Das neue Abenteuer 398
Heinz Beck: Fahndung nach IG 44-17
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
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Das neue Abenteuer 398
Heinz Beck: Fahndung nach IG 44-17
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustrationen von Günther Lück © Verlag Neues Leben, Berlin 1979 Lizenz Nr. 303 (305/76/79) LSV 7503 Umschlag: Günther Lück Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 642 806 1 DDR 0,25 M
Dienstag morgen, sieben Uhr fünfundvierzig. Nebenan klappte die Tür, Hauptmann Torsten war gekommen. Sein Mitarbeiter, Leutnant Groß, einen Kopf kleiner als Torsten, aber untersetzt, mit wuchtigem Kinn und lebhaften Augen, hatte schon darauf gewartet. Er legte seine Notizen zusammen und ging zur morgendlichen Beratung zu Torsten hinüber. "Setz dich!" sagte Torsten und drückte mit Daumen und Zeigefinger seine breitrandige Brille dichter an die Augen. Trüge er die Brille nicht, stellte Groß immer wieder fest, wirkte sein Gesicht schmal. Der Hauptmann, von Beruf Autoschlosser, stand im zweiunddreißigsten Dienstjahr. Er und seine Mitarbeiter befaßten sich mit der Aufklärung von Straftaten, die zur Gefährdung von Leben und Gesundheit anderer führen konnten, zum Beispiel mit Trunkenheit am Lenkrad, Autodiebstählen oder unbefugtem Benutzen von Kraftfahrzeugen. Wie an jedem Morgen stelzte Torsten jetzt zur Tür des Nebenzimmers und rief seinen Oberleutnant: "Genosse Gruner, bitte!" Gruner, korpulent, rundschädelig, mit rosigem Gesicht und graumeliertem Haar, war der Dritte im Bund, der Kriminaltechniker der Kommission. Sein Alter war nur schwer bestimmbar. Während er seinen Platz einnahm, zwinkerte ihm Groß zu. Dieser Blick bezog sich auf Torsten, dessen morgendliche Anstalten einem Ritual glichen. Die beiden wußten genau, was aufeinanderfolgte. Es war immer wieder verblüffend. "Hm .!" brummte Torsten auch schon vielsagend. Ebensogut hätte er feststellen können: Genossen, euch ist klar, was man von uns erwartet. Erfüllen wir unsere
Pflicht! Groß und Gruner wußten das Gebrumm zu deuten. Dann besprachen sie, wie an jedem Morgen, ihre Arbeit, faßten Entschlüsse und kontrollierten bereits getroffene Maßnahmen. Da klopfte jemand an die Tür. Herein trat ein großer, dürrer Mann mit angegrautem Haar und einer mächtigen Hakennase. Scheu blickte er sich um. Schließlich stellte er sich vor: "Paul Kuhn! Ich möchte Anzeige erstatten." Groß führte ihn ins Nebenzimmer. Der Mann war sehr gefaßt. Ohne Hast brachte er seine Klage vor. Seit gestern besaß er einen funkelnagelneuen dunkelroten Wartburg. "Endlich!" sagte er. Und nach einer Pause: "Heute nacht wurde er mir geklaut." "Der Wagen hat doch ein Lenkschloß?" fragte Groß. "Hatten Sie das Steuer nicht gesperrt?" "Lenkschloß?" fragte Kuhn zurück. "Ist alles noch so neu für mich, sicher habe ich das vergessen." "Na schön", sagte Gruner und stellte noch ein paar Fragen: nach möglichen Zeugen, die etwas beobachtet haben könnten, nach vermutlichen Tätern. Kuhn gab sich Mühe. "Bisher ist so was bei uns da draußen noch nicht passiert. Vielleicht hat einer aus den Häusern was gesehen. Oder aus der Kneipe bei uns gegenüber, das wäre schon möglich. Die Bauarbeiter vom Neubaugebiet, die sind ja da zu Hause. Und wenn von denen mal einer . Wer weiß was?" sagte er und hob hilflos die Schultern. Groß entließ ihn. Eine Stunde später klapperten die Fernschreiber, klingelten die Telefone in den Dienststellen. Die Fahndung war eingeleitet; operative Fahndungsgruppen und Verkehrsstreifen suchten systematisch in Straßen und auf
Parkplätzen nach dem Wartburg. Indessen begann Leutnant Groß auftragsgemäß mit den Ermittlungen. Er fuhr in die Marzahner Siedlung zur Besichtigung des Tatortes. Die Siedlung grenzte unmittelbar an das Neubaugebiet des künftigen Stadtbezirks. Hier, dicht neben einem Bauzaun, befand sich auch die Gaststätte "Idylle", die aus ihrem bescheidenen Dasein zum Mittelpunkt, vor allem für die Bauarbeiter, aufgerückt war. Die "Idylle" lag nicht mehr als hundert Meter vom Tatort, dem Häuschen Kuhns, entfernt. Groß ging von Parzelle zu Parzelle, redete mit den Leuten und war bemüht, ihr Interesse an der Sache zu wecken, doch seine Nachforschungen brachten ihm keine verwertbaren Hinweise. Einige hatten den neuen Wartburg Kuhns zwar gesehen, das sprach sich herum. Aber sonst? Niemand hatte darauf geachtet, ob jemand spätabends noch mal damit weggefahren war. Und wenn, wer hätte Verdacht bei dem Geräusch schöpfen sollen? Warum sollte Kuhn nicht sein Auto benutzen? Verständlich! Auch die Befragung von Gottfried Langhans, dem Wirt der Gaststätte "Idylle", führte zu keinem brauchbaren Hinweis. Allerdings hatte Groß den Eindruck, daß Langhans einen Augenblick zu lange mit der Antwort zögerte. "Ich weiß wirklich nichts", sagte der Wirt. "Möglich ist vieles, aber . Ich kann ja nicht jedem nachlaufen . Tut mir leid." Langhans wußte mehr! Achtung, Leutnant! sagte sich Groß, die "Idylle" mußte er im Auge behalten. Außerdem war das der einzige Ort in dieser abgelegenen Gegend, wo nach Feierabend Leute zusammenkamen. - Ein mageres Ergebnis - auch für den Anfang. Nach seinen Angaben hatte Kuhn das Fahrzeug vollge-
tankt geparkt. Somit war ein größerer Fahrtradius oder längeres Benutzen möglich, allerdings kam das in solchen Fällen selten vor. Und daß Wagen einfach verschwanden, war noch seltener, denn dazu fehlten die Voraussetzungen in der Republik, es gab keine Lücke mehr. Der Wartburg mußte also gefunden werden; fragte sich nur, wo er jetzt rumstand.
Nun war schon Donnerstag, und noch immer lief die Suche; jetzt als Dauerfahndung. Das bedeutete, daß sich das Fahndungsersuchen nach dem dunkelroten Wartburg mit dem polizeilichen Kennzeichen IG 44-17 nunmehr über die gesamte Republik erstreckte. In der Hauptstadt herrschte naßkaltes, windiges Herbstwetter. Mehr Nebel als Regen tauchte die Straßen in gelblichgrauen Dunst. Die Dächter der Hochhäuser waren kaum noch zu sehen, sonst blanke Fenster zeigten sich als trostlose schwarze Löcher. Das Pflaster war naß, schmierig, und im Rinnstein rieselten dünne Bächlein. Hier und da brach sich der Schein einer Lampe, die Fahrzeuge fuhren des Nebels wegen mit Stadtlicht. Gegen Abend war es wie in einer Waschküche. Kurz nach achtzehn Uhr klingelte das Telefon in Torstens Wohnzimmer, und wie schon so oft drückte Inge Torsten ihrem Mann den Hörer mit der Bemerkung in die Hand: "Dienstgespräch, für dich, Albert!" Während Torsten seine Brille höher auf die Nase schob und sich meldete, hörte Inge, wie fast immer, Torsten Fragen stellen. "Verkehrsunfall? - Wo? - Flüchtig?" Dann brummte er sein bedeutungsvolles "Hm!" und sagte entschieden: "In Ordnung, ich komme! - Benach-
richtigen Sie sofort Oberleutnant Gruner! Sagen Sie ihm, ich hole ihn ab! Und rufen Sie inzwischen das Krankenhaus an. Fragen Sie, ob Lebensgefahr besteht!" Als Torsten schon mit Hut und Mantel im Korridor stand, sagte er: "In zwei Stunden bin ich wieder da" und suchte dann wie immer nach dem Wagenschlüssel. Sobald Torsten die Haustür hinter sich geschlossen hatte, konzentrierten sich seine Gedanken auf den bevorstehenden Einsatz. Gruner erwartete ihn bereits auf der Straße. Torsten kannte Gruners berechtigte Forderung, bei jedem neuen Fall nach Möglichkeit von Anfang an hinzugezogen zu werden, ganz gleich, ob am Tage oder in der Nacht. Eine umfassende Spurensicherung war dessen Metier. Er kannte sich aus, und er hatte mit seiner Forderung recht. Seine Arbeit war unerläßlich für die Aufklärung einer Straftat und die Beweisführung. Zehn Minuten später trafen sie am Unfallort ein. Verkehrspolizisten hatten umsichtig die Unfallstelle abgesperrt. Die Umrisse des Körpers eines Menschen, seiner Lage nach dem Unfall entsprechend, waren auf dem Asphalt der Straße markiert. Der Unfallwagen, ein alter Wartburg, Baujahr 1960, mit dem polizeilichen Kennzeichen RB 13-31 stand noch unberührt an seinem Platz. Hauptmann Torsten wandte sich den Zeugen zu. Seine Fragen kamen ungewollt knapp. Ihm lag angesichts des Unfalls nichts daran, unnötige Worte zu machen. Er fand den Schlosser Friedrich Gottschalk heraus. "Ein Mädchen, etwa elf Jahre", sagte Gottschalk, "stand neben mir am Zebrastreifen, den Kopf von einem Regenschirm verdeckt. Das Kind wollte wie ich zur anderen Straßenseite. Die Allee war schlecht zu übersehen, der
Nieselregen, der Nebel. Als ich dann loslief, rannte das Mädchen, mit seinem Regenschirm voran, an mir vorbei, direkt in die Spur des Wagens dort." Er wies rückwärts auf den Unfallwagen. "Ohne Licht ist der aus dem Nebel gekommen. Was heißt gekommen - gerast! Für die Sicht war die Geschwindigkeit viel zu hoch. Ich rief noch: ,Zurück!', aber die Reifen quietschten schon. Ich hörte einen dumpfen Aufprall, einen Schrei des Kindes, und dann heulte der Motor noch einmal auf. Ehe ich recht begriffen hatte, was da geschehen war, sah ich den Fahrer des Wagens davonrennen. Er hatte die Hände am Kopf, das Gesicht konnte man nicht erkennen. Im Nu war er im Nebel verschwunden. Ich gleich hinterher, aber leider ." Andere Zeugen hatten sich um das Kind bemüht. Es hätte, die Zeichnung auf dem Pflaster zeige das ganz genau, mitten auf dem Fußgängerüberweg mit beiden Beinen unter dem Vorderteil des Wagens gelegen. Als man es wegbrachte, wäre es noch bewußtlos gewesen. Soweit die Aussagen der Zeugen, die vor allem die Rücksichtslosigkeit des Fahrers mit derben Worten rügten. Torsten konnte sich förmlich vorstellen, wie der flüchtige Täter im Nebel über das regennasse Pflaster gejagt war, die Gewalt über das Fahrzeug verloren und jenes Mädchen schwer verletzt hatte. Und dann war dieser Mensch zu feige gewesen, sich seiner Verantwortung zu stellen. Er hatte das Kind einfach auf der Straße liegenlassen. Aber sie würden ihn finden! Bestimmt hatte der Kerl den Wagen geklaut oder einen getütert. Gruner war inzwischen bei der Arbeit. Sorgfältig ging er zu Werke. Er hatte mit Übersichtsaufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln begonnen. Als Torsten zu ihm trat, suchte er nach Fingerspuren im Innern des Wagens.
"Nichts, alles übergriffen, nur 'ne brauchbare Handfläche."
Torsten sah ihm zu. Dann wies er auf den Sonnenschutz
oberhalb der Windschutzscheibe. Gruner nickte wortlos. Erst nach geraumer Zeit sagte er: "Haare mit Blut. Er muß sich verletzt haben." Dabei deutete er mit dem Kopf auf den Nebensitz. Da lag eine Brille. "Außerdem ist er Brillenträger." Gruner besaß einen von ihm so benannten "Alleswisser", ein handliches Notizheft, das er jetzt aus der Tasche zog. Damit hatte es seine Bewandtnis. Er war gewohnt, die von ihm gesicherten Spuren, Adressen, Telefonnummern, kurz, alle bedeutsamen Hinweise darin festzuhalten, ungeordnet, kunterbunt durcheinander. Trotzdem, er fand sich zurecht, brauchte sich nicht mit Einzelheiten zu belasten und hatte am Ende mehr Fakten parat als andere. So vermerkte er den Abdruck der Hand, die Lage der Brille und den Fundort der Haare, die er mit einer Pinzette abhob und in ein Glasrohr steckte. Im Handschuhkasten fand sich ein Bund Schlüssel, offensichtlich Wohnungsschlüssel und viele kleinere, die von Fahrzeugen stammen konnten. Gruner vermerkte auch dies und legte das Bund zu den übrigen Beweisen. Dann tastete er unter dem Armaturenbrett herum, bis er einen losen Draht in seiner Hand hielt. Der Draht verband das Zündschloß mit dem Starterkabel. Ein Lenkschloß hatte das Auto nicht. "Kurzgeschlossen, der Wagen ist geklaut!" Torsten war keineswegs erstaunt. "Na bitte! Der Grund, weshalb er getürmt ist." Abschließend gingen sie um den Wagen herum. Gruner öffnete noch den Kofferraum. Darin fanden sich allerlei Werkzeuge, ein Kanister, Akten- und Reisetasche. Die Aktentasche enthielt: Kulturbeutel, Pyjama und .
Gruner stutzte. "Nummernschilder!" Ein paar Nummernschilder: IG 44-17! Ungläubig sah er Torsten an. "Sind das nicht . Augenblick mal!" Rasches Blättern im Alleswisser. Gruner ließ Seite um Seite springen, bis sein Zeigefinger auf die Stelle tippte. "Wußte ich's doch. Hier, bitte! Kuhns Kennzeichen. Die Schilder von Kuhns Wartburg." "Ist ja 'n Ding!" "Ich verstehe gar nichts mehr. Wie kommen die hier rein?" "Ja, wie? Rätsel zu lösen, das ist unsere Aufgabe. Mach mal weiter!" forderte Torsten mit nachdenklichem Gesicht. Gruner nahm die Reisetasche. Noch eine Überraschung: Im Innern befand sich ein Schild mit der Adresse F. Olschewski, Berlin-Schöneweide, Rögerstraße 17. Der Inhalt bestand aus ein paar Oberhemden und Pullovern. "Die Anschrift des Flüchtigen, oder?" "Der Wagen stammt aus Dresden. Hm!" "Woher stammt er nun", fragte Gruner, "aus Dresden oder aus Berlin?" "Fragen stellen ist leichter, als sie zu beantworten." "Ist doch aber wichtig, zu wissen ." "Hast ja recht", gab Torsten zu. "Klären wir erst mal die Fakten: Der Wagen kommt aus Dresden, das Gepäck, die Schilder gehören offensichtlich nach Berlin. Beides hängt zusammen. Hm! - Wir werden sehen." Am Ort blieb nichts mehr zu klären. Torsten gab die Unfallstelle frei. "Den Wagen auf den Strafplatz. Ich entscheide weiter." Wegen des unangenehmen Nieselregens bat Torsten seinen Kriminaltechniker in den Dienstwagen.
"Faß mal zusammen! Was kannst du bieten?" Gruner, seiner wortkargen Art gemäß, zählte die Beweise auf. Beim Schlüsselbund angekommen, meinte er: "Einfach, brauchen nur noch eins der Schlösser zu suchen, in dem ." Witzbold! Torsten kannte Gruners Art, die andere oft langstielig, pingelig, manche aber auch geheimniskrämerisch nannten. Sie täuschten sich alle, Gruner war rege, besonders im Denken und Tüfteln; allerdings äußerte er sich erst, wenn er Konkretes in der Hand hielt, nicht eher. Ein Heimlichtuer, nein, das war er nicht. "Was die Flucht betrifft ."
"Die Flucht", unterbrach Torsten, "die ist klar. Vielleicht hatte er nicht mal eine Fahrerlaubnis, das würde dem Faß . Jedenfalls, soviel steht fest: Der Unfall hier und die Angelegenheit mit Kuhns Wartburg sind ein und dieselbe Sache! Hm!" Und direkt an Gruner gewandt, fuhr er fort:
"Kannst du dafür sorgen, daß alles an den Mann kommt? Daktyloskopie, Labor, soweit du es nicht selbst auswertest." Gruner sah auf seine Armbanduhr und nickte wortlos. Das hätte er auch ohne Aufforderung erledigt. "Solange die Spur warm ist", lautete seine Maxime. "Nimm unseren Wagen", befahl Torsten. "Ich fahre mit den Genossen der VUB zum Krankenhaus. Weiß ja noch nicht mal, wie sie heißt, die Kleine."
Gegen einundzwanzig Uhr betrat Gruner sein Arbeitszimmer im sechsten Stock des Präsidiums. Er stellte den Tauchsieder in den Wassertopf. Bis das Wasser kochte, um Kaffee zu brühen, blieb ihm genügend Zeit, alles zu überdenken. Was mußte er jetzt erledigen? Ein Spurensicherungsbericht für das Labor zu den Haaren und der Blutsubstanz war zu fertigen und ein Bericht für die Daktyloskopie zur Auswertung der Handflächenspur. Er mußte den Film entwickeln und Abzüge von den Tatortaufnahmen machen. Dann war noch ein Handzettel für die Optiker vorzubereiten. Allerdings mußten vorher die optischen Werte der Brillengläser von einem Fachmann bestimmt werden. Wie viele Optiker gab es überhaupt in Berlin - eventuell auch in Dresden -, die man in die Fahndung einbeziehen mußte? Ihm blieb nicht allzuviel Zeit bis zum Dienstbeginn. Und zwischendurch noch nach Hause fahren? Das lohnte sich nicht. Also Nachtarbeit! Vielleicht konnte er eine Mütze voll Schlaf im Sessel nehmen. Na, mal sehen, wie Torsten immer sagte. Er schlürfte den siedendheißen Kaffee und machte sich an die Arbeit.
Hauptmann Torsten hatte in der Zwischenzeit im Krankenhaus erfahren, daß das Mädchen in Lebensgefahr schwebte. Die Ärzte gaben sich alle Mühe. Vorerst war überhaupt nicht daran zu denken, das Kind nach seinem Namen zu fragen. Dieser Umstand erschwerte die Benachrichtigung der Eltern. Die wenigen Hinweise, die Oberarzt Dr. Hansen ihm gab, bestätigten nur das Unfallgeschehen. "Ein definitives Urteil kann ich erst abgeben, wenn das Mädchen bei Bewußtsein ist. Oberschenkelbruch, innere Verletzungen, noch nichts Genaues, und zwei Wunden am Kopf. Außerdem der Schock. Wir müssen abwarten", sagte der Oberarzt. Torsten verließ das Krankenhaus. Unentschlossen verharrte er neben dem Streifenwagen. Auf ein Gutachten konnte er vorerst verzichten. Das half jetzt keinem und half auch nicht weiter. Der Täter, überlegte er, hatte sich verletzt. Wie schwer? Muß er sich in Behandlung begeben? Wenn ja, bot sich die Möglichkeit, seiner bald habhaft zu werden. Bei diesem Gedanken angekommen, entschloß er sich, noch ins Präsidium zu fahren. Gruner behilflich zu sein, das war nicht seine Aufgabe. Aber die Umfrage in den Krankenhäusern, vor allem die Identifizierung des Mädchens, das mußte er noch einleiten. Als er vor dem Hauptportal ankam, waren die Eisengitter längst herabgelassen. Der Paternoster fuhr auch nicht mehr. Sechs Treppen steigen war nicht gerade ein Vergnügen. "Sportlicher Ausgleich", kommentierte Gruner des Hauptmanns Atemnot, als der ins Zimmer trat. Torsten zog den Mantel aus und lockerte die Krawatte.
"Solche Fälle gehen mir an die Nieren, jedesmal aufs neue." "Deine Nerven sind eben auch nicht mehr die, die sie früher mal waren." "Quatsch! Ich habe nur keine Ruhe, so lange nicht, bis diese Sorte Täter ihre Zivilsachen in der Kleiderkammer der Haftanstalt abgegeben haben. Man muß sie aus dem Verkehr ziehen." Er brannte die übliche Portion Tabak im Pfeifenkopf an und qualmte sich in eine Wolke hinein. Zwischendurch fragte er: "Gibt's was Neues?" "Neues? Du fragst, als ob wir uns tagelang nicht gesehen hätten." Torsten schob die Brille zurecht. "Dachte, daß sich die Eltern der Kleinen eventuell schon gemeldet hätten. Hoffentlich kommt das Kind durch, sieht böse aus." Er setzte sich Gruner gegenüber an den zweiten Schreibtisch und zog das Telefon näher zu sich heran. Während Gruner den ersten Bericht tippte, sprach er mit der Leitstelle. "Versuchen Sie bitte verletzte Personen festzustellen, die sich nach neunzehn Uhr in ärztliche Behandlung begeben haben; Personenbeschreibung besitzen wir nicht. - Augenblick noch! Senden Sie bitte an alle Reviere ein Rundschreiben: Vermißtenanzeigen wegen eines zehn- bis zwölfjährigen Mädchens unverzüglich mir melden, klar? - Ende!" Torsten legte den Hörer auf und paffte weiter. Nach ein paar Zügen fragte er Gruner: "Wie machen wir das mit Dresden?" Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: "Ein Fernschreiben per Blitz. Geht am schnellsten. Notiere mal: ,PKW Wartburg, grau, pol. Kennzeichen RB dreizehn Strich einunddreißig, hatte in Berlin schweren VU. Fahr-
zeughalter ermitteln, feststellen, weshalb Fahrzeug in Berlin war und wo.' - Weiter: ,Wurde neuer dunkelroter Wartburg ohne pol. Kennzeichen in Dresden aufgefunden?' - Fahrgestell- und Motornummer fügst du noch ein." Torsten rückte seine Brille zurecht, stand auf, rekelte sich und zog den Mantel wieder an. "Bleibst du, falls Meldungen kommen?" "Suggestivfragen, Genosse Hauptmann, sollte man vermeiden, haben Sie mir mal erläutert." Torsten verbiß sich die Bemerkung: Ich will deine Liebe zur Arbeit nicht erdrosseln. Der ernste Gruner könnte das mißverstehen. Statt dessen sagte er: "Kannst mich ja anrufen, wenn was Besonderes sein sollte." Er gab ihm die Hand. "Na, was ist?" Gruner lenkte ein. "Einer muß ja bleiben. Geht schon klar!" Er hatte sich ohnedies darauf eingerichtet. Torsten ließ sich die Wagenschlüssel geben.
Oberleutnant Hans Gruner überlas gerade die fertigen Protokolle, als Leutnant Groß zum Dienst erschien. "Nanu? Hast du nicht nach Hause gefunden? Gibt's was?" Lautlos erwiderte Gruner den Gruß. Statt einer Antwort schob er Groß die Protokolle und die Bilder von der Unfallstelle hin. Als Groß las, sagte er beiläufig: "Kannst deiner Schlummermutter schon immer Bescheid geben, damit sie heute nicht vergeblich auf dich wartet!" "Na, na!" Groß nahm die Bilder und runzelte die Stirn. "Fahrerflucht? Zu Fuß, ohne Wagen? Das es so etwas gibt." "Aus Dresden noch dazu!" Groß fuhr sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über
die Grübelfalte. "Wie ich den ,Aktenwolf' kenne ." "Ein paar Hinweise haben wir", unterbrach ihn Gruner. "Eine Adresse in Schöneweide. Wird sicher dein Bier!" Weiter kam er nicht. Nebenan klappte die Tür. Hauptmann Torsten war gekommen, pünktlich wie immer, trotz der kurzen Nacht. Gruner legte die Protokolle zurecht und ging mit Groß gemeinsam zur Morgenberatung hinüber. Das übliche Ritual folgte, dann das vielsagende "Hm!". "Vom Revier fünfundachtzig kam die Vermißtenmeldung", begann Gruner. "Habe die Eltern zum Krankenhaus fahren lassen. Die Verunglückte ist die Gesuchte: Anita Anders, elf Jahre, Rigaer Straße vier wohnhaft." "Na, wenigstens ist das klar", sagte Torsten. Er rieb sich das Kinn, steckte die Hände in die Hosentaschen, ging zur Tür, die stets einen Spalt weit geöffnet blieb, spähte hinaus, kam zurück, hockte sich hinter seinen Schreibtisch, schüttete eine Portion Tabak auf ein geknifftes Blatt Papier und ließ sie in den Pfeifenkopf rutschen. "Worum geht es jetzt?" Im Kollektiv wurden die Aufgaben verteilt. Die erste wenn auch nur grobe Einkreisung des Täters begann.
Leutnant Groß ermittelte lieber, als daß er hinterm Schreibtisch saß. Von ihm aus brauchte es keine Kriminalbüros zu geben. Und - es mußte ja auch welche geben, die die Täter heranschafften, die kamen schließlich nicht von allein. Aber gerade weil er wußte, daß beides erforderlich war, auch das, wozu er keine Neigung verspürte, bewunderte er Torsten insgeheim. "Aktenwolf" nannte er ihn. Groß mußte schmunzeln. Er hatte ihm den Spitznamen gegeben, weil Torsten in allen nur möglichen Akten,
Archiven und in den Kaderabteilungen der Betriebe nach dem Vorleben seiner Täter forschte. Mehr als eine Marotte von ihm, denn Albert Torsten versuchte die Ursachen menschlichen Versagens zu ergründen. Und nicht selten kannte er die Gründe für Fehlentwicklungen seiner Beschuldigten besser als diese selbst. Groß war der Auftrag zugefallen, wie Gruner vorausgesehen hatte, die Adresse in Schöneweide zu überprüfen und gegebenenfalls den Adressaten zu befragen. Keine leichte Sache, da nicht zu übersehen war, inwieweit dieser F. Olschewski als Tatverdächtigter in Frage kam. Das mußten die Umstände ergeben. Neun Uhr, ein klarer Septembermorgen. Das Grundstück in der Rögerstraße 17, auf dem er stand und nach dem Namen suchte, war ein zehngeschossiger Bau. Hier gab es keine Hinterhöfe mehr, sondern ein weitläufiges Karree mit Grünflächen und Blumenrabatten; gekachelte Fassaden, in denen breite, blanke Fenster saßen. Florian Olschewski, 7. Etage, las Groß. Er drückte den Klingelknopf neben dem Namensschild. Über die Rufanlage meldete sich der Mann. Glück gehabt. "Ich hätte Sie gern gesprochen, Kriminalpolizei!" Groß wartete, bis der Summer das Türschloß freigab. Mit dem Fahrstuhl fuhr er in die siebente Etage. Groß legte sich schnell einen möglichen Plan für sein Vorgehen zurecht. Er mußte sehen, wie der Mann reagierte. Täter oder Betroffener, das war die Frage. War er der Täter, mußte er verletzt sein, eine Brille tragen. Olschewski erwartete ihn bereits an der offenen Wohnungstür. Groß stutzte. Den Mann vor sich hatte er irgendwo
schon mal gesehen. Wo? Im Kino, im Fernsehen oder in der Dienststelle? Olschewski? Auch der Name kam ihm plötzlich bekannt vor. Der Mann war nicht verletzt, er trug auch keine Brille. Aber das mit der Brille war noch kein Beweis. Groß wies sich aus. Er war überrascht, als Olschewski fragte: "Nun, gibt's was Neues?" Was meinte der? "Was Neues?" wiederholte Groß gedehnt. Die Frage hatte ihn verwirrt. Schnell entschloß er sich, mit der Tür ins Haus zu fallen. "Ihre Reisetasche, wir haben sie gefunden." Nicht die Spur einer Verlegenheit, ganz im Gegenteil. "Na bitte, leer, oder?" Groß schüttelte den Kopf. "Nein. Oberhemden und Pullover sind drin." Er mußte jetzt fragen, mußte die Zusammenhänge klären, von denen er absolut keine Ahnung hatte. Solche Situationen dürfen einen Kriminalisten nicht aus der Fassung bringen. Groß sah auf. "Wo haben Sie die Tasche verloren?" "Verloren? Sie sind gut, geklaut wurde sie mir." Nun war er wieder an der Reihe. Er mußte sein Gegenüber zum Reden veranlassen. "Haben Sie Anzeige erstattet?" "Das wissen Sie nicht? Ich dachte ." Unterbrechend erklärte Groß nun, daß er vom Präsidium der Volkspolizei komme und nicht wissen könne, welche Vorfälle die örtlichen Dienststellen bearbeiteten. Er bat um Verständnis und nochmals um eine genaue Schilderung der Angelegenheit. "Bin Sportreporter beim Fernsehen", begann Olschewski. Natürlich. Olschewski, Sportreporter! Daher. "Am Dienstag war ich in Dresden, eine Reportage, ein
Fußballspiel", fuhr Olschewski fort. "Meinen Wartburg hatte ich auf dem Parkplatz - Platz der Befreiung - vor dem Hotel abgestellt. Gar nicht so einfach, eine Parklücke in Dresden gerade dort zu finden, wo man wohnt. Na ja . Meine Reisetasche hatte ich auf dem Rücksitz liegenlassen . Haben Sie die Täter?" Groß schüttelte abermals den Kopf. Worüber, ahnte Olschewski nicht. Schließlich erklärte Groß die Zusammenhänge. "Einen Wartburg geklaut? Da habe ich ja noch mal Glück gehabt. Mein Lenkschloß war abgeschlossen. Soll mir eine Warnung sein." Trotzdem, Leutnant Groß konnte ihm einen Vorwurf nicht ersparen: "Leichtsinnig, sehr leichtsinnig! Konnten Sie die Tasche nicht mitnehmen oder wenigstens im Kofferraum unterbringen. Ihr Verhalten forderte ja geradezu zum Diebstahl auf." Olschewski sagte nur: "Nachlässigkeit!"
Indessen verließ Oberleutnant Gruner das Präsidium der Volkspolizei. Er beabsichtigte, einen Optiker aufzusuchen. An der großen Tankstelle bog er von der Allee ab und ging in die Hinterlandstraße hinein, in der er ein Geschäft wußte. Neben der winkligen Durchfahrt erreichte Gruner sein Ziel. Er betrat den Laden, in dem ein runder Tisch mit Zeitschriften und zwei breite Sessel davor zum Warten aufforderten. Stimmten seine Überlegungen, mußte der rote Faden sich spulen lassen. Kein Täter konnte ohne Beziehungen zur Umwelt handeln, ohne Spuren zu hinterlassen oder Zeugen zu haben. So lautete der Grundsatz, die These, die Torsten aufgestellt hatte, oft in der Praxis erprobt. Prüfen
und wissen, dachte Gruner, als die Stimme eines freundlichen Mädchens seine Gedanken unterbrach. "Sie wünschen?" Wenn das kleine Fräulein wüßte, was alles von der Auskunft für ihn abhing: Sie konnte helfen, den Täter namhaft zu machen. Er wies sich aus. "Ich möchte nur eine Auskunft, bitte um Ihre Hilfe." Umständlich, sehr vorsichtig, so, als handele es sich um rohe Eier, kramte er die im Plastbeutel eingewickelte Brille aus der Tasche.
"Können Sie die optischen Werte der Gläser bestimmen? Kann man damit eventuell die Person ermitteln, die eine solche Brille erhalten hat?" "Warten Sie mal bitte!" antwortete das Mädchen. Sie ging auf die hintere Ecke des Ladens zu und verließ den Raum.
Gruner las mehr mechanisch als bewußt die Werbetexte an der Wand. Seine Gedanken kreisten um die Frage, ob man den Besitzer dieser Brille ermitteln konnte. Das Mädchen kam mit dem Chef zurück. Oberleutnant Gruner stellte sich nochmals vor und wiederholte sein Anliegen. "Dieser Unbekannte hat sich die Brille bei mir machen lassen?" fragte der Mann hinter dem Ladentisch. "Nein. Das heißt, ich weiß es nicht, vielleicht." Gruner konstatierte: Der hat mich noch nicht verstanden. "Ich glaubte", fuhr er fort, "daß sich der Kunde ermitteln ließe, in der Hauptstadt, überhaupt." Mit spitzen Fingern nahm der Optiker die Brille aus dem Beutel, betrachtete sie und sagte: "Zylindergläser - aus Rathenow! Ein polnisches Gestell, aber das besagt nichts." Er wiegte den Kopf. "Die Werte, das ist nicht schwierig, den Kunden dagegen . Zwei Möglichkeiten: Entweder finden wir ihn in den Kundenkarteien der Optiker oder bei den Bezirksstellen der Sozialversicherung, die sammeln alle Brillenverordnungen. - Warten Sie mal!" Der Optiker verließ mit der Brille den Raum. Es dauerte nicht lange, bis er wieder in den Laden kam. Auf einem Zettel hatte er die Werte notiert. Er reichte ihn Gruner. Gruner las halblaut: "Fernbrille. Rechts: +3.0/+3.5/170°. Links: +3.0/+3.0/10°." "Nicht sehr häufig", sagte der Optiker, "damit läßt sich schon was anfangen. Wenn Sie in Berlin suchen, müssen Sie allerdings mit fünfundzwanzigbis dreißigtausend Brillenattesten je Stadtbezirk rechnen." "Dreißigtausend je Bezirk? Und das mal acht; 'n bißchen viel. Wird besser sein, wir lassen Handzettel drucken, denke ich." Gruner bedankte sich und verpackte die Brille wieder
sorgfältig im Plastbeutel.
Zur selben Stunde kam an Stelle eines Fernschreibens ein Ferngespräch aus Dresden über die interne Leitung des Polizeinetzes. "Torsten! - Ich höre!" "Oberleutnant Lederer! Ihr Fernschreiben, Genosse Hauptmann; es geht um den Wartburg Richard Berta dreizehn Strich einunddreißig." "Ja, der Unfallwagen." "Richtig! Der wurde vor zwei Tagen hier in Dresden entwendet!" "Wo genau, bitte?" "Vom Parkplatz Platz der Befreiung." "Und der Besitzer?" "Ist Arno Becker, Dresden, Leninallee vierundvierzig. Ein Strafantrag im Falle unbefugter Benutzung liegt vor." "Moment, notiere! - Leninallee vierundvierzig. - So, kann weitergehen!" "Der andere, der dunkelrote Wartburg, den Sie suchen, steht auf demselben Parkplatz ohne Nummernschilder ." "Klar, die haben wir. Stimmen die Motor- und die Fahrgestellnummern?" "Ja, die stimmen. Haben schon im Werk in Eisenach nachgefragt, um den Auslieferer zu ermitteln." "Nicht mehr nötig, wir kennen den Besitzer; Kuhn, Paul, heißt er, aus Berlin." "So! - Na dann . Haben Sie Hinweise auf Täter?" "Auch. Ein paar brauchbare Spuren. Wir werden mal sehen, wie weit wir kommen." "Und wie verbleiben wir?" Pause. - Torsten dachte nach. Schnell faßte er einen
Entschluß: "Passen Sie auf! Ich schicke Leutnant Groß nach Dresden. Er bringt Ihren Wagen mit, den RB dreizehn einunddreißig, meine ich, und holt den anderen, den roten Wartburg. Bei der Gelegenheit kann er gleich ein paar Ermittlungen mit Ihrer Unterstützung übernehmen. In Ordnung?" "Geht klar, Genosse Hauptmann. Wann kommt er?" "Ich denke morgen." "Gut, das war's ." "Ich danke Ihnen, Ende!" Na bitte, die Sache rollt ja. Groß und Gruner kamen nacheinander von ihren Ermittlungen zurück. Gruner beklagte sich, er hatte noch Ärger gehabt. Theater in der Druckerei. "Jeder glaubt", so hatte der Drucker genörgelt, "wir sind nur für ihn da." Sicher hatte er es nicht leicht, aber es war doch wirklich dringend. Es hatte Gruner einige Mühe gekostet, den Mann davon zu überzeugen, daß der Druck der Handzettel eine unaufschiebbare Angelegenheit war, sollte der Erfolg nicht ausbleiben. "Der Täter darf doch nicht auf den Gedanken kommen: Alles gut gegangen, auf zur nächsten Tat", schloß Gruner, Zustimmung fordernd, und erklärte: "Bis heute abend hat er sie fertig." "Das klappt ja", meinte Torsten. "Da kann Groß gleich welche mit nach Dresden nehmen." Anschließend tauschten sie die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung aus, die Torsten dann zusammenfaßte. Seinem "Hm!" folgte die Feststellung: "Wird notwendig, daß wir über ein Zeit- und Wegediagramm nachdenken." Er schob die Brille näher an die Augen und erhob sich.
Wer ihn kannte, wußte, daß er im Sitzen nur ungern redete oder gar Entschlüsse faßte. Er ging im Zimmer auf und ab, einmal, zweimal, dann kehrte er zum Schreibtisch zurück. "Heute", nahm er erneut das Wort, "haben wir den vierten Tag nach Kuhns Anzeige wegen des Diebstahls seines Wagens. Davon müssen wir ausgehen. Drei Tage Fahndung also. Und warum?" Ohne eine Antwort abzuwarten, erklärte er schon selbst: "Nach dem Diebstahl oder unbefugten Benutzen, wie ihr wollt, muß unser Täter nach Dresden gefahren sein, noch ehe die Fahndung anlief. Darum!" Torsten rieb sein Kinn. Längst hatte er den Inhalt der letzten Meldungen überdacht. "In Dresden stellte er Kuhns Wagen auf dem öffentlichen Parkplatz am Platz der Befreiung ab und entfernte die Nummernschilder. Frage: Warum?" Nach einer Pause fuhr er fort: "Außerdem gibt das einen wichtigen Anhaltspunkt für uns; meint ihr nicht auch?" "Kein Anfänger, möchte ich sagen", hakte Groß sogleich ein. "Ehe die Dresdner Kollegen rausfinden konnten, woher Kuhns Wagen kam, war er schon mit dem anderen, dem Unfallwagen, auf und davon, zurück nach Berlin. Übrigens auch ein ." "Mach mal Pause, Leutnant", fiel ihm Gruner ins Wort. Er hob bedächtig seinen Zeigefinger. "Ist nämlich nicht ganz richtig, was du sagst." "Na, dann verrate mal, was richtig ist!" Groß war eingeschnappt. "Will ich. Unser Täter blieb nämlich mindestens einen Tag - den Mittwoch - in Dresden; denn erst gestern war er wieder in Berlin. Der Unfall mit dem Wagen von diesem ."
"Arno Becker", unterstützte ihn Torsten. " . diesem Becker beweist das", schloß Gruner. Der Widerspruch reizte Groß zu neuem Einwand: "Woher willst du das wissen? Wünsche, reine Hypothesen." "Denken, mein Lieber, denken! Gehört zum Beruf. Die meisten Eigentümer bekommen ihren Wagen innerhalb von vierundzwanzig Stunden zurück." "Und das muß der Täter wissen - daß ich nicht lache", provozierte Groß weiter. "Immer mit der Ruhe! Wie lange hätte er denn mit dem Dresdner Wagen in der Gegend herumkutschen können? Wie? Doch höchstens von Dresden bis Berlin, höchstens einen Tag lang. Länger, und wir hätten ihn mit Sicherheit geschnappt; ist doch klar. Das beweist auch, warum er in Dresden den Wagen wechselte und nicht mit Kuhns Wartburg nach Berlin zurückkam." Torsten hatte in der Zwischenzeit eine Pfeife angebrannt. Er paffte. Nach ein paar Zügen griff er in den Streit ein: "Richtig, alles richtig! Was mir aber auffällt, ist der Platz der Befreiung." "Vergeßt nicht: Olschewskis Reisetasche wurde ebenfalls auf diesem Parkplatz entwendet. Dreimal Platz der Befreiung. Es liegt was in der Luft", ergänzte Groß und sah herausfordernd zu Gruner. Torsten wedelte sich aus einer Qualmwolke. PrestigeMixture, es roch nach Vanille. "Eben! Dieser Parkplatz, das ist kein Zufall, das ist der Ausgangspunkt. Frage: Bei wem war der Täter? Bei wem hielt er sich auf? Völlig grundlos fährt unser Mann doch nicht nach Dresden. Das muß rauszukriegen sein." Groß wußte, dieser Wink hatte ihm gegolten. Er fuhr ja nach Dresden, er sollte das herausfinden. Aber wo anfan-
gen? Er kannte die Verhältnisse dort nicht. "Wie machen
wir das?" stellte Torsten, als ob er Gedanken lesen könne,
auch schon die entsprechende Frage. Er konnte zwar nicht sagen, welchen Erfolg er sich erhoffte, aber soviel wußte er: Irgendwo in der Nähe des Platzes mußte sich der Täter aufgehalten haben. "Die Runde machen, rein in die Häuser um den Platz, ABV einschalten, HGL-Vorsitzende, Hausgemeinschaften, was weiß ich. Hm!" Groß machte jetzt ein Gesicht, das besagte: Ein harter Kanten Arbeit. "Und wenn .", setzte er an, hielt aber plötzlich inne. Ihm war das Schlüsselbund eingefallen. "Und wenn - und wenn! Irgendwo müssen wir doch anfangen." Torsten mußte ihn mißverstanden haben. Einige Minuten blieb es still. Torsten paffte wieder. Schließlich stand Groß auf und stützte sich vornübergebeugt auf Torstens Schreibtisch. "So habe ich das nicht gemeint. Ich dachte nur an die Schlüssel." Überrascht hob Torsten die Hand und nickte heftig. "Mensch! Gut, daß du daran denkst. Die nimmst du natürlich mit. Probieren, na klar, Haustüren und so." "Karascho!" brubbelte Groß und setzte sich wieder, nicht ohne Gruner dabei überlegen lächelnd anzusehen: Von wegen denken, mein Lieber, denken. Prüfend blätterte Gruner indessen in seinem Alleswisser. Die Schlüssel - Hausschlüssel? Durchaus möglich. Allerdings von keinem Patentschloß, sie mußten von einem Altbau stammen. "Gute Idee", meinte auch er zustimmend. Wieder lief Torsten seiner Gewohnheit gemäß einige Male im Raum auf und ab. Plötzlich blieb er vor beiden stehen. "Wer weiß, Genossen", sagte er nachdenklich,
"vielleicht hat unser Täter bei uns schon einen Namen?" "Vorbestraft?" "Natürlich! Ein Profi? - Werde mal in der Aktenhaltung und der Straftatenvergleichskartei ein bißchen rumstöbern." Mit seinem "Hm!" schloß er diesen Gedanken ab. "Aktenwolf!" entfuhr es leise Groß. "Ist was?" wollte Torsten wissen, der sehr wohl verstanden hatte. "Ich wollte nur sagen", erwiderte Groß verlegen, "ist bestimmt wichtig." Das meinte er ehrlich. Torsten blickte auf seine Armbanduhr. Donnerwetter! Vierzehn Uhr zwanzig. Schnell war die Zeit vergangen. Und die übrige Arbeit mußte auch noch erledigt werden. Dieser Verkehrsunfall, die Fahrerflucht, war ja nicht die einzige Sache, um die sie sich zu kümmern hatten. Gruner schicke ich nach Hause. Der ist ja schon seit gestern auf den Beinen, entschloß er sich. Und Groß soll sich auf die Dienstfahrt vorbereiten: Dienstauftrag, Fahrbefehl und den Wagen startklar machen. "Raus!" kommandierte er. "Saust ab! Die Aktennotizen mache ich allein." "Und die Handzettel?" erinnerte Gruner. "Keine Angst. Wird bestens erledigt. Geh nur!" Schon an der Tür, drehte sich Gruner poch einmal um. "Auf deinem Tisch - die Meldungen aus den Krankenhäusern ." "Hab ich schon gesehen. Nichts Besonderes." "Na dann, mach's gut, bis Montag!" Gruner ging endgültig. Torsten kratzte sich am Kopf. Die Meldungen?" - Nur drei davon waren beachtenswert. Was hieß beachtenswert?
Nur nach Art der Verletzungen kamen sie in Frage. Eine konnte man sofort beiseite legen: Rentner, siebzig, Treppensturz. Aber auch die beiden andere ließen keinen Verdacht aufkommen. Ein Sechzehnjähriger war vom Fahrrad gestürzt. Und eine Wirtshausschlägerei. Hätte der Funkwagen nicht unmittelbar die Zuführung veranlaßt, wäre der letzte Fall zu prüfen gewesen. Torsten konnte sich vorstellen, daß der Täter - wenn nicht unbedingt nötig nicht in die Ambulanz gegangen war. Wer wußte, von wem er versorgt wurde und ob überhaupt. Hätte er einen Arzt aufgesucht, wäre die Meldung gekommen, kein Zweifel. Die Hoffnung, den Täter auf diese Weise zu fassen, hatte sich zerschlagen. Also weiter im Text. Freitag, Wochenende. Mal sehen, was Groß da in Dresden erreichte.
Abfahrt Dresden - 1000 Meter. Drei Stunden hatte Groß mit dem Wartburg Arno Beckers für die gut zweihundert Kilometer Autobahn gebraucht. Der Auftrag war so recht nach seinem Geschmack. Konnte er doch beweisen, was seine Spürnase zu leisten vermochte. Er hatte auch schon eine Vorstellung davon, wie er die Sache anpacken wollte. "Hausgemeinschaften, Abschnittsbevollmächtigte und so", hatte Torsten gesagt. Er wußte aber noch andere, die ihm Informationen geben konnten - seine Spezialstrecke. Und auf die Schlüssel setzte er wie auf einen Fünfer im Lotto. Das herauszukriegen reizte, ja stachelte ihn geradezu an. Obwohl es Sonnabend war, erwartete ihn Oberleutnant Lederer bereits im Volkspolizei-Kreisamt Dresden. Er versprach nicht nur jede Unterstützung, sondern hatte
längst eine eigene Meinung von der Sache. "Ist doch klar Genosse", meinte auch er, "der Täter besuchte irgendwen in Dresden." Dabei wiegte er den Kopf und sagte: "Vermutlich ein Mädchen - das ist jedenfalls am wahrscheinlichsten, meine ich." So gesehen, engte das den zu überprüfenden Personenkreis wesentlich ein. Und diese Annahme hatte viel für sich, Groß fand sich in seinen Überlegungen durch Lederer nur bestätigt. Dreiundzwanzig Gebäude gruppierten sich einschließlich der Nebenstraßen, Passagen und Durchgänge in den Häusern Ringstraße 11 bis 34 um den Platz der Befreiung, darunter ein Hotel und zwei Pensionen. Über den Daumen gepeilt, etwa siebenhundert Mietwohnungen. Trotzdem, das war zu schaffen. Sicher schied gut die Hälfte davon im voraus aus, dachte Groß. Und die Dresdner hatten alle Vorbereitungen getroffen: Vier Abschnittsbevollmächtigte und einunddreißig freiwillige Helfer der Volkspolizei standen zur Verfügung, außerdem drei Kriminalisten aus Lederers Truppe, die besondere Hinweise sofort überprüfen würden. Damit hatte Groß nicht gerechnet. Die Hausbesuche sollten gleich heute und morgen erfolgen, da die Mieter am Sonnabend und Sonntag bestimmt in ihren Wohnungen anzutreffen waren. "Nun, die Vorbereitungen sind getroffen, die Arbeit kann beginnen", schloß Lederer. "Um elf kommen unsere Mitarbeiter, weisen Sie die Genossen ein!" Und dann saßen sie vor Groß. Er sagte, was zu sagen war. Nichts Ungewöhnliches, nichts Neues, nur das, was ihm bei allen Ermittlungen zur Aufklärung von Verbrechen notwendig erschien. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, stützte er sich auf den entsprechenden Geset-
zestext. "Die Handlung ist eine rücksichtslose Verletzung der Bestimmungen zum Schütze von Leben und Gesundheit anderer. Dieser Täter hat seine Sorgfaltspflichten im gesellschaftlichen Zusammenleben in besonders verantwortungsloser Weise verletzt. Deshalb also ein Verbrechen. So ist das, Genossen!" Er erhob sich von seinem Platz. "Noch so ein Ding darf der Täter nicht drehen können. Aufklärung ist unsere Pflicht! Darum diese Maßnahmen." Sie sahen ihn an. Groß las in den Gesichtern: Dresden ist groß, warum gerade der Platz der Befreiung? Das erklärte er noch, und er beendete seine Ausführungen mit dem Hinweis, daß der Täter sich möglicherweise bei einem Mädchen oder einer alleinstehenden Frau aufgehalten hatte. Damit war alles gesagt. Morgen, am Sonntagabend, um sieben wollten sie sich alle wieder treffen, die Koordinierung in der Zwischenzeit lief über das Kreisamt. Als alle gegangen waren, verfolgte Leutnant Groß seinen Plan, den er auf der Fahrt gefaßt hatte. Er ließ sich die Akte geben, eine dünne, dünn und nüchtern: die Anzeige Arno Beckers, der Tatortbefundsbericht, die Fahndung und - er krauste die Stirn - die Zeugenaussagen. Ein Zeuge hatte eine männliche Person auf dem Parkplatz beobachtet. - Den Täter? Aus einem Fenster des Hauses Ringstraße 24 hatte er gesehen, wie der Mann von Fahrzeug zu Fahrzeug gegangen war. Personenbeschreibung: schlank, ungefähr eins achtzig groß, langes Haar. Das Alter war im Protokoll mit "jedenfalls noch unter dreißig" angegeben. Diese Beschreibung paßte auf Tausende. Trotzdem! Der Hinweis bestärkte Groß nur in seinem
Vorsatz: die Rentner. Nach seinen Erfahrungen waren das keine uninteressierten Beobachter. Die hatten Zeit, auch mal aus ihrem Fenster zu sehen - und das nicht nur tagsüber. Oft wußten sie nicht mal, was sie sahen; man mußte sie darauf hinlenken. Sie zu besuchen gehörte zu seinem Plan, an Informanten zu kommen, die ihm weiterhelfen konnten. Und da waren noch die Postzusteller, was die alles wußten! Sie hielten sich täglich in den Häusern auf, sprachen mit vielen, sahen, mit wem die Leute beruflich so in Verbindung standen. Auch daraus ließ sich so mancher Hinweis ableiten. Aber war sein Verhalten, seine Absicht, andere Wege zu gehen, als er den Dresdner Kollegen angewiesen hatte, nicht Heimlichtuerei? Er hätte sie genausogut zur Post oder in den Veteranenklub schicken können. Doch konnte man ihm das vorhalten? Schließlich blieb es gänzlich ohne Belang, wer den Erfolg brachte. Hauptsache, sie kamen weiter, konnten den Täter namhaft machen. Gruner mit Hilfe der Brille, er vielleicht an Hand der Schlüssel oder dank anderen überraschenden Ermittlungen. Also wo beginnen? Er ging zunächst durch die herbstlichen Straßen zum Postamt. "Heute, am Sonnabend!" Kopfschüttelnd rügte die junge Frau hinter der Glasscheibe den ihr sonderlich erscheinenden, aber nicht unsympathischen Kauz. "Die Kollegen sind längst zu Hause." Und nach einem kritischen Seitenblick fragte sie noch: "Worum geht es denn?" Das zu erklären schien ihm zu langwierig, bot auch keine Aussicht auf einen Erfolg. Er brauchte nur den Namen desjenigen, der die Ringstraße beging, mehr wollte er nicht.
"Doch aber nicht so ohne weiteres. Tja, ich weiß nicht; da kann ja jeder kommen, nein!" Jeder? Nicht doch, das war er nicht, das bewies er ihr sofort. Dennoch - erst nach einigem Hin und Her ließ sie sich von ihm beschwatzen. "Einen Moment, bitte!" Sie verließ den Schalter und verschwand in einem der Nebenräume. Groß wartete geduldig. Als sie zurückkam, sagte sie: "Paul - Paul Beissert, Lingestraße fünf." "Und wo ist das, bitte?" Die Lingestraße war leicht zu finden, sie lag gleich hinter dem Platz der Befreiung. Als er den Hof des Hauses betrat, in dem Beissert wohnte, war die Mittagszeit schon längst vorbei. Viele Menschen hatte Groß in seinen Jahren bei der Volkspolizei kennengelernt. Meist wußte er auf den ersten Blick, wie ein Gespräch zu beginnen war. Aber manchmal stieß er auf Personen, bei denen er das nicht wußte. Er nannte solche "zugeknöpft". So einer war auch Beissert. Dessen Brille minderte nur wenig die Pfiffigkeit der Augen unter den struppigen Brauen. Groß zögerte noch. "Brauchen Sie eine Auskunft?" fragte Beissert. "Eine wichtige! Eine, die nur Sie mir geben können." Auf Beisserts Gesicht zeigte sich ein Zug von Stolz. Trotzdem, so schnell war er nicht bereit zu reden. Ganz genau wollte er erst wissen, um was es dem jungen Offizier der Volkspolizei da ging. Er hielt den Kopf zur Seite geneigt und kniff die Augen ein wenig zu. "Mädchen - Frauen? Und ich soll davon eine Ahnung haben?"
"So dachte ich's mir. - Nichts davon in Ihrem Bereich?" "Langsam, junger Freund! Wollen Sie Hausklatsch, oder?" Groß grinste. Beissert begann sich langsam "aufzuknöpfen". "Warum nicht?" Beissert war kein Schwätzer, ein Glück; er ließ sich Zeit. Sacht bohrte er seinen Zeigefinger ins rechte Ohr. So überlegend, nannte er bedächtig einige Namen, gab Erklärungen dazu: mehr für sich als in der Absicht, die Frage direkt zu beantworten. Leider nichts, alles nichts. Groß wollte sich schon verabschieden, aber Beissert, einmal im Überlegen, ließ ihn noch nicht los. "Moment noch! Vielleicht die? In der Ringstraße vierzehn, Untermieter." "Ja", ermunterte ihn Groß. "Die junge Frau ist zwanzig, hat gerade erst geheiratet. Ihr Mann arbeitet in Berlin, Maurer oder so. Kommt alle vierzehn Tage, dazwischen schreibt er mal. Sonst wüßte ich nichts mehr." "Ist schon was. Der Name?" "Kramer, bei Burschberg." Groß notierte. "Na dann. Danke! Werde mal sehen." Er ging. Seine Hoffnung war gering. Wenig später klingelte er an der Wohnungstür von Ingrid Kramer. Groß war überrascht von der jungen Frau: freundlich, aufgeschlossen, drall am Körper und im Gesicht und ein bißchen keß. Sie paßte so gar nicht zu dem Unbekannten, den er suchte. "Ich hätte gern ein paar Auskünfte über Ihren Mann." "Über Jürgen? Was hat er denn ausgefressen?" Das klang zwar lustig, doch ihre Augen verrieten das Gegen-
teil. "Ich hoffe, nichts." Ihre Antworten kamen wie gemeißelt: Sechs Monate waren sie verheiratet. Jürgen baute mit am neuen Stadtbezirk in Berlin. Sie hofften, später dort eine Wohnung zu bekommen. "Kommt er oft?" "Er kommt regelmäßig, schreibt meist vorher. Das letztemal allerdings kam er überraschend, vor vier Tagen, am Dienstag, mit einem Kollegen zusammen, in dessen Wagen." "Kann Ihr Mann fahren?" "Natürlich, kann er!" Nächstes Jahr bekämen sie ihren Trabant. "Trägt Ihr Mann eine Brille?" "Beim Fahren soll er eine tragen, sonst hätte er die Fahrerlaubnis nicht bekommen. Er ist aber viel zu eitel und trägt sie nicht." "Noch eine Bitte! Könnten Sie mir Ihren Wohnungs- und den Haustürschlüssel zeigen?" Einen Moment blickte ihn Ingrid Kramer verblüfft an. "Darf ich nun endlich erfahren, warum Sie das alles so genau wissen möchten?" "Sie dürfen. Jemand hat sich vom Platz vor Ihrer Haustür einen Wartburg geliehen und ist damit nach Berlin gefahren. Der Besitzer hat nun etwas dagegen, und wir ." "Lächerlich! Da kann ich Sie beruhigen. Jürgen fuhr mit seinem Kollegen zurück." Sie brachte die Schlüssel. Es gab keine Übereinstimmung mit denen an dem gefundenen Bund. Fehlanzeige? fragte sich Groß, als er sich mit einer Entschuldigung
verabschiedete. Fehlanzeige? Nicht zu voreilig! Beim Verlassen des Hauses probierte er der Gründlichkeit wegen die Schlüssel am Bund im Schloß des Eingangs, besonders den, den Gruner für eine Haustür vorgesehen hatte. Vergeblich. Auf dem Weg zum Kreisamt verstärkten sich seine Bedenken. Wie war das? Drei Dinge stimmten überein: die Brille, eine Fahrerlaubnis, der Besuch vor vier Tagen. Was eigentlich suchte er noch? Nur die Schlüssel, die paßten nicht. Aber war damit Jürgen Kramer wirklich aus jedem Verdacht entlassen? Nein! Er blieb im Kreis der Verdächtigen. Groß blätterte in allen vorhandenen Karteien des VPKA Dresden. Den Namen Jürgen Kramer fand er nicht. In krimineller Hinsicht mußte der Bursche ein unbeschriebenes Blatt sein. So oder so - ein erster namentlicher Hinweis für Berlin. Er mußte diese Spur mit Gruner konsequent zu Ende verfolgen. Dazu entschloß er sich, ohne seinen weiteren Plan aufzugeben. Vielleicht stimmten die Handflächen oder die Haare Kramers mit denen im Tatfahrzeug überein. Aber zunächst mußte er hier in Dresden weitermachen. Sonnabend nachmittag, sechzehn Uhr. Die beste Zeit, in den Veteranenklub der Volkssolidarität zu gehen. Er dachte an den Zeugen und dessen vage Personenbeschreibung. Vielleicht ließ sich da einiges vertiefen? Nicht, daß er die Arbeit der Dresdner Kriminalisten unterschätzte, nein, er wollte nur mit seinem Wissen um den Sachverhalt selber hören, prüfen. "Das muß doch rauszukriegen sein!" hatte Torsten gesagt.
Den Klub fand er schnell. In gemütlich eingerichteten Räumen saßen die von ihm Gesuchten beim Farbfernsehen, Canastaspielen oder Kaffeeklatsch. Händeschütteln. Eine kleine Sensation. Die Kriminalpolizei aus Berlin kam zu ihnen. Kein alltäglicher Besuch. Die Rentner lauschten Groß sehr aufmerksam und wißbegierig. Groß befand sich in seinem Element. Nach seinen Ausführungen hagelte es viele Fragen, zu viele, um sie alle beantworten zu können. Antworten kamen nur spärlich, aber sie kamen, und Groß entschloß sich zu Einzelgesprächen. Der Rentner Kubowski, der Zeuge, den er aus der überprüften Akte kannte, verwies ihn an den Rentner Willi Witt. Der hatte an jenem Abend seinen Hund ausgeführt und denselben Mann gesehen, Kubowski erinnerte sich jetzt daran, daß er mit Witt sogar darüber gesprochen hatte. Na bitte! Witt hatte bei der Kommunalen Wohnungsverwaltung gearbeitet und im Leben gelernt, die Augen offenzuhalten. "Ich will mal sagen, man hat mir immer Vertrauen entgegengebracht", erläuterte er seine Biographie. "Sie können auf mich rechnen." "Herr Witt, schien Ihnen dieser Mann auf dem Parkplatz verdächtig?" "I wo!" Witt griente. "An dem Abend jedenfalls nicht. Bin nur hingegangen, weil der Hund . Das ist immer sein Weg. Ich wohne ja da." "Was haben Sie gesehen?" Jetzt, da Witt den Sachverhalt kannte, wußte er plötzlich, daß er Entscheidendes beobachtet, einen Täter bei der Tat
gesehen haben mußte. "Langsam!" Groß mahnte zur Ruhe. "Der Reihe nach. Also noch einmal. Die Reisetasche, was war damit?" Witt holte weit aus. Groß mußte ihn ständig zum Kern der Sache drängen, das heraushören, was für ihn bedeutsam war. Er wollte das Stichwort Reisetasche zum Thema ausbauen. Bis jetzt wußte er von Witt, daß dessen Hund Pady auf dem Parkplatz zu einem Mann gelaufen war, der an einem Fahrzeug hantiert hatte. Witt hatte nach Pady vergeblich gepfiffen und war auf das Auto zugegangen. Dabei hatte er gesehen, wie der Mann eine Reisetasche aus dem Auto nahm und sich eiligen Schrittes in Richtung des Durchganges in die Böttchergasse entfernte. "Wie kommen Sie auf Reisetasche?" fragte Groß. "Welcher Unterschied zu einer Aktentasche - beispielsweise - bestand denn da?" "Ja, wie soll ich Ihnen das sagen? Sah aus wie ein kleiner Koffer, war so ., na, nicht eckig, so bauchig und hatte lange Henkel." "Aha! - Aber nun genau! Wann war das?" Witt zählte an seinen Fingern. "Drei? Nein, vier Tage. Also am . Warten Sie . Am Dienstag, Dienstag abend, jawohl." Er sah dabei fragend zu Kubowski, der bestätigend nickte. "Können Sie diesen Mann beschreiben?" "Eine dunkle Kutte hatte er an, war ziemlich groß." Leutnant Groß erhob sich. "Wie ich, oder?" "Einen Kopf größer als Sie, und lange Haare hatte er, wie eine Frau." "Sein Alter?" Witt hob bedauernd seine Schultern. "Vielleicht dreißig, ich weiß nicht. Jedenfalls sehr schlank."
"Trug er eine Brille?" "Nein, das weiß ich ganz genau." Mehr wußte Witt nicht. Aber seine und Kubowskis Aussage zusammengenommen, ergaben ein deutliches Bild. Und die Böttchergasse war der Anhaltspunkt! Wie lang war die Gasse? Wie viele Häuser? "Nicht viele; mehr als zehn sind es nicht bis hin zu dem neuen Kindergarten im Park." Groß tastete verstohlen nach den Schlüsseln in seiner Tasche. Er hatte es plötzlich sehr eilig. Hin zur Böttchergasse! Die wenigen Häuser standen sich direkt gegenüber, so dicht, daß sich die Nachbarn über die Straße hinweg fast die Hände reichen konnten. Groß probierte die Schlüssel mit steigender Spannung: im ersten und im zweiten Schloß und an den folgenden vier Haustüren. Da, beim sechsten Versuch jubelte er. Es hat geklappt! Der Schlüssel, auf den Gruner getippt hatte, paßte. Hut ab, Hanne! Haben wir ihn nun erwischt? Hier muß ich suchen! Jetzt hätte er gern den ABV gesprochen und über die Mieter befragt. Egal! Groß klingelte im Parterre bei Fucks. Hier traf er auf den freiwilligen Helfer der Volkspolizei Lipowski, der zu den am Vormittag Eingewiesenen gehörte und bereits seinem Auftrag nachging. Auch er hatte im Parterre geklingelt und bei Frau Fucks bereits erfragt, was zu erfragen war. "Da ist eine, Genosse Leutnant", erklärte der forsch, stolz darauf, erfolgreich zu sein. "Sibylle Langhans, im vierten Stock, Studentin an der Technischen Universität, siebenundzwanzig, ledig!" Langhans? Groß stutzte. Der Name war ihm schon untergekommen. Nur wo? Ja, in Marzahn! Gottfried Lang-
hans, Gastwirt der "Idylle". War das Zufall? Groß drängte. "Gehen wir nach oben!" Leutnant Groß war bei der Arbeit stets von Tatendrang erfüllt, und das nicht erst nach dem erfolgreichen Jurastudium in Babelsberg. Bei der Arbeit war er glücklich wie ein kleiner Junge. Nichts beeinträchtigte dieses Gefühl, weder stundenlange Suche nach dem Fadenende, um das Knäuel zu entwirren, noch ein endloser Arbeitstag und auch kein gelegentlicher Mißerfolg. Und jetzt: Cherchez la femme! Teufel noch mal, wie wahr.
Groß und hinter ihm Lipowski musterten abschätzend die junge Frau in der Tür der vierten Etage. Sie hatte ausdrucksvolle Augen, der Mund war dezent geschminkt. Ein faszinierendes Geschöpf, sicherlich kein "zugeknöpftes", registrierte Groß für sich. Fräulein Langhans forderte
geradezu heraus, näher zu treten, sich vorzustellen, sie zu fragen. Achtung, Leutnant, kein Vorurteil! Ihr Anblick ließ ihn noch nicht los, der Mädchenkopf mit dem kurzgeschnittenen Haar saß auf einem schlanken Hals. Groß konnte verstehen, daß ein Mann den langen Weg von Berlin auf sich nahm, um diese Julia in Dresden zu besuchen. Blieb nur die Frage: Wer ist Romeo? Sibylle Langhans besaß keine eigene Wohnung, nur ein Zimmer, die Studentenbude, wie sie sagte: Liege, Klubtisch, gepolsterte Stühle, Regale und Bücher, viele Bücher. Moderne Bilder schmückten die Wände. Und alles sauber, peinlich sauber. Sie bot den beiden einen Platz an und sagte: "Warum kommen Sie eigentlich zu mir? Was ist überhaupt los?" "Fräulein Langhans, wollen wir die Rollen nicht vertauschen, ich möchte die Fragen stellen", erwiderte Groß ausweichend. "Na dann zu, ich höre!" gab sie schlagfertig zurück. "Kennen Sie Gottfried Langhans?" "Aber ja. Er ist mein Onkel, der Bruder meines Vaters. Warum?" "Ich sagte schon, ich möchte die Fragen stellen. Wollen wir uns vorerst an diese Regel halten?" In Gedanken kommentierte Groß die Verbindung zu Langhans. Also doch. Er lief auf der richtigen Spur. "Vor vier Tagen, am Dienstag und Mittwoch, hatten Sie Besuch aus Berlin. Wer war das?" "Stimmt. Woher wissen Sie das?" "Fräulein Langhans!" "Schon gut. - Ein gewisser Jupp war hier." Das kam zögernd. "Ein Jupp, so! Jeder Mensch hat auch einen Familien-
namen, kann ich den erfahren?" fragte Groß trocken. Mit gerunzelter Stirn saß Fräulein Langhans da und schwieg. Was mochte in ihr vorgehen? "Jupp", begann sie schließlich, "er heißt Müller, seinen richtigen Vornamen kenne ich nicht, ehrlich, alle nennen ihn Jupp." Sie sagte die Wahrheit. Groß sah, sie schämte sich ein wenig, nicht den genauen Namen des Mannes zu kennen, der sie hier besuchte. "Erzählen Sie mir alles, was Sie über Jupp, Herrn Müller meine ich, wissen!" Nach diesen Worten blieb es einige Sekunden still. "Subtile Frage", murmelte Sibylle Langhans leise, schien sich dann der Regel zu entsinnen und antwortete: "Langhans ist mein Onkel. Ich habe bei ihm in den Semesterferien ein bißchen gekellnert, ein paar Mark zum Stipendium hinzuverdient. Da lernte ich Jupp kennen. Er kam jeden Abend, lief mir nach. Na ja, ich bin siebenundzwanzig, verstehen Sie das?" "Natürlich", sagte Groß ermunternd, und Lipowski nickte. "Später kam er zweimal zu mir nach Dresden und blieb auch ." Sie senkte den Kopf und schwieg wieder. "Wie lange?" "Wie lange? Das letztemal zwei Tage." Nach einer Pause: "Auch die zweite Nacht. Aber ." "Aber?" "Jupp ist - na, er ist etwas primitiv." "Was mich interessiert: Wie kam er, mit der Bahn?" Sibylle Langhans hob ruckartig den Kopf, erst fragend, dann mit verstehendem Blick. "Dachte ich mir's doch, daß da nicht alles stimmt!"
"Was - was stimmt nicht?" Mit der Bahn sei Jupp nicht gekommen, nein, beide Male mit einem Auto. Autoschlosser sei er in einer Produktionsgenossenschaft in Berlin, das wisse sie. Jupp hätte ihr erzählt, er fahre Kundenwagen zur Probe. Beim letztenmal nun fand sie Nummernschilder in seiner Aktentasche. "Jetzt kann ich mir denken, worum es hier geht!" Sie faßte Vertrauen und redete unaufgefordert weiter. Groß brauchte nur noch wenig zu unterstützen. Wo Jupp wohne, könne sie auch nicht genau sagen, gab sie freimütig zu, irgendwo in Pankow in Berlin. Bei ihrem Onkel könne man ihn finden, dort verkehre er regelmäßig, weil Langhans immer irgendwelche Leute an der Hand habe, deren Autos Jupp repariere. So sei das. Wie Müller aussehe? Wie er sich kleide? Jupp sei achtundzwanzig, wie er ihr gesagt habe, und geschieden; über eins achtzig groß, langes dunkelblondes Haar; er habe eine dunkelgrüne, halblange Kutte, das letztemal wenigstens hätte er sie angehabt. Sonst? An einen gelben Pullover könne sie sich erinnern. "Zwei Fragen noch, Fräulein Langhans. Trägt Herr Müller eine Brille?" "Nein." "Auch nicht beim Fahren vielleicht?" "Das weiß ich nicht. Bin nie mit ihm gefahren. 'ne Sonnenbrille, das kann sein." "Na schön! - Und Gepäck, ich meine, hatte er Gepäck bei sich beim letzten Besuch?" "Die Aktentasche mit den Nummernschildern, das sagte ich schon." Sie machte eine Pause. Kopfwiegend fuhr sie danach fort: "Da war noch 'ne Reisetasche. Die holte er am Mittwochabend, es war schon spät, er hatte noch mal
nach seinem Wagen sehen wollen. Oberhemden und Pullover waren drin. Daher weiß ich auch von dem gelben Pulli, er zog ihn hier erst an ." Sie brach ab, als wolle sie eine Frage stellen, traute sich wohl aber nicht. Groß frohlockte. Blieb noch der Schlüssel. Er wies ihn vor. "Ist das Ihrer?" "Darf ich sehen? Ja, meiner. Ich gab ihn Jupp, als er zum Wagen wollte. Woher haben Sie ihn?" Groß überhörte die Frage. Alles beisammen! bestätigte er sich, bis auf die verflixte Brille. Paßte der Schlüssel, wußte er mit der Brille nicht, wohin. Hatte er einen Brillenträger, konnte er die Schlüssel vergessen. Mann, o Mann! Das soll einer auseinanderheddern. Da waren noch ein paar Überraschungen drin. Brennend gern hätte er Torsten ein lückenloses Ergebnis auf den Tisch geknallt. Schade, nicht zu ändern. - Jetzt mußte er Sibylle Langhans das Wichtigste sagen. Still, mit zur Seite geneigtem Kopf hörte sie zu. Groß entdeckte in ihren ausdrucksvollen Augen wachsende Betroffenheit, und er sah, wie die Schlagader an ihrem schlanken Hals pulste. Besorgt sagte er: "Ich weiß, das ist kein frohes Erwachen für Sie." Sibylle Langhans erhob sich, ging zum Fenster und drehte ihm den Rücken zu. Es dauerte ein Weilchen, ehe sie antwortete: "Besser so! - Bekomme ich meinen Schlüssel zurück?" Vorerst gelte er noch als unerläßlicher Beweis, sagte Groß, und er dachte dabei an die pedantische Art Gruners, aber sobald alles geklärt sei, bekomme sie ihn zurück, ganz bestimmt, versprach er. Die Ehrlichkeit von Sibylle Langhans stand für Groß außer Zweifel, und ihre Situation bedrückte ihn. Er konnte
stammelnde Täter, deren Zusammenbruch, Reue und Versprechen ohne innere Anteilnahme hinnehmen; aber es stimmte ihn stets nachdenklich, sah er das Vertrauen anderer Menschen mißbraucht. "Kopf hoch, Fräulein Langhans! Ich weiß, das ist kein Trost für Sie, aber die Wahrheit ist der einzige Weg, mit dem Leben fertig zu werden." Das handschriftliche Protokoll war schnell aufgesetzt. Groß und der VP-Helfer verabschiedeten sich.
Als Leutnant Groß im VPKA ankam, erwartete ihn eine Neuigkeit. Lederers Truppe hatte, auf seinen Vorschlag hin, damit begonnen, die Handzettel an die Dresdner Optiker zu verteilen, und auch bereits eine ganze Reihe von Kundenkarteien durchgesehen. Fünf Adressen hatten sie mitgebracht und fragten nun, ob sie die Personen überprüfen sollten. Als Groß die Namen las, mußte er sich setzen. Auf einem Zettel stand: "Kramer, Jürgen, Ringstraße 14." Seine Grübelfalte vertiefte sich, und hörbar sog er Luft ein, ehe er antworten konnte: "Nicht mehr nötig, ihr habt einen Richtigen erwischt." Stichpunktartig erläuterte er den Sachverhalt und erklärte: "Brechen wir ab! Ich muß nach Berlin zurück, hier gibt's jetzt nichts mehr zu ermitteln." Nun hatte er zwei Verdächtige: Kramer und Müller! Beide in Berlin. Die Nummernschilder waren schnell an Kuhns Wagen montiert. An der Tankstelle fiel ihm ein, daß Kuhn ihn gemahnt hatte, die Einfahrvorschriften zu beachten, als er ihm den Zweitschlüssel anvertraut hatte. Dann zog er los: Freienhufen - Waschküche, Groß Köris - hundert Meter Sicht, Schönefelder Kreuz - Bodennebel, Berlin -
Nieselregen. Zu Hause! Sonnabend abend, Berlin, Alexanderplatz, zweiundzwanzig Uhr. Groß zögerte, aber nur einen Augenblick, ging ans Telefon und rief Torsten an. Egal, und wenn ich störe, ich muß ihn zumindest vom Stand der Dinge in Kenntnis setzen. Groß gab sich alle Mühe, ruhig und sachlich zu berichten, doch Torsten schien seine Erregung zu spüren. "Müller also! Etwa Jochen Müller?" fragte Torsten. Groß schlug vor, nicht länger zu zögern, doch Torsten entschied, ohne die Einwände seines Mitarbeiters zu beachten: "Langsam! Zuführen? Nein, kommt nicht in Frage, noch nicht! Wenn wir uns nur auf Vernehmungen verlassen ." "Nicht doch, ich habe ja alles ." "Aber dir ist doch nicht neu: lückenlos beweisen, wissen und dann erst handeln." "Also für heute abbrechen und morgen?" "Montag, Montag früh! Mit Gruner werden wir das beraten. Er muß uns die Beweise liefern. Keinen Alleingang, wozu haben wir die Technik?" Torsten hatte Not, den Tatendrang von Groß zu drosseln. "Ruhe dich aus! Es kommen noch ein paar heiße Tage. Tschüs!" Torsten hatte aufgelegt. Groß hätte zu gern weitergemacht. Wußte er nicht alles! Wenn nicht Müller - wer sollte es sonst sein! Und die Brille gehörte doch diesem Kramer. Sicher, es gab noch andere, die so eine Brille . Und wenn beide zusammen . Der Zeuge Gottschalk hatte am Unfallort aber nur einen gesehen. Wenn, wenn! Es war eben doch noch nicht so klar. Es gab noch Widersprüche, die sich in die Hacken traten. Der Aktenwolf .!
Montag morgen, sieben Uhr fünfundvierzig. Oberleutnant Gruner und Leutnant Groß saßen schon in Torstens Zimmer, als er eintrat. Gruner notierte in seinem Alleswisser die Beweise, die er kontrollieren wollte, und jene, die er noch zum Vergleich benötigte. Er wußte genau, was auf ihn zukam, was Torsten von ihm verlangen würde. Das war jedesmal das gleiche. An diesem Morgen durchbrach Torsten das sonst übliche Ritual, sogar sein "Hm!" vergaß er. Kaum daß er im Zimmer war, telefonierte er mit dem Krankenhaus. Er wollte hören, wie es Anita Anders ging, wollte den Befund. " . Verletzungen des Bauchraumes infolge stumpfer Gewalt: Riß im Darmkanal; Oberschenkelbruch, unbedeutende Kopfverletzungen. Noch flache Atmung, aber keine akute Lebensgefahr mehr . Mein Gutachten erläutert alles ausführlich ." "Ich danke!" Torsten dachte daran, was für eine traurige Arbeit sie mitunter doch hatten; aber sich davon trennen, das gab es erst, wenn man an die Rente denken mußte. "Hm!" Jetzt begann alles wie gewohnt: Torsten stelzte ein paarmal im Zimmer auf und ab, setzte sich, kniffte ein Blatt Papier, die Portion Tabak drauf, Pfeife gefüllt - die Wolke. "Genosse Groß berichtet!" Groß wiederholte, was er Torsten am Telefon nur kurz und Hans Gruner schon ausführlicher erzählt hatte. Torsten machte sich Notizen, und als Groß zum Schluß kam, öffnete er sein Schreibtischfach und entnahm ihm einen Stoß Blätter, Vordrucke mit Lichtbildern, Personen-
beschreibungen und ausführlichen Texten über Straftaten bereits registrierter Täter. "Müller?" knurrte Torsten verdächtig listig, blätterte und zog schließlich einen Bogen aus dem Stapel. "So, da haben wir ihn ja: Jochen Müller!" Platt vor Staunen, sah Groß zu ihm hin. So, da hat er ihn, aus der Straftatenvergleichskartei, hätte ich mir auch denken können. Das ist eben Torsten, dem Kollektiv immer um einen Schritt voraus, doch nie eigennützig. "Alter stimmt. Personenbeschreibung, Größe kann stimmen. Von Beruf Schlosser. Das Lichtbild, na ja, 'n bißchen alt. Wohnung: Berlin-Pankow, Löhrstraße dreizehn." Torsten drehte das Blatt um, las und sagte: "Sein Lebenslauf: Jugendarrest Struveshof mit Ausbildung als Schlosser. Wiedereingliederung und Arbeitsaufnahme in der PGH. Diebstahl eines Motorrades, Freiheitsstrafe mit Bewährung. Unbefugtes Benutzen eines Wartburgs, sechs Monate plus Bewährung, also mit Rucksack, und Entzug der Fahrerlaubnis. Nach der Haftverbüßung Fahren ohne Fahrberechtigung mit einem Kundenwagen. Scheint Spezialist auf Wartburg zu sein; wahrscheinlich hängt das mit der PGH zusammen." Torsten sah hoch und nickte, als wolle er Groß' Bericht bestätigen. "Spitzname Jupp!" "Na bitte! Worauf warten wir noch?" nörgelte Groß ungeduldig. Torsten paffte und entgegnete: "So ein Signalement darf nur Hinweis sein, mehr nicht. Wir brauchen Beweise. Mal sehn, was unser Kriminaltechniker für uns bereithält." Gruner, wortkarg wie immer, zählte nüchtern auf: "Für Müller? Na, erst mal haben wir die Handflächenspur: Vergleich mit dem Abdruckbogen aus der Sammlung, Handflächen und Finger, alles da. Dann die Wohnung in Pankow: Schlüsselkontrolle. Passen die, Wohnungsdurch-
suchung nach Draht, solchem, wie er an den Zündschlössern sichergestellt wurde. Festnehmen und Haarvergleich, Blutgruppenbestimmung. Ich denke, das ist die Reihenfolge." "Und die Brille? Was wird damit?" Groß nahm sie vom Tisch und hielt sie Gruner hin. Der winkte nur ab. "Die Brille? Zweitrangig, im Augenblick jedenfalls. Du hast fünf Meldungen mitgebracht, wenn ich erst nachfrage, wer weiß, wie viele da noch zusammenkommen. Kramer, na schön, ein Zweig im Gestrüpp." Groß ließ nicht locker. "Die Handfläche, wenn die nun von Kramer stammt? Er kann doch mit Müller gemeinsam . Ist doch möglich, oder?" "In zwei Stunden wissen wir, ob die Spur von Müller stammt. Wenn nicht er, dann vielleicht Kramer. Das eine ergibt das andere." Groß verstand: Beweise, Beweise. "Na gut", meinte er. Torsten hämmerte die Asche aus dem Pfeifenkopf in die Schale. "Müllers letzte Strafakte ziehen", wies er an und erhob sich. "Ich muß nach Weißensee, bei der Gelegenheit fahre ich bei der PGH vorbei. Mal hören, was die von Müller wissen, die Kaderakte und so. Alles klar?" Groß grinste. Alles klar, auch das. Er unterdrückte, was ihm auf der Zunge lag. Torsten kannte ja seinen Spitznamen. Gruner klappte seinen Alleswisser zu. "Ich brauche noch eine Anordnung zur Wohnungsdurchsuchung und für die Festnahme, vorsorglich." "Die holst du", befahl Torsten und deutete auf Groß. "Bis der Daktyloskop mit der Handfläche fertig ist, bist du vom Staatsanwalt zurück. Dann sehen wir weiter!"
Ein langer Tag zeichnete sich ab.
Die Kfz-PGH in Weißensee war eine Vertragswerkstatt für Wartburg und Trabant. Der Meister, der ihr vorstand, hieß Lewandowski. Jochen Müller bummelte, seit einem Monat kam er nur dann und wann noch zur Arbeit. "Und haben Sie sich um ihn gekümmert?" fragte Torsten. "Gekümmert? Ich kann Ihnen ein Lied davon singen. Ein hirnloser Büffel. Wir wollen ihn entlassen. Lange genug haben wir uns mit dem herumgeschlagen. Sollen wir uns wegen so einem das Leben schwer machen?" antwortete Lewandowski ärgerlich. "Gerade so einem muß man auf die Hühneraugen treten. Ich weiß, nicht einfach; aber sonst kommt er unweigerlich unter die Räder, ist das besser?" "Ihre Ansicht, Ansicht der Volkspolizei. Wir aber, wir haben andere Sorgen. Kennen Sie unseren Plan? Wir müssen für so einen Kerl mitarbeiten, so ist das!" Lewandowski zeigte auf das. Fenster, zum Hof hinaus. "Die Arbeit wird nicht weniger, immer mehr Fahrzeuge, immer mehr Kunden. Wir wissen oft nicht, wo uns der Kopf steht. Nein, einmal muß Schluß sein mit Müller! Sollen sich andere um den kümmern." "Natürlich, andere, sehr einfach. Und jetzt sind wir mal wieder an der Reihe." Torsten brauste auf und spürte, daß er hier deutlicher werden mußte. "Vielleicht wäre einiges zu verhindern gewesen, aber so, so haben sie im Grunde genommen allem nur Vorschub geleistet." "Sie haben gut reden, verehrter Genosse", polterte Le-
wandowski los. "Ich weiß: erziehen, erziehen! Und die Arbeit? Die bleibt liegen." "Jawohl, erziehen! - Nun gut, wir werden es ja sehen, wenn Ihr Betrieb den gesellschaftlichen Ankläger oder den Verteidiger stellt." Sicher hatte Lewandowski seine Sorgen, aber war es wirklich zuviel verlangt, rechtzeitig einzugreifen? Dann erfuhr Torsten noch aus den Unterlagen und von Lewandowski folgendes über den jungen Mann: Als Hilfsarbeiter war Jochen Müller mit zwanzig Mitglied der PGH geworden. Mit der Vorbildung aus dem Jugendwerkhof verband sich bei ihm Talent, wenn nicht gar Berufung zum Autoschlosser. Doch eine fast krankhafte Manie zum Fahren, die er schon mitbrachte, verleitete ihn während dieser Zeit, ein Motorrad wochenlang mit gefälschter Nummer zu benutzen, das er irgendwo von der Straße weggenommen hatte. Er erhielt dafür eine Strafe mit Bewährungsfrist. Danach strengte er sich an, machte seinen Teilfacharbeiter als Autoschlosser und verpflichtete sich im Rahmen der Erwachsenenbildung, die neunte und zehnte Klasse nachzuholen, um Facharbeiter zu werden. Der Betrieb ermöglichte ihm außerdem, daß er die Fahrerlaubnis für PKW erhielt, um seinem Wunsch, fahren zu können, entgegenzukommen. Das erwies sich leider als Fehler, denn bald danach holte er sich einen Kundenwagen vom Hof und unternahm eine ausgedehnte Schwarzfahrt bis zur Ostsee. Er wurde gestellt. Die Folge: unbedingter Freiheitsentzug plus Bewährung und Entzug der Fahrerlaubnis. Als er rauskam, half ihm die PGH erneut, stellte ihn als Zerleger von Motoren im Leistungslohn an und steckte ihn in eine bewährte Brigade. Das ging eine Weile ganz gut,
bis er eines Tages ohne Fahrerlaubnis mit einem Kundenwagen einen Unfall baute. Die Ordnungsstrafe und der Schadenersatz folgten auf dem Fuß, und seine Fahrerlaubnis rückte in weite Ferne. Er begann zu bummeln. Vermutlich hing das auch mit seiner Ehescheidung zusammen; er hat sich nie darüber ausgesprochen. Und während er tagelang nicht zur Arbeit kam, versuchte er privat, soweit ihm das möglich war, Reparaturen auszuführen. Zwischendurch kam er hin und wieder angetrunken in die Werkstatt. Aussprachen mit ihm in der Brigade und im Vorstand halfen immer nur für kurze Zeit, schließlich blieb er ganz weg.
Oberleutnant Gruner empfing Torsten mit dem Ergebnis der daktyloskopischen Untersuchung der Handfläche: Die Hautlinien der Innenfläche der rechten Hand des verdächtigen Jochen Müller - nach Abdruckbogen stimmten mit der am Unfallort gesicherten Handflächenspur in mindestens zehn Merkmalen, neben einer tiefen Beschädigung (Narbe) der Horn- und malpighischen Schicht sowie der Lederhaut, überein. Hier war das Papillarliniengebilde eindeutig unterbrochen. Somit stand fest: Der verdächtige Jochen Müller war im vorliegenden Fall überführt, der Spurenverursacher zu sein. "Gutachten und Diagramm werden nachgereicht", schloß Gruner. "Sehr schön, einwandfrei!" sagte Torsten anerkennend. "Also dann wie besprochen. Saust ab, holt ihn her!" Während Groß sich ungeduldig und Gruner mit Bedacht auf den Weg machten, blätterte Torsten in Archivakten Jochen Müllers. Darin fand er einen Bericht des Amtes Jugendhilfe/Heimerziehung, der das Bild abrundete. Genau ein Jahr nach Gründung unserer Republik wurde
Jochen geboren. Er kam ungewollt zur Welt. Seine Mutter heiratete zwei Jahre danach einen Alfred Kleinert. Jochen, vernachlässigt in Erziehung und Umgang, entwickelte sich zu einem schwer beherrschbaren Jungen. Um seine schulisch mäßigen Leistungen kümmerten sich weder der Stiefvater noch die Mutter. Prügel wegen rowdyhafter Streiche bewirkten noch mehr Verstocktheit und führten dazu, daß Jochen wochenlang dem Elternhaus fernblieb. Kleinert drängte auf Heimeinweisung. Doch zunächst kam Jochen in die Lehre als Werkzeugmacher, die er jedoch abbrechen mußte, da er als Sechzehnjähriger versucht hatte, die Republik zu verlassen. Die bereits angestrebte Heimeinweisung kam mit der Auflage, Jochen als Schlosser auszubilden, nunmehr zum Zuge. Auch hier entwich er einmal und wurde erst nach Tagen in verwahrlostem Zustand aufgegriffen und zurückgeführt. Kleine, nicht geahndete Straftaten und Unbotmäßigkeiten folgten. Nur schwer war er davon zu überzeugen, ein normales Leben zu führen. Seine Eingliederung in das gesellschaftliche Leben ließ Probleme erwarten. Und er stand nicht fest auf den Füßen, auch in seiner späteren Ehe nicht. Stets unentschlossen, zum Guten wie zum Bösen neigend, versuchte er sich Mut anzutrinken. Und der Alkohol durchkreuzte alle Auflagen und die Anstrengungen anderer, ihm den rechten Weg zu weisen. Wie bekannt waren Torsten solche Dinge aus den Vorgeschichten kriminell belasteter Menschen: Der Vater konnte oder wollte aus fadenscheinigen Gründen nicht erziehen, und die Mutter, oft zu schwach, sei es aus Liebe, sei es aus Resignation, versagte. Da lagen meist die Gründe für das spätere Scheitern eines Heranwachsenden. Dieser Mangel an Geborgenheit, Vertrauen und Selbstsicherheit war der
springende Punkt. Da mußte man ansetzen. Aber ein Erfolg war - im nachhinein - nur zu erzielen, wenn Sich der Betroffene nicht selbst in die Vergangenheit zurückkatapultierte, resümierte Torsten.
Das Haus Löhrstraße 13 in Berlin-Pankow war ein Altbau aus den Gründerjahren, der den Bombenkrieg fast unbeschadet überdauert hatte. Auf der anderen Straßenseite war man schon dabei, die Häuser zu rekonstruieren. Jochen Müller wohnte im Seitenflügel links, zweite Etage: Stube, Küche, Innentoilette. Hier drückte Groß den Klingelknopf, klopfte, klingelte wieder und klapperte mit dem Deckel des Zeitungsschlitzes. "Warte! Laß mich mal!" sagte Gruner, da sich nichts tat, und schob Groß beiseite. Er zog das Schlüsselbund aus der Tasche und probierte. Der passende Schlüssel zum Kastenschloß war schnell herausgefunden - aber es war nicht mal abgeschlossen. Der Drücker für das Schnappschloß hing auch am Ring. Die Tür gab nach. "Na bitte! Geh, hol Zeugen, ich muß rein!" Wozu das noch? wollte Groß fragen. Denn daß Gruner Müllers Schlüssel in der Hand hielt, war doch wohl klar. Doch er konnte sich Gruners Antwort denken: Jeder Beweis ist unerläßlich! Haare und den Draht brauche ich noch! Also ging er widerspruchslos. Eine Junggesellenbehausung, das sah Gruner auf den ersten Blick. Wahllos zusammengetragene Möbel füllten das Zimmer: ein Gestell - Federboden mit angenagelten Beinen -, Matratzen drauf und Bettzeug, eine Kommode, ein Klubtisch und Korbsessel. Die Tischdecke hing vor dem Fenster. Haken an der Zimmertür ersetzten den Kleiderschrank. Und die Küche: Schmutziges, verkrustetes
Geschirr auf Herd und Fensterspind ließen darauf schließen, daß Müller sich in seiner Wohnung seit Tagen nicht mehr aufgehalten hatte. Getürmt! Da kam Groß mit zwei Mietern, mit einer Frau Lindner und einem Herrn Kutzner. Während er ihnen die Rechte und Pflichten eines Zeugen erläuterte, sah Gruner bereits in Schübe und Kästen. Gruner kannte aus seiner Praxis bestimmte Gewohnheiten und wußte, in welchen Behältnissen und Verstecken er stöbern mußte, um zu finden, was er suchte. Und er fand: eine handgewickelte Rolle Draht mit blauer Isolierung und einen Kamm, den er ins Gegenlicht des Fensters hielt, um einige Haare aus den Zinken zu ziehen - winzige Beweismittel, die er mühsam in ein Glasröhrchen steckte. "So!" sagte er triumphierend und vermerkte Draht und Haare nebst Fundort im Protokoll. "Beweise", kommentierte Groß indessen für die Zeugen, "und hier müssen Sie unterschreiben." Dabei dachte er: Nun hast du alles beisammen - bis auf den Täter. Doch warte, Oberleutnant, den werde ich dir servieren, ich weiß nämlich, wo man ihn finden kann. Schon im Wagen, äußerte sich Groß gewollt beiläufig: "Ich fahre dich zum Präsidium und gondle gleich weiter. Bestell Torsten einen schönen Gruß, und wenn Müller nicht bis heute abend bei uns ist, will ich nicht mehr Groß heißen!" "Löblich, wirklich löblich!" spottete Gruner.
"Du glaubst wohl nicht?"
"Doch, doch! Wie ich dich kenne ."
Auf dem Weg zur Gaststätte "Idylle" am Rande des
Neubaubezirks erinnerte sich Groß an seine ersten Ermittlungen dort. Heute wußte er mehr als damals, heute konnte ihm der Wirt Langhans nicht mit Ausflüchten kommen. Die Karten waren gemischt, Groß war in Vorhand. Mittagszeit. Herbert Groß stieg die paar Stufen hoch und betrat die Gaststube. Langhans stand hinter dem Tresen. Als er Groß erkannt, vergaß er, daß das Bier lief. Erst als Groß ihn wie einen alten Bekannten begrüßte, stellte er den Zapfhahn ab und wischte seine nassen Hände über das Tuch, das er wie eine Schürze vor den Leib gebunden hatte. Groß hatte ein geübtes Auge. Er wählte dicht bei der Theke einen Platz, von dem aus er das Lokal überblicken konnte. Die runden Tische waren durch halbhohe Zwischenwände voneinander getrennt; das verlieh dem Lokal eine gewisse Behaglichkeit. Um die Mittagszeit aßen hier ganze Familien und hoffnungsvoll Jungverheiratete, die nach dem Umzug darangingen, ihr Leben in der neuen Umgebung einzurichten. Natürlich waren unter den Gästen auch Leute, die schon in dem neuen Stadtbezirk arbeiteten. Groß dachte an Jürgen Kramer: Auch dem lause ich noch den Pelz, die verflixte Brille, das will ich wissen! Noch immer kam er nicht von dem Gedanken los, daß Müller und Kramer eventuell unter einer Decke steckten. "Ein Bier, Herr Leutnant, oder .?" Langhans gab sich entgegen seiner Gewohnheit auffallend übereifrig, obwohl eine flotte Kellnerin leichtfüßig von Tisch zu Tisch huschte. Groß hob abwehrend die Hände. "Ich bitte Sie, keinen Alkohol! Bin Autofahrer. Sie kennen das doch." Ein ironischer Unterton klang mit. "Hätte gern einen Kaffee kom-
plett und zehn ungestörte Minuten mit Ihnen. Geht das?" Mißtrauen glomm in Langhans' Augen. Trotzdem nickte er zustimmend, bongte einen Kaffee in die Kasse, ging zur Durchreiche und kam betont langsam mit der Tasse zum Ecktisch herüber. Groß hatte sich vorgenommen, Langhans mit einer Frage zu überfallen, die den zu der Einsicht zwingen sollte, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit. "Wo ist Jupp? - Jochen Müller?" Langhans sah Groß betroffen an, hob entschuldigend die Schultern und ließ sie fallen. "Ist heute noch nicht aufgekreuzt", nuschelte er. Er kannte Müller also. - Gut! "Und wann kommt Jupp?" Langhans rutschte auf seinem Stuhl, wiegte den Kopf. Eine Antwort gab er nicht. "Bestellen Sie ihn her! Ich warte solange." "Ich?" "Ja, Sie. Wer sonst?" verlangte Groß mit Nachdruck. "Ich soll wissen, wo .?" Groß blieb keine Wahl. "Herr Langhans, ich warne Sie, rütteln Sie nicht an den Fundamenten der Logik! Sie wissen sehr wohl, wo Müller zu finden ist. Sie haben ihn stets bestellen können, wenn Sie ihn brauchten. Für Kunden. Autoreparaturen - sage ich nur." Langhans saß wie begossen auf seinem Stuhl. Noch zögerte er, aber angesichts der Entschlossenheit des Leutnants blieb ihm kein Ausweg. "'ne Telefonnummer in seinem Haus hab ich ." Groß unterbrach ihn sofort. "Müller ist nicht zu Hause. Sie wissen das." Langhans widersprach nicht. Jetzt wackelte er mit dem
Kopf wie ein Eisbär. Dabei murmelte er etwas, was Groß nicht sogleich verstand. "Wie bitte? Noch mal!" "Bei seiner Geschiedenen, Straße der Freundschaft. Ist verletzt, am Kopf, ist krank." "Aha! Sie wissen auch, wovon das herrührt?" "Hab ihn ja oft genug gewarnt. Auch am Donnerstag, ehe das passierte, hat er nachmittags hier gesessen, getrunken, bis er losfuhr." "Wieviel?" "Genug!" Langhans war bereit auszusagen. Und was Groß da zu hören bekam, war wichtig, sehr wichtig. Müller hatte also zur Zeit des Unfalls unter Einfluß von Alkohol gestanden. Groß bestellte Langhans zum Präsidium. Seine Aussage mußte protokolliert werden. "Warum haben Sie so lange geschwiegen?" Langhans antwortete nicht. Statt dessen hob er wieder die Schultern, ließ sie wieder fallen - ebenso wie vorhin. Begriff dieser Mensch denn immer noch nicht, daß er falsch gehandelt hatte? "Überlegen Sie sich die Einzelheiten genau, das kann ich Ihnen nur raten! Ihr Verhalten, ein schuldhaftes Verhalten, meine ich, wird Ihnen sicher zur Last gelegt werden; als Gastwirt tragen Sie Verantwortung, denken Sie darüber nach!" Groß trank den kalt gewordenen Kaffee auf einen Zug aus. "Kennen Sie Jürgen Kramer?" fragte er noch und zahlte. Den kannte Langhans nicht. Groß wußte nun, daß er und die anderen sich nicht vergeblich abgemüht hatten. Die ganze Lauferei führte endlich zum Ziel und in die Straße der Freundschaft; doch zunächst zum zuständigen Volkspolizeirevier.
Müllers geschiedene Frau öffnete ihnen die Tür. Groß brauchte nichts zu sagen, denn angesichts des uniformierten ABV wurde die junge Frau sofort ernst. In ihrem schmalen Gesicht zogen sich kleine Fältchen um Augen und Mundwinkel zusammen. "Jupp? - Ich ahnte es doch. Ich sage Ihnen gleich, ich will mir da nichts aufladen, wegen dem nicht! - Kommen Sie rein!" Groß sah sich um. "Wo ist er?" Ingrid Müller deutete mit dem Daumen über die Schulter auf die Tür am Ende des Korridors. "Ich hab's satt. Er verspricht alles und hält nichts." Ohne anzuklopfen, traten Groß und der ABV in das Zimmer. "Jochen Müller?" "Wat soll det? Wat wollen Sie? Bin krank. Sehen Sie nicht?" Müller zeigte auf den Verband um seinen Kopf. "Sehe ich", entgegnete Groß. "Und ich weiß auch, woher. Ich stelle Sie jetzt einem Arzt vor, ob Sie haftfähig sind. Klar?" "Warum?" "Sie fragen noch? - Kommen Sie! Sie öffnen Auto-, wir Gefängnistüren." "Wat für Türen? - Damit habe ick ." "Schließen Sie den Mund, der will lügen! Außerdem haben Sie noch genügend Zeit, zu reden." Jochen Müller wurde gegen Abend zur Vernehmung gebracht. Torsten saß hinter seinem Schreibtisch und mühte sich, eine Portion Tabak in den Pfeifenkopf zu schütten. Vor ihm lagen die Beweise: die Reisetasche, die Rolle Draht, das Bund Schlüssel, das Diagramm der Handflächenspur,
das Gutachten über die Identität der Haare, auch die Brille lag da. Gruner und Groß hatten sich hinter dem Hauptmann in der Ecke des Zimmers plaziert. Torsten musterte den jungen Mann, der älter schien, als er war: Die Kopfverletzung war vom Arzt versorgt, der Verband erneuert worden. Müller war groß und auffallend schlank, ja sogar ein bißchen schlaksig. Er hatte ein breites Gesicht, und die langen Haare, die unter dem Verband hervorguckten, standen störrisch nach allen Seiten.
"Setzen Sie sich!" Torsten wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Müller verharrte unschlüssig, bis er ein zweites Mal aufgefordert wurde, Platz zu nehmen. "Wir wollen mit Ihnen reden", begann Torsten, nachdem er sich vergewissert hatte, daß Müller vernehmungs- und auch haftfähig war. "Sie gehen jetzt zum zweitenmal ins
Gefängnis. Diesmal mit Strafverschärfung wegen Rückfalls. Erleichtern Sie Ihre Lage mit einem Geständnis!" Nach einer längeren Pause erwiderte Müller dreist: "Aufgewärmte Vergangenheit. Ick habe nichts zu sagen." Torsten drehte sich nach hinten um. Er nickte bedächtig. Groß wußte, was Torsten damit ausdrücken wollte: Da habt ihr's! "Soso! Also nicht?" stellte Torsten, wieder zu Müller gewandt, fest. Müller wollte nicht. Mit verhaltenem Atem erwiderte er lediglich: "Das kenne ich schon, Ihre Methode. Leiern mir die Seele aus 'm Leib, und ick soll unterschreiben, ob ick will oder nicht. Det nennen Sie Geständnis, drei Mann hoch, nee!" Jochen Müller hatte sich beim letztenmal hoch und heilig geschworen, nie wieder auszusagen. Daß sie mir erwischt haben, der Unfall - Pech, sonst . Er schielte nach den Gegenständen auf Torstens Schreibtisch. Wat hatten die da alles? Indem er Torsten in die Augen sah, senkte er den Blick und wiederholte einsilbig: "Ick habe nichts zu sagen!" Sollen Sie mir doch beweisen. Zugeben - denkste! dachte er dabei. "Aha! Sie kennen also die Methode! - Da muß ich Ihnen allerdings etwas verraten: Ihre Aussage ist gar nicht so wichtig." "Nich? " Müller staunte. "Wenn ick aber nich will . Sie können doch nicht so ohne weiteres ." Er brach ab. Sein Blick wanderte erneut zu den Sachen auf dem Tisch. "Sie irren sich", belehrte ihn Torsten. "Die Zeiten, da man das Geständnis für die Krone aller Beweise hielt, Aussagen raffiniert, unerlaubt oder mit Gewalt erzwang,
sind längst vorbei. Da haben Sie noch nicht mal gelebt, so lange ist das schon her." Ungläubig hing Müllers Blick an Torstens Lippen. "Versteh ick nich!" "Glaube ich Ihnen. Aber begangene Fehler kann man versuchen wettzumachen", fuhr Torsten fort, "durch ein Geständnis. Und man muß sie auch wirklich erkennen. Nennen wir es einfach Reue. Denn was Sie zugeben oder auch nicht, beweist nur, wie Sie zu Ihrer Tat stehen. Und Reue ist das mindeste - das Wichtigste, wenn sie zur Einsicht führt." Müller stützte den Kopf in die Hände Und schloß die Augen. So war er, Jochen Müller, unentschlossen, wie Torsten bereits wußte. Unentschlossen zum Guten und zum Gegenteil, oft zum eigenen Schaden. "Na, was ist? Sehen Sie sich mal an, was Sie uns alles überlassen haben!" "Was fragen Sie mir ein Loch in den Bauch? Sie wissen ja doch alles besser." Er hob den Kopf und sah die Schlüssel, die Reisetasche, die Rolle Draht. Deprimiert wurde Müller, trotz seines Vorsatzes, nichts zu sagen, geständig. Torsten begann mit dem Lebenslauf. Müllers Verhalten glich aufs Haar der Vorgeschichte. Torsten wußte vieles, was diesen Burschen betraf, aus den bisherigen Strafakten, die auf dem Schreibtisch lagen. Nicht umsonst hatte er sich damit abgemüht. Er hatte Anhaltspunkte entdeckt, die sich jetzt als nützlich erwiesen. Dann kam Torsten zu den vorliegenden Beweisen. Fast mit Gleichmut antwortete Müller unkompliziert und gestand die unbefugte Benutzung des Wartburgs von Kuhn, den Besuch bei Sibylle Langhans in Dresden und den Diebstahl der Reisetasche aus dem Wagen voll Ol-
schewski. "Det mit der Tasche war een Zufall, ehrlich!" sagte Müller auf die Frage Torstens nach dem Grund für den Diebstahl. "Ick wollte mir doch schon nach 'nem anderen Wagen umsehen für die Rückfahrt, denn die Sibylle war so komisch. Ick sollte in't Hotel schlafen gehen, hatte die gesagt. So hab ick denn den Wartburg mit der Tasche entdeckt. Auf Wartburg bin ick Spezialist . Aber det Lenkschloß war verriegelt, kam also nich in Frage. Und die Tasche, wat soll's, hab ick mir gedacht, hab se einfach mitgehen lassen, nur so . Reiner Zufall, ehrlich!" "Und?" "Wat ,und'?" "Haben Sie einen Wagen für die Rückfahrt gefunden?" "Ja. Aber erst am nächsten Morgen ganz früh. So lange bin ick noch geblieben, bei Sibylle. Aber det war det letztemal ." "Das glaube ich auch", knurrte Groß. Damit hatte Müller die Benutzung von Beckers Wartburg für die Fahrt nach Berlin zugegeben. Auch die Trunkenheit während des folgenschweren Unfalls gestand er ein, und er sagte aus, daß Langhans soviel wußte, daß er, Müller, gegen Abend noch mit einem Wagen nach Hause fahren wollte. Müller hatte die Absicht gehabt, in der Dunkelheit den Wartburg in Pankow einfach stehenzulassen. "Det war inzwischen riskant, noch länger damit rumzukutschen", erklärte er, ohne zu zögern. "Aber der Unfall ." "Der Unfall?" forderte Torsten zum Weiterreden auf. "Hab ick nicht gewollt", wich Müller aus. "Ehrlich!" "Natürlich nicht. Sie hatten nur getrunken; genug, sagte uns Ihr ,Freund' Langhans, und das will was heißen. Sie
mußten damit rechnen. Was bedeutet Ihnen denn ein Menschenleben? - Sie wollten das nicht; aber sagen Sie selbst, was ändert das an den Folgen? - Eine Fahrerlaubnis haben Sie auch nicht!" Müller schluckte krampfhaft. Nach einer längeren Pause wollte Torsten noch wissen: "Warum haben Sie die Nummernschilder von Kuhns Wartburg abgeschraubt?" Auf diese Frage hatte Gruner schon lange gewartet. Müller stierte Torsten an, ehe er auch das bereitwillig erklärte: "Ick wollte doch die Schilder an den grauen ." "Beckers Wartburg?" ". ja, an den wollte ick sie anmachen. Wenn die Polizei das Auto gefunden hätte . "'n bißchen durcheinander wollte ick die . Deshalb hab ick die Schilder nicht weggeschmissen." Eine vorbedachte Tat. Wieviel Vorsatz gehörte dazu? Stille. Da ließ sich Groß hören: "Und die Brille?" Müller sah sofort auf. "Die gehört mir nicht!" "Wem denn?" "Das war so", begann Müller. "Donnerstag morgen bin ick los von Dresden mit dem grauen . Na ja, bei Sibylle, das war sowieso nichts. Hinter Freienhufen auf der Autobahn stand ein Trabant, rechter Antriebsbruch. Ick hielt an, wollte helfen, war aber nichts zu machen. Zwei Maurer wollten nach Berlin. Einer fuhr dann mit bis zum nächsten Telefon, wegen Abschleppen. Dem gehört die Brille. Er setzte sie auf, weil et nebelig war. Und dann hat er sie liegenlassen. So war's, das können Sie mir glauben." "Wissen Sie, wie der Mann heißt?" "Weiß ich nicht, nee. Warten Sie . Jürgen, ja, Jürgen rief der andere. Mehr weiß ick wirklich nicht."
"Nun gut, Herr Müller! Gibt es noch etwas zu sagen?" Müller druckste. Er kaute auf einem Satz herum, bis er schließlich redete: "Ick weiß, daß ich eingebuchtet werde, daß ick die Zeit ohne Bewährung absitzen muß, diesmal kriege ick ja den Rucksack mit. Aber wenn ick wieder rauskomme, verspreche ick ." "Er verspricht alles und hält nichts" - diese Worte von Ingrid Müller fielen Groß ein und stimmten ihn nachdenklich.
Leutnant Groß brachte Jürgen Kramer die Brille auf die Baustelle und gab ihm den Rat, sie zu tragen, weniger eitel zu sein, denn dazu hatte er, Kramer, sie ja bekommen. Und: Sibylle Langhans bekam ihren Hausschlüssel zurück. Groß brachte ihn selbst an einem Wochenende mit seinem Trabant nach Dresden. Er hatte es ihr versprochen; aber wer weiß, ob dies der einzige Grund war. Der kleinen Anita Anders ging es bald schon wesentlich besser, doch sie hatte Verletzungen erlitten, deren Folgen sie später manchmal noch spüren würde. Um mit Hauptmann Torstens Worten zu schließen: "Was bedeutet da Gerechtigkeit?"
Heft 399 To Hoai Flucht über die Berge
Jahrelang quält My, die junge Vietnamesin, ein Gefühl der Angst. An der Seite eines ungeliebten Mannes, der sie wie ein Stück Vieh hält, vegetiert sie dahin. Bis zu dem Tag, als A Phou, der als Knecht auf ihrem Hof arbeiten muß, mit ihr flieht. Doch auch weit weg von den Menschen, in der unwirtlichen Berggegend, verläßt sie dieses Gefühl der Angst nicht. Denn da sind jene Fremden, die rücksichtslos morden und brennen, Franzosen genannt; aber auch die Can Bo - die Widerstandskämpfer flößen ihr Furcht ein. Bis sie eines Tages mit A Phous Hilfe erkennt, daß es sinnlos ist, weiter zu fliehen .