Fehlzeiten-Report 2006
B. Badura . H. Schellschmidt . C. Vetter (Hrsg.)
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Fehlzeiten-Report 2006
B. Badura . H. Schellschmidt . C. Vetter (Hrsg.)
Fehlzeiten-Report 2006 Chronische Krankheiten Zahlen, Daten, Analysen aus allen Branchen der Wirtschaft
Mit Beiträgen von C. Baase . W. Bödeker . U. Funke . G. Grande . E. Knülle. A. Kuhlmey . K. Kuhn . I. Küsgens . A. Leppin . D. Lühmann . A. Maaz . C. Madaus . F. Mehrhoff . H. Popken . W. Timm . C. Vetter . M. H.-J. Winter . K. Zelen . B. Zimolong
123
Prof. Dr. Bernhard Badura Universität Bielefeld Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld
Dr. Henner Schellschmidt AOK-Bundesverband Kortrijker Str. 1 53177 Bonn
Christian Vetter Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO) Kortrijker Str. 1 53177 Bonn
ISBN-10 3-540-34367-9 Springer Medizin Verlag Heidelberg ISBN-13 978-3-540-34367-7 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Rolf Lange, Heidelberg Projektmanagement: Hiltrud Wilbertz, Heidelberg Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Satz: Elke Fortkamp, Wiesenbach Gedruckt auf säurefreiem Papier 19/2119 wi -5 4 3 2 1 0
Vorwort
Seit dem Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert hat in Deutschland ebenso wie in allen anderen modernen Gesellschaften ein grundlegender Wandel im Krankheitspanorama stattgefunden. Nicht mehr Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Typhus oder Scharlach bedrohen die Gesundheit der Bevölkerung. An ihre Stelle sind chronisch-degenerative Erkrankungen getreten: Muskel-Skelett-Erkrankungen, Krankheiten des Herz-Kreislauf-Systems, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen, bösartige Neubildungen, aber auch psychische Erkrankungen wie z. B. Angststörungen und Depressionen. Sie erzeugen hohe Kosten bei den Unternehmen, bedingt durch Fehlzeiten, Produktionsausfälle und geminderte Wettbewerbsfähigkeit. Sie erzeugen aber auch bei den Sozialversicherungsträgern hohe Kosten, bedingt durch ausbleibende Einnahmen sowie Ausgaben für Behandlungen, Krankengeld und (Früh-)Berentung. Die Beantwortung der Frage, warum dieser Wandel stattgefunden hat und welche Konsequenzen daraus auf Seiten der Wirtschaft, des Staates und der Sozialversicherungsträger zu ziehen sind, gehört zu den zentralen sozial- und gesellschaftspolitischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Der neue Fehlzeiten-Report wird darauf keine abschließenden Antworten geben können, wohl aber einen Überblick über den derzeitigen Stand der Forschung und Entwicklung. Soviel lässt sich gegenwärtig festhalten: Verantwortlich für den tiefgreifenden Wandel im Krankheitspanorama und den damit einhergehenden enormen Anstieg der Lebenserwartung ist der ebenso tiefgreifende Wandel unserer Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Übergang von einer feudalen Agrar- zu einer demokratischen Hochleistungsgesellschaft. Der Ausbau unseres Rechtsstaates und der sozialen Sicherung, die anhaltenden Investitionen in Bildung, Wissenschaft und Gesundheitswesen haben auf der Basis von Demokratie und Grundrechten ganz offensichtlich zu einer deutlichen Verbesserung von Handlungsspielräumen sowie von subjektiv empfundener Sicherheit, Sinnhaftigkeit, Bewältigungsfähigkeit und sozialer Integration beigetragen und damit zu einer enormen Verbesserung
VI
Vorwort
von Gesundheit, Lebensqualität und Lebensdauer. Die Gesamtbilanz des Zusammenhangs von gesellschaftlicher Entwicklung und Gesundheit fällt – bisher zumindest – mit Blick auf das westliche Modernisierungsmodell positiv aus. Die aktuellen Entwicklungen in unserer Arbeitswelt lassen mittlerweile allerdings auch mit Blick auf die Zukunft eine skeptischere Einschätzung zu. Und das nicht nur wegen der anhaltend hohen Zahl an Arbeitslosen, sondern auch wegen der drohenden bzw. bereits eingetretenen Beeinträchtigung der Qualität der Arbeit und daraus resultierenden gesundheitlichen Gefährdungen. Gegenwärtig verdichten sich die Hinweise darauf, dass die erzielten Erfolge bei der Bekämpfung physischer Risiken an der Mensch-Maschine-Schnittstelle zu einer Vernachlässigung der durch die Globalisierung und die anhaltenden Restrukturierungen zunehmenden psychosozialen Risiken an der Mensch-Mensch-Schnittstelle geführt haben. Kommunikationsprobleme, Intransparenz, Führungsmängel, überflüssige Hierarchien, nicht vorhandenes Wir-Gefühl und eine verbreitete Kultur des Misstrauens unter den Beschäftigten bereiten den Boden für bisher wenig bekannte oder auch nur wenig beachtete Organisationspathologien wie z. B. innere Kündigung, Mobbing und Burnout. Zwar melden sich immer weniger Beschäftigte krank – u. a. wegen der Verjüngung der Belegschaften und einer verbreiteten Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes. Gleichwohl spricht immer mehr dafür, dass die Identifikation mit der Arbeit und dem Arbeitgeber, Mitdenken, soziale Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen und den unmittelbaren Vorgesetzten Not leiden mit ungünstigen Folgen für die Gesundheit und auch für das Betriebsergebnis. An die Stelle des „Absentismus“ tritt der „Präsentismus“ als Hauptproblemstellung, die neue Antworten erfordert. Zur Vermeidung, frühzeitigen Erkennung und Bewältigung dieser Probleme und der ihnen zugrunde liegenden Ursachen liegen mittlerweile ein umfassendes Wissen sowie praxistaugliche Konzepte und Instrumente bereit. Allerdings finden diese noch viel zu selten und viel zu langsam ihren Weg in die Betriebe – oft auch wegen der nicht ausreichend vorhandenen Qualifikationen bei den verantwortlich handelnden Akteuren sowie wegen fehlender Anreize für Investitionen in Gesundheit. Diese Situation sowie der demographische Wandel und das heraufgesetzte Rentenalter machen eine Neuausrichtung und deutliche Aufwertung betrieblicher Gesundheitspolitik unausweichlich. Die Diskussionen um das im ersten Anlauf gescheiterte Präventionsgesetz haben jüngst gezeigt, wie groß das vorhandene Präventions- und auch das Kostensenkungspotenzial ist: Jeder vermiedene Gang zum Arzt, jeder vermiedene Unfall, jede vermiedene Frühberentung und
Vorwort
VII
jede gelungene Wiedereingliederung bedeutet ein Mehr an Einnahmen und ein Weniger an Kosten. Bereits vor der Diskussion um das Präventionsgesetz haben Gesundheitspolitik und Krankenkassen begonnen, auf diese Entwicklungen zu reagieren: mit einer Intensivierung der Gesundheitsförderung, mit Bemühungen zu mehr Führung chronisch Kranker (Case-Management) und zu einer verbesserten Integration der Versorgungswege. Hier gilt es, noch sehr viel mehr zu tun und auch in neuer Qualität. Die Beiträge im Fehlzeiten-Report zeigen, wie dies geschehen kann. Der Report gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Verbreitung, zu den Ursachen und arbeitsbedingten Einflüssen bei der Entstehung chronischer Krankheiten. Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen und Kosten chronischer Erkrankungen für die Betriebe werden vorgestellt. Erfolgversprechende betriebliche Ansätze zur Gesundheitsförderung und Prävention chronischer Krankheiten werden aufgezeigt. Die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur betrieblichen Wiedereingliederung verläuft bisher schleppend und stellt für viele Betriebe noch eine erhebliche Herausforderung dar. Der Fehlzeiten-Report zeigt Wege und Möglichkeiten auf, wie Unternehmen das Wiedereingliederungsmanagement erfolgreich gestalten können und auf welche Unterstützungsangebote sie dabei zurückgreifen können. In diesem Zusammenhang können auch die Aktivitäten der Krankenkassen im Bereich des Fallmanagements für arbeitsunfähige Versicherte einen wichtigen Beitrag leisten. Auch darüber wird berichtet ebenso wie über Ansätze zur Früherkennung von Beschäftigten mit einem erhöhten Risiko für eine Langzeit-Arbeitsunfähigkeit. Neben den Beiträgen zum Schwerpunktthema „Chronische Erkrankungen“ liefert der Fehlzeiten-Report wie gewohnt umfassende Daten und Hintergrundinformationen zu den krankheitsbedingten Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft. Über die aktuelle Krankenstandsentwicklung in den einzelnen Branchen wird ausführlich berichtet.
VIII
Vorwort
Die Herausgeber danken allen, die an der diesjährigen Ausgabe des Reports mitgewirkt haben. Neben den Autorinnen und Autoren gilt besonderer Dank den Mitarbeiterinnen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), ohne die die Produktion dieses Bandes nicht möglich gewesen wäre. Zu nennen sind hier Ingrid Küsgens und Claudia Madaus sowie Susanne Sollmann, die uns in diesem Jahr zusätzlich bei der redaktionellen Arbeit unterstützt hat. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Springer Verlags danken wir für die gute verlegerische Betreuung. Bielefeld und Bonn, im September 2006
B. Badura H. Schellschmidt C. Vetter
Inhaltsverzeichnis
A
Schwerpunktthema: Chronische Krankheiten – Betriebliche Strategien zur Gesundheitsförderung, Prävention und Wiedereingliederung Einführung
1
Der Wandel des Krankheitspanoramas und die Bedeutung chronischer Erkrankungen (Epidemiologie, Kosten) A. Maaz · M. H.-J.Winter · A. Kuhlmey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.1
Epidemiologischer Wandel: Vom akuten zum chronischen Krankheitsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Epidemiologie ausgewählter chronischer Erkrankungen . . . . 8 Kosten ausgewählter chronischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . 11 Exkurs: Gesundheit und chronische Krankheit im Alter vor dem Hintergrund der Lebensarbeitszeitverlängerung . . . . . . . 15 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.2 1.3 1.4 1.5 2
Arbeitsbedingte Einflüsse bei der Entstehung chronischer Krankheiten K. Kuhn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
2.1 2.2 2.3 2.4
Die Beziehung Mensch – Arbeit – Gesundheit – Krankheit . . Bewertung arbeitsbedingter Einflüsse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitsbedingte Einflüsse auf einzelne Krankheitsgruppen . . Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren . . . . . . . . .
3
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität und Absentismus und daraus resultierende Kosten für die Betriebe C. Baase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
3.1
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
25 31 36 40
XII
Inhaltsverzeichnis
3.2 3.3 3.4
Material und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Prävention chronischer Krankheiten im Betrieb 4
Prävention von Rückenerkrankungen in der Arbeitswelt D. Lühmann · B. Zimolong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
4.1 4.2 4.3 4.4
Ätiologie und Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention von Rückenschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Betriebliche Gesundheitsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63 65 68 77
5
Betriebliche Ansätze zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems G. Grande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
5.1 5.2 5.3
5.4 5.5
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems . . . . . . . . . . . . . . Einflussfaktoren auf Entwicklung und Verlauf von HerzKreislauf-Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Arbeitsplatz/das Unternehmen als geeignetes Setting für Programme zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über die bisherige Praxis betrieblicher Ansätze zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen . . . . . . . . Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81 82
84 86 91
6
Burnout: Konzept, Verbreitung, Ursachen und Prävention A. Leppin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
Der Begriff des Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz von Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Folgen von Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursachen von Burnout . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Einbeziehung betrieblicher und außerbetrieblicher Ebenen in Konzepte der Prävention chronischer Erkrankungen U. Funke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
7.1
Chronische Krankheiten, Krankenstand und betriebliche Präventionspotenziale. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
99 101 102 102 104
Inhaltsverzeichnis
7.2
7.3
7.4
XIII
Integrierte Versorgung bei orthopädischen Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung von Wirbelsäulenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Wiedereingliederung im Betrieb und Arbeitseinsatzflexibilisierung – Einbezug der verschiedenen betrieblichen Ebenen . . . . . . . . 114 Perspektiven einer integrierten Versorgung am Beispiel von Wirbelsäulenerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Betriebliche Wiedereingliederung und Bewältigung chronischer Krankheit im Betrieb 8
Betriebliches Eingliederungsmanagement – Herausforderung für Unternehmen F. Mehrhoff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
8.1 8.2
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bedeutung der betrieblichen Eingliederung kranker Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goldene Regeln bei der Einführung des BEM . . . . . . . . . . . . Früh auf die Qualität von BEM Wert legen . . . . . . . . . . . . . .
8.3 8.4
127 128 130 133
9
Umgang mit chronischen Erkrankungen im Betrieb – Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement W. Timm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
9.1
Ausgangspunkt: An den Grenzen von Kuration und Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävention und Rehabilitation: Vorschläge für eine „Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik“. . . . . . . . . Weichenstellung für einen Paradigmenwechsel: Der Präventionsauftrag des SGB IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2 9.3 9.4 9.5
139 140 143 147 157
10
Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter in einem Großunternehmen– Ein Beispiel für effektives betriebliches Eingliederungsmanagement E. Knülle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
10.1 10.2 10.3 10.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ford-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auditierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 160 162 169
XIV
Inhaltsverzeichnis
10.5
Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
11
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit H. Popken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
11.1 11.2 11.3 11.4
Hintergründe der Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalte des Krankengeldfallmanagements . . . . . . . . . . . . . . . DV-Expertensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Frühindikatoren für Langzeit-Arbeitsunfähigkeit – Entwicklung eines Vorhersage-Instruments für die betriebliche Praxis W. Bödeker · K. Zelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
12.1 12.2 12.3 12.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was ist Langzeit-Arbeitsunfähigkeit und wer ist besonders betroffen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lässt sich Langzeit-Arbeitsunfähigkeit voraussagen? . . . . . . Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
B
Daten und Analysen
13
Krankheitsbedingte Fehlzeiten in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2005 C. Vetter · I. Küsgens · C. Madaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
13.1 13.2 13.3 13.4 13.5 13.6 13.7 13.8 13.9 13.10 13.11 13.12
Branchenüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Banken und Versicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baugewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Energiewirtschaft, Wasserversorgung und Bergbau . . . . . . . Erziehung und Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Land- und Forstwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metallindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Öffentliche Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verarbeitendes Gewerbe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verkehr und Transportgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173 174 181 181
187 190 192 196
201 254 269 284 303 318 331 345 360 376 391 409
Inhaltsverzeichnis
XV
Anhang Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (10. Revision, Version 2004, German Modification) . . . . . . . . . . . . . . . . 427 Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 2003/NACE) Übersicht über den Aufbau nach Abschnitten und Abteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
A. Schwerpunktthema: Chronische Krankheiten
Einführung
KAPITEL 1
Der Wandel des Krankheitspanoramas und die Bedeutung chronischer Erkrankungen (Epidemiologie, Kosten) A. Maaz . M. H.-J. Winter . A. Kuhlmey
Zusammenfassung. Der Beitrag widmet sich dem Wandel des Krankheitspanoramas vom akuten zum chronischen Krankheitsgeschehen. Nach epidemiologischen Befunden zum Spektrum chronischer Krankheiten werden exemplarisch Erkenntnisse zur Verbreitung ausgewählter, besonders relevanter Krankheitsbilder referiert. Dabei handelt es sich erstens um die Koronare Herzkrankheit, zweitens Neubildungen, drittens Diabetes mellitus sowie psychische Erkrankungen. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die Auseinandersetzung mit den Kosten der Versorgung chronisch Kranker dar. Vor dem Hintergrund der geplanten Lebensarbeitszeitverlängerung wird darüber hinaus exkursiv der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Gesundheit, chronischer Krankheit und Alter nachgegangen. 1.1 Epidemiologischer Wandel: Vom akuten zum chronischen Krankheitsgeschehen Chronische Erkrankungen sind heute weltweit die Hauptursache für Behinderung und Tod. So werden 59% aller 57 Millionen Todesfälle pro Jahr durch nicht übertragbare Krankheiten1 verursacht, die wiederum 46% der weltweiten Krankheitslast ausmachen [72]. In allen industrialisierten Gesellschaften führen medizinisch-technische Fortschritte und die gesundheitsförderlichere Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu Veränderungen des Krankheitspanoramas. Demnach verlieren viele akute, übertragbare Krankheiten (wie z. B. Tuberkulose, Masern) ihren Charakter als Volkskrankheiten und treten heute eher selten auf [51]. Es wird davon ausgegangen, dass übertragbare Krankheiten zusammen mit perinatalen Erkrankungen sowie Mangelernährung 39% der glo
Dazu zählen nach WHO Angaben: Neubildungen, Diabetes mellitus, endokrine Störungen, neuropsychiatrische Störungen, Erkrankungen der Sinnesorgane, kardiovaskuläre Erkrankungen, Erkrankungen der Atmungsorgane, des Verdauungssystems, des Genitaltraktes, Hauterkrankungen, muskuloskelettale Erkrankungen, angeborene Abnormalitäten, Erkrankungen des Mund- und Rachenraumes [71]
1
6
A. Maaz, M. H.-J. Winter, A. Kuhlmey
balen Krankheitslast bestimmen und 30% der Todesfälle begründen. Prognosen zufolge werden diese Krankheiten bis 2030 nur noch in 22% der Fälle zum Tode führen [73]. Gleichzeitig bestimmen chronische Erkrankungen immer mehr den Gesundheitszustand der Bevölkerung moderner Industrieländer [55] und gewinnen an individueller, sozialpolitischer sowie gesundheitsökonomischer Bedeutung. In den nächsten 25 Jahren werden weltweit immer mehr Todesfälle durch nicht übertragbare Krankheiten begründet werden, und bereits heute geht die WHO davon aus, dass allein in der WHO-Region Europa nicht übertragbare Erkrankungen, die zumeist einen chronischen Verlauf haben, 77% der Krankheitslast ausmachen und für 86% der Todesfälle verantwortlich sind. Im weltweiten Vergleich ist diese Region somit am stärksten von den genannten Erkrankungen betroffen [71] und in Deutschland begründen sie vier Fünftel aller Todesfälle [74]. Die WHO geht davon aus, dass die Prävalenz und Inzidenz zahlreicher chronischer Erkrankungen, wie etwa Diabetes mellitus Typ II, kardiovaskuläre Erkrankungen, chronisch obstruktive Lungenerkrankungen sowie Demenzen, nicht nur in westlichen Industriestaaten, sondern auch in den so genannten Schwellenländern sowie in Ländern der Dritten Welt ansteigen [40]. Bekannt ist ferner, dass lediglich eine kleine Zahl von Risikofaktoren die enorme Krankheitslast chronischer Erkrankungen determiniert. Hierzu zählen Alkohol- und Nikotinkonsum, Übergewicht, erhöhte Cholesterinwerte, Hypertonie sowie mangelnde körperliche Aktivität und Fehlernährung im Sinne eines zu geringen Obst- und Gemüseverzehrs [71, 73, 74]. Diese Risikofaktoren sind zum einen die Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, wie beispielsweise Industrialisierung, Urbanisierung, ökonomische Entwicklungen sowie zunehmende Globalisierung des Lebensmittelmarktes. Zum anderen sind sie zum überwiegenden Teil verhaltensbedingt und daher primär präventiv vergleichsweise gut beeinflussbar. Riskantes Gesundheitsverhalten findet sich insbesondere in sozial schwächer gestellten Bevölkerungsgruppen. So variiert beispielsweise die Rauchprävalenz vor allem bei Männern über alle Altersgruppen hinweg deutlich mit der Schulbildung. Während 37,9% der männlichen Hauptschulabsolventen rauchen, konsumieren lediglich 31,8% der ehemaligen Abiturienten Zigaretten. Bei Frauen hingegen lässt sich nur ein geringfügiger Unterschied feststellen. Demgegenüber ist der Risikofaktor Übergewicht bei jungen Frauen (Hauptschulabschluss: 31,4% vs. Abitur: 10,1% mit BMI 30) wesentlich stärker bildungsabhängig als bei Männern (Hauptschulabschluss: 24,3% vs. Abitur: 11,1% mit BMI 30) [43]. Zahlreiche sozialepidemiologische Studien belegen zudem einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Schicht und der
Der Wandel des Krankheitspanoramas
7
Auftretenswahrscheinlichkeit bestimmter chronischer Erkrankungen [5, 22, 35, 54, 59]. Der Analyse des gesundheitsrelevanten Einflusses der Schulbildung auf das Krankheitsvorkommen zufolge leiden Männer mit Hauptschulabschluss deutlich häufiger an Herzinfarkten oder Angina pectoris als Männer mit dem höchsten Bildungsabschluss. Bei Frauen lässt sich ein Bildungseffekt für die Auftretenswahrscheinlichkeit von Diabetes mellitus und Bluthochdruck nachweisen [43]. Über die Assoziation von Mortalität und sozialem Status liegen bislang für Deutschland keine amtlichen Daten vor [35, 53]. Internationale Befunde sowie Analysen von Routinedaten deutscher Krankenkassen lassen jedoch erkennen, dass sich die Lebenserwartung nach Bildungsniveau und Familienstand unterscheidet. So haben Männer in un- oder angelernten Berufen gegenüber Männern in Berufsgruppen mit dem höchsten Sozialstatus ein etwa vierfach erhöhtes relatives Sterberisiko [14, 64]. Unabhängig davon und obgleich eine befriedigende Differenzierung zwischen akutem und chronischem Krankheitsgeschehen schwierig ist, weisen chronische Krankheiten drei zentrale Charakteristika auf. Dazu zählt erstens ein kontinuierliches oder periodisches Auftreten von Krankheitssymptomen, die durch irreversible pathogene Prozesse verursacht werden. Zweitens gehen chronische Krankheiten mit einem lang andauernden, hohen Betreuungsbedarf einher, wobei die medizinischen Therapieeffekte im Sinne einer Kuration häufig begrenzt sind. Drittens kommt es im Krankheitsverlauf zu erheblichen Veränderungen, die nahezu alle Lebensbereiche des Erkrankten tangieren und psychosoziale Adaptionsleistungen verlangen [49]. Während es einige chronische Erkrankungen des Kindesalters gibt, die nach längerfristiger Behandlung im Erwachsenenalter ausgeheilt sind, gelten andere Erkrankungen per se als chronisch, wie etwa Morbus Parkinson und Diabetes mellitus. Darüber hinaus sind Krankheitszustände zu unterscheiden, die sowohl einen akuten als auch dauerhaften Verlauf nehmen können wie z. B. Schmerzen. Aus der individuellen Perspektive der Patienten kommt es meist zu nachhaltigen psychosozialen Veränderungen sowie zu Einschränkungen der individuellen Lebensführung in Form von Selbstversorgungsdefiziten. Sie erfordern nicht nur erhebliche Anpassungs- und Bewältigungsleistungen, sondern führen im Krankheitsverlauf in vielen Fällen zu dauerhaftem Pflege- und Hilfsbedarf [50]. Die adäquate Versorgung chronisch kranker Menschen stellt eine der bedeutendsten und größten Herausforderungen für das Gesundheitssystem dar. Dies wird v. a. durch die spezifische Verlaufsdynamik chronischer Erkrankungen, d. h. den Wechsel unterschiedlicher Krankheitsphasen, durch das komplexe Krankheitsgeschehen sowie die in der Regel langen, kostenintensiven Versorgungsverläufe begründet. Die Versorgung chronisch Kranker ist im Vergleich zu an-
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deren Patientengruppen zudem durch einen hohen Kostenaufwand gekennzeichnet [49], wobei diese Personengruppe einen großen Teil der Versorgungsausgaben auf sich vereint. 1.2 Epidemiologie ausgewählter chronischer Erkrankungen 1.2.1 Koronare Herzkrankheit Während in vergangenen Zeiten chronische Krankheiten oftmals aus durchlittenen Infektionskrankheiten resultierten, legen Todesursachenstatistiken moderner Industriegesellschaften die Annahme nahe, dass dort die koronare Herzkrankheit die bedeutendste Sterbeursache ist. Gleichzeitig ist die koronare Herzkrankheit zum einen ein ausgewiesenes Beispiel für das enorme Risikopotenzial, das mit den Lebensstilen in den westlichen Industrienationen einhergeht (Rauchen, Alkohol, Übergewicht, körperliche Inaktivität, psychosoziale Belastungen). Zum anderen war das mit der koronaren Herzkrankheit verbundene Krankheitsereignis Herzinfarkt in den vorhergehenden Jahrhunderten durch die geringere Lebenserwartung deutlich seltener. Infolgedessen ist zu vermuten, dass die koronare Herzkrankheit durch den demographischen Wandel an epidemiologischer und versorgungspolitischer Relevanz gewinnen wird [28]. Kardiovaskuläre Erkrankungen rangieren laut Angaben der WHO sowohl bei Frauen als auch bei Männern an zweiter Stelle der zehn häufigsten Krankheitsgruppen mit größtem Impact auf Mortalität und behinderungsbedingte Einschränkungen [74]. Obwohl die Mortalität und Inzidenz dieser Erkrankung in der Mehrzahl westlicher Industriestaaten in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren zurückgegangen ist [78], begründete sie 2001 rund 20% aller Todesfälle in Deutschland. Dabei handelte es sich bei 11,2% aller Fälle um eine chronische ischämische Herzkrankheit und bei 7,9% um einen akuten Myokardinfarkt. Insgesamt fällt die Todesrate deutlich höher aus als im europäischen Durchschnitt [57, 74]. So liegt die Mortalitätsrate unter deutschen Männern 25% über dem europäischen Durchschnitt und bei Frauen sogar 40% [75]. Gleichzeitig sind doppelt bis dreimal so viele Männer wie Frauen von einer koronaren Herzkrankheit betroffen. Allerdings steigt bei den Frauen die Inzidenz im höheren Lebensalter steil an. Die Lebenszeitprävalenz für die Diagnose „Zustand nach Herzinfarkt“ beträgt 2,5% unter allen 18- bis 80-jährigen Bundesbürgern [66].
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1.2.2 Neubildungen Unter den nichtübertragbaren Erkrankungen stellen Neubildungen weltweit mit 7,6 Millionen Todesfällen die zweithäufigste Todesursache dar. Betrachtet man allerdings die weltweite Krankheitslast2, so rangieren Neubildungen mit 5% an fünfter Stelle. Prognosen gehen davon aus, dass Lebenszeitverluste3 aufgrund von Neubildungen bis zum Jahr 2030 leicht ansteigen. Gleichzeitig wird erwartet, dass die absolute krebsbedingte Mortalitätsrate zunimmt [73]. Im Jahr 2001 waren Krebserkrankungen für mehr als ein Viertel (27%) aller Todesfälle verantwortlich. Die geschlechtsspezifische Krankheitslast von Männern (18%) und Frauen (17%) unterscheidet sich nur gering. Demzufolge ist die Krankheitslast von Krebserkrankungen eher mit tödlichem Ausgang als mit langwierigen Krankheitsverläufen assoziiert. In Deutschland hat die Neuerkrankungsrate bis Ende der 90er Jahre um 5% zugenommen, was in etwa dem europäischen Durchschnitt entspricht [74]. Im mittleren Erwachsenenalter (30 bis 65 Jahre) ist die Sterberate zwar insgesamt niedrig, jedoch nehmen Krebserkrankungen eine vorherrschende Stellung ein und sind noch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Haupttodesursache. Unter altersspezifischen Gesichtspunkten sind Frauen sowie Männer zwischen dem 30. und 44. Lebensjahr insbesondere von bösartigen Neubildungen der Reproduktions- bzw. sekundären Geschlechtsorgane betroffen. Frauen haben jedoch ein vierfach erhöhtes Erkrankungsrisiko, und zwischen 45 und 64 Jahren stellen Brust- und Gebärmutterkrebs die häufigsten Krebserkrankungen dar. Das Mammakarzinom ist in der Gruppe der 35- bis 65-jährigen Frauen mit 35% mit Abstand die häufigste Krebsneuerkrankung. Zugleich ist Brustkrebs die bedeutsamste Krebserkrankung bei jüngeren Frauen, da das mittlere Erkrankungsalter mit gut 60 Jahren um sieben Jahre niedriger ausfällt als bei allen Krebserkrankungen. Im Gegensatz dazu nimmt bei Männern die Bedeutung von Hodenkrebs in diesem Alter zugunsten von Prostatakrebs ab, wobei die meisten Krebsneuerkrankungen (Lungen-, Mundhöhlen-, Rachen-, Speiseröhrenkrebs) auf das Risikoverhalten Rauchen zurückzuführen sind [44]. Schätzungen der WHO gehen davon aus, dass rund 50 Männer gegenüber lediglich 11 Frauen pro 100 000 Einwohner an Lungenkrebs innerhalb eines Jahres neu erkranken [74]. Dieses heterogene Spektrum an bösartigen Neubildungen geht mit ungünstigeren Überlebenschancen für Männer einher. Erkranken Frauen gemessen an in Behinderung verbrachten Lebensjahren (disability-adjusted life-
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und Männer an der gleichen Krebsart, so gibt es bis auf Hautkrebs keine Unterschiede in der Überlebenswahrscheinlichkeit. 1.2.3 Diabetes mellitus In den letzten zwei Jahrzehnten kam es weltweit zu einer deutlichen Zunahme von Diabetes-mellitus-Erkrankungen. Während im Jahr 2000 global 171 Millionen Menschen betroffen waren, wird für das Jahr 2030 ein Anstieg der Krankheitsrate auf mehr als das Doppelte (366 Millionen) prognostiziert [75]. Europaweit werden derzeit etwa zehn Millionen Betroffene angenommen, und bis zum Jahr 2010 wird ein Anstieg auf 13 Millionen erwartet [21]. In Deutschland ist Diabetes mellitus eine Volkskrankheit, unter der schätzungsweise 5 bis 6% der Bevölkerung leiden und die in den kommenden Jahren weiter zunehmen wird [7]. Nach Erhebungen der Deutschen Diabetes-Stiftung waren im Jahr 2001 5,75 Millionen Diabetiker in Deutschland bekannt. Im Vergleich zu einer Erhebung aus dem Jahr 1988 lässt sich ein Anstieg um 43% feststellen. Die Prävalenz des Diabetes und gestörter Glukosetoleranz steigt mit dem Alter an [18]. Ein deutlicher Anstieg der Prävalenz setzt bei den Männern bereits im Alter zwischen 50 und 59 Jahren ein, während dies bei den Frauen erst im Alter von 60 bis 69 Jahren der Fall ist. Nach dem 60. Lebensjahr kehrt sich das Verhältnis zu Ungunsten der Frauen um [2, 20, 23]. Auf dem Gipfel der Erkrankungswahrscheinlichkeit zwischen 70 und 79 Jahren [19, 34] leidet etwa jede fünfte Frau an Diabetes, während nur 13% der Männer erkrankt sind. Die Inzidenz ist ebenso altersabhängig und erreicht ihr Maximum zwischen 65 und 75 Jahren [31, 48]. Untersuchungen von Rathmann und Kollegen [39] zeigen für Süddeutschland für vorher unentdeckte Diabeteserkrankungen eine Prävalenz von 8,4% unter 55- bis 74-Jährigen. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung an einem unerkannten Diabetes erkrankt ist. Menschen mit undiagnostiziertem Diabetes leiden mit größerer Wahrscheinlichkeit an Übergewicht, Dyslipidämien und Hypertonie und weisen ein signifikant höheres Risiko auf, an kardialen, zerebralen und peripheren Gefäßveränderungen sowie ihren Folgen zu erkranken [29]. Diabetes ist mit einem erhöhten Komorbiditäts- und Mortalitätsrisiko verbunden [48] und führt zu einer Übersterblichkeit. Die Mortalität von Diabetikern ist doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung. Zudem kommt es zu einer Unterschätzung der diabetesbedingten Mortalität, insbesondere wenn sich die Erhebungen auf Todesursachen in Totenscheinen stützen [38].
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1.2.4 Psychische Erkrankungen Psychische Erkrankungen und die mit ihnen einhergehenden Einschränkungen der Gesundheit und Leistungsfähigkeit sind lange Zeit in ihrer Bedeutung unterschätzt worden [10]. Die Krankheitslast psychischer Erkrankungen liegt weltweit bei 12% [70]. Prognosen für 2020 gehen davon aus, dass fünf psychische Erkrankungen zu den zehn wichtigsten Krankheiten zählen werden. Dabei handelt es sich um die unipolare Depression, den Alkoholabusus, demenzielle Erkrankungen, Schizophrenie und bipolare affektive Störungen. Allein von depressiven Syndromen wird angenommen, dass sie sich in den nächsten zehn Jahren zum zweithäufigsten Grund für in Invalidität verbrachte Lebensjahre entwickeln wird [36]. In Deutschland nehmen neuropsychiatrische Störungen in Bezug auf die um Invalididät korrigierten Lebensjahre den ersten Platz ein [74]. So liegen die Lebenszeitprävalenz psychischer Störungen bei rund 43% und die 1-Jahres-Prävalenz bei 31%. An vorderster Stelle rangieren Phobien (12,6%), gefolgt von somatoformen Störungen (11,0%) sowie depressiven Syndromen (8,8%). 32,1% der deutschen Bevölkerung sind von mindestens einer psychischen Erkrankung betroffen und 19,8% leiden laut Bundes-Gesundheitssurveys 1998/99 (Zusatzsurvey „Psychische Störungen“) innerhalb eines Vier-Wochen-Zeitraumes an einer krankheitswertigen psychischen Störung [69]. Darüber hinaus ist bekannt, dass Frauen an zahlreichen psychischen Leiden deutlich häufiger erkranken als Männer. Dies gilt zumindest im mittleren Erwachsenenalter beispielsweise sowohl für affektive und somatoforme Störungen als auch für Angststörungen. Im Gegensatz dazu spielen bei Männern stoffgebundene Abhängigkeitsstörungen eine weitaus größere Rolle als bei Frauen [44], wenngleich zu bedenken ist, dass Frauen mit Alkoholabusus tendenziell unterdiagnostiziert sind [76]. Während Frauen eher zu Psychopharmakaabusus (v. a. Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika) neigen, greifen Männer eher zu nichtmedikamentösen Suchtstoffen. Der Bundesgesundheitsberichterstattung zufolge ist der Anteil 36- bis 45-jähriger Frauen, die innerhalb eines Monats eine psychische Diagnose erhalten, insgesamt mehr als doppelt so hoch (23%) wie unter den gleichaltrigen Männern (10%) [43]. 1.3 Kosten ausgewählter chronischer Erkrankungen Im Jahr 2002 beliefen sich die Ausgaben für den Erhalt und die Wiederherstellung der Gesundheit in der Bundesrepublik auf 223,6 Milli-
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ar-den Euro. Somit werden in Deutschland 10,9% des Bruttoinlandsprodukts für Gesundheitsleistungen aufgewendet, wobei 79% aus öffentlichen Mitteln finanziert werden. Mit diesen Werten nimmt die Bundesrepublik sowohl innerhalb der Europäischen Gemeinschaft als auch in der OECD einen Spitzenplatz ein [74]. Unter krankheitsspezifischen Gesichtspunkten zeigt sich, dass die höchsten Kosten auf Krankheiten des Kreislaufsystems entfallen. Ihre Behandlung macht 15,8% der Gesamtausgaben aus (35,4 Milliarden Euro). Mehr als ein Viertel dieser Ausgaben entstanden durch Hochdruckerkrankungen, gefolgt von zerebrovaskulären Krankheiten (7,8 Milliarden Euro) und ischämischen Herzkrankheiten (7 Milliarden Euro). Erkrankungen des Verdauungssystems verursachen mit 31,3 Milliarden Euro die zweithöchsten Krankheitskosten und somit 14% der Gesamtausgaben, wobei der überwiegende Teil dieser Kosten durch zahnmedizinische Behandlungen und Zahnersatz entsteht. Gut ein Zehntel der gesamten Gesundheitsaufwendungen (25,2 Milliarden Euro) entfallen auf Erkrankungen des muskuloskelettalen Systems. Psychische und Verhaltensstörungen machen 10% der Gesamtausgaben aus und rangieren mit 22,4 Milliarden Euro an vierter Stelle. Innerhalb dieser Gruppe erweisen sich vor allem demenzielle Erkrankungen und depressive Syndrome als besonders kostspielig, denn sie verursachen zusammen fast die Hälfte (9,6 Milliarden Euro) aller Ausgaben für psychische Erkrankungen. 14,7 Milliarden Euro des Gesamtausgabenvolumens (6,6%) entfallen auf Neubildungen und 5,8% (12,9 Milliarden Euro) auf endokrine, Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen. Zwei Fünftel aller stoffwechselbedingten Ausgaben werden für die Behandlung des Diabetes mellitus verwandt. Insgesamt verursachen die genannten Krankheitsgruppen zusammen mit Atemwegserkrankungen sowie Verletzungen und Vergiftungen knapp drei Viertel (73,6%) bzw. 164,6 Milliarden Euro aller Krankheitskosten. Dabei fällt auf, dass diesen Krankheitsklassen bei Männern eine größere Bedeutung zukommt als bei Frauen (77% vs. 71%). Während Personen im erwerbsfähigen Alter, die mehr als zwei Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung ausmachen (67,6%), rund die Hälfte (51,5%) aller Krankheitskosten verursachen, entfallen auf die gesundheitliche Versorgung der mit 17,2% relativ kleinen Gruppe 65-jähriger und älterer Menschen 43% der Gesamtausgaben. Tendenziell nehmen die Pro-Kopf-Ausgaben für die Krankheitsbehandlung mit steigendem Alter überproportional zu. Im Mittel belaufen sich die Krankheitskosten auf 2710 Euro, wobei dieser Wert bei 65- bis 85-Jährigen in etwa doppelt so hoch ausfällt [57]. Die Analyse der Krankheitskosten verdeutlicht, dass sie in den verschiedenen Lebensabschnitten durch unter-
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schiedliche Erkrankungen determiniert werden. Im jungen und mittleren Erwachsenenalter (15 bis 45 Jahre) sind neben Erkrankungen des Verdauungssystems psychische Störungen mit gut 12% an den Krankheitskosten beteiligt. Demgegenüber zeigt sich bei den 45- bis 65Jährigen ein anders gewichtetes Kostenpanorama: Zwar nehmen auch hier Krankheiten des Verdauungssystems eine vorrangige Bedeutung ein. Sie machen 18,2% der Gesamtausgaben aus. An zweiter Stelle folgen jedoch Aufwendungen für Herzkreislauferkrankungen (15,2%) sowie für muskuloskelettale Erkrankungen (14,4%). Krankheitskosten im Zusammenhang mit Neubildungen gewinnen in dieser Altersgruppe im Vergleich zu den Jüngeren deutlich an Relevanz, denn sie verursachen 8,4% der Krankheitskosten aller 45- bis 65-Jährigen und somit einen doppelt so hohen Anteil wie bei den 30- bis unter 45-Jährigen. Gleichzeitig nimmt der Kostenanteil psychischer und Verhaltensstörungen um vier Prozent ab im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen. Ab dem 45. Lebensjahr entstehen zunehmend Kosten durch die Behandlung von Stoffwechselerkrankungen, insbesondere von Diabetes mellitus. Koronare Herzkrankheit. Betrachtet man die Jahresgesundheitsaus gaben für die Behandlung der Koronaren Herzkrankheit pro 100 000 Einwohner im OECD-Vergleich, so zeigt sich, dass Deutschland auf Platz eins rangiert [11]. Im Jahr 2002 wurden für die Behandlung ischämischer Herzkrankheiten 7 Milliarden Euro ausgegeben. Dies entspricht 3,1% der gesamten Krankheitskosten. Drei Fünftel (60,1%) dieser Kosten entfallen wiederum ausschließlich auf Männer. Einer altersspezifischen Analyse zufolge verursachen erwartungsgemäß 45- bis 85-Jährige nahezu alle Krankheitskosten aufgrund dieser Diagnose (90%). Unter versorgungsökonomischen Gesichtspunkten entstehen 46,7% durch stationäre Krankenhausbehandlungen, 16,7% durch Arzneimittelverordnungen und 8,3% durch ambulante medizinische Behandlungen [57]. Neubildungen. Für die Behandlung von Neubildungen wurden im Jahr 2002 durchschnittlich 190 Euro für alle weiblichen und 160 Euro für alle männlichen Einwohner der Bundesrepublik ausgegeben. Mehr als zwei Drittel (65,3%) dieser Kosten entstehen durch Behandlungen in teilstationären und stationären Einrichtungen, rund ein Viertel (25,2%) hingegen durch Behandlungen im ambulanten Bereich. Allein für die Behandlung von bösartigen Neubildungen der Brust wurden im Jahr 2002 1,5 Milliarden Euro verwandt, wobei 486 Millionen Euro auf die ambulante Versorgung und 936 Millionen Euro auf die stationäre Versorgung entfielen [45]. Weitere 13,3% der Kosten verbinden sich mit medikamentösen Therapien und 9,2% mit der Versorgung durch stationäre und teilstationäre Pflegeeinrichtungen. Knapp
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84% dieser Kosten konzentrieren sich auf die Altersgruppe der 45- bis unter 85-Jährigen. Diabetes mellitus. Durch seine hohe Prävalenz, den chronischen Verlauf und die schwerwiegenden Komplikationen ist Diabetes mellitus von großer gesundheitsökonomischer Relevanz. Frühere Schätzungen werden häufig als nur wenig aussagekräftig kritisiert, da Komplikationen und Folgeerkrankungen nicht ausreichend berücksichtigt waren. Es wird davon ausgegangen, dass es auf diese Weise zu einer deutlichen Unterbewertung der diabetesassoziierten Kosten kommt [46]. Dies gilt auch für die Annahme des Statistischen Bundesamtes [57], der zufolge 5,12 Milliarden Euro bzw. 2,3% aller Krankheitskosten für die direkte Behandlung von Diabetes-Erkrankten aufgewendet werden. Andere Untersuchungen ermitteln jedoch ein weitaus höheres Ausgabenvolumen. Demnach werden in Deutschland jährlich etwa 16 Milliarden Euro in die Behandlung des Diabetes investiert. 61% dieser Kosten werden durch die Gesetzliche Krankenversicherung, 18% durch Rentenversicherungsträger und 14% durch die Pflegeversicherung getragen. 3% werden von den Betroffenen selbst finanziert [30]. Die jährlichen ProKopf-Ausgaben für einen Diabetiker bewegen sich zwischen 3359 Euro und 4500 Euro. Die Hälfte dieser Ausgaben wird durch stationäre Aufenthalte verursacht, nur 13% entstehen durch die ambulante Versorgung und 27% durch verordnete Arzneimittel. Lediglich 7% dieser Arzneimittelaufwendungen fließen in die direkte Therapie des Diabetes. 20% werden für andere Arzneimittel im Rahmen von Begleiterkrankungen benötigt [27, 30]. Ein Viertel dieser Medikamente betrifft allein das kardiovaskuläre System [27]. Bei den Gesundheitsausgaben für Messstreifen sowie Antidiabetika und andere Medikamente findet sich im Allgemeinen bis zum Alter von 79 Jahren kein Alterseffekt gegenüber den 40- bis 59-Jährigen. Nach dem 79. Lebensjahr nehmen diese Kosten sogar noch etwas ab [30]. Dennoch liegen die gesamten Kosten der über 60-jährigen Diabetiker 20% über denen der jüngeren. Zu vermuten ist, dass diese Kostendiskrepanz in den einzelnen Altersklassen durch vermehrte Krankenhausaufenthalte im Alter bedingt ist. Stationäre Behandlungen machen wiederum den größten Anteil an den Gesamtkosten aus und sind vor allem durch Komplikationen des Diabetes begründet. Insbesondere bei Vorliegen vaskulärer Komplikationen steigen die Krankenhauskosten. Verschiedene Forschungsarbeiten belegen, dass mikro- und makrovaskuläre Begleiterkrankungen und Spätkomplikationen der kostentreibende Faktor sind [24, 27, 37, 61, 67]. Mehrfachkrankenhausaufenthalte sind typisch für Diabetiker und gleichzeitig ein kostenträchtiger Faktor [25]. Solche Mehrfachkrankenhausaufenthalte
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sind bei Diabetikern wahrscheinlicher als in der Allgemeinbevölkerung und zudem doppelt so teuer [1]. Somit vereinigen 4,2% der Bevölkerung, bei denen ein Diabetes vorliegt, 8% der Gesamtausgaben und 14,3% aller Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen auf sich [30]. Die Kosten korrelieren mit der Schwere der Komplikationen und therapiebewertenden Parametern. Im Vergleich zu einem Nichtdiabetiker sind die direkten Ausgaben für einen „gesunden“ Diabetiker mit durchschnittlich 1505 Euro im Jahr auf das 1,3-fache erhöht. Mit dem Auftreten makro- und mikrovaskulärer Komplikationen können die Kosten auf das 4,1-fache der Ausgaben für einen normalen Versicherten, nämlich durchschnittlich 5226 Euro ansteigen [30, 27, 67]. Psychische Erkrankungen. Psychische und Verhaltensstörungen nehmen im Hinblick auf die Krankheitskosten über alle Altersgruppen hinweg eine nahezu gleich bleibende Rolle ein. So zählen diese Krankheiten bis zum Alter von 45 Jahren zu den zweit teuersten und rangieren jenseits des 45. Lebensjahres auf Platz fünf der teuersten Krankheiten. Im Mittel werden für Frauen je Einwohner in Deutschland 330 Euro und für Männer 210 Euro zur Behandlung psychischer Erkrankungen ausgegeben. Zwei Drittel aller Krankheitskosten in Verbindung mit psychischen Erkrankungen werden im stationären oder teilstationären Sektor verursacht. Damit stellen sie nach Krankheiten des Kreislaufsystems die kostenträchtigsten Krankheitsbilder in diesem Versorgungssegment dar und verursachen 15,8% der Gesamtkosten [57]. Während für den angloamerikanischen Bereich zahlreiche Krankheitskostenstudien vorliegen [15, 26, 60, 63], gibt es für die kontinentaleuropäischen Länder inklusive Deutschland kaum Untersuchungen zu den Kosten, die durch Depressionen entstehen [8]. 1.4 Exkurs: Gesundheit und chronische Krankheit im Alter vor dem Hintergrund der Lebensarbeitszeitverlängerung Aus gerontologischer Sicht wird der Zusammenhang zwischen Alter und Gesundheit nach wie vor kontrovers diskutiert: Einerseits sind ältere Frauen und Männer heute durchschnittlich gesünder als früher und es gibt ernst zu nehmende Hinweise darauf, dass sich sowohl die körperliche als auch die geistige Vitalität im Alter in der Vergangenheit von Kohorte zu Kohorte verbessert hat [52, 58,62]. Darüber hinaus zeigen Befragungen älterer Menschen selbst nahezu durchgängig hohe Zufriedenheitswerte mit der eigenen Gesundheit. Dem Alterssurvey zufolge schätzen beispielsweise mehr als jede zweite Frau und ebenso viele Männer im Alter von 55 bis 69 Jahren ihren Gesundheitszustand als sehr gut ein [77]. Bekannt ist ferner, dass
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Aktivität, soziale Teilhabe und Sinnerfüllung wichtige Einflussgrößen auf Wohlbefinden und Gesundheit im Alter darstellen [42]. Folglich existieren Belege dafür, dass es neben der Kompression der Mortalität auch zu einer Kompression der Morbidität kommt [3, 12]. Zudem ist heute weitgehend unbestritten, dass altersbedingten funktionellen Einbußen beispielsweise durch psychophysisches Training erfolgreich entgegen gewirkt werden kann. Darüber hinaus senkt die Reduktion von Gesundheitsrisiken (wie z. B. Nikotinverzicht, Abbau von Übergewicht) das Krankheitsrisiko und dies selbst dann, wenn sie erst im höheren Lebensalter stattfindet. Evaluationsstudien im Bereich der Rehabilitation belegen schließlich, dass rehabilitative Maßnahmen auch im Alter das Selbständigkeitsniveau und die Lebensqualität durchaus langfristig verbessern können [33]. Andererseits gibt es Prognosen, die von einer insgesamt expandierenden Morbidität ausgehen und den Gewinn an „Jahren in Gesundheit“ lediglich für die jüngeren Jahrgänge unter der Altenbevölkerung annehmen [16, 65]. Unabhängig davon, dass der Ausgang dieser kontrovers geführten Diskussion auf Grund mangelnder Daten bislang noch offen bleiben muss [13], erhöht die allgemeine Verlängerung des Lebens vielfach die Möglichkeiten einer Manifestation vormals latenter chronischer Krankheiten und lässt degenerative Prozesse an Bedeutung gewinnen [4]. Bereits ab dem vierten Lebensjahrzehnt treten körperliche Alterungsprozesse sowohl aus medizinischer als auch subjektiver Perspektive deutlicher in Erscheinung, und immer mehr Frauen und Männer sehen sich mit gesundheitlichen Einbußen konfrontiert. Gerade die jahre- und jahrzehntelange Latenz einiger chronischer Erkrankungen sowie die Exposition verschiedener Risikofaktoren führen mit dazu, dass spezifische Krankheiten (z. B. Krebs, Diabetes mellitus) sich erst im mittleren und höheren Erwachsenenalter vermehrt zeigen [77]. Bereits heute leiden rund 20% aller über 65-Jährigen an einer dauerhaften Krankheit oder Behinderung [56], und bei 89% aller Erkrankenden jenseits des 65. Lebensjahres handelt es sich um ein chronisches Leiden [79]. Untersuchungen von älteren chronisch Kranken belegen zudem eine erhöhte Auftrittswahrscheinlichkeit weiterer dauerhafter Leiden. Dies gilt insbesondere für Personen, die an Diabetes mellitus oder Arthrose leiden [41]. Mehrfacherkrankungen stellen wiederum ein erhöhtes Risiko für das Eintreten von Fähigkeitsstörungen sowie Behinderungen dar [32, 41]. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitig anhaltend niedrigen Geburtenraten verändert sich die Struktur des Arbeitskräftepotenzials, das in Deutschland zur Verfügung steht. Zugleich führen diese Entwicklungen zu einer Ausweitung des Zeitraums, in dem die Altersrenten bezogen werden, sowie zu einem Rückgang der
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Einzahlungen in die Rentenversicherungen. Aus der Perspektive des Arbeitsmarktes bedeutet dies, dass das zukünftige Arbeitskräftepotenzial zunehmend weniger und älter wird. So wird bereits bis 2020 das Potenzial über 50-jähriger Erwerbstätiger um 5 Millionen zunehmen und den Anteil dieser Personen am gesamten Arbeitskräftepotenzial von derzeit 22% auf 34% erhöhen. Diese Prognosen haben die Bundesregierung dazu veranlasst, eine sukzessive Erhöhung des Renteneintrittsalters im Zeitraum von 2012 bis 2029 zu planen. Diesen Vorstellungen zufolge läge die Regelaltersgrenze für die heute über 40-Jährigen im Jahr 2029 bei 67 Jahren. Bislang werden diese Pläne gesamtgesellschaftlich kontrovers diskutiert. In diesem Kontext wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Quote älterer Arbeitnehmer hierzulande im europäischen Vergleich auf einem niedrigen Niveau verharrt. So haben in der Bundesrepublik lediglich 41,4% der 55- bis 64-Jährigen einen Arbeitsplatz. Im Gegensatz dazu liegt die Beschäftigungsquote Älterer in Schweden beispielsweise bei 69% und in Dänemark bei 62% [9]. Um die Vereinbarung des europäischen Rates zu erfüllen, d. h. die Erwerbsquote unter den 55- bis 64-Jährigen bis 2010 auf 50% zu steigern, müssten in Deutschland rund 800 000 mehr Erwerbstätige in diesem Alter beschäftigt werden. Zudem zeigen Zeitreihenvergleiche, dass ein direkter Übergang von einer Erwerbstätigkeit in die Altersrente für immer weniger ältere Menschen realisierbar ist. Vielmehr nehmen Phasen der Arbeitslosigkeit oder des Vorruhestandes kurz vor dem Eintritt in die Altersrente zu. Darüber hinaus hat sich auch die individuelle Sicht auf das geplante Renteneintrittsalter in den letzten Jahren verändert. So zeigt beispielsweise der Alterssurvey, dass im Jahr 1996 noch fast jeder zweite befragte Erwerbstätige ab 40 Jahren plante, mit 60 Jahren oder früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Sechs Jahre später wird eine solche Lebensplanung nur noch von gut jedem dritten Befragten (35%) geäußert. Parallel dazu hat sich die Gruppe derjenigen verdoppelt, die unsicher ist in Bezug auf den Beginn ihres Ruhestandes. Folglich zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den Erwartungen älterer Erwerbstätiger, die augenscheinlich eine Erwerbstätigkeit bis zum 65. Lebensjahr antizipieren, und den tatsächlichen Beschäftigungsrealitäten Älterer. Neben geringen Möglichkeiten älterer Arbeitnehmer, einen Arbeitsplatz zu behalten bzw. zu finden, wird ihre Erwerbstätigkeit auch durch chronische Krankheiten beeinträchtigt, da sie seit langem den Hauptgrund für Frühberentungen in der Gesetzlichen Rentenversicherung darstellen. Das Risiko der Frühberentung nimmt mit steigendem Alter kontinuierlich zu. Für Männer gilt dies bis zum Alter von 56 Jahren, wobei Frühberentungen zwischen dem 56. und 58. Lebensjahr überproportional zunehmen. Demgegenüber haben Frauen bis zum 55. Lebensjahr
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eine höhere Frühberentungsquote [47]. Zu den wichtigsten Frühberentungsdiagnosen zählen psychiatrische Krankheiten, muskuloskelettale Erkrankungen, Neubildungen und Erkrankungen des HerzKreislaufsystems. Diese vier Erkrankungsgruppen machen bei Männern 76% und bei Frauen sogar 87% aller Frühberentungen aus. Die Bedeutung der einzelnen Diagnosegruppen als Frühberentungsgrund hat sich seit Mitte der 80er Jahre verändert. Demnach spielen HerzKreislauf-Erkrankungen aktuell eine deutlich geringere Rolle als noch vor gut 20 Jahren. Ein ähnlich starker Rückgang ist für Erkrankungen des Bewegungsapparates zu verzeichnen. Neubildungen hingegen sind in ihrer Bedeutung für Frühberentungen konstant geblieben. Einzig der Anteil psychischer Erkrankungen innerhalb der Frühberentungsdiagnosen hat sich verdreifacht und stellt heute den Hauptgrund für den Rentenzugang aufgrund verminderter Erwerbsfähigkeit dar [6, 47]. 1.5 Fazit Medizinisch-technische Fortschritte, veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen sowie die Lebenszeitverlängerung führen in allen industrialisierten Gesellschaften zu einer Veränderung des Krankheitsspektrums. Demnach gewinnen chronische Erkrankungen immer mehr an epidemiologischer, individueller, sozialpolitischer sowie gesundheitsökonomischer Bedeutung. Die Krankheitslast chronischer Krankheiten wird allerdings nur durch eine kleine Zahl von Risikofaktoren bestimmt, die sich aus einer Interaktion zwischen riskantem Gesundheitsverhalten, psychosozialem Stress sowie sozioökonomischen Faktoren erklären. So sind insbesondere Menschen mit niedrigem Bildungsstand, geringem Berufsstatus und Einkommen von chronischen Erkrankungen betroffen. Ein herausragendes Beispiel für den Zusammenhang zwischen Lebensstil und Erkrankungsrisiko stellt die koronare Herzkrankheit dar. Sie ist bereits heute die bedeutendste Todesursache und wird zukünftig an epidemiologischer und gesundheitsökonomischer Relevanz gewinnen. Ähnliches gilt auch für Neubildungen, deren absolute Mortalitätsrate nach wie vor steigt und deren Versorgung 6,6% der jährlichen Gesamtkrankheitskosten ausmacht. Im Gegensatz dazu besteht bis heute Unklarheit darüber, wie hoch die tatsächlichen Prävalenzraten des Diabetes mellitus sind. Dies ist insbesondere wegen des mit dieser Erkrankung verbundenen hohen Komorbiditätsrisikos unbefriedigend. Zwei Fünftel aller stoffwechselbedingten Ausgaben werden für die Behandlung von Diabetes mellitus verwandt. Psychiatrische Erkrankungen sind lange Zeit in ihrer Bedeutung unterschätzt worden,
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rangieren jedoch heute an vierter Stelle der teuersten Krankheiten. Bis 2020 werden psychische Erkrankungen wie Depression, Alkoholabusus, Demenz, Schizophrenie und bipolare affektive Störungen weltweit zu den zehn wichtigsten Krankheiten zählen. Der Zusammenhang zwischen Alter und Gesundheit wird nach wie vor kontrovers diskutiert, da es sowohl empirische Hinweise auf eine Verbesserung des Gesundheitszustandes älterer Menschen gibt als auch auf eine Ausweitung der Morbidität. Vor diesem Hintergrund scheinen Pläne, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, eher von bestehenden Beschäftigungsrealitäten für Ältere als von ihrer gesundheitlichen Situation konterkariert zu werden. Literatur [1] [2] [3]
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KAPITEL 2
Arbeitsbedingte Einflüsse bei der Entstehung chronischer Krankheiten K. Kuhn
Zusammenfassung. Die Abschätzung der durch präventive Maßnahmen vermeidbaren arbeitsbedingten Anteile an den Ursachen von in der Bevölkerung verbreiteten chronischen Krankheiten setzt neben gesicherten epidemiologischen Kenntnissen über arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken von Beschäftigtengruppen insbesondere auch zuverlässige Daten über die Anzahl von exponierten Personen sowie die Stärke der Expositionen und Belastungen voraus. Zur Verbesserung der Gesundheitslage der Erwerbspopulation und der Prävention von arbeitsassoziierten Erkrankungen bedarf es einerseits der Generierung weiteren Wissens über die Expositions-Wirkungs- bzw. Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen bestimmten Arbeitsstoffen und anderen Expositionsfaktoren und den jeweiligen Gesundheitsrisiken. Dieses Wissen wird benötigt, um präventionsorientierte Normen und Grenzwerte zu bestimmen bzw. zu aktualisieren. Andererseits gilt es, über arbeitsplatzbezogene Präventionsprogramme die Morbidität bezüglich beeinflussbarer chronischer Krankheiten insgesamt zu reduzieren. 2.1 Die Beziehung Mensch – Arbeit – Gesundheit – Krankheit Der betriebliche Gesundheitsschutz zielt auf Vorbeugung, Vorsorge und Förderung der Gesundheit. In diese Kette hat sich der betriebliche Arbeitsund Gesundheitsschutz einzubringen und seine Ziele Erhalt, Förderung und Wiederherstellung der Gesundheit sowie gegebenenfalls Arbeit mit Beeinträchtigung/chronischer Krankheit zu realisieren. Der Entwicklung individueller und sozialer Ressourcen kommt dabei eine zunehmende Bedeutung für die Entwicklung von Bewältigungsformen zu. Die Abschätzung der durch präventive Maßnahmen vermeidbaren arbeitsbedingten Anteile an den Ursachen von in der Bevölkerung verbreiteten chronischen Krankheiten setzt neben gesicherten epidemiologischen Kenntnissen über arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken von Beschäftigtengruppen insbesondere auch zuverlässige Daten über die
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K. Kuhn
Anzahl von exponierten Personen sowie die Stärke der Expositionen und Belastungen voraus. Zur Verbesserung der Gesundheitslage der Erwerbspopulation und der Prävention arbeitsassoziierter Erkrankungen bedarf es einerseits der Generierung weiteren Wissens über die Expositions-Wirkungs- bzw. Dosis-Wirkungs-Beziehungen zwischen bestimmten Arbeitsstoffen und anderen Expositionsfaktoren und den jeweiligen Gesundheitsrisiken. Dieses Wissen wird benötigt, um präventionsorientierte Normen und Grenzwerte zu bestimmen bzw. zu aktualisieren. Andererseits gilt es, über arbeitsplatzbezogene Präventionsprogramme die Morbidität bezüglich beeinflussbarer chronischer Krankheiten insgesamt zu reduzieren. Hierbei sind auch lebensstilbedingte Risikofaktoren (z. B. Rauchen, Alkohol) mit zu berücksichtigen. Die stetige Zunahme einer Reihe chronischer Krankheiten, steigende Zahlen von Frühverrentung bei gleichzeitigem Anstieg der mittleren Lebenserwartung erfordern eine stärkere Einbindung des klassischen Arbeitsschutzes in eine umfassende Präventionsstrategie. Alle Präventionsebenen (Ursachenvermeidung, Früherkennung und Rehabilitation) sind einzubeziehen, ebenso wie die Betrachtung der Risiken für Sicherheit und Gesundheit im Arbeits- und Privatbereich unter Berücksichtigung individuellen Verhaltens (Lebensstil, Bewegung, Ernährung). Demzufolge muss politisches Handeln in verschiedenen Bereichen der Gesundheits-, Sozial-, Verbraucherschutz-, Umwelt- und Arbeitsmarktpolitik kooperativ und synergetisch ausgestaltet werden. Darüber hinaus gewinnt auch die auf den einzelnen Menschen bezogene Prävention unter Berücksichtigung der persönlichen Belastung, Belastbarkeit und Gesundheit an Bedeutung. Erhaltung und Förderung von Gesundheit ist damit eine weit anspruchsvollere Aufgabe geworden, zum einen, weil wir uns der vielfältigen Wechselwirkungen der stofflichen, technischen, organisatorischen, sozialen und betriebspolitischen Einflüsse bewusst geworden sind, ohne ihren jeweiligen Anteil am Gesundheitsgeschehen exakt festlegen zu können. Zum anderen, weil das alte Bild, das mit dem Begriff des „Schutzes der Gesundheit“ verbunden ist, also die Vorstellung des Einwirkens äußerer schädigender Einflüsse auf den Menschen, zunehmend ergänzt und überlagert wird von einem Gesundheitsverständnis, in dem die handelnde Person in bewältigender Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt im Zentrum steht. Was uns heute in diesem Zusammenhang mehr und mehr interessieren muss, ist die Frage: Was sind die Bedingungen und Voraussetzungen, unter denen Menschen – gerade auch im Arbeitsleben – ihre Gesundheit leben und erleben können? Also welches sind die salutogenen Potenziale, aus denen sie Kraft schöpfen, um die Anforderungen ihrer Arbeitssituation ohne physische, psychische, seelische und soziale
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Beeinträchtigungen zu bewältigen? Gesundheitsförderung als die weiterreichende Zielvorgabe für den Arbeits- und Gesundheitsschutz im Betrieb hat also zwei Seiten: Sie zielt auf Risiken und Ressourcen für die Gesundheit der Beschäftigten. 2.1.1 Risiken erkennen und bewerten: Das Belastung-BeanspruchungsKonzept Arbeitswissenschaft ist die – jeweils systematische – Analyse, Ordnung und Gestaltung der technischen, organisatorischen und sozialen Bedingungen von Arbeitsprozessen mit dem Ziel, dass die arbeitenden Menschen in produktiven und effizienten Arbeitsprozessen x schädigungslose, ausführbare, erträgliche und beeinträchtigungsfreie Arbeitsbedingungen vorfinden, x Standards hinsichtlich sozialer Angemessenheit und Arbeitsinhalt, Arbeitsaufgabe, Arbeitsumgebung sowie Entlohnung und Kooperation erfüllt sehen, x Handlungsspielräume entfalten, Fähigkeiten erwerben und in Kooperation mit anderen ihre Persönlichkeit erhalten und entwickeln können. In diesem Sinne ist die Arbeitswissenschaft die Referenzwissenschaft des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, die die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse für eine menschengerechte Gestaltung von Arbeit zur Verfügung stellt. Zur Erklärung möglicher Risikokonstellationen der Mensch-ArbeitsGesundheits-Krankheits-Beziehung wird ein theoretisches BelastungsBeanspruchungs-Konzept verwendet. Belastung ist dabei eine wertfreie Bezeichnung für die Einflüsse von außen, d. h. von Arbeitsaufgaben und Arbeitsbedingungen auf den Arbeitenden, z. B. Zeitdruck, hohe Verantwortung oder wechselnde Technologien. Beanspruchung resultiert aus der Auseinandersetzung des Menschen mit der Belastung, sie ist von den individuellen Voraussetzungen und von der Leistungsfähigkeit abhängig. Fehlbeanspruchungen können sich in Veränderungen von Organsystemen, z. B. Kopfschmerzen bei Dauerstress, bemerkbar machen. Beispielhaft ein Arbeitsfeld aus der Arbeitswissenschaft, die Ergonomie: Ergonomie fokussiert sich u. a. auf Fragen der Gestaltung von zumeist computergestützten Mensch-Maschine-Schnittstellen mit deren sinnesphysiologischen und psychophysischen Aspekten (“Human Factors”). Aus der Kenntnis von arbeitsrelevanten Prozessen und arbeitsbedingten Veränderungen werden Beurteilungs- und Gestaltungsvorschläge abgeleitet. Besondere Berücksichtigung finden hierbei Veränderungen infolge neuer Technologien und Arbeitsformen, de-
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ren Prozesse auf biochemisch-zellulärer, organsystemischer sowie auf Verhaltens- und Befindlichkeitsebene untersucht werden. Zunehmend stehen dabei auch individuelle Unterschiede im Vordergrund, beispielsweise in der Empfindlichkeit gegenüber Umweltreizen oder dem Erleben der Beanspruchung. Durch die Gewinnung von solchen Erkenntnissen über Gefährdungen kann man in diesem Handlungsfeld prioritäre Präventionsziele setzen. Um die Handlungsgrundlage aber auch auf sichere Beine stellen zu können, sind handlungsinstruktive Aussagen notwendig. Erst dadurch können präventive Zielsetzungen erfolgreich realisiert werden. 2.1.2 Begrifflichkeiten der Arbeitsschutzgesetzgebung Mit dem Arbeitsschutzgesetz erhielten die Betriebe einen klaren Präventionsauftrag hinsichtlich arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken, was entsprechende Erkrankungen einschließt. Häufig entstehen aus solchen arbeitsbedingten Gesundheitsrisiken chronische Krankheiten. Als arbeitsbedingte Erkrankungen sind alle Krankheiten aufzufassen, deren Auftreten mit der Arbeitstätigkeit in Verbindung steht. Im Gegensatz zu Berufskrankheit muss der Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit keine bestimmte rechtliche Qualität erreichen. Definition der Berufskrankheit gem. § 9 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII): (1) „Berufskrankheiten sind Krankheiten, ... die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz begründenden Tätigkeit (nach § 2, 3 oder 6 SGB VII) erleiden“. Durch die Bundesregierung werden solche Krankheiten als Berufskrankheiten bezeichnet, „die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; ...“ Eine arbeitsbedingte Erkrankung ist bereits dann anzunehmen, wenn bestimmte Arbeitsverfahren, Arbeitsumstände oder die Verhältnisse des Arbeitsplatzes das Auftreten einer Gesundheitsstörung begünstigt oder gefördert haben. Die Tatsache, dass eine individuelle körperliche Disposition, altersbedingte Aufbrauchserscheinungen oder außerberufliche Ursachen im Vordergrund stehen und gleichartig beschäftigte Arbeitnehmer daher nicht erkrankt wären, schließt die Annahme einer arbeitsbedingten
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Erkrankung nicht aus. Diese Definition stellt bewusst nicht auf ursächliche Zusammenhänge im Rechtsinne ab. Als der Gesetzgeber den Begriff der „arbeitsbedingten Erkrankungen“ in das Arbeitssicherheitsgesetz aufnahm, hat er ihm – anders als dem der Berufskrankheit – keine entschädigungsrechtliche Bedeutung beigelegt, ihn demnach auch nicht zum Tatbestandsmerkmal für Leistungsansprüche der Arbeitnehmer gemacht. Arbeitsbedingte Erkrankungen sind meist nicht auf eine, sondern mehrere Ursachen zurückzuführen. Man versteht darunter Gesundheitsstörungen, die ganz oder teilweise durch Arbeitsumstände verursacht werden und eine enge Beziehung zu Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz haben. Auch können in bestimmten Berufs- und Beschäftigtengruppen solche Erkrankungen besonders häufig auftreten. Alle gesetzlichen Krankenkassen analysieren heute ihr Arbeitsunfähigkeitsgeschehen im Hinblick auf Auffälligkeiten und Häufungen in Berufen, Berufsgruppen, Wirtschaftszweigen und Altersgruppen. Es handelt sich um eher unspezifische Krankheitsbilder, die häufig chronisch werden wie Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, der Atemwege, der Haut, der Wirbelsäule, der Psyche oder des Magen-Darm-Traktes. Auch Störungen des Allgemeinbefindens gehören dazu, denn sie stehen im Verdacht Frühsymptome arbeitsbedingter Erkrankungen zu sein. Laut Fehlzeiten-Report 2005 entfallen rund 70,6% der krankheitsbedingten AU-Fälle der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie 72% der AU-Tage auf sechs Krankheitsgruppen: Muskel- und Skeletterkrankungen, Verletzungen, Atemwegserkrankungen, psychische und Verhaltensstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen der Verdauungsorgane [3]. Die vielen sehr spezifischen chronischen Erkrankungen werden hier nicht weiter betrachtet. Eine weitere zentrale präventionspolitische Begrifflichkeit der Arbeitsschutzgesetzgebung sind die „arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren“. Gerade die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren (§ 2 Abs. 1 ArbSchG), und damit die systematische Überprüfung der Arbeitsplätze, -verfahren, -organisation und -mittel auf mögliche kurz-, mittel- und langfristige schädigende Einwirkungen auf die Beschäftigten sowie die Minimierung bzw. Beseitigung dieser Einwirkungen ist neben den technischen und organisatorischen Sicherheitsvorkehrungen besonders zu beachten. Zielgröße der Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren ist die Gesundheit der Beschäftigten im Arbeitskontext. Alle diesbezüglichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes müssen sich an ihrer Zielerreichung (ethischer Grundsatz: möglichst alle Betroffenen erreichen) und Zielgenauigkeit (wirtschaftlicher Grundsatz: möglichst nur
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die Betroffenen einbeziehen), d. h. ihrer gezielten Wirksamkeit beurteilen lassen. BG Chemie, Bundesarbeitgeberverband Chemie und IG ChemiePapier-Keramik haben ein gemeinsames Positionspapier zur Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren entwickelt [21]. Dort wird der Begriff der arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren wie folgt beschrieben: „Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren sind Einflüsse, die – allgemein oder im Einzelfall – im nachvollziehbaren Zusammenhang mit dem Arbeitsplatz oder der Tätigkeit über das allgemeine Lebensrisiko hinaus die Gesundheit beeinträchtigen können ... Insbesondere handelt es sich um Arbeitseinflüsse, die Gesundheitsbeeinträchtigungen und Erkrankungen verursachen oder mit verursachen bzw. eine außerberuflich erworbene Erkrankung oder eine gesundheitliche Disposition ungünstig beeinflussen können ...“. 2.1.3 Die Generierung von Wissen über Arbeit und Gesundheit/Krankheit Jede (arbeitsbedingte) Gesundheitsgefahr ist nur im Zusammenhang mit einer korespondierenden (arbeitsbedingten) Gesundheitsbeeinträchtigung zu sehen. Die Gesundheitsgefahr definiert sich als solche ausschließlich über eine (mögliche) Gesundheitsbeeinträchtigung. Dafür wird gesichertes Wissen über die Zusammenhänge von Arbeitsbedingungen und Gesundheit/Krankheit des Menschen benötigt. Die Bewertung der Arbeitsbedingungen (Belastungen) erfolgt dabei letztlich immer über die Bewertung der Gesundheitsrelevanz der physischen und psychischen Reaktion (Beanspruchungen) des Individuums. Das gesicherte Wissen über gesundheitliche Wirkungen von Arbeitsbedingungen ist bezüglich seiner Qualität heterogen. Es beruht je nach Gegebenheit auf Kasuistik, tierexperimentellen Ergebnissen, Laboruntersuchungen an gesunden Menschen, toxikologischen Wirkungsabschätzungen anhand relevanter Stoffeigenschaften, modellbezogenen Analogieschlüssen oder epidemiologischen Studien. Es ist außerdem abhängig vom Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis über die Gesundheitsrelevanz physischer und psychischer Reaktionen des Menschen (Art, Schweregrad und Beeinflussbarkeit der Gesundheitsstörung/Erkrankung) und dem Stand der methodischen Möglichkeiten der Diagnostik von gesundheitlichen Veränderungen. Ansätze zur Schließung von Kenntnislücken für die Zurückdrängung arbeitsbedingter Erkrankungen konzentrieren sich hauptsächlich auf die: x Ermittlung neuer Risikofaktoren und Kausalzusammenhänge zwischen Arbeit und Gesundheit,
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Abklärung von Wirkungsmechanismen, Ableitung von Dosis-Wirkungs- und Dosis-Zeit-Beziehungen zur Grenzwertbegründung, Etablierung sensitiver Methoden zur Früherkennung von Gesundheitsstörungen im Rahmen der Vorsorge, Entwicklung von Instrumenten für die Aufdeckung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren.
Ein Beispiel für die Entwicklung einer gesundheitsrelevanten Fragestellung: Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 40 670 Männer, die an Prostatakarzinom erkrankten und 11 107 Männer, die daran starben. Damit ist der Prostatakrebs die dritthäufigste zum Tode führende Krebserkrankung. Die Aufdeckung auch schwacher vermeidbarer Kausalfaktoren hätte deshalb eine große Bedeutung für die Prävention dieser Erkrankung. Bisher konnten epidemiologische Studien keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Prostatakarzinom und der Exposition gegenüber bestimmten Gefahrstoffen sicher nachweisen. Durch eine Literaturrecherche wurden 28 Stoffe identifiziert [11], die einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen Prostatakrebs und einer Gefahrstoffexposition ergeben. Für jeden dieser Stoffe wurden weitere Studien bewertet. Für einen Stoff (Brommethan) zeigte sich ein positiver Dosis-Wirkungs-Zusammenhang zur Prostatakrebshäufigkeit; eine epidemiologische Abklärung erscheint für diesen Stoff aus dieser Sicht als gerechtfertigt. Es gibt ca. 20 000 chemische Stoffe auf dem Markt der EU, von denen für die meisten die gefährlichen Eigenschaften noch nicht bekannt sind; jährlich kommen ca. 100 neue Chemikalien hinzu, deren Eigenschaften ermittelt werden müssen. Chemische Produkte werden zunehmend für spezifische gezielte Anwendungen entwickelt und vermarktet, womit sich die Belastungssituationen der Arbeitnehmer signifikant verändern können. Durch die Ermittlung des Gefährdungspotenzials von chemischen Stoffen und staatliche Maßnahmen zur Regelung und Beschränkung der Vermarktung gefährlicher chemischer Produkte wird die Prävention am Arbeitsplatz beim Umgang mit diesen Produkten unterstützt. Neben diesen stoffbezogenen Risiken sind weiterhin die „klassischen“ Einflussfaktoren von Bedeutung, auch wenn sie einer Wandlung unterliegen (andere Stoffe und Belastungsformen, geringere Intensitäten, ubiquitäres Vorkommen). 2.2 Bewertung arbeitsbedingter Einflüsse Die Kenntnis arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, d. h. Einflüssen aus der Arbeitswelt, die Gesundheitsbeeinträchtigungen und Erkrankungen
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verursachen oder mitverursachen bzw. eine außerberuflich erworbene Erkrankung oder eine gesundheitliche Disposition ungünstig beeinflussen können, reicht für eine erfolgreiche Prävention nicht aus. Entscheidend ist weiterhin die Kenntnis über das Auftreten und die Verteilung dieser arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren in bestimmten Berufsgruppen, Branchen und bei bestimmten Tätigkeiten. Für eine erfolgreiche Prävention von arbeitsbedingten Gesundheitsschäden muss folgende Frage beantwortet werden: Welche Arbeitsbedingungen führen unter welchen Voraussetzungen mit welchen Wahrscheinlichkeiten oder in welchen Häufigkeiten zu welchen Beschwerden, zu welchen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder zu welchen Erkrankungen bzw. zu ihrer Verschlimmerung? Wichtige Informationen liefern Gefährdungsanalysen. Ein Beispiel: Beschäftigte in Kindertagesstätten. Aus der Arbeit resultieren als Belastungsfaktoren Lärm, nicht erwachsenengerechte Möbel, Konflikte mit den Eltern, Zwangshaltungen wie Knien und Bücken, körperliche Arbeit, kaum Erholpausen, keine regelmäßigen Mittagspausen, Rauchen, keine Zeit zum Auskurieren von Erkrankungen. Häufigste vorkommende Erkrankungen liegen im Stütz- und Bewegungsapparat, häufigste Beschwerden liegen im Nacken und Rücken, Erschöpfung und Müdigkeit sind weit verbreitet; es bestehen Risikofaktoren für Herz-KreislaufErkrankungen, Übergewicht, Hypertonie bei geringem Behandlungsanteil [20]. Verallgemeinernde Informationen über Arbeitsbelastungen in der Bevölkerung sind praktisch nur über repräsentative Befragungen auf Stichprobenbasis zu gewinnen bzw. durch gezielte Auswertungen von Sekundärstatistiken der Sozialversicherungen oder von Registerdaten europäischer Nachbarländer. Unterschiedliche Umfragen können dabei je nach Zielsetzung unterschiedlich weitreichende Fragestellungen verfolgen: x Die erste und grundlegende Frage ist die der Verbreitung oder Inzidenz von Arbeitsbelastungen: Wie viele und welche Arbeitsplätze sind mit belastenden Arbeitsbedingungen verbunden? x Eine zweite Frage ist, in welchem Maße die Arbeitsbedingungen von den Betroffenen subjektiv als belastend empfunden werden. x Auf einer dritten Ebene kann schließlich versucht werden, das gemeinsame Auftreten von belastenden Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Beschwerden oder Beeinträchtigungen zu erfassen und daraus Rückschlüsse über gesundheitliche Folgen bestimmter Arbeitsbedingungen abzuleiten.
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Solche repräsentativen Querschnittsbefragungen bei Erwerbstätigen wurden in Deutschland 1979, 1985, 1992, 1998/1999 vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) durchgeführt. Der Anteil von Erkrankungen, der durch bestimmte Faktoren verursacht wird, lässt sich durch eine in der Epidemiologie verbreitete Kenngröße, die sogenannten attributiven Risiken berechnen. Übertragen auf die Arbeitswelt geben attributive Risiken an, welcher Anteil des Erkrankungsgeschehens vermieden werden könnte, wenn etwa durch Präventionsmaßnahmen ein Belastungsfaktor der Arbeitswelt ausgeschaltet oder vermindert werden würde. Zur Berechnung attributiver Risiken ist es erforderlich, zunächst die Stärke des Zusammenhangs zwischen dem Auftreten einer Belastung und einer Erkrankung zu bestimmen (Relatives Risiko). Sofern weiterhin bekannt ist, welcher Anteil der Arbeitsbevölkerung dem Belastungsfaktor ausgesetzt ist (Prävalenz), lässt sich durch Verrechnung der beiden Größen das attributive Risiko bestimmen. Für einzelne Krankheitsgruppen liegen Abschätzungen für den arbeitsbedingten Anteil vor (s. Tabelle 2.1). Durch ein Vorhaben hat die BAuA versucht, die arbeitsbedingten Einflüsse auf das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen zu errechnen, um auf dieser Basis die direkten und indirekten Kosten berechnen zu können [2]. Im Projekt wurde von verschiedenen Datenquellen Gebrauch gemacht. Relative Risiken für Belastungsfaktoren der Arbeitswelt im Hinblick auf die Arbeitsunfähigkeit wurden mit Hilfe des Datenmaterials [4] des „Kooperationsprogramms Arbeit und Gesundheit (KOPAG)“ berechnet. Prävalenzen der Belastungsfaktoren in der Erwerbsbevölkerung wurden aus den repräsentativen Befragungen des Bundesinstituts Tabelle 2.1. Vergleich der Anteilsschätzungen arbeitsbedingter Erkrankungen in % Krankheitsgruppe Tumore Psychiatrische Erkrankungen Nervensystem Kreislauf Hautkrankheiten Muskel-Skelett Atemwegserkrankungen Arbeitsunfälle 1
Nordischer Rat 1 4 5 20 10 45 33 25 100
) Economics of the working environment 1997 [6] ) Bödeker et. al. 2002 [2]
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BKK Team Gesundheit 2 28 26 26 34 38 27 44
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für Berufsbildung (BIBB) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie der „Deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie“ und der „European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions“ ermittelt. Attributive Risiken wurden durch ein Verfahren der so genannten modellbasierten Adjustierung berechnet. Das Verfahren ermöglicht die unverzerrte Berechnung von attributiven Risiken bei Kontrolle von Störgrößen, auch wenn relative Risiken und Prävalenzen aus unterschiedlichen Datenquellen ermittelt wurden. Im Hinblick auf die Arbeitsunfähigkeit insgesamt erweisen sich „Arbeitsschwere/Lastenheben“ und „geringer Handlungsspielraum“ als bedeutsame Belastungsfaktoren. Ließen sich „Arbeitsschwere/Lastenheben“ aus der Arbeitswelt eliminieren, so würden idealerweise 23% der AU-Fälle nicht vorkommen. Durch „geringen Handlungsspielraum“ werden 14% des AU-Geschehens erklärt. Für alle anderen Faktoren wurden attributive Risiken unter 10% berechnet. Beispiel Muskel- und Skeletterkrankungen: Für „Krankheiten der Muskeln und des Skeletts“ sind in erster Linie die Belastungsfaktoren „Arbeitsschwere/Lastenheben“, „geringer Handlungsspielraum“, „geringe psychische Anforderungen“ sowie „Vibrationen“ ausschlaggebend. Bei einem vollständigen Abbau von „Arbeitsschwere/Lastenheben“ könnten ca. 40% der auftretenden AU-Fälle verhindert werden. Beim „geringen Handlungsspielraum“ erklärt allein die hohe Ausprägung des Belastungsfaktors 15% des AU-Geschehens. In dem Bericht finden sich Darstellungen für alle anderen Diagnosegruppen. 2.2.1 Beruf und Erkrankung In der epidemiologischen sozialmedizinischen Forschung wird auf der Basis vorhandener Daten der Sozialversicherungen (Registerdaten), versucht, Zusammenhänge zwischen Berufen bzw. unterschiedlichen Wirtschaftszweigen und Schädigungen aufzuzeigen. Die Aussagefähigkeit dieser Studien ist jedoch dann begrenzt, wenn über die Berufsbezeichnung hinaus keine differenzierten Angaben zu den vom jeweiligen Arbeitnehmer durchgeführten Tätigkeiten und den damit verbundenen Belastungen bzw. Beanspruchungen vorhanden sind. Da die Gesundheitsschäden, die im Laufe eines gesamten Arbeitslebens erworben werden können, von einer Vielzahl von Faktoren aus der Berufssphäre und der privaten Lebenssituation abhängen, ist die Methode der Zuordnung von Beruf und Schädigung nur bedingt geeignet, um Ursachen von Schädigungen nachzuweisen. Es verbleibt eine beträchtliche Reststreuung, die eine sinnvolle Gegenüberstellung von Arbeitsbelastung und Gesundheitszustand unmöglich macht, und damit
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die Voraussetzungen für Präventivmaßnahmen mit Hilfe eines epidemiologischen Frühwarnsystems nicht zu schaffen vermag. Auch in der Arbeits- und Sozialmedizin werden die Gegebenheiten des Arbeitsplatzes bzw. der Belastung beim Aufbau werksärztlicher Informationssysteme nur unzureichend berücksichtigt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass dem begutachtenden Mediziner die Instrumentarien zur anonymen Ermittlung objektiver Belastungen am Arbeitsplatz fehlen. Es stellt sich also die Frage nach einem Indikatorensystem, das Aussagen in folgender Form ermöglicht: Es gibt konkrete Belastungen einer bestimmten Intensität und Dauer, die mit einer ermittelten Wahrscheinlichkeit in Prozent, zu einer konkreten Beschwerde bzw. Krankheit führen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Gesamtbelastung von Belastungsdauer, -höhe und -verlauf früherer und heutiger Aktivitäten in Arbeit und Freizeit beeinflusst und bestimmt wird. Die Bearbeitung dieser komplexen Fragestellung lässt sich sinnvoll mit vertretbarem Mitteleinsatz nur mikro-epidemiologisch auf Betriebsebene angehen. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat in Deutschland solche Pilotvorhaben für eine Teilpopulation der Rheinbraun AG (Braunkohleabbau) bereits gefördert [1]. Eine andere Vorgehensweise besteht darin, vorhandene Belastungsund Befunddatenbestände zu analysieren und im Hinblick auf ihre Eignung zur Gegenüberstellung zu überprüfen. Die sich daraus ergebenden Aussagen werden von ihrer Natur her zwar eher deskriptiv sein, es sind jedoch wertvolle berufsbezogene Belastungsaussagen zu erwarten. Und damit beginnen die Schwierigkeiten, Zusammenhänge zwischen Einwirkungen/Belastungen und den gesundheitlichen Folgen (Morbidität/Mortalität) herzustellen. Anfang der 90er Jahre hat auf europäischer Ebene die European Foundation in Dublin, in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission, versucht, die in Europa bestehenden nationalen Monitoringsysteme zu vergleichen und Vorschläge für ein Indikatorensystem für den Zusammenhang von Arbeit und Gesundheit zu entwickeln. Verschiedene Berichte dazu sind veröffentlicht worden; darüber hinaus wurden diese Indikatorensysteme anhand zweier Sektoren – Hospitäler und Fleischverarbeitung – vertieft und beschrieben. Anschließend hat die DG V1 in Luxemburg begonnen, diese Aktivitäten fortzusetzen, und Risikobereiche mit Hilfe von geeigneten Indikatoren beschreibbar zu machen. Eng mit diesen Aktivitäten sind die Bemühungen der Europäischen Agentur in Bilbao verbunden den Europäische Kommission, Generaldirektion Beschäftigung, soziale Angelegenhei-
ten und Chancengleichheit
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Zustand des Arbeitsschutzes in Europa beschreibbar zu machen. Mit der Veröffentlichung des „State of OSH-Berichtes“ im Jahr 2000 sind die Grundlagen für eine europäische Arbeitsweltberichterstattung gelegt worden. Als Ergebnis der Anstrengungen der European Foundation ist das Instrument der regelmäßigen Befragung europäischer Arbeitnehmer zur Erfassung ihrer Belastungen und ihres gesundheitlichen Befindens entstanden. Die Staaten Europas können mit diesem Datensatz zumindest eine grobe Beschreibung ihrer vorfindbaren Arbeitswelt bekommen. Dies ist für jene Länder interessant, die keine nationale Berichterstattung haben. Auf nationaler Ebene existieren bereits unterschiedliche Surveys zur Erfassung von Belastungen und Beanspruchungen, so z. B. in den skandinavischen Ländern, Spanien, England, Deutschland etc. Solche repräsentativen Bevölkerungsbefragungen stützen sich auf Selbstauskünfte der Betroffenen. Die Auskünfte werden anhand eines ganz oder weitgehend standardisierten Fragebogens eingeholt, der entweder von der Befragungsperson selbst ausgefüllt wird oder Grundlage eines persönlichen Interviews ist. Der Fragebogen entspricht etwa den Leitfäden oder Merkmalskatalogen, wie sie in arbeitsmedizinischen oder arbeitswissenschaftlichen Assessmentverfahren angewendet werden. Er hat jedoch eine andere Funktion. Bei den Assessmentverfahren sind derartige Leitfäden lediglich Hilfsmittel im Rahmen einer Expertenbeurteilung, die sich auf einen breiten Hintergrund an Fachwissen und möglicherweise zusätzlich eingesetzten Messungen oder Tests stützt. Der Interviewer in einer Repräsentativbefragung ist demgegenüber kein Fachmann, sondern Laie. Er soll die Fragen des Fragebogens lediglich vorlesen und die Antworten korrekt notieren. Das heißt: Der Fragebogen selbst ist das Messinstrument. Damit können Aspekte der Arbeitsbedingungen erfasst werden, die über Selbstauskünfte der Betroffenen einigermaßen zuverlässig erfragbar sind. Die Anforderung an die Genauigkeit der Messung muss niedrig gehalten werden. Beispielsweise kann die Lärmbelastung nicht in Dezibel gemessen werden; in der Regel wird nur gefragt werden, ob oder wie häufig man unter Lärm zu arbeiten hat. 2.3 Arbeitsbedingte Einflüsse auf einzelne Krankheitsgruppen Aus der Sicht des Arbeitsschutzes sind hochbelastende Arbeitsplätze zu gestalten, um die Gesamtbelastung zu verringern; exponierte Arbeitnehmer müssen arbeitsmedizinisch überwacht werden, wobei die Praxis der Überwachung selber kritisch in ihrer Bedeutung untersucht werden müsste. Stärker in den Fokus muss die Berufsbiografie
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– der Zusammenhang zwischen hoher Arbeitsplatzbelastung und Berufswechsel – kommen, da hohe Arbeitsbelastung mit Gesundheitsverbrauch, mit Verlust an Arbeitsfähigkeit und Leistungseinschränkungen verbunden ist. Erwerbstätige mit hoher Arbeitsbelastung geraten oft in eine negative Spirale von kurzer und länger andauernden Arbeitsunfähigkeit, häufigen Berufswechseln, Phasen der Arbeitslosigkeit, und verringerten Möglichkeiten auf belastungsärmere und beschäftigungsstabilere Arbeitsplätze auszuweichen. 2.3.1 Muskel- und Skeletterkrankungen Muskel-Skelett-Erkrankungen stellen eines der größten Gesundheitsprobleme für die Arbeitnehmer in Europa dar. Studien zeigen, dass über 40 Millionen Arbeitnehmer in allen Sektoren der EU betroffen sind und 40–50% aller arbeitsbedingten Gesundheitsstörungen hierdurch bedingt sind [7]. Für die Arbeitgeber in der EU bedeutet dies Kosten in Milliardenhöhe. Das Problem schwächt die Wettbewerbsfähigkeit Europas und kostet jedes Jahr 0,5–2% des BIP. Ein großer Teil von arbeitsbedingten Krankheiten des Muskel-SkelettSystems ist bereits Gegenstand umfangreicher Präventionsmaßnahmen. Ein Teil ist in die Liste der Berufskrankheiten aufgenommen. Trotz zahlreicher Maßnahmen sind bisher jedoch nur geringe Erfolge zu verzeichnen. Die Intensivierung der präventiven Bemühungen ist deshalb eine vorrangige Aufgabe. In der Ätiologie von Muskel-Skelett-Erkrankungen sind physisch belastende und mit Fehlbelastungen des Muskel-Skelett-Systems einhergehende Tätigkeiten wesentliche Faktoren. Entsprechende Tätigkeiten sind ungeachtet des Wandels der Arbeitswelt innerhalb der EU, innerhalb Deutschlands weit verbreitet und auch weiterhin für viele Arbeitnehmer relevante Risikofaktoren. Generelle Defizite bestehen in der Verfügbarkeit praxisgerechter Methoden zur betrieblichen Belastungs- und Gefährdungsbeurteilung – die BAuA hat deshalb ein mehrstufiges Untersuchungsprogramm entwickelt [9]. Nicht eindeutig sind außerdem die Kenntnisse hinsichtlich kumulativer Dosis-WirkungsBeziehungen zwischen motorischen Anforderungen und dem Auftreten von arbeitsbedingten Verschleißschäden der Gelenke, zur Bedeutung der individuellen Krankheitsdisposition als Risikofaktor sowie zur optimal notwendigen körperlichen Aktivität für den Erhalt und die Förderung der individuellen Leistungsfähigkeit. Ferner gewinnen neben den rein physischen Anforderungen psychosoziale Fehlbelastungen durch die berufliche Tätigkeit eine zunehmende
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Bedeutung. Die Kombination dieser beruflichen Einflussfaktoren sollte verstärkt in der Gefährdungsanalyse und Prävention beachtet werden. Durch den Einsatz bestimmter arbeitswissenschaftlicher Analyseinstrumente können Zusammenhänge zwischen Einwirkungen und Erkrankungen dargestellt werden. Ein Beispiel sind die Daten aus der AET-Belastungsanalyse [13], die mögliche direkte Beziehungen zwischen Belastungsmerkmalen und arbeitsbedingten Erkrankungen herstellen kann; beispielhaft seien genannt: v Bandscheibenbedingte Erkrankungen durch Lastenmanipulation i. w. S.: Große Arbeitsobjekte; Hohe Lastgewichte; Transportieren von Arbeits- oder Betriebsmitteln; Durchführen einfacher Handgriffe; Dienen, Versorgen Pflegen; Statische Haltearbeit Arm-Schulter-Rücken; Schwere dynamische Muskelarbeit beider Arme und Beteiligung des Oberkörpers; Hoher Krafteinsatz. v Carpal Tunnel Syndrom z. B. bei Kassenarbeitsplätzen: Benutzen von Tastaturen; einseitig dynamischer Einsatz des Finger-/Handsystems; Krafteinsatz bei einseitig dynamischer Arbeit; Bewegungsfrequenz bei einseitig dynamischer Arbeit. Zahlreiche Studien der BAuA haben gezeigt, dass biomechanische Belastungsfaktoren einen konsistenten Einfluss auf die Häufigkeit von Dorsopathien und degenerativen Gelenkerkrankungen aufweisen. 2.3.2 Psychische Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen Unstetige Berufsverläufe, instabile Beschäftigungsverhältnisse, wachsende Eigenverantwortung, Leistungsdruck und -verdichtung, Mobbing und ständig zunehmende Weiterbildungsanforderungen sind Faktoren der sich wandelnden Arbeitswelt, die die Relevanz von psychischen und psychosomatischen Gesundheitsstörungen (insbesondere Depression und Neurosen) in einer neuen Dimension erscheinen lassen. Darüber hinaus wird vermutet, dass diese Faktoren auch zu einem echten Anstieg von Inzidenz und Prävalenz von psychischen und Verhaltensstörungen führen können [8]. Unter den Ursachen von Frühberentungen hat der Anteil dieser Krankheitsgruppe erheblich zugenommen. Bereits seit längerer Zeit wird postuliert, dass psychischer Stress neben HerzKreislauf-Krankheiten eine Reihe weiterer Krankheiten (wie Bronchitis, Asthma bronchiale, Schilddrüsenerkrankungen, Hautkrankheiten, Neurodermatitis, verschiedene Formen von rheumatischer Arthritis, Tuberkulose, Diabetes mellitus und verschiedene Krankheiten des Verdauungssystems) auslöst oder verschlimmert, ohne dies jedoch evidenzbasiert belegen zu können. Die Erprobung von Methoden zur
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Erfassung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz verbessert die Voraussetzungen für zukünftige Untersuchungen zur Klärung möglicher arbeitsbedingter Einflüsse auf die genannten Krankheiten und gegebenenfalls zur Ableitung präventiver und rehabilitativer Leitlinien. Die Prävention von psychischen Fehlbelastungen, von arbeitsbedingtem akuten und chronischem Stress ist deshalb eine vorrangige, gleichermaßen volkswirtschaftlich wie humanitär begründete Aufgabe des Arbeitsschutzes. 2.3.3 Erkrankungen des Kreislaufsystems Krankheiten des Kreislaufsystems sind in Deutschland einerseits die wichtigste Ursache des Verlustes an Lebensjahren und andererseits aber auch die größte unausgeschöpfte Ressource in Bezug auf präventive Anstrengungen zur Verbesserung der Gesundheitslage der Bevölkerung. Sie kann insbesondere durch die Bekämpfung von Krankheiten des Kreislaufsystems positiv beeinflusst werden, weil sie zugleich gegen ein breites Spektrum von beeinflussbaren chronischen Krankheiten – einschließlich Lungenkrebs und andere bösartige Neubildungen, chronische obstruktive Lungenkrankheit, Diabetes mellitus Typ II, bestimmte Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems – gerichtet ist. Das Erkrankungsrisiko zeigt einen deutlichen Schichtgradienten. Am stärksten gefährdet sind die unteren sozialen Schichten der Bevölkerung einschließlich der Erwerbspopulation. Zu den arbeitsbedingten Risikofaktoren von Kreislaufkrankheiten zählt insbesondere Stress durch psychische Fehlbelastungen, anhaltend hoher Zeitdruck, ein zu großes Maß von regelmäßigen Überstunden, regelmäßig zu lange Wochenarbeitszeiten, Nachtschichtarbeit und schlecht gestaltete Schichtsysteme, mangelnde Mitbeteiligung der Beschäftigten bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen, Mobbing oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Darüber hinaus sind längere Phasen von arbeitsbedingt erzwungener körperlicher Inaktivität (Bewegungsarmut), häufig verbunden mit ermüdenden Zwangshaltungen, ein zunehmendes und immer noch zu wenig beachtetes Gesundheitsrisiko. Im Rahmen der arbeitsmedizinischen Betreuung sind Hochrisikogruppen (z. B. pflegende und Sozialberufe) besonders zu beachten. 2.3.4 Arbeitsstoffbedingte Erkrankungen Viele etablierte Erkenntnisse zu Ursachen von Erkrankungen gefahrstoffexponierter Arbeitnehmer und zu Möglichkeiten der Früherkennung und Frühintervention bei Erkrankungen sind noch zu wenig in
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der praktischen Prävention umgesetzt. Vordergründig bedarf es der Information und Schulung der Beteiligten. Neue Wege der Organisation einer Prävention, die den aktuellen Kenntnisstand berücksichtigt, sollten in der Praxis erprobt werden. Die Aufnahme von Gefahrstoffen durch die Haut wird in der Praxis noch unzureichend berücksichtigt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die dermale Aufnahme von Gefahrstoffen in Abhängigkeit von deren Eigenschaften und von den konkreten Expositionsbedingungen sind unbefriedigend. Durch Biomonitoring ist es grundsätzlich möglich, den Informationsstand auf diesem Gebiet zu verbessern. Dies betrifft sowohl die Beurteilung und Beratung im Einzelfall als auch die systematische Gewinnung neuer Kenntnisse zu dermalen Belastungen und den damit verbundenen Risiken. Eine wesentliche Vorbedingung dafür ist die Verfügbarkeit geprüfter Methoden. Bei vielen Krankheiten spielt die individuelle Empfindlichkeit eine so große Rolle, dass ihre Prävention durch allgemeingültige Maßnahmen allein nicht optimal gestaltet werden kann. So sind für sensibilisierende oder krebserzeugende Gefahrstoffe Dosis-Wirkungs-Beziehungen entweder überhaupt nicht bekannt oder die Wirkschwelle, die auch Empfindliche berücksichtigt, liegt so niedrig, dass die gewünschte Produktion bei Einhaltung eines entsprechenden Grenzwertes unmöglich würde. Andererseits nehmen das Wissen über diese Faktoren und die diagnostischen Möglichkeiten zur Erkennung solcher Empfindlichkeiten gegenwärtig rasch zu. Damit steigen die Erwartungen der Arbeitnehmer, eine qualifizierte arbeitsmedizinische Beratung zu erhalten unter Beachtung der persönlichen Besonderheiten bezüglich Neigung zu bestimmten Krankheiten. 2.4 Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren Erfolge im Arbeitsschutz haben nachweislich ihren Niederschlag im Bereich der Sozialpolitik, z. B. durch die Verringerung gesellschaftlicher Kosten, durch Rückgang von Unfallziffern, Krankheitsziffern, Sterbeziffern, insbesondere aber auch durch einen Rückgang der Inanspruchnahme medizinischer, sozialer und rehabilitativer Leistungen. Der Arbeitsschutz – das präventive System für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – ist damit ein Kernelement der Sozialpolitik. Darüber hinaus ist der Arbeitsschutz ethischen Zielsetzungen verpflichtet, indem er durch Sicherung des Arbeitsplatzes, durch Verhütung von Unfällen, Krankheiten und Gefährdungen für den Einzelnen Voraussetzungen schafft, ein aktives und menschenwürdiges Leben in der Gesellschaft zu führen und seine Persönlichkeit weiterentwickeln
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zu können. Alle Arbeitsbedingungen, die den langfristigen Erhalt der Gesundheit gefährden, müssen als Belastungen erkannt und durch den Arbeitsschutz verbessert werden. Prävention hat das Ziel, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhindern. Zeitgemäße Prävention folgt einem ganzheitlichen Ansatz, der sicherheitstechnische und arbeitsmedizinische Maßnahmen genauso einschließt wie den Gesundheitsschutz. Durch Präventionsmaßnahmen sollen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten verhütet, arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren abgewehrt und die Arbeit menschengerecht gestaltet werden. Ihr oberstes Ziel ist die Bekämpfung der Gefahren an der Quelle. Sie sollen möglichst zwangsläufig und unabhängig vom Willen einzelner Personen wirken und deshalb die Arbeitsbedingungen an erster Stelle mit technischen und organisatorischen Mitteln verbessern. Diese Maßnahmen bedienen sich dabei insbesondere x der Sicherheitstechnik, z. B. durch Maschinenschutz, x der Arbeitsmedizin, z. B. durch arbeitsmedizinische Vorsorge, x der Arbeitshygiene, z. B. durch sicheren Einsatz von Gefahrstoffen, x der Arbeitswissenschaft (Ergonomie), z. B. durch menschengerechte Gestaltung der Arbeitsmittel, x der Arbeitsorganisation, z. B. durch Regelung der Arbeitsabläufe. Solche objektiven Schutzmaßnahmen haben Vorrang vor individuellen Schutzmaßnahmen, die den Einsatz von persönlichen Schutzausrüstungen und Sicherheitszeichen (Schildern) sowie die Durchführung von Unterweisungen umfassen. Die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen sind ein integraler Bestandteil der betriebsärztlichen Tätigkeit. Grundsätzlich ist zwischen allgemeinen und speziellen Vorsorgeuntersuchungen zu unterscheiden. Man unterscheidet vier Kategorien von ärztlichen Untersuchungen im Rahmen von Arbeitsvertragsverhältnissen: x Einstellungsuntersuchungen, x Eignungs- und Tauglichkeitsuntersuchungen, x spezielle Vorsorgeuntersuchungen, x allgemeine Vorsorgeuntersuchungen. Im Gesamtkontext des Arbeitsschutzes haben die arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen den Stellenwert von sekundären Schutzmaßnahmen, d. h. insofern es sich hier um individuelle Schutzmaßnahmen handelt, sind sie nachrangig gegenüber kollektiv wirksamen technischen und organisatorischen Maßnahmen der Primärprävention. Aus arbeitsmedizinischer Sicht werden fünf Aufgabenbereiche der Vorsorgeuntersuchungen hervorgehoben:
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*M]Z\MQT]VO^WV)ZJMQ\VMPUMZVVIKPOM[]VLPMQ\TQKPMV3ZQ\MZQMV »JMZ_IKP]VOLMZJMZ]ãQKPMV-`XW[Q\QWVUQ\\MT[*QWUWVQ\WZQVO .ZÛPMZSMVV]VO^WV*MZ]N[SZIVSPMQ\MV]VLI]¾MZJMZ]ãQKPMV-ZSZIV S]VOMV -ZUQ\\T]VO JQ[PMZ ]VJMSIVV\MZ JMZ]ãQKPMZ /M[]VLPMQ\[ZQ[QSMV QU ;QVVMMKP\MZ*MZ]N[SZIVSPMQ\MVWLMZIZJMQ\[JMLQVO\MZ-ZSZIVS]VOMV *MQ\ZÃOMb]ZITTOMUMQVMV/M[]VLPMQ\[^WZ[WZOM Mit dem dritten Aufgabenbereich, der Früherkennung von Krankheiten, wird einerseits die Hauptfunktion der speziellen Vorsorgeuntersuchungen angesprochen, nämlich die Verhütung der Entwicklung von Berufskrankheiten bei Personen, die nachweislich – sonst bestünde keine Verpflichtung der speziellen Vorsorgeuntersuchung – einem erhöhten Risiko unterliegen. Andererseits sehen viele Arbeitsmediziner auch die Früherkennung von außerberuflich bedingten Erkrankungen als eine Aufgabe der arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen an. Diese über den engeren Fokus der Berufskrankheiten hinausgehende Funktion bildet auch den Kern der als fünfte Aufgabe genannten Beiträge zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge. Eine besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang kommt der Evidenz-basierten Medizin zu, die durch Kostenträger angewandt wird, um im Bereich des Disease-Management (DMP) die Wirksamkeit von Behandlungsverfahren zu überprüfen. Insgesamt ist daran gedacht, für chronische Erkrankungen standardisierte Medizin anzubieten. Der darunter fallende Asthmatiker hat jedoch in seinem Case-Management keine gesundheitsbezogene Schnittstelle, die seinen beispielsweise Staubexponierten Arbeitsplatz berücksichtigt. Die BAuA hat vorgeschlagen, ähnlich des Begriffes DMP ein Management im Vorfeld der Entstehung chronischer Erkrankungen zu entwickeln, das über die Betriebsärzte und Arbeitsmediziner an den Vorsorgeuntersuchungen ansetzt. Die BAuA hat dazu die Wortschöpfung „Disease Prevention Management Programme“ (DPMP) entwickelt, um deutlich zu machen, dass über betriebliche Vorsorgeuntersuchungen eine Früherkennung ermöglicht werden könnte, die nicht nur die Stellung des Arbeitsmediziners aufwertet, sondern die einen erheblichen Beitrag zur Prävention chronischer Erkrankungen leisten könnte. Der Aufbau einer wirklichen „integrierten Versorgung“ wäre damit möglich. Literatur [1] Balle W (1990) Eignung arbeitsanalytischer Verfahrensweisen zur Prognose möglicher arbeitsbedingter Schädigung. Fb 614 Band 1. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven
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[2] Bödeker W, Friedel H, Röttger C, Schröer A (2002) Kosten arbeitsbedingter Erkrankungen. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Fb 946. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven. [3] Badura B, Schellschmidt H, Vetter C (2005) Fehlzeiten Report 2005. Springer, Berlin Heidelberg New York [4] BKK Bundesverband und HVBG (1998) Erkennen und Verhüten arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren, Essen [5] Caffier G, Steinberg U Liebers F (1999) Praxisorientiertes Methodeninventar zur Belastungsbeurteilung im Zusammenhang mit arbeitsbedingten MuskelSkelett-Erkrankungen. Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Fb 850. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [6] Economics of the working environment (1997) Ministry of Social Affairs and Health Tampere [7] Europäische Kommission (2003) Die Gesundheitssituation in der Europäischen Union. Amt für amtliche Veröffentlichungen der europäischen Gemeinschaft. Luxemburg [8] Friedel H (2002) Handlungsspielraum, psychische Anforderungen und Gesundheit. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [9] Grifka J, Linhardt O, Liebers F (2005) Mehrstufendiagnostik von MuskelSkelett-Erkrankungen in der arbeitsmedizinischen Praxis. Sonderschrift S 62 der BAuA , Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [10] Horst A, Heuchert G, Kuhn K (2001) Arbeitsbedingte Erkrankungen – Probleme und Handlungsfelder, Bundesarbeitsblatt 2/2001 [11] Kujath P, Krutz K (2005) Prostatakarzinom durch Gefahrstoffexposition. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [12] Surveillance of the Working Environment and Health (1998) Concepts and Sources of information, Nordic Council of Ministers, Copenhagen [13] Landau K, Rohmert W, Imhof-Gildein B, Mücke S(1996) AET-Belastungsanalyse und arbeitsbedingte Erkrankungen, Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [14] Monitoring the work environment (1994) Report of second European Conference, EF/94/01/EN, Luxembourg [15] Nossent S et al (1995) Working Conditions in the European Meat Processing Industry, Dublin [16] Verschuren R et al. (1995) Working Conditions in Hospitals in the European Union, Dublin [17] The State of Occupational Safety and Health in the European Union (including the Risk sector project) 5th Draft, July 1998 [18] Second European Survey on Working Conditions (1997) Dublin [19] Health and Safety Statistics 1996/97, HSC, Norwich 1997; Self-reported Working Conditions in 1995, HSE, Norwich 1997 [20] Seibt R, Khan A, Thinschmidt M, Dutschke D, Weidhass J (2005) Gesundheitsförderung und Arbeitsfähigkeit in Kindertagesstätten, Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin Fb 1049. Wirtschaftsverlag NW, Bremerhaven [21] Die Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren in der chemischen Industrie (Juli 1997) http://www.bg-chemie.de/webcom/show_article.php/_c47/_nr-11/i.html
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KAPITEL 3
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität und Absentismus und daraus resultierende Kosten für die Betriebe C. M. Baase1
Zusammenfassung. Der Beitrag stellt Ergebnisse einer Studie vor, deren Ziel es war, die Prävalenz chronischer Krankheiten bei Beschäftigten der Dow Chemical Company in den USA zu bestimmen und deren Gesamtkosten zu schätzen. Hierzu wurden mithilfe der „Stanford Presenteeism Scale“ Daten zu Einschränkungen der Arbeitsproduktivität und Fehlzeiten aufgrund selbst berichteter „primärer“ chronischer Erkrankungen von den Beschäftigten fünf verschiedener Standorte erhoben. Die Ergebnisse wurden mit demographischen Daten der Arbeitnehmer sowie Angaben zu Gesundheitsstatus, Medikamenteneinnahme, Raucherstatus, biometrischen Risikofaktoren, Gehalt und Art der Beschäftigung verknüpft. Fast 65% der Befragten gaben an, an mindestens einer der untersuchten chronischen Krankheiten zu leiden. Am häufigsten waren Allergien, Arthritis/ Gelenkschmerzen oder -steifheit und Rücken- oder Nackenschmerzen. Die Fehlzeiten betrugen je nach Krankheit zwischen 0,9 und 5,9 Stunden innerhalb eines Vier-Wochen-Zeitraums, die Arbeitsproduktivität war um 17,8% bis 36,4% vermindert. Nach Adjustierung um weitere Faktoren war das Vorliegen einer chronischen Krankheit die häufigste Determinante von eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit. Die Gesamtkosten chronischer Krankheiten wurden auf 10,7% der gesamten Personalkosten der Dow Chemical Company in den Vereinigten Staaten geschätzt, 6,8% gingen allein auf eingeschränkte Arbeitsfähigkeit zurück. Bei allen untersuchten chronischen Krankheiten überstiegen die Kosten der krankheitsbedingt verminderten Produktivität bei Anwesenheit am Arbeitsplatz die durch Fehlzeiten und medizinische Behandlung verursachten Kosten deutlich.
Übersetzung und Nachdruck aus der Zeitschrift Health & Productivity
Management, Vol. 4 No. 3, 2005, mit freundlicher Genehmigung durch das Institute for Health and Productivity Management. Übersetzung aus dem Englischen von Susanne Sollmann
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3.1 Einführung Die Kosten der Gesundheitsversorgung sind von großer allgemeiner Relevanz. Bei der Analyse der gegenwärtigen Situation müssen die gesamten ökonomischen Auswirkungen von Krankheiten auf Wirtschaft und Gesellschaft betrachtet werden. Ein verbessertes Verständnis der Beziehung zwischen Krankheiten und ihren Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft ermöglicht es, knappe gesellschaftliche Ressourcen bestmöglich zu investieren. Gesundheitliche Beeinträchtigungen steigern die Fehlzeiten und vermindern die Produktivität am Arbeitsplatz. Hierdurch wird die Wirtschaft erheblich belastet [5, 18, 23]. Diese Tatsache an sich ist unstrittig, die Auswirkungen einer angeschlagenen Gesundheit der Beschäftigten auf die Produktivität eines einzelnen Unternehmens sind jedoch schwierig abzuschätzen: Zum einen dokumentieren die meisten Arbeitgeber Fehlzeiten nicht systematisch, zum anderen haben sich Methoden zur Messung der Auswirkungen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Produktivität am Arbeitsplatz erst in den letzten Jahren im Zuge der Diskussion über den so genannten Präsentismus entwickelt. Für die einzelnen Unternehmen ist es wichtig, die finanziellen Folgen von Krankheiten zu kennen, um Probleme rechtzeitig zu identifizieren und eine effiziente Verwendung von Finanzmitteln zum Zwecke des Gesundheitsschutzes zu ermöglichen. Die meisten Studien konzentrieren sich auf ganz bestimmte Krankheiten und stellen die Auswirkungen auf alle Beschäftigten nicht umfassend dar. Chronische Krankheiten wie Asthma, allergischer Schnupfen, Migräne, Depressionen, Atembeschwerden, Rückenschmerzen oder Diabetes senken nachweislich die Produktivität. Über den relativen Beitrag einzelner Krankheiten zum gesamten Produktivitätsverlust (work loss) eines Unternehmens oder darüber, inwieweit sich Produktivitätseinschränkungen nach Art des Arbeitsplatzes, demographischen oder anderen Faktoren unterscheiden, ist jedoch bisher wenig bekannt. Einige Studien legen nahe, dass krankheitsbedingte Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit sogar einen größeren Anteil am Produktivitätsverlust haben als krankheitsbedingte Fehlzeiten. Konzentrierte man sich also bei Analysen ausschließlich auf die Fehlzeiten, würden Produktivitätsverluste erheblich unterschätzt [1, 2, 4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 17, 19, 22, 24]. Die Firma Dow Chemical führte 1997 ein integriertes Gesundheitsmanagementprogramm ein, um krankheitsbedingte Kosten zu reduzieren und die Produktivität durch gesundheitsbezogene Verbesserungen zu steigern. Die ökonomischen Kosten durch gesundheitliche Beeinträchtigungen werden dabei als Summe der direkten Kosten für die Gesundheitsversorgung
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität
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und der indirekten Kosten durch Fehlzeiten und Produktivitätsverluste definiert. Bis vor kurzem fehlten dem Unternehmen jedoch Ansatzpunkte, um die Kosten der krankheitsbedingt eingeschränkten Arbeitsfähigkeit schätzen zu können. Im Folgenden werden die Ergebnisse einer detaillierten Erfassung und ökonomischen Analyse der Auswirkungen von chronischen Krankheiten der Dow-Chemical-Beschäftigten vorgestellt. Vermutlich ist diese Studie die bisher umfassendste Untersuchung ihrer Art. Sie bildet die Auswirkungen chronischer Krankheiten auf eine heterogene Arbeitnehmerschaft so vollständig wie möglich ab. Da die meisten US-Bürger unterhalb des Rentenalters über ihren Arbeitgeber krankenversichert sind, haben Entscheidungen der Arbeitgeber generell einen weitreichenden Einfluss auf das Gesundheitssystem. Diese Fallstudie bietet Politikern, Kostenträgern und Leistungserbringern Informationen über die gesamten ökonomischen Folgen chronischer Krankheiten für die Volkswirtschaft und die Gesellschaft, die für die Planung von Investitionen in Maßnahmen zur Gesundheitsförderung chronisch Kranker genutzt werden können. Für Dow Chemical bietet die Studie eine Vergleichsgrundlage für künftige Untersuchungen. Die Studie wurde in zwei Publikationen ausführlich dargestellt [6, 21]. Dieser Beitrag basiert auf einer Zusammenfassung der Studienergebnisse für die Zeitschrift „Health & Productivity Management“. Für eine ausführlichere Darstellung der Methodik und Ergebnisse sei auf Collins, Baase et al. 2005 [6] verwiesen. 3.2 Material und Methoden Zwischen Juli und September 2002 wurden 12 397 Vollzeitbeschäftigte der Firma Dow Chemical an fünf Standorten in Michigan und Texas (das entspricht 56% der Gesamtbelegschaft des Unternehmens in den USA) gebeten, an einer Online-Befragung zu verminderter Arbeitsfähigkeit und Fehlzeiten teilzunehmen. Mithilfe der Stanford Presenteeism Scale (SPS) wurden Daten zu Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit und Fehlzeiten im Zusammenhang mit einer „primären“ chronischen Erkrankung der Befragten erhoben. Mit „primärer“ chronischer Erkrankung ist die Krankheit gemeint, durch die die Arbeitsproduktivität innerhalb eines definierten Vier-Wochen-Zeitraums am meisten vermindert war. In der Befragung wurde auf Basis einer Liste von Krankheiten die relevante chronische Primärerkrankung ermittelt. (vgl. Abb. 3.1). Zur Auswahl gestellt wurden unter anderem folgende Krankheiten (ICD-9-Klassifikation): Allergien, Arthritis/Gelenkschmerzen oder -steifheit, Asthma, Rücken-/Nackenschmerzen, Atemwegserkrankungen (Bronchitis, Emphysem), Depressionen/Angstzustände/emotionaler
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1.
Leiden Sie unter einer der folgenden Krankheiten? Bitte wählen Sie alle zutreffenden Krankheiten aus und markieren Sie diejenige, welche Sie als Ihre Primärerkrankung betrachten (d. h. die Krankheit, durch die Sie in den letzten vier Wochen am meisten gesundheitlich beeinträchtigt waren). Wenn Sie unter keiner der aufgeführten Krankheiten leiden, markieren Sie bitte das entsprechende Kästchen und füllen Sie diesen Fragebogen nicht weiter aus. (Antwortmöglichkeiten: Allergien; Arthritis oder Gelenkschmerzen/steifheit; Asthma; Rücken- oder Nackenschmerzen; Atmungsbeschwerden durch Bronchitis oder Emphysem; Depressionen/Angstzustände/emotionaler Stress; Diabetes; Herz-Kreislauf-Krankheiten, arterielle Erkrankungen, hoher Blutdruck, Angina pectoris; Migräne/chronische Kopfschmerzen; Magen-DarmBeschwerden; andere _______ )
Bitte markieren Sie bei den Fragen 2–11, wie häufig Ihre Primärerkrankung Ihre Arbeitsfähigkeit in den letzten vier Wochen beeinträchtigt hat: (immer/ häufig/ungefähr die Hälfte der Zeit/manchmal/nie/keine Angabe) 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.
Konnten Sie schwierige Aufgaben meistern? War Ihre Aufmerksamkeit beeinträchtigt? Waren Sie in der Lage, sich auf das Erreichen von Arbeitszielen zu konzentrieren? Fühlten Sie sich fit genug zum Arbeiten? War Ihre Arbeitsbelastung schwer zu bewältigen? Hatten Sie das Gefühl, Ihre Arbeit nicht zuende bringen zu können? Konnten Sie sich darauf konzentrieren, eine Lösung zu finden, wenn bei der Arbeit unerwartete Probleme auftauchten? Mussten Sie bei der Arbeit Pausen einlegen? Waren Sie in der Lage, im Team zu arbeiten? Waren Sie wegen Schlafmangels müde?
12. Wie viel Prozent Ihrer normalen Arbeitsproduktivität konnten Sie in Anbetracht Ihrer Primärerkrankung in den letzten vier Wochen erreichen? (Markieren Sie einen Wert zwischen 1 und 100) 13. Wie viele Arbeitsstunden haben Sie in den letzten vier Wochen aufgrund Ihrer Primärerkrankung versäumt? (Markieren Sie einen Wert zwischen 1 und >40) Der Stanford Presenteeism Scale ist Eigentum der Firma Merck & Co, Inc. (2003)
Abb. 3.1. Online-Befragung auf Basis der Stanford Presenteeism Scale
Stress, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Arterienverkalkung, hoher Blutdruck), Migräne/chronische Kopfschmerzen, Magen-DarmBeschwerden (vgl. Tabelle 3.1).
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität
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Für alle Befragten wurde auf der Basis ihrer Primärerkrankungen und ihrer Antworten auf zehn Fragen der SPS zur Produktivitätsbewertung ein Wert berechnet, der den Umfang der Einschränkungen ihrer Arbeitsfähigkeit auf einer Skala (Work Impairment Score; WIS) anzeigt. Zudem wurden die Befragten gebeten, für einen Zeitraum von 30 Tagen den Prozentsatz ihrer in Anbetracht der Primärerkrankung normalerweise erreichten Produktivität zu schätzen. Auf der Grundlage der Schätzungen wurde eine Skala zur Messung der Arbeitsproduktivität (Work Output Score; WOS) berechnet. Der WIS gibt das Ausmaß wieder, in welchem eine Krankheit die Betroffenen bei der Arbeit beeinträchtigt (z.B. Energie, Konzentrationsfähigkeit, Teamfähigkeit). Der WOS misst, in welchem Ausmaß die Arbeitsproduktivität aufgrund des Tabelle 3.1. Chronische Krankheiten nach SPS (Stanford Presenteeism Scale) und entsprechende ICD-9-Codes Primäre chronische Krankheit nach SPS
ICD-9-Codes*
Allergien
287.0, 372.14, 379.93, 446.20, 446.29, 477.0-477.9, 478.8, 495.0-495.9, 558.3, 693.1, 708.0-708.1, 708.5-708.9, 995.1, 995.3, V14.0-V14.9, V15.01-V15.09 714.0-714.9, 715.00-715.98, 716.00-716.99, 719.40719.59 493.xx 720.0-720.9, 737.0-737.9, 738.2, 738.5, 839.00-839.59, 846.0-846.9, 847.0-847.9 490, 491.0-491.9, 492.0-492.8
Arthrose oder Gelenkschmerzen/ -steifheit Asthma Rücken-/Nackenschmerzen Erkrankungen der Atmungsorgane (Bronchitis, Emphysem) Depressionen, Angstzustände oder emotionaler Stress
Diabetes Herz-Kreislauf-Krankheiten (Arterielle Erkrankungen, hoher Blutdruck) Migräne/chronische Kopfschmerzen Magen-Darm-Beschwerden
296.20-296.36, 296.4-296.7, 298.0, 300.4, 301.12, 309.0309.1, 311, 293.84, 300.00-300.09, 300.20-300.30, 309.21, 309.24, 301.0-301.9, 308.0-308.9, 309.22, 309.23, 309.28309.29, 309.3-309.9, 312.0-312.9, 313.0-313.9 250.xx 401.0-404.9, 405, 410.00-410.92, 411, 411.1, 411.0, 411.81-411.89, 412, 413, 414, 414.0, 414.1, 414.00414.05, 414.10, 414.8-414.9 346.0-346.9, 307.81, 784.0 530.81, 531.00-534.91, 535.00-535.91, 536.0-536.9, 537.0-537.9, 556, 558.9, 560.0-560.9, 569.81-569.9, 562.00-562.13, 564.00-564.9, 782.7
* Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD-9-CM); die ICD-Codes wurden verwendet, um den aufgeführten Krankheiten Abrechnungsdaten zuzuordnen. Darüber hinaus wurden zur Identifikation betroffener Patienten Arzneimitteldaten ausgewertet.
3
50
C. M. Baase
verminderten Outputs reduziert ist. Mithilfe des WOS wurden die monetären Kosten des die Produktivitätsverlusts quantifiziert (ausgehend von dem ökonomischen Ansatz, dass Arbeitnehmer gemäß dem Wert ihrer Arbeitsergebnisse bezahlt werden). Um herauszufinden, wodurch die Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers beeinträchtigt werden kann, wurde außerdem untersucht, wie Gesundheit und andere demographische Faktoren den WIS beeinflussen. Die bei der Befragung gewonnenen Daten wurden anschließend mit demographischen Daten, abgerechneten medizinischen Leistungen und Arzneimitteln, Gehaltsangaben, Angaben zur Art der Beschäftigung und zum Raucherstatus sowie Informationen des betriebsärztlichen Dienstes der Firma Dow Chemical zu Risikofaktoren verknüpft. Hieraus ergaben sich die jährlichen Gesamtausgaben für Gesundheit, definiert als Summe der medizinischen Behandlungskosten (d.h. Ausgaben des Unternehmens für ambulante und stationäre Behandlung, Psychotherapie und Arzneimittel der Arbeitnehmer) plus durch Fehlzeiten und eingeschränkte Arbeitsfähigkeit verursachte Kosten, bezogen auf die Gesamtzahl der Ausfallstunden. Die ökonomischen Auswirkungen der untersuchten chronischen Krankheiten auf die gesamte Dow-ChemicalBelegschaft in den USA wurden geschätzt, indem die Gesamtkosten der (durch verminderte Arbeitsfähigkeit und Fehlzeiten) nicht geleisteten Arbeitsstunden und die direkten medizinischen Behandlungskosten für jede Berufsgruppe addiert und das Ergebnis durch die gesamten Lohnkosten dividiert wurde. Als Resultat erhält man die geschätzte ökonomische Belastung für die Firma Dow Chemical durch die in der Studie untersuchten chronischen Krankheiten in Prozent der Personalkosten. 3.3 Ergebnisse An der Befragung nahmen 7797 der 12 397 Arbeitnehmer teil. 65 Prozent gaben an, an mindestens einer der genannten chronischen Krankheiten zu leiden. Am häufigsten wurden Allergien, Arthritis/Gelenkschmerzen und -steifheit und Rücken- oder Nackenschmerzen genannt (vgl. Abb. 3.2). Die damit verbundenen Fehlzeiten betrugen je nach Krankheit zwischen 0,9 und 5,9 Stunden innerhalb eines Vier-Wochen-Zeitraums, die Arbeitsproduktivität war um 17,8% bis 36,4% vermindert (vgl. Tabelle 3.2). Arbeitnehmer, die angaben, an Depressionen, Angstzuständen/emotionalem Stress oder Atemwegserkrankungen (Bronchitis, Emphysem) zu leiden, wiesen die höchsten Einschränkungen auf. Arbeitnehmer, die an Asthma oder Allergien litten, gaben die geringsten individuellen Einschränkungen und Fehlzeiten an.
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität
51
3
Abb. 3.2. Chronische Erkrankungen *
Prävalenz chronischer Krankheiten in den letzten 4 Wochen gemäß SPS bzw. abgerechnete Leistungen innerhalb des letzten Jahres ** Atemwegserkrankungen: Bronchitis und Emphysem
Das Vorliegen einer chronischen Krankheit war nach Adjustierung um weitere Faktoren mithilfe der Regressionsanalyse (p = 0,000) die wichtigste Determinante für das Ausmaß der berichteten Arbeitsbeeinträchtigungen und Fehlzeiten (vgl. Tabelle 3.3). Andere wichtige Prädiktoren der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit waren Geschlecht (p = 0,012), Alter (p = 0,000), Standort (p = 0,000), Berufsgruppe (p = 0,000), Anzahl chronischer Krankheiten (p = 0,000) und geleistete Arbeitsstunden (p = 0,000). Die Beeinträchtigungen nahmen mit zunehmendem Alter ab und waren auf Grundlage der Berufsgruppenklassifikation der National Equal Opportunity Commission bei Mitarbeitern im Servicebereich und bei angelernten Arbeitern am höchsten. Depressionen, Angstzustände und emotionaler Stress führten zu den höchsten Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit, aber auch Migräne und Kopfschmerzen, „andere“ Krankheiten, Erkrankungen der Atemwege und Rücken- oder Nackenschmerzen waren wichtige Prädiktoren der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit. Von den Arbeitnehmern, die mindestens eine Primärerkrankung angaben, verursachten diejenigen mit Depressionen, Angstzuständen
52
Tabelle 3.2. Rücklauf, Prävalenz, Work Impairment Score (WIS) und Ausfallstunden durch selbst berichtete chronische Krankheiten Chronische Krankheit
Mittlerer WIS der Befragungsteilnehmer, die diese Krankheit als Primärkrankheit angaben
95%Konfidenzintervall des mittleren WIS
Befragungsteilnehmer, die diese Krankheit als Primärkrankheit angaben und Fragen zu Fehlzeiten beantworteten
Mittlere Anzahl Ausfallstunden bei Primärkrankheit
2890 (37,1) 1697 (21,8)
1472 (18,9) 704 (9,0)
18,2 19,7
17,5–18,8 18,6–20,7
1482 (19,0) 707 (9,1)
0,9 1,1
0,7–1,1 0,8–1,4
348 (4,5) 1274 (16,3)
99 (1,3) 545 (7,0)
17,9 21,7
15,2–20,5 20,5–22,8
98 (1,3) 549 (7,0)
0,9 2,1
0,5–1,4 1,5–2,6
104 (1,3)
20 (0,3)
23,8
17,8–29,7
20 (0,3)
5,9
1,6–10,2
721 (9,2)
337 (4,3)
36,4
34,4–38,3
339 (4,3)
3,7
2,8–4,6
253 (3,2) 929 (11,9)
189 (2,4) 554 (7,1)
17,8 19,9
15,9–19,6 18,7–21,1
189 (2,4) 556 (7,1)
1,3 1,4
0,6–1,9 0,9–1,9
635 (8,1)
243 (3,1)
23,4
21,7–25,0
243 (3,1)
2,4
1,7–3,2
677 (8,7)
262 (3,4)
21,7
20,0–23,3
266 (3,4)
1,9
1,0–2,7
49 (0,6)
46 (0,6)
21,5
17,6–25,4
49 (0,6)
2,6
0,5–4,7
906 (11,6)
434 (5,6)
23,0
21,5–24,4
442 (5,7)
4,0
3,1–4,9
95%Konfidenzintervall der mittleren Anzahl Ausfallstunden
C. M. Baase
Allergien Arthritis/Gelenkschmerzen Asthma Rücken-/ Nackenschmerzen Atemwegsbeschwerden Depressionen, Angstzustände Diabetes Herz-KreislaufErkrankungen Migräne/ chronische Kopfschmerzen Magen-DarmBeschwerden Muskel-undSkeletterkrankungen Sonstige
Befragungsteilnehmer, die diese Krankheit als Primärkrankheit angaben und WIS-Fragen beantworteten
Befragungsteilnehmer, die angaben, an dieser Krankheit zu leiden, abs. u. in %
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität
53
oder emotionalem Stress die höchsten jährlichen Gesamtkosten (18 864 Dollar im Jahr 2002), während die Arbeitnehmer, die unter Allergien litten, die geringsten Kosten hervorriefen (6947 Dollar, vgl. Tabelle 3.4). Bei allen chronischen Krankheiten außer Atemwegserkrankungen (Bronchitis, Emphysem) überstiegen die direkten Kosten für medizinische Behandlung die Kosten für die krankheitsbedingten Fehlzeiten. Die durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit verursachten Kosten hatten jedoch bei allen chronischen Krankheiten den größten Anteil an den Gesamtkosten. Rechnet man die Ergebnisse der Befragung auf alle DowChemical-Beschäftigten in den Vereinigten Staaten hoch, betrugen im Jahr 2002 die durchschnittlichen Kosten je Beschäftigten mit einer chronischen Krankheit 2278 Dollar für medizinische Behandlung, 661 Dollar durch Fehlzeiten und 6721 Dollar durch eingeschränkte Arbeitsfähigkeit. Projiziert man diese Ergebnisse auf alle Dow-Beschäftigten in den USA (d.h. Arbeitnehmer mit und ohne chronische Krankheiten), beliefen sich die geschätzten Kosten auf 10,7 Prozent der gesamten Personalkosten: 6,8 Prozent entfielen auf eingeschränkte Arbeitsfähigkeit, 2,9 Prozent auf medizinische Behandlung und 1,0 Prozent auf Fehlzeiten. 3.4 Diskussion Diese Befragung ist der bisher umfassendste Versuch eines Unternehmens, die Auswirkungen eingeschränkter Arbeitsfähigkeit aufgrund chronischer Krankheiten der Mitarbeiter zu bewerten und die relativen Anteile von krankheitsbedingten Fehlzeiten, eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und medizinischer Behandlung zu beziffern. Die Rücklaufrate der Befragung war hoch, und auch wenn es einige Unterschiede zwischen den an der Befragung teilnehmenden und den nicht teilnehmenden Mitarbeitern gab, repräsentierten die Befragungsteilnehmer einen breiten Querschnitt der Dow-Beschäftigten. Die Studie zeigt deutlich, dass die Mehrzahl der Arbeitnehmer – und zwar sowohl „Kopfarbeiter“ als auch Mitarbeiter in der Produktion – unter chronischen Krankheiten leidet und diese Krankheiten signifikante Auswirkungen auf Arbeitsfähigkeit, Fehlzeiten und medizinische Behandlungskosten haben. Da für die meisten Befragten Daten zur Inanspruchnahme von Gesundheitseinrichtungen sowie biometrische und andere Daten vorlagen, war eine umfassende Bewertung des Gesundheitsstatus, der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit und der krankheitsbedingten Fehlzeiten der Arbeitnehmer sowie der Gesamtkosten möglich. Fast zwei Drittel der Beschäftigten gaben an, an mindestens einer chronischen Krankheit zu leiden; entsprechend hoch waren die jährlichen
3
54
C. M. Baase
Tabelle 3.3. Prädiktoren eingeschränkter Arbeitsfähigkeit aufgrund einer chronischen Krankheit Eingeschränkte Arbeitsfähigkeit Variable
Linearer Regressionskoeffizient
P-Wert Variable
Konstante
12,5
0,000
0,0 0,7 -3,4
Referenz 0,159 0,022
0,012
1,0 1,4 0,9
Referenz 0,002 0,000 0,640
0,0 -1,1 -1,1 0,6 5,7 -1,3
Referenz 0,263 0,158 0,631 0,070 0,672
0,228
1,0 1,2 1,2 1,1 1,2 0,6
Referenz 0,433 0,312 0,077 0,613 0,768 0,595
2,8 0,0 -1,4 -2,8 -4,5
0,091 Referenz 0,017 0,000 0,000
0,000
1,0 1,0 0,7 0,6 0,5
0,932 0,003 Referenz 0,000 0,000 0,000
0,2 1,2 3,5 0,0 0,8 1,4
0,688 0,016 0,000 Referenz 0,283 0,431
0,000
1,1 1,1 0,7 1,0 1,3
0,322 0,000 0,441 0,000 Referenz 0,054
0,0 1,9 1,8 3,1 0,3 2,5 3,3 1,7 0,1
Referenz 0,047 0,053 0,000 0,701 0,237 0,145 0,033 0,922
0,000
1,0 0,9 1,4 1,0 1,1 1,8 0,6 1,2 1,6
Referenz 0,000 0,908 0,020 0,997 0,298 0,087 0,221 0,126 0,108
0.0 -0,5 -3,5 1,6 1,7
Referenz 0,397 0,014 0,034 0,574 0,000
0,000
1,0 1,0 1,0 1,2 4,4 2,2
Referenz 0,000 0,989 0,856 0,086 0,007 0,000
1,2 0,9 1,7
0,346 0,396 0,001
Geschlecht Männlich Weiblich Keine Angabe Ethnische Zugehörigkeit Kaukasisch Afroamerikanisch Hispanisch Asiatisch Indianisch Keine Angabe Alter 56 Standort 1 2 3 4 5 Keine Angabe Position Leitender Angestellter Facharbeiter Büroangestellter Angelernter Arbeiter Höhere Angestellte Verkaufspersonal Servicepersonal Techniker Keine Angabe Chronische Krankheit Arthritis Allergien Asthma Rückenschmerzen Atembeschwerden Depressionen Diabetes Herzbeschwerden Migräne
14,4 -2,4 0,4 2,3
0,028 0,592 0,022
P-Wert Gruppe
Fehlzeiten Logistische Regression Odds Ratio
P-Wert Variable
P-Wert Gruppe
Nicht 0,000 anwendbar
55
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität Tabelle 3.3. (Fortsetzung) Eingeschränkte Arbeitsfähigkeit Variable
Magenbeschwerden Sonstige Anzahl Krankheiten Anzahl Body Mass Index 30 Keine Angabe Raucherstatus Nichtraucher Raucher Keine Angabe Diastolischer Blutdruck 100 Systolischer Blutdruck 160 Gesamtcholesterin 240 Gesamtcholesterin/HDL 6,0 Arbeitsstunden je Woche 60 Keine Angabe Regression Anzahl R-Quadrat Signifikanz
Linearer Regressionskoeffizient
P-Wert Variable
1,0 2,3
0,297 0,004
3,0
0,000
0,0 0,9 0,1
P-Wert Gruppe
Fehlzeiten Logistische Regression Odds Ratio
P-Wert Variable
P-Wert Gruppe
3
1,3 1,0
0,037 0,910
1,4
0,000
Referenz 0,092 0,922
1,0 1,1 1,2
Referenz 0,403 0,124
0,0 0,6 0,4
Referenz 0,402 0,592
1,0 1,0 1,0
Referenz 0,987 0,985
0,0 -1,7 -0,3
Referenz 0,038 0,882
1,0 1,0 1,0
Referenz 1,000 1,000
0,0 -0,2 -1,2
Referenz 0,782 0,548
1,0 0,8 0,5
Referenz 0,654 0,051 0,063
0,0 -0,3 0,0
Referenz 0,563 0,985
1,0 1,1 1,1
Referenz 0,421 0,436
0,0 0,1 0,0 0,3
Referenz 0,480 0,902 0,059
1,0 1,2 1,1 1,3
Referenz 0,015 0,650 0,041
11,4 0,0 0,6 1,0 3,4 1,3 -5,0
0,000 Referenz 0,166 0,084 0,000 0,127 0,107
1,6 1,0 0,7 0,6 0,6 0,5 0,4
0,249 0,000 Referenz 0,000 0,000 0,000 0,000 0,439
5108 0,179 0,000
0,000
0,424
0,000
0,000
5240 0,111* 0,000
* R-Quadrat nach Cox und Snell. Die Analyse basiert auf der linearen multiplen Regression des Work Impairment Score und der logistischen Regression der berichteten Fehlzeiten.
56
C. M. Baase
Tabelle 3.4. Geschätzte Kosten durch chronische Krankheiten je Beschäftigten mit einer chronischen Krankheit Chronische Krankheit
Durchschnittliche Kosten (in US-Dollar) durch medizinische Behandlung
Allergien Arthritis Asthma Rücken-/Nackenschmerzen Atemwegserkrankungen Depressionen Diabetes Herz-KreislaufErkrankungen Migräne/chronische Kopfschmerzen Magen-Darm-Beschwerden
Fehlzeiten
eingeschränkte Arbeitsfähigkeit
insgesamt
1442 2623 1782 2249 2274 2017 3663 2531
377 441 383 839 2446 1525 514 613
5129 6095 5661 6879 7663 15322 5414 6207
6947 9127 7870 9975 12384 18864 962 9359
1689
945
6603
9232
2585
800
679
10188
Kosten für die Firma Dow Chemical. Die vorliegende Untersuchung ermöglicht es Dow Chemical, die finanziellen Auswirkungen von chronischen Krankheiten ihrer Beschäftigten in den USA bezüglich direkter und indirekter Kosten zu quantifizieren: Die Kosten wurden auf insgesamt mehr als 100 Millionen Dollar jährlich geschätzt. Interventionen zur Prävention von Krankheiten oder zur Verbesserung von medizinischen Behandlungsergebnissen können sich für das Unternehmen sehr lohnen. Verminderte Arbeitsfähigkeit und Fehlzeiten aufgrund chronischer Krankheiten lassen sich zwar selbst durch die erfolgreichsten Gesundheitsförderungsmaßnahmen nicht völlig vermeiden; die hohe Prävalenz und die Gesamtkosten der untersuchten chronischen Krankheiten stellen jedoch für die Unternehmensleitung einen wichtigen Anlass dar, die Produktivität durch Gesundheitsförderungsmaßnahmen für die Belegschaft zu erhöhen. Politikern und Leistungserbringern stünde es gut an, die ökonomischen Auswirkungen von Krankheiten im Ganzen – also sowohl die direkten als auch die indirekten Kosten – zu betrachten, wie diese Analyse zeigt. Aus Sicht der Leistungserbringer des Gesundheitswesens bestätigt die Studie Bedeutung und Wert von Behandlungsergebnissen und funktionellem Gesundheitsstatus. Die hier vorgestellten Parameter zur Kostenschätzung sind jedoch unvollständig. Die Krankheit eines Mitarbeiters hat nicht nur Auswirkungen auf die Produktivität des Betroffenen, sondern bringt weitere Folgen mit
Auswirkungen chronischer Krankheiten auf Arbeitsproduktivität
57
sich: Pauly et al. [16] kommen zu dem Ergebnis, dass die Kosten der krankheitsbedingten Abwesenheit von Mitarbeitern dann am größten sind, wenn es erstens schwierig ist, diese zu ersetzen, wenn sie zweitens Teil eines Teams sind und drittens ihre Arbeit nicht ohne Weiteres aufgeschoben werden kann. Diese drei Faktoren wurden in einer separaten Analyse als Multiplikatoren verwendet, um die Kosten von Fehlzeiten für 35 weitere Berufsbilder zu schätzen. Es zeigte sich, dass die Gesamtkosten des Produktivitätsverlusts bei der Firma Dow Chemical signifikant höher wären, wenn man diese Multiplikatoren anwenden würde [14]. Diese Studie zeigt, dass Krankheit signifikante Auswirkungen auf die Produktivität der Beschäftigten in allen Berufsbildern hat. Die gewonnenen Erkenntnisse können dazu beitragen, kosteneffiziente Gesundheitsförderungsmaßnahmen für bestimmte Krankheiten zu entwickeln, da sie als Ausgangsbasis für die Bewertung von deren Wirksamkeit zur Verfügung stehen. Zudem kann mithilfe der Studienergebnisse ermittelt werden, bezüglich welcher Krankheiten noch Forschungsbedarf besteht. Chronische Krankheiten sind unter den Angehörigen aller Berufsgruppen weit verbreitet und können sich signifikant auf die finanzielle Leistungsfähigkeit einer Firma auswirken. Während sich das Management bisher meist auf die durch medizinische Behandlung und Fehlzeiten verursachten direkten Kosten konzentriert hat, legen unsere Ergebnisse nahe, dass eine verminderte Arbeitsfähigkeit einen viel größeren Produktivitätsverlust mit sich bringt. Diese Erkenntnis ist eine große Chance für die Unternehmen und setzt neue Schwerpunkte für zukünftige Aktivitäten von Politikern und Leistungserbringern. Unter Mitarbeit von • James J. Collins, PhD, The Dow Chemical Company • Claire E. Sharda, RN, MBA, Outcomes Research and Management, Merck & Co., Inc. • Ronald J. Ozminkowski, PhD, The Medstat Group, Inc. • Sean Nicholson, PhD, The Wharton School • Gary M. Billotti, MS, The Dow Chemical Company • Robin S. Turpin PhD, Outcomes Research and Management, Merck & Co., Inc. • Michael Olson PhD, Personnel Research Associates, Inc. • Marc L. Berger, MD, Outcomes Research and Management, Merck & Co., Inc.
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3
Prävention chronischer Krankheiten im Betrieb
KAPITEL 4
Prävention von Rückenerkrankungen in der Arbeitswelt D. Lühmann · B. Zimolong
4 Zusammenfassung. Der Betrieb bietet sich als ideales Setting für Präventionsmaßnahmen an. Die Ausgestaltung von Maßnahmen erweist sich jedoch als schwierig, da für die meisten „unspezifischen“ Rückenschmerzen keine eindeutigen Ursachen vorliegen. Für ihre Entstehung muss ein Zusammenwirken von bio-psycho-sozialen Risikofaktoren angenommen werden. Im Bereich der Verhaltensprävention kommen Trainingsprogramme, Schulungen, Hilfsmittel und multidisziplinäre Programme zum Einsatz. Im Bereich der Verhältnisprävention erzielen ergonomische Maßnahmen nachhaltige Wirkungen, wenn sie zusammen mit Schulungen und Trainings angeboten und in ein gesundheitsförderliches Arbeitsklima eingebunden werden. Betriebliche Gesundheitsprogramme kombinieren verhaltens- und verhältnisorientierte Komponenten. Sie können insbesondere dann zu einer Veränderung und Stabilisierung des individuellen Gesundheitsverhaltens beitragen, wenn sie zielgruppenspezifisch angelegt sind. Für Rückenerkrankungen scheinen sekundäre Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung der Chronifizierung der Schmerzen das beste NutzenKosten-Verhältnis aufzuweisen. 4.1 Ätiologie und Verlauf Rückenerkrankungen bzw. das Symptom „Rückenschmerzen“ mit seinen Konsequenzen gehört in Deutschland wie in allen westlichen Industrienationen zu den „Volkskrankheiten“ mit erheblichen Konsequenzen für den Betroffenen wie auch für die Gesellschaft. Unter den Ursachen für Arbeitsunfähigkeitstage, Rehabilitationsmaßnahmen und Frühberentungen nehmen sie, als dominierende Subgruppe der Diagnosegruppe Muskuloskelettale Erkrankungen (MSE), jeweils den ersten bzw. zweiten Rangplatz ein [1]. Mit „Rückenschmerzen“ werden in Deutschland Schmerzen im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule und der Glutealregion bezeichnet. Abgegrenzt werden Schmerzen in der Nackenregion, den
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Schultern und den Hüften. Aus ätiologischer Sicht werden „spezifische“ und „unspezifische“ Formen von Rückenschmerzen unterschieden. Spezifische Rückenschmerzen sind solche, bei denen somatische Ursachen als Auslöser der Beschwerden diagnostiziert werden können. Hierzu gehören traumatische, entzündliche und tumoröse Veränderungen an der Wirbelsäule, systemische Erkrankungen (z. B. Osteoporose, ankylosierende Spondylitis, chronische Polyarthritis) aber auch Bandscheibenvorfälle, die Druck auf Nervenwurzeln und/oder die Cauda Equina ausüben. Unspezifische Rückenschmerzen liegen dann vor, wenn sich für die Beschwerden kein somatischer Auslöser finden und kein zentraler Pathomechanismus erkennen lässt. In etwa 80–85% der Fälle lassen sich die Rückenschmerzursachen nicht klären [3], sie sind als unspezifisch (im englischen Sprachgebrauch auch als „mechanical“, „idiopathic“ oder „common“) zu klassifizieren (ICD10: M 54.9). Im USamerikanischen Sprachgebrauch werden am Arbeitsplatz aufgetretene unspezifische Rückenschmerzen auch unter dem Terminus „back injuries“ geführt. Dies geschieht vor dem Hintergrund des amerikanischen Versicherungswesens, wonach Arbeitern nur nach arbeitsbedingten „Verletzungen“ Lohnersatzleistungen zustehen. Nach ihrem Verlauf werden Rückenschmerzen in akute, subakute und chronische Formen eingeteilt. Vor allem im englischen Sprachgebrauch sind akute Rückenschmerzen gewöhnlich als eine Episode von maximal sechs Wochen definiert; subakute Rückenschmerzen persistieren zwischen sechs und zwölf Wochen; chronische Rückenschmerzen dauern länger als zwölf Wochen an. Ein besonderes Problem für die Konzeption von präventiven Maßnahmen stellt der oft episodenhafte Verlauf von Rückenschmerzen dar. Wiederkehrende Rückenschmerzen (recurrent back pain) – echte Rezidive – sind solche, die nach einem symptomfreien Intervall erneut auftreten. Untersuchungen an Patienten aus dem primärärztlichen Bereich haben gezeigt, dass bis zu 70% der Rückenschmerzfälle einen rezidivierenden Verlauf nehmen [4]. Davon abzugrenzen ist die Verschlechterung, Progression von Rückenschmerzen, die 1. die Verschiebung der Beschwerden in höhere Schweregrade, 2. die Veränderung des zeitlichen Verlaufsmusters (z. B. Übergang von subakuten in chronische Rückenschmerzen) und/oder 3. die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms umfasst. 70 bis 80% der Erwachsenen haben schon mindestens einmal in ihrem Leben Rückenschmerzen gehabt [5]. Hierbei ist eine charakteristische Alters- und Geschlechtsverteilung zu beobachten. Bereits ab dem Alter von 20 Jahren geben viele junge Erwachsene an, in den letzten zwölf Monaten an Rückenschmerzen gelitten zu haben. Diese Häufigkeit nimmt in den höheren Altersgruppen nur noch geringfügig zu, wobei in allen
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Altersgruppen Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Eine schlüssige Erklärung für diese charakteristische Alters- und Geschlechtsverteilung gibt es nicht, es wird ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychischer und sozialer Faktoren angenommen. Die durch Rückenschmerzen verursachten Kosten werden in den Industrienationen auf ca. 1% des Bruttosozialprodukts geschätzt. Für Deutschland schätzt die BAUA die jährlichen Kosten für 2003 auf 10,60 Mrd., den Ausfall an Bruttowertschöpfung auf 16,53 Mrd. Euro [2]. 4.2 Risikofaktoren Risikofaktoren von Erkrankungen sind solche, „die die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum erkrankt, medizinische Hilfe benötigt oder stirbt, erhöhen“ [10]. Bei Rückenschmerzen sind Risikofaktoren einerseits interessant, weil sie die Beschreibung von Personen(-gruppen) erlauben, die eine hohe Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von schweren Rückenproblemen aufweisen. Anderseits bieten beeinflussbare Risikofaktoren einen direkten Angriffspunkt für präventive Maßnahmen. Dies ist vor allem bei unspezifischen Rückenschmerzen von Bedeutung, da eine kausale Prävention wegen der ungeklärten Ätiologie nicht möglich ist. Für die Entstehung und den Verlauf von unspezifischen Rückenschmerzen ist die eindeutige Analyse von Risikofaktoren aus verschiedenen Gründen schwierig [6]. • Die Chronifizierungsmechanismen bei Rückenschmerzen sind unklar. • Es muss ein multidimensionaler Entstehungs- und Chronifizierungsprozess angenommen werden, der die Analyse von Einzelfaktoren wenig sinnvoll erscheinen lässt. • Es gibt keine verlässlichen Grenzwerte für diskutierte Einflussfaktoren. • Bekannte Einflussgrößen für Rückenschmerzen können sehr spezifisch für die Gruppe sein, in der sie ermittelt wurden. Aufgrund der dargestellten Schwierigkeiten bietet es sich an, für eine Übersicht über die zur Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen prädestinierenden Risikofaktoren einen pragmatischen Zugang zu wählen. Einflussgrößen werden dann als relevanter Risikofaktor gewertet, wenn die Informationen hierzu aus prospektiven Kohortenstudien stammen und wenn der Zusammenhang zwischen Ziel- und Einflussgröße stark ist (definiert als relatives Risiko > 2). Tabelle 4.1 gibt einen Überblick über Einflussgrößen und die Wahrscheinlichkeit ihres Risikofaktorstatus [7].
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Tabelle 4.1. Risikofaktoren und Wahrscheinlichkeit ihres Risikofaktorstatus Risikofaktorstatus wahrscheinlich1 Soziale Einflussfaktoren • Schichtzugehörigkeit: Zusammenhang zu Ausfallzeiten am Arbeitsplatz wegen Rückenschmerzen • Ausbildungsniveau (geht in Schichtindex ein) • Arbeitslosigkeit (ggf. Zusammenhang mit Leistungsinanspruchnahme) Psychologische Einflussfaktoren • Depression • Psychische Beeinträchtigung („Distress“) • Furcht-Vermeidungsdenken, Katastrophisieren • Sexueller und körperlicher Missbrauch
Risikofaktorstatus unwahrscheinlich2 • kultureller Hintergrund (Status unklar) • familiärer und sozialer Rückhalt (widersprüchliche Studienergebnisse)
• Intelligenz und Persönlichkeitsmerkmale („pain personality“)
Individuelle biologische und verhaltensabhängige Merkmale • Vorangegangene Episode von • Alter, Geschlecht, Körpergröße - widersprüchliche Rückenschmerzen Studienergebnisse • Beeinträchtigende Komorbidität • Rauchen Arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren • Ganzkörpervibration • Bücken und Drehen • Material- und Patientenbewegung: Heben, Tragen, Schieben, Ziehen • Psychosoziale Arbeitsplatzbelastungen (Arbeitszufriedenheit, soziale Unterstützung am Arbeitsplatz) Physiologische Einflussgrößen: Muskelkraft, Haltung, Topographie • körperliche Fitness (inkonsistente Ergebnisse)* • Rumpfmuskelstärke (inkonsistente Ergebnisse)* • Beweglichkeit der Wirbelsäule (inkonsistente Ergebnisse)* • Ausdauer der Rumpfmuskulatur (inkonsistente Ergebnisse)* • Sitzende Körperhaltung während der Berufsausübung • Auffälligkeiten in der 3D-Darstellung der Rückenoberfläche 1
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Risikofaktorstatus wahrscheinlich = Informationen aus prospektiven Kohortenstudien und bedeutender Effekt (= Relatives Risiko ≥ 2). Risikofaktorstatus unwahrscheinlich = Informationen aus anderen Studientypen oder Relatives Risiko < 2. Für die genannten Messgrößen liegen Informationen aus Querschnittstudien vor, die belegen, dass die Parameter sich in Patientenpopulationen mit Rückenschmerzen deutlich von den in beschwerdefreien Gruppen gefundenen Werten unterscheiden.
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Der eindeutig stärkste Risikofaktor ist „Rückenschmerzen in der Anamnese“. Das Risiko für Personen, die in der Vergangenheit bereits an Rückenschmerzen litten, eine erneute Rückenschmerzepisode zu erleiden, ist mindestens viermal höher als für die Personen, die zuvor keine Rückenschmerzen aufwiesen. Für alle anderen Einflussgrößen mit wahrscheinlichem Risikofaktorstatus lagen die relativen Risiken zwischen zwei und vier. Nach den früheren Schmerzen sind psychologische Faktoren zur Vorhersage der Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen bislang am besten geeignet. Zwar gibt es nur wenig Anhaltspunkte für Merkmale einer Persönlichkeitsstruktur im Sinne einer Schmerzpersönlichkeit, jedoch besteht eine beträchtliche Evidenz für die Bedeutung von psychischen Beeinträchtigungen im Sinne von Depressivität, Distress und Somatisierung sowie von schmerzbezogenen Kognitionen [8]. Die Befunde zeigen, dass Personen mit erhöhten psychischen Belastungen häufiger Rückenschmerzen entwickeln. Als psychosoziale Risikofaktoren gelten: eine niedrige Arbeitsplatzzufrieden heit, eine als monoton erlebte Arbeit, soziale Konflikte und Stress am Arbeitsplatz. Risikofaktoren, die das Auftreten von Rückenschmerzen begünstigen sind u. a. eine als gering empfundene subjektive Kontrolle über den Arbeitsablauf, hohes Arbeitstempo und subjektive Gefährlichkeit des Arbeitsplatzes. Arbeitsbedingungen und körperliche Anforderungen gelten seit langem als Risikofaktoren für Rückenbeschwerden. Aus biomechanischer Sicht sollte ein plausibler kausaler Zusammenhang zwischen den Arbeitsanforderungen und dem Auftreten von Rückenschmerzen bestehen: Je höher die biomechanische Belastung, umso häufiger sind die Rückenschmerzen. Jedoch zeigten prospektive Längsschnittstudien, dass kein einfacher biomechanischer Zusammenhang zwischen der Art und Höhe der Belastung und dem Auftreten bzw. der Chronifizierung von Schmerzen nachweisbar ist [9]. Nur für bestimmte, in Umfang, Dauer und Intensität erhebliche körperliche Belastungen, wie das repetitive Heben und Tragen schwerer Lasten, Arbeiten in ungünstiger Körperhaltung (Bücken, Drehen des Oberkörpers) oder für Ganzkörpervibrationen wie bei LKW-Fahrern oder Hubschrauberpiloten konnte eine entsprechende Risikoerhöhung nachgewiesen werden. Über Risikofaktoren für die Entwicklung chronischer Rückenschmerzen gibt es eigene Untersuchungen. Starke Evidenz für einen starken Prädiktorstatus haben: Alter, vorangegangene Rückenschmerzen, Ischialgien, geringes Gesundheitsbewusstsein, psychologischer Distress, Arbeitsunzufriedenheit, Dauer einer Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit, ungünstige Einschätzung der eigenen Arbeitsprognose, finanzielle Vorteile durch Kompensationsleistungen und die Arbeitslosenrate.
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4.3 Prävention von Rückenschmerzen Die erwerbstätige Bevölkerung stellt aus mehreren Gründen eine klassische Zielgruppe für Maßnahmen zur Rückenschmerzprävention dar: • Die meisten Erwachsenen eines Landes sind erwerbstätig. Ein überwiegender Anteil dieser Personengruppe kann in arbeitsplatzbezogene Maßnahmen eingebunden werden. • Die Zielpopulation ist klar definiert und erreichbar. Damit kann eine Evaluation der Wirksamkeit von Präventionsprogrammen am Arbeitsplatz eher gelingen als für andere Zielpopulationen. • Es gilt als belegt, dass biomechanische, psychische und soziale ArbeitsBedingungen wichtige Risikofaktoren bzw. Moderatorvariablen bei der Entstehung und Chronifizierung von Rückenbeschwerden sind. • Bei arbeitsplatzbezogenen Maßnahmen ist eine direkte ökonomische Koppelung von Nutzen und Kosten gegeben, d. h. als Förderer oder Kostenträger einer präventiven Maßnahme ist der Arbeitgeber auch gleichzeitig Nutznießer einer möglichen Produktivitätserhöhung bzw. Einsparung von Arbeitsunfähigkeitszeiten. • Die Durchführung von Maßnahmen der Rückenschmerzprävention im Arbeitsumfeld entspricht dem gesetzlichen Auftrag (Gesetzentwurf Präventionsgesetz vom Februar 2005, § 17) zur Prävention und Gesundheitsförderung in Lebenswelten. Die meisten der betrieblich durchgeführten Präventionsmaßnahmen zielen auf die Beseitigung oder Minimierung von modifizierbaren individuellen und/oder umgebungsabhängigen Risikofaktoren. Dabei erstreckt sich das Spektrum der verfügbaren Interventionen von unimodalen Ansätzen (wie Hebehilfen zur Verringerung der Rückenbelastung) bis hin zu multimodalen Programmen zur Beeinflussung vieler, interagierender Risikofaktoren. Wichtig ist die Unterscheidung von verhaltens- und verhältnispräventiven Interventionen. Zu den Maßnahmen der Verhaltensprävention werden solche gerechnet, die sich auf das Verhalten von Individuen oder Gruppen beziehen (Programme mit Informationen/Anweisungen, körperliche Aktivität/ Übungen; multimodale Ansätze). Die Maßnahmen der Verhältnisprävention dagegen zielen auf die Veränderung der Arbeit und des Arbeitsumfeldes. 4.3.1 Verhaltensprävention Die Bewertung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von Interventionen zur Prävention von rezidivierenden Rückenschmerzen in der Arbeitsplatzumgebung wurde kürzlich in einem Health-TechnologyAssessment im Auftrag des Deutschen Instituts für Dokumentation und Information vorgenommen [11]. Im Folgenden soll auf die wichtigsten
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und am meisten diskutierten Kategorien von Präventionsmaßnahmen eingegangen werden. Bewegungsprogramme Körperliche Bewegungs- und Trainingsmaßnahmen sind eine Hauptsäule der Prävention und der Rehabilitation von Rückenschmerzen. Sie werden unter der Annahme folgender – nicht eindeutig wissenschaftlich abgesicherter – Wirkmechanismen durchgeführt [12]: • Kräftigung der Rückenmuskulatur, Erhöhung der Rumpfbeweglichkeit zur Aufrechterhaltung oder Herstellung einer „Rückenfitness“; • Verbesserung der Durchblutung der Wirbelsäulenmuskulatur, der Gelenke und Bandscheiben und damit verbunden, eine reduzierte Anfälligkeit für mikrotraumatische Schädigungen; • Verbesserung der Stimmung und eine damit verbundene Veränderung der Schmerzwahrnehmung/-verarbeitung. Unter den verfügbaren Angeboten kann eine Hauptunterscheidung zwischen Programmen gemacht werden, die gezielt auf die Kräftigung der Rücken- und/oder Bauchmuskulatur fokussieren, und solchen, die auch andere Körperregionen und Funktionalitäten in das Training einbeziehen. Der ersten Gruppe sind in erster Linie (gerätegestützte) Krafttrainings zuzurechnen, die auf die Kräftigung der wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur ausgerichtet sind. Zu der zweiten Gruppe gehören Programme, die neben Kraftübungen außerdem in variablen Anteilen Ausdauer-, Koordinationstraining und Entspannungsübungen umfassen. Sie werden meist als Fitnessprogramme, Zirkeltraining oder Gymnastik mit oder ohne Musik angeboten. Ebenfalls als bewegungsbezogene Interventionen gelten reguläre Sportangebote (Schwimmen, Aerobic etc.), z. B. im Rahmen von Betriebssportprogrammen, wenn sie mit dem ausdrücklichen Ziel der Prävention von Rückenbeschwerden empfohlen werden. Dauer und Intensität der bewegungsbezogenen Interventionen variieren stark, von mehrmals in der Woche durchgeführten mehrstündigen Sitzungen bis zur einmaligen Einweisung. Explizites Ziel vieler Bewegungsprogramme ist neben der Anleitung zur korrekten Durchführung der Bewegungen die Bindung der Teilnehmer an regelmäßige körperliche Aktivität. Bewegungsbezogene Interventionen werden isoliert oder im Rahmen von Mischinterventionen (z. B. Rückenschulen) zusammen mit Informationen und verhaltensmodifizierenden Elementen angeboten. Die Wirksamkeit von Trainings- und Übungsprogrammen zur Prävention von Rückenschmerzen wurde in einer Vielzahl von randomisierten kontrollierten Studien untersucht. Betrachtete Zielgrößen waren
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dabei vor allem das Auftreten von Folgeepisoden sowie Arbeitsunfähigkeitshäufigkeit und -dauer. Der überwiegende Teil der Studien kommt zu positiven Ergebnissen, mit allerdings sehr variablen Effektstärken, die von statistisch nicht-signifikanten Trends bis zu deutlichen und signifikanten Vorteilen reichen. Angesichts der Vielfalt der in den Studien eingesetzten Trainings- und Bewegungsprogramme lässt sich nicht feststellen, ob die positiven Effekte an eine bestimmte Art, Intensität oder zeitliche Dauer von Training gebunden sind. Die Daten legen vielmehr nahe, dass die Wirksamkeit körperlicher Übungsprogramme weniger von der Art und Intensität des Programms abhängt, als vielmehr von der regelmäßigen und ununterbrochenen Weiterführung der Übungen. Die größten, auch ökonomischen, Effekte sind aufgrund der hohen Ausgangswahrscheinlichkeit für Beschwerden in Hochrisikogruppen (Personen mit vorangegangenen Episoden von Rückenschmerzen und Ausfallzeiten) zu beobachten. Informationsbasierte Programme Präventionsprogramme, die mit der Vermittlung von rückenbezogenen Informationen arbeiten, zielen im weitesten Sinn auf die Beeinflussung der Wahrnehmung von Rückenschmerzen und auf Verhaltensänderungen. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass Personen, die nur geringe Informationen über Risikofaktoren, Ursachen und Verlauf haben, ein höheres Risiko für Rückenschmerzen aufweisen, die Schmerzen stärker empfinden und stärkere Beeinträchtigungen erleben. In Programmen und Informationsmaterialien werden typischerweise Kenntnisse zu Anatomie und Aufbau des Rückens, physischen Ursachenkonzepten (z. B. Haltung, „richtiges Heben und Tragen“, Lebensstil), zum Verlauf von Rückenschmerzen, zu physischen und psychischen Risikofaktoren oder auch zu psychosozialen Faktoren, die die Schmerzwahrnehmung beeinflussen (z. B. Krankheits- und Angstvermeidungsverhalten) angeboten. Fließende Übergänge gibt es zu den bewegungsbezogenen Interventionen durch die Integration von übenden Programmanteilen und zu den personalen ergonomischen Maßnahmen durch die Vermittlung von spezifischen, arbeitsplatzbezogenen Informationen und Arbeitstechniken. Die Wissensvermittlung erfolgt entweder in Form von Gruppen- oder Einzelunterweisung durch „Instruktoren“ und/ oder über Medien wie Broschüren, Intra- und Internetseiten, Videooder Audioaufzeichnungen. Die „Dosierung“ der Interventionen ist dabei sehr unterschiedlich. Sie variiert stark hinsichtlich der Menge und Art der angebotenen Informationen, der Dauer und Frequenz der Angebote, der Profession der Anbieter und der didaktischen Auf-
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bereitung der Inhalte. In vielen systematischen Literaturübersichten über kontrollierte Studien, die eine Bewertung der Wirksamkeit von Informationsprogrammen zur Prävention von Rückenschmerzen vornehmen, bilden Rückenschulprogramme den Hauptanteil dieser Kategorie. Dies liegt darin begründet, dass die Vermittlung von Informationen zum Aufbau der Wirbelsäule, zu Druckbelastungen der Bandscheiben und zu „rückenschonenden“ Haltungs- und Bewegungsmustern in den „klassischen“ Rückenschulen, einen hohen Stellenwert einnahm. Erst seit etwa fünf Jahren wurden die theoretisch-edukativen Komponenten durch übende Programmteile zunehmend in den Hintergrund gedrängt, so dass „moderne“ Rückenschulen meist unter die bewegungsbezogenen Interventionen subsumiert werden [14]. Bei informationsbezogenen Interventionen am Arbeitsplatz geschieht die Wissensvermittlung auch und gerade im Zusammenhang mit ergonomischen Lerninhalten wie „richtiges“ Tragen, Heben, Sitzen, Bewegen, Hantieren mit Werkzeug oder Maschinen usw. Aus dem Erlernten können ergonomische Maßnahmen wie die Umgestaltung des Arbeitsplatzes folgen. Einige Autoren kategorisieren „Lernprogramme mit ergonomischen Übungsinhalten“ getrennt von „reinen“ Lernprogrammen. Die jüngste Auswertung zur Wirksamkeit fasst die Ergebnisse aus insgesamt 21 kontrollierten Studien zusammen [7]. Die verfügbaren wissenschaftlichen Daten legen nahe, dass Interventionen, die in Unterrichtsform auf reine Wissensvermittlung zu rückenassoziierten Themen (z. B. Körpermechanik, „richtiges“ Heben und Tragen, ergonomische Arbeitstechniken) zielen, für die Prävention von Rückenschmerzen am Arbeitsplatz ungeeignet sind. Konventionelle Rückenschulprogramme, die neben theoretischen Instruktionen einen aktiven Übungsteil enthalten, haben möglicherweise kurzfristige positive Effekte auf die Inzidenz von neuen Rückenschmerzepisoden. Für die Nachhaltigkeit dieser Effekte liegen keine Daten vor. Hilfsmittel Hilfsmittel zur Prävention von Rückenschmerzen werden entweder am Individuum zur Unterstützung oder Korrektur körpereigener Strukturen eingesetzt, oder sie stehen als Hilfsmittel zur Erleichterung von rückenbelastenden Tätigkeiten zur Verfügung. Zu der erstgenannten Gruppe gehören vor allem lumbale Stützgürtel und lumbale Orthesen sowie Schuheinlagen oder -orthesen. Für lumbale Stützgürtel werden folgende Wirkmechanismen postuliert [12]: • Sie stabilisieren den Rumpf und reduzieren damit die Wahrscheinlichkeit schmerzauslösender Bewegungen.
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• Die Gürtel erinnern die Träger, Hebevorgänge bewusst und vorsichtig durchzuführen. • Sie erhöhen den intraabdominellen und senken den intradiskalen Druck. Unter den Hilfsmitteln zur Erleichterung rückenbelastender Tätigkeiten stehen mechanische und automatische Systeme zur Unterstützung des Patiententransfers in der Krankenpflege im Vordergrund. In dieser Kategorie ist eine klare Unterscheidung von den technisch-ergonomischen Präventionsmaßnahmen oft nicht zu treffen. Ein großes Problem bei der Bestimmung der Wirksamkeit von Hilfsmitteln ist die oft mangelhafte Compliance der Zielgruppe. Das Tragen von Stützgürteln oder Orthesen wird als unangenehm und behindernd empfunden, der Einsatz von Hebehilfen führt zur Verlängerungen der Zeit, die für einen Arbeitsvorgang benötigt wird [13]. Der Wirksamkeitsbewertung von lumbalen Stützgürteln und -miedern in jüngsten Zusammenfassungen [12] liegen die Ergebnisse von sechs randomisierten kontrollierten Studien, zwei kontrollierten Studien und drei Anwendungsbeobachtungen zugrunde. Lumbale Stützgürtel sind die einzige Kategorie von Präventionsmaßnahmen für deren Bewertung sowohl qualitativ hochwertige Studien zur Wirksamkeit unter Studienbedingungen (Efficacy) als auch Daten zur Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (Effectiveness) vorliegen. In der Zusammenfassung legen die Ergebnisse die Schlussfolgerung nahe, dass lumbale Stützgürtel in der gesunden arbeitenden Bevölkerung keine positiven Effekte auf die Inzidenz von Rückenschmerzepisoden, auf Fehltage vom Arbeitsplatz oder auf die Inzidenz von Arbeitstagen mit Beeinträchtigung haben. Möglicherweise haben Stützgürtel einen Nutzen in Hochrisikopopulationen oder Populationen mit vorbestehenden Beschwerden. Multidimensionale verhaltensbezogene Programme Das Konzept der multidimensionalen Interventionsprogramme beruht auf der Annahme, dass die Beschwerden multikausalen Ursprungs sind. Die Programme umfassen Interventionen aller oben aufgeführten Kategorien, wobei häufig ein Schwerpunkt auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Komponenten liegt. Zu den multidimensionalen Programmen sind auch die „modernen“ Rückenschulen zu rechnen. Eine Gruppe moderner Rückenschulprogramme hat einen erhöhten Anteil an Trainings- und Bewegungskomponenten, wobei der Übergang zu reinen Bewegungsprogrammen manchmal fließend ist. Die andere Gruppe fokussiert auf die psychosozialen Ursachen. Ihre Interventionen orientieren sich am biopsychosozialen Modell der Rückenschmerzentstehung und behan-
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deln Aspekte wie Krankheitswahrnehmung, Emotionen und Einstellungen zu Rückenschmerzen. In Einzel- oder Gruppensitzungen werden gezielt Informationen und Techniken vermittelt, die eine Neubewertung des erlebten Rückenschmerzes erlauben, um anderen Empfindungen als dem Schmerz Raum zu gewähren. Konkret gehören zu den verhaltensbezogenen Ansätzen der Einsatz von Entspannungstechniken, kognitive und behaviorale Bewältigungsstrategien, der Umgang mit sozialen Verstärkern und die Stärkung der Selbstkontrolle im Umgang mit dem Schmerz [12]. Auch Interventionen, die auf die Beseitigung personengebundener, modifizierbarer Risikofaktoren für Rückenschmerzen zielen, werden zu den multidimensionalen Interventionen gerechnet. Diese umfassen zumeist Lebensstiländerungen, bei denen oft kein klarer Fokus auf Rückenprobleme erkennbar wird (Gewichtsreduktion, Raucherentwöhnung, vermehrte körperliche Aktivität, Haltungsschulung, Stressreduktion). Zur Bewertung der Wirksamkeit von multidimensionalen verhaltensbezogenen Programmen liegt eine Reihe von randomisierten kontrollierten Studien vor. In der Zusammenfassung geben sie Hinweise, dass Programme, die neben Training und Information verhaltensbezogene Elemente zur Änderung der Krankheitseinstellung enthalten, im Betrieb positive Effekte auf krankheitsbedingte Fehlzeiten haben. Bisher liegen allerdings nur Informationen für Hochrisikogruppen, d. h. Personen mit aktuellen Beschwerden, bzw. Personen mit wiederkehrenden Episoden von Rückenschmerzen in der Anamnese vor. Auch für die im Betrieb durchgeführten Rückenschulprogramme in Kombination mit intensiven Trainingseinheiten liegt eine Wirksamkeit zur Prävention von Rückenschmerzepisoden und Fehlzeiten nahe. Unter Berücksichtigung der oben angeführten Ergebnisse zu allgemeinen Trainings- und Übungsprogrammen ist allerdings zu vermuten, dass der beobachtete Effekt in diesen Studien auf die Trainingskomponente zurückzuführen ist [7]. 4.3.2 Verhältnisprävention Gestaltungsfelder Ergonomische Interventionen zielen auf die Verringerung von biomechanischen Fehlbelastungen durch technisch-ergonomische und/oder arbeitsorganisatorische Veränderung der Arbeit und der Arbeitsumgebung. Die ergonomischen Gestaltungsfelder sind die anthropometrische und biomechanische Gestaltung der Arbeit und des Arbeitsplatzes, die informationstechnische Gestaltung von Stellteilen und Anzeigen (Schnittstellengestaltung) sowie die psychologische, d. h. arbeitsorganisatorische
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Gestaltung der Arbeit. Zu den ergonomischen Interventionen zählen ebenfalls Einweisungen und Schulungen der Beschäftigten im Umgang mit den Arbeits- und Betriebsmitteln. Auch die Schulung in persönlichen Arbeitstechniken und -strategien gehört hierzu, darunter das persönliche Zeitmanagement und das Pausenregime bei zeitsouveräner Arbeit. Da sie eine Anpassung des Individuums an die Arbeitsbedingungen zum Ziel haben, werden sie häufig unter der Verhaltensprävention eingeordnet. Die psychologische Arbeitsgestaltung beruht auf den Prinzipien der Aufgabenvollständigkeit, der sozialen Interaktion und der Förderung persönlicher Ressourcen. Maßnahmen wie die Rotation im Arbeitsbereich, die Erweiterung der Arbeitstätigkeit oder die Selbststatt Fremdkoordination bei Gruppenarbeit reduzieren die Monotonie, erhöhen die Anforderungsvielfalt und die Autonomie in der Arbeit. Sie können zu einer Reduzierung von Fehlbeanspruchungen, höherer Arbeitszufriedenheit und einem stärkeren Commitment mit der Arbeit führen, bergen aber auch Risiken der Über- und Unterforderung und von Fehlbelastungen durch soziale Konflikte. Multidimensionale ergonomische Programme Allen neueren Übersichten zur Wirksamkeit von ergonomischen Interventionen liegt das Konzept zugrunde, dass biomechanische und psychosoziale Belastungen die Entstehung und Chronifizierung von Rückenschmerzen und ihre Folgen begünstigen, insbesondere bei besonders „empfänglichen“ Personen [11]. Als Gestaltungsparameter für schwere körperliche Belastungen kommen in Frage: Lastgewicht, Geometrie und Schwerpunkt einer Last, Griffqualitäten, Manipulationsebenen, u. a. höhenverstellbare Arbeitstische und Stühle, Hubhöhen sowie Manipulationsflächen. Der Einsatz von technischen Hebe- und Tragehilfen wie Hubwagenmanipulatoren, Liftern und Kranen sind weitere Optionen. Einfache Hilfsmittel, wie Sackkarren, Tragetücher, Gurte und Rollensysteme können zu einer wesentlichen Entlastung beitragen. Studien zur Wirksamkeit biomechanischer Interventionen im industriellen Bereich kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen. Durch die Einführung von höhenverstellbaren Arbeitstischen oder von Hebehilfen konnten bei repetitiven Arbeitstätigkeiten an industriellen Arbeitsplätzen die mittleren Inzidenzraten von Rückenschmerzen um 35% gesenkt werden. Auch bei Gabelstaplerfahrern wird eine Reduzierung der Prävalenz von Rückenschmerzen von 48% in einem Zweijahresvergleich berichtet, nachdem technische Maßnahmen zur Reduktion von Vibration und Erschütterung in den Fahrzeugen durchgeführt wurden. Parallel
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dazu wurden ein körperliches Trainingsprogramm und persönliche Kälteschutzkleidung eingeführt. Andere Studien konnten allerdings keine Zusammenhänge zwischen ergonomischen Interventionen und den Prävalenzen von Rückenschmerzen nachweisen. Studien an Bildschirmarbeitsplätzen kommen ebenfalls zu uneinheitlichen Ergebnissen. Die Wirkung eines partizipatorisch-ergonomischen Programms mit Umgestaltung des Arbeitsplatzes u. a. durch Abstützen der Unterarme, der Verbesserung der Lichtverhältnisse sowie einer Visuskorrektur bei den Beschäftigten führte zu keiner signifikanten Änderung der Rückenschmerzinzidenz und -prävalenz. Anders stellten sich die Ergebnisse eines partizipatorischen Ansatzes dar, in dem Schulungen und Maßnahmen der Arbeitsplatzgestaltung gemeinsam mit den Betroffenen erarbeitet wurden. Zwar nicht bei allen Teilnehmern, jedoch bei den jüngeren bis 40 Jahren waren in der Postphase weniger muskuloskelettale Symptome zu verzeichnen. Zusammenfassend stellen die Autoren der Übersichten fest, dass multidimensionale ergonomische Präventionsansätze prinzipiell zur Reduzierung von Rückenschmerzen geeignet scheinen. Diese Sichtweise wird auch durch eine Literaturübersicht [15] gestützt, die sich ausschließlich mit der Bewertung ergonomischer Interventionen im Bereich der Krankenpflege beschäftigt. In einem typischen multidimensionalen ergonomischen Interventionsansatz werden zunächst die Arbeitstätigkeiten durch ein Ergonomieteam analysiert (z. B. durch einen Experten zusammen mit Pflegekräften der Station), danach Arbeitstechniken und -standards zum Patiententransfer festgelegt, ggf. technische Hebehilfen eingeführt und schließlich eine regelmäßige Kontrolle der Ausführung festgelegt. Zu der Kategorie der arbeitsorganisatorischen Maßnahmen zählen Lifting-Teams in der Krankenpflege. Sie setzen sich aus zwei bis vier speziell geschulten Personen zusammen, die alle Patiententransferaufgaben auf einer Station oder Abteilung eines Krankenhauses übernehmen. Die Arbeit wird ggf. durch technische Hebe- und Tragehilfen unterstützt. Zwar genügen die vorliegenden Studien nicht den formalen Qualitätsanforderungen, jedoch wurde ein erheblicher Rückgang von rückenbedingten Ausfallzeiten in der Größenordnung von 50 bis 100% berichtet [7]. Die Wirkung von psychologischen, in der Regel arbeitsorganisatorischen Arbeitsgestaltungsmaßnahmen auf stressbezogene Beanspruchungen und Beschwerden wurde mehrfach ausgewertet [16]. Mit steigenden Arbeitsanforderungen, unbefriedigendem Arbeitsinhalt als auch reduzierter Arbeitsautonomie nehmen die Beeinträchtigungen des Wohlbefindens, der Medikamentenverbrauch und die Arbeitsunfähig-
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keitsdauer zu. Psychosomatische Stressfolgen wie z. B. gesundheitliche Auswirkungen auf das Herz-Kreislaufsystem intensivieren sich mit dem Alter. Sie sind besonders bei kurzzyklischer Industriearbeit zu beobachten, wenn die Handlungsspielräume klein sind und die soziale Unterstützung fehlt. Umgekehrt kann soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Kollegen den erlebten Stress und die Beschwerden mindern. Die Reviews zur Wirkung von psychologischen Arbeitsgestaltungsmaß nahmen zeigten allerdings ernüchternde Ergebnisse. Ob die Maßnahmen zur Job Rotation, zur Arbeitsanreicherung oder der Einführung teilautonomer Gruppenarbeit greifen, d. h. zu einer Reduzierung stressbezogener Beanspruchungen und Beschwerden führen, scheint im Wesentlichen von den Tätigkeiten, Qualifikationen und Erwartungen der Beschäftigten und den betrieblichen und externen Rahmenbedingungen abhängig zu sein, insbesondere auch vom Commitment des Managements. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass in der Arbeitwelt die psychosozialen Faktoren einen konsistenteren und engeren Zusammenhang mit dem Auftreten und weiteren Verlauf von Rückenschmerzen als die physischen Arbeitsplatzmerkmale haben. Deshalb müssen parallel zu den ergonomischen Maßnahmen die psychische Belastungssituation im Betrieb und die psychosozialen Beanspruchungen erhoben und unter Einbeziehung der Beschäftigten die notwendigen Gestaltungsmaßnahmen durchgeführt werden. Zudem gehen Expertenschätzungen davon aus, dass nur ein Drittel der Rückenbeschwerden berufsbedingt, zwei Drittel jedoch auf Einflüsse aus dem familiären und Freizeitbereich zurückzuführen sind. Betriebliche Präventionsmaßnahmen unterscheiden sich berufsgruppenspezifisch im Hinblick auf die damit verbundenen Rückenschmerzrisiken. Bei Beschäftigtengruppen mit stärkeren körperlichen Belastungen und damit einem höheren Rückenschmerzrisiko sind deutlichere Gewinne in der Schmerzreduktion zu erwarten. Am ehesten scheinen multidimensionale ergonomische Programme mit einem partizipativen Ansatz geeignet zu sein. Generell kombinieren sie verhaltens- mit verhältnisorientierten Komponenten. Die Verhaltenskomponenten enthalten Schulungen persönlicher Arbeitsstrategien und -techniken. Bei Bedarf kommen Änderungen und Anpassungen der physikalischen Arbeitsumgebung, Arbeitsorganisation, Arbeitsprozesse und des Arbeitsklimas in Frage. Nach Westgaard und Winkel [17] muss die Arbeitsgestaltung als Teilsystem eines ganzheitlichen betrieblichen Gesundheitsmanagements gesehen werden, in dem sich die Kosten für die Gesundheitsförderung und Rationalisierungsgewinne ausgleichen sollten. Insofern kommt der Förderung der „Gesundheitskultur“, d. h. den gesundheitsbezogenen
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Normen, Werten und Einstellungen in einer Organisation eine wichtige Bedeutung zu, weil damit eine Verbesserung des Arbeitsklimas und ein stärkeres Commitment der Beschäftigten erzielt werden kann. 4.4 Betriebliche Gesundheitsprogramme Die Veränderung des individuellen Gesundheitsverhaltens verläuft nicht linear, sondern ist durch zahlreiche Fort- und Rückschritte im Prozess gekennzeichnet. Die Veränderungsphasen können grob eingeteilt werden in die Phase „vor der Absichtsbildung“ (Prä-Intentionsphase), in die Intentionsphase, sowie in die Ausführungs- und die Stabilisierungsphase des neuen gesundheitlichen Verhaltens. Insbesondere in der Stabilisierungsphase der ersten drei Monate gibt es hohe Rückfallquoten von 50– 90% bei den Teilnehmern. Daraus leiten sich drei Konsequenzen ab: • Teilnehmer an betrieblichen Gesundheitsprogrammen unterscheiden sich in ihrer Bereitschaft Änderungen des Gesundheitsverhaltens durchzuführen. • Personen ändern gesundheitsbezogenes Verhalten graduell nach längeren Überlegungen und wiederholten Versuchen. • Interventionsprogramme sind nicht für alle Personen geeignet, sondern müssen zielgruppenspezifisch zugeschnitten werden. Umfassende Programme zur betrieblichen Gesundheitsförderung setzen daher auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Strategien für spezifische Zielgruppen an [18]. Auch liegt der Schwerpunkt selten auf einer Krankheitsgruppe wie MSE, sondern auf Präventionsmaßnahmen wie Gesundheitserziehung, Bewegung, kognitive Aktivitäten („Gehirnjogging“) oder Ernährung. Strategien auf der individuellen Ebene stoßen präventive Veränderungsprozesse an und unterstützen die Beschäftigten, gesundheitsförderliches Verhalten aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig muss gesundheitsschädliches Verhalten als solches erkannt und vermieden werden. Mitglieder in einer Arbeitsgruppe befinden sich in der Regel in unterschiedlichen Phasen des Veränderungsprozesses. Während für einige von ihnen präventive Aktivitäten selbstverständlich sind, verharren andere möglicherweise in der Prä-Intentionsphase. Hier sind Informationsangebote und gute Beispiele angezeigt. Daher nutzen gruppen- und organisationsbezogene Strategien die Einflussmöglichkeiten von sozialen und von organisationalen Steuerungsinstrumenten, um das individuelle Gesundheitsverhalten zu verändern oder zu stabilisieren [19]. )]N LMZ QVLQ^QL]MTTMV -JMVM _MZLMV 1VNWZUI\QWVMV ]VL /M[]VL PMQ\[JQTL]VO[XZWOZIUUM IVOMJW\MV 5Q\ MQVMZ >QMTbIPT IV 1VNWZUI \QWV[NWZUMV [WTTMV OM[]VLPMQ\TQKPM[ ?Q[[MV MZOÃVb\ -QV[\MTT]VOMV
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^MZÃVLMZ\ .ÃPQOSMQ\MV MV\_QKSMT\ ]VL VM]M[ >MZPIT\MV MZXZWJ\ _MZLMV 1VNWZUI\QWVMV ITTMQV [QVL RMLWKP [MT\MV I][ZMQKPMVL ]U >MZPIT\MV[^MZÃVLMZ]VOMVb]MZZMQKPMV )]N LMZ /Z]XXMVMJMVM _MZLMV LIPMZ )ZJMQ\[SWTTMOMV .ZM]VLM ]VL *MSIVV\M]VL.IUQTQMVIVOMPÕZQOMQVLQM/M[]VLPMQ\[XZWOZIUUMMQV JMbWOMV1UOÛV[\QO[\MV.ITTTQMNMZV[QMLQM5W\Q^I\QWVb]Z>MZÃVLMZ]VO B]U *MQ[XQMT SIVV LQM -QVNÛPZ]VO MQVM[ 8IZ\VMZ;a[\MU[ QU 3WTTM OMVSZMQ[ LIb] NÛPZMV LQM >MZÃVLMZ]VO[UW\Q^I\QWV L]ZKP [WbQITM =V\MZ[\Û\b]VOWLMZL]ZKP?M\\JM_MZJb]NÕZLMZV]VLLQM.ÃPQOSMQ\MV L]ZKP5WLMTTTMZVMVb]]V\MZ[\Û\bMV-JMVNITT[_QZLLQM;\IJQTQ[QMZ]VO LM[>MZPIT\MV[L]ZKP[WbQITM8ZWbM[[M]V\MZ[\Û\b\ B]LMV5I¾VIPUMVI]NLMZWZOIVQ[I\QWVITMV-JMVMbÃPTMVMQVMNÕZLMZ TQKPM /M[]VLPMQ\[XWTQ\QS ]V\MZ[\Û\bMVLM WZOIVQ[I\QWVITM ;\Z]S\]ZMV QV[JM[WVLMZM L]ZKP LQM .ÛPZ]VO[SZÃN\M [W_QM MQVM ]V\MZ[\Û\bMVLM /M[]VLPMQ\[S]T\]Z )]N LMZ SWUU]VITMV -JMVM [QVL LQM OM[]VLPMQ\[]V\MZ[\Û\bMVLMV ;\Z]S\]ZMV NÛZ LQM *M[KPÃN\QO\MV QPZM 8IZ\VMZ ]VL .IUQTQMV IVOM[QM LMT\,I[[QVL]I.WZ\]VL?MQ\MZJQTL]VO[IVOMJW\Mb]Z/M[]VLPMQ\ LQM8ZÃ^MV\QWV[IVOMJW\ML]ZKP;XWZ\^MZMQVM;MTJ[\PQTNMOZ]XXMVWLMZ SWUUMZbQMTTM/M[]VLPMQ\[LQMV[\TMQ[\MZ]VLLQMX[aKPW[WbQITM]VLUM LQbQVQ[KPM>MZ[WZO]VO Nicht alle Ebenen werden von Gesundheitsprogrammen gleich intensiv behandelt. Insbesondere Maßnahmen, welche die organisationale und kommunale Ebene betreffen, sind nur bei wenigen, umfangreicheren Programmen festzustellen. Die Wirkung von Gesundheitsprogrammen wurde vielfach untersucht, allerdings fehlt es vielfach an qualitativ hochwertigen Studien. Als Ergebnis kristallisiert sich heraus, dass Programme, die auf der individuellen, Gruppen- und Organisationsebene ansetzen, die größten Erfolge zu verzeichnen haben. Bekommen Beschäftigte mit hohem Gesundheitsrisiko zusätzlich eine individuelle Beratung, d. h. erhalten spezielle Risikogruppen ein maßgeschneidertes Programm, dann erhöht sich die Wirksamkeit der Programme. Die Studien verzeichnen einen Rückgang in der Zahl der Arztbesuche, der Krankenhauseinweisungen und in der Verweildauer nach der Teilnahme an Gesundheitsförderungsprogrammen [20]. Die Reduzierung der krankheitsbedingten Fehlzeiten beträgt zwischen 12 und 36% [21]. Das Nutzen-Kosten-Verhältnis (return of investment) liegt zwischen 1:2,3 bis 1:5,9. Für jeden investierten Euro sind zwischen 2,3 bis 5,9 Euro an Einsparungen zu erwarten. Möglicherweise verbessert sich diese Relation langfristig weiter, denn die
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vollständigen finanziellen Auswirkungen zeigen sich erst nach einigen Jahren. Für die Kosteneffektivität von Gesundheitsförderungsprogrammen scheint von entscheidender Bedeutung zu sein, insbesondere die Beschäftigten mit hohem Krankheitsrisiko zu erreichen. Gerade bei muskuloskelettalen Erkrankungen haben primäre Präventionsmethoden wie z. B. die Verbesserung der ergonomischen Bedingungen am Arbeitsplatz nicht zum erhofften Rückgang der Fehlzeiten geführt. Sekundäre Präventionsmaßnahmen versuchen die Chronifizierung, Dauer und Wiederauftretenshäufigkeit der Schmerzen zu reduzieren und den Beginn der Erwerbsunfähigkeit zu verzögern. Sie können einer kleineren Gruppe angeboten werden mit einem genaueren Zielgruppenbezug und versprechen daher ein besseres Nutzen-Kosten-Verhältnis [21]. Literatur [1] [2]
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KAPITEL 5
Betriebliche Ansätze zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems G. Grande
5 Zusammenfassung. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind in Deutschland noch immer die häufigste Todesursache, sie verursachen hohe Kosten im Gesundheitswesen, aber auch in der deutschen Wirtschaft. Die Verbreitung von kardiovaskulären Risikofaktoren in der Bevölkerung konnte bisher durch primärpräventive und medizinische Interventionen nicht nachhaltig beeinflusst werden. Deshalb könnten betriebliche Ansätze zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems ein erhebliches Versorgungsdefizit verringern helfen. Existierende betriebliche Präventionsprogramme beziehen sich jedoch nur auf die Modifikation einzelner oder kombinierter kardiovaskulärer Risikofaktoren, nicht auf die Förderung von Ressourcen und Potenzialen innerhalb der betrieblichen Organisation und bei den Mitarbeitern selbst. Betriebliche Programme basieren bisher primär auf verhaltensorientierten Interventionen, mit denen der Risikofaktorenstatus zumindest kurzfristig günstig beeinflussbar ist. Die Potenziale der Gesundheitsförderung im betrieblichen Setting werden in den Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammen noch nicht ausreichend genutzt, das zeigt sich unter anderem in der geringen Verschränkung von individuumbezogenen Interventionen und verhältnisbezogenen betrieblichen Veränderungen und vor allem in der unzureichenden Förderung salutogener Potenziale wie der sozialen Integration und Unterstützung am Arbeitsplatz. 5.1 Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems Obwohl die Anzahl der Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen seit Jahren rückläufig ist, stirbt in Deutschland immer noch fast jeder zweite Mensch an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung [47]. Der Anteil der Patienten, die ein akutes kardiales Ereignis im Krankenhaus überleben, hat sich in den letzten 30 Jahren allerdings erheblich erhöht. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind chronisch und progredient, sie führen nach der Erstmanifestation zu weiteren Krisen wie
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Reinfarkten, zunehmenden Funktionseinschränkungen des Herzens und erfordern lebenslang medizinische Versorgung, wozu auch wiederholte Eingriffe am Herzen wie Ballondilatation, Bypassoperation oder Herztransplantation zählen können. Die chronische ischämische Herzerkrankung mündet oft nach längerer Krankheitsphase in körperliche Beeinträchtigungen, vorzeitige Berentung und eine irreversible Herzschwäche, die Herzinsuffizienz. 2,8 Mio. Patienten wurden im Jahr 2002 wegen Krankheiten des Kreislaufsystems vollstationär behandelt. Mit rund 857 000 Behandlungsfällen waren hierbei die chronisch ischämischen Herzkrankheiten die häufigste Hauptdiagnose [47]. Durch HerzKreislauf-Erkrankungen entstanden dem deutschen Gesundheitswesen im Jahr 2002 Kosten in Höhe von 35,4 Mrd. Euro. Dies sind 15,8% der gesamten Krankheitskosten in Deutschland oder je Einwohner gerechnet durchschnittlich 430 Euro. Rund zwei Fünftel (43,9%) der Kosten für Kreislauferkrankungen entstanden in den stationären und teilstationären Einrichtungen des Gesundheitswesens [47]. Kosten entstehen jedoch auch in der Wirtschaft. Im Jahr 2002 waren in der deutschen Wirtschaft insgesamt 491 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage zu verzeichnen, die nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin volkswirtschaftliche Kosten in Höhe von ca. 35 Milliarden Euro verursachten [52]. Wegen der hohen Prävalenz von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ihres chronischen Verlaufs ist ein erheblicher Teil der krankheitsbedingten wirtschaftlichen Kosten auf diese Diagnosegruppe zurückzuführen. Wirksame betriebliche Präventionsprogramme könnten durch die Schaffung gesundheitsförderlicher Bedingungen und über verhaltenspräventive Angebote Einfluss nehmen auf die Anzahl der neuerkrankten Personen bzw. den Verlauf der Herz-Kreislauf-Erkrankung bei Personen, die bereits erkrankt sind, und darüber zu einer erheblichen Verringerung der krankheitsbedingten Kosten beitragen. Alle Ansätze der Herz-Kreislauf-Prävention zielen auf die Modifikation von (individuellen) Faktoren, deren Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bisher wissenschaftlich belegt werden konnte. 5.2 Einflussfaktoren auf Entwicklung und Verlauf von Herz-KreislaufErkrankungen 5.2.1 Das epidemiologische Risikofaktorenmodell und die RisikofaktorenVerteilung in der Bevölkerung in Deutschland Im epidemiologischen Risikofaktorenmodell der ischämischen Herzerkrankungen werden üblicherweise genetische und nicht beeinflussbare
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Risikofaktoren wie Alter, niedriger sozialer Status und Geschlecht von beeinflussbaren Risikofaktoren und Risikoerkrankungen unterschieden. Die beeinflussbaren Risikofaktoren und Risikoerkrankungen sind erheblich vom individuellen Verhalten und Lebensstil abhängig, sie stellen die zentralen Zielvariablen aller primär- und sekundärpräventiven Strategien zur Beeinflussung des Auftretens und des Verlaufs von Herz-KreislaufErkrankungen dar. In der Interheart-Studie an über 30 000 Personen aus 52 Ländern der Welt erwiesen sich neun Risiko- bzw. Schutzfaktoren als bedeutsam für die Vorhersage eines Herzinfarktes: Rauchen, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Übergewicht, Apolipoproteine (verantwortlich für den Transport der Blutfette) und psychosoziale Faktoren (beruflicher Stress, Stress zu Hause, finanzielle Belastungen, kritische Lebensereignisse, Depression) wirken risikoerhöhend, gesunde Ernährung (täglich Früchte und Gemüse), Bewegung von mehr als vier Stunden pro Woche und gemäßigter regelmäßiger Alkoholkonsum haben eine risikominimierende Wirkung [42, 54]. Risikofaktoren und Risikoerkrankungen sind in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet: x 27% der deutschen Bevölkerung sind Raucher (35% der Frauen und 45% der Männer zwischen 20 und 25 Jahren!) [47]. x 20% der 18-Jährigen und 80% der 60-Jährigen sind übergewichtig (Gesamtbevölkerung 49%) [47]. x Mehr als 40% der Deutschen zwischen 35 und 65 Jahren leiden unter arteriellem Bluthochdruck [10, 53]. x Nur 13% der Bevölkerung von Deutschland bewegt sich körperlich ausreichend entsprechend der Empfehlungen, 30–40% werden der Kategorie körperliche Inaktivität zugeordnet [47]. Obwohl erwiesen ist, dass die günstige Beeinflussung der Risikofaktoren zur Senkung von kardiovaskulären Krankheitsereignissen bei Gesunden und bei Herzpatienten und zur Verringerung der kardialen Mortalität beiträgt [28, 51] und nachweislich effektive Maßnahmen zur Risikofaktorenmodifikation zur Verfügung stehen, gibt es bisher kaum Erfolge der Primär- und Sekundärprävention in Europa allgemein und in Deutschland im Speziellen [16, 17, 24]. Vor diesem Hintergrund scheint es dringend geboten, über alternative Präventionsansätze nachzudenken. Betriebliche Programme zur Prävention von Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems könnten in dieser defizitären Versorgungslage durch die Verknüpfung von verhaltensbezogenen und verhältnispräventiven Veränderungen im Betrieb einen besonderen Beitrag leisten.
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5.2.2 Gesundheitsförderliche Ressourcen und Schutzfaktoren Ein Leitprinzip der Gesundheitsförderung ist die Abwendung von individuellen Risikofaktoren und statt dessen die Orientierung auf die Förderung von Ressourcen und Schutzfaktoren, die Personen befähigen, gesund zu bleiben und ein befriedigendes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Als gesundheitsförderliche Ressourcen haben sich Merkmale der Organisation (z. B. Umsetzung von Partizipationsmodellen, partnerschaftliche Unternehmenskultur, gemeinsame Werte und Überzeugungen) [5], personenbezogene Merkmale wie hohe Intelligenz und Problemlösefähigkeit, Optimismus und Überzeugungen über die Wirksamkeit eigenen Tun und Handelns (Selbstwirksamkeit) [9, 44, 48] und schließlich soziale Bedingungen wie soziale Integration und erhaltene bzw. wahrgenommene soziale Unterstützung erwiesen. Insbesondere zu den Effekten sozialer Integration bzw. sozialer Unterstützung liegen vielfältige empirische Belege vor. Bei fehlender sozialer Integration haben Personen ein höheres Risiko, eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu erleiden bzw. vorzeitig daran zu versterben. Positive soziale Unterstützung verringert die Wirkung von Stressoren und verbessert die Voraussetzungen mit Belastungen umzugehen. Soziale Unterstützung – auch am Arbeitsplatz – hat einen positiven Einfluss auf die Bewältigung schwerer Belastungen und Ereignisse [6, 8, 38, 49]. Durch die Umsetzung einer konsequenten gesundheitsförderlichen, d. h. salutogenen Perspektive könnten innerhalb des Betriebes erhebliche Potenziale genutzt werden, um individuelle, soziale und betriebliche Ressourcen zu fördern und damit einen krankheitsunspezifischen Beitrag zur psychischen und körperlichen Gesundheit der Mitarbeiter leisten. 5.3 Der Arbeitsplatz/das Unternehmen als geeignetes Setting für Programme zur Prävention von Erkrankungen des Herz-KreislaufSystems? Für die Etablierung von Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammen im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung werden vor allem zwei Argumente angeführt: 1. Vorteile des Settings. Das betriebliche Setting bietet für die Implementation und Umsetzung von Herz-Kreislauf-Prävention verschiedene Vorteile im Vergleich zum Gesundheitssystem (z. B. [18, 19, 29, 37, 41, 45]): • Ein Großteil der erwachsenen Bevölkerung verbringt mindestens ein Drittel des Tages am Arbeitsplatz. • Der dauerhafte Sozialzusammenhang (Kollegen, Mitarbeiter etc.) beeinflusst die Wahrnehmung von Gesundheit, wirkt sich auf Ge-
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sundheitsbelastungen und -ressourcen sowie die Bewältigung von Gesundheitsrisiken aus. Die Beschäftigten sind einfach zu erreichen. Typische Barrieren wie Kosten oder fehlende Zeit können durch betriebliche Strategien verhindert oder minimiert werden (kostenfreier Zugang zu den Programmen, Verhinderung von Wegen durch Angebote vor Ort etc.). Es existieren etablierte Kommunikationskanäle wie E-Mail-Verteiler, Postverteiler. Kollegen können als soziales Netzwerk unterstützend (bzw. kontrollierend) wirken, was die Stabilisierung von Verhaltensänderungen begünstigt. Im Unterschied zur klinischen Medizin bietet das betriebliche Setting Möglichkeiten der Verknüpfung von Verhaltens- und Verhältnisprävention. Durch entsprechende Unterstützung des Managements und die Etablierung neuer Gesundheitsstrategien im Unternehmen können innerbetrieblich neue Verhaltensnormen entwickelt werden (z. B. Rauchverbote und Nichtraucherschutz, gesunde Ernährung). Grundsätzlich kann das betriebliche Setting, anders als beispielsweise die fragmentierte Versorgungskette von Herz-Kreislauf-Patienten von der Akutversorgung über die Rehabilitation bis zur ambulanten Versorgung durch den Hausarzt am Wohnort [22], eine hohe Kontinuität gewährleisten als Voraussetzung langfristiger und nachhaltiger Lebensstilveränderungen.
2. Risikofördernde Bedingungen in der Arbeitswelt. Arbeitsbedingungen können das Herz-Kreislauf-relevante Risikoverhalten begünstigen, z. B. Bewegungsarmut erzeugen, ungesunde Ernährungsgewohnheiten unterstützen und vor allem psychosoziale Stressoren bereithalten. Arbeitsbedingungen und die dadurch verursachte Arbeitsbelastung sind als chronische Stressoren in ihren negativen Auswirkungen auf die Gesundheit und insbesondere die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gut untersucht [26, 43, 46, 50]. So haben Personen mit hohen psychischen Anforderungen (z. B. Zeitdruck) und gleichzeitig geringen individuellen Kontrollmöglichkeiten (Entscheidungsspielraum, Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung) ein hohes Risiko für die Entstehung einer koronaren Herzerkrankung [26]. Auch dem Ungleichgewicht zwischen hoher beruflicher Verausgabung und geringer erfahrener Belohnung wird eine ätiologische Bedeutung bei der Entstehung einer KHK zugeschrieben [46]. Badura betont die Bedeutung der Mensch-Mensch-Schnittstelle als potenziell krankmachende Stressquelle in Unternehmen, chronische
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soziale Konflikte im Arbeitskontext können schlimmstenfalls in Burnoutund Mobbingprozesse münden mit erheblichen Folgen für die psychische und körperliche Gesundheit der Betroffenen [4]. Für die Implementierung von Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammen im Betrieb spricht also, dass die Arbeitsbedingungen selbst und Einstellungen und Haltungen der Mitarbeiter zur Arbeit zum Gegenstand präventiver Interventionen werden können. Über individuumbezogene Veränderungen (Kompetenzerwerb, Veränderungen des Anspruchsniveaus) und Veränderungen in den Arbeitsbedingungen (Partizipationsmodelle, Veränderung von Kommunikationsstrukturen) könnten arbeitsplatzbezogene psychosoziale Stressoren unmittelbar reduziert und langfristige gesundheitsrelevante Stressfolgen vermieden werden. 5.4 Überblick über die bisherige Praxis betrieblicher Ansätze zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen Präventionsprogrammen, die sich explizit auf die Prävention von Herz-KreislaufErkrankungen beziehen, wie z. B. LifeCheck [25], Incentive Cardiovascular Health Awareness Program [37], Coronary Health Improvement Project [2], Heart at Work Programm [3] und Programmen, die engeren Zielen (z. B. Stressmanagement, gesunde Ernährung, körperliche Aktivität) oder weiteren Zielen (Verringerung chronischer Krankheiten allgemein, Verbesserung der Wellness) zugeordnet sind, jedoch zumindest einen oder mehrere kardiovaskuläre Risikofaktoren oder -verhaltensweisen aufgreifen. Berücksichtigt man auch die letztere Kategorie, trägt ein Großteil betrieblicher Präventionsprogramme in irgendeiner Weise zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei (Ausnahmen z. B. Rückenschulen, betriebliche Suchtprävention). Im Folgenden soll zuerst ein knapper Überblick über Präventionsprogramme gegeben werden, die sich auf isolierte Zielvariablen wie z. B. Bewegung, Ernährung oder Stress beschränken, und dann über multifaktorielle Programme, die gleichzeitig auf mehrere Risikofaktoren ausgerichtet sind. Herz-Kreislauf-Präventionsprogramme im engeren Sinne sind immer multifaktoriell angelegt. Der Forschungsstand bezieht sich fast ausschließlich auf US-amerikanische Evaluationsstudien.
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5.4.1 Programme mit Fokus auf singuläre Zielvariablen Ernährung/Cholesterin Betriebliche Präventionsprogramme zur Modifikation des Ernährungsverhaltens bzw. zur Cholesterinsenkung umfassen in der Regel eine Kombination aus verhaltens- und verhältnisbezogenen Maßnahmen. Zum Programm können gesundheitsrelevante Informationen (Flyer, Informationsmaterialien, Videos etc.), Gruppenkurse oder individuelle Beratung gehören, gelegentlich auch Interventionen zum Skilltraining (Diät, Kochen). Ist der Cholesterinspiegel die Zielvariable, sind ein Anfangs-Screening und Kontrolldiagnostik Bestandteil der Programme. Als Nachteil der individuumzentrierten Angebote wird die Teilnehmerselektion angesehen (motivierte, gesundheitsbewusste Teilnehmer) [19]. Auf betrieblicher Ebene finden sich Veränderungen im Nahrungsmittelangebot, spezielle Informationen zu einzelnen Speisen oder eine gesundheitsförderliche Preisgestaltung in Cafeteria und Kantine. Sowohl bezüglich der Veränderung des Ernährungsverhaltens als auch bezüglich der Senkung des Cholesterinspiegels scheint die individuelle Beratung eine zentrale Bedeutung für den Erfolg zu haben, kombiniert mit Gesundheitsbildung bzw. häufigen Erinnerungen mittels Informationsmaterial [19]. Veränderungen werden auch in den Einstellungen zur Ernährung und teilweise im Körpergewicht berichtet. Körperliche Aktivität Die Interventionsprogramme umfassen verschiedene Methoden der individuumbezogenen Prävention wie Messung der Gesundheitsrisiken, Gesundheitsbildung, Krafttraining, individuelle Beratung, selbstverantwortliche Teilnahme an regelmäßig stattfindenden Fitness-Kursen und anderen Sportgruppen, supervidierte Jogging-Angebote, seltener auch begleitende verhältnispräventive Maßnahmen wie die Einführung gesunder Lebensmittel im Unternehmen, die Einrichtung oder Verbesserung von Trainingsmöglichkeiten im Betrieb, Ermutigung zur Treppenbenutzung [11, 40, 45]. Die Teilnehmer sind in der Regel hoch selektiert, wobei vor allem junge und gesundheitsbewusste Beschäftigte die Präventionsangebote in Anspruch nehmen. Die oft problematische Compliance konnte durch Verträge, Teilnahmebescheinigungen, kleine Preise oder Veränderungen in der Unternehmenskultur positiv beeinflusst werden. Die Teilnahme war dann höher, wenn sie Bedingung für die Beschäftigung war, begleitende Veränderungen in der Unternehmenskultur stattfanden, individuelle Beratungen angeboten wurden, die
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Anforderungen in den Kursen leicht waren oder die Übungen überwiegend selbständig ausgewählt und durchgeführt werden konnten [45]. Positive Effekte zeigten sich bezogen auf einzelne Risikofaktoren wie Körpergewicht, Blutdruck, Rauchen und auf die Verbesserung von Ausdauer und Fitness sowie der regelmäßigen körperlichen Aktivität. Das kardiale Gesamtrisiko konnte reduziert werden [45]. Im Hinblick auf arbeitsbezogene Indikatoren wie Arbeitsunfähigkeitszeiten, Arbeitszufriedenheit oder Produktivität ergaben sich dagegen keine konsistenten Effekte [40]. Rauchen Betriebliche Prävention, die sich auf das Rauchen bezieht, kann zwei Strategien verfolgen: Sie kann Unterstützung für Raucher anbieten, das Rauchen aufzugeben oder zu reduzieren oder sie kann auf den Schutz der Nichtraucher abzielen, z. B. durch Einschränkungen der Raucherzonen oder das Verbot des Rauchens in öffentlichen Räumen. Die erste Strategie wird in der Regel durch individuumbezogene Interventionen zur Raucherentwöhnung verfolgt. Eriksen und Gottlieb fanden in 52 Programmen fünf Kategorien von Interventionen: x Gruppenprogramme, x so genannte minimale Interventionen wie Informationsmaterial, Selbsthilfeanleitungen, Videos, x Anreize (finanzielle oder andere Belohnungen), x Wettbewerbe (z. B. zwischen Abteilungen) und x „medizinische“ Interventionen, die entweder in der Gabe von Nikotinersatzprodukten oder in einer ärztlichen Beratung bestanden [15]. Minimale Interventionen hatten kaum Effekte, dagegen waren die Gruppenprogramme zur Raucherentwöhnung den Kontrollbedingungen deutlich überlegen. Durch Wettbewerbselemente konnten die Teilnehmerraten und die Abstinenzquote erhöht werden. Es gab keine eindeutigen Hinweise auf positive Effekte von Belohnungssystemen [15]. Interventionen auf der betrieblichen Ebene (Regelungen und Restriktionen zum Rauchen im Betrieb) führten zu einer Reduktion im täglichen Zigarettenkonsum und zu einer geringeren Belastung der Nichtraucher. Ob durch Restriktionen des Rauchens auch die Zahl der Raucher reduziert werden kann, ist nicht klar [15]. Stressmanagement Unter Stressmanagement werden sowohl Entspannungsmethoden wie Progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training und Meditation verstanden als auch kognitiv-behaviorale Interventionen wie das Stressimmu-
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nisierungstraining nach Meichenbaum. Während Entspannungsmethoden primär darauf abzielen, die psychophysiologische Balance wiederherzustellen, wird in kognitiven Interventionsansätzen versucht, irrationale Überzeugungen und stresserzeugende Gedankenmuster zu identifizieren und durch angemessene und die Bewältigung unterstützende Gedanken (und Verhaltensweisen) zu ersetzen. Beide Ansätze sind individuumzentriert, jedoch arbeiten Entspannungsverfahren eher symptomorientiert (Verringerung von stressbezogenen Symptomen wie muskulärer Verspannung, Bluthochdruck, unspezifische Erregung, Angst), während kognitiv-behaviorale Methoden darauf abzielen, im Individuum liegende kognitive Ursachen für die Entstehung von Belastungssymptomen zu beeinflussen. Somit können kognitiv-behaviorale Methoden auch eher eine präventive Funktion i. e. S. erfüllen. Intensität, Umfang und Dauer der Interventionen im Rahmen von betrieblichen Gesundheitsförderungsprogrammen variieren erheblich, Bamberg und Busch [7] ermittelten eine durchschnittliche Interventionszeit von 12 Stunden über 6 Wochen. In den Evaluationsstudien zum Stressmanagement werden keine verhältnispräventiven Interventionen auf der betrieblichen Ebene berichtet. Es kann als gesichert angesehen werden, dass Stressmanagement psychische und physiologische Parameter günstig beeinflusst (Beschwerden, Ängstlichkeit, Blutdruck) [7, 32]. Metaanalytisch fanden sich auch Auswirkungen auf arbeitsbezogene Kriterien wie Krankenstand, Gesundheitskosten oder Kündigungsintention [7], ein umfassendes Review fand jedoch keine (sicheren) Belege für einen Einfluss des Stressmanagements auf Arbeitszufriedenheit und Arbeitsunfähigkeitszei ten [32]. Die Effekte bezogen sich meist nur auf kurze Nachbeobachtung szeiträume von maximal drei Monaten. 5.4.2 Multifaktorielle Interventionen Durch die Kombination verschiedener Zielvariablen werden verschiedene Gruppen von Beschäftigten mit jeweils anderen Risikoprofilen gleichzeitig angesprochen [23, 35]. Darüber hinaus zeigen die meisten Personen mehr als einen singulären Risikofaktor, z. B. wiesen nur 12% der untersuchten Raucher bei Emmons und Kollegen [13] kein weiteres Risikoverhalten (z. B. fettreiche Ernährung, Bewegungsarmut) auf. Multifaktorielle Ansätze könnten für diese Gruppe von Beschäftigten eine höhere Attraktivität besitzen, weil die Möglichkeit besteht, verschiedene Verhaltensweisen nacheinander zu modifizieren. Multifaktorielle Präventionsprogramme variieren sehr stark im Hinblick auf die Komplexität, Dauer und Intensität. Heaney und Goetzel [23] fassen auf der Basis einer systematischen Auswertung von 35 Programmen folgende
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Interventionsmethoden zusammen: x Medizinisches Screening oder Risikobewertung (zumindest als Eingangsdiagnostik) x Individuelles Feedback (per Computer oder durch Berater) zum Risikofaktorenstatus, mitunter nur allgemeine Gesundheitsinformationen ohne Bezug zur individuellen Diagnostik x Individuelle Beratung zur Risikofaktorenmodifikation, zumindest für Beschäftigte mit Risikofaktoren x Gesundheitsbildung und Training von Fertigkeiten (z. B. Seminare zu Ernährung oder Stressmanagement) x Veränderungen in Arbeitsorganisation oder in den betrieblichen Strukturen (z. B. Rauchverbote, Einrichtung von Trainingsmöglichkeiten) Dabei stellen Gesundheitsbildung und Risikobewertung Bestandteile fast aller Programme dar, individuelle Beratung und Skilltraining wurden von weniger als der Hälfte der Programme angeboten und Veränderungen auf betrieblicher Ebene waren nur in einem Drittel der Programme integriert [23]. Die vorliegenden Reviews haben die Effizienz der multifaktoriellen Präventionsprogramme nicht krankheitsspezifisch, sondern bezüglich aller verwendeten Einzelkriterien analysiert. Sie verweisen auf eine zumindest akzeptable Beweislage für die Wirksamkeit multifaktorieller betrieblicher Interventionsprogramme im Hinblick auf die Senkung von kardiovaskulären Risikofaktoren und die Modifikation von Risikoverhalten sowie die Senkung von Kosten [1, 23, 33, 35, 36]. Die meisten Programme mit angemessener Dauer, Komplexität und Intensität konnten mehrere, wenn auch nicht alle Risikofaktoren erfolgreich beeinflussen. Synergieeffekte durch die Kombination verschiedener Interventionen bzw. Zielvariablen werden bezüglich der Motivation und der gesundheitlichen Effekte vermutet [25]. KHK-spezifische Programme als Untergruppe der multifaktoriellen Ansätze Der Unterschied zwischen multifaktoriellen Herz-Kreislauf-spezifischen und -unspezifischen Programmen liegt nicht im Präventionskonzept oder der Auswahl der Interventionsmethoden, sondern lediglich in der Beschränkung auf die kardiovaskulären Risikofaktoren als Zielkriterien. Die speziell auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen abzielenden Programme umfassen standardmäßig die Modifikation von Ernährung/Gewicht/ Cholesterinspiegel, Blutdruck, die Raucherentwöhnung und Training/ körperliche Aktivität. Stressmanagement gehört in der Regel nicht zum Interventionsangebot von Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammen (Überblick in [23], auch [37, 39]). Es gibt jedoch auch ganzheitliche Präventionsansätze, die Stressmanagement einschließen, wie „Heart at
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Work“ der American Heart Association [3] oder das irische Programm „Happy Heart at Work“ der Irish Heart Foundation (seit 1992). Eine Evaluationsstudie zur Umsetzung des Programms in Irland zeigte jedoch, dass nur 40% der befragten Unternehmen Trainingskurse zur Stressbewältigung anboten, 60% vermittelten Informationen zum Thema Stress und 70% boten die Möglichkeit einer Beratung für Mitarbeiter mit stressbezogenen Problemen an [31]. 5.5 Zusammenfassung und Fazit Wirksamkeit der Programme Trotz der methodischen Schwächen der Evaluationsstudien, die praktisch immer kritisch diskutiert werden (z. B. [11, 15, 19, 32, 35, 45]), sprechen die Ergebnisse überwiegend dafür, dass es möglich ist, mittels betrieblicher Präventionsprogramme die klassischen kardiovaskulären Risikoverhaltensweisen günstig zu beeinflussen. Die Effekte waren meist stärker bei höherer Intensität und Dauer der Programme (mindestens 1 Jahr, [23]; mindestens 3 bis 6 Monate für Risikoreduktion, mindestens 3 bis 5 Jahre für Kostenwirksamkeit [35]). Für die Sekundärprävention/ kardiologische Rehabilitation konnte bereits früher metaanalytisch gezeigt werden, dass positive Effekte auf die Überlebenszeit von der Dauer der Intervention abhingen [34]. Evaluationsstudien zur betrieblichen Gesundheitsförderung beziehen sich fast ausschließlich auf die proximalen Erfolgskriterien Risikofaktorenstatus bzw. Risikoverhalten, während in der klinischen Medizin als harte Erfolgskriterien letztlich nur die Senkung der Rate neuer Krankheitsereignisse und der vorzeitigen Sterblichkeit akzeptiert sind. Eine Metaanalyse zur Wirksamkeit von Gesundheitsbildung und Stressmanagement in der Sekundärprävention der KHK konnte zwar zeigen, dass die Interventionseffekte auf die Reinfarktrate und die Sterblichkeit erheblich größer waren, wenn die proximalen Variablen, d. h. die kardialen Risikofaktoren, durch die Interventionen erfolgreich beeinflusst wurden [12]. Allerdings heißt das im Umkehrschluss nicht automatisch, dass sich jede Modifikation des Risikoprofils auch auf die Entstehung oder den Verlauf einer HerzKreislauf-Erkrankung auswirken muss. Diesen Nachweis bleibt die Evaluationsforschung zur betrieblichen Gesundheitsförderung bisher schuldig [37].
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Vergleichende Wirksamkeit einzelner Interventionsmethoden Studien, die die Wirksamkeit verschiedener individuumbezogener, verhaltensorientierter Interventionsmethoden unmittelbar vergleichen, sind die absolute Ausnahme. Gomel und Mitarbeiter [20, 21] konnten zeigen, dass eine individuelle Beratung zum Risikoverhalten allen anderen Interventionen (nur Risiko-Assessement, Risiko-Assessement und Gesundheitsbildung, Beratung und Anreize) überlegen war. Auch Heany und Goetzel [23] schließen aufgrund ihres systematischen Reviews zu multifaktoriellen Präventionsprogrammen, dass eine individualisierte Beratung besonders effektiv sei, insbesondere bei Personen mit Risikofaktoren. In einem Review zur Effektivität von verhältnispräventiven Interventionen, bezogen auf Ernährung und Bewegung, ergab sich settingübergreifend, dass Strategien wie Aufforderungen zum Treppensteigen, Zugang zu Möglichkeiten sich sportlich zu betätigen, und ganzheitliche Ansätze der betrieblichen Gesundheitsförderung, die Gesundheitsbildung und „peer support“ für körperliche Aktivität, Belohnungen und Anreize, Zugang zu Trainingsmöglichkeiten sowie die Verfügbarkeit gesunder Lebensmittel einschließen, besonders effektiv waren, um Veränderungen in den kardiovaskulären Risikofaktoren zu erreichen [30]. Zielgruppenorientierung und Teilnehmerselektion In der Prävention werden je nach Zielgruppenorientierung zwei Strategien unterschieden. Die bevölkerungsbezogene oder „Public-Health“Strategie richtet sich an alle Personen einer Region oder eines Settings unabhängig vom individuellen Bedarf. Demgegenüber werden in Medizin, Rehabilitation und Sekundärprävention Interventionen nur für Personen mit einem diagnostizierten (medizinischen) Bedarf bereitgestellt. Betriebliche Programme zur Prävention von Herz-KreislaufErkrankungen lassen sich nicht einheitlich einer dieser Strategien zuordnen. Maßnahmen der Verhältnisprävention durch innerbetriebliche Veränderungen wirken sich in der Regel auf alle Mitarbeiter aus. Dagegen werden individuumbezogene Interventionen in einigen Programmen nur für Beschäftigte mit mindestens einem Risikofaktor angeboten. Mitunter existieren intensivere Angebote für Personen mit Risikofaktoren und niedrig dosierte, eher allgemeine Angebote für alle [23]. Kurzfristig können mit Interventionen für Risikoträger höhere Effektgrößen erzielt werden als mit Interventionen für alle [25, 39]. Längerfristig lässt sich die Rate der Risikoträger jedoch nur durch Interventionen auf der Populationsebene beeinflussen, da anderenfalls trotz individuell erfolgreicher Verhaltensmodifikation kontinuierlich
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Personen nachrücken, die unter unveränderten (betrieblichen) Bedingungen auch zukünftig Risikoverhalten bzw. -faktoren entwickeln werden. Die Zielgruppenorientierung wird in der Praxis der betrieblichen Gesundheitsförderung durch den Einfluss von Teilnahmemotivation und Selbstselektion der Beschäftigen oft unterlaufen. Es scheint, als ob am Ende vor allem diejenigen Mitarbeiter profitieren, die vorab bereits über die besten Ressourcen, ein hohes Gesundheitsbewusstsein und geringe Risiken verfügten, während diejenigen Personen mit dem höchsten Bedarf bezogen auf die Risikoverhaltensweisen oder die Stressbelastung eher nicht teilnehmen (vgl. Diskussion in [27]). Psychosoziale Faktoren In den betrieblichen Herz-Kreislauf-Präventionsprogrammen i. e. S. wird psychosozialen Faktoren eine erstaunlich geringe Bedeutung zuerkannt [23]. Psychische Belastungen zum Beispiel sind weder Gegenstand von Diagnostik noch von spezifischen Interventionen. Soziale Aspekte wie soziale Integration oder soziale Konflikte innerhalb oder außerhalb des Betriebes werden nicht einmal thematisiert. Diese Praxis scheint nicht nur im Widerspruch zu den theoretischen Modellen, sondern auch zum subjektiv erlebten Beratungsbedarf zu psychosozialen Problemen von Beschäftigten zu stehen [25]. Programme zum Stressmanagement sind dagegen häufig, allerdings fehlt hier oft explizit und implizit der Bezug zu den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und das Verständnis psychosozialer Faktoren ist eingeengt auf stressrelevante Kognitionen und Kommunikationsstile. Kognitive Stressbewältigungsprogramme sind nicht auf die Veränderung innerbetrieblicher Verhältnisse ausgerichtet, sondern rein individuumzentriert. Verhaltens- vs. Verhältnisprävention Betriebliche Programme zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weit entfernt vom Kerngedanken der Gesundheitsförderung: Veränderung der Verhältnisse als Voraussetzung für verändertes individuelles Verhalten [4, 41]. Oft entsteht der Eindruck, individuumzentrierte Interventionsmethoden und -techniken (Assessment, Beratung, Gesundheitsbildung) wurden aus dem klinischen einfach in das betriebliche Setting übertragen. McMahon und Mitarbeiter [31] stellen fest, dass in der betrieblichen Praxis dem Rauchen, der Ernährung, körperlichem Training und Stressmanagement Priorität eingeräumt werde, was auf ein sehr eingeschränktes Verständnis von Umfang, Bedeutung und Potenzialen betrieblicher Gesundheitsförderung hinweise. Badura
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und Hehlmann [5] konstatieren, dass es in Deutschland gänzlich an Maßnahmen der Verhältnisprävention fehle, die die Arbeits- und Organisationsbedingungen im Unternehmen im Blick haben (ausgenommen Gesundheitszirkel und Schulungsmaßnahmen für Führungskräfte). Die Möglichkeiten und Empfehlungen des Healthy Heart Projektes des New York State Department bzgl. verhältnispräventiver Strategien wurden zu weniger als 30% umgesetzt (z. B. bezogen auf Nichtraucherschutz, gesunde Ernährung, Unterstützung von körperlicher Aktivität) [18]. Wenn überhaupt, wurden innerbetriebliche Strategien eher zur Beeinflussung des Ernährungsverhaltens als zur Förderung von körperlicher Aktivität angewendet [14, 31]. Es wird insgesamt zu wenig berücksichtigt, dass die Stabilität einer erfolgreichen Risikofaktorenmodifikation davon abhängt, ob das Unternehmen die Beschäftigten weiterhin in ihrem gesundheitsrelevantem Verhalten unterstützt bzw. ob die Gesundheitsförderung ein Teil der Unternehmenskultur ist [5, 35]. Pathogenetische vs. salutogenetische Perspektive Ein zweiter Grundsatz der Gesundheitsförderung besteht in der Orientierung darauf, Ressourcen und Potenziale zu fördern, statt primär krankheitsspezifische Risiken zu minimieren. In der bisherigen Praxis betrieblicher Gesundheitsförderung findet sich jedoch eine nahezu ausschließliche konzeptionelle Ausrichtung am pathogenetischen Risikofaktorenmodell der Herz-Kreislauf-Erkrankung. Personale und soziale Ressourcen werden als Zielvariablen der betrieblichen HerzKreislauf-Präventionsprogramme gar nicht erwähnt. Es fehlt bisher jedoch auch an erprobten Interventionsansätzen zur Förderung personaler und sozialer Schutzfaktoren im betrieblichen Setting. Erfahrungen aus anderen Bereichen, wie der Suchtprävention im schulischen Setting, sind nur begrenzt übertragbar. Als mögliche Strategien werden z. B. die Verbesserung sozialer Kontaktmöglichkeiten, das Arbeiten am Konsensus über Ziele und Werte einer Organisation, das Training von Teamarbeit und sozialer Kompetenz diskutiert [5]. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass betriebliche Programme zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein weit höheres Potenzial haben, als bisher eingelöst wird. Entwicklungspotenzial zeigt sich vor allem bezüglich der Integration salutogenetischer Ansätze, der Verknüpfung von Verhaltens- und Verhältnisprävention und damit der Überwindung engerer, der klinischen Medizin entlehnter individuumzentrierter Ansätze, der Berücksichtigung von Erwartungen und Zielen der Beschäftigten im Rahmen von partizipativen Modellen sowie der
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KAPITEL 6
Burnout: Konzept, Verbreitung, Ursachen und Prävention A. Leppin
Zusammenfassung. Burnout kennzeichnet einen beruflichen Verausgabungsprozess, an dessen Ende Erschöpfung, reduzierte Leistungsfähigkeit und (zynische) Distanzierung von ehemals stark positiv besetzten Zielen stehen. Die individuellen und gesellschaftlichen Kosten von Burnout sind erheblich: Das Spektrum reicht von Depressionen bis zu chronischen physischen Erkrankungen, von Ausfalltagen bis zur Frühberentung. Als Ursachen von Burnout gelten neben individuellen Faktoren wie einem hohen Anspruchsniveau vor allem arbeitsplatzbedingte Faktoren wie hohe emotionale Anforderungen („Helferberufe“), hohe Anforderungen bei gleichzeitig hohem Zeitdruck und geringen Ressourcen, geringe Kontrollmöglichkeiten, mangelnde positive Rückmeldungen und soziale Konflikte am Arbeitsplatz. Präventive Bemühungen haben bisher vor allem im Bereich des Individuums angesetzt, also in der Stärkung individueller Bewältigungskompetenzen, z. B. durch Vermittlung von Stressregulationsstrategien oder Zeitmanagement- und Konfliktlösetechniken. Effektive Primärprävention ist jedoch nur dann möglich, wenn auch potenziell pathogene Arbeitsplatzstrukturen verändert werden, also Zeitdruck genommen wird, Ressourcen zur Verfügung gestellt werden und die Beschäftigten mehr Autonomie erhalten, eigene Arbeitsprozesse kontrollieren zu können. 6.1 Der Begriff des Burnout Ob Leistungssportler, Fußballbundestrainer oder Politiker – als Grund für den Wunsch „Auszusteigen“ wird neuerdings immer häufiger Burnout oder Ausgebranntsein genannt. Gemeint ist damit in der Regel ein Gefühl völliger Erschöpfung oder innerer Leere, das vor allem Personen betrifft, die extremen Anforderungen ausgesetzt sind oder sich selbst unter starken Leistungsdruck setzen. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde und wird der Begriff „Burnout“, der inzwischen auch Eingang in das ICD-10-Klassifikationssystem, (Internationale Statistische Krankheits-Klassifikation
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der World Health Organization) gefunden hat, allerdings spezifischer verstanden, wobei aber auch hier im Laufe der Jahre eine deutliche Ausweitung und Aufweichung festzustellen ist. Ursprünglich entwickelt wurde das Konzept in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Charakterisierung einer spezifischen Form von Stress am Arbeitsplatz, vor allem bei den so genannten „helfenden Berufsgruppen“ wie Pflegenden, Feuerwehrleuten und Polizisten, Sozialarbeitern, Psychotherapeuten oder Medizinern [8, 11, 26]. In späteren Jahren wurde der Terminus dann auch auf das Stresserleben bei anderen Berufsgruppen ausgedehnt. Kennzeichnend für Burnout sind drei Kernsymptome: Auf der körperlichen und psychischen Ebene erleben die Betroffenen Erschöpfung, Müdigkeit und Kraftlosigkeit sowie Gefühle von Überforderung. Auf der Verhaltensebene schlägt sich dies als reduzierte Leistungsfähigkeit nieder. Wer unter Burnout leidet, erlebt sich als unproduktiv und nicht mehr in der Lage, den beruflichen Anforderungen gerecht zu werden. Hinzu kommt als weiteres Verhaltenssymptom, das als Bewältigungsversuch des Überforderungserlebens verstanden werden kann, die Tendenz, Distanz gegenüber Klienten oder Kunden bzw. dem Job generell aufzubauen und eine eher zynisch-kalte Haltung zu entwickeln. Wichtig hierbei – auch und gerade in Hinblick auf Prävention und Intervention – ist, dass es sich nicht um einen plötzlich auftretenden Zustand handelt, sondern dass Burnout ein Prozess ist, der sich über lange Zeiträume aufbauen kann und in dessen Verlauf sich Personen von einem Ende des Engagement- und Verausgabungskontinuums zu dessen Gegenpol bewegen. Burnout-Betroffene beginnen ihre Tätigkeit oft mit hoher Motivation, Idealismus und großem Einsatz. Sie sind hoch motiviert, für ihre Klienten etwas zu erreichen bzw. ihre Arbeitsziele optimal umzusetzen und glauben daran, dass sie dies mit dem entsprechenden persönlichen Einsatz auch erreichen können, das heißt, sie besitzen starke internale Kontrollüberzeugungen. Erst im Laufe der Zeit, wenn sich Zweifel einstellen, ob sich die eigenen hohen Ansprüche umsetzen lassen, wenn bürokratische oder arbeitsorganisatorische Hindernisse, mangelnde Ressourcen und soziale Konflikte die Arbeit erschweren und dazu führen, dass Ergebnisse hinter den Erwartungen zurückbleiben, wenn vielleicht auch entsprechende Anerkennung, Beförderung etc. ausbleiben, kommt es zur Ernüchterung (Stagnationsphase). In dem Maße wie in der Folgezeit trotz dieser Zweifel weiterhin kontinuierlich Verausgabung gezeigt wird, diese aber nach wie vor nicht zum Erfolg führt, setzt ein Zermürbungsprozess ein, der schließlich in ein grundsätzliches Infragestellen der eigenen Leistungsfähigkeit und eine zunehmende Distanzierung von den eigenen Ansprüchen mündet
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(Frustrationsphase), bevor es dann im letzten Stadium zur Aufgabe und zum kompletten Rückzug kommen kann [9, 26]. Insofern ist also nicht jeder, der sich nicht leistungsfähig fühlt und wenig Interesse und Motivation für seine Arbeit oder speziell für Klienten zeigt, notwendigerweise von Burnout betroffen. Im Prinzip ist diese Diagnose nur dann berechtigt, wenn dieses Syndrom das Ende eines negativen persönlichen Entwicklungsprozesses am Arbeitsplatz charakterisiert, der mit einer grundlegend anderen, positiv-optimistischen Haltung begonnen wurde. Und auch Verausgabung und daraus resultierende Erschöpfung allein rechtfertigt im Prinzip nicht die Diagnose Burnout, wenn dieser Prozess von Erfolg und Anerkennung gekrönt ist. Allerdings stellt sich hier das definitorische Problem, dass das, was unbeteiligten Beobachtern durchaus als Erfolg erscheinen mag, für den Betroffenen unter Umständen unterhalb der selbst gesteckten, extrem hohen Erfolgskriterien bleibt. 6.2 Prävalenz von Burnout Wie häufig Burnout tatsächlich auftritt, ist umstritten, was nicht zuletzt an den sehr unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Phänomens sowie seiner Operationalisierung durch unterschiedliche Messinstrumente liegt. Für Mediziner und Pflegepersonal werden z. B. meist Quoten zwischen 20% und 30%, für Lehrer zwischen 10% und 30% berichtet [3, 6, 7, 12], wobei allerdings auch deutliche länder-/kulturspezifische Unterschiede auftreten. Die höchsten Raten werden regelmäßig für den Aspekt der emotionalen Erschöpfung gefunden, während die Quoten für Depersonalisierung meist eher gering ausfallen. Bei der Einschätzung zu berücksichtigen ist auch, dass es keine eindeutigen oder allgemein akzeptierten Cut-Off-Werte für die Diagnose von Burnout gibt. Burnout ist somit kein „Entweder-Oder-Zustand“, sondern es gibt graduell unterschiedliche Ausprägungen. Das heißt, die relativ hoch erscheinenden Raten von 20–30% sind insofern zu relativieren als es sich hier nicht ausschließlich oder auch nur überwiegend um Personen mit einer starken Symptomatik handelt. So fanden z. B. Honkonen et al. [17] in einer bevölkerungsrepräsentativen Studie an der erwerbstätigen Bevölkerung in Finnland zwischen 30 und 64 Jahren einen Anteil von 25% mit milden Burnout-Symptomen und 2,4% mit einer schweren Burnout-Symptomatik [1]. Andere Studien aus Skandinavien gehen von 5–7% mit schwerer Symptomatik aus [19]. Angaben für den sozialen Dienstleistungsbereich in den Niederlanden liegen zwischen 3 und 16% [30].
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6.3 Folgen von Burnout Die Konsequenzen von Burnout können durchaus weitreichend sein, sowohl für die Betroffenen selbst wie auch für ihre Arbeitgeber und Kollegen. Verminderte Arbeitszufriedenheit und herabgesetzte Leistungsfähigkeit führen kurz- und mittelfristig zu Produktivitätseinbußen und Ausfalltagen, längerfristig nicht selten zu Umsetzungen und Kündigungen oder Frühverrentungen. Borritz et al. [4] konnten in einer prospektiven 3-Jahres-Studie an 824 dänischen Mitarbeitern des Dienstleistungssektors zeigen, dass Burnout ein signifikanter Prädiktor für die Anzahl der Ausfalltage ist. Während die 25% Studienteilnehmer mit den geringsten Burnout-Werten 5,4 Ausfalltage pro Jahr aufwiesen, waren es bei denjenigen des folgenden Quartils 6,3, bei denen des dritten Quartils bereits 9 und bei den 25% mit den höchsten Burnout-Werten 13,6 Tage pro Jahr, die die Mitarbeiter von der Arbeit fern blieben. Deutsche Studien über Frühverrentungen bei Lehrern [32, 33] zeigen, dass psychische Probleme inzwischen die häufigste Ursache für ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben darstellen, und hier rangiert die Burnout-Problematik hinter Depression meist auf dem zweiten Platz, wobei beide Diagnosegruppen auch hohe Überschneidungsbereiche aufweisen, was den Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen plausibel macht. Inzwischen gibt es auch Studien, die nachweisen, dass Burnout ein Risikofaktor für physische Erkrankungen ist [13, 28]. In der bereits zitierten finnischen Studie wird zum Beispiel angegeben, dass Beschäftigte mit Burnout-Symptomen mehr physische Erkrankungen aufwiesen als Personen ohne Burnout-Erleben, und die Wahrscheinlichkeit einer physischen Erkrankung stieg mit der Schwere der Burnout-Symptome an. Auch im Rahmen von multivariaten Analysen unter Kontrolle von soziodemographischen Faktoren, gesundheitlichen Risikoverhaltensweisen und depressiven Symptomen erwies sich Burnout nach wie vor als signifikanter Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen bei Männern und für Erkrankungen des muskulären und Skelettapparats bei Frauen [17]. 6.4 Ursachen von Burnout Was verursacht Burnout? Wer ist besonders Burnout-gefährdet? Wie sehen Arbeitsplätze aus, an denen Burnout besonders häufig auftritt? Wenn es darum geht, wie man präventiv gegen Burnout vorgehen kann, sind Antworten auf diese Fragen unabdingbar, denn die Ursachen oder Risikofaktoren markieren wichtige Ansatzpunkte für effektive Interventionen.
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Auf der Personenseite sind vor allem individuelle Motivlagen wie eine ausgeprägte „Helfermotivation“, Idealismus sowie eine starke Orientierung an fachlichen Leistungen bei gleichzeitig hohem Anspruchsniveau und Streben nach Anerkennung als bedeutsam identifiziert worden. Die Befunde der meisten Studien, die verschiedene Risikofaktoren in ihrer Relevanz untersucht haben, legen jedoch nahe, dass solche persönlichen Merkmale weniger ausschlaggebend sind als Charakteristika der Arbeitsplätze und die Arbeitsbedingungen unter denen Beschäftigte arbeiten [27]. Zum einen haben bestimmte Arten von Arbeitsplätzen a priori ein höheres Risikopotenzial für Burnout. Dazu gehören eben vor allem die „Helferberufe“, die den Ausgangspunkt der Burnout-Forschung geschaffen haben. Problematisch kann hier einerseits ein kontinuierliches Arbeiten unter extrem belastenden Bedingungen sein, wie z. B. die häufige Konfrontation mit traumatischen Vorfällen wie bei Ambulanz-, Notaufnahme- und Intensivstationspersonal oder auch Polizisten und Feuerwehrleuten [2, 22]. Aber auch eine weniger punktuell-dramatische, sondern eher kontinuierlich-intensive Behandlungs- und Beratungsarbeit (Ärzte, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter) birgt ein Risikopotenzial, das sich aus den psychischen oder physischen Problemsituationen der Klienten und einer möglichen Überidentifikation der „Helfer“ einerseits oder Schuldgefühlen bei Distanzierungsversuchen ergibt. Andererseits wird im personbezogenen Dienstleistungungssektor Angestellten zunehmend das abgefordert, was Hochschild [16] mit „Emotionsarbeit“ umschrieben hat, das heißt speziell Servicepersonal wird eine emotionale Darstellungsarbeit (Stichwort „Lächeltrainings“) und eine „persönliche“ Behandlung von Kunden im Rahmen von de facto „unpersönlichen“ materiellen Tauschverhältnissen abverlangt, was von den Betroffenen auf Dauer oft als stressreich erlebt wird. Abgesehen von diesen spezifischen Charakteristika bestimmter Arbeitsplätze spielt auch die Quantität der Arbeitsbelastung sowie die Ressourcenausstattung eine Rolle. Eine kontinuierliche mengenmäßige Überlastung kann zu Burnout-Prozessen ebenso beitragen bzw. diese beschleunigen wie das Fehlen zeitlicher, finanzieller und/oder materieller Ressourcen, die zur Erledigung der Arbeit benötigt werden. Dabei wird das Zusammentreffen beider Faktoren das Problem in der Regel verstärken, insofern starker Druck bei gleichzeitiger Verweigerung der entsprechenden Ressourcen, diesem Druck gerecht werden zu können, fast zwangsläufig zum Erleben von Irrationalität und zu Kontrollverlust führt. Neben der quantitativen Arbeitsbelastung sind natürlich auch qualitative Aspekte von Bedeutung. Problematisch auswirken kann sich so z. B. ein erzwungenes zunehmendes Engagement in als „fremd“ er-
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lebten Arbeitsprozessen, z. B. wenn Mediziner oder Pflegende sich mehr und mehr der Anforderung ausgesetzt sehen, Verwaltungsarbeiten zu erledigen [20]. Auch Faktoren wie mangelndes Feedback, speziell ausbleibende positive Rückmeldung, mangelnde Rollenklarheit und Erleben von Rollenambiguität, erlebte Unfairness in der Zuteilung von Arbeitsaufgaben sowie in der Bewertung und Entlohnung von Leistungen sowie Konflikte mit Kollegen, Vorgesetzten und Patienten/Klienten sind als ätiologisch relevant nachgewiesen worden [27]. Insgesamt betrachtet scheint Burnout vor allem dort zu entstehen, wo mehrere dieser Risikofaktoren zusammentreffen, das heißt, hohe Anforderungen bei gleichzeitig geringer sozialer Unterstützung und einem hohen Grad an Konflikten bergen ein hohes Risikopotenzial. So konnten Hillhouse und Adler [15] in einer Studie zu Burnout bei Pflegepersonal zeigen, dass weniger die Anzahl der Patienten selbst entscheidend war oder das Auftreten von Konflikten mit Kollegen oder Vorgesetzten, sondern Burnout vor allem dann entstand, wenn eine hohe Patientenanzahl mit Konflikten innerhalb der Pflegegruppe einherging oder zusätzlich noch Konflikte mit den Ärzten auftraten. Umgekehrt sind vor allem soziale Unterstützung von Kollegen und Vorgesetzten [8, 14, 23], aber auch z. B. von Patienten, wie Sundin et al. [31] für Pflegepersonal in Krankenhäusern berichten, als Faktoren identifiziert worden, die eine protektive Wirkung gegen Burnout zu besitzen scheinen. Dennoch sind für den Verlauf von Burnout-Prozessen natürlich letztlich nicht ausschließlich die situativen Strukturen verantwortlich, sondern wie bei allen Stress-Prozessen sind Person und Umwelt im Kausalgeschehen nicht voneinander zu trennen. Im Sinne der transaktionalen Stresstheorie [21] ist somit auch das Entstehen von Burnout ein Produkt der Auseinanderssetzung der Person mit ihrer Umwelt. Burnout entsteht dort, wo die Umweltanforderungen bzw. die Wahrnehmung dieser Anforderungen die Ressourcen der Person übersteigen [27]. Insofern sind also Personen mit extrem hohem eigenem Anspruchsniveau angesichts von äußerem Druck bei gleichzeitig geringen Handlungsspielräumen sicherlich als besonders gefährdet anzusehen. 6.5 Prävention Wenn man die bisher identifizierten Ursachen des Burnout zu Ausgangspunkten präventiver Bemühungen heranzieht, dann ergeben sich zwangsläufig zwei Bereiche präventiv-interventiver Arbeit: 1. individuell-person-orientierte und 2. organisationsbezogene Ansätze.
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Die Mehrzahl der Programme ist bisher eindeutig im Bereich der individuellen Ansätze zu verorten, das heißt, es werden vor allem die Beschäftigten selbst zur Zielgruppe der Prävention gemacht. Meist handelt es sich auch eher um sekundär-, denn um primärpräventive Ansätze, denn angesprochen werden in der Regel Personen, die sich zumindest potenziell als Betroffene sehen, das heißt, schon erste Anzeichen von Problemen bei sich wahrnehmen, ohne dass sie bereits die vollständige Wegstrecke in das Burnout-Syndrom zurückgelegt hätten. So sollen Betroffene oder potenziell Betroffene lernen, ein besseres Verständnis ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Bedürfnisse und Motive zu entwickeln, wobei diese neuen Einsichten dann dazu beitragen sollen, ihnen zu ermöglichen, sich selbst und ihr potenziell pathologisches Verhältnis zu ihrer Arbeit zu verändern [25]. Deutlich seltener werden dagegen im Sinne einer genuinen Primärprävention vor allem die Arbeitsbedingungen oder -umstände zum Ausgangspunkt gewählt. Die Maßnahmen, die sich für individuell-orientierte Herangehensweisen anbieten, umfassen im Wesentlichen drei Bereiche: Zum einen geht es um die ganze Palette der Stressbewältigungstechniken und -strategien. So sollten potenzielle Burnout-Kandidaten zum Beispiel lernen Stressquellen zu identifizieren und ihre eigenen Reaktionen sensibler und frühzeitiger wahrzunehmen, um auf Alarmsignale reagieren zu können; eigene Grenzen sollen erkannt und respektiert werden. Das Erlernen von Entspannungstechniken soll dazu beitragen, ein positives emotionales Erleben zu erzeugen und größere Gelassenheit im Umgang mit den Anforderungen ermöglichen. Eine große Rolle spielen auch Maßnahmen kognitiver Restrukturierung, d. h. kognitiver Um- und Neuinterpretation. Betroffene sollen vor allem lernen, ihre Erwartungen an die eigenen Leistungen und eine Bedürfnisbefriedigung durch die Arbeit zu reduzieren. Es sollen realistische Ziele gesetzt und Interaktionen mit Klienten nicht oder weniger stark als Maßstab individueller Leistungsfähigkeit verstanden werden. Dazu gehört dann unter Umständen auch, Ergebnisse der eigenen Arbeit nach weniger harten Kriterien zu beurteilen und Scheitern dort, wo es unübersehbar ist, nicht mehr nur als Versagen der eigenen Person zu erleben, sondern auch auf die Restriktionen der situativen Umstände zurückzuführen. Ein dritter, weniger auf Selbst-, denn auf Außenregulation gerichteter Bereich umfasst diverse Skilltrainings wie das Erlernen von Konfliktlösungs- und Aushandlungsstrategien sowie die Suche nach sozialer Unterstützung, durch die die Fähigkeit und Möglichkeit erworben werden soll, die eigenen Belastungsgrenzen auch nach außen zu vermitteln und zu lernen „Nein“ zu sagen. Ein Kernpunkt solcher Programme sind
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meist auch Zeitmanagement- und Zeitplanungstrainings, und dabei vor allem das Unterscheidenlernen von wichtigen und dringlichen Aufgaben sowie der Umgang mit Arbeitsorganisation und Delegationstechniken. Wenn Burnout eine problematische Bewältigungsstrategie von beruflichen Anforderungssituationen darstellt, dann muss es diesen individuell ausgerichteten Konzepten auch darum gehen, die Betreffenden dabei zu unterstützen, für sich andere, konstruktivere Strategien zu entwickeln. Solche Bemühungen und Angebote sind sicherlich sinnvoll. Personen, die mit stärkeren Ressourcen, besseren sozialen Kompetenzen und Selbstregulationsfähigkeiten ausgestattet sind sowie mit realistischeren Erwartungen an ihre Arbeitsaufgaben herangehen, werden auch bei ungünstigen situativen Bedingungen am Arbeitsplatz weniger Burnout-gefährdet sein. Werden solche individuellen Strategien jedoch als (vermeintlich kostengünstigerer) Ersatz für ausbleibende Veränderungen von pathogenen Arbeitsplatzstrukturen gesehen, dürften sie mittel- und langfristig ins Leere gehen. Wenn man das transaktionale Person-Umwelt-Modell der Stressentstehung bzw. dessen Anwendung auf die Entstehung von Burnout [27] zugrunde legt, dann müssen Änderungen eben nicht nur auf die (Selbst-)Wahrnehmung der Person ausgerichtet sein, sondern auch auf die organisatorischen Strukturen zielen, in denen diese Person arbeitet. In diesem Sinn muss eine genuine Primärprävention wesentlich stärker als bisher im Rahmen eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements Kommunikations- und Führungsstrukturen von Betrieben, Organisationen etc. in ihre Arbeit einbeziehen. Dazu gehört zuerst sicherlich ein Informations- und Feedbacksystem im Sinne eines kontinuierlichen „Risk-Assessments bzw. Monitoring“ aufzubauen, das sichtbar macht, wie Arbeitsbelastungen verteilt sind, welche Ressourcen vorhanden sind und wie sie genutzt werden, welche Konflikte auftreten, welche gesundheitlichen Probleme auftreten etc. Bestandteil dessen muss auch sein, Angestellten einfache Wege und Möglichkeiten zu eröffnen, Probleme mit der Arbeitsbelastung zu thematisieren und anzugehen. Neben diesem ersten Schritt liegt wichtiges Präventionspotenzial in einer Erweiterung von Handlungs-, Entscheidungs- und Partizipationsspielräumen, also einer Förderung von Autonomie im Rahmen von flexibleren Arbeitsstrukturen, die es den Mitarbeitern ermöglicht mehr Kontrollerleben über ihre eigene Arbeit zu gewinnen. Pryce, Albertsen und Nielsen [29] konnten z. B. zeigen, dass die Einführung eines offenen, weitgehend selbst gesteuerten Dienstplansystems, in dem das Pflegepersonal einer psychiatrischen Klinik in die Lage versetzt wurde ihre Arbeits-, Pausen und Ruhezeiten stärker autonom und flexibel zu
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regeln, mit mehr Arbeitszufriedenheit und Job-Identifikation einherging als dies bei einem herkömmlichem Dienstplansystem der Fall war. Auch andere Studien, die mit Hilfe einer Verstärkung partizipativer Prozesse eine Reduktion von Burnout angestrebt haben, ließen positive Effekte erkennen [5]. Ein weiterer entscheidender Punkt in der Arbeitsorganisation ist an vielen Arbeitsplätzen auch eine regelmäßige Überprüfung und gegebenenfalls Reduktion von Zeitdruck, von Fallzahlen, generell von Arbeitsanforderungen. Hierzu gehört auch die ganze Optionspalette an Maßnahmen wie verkürzte Schichten, Dienstzeiten, verlängerte Pausen, Sonderurlaube oder auch Rotationen zwischen Arbeitsplätzen oder verschiedenen Arbeitsaufgaben. Alles, was die Arbeit als bewältigbarer und auch abwechslungsreicher erscheinen lässt, verringert die Wahrscheinlichkeit von Burnout-Prozessen. Anders als individuelle Unterstützungsangebote scheitern solche Maßnahmen jedoch oft schon im Vorfeld an Budgetüberlegungen oder strukturell-organisatorischen Problemen. Mittel- und langfristig stellt sich jedoch die Frage, ob Investitionen in diesem Bereich sich nicht aufgrund vermiedener Minderund Fehlleistungen, Ausfalltage durch Krankheit etc. auch ökonomisch rechtfertigen lassen. Über solche Umstrukturierungsmaßnahmen hinaus ist jedoch auch an die Schaffung spezieller Unterstützungs- und Beratungssysteme zu denken. Speziell für klinische und soziale Berufe, gegebenenfalls auch für Lehrer bedeutet dies zum Beispiel die Schaffung von Supervisionsangeboten, also einer kontinuierlichen Begleitung der Arbeit durch einen fachkompetenten Kollegen/Kollegin oder eine Gruppe, die das Arbeitsgeschehen, Rollenerwartungen, Beziehungen des Supervisanden zu den Klienten etc. systematisch aufarbeitet. Diese im psychotherapeutischen Bereich übliche bis obligatorische Unterstützungsstruktur dürfte auch für andere helfende Berufe wichtige stressreduzierende Funktion haben. So fanden zum Beispiel Edwards et al. [10] einen negativen Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme von Supervisionsangeboten und Burnout, d. h. “community mental health nurses“, die häufiger an Supervisionsangeboten teilgenommen hatten, litten seltener unter Burnout (siehe auch [18]). Festzuhalten bleibt, dass es mittel- und langfristig wenig sinnvoll ist, lediglich die von Burnout betroffenen Individuen zu „therapieren“. Erfolg ist nur da wahrscheinlich, wo auch Vorgesetzte, deren Führungsverhalten, die Interaktionsstrukturen von Arbeitsgruppen bzw. ganze Organisationsstrukturen von Institutionen einbezogen werden. Das heißt, Ressourcenstärkung von Beschäftigten kann nur dort sinnvoll sein, wo Arbeitsaufgaben angesichts der strukturellen Vorgaben und Ressourcen (Stichwort: „Qualitätssteigerung bei gleichzeitiger perma-
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nenter Kostenreduktion“) nicht im Laufe der Zeit als immer absurder und im Prinzip nicht bewältigbar erlebt werden. Auch für die Burnout-Forschung bedeutet dies, ihre Aufmerksamkeit anders als bisher weniger stark auf die Bewältigungskapazitäten des Einzelnen auszurichten, sondern sich mehr der Frage zuzuwenden, was „gesunde Betriebe und Organisationen“ ausmacht, die einen Burnout ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bereits durch die Prozesse der Arbeitsorganisation vielleicht nicht unmöglich, aber doch weniger wahrscheinlich machen [24]. Literatur [1] [2] [3] [4]
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Burnout: Konzept, Verbreitung, Ursachen und Prävention
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KAPITEL 7
Einbeziehung betrieblicher und außerbetrieblicher Ebenen in Konzepte der Prävention chronischer Erkrankungen U. Funke
Zusammenfassung. Die überragende Bedeutung chronischer Erkrankungen im Bezug auf krankheitsbedingte Fehlzeiten und (Minder-)Produktivität sowie deren in der Regel starker, z. T. exponentieller Altersbezug ist zwar unter Experten unumstritten, nicht aber allen Akteuren und Beteiligten im Betrieb evident. Entsprechende Konzepte vorausgesetzt, beginnt daher der Einbezug betrieblicher Ebenen in die Prävention chronischer Krankheiten mit der jeweils geeigneten Vermittlung des erforderlichen Wissens und der darauf aufbauenden Maßnahmekonzepte. Voraussetzung hierfür ist allerdings die Existenz eines akzeptierten betrieblichen Handlungsträgers, der auf Basis seiner Fachqualifikation die Koordination und konzeptionelle Weiterentwicklung in diesem Themenbereich übernimmt. In erster Linie kommt hierfür der betriebliche Gesundheitsschutz (betriebsärztliche Dienst) in Zusammenarbeit mit der Personalabteilung in Frage, der allerdings eine über die Basis der individuellen Gesundheitsversorgung und -beratung hinausweisende Perspektive im Sinne der Gestaltung und Verbesserung von „Gesundheitsprozessen“ entwickeln muss. Zu den weiteren Voraussetzungen zählt die Akzeptanz von Gesundheitsschutz- und Gesundheitsförderungszielen im betrieblichen Management – durchaus in Verknüpfung mit Aspekten der Wettbewerbsfähigkeit – sowie der Konsens über die Notwendigkeit (überindividuelle) Transparenz in allen relevanten Gesundheitsprozessen herzustellen, um ein effektives Gesundheitsmanagement zu ermöglichen. 7.1 Chronische Krankheiten, Krankenstand und betriebliche Präventionspotenziale Bestimmende Faktoren des Krankenstands sind chronische Krankheiten und schwerere (Privat)-Unfälle. Wirbelsäulenerkrankungen spielen in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da sie einerseits aufgrund betrieblicher Altersstrukturen oft für die meisten Arbeitsunfähigkeitstage
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U. Funke
Abb. 7.1. Arbeitsunfähigkeitstage nach Diagnosegruppen, 2005, Audi BKK: Ingolstadt u. Neckarsulm
(s. Abb. 7.1) verantwortlich sind, andererseits aber auch effektive betriebliche Maßnahmen der Verhältnis- und Verhaltensprävention benennbar sind. Während in der Großindustrie die Verbesserung der Ergonomie am Arbeitsplatz im Sinne der Vermeidung der Krankheitsverursachung beim Gesunden nur noch begrenzte Potenziale haben dürfte und die Ergebnisse primärpräventiver Verhaltensprävention generell schwer erkennbar sind, gilt dies nicht für die Bereiche der Sekundär- und Tertiärprävention. Abbildung 7.2 verdeutlicht die dargestellten Verhältnisse am Vergleich der Wirbelsäulenerkrankungs-assoziierten Arbeitsunfähigkeitstage von Arbeitern und Angestellten, bei denen die Arbeitsunfähigkeit von Arbeitern über alle Altersgruppen hinweg vor allem durch relativ monoforme, den Bewegungsapparat betreffende Anforderungen bei häufig fehlenden Alternativarbeitseinsatzmöglichkeiten ausgelöst wird. Damit rückt der Prozess der Wiedereingliederung bei chronischen Krankheiten mit dem Ziel der Vermeidung und/oder Verkürzung der jeweiligen Arbeitsunfähigkeitsepisoden vor allem bei Wirbelsäulenerkrankungen in den Fokus betrieblicher Präventionsüberlegungen.
Einbeziehung betrieblicher und außerbetrieblicher Ebenen in Konzepte
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Abb. 7.2. Arbeitsunfähigkeitstage bei Wirbelsäulenerkrankungen nach Alter und Stellung im Beruf, 2005 (Audi BKK: Ingolstadt u. Neckarsulm)
7.2 Integrierte Versorgung bei orthopädischen Erkrankungen unter besonderer Berücksichtigung von Wirbelsäulenerkrankungen Bereits im Jahr 2002 wurde beim Gesundheitswesen der AUDI AG in Zusammenarbeit mit der m&i Fachklinik Enzensberg, der Audi BKK und der LVA Oberbayern das Projekt “Verzahnung von medizinischer Rehabilitation und beruflicher Reintegration (Beginn: 1998)“ abgeschlossen [1]. Kernbestandteil dieses Projektes der integrierten Versorgung von orthopädischen Erkrankungen war der unverzügliche unmittelbare Informationsaustausch von Reha-Arzt und Betriebsarzt über Gesundheitszustand und -prognose des Rehabilitanden und gegebene Anforderungen am Arbeitsplatz bzw. an realistischen Alternativarbeitsplätzen, um einen verzögerungsfreien optimalen Reintegrationsprozess zu erreichen. In den Ergebnissen [1] zeigte sich, dass durch die auf der persönlichen Kommunikation der jeweiligen Experten beruhende Vorgehensweise nicht nur die Dauer zwischen Klinikentlassung, Vorstellung beim Betriebarzt und Beginn betrieblicher (Wiedereingliederungs-)Maßnahmen (z. B. Arbeitsversuch) erheblich verkürzt (Abb. 7.3), sondern auch die Arbeitsunfähigkeitszeiten bis zur
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U. Funke
Abb. 7.3. Einleitung und Beginn betrieblicher Maßnahmen zur Wiedereingliederung nach stationärer Rehabilitation
ersten Arbeitswiederaufnahme und innerhalb der ersten 12 Monate nach der Reha erheblich vermindert werden konnten (s. Abb. 7.4). Insbesondere das letztere Resultat zeigt, dass aus dem Verfahren ein nachhaltiger Nutzen u. a. sowohl für den Mitarbeiter als auch für Unternehmen, Krankenkasse und Rentenversicherungsträger ableitbar ist. Voraussetzung für dieses Konzept ist allerdings ein im Betrieb akzeptierter Betriebsarzt, der im Sinne eines echten Gesundheitsmanagements die erforderlichen Prozesse verantwortlich gestaltet, koordiniert und gegebenenfalls optimiert. 7.3 Wiedereingliederung im Betrieb und Arbeitseinsatzflexibilisierung – Einbezug der verschiedenen betrieblichen Ebenen Im Betrieb lassen sich neben den professionellen Ebenen wie Personalabteilung, Planung, Arbeitnehmervertretung und (Betriebs-)Krankenkasse, bei denen auch über eine langjährige Zusammenarbeit im Arbeitsschutzausschuss ein Basiswissen über Konzepte und Umsetzung präventiver Maßnahmen vorhanden ist, vier verschiedene Ebenen unterscheiden, die in ihren unterschiedlichen Rollen und Funktionen in die Konzepte der Prävention einbezogen werden müssen. Es sind dies: • Management • Fertigungsgruppenleiter • Gruppensprecher • Mitarbeiter
Einbeziehung betrieblicher und außerbetrieblicher Ebenen in Konzepte
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7 Abb. 7.4. Arbeitsunfähigkeit nach stationärer Rehabilitation
Zu vermitteln ist einerseits ein für alle Ebenen erforderliches Grundwissen über Gesundheit, relevante Krankheiten, Prävention und Erhalt von Leistungsfähigkeit/Produktivität sowie ein an die jeweiligen Funktionen und Anforderungen angepasstes spezifisches Wissen über „Gesundheitsprozesse“ und gegebenenfalls Evaluierungssysteme. Zum Grundwissen zählt unter anderem die Verteilung von Kurzzeit- und Langzeitarbeitsunfähigkeit und deren Bedeutung für den Krankenstand (s. Abb. 7.5), der (unternehmensspezifische) Krankheitsarten- und Altersbezug des Krankenstands sowie dessen Tätigkeitsbezug am Beispiel von Wirbelsäulenerkrankungen. Ebenso ist der Standardprozess der Wiedereingliederung bei längeren/chronischen Erkrankungen mit Beschreibung der jeweiligen Aufgaben/Funktionen (inkl. Arbeitseinsatzbeurteilung durch den Betriebsarzt) unverzichtbarer Bestandteil des Grundwissens. 7.3.1 Management Die Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes ist Bestandteil der arbeitsvertraglich festgelegten Aufgaben des Managements. Nichtsdestoweniger bedarf es auch bei dieser Personengruppe zusätzlicher Anleitung, um dauerhaft möglichst zweckdienliche Entscheidungen und Handlungen im Sinne einer effektiven Prävention am Arbeitsplatz, z. B. auch durch Formen der integrierten Versorgung bei Wirbelsäulenerkrankungen, sicherzustellen. Grundlage akzeptierter Anleitung zur Prävention am Arbeitsplatz ist wiederum die
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Abb. 7.5. Arbeitsunfähigkeitsfalldauer, -fälle, -tage und Krankenstand, 2005, Audi BKK: Ingolstadt u. Neckarsulm
krankheitsartenbezogene Transparenz des Arbeitsunfähigkeitsgeschehens, die über eine jährliche Organisationseinheits-bezogene Gesundheitsberichterstattung erreicht wird. Außerdem sind als nachvollziehbar, gerecht und umsetzbar empfundene Zielvereinbarungen zum Gesundheits-/Krankenstand sowie die Berücksichtigung der Zielerreichung bei der persönlichen Gratifikation des Managers von großem Nutzen. Bei der AUDI AG bestehen bei u. a. nach Alter und Geschlecht standardisierten Zielvorgaben zum Gesundheits-/Krankenstand [2] und regelmäßiger Gesundheitsberichterstattung seit 1992 [3] hierzu beste Voraussetzungen. Langjährige Erfahrungen im Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen der Maßnahmeableitung und -evaluation aus Gesundheitsberichtsdaten u. a. über Quartalsgespräche (zum Thema) Gesundheitsmanagement, zu denen die Leitung der jeweiligen Organisationseinheit einlädt, dürften einen entscheidend prägenden Einfluss auf das präventive Handeln des Managements haben. Zusätzlich werden neu (insbesondere von extern) ins Management eintretenden Führungskräften spezielle Informationsveranstaltungen („Fit zum Führen“) angeboten, in denen u. a. die Standardprozesse des Gesundheitsmanagements vom Gesundheitsschutz erläutert werden.
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Abb. 7.6. Betrieblicher Integrationsprozess und Produktivität, Abkürzungen: APM-Verfahren: Arbeitsplatzbezogene arbeitsmedizinische Begutachtung und Maßnahmeeinleitung, APSA: Arbeitsplatzstrukturanalyse, AU: Arbeitsunfähigkeit, FAL: Fertigungsabschnittsleiter, FGL: Fertigungsgruppenleiter, MDK: Medizinischer Dienst der Krankenkassen, S: Segmentleiter, TS: Teilsegmentleiter, Runder Tisch: (Revisions-)Verfahren zur Einleitung bzw. Beschleunigung der Wiedereingliederung unter Beteiligung von Personalreferent, Betriebsarzt, Betriebsrat, Schwerbehindertenvertretung und Vorgesetztem.
7.3.2 Fertigungsgruppenleiter In der Produktion führen die Fertigungsgruppenleiter (Meister) als erste betriebliche Führungsebene die Mitarbeiter. Dementsprechend müssen sie auch die wichtigsten Gesundheitsprozesse kennen und verantwortlich umsetzen. Bei weitgehend adäquat ergonomisch gestalteten Arbeitsplätzen und gut etablierten, integriertem betriebsärztlichen Dienst, ergibt sich das belegbar höchste Präventionspotenzial aus der Optimierung des Wiedereingliederungsprozesses. Beim Gesundheitswesen der AUDI AG wurde bereits vor Jahren die gesamte Rehabilitationskette von der klinischen Versorgung bis hin zum produktiven Einsatz an einem geeigneten Arbeitsplatz analysiert und unter direkter Beteiligung aller internen und externen Partner gestaltet. Dabei zeigte sich, dass der Wiedereingliederungsprozess durch eine definierte Prozesskette mit exakter Aufgabenzuordnung der jeweiligen Partner erheblich verbessert und durch Vermeidung von verschiedenen Schnitt-
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stellenproblematiken erheblich verkürzt werden konnte. Neben dem in Abb. 7.1, 7.2, (7.3, 7.4,) 7.5, illustrierten Grundwissen spielt daher der Prozess der Wiedereingliederung mit seinen einzelnen Teilschritten (Abb. 7.6) vor allem für die Fertigungsgruppenleiter eine ganz besondere Rolle. Sie müssen alle Instrumente, Verantwortlichkeiten, Kooperationsschnittstellen und Prozessschritte kennen, bewerten und nutzen, um den Integrationsprozess möglichst verzögerungsfrei steuern zu können. Das Audi-Gesundheits- und speziell das Wiedereingliederungsmanagement stellt daher seit jeher einen Standardbaustein in der Qualifikationsmatrix der Fertigungsgruppenleiter dar. Im Jahr 2004 wurden alle Fertigungsgruppenleiter der AUDI AG nochmals über Seminarveranstaltungen (gemeinsame Leitung: Personalreferent und Betriebsarzt) auf den neuesten Stand gebracht. 7.3.3 Gruppensprecher Gruppensprecher (ohne formelle Führungsfunktion) stellen die wichtigste Kommunikationsschnittstelle des Unternehmens zu den Mitarbeitern dar. Es wäre daher unternehmerisch wenig sinnvoll, diese Gruppe nicht in das Gesundheitsmanagement einzubeziehen [4], zumal ein Informationsvorsprung im generell sehr positiv besetzten Themenbereich „Gesundheit“ einen besonderen Wert für die Gruppensprecher in ihrer Rollenwahrnehmung (oft informelle Führungsfunktion) in der Gruppe hat. Da Gruppensprecher nicht selten unmittelbar von den Mitarbeitern mit aktuellen Unternehmensfragen konfrontiert werden, besteht bei Ihnen ein hoher Bedarf nach verlässlicher, möglichst klarer (vermittelbarer) und vollständiger Information. Dies muss selbstverständlich auch für Informationen über das Gesundheitsmanagement gelten. Neben dem Grundwissen (Abb. 7.1, 7.2, 7.5) und vor allem dem Prozess der Wiedereingliederung (Abb. 7.6) sind daher realistische Abschätzungen von Wirksamkeit und Wirkungsweise der verschiedenen präventiven Maßnahmekategorien (primäre, sekundäre und tertiäre Prävention) unverzichtbar. Sekundär präventive Maßnahmen, d. h. Früherkennungs-, bzw. Vorsorgeuntersuchungen haben keinen gravierenden Einfluss auf die Produktivität (unter Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte), da leider nur eine Minderheit der produktivitätsrelevanten Erkrankungen grundsätzlich durch sekundäre Prävention beeinflussbar ist. Nachweislich durch sekundäre Prävention beeinflussbar sind mit Arteriosklerose assoziierte Herz-Kreislauferkrankungen, die u. a. aufgrund der betrieblichen Altersstruktur im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen (s. Abb. 7.1) keine wesentliche und auch im Rahmen von Morbidität und beruflicher Wiedereingliederung keine entscheidende Rolle spie-
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7 Abb. 7.7. Produktivität unter Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte: Potenziale verschiedener Maßnahmen
len. Im Übrigen zeigen qualifiziert aufbereitete Erfahrungen, dass durch sekundäre Prävention vor allem aufgrund mangelnder Compliance trotz aller Bemühungen leider wiederum nur eine Minderheit der mit Produktivitätsverlusten verbundenen Krankheiten vermieden bzw. ins höhere Alter verschoben werden kann. Aus jahrzehntelangen Erfahrungen bei der Steuerung von Wiedereingliederungsprozessen lässt sich demgegenüber die überragende Bedeutung der tertiären Prävention im Sinne der unter gesundheitlichen Aspekten stimmigen Tätigkeitszuweisung für die individuelle Produktivität ableiten. Voraussetzung hierfür ist allerdings das Vorhandensein Qualifikations-adäquater ergonomisch geeigneter Arbeitsplätze, so dass auch in der entsprechenden Arbeitsgestaltung ein relevantes Potenzial liegt. Übereinstimmende Einschätzungen von Betriebsärzten und Gruppensprechern legen für ein Automobilunternehmen mit entwickelten Arbeitssystemen folgende quantitativen Potenziale der verschiedenen Maßnahmekategorien für die Produktivität unter Berücksichtigung gesundheitlicher Aspekte (Abb. 7.7) nahe. Unterschiedliche Latenzzeiten der verschiedenen präventiven Maßnahmekategorien dürfen allerdings nicht unterschlagen werden, da sonst falsche Erwartungen mit entsprechenden Enttäuschungen und Glaubwürdigkeitsverlusten in Rechnung gestellt werden müssen. So ist davon auszugehen, dass bei Maßnahmen der individuellen Verhaltensprävention
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(s. Abb. 7.7) durchschnittliche Latenzzeiten in der Größenordnung von 10 Jahren von der Erstberatung bis zum vollen Wirkungseintritt angenommen werden müssen. Ergonomische Maßnahmen bzw. die ergonomische Umgestaltung von Arbeitsprozessen erfolgt in der Automobilindustrie im Wesentlichen im Zuge der Modellwechsel in einer ca. 7-jährigen Periodik, d. h. hier muss von einer durchschnittlichen Latenzzeit von ca. 3 Jahren ausgegangen werden. Maßnahmen der Arbeitseinsatzflexibilität, d. h. die Zuweisung eines den aktuellen und dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen entsprechenden Arbeitsplatzes wirken dagegen unverzüglich. Diese Information ist insofern besonders wichtig, als sie die Bedeutung der Gruppensprecher im Rahmen des Gesundheitsmanagements heraushebt, da sie gerade hier unmittelbare Handlungsmöglichkeiten haben. Außerdem stellt die Erhöhung der Arbeitseinsatzflexibilität in Großunternehmen den auch unternehmerisch wichtigsten – jedoch bei weitem nicht ausgeschöpften – Teilaspekt der Prävention chronischer Krankheiten und des Gesundheitsmanagements insgesamt dar. In der AUDI AG werden zur Zeit alle Gruppensprecher u. a. unter zur Hilfenahme der hier dargestellten Instrumentarien in Workshops unter gemeinsamer Leitung von jeweils verantwortlichem Personalreferenten und Betriebsarzt geschult. 7.3.4 Mitarbeiter Allen Audi-Mitarbeitern wird ab 2007 der Audi Checkup als umfassende allgemeinpräventive und arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung angeboten. Dabei werden die Mitarbeiter über ihren Gesundheitszustand und gegebenenfalls gesundheitliche Risikofaktoren informiert und bei Erfordernis (auf freiwilliger Basis) direkt in verschiedene Präventionsund Betreuungsprogramme (u. a. der Audi BKK) eingesteuert. Bei zu erwartender fast vollzähliger Teilnahme wird auch das Klientel der Männer mittleren Alters erreicht, dass im Allgemeinen jegliche Vorsorge- und Früherkennungsmaßnahmen (als Teil integrierter Versorgung bei chronischen Krankheiten) meidet. Über den Tatbestand, dass erst durch die – in vielfältiger Weise von Unternehmen und Gesundheitsschutz unterstützte – tatsächliche Umsetzung präventiver Maßnahmen ein positiver Gesundheitseffekt zu erreichen ist, informieren nicht nur die untersuchenden Ärzte, sondern auch die über die o. g. Workshops geschulten Gruppensprecher. Letztere erläutern auch den Aspekt der nachhaltigen Gesunderhaltung und Gesundheitsförderung der Belegschaft als Unternehmensinteresse, dass sich im Einbezug der Gesamtbelegschaft (früher nur Management) in den Audi Checkup ausdrückt. Selbst-
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verständlich werden die übrigen o. g. Workshopinformationen über von den Gruppensprechern organisierte Gruppengespräche an die Mitarbeiter weitergegeben, so dass auch sie einen bedarfsgerechten Überblick über Gesundheitsmanagement [5] und Aspekte der integrierten Versorgung bei chronischen Krankheiten gewinnen. 7.4 Perspektiven einer integrierten Versorgung am Beispiel von Wirbelsäulenerkrankungen Die dargestellten Vorgehensweisen zur Optimierung des Wiedereingliederungsprozesses [1] bedürfen selbstverständlich der Ausweitung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beteiligen sich einige Reha-Kliniken bzw. einige Reha-Ärzte am Verfahren, wobei von der Audi BKK an die Rehabilitanden ausgegebene Flyer (zur Vorlage in der Reha-Einrichtung) auf Verfahrensablauf und den bei Audi zuständigen/betreuenden Betriebsarzt hinweisen. Von besonderem Interesse wäre eine Ausweitung auf weitere Krankheitsarten, wobei vorrangig psychische Krankheiten einzubeziehen wären, da sich bislang bei ihnen erfahrungsgemäß der Wiedereingliederungsprozess am schwierigsten gestaltet, aber anderseits hier die größten Optimierungspotenziale zu veranschlagen sind. Insgesamt ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass das Verfahren aus organisatorischen Gründen nicht flächendeckend sein kann, von der Kooperationsbereitschaft der Reha-Ärzte abhängt und wahrscheinlich nur für Großbetriebe mit einem integrierten betriebsärztlichen Dienst praktikabel ist. Nicht nur im Rahmen der Optimierung des Wiedereingliederungsprozesses stellt sich die Frage nach einer unmittelbaren Versorgung von Mitarbeitern mit akuten Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule. Zumindest in größeren Unternehmen sollte neben einer betriebsärztlichen ambulanten Versorgung ein adäquates Angebot physikalischer Therapie (z. B. im betriebsärztlichen Dienst) bestehen, da bei Wirbelsäulenerkrankungen nach allen Erfahrungen eine echte Primärprävention durch verhaltenspräventive Maßnahmen (Rückenschulen etc.) unrealistisch ist. Tatsächlich werden solche Maßnahmen (insbesondere Rückenschulen) im Wesentlichen als Therapieergänzung oder -ersatz oder im Sinne von Mitnahmeeffekten bei „Sportlern“ in Anspruch genommen – das unmittelbare unverzügliche Angebot entsprechender Therapie zum richtigen Zeitpunkt ist sinnvoller und glaubwürdiger. Bei Krankenständen in der Größenordnung von 3% in einem produzierenden Automobilunternehmen sind weitere Krankenstandssenkungsmaßnahmen Optimierungskurven-gemäß mit relativ hohem Aufwand
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U. Funke
Abb. 7.8. Unfallhäufigkeiten Audi Ingolstadt 1980-2005
verbunden. Ergänzende, unmittelbar bereitstehende therapeutische Möglichkeiten vorausgesetzt, wäre bei Wirbelsäulenerkrankungen dennoch am ehesten eine weitere Reduzierung der Arbeitsunfähigkeitstage (in der Produktion) denkbar. Hierzu müssten jedem gewerblichen Mitarbeiter bei Wirbelsäulenbeschwerden jederzeit bei Erfordernis (möglichst produktive) Alternativtätigkeiten für die Dauer der Krankheitsepisode angeboten werden. Dies setzt eine große Organisationseinheiten-übergreifende Flexibilität des Arbeitseinsatzes voraus, die zur Zeit noch nicht in vollem Umfang gegeben ist. Am Beispiel des Arbeitseinsatzes nach Arbeitsunfällen (Abb. 7.8) lässt sich jedoch nachweisen, welchen Einfluss der unmittelbare adäquate Arbeitseinsatz bei gesundheitlichen Problemen für die Arbeitsunfähigkeitszeiten hat. So führten im Jahr 1980 noch 77% aller Unfälle im Betrieb, die aufgrund einer definierten Verletzungsschwere dem Durchgangsarzt (D-Arzt) vorgestellt werden mussten, zu einem Arbeitsausfall von mehr als 3 Tagen und damit zu einem meldepflichtigen Arbeitsunfall. Heute, nachdem in jedem Einzelfall überprüft wird ob und welche Tätigkeit nach einem Unfall noch ohne die Gefahr der Verschlimmerung oder Verzögerung des Heilungsablaufs ausgeübt werden kann, und diese dann auch unverzüglich zugewiesen wird, resultiert nur noch aus 9% der D-Arzt-pflichtigen Unfälle im Betrieb ein meldepflichtiger Arbeitsunfall mit mehr als 3 Tagen Arbeitsunfähigkeit. Arbeitsunfälle lösen dementsprechend zum gegenwärtigen Zeitpunkt insgesamt nur ca. 1% aller Arbeitsunfähigkeitstage aus. Die Übertragung
Einbeziehung betrieblicher und außerbetrieblicher Ebenen in Konzepte
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der Vorgehensweise auf Wirbelsäulenerkrankungen mit ca. 15% Anteil am Arbeitsunfähigkeitsgeschehen könnte dementsprechend den heutigen niedrigen Krankenstand noch weiter signifikant senken und die Produktivität erhöhen. Literatur [1] [2] [3] [4] [5]
Haase I, Riedl G, Birkholz LB, Schaefer A, Zellner M (2002) Verzahnung von medizinischer Rehabilitation und beruflicher Reintegration. ASU 37:331–335 Funke U (2004) Zielsysteme Gesundheitsstand. Tagungsbericht 2003 des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte. Gentner Verlag, Stuttgart Funke U (1998) Betriebliche Gesundheitsberichte als Instrumente der Prävention. ASU 33:104–109 Funke U (1999) Konzepte und Erfahrungen zur Gruppenprävention im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements. 39. Jahrestagung der DGAUM, Wiesbaden. Rindt-Druck, Fulda: S 231–235 Stork J, Funke U (2005) Aktuelle Entwicklungen des betrieblichen Gesundheitsmanagements in der Automobilindustrie. In: Jonas K, Keilhofer G, Schaller J. Human Resource Management im Automobilbau – Konzepte und Erfahrungen (Schriften zur Arbeitspsychologie Band 63, Hrsg: Ulich E). Verlag Hans Huber, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle
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Betriebliche Wiedereingliederung und Bewältigung chronischer Krankheit im Betrieb
KAPITEL 8
Betriebliches Eingliederungsmanagement – Herausforderung für Unternehmen F. Mehrhoff
Zusammenfassung. Seit dem 1. Mai 2004 haben die deutschen Unternehmen einen erweiterten Präventionsauftrag zu erfüllen. Der Gesetzgeber verlangt von ihnen über den § 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX (Rehabilitationsrecht) ein betriebliches Eingliederungsmanagement für alle Mitarbeiter, deren Arbeitsplatz aufgrund einer gesundheitlichen Beeinträchtigung gefährdet ist und die damit aus dem Arbeitsleben herauszufallen drohen. Mit ihren Vorkehrungen und Betreuungen ergänzen die deutschen Arbeitgeber die Aufgaben der Rehabilitationsträger und Integrationsämter, die die Maßnahmen zur beruflichen Teilhabe finanzieren. Diese neue „return-to-work“-Strategie verlangt von vielen Beteiligten ein Agieren und Kooperieren. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über den derzeitigen Stand der Umsetzung des § 84 Abs. 2 und öffnet den Blick für eine internationale Dimension, denn das Interesse, gesundheitlich beeinträchtigte Arbeitnehmer länger und nachhaltig am Arbeitsplatz zu halten und damit Arbeitslosigkeit zu vermeiden, haben viele Nationen und Arbeitgeber. 8.1 Einleitung BEM-BEM-BEM: So schnell bürgern sich Kurzformen ein. Das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) hat der Gesetzgeber ab 1. Mai 2004 als Verpflichtung der Arbeitgeber eingeführt. Viele wissen davon, aber die wenigsten wissen damit umzugehen und eine große Zahl ignoriert den § 84 Abs. 2 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX). Vereinfacht ausgedrückt sollen die deutschen Arbeitgeber sich um das kümmern, was international mit „return-to-work“ bezeichnet wird. Mitarbeiter, die länger arbeitsunfähig sind und deswegen ihren Job zu verlieren drohen, sollen aus dem Betrieb heraus unterstützt werden. Das bedarf eines Umdenkens. Denn vor der Gesetzesänderung waren nur die so genannten Rehabilitationsträger für die berufliche Teilhabe zuständig, also die gesetzliche Unfall- und Rentenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit und im Falle einer Schwerbehinderteneigenschaft die Integrationsämter.
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F. Mehrhoff
Die neue Arbeitgeberpflicht trägt der demographischen Entwicklung Rechnung. Unternehmen sind gut beraten, ältere Arbeitnehmer fit zu halten, weil nicht mehr genug jüngere Fachkräfte nachrücken. Die sozialen Rentensysteme erschweren es zunehmend, Arbeitnehmer in die Abhängigkeit von Sozialleistungen zu überführen. Deshalb entlastet das BEM die Sozialversicherungen, beugt Schwerbehinderungen vor und erhöht die Beschäftigungschancen von Schwerbehinderten. Es gehört zu einer weltweiten Binsenweisheit, dass die berufliche Reintegration umso schwerer gelingt, je länger verletzte oder erkrankte Mitarbeiter arbeitsunfähig sind. Dieser Beitrag analysiert im Anschluss an die Begriffserklärung zunächst die Ist-Situation rund zwei Jahre nach Einführung des BEM. Danach werden die Erfahrungen in goldenen Regeln zusammen gefasst, um den Arbeitgebern, die ein BEM aus Überzeugung einführen wollen, praktische Ratschläge zu geben. Frühzeitig ist auf die Qualität der neuen Dienstleistung zu achten, denn nicht alle, die sich als Experten zum BEM anbieten, können sich erfolgreich um den Aufbau von Strukturen und um den Einzelfall kümmern. Deswegen wird zum Abschluss des Beitrages ein Ausblick auf die weltweite Bewegung zum Disability Management gegeben – so die englische Umschreibung der betrieblichen Rehabilitation. 8.2 Die Bedeutung der betrieblichen Eingliederung kranker Mitarbeiter 8.2.1 Begriffsinhalt Betriebliches Eingliederungsmanagement ist ein Rechtsbegriff. Die Legaldefinition ergibt sich aus § 84 Abs. 2 des SGB IX (Abb. 8.1). Die Arbeitgeberaufgabe steht also nicht im Arbeits-, sondern etwas versteckt im Sozialrecht mit der Überschrift „Prävention“. Der Teil II des SGB IX fasst das frühere Schwerbehindertenrecht zusammen. Aus dieser systematischen Stellung und dem Sinn und Zweck der Vorschrift wird deutlich, dass § 84 Abs. 2 nicht nur für die als „schwer“ behindert anerkannten Mitarbeiter gilt, sondern für alle Menschen mit Behinderungen, auch wenn diese juristische Auslegung immer noch von einigen, auch Arbeitsgerichten, angezweifelt wird. Aber es ist abzusehen, dass sich die Einschränkung des BEM auf Schwerbehinderte nicht durchsetzen wird. Noch eindeutiger ist, dass sich das BEM auf alle Betriebe bezieht – ungeachtet der Betriebsgröße – einschließlich des öffentlichen Dienstes. Großbetriebe verfügen meist schon über ein BEM, Kleinbetriebe benötigen im Wesentlichen Hilfe von außen. Den Arbeitgebern muss klar sein, dass sie sich nicht nur um Mitarbeiter kümmern müssen, deren Verletzung/Krankheit eine betriebliche Mit-
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(2) Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 93, bei schwerbehinderten Menschen außerdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeit, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden wird und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Soweit erforderlich wird der Werksoder Betriebsarzt hinzugezogen. (3) Die Rehabilitationsträger und die Integrationsämter können Arbeitgeber, die ein betriebliches Eingliederungsmanagement einführen, durch Prämien oder einen Bonus fördern.
Abb. 8.1. SGB IX § 84 – Prävention
ursache hat. In diesen Fällen hilft ohnehin ihre Berufsgenossenschaft. Vielmehr müssen sich die Arbeitgeber auch um die ausschließlich im privaten Bereich liegenden Krankheitsursachen kümmern. Dieser weite Setting-Ansatz weist den Betrieben in Deutschland eine weitreichende Rolle für die Gesundheit der Bevölkerung zu. Für viele wirkt das Betriebliche Eingliederungsmanagement schon begrifflich viel zu kompliziert und bürokratisch. Aber die „schreckliche“ Vorschrift wird schnell verstanden, wenn man sie leicht erklärt. Deutsche müssen sich erst an den Begriff „Management“ gewöhnen. Er kommt von „manus“ (lateinisch), die Hand, und bedeutet, sich um etwas kümmern und etwas tun. Die Arbeitgeber zahlen zwar nicht Leistungen zur Akutversorgung und Rehabilitation/Teilhabe ihre Mitarbeiter. Das tun weiterhin die Rehabilitationsträger gemäß SGB IX. Sie sind aber über das BEM gesetzlich gehalten, langfristig kranke Mitarbeiter nicht einfach an Versicherungen abzuschieben, auch wenn sie ihre Beiträge zahlen. Sie müssen selbst „Hand anlegen“. 8.2.2 Grenzen § 84 Abs. 2 ist überschrieben mit „Prävention“. Damit ist nicht nur der Arbeits- und Gesundheitsschutz und die betriebliche Gesundheitsförderung gemeint. Vielmehr sollen die Arbeitgeber über das BEM Mitarbeiter identifizieren, denen wegen einer längerfristigen Arbeitsunfähigkeitszeit (AU-Zeit) eine personenbedingte Kündigung und da-
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mit wohlmöglich die Arbeitslosigkeit droht. Laut Gesetz liegt die Grenze bei sechs Wochen. Damit verlangt der Gesetzgeber kein BlaumacherManagement und keine Rückkehrgespräche zur Verringerung der Entgeltfortzahlung der Arbeitgeber. Das BEM bezieht sich also nur auf wenige Mitarbeiter in Unternehmen. Wenn Arbeitgeber das BEM ignorieren, treffen sie keine gesetzlichen Sanktionen. Sie müssen also keine Bußgelder zahlen. Aber einige Arbeitsgerichte gehen zu Recht dazu über, im Rahmen des Kündigungsschutzprozesses das BEM als eine Voraussetzung, z. B. bei der Prüfung des letzten Mittels (ultima ratio), zu verlangen. Kann der Arbeitgeber nicht nachweisen, dass er „präventiv“ alles zur Erhaltung des Arbeitsverhältnisses getan hat, dann wird die Kündigung, egal ob bei Schwerbehinderten oder anderen Mitarbeitern, für unwirksam erklärt. Auf die Weiterentwicklung dieser Rechtsprechung und deren Bestätigung, letztlich beim Bundesarbeitsgericht, sollten sich die Arbeitgeber einstellen. Nur dann sind sie juristisch gut beraten. 8.2.3 Chancen Jede juristische Einschränkung des Anwendungsbereichs vom BEM verschleiert deren betriebswirtschaftliche Bedeutung für die Unternehmen, denn gut ausgebildete Fachkräfte, deren Arbeitsdichte ohnehin hoch ist und deren Lebensarbeitszeit sich verlängern wird, werden künftig wegen der demographischen Entwicklung nicht mehr leicht ersetzt werden können. Das gilt für gut aufgestellte Großbetriebe und noch mehr für Kleinbetriebe, die die vorhandene Arbeit nicht leicht auf andere Fachkräfte verteilen können. Daneben gibt es weitere gute Gründe für ein BEM: Fehlzeiten reduzieren, Image stärken und Beitragsnachlässe und -prämien gemäß § 84 Abs. 3 SGB IX fordern. Aber noch wichtiger für eine zukunftsgerichtete Betriebsstruktur bietet das BEM den Einstieg in eine Veränderungskultur bei den Mitarbeitern. Insoweit ist BEM als ein Teil des „Chance-Management’“ im Unternehmen zu betrachten, bei dem es um Anpassung an neue Betriebsabläufe, um Kommunikation und um ein Gesundheitsbewusstsein geht. Noch so viele RaucherEntwöhnungsprogramme können nicht den Vorbildcharakter einer erfolgreich betreuten krebserkrankten Kollegin ersetzen. Daraus entwickeln sich ungeahnte Kräfte einer „gesunden“ Betriebskultur. 8.3 Goldene Regeln bei der Einführung des BEM Viele Strukturen im Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie in der betrieblichen Gesundheitsförderung können auf das BEM übertragen
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werden. Gleichwohl verlangen Erkrankungen an Krebs, Diabetes und an der Psyche genauso wie folgenschwere Verletzungen einen anderen Umgang mit den schwer betroffenen Menschen als flächendeckend eine Rückenschule in der Mittagspause einzuführen. Bei diesen schweren Fällen sind Betriebsangehörige, aber auch externe Dienstleister, oft überfordert. Viele Fehler werden gemacht, die später nur schwer korrigierbar sind. Das gilt für Großbetriebe ebenso wie für Klein- und Mittelbetriebe. Die folgenden Merksätze bieten erste Orientierungen, ohne eine Vollständigkeit zu beanspruchen: BEM ist Arbeitgeberpflicht Ungeachtet der Mitwirkungspflichten anderer Beteiligter im Betrieb, die § 84 Abs. 2 ausführlich beschreibt, sollten die Unternehmer bzw. deren Personalverantwortliche die Initiative ergreifen. Wer BEM einführen will, der sollte die Fäden in der Hand behalten. Zwar kann vieles delegiert, aber nichts darf abgeschoben werden. Bürokratien sind nicht nötig, aber je nach Betriebsgröße bedarf es eines Mindestmaßes von Strukturierung dazu, wer was wie wann macht. Arbeitgeber sollten sich deutlich gegen Rückkehrgespräche aussprechen und danach handeln. BEM nur als arbeitsrechtliches Muss zur Vorbereitung von rechtssicheren Kündigungen einzuführen, wird sofort enttarnt. Die Devise muss lauten: eingliedern statt ausgliedern! Ohne Mitarbeiter läuft nichts Ohne Mitarbeiter und deren Vertretung wird sich kein erfolgreiches BEM etablieren lassen. Die Interessenvertretungen, also Betriebs- oder Personalräte bzw. Schwerbehinderten, Vertrauensleute, müssen von Anfang an einbezogen werden, um erst gar nicht eine „stille Post“ zuzulassen. Alle Interessengruppen, einschließlich der Betriebsärzte oder Fachkräfte im Arbeits- und Gesundheitsschutz, gehören an den „runden“ Tisch. Dort werden die Umgangsregeln verabredet: Anschreiben an Mitarbeiter, Betriebs- oder Integrationsvereinbarung und Informationsveranstaltung für die Mitarbeiter. Sogar dann kann es passieren, dass Widerstände überwunden werden müssen, weil bei Mitarbeitern Skepsis besteht, warum der Betrieb sich plötzlich in deren Freiraum einmischt „krank sein zu dürfen“. Mitunter es lohnt sich, in die betriebsinterne Meinungsbildung externe Berater frühzeitig einzuschalten.
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Hilfe von außen nutzen Kompetente Hilfe von außen bieten die Rehabilitationsträger und die Integrationsämter. Angefangen von frühen Strategiegesprächen bereichern sie die Betriebe mit den jahrelangen Erfahrungen ihres RehaManagements. So können sich Betriebe nicht nur Ratschläge im einzelnen Fall einholen, etwa von der gesetzlichen Unfallversicherung nach Unfällen oder beim Verdacht auf Berufskrankheiten, sondern auch von dem Krankengeld-Fallmanagement der Krankenkassen oder deren Kompetenzen zur Behandlung chronischer Erkrankungen profitieren. Die gesetzliche Rentenversicherung bietet darüber hinaus ebenso wie die Agentur für Arbeit Leistungen zur beruflichen Teilhabe. Durch die RehaMaßnahmen direkt im Betrieb reduzieren sich die Beiträge der Betriebe zu den Sozialversicherungen und – im Falle von Schwerbehinderten – die Ausgleichsabgabe. Neben den Reha-Trägern bieten zahlreiche Dienstleister in Deutschland ihre Kompetenz im Zusammenhang mit der betrieblichen Rehabilitation an. Dabei gilt es, effiziente externe Hilfe zu identifizieren. Auch dabei kann die BG oder Krankenkasse den Betrieben weiterhelfen. Entweder gibt es eine spezielle Hotline oder die Betriebe können sich an die gemeinsamen Servicestellen für Rehabilitation wenden, die in jeder Stadt und in jedem Landkreis eingerichtet sind. Die Adressen finden sich unter www.bar-frankfurt.de. Pro-aktiv handeln Betriebe sind gut beraten, sich nicht ausschließlich auf die Sechs-WochenFrist zu beschränken. Eine SAP-Software und damit die Information nur über AU-Zeiten bieten oft viel zu späte Signale auf chronische Krankheiten. Entsprechend dem Präventionszweck des BEM bedarf es einer möglichst frühen Identifizierung von langfristigen Erkrankungen, die zum Verlust des Arbeitsplatzes führen können. Der Mittelweg liegt zwischen einem punktgenauen Radarsystem und einer statistischen Bürokratie. In kleineren Betrieben weiß die Chefin oder der Chef schon sehr schnell, was den Mitarbeitern gesundheitlich fehlt. Datenschutz ist dort noch nicht zentrales Thema. In größeren Betrieben hängt es von den vertrauensvollen Kontakten zwischen den Führungskräften und den Mitarbeitern ab, ob früh Informationen über Krankheiten fließen und Interventionen des Betriebs akzeptiert werden. Der Schlüssel liegt oft in der Integration des BEM in ein Konzept zur Führungskräfteschulung. Kranke Mitarbeiter müssen motiviert werden, den Weg aus der Welt der Medizin zurück in die Welt der Arbeit zu finden, und die Kollegen müssen dazu bereit sein, vorübergehend ihren Teil dazu beizutragen.
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Auf Fähigkeiten achten Manchmal muss man mit Krankheiten leben und arbeiten. Daraus entwickeln sich mitunter ungeahnte Leistungspotenziale. Die Betriebe müssen diese verbleibenden Fähigkeiten von Mitarbeitern mit den Anforderungen der vorhandenen Arbeitsplätze in Einklang bringen. Nur Defizite zu beschreiben und Arbeitsunfähigkeit im Sinne des „Alles-oder-NichtsPrinzip“ einfach hinzunehmen, führt zu einem betriebs- und volkswirtschaftlichen Dilemma. Betriebe sollten ihren Einfluss geltend machen, um die räumlich nahe stehenden Ärzte mit den Arbeitsplatzbedingungen vertraut zu machen, damit etwa eine stufenweise Wiedereingliederung eingeleitet werden kann und besser gelingt. Dazu können Videos von Arbeitsplätzen dienen. Für besonders häufige Erkrankungen, wie etwa Rücken-, Herz- und Kreislauferkrankungen, kann es sich lohnen, im Schulterschluss mit Berufsgenossenschaften und Krankenkassen, besonders spezialisierte ambulante und stationäre Rehabilitationseinrichtungen oder andere Dienstleister aus der Umgebung einzubeziehen. Eine solche arbeitsplatzbezogene Rehabilitation bringt Zeitgewinn und ist effizient. 8.4 Früh auf die Qualität von BEM Wert legen Während in Deutschland die Arbeitgeberaufgabe zum Eingliederungsmanagement kranker Mitarbeiter im Betrieb noch jung ist, liegen bereits viele Erfahrungen in anderen Ländern der Welt vor. Hingegen verfügen die deutschen Sozialversicherungen, die sich dem Management von Gesundheitsschäden widmen, über einen international anerkannten guten Ruf. Diese Rehabilitationsträger liefern seit Jahrzehnten bereits Maßnahmen und Methoden zum „return-to-work“ für die Betriebe. Sie kümmern sich um die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der von ihnen finanzierten Dienstleister, wie etwa die der Berufsförderungswerke und der Rehabilitationseinrichtungen. Aus Sicht der Unternehmen, die an der Qualität der neuen Dienstleistung interessiert sind, bieten sich Qualitätsstandards an, die international anerkannt und national akzeptiert sind. Derjenige Dienstleister, der sie einhält, ist sein Geld wert. Und die Betriebe, die auf solide Qualität achten, können erwarten, in Zukunft Prämien oder Boni der Rehabilitationsträger oder der Integrationsämter zu erhalten sowie rechtssicher Arbeitsverhältnisse zu kündigen. Worauf kommt es an:
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Zertifizierte Disability Manager einschalten Weltweit existiert ein Curriculum zur Ausbildung von zertifizierten Experten im Disability Management. Die Lizenzrechte dafür hat der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) erworben und bietet mit anderen Partnern im Bildungsverbund (Abb. 8.2) eine Weiterbildung an. Der HVBG hat zudem die Prüfungsrechte zur Verleihung des „Certified Disability Management Professional“ (CDMP) für Deutschland, die Schweiz und Österreich erworben. Nach fast zwei Jahren gibt es bereits rund 400 CDMP‘s in Deutschland. Das sind mehr als in allen anderen Ländern der Welt. Diese Experten arbeiten in unterschiedlichen Positionen innerhalb und außerhalb der Betriebe (Abb. 8.3). Auf ihre neun wesentlichen Kompetenzen können sich die Arbeitgeber und die Versicherer verlassen: x Disability Management überzeugend etablieren, x Rechtsordnung und Sozialleistungen kennen, x inner- und außerbetriebliche Akteure vernetzen,
Abb. 8.2. Bildungsverbund Abkürzungen:ArgeBFW=ArbeitsgemeinschaftderBerufsförderungswerke,BUK=Bundesverband der Unfallkassen, FAW/wfz = Fortbildungsakademie der Wirtschaft/berufl. Fortbildungszentren der bayrischen Wirtschaft, GenRe = General Reinsurance (Kölnische Rückversicherung), HSA = Hochschule für Soziale Arbeit Luzern, IKK-Nord = Innungskrankenkasse.
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8 Abb. 8.3. Zertifizierte Disability Manager x x x x x x
soziale Kompetenzen und Kommunikation nutzen, Case-Management im “return-to-work” umsetzen, Fähigkeitsprofile mit Arbeitsplatzanforderungen kombinieren, Krankheiten begreifen und Hilfen einleiten, Erfolge von Disability Management nachweisen, Vertrauen durch ethisches Verhalten erwerben.
Die CDMP bieten eine relative Sicherheit, dass BEM nicht von „schwarzen Schafen“ angeboten wird, denn der Umgang mit Schwerkranken und deren Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess geht über rein präventiv wirkende Maßnahmen, wie etwa die Einführung einer Rückenschule in der Mittagspause für alle Mitarbeiter, weit hinaus. Weitere Informationen zum Berufsfeld der CDMP und ihrer Qualifizierung finden sich unter www.disability-manager.de. Alle CDMP müssen, um ihr Zertifikat zu erhalten, 20 Stunden Weiterbildung pro Jahr nachweisen. Ein internationaler und nationaler CDMP-Verein sind gegründet. Durch Konsens überzeugen Return-to-work-Programme orientieren sich am Menschen. Seine Motivation, wieder gesund und arbeitsfähig zu werden, muss im Mittelpunkt stehen. Er darf nicht als Objekt betrachtet werden. Diese
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Botschaft der Selbstbestimmung wird seit dem Jahre 2001 im SGB IX zum Ausdruck gebracht. Sie geht über den Datenschutz hinaus und entspricht dem internationalen Standard im Disability Management, das auf Konsens ausgerichtet ist (consensus-based). Die Sozialpartner im Unternehmen und in den Sozialversicherungen müssen sich über die Grundprinzipien zum BEM einigen. Das hat gute deutsche Tradition, um die uns andere Länder in der Welt beneiden. Die Methoden ergeben sich von selbst. In großen Betrieben entstehen „runde Tische“. Regionale Verbünde, unterstützt von Verbänden der Arbeitgeber/Untenehmen und Gewerkschaften, schaffen Gemeinschaftseinrichtungen, und Rehabilitationsträger verabreden gemeinsame Qualitätskriterien zum BEM und knüpfen daran finanzielle Anreize für die Unternehmen. Alles das ist bereits abzusehen. Präventiv, integrativ und kreativ wirken Betriebe und deren Dienstleister zum BEM müssen auf ein umfassendes Gesundheitsmanagement abzielen. Darin ist BEM neben dem Arbeitsund Gesundheitsschutz und der betrieblichen Gesundheitsförderung nur ein Bestandteil. Daraus schöpft sich die einmalige Chance in Deutschland, präventiv wirkende Experten (z. B. Betriebsärzte) mit den erfolgreichen Instanzen zur Rehabilitation/Teilhabe miteinander zu vernetzen. Diese Erkenntnis müsste für viele Versicherungen und Dienstleister eine Herausforderung sein, neue strategische Partnerschaften zu gründen. Die Berufsgenossenschaften verfügen seit jeher über den Strukturvorteil, „alles aus einer Hand“ bieten zu können, also von der Prävention über die Akutversorgung, die Rehabilitation und Teilhabeleistungen, um entweder Risiken von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu reduzieren oder deren Folgen (z. B. Umschulung, Renten etc.) zu mindern. Ärzte und Kliniken müssen sich nicht nur der Gesundheit von kranken Menschen widmen, sondern sie sollten sich seit der Einführung des BEM noch mehr darum kümmern, Kranke rechtzeitig wieder fit für den Job zu machen. Dazu gehören Kenntnisse über die Arbeitswelt und über den konkreten Arbeitsplatz. Die Qualität des BEM hat also direkten Bezug zur Vernetzung der Welt der Medizin und der Welt der Arbeit. Legt man diese Kriterien zugrunde, wird sich schnell herausstellen, ob die vom Arbeitgeber eingeschalteten Dienstleister BEM gut oder schlecht machen.
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Effizienz und Nachhaltigkeit anstreben Eine Kosten-Nutzen-Relation hängt stets von den unterschiedlichen Zielen ab. Betriebe streben die Reduzierung von Ausfalltagen der Mitarbeiter an. Versicherungen wollen längerfristige Geldleistungen vermeiden. Und der Staat legt auf die Beschäftigungsfähigkeit der Bevölkerung wert. Daraus ergeben sich Schnittmengen, aus denen sich win-win-Situationen definieren und Qualitätskriterien entwickeln lassen. Arbeitgeber und Dienstleister müssen ihr Handeln und ihre Erfolge evaluieren. Daran knüpfen sich Entscheidungen über Finanzmittel und Vergütungen. Aus Workshops und durch elektronische Foren und über weitere gemeinschaftsstiftende Ereignisse entwickeln sich Merksätze zum BEM, die deckungsgleich mit denen der globalen Bewegung zum Disability Management sind. Sie sichern eine Nachhaltigkeit von Strukturen und in Einzelfällen, an denen alle Beteiligten interessiert sind. Wirtschaftliches Denken und soziales Handeln sind keine Gegensätze! Die Qualität sichern und vergleichbar machen Weil Qualität oft von Akzeptanz abhängt, bieten Befragungen eine Methode zur Absicherung, ob man richtig liegt. Der Informationsgehalt von Befragungen hängt von der Art und Menge der Fragen ab. Das PeerReview-Prinzip bietet durch einen gegenseitigen Expertenabgleich von Einzelfällen die Information, ob etwas gut oder schlecht gelaufen ist und wie man etwas verbessern kann. Solche Ansätze zur Qualitätssicherung, die es in anderen Bereichen von Gesundheitsleistungen bereits gibt, und die über den Best-Practice-Ansatz hinausgehen, schaffen die Grundlage für eine qualitätsbezogene Forschung sowie für ein Bench-Marking, denn Qualität ist das Resultat eines kontinuierlichen Prozesses, der zudem am internationalen Kontext ausgerichtet sein muss. Standards zum Disability Management gibt es und werden derzeit in mehreren Ländern des europäischen Raums eingeführt. Der Weg einer internationalen Akzeptanz des Disability Managements hat bereits begonnen, sowohl innerhalb der Unternehmen also auch bei den Versicherungen, die sich um „return-to-work“ kümmern. Sogar einzelne Staaten werden sich daran messen lassen müssen, ob und wie ernsthaft sie kranke Bürgerinnen und Bürger, die arbeitslos sind oder zu werden drohen, in den Arbeitsprozess reintegrieren und sich nicht nur um gesunde Arbeitslose kümmern. Im Oktober 2006 fand das 3. Internationale Forum zum Disability Management in Brisbane/Australien statt (www.ifdm.com.au). Vom 22.–24. September 2008 (www.ifdm.2008.de) wird Berlin im Mittelpunkt dieses 4. Internationalen Fachkongresses stehen, den der HVBG gemein-
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F. Mehrhoff: Betriebliches Eingliederungsmanagement
sam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ausrichten wird – hoffentlich mit vielen Betrieben, Versicherern und Dienstleistern, die sich auf internationaler Plattform mit einem guten betrieblichen Eingliederungsmanagement präsentieren möchten.1
Interessenten können sich an den Verfasser dieses Beitrages wenden. Auch wei-
terführende Literaturhinweise sind dort erhältlich.
KAPITEL 9
Umgang mit chronischen Erkrankungen im Betrieb – Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement W. Timm
Zusammenfassung. Die Bedeutung des Themas „chronische Erkrankungen im Betrieb“ steht im Zusammenhang mit den langfristigen Reformaufgaben einer alternden Gesellschaft. Problemlösung statt Problemkompensation ist das Ziel. Die Expertenkommission „Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik“ hat hierzu Vorschläge entwickelt: Modernisierung der Unternehmenskultur für Wettbewerbsfähigkeit und Mitarbeiterorientierung; dezentrale, betriebswirtschaftlich ertragreiche Gesundheitspolitik im Betrieb; regionale Präventions- und Rehabilitationsverbünde von Betrieben, Sozialversicherungen und Anbietern. Auch das neue Rehabilitationsrecht (SGB IX) zielt auf ein grundlegend gewandeltes Verständnis von Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben. Es verpflichtet alle Sozialversicherungen zu systematischer Analyse (z. B. Frühindikatoren, Zielgruppen) und Erfolgsbewertung sowie zu koordinierten Präventions- und Rehabilitationsprogrammen mit Betrieben. Als Reformbeitrag werden praktizierte Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement vorgestellt. Diese Module für mittelständische Betriebe stärken deren Fähigkeit, durch einen Steuerungsansatz, mitarbeiterzentrierte Führung und interne Unterstützungssysteme mit den Themen alternde Belegschaften und chronische Erkrankungen präventiv und rehabilitativ umzugehen. 9.1 Ausgangspunkt: An den Grenzen von Kuration und Kompensation Unternehmen und Organisationen stehen gleichermaßen wie Wirtschaftsund Sozialpolitik und nicht zuletzt die Sozialversicherungen vor grundlegenden Neuorientierungen. Ursache ist zum einen die historisch einmalige demographische und epidemiologische Transformation. Die industrialisierten Länder – und in rascher Folge auch die Schwellenländer wie China, Südamerika und Indien sowie schließlich auch die Entwicklungsländer – unterliegen einer bislang unbekannten Dynamik von steigender Lebenserwartung, kollektiver Alterung der geburtenstarken Jahrgänge und Verringerung der nachfolgenden Generation. Zugleich
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W. Timm
ist die gesundheitliche Situation der alternden Bevölkerungen durch die Vorherrschaft der chronisch-degenerativen Erkrankungen gekennzeichnet (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Muskel-Skelett-Erkrankungen, Stoffwechsel-Erkrankungen, neurologische sowie psychische Erkrankungen). Ein weiterer entscheidender Faktor ist zum anderen die schwindende Tragfähigkeit der „Kultur der Reparatur und Kompensation“ [2, S. 41], die bislang für Gesundheitspolitik und Alterssicherung (einschließlich der Politik von Frühverrentung und Rehabilitation) sowie für die Arbeitsmarktpolitik vorherrscht. Unternehmen und Wirtschaft, Politik und soziale Sicherungssysteme geraten durch Kosten und mangelnde Wirksamkeit dieser Strategie unter zunehmenden Druck. Wie im Bereich der Umweltfragen stellt sich auch in Wirtschaft und Gesellschaft die Frage, wie „Nachhaltigkeit“, also eine präventiv-problemvermeidende und problemlösende statt einer problembehandelnden und -kompensierenden Organisation erreichbar ist. 9.2 Prävention und Rehabilitation: Vorschläge für eine „Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik“ Die Expertenkommission der Bertelsmann Stiftung und Hans-BöcklerStiftung zur betrieblichen Gesundheitspolitik hat in diesem Kontext Vorschläge für eine „Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik“ [2] vorgelegt. Im Folgenden werden einige zentrale Aussagen dieser neuen wirtschafts- und sozialpolitischen Positionierung zusammengefasst. Betriebliche Gesundheitspolitik wird explizit als „Eckpunkt wirtschaftlichen Wachstums und betrieblicher Effizienz“ [2, S. 11] angesehen1. Die Modernisierung der Unternehmenskultur – nicht allein der Ansatz von technologischer Innovation – wird damit zum Schlüsselfaktor der wirtschaftlichen Existenzsicherung. Erhöhung von Wettbewerbsfähigkeit und Mitarbeiterorientierung bilden demnach nicht einen Gegensatz, sondern stellen sich als komplementäres Ergebnis der Investition in „Sozialkapital“ [2, S. 58 f.] dar. Dieses dokumentiert sich durch die Fähigkeit von Organisationen, „Sinn zu vermitteln“, „Transparenz herzustellen“ sowie „Motivation, Bindung und Leistungsbereitschaft ihrer Mitarbeiter durch
Vgl. hierzu auch die bundesweite „Initiative Neue Qualität der Arbeit“ (INQA – www.inqa.de) von Spitzenverbänden, Sozialversicherungen, Unternehmen, Stiftungen sowie Bund und Ländern. INQA verbindet bewusst die Ziele einer unternehmens- und arbeitsgestaltenden Modernisierung und gibt Impulse in einer Vielzahl von Handlungsfeldern („Thematischen Initiativkreisen“).
Umgang mit chronischen Erkrankungen im Betrieb
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geeignetes Kommunikations- und Entscheidungsverhalten zu mobilisieren“ [2, S. 66]2. Durch Rückverlagerung der Verantwortung für Gesundheit in den ökonomischen Kontext, in Unternehmenskultur und betriebliche Routineprozesse wird zugleich die „Vermeidung von Sozialversicherungsfällen (Unfälle, Behandlung, Berentung, Arbeitslosigkeit)“ und damit die finanzielle „Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme“ [2, S. 21] angestrebt. Das neue Sozialpolitik-Verständnis verdeutlicht: Die präventive Umorientierung der sozialen Sicherung wird im Handlungsfeld der Wirtschaft selbst verankert. Ein neuer Interventionstyp für betriebliche Gesundheitspolitik wird eingefordert [2, S. 43]. Dem vorherrschenden Politikansatz der Reparatur und Kompensation [2, S. 41] – z. B. durch Folgenbehandlung, Entschädigung, oder Frühberentung – wird ein präventives Leitbild entgegengestellt: „Gesundheitliche Probleme müssen dort gelöst werden, wo sie entstehen“ [2, S. 38]. Dies bedeutet z. B. Investitionen in die Qualität der Arbeit und in Gesundheit, „mit dem Ziel‚ gesünder älter werden’: zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit, zur Verhütung arbeitsbedingter Unfälle und Erkrankungen sowie krankheitsbedingter Berentung“ [2, S. 36]. Der expertenorientierte Arbeits- und Gesundheitsschutz, der die betrieblichen Zusammenhänge von Sozialkapital, Wettbewerbsfähigkeit und Gesundheit für Management und Belegschaft eher verdeckt, soll durch ein betriebliches Gesundheitsmanagement abgelöst werden, das Gesundheitsförderung in die betrieblichen Abläufe integriert [2, S. 43 f.]. Das bedeutet nicht nur – durch die Einbeziehung von Mitarbeiterorientierung – eine Veränderung im alltäglichen Führungsprozess. Durch die Anwendung von betriebswirtschaftlicher Kostenrechnung auf betriebliche Gesundheitsaspekte, durch ein betriebswirtschaftliches und gesundheitliches Controlling [2, S. 44], soll auch spezifischer Handlungsbedarf identifiziert und der wirtschaftliche Nutzen von betrieblicher Gesundheitspolitik sowie die Unterlassungskosten dokumentiert werden. Für die präventive Neuorientierung der Unternehmenspolitik formuliert die Expertenkommission eine Reihe von Empfehlungen [2, S. 78 f.], die sich an die Betriebe, die Sozialpartner, den Staat, die Sozialversiche Vgl. hierzu auch den jährlich zusammen u. a. mit INQA veranstalteten Wettbewerb „Deutschlands beste Arbeitgeber“ – www.greatplacetowork.de –, der im Wege einer anonymen Befragung auf der Bewertung der Unternehmenskultur durch die Mitarbeiter sowie auf einer kennziffern- und dokumentengestützten Fremdbewertung beruht.
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rungsträger und andere überbetriebliche Akteure, sowie an Bildung und Wissenschaft und an die beteiligten Stiftungen richten. Darüber hinaus werden auch Empfehlungen ausgesprochen, die spezifisch auf einen wirksameren Umgang mit chronischen Erkrankungen in Wirtschaft und Gesellschaft zielen. Hierzu zählen z. B. folgende Vorschläge: Die Wirksamkeit des betrieblichen Gesundheitsmanagements und der arbeitsmedizinischen und sicherheitstechnischen Betreuung soll erheblich gesteigert werden, indem „die derzeitigen rechtlichen und institutionellen Grenzen zwischen Prävention, Therapie und Rehabilitation im Sinne einer integrierten Versorgung abgebaut“ [2, S. 83] werden. Die relevanten Ministerien für Wirtschaft, für Arbeit und für Bildung und Forschung sowie die Unfallversicherung und Krankenversicherung und die zuständigen Disziplinen und Berufsgruppen werden aufgefordert, Konzepte „zum zügigen Abbau dieser strukturellen Hemmnisse einer erfolgreichen betrieblichen Gesundheitspolitik“ (ebd.) zu erarbeiten. „Die Kommission empfiehlt allen Sozialleistungsträgern eine substanzielle Neuausrichtung und Verstärkung ihrer Programmatik und Aktivitäten in Richtung einer aktiven betrieblichen Gesundheitspolitik“ [2, S. 94]. Dazu gehört „die konsequente Förderung der Koordination und Kooperation zwischen den innerbetrieblichen Akteuren und den außerbetrieblichen Leistungsanbietern in den Bereichen Kuration und Rehabilitation …“ (ebd.). Für die Ziele „Vermeidung des Sozialversicherungsfalls“ [2, S. 95], „Bekämpfung arbeitsbedingter Gesundheitsgefahren“ [2, S. 96], Intensivierung der „Bemühungen zur beruflichen Wiedereingliederung chronisch Kranker“ [2, S. 96] soll die Zusammenarbeit der Träger untereinander und mit den Betrieben deutlich ausgebaut werden. Mit einer gemeinsamen Kommunikations- und Informationsplattform der Sozialleistungsträger könnten „aus isoliert agierenden Dienstleistern zunehmend präventionsorientierte Akteure im Verbund“ [2, S. 96] werden. Für eine stärkere Fokussierung der aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklungen (z. B. integrierte Versorgung, Disease-Management-Programme, vgl. neuerdings auch den spezifischen Risikogruppen-Ansatz ‚Chronic Care’3) auf Themen der settingbezogenen Prävention und Rehabilitation wird eine Verzahnung mit den zukünftig intensivierten Aktivitäten der betrieblichen Gesundheitspolitik angemahnt [2, S. 96]. Im Zusammenhang mit der erwartbaren Regionalisierung der Versorgungsstrukturen, aber auch im Hinblick auf das eigenständige Ziel einer praxisbezogenen Kooperation von heterogenen Betrieben, Organisationen, Vgl. die Bestandsaufnahme „Versorgungsmanagement für chronisch Kranke. Lö-
sungsansätze aus den USA und aus Deutschland“ [3].
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Trägern und Anbietern wird mehrfach [2, z. B. S. 92, S. 96 f.] auf den notwendigen Aufbau regionaler Bündnisse für Gesundheit bei der Arbeit hingewiesen. Folgerichtig werden Modellregionen vorgeschlagen. Die Kommission empfiehlt „den Krankenkassen und Berufsgenossenschaften sowie den Leistungsanbietern im Gesundheitswesen die Verknüpfung von Gesundheitsförderung, Prävention, Kuration, Rehabilitation und Pflege in ausgewählten Regionen zu erproben und dabei die betrieblichen Aktivitäten auf diesem Gebiet mit zu berücksichtigen“ [2, S. 96]. 9.3 Weichenstellung für einen Paradigmenwechsel: Der Präventionsauftrag des SGB IX Die klassische Gesundheits-/Krankenversicherungspolitik (SGB V) sowie die Politik von Alterssicherung und Erhaltung der Erwerbsfähigkeit (SGB VI) hat ihren Paradigmenwandel noch vor sich. In Bezug auf chronische Erkrankungen und Behinderungen, die für Gesellschaften im demographischen Übergang das gesundheitliche Hauptproblem darstellen, zeichnet sich immerhin in einzelnen Politikfeldern ein Strategiewechsel ab. Ein wichtiges Beispiel für diese Neuorientierung ist das 9. Sozialgesetzbuch „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ (SGB IX in der Fassung vom 23.07.2004). Prävention und Sicherung der sozialen Teilhabe bei drohenden bzw. bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen soll demnach über frühzeitige, systematische und kontinuierliche Beeinflussung von persönlichen Gesundheitsbedingungen und sozialen Kontextfaktoren (wie den Lebens- und Arbeitsbedingungen) erfolgen. Chronische Krankheit und (daraus resultierende) Behinderung wird nach dem Anforderungs-Kompetenz-Ressourcen-Modell der ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) als Beeinträchtigung der Teilhabe an alltäglichen Aktivitäten und gesellschaftlichen Handlungsfeldern (wie Bildung, Arbeit, Familie, Wohnen, Freizeit etc.) gesehen. Die Beeinträchtigungen können nach diesem Modell in hohem Maße durch persönliche und gesundheitliche Kompetenzen sowie durch angepasste Umfeldbedingungen (soziale Ressourcen) verhindert bzw. ausgeglichen werden. Die Implementierung eines derartigen Ansatzes erfordert Analysen und Gesundheitsziele hinsichtlich Risikogruppen und Krankheitsverläufen, bezüglich problematischer Lebenslagen und Arbeits- bzw. Frühverrentungs’karrieren’ sowie entsprechende präventive und rehabilitative Interventionsprogramme. Diese reichen von der gesundheitlichen, sozialen und bildungs- bzw. berufsbezogenen Kompetenzförderung auf der Ebene von Individuen und Personengruppen über Präventions-, Rehabilitations-
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und Integrationsprogramme für Risiko- bzw. Zielgruppen auf der mittleren Ebene bis hin zu Settingansätzen (Schule, Betrieb, Stadtteil) und sektorenübergreifenden Politikfeld-Ansätzen auf der Makro-Ebene (z. B. Integration von Migranten, neue Alters- und Lebensphasen-Politik, Unternehmenskultur und betriebliche Gesundheitspolitik). Die für die koordinierte und zielgruppenbezogene Umsetzung des SGB IX zuständigen sozialen Sicherungssysteme (die Rehabilitationsträger im Sinne des SGB IX) sind zwangsläufig auf Grund ihrer kurativkompensatorischen Orientierung und ihrer separaten Organisation für diese Aufgaben nur bedingt gerüstet. Ein Umbau in Richtung Vermeidung und Bewältigung chronischer Erkrankungen durch trägerübergreifende Zielorientierung, Koordination und Ergebnisverbesserung wird jedoch auch zur Überlebensfrage der sozialen Sicherungszweige. Die in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) zusammengeschlossenen sozialen Sicherungszweige haben für die Umsetzung des SGB IX verpflichtungsgemäß nach §§ 12 Abs. 1 Nr. 5 sowie 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX eine Reihe von Ausführungsempfehlungen erarbeitet.4 Im Zusammenhang mit betrieblichen Strategien zur Verhinderung und Bewältigung von chronischen Erkrankungen und Behinderungen ist die Gemeinsame Empfehlung „Prävention nach § 3 SGB IX“ [1] von zentraler Bedeutung. Über die spezifischen arbeitsweltbezogenen Präventionsverpflichtungen der Unfallversicherung und der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgehend wird hier ein Rahmenkonzept für alle sozialen Sicherungszweige formuliert, das den Gesetzesauftrag von § 3 SGB IX „Vorrang von Prävention“5 konkretisieren soll. Nach dem Grundsatz der möglichst frühzeitigen Intervention soll Prävention im Sinne von § 3 SGB IX „dazu beitragen, bereits im Frühstadium sich abzeichnende Beeinträchtigungen der (körperlichen, psychischen und sonstigen Alltags-) Aktivitäten und (der gesellschaftlichen) Teilhabe zu erkennen. Sie hat zum Ziel, das Fortschreiten gesundheitsbeeinträchtigender Prozesse, die zur Chronifizierung und Behinderung Die unten beschriebene Empfehlung „Prävention nach § 3 SGB IX“ wurde von
folgenden Rehabilitationsträgern vereinbart: den gesetzlichen Krankenkassen, der Bundesagentur für Arbeit, den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung, den Trägern der Alterssicherung der Landwirte, den Trägern der Kriegsopferversorgung und den Trägern der Kriegsopferfürsorge im Rahmen des Rechts der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden sowie den Integrationsämtern in Bezug auf die Leistungen und sonstige Hilfen für schwerbehinderte Menschen [1, S. 1]. § 3 SGB IX: „Vorrang von Prävention. Die Rehabilitationsträger wirken darauf hin, dass der Eintritt einer Behinderung einschließlich einer chronischen Krankheit vermieden wird.“
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führen können, zu verringern, aufzuhalten bzw. zu verhindern sowie gesundheitsgefährdende Belastungen abzubauen und Ressourcen zu stärken“ (§ 2 Abs. 3 Gemeinsame Empfehlung [1]). In einem „Besonderen Teil“ II der Gemeinsamen Empfehlung, mit „Prävention im Erwerbsleben“ überschrieben, wird zur Konkretisierung des Gesetzesauftrags „unter trägerübergreifenden Gesichtspunkten der Schwerpunkt zunächst auf Erwerbspersonen und ihre gesundheitlichen Risiken gelegt, die insbesondere im betrieblichen Kontext als Setting zu Beeinträchtigungen der Aktivitäten und Teilhabe führen können“ (§ 3 Abs. 4 Gemeinsame Empfehlung [1]). Analoge Präventionskonzeptionen für spezifische Risiken und Präventionspotenziale in anderen Settings werden angekündigt (§ 3 Abs. 5). Das Rahmenkonzept „Prävention im Erwerbsleben“ hat folgende Bestandteile: 1. „Identifikation des Präventionsbedarfs in der Arbeitswelt“ (§ 4 Gemeinsame Empfehlung [1]) Koordinierte Fortentwicklung, Verbreitung und Nutzung von Instrumenten und Frühwarnsystemen, die Prognosen über Entstehung und Verlauf chronischer Erkrankung und Behinderung ermöglichen. Dieser Auftrag gilt für die Abstimmung der Rehabilitationsträger untereinander sowie für die Zusammenarbeit mit anderen Beteiligten (Abs. 2)6. Die Betriebe sind bei der Anwendung entsprechender Verfahren in der Ermittlung der gesundheitlichen Risiken und Potenziale zu unterstützen (Abs. 4). 2. „Präventionskonzept und -maßnahmen“ (§ 5 Gemeinsame Empfehlung [1]) Gemeinsame Entwicklung und Umsetzung der Rehabilitationsträger – unter Einbeziehung von Sozialpartnern, Betroffenenorganisationen und weiteren Beteiligten – von Präventionsansätzen zur Verhältnismodifikation von Gesundheitsrisiken, die im Arbeitsweltkontext manifest werden (Abs. 1) sowie zur Verbesserung der gesundheitlichen Situation und zur Verhaltensmodifikation von Personen und Gruppen im Erwerbsleben, die besondere gesundheitliche Problemlagen aufweisen (Abs. 2). Koordinierte Entwicklung eines Vorgehenskonzepts mit gezielten Präventionsmaßnahmen auf Beispielhaft genannt werden: Screeningverfahren, Work Ability Index (WAI), Gefährdungsbeurteilung, Gesundheitsberichte, Assessment-Instrumente, arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, Sozialversicherungsdaten, Integrationsvereinbarungen.
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der Basis der Analyse nach § 4 der Gemeinsamen Empfehlung sowie anhand der Sichtung von Präventionsprogrammen und Beispielen guter Praxis (Abs. 3 und 4). Mit dem Vorgehenskonzept sollen zugleich Zuständigkeiten für die Umsetzung festgelegt werden (Abs. 4). 3. „Koordination und Vernetzung“ (§ 6 Gemeinsame Empfehlung [1]) Aufbau von regionalen, branchen- oder betriebsbezogenen Informations- und Koordinationsstrukturen durch die Rehabilitationsträger, um für bestimmte Risikogruppen von Erwerbspersonen zielgerichtet, unverzüglich und ohne Zugangshemmnisse die Vorgehenskonzepte und Maßnahmen einzuleiten, die geeignet sind, Behinderungen und drohende Chronifizierung zu vermeiden (Abs. 1 und 2). Neben den Rehabilitationsträgern werden beispielhaft betriebsinterne und -externe Partner dieser Koordinationsnetze genannt (z. B. Arbeitgeber, Betriebs- und Personalräte, Schwerbehindertenvertretungen, Betriebs-, Haus- oder Fachärzte, arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Dienste, Sozialdienste, Betroffenenverbände und andere Beteiligte). 4. „Betriebliches Eingliederungsmanagement“ (§ 7 Gemeinsame Empfehlung [1]) Unterstützung der Arbeitgeber bei dem betrieblichen Eingliederungsmanagement durch die Rehabilitationsträger und Integrationsämter. Die Vorgehenskonzepte nach § 6 können Bestandteil des Eingliederungsmanagements sein (Abs. 3). Die Arbeitgeber sind nach § 84 Abs. 2 SGB IX verpflichtet, ein betriebliches Eingliederungsmanagement einzuführen, um Beschäftigten, die länger als sechs Wochen im Jahr arbeitsunfähig sind, Möglichkeiten zu eröffnen, die Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen oder den Arbeitsplatz zu erhalten (Abs. 1). Die Rehabilitationsträger und Integrationsämter stimmen sich über Voraussetzungen sowie Art und Umfang der Förderungen ab, welche die Arbeitgeber durch Prämien oder einen Bonus nach § 84 Abs. 3 SGB IX bei der Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements erhalten können. 5. „Serviceangebote“ (§ 8 Gemeinsame Empfehlung [1]) Entwicklung von Serviceangeboten und abgestimmten Strategien durch die Rehabilitationsträger zur Information und gezielten Unterstützung der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Abs. 1). Hierzu werden beispielhaft genannt: Impulsgeber-/Initiatorfunktion, Beratung
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und Konzeptentwicklung, Moderation sowie Projektmanagement, Durchführung von einzelnen Programmbausteinen, Dokumentation und Bewertung sowie Information der Beschäftigten (Abs. 2). Die Dienstleistungen können direkt oder durch die örtlichen Gemeinsamen Servicestellen bzw. über die von den Integrationsämtern beauftragten Integrationsfachdienste erbracht werden. 6. „Motivierung der Erwerbspersonen“ (§ 9 Gemeinsame Empfehlung [1]) Zielgruppenprogramme: Gezielte Ansprache und Programme, insbesondere für die Erwerbspersonen mit hohen gesundheitlichen Risiken (Abs. 1), unter Einbeziehung der Beteiligten in die Programmplanung, gegebenenfalls auch von Betroffenenorganisationen (Abs. 2). 7. „Qualitätssicherung und Dokumentation“ (§ 10 Gemeinsame Empfehlung [1]) Festlegung von Zielen und Qualitätsstandards für Präventionsmaßnahmen unter Beteiligung der Leistungserbringer und Betroffenenverbände sowie Überprüfung im Rahmen der Qualitätssicherung nach § 20 Abs. 1 SGB IX (Abs. 1). Dokumentation der Maßnahmen durch die Leistungserbringer von Präventionsmaßnahmen (Abs. 2). Erstellung von Statistiken durch die Rehabilitationsträger und Integrationsämter nach gemeinsamen Kriterien über Anzahl, Umfang und Wirkung von Präventionsmaßnahmen (Abs. 3). Evaluation der Präventionskonzepte nach der Gemeinsamen Empfehlung im Hinblick auf Wirkung, Nutzen und Kosten; Förderung von Forschung auf diesem Gebiet sowie von wissenschaftlicher Begleitforschung zur Weiterentwicklung der Präventionsansätze durch die Rehabilitationsträger und Integrationsämter (Abs. 4). 9.4 Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement Die o. g. Empfehlungen der Expertenkommission und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) für eine „zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik“ bzw. für „Prävention im Erwerbsleben“ sind langfristiger Natur. Im Kern laufen sie auf drei Schwerpunkte hinaus: 1. Systematische Umsteuerung der Unternehmen in Richtung Wirtschaftlichkeitssteigerung durch Förderung von Unternehmenskultur und Personalressourcen, durch eine erweiterte Unternehmenssteuerung (Investition in Sozialkapital), die die betriebswirtschaftlichen Kostenund Nutzenaspekte der betrieblichen Gesundheitssituation und des
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Mitarbeiterengagements identifiziert, sowie durch die betriebsinterne Verantwortung für Problemvermeidung und Problemlösung statt einer Externalisierung der Folgen an die sozialen Sicherungssysteme. 2. Ein erweitertes Konzept von integrierter Versorgung: Dies schließt den Bogen von Prävention bis Rehabilitation und Pflege, integriert den Präventions- und Rehabilitationsort „Betrieb“ und bietet mit regionalisierten Netzen für Gesundheit bei der Arbeit übergreifende Ziele und Koordinationsformen für die zahlreichen Teilsysteme und Berufsgruppen. 3. Eine funktionale Integration der organisatorisch und durch Eigenlogik getrennten sozialen Sicherungssysteme entlang der Ziele Prävention und Rehabilitation und konzentriert auf das Setting Betrieb, wobei Strategieund Konzeptentwicklung, Steuerung und Evaluation sowie Koordinierung genauso wie Dienstleistung, Beratung und Anreize für Betriebe, Akteure und Zielgruppen die wichtigsten Aufgaben sind. Gerade wenn diese Perspektive aufgrund des oben beschriebenen Reformbedarfs nicht aus dem Blick geraten soll, sind viele Zwischenschritte nötig und möglich. Die folgenden Bausteine für ein betriebliches Integrationsmanagement sind als eine derartige Zwischenstation gedacht. Sie sind vom Verfasser im betrieblichen Beratungskontext des Instituts für Gesundheitsconsulting der AOK Niedersachsen entwickelt worden und werden gegenwärtig in zwei Betrieben (Kulturbetrieb und Betrieb der Stahlbearbeitung, mit jeweils ca. 250 Mitarbeitern) schrittweise umgesetzt. Die modulartige Darstellung bietet die Möglichkeit, diese Darstellung als Leitfaden für ein Gesamtsystem zu nutzen oder einzelne Komponenten für die eigene betriebliche Praxis zu übernehmen bzw. zu modifizieren. Geeignet erscheinen diese Bausteine für Betriebe mittlerer Größenordnung (ca. 100 bis 500 Beschäftigte), die zumindest in Ansätzen einen erweiterten Arbeits- und Gesundheitsschutz praktizieren (wollen). Die klassische Arbeitsicherheit (technische Arbeitsgestaltung, Unfallverhütung) reicht vermutlich als Grundlage nicht aus, da Fragen der Unternehmenskultur – die „weichen Faktoren“ – beim betrieblichen Integrationsmanagement eine wichtige Rolle spielen. Da der hier vorgestellte Ansatz stark auf die eigenen Fähigkeiten im Unternehmen zur Problembewältigung setzt, sollten folgende Voraussetzungen bei den Schlüsselakteuren gegeben sein: x die Einstellung, das – in der Regel begrenzte – Ausmaß an mittleren und längeren Erkrankungen durch Gestaltungsmaßnahmen im Unternehmen proaktiv zu beeinflussen,
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die Bereitschaft, Führungskräfte und Führungssystem, interne Ansprechpartner sowie Mitarbeitervertretung gemeinsam als internes „Unterstützungs- und Problemlösesystem“ zu entwickeln.
1. Meldung bei Arbeitsunfähigkeit Nicht selten ist – gerade in mittelständischen Betrieben oder auch im öffentlichen Sektor – die Arbeitsunfähigkeitsmeldung nicht funktional geregelt, so dass die betroffene Arbeitseinheit bzw. Führungskraft nicht hinreichend planen kann. Auch ein informeller Unterstützungsprozess durch die Kollegen bzw. die Führungskraft ist dadurch erschwert. Daher bietet sich folgende Regelung an: Bei einer Erkrankung, die zur Abwesenheit vom Arbeitsplatz führt, muss umgehend nach Bekanntwerden eine telefonische Information an den Abteilungsleiter/ Gruppenleiter oder die Stellvertretung erfolgen. Falls diese nicht erreichbar sind, ergeht die Meldung an die Personalabteilung. Wenn mit einer Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit zu rechnen ist, werden vor Ablauf der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oben genannte Personen informiert, spätestens am Verlängerungstag. 2. Übersicht bei Arbeitsunfähigkeit Zur Einleitung von Unterstützungs- bzw. Beratungsgesprächen (s. u.) erhalten die Abteilungsleiter von der Personalabteilung eine monatliche personenbezogene Übersicht über die Arbeitsunfähigkeit in ihrem Bereich. Die Übersicht schließt zugleich in summierter Form Zahl und Gesamtdauer der Arbeitsunfähigkeit der letzten zwölf Monate ein. Damit wird nicht nur die rechtzeitige Einleitung von Beratungsgesprächen erleichtert, sondern auch die systematische Umsetzung eines Eingliederungsmanagements (s. o.). Für eine regelmäßige, betriebsintern zugängliche Information über Ausmaß und Entwicklungstendenzen der Arbeitsunfähigkeit (des Krankenstandes) stellt darüber hinaus die Personalabteilung eine Quartals- bzw. Monatsstatistik der Arbeitsunfähigkeit nach Bereichen/Abteilungen zur Verfügung. Als Jahresstatistik zusammengefasst, sollte dieses Personalreporting auch eine Differenzierung der Arbeitsunfähigkeit nach Dauer transparent machen.7 Das Berichtssystem kann neben anderen aufbereiteten Informationsquellen (z. B. fallbezogene Auswertungen, Ergebnisse der Zum Beispiel können die Fälle der Arbeitsunfähigkeit (AU) für 100 Mitarbeiter
sowie die prozentuale Verteilung der AU-Tage ausgewiesen werden: 1. im Bereich „begrenzter AU“ (bis 14 AU-Tage), 2. bei „mittlerer AU“ (15 bis 28 AU-Tage), bei „ausgedehnter AU“ (29 bis 42 AU-Tage) und bei „Langzeit-AU“ (über 42 AU-Tage).
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Unterstützungs- bzw. Beratungsgespräche, arbeitsmedizinische Daten, Mitarbeiterbefragungsergebnisse, Arbeitsplatzanalysen) zugleich Steuerungsgrundlage für die mindestens halbjährlichen Sitzungen des erweiterten Integrationsteams (s. u.) sein. 3. Kurze Rückkehrgespräche Die direkte Führungskraft führt unmittelbar nach jeder Abwesenheit ein kurzes informelles Rückkehrgespräch. Dabei muss auf den Abwesenheitsanlass angemessen eingegangen werden. Abwesenheitsgründe können z. B. sein: Krankheit, Urlaub, Fortbildung, Elternzeit. Ziel des kurzen Rückkehrgesprächs ist die Wiedereinweisung und Information der Mitarbeiter über Veränderungen, die Klärung von Einschränkungen sowie die Einsatzplanung und Aufgabenverteilung.8 4. Unterstützungsgespräche Bei Hinweisen auf krankheitsbedingte oder andere Einschränkungen bzw. auf sonstigen Klärungsbedarf – spätestens nach zwei Wochen ununterbrochener krankheitsbedingter Abwesenheit, weil möglicherweise ernsthafte oder chronifizierende Krankheitsformen nicht auszuschließen sind – wird zeitnah bei der Rückkehr zusätzlich ein Unterstützungsgespräch durch die Führungskraft angeboten. Bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit sollte der Kontakt telefonisch erfolgen, um gegebenenfalls ein Unterstützungsgespräch vorzubereiten oder es zu Hause durchzuführen. Im Gegensatz zum informellen Rückkehrgespräch sind beim Unterstützungsgespräch ungestörte Atmosphäre, separater Raum und hinreichend Zeit eine Bedingung. Ziele sind: 1. Vertrauensvolle Sondierung der Situation, z. B. wie ist die gesundheitliche Lage, wieweit ist die Arbeitsfähigkeit gegeben/erwartbar, gibt es Veränderungswünsche; 2. Klärung, was kann die Führungskraft oder die Arbeitsgruppe zur Unterstützung bzw. zur Genesung oder zur Vermeidung zukünftiger In Abgrenzung zu problematischen Konzepten mehrstufiger, dokumentierter Krankenrückkehrgespräche mit jeweils intensivierter Kontrollorientierung (vgl. zur systematischen Analyse Pfaff u. a. [4]) geht es hier um eine unaufwändige Umsetzung von Informations- und Wiedereinweisungskommunikation der Vorgesetzten und Beschäftigten im Alltagsgeschäft. Zugleich wird hier auch ein mitarbeiterorientierter Führungsansatz im Arbeitsalltag konkretisiert (Dialog bezüglich wichtiger Informationen wie Wiedereinweisung in die aktuelle Tätigkeit, personelle oder verfahrenstechnische Änderungen, Frage nach gesundheitlichen Einschränkungen bzw. arbeitsbedingten Belastungen, Sondierung eines Unterstützungsbedarfs).
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Arbeitsunfähigkeit beitragen, was kann der/die Mitarbeiter/in hierfür tun; 3. Verabredungen über die nächsten Schritte – informelle Zielvereinbarung. Über mündliche Absprachen hinausgehend können beide Seiten auch einvernehmlich die eingegangenen Vereinbarungen dokumentieren (z. B. Gesprächsnotiz zur Vorlage beim erweiterten Integrationsteam). Dies gibt den Beschäftigten möglicherweise eine Handhabe z. B. zur Abstellung gravierender ergonomischer oder organisatorischer Mängel; ebenso bietet sich für die Führungskraft im gegebenen Fall z. B. die Chance, konsequente Behandlung zu unterstützen, aber auch zu verlangen, und einen verantwortlichen Umgang mit Arbeitsunfähigkeitsmeldungen zu bekräftigen. 4. Das Unterstützungsgespräch ist ein selbstverständliches Angebot des Unternehmens und alltäglicher Teilaspekt der Führungsaufgabe. Es kann ebenso selbstverständlich abgelehnt werden, wie es überflüssig sein kann. Das Hinzuziehen eines internen Gesundheitspartners ist mit Zustimmung oder auf Initiative des/der Mitarbeiter/in jederzeit möglich. 5. Training/Erfahrungsaustausch der Führungskräfte Zum Einstieg nehmen alle Führungskräfte an einem Kurztraining teil, das die wesentlichen Bausteine des Betrieblichen Integrationsmanagements vermittelt und in die Zielsetzungen sowie Verfahren von Rückkehrgesprächen einerseits und Unterstützungsgesprächen andererseits einführt. Das hier vorgestellte Integrationsmanagement setzt auf Vertrauensaufbau, auf spürbare Unterstützungs- und Eingliederungsprozesse sowie auf wachsende praktische Erfahrungen im Unternehmen – die Führungskräfte haben einen großen Anteil daran, wie glaubhaft und nutzbringend dieser Ansatz umgesetzt wird. Um dauerhaftes Engagement der Führungskräfte, abteilungsspezifische Anpassungen der Verfahren sowie um eine zunehmende Sicherheit in der Praxisumsetzung zu fördern, wird für einen Übergangszeitraum von 18 Monaten unter Moderation des Verfassers im Quartalsrhythmus ein Erfahrungsaustausch der Führungskräfte in kleinen Gruppen durchgeführt – eingeschlossen sind hier Fallauswertungen und Gesprächssimulationen.
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6. Beratungs-/Rehabilitationsgespräche9 Zeichnen sich keine Lösungen ab, dann können Mitarbeiter/in und Führungskraft einvernehmlich oder gegebenenfalls auch ohne Einwilligung der anderen Seite die internen Gesundheitspartner um Begleitung durch Beratungs- und Rehabilitationsgespräche bitten. Eine Einschaltung der Gesundheitspartner (s. u.) ist auch unabhängig von Rückkehr- oder Unterstützungsgesprächen durch jeden Beteiligten möglich. Die Unternehmensleitung bzw. Personalabteilung kann ebenfalls Beratungsgespräche mit dem/der Betroffenen einleiten. Die Führungskraft veranlasst in jedem Fall von Arbeitsunfähigkeit über vier Wochen oder bei vier und mehr Arbeitsunfähigkeitsfällen in den letzten zwölf Monaten ein Beratungsgespräch mit einem Gesundheitspartner nach Wahl des/der Mitarbeiter/in. Der/die Mitarbeiter/in kann die Einleitung bzw. Weiterführung der Beratungsund Rehabilitationsgespräche jederzeit ablehnen. Mit Zustimmung des/der betroffenen Mitarbeiter/in soll der Gesundheitspartner weitere Beteiligte (z. B. Geschäftsführung, Bereichsleitung, Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft, Schwerbehindertenvertreter) und andere Fachleute (behandelnde Ärzte/Therapeuten, Kliniken, Reha-Berater/ Krankengeldfallmanager der Sozialversicherungen10) hinzuziehen, um eine Lösung, Behandlungsoptimierung oder Eingliederung zu erreichen. Zum Abschluss jedes Beratungstreffens wird eine Vereinbarung getroffen, die Schritte/Maßnahmen der Gesprächspartner mit Termin festlegt. Unterlagen bleiben vertraulich und sind nur den Gesprächspartnern sowie den Mitgliedern des Integrationsteams (Kernteam, s. u.) zugänglich. Der Personalabteilung gegenüber werden nur die stattgefundenen Termine der Beratungs- und Rehabilitationsgespräche als Bestätigung eines Betrieblichen Eingliederungsmanagements mitgeteilt. Werden die Gespräche abgelehnt, wird ebenfalls ohne Begründung allein die Nichtinanspruchnahme des Betrieblichen Eingliederungsmanagements mitgeteilt. ! Dieser Baustein bildet – wie weitere folgende – zugleich ein innerbetriebli-
ches Umsetzungselement der gesetzlichen Anforderungen an das betriebliche Eingliederungsmanagement (§ 84 Abs. 2 SGB IX) bei sechswöchiger ununterbrochener oder wiederholter Arbeitsunfähigkeit innerhalb eines Jahres – zum Betrieblichen Eingliederungsmanagement vgl. auch den Beitrag von Mehrhoff in diesem Band. Zur Rolle von Krankengeldfallmanagern vgl. den Beitrag von Popken in diesem Band. Im Rahmen der angeleiteten kollegialen Fallberatungen vermittelt der Verfasser fallbezogen den Kontakt zu den zuständigen Krankengeldfallmanagern der regionalen AOK.
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7. Betriebliche Gesundheitspartner11 Die Gesundheitspartner sind erfahrene und fachbezogen geschulte innerbetriebliche Ansprechpartner und Begleiter für Fragen wie chronische Krankheit, Suchtvorbeugung und -erkrankung, Konflikte am Arbeitsplatz, Wiedereingliederung, Rehabilitation und Behinderung12. Sie sind als vertrauliche Ansprechpartner zur Neutralität verpflichtet und an der Problemlösung, nicht an der Interessendurchsetzung einer der beteiligten Parteien interessiert. Sie übernehmen durch Einschaltung von Beteiligten oder interessierten Dritten die Fallbegleitung und sichern sich die Kooperation/Zustimmung der anderen Beteiligten. Ihre Fallbegleitung erfolgt nebenamtlich, eine teilweise Freistellung für diese Aufgabe muss – bedarfsabhängig – gewährleistet sein. Sie sind Mitglied des erweiterten Integrationsteams (s. u.) und diesem verantwortlich.
9 Zugleich Umsetzungsbestandteil der gesetzlichen Anforderungen an das be-
triebliche Eingliederungsmanagement (§ 84 Abs. 2 SGB IX).
In einem der beteiligten Unternehmen erhalten die innerbetrieblichen Gesund-
heitspartner (zwei Mitglieder des Betriebsrates – eines davon zugleich Schwerbehindertenvertreter) eine berufsbegleitende Fortbildung zum Betrieblichen Gesundheitsberater und Suchtkrankenhelfer (6 Trainingsblöcke mit jeweils 3 Tagen in ca. 18 Monaten plus angeleitete kollegiale Fallberatung: s. u.). Das Training wird durchgeführt von einem Institut, das bei mehreren Großunternehmen betriebliche Systeme für Suchtprävention und -beratung, einschließlich des Trainings für innerbetriebliche Suchtkrankenhelfer, eingeführt hat und begleitet. Für akute Suchtprobleme ist mit dem Unternehmen übergangsweise Krisenintervention bzw. Coaching der Gesundheitspartner vereinbart. Bei dem anderen Unternehmen werden die Gesundheitspartner (ein Mitglied der Personalabteilung, ein Mitglied des Betriebsrats) durch regelmäßige, vom Verfasser angeleitete kollegiale Fallberatungen anhand der konkreten Praxisfälle schrittweise in ihre Aufgaben eingeführt. Für Suchtfragen bzw. für Sozial-/Schuldnerberatung arbeitet das Unternehmen mit einer regionalen Sucht- und Sozialberatungsstelle des Diakonischen Werkes zusammen, die neben einer unmittelbaren Beratungsterminierung auch 14-tägige Beratungstermine im Unternehmen anbietet. Damit ist im Übrigen für diese beiden (mittleren!) Unternehmen im Bereich der Suchtprobleme ein integriertes Unterstützungs- und Versorgungssystem eingeführt. Es reicht von der betrieblichen Prävention über Krisenintervention und Beratung bis zur ambulanten bzw. stationären Rehabilitation und zur betrieblichen Wiedereingliederung. Innerbetriebliche Akteure (z. B. Führungskräfte, Gesundheitspartner, Integrationsteam) sind genauso einbezogen wie externe Beratungs- und Versorgungseinrichtungen.
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8. Integrationsteam13 Das Integrationsteam (Kernteam) besteht aus den innerbetrieblichen Gesundheitspartnern. Diese halten in regelmäßigen Abständen kollegiale Fallberatungen ab – mit dem Ziel, den Verlauf von Beratungsfällen gemeinsam zu überprüfen und zu verbessern. Diese kollegialen Fallberatungen sind vertraulich. Zu jedem Treffen in der Aufbauphase (ca. 18 Monate ) und später in halbjährlichen Abständen werden externe Fallberater im Sinne einer Coachingfunktion hinzugezogen14. Das erweiterte Integrationsteam umfasst neben dem Kernteam die Unternehmensleitung (evtl. vertreten durch den Arbeitgeberbeauftragten für Behindertenfragen), die Personalabteilung sowie Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung. Hier werden allgemeine und fallbezogene Rehabilitationsaspekte geklärt. Hierzu gehören Datenanalysen bezüglich Erkrankungsdauer und Häufigkeit, Auswertung der Erkenntnisse aus den Unterstützungs- sowie den Beratungsgesprächen, Wiedereingliederungskonzepte, betriebliche Umsetzungen, Änderungen in der Arbeitsorganisation, technische Arbeitshilfen usw. Zu den Sitzungen des Integrationsteams können anlassbezogen Fachleute hinzugezogen werden (Betriebsarzt, Sicherheitsfachkraft, Rentenversicherung, Krankenversicherung, Unfallversicherung). Das Integrationsmanagement kann als Teilstruktur eines umfassenden betrieblichen Gesundheitsmanagements organisiert sein. Wenn zu den Komponenten des betrieblichen Gesundheitsmanagements „Analyse und Kennziffern“, „Organisation und Steuerung“, „Programme und Maßnahmen“ sowie „Überprüfung/Optimierung“ im Unternehmen Erfahrungen vorliegen, wird diese Variante „Teilsystem“ inhaltlich und organisatorisch vermutlich das effektivste Verfahren sein. 15 In den Unternehmen, die bislang eher Einzelaktivitäten in den Feldern Gesundheitsförderung und Arbeitssicherheit durchgeführt haben, kann die Einführung und Umsetzung eines systematischen Zugleich Umsetzungsbestandteil der gesetzlichen Anforderungen an das be-
triebliche Eingliederungsmanagement (§ 84 Abs. 2 SGB IX).
Das Coaching erfolgt als angeleitete kollegiale Fallberatung – in einem
Unternehmen durch den Verfasser und das kooperierende Institut, im anderen Unternehmen durch den Verfasser allein. Die Variante Teilsystem wird vom beteiligten Stahlverarbeitungsbetrieb umgesetzt. Hier existiert seit längerem eine Steuerung der vielfältigen Aktivitäten und Programme durch einen monatlich tagenden Arbeitskreis Gesundheit. In dieses System wird das Integrationsmanagement eingebunden und die Funktion des erweiterten Integrationsteams wird vom Arbeitskreis Gesundheit wahrgenommen.
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9 Abb. 9.1. Betriebliches Integrationsmanagement
Integrationsmanagements auch als Erfahrungsmodell für ein umfassendes betriebliches Gesundheitsmanagement dienen (Variante „Pilotsystem“).16 9. Der Einführungsprozess des Integrationsmanagements Vorbereitung und Einführung bilden selbst einen wichtigen Baustein des betrieblichen Integrationsmanagements, um mittelfristig Erfolg zu ermöglichen. Ein entscheidender Erfolgsfaktor besteht in der Existenz einer autorisierten Akteursgruppe, die die unternehmensspezifischen Ziele, Maßnahmen und Strukturen des Integrationsmanagements sondiert, vorbereitet und begleitet und insofern die erforderliche kontinuierliche Entwicklungs- wie Umsetzungsarbeit leistet. In der Gruppe sollten die wichtigsten innerbetrieblichen Akteure (Leitung, Personalabteilung, Mitarbeitervertretung) sowie interner bzw. externer Sachverstand (z. B. Arbeitssicherheit, Arbeitsmedizin, Krankenversicherung) vertreten sein. Die gemeinsame Erfahrung dieser Gruppe (z. B. als Steuerungsgremium) mit Gesundheitsförderung, Gesundheitsmanagement und/oder Arbeitssicherheit ist zweifel Dieser Weg wird vom beteiligten Kulturbetrieb beschritten.
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los hilfreich. Wichtig sind in jedem Fall „starke“ Primärmotive im Unternehmen, die einen längerfristig tragenden Auftrag für die Gruppe bilden, wie z. B. „es kann so nicht weitergehen“ (mit dem Verlauf von längeren Erkrankungen, mit dem Krankenstand generell); „wir müssen unseren Führungsstil verändern“ (wegen einer Reihe von Vorkommnissen); „wir sollten uns auf den steigenden Anteil von Mitarbeitern über 50 Jahre einstellen“ (Bewältigung des demographischen Wandels); „wir wollen die Gesetzeslage (SGB IX) für uns sinnvoll umsetzen“. Die umfangreiche Beratung der entworfenen Konzeption des Integrationsmanagements mit den Bereichs-/Abteilungsleitern und der Mitarbeitervertretung ist dann die nächste Erfolgsvoraussetzung. Die Arbeitsgruppe sollte den Auftrag haben, umfassende Information zu leisten, Missverständnisse auszuräumen, die vermuteten Umsetzungsprobleme und Verfahrensvorschläge flexibel aufzugreifen, evtl. auch Zwischenstufen der Umsetzung einzubauen. Hier sind die gesamte Arbeitsgruppe bzw. die jeweiligen Repräsentanten in der Akteursgruppe gefordert. Für die wichtigsten Interessengruppen (Führungskräfte und Mitarbeitervertretung) kann in diesem Einführungsprozess ein erheblicher Beratungsaufwand erforderlich sein. Eine glaubwürdige Botschaft der Geschäftsführung/Leitungsebene, dass ein konsensfähiges Umsetzungsprogramm gewollt ist und zuverlässig umgesetzt wird, ist ebenfalls wichtig. Bei aller unternehmenskulturellen Offenheit und Flexibilität in der Umsetzung, die Prämissen des Integrationsmanagements sollten in diesem Einführungsprozess bekräftigt und konkretisiert werden: Stärkung der Beziehungen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern; konsequenter lösungsorientierter Umgang mit mittleren und längeren Erkrankungen im Sinne von Prävention, Frühintervention und Eingliederung; Erhaltung und Verbesserung der Arbeitsfähigkeit im Unternehmen sowie Sicherung der Beschäftigung auch bei schwierigen Konstellationen. Als ein Ergebnis dieses Einführungsprozesses bietet sich auch eine formelle
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Vereinbarung an17. Die Umsetzung des Integrationsmanagements sollte auf Grundlage der in den Bausteinen vorgesehenen Überprüfungs- und Anpassungselemente als kontinuierlicher Weiterentwicklungsansatz gestaltet werden. Zu diesen Elementen gehören: angeleiteter Erfahrungsaustausch der Führungskräfte, Coaching sowie kollegiale Fallberatung der Gesundheitspartner, Beratung der bisherigen Erfahrungen sowie von Datentrends und anderer Informationsquellen im erweiterten Integrationsteam. 9.5 Fazit Mit Hilfe dieser Bausteine soll ein regelhafter, unterstützender und präventiver Umgang im Unternehmen mit Arbeitsunfähigkeit auf der Basis einer zunehmenden Transparenz und Akzeptanz praktiziert werden. Durch frühzeitiges Reagieren und vorsorgendes Handeln aller Beteiligten kann die Anzahl und die Dauer von Erkrankungen vermindert werden. Arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken sollen auf diese Weise soweit wie möglich vermieden werden und bei möglicherweise chronisch verlaufenden Prozessen soll frühzeitig zur Abklärung bzw. zur Unterstützung beigetragen werden. Bei Beschäftigten mit funktionellen Einschränkungen kann dadurch rechtzeitig nach individuellen Lösungen und betrieblichen Anpassungen gesucht werden. Hauptziel ist die Förderung und Erhaltung der Arbeitsfähigkeit einer zunehmend alternden Belegschaft – erforderlichenfalls auch bei dauerhaften gesundheitlichen Einschränkungen. Für die beteiligten Unternehmen ist als Binnenwirkung eine glaubwürdige, aber auch betriebswirtschaftlich ertragreiche Führungskultur sowie auf Seiten der Belegschaft eine erhöhte Unternehmensbindung sowie gesteigertes Mitarbeiterengagement zu erwarten. Damit verbunden werden im Sinne eines erweiterten Personalentwicklungsansatzes optimierte Personalressourcen sowie ein spezifischer Personaleinsatz gefördert. Auf der Grundlage eines – präventiv wie rehabilitativ – erhöhten Gesundheitsniveaus der Beschäftigten bei einem steigenden Alters Im beteiligten Kulturbetrieb führten die ausführlichen Beratungen mit Füh-
rungskräften und Mitarbeitervertretung zu einem Leitfaden mit der Verfahrensbeschreibung der einzelnen Bausteine. Dieses Dokument wurde von Geschäftsführung und Mitarbeitervertretung unterschrieben und hausintern kommuniziert; es wird bei der Umsetzung und ggf. bei Änderungen der einzelnen Programmelemente als Referenzpapier herangezogen. Im Stahlverarbeitungsbetrieb wurde im Rahmen des Einführungsprozesses eine Integrationsvereinbarung nach § 83 SGB IX sowie eine Betriebsvereinbarung zum Eingliederungsmanagement von Geschäftsführung und Mitarbeitervertretung abgeschlossen.
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durchschnitt sind daher zugleich ökonomisch relevante Kostensenkungswie auch Innovationspotenziale erschließbar. Die Bausteine des betrieblichen Integrationsmanagements geben der konfliktbeladenen Thematik Krankenrückgespräche eine konstruktive Wendung, indem diese in ein Frühwarn- und Frühinterventionssystem mit ansteigender Unterstützungsintensität einbezogen werden, welches wiederum ein verändertes Muster von Führung und Unternehmenskultur fördert. Gleichermaßen wird das Thema Eingliederungsmanagement von seiner rechtstechnischen Sicht (einschließlich des Schwerbehinderungsrechts) sowie von den Interessenkonflikten auf Verbandsebene18 auf die pragmatische Unternehmensebene heruntergenommen und auf seinen Kern konzentriert, nämlich betriebliche Prävention und Rehabilitation im und als Betrieb zu praktizieren – durchaus im Blick auf den unternehmerischen Vorteil und auf die Zukunftssicherung und vielleicht auch im Bewusstsein der wiedergewonnenen Handlungsfähigkeit des Teilsystems Betrieb angesichts vielfacher betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Problemverschiebungen in die sozialen Sicherungssysteme. Literatur [1]
[2] [3] [4]
Gemeinsame Empfehlung nach §§ 12 Abs. 1 Nr. 5, 13 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX § 3 SGB, dass Prävention entsprechend dem in § 3 SGB IX genannten Ziel erbracht wird (Gemeinsame Empfehlung „Prävention nach § 3 SGB IX“) vom 16.12.2004. Frankfurt a. M.: Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation. http://www. bar-frankfurt.de/Gemeinsame_Empfehlungen.BAR?ActiveID=1026 Bertelsmann Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung (Hrsg) (2004) Zukunftsfähige betriebliche Gesundheitspolitik. Vorschläge der Expertenkommission. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung Schlette S, Knieps F, Amelung V (Hrsg) (2005) Versorgungsmanagement für chronisch Kranke. Lösungsansätze aus den USA und aus Deutschland. Bonn/ Bad Homburg: KomPart Verlagsgesellschaft Pfaff H, Krause, H, Kaiser, C (2003) Gesundgeredet? Praxis, Probleme und Potenziale von Krankenrückkehrgesprächen. Berlin: edition sigma
Vgl. hierzu auch den Beitrag von Mehrhoff.
KAPITEL 10
Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter in einem Großunternehmen – Ein Beispiel für effektives betriebliches Eingliederungsmanagement E. Knülle
Zusammenfassung. In den Ford Werken GmbH wurde 2001 ein betriebliches Wiedereingliederungsmanagement eingeführt. Es ist inzwischen als Teil des Disability Managements in ein erfolgreiches betriebliches Gesundheitsmanagement integriert und zu einem wichtigen Bestandteil der Firmenkultur geworden. Die Win-Win-Situation für Mitarbeiter und das Unternehmen wird dargestellt und die Prozesse skizziert, die den Erfolg ausmachen. Insbesondere der Abschied vom Defizit-Modell hin zu einem fähigkeitsorientierten Arbeitseinsatz mit einer intensiven externen und internen Netzwerkbildung sind Gegenstand des Beitrages. 10.1 Einleitung L. P. hat Ihre Ausbildung zur Bürokauffrau gerade beendet und ein unbefristetes Arbeitsverhältnis begonnen, als eine Entgleisung Ihrer Stoffwechselerkrankung zu einer fast totalen Erblindung führt, sie ins Dunkel wirft, in eine Zukunft ohne Beschäftigungsperspektive. Nach fast 2-jähriger Arbeitsunfähigkeit arbeitet sie wieder in ihrem erlernten Beruf. Erreicht wurde der Beschäftigungserhalt durch die Zusammenarbeit innerbetrieblicher und außerbetrieblicher Menschen, koordiniert durch das Disability-Management-Team der Ford Werke GmbH. R. T., 46 Jahre alt, schaffte es mit betrieblicher Suchtkrankenhilfe eine Alkoholkrankheit in den Griff zu bekommen, als er an einer Psychose erkrankt. In der Akutphase dieser Erkrankung fügt er sich selbst eine schwere Beinverletzung bei, um nie wieder am Band zu arbeiten. Die dadurch bedingten Fehlzeiten addieren sich zu denen der Vorerkrankungen und es droht eine krankheitsbedingte Kündigung. Seine Ängste können durch intensive Betreuung und Kommunikation mit dem behandelnden niedergelassenen Psychiater überwunden werden und Herr T. arbeitet heute wieder wertschöpfend im alten Bereich. Sein Beschäftigungsverhältnis ist nicht mehr gefährdet. Er ist Beitragszahler und nicht Leistungsempfänger, ernährt seine Familie.
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Abb. 10.1. Das Defizitmodell [6]
Die wenigsten „Fälle“, die durch betriebliches Wiedereingliederungsmanagement in eine sinnvolle und wertschöpfende Tätigkeit zurück gebracht werden, sind so spektakulär. Die geschilderten Fälle zeigen jedoch beispielhaft, wie effektiv ein solcher Prozess sein kann, und füllen die nüchterne Feststellung, dass betriebliches Wiedereingliederungsmanagement zu einer Win-Win-Situation für Unternehmen und Mitarbeiter führt, mit Leben aus. 10.2 Grundthesen Warum betriebliches Wiedereingliederungsmanagement? Warum diese gemeinsame Strategie von Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertretung? Glücklicherweise sind die dramatischen und spektakulären Fälle Einzelschicksale. Schleichend auftretende chronische Erkrankungen sind jedoch häufig und nehmen unter den Gesichtspunkten demographischer Wandel, alternde Belegschaften und längere Lebensarbeitszeit zu. Leistungswandlung und Fehlzeiten sind die Folge. Eine gesellschaftliche Haltung, die Krankheit defizitär definiert und mit negativer Leistungswandlung gleichsetzt, ist der Kern dieses Teu-
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Abb. 10.2. Haus der Arbeitsfähigkeit nach Illmarinnen
felskreises (Abb. 10.1), der in dem Verlust von Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten von Arbeitnehmern endet. Wesentlich verursachende Elemente sind Reibungs- und Zeitverluste im Gesundheitswesen und mangelnde Kommunikation der Beteiligten. Das betriebliche Gesundheitsmanagement hat hier eine wesentliche Aufgabe. Wird ein Arbeitgeber aktiv, kann er entscheidende Kommunikationshilfen z. B. über sachliche Arbeitsplatzdaten leisten und durch sein Engagement Zeiten verkürzen helfen. Verstärkt werden die Effekte des Defizitmodells durch Verlagerung von Arbeitsplätzen, Auswirkung der Globalisierung, alternde Belegschaften und verlängerte Lebensarbeitszeiten. Das unternehmerische Interesse an diesem Thema wird geweckt, sobald der negative Einfluss auf das Betriebsergebnis erkannt ist. Insbesondere Fehlzeiten sind ein wichtiger Kostenfaktor. Die Expertise erfahrener Mitarbeiter wird dem Betrieb mit Leistungswandlung entzogen, unter ent-
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sprechenden Voraussetzungen (Alter und Betriebszugehörigkeit) entstehen Kosten ohne Leistungserbringung. Unter diesen Prämissen ist das betriebliche Wiedereingliederungsmanagement integriert in effektives Gesundheitsmanagement unerlässlich, um Beschäftigungsfähigkeit und Arbeitsfähigkeit zu erhalten. Entsprechend dem „Haus der Arbeitsfähigkeit“ nach Illmarinnen (Abb. 10.2) ist hier ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, um auch nichtgesundheitliche Einflüsse einzuschließen und gesellschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Damit sind alle betrieblichen Strukturen gemeinsam gefordert, an dieser Aufgabe mitzuarbeiten. Der SGB IX in der ersten Version ausschließlich konzipiert, um die Teilhabe Behinderter am Arbeitsleben sicherzustellen, bietet in der aktuellen Fassung einen gesetzlichen Rahmen, um Mitarbeiter mit sich entwickelnder Leistungswandlung frühzeitig zu identifizieren und ihnen rechtzeitig gezielte Prävention zukommen zu lassen. Dies wurde als wichtiges zu lösendes Thema sehr schnell als Aufgabe des betrieblichen Gesundheitsmanagements erkannt. Gemeinsam mit dem IQPR (Institut für Qualitätssicherung in Prävention und Rehabilitation) wurden hier erfolgreich umsetzbare Wege gesucht. Die innerbetrieblichen Lösungen und Strategien der Ford Werke GmbH zum Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit sollen hier geschildert werden. 10.3 Das Ford-Modell 10.3.1 Einführungsgründe In der Ford Werke GmbH existiert heute eine Disability-ManagementOrganisation unter der Leitung eines CDMP (Certified Disability Management Professional) nach den Kriterien des IDMSC (International Disability Management Standards Council). Ausschlaggebend für die Etablierung waren die gemeinsamen Bemühungen von Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertretung Lösungen zu finden, um leistungseingeschränkte Mitarbeiter weiter wertschöpfend zu beschäftigen und Fehlzeiten zu verringern. Auslöser war in erster Linie der Kostendruck im Standort-Vergleich eines global agierenden Unternehmens. Im FILM-Projekt (Förderung der Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter) wurden zusammen mit dem IQPR die Grundlagen für ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement gelegt [1]. Die in der ersten Phase erzielten Erfolge überzeugten das Unternehmen insbesondere durch die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse. Von 500 nicht mehr wertschöpfend tätigen, leistungsgewandelten Mitarbeitern konnte mehr als die Hälfte wieder in normale Produktionsarbeitsplätze integriert wer-
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den, so dass 300 Neueinstellungen mit je einem Kostengegenwert von ca. 60 000 € jährlich vermieden werden konnten [3]. Auffallend war auch eine Reduktion der Fehlzeiten der Betroffenen, nachdem sie wieder mit sinnvollen Tätigkeiten beschäftigt waren: Eine Abwesenheitsrate von ca. 25% passte sich der ihrer Kollegen in der Produktion nach Integration an und sank als Ausdruck der neuen Arbeitszufriedenheit zweistellig. Entscheidend für die Einführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement in allen deutschen Standorten war somit nicht die Existenz einer gesetzlichen Verpflichtung sondern die betriebswirtschaftliche Notwendigkeit. Die sozialen Leistungen der Ford Motor Company weltweit gelten in Tradition der Grundsätze von Henry Ford als vorbildlich und historisch oft richtungweisend. Diese Haltung des Unternehmens gegenüber Mitarbeitern ermöglichte die notwendigen Investitionen. Dass ihre Beschäftigungsfähigkeit im Rahmen dieser Win-Win-Situation gesichert werden sollte, garantierte den Konsens der Sozialpartner. Die betriebsärztliche Versorgung in den Ford-Werken war schon vor Inkrafttreten des Arbeitssicherheitsgesetzes durch eine sehr individuelle Betreuung geprägt; eingebettet in die gesetzlichen Rahmenbedingungen mit einem hohen Stellenwert präventiver Angebote und effektiver Interventionsprogramme, z. B. im Rahmen der Suchtbekämpfung. Deshalb stellte sich auch nicht die Frage: „Was haben wir falsch gemacht?“, als im Rahmen eines Modellwechsels eine beachtliche Zahl nicht wertschöpfend tätiger Mitarbeiter entdeckt wurde, die in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr an produktiven Arbeitsplätzen eingesetzt waren, sondern: „Was können wir ändern? Wie können wir diese Mitarbeiter wieder wertschöpfend einsetzen? Welche Strategien sind geeignet, um Frühwarn-Systeme aufzubauen und den Herausforderungen etwas entgegenzusetzen, wie sie unter den Schlagworten demographischer Wandel, Globalisierung, Verlagerung von Arbeitsplätzen, längere Lebensarbeitszeiten hinreichend bekannt waren und sind.“ 10.3.2 Stellenwert von IMBA Der entscheidende Schritt des Umdenkens wurde mit der Einführung von IMBA1 als Assessment und Profilvergleichsmethode eingeleitet. Vor IMBA erfolgte die Information der Leistungswandlung eines Mitarbeiters aus gesundheitlichen Gründen an den Betrieb mit einem Negativkatalog der Einsetzbarkeit (s. Abb. 10.3). Der Inhalt war negativ formuliert, wurde einem negativen Leistungsbild gleichgesetzt und führte häufig sowohl zu Ausgrenzung und natürlich zu Belastungen von Vorgesetzten, Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt
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Keine Arbeit, die dauerndes Stehen erforderlich macht Keine Arbeit, die häufiges Gehen erfordert Keine Arbeit mit besonderer Belastung des rechten Beines Keine Arbeit mit besonderer Belastung des linken Beines Keine Arbeit im Stehen ohne die Möglichkeit regelmäßig zu gehen Keine Arbeit ohne die Möglichkeit regelmäßig kurzzeitig zu sitzen Keine Arbeit, die dauerndes Sitzen erforderlich macht Keine Arbeit, die Hocken (Kniebeugen) erforderlich macht
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Keine Arbeit mit Belastung der Wirbelsäule Keine Arbeit, die vorwiegend in gebückter Stellung ausgeführt wird Keine Arbeit, die häufiges Bücken erfordert Keine Arbeit, die häufiges schweres Heben und Tragen erfordert Keine Überkopfarbeit (oberhalb des Schultergürtels) Keine Arbeit, die auch nur gelegentliches schweres Heben und Tragen erfordert Keine Arbeit mit einem Greifraum von > 50 cm
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Abb. 10.3. Gesundheitliche Einschränkungen (Ford Werke GmbH)
die diese Empfehlungen umzusetzen hatten. Darüber hinaus war dieser Prozess geprägt von mangelnder Kommunikation und abhängig vom Engagement Einzelner. IMBA erzeugte einen erstaunlichen Effekt: 1. Technisch orientierte Vorgesetzte erkennen sofort die Vorteile einer positiv orientierten Methode, die Anforderungen des Arbeitsplatzes mit den Fähigkeiten vergleicht. 2. Betroffene Mitarbeiter werden mit ihren Fähigkeiten konfrontiert, gewinnen im Defizitkreis zerstörtes Selbstvertrauen zurück und mobilisieren verloren geglaubte Ressourcen. 3. Nicht betroffene Kollegen akzeptieren den Prozess als nachvollziehbar und objektiv, reagieren nicht in dem Maße mit Neid wie in der Vergangenheit. Da IMBA jedoch nur eine Entscheidungshilfe für einen betrieblichen Prozess ist, sind seine Möglichkeiten nur durch das Zusammenspiel der betrieblichen Akteure ausschöpfbar (Abb. 10.4).
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Abb. 10.4. IMBA-Methode [5]
10.3.3 Integrationsteams, Zusammensetzung und Aufgaben So entstand konsequenterweise ein Team in der Zusammensetzung: 1. Betrieblich verantwortlicher Koordinator (Disability Manager), 2. Vorgesetzter, 3. Personalverantwortlicher, 4. Betriebsrat, 5. Betriebsarzt, 6. Schwerbehindertenvertreter. Dieses Team, wie es auch später im SGB IX gefordert wurde, nimmt sich der Mitarbeiter an, die selbst Probleme mit ihrer Arbeit äußern, deren Vorgesetzte glauben Leistungswandlung zu erkennen, deren Fehlzeiten auffällig sind oder die nach längerer Erkrankung an den Arbeitsplatz zurückkehren möchten. Wichtig für das gemeinsame Ziel der Integration und der “Verhinderung von Ausgliederung” sind dabei offener Meinungsaustausch, Konfliktfähigkeit, Vertrauen und gemeinsame Beschlussfindung vor Mitteilung des Ergebnisses an die Betroffenen. Diese bekommen ausreichend Raum ihre eigenen Beschwerden, Vorstellungen und Erwartungen zu äußern und sind nicht gezwungen dem ganzen Team “Rede und Ant-
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wort” zu stehen, sondern können sich dem Teammitglied ihrer Wahl anvertrauen. Die Mitwirkung und das Einverständnis der Betroffenen, sowie das Verstehen des Prozesses sind unverzichtbar. Die medizinischen Befunde, soweit im Team vom betroffenen Mitarbeiter nicht mitgeteilt, kennt in der Regel nur der Betriebsarzt. Er erstellt das Fähigkeitsprofil, in das neben harten Daten (meist als beigebrachte Arztbriefe) besonders sozialmedizinische Aspekte einfließen. Die Erstellung des Anforderungsprofils der Arbeitsplätze erfolgt durch speziell geschulte betriebliche Techniker. Der zeitliche Aufwand ist für beide Profile hoch und kann bis zu einer Stunde dauern. Bei der Diskussion der Profilvergleiche und deren Umsetzung finden besonders Dinge aus dem Arbeitsumfeld Berücksichtigung. Dass dabei auch als wichtige Ursache so mancher Leistungswandlung mangelnde Personalführungskompetenz im Team demaskiert wird, dürfte sicher nicht überraschend sein. Aus der täglichen Arbeit der Integrationsteams, die nach inzwischen 5jähriger Erfahrung von 7 Teams innerhalb der Ford-Werke Deutschlands geleistet wird, ergeben sich Erfahrungen, Probleme und Lösungen, die kontinuierlich Anlass zur Weiterentwicklung des Prozesses und zum Auffinden neuer Wege geben. Die Arbeit der Teams ist unbürokratisch, unterstützt die Mitarbeiter zeitnah und individuell. 10.3.4 Umsetzung des SGB IX §84 Die aktive Rolle des Unternehmens zeigt sich besonders in den Bemühungen Langzeitkranke möglichst früh aus der Arbeitsunfähigkeit zu holen. Die Zeit der Arbeitsunfähigkeit ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg einer Rehabilitation. Mit zunehmender Dauer sinken die Integrationschancen. „Runde Tische“ Durch Beobachtung der Fehlzeiten im Unternehmen und entsprechende Analysen der Ford-BKK werden Mitarbeiter mit auffälligen Arbeitsunfä higkeitszeiten identifiziert, um in regelmäßigen „Runden Tischen“ mit Betriebsarzt, Ärztin des MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) und einem Vertreter der BKK, Möglichkeiten für ein frühes Wiedereingliederungsangebot und dessen Modalitäten zu besprechen. Die Beachtung der ärztlichen Schweigepflicht ist dabei selbstverständlich. Die Kenntnisse der Arbeitsplätze und deren Abgleich mit den klinischen Fakten sind häufig entscheidend für die frühe Rückkehr an den Arbeitsplatz. Die Angebote der frühen Integration erfolgen von die-
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sem „Runden Tisch“ über den MDK an den niedergelassenen Arzt oder über die Krankenkasse direkt an den Versicherten. Initiierungen von Rehabilitationen oder Anregungen für bestimmte Therapiemaßnahmen sind weitere Möglichkeiten. Wirksamstes Instrument ist jedoch die „Stufenweise Wiedereingliederung“, die abgestimmt mit allen Beteiligten eine sehr frühe Arbeitserprobung im Krankheitsverlauf erlaubt. Innerbetrieblich wird die „Stufenweise Wiedereingliederung“ über die Integrationsteams gesteuert und begleitet. Der mögliche Arbeitsplatz wird über den IMBA-Profilvergleich identifiziert, die Vorgesetzten dokumentieren sorgfältig den Eingliederungsverlauf und berichten zusammen mit dem Rehabilitanden über die entsprechenden Fortschritte. Das Ergebnis der Integration, ob erfolgreich oder gescheitert, wird mit Angabe der Gründe dem niedergelassenen Kollegen und allen an der Wiedereingliederung Beteiligten schriftlich mitgeteilt. Nur weniger als 5% dieser Arbeitserprobungen blieben in den vergangenen Jahren ohne Erfolg. Neben diesem „operativen Runden Tisch“ halfen „strategische“ Runde Tische unter Beteiligung der Entscheidungsträger des Sozialversicherungssystems (Rentenversicherung, Krankenkasse, Berufsgenossenschaft, MDK, Integrationsamt, Berufsförderungswerke und Agentur für Arbeit) außergewöhnlich erfolgreiche Netzwerke zu bilden, in denen die unbürokratischen Verbindungen und nicht die Knoten vorherrschen. Neuorientierung von Rehabilitation Hier entstand, unter anderen Lösungen, eine Zusammenarbeit mit der Lahntalklinik, die sicher den Stellenwert der Rehabilitation neu definiert. Der § 84 Abs. 2 des SGB IX verlangt von den Unternehmen Eingliederungsmanagement bei Abwesenheiten von mehr als 30 Arbeitstagen (6 Wochen) in 12 Monaten. Wenn Arbeitsplätze ergonomisch optimal gestaltet sind, die Tätigkeit in ihren Anforderungen den Fähigkeiten entspricht, was kann denn zusätzlich getan werden, um die Beschäftigungsfähigkeit zu erhalten und Arbeitsunfähigkeitszeiten zukünftig zu verringern? Die Lahntalklinik in Bad Ems ist eine orthopädisch ausgerichtete RehaKlinik der Rentenversicherung Rheinland. Orthopädische Erkrankungen sind bislang die häufigsten Ursachen für Arbeitsunfähigkeiten und Leistungswandlung, sowie für die vorzeitige Beendigung eines Arbeitsverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen. Eine besondere Kooperation und Kommunikation mit dieser Klinik erlaubt eine sehr wirksame Sekundärprävention. Über den § 84 SGB IX
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Abb. 10.5. Einleiten von Präventionsmaßnahmen nach SGB IX §84 (Prozesshandbuch Ford Werke GmbH 2006)
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(Abb. 10.5) identifizierte Mitarbeiter mit Skeletterkrankungen bekommen gegebenenfalls ein Reha-Angebot mit der Begründung „Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit“. Den Antrag stellt der Ford-Betriebsarzt, die Vorprüfung erfolgt durch MDK und BKK, die notwendige Genehmigung durch den ärztlichen Dienst der Rentenversicherung. Bei Aufnahme in die Reha-Klinik wird das IMBA-Anforderungsprofil elektronisch von dem entsprechenden Integrationsteam übersandt. Die Rehabilitation orientiert sich zusätzlich an diesen Anforderungen und formuliert entsprechend die sozialmedizinische Empfehlung an sachlichen Informationen über den Arbeitsplatz. Ein elektronisches Fähigkeitsprofil erreicht den Betriebsarzt am Entlassungstag. Dieses Verfahren findet auch Anwendung, wenn der traditionelle Weg in die Reha-Klinik durch den niedergelassenen Arzt erfolgt. Durch diese enge Verzahnung können optimale Rehabilitations- und Wiedereingliederungsergebnisse erzielt werden [4]. Die guten Erfahrungen haben inzwischen zu einer Übertragung der Kooperation auf eine psychosomatische (Eifelklinik Manderscheid) und kardiologische Klinik (Roderbirken) geführt. 10.4 Auditierung Seit Einführung des Disability Management in den Ford Werken GmbH, das immer unter dem Motto „Disability Management by Ability Management“ stand, um so den Abschied vom Defizit-Modell deutlich zu machen, hat sich in der Firma für dieses Thema ein deutlicher Wandel vollzogen. Es ist Bestandteil der Firmenkultur geworden, getragen von Geschäftsleitung, Betriebsrat und Mitarbeitern. Dank intensiver Kommunikation und in erster Linie durch das Beispiel erfolgreich integrierter Mitarbeiter, sowie die erkennbaren positiven Beiträge für das betriebswirtschaftlichen Ergebnis, haben sich die Integrationsteams Vertrauen im Betrieb erworben. Ohne diesen betrieblichen Rückhalt wäre letztendlich die Auditierung des Disability Management durch das IQPR im Mai 2006 nicht so erfolgreich gewesen. Dieses internationale Audit (CBDMA)2 in Deutschland in Lizenz beim HVBG ist „Consensus Based“ (CB); es kann nicht bestanden werden, wenn das Wiedereingliederungsmanagement Fremdkörper im Unternehmen ist oder nur über Hochglanzbroschüren dokumentiert ist. Es reicht auch nicht, wenn Gesundheitsförderung im Betrieb nach dem Motto „Hippie Dippie“ (Akronym für HP-DP = Health Promotion and Disease Prevention [2]) betrieben wird. Grippeimpfungen, Rücken Consensus-Based-Disability-Management-Audit
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Abb. 10.6. Elemente eines betrieblichen Gesundheitsmanagements
schule, Nordic Walking und Ernährungsberatung allein machen kein Betriebliches Gesundheitsmanagement (Abb. 10.6) aus, schon gar nicht im Sinne des SGB IX. Es muss ganzheitlich orientiert sein, integriert in den bewährten Arbeits- und Gesundheitsschutz, sich aber öffnen, um in unserem gegliederten Sozialversicherungssystem durch aktive Unternehmensarbeit verbindend zu wirken, und darf die gesellschaftlichen und sozialen Verpflichtungen nicht vernachlässigen. 10.5 Ausblick Die Bedeutung dieses Audits für ein Unternehmen wird die nahe Zukunft zeigen. Da es sicher Ausdruck einer nachhaltigen Personalpolitik ist, könnte es bei der Börsenbewertung in Form z. B. des Dow Jones Sustainibility Index Berücksichtigung finden. Da der SGB IX Prämien und Nachlässe bei Sozialversicherungsbeiträgen für erfolgreiches Wiedereingliederungsmanagement vorsieht, das CBDMA das bisher einzig valide Messverfahren darstellt, bleibt abzuwarten, welche positiven Reaktionen hier für Unternehmen realisiert werden können.
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Literatur [1] [2] [3]
[4] [5] [6]
Adenauer, Sibylle (2004) Die (Re-) Integration leistungsgewandelter Mitarbeiter in den Arbeitsprozess – Das Projekt FILM bei Ford Köln, angewandte Arbeitswissenschaft 181:1–18 Hadler Notrin M (2004) The last well Person - How to stay well Despite the Health-Care System, McGill Queen´s University Press Quebec Knülle E (2004) Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit durch Vernetzung innerbetrieblicher und außerbetrieblicher Ressourcen – Ein neues Konzept zum Beschäftigungserhalt leistungsgewandelter und behinderter Mitarbeiter, Integrierte Rehabilitation Dokumentation der GVG-Konferenz am 10./11. Nov.2003 in Berlin, S. 49–67 Kühn W, Knülle E (2005) Ergebnisse einer berufsspezifischen Rehabilitation im Rahmen einer engen Verzahnung zwischen Werks- und Betriebsärzten mit Rehabilitationsärzten, Sonderausgabe DRV, Band 64:73–74 Knülle E (2005) Wiedereingliederung als Bestandteil des betrieblichen Gesundheitsmanagements, Schweizerische Rundschau für Medizin, 2005/50:1995–1997 Knülle E (2006) „Disability Management“ – Betriebliche Strategie zum Beschäftigungserhalt älter werdender Belegschaften, die BG 05. Mai 2006:246– 248
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Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit H. Popken
Zusammenfassung. Die AOK hat vor mehr als 10 Jahren ein Fallmanagement für arbeitsunfähige Versicherte eingeführt. Das Krankengeldfallmanagement verfolgt dabei die gleichen Ziele wie das betriebliche Eingliederungsmanagement, zu dem die Betriebe seit dem 1.5.2004 gesetzlich verpflichtet sind: die Überwindung von Arbeitsunfähigkeit und die Reintegration kranker Versicherte in das Arbeitsleben. Etwa 3000 Krankengeldfallmanager der AOK arbeiten dabei eng mit den Versicherten, den Betrieben und ärztlichen Institutionen zusammen. Die Kontaktaufnahme des AOKFallmanagers mit dem erkrankten Versicherten erfolgt auf eigene Initiative und frühzeitig, möglichst noch während der sechswöchigen Entgeltfortzahlungsphase. Die speziell ausgebildeten Berater gehen aktiv auf die Kranken zu und kümmern sich um eine schnelle Behandlung. In persönlichen Beratungsgesprächen informieren sich die Fallmanager über die jeweilige Situation der Versicherten und koordinieren mit ihnen gemeinsam die erforderlichen Behandlungsschritte. Falls notwendig, schalten sie rechtzeitig weitere Experten aus dem Gesundheitswesen ein. Das Konzept ist bei allen AOKs erfolgreich umgesetzt. 11.1 Hintergründe der Einführung Anfang der 1990er Jahre hatte die AOK die höchsten Krankengeldausgaben aller Krankenkassenarten. Außerdem wiesen die AOK-Krankengeldausgaben die höchsten Steigerungsraten aller Leistungsarten auf. Zudem war die Zahl der Krankengeldfälle überdurchschnittlich hoch und nahm stetig zu. Hinzu kamen Faktoren, die die Leistungsqualität beeinflussten und den Handlungsbedarf im Krankengeldbereich verstärkten: x Arbeitsunfähige Versicherte hatten keine festen Ansprechpartner. x Schnittstellenprobleme zu anderen Sozialleistungsträgern waren ungelöst. x Langzeitkranke müssen beim Bezug von Krankengeld immer wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen.
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Je länger die Arbeitsunfähigkeit dauert, desto schwieriger wird die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben.
Diese Entwicklung veranlasste die AOKs Berlin und Bremen/Bremerhaven sowie die früheren AOKs Hamburg und Mannheim im Jahre 1995, den Ausgabensektor Krankengeld gründlich zu analysieren. Ein Vergleich der Organisationsstrukturen in diesen AOKs zeigte, dass die Bestandteile der Krankengeldfallbearbeitung zwar gleich, die Abfolge der einzelnen Bearbeitungsschritte aber nicht eindeutig geregelt war. Um wesentliche Bestandteile der Krankengeldfallbearbeitung, z. B. die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen, die Einschaltung des Medizinischen Dienstes oder die Berechnung und Zahlung des Krankengeldes, kümmerten sich verschiedene Mitarbeiter. Die genannten AOKs entwickelten eine systematische und zielgerichtete Fallsteuerung bei Arbeitsunfähigkeit, die insbesondere auf eine Straffung der Aufbau- und Ablauforganisation und eine Optimierung der Schnittstellen zu anderen Sozialleistungsträgern zielte. Alle Aufgaben der Krankengeldfallbearbeitung wurden auf einen Mitarbeiter, den Krankengeldfallmanager, konzentriert. Die Kunden nahmen das Krankengeldfallmanagement als deutliche Steigerung der Leistungsqualität wahr, und die Krankengeldausgaben wurden bei den „Pilot-AOKs“ spürbar gesenkt. Das bundesweite „Roll-out“ des Konzeptes erfolgte in zwei Wellen in den Jahren 1996 und 1997. Seither ist es als „Krankengeldfallmanagement“ bei allen AOKs etabliert. 11.2 Inhalte des Krankengeldfallmanagements Die Strukturen und Geschäftsprozesse der AOKs wurden den Erfordernissen des Krankengeldfallmanagements angepasst. Die Krankengeldfallmanager (KFM) sind entsprechend der Aufbauorganisation der AOKs vor Ort in Kundenberatungsteams oder KFM-Teams integriert. Die Führungskraft des KFM ist in der Regel die Teamleiterin oder der Teamleiter. Bei einigen AOKs werden die KFM bei ihrer anspruchsvollen Aufgabe von Coaches unterstützt. Das Krankengeldfallmanagement ist in der Regel an größeren Standorten konzentriert. Der Krankengeldkunde kann „seinen KFM“ allerdings nach wie vor gut erreichen. Bundesweit arbeiten ca. 3000 AOKMitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in ca. 1100 Geschäftsstellen als KFM. Mit aktiver Betreuung von arbeitsunfähig erkrankten Versicherten durch besonders qualifizierte KFM und mit einem optimierten Schnittstellenmanagement zu anderen Sozialleistungsträgern wird eine bessere
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit
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Abb. 11.1. Krankengeldfallmanagement der AOK
Leistungsqualität und damit auch ein Beitrag zur Kundenzufriedenheit geleistet. Wesentlicher Bestandteil des Krankengeldfallmanagements ist der direkte Dialog mit den kranken Versicherten. Der KFM kümmert sich allein und eigenverantwortlich um alle Prozesse zur Beschleunigung der Genesung der Versicherten. Vom Beginn der Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende der Krankengeldzahlung steht der KFM den Versicherten mit Rat und Tat zur Seite, koordiniert in Abstimmung mit dem behandelnden Arzt die zügige Behandlung und sorgt für die rechtzeitige Einschaltung von Experten im Gesundheitswesen. Der KFM sichert also fallbezogen, d. h. für jeden einzelnen Versicherten, den optimalen Einsatz der Ressourcen (Abb. 11.1). Damit erreicht die AOK eine wesentliche Qualitätssteigerung und eine größere Wirtschaftlichkeit bei der Leistungserbringung. Mit diesem Qualitätsmanagement einher geht ein qualifiziertes Kostenmanagement, das insbesondere bei der Optimierung der Geschäftsprozesse sowie der internen und externen Schnittstellen ansetzt. Als Beispiele seien hier die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die stufenweise Wiedereingliederung in den Erwerbsprozess genannt. Mit dem Krankengeldfallmanagement verkürzt die AOK die Krankengeldfälle und senkt dadurch die Krankengeldausgaben. Die folgenden Praxisbeispiele sollen verdeutlichen, was die AOK im Krankengeldfallmanagement leistet.
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Die KFM befassen sich täglich mit etwa 40 bis 50 neuen bzw. laufenden Fällen dauerhafter Arbeitsunfähigkeit. Hinter den „Fällen“ verbergen sich Menschen, die neben gesundheitlichen Problemen oft noch viele weitere haben. Die KFM kümmern sich häufig um schwere Schicksale, in jedem Fall aber Menschen, die Hilfe benötigen. Sie teilen ihre Klientel dabei im Prinzip in drei Gruppen auf. Die erste Gruppe umfasst Personen, die z. B. aufgrund einer klassischen Verletzung, einer Operation oder einer veritablen Infektion zwar für mehr als sechs Wochen ausfallen, dann aber völlig gesund an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. In der zweiten Gruppe befinden sich Menschen, die beispielsweise chronisch erkrankt sind und aufgrund der gesundheitlichen Probleme und den psychischen Begleiterscheinungen bis zu einem halben Jahr arbeitsunfähig sind, und das unter Umständen wiederkehrend. Bei den so genannten Langzeitfällen in der dritten Gruppe handelt es sich um Arbeitsunfähige mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die wenig Aussicht auf Heilung oder zumindest Besserung erwarten lassen und für mehr als ein halbes Jahr nicht arbeiten können. Die Definitionen lassen erkennen: Die KFM beschäftigen sich oft mit schwierigen Sachverhalten. Sie analysieren zunächst gründlich jeden Einzelfall. Dazu werden auch Diagnosen und Befunde ausgewertet. Häufig tauchen Fragen auf, die mit den behandelnden Ärzten und den Kliniken oder dem Medizinischen Dienst zu besprechen sind. Anschließend überlegen die KFM gemeinsam mit den Versicherten Schritte, die zur gesundheitlichen Genesung beitragen können. So bei einem 55-jährigen LKWFahrer, der nicht nur unter massiven und dauerhaften Rücken- und Gelenkproblemen litt, sondern auch dem Stress und dem Termindruck des Berufs psychisch nicht mehr gewachsen schien. Nach Rücksprache mit den Ärzten wurde eine Rehabilitationsmaßnahme beantragt, um die gesundheitlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig nahm der KFM im Einverständnis mit dem Versicherten Kontakt zu seiner Firma auf, um auszuloten, ob es möglich sei, den Mann später an anderer Stelle – zum Beispiel in der Disposition – zu beschäftigen, da eine Weiterbeschäftigung als Fahrer nach der Sachlage keinen Sinn machte. Vielfach wird auch eine stufenweise Wiedereingliederung auf den alten oder einen neuen Arbeitsplatz vereinbart. Falls beides nicht klappt, prüfen die KFMs, ob Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben – also berufliche Rehabilitationsmaßnahmen – erforderlich sind. In Fällen, in denen aufgrund der Krankheit und des Lebensalters des Versicherten ein Wiedereinstieg in den Beruf oder eine Umschulung unwahrscheinlich sind, klären die KFMs, ob ein Rentenantrag in Frage kommt. Es ist wichtig, die Lebensumstände der Betroffenen zu erfassen und aus der aktuellen Situation heraus eine möglichst ideale Lösung zu er-
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arbeiten. Kern der Beratung ist, die Ursachen der Erkrankung und die Begleitumstände herauszuarbeiten. Diese sind häufig nicht somatisch, sondern befinden sich im persönlichen Umfeld der Erkrankten, z. B. Scheidung oder Verlust des Ehepartners, Probleme in der Familie oder Mobbing am Arbeitsplatz. Die KFM motivieren alle Krankengeldbezieher mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, möglichst schnell aus ihrer Misere herauszukommen. 11.2.1 Betriebliche Wiedereingliederung Seit 2004 schreibt das Sozialgesetzbuch ein betriebliches Eingliederungsmanagement vor (§ 84 Abs. 2 SGB IX). Die Unternehmen sollen sich intensiv für die Gesunderhaltung aller Mitarbeiter engagieren, die länger oder häufiger arbeitsunfähig sind. Ziel ist es, x die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit der betroffenen Arbeitnehmer schnellstmöglich wieder herzustellen und x präventive Maßnahmen zu ergreifen, die einer erneuten Erkrankung, einer Chronifizierung oder gar einer Behinderung vorzubeugen helfen. Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, muss ein Betrieb – soweit noch nicht vorhanden – Strukturen schaffen, die gezielt diejenigen Beschäftigten erreichen, auf die sich das Eingliederungsmanagement bezieht. Das sind laut Gesetz alle Mitarbeiter, die aufgrund einer lang anhaltenden Erkrankung oder mehrerer unterschiedlicher Erkrankungen innerhalb eines Jahres insgesamt länger als sechs Wochen arbeitsunfähig sind. Der Arbeitgeber hat die Aufgabe, die geeigneten Leistungen oder Hilfen einzuleiten und zu koordinieren. Dies können inner- oder außerbetriebliche Maßnahmen sein, z. B.: x ergonomische Umgestaltung des Arbeitsplatzes, x stufenweise Wiedereingliederung in den Betrieb, x außerbetriebliche Unterstützungsmaßnahmen durch die Rentenversicherung oder die Agentur für Arbeit (medizinische Leistungen zur Rehabilitation oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, wie etwa berufliche Qualifizierungsmaßnahmen). Das betriebliche Eingliederungsmanagement stellt insbesondere kleine und mittlere Unternehmen vor eine neue Herausforderung. Um diese Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können, sind u. a. Kenntnisse über Rehabilitationsmöglichkeiten und den Zugang zu diesen Leistungen sowie Grundwissen im Sozialleistungsrecht erforderlich. Das Krankengeldfallmanagement leistet einen wichtigen Beitrag zum betrieblichen Eingliederungsmanagement, denn es verfolgt das gleiche
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Ziel: die Überwindung von Arbeitsunfähigkeit und die Reintegration Arbeitsunfähiger in den Betrieb. Die KFM gehen, wie erwähnt, eigeninitiativ und frühzeitig auf die Arbeitsunfähigen zu, möglichst noch während der sechswöchigen Entgeltfortzahlungsphase; sie arbeiten eng mit den Versicherten, den Betrieben und ärztlichen Institutionen zusammen. In den individuellen Beratungsgesprächen informieren sich die KFM über die jeweilige Situation der Versicherten und koordinieren gegebenenfalls gemeinsam mit dem Arbeitgeber die einzelnen Behandlungsschritte. Falls notwendig, schalten sie rechtzeitig weitere Experten aus dem Gesundheitswesen ein. Die KFM motivieren die arbeitsunfähig Erkrankten außerdem zur aktiven Mitwirkung an ihrem Genesungsprozess. Dies ist für die Betriebe besonders wichtig, denn das betriebliche Eingliederungsmanagement kann nur mit Zustimmung der Beschäftigten durchgeführt werden. Die AOK-Mitarbeiter können die Versicherten und Betriebe außerdem über in Betracht kommende medizinische Vorsorge- und Rehabilitationsangebote informieren. Sie sind den Versicherten bei der Antragstellung und Inanspruchnahme dieser Leistungen behilflich. Sie vermitteln berufliche oder soziale Rehabilitationsleistungen und bieten Unterstützung für den Fall, dass Leistungen anderer Rehabilitationsträger, z. B. der Unfallversicherung oder Rentenversicherung, erforderlich sind. Für die Arbeitgeber stellen die KFM bei Bedarf Kontakt zur Bundesagentur für Arbeit und zu den Integrationsfachdiensten her. Mit ihrem betriebsindividuell ausgerichteten Service „Gesunde Unternehmen“ betreut die AOK zudem jährlich in rund 3000 Betrieben aller Branchen und Größenordnungen gesundheitsfördernde Prozesse. Nachweislich können durch die qualitativ anspruchsvollen Maßnahmen die Beschäftigten ihren Gesundheitszustand verbessern und Unternehmen ganz erhebliche Krankenstandsrückgänge und Produktivitätsverbesserungen erzielen. Das AOK-Konzept basiert auf der sorgfältigen Analyse der gesundheitlichen Situation im Betrieb. Auf dieser Basis werden unter Einbindung der Beschäftigten Ziele und Maßnahmen vereinbart und deren Erfolg gemessen. 11.2.2 Individuelle Kundenberatung Das Krankengeldfallmanagement der AOK hat unter Beweis gestellt, dass Qualitäts- und Kostenmanagement sehr erfolgreich miteinander einhergehen können. Sowohl die betreuten Kunden als auch die AOK haben große Vorteile daraus gezogen. Als besonders wertvoll hat sich die frühzeitige und fortlaufende Kundenberatung erwiesen. Erst das Beratungsgespräch ermöglicht eine
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit
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Abb. 11.2. Beratung im Krankengeldfallmanagement der AOK
kundenorientierte Fallsteuerung. Hierin geht es primär darum, gemeinsam mit den Versicherten individuell zugeschnittene „Hilfspakete zu schnüren“. Das Beratungsgespräch stellt hohe Anforderungen an den KFM. Daher haben die AOKs die Beratungsanlässe und -verläufe analysiert und den KFMs Hinweise für eine erfolgreiche Gesprächsführung zur Verfügung gestellt. Die Beratungshinweise basieren auf der Erkenntnis, dass es klassische Interventionszeitpunkte gibt, zu denen der KFM das Gespräch mit dem Versicherten suchen sollte. Kundenbefragungen haben zudem gezeigt, dass der entscheidende Zufriedenheitsaspekt der Krankengeldkunden die gute individuelle persönliche Beratung durch feste Ansprechpartner ist. Um die Qualität und Quantität der Beratungsgespräche zu steigern, wurden Standards zu den Beratungsgesprächen festgelegt (Abb. 11.2). Die Gespräche werden in den Fallunterlagen dokumentiert und erfasst. Ein so genanntes Identifikationsgespräch dient dem Kennenlernen des Kunden und des KFM. Der KFM stellt sich dem Kunden als sein fester Ansprechpartner vor und gibt Grundinformationen zum Krankengeld, z. B. zur Berechnung, Höhe und Zahlung, an den Versicherten weiter. Hintergrundinformationen werden gewonnen. Falls es möglich ist, wird bereits im ersten Beratungsgespräch gemeinsam mit dem Kunden das
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Fallsteuerungsziel, z. B. Rehabilitationsmaßnahmen oder stufenweise Wiedereingliederung, festgelegt. In länger andauernden Krankengeldfällen führt der KFM weitere Beratungsgespräche mit dem Versicherten. Nach Festlegung des Fallsteuerungsziels dienen diese der Maßnahmensicherung. Im optionalen Abschlussgespräch können die Abwicklung der letzten Krankengeldzahlung und sich evtl. ergebende Auswirkungen auf das Versicherungsverhältnis geklärt werden. Außerdem kann sich der KFM im Abschlussgespräch ein Feedback zur Beratungsqualität und -zufriedenheit einholen. 11.2.3 Kooperationen Hin und wieder stoßen die KFM an die Grenzen ihrer Fallmanagementmöglichkeiten, insbesondere bei Schwerst- und Langzeiterkrankten. In solchen Fällen greifen die AOKs zunehmend auf externe Dienstleister zurück. Einige Beispiele: Kann ein Versicherter seine bisherige Tätigkeit vermutlich nicht mehr ausüben und sind deshalb Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben angezeigt, lassen sich die AOKs von Berufsförderungswerken unterstützen. Sie erwarten dadurch eine schnellere Klärung und Einleitung der notwendigen Maßnahmen sowie eine dauerhafte Reintegration des Arbeitsunfähigen in das Erwerbsleben. Der Case-Manager des Berufsförderungswerkes übernimmt insbesondere die Beratung des Erkrankten zu beruflichen Perspektiven. Zur Wiedereingliederung arbeitsunfähiger Schwerbehinderter oder diesen Gleichgestellten in den Betrieb schalten die AOKs die Integrationsfachdienste ein. Diese übernehmen z. B. Arbeitsplatzbegehungen und Vermittlungsgespräche zwischen dem Beschäftigten und dem Arbeitgeber. Sie stellen dem Betrieb darüber hinaus Mittel für die behindertengerechte Umgestaltung des Arbeitsplatzes zur Verfügung. Bei der Wiedereingliederung psychisch Kranker oder Suchtkranker arbeitet die AOK mit psychologischen Beratungsdiensten zusammen. Diese bieten Unterstützung durch Information zu speziellen Krankheitsbildern und zu Behandlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten. Die Beratungsdienste vermitteln die Erkrankten an Fachärzte oder in Rehabilitationsmaßnahmen und sorgen für eine rasche Aufnahme in Spezialkliniken. Die Psychologen betreuen die Betroffenen darüber hinaus während und nach Abschluss der eingeleiteten Maßnahmen.
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit
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11.3 DV-Expertensystem Der Erfolg des Krankengeldfallmanagements hängt entscheidend davon ab, den richtigen Arbeitsunfähigkeitsfall zum richtigen Zeitpunkt „anzupacken“. Was vor der Einführung des Krankengeldfallmanagments bei der AOK eher dem Zufall überlassen war, erfolgt heute systematisch mit Hilfe eines PC-gestützten Expertensystems. Die Fallmanagement-Software prüft laufend alle Arbeitsunfähigkeitsfälle (sowohl Entgeltfortzahlungs- als auch Krankengeldfälle) auf Auffälligkeiten. Der KFM soll sich aber nur mit den Fällen beschäftigen müssen, die zum aktuellen Zeitpunkt eine Aktivität erfordern. Jeder „auffällige“ Fall soll zum richtigen Zeitpunkt auf den Tisch des KFM. Dadurch wird eine schnelle Reaktion des KFM ermöglicht. Die Prüfung von Fallauffälligkeiten erfolgt mittels eines umfangreichen Regelwerks. Trifft bei der Auswertung eine Regel zu, wird der Versicherte in das DV-System übernommen. Fälle ohne Auffälligkeiten werden dem KFM nicht angezeigt. Der Fall wird fortan konsequent hinsichtlich weiterer hinzutretender Auffälligkeiten, der Erledigung von Maßnahmen und der Einhaltung von Terminen überwacht. Dabei wird der Fall täglich daraufhin geprüft, welche der Regeln zutreffen. 11.4 Qualitätssicherung Die AOK betreibt im Rahmen des Krankengeldfallmanagements eine permanente individuelle bzw. strategische Qualitätssicherung. Die Qualifizierung der KFM steht dabei als Daueraufgabe im Mittelpunkt. Exemplarisch sind im Folgenden einige Maßnahmen dargestellt. 11.4.1 Qualitätszirkel Die Ergebnisse des Krankengeldfallmanagements werden maßgeblich von drei Erfolgsfaktoren beeinflusst: x Qualifikation und Motivation der KFMs x Interne Kommunikation x Ideenfindung und -transfer für konkrete Problemstellungen Zur Weiterentwicklung dieser Faktoren sind Qualitätszirkel eingerichtet worden. In den Qualitätszirkeln treffen sich die KFM in der Regel monatlich, zum Teil auch überregional. Sie sind ein Forum zum internen Know-howTransfer. Es besteht in diesen Gesprächskreisen die Möglichkeit, Ideen und Anregungen zur wirksamen Fallsteuerung an die Zirkelteilnehmer weiterzugeben.
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Neben der Schaffung eines gut funktionierenden Informationsflusses hat die ständige Qualifikation und Motivation der KFM hohe Priorität. In den Qualitätszirkeln werden den KFMs daher nach Bedarf Qualifizierungsbausteine angeboten, die im Rahmen der Zirkel multipliziert und weiterentwickelt werden können. 11.4.2 Coaching Da im Rahmen des Krankengeldfallmanagements frühzeitig die Grenzen von klassischen Qualifizierungsmaßnahmen erkannt wurden, haben Experten in den Jahren 1997/98 ein Coaching-Handbuch entwickelt. Diese Maßnahme sollte das bereits umfangreiche Qualifizierungsprogramm im Krankengeldfallmanagement um eine prozessorientierte Mitarbeiterförderung und -qualifizierung erweitern. Die intensive Einbindung der Führungskräfte in den Entwicklungsprozess der KFMs ist ein wesentlicher Bestandteil des Konzeptes. 11.4.3 Praxisbegleitung Um die Ziele des Krankengeldfallmanagements zu erreichen, sind qualifizierte Beratungsgespräche und eine konsequente Fallsteuerung notwendig. Nachhaltige Erfolge bei der Steigerung der Fallmanagementund Beratungsqualität sind erfahrungsgemäß durch eine individuelle Begleitung der KFMs am Arbeitsplatz erreichbar. Daher haben nahezu alle AOKs Praxisbegleitungsmaßnahmen im Krankengeldfallmanagement durchgeführt. Der KFM erhält vom Praxisbegleiter – einem besonders qualifizierten Mitarbeiter – ein unterstützendes Feedback zur Fachkompetenz und zum persönlichen Verhalten. Dadurch werden mögliche Unsicherheiten des KFM in der Fallsteuerung und im Gespräch mit dem Kunden erkannt, beseitigt und dadurch das tägliche Handeln erfolgreicher gestaltet. 11.4.4 Fallkonferenzen In den Fallkonferenzen besprechen Mitarbeiter mit unterschiedlichen Aufgabenstellungen ausgewählte Krankengeldfälle. Dabei werden die differenzierten Betrachtungsweisen der einzelnen Mitarbeiter für den Krankengeldfall so fokussiert, dass der einzelne Krankengeldbezieher optimal betreut wird. Die Intervalle der Konferenztermine orientieren sich an den organisatorischen Gegebenheiten der AOK. Grundsätzlich können innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten alle in Betracht kommenden
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit
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Krankengeldfälle einer Geschäftsstelle in der Fallkonferenz besprochen werden. Die Fallkonferenz dient auch der Qualifizierung der KFMs. Insbesondere durch die Beteiligung von KFM aus anderen Geschäftsstellen als „Gast-KFM“ trägt die Fallkonferenz zum Know-How-Transfer bei. 11.5 Controlling, Analysen und Berichte Die AOK hat im Rahmen des Krankengeldfallmanagements ein umfangreiches bundesweites Berichtswesen eingerichtet. Ein eigens dafür entwickeltes Controlling-Tool trägt zur Erreichung der Ziele im Krankengeldfallmanagement bei. Die relevanten Kennzahlen können auf AOK-, Regionaldirektions- und Geschäftsstellenebene sowie, nach Absprache mit dem Personalrat, auf Team- und KFM-Ebene abgebildet werden. Die Krankengeldausgaben, -tage, -fälle und -laufzeiten werden monatlich an den AOK-Bundesverband gemeldet, der die Berichte zusammenführt und an die AOKs zurückspielt. Ein Benchmarking im Krankengeldfallmanagement ermöglicht den AOKs Best-practice-Betrachtungen auf Bundes-, Landes- und Regionalebene. Es ermöglicht insoweit, den Stand des eigenen Unternehmens zu reflektieren. Die relevanten Krankengeld-Kennzahlen (Ausgaben, Tage, Fälle) sind von strukturellen Merkmalen (passive Einflussgrößen) bestimmt. In Anlehnung an die Risikostrukturausgleichs-Systematik werden um Strukturmerkmale bereinigte AOK-spezifische Durchschnittswerte (Normwerte) gebildet. Diese Normwerte werden den entsprechenden Istwerten auf Landes-, Regionaldirektions- und Geschäftsstellenebene gegenübergestellt. Anschließend werden die Norm-Ist-Abweichungen berechnet, durch die eine Standortbestimmung der einzelnen AOKs sowie der nachgeordneten Organisationseinheiten möglich ist. 11.6 Ergebnisse des Krankengeldfallmanagements Mehrere Befragungen von Krankengeldkunden haben seit 1997 den Nachweis geliefert, dass der AOK mit dem Krankengeldfallmanagement die Kombination von Verbesserung des Kundenservices und der Kostensteuerung gelungen ist. Letztmalig wurde eine umfangreiche Befragung von Krankengeldkunden aller AOKs in den Monaten April bis Juni 2005 durchgeführt. Die Ergebnisse bestätigen das erfolgreiche Engagement der AOK im Krankengeldfallmanagement. Den KFM wird insbesondere bestätigt, dass die Beratungsqualität ein hohes Niveau hat (Abb. 11.3).
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Abb. 11.3. Beratungsqualität im Krankengeldfallmanagement der AOK
Abb. 11.4. Krankengeldausgaben je AKV-Mitglied 1996 bis 2005
Fallmanagement der AOK bei Arbeitsunfähigkeit
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Die Krankengeldausgaben der AOK beliefen sich im Jahre 1996 auf etwa 8,5 Mrd. DM (entsprechend 4,35 Mrd. Euro). Bis zum Jahre 2005 konnten die Krankengeldausgaben auf 1,89 Mrd. Euro gesenkt und somit mehr als halbiert werden (-56,6%). Die Ausgabenentwicklung ist allerdings begünstigt durch Gesetzgebung und wirtschaftliche Rahmenbedingungen: x Zum 1.1.1997 wurde die Krankengeldhöhe gesetzlich um 10% abgesenkt. x Der Krankenstand ist seit Jahren rückläufig. x Ältere Arbeitnehmer werden zunehmend „frühverrentet“. Zudem spielen die Mitgliederverluste der AOK eine Rolle bei der absoluten Höhe der Krankengeldausgaben. Doch obwohl Gesetzgebung und wirtschaftliche Rahmenbedingungen einheitlich für die gesamte GKV gelten, haben sich die Pro-Kopf-Ausgaben der AOK im Krankengeldbereich seit der Einführung des Krankengeldfallmanagements im Jahre 1996 deutlich positiver entwickelt als bei ihren Mitbewerbern. Die AOK-Ost weist im GKV-Vergleich seit Jahren die niedrigsten Krankengeldausgaben je AKVMitglied (ohne Rentner) aus. Im Zeitraum 1996 bis 2005 sanken die ProKopf-Ausgaben um 50,4% (GKV-Ost = 35,5%; Abb. 11.4). Die AOK-West hat den Abstand zum GKV-Durchschnitt seit 1996 erheblich verringert. Die Ausgaben je AKV-Mitglied gingen um 43,5% zurück (GKV-West = 32,4%; Abb. 11.5).
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Abb. 11.5. Krankengeldausgaben je AKV-Mitglied 1996 bis 2005
KAPITEL 12
Frühindikatoren für Langzeit-Arbeitsunfähigkeit – Entwicklung eines Vorhersage-Instruments für die betriebliche Praxis W. Bödeker · K. Zelen
Zusammenfassung. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit gilt als ein besonderes gesundheitspolitisches Problem, da hiermit gleichzeitig negative Auswirkungen für die Beschäftigten, die Unternehmen und die Sozialversicherungsträger verbunden sind. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit hat daher einen hohen Stellenwert in der Prävention. Dabei wird auch angestrebt, spezifische Risikokonstellationen zu erkennen, um frühzeitig intervenieren zu können. Frühindikatoren der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit würden helfen, besonders rehabilitationsbedürftige Beschäftigte zu identifizieren und sodann durch gezielte Präventionsmaßnahmen eine drohende Chronifizierung von Krankheiten bzw. ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu verhindern. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. In der Gesamtbetrachtung indes werden die stärksten Zusammenhänge mit dem Lebensalter, dem Sozialstatus sowie der Anzahl und Dauer der vorangehenden Arbeitsunfähigkeit beobachtet. Hierbei gilt, je mehr Arbeitsunfähigkeitsfälle pro Jahr auftreten, desto wahrscheinlicher ist eine Langzeit-Arbeitsunfähigkeit im Folgejahr. Diese Erkenntnisse eröffnen die Möglichkeit, Versicherte mit einem erhöhten Risiko für eine LangzeitArbeitsunfähigkeit auch ohne Rückgriff auf die Daten der Krankenkassen zu identifizieren. 12.1 Einleitung Langzeit-Arbeitsunfähigkeit gilt als ein besonderes gesundheitswissenschaftliches und sozialpolitisches Problem, da hiermit gleichzeitig negative Auswirkungen für die Beschäftigten, die Unternehmen und die Sozialversicherungsträger verbunden sind. Für die Beschäftigten bedeutet Langzeit-Arbeitsunfähigkeit in erster Linie, unter einer in der Regel schwerwiegenden Erkrankung zu leiden, nicht zu wissen, ob die Erkrankung vollständig geheilt und ob ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit wieder hergestellt werden kann.
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Unternehmen verlieren durch Langzeit-Arbeitsunfähigkeit aufgrund der häufig unkalkulierbaren Dauer und ungewissen Wiedereingliederungsmöglichkeiten der betroffenen Beschäftigten nicht nur bewährte und qualifizierte Mitarbeiter, sondern auch die Basis einer verlässlichen Personalplanung. Neuerdings wurden den Arbeitgebern zudem Pflichten bei der aktiven Vorbeugung und Überwindung von LangzeitArbeitsunfähigkeit zugewiesen. So regelt das Sozialgesetzbuch IX im § 84 (2) „Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber ... wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann.“ Für die Sozialversicherungsträger wiederum ist Langzeit-Arbeitsunfähigkeit u. a. relevant, da hierdurch Krankengeldzahlungen und Rehabilitationsleistungen erforderlich werden, die mit nicht unerheblichen Ausgaben verbunden sind. Obwohl Langzeit-Arbeitsunfähigkeit nur ca. 5% aller Arbeitsunfähigkeitsfälle ausmacht, entfallen hierauf 41% der Arbeitsunfähigkeitstage. In 2004 entstanden damit für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bei 5,5 Fällen je 100 Mitgliedern und einer durchschnittlichen Falldauer von 78 Tagen Krankengeldzahlungen von 147 Euro je Mitglied und 3015 Euro je Fall [4]. Von den insgesamt 6,4 Milliarden Euro Krankengeldleistungen [3] sind nach Schätzungen wenigstens 23% auf arbeitsbedingte Belastungen zurückzuführen [2]. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit ist für weitere Zweige der Sozialversicherung relevant. So trägt die Rentenversicherung nicht nur den größten Anteil an den Rehabilitationsleistungen, sondern ist vielmehr auch davon betroffen, dass Langzeit-Arbeitsunfähigkeit häufig ein Durchgangsstadium zur Erwerbsunfähigkeit [7] darstellt. Die Unfallversicherung wiederum ist alleiniger Kostenträger, sofern die Langzeit-Arbeitsunfähigkeit aus einem Arbeitsunfall oder einer Berufskrankheit resultiert. Es ist somit nahe liegend, dass Langzeit-Arbeitsunfähigkeit einen hohen Stellenwert in der Prävention einnimmt. Neben der Verbreitung der allgemeinen salutogenen Ansätze der betrieblichen Gesundheitsförderung wird dabei angestrebt, spezifische Risikofaktoren oder Risikokonstellationen zu erkennen, um frühzeitig intervenieren zu können. Frühindikatoren der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit würden helfen, besonders rehabilitationsbedürftige Beschäftige zu identifizieren und sodann durch gezielte Präventionsmaßnahmen eine drohende Chronifizierung von Krankheiten bzw. ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben zu verhindern. In verschiedenen Projekten wurde erfolgreich erprobt, ob Leistungsdaten der Krankenkassen als Frühindikatoren verwendet werden können [10]
Frühindikatoren für Langzeit-Arbeitsunfähigkeit
189
und hieraus sind bereits Kooperationen zwischen Krankenversicherung und Rentenversicherung hervorgegangen (z. B. Projekt „Petra“). Das Projekt „Vorhersagbarkeit von Langzeit-Arbeitsunfähigkeit“ der Initiative Gesundheit & Arbeit (IGA)1 verfolgt indes ein anderes Ziel. Hier soll versucht werden, ein Vorhersageinstrument von Langzeit-Arbeitsunfähigkeit für Unternehmen zu entwickeln. Das Instrument soll daher ohne Rückgriff auf die Daten der Krankenkassen auskommen und z. B. im betriebsärztlichen Alltag eingesetzt werden. Den Versicherten würden vom Betriebsarzt einige Fragen zur Arbeitsunfähigkeit der Vorjahre gestellt werden. Aus den Antworten wird die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der eine künftige Langzeit-Arbeitsunfähigkeit zu erwarten ist. Der Betriebsarzt könnte sodann bei den Beschäftigten mit hohem Risiko eine ursachenbezogene Analyse beginnen. Die Analyse ließe erkennen, welche beruflichen oder außerberuflichen Belastungen im Kontext der drohenden Langzeit-Arbeitsunfähigkeit gesehen werden müssen und daher einer dringlichen Intervention bedürfen. Die Entwicklung des Vorhersageinstruments beginnt mit einer Untersuchung, welche Faktoren eine Langzeit-Arbeitsunfähigkeit besonders beeinflussen. Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf den Ergebnissen dieses IGA-Projektes. Zunächst soll die Bedeutung von Langzeit-Arbeitsunfähigkeit auch im Hinblick auf die zugrunde liegenden Erkrankungen hervorgehoben werden. Im nächsten Schritt wird dargestellt, welche Zusammenhänge zwischen Langzeit-Arbeitsunfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit in den Vorjahren bestehen. Für diese Untersuchungen wurden anonymisierte Arbeitsunfähigkeitsdaten für ca. 56 000 Versicherte der BKK Aktiv verwendet. Einbezogen wurden Versicherte, die über den Zeitraum von 2000 bis 2004 durchgehend versichert waren, so dass die Arbeitsunfähigkeitsdaten längsschnittlich über einen Zeitraum von 5 Jahren vorlagen. Versicherte mit einer Langzeit-Arbeitsunfähigkeit (d. h. > 42 Tage) im Jahre 2004 wurde den anderen Versicherten hinsichtlich des Arbeitsunfähigkeitsgeschehens der Vorjahre gegenübergestellt. Durch multiple logistische Regression wurden relative Langzeit-AU-Risiken als odds ratios unter Adjustierung für verschiedene Störgrößen wie Alter und Sozialstatus geschlechtsspezifisch bestimmt. Die Stichprobe setzte sich zu 39% aus Frauen zusammen. Ca. die Hälfte der Versicherten war jünger als 40 Jahre, wobei Männer durchschnittlich etwas älter waren. Bei beiden Geschlechtern verfügten Bei der Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA) handelt es sich um eine dauerhaf-
te Kooperation des BKK Bundesverbands, des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) und des AOK-Bundesverbandes (www.iga-info. de).
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mehr als die Hälfte über eine abgeschlossene Berufsausbildung ohne Abitur als höchsten Ausbildungsstand. 12.2 Was ist Langzeit-Arbeitsunfähigkeit und wer ist besonders betroffen? Dem Begriff der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit liegt keine medizinische, sondern eine sozialrechtliche Definition zugrunde. In Deutschland wird hierunter üblicherweise Arbeitsunfähigkeit von mehr als 42 Tagen verstanden und damit an den Beginn der Krankengeldzahlungen der Krankenkassen angeknüpft, die die in der Regel 6-wöchige Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber ersetzt. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit erleiden etwa 5% aller beschäftigten Versicherten. Im Gegensatz etwa zu Schweden [7] sind in Deutschland Frauen in etwas geringerem Maße betroffen als Männer. Deutlich lässt sich der Zusammenhang zwischen Langzeit-Arbeitsunfähigkeit und dem Lebensalters beobachten. Während nur 2% der unter 20-Jährigen jährlich eine Langzeit-Arbeitsunfähigkeit erleidet, sind es 8% der über 50- bis 59Jährigen. Dieser Alterseffekt tritt bei beiden Geschlechtern auf und ist auch international – trotz unterschiedlicher Definitionen von LangzeitArbeitsunfähigkeit – vergleichbar [9]. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit steht zudem im Zusammenhang mit dem Sozialstatus der Versicherten. So erleiden ca. 6% der Versicherten ohne Ausbildung jährlich eine LangzeitArbeitsunfähigkeit, aber nur 3% der Beschäftigten mit Hochschulreife/ Abschluss. Auch dieser Zusammenhang gilt für beide Geschlechter. Langzeit-Arbeitsunfähigkeit tritt mit besonderer Häufung in Folge bestimmter Krankheiten auf. Wie aus Tabelle 12.1 ersichtlich, geht ca. ein Drittel der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit mit Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems, 18% mit Verletzungen/Vergiftungen und 13% mit psychiatrischen Erkrankungen einher. Die Rangfolge ist für Männer und Frauen verschieden. Zwar stehen Erkrankungen des Muskel-SkelettSystems immer an erster Stelle, bei Frauen folgen aber die psychiatrischen Erkrankungen mit 17% auf Platz 2. Als bedeutendste Einzeldiagnosen treten Rückenschmerzen (9%), depressive Episoden (4%) und „sonstige Bandscheibenschäden“ (4%) auf. Im Hinblick auf die Umsetzung des o. g. § 84 wird von Unternehmen hervorgehoben, dass in den betrieblichen EDV-Systemen oft nur die Dauer der einzelnen Arbeitsunfähigkeitsfälle erfasst würde, während für die Umsetzung der gesetzlichen Regelung nunmehr die kumulierte Erfassung über ein Jahr nötig sei. Zudem wird gelegentlich die Sinnhaftigkeit der Regelung angezweifelt, da über die kumulierte Erfassung der Arbeitsunfähigkeit beliebige Erkrankungen zusammengerechnet werden, ohne dass sich hieraus ein tatsächlicher Bedarf für
191
Frühindikatoren für Langzeit-Arbeitsunfähigkeit Tabelle 12.1. Verteilung der Langzeit-Arbeitsunfähigkeit nach Diagnosegruppen Männer ICD 10 Hauptgruppe
Anzahl
Infektionen Neubildungen Blutbildende Organe Endokrines System Psyche Nervensystem Auge Ohr Kreislauf Atemwege Verdauungssystem Haut Muskeln und Skelett Urologie Schwangerschaft Perinatale Affektionen Angeborene Anomalien Unspezifische Symptome Verletzungen/ Vergiftungen Sonstige Inanspruchnahme Alle
Frauen
Gesamt
%
Anzahl
%
Anzahl
21 52 17 12 185 43 8 10 139 62 103 23 572 16 – – 2 72 370
1,22 3,03 0,99 0,70 10,77 2,50 0,47 0,58 8,09 3,61 6,00 1,34 33,29 0,93 – – 0,12 4,19 21,54
6 50 47 9 170 30 7 4 36 21 39 10 278 33 66 3 5 40 122
0,61 5,05 4,75 0,91 17,17 3,03 0,71 0,40 3,64 2,12 3,94 1,01 28,08 3,33 6,67 0,30 0,51 4,04 12,32
27 102 64 21 355 73 15 14 175 83 142 33 850 49 66 3 7 112 492
11
0,64
14
1,41
25
1718
100,00
990
100,00
2708
Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis einer Stichprobe von BKK-Versicherten
ein betriebliches Wiedereingliederungsmanagement ergäbe. Es ist also offenbar interessant zu wissen, wieviel Arbeitsunfähigkeitsfälle durchschnittlich einer kumulierten Langzeit-Arbeitsunfähigkeit zugrunde liegen. Tatsächlich zeigt sich, dass nur bei ca. 30% der Versicherten eine jährliche Arbeitsunfähigkeit von mehr als 42 Tagen auf einen einzigen Arbeitsunfähigkeitsfall zurückgeht, mehr als ein Viertel weisen mehr als drei Arbeitsunfähigkeits-Fälle auf. D. h. würde man für die Umsetzung des § 84 auf die Summation der Arbeitsunfähigkeitsfälle verzichten, gingen 70% der gesetzlichen Regelungsfälle verloren. Allerdings werden durch die bestehende Regelung auch eine Vielzahl wiederholter akuter Erkrankungen identifiziert. Zum Beispiel stellen bei denjenigen, die auf-
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Tabelle 12.2. Arbeitsunfähigkeitsfälle in den Vorjahren bei Versicherten, die 2004 Langzeitarbeitsunfähig waren 2000 AU-Fälle
N
keine AU 1 AU 2 AU 3 AU 4 bis 10 AU Mehr als 10 AU
774 709 476 303 316 – 2578
Gesamt
%
2001
2002
2003
2000–2003
N
%
N
%
n
%
n
%
30 27 18 12 12 –
727 707 504 326 309 5
28 27 20 13 12