systemischer Lebendigkeit in der Lage. Sie „braucht“ Macht dann nicht länger als eine Art Wachstumshormon für das eigene Well-Being und ist deshalb ganz in der Lage, die eigenen Energien der Emergenz des Lebendigen zu widmen. Wir alle erkennen, ob und inwieweit Führungskräfte bereits wirklich in der Lage sind, aus einer solchen Substanz heraus zu handeln, und oftmals müssen wir aufpassen, dass sie uns nicht entgleiten, denn sie artikulieren ihren eigenen Führungsanspruch selten offensiv. „Ich habe einen klaren Führungsanspruch!“, sagte mir der erwähnte Kollege in dem Gespräch, doch ich konnte überhaupt nicht erkennen, aus welchen Visionen, Zielen, Stilen und systemischer Zugewandtheit dieser Führungsanspruch denn bestehen könnte. Und wenige Minuten später, als es um eine strittige Entscheidung, die er getroffen hatte, ging, bekam ich zu hören: „Lieber gehe ich doch irgendwo Bücher abstauben, als dass ich in einer Firma bleibe, die meine Entscheidungen nicht respektiert!“ Es ist ein Führungsanspruch um seiner selbst willen, durch den die narzisstische Führungskraft in ihrem Denken, Fühlen und Handeln geleitet wird. Es geht ihr um alles oder nichts, und das Nichts kann auch der eigene Tod sein, wie Hans-Jürgen Wirth am Fall eines bekannten Politikers zeigt. Der Missbrauch der Macht als Droge führt schließlich zu einem „Bilanzselbstmord“ (ebd., S. 170), wenn einem die Macht entgleitet. Es sind also – und das fand ich dann doch überraschend – dieses ungeklärte Verhältnis zum eigenen Selbst und zur eigenen Begrenzung und Begrenztheit sowie die tief verwurzelten Selbstzweifel, die dem eigenen Leben ein Ende setzen: „Diese Selbstverachtung kommt auch in der Geringschätzung des eigenen Lebens zum Ausdruck“ (ebd., S. 170). Mich überrascht es selbst, wie mich die Fragen nach meinem eigenen Verhältnis zur Macht zu ganz grundsätzlichen Überlegungen in Bezug auf das wahre Selbst, die Grenzen und Begrenztheiten dieses Selbst und die Substanz eines berechtigten Führungsanspruches bringen. Mein Eindruck ist: Führungskräfte brauchen eine gewisse narzisstische Grundstörung, um zu Führungskräften zu werden, sie müssen diese jedoch – und ist dies nicht eine wichtige Funktion von Trainigs- und Coachingangeboten? – überwinden, um die Macht nicht mehr nötig zu haben. Erst dann können sie zu systemisch wirksamen Führungskräften
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werden, denn: „Der Narzissmus erscheint mit dem Egoismus assoziiert und demnach als eine antisoziale Eigenschaft“ (ebd., S. 25). Das Antisoziale ist aber auch antisystemisch. Die narzisstische Führungskraft kann ausschließlich nur zu ihren eigenen Bedingungen beobachten und beurteilen, sie ist sich ihrer „Voice of Judgement“ (Senge u. a. 2005) nicht wirklich bewusst. Sie kann deshalb auch nur schwer mit Widerständen und Unsicherheiten umgehen. In einem systemischen Buch las ich: „Soziale Systeme erzeugen Komplexität ganz von sich aus. Komplexität entsteht aus der Vielfalt und der Unberechenbarkeit von Gefühlen, Einstellungen, Zielen und Verhalten: –
einerseits der Vielfalt der Möglichkeiten von Bedürfnissen, Verhalten und Deutungen in einem sozialen System,
–
andererseits der Unberechenbarkeit von Interaktionen und Ereignissen in einem sozialen System.
„Komplexe Situationen sind nicht einfach durchschaubar und steuerbar. Unsicherheit ist demnach normal in sozialen Systemen“ [Renolder/Scala/Rabenstein 2007, S. 87]. Eine Führung, die wirkliche Resonanz in einem System erreichen will, muss nach meiner Erfahrung gleichzeitig fünf Voraussetzungen erfüllen. Dies sind – wenn du so willst – die fünf Finger einer Hand, mit der die systemische Führungskraft gleichwohl niemanden „an die Hand nimmt“, sondern Voraussetzungen für Entwicklung und Wachstum schafft (vgl. Tool S): Fachliche Kompetenz und visionäre Kraft (Umgang mit Verantwortung) Fähigkeit zur Resonanzgestaltung (Umgang mit Erwartung) Fähigkeit zum inneren Machtverzicht (Umgang mit Grenzen) Fähigkeit zur Gestaltung partizipativer Räume (Umgang mit Verschiedenheit) Fähigkeit zum Umgang mit Dissens (Umgang mit Abgrenzung)
Abbildung 4: Die fünf Dimensionen einer systemischen Führungskompetenz Wer systemisch nachhaltig führt, muss nicht nur in einer klaren und überzeugenden Weise mit seiner Verantwortung umgehen können. Notwendig ist dafür, dass ich als Führungskraft Vernetzungen stiften, verschiedene Lesarten integrieren und gleichzeitig doch verantwortlich und mit großer Entschlossenheit handeln kann. Eine Führungskraft, die in der Lage ist, in einer Weise wirksam zu sein,
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die die lebendige Kooperation aller Akteure im System zu stimulieren vermag, muss einerseits klare Zielsetzungen und Ansprüche artikulieren und gleichzeitig aber auch eine substanzielle Partizipation ermöglichen können. Es ist das dialogische Moment, welchem in diesem Zusammenhang eine grundlegende Bedeutung zukommt. Zugleich ist dieses dialogische Moment aber auch ein Einfallstor für die erwähnten Widerstände „aus niederen Motiven“. In meiner jahrelangen Praxis als Abteilungsleiter habe ich es durchaus immer mal wieder mit Ehrgeiz und Rechthaberei von Mitarbeitern zu tun gehabt, deren Partizipationsanliegen in Wahrheit einem unstillbaren Dominanzanspruch entsprang. Dann gerät man als Führungskraft bisweilen schnell an die Grenzen einer möglichen Partizipation, und es bedarf zusätzlich einer Fähigkeit zum Umgang mit Dissens (vgl. Zwingmann u. a. 1998). Diese muss auch die Fähigkeit umfassen, sich als Führungskraft klar abgrenzen und ggf. auch trennen zu können – ein Aspekt, der in unseren Verständnis- und Kooperationskulturen m. E. viel zu wenig beachtet wird. Lektion 16: Systemische Führung umfasst fünf Dimensionen: Wer systemisch führt, führt wirksam und nachhaltig. Er nimmt seine Verantwortung wahr, indem er fachlich kompetente und visionäre Klarheit gewährleistet. Zudem vermag er mit den Erwartungen der unterschiedlichen Akteure in einer Weise umzugehen, die Resonanz erzeugt. Sein eigener Machtanspruch ist sich der eigenen Grenzen und Begrenztheit bewusst, er hat innerlich auf die Macht verzichtet. Schließlich verfügt er auch über die Fähigkeiten mit Verschiedenheit und Abgrenzung so umzugehen, dass die Lebendigkeit und Produktivität des Systems gewahrt bleibt.
Was ist meine Substanz, aus der heraus ich führen will? Wenn ich mir diese Frage stelle und einen wirklichen Macht-Check (Tool T) durchführe, dann gelange ich zu einer inneren Haltung, die mir sagt, dass ich Macht nicht nötig habe und nur dann eine wirklich gute Führungskraft sein kann, wenn ich aus diesem Bewusstsein heraus zu handeln vermag. „Was wäre, wenn Ihre Firma Ihnen morgen eröffnen würde, dass man Sie nicht mehr benötigt?“ Dies ist eine beliebte Frage in systemischen Führungskräftetrainings, in denen Führungskräfte auf die Fähigkeit zum inneren Machtverzicht vorbereitet werden. In einem solchen Training, an dem ich selbst teilnahm, wurden die Teilnehmenden aufgefordert, ihr eigenes Kündigungsschreiben zu entwerfen, in dem sie ihren Vorgesetzten (z. B. dem Direktor oder dem Aufsichtsrat) verdeutlichen sollten, a) dass sie sich für die Verwirklichung anderer Optionen in ihrem Leben entschieden haben, die sie überzeugend begründen sollten, und b) dass sie zugleich auch der Auffassung sind, dass es für das System auch ganz gut sei, einmal ohne sie zurechtzukom-
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men, was sie ebenfalls glaubwürdig begründen sollten. Wie schreibt Pascal Mercier in seinem Erfolgsroman „Nachzug nach Lissabon“ (ich erzählte dir in einem meiner früheren Briefe bereits von diesem faszinierenden Buch)? Genau erinnere ich mich nicht an das Zitat, aber er wirft etwa sinngemäß die Frage auf: „Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“ (Mercier 2006). Ist dies nicht auch für Führungskräfte die alles entscheidende Frage? Meine überraschendste Erfahrung mit der Macht ist allerdings die, dass diese Macht, zu der uns unsere Entwicklung geführt hat, irgendwie nicht hält, was wir uns von ihr versprochen haben. Dies ist die wohl größte Enttäuschung so mancher Manager. Plötzlich stellen sie überrascht fest, dass der Stoff der Kooperation ein anderer ist als der der eigenen Selbstverwirklichung. Die Dinge laufen nicht so wie geplant, und vieles erweist sich als widerständig oder schwierig. Während die Selbstverwirklichung einem – dem eigenen – Fokus folgt, ist Führung stets multifokal, und in stillen Stunden habe ich mich gefragt, wie es wäre, wenn man diese Konstellation einmal auswechseln würde. Der eigenen Selbstverwirklichung würde ein Multifokus sicherlich guttun, und auch die Führung bedarf bisweilen eines zentralen Fokus, will man sich nicht in der Vielfalt der Interessen, Deutungen und Ansprüche verlieren. „Macht macht nichts!“ Sie hält nicht, was sie verspricht oder was wir uns von ihr versprechen. Der Identitätsstoff der Macht ist flüchtig und eigentlich überhaupt nicht wirklich nahrhaft, er zerrinnt in den Spannungslagen zwischen Eigenem und Fremdem, Deutendem und Umdeutendem, Zugewandtem und Rücksichtslosem sowie Innerem und Äußerem, wie ich aus eigener leid- und machtvoller Erfahrung weiß.
Das Eigene und das Fremde der Macht Selbst, wenn wir Macht haben, oder gerade, weil wir Macht haben, bleiben wir uns in ihr fremd. Andere reduzieren uns auf ihre Aspekte, und wir drohen hinter diesen verloren zu gehen – uns selbst und den anderen. Mit der Macht sind Erwartungen verbunden, die uns eine Entschlossenheit abverlangen, die wir tief in unserem Herzen oft nicht haben. Allmählich verlieren wir durch das entschlossene Tun, zu dem uns unsere Macht nötigt, den Kontakt zu unserer eigenen Unentschlossenheit und damit auch oft zu unserer Umsicht und Vorsicht. Manager und Managerinnen müssen deshalb diese verblassenden Dimensionen des Machterlebens kultivieren. Viele Jahre habe ich vergeblich nach Möglichkeiten gesucht, mir diese Zugänge zu meiner Ohnmacht zu erhalten, da ich stets intuitiv spürte, dass ich nur dann die Macht wirklich systemisch angemessen ausüben kann, wenn ich in einem deutlichen Bezug zu meiner Ohnmacht bleibe.
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Das Deutende und das Umdeutende Macht ist der Energiefokus, aus dem heraus wir deuten und umdeuten. Er speist unsere Gewissheiten – ein Mechanismus, über den wir uns schon einmal ausgetauscht haben. Wer Macht ausübt, muss sich nach meiner Erfahrung mit dem Umdeuten auskennen. Denn andere deuten bestimmte Situationen und Konstellationen anders, und oftmals müssen wir im Prozess umdeuten, da wir mit der bisherigen Lesart nicht mehr weiterkommen. Es geht dabei um die Konstruktivität und die Rigidität unseres Umgangs mit unseren Konstruktionen und denen anderer. Das meiste habe ich von Trainings profitiert, in denen meine Perspektiven vervielfältigt wurden. Es geht dabei um den „(…) Abschied vom RichtigFalsch-Denken und die Hinwendung zu einem iterativen Denken in Prozessen und Schritten. Die Kraft der Intuition, die Inspiration der Mehrperspektivität und die Bereitschaft zum Nutzen riskanter Chancen wirken beflügelnd“ (Schley/Schratz 2007, o. S.). Wer Macht hat, deutet Situationen und Zuständigkeiten meist aus der Perspektive seiner eigenen Kontroll- und Gestaltungsmöglichkeiten, was soweit gehen kann, dass er den nüchternen Blick für die Gegebenheiten bisweilen fast vollständig verliert. Dies ist die egozentrische Verzerrung des Blickes. Immer wieder begegnet mir aber auch der umgekehrte Sachverhalt: Jemand ist in eine Machtposition gelangt, weil er die Dinge so verzerrt sieht, wie er sie sieht. Egozentrische Blickverzerrung und Macht sind somit auch irgendwie wechselseitige Voraussetzungen für so manche Karrieren.
Zugewandtes und Rücksichtsloses Es hat mich einiges an Kraft und Enttäuschungen gekostet, bis ich verstanden habe, dass Zugewandtheit zu den anderen Akteuren eine zwingende Voraussetzung für ein systemisch wirkungsvolles Handeln ist, sich dieses jedoch nicht „lohnt“ – zumindest nicht für einen selbst. Die anderen agieren nach ihren eigenen Maßgaben, folgen ihren Deutungen, verfolgen ihre Interessen und haben stets Begründungen parat, mit denen sie auch die größte Rücksichtslosigkeit in einem sachlich gerechtfertigten Licht erscheinen lassen können. Es ist schwer, diese notwendige Zugewandtheit einerseits und die oft erlebbare Rücksichtslosigkeit „auszuhalten“, zumindest mir ist dies in zahlreichen Situationen schwergefallen. Meine Zugewandtheit war über viele Jahre bemüht und nicht professionell. Deshalb konnte ich enttäuscht werden – ein Stoff, der keinen Ausdruck in professionell gestalteten Beziehungen finden darf, wie ich heute weiß. Wir werden als Führungskräfte dafür bezahlt, dass wir uns zuwenden, und wir werden auch dafür bezahlt, dass wir immer und immer wieder enttäuscht werden können. Unsere Führungsrolle ist eine sachliche Funktion, unsere Beziehungserwar-
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tungen sollten wir außerhalb dieser Funktion und möglichst mit anderen Menschen erfüllen. Beziehungsfähigkeit ist zwar einerseits eine wichtige Voraussetzung für erfolgreiches Führungshandeln, gleichzeitig haben die möglichen Beziehungen in machtstrukturierter Kommunikation aber auch ihre Grenzen. Die Empathie ist wichtig, um die Energien, Vorbehalte und Motive der Beteiligten zu spüren, die Distanz ist allerdings notwendig, um den nüchternen Blick wahren und Entscheidungen anders als durch die Beziehungsdynamik geprägt treffen zu können.
Inneres und Äußeres Wie ich dir bereits sagte: Die eigenen Grenzen zu spüren ist Voraussetzung für die Wirksamkeit von Macht und gelingender Biographie. Begrenzung spürt man allerdings nur, wenn man die eigene Begrenztheit spürt. Was dabei entsteht, ist die Grundlage jeder emotionalen Kompetenz: Erst, wenn wir begonnen haben, unser Leben „von hinten her“ zu lesen, können wir unseren Narzissmus überwinden und die eigentliche Substanz unseres Lebens spüren. Ich weiß, dies klingt noch sehr allgemein und vielleicht auch ein wenig esoterisch, gleichwohl habe ich in den letzten Monaten mehr und mehr erfahren, dass erst der Verlust und das Loslassen uns zu einer Haltung zu führen vermögen, aus der heraus wir erkennen können, wofür es sich im Alltag zu leben lohnt. Mir ging es so, dass ich dabei erkennen musste, dass ich durch meinen Alltag auf den Wogen gewohnheitsmäßiger Geschäftigkeit gleite und nur sehr wenige wirkliche Tiefenmomente erlebe. Als „Tiefenmomente“ bezeichne ich solche Augenblicke, in denen ich jede Sekunde des Lebens deutlich spüre; ich spüre mich dabei in dem entschleunigten Erleben. Dies habe ich, nachdem ich die Kraftquelle dieses entschleunigten Erlebens entdeckt habe, richtiggehend zu trainieren begonnen. Mittlerweile kann ich auch im Alltag mein Erleben entschleunigen, wenn ich spüre, dass ich mir in der Geschäftigkeit zu entgleiten drohe. Vielleicht möchtest du auch einmal mit meinem Entschleunigungstool (Tool U) experimentieren? Die Tiefenmomente können uns einen Weg zu unserer emotionalen Substanz eröffnen, und nur, wenn wir mit dieser Substanz in ihrer So-und-nicht-andersBeschaffenheit wirklich in Verbindung gekommen sind, können wir auch lernen, unsere emotionale Kompetenz, von der in letzter Zeit so viel die Rede ist (vgl. Goleman 2002; 2006), zu entwickeln (Tool V). Dies ist nach meiner Erfahrung kein Spaziergang oder gar ein Wohlfühlerlebnis, denn es begegnen einem auch die Schattenseiten des eigenen Ich, die „Essenz“ unseres ganz eigenen Systems (vgl. O´Connor/McDermott 2006, S. 45 f.), das unsere Beobachtung und Wahrnehmung steuert. So erhalten wir eine weitere Möglichkeit, die Grenzen zwischen unserem Inneren und dem Äußeren zu spüren und aufzuweichen. Es ist
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nämlich diese Aufweichung – so meine vielleicht überraschende These – durch welche sich unsere emotionale Kompetenz zu entwickeln vermag. Diese ist der Kern jeglicher systemischen Haltung, mit der wir auch lernen, anders mit der Macht umzugehen. So viel für heute! Sei herzlich gegrüßt von deinem Bernhard
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In diesem letzten Brief führt Karl, der Mentor, seinen Coachingprozess zu einem – vorläufigen – Abschluss, indem er Bernhard den Rat gibt, sich im wahrsten Sinne des Wortes „auf den Weg zu machen“. Es ist die Frage nach der eigentlichen Substanz der Führung, die immer auch eine Selbstführung ist. Deshalb kommt dem Referenzpunkt für das eigene Denken, Fühlen und Handeln eine grundlegende Bedeutung zu. Diesen gilt es zu klären, womit Karl einen Kompetenzentwicklungsprozess in den Blick rückt, der auch die Herausbildung einer spirituellen Kompetenz beinhaltet. Diese ergibt sich nicht einfach aus der emotionalen Kompetenz einer Führungskraft, sie wird durch ein emotionales und selbstreflexives Lernen allerdings angebahnt. Es ist ein Weg von der Kompetenz zur Performanz, der hierfür zu beschreiten ist.
Lieber Bernhard, gestern bin ich hier in Colombo gelandet, wo ich einen dreitägigen Workshop mit Führungskräften leite, und als ich meine Mails im Business Centre des Hotels sichtete, fand ich dein Schreiben, das ich sogleich las. Welch ein Zufall. Auch ich beschäftige mich mit dem Stoff, aus dem die Macht ist, und auch in meinem Workshop hier in Sri Lanka wird es um diese Frage gehen. Und auch in mir ist eine große Müdigkeit bezüglich der ständig wechselnden Managementmoden, die doch alle irgendwie um die Fragen kreisen, was Führung ist, und wie wir mit der Macht, die uns die Führung verleiht, so umgehen können, dass das Ganze sich sinnvoll zu entwickeln vermag. Während des Fluges las ich in einer Führungszeitschrift darüber, wie sich die Wissenschaft immer mal wieder Gedanken darüber macht, ob und inwieweit Führungskompetenzen überhaupt als solche universal definiert werden können. So bedarf jede Situation anderer Kompetenzen, und eine Führungskraft, die in einem Umfeld optimal zu wirken vermag, passt in eine andere Situation gar nicht (Rosenstiel 2007, S. 10). Dies leuchtet mir ein. Aber ebenfalls leuchtet mir sehr ein, was du über die eigene Begrenztheit und den Machtverzicht als Bedingungen, die uns helfen können, mit Macht anders und systemisch erfolgreicher
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7_10, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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umzugehen, schreibst. Es sind wirklich tiefe Gedanken, die ich da bei dir fand, und sie haben mich auch angeregt, über mein eigenes Bild eines idealen Führers oder Managers nachzudenken. Eigentlich hatte ich ja vor, in meinem Workshop mit einem Profil zu arbeiten (Abb. 5), in dem eine Reihe von Aspekten und Kompetenzen zusammengestellt wurden, auf deren Grundlage ich sogar eine eigene Methode (Tool W) entwickelt habe, die einem bei der eigenen Positionsbestimmung zu helfen vermag („bin ich ein idealer Manager oder eine ideale Managerin?“). Nun frage ich mich allerdings, ob ich dabei nicht vielleicht die wesentlichen inneren Aspekte übersehe. Sicherlich, die Führungsfähigkeit ist nicht nur von der Person des Einzelnen abhängig; es spielen auch zahlreiche äußere Aspekte eine Rolle, und auch der „Einfluss der Organisationskultur auf das Führungsgeschehen“ (Frei 2007) darf nicht übersehen werden – ein Gesichtspunkt, der auch und gerade in anderen Kulturen immer wieder deutlich erlebbar ist. Und schließlich geht es nicht nur um die Kompetenzen, sondern die Performanzen, d. h. die im Handeln erwiesene und bewiesene Fähigkeit, mit komplexen und vielfältigen Anforderungen umgehen zu können. Für mich stellt sich der Zusammenhang so dar, dass wir über das Erfahren und Gestalten sowie über das Lernen und Anwenden von der Kompetenz zur Performanz gelangen, und ich kann gar nicht verstehen, warum die Führungskräfteentwickler immer so tun, als wäre mit der Kompetenz bereits schon alles gewährleistet. Noch eines ist mir wichtig: Zur Performanz gelangen wir nur über die Emotionale Kompetenz: Ich muss mein Können spüren, bevor ich es beherrsche, und ich muss mich spüren, bevor ich in der Lage bin, professionell zu handeln. Kompetenz (Fähigkeiten) Aneignen
Erfahren Fachkompetenz Methodenkompetenz Sozialkompetenz Emotionale Kompetenz
Anwenden
Spirituelle Kompetenz Performanz (Tätigkeiten)
Abbildung 5: Von der Kompetenz zur Performanz
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Indem ich heute in dieser Weise von der Kompetenz zur Performanz blicke, neige ich auch dazu, das Erleben und Tun viel stärker zu gewichten. Ich kenne nämlich keine Führungskraft, die allein mit Hilfe eines Buches ihre Wahrnehmung sowie ihr Fühlen und Handeln nachhaltig zu verändern vermochte. Peter Senge u. a. sprechen in dem Buch, welches ich dir nannte, von dem „profound change“ (Senge u. a. 2005). Das ist genau das, worum es geht: Wir müssen zum grundlegenden Wandel und Wandeln in der Lage sein, und die dafür notwendigen Perfomanzen können wir lediglich in Gestaltungs- und Anwendungskontexten erleben, üben und uns aneignen. Diese Fähigkeit, sich und anderes grundlegend zu verändern, ist ohne einen klaren Referenzpunkt nicht zu entwickeln. Führungskräfteentwicklung ist deshalb stets Selbsterfahrung und Selbstklärung, in denen sich das Spirituelle in seiner Verbindung mit dem Emotionalen deutlich artikuliert. Wenn es stimmt, dass wir die Welt auch so deuten, wie wir sie aushalten können (Arnold 2005), dann hat dieses Vermögen sehr viel damit zu tun, wie wir uns in der Welt verankert und aufgehoben finden. Es spricht deshalb m. E. viel dafür, dass die mittlerweile populäre Suche nach den Bestimmungen von emotionaler Kompetenz erst der erste Schritt auf dem Weg zu einer tieferen Verankerung unserer Kompetenzprofile ist, die auch bildungstheoretisch anschlussfähig sind. Lektion 17: Führungskompetenz hat die spirituelle Kompetenz zur Core-Competence. Ohne einen Referenzpunkt für das Eigene kann man auch keine Verantwortung für das Andere übernehmen. Aus einer narzisstischen Angetriebenheit, aber substanziellen Leere kann sich keine wirkliche visionäre und gestalterische Kraft entfalten. Führungskräfte müssen deshalb immer wieder zu ihrem Referenzpunkt zurückkehren oder diesen zunächst finden.
Dabei ist nicht nur die Summe unserer Kompetenzen das, woraus sich unsere Führungsfähigkeit speist, es ist auch die Summe unseres Lebens, unsere spirituelle Erfahrung, die ich in das Zentrum meines Kompetenz-Modells der Führung stelle. Mir ist bewusst, dass ich mit einer solchen Ergänzung des üblichen Kompetenzdenkens angreifbar werde, da uns diese Kompetenz unpräzise zu sein scheint. Gleichwohl fließt darin meine ganze Beratungserfahrung der letzten Jahre zusammen, und unsere europäische Skepsis gegenüber dem Spirituellen ist eben eine europäische Form der Ausdruckslosigkeit. Meinen singhalesischen Teilnehmern war sofort klar, was die Basis von allem ist: das Handeln von einem Referenzpunkt aus, der zwar persönlich ist, aber über die Person hinausweist, wie sie es ausdrücken. Führungskräfte benötigen nur selten neue Techniken oder Verfahren; dies ist höchstens bei neu in eine Leadership-Position berufenen
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Fachkräften der Fall. Wer es mit Führung „zu tun bekommt“, wenn ich dies mal so sagen darf, ist zunächst oft von der Widerständigkeit des Sozialen, von der du ja auch schreibst, erschlagen und nicht selten auch enttäuscht. Dies ist die erste Verunsicherung, mit der ich oft konfrontiert bin. Man muss zunächst einmal aushalten lernen, dass der Stoff des Sozialen die unterschiedliche Sinndeutung ist. Diese kann man nicht mit Rechthaberei aus dem Weg räumen, dies sehe ich genau so wie du. Es geht darum, Unterschiedlichkeiten aushalten zu lernen. Unsere Welt besteht aus Konstrukten, und diese sind vielfach unterschiedlich. Man kann aber auch nicht einfach dort der Dominanz, wo diese uns rechthaberisch zu erdrücken scheint, weichen. Die zweite Verunsicherung ergibt sich aus der Belanglosigkeit des Geschehens, wenn man ihm sich ohne innere Substanz widmet. Man muss auch ganz persönlich wissen, warum einem dieses Tun selbst wichtig ist und welchen Stellenwert ihm vor dem Hintergrund der eigenen Vergänglichkeit zukommt. Versuche, die spirituelle Einbindung allen Geschehens wieder einzuholen, entgehen einem ausschließlich pragmatistischen Führungsdenken oder bleiben ungehört bzw. „unerhört“. So definiert z. B. der im asiatischen Raum bedeutende Denker Swami Vivekananda „Education“ ganz im humboldtschen Sinne als „the manifestation of the perfection already in man“ (Vevekananda 2007) und plädiert für eine Synthese des wissenschaftlichen und des religiösen bzw. spirituellen Zugangs zur Welt: „Education has to enable all students to achieve at least a fraction of the synthesis of east and west, spirituality and science, contemplation and action. It is the science of spirituality, the paravidaya, the supreme science, that fosters in man ethical attitudes, aesthetic and spiritual values, including the moral values associated with pure science.“ Dies sind fremde, aber doch anregende Sichtweisen im Blick auf die Unterstützung der menschlichen Entwicklung, die sich ja nicht damit begnügen kann, dass nur abendländische Kategorien diesen Prozess adäquat zu beschreiben vermögen. So erscheint z. B. dem asiatischen Denken die Loslösung der individuellen Entwicklung vom Spirituellen undenkbar, wie der Singhalese J. P. Pathirana schreibt: „In the East, the spiritual desire and nature of man has never been denied. The great religions in the East have advocated the necessity of moral development and of keeping the physical nature in subjection, and for that reason, their study of the mind has not been marred by the unpleasantness and animalism that characterize certain schools of psychology” [Pathirana 2007, S. 2].
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Existenzielle Verantwortung ist eine wichtige Voraussetzung jeglicher Führungserfahrung. Sie speist sich aus einem Gefühl der Zugehörigkeit zum Lebendigen – eine emotionale Klarheit, ohne die auch Führung letztlich nicht vollständig ist, wie die neueren Diskurse um die Emotionale Kompetenz uns deutlich vor Augen führen (Goleman 1998; 2002; 2006). Man kann diese neuen Diskurse als letzten Versuch verstehen, der substanzstiftenden Gewissheit unserer Existenz und einem Ausweg aus den letztlich hilflosen Kämpfen um das Rechthaben näher zu kommen. Dies ist für viele Menschen, deren „nüchterne“ Deutungen sie letztlich auch nicht zur Identitätsgewissheit bringen, heute ein wachsendes Bedürfnis. Verantwortung ist im Kontext der „Illusion der Faktizität“ ohne eine spirituelle Herleitung allenfalls um den Preis neuer Kampflinien zu haben: Man streitet deshalb um die ethische und moralische Rückgebundenheit der Identität genauso, wie man gewohnt ist, um die Wirklichkeit zu streiten. Und man übersieht, dass wirkliche Verantwortung sich aus der Evidenz des Erlebens und nicht aus einer Tragfähigkeit irgendwelcher Argumentationen speist. Bildung bedarf einer Rückgebundenheit, und diese ist nur um den Preis eines inneren „Sieges über sich selbst“ (Coelho 1999, S. 164 ff.) zu haben – ein Gesichtspunkt, den der Führungsdiskurs kaum berührt. In diesem Sinne ist der spirituelle Führer ein „Sieger über sich selbst“, wobei es eigentlich fünf Siege sind, die er zu erringen hat, wie die Übersicht in Abbildung 6 zeigt. Auch ein spiritueller Manager muss m. E. alle die Kompetenzen in sich entwickeln, die auch in der Führungsdebatte immer wieder diskutiert werden. Er muss fachkompetent, aber auch sozial- und methodenkompetent sein und sollte schließlich – wie bereits erwähnt – darüber hinaus aber noch über emotionale Kompetenzen verfügen. Diese nun kann man nicht einfach in einer Art Intensivkurs erwerben, sie setzen eine Selbstreflexion voraus, die unweigerlich weiter strebt. So beginnt die emotionale Selbstbeobachtung zunächst mit der aufmerksamen Beobachtung der eigenen bevorzugten Ichzustände (vgl. Tool A-E). Man beobachtet sich selbst, versteht mehr und mehr die körperliche Substanz, aus der das eigene Gefühlsleben aufgebaut ist, und kann beginnen sich darin zu üben, die inneren DGP´s – du erinnerst Dich, ich hatte diese Denk-und-Gefühlsprogramme bereits in meinem ersten Brief an dich beschrieben (siehe Lektion 2) – zu managen. Genau dadurch wird einem auch immer deutlicher, dass die Substanz, die man über Jahre in sich trug, überhaupt keine ist. Dabei eröffnet sich bisweilen die ganze spirituelle Haltlosigkeit unseres Denken, Fühlens und Handelns – doch auch die neuen Bildungs- und Kompetenztheorien haben da nicht wirklich etwas Tragfähiges anzubieten. Lange musste ich wühlen, bis ich diesen von mir angedeuteten Gedanken „Die emotionale Kompetenz öffnet den Weg zur Spiritualität“ auch an anderer Stelle vorbereitet fand.
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Der spirituelle Manager Rückgebundenheit („Sieg über die innere Verlorenheit“) -
die eigene Endlichkeit und die der anderen bewusst sehen das Ganze auf die „richtigen Dinge“ hin ausrichten können sich selbstreflexiv beobachten können in einem deutlichen Referenzpunkt der Identität und des ethischmoralischen Urteils verankert sein
Zugewandtheit („Sieg über narzisstische Angetriebenheit“) -
ruhige Bezogenheit ausdrücken können echtes Interesse am Gegenüber versprühen stets auch an dem Wachstum des anderen orientiert sein auf Dialog statt auf Kampf eingestellt sein
Gelassenheit („Sieg über innere und äußere Unruhestifter“) -
Präsenz und Klarheit ausdrücken können emotionale Resonanz erreichen können schweigen bzw. nicht handeln können Aufgeregtheiten meiden können
Strategische Stringenz („Sieg über Angst und den Schlendrian“) -
Ziele mit innerer Sicherheit benennen können die notwendigen Schritte markieren können um kriterienbezogene Messungen des „Where are we now?“ bemüht sein um Evaluierung bemüht sein
Machtverzicht („Sieg über Egoismus“) -
abschiedlich leben können an nichts anhaften können sich bitten lassen können auf Optionen verzichten können
Abbildung 6: Der spirituelle Manager Dabei habe ich auch u. a. die Schriften von Marc Aurel nochmals genauer gelesen, dem griechischen Imperator, der die meiste Zeit seiner neunzehn Jahre dauernden Herrschaft in Heerlagern verbrachte. Er philosophierte in Heerlagern, d. h. während der Ruhepausen, die ihm der Kampf gegen die Barbarenstürme ließ. Er dankt in seinen Schriften seinen Vorfahren und Begleitern, die ihn vieles gelehrt und vermittelt haben, so u. a. „die Versöhnlichkeit und das Entgegenkommen meinen Widersachern und Beleidigern gegenüber, sobald sie selbst zum Einlenken bereit seien“ (Aurel 1997, S. 22), sowie „die stetige Seelenruhe auch
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unter den heftigsten Schmerzen, beim Verlust eines Kindes, in langwierigen Krankheiten“ (ebd., S. 23). Marc Aurel ist ein Meister der stoischen Gelassenheit gewesen. Für ihn ist die Rückgebundenheit an einen Referenzpunkt die Grundlage aller Relevanzen im Leben. Er fragt: „Was zerstreuen dich die Außendinge? Nimm dir Zeit, etwas Gutes zu lernen, und lass dich nicht weiter wie ein Wind umhertreiben! Auch vor jener anderen Verwirrung hüte dich: Denn es gibt auch Toren, die sich ihr ganzes Leben lang abmühen, aber kein Ziel vor Augen haben, auf das sie alle ihre Wünsche und Gedanken richten“ [ebd., S. 34]. Das eigene Ziel ergibt sich für ihn aus der aufmerksamen Selbstbeobachtung. Er gibt uns zu bedenken, dass „wer aber nicht mit aller Aufmerksamkeit den Bewegungen der eigenen Seele folgt, notwendig unglücklich werden (muss)“ (ebd., S.34 f.), und zeigt uns, woraus sich die Substanz eines rückgebundenen Leaderships ergibt: „In dir sei heitre Klarheit, du brauchst nicht die Hilfe, die von außen kommt, und kannst den Frieden entbehren, den andere gewähren. Stehe selbst aufrecht, ohne von anderen aufrecht gehalten zu werden!“ [ebd., S. 45]. Diese Sätze sind von einer fundamentalen Bedeutung für die Frage nach den Kompetenzen, die Führungskräfte benötigen. Zieht man alte Texte zurate, lieber Bernhard, dann zeigt sich, dass es wohl schon zu allen Zeiten darum ging, auch die spirituellen Dimensionen in der Person dessen, der da Verantwortung trägt, zu stärken – ein Aspekt, zu dem uns die aktuellen Debatten um die Emotionale Kompetenz unweigerlich zurückzuführen scheinen. Es geht bei dieser spirituellen Seite um „Gerechtigkeit“, „Wahrheit“, „Selbstbeherrschung“, „Mannhaftigkeit“, wie Marc Aurel feststellt (ebd., S. 45), wobei er zahlreiche der Bezüge aufgreift, über die auch wir uns in unseren Briefen ausgetauscht haben. Es geht ihm um die Herausformung einer „(…) Seele, die hinsichtlich ihrer vernunftgemäßen Handlungsweise mit sich selbst, hinsichtlich dessen, was nicht in ihrer Gewalt steht, mit dem Schicksal zufrieden ist“ (ebd.). Es geht demnach – bei aller notwendigen Achtsamkeit und Selbstreflexion – auch um Bescheidung und Entscheidung. Aus ihnen kann eine Haltung erwachsen, die uns in heiterer Gewissheit leben lässt – immer wissend, dass wir es sind, die den Außendingen die Bedeutung zugestehen, die sie für uns erlangen können: „Die Außenwelt hat keinen Einfluss auf die Seele; sie hat keinen Zugang zur Seele und kann sie weder umstimmen noch irgend bewegen“ (ebd., S. 78).
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Darum geht es, und es ist unsere Aufgabe, diese Seelenkraft in uns zu entwickeln und zu stärken. Dieser Prozess ist wie eine Reise, in der wir immer wieder zu unbekannten neuen Orten aufbrechen. Wir müssen aufhören zu erwarten, dass wir dort immer wieder dasselbe antreffen, um uns dem Neuen gegenüber zu öffnen und uns selbst kennenzulernen. Dies ist das Prinzip des Pilgerns (vgl. Arnold 2000). Paulo Coehlo schreibt in seinen Büchern über diese Erfahrungen, in denen sich ein Mensch selbst entdeckt und in einer „Mischung aus Authentizität und Freiheit“ (Coelho 2001a, S. 195) seinem Leben einen Sinn, d. h. einen Referenzpunkt, zu stiften vermag. Er schreibt: „Der Schlüssel zu meiner Arbeit, wenn wir dies so einfach wie möglich darstellen, liegt in dem, was ich die persönliche Geschichte oder den Lebenstraum nenne, so wie er im Alchimisten vorkommt. Und obwohl es sich um etwas Geheimnisvolles zu handeln scheint, ist er der Beweggrund unseres Daseins. Manchmal ist er vielleicht nicht deutlich, und wir zwingen unser Schicksal. Dann zum Beispiel, wenn wir uns schwach und feige fühlen. Doch letztlich lebt dieser Lebenstraum in uns weiter, und wir wissen, warum wir hier sind. Für mich ist daher die spirituelle Suche die Suche nach der totalen Bewusstheit“ [ebd., S. 196]. Wie gesagt: Diese Suche ist weder ein Spaziergang noch eine Aufgabe der Rationalität und Aufgeklärtheit und ein Rückfall in vorrationale Formen des Lebens, wie wir in unserer westlichen Arroganz oft glauben. Meine Kontakte mit anderen Kulturen, wie jetzt auch gerade mit den singhalesischen Führungskräften, haben mich etwas anderes gelehrt. Letztlich kannst du ohne einen Bezugspunkt in Deinem Inneren auch nicht im Äußeren „bezogen“ handeln. Es ist ein Reisen, d. h. eine dauernde Bewegung, in der wir unserer eigenen Substanz begegnen: „Die Symbolik des Reisens berührt Tiefliegendes in deiner Psyche, daher kommt es, dass in allen Religionen auf die eine oder andere Weise die Pilgerreise und das Dich-des-Überflüssigen-Entledigen so wichtig sind“ [ebd., S. 201]. Es sind solche Gedanken, lieber Bernhard, die mich mehr und mehr dazu führen zu verstehen, dass alles Lernen letztlich ohne die gleichzeitige Reifung eines inneren Referenzpunktes und die Entwicklung einer spirituellen Kompetenz zielund orientierungslos bleiben muss. Führung als Selbstführung ist ein „Sichselbst-Besiegen“ – ein schwieriger, doch notwendiger Weg. Paulo Coelho bezeichnet diesen Zustand, in dem man sich selbst besiegt hat, als den des „Krie-
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gers des Lichts“. In seinem „Handbuch des Kriegers des Lichts“ (Coelho 2001b) finden sich zahlreiche Hinweise, die das Motiv des Weges mit dem der Selbstbesiegung verbinden und in einer sehr spirituellen Weise versuchen, den Kern dessen zu greifen, um das es bei Leadership geht. du kannst „Krieger“ durch „Leader“ ersetzen, dann findest du bei Coelho eine spirituelle Führungslehre. Doch auch der von mir immer wieder zurate gezogene Peter Senge weiß um diese Tiefendimension des Eigenen, aus dem heraus allein eine Führung möglich wird, deren innere Stimmen frei von letztlich narzisstisch motivierten Parolen ist (Senge u. a. 2003). Denn diese Parolen bzw. inneren Stimmen (Tool R) übertönen das Eigene oder vielfach auch die Tatsache, dass man da noch kein Eigenes hat oder noch nicht zu ihm vorgedrungen ist. Aus welchen inneren Motiven heraus speist sich unsere Führungsrolle, und wie sieht eine spirituelle Begründung unseres Denkens, Fühlens und Handelns als Führungskräfte aus, wenn wir unsere inneren Stimmen kennen gelernt und geordnet haben? Meine Lektüre der Bücher von Paul Coelho hat mir bei dieser Frage viele Anregungen gestiftet, lieber Bernhard, weshalb ich dir einige Auszüge aus seinen Überlegungen zusammengestellt habe und dir als Anlage zu diesem Brief sende. So viel für heute – mit freundschaftlichem „Buen Camino“ dein Karl
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„Der Krieger des Lichtes“ auf dem Weg zu sich selbst (Paul Coelho) „In dem Moment, in dem er losschreitet, erkennt ein Krieger des Lichts den Weg. Jeder Stein, jede Biegung des Weges heißen ihn willkommen. Er wird eins mit den Bergen und den Bächen, findet etwas von seiner Seele in den Vögeln und in den Pflanzen und Tieren auf dem Felde. Da nimmt er Gottes Hilfe und die Hilfe seiner Zeichen an und lässt sich von seinem Lebenstraum zu den Aufgaben führen, die das Leben für ihn bereithält. In manchen Nächten hat er kein Lager zum Schlafen, in anderen bekommt er kein Auge zu. „Das gehört dazu“, denkt der Krieger. „Ich habe mich entschieden, diesen Weg hier zu gehen.“ In dieser Phase steht alles in seiner Macht: Er selber hat den Weg gewählt, auf dem er jetzt geht, und keinen Grund sich zu beklagen“ (ebd., S. 32). „Um an seinen eigenen Weg zu glauben, muss er nicht zuerst beweisen, dass der Weg des anderen falsch ist“ (ebd., S. 33). „Ein Krieger weiß um seine Fehler. Aber er weiß auch, dass er nicht allein wachsen kann und sich nicht von seinen Gefährten absondern darf“ (ebd., S. 41). „Ein Krieger des Lichts weiß, dass in der Stille seines Herzens eine Ordnung liegt, die ihm den Weg weist“ (ebd., S .43). „Ein Krieger findet einen Mittelweg zwischen Einsamkeit und Abhängigkeit“ (ebd., S. 45). „Um seinen Traum zu verwirklichen, braucht er einen festen Willen und gleichzeitig die Fähigkeit, sich hinzugeben. Er hat ein Ziel, doch das heißt nicht, dass der Weg, der ihn dahin führt, auch der ist, den er sich vorstellt“ (ebd., S. 48). „Ein Krieger des Lichts verhält sich manchmal wie Wasser und schlängelt sich zwischen den Hindernissen hindurch, auf die er trifft. (…) Ein Fluss passt sich dem Weg an, der möglich ist, vergisst aber nie sein Ziel, das Meer. Zart an der Quelle, schwillt er, durch die Flüsse gespeist, auf die er unterwegs trifft, stetig an. Bis von einem bestimmten Punkt an seine Macht allumfassend ist“ (ebd., S. 49). „Er nimmt jede Herausforderung als eine Gelegenheit an, sich selbst zu verändern“ (ebd., S. 50).
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„Der Krieger spricht voller Begeisterung vom Weg, erzählt, wie er bestimmte Herausforderungen gemeistert, wie er in einer schwierigen Lage eine Lösung gefunden hat. Und er erzählt voller Leidenschaft“ (S. 62). „Der Krieger des Lichts schreitet auch ohne Glauben voran. Er kämpft weiter, und am Ende kehrt der Glaube wieder zu ihm zurück“ (S. 66).
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Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
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Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
A:
„Die vier Filter der Wirklichkeits-Inszenierung“ – Algorithmus zur Selbstarchäologie
Umgang mit Anerkennung Wo, wann und wie habe ich echte Anerkennung erlebt? Wer hat dabei was gesagt? (Bitte diese Sätze aufschreiben!) Welche Gefühle hatte ich in diesen Situationen?
Es ist hilfreich, sich in einer Viertelstunde an drei erlebte „Anerkennungsfälle“ zu erinnern und diese auf einer Flipchart kurz zu symbolisieren (kleine Bilder, situationstypische Zeichen usw.). Wenn das damalige „zugehörige“ Gefühl klar und deutlich wiederholt werden kann, kann man ihm einen eigenen Namen geben, um die energetische Kraft, die in ihm gebündelt ist, über die Erinnerung leichter wiederbeleben zu können (z. B. VaterFriedrich-Gefühl). Wie würden Sie das zugrunde liegende DGP (Deutungs-Gefühl-Programm) betiteln: Beispiel „Herausforderungen versetzen mich in eine angespannte Angstlage, die mich zum Erfolg trägt!“ Schreiben Sie diesen Schlüsselsatz/diese Betitelung auf, und hängen Sie ihn/sie einige Tage sichtbar am Badezimmerspiegel auf!
Umgang mit Abhängigkeit Wo, wann und wie habe ich echte Abhängigkeit erlebt? Wer hat dabei was gesagt? (Bitte diese Sätze aufschreiben!) Welche Gefühle hatte ich in diesen Situationen?
R. Arnold, Führen mit Gefühl, DOI 10.1007/978-3-8349-6682-7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Methoden-ABC (Selbstcoaching-Tools)
Es ist hilfreich, sich in einer Viertelstunde an drei erlebte „Ablehnungsfälle“ zu erinnern und diese auf einer Flipchart kurz zu symbolisieren (kleine Bilder, situationstypische Zeichen usw.). Wenn das damalige „zugehörige“ Gefühl klar und deutlich wiederholt werden kann, kann man ihm einen eigenen Namen geben, um die energetische Kraft, die in ihm gebündelt ist,, über die Erinnerung leichter wiederbeleben zu können (z. B. Lehrer-GroßGefühl). Wie würden Sie das zugrunde liegende DGP (Deutungs-Gefühl-Programm) betiteln: Beispiel „Das >du schaffst das eh nicht!